Jg. 17 H.1 2017 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Mark Dang-Anh / Simone Pfeifer / Clemens Reisner / Lisa Villioth (Hrsg.) MEDIENPRAKTIKEN Situieren, erforschen, reflektieren Dang-Anh/Pfeifer/Reisner/Villioth: Medienpraktiken ä Ramella: Medienpraktiken ›on the road‹ ä Pfeifer: Medien- praktiken der Nähe und Distanz ä Meyer/Meier zu Verl: Epistemische Regime der neuen Medien ä Knipp: Litera- turbezogene Praktiken ä Borbach: Experimentelle Praktiken ä Henze: Tastatur und Talker, Hand und Stimme ä Schüttpelz/Meyer: Ein Glossar zur Praxistheorie Jg. 17, H. 1, 2017 NAVI GATIONEN ➤ Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Mark Dang-Anh / Simone Pfeifer / Clemens Reisner / Lisa Villioth (Hrsg.) Medienpraktiken Situieren, erforschen, reflektieren NAVI GATIONEN ➤ Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften IMPRESSUM HERAUSGEBER: TITELBILDER: Prof. Dr. Jens Schr̈ter Ulf Neumann und Simone Pfeifer Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft Lenństr. 1 DRUCK: 53113 Bonn (Hauptherausgeber) UniPrint, Universität Siegen Dr. Pablo Abend universi – Universitätsverlag Siegen DFG-Graduiertenkolleg Locating Media Am Eichenhang 50 Herrengarten 3 57076 Siegen 57072 Siegen Erscheinungsweise zweimal jährlich J.-Prof. Dr. Benjamin Beil Institut für Medienkultur und Theater Preis des Einzelheftes: € 13,- Meister-Ekkehart-Str. 11 Preis des Doppelheftes: € 22,- 50937 K̈ln Jahresabonnement: € 20,- Jahresabonnement REDAKTION: für Studierende: € 14,- Mark Dang-Anh Simone Pfeifer ISSN 1619-1641 Clemens Reisner Lisa Villioth Mitarbeit: Christoph Schweisfurth UMSCHLAGGESTALTUNG UND LAYOUT: Christoph Schweisfurth (für diese Ausgabe) Christoph Meibom, Susanne Pütz (Originaldesign) Mark Dang-Anh / Simone Pfeifer / Clemens Reisner / Lisa Villioth (Hrsg.) MEDIENPRAKTIKEN Situieren, erforschen, reflektieren INHALT Mark Dang-Anh, Simone Pfeifer, Clemens Reisner und Lisa Villioth Medienpraktiken Situieren, erforschen, reflektieren. Eine Einleitung ......................................... 7 Anna Lisa Ramella Medienpraktiken ›on the road‹ Social Media im Kontext von Musikmarketing .............................................. 37 Simone Pfeifer Medienpraktiken der Nähe und Distanz Soziale Beziehungen und Facebook-Praktiken zwischen Berlin und Dakar ............................................................................ 55 Christian Meyer und Christian Meier Zu Verl Epistemische Regime der neuen Medien Eine kultursoziologische Perspektive auf digitale Bildkommunikation .......... 77 Raphaela Knipp Literaturbezogene Praktiken Überlegungen zu einer praxeologischen Rezeptionsforschung ..................... 95 Christoph Borbach Experimentelle Praktiken Apparative Radioexperimente in der Weimarer Republik .......................... 117 Andreas Henze Tastatur und Talker, Hand und Stimme Zum Verhältnis von Körper- und Gerätetechnik am Beispiel von Hilfsmitteln für Menschen mit spastischen Lähmungen............................... 135 Erhard Schüttpelz und Christian Meyer Ein Glossar zur Praxistheorie »Siegener Version« (Frühjahr 2017) ............................................................ 155 Autor_innen......................................................................................................... 165 NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN Situieren, erforschen, reflektieren. Eine Einleitung V O N M A R K D A N G - A N H , S I M O N E P F E I F E R , C L E M E N S R E I S N E R U N D L I S A V I L L I O T H 1. WAS SIND MEDIENPRAKTIKEN? Die praxistheoretische Wende greift in der Medienforschung um sich. Medien werden nicht mehr nur als Objekt, Produkt, Text oder Institution untersucht, sondern mit Perspektive auf Medienpraktiken empirisch erforscht. Diverse Dis- ziplinen wie die Medienwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissen- schaft, Linguistik, die Kulturwissenschaften, aber auch die Literaturwissenschaft, Informatik und Politikwissenschaft tragen zu diesem Projekt bei und nehmen ihre je spezifischen Blickwinkel ein. In dieser Einleitung fächern wir zunächst die unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ansätze zu Medienpraktiken am Beispiel einer Skype- Konferenz der Herausgeber_innen auf.1 Anhand der Situation der Videokonfe- renz lässt sich nicht nur die Vielzahl an Perspektiven auf Medienpraktiken zeigen, sondern auch verdeutlichen, was wir unter Medienpraktiken fassen. Im Anschluss folgt eine Bestimmung von Medienpraktiken anhand grundlegender Merkmale: Medienpraktiken sind situativ, körperlich, zeichenhaft, prozessual, medienüber- greifend, infrastrukturiert, historisch und sozio-kulturell. Diese Liste ist keines- wegs vollständig und die im Band versammelten Beiträge zeigen, dass erst aus der empirischen Forschung heraus deutlich wird, was als Medienpraktiken erfasst werden kann und welche Eigenschaften von Medienpraktiken als bedeutend her- austreten.2 Nach einem Überblick über die interdisziplinären Beiträge dieser Na- vigationen-Ausgabe schließt diese Einleitung mit einer Zusammenfassung der Situ- ierung, Erforschung und Reflexion von Medienpraktiken. Medienpraktiken zu erforschen, bedeutet herauszufinden, was Menschen mit Medien tun3 und was Medien mit Menschen machen. Am Beispiel der Vorberei- 1 Das autoethnografische Beispiel schließt an Forschungen zur wissenschaftlichen Praxis in den Kulturwissenschaften an. Vgl. Krentel u. a.: »Library Life«. 2 Diese Ausgabe der Navigationen basiert auf den Beiträgen einer Klausurtagung des DFG-Graduiertenkollegs ›Locating Media‹ am 11. Mai 2016 in Siegen. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Förderung dieser Forschung. Ebenso danken wir Pablo Abend und Sebastian Gießmann für ihr Feedback zu diesem Text, Christoph Schweisfurth für die Unterstützung bei Satz und Layout und den Herausge- bern der Zeitschrift für die Möglichkeit, diese Ausgabe zu gestalten. 3 Diese ›Doings‹ beinhalten das gegenseitige Anzeigen während einer Praktik, also eine praktische Reflexivität. Vgl. auch Meyer »Mikroethnographie«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH tungen dieses Bandes durch die Herausgeber_innen verdeutlichen wir die unter- schiedlichen Reichweiten, Dimensionen und Ebenen von Medienpraktiken. Abb. 1: Screenshot einer Skype-Konferenz am 26.10.2016 Die Besprechungen zur Herausgabe fanden teils in Face-to-Face-Gesprächen und teils in Videokonferenzen statt. Abbildung 1 ist ein Screenshot einer Videokonfe- renz der Herausgeber_innen vom 26.10.2016, d. h. eine statische Momentauf- nahme einer ganz bestimmten Situation. Durch das Wissen über Videokonferen- zen – genauer: über die Medienpraktik des Konferierens per Videokonferenz – lässt sich die Situation näher bestimmen: das oben links abgebildete Porträtfoto und der Name identifizieren die Kontonutzerin, über deren Rechner der Screen- shot erstellt wurde. Die beiden zentral und groß abgebildeten Kamerabilder zei- gen die anderen beiden Teilnehmer_innen der Videokonferenz. Die Einstellung unten in der Mitte, auf der zwei Personen zu sehen sind, zeigt das Kamerabild der Kontoinhaberin. Es nehmen also insgesamt vier Personen über drei Konten an der Videokonferenz teil. NAVIGATIONEN 8 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN Durch die Überschrift in der Kopfzeile sowie das Firmenlogo oben rechts ist die verwendete Videokonferenz-Plattform Skype deutlich erkennbar. Des Weite- ren sind links vertikal mehrere unterschiedliche Ikonogramme angeordnet, oben über den zwei Kamerabildern befinden sich zwei weitere und ein Eingabefeld, ganz oben links finden sich drei farbige Kreise. Wenn wir nun den Ausschnitt ver- größern, gelangen wir zu weiteren Erkenntnissen über die Situation und vollzoge- nen Medienpraktiken. Denn was diese Personen (und nicht nur ihre Gesichter) mit diesen Medien tun und was sie sagen, wird in diesem Screenshot nur teilweise sichtbar und deutlich. Abb. 2: Screenshot der Videokonferenz als Gesamtausschnitt des Bildschirms In Abbildung 2 wird ein weiterer Kontext sichtbar, der im Screenshot gewisser- maßen als Rahmung der Videokonferenz in Erscheinung tritt. Im Hintergrund ist das Programmfenster einer Textverarbeitungssoftware erkennbar. Geöffnet ist zum Zeitpunkt des Screenshots ein Dokument, das im Verlauf der Videokonfe- renz kommentiert und bearbeitet wird. Hieran zeigen sich die Spuren der kolla- borativen Textproduktion dieses Einleitungsartikels. Links oben ist zudem das Kamerabild des gerade sprechenden Konferenzteilnehmers sichtbar, das über den anderen Programmfenstern angeordnet wird und auch dann sichtbar bleibt, wenn das Hauptfenster der Videokonferenzsoftware in den Hintergrund rückt. Eine weitere Zoomstufe aus der Online-Situation heraus zeigt die Situation in einem der konferierenden Büros: NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 9 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH Abb. 3: Fotografie des Arbeitsplatzes Zwei Computer stehen in dieser Fotografie nebeneinander: es sind die Rechner der beiden gemeinsam an der Konferenz Teilnehmenden, deren Bewegtbild vom linken Rechner erfasst wird. Auch Notizbücher, eine Hand und Verkabelungen sind in diesem Bild zu sehen. Durch diese drei einführenden Darstellungen werden unterschiedliche Reichweiten von Medien und Praktiken aufgemacht, die jeweils relevant für Me- dienpraktiken und die analytische und reflexive Auseinandersetzung mit ihnen sind. Deutlich wird, dass durch die Medienpraktiken der Forschung selbst, die einzelnen Bildausschnitte und die Beschreibung, eine spezifische Blickrichtung eingenommen wird.4 Was aber sind in dieser beschriebenen Situation die Medien und die Prakti- ken? Die Kameras der jeweiligen Rechner sind hier Medien der bewegten Bilder- fassung. Die jeweiligen Mikrofone sind Medien der auditiven Erfassung und die Lautsprecher solche der Tonübertragung. Abgebildet werden jeweils Ausschnitte der Gesichter als »talking heads« in der Halbnahen5, nicht aber die gesamten Kör- 4 Medienpraktiken des Forschens wurden in der Navigationen-Ausgabe 2/2013 »Vom Feld zum Labor und zurück« thematisiert. Vgl. die Beiträge in Knipp u. a. »Vom Feld zum Labor und zurück«. 5 Vgl. zu »talking heads« in Videokonferenzen: Licoppe/Morel: »Video-in-Interaction.« NAVIGATIONEN 10 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN per. Die Körper der Beteiligten agieren hier dennoch vielfältig als Medien der ges- tisch-mimischen Kommunikation, der stimmlichen Schallerzeugung zur sprachli- chen Artikulation und der apparativen Betätigung von Maus und Tastatur. Die Vi- deokonferenzsoftware und der Computer binden die Erfassungen von Bild und Ton ein, synthetisieren und arrangieren sie. Auf Basis einer Rechner- und Inter- netinfrastruktur ermöglichen sie die Übertragung von Bild, Ton und Schrift und deren Komposition. In der Perspektive auf die Medienpraktik der Videokonferenz – genauer: des Videokonferierens – sind die Videokonferenzsoftware und der Computer, aber auch Körper und Stimme Medien der Interaktion. Die abgebilde- ten Bildschirmfotos fungieren als Medien der Forschung.6 Auch die unterschiedli- chen Praktiken des Sprechens, Zuhörens und Schreibens treten in den Bildern hervor. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, welche Medien hier im Spiel sind und welche Praktiken vollzogen werden. Die meisten getroffenen Einordnungen die- ses sehr komplexen und feingliedrigen Zusammenspiels zwischen Medien und Praktiken, also der Medienpraktiken, sind in höchstem Maße situativ. Es lassen sich beliebig viele Situationen vorstellen, in denen die genannten Medien in andere Praktiken eingebunden sind oder andere Praktiken, in denen andere Medien und Akteure im Spiel sind und die hier genannten keine oder andere Rollen spielen. Dadurch wird eine Beschreibung und Analyse von Medienpraktiken zwingend zu einer situationsgebundenen und -bezogenen Angelegenheit. Ebenso ergibt sich eine Vergleichbarkeit über Situationen hinweg, aus der sich übersituative Stabili- sierungen und Unterschiede der Medienpraktiken ableiten lassen. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Erfassung von Medienpraktiken sind die In- teraktionen, die in ihrem Verlauf getätigt werden. Diese Interaktionen sind Teil der Medienpraktiken. In unseren Videokonferenzen waren wir beispielsweise oftmals mit der Abklärung der situativen kommunikativ-medialen Bedingungen beschäftigt: »könnt ihr mich jetzt hören?«, »ich sehe euch nicht«, »es ruckelt« und »kannst du das nochmal sagen bitte, ich hab das grad nich verstanden«. Erst vor dem Hintergrund von Videokonferenzen sind diese Äußerungen verständlich. Sie beziehen sich insbesondere auf Situationen, in denen die Übertragung von Bild und Ton gestört ist. In diesen Situationen werden wir uns der Medialität unserer Arbeitsbesprechungen besonders bewusst. Diese destabilisierenden Momente eröffnen den Blick auf die sonst nicht-sichtbaren Infrastrukturen.7 Erst durch die Unterbrechung der Routine wird die Routine mit ihren Standards als solche er- kennbar.8 6 Im Sinn der Akteur-Medien-Theorie wird also nicht vorab festgelegt, welche Medien als Größen in einer »Handlungsverknüpfung« wirken. Gerade dadurch, dass Medien irredu- zibel sind, also immer aus der »Ko-Produktion von sozialen, technischen und personalen Größen« bestehen, können sie nicht auf eine Größe zurückgeführt werden. Schüttpelz: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, S. 58. 7 Vgl. S. 23 zu »...infrastrukturiert« und Schabacher: »Medium Infrastruktur«. 8 Vgl. beispielsweise Bergmann: »Die Trivialität der Katastrophe«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 11 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH Medien sind also, wie Krämer beschreibt, für uns wie Fensterscheiben, die erst dann sichtbar werden, wenn sie dreckig sind: »Nur im Rauschen, das aber ist in der Störung oder gar im Zusammenbrechen ihres reibungslosen Dienstes, bringt das Medium selbst sich in Erinnerung.«9 Dieses ›Rauschen‹ aber, und das sei hier betont, kommt stets nur im praktischen Tun mit Medien, in Medienpraktiken vor – und ist hierbei die Regel und nicht die Ausnahme. Die Erforschung von Me- dienpraktiken bezieht sich folglich auf das immerwährende Rauschen der Medien im praktischen Umgang mit ihnen. Sie will gerade dieses praktische Grundrau- schen – der gänzlich alltäglichen Medienpraktiken – in seinen Facetten erfassen und verstehen. Das bezieht sich, um auf das Beispiel zurückzukommen, etwa auf die Interaktionen, also die wechselseitigen Verfertigungen10, im Rahmen von Skype-Besprechungen, und wird beispielsweise durch die Entscheidung evident, bei Übertragungsfehlern oder bei schwacher Internet-Verbindung zugunsten des Tons auf die Videoübertragung zu verzichten. Damit richtet sich die Medienpraktikenforschung auf das, was beteiligte Men- schen mit Medien tun. Diese Tätigkeiten vollziehen sich jedoch ebenso vor dem Hintergrund der medialen Verfahren. In Videokonferenzen können also Bild- und Tonübertragungen in hohem Maße gestört sein, sei es aufgrund eines defekten Mikrofons oder einer instabilen Internetleitung11, Dateien können verschickt und Chats parallel zur Videokonferenz geführt werden. Damit geraten ebenso Pro- zesse in den Blick, in denen Medien etwas mit Menschen machen. Mit dem Begriff der Medienpraktiken lässt sich also das vielfältige Wechselspiel zwischen Men- schen und Medien als jeweilige Akteure von Medienpraktiken beschreiben. So verstanden werden Medien immer nur zu Medien im Vollzug von Medienprakti- ken – Praktiken werden erfasst in Bezug auf ihre mediale Verfertigung. Dabei um- fasst der Begriff der Medienpraktiken, wie an der heterogenen Granularität der exemplarischen Begriffsanwendungen deutlich wird, unterschiedliche Reichweiten von Praktiken, d. h. Praktiken in Praktiken12 und Medien in Medien13. Medienpraktiken zu erforschen wird damit zwingend zu einem durch und durch empirischen Unternehmen. Auf Seiten der Praktiken sind demnach etwa das Rauschen, die Brüche und Irritationen alltäglicher Interaktion14, die gestischen und mimischen Details, An- und Abwesenheit von Blicken15 und körperlichen Be- 9 Krämer: »Das Medium als Spur und Apparat«. 10 Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«. Siehe auch der Beitrag von Schütt- pelz/Meyer in diesem Band. 11 ›Störungen‹ der Internetübertragung sind dabei eher die Regel, denn die Ausnahme und insofern alltäglicher Teil von Internetmedienpraktiken. 12 Habscheid skizziert etwa sprachliche Praktiken als Teil(-bereich) kommunikativer Prak- tiken und diese wiederum als Teil(-bereich) sozialer Praktiken; vgl. Habscheid: »Handeln in Praxis«. 13 Vgl. Liebrand/Schneider: »Medien in Medien«. 14 Vgl. Bergmann: »Die Trivialität der Katastrophe«. 15 Vgl. Meyer: »Mikroethnographie«. NAVIGATIONEN 12 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN tätigungen16, die Indexikalität sprachlicher Äußerungen und die in ihr zum Aus- druck gebrachten Verweise auf die Praktiken zu analysieren. In deren Rahmen sind sie als »ongoing accomplishments«17 zu verstehen. Auf Seiten der Medien geht es um die Zurichtungen, Verdichtungen und Verflechtungen in Infrastruktu- ren, die Medien schaffen und auf denen sie operieren.18 In den Verknüpfungen von Medien und Praktiken geht es um medienübergreifende Zusammenhänge, die durch Medienpraktiken hergestellt werden und in denen sie sich entfalten. All dies sind mögliche Gegenstände einer empirischen Medienpraktikenforschung. Soweit Medienpraktiken als bedeutsame Praktiken in der Welt zu fassen sind, gilt es, dreierlei Abstufungen in der Analyse vorzunehmen: 1. werden Medienpraktiken durch die Beteiligten situiert, d. h. situativ be- deutsam gemacht. Die Analyse von Medienpraktiken richtet sich demzufolge auf die Konstruktionen ersten Grades19 durch die an Medienpraktiken beteiligten Ak- teure, Menschen und Medien, sowie die Situativität ihrer Erzeugungen. 2. Medienpraktiken zu erforschen bedeutet, Analysen als Konstruktionen zweiten Grades vorzunehmen, d. h. sich die Situationen der Medienpraktiken mit unterschiedlichen ethnografischen und den Situationen der Medien und Praktiken angemessenen Methoden zu Eigen zu machen. 3. erfordert dies wiederum, die Forschung selbst als medienpraktisch vollzo- gen zu verstehen und entsprechend zu reflektieren. Medienpraktikenforschung bedeutet insofern die konsequente Auseinandersetzung mit den eigenen Medien und Praktiken der Erkenntnis – wenn man so will, als reflexive Konstruktionen dritten Grades. Medienpraktiken, so lässt sich zudem festhalten, sind keine natürlichen Ein- heiten, sondern werden im Alltag von den Akteuren und im Forschungsprozess von den Forschenden als solche konstruiert. Die aufgeworfenen Reichweiten füh- ren auch zu der Notwendigkeit einer begrifflichen Reflexion. Wie nuancieren wir unser Verständnis, wenn wir von Medienpraktik, -praktiken, Medienpraxis oder media practices sprechen? Welche Einheiten konstruieren wir durch die Praktik unseres Sprechens über Medienpraktiken? Was sind die Gemeinsamkeiten und wo unterscheiden sich die Perspektiven bei der Erforschung von Medienprakti- ken? Welche praxistheoretischen Anlehnungen und Definitionsversuche gibt es bisher? Wie können Medienpraktiken erforscht und diese Methoden wiederum reflektiert werden? Dieser Band bringt unterschiedliche Disziplinen zusammen, um die aufge- worfenen Fragen zu thematisieren und erste Antworten zu geben. Jeder Beitrag 16 Vgl. Hirschauer: »Praktiken und ihre Körper«. 17 Garfinkel: »Studies in Ethnomethodology«. 18 Schabacher: »Medium Infrastruktur«. 19 Zum phänomenologischen Verständnis der Konstruktionen ersten und zweiten Grades vgl. Schütz: »Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Han- delns«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 13 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH löst aus der eigenen disziplinären Forschungsperspektive und Untersuchung her- aus einen Teil dieses Programms der Medienpraktikenforschung ein. 2. THEORETISCHE PERSPEKTIVEN AUF MEDIENPRAKTIKEN Mit der zunehmenden Bedeutung digitaler Medien wendete sich auch die Medi- enwissenschaft Medienpraktiken und einer »alles durchdringende[n] Symmetrisie- rung von ›Medien‹ und ›Praktiken‹« zu.20 Bereits in seinem wegweisenden Artikel »Theorising Media as Practice« läutet Couldry21 den practice turn in der Medien- wissenschaft ein. In Abgrenzung zur vorausgegangenen Medienforschung schlägt er im Sinne einer sozial- und kulturanthropologischen Vorgehensweise vor, Medi- en nicht als Text oder als Medieninstitutionen, sondern als Praktiken zu erfor- schen. Damit stellt er die Frage, die auch uns als Herausgeber_innen dieses Ban- des einleuchtet: »What, quite simply, are people doing in relation to media across a whole range of situations and contexts?«22 Diese Frage differenziert er an ande- rer Stelle weiter aus in die Frage nach dem, was Menschen in Relation zu Medien tun und was sie in Relation zu Medien sagen. Couldry bezieht in die Praktiken auch Denken und Glaubenssysteme über Medien mit ein und schließt an eine zweite Welle von Praxistheoretiker_innen, unter anderen auch den Sozialphiloso- phen Schatzki, an. Schatzki untersucht Praktiken als: »[...] temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings. [...] To say that the doings and sayings forming a practice constitute a nexus is to say that they are linked in cer- tain ways.«23 Der Praktikenbegriff, so Schatzki, bezeichnet: the do-ing, the actual activity or energization, at the heart of action. It is this notion of practice that the Western philospohical tradition has often opposed to theory: theory versus practice, contemplation and reflection versus doing.24 Praktiken werden somit als die kleinste Einheit des Sozialen betrachtet und die Opposition zwischen Theorie und Praxis angezweifelt. Im Anschluss daran formu- liert der Soziologe Reckwitz: [...] dass Praktiken nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel einen Umgang von Menschen mit 20 Schüttpelz: »Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien«, S. 4. Schüttpelz verweist hier auf die Debatte von Couldry und Hobart: »Media as Practice: A Brief Exchange«. 21 Couldry: »Theorising Media as Practice«. 22 Couldry: »Theorising Media as Practice«, S. 121, Herv. im Orig. 23 Schatzki: »Social Practices«, S. 89. Aus linguistischer Sicht bemerkenswert ist hierbei die Differenzierung zwischen ›doings‹ und ›sayings‹, die den Handlungscharakter von Spra- che, den insbesondere die Sprechaktheorie herausgearbeitet hat, übergeht. 24 Schatzki: »Social Practices«, S. 90. NAVIGATIONEN 14 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›Dingen‹, ›Objekten‹ bedeuten, was beides jedoch weder im Sinne des Behaviorismus noch eines Technizismus zu verstehen ist.25 An diese Positionen schließt Couldry (neben Traditionen in der Medienwissen- schaft) an, wenn er Swidlers26 Ausführungen zu kulturellen Praktiken folgt. Dem- nach fasst er Medien und Medienpraktiken aufgrund der privilegierten Zirkulation von Medienrepräsentationen und Bildern in der sozialen Welt als ›Anker‹ und ordnend für andere Praktiken auf. Ausgangspunkt sind für ihn also immer Medien und nicht ›das Soziale‹ oder ›das Kulturelle‹. Wie weit der Einfluss von Medien geht, formuliert Couldry als offene Frage für die zukünftige Forschung. Dass Couldry Medien nicht, wie der Titel »Theorising Media as Practice« suggeriert, konsequent als Praktiken versteht, wird dann klar, wenn er Medienpraktiken von Produkten von Medienpraktiken unterscheidet.27 Für unser Verständnis von Medienpraktiken ist hier vor allem der Fokus auf Prozesse des alltäglichen praktischen Handelns, die menschliche Akteure und Medien in eine wechselseitige Relation setzen, relevant. Hiermit ist nicht allein ei- ne instrumentalistische Betrachtung von Medien als Hilfsmittel oder Vehikel für Praktiken gemeint, sondern darüber hinaus werden Medien als elementare und konstitutive Instanzen im praktischen Tun anerkannt.28 Couldrys Ausrichtung auf das Tun von Menschen möchten wir jedoch durch einen Fokus auf die Materialität und die Infrastruktur der Medien erweitern. Wir gehen davon aus, dass Medien- praktiken übersituativ stabilisiert sind. Diese Stabilität zeigt sich in der Materialität und den Infrastrukturen, die ihrerseits durch die Medienpraktiken strukturiert werden. Damit steht das, was Menschen mit Medien tun, in enger Relation zu dem, was Medien mit Menschen machen. Medien werden vor allem in der deutschen Medienwissenschaft, aber auch in kulturwissenschaflichen Perspektiven zunehmend als »Konstellationen von Kultur- techniken und Prozesse[n] einer verteilten und delegierten Handlungsmacht«29 und damit aus einer praxeologischen und praxistheoretischen Perspektive be- trachtet. Dies geschieht insbesondere innerhalb der im Siegener Graduiertenkol- leg ›Locating Media‹ entwickelten orts- und situationsbezogenen Medienprak- tikenforschung. Nach Schüttpelz und Gießmanns programmatischen Überlegun- gen zum Forschungsstand der Medien der Kooperation: 25 Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, S. 290. 26 Swidler: »What anchors cultural practices?«. 27 Couldry: »Theorising Media as Practice«, S. 118 und S. 127ff. 28 Ein entsprechendes Verhältnis konstatiert Jäger zwischen Medium und Kommunikation: »Medien sind dem, was sie übermitteln, nicht äußerlich. Sie sind keine neutralen Kom- munikationswerkzeuge, sondern sie sind an dem, was sie kommunizieren, konstruktiv beteiligt.« Jäger: »Medium Sprache«, S. 22. 29 Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«, S. 8. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 15 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH [...] stellt sich nämlich für jede Medienpraxis die Frage, durch welche organisatorischen, technischen, institutionellen und ästhetischen Ver- kettungen sie zustande kommt und am Laufen gehalten wird, m.a.W. die Komparatistik von Medienpraktiken stellt für Gegenwart und Ge- schichte, für wissenschaftliche und bürokratische, intime und Mas- senmedien und ihre Überschneidungen gleichermaßen die Frage nach ihrer kooperativen Verfertigung.30 Implizit wird hier auch schon die Frage nach der Relation von einzelnen (Medien-) Praktiken, sozialer, kooperativer oder vergemeinschaftender Praktiken und Me- dienpraxis gestellt, ohne diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten scharf vonei- nander abzugrenzen. Einen ersten definitorischen Versuch der genauen Abgren- zung der unterschiedlichen Begriffe stellt das Glossar von Schüttpelz und Meyer am Ende dieser Navigationen Ausgabe dar.31 Für uns Herausgeber_innen und die Autor_innen gilt es hier zunächst zu er- örtern, inwieweit sich die Relation zwischen Medien und Praktiken als Medien- praktiken reziprok-konstitutiv umschreiben lässt: Sind Praktiken immer medial? Und werden Medien zu Medien erst in und durch praktische Zusammenhänge? Auch die Frage nach der ›Reichweite‹ oder dem ›Maßstab‹ der Medienpraktiken ist, wie einleitend gezeigt, für diesen Band und die unterschiedlichen disziplinären Zugriffe auf Medienpraktiken von großer Relevanz. Ist der Fokus der Untersu- chung und Analyseeinheit eine Handbewegung32, eine interpersonale Kommuni- kation auf WhatsApp33, eine Situation oder ein Ereignis? Kann in all diesen Fällen von Medienpraktiken gesprochen werden oder sollten hier ›kleinteilige‹ Medien- praktiken unterschieden werden? Und was ist der von Couldry postulierte Unter- schied von Medienpraktiken und dem Produkt von Medienpraktiken? Wie lässt sich dieser methodisch erfassen und analytisch differenzieren? Die im Band versammelten Beiträge gehen zunächst von einem Fokus auf die Erforschung von Medienpraktiken aus und entwickeln aus den Untersuchungen heraus auch einen theoretischen Beitrag zur Medienpraktikenforschung. Denn ge- rade die der Ausgabe vorausgegangenen Diskussionen haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, eine gemeinsame Praxistheorie als Ausgangspunkt der Erfor- schung von Medienpraktiken zu formulieren. Was die Beiträge somit eint, ist we- niger eine strikte theoretisch-methodische Perspektive, sondern die Einnahme ei- ner bestimmten Forschungshaltung. Erst das Primat der Praxis, die Bevorzugung von Wie-Fragen, ermöglicht es, Fragen nach dem Was oder Warum zu beantwor- ten. Dadurch können mediale Prozesse, die einer vorgesehenen oder angenom- menen Routine entgegenlaufen im Vermittlungsgeschehen als Medienpraktiken 30 Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«, S. 9. 31 Vgl. Schüttpelz/Meyer in diesem Band. 32 Vgl. Henze in diesem Band. 33 Vgl. Meyer/Meier zu Verl in diesem Band. NAVIGATIONEN 16 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN wahrgenommen werden. Diese Analyseperspektive sorgt dafür, Prozesse der Vermittlung nicht als geradlinig und vollkommen sauber zu denken, sondern das ›Chaotische‹34 der Medienpraktiken aus ihnen selbst heraus zu erklären und adä- quate Begriffe dafür zu finden. Menschen benutzen und erzeugen Medien, Medien richten ihre Nutzer_innen zu und alle an diesem Prozess beteiligten Akteure ar- beiten sich in der alltäglichen Praxis aneinander ab. 3. MEDIENPRAKTIKEN SIND... Medienpraktiken reichen über ihren aktualen Vollzug und ihre Situation hinaus. Im Fokus steht nicht alleine das, was Menschen im Alltag mit Medien tun, sondern ebenso wie sie dies in unterschiedlichen Situationen und Kontexten tun und wie sie dadurch auf andere, größere Kontexte und Sinnzusammenhänge verweisen. Medienpraktiken lassen sich in dieser auf zeit- und raumübergreifende Zusam- menhänge verweisenden Dimension folglich als soziale, historische oder kulturelle Praktiken verstehen. Dennoch bzw. gerade daher ist es wichtig zu betrachten, dass Medienpraktiken sich in den jeweiligen Situationen vollziehen, dass sie sich interaktiv und interpersonal vollziehen und dass in und durch Medienpraktiken kooperiert wird. Der Praktikenbegriff steht hier also für eine gewisse Reichweite zwischen der Mikro- und Makroebene35 und man könnte in diesem Zuge nicht nur danach fragen, inwieweit Praktiken zwischen dem alltäglichen situativen Tun und dem übersituativen, quasi historischen oder soziokulturellen Zusammenhang vermitteln, der dieses Tun ermöglicht und begrenzt. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwieweit sich das Übersituative praktisch in Medien manifestiert, z. B. in Programmcodes oder der Dinglichkeit von Medien und somit ebenso Er- möglichungen und Begrenzungen für Medienpraktiken bereitstellt und verfügt. Medienpraktiken umfassen ein breites Spektrum und die Medienpraktiken- forschung vollzieht sich jeweils in den eingangs eingeführten Abstufungen: 1) des Alltags der Medienpraktiken, 2) der Analyse der Medienpraktiken und 3) der reflexiven Verhandlung der Medienpraktiken der Analyse. Die unterschiedlichen Reichweiten und Perspektiven der Medienpraktiken lassen sich dabei über Attribute fassen, die sich sowohl auf situatives Tun als auch auf übersituative Zusammenhänge erstrecken und die ineinander übergehen kön- nen. Dies zeigt sich auch in der begrifflichen Unterscheidung zwischen Praktiken und Praxis, die wir im Anschluss an Hillebrand treffen.36 Praktiken werden als si- 34 Vgl. Postill/Pink: »Social Media Ethnography«. 35 Schatzki vertritt die bemerkenswerte These einer »flachen Ontologie«, die für eine Auf- hebung der Differenzierung von Mikro- und Makroebene plädiert, da sich Praktiken »auf einer einzigen Realitätsebene erstreck[en]«; Schatzki: »Praxistheorie als flache Ontolo- gie«, S. 30, vgl. auch Ortner: »Theory in Anthropology since the Sixties«. Ortner be- trachtet hier die Praxistheorie als Ausweg aus der Debatte um Struktur und Agency. 36 Vgl. Hillebrandt: »Soziologische Praxistheorien«, S. 102-111. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 17 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH tuative Vollzugsmomente einer übersituativen Praxis verstanden. Als die alltägli- chen Manifestationen von Praxis sind Praktiken keine bloßen Wiederholungen, sondern Einzelereignisse in spezifischen Kontexten. Praxis wiederum ist nicht überzeitlich, sondern wird durch die Variationen der alltäglichen Praktiken in spe- zifischen situativen Kontexten je aktualisiert, modifiziert und überhaupt erst her- vorgebracht. Konkrete Medienpraktiken und übersituative Praxis sind also eng in- einander verwoben. In einer noch offenen Aufzählung, in der Überschneidungen unvermeidbar sind und die dazu auffordert, sich konsequent mit den Zusammenhängen unterei- nander auseinanderzusetzen, können Medienpraktiken folgende Eigenschaften haben bzw. sind Medienpraktiken demnach: …situiert, d. h. sie finden an Orten, in Räumen, zu bestimmten Zeiten unter Beteiligung bestimmter und bestimmender Akteure und Medien statt. Die zeitli- chen, räumlichen und personalen Konstellationen bestimmen Medienpraktiken, sie werden aber andererseits ebenso durch Medienpraktiken bestimmt. Medien- praktiken sind demzufolge nicht nur situiert, sie situieren ebenso. Die mikroanaly- tische Bestimmung von Ort, Raum, Zeit, Akteuren und die Art und Weise ihrer Beteiligung – und damit die Frage nach dem Wie von Medienpraktiken in Situatio- nen – ist Aufgabe der Medienpraktikenforschung. Sie ist aufmerksam für die Ver- mitteltheit situativer Konstellationen und vermag es dadurch, die mediale und praktische Spezifität von (sozialen) Situationen in den Blick zu nehmen. Ebenso stellt sich einer an Medienpraktiken interessierten Analyse von Situationen die Frage, durch welche Medienpraktiken die Beteiligten ihre eigenen Situationen zu- richten, verhandeln und einander zugänglich machen37 sowie in größere Bedeu- tungszusammenhänge einordnen. Der analytische Zugriff auf Medienpraktiken erfolgt vornehmlich in situ und in actu und somit ethnografisch, aber auch über Analysen von Dokumenten, Texten und weiteren medialen Erzeugnissen, die Fixierungen von Situationen sind. So ha- ben wir in unserem Eingangsbeispiel eine dynamische Situation anhand von drei statischen Abbildungen unterschiedlicher Beschaffenheit (Screenshot vs. Fotogra- fie) beschrieben. Dabei wurden unterschiedliche Online- und Offline- Bewegungen38 und somit divergierende lokale Situationen synthetisch39 bzw. in- tersituativ40 miteinander verbunden. Die beteiligten menschlichen Akteure (die Herausgeber_innen) und Medien (Körper, Computer, Webcams, Lautsprecher, 37 Insbesondere ein ethnomethodologisch geprägtes Erkenntnisinteresse richtet sich dem- nach auf die indexikalischen (Alltags-)Praktiken der Akteure, d. h. die Verweise auf räumlich-zeitlich-personale Konstellationen. Vgl. Dang-Anh: »Die interaktionale Konsti- tution einer synthetischen Protestsituation«. 38 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«. 39 Knorr Cetina: »Die synthetische Situation«. 40 Hirschauer: »Intersituativität«. NAVIGATIONEN 18 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN Videokonferenzsoftware, …) lassen sich als medienpraktische Konstellation be- schreiben. Die Diskrepanz zwischen der fluiden Situation und der immer auf Fixierung41 angewiesenen Analyse von Situationen macht eine reflexive Auseinandersetzung mit den Medienpraktiken der empirischen Erforschung notwendig. Die Daten mit denen sich Medienpraktikenforschung beschäftigt, sind ihrerseits immer schon Zurichtungen, die in eigenen Situationen entstehen.42 So ist ein Analyseergebnis nicht trennbar von den Medienpraktiken spezifischer, situativer Konstellation. Ei- ne Datensitzung, in der Bilder, Transkripte und Audioaufnahmen durch unter- schiedliche Beteiligte intersubjektiv ausgehandelt werden, stellt beispielsweise ei- ne komplexe medienpraktische Situation eigener Art dar.43 ...körperlich, d. h. der Körper spielt bei Medienpraktiken immer eine Rolle. Sei es bei der Bedienung eines Smartphones – wofür die Koordination von Hand, Finger und Augen benötigt wird – oder das Skype-Gespräch, für das zusätzlich die Stimme eingesetzt wird. Digitale wie analoge Medien stützen sich auf den menschlichen Körper oder Körperteile und sprechen Sinne an bzw. involvieren verschiedene Sinne auf jeweils spezifische Weise.44 Der Körper wird hier immer intersubjektiv als enkulturiert oder besser ›enskilled‹45 aufgefasst, der Praktiken einübt, die vorher existiert haben. Jeder Körper gibt dabei der Praxis eine eigene, immer wieder neue Gestalt. Körper sind folglich auch kulturelle Medien, mit ihren jeweils spezifischen medialen Möglichkeiten und Beschränkungen. Gerade diese körperlichen Beschränkungen im Umgang mit Medien werden in Henzes Beitrag thematisiert, wenn er das Verhältnis von Körper- und Gerätetechnik von Men- schen mit spastischer Lähmung betrachtet. Auch hier dienen Praktiken als Mög- lichkeit, um Kohärenz und Orchestrierung zwischen Individuen (Interkorporali- tät)46 und Umgebungen zu erzeugen. Der Bewegung des Körpers im Raum wid- met sich auch Knipps Beitrag, in dem es um literarische Medienpraktiken und das Bereisen und Erfahren von literaturtouristischen Schauplätzen geht. 41 Bergmann: »Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit«. 42 Vgl. hierzu die Analyse von Paßmann der eigenen Interaktions- und Visualisierungprakti- ken, Paßmann: »Forschungsmedien erforschen«. 43 Vgl. Pfeifer zu Facebook-Situationen in diesem Band. 44 Vgl. Grasseni: »Skilled Visions« und Willkomm: »›skilled listening‹«. 45 Der Ausdruck ist angelehnt an Ingolds Unterscheidung zwischen zwei Formen des Ler- nens: enculturation und enskilment. Unter Enkulturation versteht er kontext-freies Ler- nen, in dem eine Technologie oder gar Kultur externalisiert wird und als kollektive Re- präsentation übermittelt werden kann. Enskilment hingegen beinhaltet die praktischen Elemente des Lernens: »›Under-standing in practice‹, by contrast, is a process of enskil- ment, in which learning is inseparable from doing, and in which both are embedded in the context of a practical engagement in the world – that is, in dwelling«. Ingold: »Per- ception of the Environment«, S. 416; vgl. auch S. 36 ff. 46 Meyer: »Mikroethnographie«, S. 59. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 19 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH …zeichenhaft, d. h. dass in Medienpraktiken durch Zeichen Bedeutungen konstituiert werden. Die Zeichenhaftigkeit medialer Interaktionen ist ebenso fun- damental wie die Medialität von Zeichen in Zeichenprozessen. Dabei verbleibt das Zeichenhafte keineswegs abstrakt und außerpraktisch, im Gegenteil: Zeichen sind immer medial-materiell in (soziale) Praktiken eingebunden. Dadurch, dass Medienpraktiken zeichenhaft sind, werden sie erst intersubjektiv bedeutbar und bedeutsam.47 Bedeutungen sind insofern medienpraktisch, als sie in medialen Zei- chen prozessiert werden.48 Zeichenverwendungen sind strikt praktikengebunden und verweisen somit auf die Praxis, innerhalb derer sie sich vollziehen. Wenn wir also von indexikalischen Verweisen der Praktiken auf die Praxis sprechen, etwa die interaktionale Verständigung über die technische Funktionalität während einer Skype-Konferenz, so sind damit eben jene reflexiven Zeichenprozesse beschrie- ben, an denen die Medienpraktikenforschung interessiert ist. Medienpraktische Zeichenprozesse können sich etwa intratextuell auf Ebene der Produktion von Bedeutung(en) in einem Text reflexiv auf Medienpraktiken vollziehen oder extratextuell im alltagspraktischen rezeptiven Umgang mit zei- chenhaften Bedeutungen. So verdeutlicht Knipp am Beispiel des Literatur- tourismus, »wie durch Literatur bzw. literarische Verfahren eine spezifische Re- zeptionspraktik hervorgebracht wird, in der sich literarische Lektüren wiederum auf besondere Weise vermitteln«49, wodurch sie insbesondere die Vermittlungs- qualität von Zeichen in Medienpraktiken betont. Wie in Medienpraktiken kultur- spezifische Bedeutungen konstituiert werden, weisen wiederum Meyer/Meier zu Verl in ihrem Beitrag anhand von WhatsApp-Praktiken nach, während Henze den wechselseitigen Relationen zwischen Zeichen, Körper und Technik und deren A-/Symmetrien nachspürt. …prozessual, d. h. in ihrem Hindurchlaufen durch die Zeit sind sie analy- tisch fassbar als ein temporales Hinter- bzw. Aufeinander mit bestimmten Abhän- gigkeiten und Hierarchien. Seien es Operationsketten50, Übersetzungsketten51 oder Turns52 – ihre Sequentialität bestimmt Medienpraktiken in einer fundamen- talen Art und Weise. Wie bei Schüttpelz/Meyer in diesem Band deutlich wird, 47 Die Ausdrücke ›bedeutbar‹ und ›bedeutsam‹ markieren die Unterscheidung zwischen der Möglichkeit, bedeutsam sein zu können (bedeutbar) und der Eigenschaft, bedeutsam zu sein (bedeutsam). 48 Schneider konstatiert entsprechend: »Das Zeichen mitsamt seinen medial-materiellen Eigenschaften ist von seiner Prozessierung gar nicht abtrennbar«, Schneider: »Nähe, Distanz und Medientheorie«, S. 343. 49 Knipp in diesem Band. 50 Schüttpelz: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«. 51 Im Anschluss an Latour, Rottenburg: »Weit hergeholte Fakten«. 52 Sacks u. a.: »A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversa- tion«. NAVIGATIONEN 20 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN rückt somit der Begriff der Verfertigung ins Zentrum einer praxistheoretischen Auseinandersetzung mit Medien und Medienpraktiken. Am Begriff der Prozessualität lässt sich verdeutlichen, wie Medienpraktiken- forschung zwischen unterschiedlichen Reichweiten vermitteln kann: Medienprak- tiken finden in der Zeit statt, im Hier und Jetzt wie auch im Nachher und Vorher. Die mikroanalytische Erforschung der Sequentialität des Hier und Jetzt, das ge- nauer betrachet ein soeben, jetzt und gleich ist, hat insbesondere die Konversati- ons- und Gesprächsanalyse systematisiert.53 Eine ethnografisch-hermeneutische Erweiterung der methodisch strengen Sequenzanalyse erlaubt, die aktuale Situati- on und den historischen Kontext von Medienpraktiken und somit den Rückbezug auf die sich ereignenden sozialen Praktiken zum Verstehenshintergrund einer Analyse zu machen.54 Neben die mikroanalytische Sequentialität tritt demnach ei- ne Iterabilität, die Medienpraktiken vor deren historischen Hintergründen erklär- und verstehbar macht55 . Gerade das Spannungsverhältnis zwischen der Wieder- holung und der Performativität dieses Tuns ist hier zentral. Wiederholung meint das Abrufen von Konventionen im praktischen Tun und die Gewährleistung der Wiederholbarkeit, wohingegen die Performativität auch die Möglichkeit der Um- deutung der Konvention beinhaltet. Unser Eingangsbeispiel der Medienpraktik Videokonferenz wird den Ansprü- chen einer Sequenzanalyse nicht gerecht. Es fehlt an der medialen Zurichtung der empirischen Grundlage, die die Zeitlichkeit offenlegt. Aufgrund der Flüchtigkeit muss in-situ-bezogene Medienpraktikenforschung die Zeitlichkeit ihrer Phänome- ne selbst herstellen: durch die Narration eines ethnografischen Protokolls, Tran- skriptionen von Audio- oder Videoaufnahmen, Annotation ihrer Log-Files mit Zeitmetadaten etc. Auch hierbei sind zurichtende Medienpraktiken im Spiel, die einer Reflexion durch die Forschung bedürfen, um ihre Legitimation im For- schungsprozess zu klären. …medienübergreifend, d. h. Medienpraktiken finden in unterschiedlichen Medien statt. Die Einsicht ist vielleicht eines der größten Unterscheidungsmerk- male zu anderen medienwissenschaftlichen Analyseansätzen. Anstatt sich auf sin- guläre Medien zu konzentrieren, hält sich die Medienpraktikenforschung an die von der Akteur-Netzwerk-Theorie geprägten Prämisse ›follow the actor‹: you have ›to follow the actors themselves‹, that is try to catch up with their often wild innovations in order to learn from them what the col- lective existence has become in their hands, which methods they have 53 Vgl. Sacks u. a.: »A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Con- versation«, Schegloff/Sacks: »Opening up Closings«, Deppermann: »Gespräche analysieren«. 54 Deppermann: »Ethnographische Gesprächsanalyse«. 55 Vgl. ausführlich unter »historisch«, S. 23. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 21 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH elaborated to make it fit together, which accounts could best define the new associations that they have been forced to establish.56 Mindestens zwei Folgerungen lassen sich aus dieser methodischen Prämisse zie- hen: Akteure und Medienpraktiken können sich zum einen ohne zuvor getroffene Grenzziehungen, etwa durch eine Fokussierung auf ein Einzelmedium, entfalten. Diese Herangehensweise ist konsequent auf praktische Verfertigungen kon- zentriert, gerade weil sich in den Praktiken der Beteiligten auch deren eigene Theorien und (Ethno-)Methoden zeigen. Somit lässt sich zum anderen Brüchen, Störungen, Reparaturen, Rauschen, Irritationen, Improvisationen und Work- arounds nachgehen, aus denen sich für die Medienpraktikenforschung ein Er- kenntniswert ergibt. Das bezieht sich nicht ausschließlich, aber doch insbesonde- re, auf medienübergreifende Praktiken, die nicht die Ausnahme, sondern den Normalfall darstellen. Methodisch resultiert diese Einsicht wiederum in der Anwendung ethnografi- scher Methoden, die ein Folgen und eigenes Erleben über Einzelmedien hinweg erst ermöglichen. Dass hierbei eine fortwährende Reflexion der eigenen Beteili- gung fundamental ist, ist eine Grundprämisse der ethnologischen und soziologi- schen Ethnografie.57 Im Eingangsbeispiel enthalten unterschiedliche Medien unterschiedliche Spu- ren der Zusammenarbeit: die kollaborative Textproduktion findet im Textverar- beitungsprogramm, die interaktionale Organisation im Videochat oder Face-to- Face statt. Entsprechend erzeugen medienübergreifende Medienpraktiken diver- sifiziertes Datenmaterial. Im detaillierten Blick auf die Verfertigungspraktiken zei- gen sich intermediale Bezüge zwischen unterschiedlichen Bearbeitungsmedien, z. B. das Verteilen eines Hyperlinks auf einen Literaturhinweis über die Chatfunk- tion der Videokonferenzsoftware, der letztlich Eingang in den kollaborativ bear- beiteten Artikel erhält. Auch die Situation der Videokonferenz ist ein Hinterei- nander kleinteiliger, medienübergreifender Medienpraktiken: Laptop einschalten, Internet-Verbindung aufbauen, Videokonferenzsoftware starten und anmelden, Mikrofon pegeln, Verbindungsaufbau, Gesprächsqualität testen, Ablauf des Ge- sprächs (inklusive Stimme, Mimik und Gestik) usw. An jedem dieser Punkte kön- nen Störungen auftreten. Jeder dieser kleinen Teile kann charakteristisch für die Medienpraktik sein, die sich vollzieht. 56 Latour: »Reassembling the social«, S. 12. Vgl. auch Schüttpelz: »Elemente einer Akteur- Medien-Theorie«, S. 19, der die Prämisse ›follow the actor‹ auf »Folge den Mittlern!« zuspitzt. 57 Vgl. Bender/Zillinger: »Handbuch der Medienethnographie«, Hirschauer/Amann: »Die Befremdung der eigenen Kultur«. NAVIGATIONEN 22 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN …infrastrukturiert, d. h. dass bei Medienpraktiken des Alltags durch die Kooperationsbedingungen58 und Affordanzen59 infrastrukturelle Medialitäten wir- ken. Diese konstituieren sich aus den Praktiken und modifizieren diese wiederum. In dieser Hinsicht wird das praktische Tun als ein an mediale Infrastrukturen ge- bundenes Tun verständlich. Kurz: Infrastrukturen richten Medienpraktiken zu. Diese Infrastrukturen unterliegen jedoch, so Schabacher, einer »spezifischen Form von Transparenz«60 und sind mitunter nicht auf den ersten Blick sichtbar oder auch gänzlich unsichtbar. Infrastrukturell perspektiviert sind Medienprakti- ken materiell und/oder immateriell, lokal oder global verteilt (z. B. Serverinfra- strukturen), statisch oder dynamisch. Medienpraktiken benötigen gewisse Infra- strukturen, um ›funktionieren‹ zu können, andererseits bringen Medienpraktiken Infrastrukturen hervor. Dadurch, dass infrastrukturierte Medien die materielle Basis für Medienprak- tiken liefern, erzeugen Medienpraktiken Spuren.61 So ergeben sich aus den alltäg- lichen digitalen Medienpraktiken Daten für eine Analyse ihrer selbst. Für soziale Netzwerkplattformen etwa konstatieren Paßmann und Gerlitz: »Indem Platt- formaktivitäten eine direkte Verbindung zwischen Praktiken und den dabei er- zeugten Daten herstellen, werden Daten von Nutzeraktivitäten aggregierbar.«62 Digitale Medienpraktiken erfahren in diesem Sinne also eine infrastrukturbedingte Verdatung.63 Damit unterscheidet sich dieses Charakteristikum von den bisher aufgeführ- ten, da es hier u. a. um die Opazität von Medienpraktiken geht, deren Durchdrin- gung erst Medienpraktiken analytisch aufschließt. Umso essentieller ist für die Medienpraktikenforschung die Untersuchung des Nicht-Sichtbaren. Borbach zeigt in seinem Beitrag beispielsweise, wie der Blick »unter die Oberfläche des Medi- ums«64 konstitutiver Bestandteil der Medienpraktiken des Rundfunks in der Wei- marer Republik war. …historisch, d. h. Medienpraktiken haben Genealogien, gleicher, ähnli- cher oder differenzierender Vorgängigkeiten. Schäfer spricht von der Relationali- tät der Praktiken, dass jede Praktik also von der Existenz anderer auch vergange- ner Praktiken abhängig ist und ihrer Iterabilität, dass also das Bestehen von Prak- tiken in Raum und Zeit die Möglichkeit anpassender Verschiebungen voraus- 58 Schüttpelz: »Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien«. 59 Gibson: »The Theory of Affordances«. 60 Schabacher: »Medium Infrastruktur«, S. 129. 61 Vgl. Winkler: »Spuren, Bahnen«. 62 Paßmann/Gerlitz: »›Good‹ platform-political reasons for ›bad‹ platform-data«, S. 2. 63 Vgl. Schneider/Otto: »Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung«. Eine kritische Auseinandersetzung mit Big Data und datafication findet sich bei Coté u. a. 2016. 64 Borbach in diesem Band. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 23 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH setzt.65 Medienpraktiken lassen sich, wie auch Borbachs Beitrag in diesem Band zeigt, in einem Spannungsfeld von Routine und Emergenz, Praktik und Praxis be- stimmen. So sind etwa ungeplante, spontan koordinierte Workarounds66 ebenso Medienpraktiken wie langfristig stabile und sedimentierte »arrays of activities.«67 Die Perspektive der Medienpraktiken erweist sich gewissermaßen als ein Heilmittel gegen lineare Fortschrittserzählungen medialer Evolution.68 Für die his- torische Herleitung gegenwärtiger Medienpraktiken eröffnet sich eine Vielzahl neuer Verknüpfungen, die im besten Fall die Kontingenzen der Moderne sinnvoll mit einbeziehen können.69 Die Geschichte der Einzel- und Massenmedien erhält durch eine medienpraktische Perspektive eine ähnliche Akzentverschiebung, in- dem sie verstanden wird als vorübergehend konsolidierte Medienpraktiken, deren kulturelle, technische und institutionelle Stabilisierungen auf infrastrukturellen Bedingungen und Investitionen beruhten, deren Anfänge und Enden historisch nachvollzogen werden können.70 Das Spannungsfeld von Routine und Emergenz erinnert aber auch daran, dass his- torische Medienpraktiken im Sinne einer historischen Praxeologie71 als All- tagspraktiken in ihrem spezifischen historischen Kontext untersucht werden kön- nen. Dieser Ansatz verspricht Aufschlüsse gerade für Perioden, in denen der All- tag der Menschen durch das Eingreifen von politischen Strukturen geprägt war. An dieser Stelle könnte sich der Blick auch wieder von den stabilisierten Medien lösen und ein offener Medienbegriff zur Anwendung kommen. Medienpraktiken als Alltagspraktiken wären dann (wieder) gewissermaßen eine offene Liste von Praktiken und Prozessen der Vermittlung und Speicherung unter Einsatz ver- schiedenster Mittel in diversen Situationen. Die historische Perspektive der Medienpraktiken bedeutet schließlich auch eine methodische Herausforderung. Um die Spuren vergangener Medienprakti- ken offen zu legen, erweisen sich ein weiter, über schriftliche Überlieferungen hinausgehender Quellenbegriff, wie auch eine auf Materialität und Medialität fo- kussierte Quellenkritik als essentiell.72 An der Materialität von Objekten und Do- 65 Schäfer: »Praxis als Wiederholung«, S. 138 und S. 155. 66 Gießmann/Schabacher: »Umwege und Umnutzung oder: Was bewirkt ein ›Work- around‹?«. 67 Schatzki: »Introduction: Practice Theory«, S. 11; vgl. auch Postill: »Introduction: Theoris- ing Media and Practice«, S. 10. 68 Bickenbach: »Medienevolution – Begriff oder Metapher«, insbesondere S. 112. 69 Moebius: »Kultur«, S. 144. 70 Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«, S. 8. 71 Vgl. Haasis/Rieske: »Historische Praxeologie«. 72 Vgl. Crivellari u. a.: »Einleitung«, S. 19. NAVIGATIONEN 24 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN kumenten der Vergangenheit wäre so im Idealfall ihre alltägliche Nutzung als Me- dienpraktik abzulesen. …sozio-kulturell, d. h. Medienpraktiken sind wie bereits angesprochen kooperativ, interaktiv, eingebunden in größere Handlungszusammenhänge. Jede Medienpraktik ist in eine Situation und einen Kontext eingebunden. In diesen wir- ken kulturelle und soziale Einflüsse, die Kooperation, Interaktion, Umsetzung und Gelingen der Medienpraktik ermöglichen und prägen. Die Gemeinsamkeit vieler praxistheoretischer ethnologischer Arbeiten seit den 1980er Jahren liegt darin, die Beziehung zwischen handelndem Akteur und der Gesellschaft auf neue Weise zu befragen. Mit dieser Perspektive arbeiten sich diese Positionen erstens mit einem Fokus auf Körperlichkeit an Bourdieu und dem Begriff des Habitus ab und neh- men zweitens Bezug zu Giddens Theorie der Strukturation.73 Damit gehen Ethnolog_innen (z. B. Ortner74) den grundlegenden Fragen nach der Kontinuität und der Möglichkeit des Wandels in Gesellschaften und Kul- turen mit einem Blick auf Praktiken nach, ohne dass Kulturen hier als abgeschlos- sene Einheiten verstanden werden.75 Soziale Praktiken können nach diesem Ver- ständnis nur als eingebettet in ihren sozio-kulturellen Kontext (mit einer eigenen Geschichte der Körperlichkeit, Sprachlichkeit oder auch Normativität) verstanden werden. Sozio-kulturelle Konventionen und Normen werden in den Praktiken aufgerufen und gleichzeitig erlaubt die Performanz des Tuns eine Offenheit für Umdeutungen. Die Medienethnolog_innen Bräuchler und Postill setzen mit ihrem Band »Theorising Media and Practice«76 an diesem Verständis von Praktiken an und verbinden es mit den Erkenntnissen aus der medienwissenschaftlichen Auseinan- dersetzung um Medien als Praktiken. Damit rückt nicht nur die medienpraktische Konstitution von Kultur, sondern auch die sozio-kulturelle Verfasstheit von Medi- enpraktiken in den Fokus der Untersuchungen.77 Auf das Beispiel der Skype-Sitzung bezogen würde dies bedeuten, auch den deutschen Wissenschaftskontext an den Schnittstellen unterschiedlicher Diszipli- nen zu fassen. Nicht nur die Kulturen des kollaborativen wissenschaftlichen Arbei- tens sind innerhalb bestimmter Regionen und Disziplinen spezifisch, auch Vorstel- lungen von gemeinschaftlichem Arbeiten variieren hier und werden in den jeweili- gen Situationen neu verhandelt. Die Beiträge von Ramella und Meyer/Meier zu Verl betrachten Medienpraktiken als spezifisch für bestimmte sozio-kulturelle 73 Postill: »Introduction: Theorising Media and Practice«, S. 6 und S. 9; Bourdieu: »Outline of A Theory of Practice«; Giddens: »The Constitution of Society«. 74 Vgl. Ortner: »Theory in Anthropology since the Sixties«. 75 Vgl. zur soziologischen Perspektive auf die praktische Konstitution von Kultur auch Hörning/Reuter: »Doing Culture« und Shove: »The Dynamics of Social Practice«. 76 Bräuchler und Postill: »Theorising Media and Practice«. 77 Vgl. Rao: »Embedded/Embedding«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 25 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH Gruppen: einerseits von mobilen Musiker_innen und Musikproduzent_innen, an- dererseits von jugendlichen Nutzer_innen mit WhatsApp. In Pfeifers Beitrag wird dazu analog die soziokulturelle Verfasstheit der Gestaltung von sozialer Nähe und Distanz in transnationalen Medienpraktiken untersucht.78 4. BEITRÄGE DES BANDES In ihrem Beitrag »Medienpraktiken ›on the road‹. Social Media im Kontext von Musikmarketing« untersucht die Medienethnologin Anna Lisa Ramella Social-Media-Praktiken von tourenden Musiker_innen und setzt diese mit Verän- derungen im Musikmanagement in Relation. Dabei zeigt sie erstens, wie die digi- talen Medienpraktiken der Musiker_innen vom Management ausgewertet wer- den, um die physische Reichweite der Tour zu verändern. Zweitens verweist Ramella darauf, dass die 19-36jährigen Musiker_innen mit ihren Posts auf Face- book oder Instagram soziale Beziehungen zu unterschiedlichen Personengruppen wie Freunden, Fans oder dem Management aushandeln. Musiker_innen fassen ih- re Social-Media-Praktiken einerseits als persönliche Interaktionen auf, anderer- seits werden diese gleichzeitig als Musikmarketing genutzt. Musikmarketing wird zunehmend von den Bands selbst und nicht mehr vom Management betrieben. Drittens kann das Kuratieren des »Social Self«, wie es die Musiker_innen in Ra- mellas Forschung formulieren, als Antwort auf diese Spannungen, aber auch auf die Angst vor dem Kontrollverlust der Selbstdarstellung gewertet werden. In ih- rem Beitrag verweist Ramella insbesondere auf die Fragilität und Dynamik der Social-Media-Praktiken von Musiker_innen, die sie gleichzeitig als Teil der Routi- nen des Touralltags begreift. Simone Pfeifer beschäftigt sich in ihrem Artikel mit der Herstellung und Aushandlung sozialer Beziehungen in Medienpraktiken. In ihrem Beitrag »Medi- enpraktiken der Nähe und Distanz. Soziale Beziehungen und Facebook- Praktiken zwischen Berlin und Dakar« untersucht sie anhand von transnatio- nalen Beziehungen zwischen Senegales_innen in Dakar und Berlin. Pfeifer richtet ihr Augenmerk dabei auf kleinteilige Medienpraktiken, durch deren Beschreibung sie die Beziehungspraktiken auf der sozialen Netzwerkplattform Facebook analy- siert. Ihr methodisches Vorgehen ist dabei ethnografisch und an Ingolds enski- lment-Begriff angelehnt: Die Medienpraktiken ihrer Informantinnen erlernt Pfeifer durch das nachahmende, praktische Tun. Dadurch werden Medienpraktiken der Beforschten für die Forscherin zu eigenen, analytisch motivierten Medienprakti- ken, die es ihrerseits zu reflektieren gilt. Pfeifer zeigt am Beispiel von Fotos das Zusammenspiel von Ästhetik und Produktionsbedingungen mit den Distributions- praktiken auf Facebook (z. B. im Falle des nachträglichen Löschens von Fotos) und liefert somit eine detaillierte Analyse der medienübergreifenden Medienprak- 78 Über die hier genannten Merkmale hinaus gibt es zahlreiche weitere Aspekte von Medienpraktiken zu berücksichtigen. Sie können etwa literarisch, politisch, ökonomisch, juristisch, technisch, regulatorisch, diskursiv usw. sein. NAVIGATIONEN 26 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN tiken als komplexe und vielschichtige Beziehungspraktiken. Medienpraktiken sta- bilisieren dabei Nähe und Distanz-Relationen kontinuierlich, sodass transnationale soziale Beziehungen, so Pfeifer, durch die soziale Verfasstheit von Medienprakti- ken erst ermöglicht werden. Mit Fokus auf die Bildkommunikation in WhatsApp analysieren die Ethnolo- gen und Soziologen Christian Meyer und Christian Meier zu Verl in ihrem Artikel »Epistemische Regime der neuen Medien. Eine kultursoziologische Perspektive auf digitale Bildkommunikation« Interaktionen in mobilen und sozialen Medien. Aus einer kultursoziologischen Perspektive in der Tradition der Ethnomethodologie untersuchen sie den Austausch von Texten und Bildern von jugendlichen WhatsApp-Nutzer_innen und stellen damit die ›Produkte von Medi- enpraktiken‹ ins Zentrum der Analyse. Dabei konstatieren Meyer/Meier zu Verl die Herausbildung generationsspezifischer Wahrnehmungs- und Wissenskulturen in mobilen und digitalen Medienpraktiken. Die zunehmende Verwendung von Bil- dern in der Alltagskommunikation von Jugendlichen, so die Autoren, geht mit der Herausbildung spezifischer epistemischer Präferenzen der Anschauung und Erfah- rungsnähe einher. Zudem fördert sie die Verbreitung der zeigenden Formen der interpersonellen Bildkommunikation. Dieses zeitnahe Zeigen findet in einem ständig verfügbaren Kommunikationsraum statt und stellt Wissensobjekte her, auf die zurückgegriffen werden kann: Dadurch entsteht Vertrautheit, gemeinsamer Alltag und letztendlich auch eine neue Subjektkultur. Diese Ergebnisse machen die Autoren für die Kultursoziologie fruchtbar und verweisen auf mögliche Ent- wicklungen hybrider Formen der Vergesellschaftung, die zwischen Öffentlichkei- ten mit unterschiedlichen Reichweiten vermitteln. Die Literaturwissenschaftlerin Raphaela Knipp zeigt in ihrem programmati- schen Beitrag »Literaturbezogene Praktiken. Überlegungen zu einer pra- xeologischen Rezeptionsforschung«, wie sich die Perspektive auf Medienprak- tiken für die Literaturwissenschaft fruchtbar machen lässt. Mit dem Fokus auf die Leser_innen- und Rezeptionsforschung stellt sie anhand von zwei Fallbeispielen aus dem Shared Reading und ihrer Forschung über den Literaturtourismus dar, welche konstitutive Rolle Medienpraktiken hier spielen. Knipp plädiert erstens für eine Erweiterung der Literaturwissenschaft um eine praxeologische Perspektive und verschiebt damit den Fokus von den Texten und textanalytischen Verfahren hin zu konkreten Leser_innen und den Medienpraktiken im Umgang mit Litera- tur. Der Fokus auf Medienpraktiken erlaubt zweitens, so Knipp, die Medialität li- teraturbezogener Praktiken zu berücksichtigen und verweist darauf, dass litera- turbezogene Praktiken immer auf materielle Vermittlung mit ihrer je spezifischen Medialität angewiesen sind. Zuletzt spricht sich die Autorin für eine methodische Öffnung der Literaturwissenschaft hin zu empirischen bzw. ethnografischen Ver- fahren aus, betont jedoch auch die Herausforderungen die diese neuen Daten- korpora für die Literaturforschung bedeuten. Abschließend macht Knipp deutlich, dass auch für eine praxeologische Rezeptionsforschung die literarischen Texte in ihrer ästhetischen Dimension relevant bleiben, wenn sie anhand der Fallbeispiele NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 27 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH aufzeigt, dass aus bestimmten Textgenres spezifische literaturbezogene Praktiken hervorgehen und die literaturbezogenen Praktiken auch literarische Genres mit- gestalten. Christoph Borbach zeigt in seinem Beitrag »Experimentelle Praktiken. Apparative Radioexperimente in der Weimarer Republik« das Potential ei- ner auf Medienpraktiken fokussierten Herangehensweise für die Mediengeschich- te auf. Mit besonderem Schwerpunkt auf Bertolt Brechts Radiotexten kann Bor- bach demonstrieren, wie sich die Einführung des Radios in die Gesellschaft der Weimarer Republik in Form einer experimentellen Auseinandersetzung mit dem Apparat vollzogen hat. Theorien der Medientechnik und ihre praktische Anwen- dung werden in diesem Fall insofern zu Medienpraktiken, als sie sich verflechten und rekursiv verfertigen. In den Prinzipien der Radartechnologie findet Borbach dabei das Sinnbild für ein Verständnis von Medienpraktiken das von einem »Rück- kanal der Mediumnutzer_innen zum Medium selbst« ausgeht. Seine Analyse der An- eignung von Radiotechnologie in der Weimarer Republik kann somit einen Beitrag zum Verständnis leisten, wie Theorie und die Auseinandersetzung mit den techni- schen Grundlagen eines Mediums mit einem medienpraktischen Ansatz verbun- den werden können. Dabei, so Borbach, erscheint es »nicht nur schwer, sondern unratsam, (…) das Eine als dem Anderen vorgelagert zu beschreiben.« Das histo- rische Fallbeispiel zeigt zudem, wie sich Medienpraktiken zu ihren strukturellen Rahmungen, wie in diesem Fall den Rundfunkgesetzen der Weimarer Republik, stellen. Borbachs Beitrag akzentuiert damit das Zusammenspiel von Praktik, Technik und (Infra-)Struktur, das essentiell für die Betrachtung und Analyse ver- gangener Medienpraktiken ist. In dem Beitrag »Tastatur und Talker, Hand und Stimme. Zum Ver- hältnis von Körper- und Gerätetechnik am Beispiel von Hilfsmitteln für Menschen mit spastischen Lähmungen« betrachtet Andreas Henze aus ei- ner soziologischen Perspektive, wie Menschen mit spastischen Lähmungen tech- nische Geräte in ihre Alltagspraktiken einbinden. Dabei kontrastiert er anhand dreier unterschiedlicher Fälle von Medienpraktiken das Verhältnis zwischen Kör- per und Technik. Im Fall des Schreibens einer E-Mail mit einem Joystick durch ei- ne Person mit spastischer Tetraparese in der rechten Körperhälfte stellen sich Kraft und Kontrolle als zentrale Kategorien im Zusammenspiel von Mensch und Technik heraus. Als weiteren Fall untersucht Henze das Sprechen mit einem Sprachcomputer, einem sogenannten Talker. Hierbei rücken interaktionale As- pekte in den Vordergrund. Henze zeigt auf, wie durch diese Medienpraktik Kon- versationen zwischen Akteuren, insbesondere Redezugwechsel, wechselseitig zwischen Gelähmten und Nicht-Gelähmten sowie unter starkem Einbezug der Technik, organisiert werden. Schließlich analysiert er einen Fall, in dem mittels Sprachcomputer kommuniziert und das Display per Augensensor gesteuert wird. In einem biografisch-narrativen Interview stehen die Weiterentwicklung und ver- schiedene Versionen des Talkers, die sich den Bedürfnissen seines Benutzers an- passen sowie die Technisierung des Körpers im Mittelpunkt. Das Verhältnis von NAVIGATIONEN 28 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN Körper zu Technik wird durch die situierten ethnografischen Analysen als wech- selseitig, selbstständig, strukturell vereinheitlicht sowie lebensphasenspezifisch konturiert. Das »Glossar zur Praxistheorie. ›Siegener Version‹ (Frühjahr 2017)« von Erhard Schüttpelz und Christian Meyer rundet den Band ab. Die Auto- ren stellen ein Grundvokabular vor, das zum Ziel hat, eine Praxistheorie der Me- dien begrifflich zu fundieren. Anhand von Zeichnungen zum Film »Approaches and Leave-Takings« von Weldon Kees und Jurgen Ruesch führen sie in die begriff- liche Übung ein und zeigen die Schwierigkeit auf, ein praxistheoretisches Vokabu- lar zu finden: »Eine Theorie der Praxis bleibt insgesamt unvollständig, denn sie kann nur in schwächeren und abgeleiteten Begriffen stattfinden.« Kooperation, In- teraktion, Praktiken, Handlungen, Routinen, Techniken und Praxis werden definiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Hierbei erweist sich Wechselseitige Verferti- gung als Begriff, der in allen Definitionen zentral ist. Auffallend ist, dass Schüttpelz und Meyer gerade den Begriff Medien nicht in ihr Glossar aufnehmen, sondern erst aus ihren Erläuterungen herleiten, dass das Medium fortlaufend und wechsel- seitig durch die Übergängigkeit von Zielen, Mitteln und Abläufen konstituiert wird. 5. FAZIT - WAS MENSCHEN MIT MEDIEN TUN UND WAS MEDIEN MIT MENSCHEN MACHEN Medienpraktiken zu erforschen, bedeutet herauszufinden, was Menschen mit Medien tun und was Medien mit Menschen machen. Diese für die Medienprak- tikenforschung zentrale Einsicht erfordert erstens, medienpraktische Phänomene in einem hohen Detailgrad zu fassen, um die Relation der beteiligten menschli- chen und medialen Akteure zueinander in situ und in actu79 nachzuvollziehen. Erst durch die analytische Durchdringung dieser situativen Vollzugsmomente lässt sich zweitens der Status von Medien klären: was durch Praktiken zu einem Medium wird und wie die Praktiken unter Berücksichtigung der an ihnen konstitutiv betei- ligten Medien beschaffen sind. Dadurch lassen sich ebenso übersituative Bezüge zur Praxis, durch die die Praktiken zur situativen Entfaltung kommen, herstellen. Drittens muss dabei berücksichtigt werden, inwiefern die eigenen Medienprakti- ken der Erforschung in ihren jeweiligen situativen Stadien die (Analyse der) Medi- enpraktik zurichten, z. B. die Erfassung von Gesprächssituationen über Fotogra- fien und Beschreibungen (oder Transkripte), die intersubjektive Analyse dieser Materialien in einer Datensitzung, bei der ein Beamer oder Handout verwendet werden sowie die Umsetzung der Analyseergebnisse in ein Präsentationsmedium, d. h. einen Text, eine Bildschirmpräsentation, eine Infografik usw. Hiermit sind al- so drei Abstufungen der medienpraktischen Analyse angesprochen: Medienprak- tikenforschung behandelt 1. das Situieren der Medienpraktiken durch die beteilig- 79 Vgl. Gießmann/Schabacher: »Umwege und Umnutzung oder: Was bewirkt ein ›Work- around‹?«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 29 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH ten Akteure, 2. das Erforschen dieser mittels eigener Medienpraktiken, die 3. ein Reflektieren dieser Forschungsmethoden erfordern. Hierbei müssen diese den untersuchten Medienpraktiken jeweils spezifisch angepasst werden. Die Beiträge dieses Bandes haben diese Forderungen entsprechend unter- schiedlich gewichtet und eingelöst. Sie befassen sich mit einem breiten Spektrum dessen, was als situierte Medienpraktik gefasst werden kann. Die ersten drei Bei- träge fokussieren mobile und digitale Medienpraktiken und betrachten vor allem das ›Posten‹ als soziale Medienpraktiken. Dabei betonen sie dessen komplexe und vielschichtige, aber auch fragile Funktion in der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen (Pfeifer, Ramella) sowie die zeichenhafte Herausbildung ge- nerationsspezifischer Wahrnehmungs- und Wissenskulturen (Meyer/Meier zu Verl). Die Spuren von Medienpraktiken finden sich auch in literarischen Texten und der Aneignung dieser Texte durch Leser_innen, wie dies Knipp in ihrem Bei- trag zeigt. Borbach geht in seiner medienhistorischen Betrachtung davon aus, dass die Medienpraktiken sich im Zusammenspiel der Prinzipien der Radiotechnologie und deren Aneignung durch Nutzer_innen konstituieren. Henze wiederum erwei- tert die soziotechnische Betrachtung um den Fokus auf den Körper mit techni- schen Apparaten bei der Untersuchung von Medienpraktiken. Schüttpelz und Meyer leiten aus der Beobachtung einer interaktiven Vollzugssituation allgemeine Gültigkeiten von Praktiken ab. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie erst aus ih- ren jeweiligen Untersuchungen und Perspektiven heraus bestimmen, was genau als Medienpraktik und Medien, die in ihnen zum Tragen kommen, gefasst werden kann. Methodisch trägt die Medienpraktikenforschung ihren Prämissen dadurch Rechnung, dass sie konsequent empirisch vorgeht. Entsprechend ihrer Untersu- chungs-›Gegenstände‹ justiert werden müssen daher die jeweiligen Methoden, mit denen Medienpraktiken adäquat erfasst, analysiert und präsentiert werden. Allen Beiträgen gemein ist, dass sie den situativen Vollzugsmomenten und deren medienpraktischen Konstellationen ihre Aufmerksamkeit widmen. Dadurch rü- cken insbesondere ethnografische Methoden in den Mittelpunkt der Medienprak- tikenforschung. So haben wir für unser Analysebeispiel ›Videokonferenz und wis- senschaftliches Arbeiten‹ einen autoethnografischen Zugang gewählt, der es uns ermöglichte, als Expert_innen unserer eigenen Praktiken und Praxis zu berichten und zu analysieren. Die Autor_innen der Beiträge machen u. a. die eigene Teil- nahme an Situationen zu ihrer Methode (Henze, Knipp, Pfeifer, Ramella) oder orientieren sich an Texten (Meyer/Meier zu Verl, Knipp), historischen Quellen (Borbach), Interviews (Henze, Knipp, Pfeifer, Ramella) oder Bildern (Ramella, Pfeifer, Schüttpelz/Meyer). Dabei kombinieren sie unterschiedliche Methoden ge- genstandsadäquat und überschreiten teilweise tradierte methodische Grenzen der eigenen Disziplin. Knipp zeigt dies eindrücklich in ihrer Auseinandersetzung mit dem »Textparadigma« für die Literaturwissenschaft. Dieses Vorgehen ist nicht nur durch die notwendige Ausweitung disziplinärer Praktiken voraussetzungsvoll, sondern erfordert ebenso einen reflexiven Umgang NAVIGATIONEN 30 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN mit den eigenen Medienpraktiken der Forschung. Für das Analysebeispiel etwa stellten wir fest, dass die eingesetzten Methoden und das daraus hervorgegangene Material – Screenshots und Fotos einer Videokonferenzsituation – den Anforde- rungen an eine Sequenzanalyse nicht gerecht werden konnte. Die primäre Moda- lität wissenschaftlicher Präsentationspraktiken, das Visuelle des geschriebenen Textes, beschränkt die Darstellung multimodaler Phänomene und evoziert Über- setzungspraktiken, die der ursprünglichen Situation oftmals nicht entsprechen.80 Zudem verlangt das aus dem Situations- und Praktikenverlauf entnommene, fi- xierte81 Datenmaterial eine starke Kontextualisierung. Die Beiträge zeigen punk- tuell, wie die reflexive Verhandlung der eigenen Medienpraktiken die Analyse vo- rantreiben kann. So versteht Ramella ihre Medienpraktiken als analyseleitende Ortspraktiken, durch die ihr (Forschungs-)Feld »immer wieder neu erschlossen« wird. Pfeifer reflektiert das eigene praktische Erlernen als Erkenntnisweg und An- näherung an kulturell spezifische transnationale Medienpraktiken. In der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Eigenschaften von Me- dienpraktiken haben wir diese in einer losen Reihe ohne Hierarchisierung als situ- iert, körperlich, zeichenhaft, prozessual, medienübergreifend, infrastrukturiert, historisch und sozio-kulturell beschrieben. Aus ihrer Analyse lassen sich Bezüge zwischen den konkreten Medienpraktiken und der entsprechenden übersituativen Praxis herstellen. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass nicht immer alle, doch häufig viele dieser Eigenschaften in der jeweiligen Analyse relevant und unter- schiedlich gewichtet werden. Für eine zukünftige Medienpraktikenforschung ist es wichtig, hierbei noch stäker herauszuarbeiten, inwiefern, d. h. in welchen darüber hinausgehenden Facetten, Medienpraktiken konstitutiv für Medien und soziale Praktiken sind. Gerade die Verbindung dieser Perspektiven zeigt, wie sich Prakti- ken und Medien gegenseitig bedingen. Hierzu sind alle geistes-, kultur- und sozi- alwissenschaftlich interessierten Disziplinen aufgefordert. LITERATURVERZEICHNIS Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan: »Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm«, in: Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a. M. 1997, S. 7-52. Bender,Cora/Zillinger, Martin (Hrsg.): Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015. 80 In der Konversationsanalyse wird hingegen betont, dass die Medienpraktik des Tran- skribierens und das Transkript als Medium oftmals Phänomene zum Vorschein bringen, die situativ durch die Beteiligten bzw. die Forscher_innen nicht erfasst wurden. Vgl. Deppermann: »Gespräche analysieren«, S. 41. 81 Vgl. Bergmann: »Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 31 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH Bergmann, Jörg: »Die Trivialität der Katastrophe – Situationen als Grenzobjekte«, in: Hörster, Reinhard/Köngeter, Stefan/Müller, Burkhard (Hrsg.): Grenzob- jekte, Wiesbaden 2013, S. 285-299. Bergmann, Jörg R.: »Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit: Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie«, in: Bonß, Wolf- gang/Hartmann, Heinz (Hrsg.): Entzauberte Wissenschaft: Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung, Sonderband 3 »Soziale Welt«, Göttingen 1985, S. 299-320. Bickenbach, Matthias: »Medienevolution – Begriff oder Metapher? Überlegungen zur Form der Mediengeschichte«, in: Crivellari, Fabio/Kirchmann, Kay/Sandl, Marcus/Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Die Medien der Geschichte, Konstanz 2004, S. 109-137. Bourdieu, Pierre: Outline of a Theory of Practice, Cambridge 1977. Bräuchler, Birgit/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010. Coté, Mark/Gerbaudo, Paolo/Pybus, Jennifer (Hrsg.): Politics of Big Data, Digital Culture & Society, Bd. 2, Bielefeld 2016. Couldry, Nick: »Theorising Media as Practice«, in: Social Semiotics, Bd. 14, Nr. 2, 2004, S. 115-132. Couldry, Nick/Hobart, Mark: »Media as Practice: A Brief Exchange«, in: Bräuch- ler, Birgit/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010, S. 77-82. Crivellari, Fabio/Kirchmann, Kay/Sandl, Marcus/Schlögl, Rudolf: »Einleitung: Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien«, in: Crivellari, Fabio/Kirchmann, Kay/Sandl, Marcus/Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Die Medien der Geschichte, Konstanz 2004, S. 9-45. Dang-Anh, Mark: »Die interaktionale Konstitution einer synthetischen Protestsi- tuation«, in: Kämper, Heidrun/Wengeler, Martin (Hrsg.), Protest – Parteien- schelte – Politikverdrossenheit. Politikkritik in der Demokratie, Bremen 2017, S. 133-149. Deppermann, Arnulf: »Ethnographische Gesprächsanalyse: Zu Nutzen und Not- wendigkeit von Ethnographie für die Konversationsanalyse«, in: Gesprächs- forschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 2000, S. 96-124. Deppermann, Arnulf: Gespräche analysieren. Eine Einführung, Qualitative Sozial- forschung, Bd. 3, Wiesbaden 2008. Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967. Gibson, James T.: »The Theory of Affordances«, in: Shaw, Robert/Bransford, John (Hrsg.), Perceiving, Acting, and Knowing: Toward an Ecological Psychology, Hilsdale 1986, S. 127-143. Giddens, Anthony: The Constitution of Society, Cambridge 1984. NAVIGATIONEN 32 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN Gießmann, Sebastian/Schabacher, Gabriele (2014): »Umwege und Umnutzung oder: Was bewirkt ein ›Workaround‹?«, in: Habscheid, Stephan/Hoch, Gero/ Schröteler-von Brandt, Hildegard/Stein, Volker (Hrsg.): Umnutzung: Alte Sa- chen, neue Zwecke (DIAGONAL), Göttingen 2014, S. 13-26. Grasseni, Cristina (Hrsg.): Skilled Visions: Between Apprenticeship and Standards, Oxford/New York 2007. Haasis, Lucas/Rieske, Constantin: »Historische Praxeologie. Zur Einführung«, in: Haasis Lucas/Rieske, Constantin (Hrsg.): Historische Praxeologie. Dimensio- nen vergangenen Handelns, Paderborn 2015, S. 7-55. Habscheid, Stephan: »Handeln in Praxis. Hinter- und Untergründe situierter sprachlicher Bedeutungskonstitution«, in: Deppermann, Arnulf/Feilke, Hel- muth/Linke, Angelika (Hrsg.), Sprache und kommunikative Praktiken, Berlin 2016, S. 127-151. Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014. Hirschauer, Stefan: »Intersituativität. Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro«, in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft »Inter- aktion – Organisation – Gesellschaft«, 2014, S. 109-133. Hirschauer, Stefan: »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns«, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hrsg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73-91. Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Ver- hältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. Ingold, Tim: The Perception of the Environment: Essays on Livelihood, Dwelling and Skill, London 2000. Knipp, Raphaela/Paßmann, Johannes/Taha, Nadine (Hrsg.): Vom Feld zum Labor und zurück. Navigationen: Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, Bd. 13, Nr. 2, 2013. Knorr Cetina, Karin: »Die synthetische Situation«, in: Ayaß, Ruth/Meyer, Christian (Hrsg.): Sozialität in Slow Motion. Theoretische und empirische Perspekti- ven, Wiesbaden 2012, S. 81-109. Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Krämer, Sybille (Hrsg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt 1998, S. 73-94. Krentel, Friedolin/Barthel, Katja/Brand, Sebastian/Friedrich, Alexander/Hoffmann, Anna Rebecca/Meneghello, Laura/Müller, Jennifer Ch./Wilke, Christian: Library Life: Werkstätten kulturwissenschaftlichen Forschens, Lüneburg 2015. Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network- Theory, Clarendon Lectures in Management Studies, Oxford 2005. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 33 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH Licoppe, Christian/Morel, Julien: »Video-in-Interaction. ›Talking Heads‹ and the Multimodal Organization of Mobile and Skype Video Calls«, in: Research on Language & Social Interaction, Bd. 45, 2012, S. 399-429. Liebrand, Claudia/Schneider, Irmela (Hrsg.): Medien in Medien, Mediologie, Bd. 6, Köln 2002. Meyer, Christian: »›Metaphysik der Anwesenheit‹. Zur Universalitätsfähigkeit so- ziologischer Interaktionsbegriffe«, in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft »Interaktion – Organisation – Gesellschaft«, 2014, S. 321-345. Meyer, Christian: »Mikroethnographie: Praxis und Leib als Medien der Kultur«, in Bender, Cora/Zillinger, Martin (Hrsg.): Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015, S. 57-76. Moebius, Stephan: Kultur, Bielefeld 2009. Ortner, Sherry B.: »Theory in Anthropology since the Sixties«, in: Comparative Studies in Society and History, Bd. 26, Nr. 1, 1984, S. 126-166. Paßmann, Johannes: »Forschungsmedien erforschen. Zur Praxis mit der Daten- Mapping-Software Gephi«, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kul- turwissenschaften 13 (2), 2013, S. 113-130. Postill, John: »Introduction: Theorising Media and Practice«, in Bräuchler, Bir- git/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010, S. 1-34. Postill, John/Pink, Sarah: »Social Media Ethnography: The Digital Researcher in a Messy Web«, in: Media International Australia, Incorporating Culture & Poli- cy, Bd. 145, 2012, S.123-134. Rao, Ursula: »Embedded/Embedding Media Practices and Cultural Production«, in: Bräuchler, Birgit/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010, S. 147-170. Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozial- theoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie Nr. 32, Bd. 4, 2003, S. 282-301. Rottenburg, Richard: Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe, Stuttgart 2002. Sacks, Harvey/Schegloff, Emanuel A./Jefferson, Gail: »A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation«, in: Language 50, 1974, S. 696-735. Schabacher, Gabriele: »Medium Infrastruktur. Trajektorien soziotechnischer Netzwerke in der ANT«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2013, S. 129-148. Schäfer, Hilmar: »Praxis als Wiederholung. Das Denken der Iterabilität und seine Konsequenzen für die Methodologie praxeologischer Forschung«, in: Schäfer, NAVIGATIONEN 34 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN Hilmar (Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bie- lefeld 2016, S. 137-159. Schatzki, Theodore R.: Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996. Schatzki, Theodore R.: »Introduction: Practice Theory«, in: Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hrsg.): The Practice Turn in Con- temporary Theory, London/New York 2001, S.10-23. Schatzki, Theodore R.: »Praxistheorie als flache Ontologie«, in: Schäfer, Hilmar (Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016, S. 29-44. Schegloff, Emanuel A./Sacks, Harvey: »Opening up Closings«, in: Semiotica 8, 1973, S. 289-327. Schneider, Irmela/Otto, Isabell: »Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung«, Bielefeld 2007. Schneider, Jan G.: »Nähe, Distanz und Medientheorie«, in: Feilke, Hel- muth/Hennig, Mathilde (Hrsg.), Zur Karriere von ›Nähe und Distanz‹: Rezep- tion und Diskussion des Koch-Oesterreicher-Modells (Reihe Germanistische Linguistik), Berlin 2016, S. 333-356. Schüttpelz, Erhard: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken«, in: Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hrsg.): Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Weimar 2006, S. 87-110. Schüttpelz, Erhard: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, in: Thielmann, Tristan/Schüttpelz, Erhard (Hrsg.), Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld 2013, S. 9-70. Schüttpelz, Erhard: »Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien«, Pre- Publication, in: Media in Action, Nr. 0, 2016, S.1-21. Schüttpelz, Erhard/Gießmann, Sebastian: »Medien der Kooperation: Überlegun- gen zum Forschungsstand«, in: Navigationen: Zeitschrift für Medien- und Kul- turwissenschaften, Bd. 15, Nr. 1, 2015, S. 7-55. Schütz, Alfred: »Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschli- chen Handelns«, in: Schütz, Alfred (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze. Das Prob- lem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 3-54. Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika/Watson, Matt: The Dynamics of Social Practice: Everyday Life and How It Changes, London u. a. 2012. Swidler, Ann: »What Anchors Cultural Practices«, in: Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hrsg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001, S. 74-92. Willkomm, Judith: »›skilled listening‹: Zur Bedeutung von Hörpraktiken in natur- wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen«, in: Symanczyk, Anna/Wagner, Da- niela/Wendling, Miriam (Hrsg.): Klang – Kontakte: Kommunikation, Kon- NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 35 MARK DANG-ANH / SIMONE PFEIFER / CLEMENS REISNER / LISA VILLIOTH struktion und Kultur von Klängen, Schriftenreihe der Isa Lohmann-Siems Stif- tung, Berlin 2016, S. 35-56. Winkler, Hartmut: »Spuren, Bahnen. Wirkt der Traffic zurück auf die mediale Inf- rastruktur?«, in: Neubert, Christoph/Schabacher, Gabriele (Hrsg.): Verkehrs- geschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Tech- nik, Kultur und Medien, Bielefeld 2012, S. 49-72. NAVIGATIONEN 36 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD ‹ Social Media im Kontext von Musikmarketing V O N A N N A L I S A R A M E L L A 1. SOCIAL MEDIA1 AUF TOUR – EINE FELDBEOBACHTUNG Nora ist die Anfang zwanzigjährige Bassistin einer Psych-Rock Band aus Norwe- gen, die im Frühjahr 2016 auf einem internationalen Musikfestival in Austin (Texas) gespielt hat. Sie sitzt neben mir auf dem Flug nach San Francisco, wo ich meine Feldforschung und sie ihre Tour fortsetzt, als wir zufällig ins Gespräch kommen. Sie erzählt mir, dass sie und ihre drei Bandkollegen von ihrem Musikla- bel die Möglichkeit bekommen haben, auf dem Festival zu spielen. Das Festival selbst zahlt ihnen keine Gage für den Gig. Für ihren Flug von Bergen nach Austin gibt ihnen das Label die Hälfte dazu, den Rest müssen sie selbst bezahlen. Für das Festival wurde ihnen auch keine Unterkunft finanziert, sodass sie jeden Abend von der Bühne aus im Publikum nach Schlafplätzen fragten. Es handelt sich hier um ein renommiertes Festival, für das die Eintrittskarten zwischen 600 und 800 US Dollar kosten. Nora erzählt mir von einem Sofa, auf dem sie während des Festivals unter einer gehäkelten Decke zusammen mit ihrem Bandkollegen schlief. Sie sagt, »My friends at home say I’m lucky, and I guess I am. But that doesn’t mean that I’m living a dream or living as a king«. Wenige Tage später recherchiere ich die Social-Media-Profile ihrer Band. Dabei stoße ich auf Instagram auf ein Foto von Nora auf dem Sofa mit der Häkel- decke, von der sie mir erzählte.2 Ihr Gesicht ist bedeckt mit Geld. Das Foto ist mit dem Kommentar »Who ever said America doesn’t pay? #SXSW #Austin #Texas #cashisking« versehen. Auf Twitter postet die Band fast zeitgleich ein Vi- deo, das zeigt, wie 20-Dollar-Scheine auf Noras Gesicht regnen, und sie lacht. Der Tweet dazu lautet »It’s raining money at #SXSW #Austin #Texas«. 1 Ich benutze hier den englischen Begriff Social Media, wie er im Musikbereich und in den Diskursen über Marketingstrategien verwendet wird. Das gleiche gilt für Begriffe, die mit Social Media in Verbindung stehen, wie etwa Posts, Likes, Hashtags etc. Diese schreibe ich im Deutschen groß, während ich in englischen Zitaten die Originalschreib- weise verwende. 2 Vgl. Abb. 1. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN ANNA LISA RAMELLA Abb. 1: Screenshot des Posts von Noras Band auf Instagram Unterschiedliche Dinge, um die es in diesem Beitrag geht, werden hier verhan- delt: Einerseits wird hier die Prekarität deutlich, die viele junge Bands heute erle- ben und erdulden. Die Teilnahme an prestigeträchtigen Festivals wie jenem in Austin wird von jungen unbekannten Bands als Aufstiegsmöglichkeit gehandelt und oft privat finanziert. Die meisten Bands, die ich dort interviewte, wurden für ihre Auftritte nicht bezahlt. Dennoch wird von Noras Band in dem Post ein ge- genteiliges Bild vermittelt: »Who ever said America doesn’t pay?« und »cash is king« weisen auf eine gute Bezahlung der Musiker_innen hin. Eine Begründung hierfür erwähnte Nora schon in unserem Gespräch, noch bevor ich das Foto auf Instagram sehen konnte: Sie sagte, sie wolle sich nicht über ihr Leben als Musike- rin beschweren. Da weder ihre Freunde noch ihre Fans dies verstehen würden, sei es einfacher, auf Social Media ein Bild zu vertreten, das eigentlich einer Ideali- sierung entspricht. Während dieses Beispiel geradezu dazu einlädt, die prekären Umstände von Bands auf Tour mit ihren Selbstdarstellungen auf Social Media zu kontrastieren, soll in diesem Beitrag vielmehr verdeutlicht werden, inwiefern diese vermeintli- chen Gegenpole in ihrer Entstehung zusammenhängen und als Aushandlungen der Musiker_innen mit den jüngsten Entwicklungen in der Musikindustrie gelesen werden können. So wird das Posten auf Social Media während einer Tour in diesem Beitrag als Medienpraktik verstanden, durch die die Musiker_innen Beziehungen mit un- terschiedlichen Adressaten wie Freund_innen, Fans, dem Management und sich selbst gleichzeitig aushandeln. Zugleich werden diese Medienpraktiken von ihrem Management genutzt, um digitale Bewegungen ihrer Daten und die Reichweite ih- NAVIGATIONEN 38 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ res (als solches interpretierten) Marketings auszuwerten und auf die physische Reichweite ihrer Tour zu übertragen. Es entsteht dabei ein reziprokes Verhältnis von Medien und Mobilität, das hier ferner in den Blick genommen werden soll. Drei Aspekte dieser Entwicklung werden in diesem Beitrag behandelt: zu- nächst wird hergeleitet wie (1) die Digitalisierung von Musik und die damit ein- hergehende Auswertbarkeit von Daten in den letzten Jahrzehnten im Zusam- menhang mit einer erhöhten Mobilität der Musiker_innen steht. Ferner werden (2) die sozialen Medienpraktiken beleuchtet, die nicht zuletzt im Zusammenspiel mit einer Umschichtung der Aufgabenbereiche im Musikmanagement durch Social Media als Marketinginstrument entstehen. Im Fokus der Betrachtungen stehen hierbei vor allem die Aushandlungen der Musiker_innen mit ihren Managements, sowie die Verhandlungen der Managements mit Plattformbetreibern. Heute wird Musikmarketing hauptsächlich durch Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram betrieben. Hinzu kommen neue, eigens für die Musikin- dustrie entwickelte Apps wie Songkick oder Bandsintown, die ein geografisches Tracking der Bands ermöglichen. Auch hier werden die Funktionen mit Blick auf eine Steigerung der Verkaufszahlen ständig ausgebaut und erweitert sowie mit anderen Plattformen verknüpft – die Medienpraktiken werden also nicht nur für die Entwicklung neuer Technologien mobilisiert, sondern die Technologien auch so erweitert, dass neue Medienpraktiken antizipiert werden können. In den Me- dienpraktiken von Musiker_innen kristallisieren sich (3) unterschiedliche Span- nungsfelder heraus, die häufig mit einem Umgang mit Öffentlichkeit und Selbst- positionierung zu tun haben. In diesem Kontext wird die Kategorie des »Social Self« eingeführt, die als persönliche Strategie gewertet werden kann, diese Span- nungen aufzulösen. Gleichzeitig machen durch Posts ausgelöste Konflikte die Herausforderungen einer solchen Konzeption sichtbar. In einem Fazit wird spezi- ell auf die Dynamik und Mobilität dieses Feldes eingegangen, die sowohl für die Medienpraktiken der Musiker_innen als auch für die Forschungspraktiken der Medienethnologin von Relevanz sind. Dabei soll zugespitzt werden, wie Medien- praktiken mit hierarchisch organisierten Strategien und Plattformen zusammen- spielen. Die empirische Grundlage dieses Beitrags bilden mehrere ethnologische Feldforschungen in den USA und Europa sowie medienethnografische Beobach- tungen auf Social-Media-Plattformen. Die Teilnehmer_innen meiner Forschung sind Musiker_innen unterschiedlicher Genres und Bekanntheitsgrade zwischen 19 und 36 Jahren, die ich teils auf Tour begleitet und teils auf Festivals und anderen Musikevents interviewt habe. Hinzu kommen Beobachtungen und Aufzeich- nungen zu den aktuellen Marketingstrategien der Musikindustrie, die ich in Inter- views und durch die Teilnahme an einer internationalen Musikkonferenz während eines internationalen Musikfestivals kennengelernt habe. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 39 ANNA LISA RAMELLA 2. DAS DIGITALE ZEITALTER IN DER MUSIK: VOM DOWNLOAD ZUR TOUR ZUM POST – UND ZURÜCK? In der Musikbranche wird häufig das Jahr 1999 mit der Gründung des Streaming- dienstes Napster als Beginn der Entwicklungen gehandelt, die die Musikindustrie im »digitalen Zeitalter«3 zu bestimmen scheinen: die Digitalisierung von Musik und die Popularität ihrer digitalen Verbreitung.4 In ihrem Artikel mit dem Titel »Embracing the Flow« diagnostiziert die Inter- netforscherin Nancy Baym einen »Loss of control over contribution«5 in der Mu- sikindustrie. Demnach haben nach dem Aufkommen von illegaler Verbreitung von Musik im Internet die Strategien der Musikindustrie zunächst darauf abgezielt, un- bezahlte Downloads und File-Sharing zu unterbinden. Heute lässt sich hingegen ein Trend dahingehend beobachten, die Distribution der Musik eher als Möglich- keit zu sehen, das Publikum zu vergrößern: »[T]he question is how to use it, not how to stop it«.6 Die Plattenfirmen, die als scheinbar größte Verlierer der Digitali- sierung gelten, verschreiben sich nunmehr anderen Strategien, um ihre wirtschaft- liche Macht aufrecht zu erhalten.7 So setzen Musiklabels heute vermehrt auf kos- tenlose Downloads und Streaming – unter anderem mit dem Ziel, Fans zu gewin- nen, die dann zum Konzert kommen. Für Musiker_innen bedeutet diese Entwick- lung, die der Live-Performance die größte (wirtschaftliche) Aufmerksamkeit schenkt, vor allem, vermehrt auf Tour zu gehen.8 Um die Tour zu bewerben, setzen Managements heute vor allem auf das Social-Media-Marketing der Bands selbst.9 Vereinfacht dargestellt sollen so Fans dazu motiviert werden, auf die Konzerte zu kommen, um damit die Gewinne zu steigern. Die Strategien, die hinter diesem Marketing stecken, werden ständig ausgebaut und erweitert. Sie reichen von »Best Practices« der Inhalte der Posts bis hin zu den Uhrzeiten, an denen die Reichweite am größten ist.10 3 Vgl. Rogers: »The Death and Life of the Music Industry in the Digital Age«. 4 Vonderau: »The Politics of Content Aggregation«, S. 723. 5 Baym: »Embracing the flow«, S. 2ff. 6 Baym: »Embracing the flow«, S. 4. 7 Vgl. Rogers: »The Death and Life of the Music Industry in the Digital Age«. 8 Zwar gehört das Touren schon lange zum Musikerberuf dazu, vgl. Bennett: »On Beco- ming A Rock Musician«, und ist sicherlich nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen rele- vant, vgl. Nóvoa: »Musicians on the Move«, jedoch haben sich Taktung und Frequenz der Tourneen im letzten Jahrzehnt maßgeblich erhöht. 9 Hierzu habe ich auf einer Konferenz der Musikindustrie zahlreiche Panels besucht, auf denen die Strategien der Managements in einem Musikindustrie-Setting besprochen wurden. Panels adressierten Themen wie etwa »The Always-On Artist« oder »Not a guessing game – tour marketing on Facebook«. Die in diesem Beitrag besprochenen Strategien der Musikmanagements sind größtenteils aus diesen Panels und anschließen- den Interviews entnommen. 10 Zu den sogenannten »Clock Circles« in der Medienproduktion vgl. auch Shaun Moores: »Media/Theory«, S. 20; Postill: »Introduction: Theorising Media and Practice«, S. 13. NAVIGATIONEN 40 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ Die momentane Entwicklung geht in einem weiteren, zum Teil noch in der Zukunft liegenden Schritt dahin, geosensible Daten, die von Streamingdiensten, Social-Media-Plattformen und Musikdownloads generiert werden, nach Herkunft auszuwerten und in der Planung der Tourrouten zu Hilfe zu ziehen. Hugh, ein Musikjournalist, der u.a. für das Wirtschaftsmagazin Forbes schreibt, erwähnte diesen Zusammenhang von Medienpraktiken und Mobilität in unserem Interview: The data that comes along with being involved in social media and es- pecially streaming […] is starting to tell musicians where they should go, so it’s getting a little bit smarter. I mean if you can see that a thou- sand people are tweeting you from Cologne, and you‹ve never visited Cologne, then you should go there. […] I’m sure there is a relation, if this photo got 500 likes from this city, but I don’t know if a lot of mu- sicians get that in depth into it. I’m not sure it’s there yet. Es ergibt sich ein Zusammenspiel von digitaler Zirkulation auf der einen und phyi- scher Mobilität auf der anderen Seite: nicht nur bewegen sich die Musiker_innen an den von der Tourroute bestimmten Spielort, sondern durch ihre Medienprak- tiken werden auch ihre Fans an diese Orte gelotst. Durch das Posten von Videos oder Fotos auf Social Media während des Konzertes reisen die Daten wiederum digital, was unter Umständen eine erneute physische Bewegung in Form einer Tour nach sich zieht. Der Zusammenhang von Medien und Mobilität hat bereits in einer Reihe von Studien Bedeutung gefunden, jedoch wurde den Medien11 in früheren Forschun- gen häufig eine ortsvermittelnde Rolle zugesprochen: etwa eines Ortes, der me- dial aufrecht erhalten wird, wie in James Cliffords Studie zu Hawaiianischen Folk- loremusiker_innen12, oder medial mitgenommen wird, wie in David Morleys For- schung zu Mobiltelefonen13, oder zu dem man medial reisen kann, wie etwa in John Urrys Studie zum Fernsehen.14 Jüngere Forschungen zum Verhältnis von Medien und Ort, wie etwa bei Shaun Moores15, stellen die Frage, ob nicht Medi- enpraktiken selbst für Orte konstitutiv sind. Dieser Beitrag verknüpft diese Kon- zeptionen, indem hier Medienpraktiken betrachtet werden, die einerseits auf Or- te verweisen (etwa durch Ankündigungen von Konzerten), andererseits aber auch Orte und vor allem Mobilität schaffen (etwa durch die Auswertbarkeit der Daten und daraus ablesbare Konzertorte). 11 Gemeint sind hier Kommunikationsmedien. 12 Clifford: »Routes«, S. 26. 13 Morley: »What’s ›Home‹ Got to Do with It?«, S. 451ff. 14 Urry: »Sociology beyond societies«, S. 66. 15 Vgl. Moores: »Media, Place and Mobility«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 41 ANNA LISA RAMELLA Die Digitalisierung von Musik kann insofern als »microcosm of mass commu- nication’s past and a harbinger of its future«16 verstanden werden, als dass die Vermarktung und Distribution von Musik von der lokalen, interpersonalen Ebene zu einem massenkompatiblen und zentralisierten Produkt geworden ist. Jedoch ist auffällig, dass gerade die neue Rolle der Musikkonsument_innen sowie speziell die Fankommunikation durch Social-Media Paradigmen einer genau gegensätzli- chen Bewegung sind: Die durch Digitalisierung der Musik vermeintlich so groß gewordene Welt geht durch die Digitalisierung des Marketings mit einer gleichzei- tigen Verkleinerung einher. Marketingbestrebungen auf Social Media setzen eher auf persönlichen Kontakt als auf Massenkompatibilität und haben zum Ziel, lokale Begegnungen zwischen Fans und Musiker_innen an den Konzertorten zu ermögli- chen. 3. SOZIALE MEDIENPRAKTIKEN UND IHRE PLATTFORMEN Die Medienpraktiken von Musiker_innen spielen schon vor der Tour eine zentrale Rolle für ihren musikalischen Erfolg. Das »Social Following« einer Band, also die messbare Anzahl von Fans in Form von Likes auf ihrer Facebook-Seite oder Followern auf Instagram oder Twitter, wird zum Teil als determinierend für ihre Popularität gewertet. So berichtete mir etwa ein Musikproduzent, dass für einen Plattenvertrag mit seinem Label mindestens 30.000 Facebook-Likes Vorausset- zung seien. Die Selbstvermarktung der Musiker_innen muss also unter Umstän- den schon vor dem ersten Plattenvertrag und vor der ersten Tour erfolgen. Baym, die im Kontext der schwedischen Musikszene vor allem über Fan- kommunikation forscht, beschreibt die Social-Media-Aufgaben von Musiker_innen als eine Art von »Hostessing«: [I]t’s no longer enough to create affectively engaging music, musicians are now expected to host lively and engaging discussion forums, whether on their own sites or through commercial platforms such as Twitter and Facebook.17 Sie charakterisiert die von Musiker_innen erwarteten Tätigkeiten auf Social Media als »relational labor«18, also als Beziehungsarbeit, die vor allem andere »skills«19 erfordert als die Tätigkeit des Musikmachens im eigentlichen Sinne. Jedoch be- schränken sich die Fertigkeiten nicht nur auf die Beziehungsarbeit selbst, sondern sie sind vor allem für die Anforderungen an die Medienpraktiken von Relevanz. 16 Vgl. Baym: »Embracing the flow«, S. 2. 17 Baym: »Connect with your audience!«, S. 18. 18 Baym: »Connect with your audience!«, S. 21. 19 Vgl. hierzu vor allem Ingolds Konzeption von »skill« in seinem Aufsatz »Beyond Art and Technology: The Anthropology of Skill«, wo er auf ein Zusammenspiel von körperlicher Praktik und Wissen abzielt. NAVIGATIONEN 42 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ Wie John Postill am Beispiel von Base-Jumpern und ihren Videopraktiken deutlich macht, wirkt sich die Qualität der Videos auch auf die Reputation der Sprin- ger_innen aus.20 Im Fall von Musiker_innen lässt sich dies insofern übersetzen, als dass die Qualität ihrer Posts in Form von Videos, Fotos oder verbalen Äußerun- gen, ein weites Verbreiten der Posts ermöglicht, das von ihrem Management als erfolgreiches Marketing für die Musik gedeutet wird. Um in der Musikbranche er- folgreich zu sein, ist es also hilfreich, auch gut fotografieren zu können, unterhalt- sam zu kommunizieren oder rhetorisch versiert zu sein. Hiermit gehen Musiker_innen unterschiedlich um. Während es den einen leicht fällt, spontan gutes Marketing zu betreiben, bereiten andere schon vor der Tour ein Repertoire an Videos und Fotos vor, um diese dann während der Tour posten zu können. Entgegen einer vermeintlichen Unmittelbarkeit, die gerade durch die Nutzung von mobilen Geräten wie Smartphones von Social-Media- Plattformen erwartet werden21, werden also Fotos oder Videos nicht immer zum gleichen Zeitpunkt gepostet wie aufgenommen. Bestimmte Aufgaben, wie etwa das Ankündigen von Konzerten, werden häufig auch von den (Tour)Mana- ger_innen übernommen. Es gilt im Musikgeschäft gemeinhin als von Vorteil, wenn die Bands selbst posten. Dies leuchtet vielen Musiker_innen ein, obwohl es mehr Arbeit für sie bedeutet. An dieser Stelle möchte ich das Beispiel des Musikers Nick aus Oklahoma zeigen, der durch sein fotografisches Können in seinen Social-Media-Posts auffällt. Ich habe Nick durch eine Band, die ich begleitet habe, kennen gelernt und inter- viewt. In unserem Interview erzählte er mir vor allem von seiner Leidenschaft für das Reisen und die Fotografie. So war er neben Musiktouren auch schon als Pro- duktfotograf für einen Reiserucksack auf einer mehrmonatigen Europareise. Dass er sich für Fotografie interessiert, kann man an den Fotos auf seinem Instagram- Profil erkennen. Seine Fotos lösen in der Regel viele Reaktionen in Form von Li- kes und Kommentaren aus, was ihm auch als Musiker Aufmerksamkeit bringt. 20 Postill: »Introduction: Theorising Media and Practice«, S. 15. Base-Jumper sind Fall- schirmspringer_innen in sogenannten Wingsuits, die sich von Felsen in eine Art Flug stürzen. Dabei tragen sie am Körper meist kleine Kameras, mit denen sie Videos vom Flug aufzeichnen. 21 Hier ließen sich auch Medienpraktiken anbringen, die diese Zeitlichkeit aushebeln, etwa durch das Verwenden des Hashtags #tb oder #tbt (»throw-back«/ «throw-back- thursday«). Unter Verwendung dieser Hashtags werden etwa auf Instagram Fotos ge- postet, die nicht aktuell sind und an eine in der Vergangenheit liegende Situation erin- nern. Die Verwendung des Hashtags macht diese zeitliche Versetzung sichtbar. Im Mu- sikbereich werden diese Hashtags meiner Beobachtung nach selten benutzt, ältere Auf- nahmen werden dennoch gepostet. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 43 ANNA LISA RAMELLA Abb. 2: Screenshot eines Posts von Nick auf Instagram Was an diesem Post zunächst auffällt, ist die Darstellung eines romantischen Bil- des von Reise: Flugzeuge im roten Abendlicht vor einem Hintergrund aus Bergen, zwischen denen die Sonne untergeht. Dazu schreibt Nick den Kommentar: »Southwest Sunsets« und direkt darunter, in einem weiteren Kommentar »@southwestair«.22 Dies wird von einem Follower mit »stunning« kommentiert, was als begeisterte Reaktion auf das Foto gewertet werden kann. In den darauf- folgenden Kommentaren wird unter anderem die Möglichkeit erwähnt, sich die Reise finanzieren zu lassen (»Get that trip sponsored«), was Nick mit »tryna« (sic) (»Ich versuch’s«) erwidert. In der Tat sind Endorsements23 und Sponsoren heute für Musiker_innen eine beliebte Möglichkeit, sich Touren zu finanzieren. So gibt es unterschiedliche Unternehmen, die darauf abzielen, Musiker_innen in ihr Online-Marketing einzubinden. Der britische Autohersteller Vauxhall etwa hat ei- ne Kampagne eingeführt, bei der britischen Bands ein Tourvan zur Verfügung ge- stellt wird. Im Gegenzug sollen die Bands ihre Fotos auf Social Media mit dem Hashtag #vivaroontour versehen. Der Hashtag #vivaroontour wurde zum jetzi- gen Zeitpunkt 54 Mal verwendet. Eine kürzliche Beobachtung aus meiner Feld- forschung zeigt, wie diese vorgeschlagenen Hashtags nach kurzer Zeit wieder ge- 22 Eine interessante Beobachtung auf Instagram ist, dass Hashtags sowie Adressaten der Posts häufig in einen zweiten Kommentar geschrieben werden. So erscheint – jedenfalls in der mobilen Version – zunächst nur der »nackte« Kommentar. 23 Endorsements sind materielle, aber nicht zwingend finanzielle Förderungen von Firmen, wie man es etwa aus dem professionellen Sportbereich kennt. Musiker_innen bekom- men dann etwa die Kleidung von bestimmten Marken gestellt, um so die Marke zu be- werben. NAVIGATIONEN 44 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ löscht werden. So hat eine Band, die an meiner Forschung teilnimmt, kürzlich ein Foto mit dem Hashtag #vivaroontour gepostet. In einem Kommentar wurde kurz darauf auf dieses Hashtag Bezug genommen, mit der Frage »Vivaro on tour?«. Später wurde der Post von der Band zu »Thanks @vauxhall for the van« geän- dert. Da ihnen nach eigener Aussage »Authentizität«24 in ihrem Social-Media- Auftreten wichtig ist, nehme ich an, dass sie dieses Sponsoring lieber direkt kom- munizieren, um nicht als »Sell-out«25 zu gelten. In Nicks Post und den dazugehörigen Kommentaren kommen Themen zum Ausdruck, die auch in Noras Beispiel eine Rolle spielen. Ein Kommentar etwa adressiert Nicks Unterwegssein direkt: »You always goin somewheres!«(sic), wo- rauf Nick antwortet: »don’t worry it was from last wknd. Im hommeee. Well until Saturday. Haha.« (sic). Darauf folgt vom gleichen Follower die Reaktion: »haha my point exactly!! I love it!!« (sic). Dazwischen wird das Foto von einem anderen Follower mit den Hashtags #livinthedream und #proudofyou kommentiert, was darauf hinweist, dass diese Person Nicks ständiges Unterwegssein in ähnlicher Weise idealisiert, wie Nora es von ihren Freunden berichtet. Nicks Reaktion (»don’t worry«) beschwichtigt ersteren Kommentar, indem er mitteilt, dass er zu Hause ist. Er schreibt gleich dazu, dass er am Samstag schon wieder abreist. Auch Nick hat also ein Foto zu einem anderen Zeitpunkt gepostet, als es auf- genommen wurde, ohne dies direkt zu markieren. Für seine Follower ist dies nicht ersichtlich und so wird sein Foto als Abreise interpretiert. Die hieraus ent- stehende Irritation ermöglicht einen kurzen Austausch über seine Reisepläne und den derzeitigen Aufenthalt zu Hause. Die Vorstellungen des Tourens und Reisens werden zwar mit Zustimmung und Idealisierung geäußert, aber Nicks Reaktion zeigt, dass auch Sorge mitschwingt (sei es die Sorge um ihn oder die Sorge, ihn nur selten zu sehen). In Anlehnung an Postill und Pink26, die im Zusammenhang mit Social Media den Begriff »sociality« stark machen, kann man hier von sozialen Medienpraktiken sprechen. Sie beschreiben damit eine in Webforen beobachtete »thread sociali- ty«27 als »quasi-orality«, die den Interaktionen bei Gruppentreffen oder Meetings entsprechen. In den Social-Media-Posts von Musiker_innen vollzieht sich Sozialität auf verschiedenen Ebenen, da die Gruppe, mit der hier interagiert wird, sehr he- terogen ist. Über ihre Posts wird das Schaffen von Musiker_innen auf unter- schiedliche Weise rechtfertigbar: der Familie und den Freunden wird vermittelt, dass es einem gut geht, den Fans, dass man auf Tour ist oder an seiner Musik ar- 24 Den Begriff »Authentizität« benutze ich hier als Zitat, weil er in Selbstaussagen über Social-Media-Marketing häufig fällt. Er wird im Abschnitt zum »Social Self« noch einmal kritisch beleuchtet. 25 Parallelen hierzu bieten etwa Diskurse über Sponsorings im Fashion-Blogging, auf die an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden kann. 26 Vgl. Postill/Pink: »Social Media Ethnography «, S. 3 (u. a.). 27 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«, S. 9. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 45 ANNA LISA RAMELLA beitet28 und den Sponsoren, dass man seine Marketingaufgaben erledigt. Die Me- dienpraktiken auf öffentlichen Social-Media-Profilen sind sichtbar für verschiedene Anspruchsgruppen. Die Nachvollziehbarkeit durch verschiedene »Follower« un- terscheidet diese Art der Sozialität von anderen Gruppentreffen, wie etwa den Begegnungen mit Fans nach dem Konzert oder mit Freunden und Familie nach der Tour. Vor kurzer Zeit besuchte ich einen Tourmanager auf seiner Tour mit einer relativ bekannten Elektro-Pop-Band. Im Backstage-Raum aßen die beiden Band- mitglieder ihr vom Spielort bereit gestelltes Essen. Während des Essens schreckte die Sängerin Pernille plötzlich auf, griff zu ihrem Computer und fing an zu tippen – sie müsse ja noch etwas in den »Event«29 posten, das habe sie ganz vergessen. Ob sie das Video vom Vorabend, auf dem ihr Bandkollege Esben ein Britney-Spears- Lied beim Karaoke nach dem Konzert singt, posten dürfe? Für ihn sei es kein Problem, erwiderte er. Gemeinsam überlegten sie, ob sie das Video auf das Bandprofil oder in den Event posten, als ihr einfällt, dass sie ja erst den Manager fragen sollten, ob das Video in Ordnung sei. Schließlich sei es ein ziemlich alber- nes Video. Jedoch müsse sie dann auf seine Antwort warten, und das wäre dann zu spät – in den Event sollte sie ja noch vor dem Konzert etwas posten. Wie von diesem Hindernis daran erinnert, beschwerte sie sich darüber, dass sie nun ihr Abendessen dafür unterbrechen musste, um etwas auf Facebook zu pos- ten. Schließlich entschied sie sich, in den Event etwas anderes zu posten – wie ich später sah, ist es ein Foto vom Soundcheck mit einem Gruß der Vorfreude an die Fans. Das Video des Britney-Spears-Covers von Esben erschien erst am nächsten Tag auf ihrer Profilseite – vermutlich nach Absprache mit dem Manager. Der Manager ist hier also als Korrektiv an den Medienpraktiken beteiligt. Dies verdeutlicht einerseits die Hierarchie und kann andererseits für ein Vertrau- en in Marketingfragen stehen. Vor allem aber liegt darin eine Umschichtung der Rollen von Management und Musiker_innen in Bezug auf die Marketingpraktiken. Während einst das Management (zusammen mit den Veranstaltern) für die PR der Bands zuständig war, ist dies nun vor allem in den Aufgabenbereich der Musi- ker_innen gerückt. Über ihre Medienpraktiken können die Bands in Rechenschaft für ihr Tun gezogen werden. Für dieses Verfahren werden die Plattformen interessant, auf denen die Me- dienpraktiken überhaupt verübt werden. Facebook zum Beispiel bietet mittler- weile viele Funktionen für das Musikmarketing: Es können Buttons hinzugefügt 28 Diesen Aspekt betonte auch der Musikjournalist Hugh im Interview. 29 Gemeint ist hiermit ein Event auf Facebook. Für Musiktouren ist es üblich, pro Konzert ein Event auf Facebook einzustellen, wo Fans, Management und Musiker_innen Updates und Fotos posten können. Der Strategie nach sollen hier auch Besucherzahlen einge- schätzt werden können. Um den Schneeballeffekt zu vergrößern, etabliert sich derzeit eine neue Strategie, in der ein Event pro Tour eingestellt wird. So können die Chancen erhöht werden, dass potentiell Freunde der Fans in anderen Städten von der Tour er- fahren und sich ein Ticket kaufen. NAVIGATIONEN 46 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ werden, die Tourdaten verzeichnen und sich mit Ticketanbietern verknüpfen las- sen. Eine neue Funktion zeigt zusätzlich an, wie schnell auf Anfragen geantwortet wird.30 Dies wird auf dem Bandprofil in der rechten Spalte unter »About« ange- zeigt. Die »response rate«, also eine Statistikrate darüber, wie viele Nachrichten insgesamt beantwortet werden, wie man sie von Anbietern von Ferienwohnun- gen kennt, lässt sich direkt in der Mitte des Profils einbetten: Abb. 3: Screenshot eines Bandprofils auf Facebook Zum einen setzen Marketingstrategien damit auf direkte Kommunikation, indem die Fans durch hohe Antwortraten dazu motiviert werden sollen, mit den Musi- ker_innen direkt in Kontakt zu treten. Zum anderen sollen die »Events« dazu füh- ren, dass möglichst viele Fans sich hier anmelden, so dass sie Nachrichten direkt in ihre Mailbox bekommen. In Konkurrenz hierzu hat sich ein neuer Geschäftszweig sogenannter »Tra- cking Apps« entwickelt, auf denen Fans benachrichtigt werden, wenn eine Band, der sie folgen, in ihrer Nähe spielt. Eine dieser Apps, Bandsintown, hat kürzlich eine neue Funktion entwickelt, mit der Musiker_innen direkt mit ihren Fans in Kontakt treten können: die »Bandsintown Manager App«, die als »The Touring App that connects artists to fans« beworben wird.31 30 Vgl. Abb. 3. 31 Vgl. Abb. 4. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 47 ANNA LISA RAMELLA Abb. 4: Screenshot der Titelseite der »Bandsintown Manager App« Das Marketing-Versprechen dieser App ist, dass sie Fans direkt erreicht und Posts nicht in einem langen Feed landen, wo sie überlesen werden. Diese Plattformen werden entsprechend der Marketingstrategien in der Musikindustrie, die auf per- sönlichen Kontakt und Interaktion zwischen Musiker_innen und Fans abzielen, entwickelt und angepasst: Sie werden sozial. Jedoch zeigt dies auch, dass die Me- dienpraktiken der Musiker_innen nunmehr ausschließlich an Fans gerichtet wer- den sollen und eine zusätzliche Leistung ihrerseits erfordern. 4. AUSHANDLUNGEN UND DAS »SOCIAL SELF« Während meiner Feldforschung erklärte mir der Marketingstudent Josh auf einem Festival die Bedeutung von Social Media im Musikmarketing wie folgt: I think social media is here to stay, it’s never gonna go anywhere and if it’s not being utilized it’s an opportunity being missed by every per- former […] because when it comes down to it, […] you’re a brand. So, your brand comes out in whatever social media platform you use […] So: One, you have to be careful about what you put out there, but two, you have to be strategic about it. Especially when you’re an artist, because that engagement with your fans is so crucial. That’s why Taylor Swift is constantly in the top of everything, it’s not neces- sarily because she’s making great music […], but it’s because she loves her fans, she engages with them on a personal level constantly. She’s not just randomly putting out things and staying distant from every- body, but she is talking to people directly through there, or she’s in- viting people to shows, or she is doing special things for her fans […]. Every artist, no matter if they are pop or heavy metal, can learn something from that. […] I think that the people who are doing it NAVIGATIONEN 48 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ right are being authentic. Because if you’re not, then obviously there’s this disconnect between the brand image that you’re presenting and who you are. Was hier deutlich wird, ist, dass »Authentizität« im Marketing von Musik als Mar- ke verkauft werden soll. Authentizität wird dabei mit einer Kohärenz von »Brand- Image« und »echter« Person gleichgestellt. Dies verwundert zunächst in Bezug auf das Image, das gerade in der Kunstfiguren produzierenden Musikwelt lange Zeit herrschte. Jedoch hat sich allem Anschein nach auch das Image des »Rockstars« parallel mit der Entwicklung zu Social Media dahingehend verändert, greifbar und vor allem ansprechbar zu sein. Dabei soll der Aspekt der Selbstvermarktung mög- lichst vertuscht werden, wie Baym analysiert32; schließlich identifiziert sie die Mu- siker_innen-Fan-Beziehungen als »market relationships«: »[T]he musicians are sel- ling what the audiences want«.33 Was hier allerdings übersehen wird, ist, dass Musiker_innen Social Media nicht ausschließlich zur Kommunikation mit Fans und mit dem Ziel des Musik- marketings verwenden. Wie meine Forschung zeigt, sehen viele Musiker_innen ihre Social-Media-Praktiken als persönliche Interaktionen an, bei denen die emo- tionale Ebene im Vordergrund steht. Vor allem jüngere Musiker_innen von An- fang bis Mitte zwanzig haben mir immer wieder bestätigt, dass für sie eine Unter- scheidung in Marketingnutzung und persönliche Kommunikation nicht greift. So etwa der Musiker Cameron, der 207.000 Twitter-Follower und 57.000 Insta- gram-Follower hat: I don’t have a massive social following, but it’s actually a big part of what I do. […] I wanna connect to them, and so for me that’s big. I want people to see my life, not just the art that I create, not just the things that I put out, but I want people to know me for me. And so that plays a big part in my life. So I think I’m pretty open. That’s why people follow you, it is not [about] ,buy my album‹-posts, they wanna hear when you’re upset, they wanna hear when you’re joyful […] The highs and lows are what people hopefully would drive them to your music, being real, not just fakely being an ›artist‹, whatever that means, I don’t even know what it means. But just being human, just being real. And I like that about social media, it’s easy to hide behind the façade of just typing 140 characters, but, I don’t know, there is something about just being human that I really enjoy. And I think that people connect to the music in that way too. Auf meine Nachfrage, ob es für ihn einen Konflikt darstelle, persönliche Erlebnisse mit einer so großen Öffentlichkeit zu teilen, antwortet mir Cameron, es sei ja sein 32 Baym: »Connect with your audience!«, S. 19. 33 Baym: »Fans or Friends?«, S. 289. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 49 ANNA LISA RAMELLA »Social Self«, das er hier zeige. Während er auswählt, welche Erlebnisse er teilt und in welcher Art und Weise er sie präsentiert, stelle er eine »curated version of himself« dar. Diese basiert jedoch auf seinen persönlichen Empfindungen, Interes- sen und Erlebnissen und wird nicht für die Vermarktung von sich als »Künstler« instrumentalisiert. Vielmehr bietet sie einen Zugang zu seiner Musik, indem sie mit seinem Anspruch an »Authentizität« nicht bricht. So kann das »Social Self« als dritte Kategorie gewertet werden, die eine Dichotomie zwischen privat und öffentlich auflöst. Jurgenson und Rey34 nutzen in ihrer Studie zu öffentlicher Kommunikation von Berühmtheiten den Begriff »Fan Dance«, also Fächertanz, um das Verhältnis zwischen Zeigen und Verbergen zu beschreiben. Sie nehmen dabei Bezug auf Goffmans Unterscheidung zwischen ›front stage‹ und ›back stage‹35 und machen vor allem auf das Zusammenspiel dieser beiden Kategorien aufmerksam: der Be- zug zwischen Innen und Außen sei auch bei Goffman als eine dialektische Bezie- hung beschrieben und könne nicht in separaten Kategorien gedacht werden. Die Konzeption des »Social Self« jedoch ermöglicht eine Sichtweise, die nicht nur in Social-Media-Interaktionen sondern auch bei Begegnungen auf dem Kon- zert greift. Für die von Postill und Pink beschriebene Sozialität, die dem dichoto- men Verhältnis von Netzwerk und Gemeinschaft widerspricht, ist gerade das Zu- sammenspiel aus Face-to-Face-Begegnungen und Social-Media-Praktiken bedeu- tend.36 So können sich etwa Social-Media-Interaktionen auch auf Face-to-Face- Begegnungen beziehen oder aber durch diese ausgelöst werden. In jedem Fall sollten diese Begegnungen nicht als hermetisch betrachtet werden. Im Fall von Musiker_innen kommen die Face-to-Face-Begegnungen teils erst durch Medien- praktiken zustande. So steht im Musikbereich die Social-Media-Interaktion oft zeitlich vor der ersten Begegnung, wie der Marketingstudent Josh in unserem In- terview betonte. Dabei geht er besonders auf die Kohärenz beider Begegnungen ein: Basically, if you have someone else running your social media for in- stance, and they’re putting out things that make you look like you are super friendly and talking to everybody and that you want to get in- volved with everything, but then you get to shows and you’re a jerk to everybody, or just cold, the people are going to know. They’re go- ing to know that that’s not genuine, and they’re not going to want to deal with you, and you can tell a lot of times: Fans know. So the peo- ple that are really good at it [Social Media Marketing] are being au- thentic. There is a lot of opportunity to use it as a marketing tech- 34 Jurgenson/Rey: »The Fan Dance«, S. 64 ff. 35 Goffman: »The Presentation of Self in Everyday Life«. 36 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«, S. 3. NAVIGATIONEN 50 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ nique, but if you’re being honest and real, that’s when you’re making the most success. Jedoch steckt in der Veröffentlichung von persönlichen Situationen auch immer eine Bedrohung, die gerade dann präsent wird, wenn ein Kontrollverlust über die eigene Darstellung entsteht. Ein derartiger Konflikt wurde auf einer meiner Feld- forschungen deutlich, auf der ich eine Band auf ihrer zweimonatigen Tour durch Europa und die USA begleitete. Wir waren ausschließlich im Van unterwegs und hatten zwischen den täglich stattfindenden Konzerten lange Strecken zu fahren, die mitunter für 12-stündige Fahrten sorgten. Um besser schlafen zu können, trug der Sänger der Band im Van meist eine Schlafbrille unter seiner Sonnenbrille. Zu- dem hatte der Tontechniker einige Kuscheltiere dabei, die als Kopfkissen dienten. Während wir zwischen zwei Konzertorten fuhren, schlief der Sänger mit diesen beiden Gegenständen auf dem Rücksitz. Wenig später erschien auf dem persönli- chen Instagram-Account des Tontechnikers ein Foto des Sängers im Schlaf, wozu er den Bandnamen taggte. Da die Bilder auf seinem Account öffentlich sichtbar sind, konnten so alle Follower des Bandaccounts darauf zugreifen. So kam es, dass einige Fans der Band auf das Foto aufmerksam wurden und es kommentierten. Als der Sänger dies später am Abend bemerkte, brach ein Streit zwischen ihm und dem Tontechniker aus: er fühlte sich öffentlich entblößt und wollte nicht, dass Bilder aus dem Van, den er als intimen Raum empfand, an die Öffentlichkeit gelangten. 5. FAZIT UND AUSBLICK: »A MESSY WEB«37 ALS FRAGILES FELD Konzeptionen wie das »Social Self« helfen zu verstehen, dass Social Media von vie- len Musiker_innen in einer Weise genutzt werden, die ihr öffentliches Bild mit ih- rem privaten Selbst vereinen. Die Notwendigkeit des »Kuratierens« dieser öffentlichen Darstellung setzt jedoch voraus, die Praktiken des Postens selbst zu übernehmen und eine Vorstellung dessen zu haben, was man der Öffentlichkeit sichtbar machen möchte. Schon Joshua Meyrowitz benutzte 1985 in seiner Analyse politischer Kam- pagnen im TV den Begriff »intimacy at a distance«,38 mit dem er die Beziehung medienpräsenter Politiker zu ihrem Publikum beschreibt. John Thompson schreibt zehn Jahre später von einer »mediated visibility«39 und dem zweischnei- digen Schwert medial übertragenen Kontakts, durch welchen zwar das Publikum leichter erreicht werden könne, dabei aber auch an Autorität und Privatsphäre eingebüßt würde. Er nennt dies »a distinctive kind of fragility«.40 Diese Fragilität, 37 Vgl. Postill/Pink »Social Media Ethnography«. 38 Meyrowitz: »No Sense of Place«, S. 119. 39 Thompson: »The Media and Modernity«, S. 140. 40 Thompson: »The Media and Modernity«, S. 141. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 51 ANNA LISA RAMELLA wie im letzten Beispiel zu sehen ist, wird auch durch Medienpraktiken sichtbar. Das Social-Media-Marketing wird in der persönlichen Interaktion positioniert, um eine größere Öffentlichkeit zu erzeugen. Gleichzeitig wird Musiker_innen zusätz- lich die Aufgabe zuteil, auf dem gleichen Medium unterschiedliche Interaktions- partner zu bedienen. Aus diesen vermeintlichen Dichotomien von Nähe und Dis- tanz entstehen Spannungen, die die Unbestimmbarkeit der Grenze zwischen öffentlich und privat verdeutlichen. Was in allen hier besprochenen Beispielen auf- fällt, ist eine Aushandlung der persönlichen Wahrnehmung von Authentizität und der Selbstvermarktung. Vor allem Konflikte weisen darauf hin, dass soziale Medi- enpraktiken immer in ihrem Kontext betrachtet werden müssen. Während sie in einem Fall als Medienpraktiken der Selbstdarstellung oder Vermarktung gelesen werden können, verdeutlichen sie in anderen Situationen gerade ein Bedürfnis nach Intimität und Selbstschutz. Aus diesen Situationen ist die Entwicklung nicht wegzudenken, die sich aus der Digitalisierung von Musik ergeben hat. So besteht diese Spannung auch in der Umverteilung der Aufgaben in der Musikindustrie, die nicht zuletzt mit den Ent- wicklungen digitaler Musik einhergehen, wie Baym zusammenfasst: Nowhere do you see the demands of performing identities for and fostering relationships with potential audiences more clearly than with musicians, whose product – the music – is ever easier to get for free. Having to foster audience relationships is one way that media labor exemplifies contemporary work.41 Hier wird deutlich, dass neben dem Musikmachen heute weitere Praktiken zu den Aufgaben von Musiker_innen zählen, vor allem auf Tour. Musiktourneen sind von sehr strukturierten und gleichzeitig dynamischen Abläufen bestimmt. Die Praktiken des Vor- und Nachbereitens der Musikperformance werden auf Tour ebenso zu Routinen wie das Musikmachen selbst. Das schließt heute Medienprak- tiken auf Social Media ein. Dennoch wird das Posten auf Facebook, wie im Beispiel der Sängerin Pernille, als Unterbrechungcharakterisiert, sobald es ein Hindernis erfährt. Tim Edensor führt den Begriff der »prescribed rhythms«42 ein, und beschreibt damit eine spezifische Erfahrung mit einem Ort, die erst durch eine Rhythmisierung von Praktiken selbst entsteht. Diese Praktiken können die Struktur eines mobilen All- tags mitbestimmen. Jedoch macht Edensor besonders darauf aufmerksam, dass arhythmische Praktiken nicht als außerhalb des Rhythmus verstanden werden können; vielmehr gehören gerade Brüche und Unterbrechungen zu Routinen da- zu. Diese sollten nicht als repetitive, unveränderliche Handlungsabfolgen verstan- den werden. Als zeiträumliche Prozesse zwischen Struktur und Dynamik werden die genauen Praktiken immer wieder verhandelt. 41 Baym: »Connect with your audience!«, S. 15. 42 Edensor: »Geographies of Rhythm«, S. 11. NAVIGATIONEN 52 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN ›ON THE ROAD‹ Wie ich in diesem Artikel zeige, sind die Medienpraktiken von Musiker_innen auch immer dynamisch zu verstehen: Posts werden gelöscht, verändert und kommentiert und können nur zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben und analysiert werden. Währenddessen werden Plattformen stetig angepasst und er- weitert, um die Medienpraktiken wirtschaftlich lukrativer zu machen, sei es in Form auswertbarer Daten oder zum Marketing der Tour. Diese Dynamik über- trägt sich auf die Erfahrung der Ethnologin, die durch das Verfolgen von Hashtags, Profilen und Threads durch die Social-Media-Praktiken »getragen wird«.43 Mit Henrik Vigh könnte man auch von einem »muddling through«44 sprechen, indem keine fixierte Strategie den Weg vorgibt, sondern dieser sich durch die eigenen Praktiken immer wieder neu erschließen muss. Ebenso wie die Medienpraktiken von Musiker_innen können insofern auch die Medien- und Forschungspraktiken der Forscher_innen als Ortspraktiken verstanden werden, die das Feld gerade durch die Verknüpfungen konstituieren. Wie Postill und Pink in ihrem Artikel »Social Media Ethnography: The digital researcher in a messy web«45 zeigen, zeichnet der ethnografische Ort sich gerade durch Bewegung aus: »Ethnographic places are not bounded localities, but connections of things that become inter- twined.«46 Die Dynamik dieses sich ständig verändernden »messy web«47 ver- deutlicht die Notwendigkeit, die Medienpraktiken gerade in ihrer Aushandlung und Fragilität zu begreifen. LITERATURVERZEICHNIS Baym, Nancy: »Embracing the flow«, in: Convergence Culture Consortium, Mas- sachusetts Institute of Technology, 2010. Baym, Nancy: »Fans or Friends? Seeing Social Media audiences as musicians do«, in: Participations. Journal of Audience and Reception Studies, Bd. 9, Nr. 2, 2012, S. 286-316. Baym, Nancy: »Connect with your audience! The relational labor of connection«, in: The Communication Review, Bd. 18, Nr. 1, 2015, S. 14-22. Bennett, H. Stith: On Becoming A Rock Musician, Amherst 1980. Clifford, James: Routes: Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge, Massachussetts 1997. Edensor, Tim (Hrsg.): Geographies of Rhythm. Nature, Place, Mobilities and Bod- ies, Farnham, Surrey 2010. 43 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«, S. 11. 44 Vigh: »Motion Squared«, S. 424. 45 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«. 46 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«, S. 6 47 Postill/Pink: »Social Media Ethnography«, S. 3. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 53 ANNA LISA RAMELLA Frello, Birgitta: »Towards a Discursive Analytics of Movement: On the Making and Unmaking of Movement as an Object of Knowledge«, in: Mobilities, Bd. 3, Nr.1, 2008, S. 25-50. Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959. Ingold, Tim: »Beyond Art and Technology: The Anthropology of Skill«, in: Schiffer, Michael B. (Hrsg.): Anthropological Perspectives on Technology, Albuquer- que 2001, S. 17-31. Jurgenson, Nathan/Rey, PJ: »The fan dance: how privacy thrives in an age of hy- per-publicity«, in: Lovink, Geert/Rasch, Miriam (Hrsg.): Unlike Us Reader. Social Media Monopolies and Their Alternatives, Amsterdam 2013, S. 61-75. Meyrowitz, Joshua: No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior, New York 1985. Moores, Shaun: Media/Theory, London 2005. Moores, Shaun: Media, Place & Mobility, Basingstoke 2012. Morley, David: »What’s ›Home‹ Got to Do with It? Contradictory Dynamics in the Domestication of Technology and the Dislocation of Domesticity«, in: European Journal of Cultural Studies, Bd. 6, 2003, S. 435-458. Nóvoa, André: »Musicians on the Move: Mobilities and Identities of a Band on the Road«, Mobilities, Bd. 7, Nr. 3, 2012, S. 349-368. Postill, John: »Introduction: Theorising Media and Practice«, in: Bräuchler, Bir- git/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, Oxford/New York 2010, S. 1-32. Postill, John/Pink, Sarah: »Social Media Ethnography: The digital researcher in a messy web«, in: Media International Australia, 2012. Rogers, Jim: The Death and Life of the Music Industry in the Digital Age, London 2013. Thompson, John B.: The Media and Modernity: A Social Theory of the Media, Cambridge 1995. Urry, John: Sociology beyond societies: Mobilities for the twenty-first century, London 2000. Vigh, Hendrik: »Motion Squared. A second look at the concept of navigation«, in: Anthropological Theory, Bd. 9, Nr. 4, 2009, S. 419-438. Vonderau, Patrick: »The Politics of Content Aggregation«, in: Television and New Media, Bd. 16, Nr. 8, 2015, S. 717-733. NAVIGATIONEN 54 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ Soziale Beziehungen und Facebook-Praktiken zwischen Berlin und Dakar 1 V O N S I M O N E P F E I F E R 1. EINLEITUNG: EINE TRANSNATIONALE ›FACEBOOK-SITUATION‹ Viele Senegales_innen2 in Berlin nutzen das soziale Online-Netzwerk Facebook, um mit Freund_innen, Familienmitgliedern und Nachbar_innen in Dakar, der überwiegend muslimisch geprägten Hauptstadt des Senegal, in Verbindung zu bleiben. Durch Facebook können sie Ereignisse miterleben, teilweise zeitverzö- gert Kommentare und Glückwünsche überreichen und soziale und emotionale Nähe schaffen. Auch Familienmitglieder und Freund_innen in Dakar nutzen Face- book, um mit den Senegales_innen in Berlin in Kontakt zu bleiben. Sie haben hohe soziale Erwartungen an die aus ihrer Perspektive wohlhabenden Emigrant_innen, die auch finanzielle Forderungen mit einschließen. Diesen Forderungen begegnen Senegales_innen in Berlin auf sehr unterschiedliche Weise, indem sie diesen z. B. nur teilweise entsprechen, sie ignorieren oder den Kontakt ganz abbrechen. Medienpraktiken auf Facebook werden in diesem Beitrag vor allem in ihrer Eigenschaft als »relational practices« untersucht, wie Heike Behrend dies für foto- grafische Praktiken in Ostafrika beschrieben hat: »(...) a practice that establishes a new sphere of social relations that is substantiated through the production, circu- lation, and consumption of photographs.«3 Der Fokus liegt bei dieser Betrachtung also auf der Qualität der unterschiedlichen Verbindungen und sozialen Beziehun- gen zwischen Senegales_innen in Berlin und Dakar. Soziale und emotionale Nähe oder Distanzierung korrelieren dabei nicht mit räumlicher Entfernung. Vielmehr werden in den Medienpraktiken die sozialen Beziehungen hergestellt, aufrecht- 1 Ich möchte vor allem den Teilnehmer_innen meiner Forschung in Dakar und Berlin für ihre Großzügigkeit und Offenheit danken. Vielen Dank an die DFG und das Graduier- tenkolleg ›Locating Media‹ für die Unterstützung der Forschung und besonderen Dank an die Kollegiat_innen des Graduiertenkollegs für den intensiven Austausch und die fruchtbaren Diskussionen. Für die hilfreichen Kommentare zum Manuskript gilt mein Dank den (Mit-)Herausgeber_innen und Michaela Mezger. 2 Zu Beginn des Forschungsprojektes nutzte ich die nationale Zuschreibung Senegales_in, um die Personengruppe für meine Forschung in Berlin einzugrenzen. Im Verlauf der Feldforschung wurde jedoch deutlich, dass sich auch Angehörige anderer Nationalitäten (z. B. aus Gambia und Mali) als Teil der spezifisch senegalesischen und wolof-sprachigen kulturellen Gruppen und religiösen Vereinigungen sahen. Diese sollen hier mit der Be- zeichnung Senegales_in mit einbezogen werden. 3 Behrend: »Contesting Visibility«, S. 146. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN SIMONE PFEIFER erhalten, ausgehandelt und manchmal sogar abgebrochen.4 Ausgehend von mei- nen eigenen Forschungspraktiken möchte ich die Medienpraktiken der sozialen Nähe und Distanz zwischen den unterschiedlichen Teilnehmer_innen meiner For- schung verdeutlichen. Überarbeitete Feldforschungsnotiz vom 30. November 2012: Fatou5 lässt mir über den Facebook-Account ihrer Freundin Khady die persönliche Nachricht zukommen, dass ihre Tochter geboren wurde. Per E-Mail Benachrichtigung werde ich von Facebook darüber infor- miert und kann, während ich im Büro am Computer arbeite, meine Neugierde nicht zügeln und gehe online auf meinen Facebook-Account, um Khady zu antworten. Bevor ich Khady antworten kann, sehe ich, dass ich auch noch Hassan auf seine Anfrage antwor- ten muss. Hassan hatte auf meine (öffentliche) ›Timeline‹ geschrieben, dass er Geld für seine Studiengebühren braucht und ich ihm helfen soll. Noch während ich überlege, wie ich diese Forderung freundlich aber bestimmt abweisen kann, entdecke ich beim Treiben lassen und Abschweifen in meinem ›Newsfeed‹, dass in Berlin ein Konzert einer meiner senegalesischen Kontakte stattfindet und überlege, ob ich es schaffe, hinzugehen. (...) Etwa 2 Wochen später sehe ich zufällig in meinem ›Newsfeed‹, dass Fatous Halbschwester 17 Fotos von der Tauf- feier in Dakar in einem Album nguenT BI [ngente bi = die Taufe mit großer Feier] online gestellt hat und schaue mir genau an, wer und was in den Bil- dern zu sehen ist. Ich erkenne viele Gesichter, schaue mir die aufgemach- ten Kleider und die teilweise unschar- fen Bilder genau an – freue mich, auch ein Bild des neugeborenen Babys Ndeye Oumi zu sehen, finde es gleichzeitig auch etwas befremdlich, 4 Vgl. zum Konzept von Nähe und Distanz auch den Band von Abend u. a.: »Medialität der Nähe«. 5 Die Namen der Gesprächspartner_innen wurden anonymisiert, sofern dies erwünscht wurde. NAVIGATIONEN 56 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ dass die Fotos der Tauffeier von Ndeye Oumi und ihrer Mutter Fatou ohne deren Zutun auf Facebook zirkulieren. Nebenbei bemerke ich, dass einer meiner Kontakte, eine Freundin von Fatou aus Deutsch- land, sich die Bilder auch schon angeschaut und jedes einzelne der Bil- der ›geliked‹ hat – was ich, zumindest beim Album, auch schnell tue. 6 Diese kondensierte Beschreibung einer ›Facebook-Situation‹ während meiner ethnologischen Feldforschung verdichtet drei Dimensionen der Forschung in, mit und durch Facebook. Die Plattform als Gegenstand der Forschung dient erstens als medialer und sozialer Austauschraum,7 in dem die unterschiedlichen Kontexte und Ereignisse in Berlin und Dakar miteinander verbunden werden. Zweitens wird Facebook methodisch von mir als Forscherin eingesetzt. Durch meine teil- nehmende Beobachtung kann ich Zugang zu diesem Austauschraum bekommen und die unterschiedlichen Kommunikationswege erlauben es mir, (Nach-)Fragen zu den Themen meiner Forschung zu stellen. Zuletzt sind die kleinteilige Be- schreibung der Medienpraktiken auf Facebook und die eingefügten Bildschirmfo- tos eine Annäherung an die spezifische Medialität der Plattform selbst. Es ist ein Versuch, die Medienpraktiken der Teilnehmer_innen meiner Forschung sowie meine eigenen beschreibbar zu machen. Eine Situation auf Facebook setzt sich aus kleinteiligen, teilweise auch nicht auf Facebook sichtbaren, Medienpraktiken, On- und Offline-Interaktionen, Se- quenzen und sozialen Kontexten zusammen. Der Bildschirm wird zum Ort des sozialen Raumes,8 und erst durch das Zusammenspiel der genannten Elemente und deren Vermittlung entsteht die soziale Situation auf Facebook.9 Die konden- sierte Feldforschungsbeschreibung und die Bildschirmfotos sind ein Versuch, die Medienpraktiken, die eine Facebook-Situation herstellen, sichtbar zu machen. Unter Medienpraktiken verstehe ich zunächst was die Teilnehmer_innen meiner Forschung mit Medien tun.10 Indem ich das kleinteilige Tun der Teilnehmer_innen meiner Feldforschung nachahme, erlerne ich, mich auf ähnliche Weise auf Face- book zu bewegen. Die Medienpraktiken meiner Forschung nähern sich den Me- 6 Meine Feldforschungsaufenthalte in Berlin (acht Monate), Dakar (sechs Monate) und on- line fanden zwischen 2011 und 2014 statt und sind Teil des ethnologischen Promotions- projektes zu »Medien der translokalen Vernetzung«. Während meiner Forschung nutzte ich meinen privaten Facebook-Account mit einer eigenen Untergruppe mit Forschungs- kontakten. Spezifische Einträge waren so nur für meine Forschungskontakte in Berlin und Dakar sichtbar. Aus Gründen der Reziprozität wendete ich diese Privatsphärenein- stellungen nicht auf meine anderen Kontakte in Facebook an, sodass die senegalesischen Kontakte Einblick in alle meine privaten und beruflichen Aktivitäten auf Facebook hat- ten. 7 Vgl. Zillinger: »Was sind mediale Räume?«. 8 Casetti: »What Is a Screen Nowadays?«, S. 17. 9 Vgl. Paßmann: »Was war Twitter?«. 10 Vgl. Couldry: »Theorising Media as Practice«; Postill: »Introduction: Theorising Media and Practice«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 57 SIMONE PFEIFER dienpraktiken meiner Gesprächspartner_innen also durch enskilment11 an. Wäh- rend der Feldforschungsaufenthalte hatte ich einen Einblick in die Zugangsmög- lichkeiten, auf die Gewohnheiten der Facebook-Nutzung und die Praktiken unter- schiedlicher Personengruppen in Berlin und Dakar.12 Beim Betrachten der ›Posts‹ auf Facebook hatte ich durch meine Feldforschungen meist eine genaue Vorstel- lung davon, wo sich die Teilnehmer_innen meiner Forschung aufhielten und auf welche Weise sie Zugang zu Facebook erlangten; ob sie sich beispielsweise im Cyber (Internetcafé), zu Hause oder unterwegs auf dem Smartphone bei Face- book einloggten und wessen Gerät sie dazu nutzten. Im Folgenden setze ich mich zunächst mit praxistheoretischen Ansätzen in Bezug auf Medienforschung auseinander und lege dar, in welchem Bezug dazu so- ziale und digitale Medien stehen. Daran anschließend zeige ich anhand meiner Feldforschungsnotiz, wie Medienpraktiken des Zeigens und Löschens im transna- tionalen Austauschraum zwischen Berlin und Dakar wirken. In einem weiteren Kapitel fokussiere ich die sozialen Dimensionen der Medienpraktiken. ›Ältere‹ so- ziale Medien, wie beispielsweise Geldaustausch oder Fotoalben von Hochzeitsfei- ern, die Nähe und Distanz in sozialen Beziehungen gestalten, werden auf Face- book fortgeschrieben.13 Insgesamt wird der besondere Stellenwert, den Bilder in sozialen Beziehungen und zur Herstellung von sozialer Nähe oder Distanz inne- haben, herausgearbeitet. Gleichzeitig zeigt der medienpraktische Zugang, wie Praktiken auf Facebook neue translokale und transnationale Reichweiten eröffnen und soziale Verbindungen für unterschiedliche Formen der Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden. Letztendlich geht der Beitrag damit auch der Frage nach, inwie- fern Routinen und Wiederholungen die Medienpraktiken stabilisieren und welche kreativen Innovationen solche Praktiken zulassen. 11 Ingold: »The Perception of the Environment«, S. 416. Ingolds Unterscheidung zwischen enculturation als Lernprozess, in dem ›kollektive Repräsentationen‹ internalisiert werden und enskilment, in dem Lernen nicht vom praktischen Tun getrennt betrachtet werden kann, dient hier als Ausgangspunkt meiner Überlegungen. 12 Im Zeitraum der Forschung nutzten in Dakar vor allem junge Menschen zwischen 18 und 34 Jahren Facebook (z. B. 73% im ersten Quartal 2011 laut der Socialbakers »Sene- gal Facebook Statistics«. Seit 2012 werden diese statistischen Daten nicht mehr durch Facebook zur Verfügung gestellt). Die relativ teuren Internetverbindungen für Smart- phones und private Haushalte begrenzten die mobile und stationäre Facebook-Nutzung auf privaten Geräten. Im Gegensatz dazu besaßen Senegales_innen in Berlin aller Alters- stufen meist iPhones, ein oder mehrere Mobiltelefone, iPads, Laptops oder Desktop- computer. Der Zugang zum Internet wurde hier über WLAN und günstige Angebote für mobile Endgeräte sichergestellt. 13 Vgl. zu einer weitgefassten Definition von ›sozial‹ und ›Medien‹ in sozialen Medien Schulz: »Mediations of ›Spiritual Power‹«, siehe auch Paßmann: »Was war Twitter?«. NAVIGATIONEN 58 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ 2. MEDIENPRAKTIKEN, DIGITALE MEDIEN UND FOTOGRAFIE Der practice turn in den Medienwissenschaften14 wurde bereits durch den pro- grammatischen Artikel »Media as Practice« des britischen Soziologen und Medi- enwissenschaftlers Nick Couldry ausgerufen. Couldry sieht Medien nicht als Text oder Struktur, sondern als das was Menschen in Relation zu Medien tun (doing): »(...) as an open set of practices relating to, or oriented around, media.«15 Auf- grund ihrer zentralen Rolle sind Medienpraktiken anderen Praktiken (z. B. sozia- len Praktiken) hierarchisch vorgelagert.16 Medien werden hier im klassischen Sin- ne als technische (Massen-)Medien verstanden. Auch im Siegener Graduiertenkolleg ›Locating Media‹ erlangten praxistheore- tische und praxeologische Zugänge zur Erforschung von Medien als orts- und si- tuationsbezogene Medienforschung an Bedeutung, allerdings mit einem erweiter- ten Medienbegriff.17 Besonders die Medienethnologie nahm sich einer orts- und situationsbezogenen Medienforschung und dem Fokus auf die Erforschung von Medienpraktiken an.18 Cora Bender und Martin Zillinger bringen dies in ihrer Ein- führung im Handbuch der Medienethnographie wie folgt auf den Punkt: »Medien werden erst in ihrem Gebrauch zu Medien – zu etwas Mittlerem und Mittelnden – und erst im dichten Kontext von Medienpraktiken verständlich.«19 Die beiden Autor_innen fassen damit das Medium als Mitte, das sowohl vermittelt, als auch selbst vermittelt wird. Ob dabei zuerst die Praktik das Medium ermöglicht oder das Medium die Praktik, spielt keine Rolle. Was hier genau zwischen wem vermit- telt wird, gilt es je nach Kontext zu befragen und in einen größeren Zusammen- hang einzuordnen. Anders ausgedrückt, machen erst die Praktiken bestimmbar, was ein Medium ist und durch den praktischen Vollzug wird deutlich, was dabei vermittelt wird und in welchem größeren Sinnzusammenhang Medienpraktiken verstanden werden müssen. Dabei möchte ich die Perspektive von Bräuchler und Postill20 und Pink u. a.21 jedoch um die von Bender und Zillinger22 in ihrer Einlei- tung dargestellte, symmetrische Perspektive der Medienethnologie23 erweitern. 14 Zu unterschiedlichen praxistheoretischen Ansätzen und der Medienpraktikenforschung siehe die Einleitung der Herausgeber_innen. 15 Couldry: »Theorising Media as Practice«, S. 117. 16 Vgl. Swidler: »What Anchors Cultural Practices«. 17 Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«, S. 8. Medien werden hier als »Kons- tellationen von Kulturtechniken und Prozesse[n] einer verteilten und delegierten Hand- lungsmacht« gefasst. 18 Vgl. Bräuchler/Postill: »Theorising Media and Practice«; siehe auch Rao: »Embed- ded/Embedding Media Practices and Cultural Production«. 19 Bender/Zillinger: »Medienethnographie: Praxis und Methode«, S. XXX. 20 Bräuchler/Postill: »Theorising Media and Practice«. 21 Pink u. a.: »Digital Ethnography«. 22 Bender/Zillinger: »Medienethnographie: Praxis und Methode«. 23 Vielen Dank an Erhard Schüttpelz für seine unermüdlichen Verweise auf die Symmetrie. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 59 SIMONE PFEIFER Denn Medien wirken auch auf die Praktiken zurück und somit können Medien und Praktiken nur in der wechselseitigen Verfertigung24 als Medienpraktiken ver- standen werden. In Bezug auf meinen Beitrag bedeutet dies, dass ich die kleinteiligen, alltägli- chen Medienpraktiken auf Facebook immer in Bezug zu sozialen Beziehungen, aber auch zu anderen Praktiken, die außerhalb von Facebook stattfinden, setzen muss. Ich arbeite heraus, welche Praktiken freundschaftliche und verwandtschaft- liche Beziehungen herstellen, welche sie aufrechterhalten, wie durch sie Konflikte ausgehandelt werden oder aber Kontakte auf Distanz gehalten werden. Der Fo- kus auf Medienpraktiken und Facebook schließt, wie sich zeigen wird, auch rituel- le und soziale Praktiken ein und betont die Vermittlung innerhalb dieser Prakti- ken. Erst am Ende des Beitrags wird es möglich sein, sich dem Verhältnis von so- zialen Praktiken und Medienpraktiken anzunähern. Die ethnografische Forschung zu digitalen Medien25 und sozialen Online- Netzwerken26 nutzt praxistheoretische Ansätze für die Erforschung von Alltags- welten, welche Online- und Offline-Kontexte umspannen. Medienpraktiken wer- den hier von den Forscher_innen als Einheiten konzeptualisiert und zu Ensembles von Medienpraktiken zusammengefasst, ohne dass sie dabei ›natürlich‹ umgrenzt sind.27 Im Gegensatz zu den oben skizzierten praxistheoretischen Ansätzen von z. B. Nick Couldry werden Medienpraktiken nicht allen anderen Phänomenen vorgelagert, und die Praxistheorie wird nicht als neues Paradigma ausgerufen. Die Perspektive auf Praktiken eröffnet hier gleichberechtigt neben anderen Zugängen neue Wege für zentrale Fragen nach Medien im Alltag oder beispielsweise dem Zusammenhang von Medien und Körper.28 Im Bereich der digitalen Fotografie wurde die praxistheoretische Wende mit Untersuchungen zur Materialität und Visualität von »digital visual practices« voll- zogen.29 Gerade in Bezug auf Medienpraktiken und Facebook in Senegal eröffnen visuelle Praktiken und Fotografien als relational objects30 eine andere Form der Verbindung und Erfahrung der Welt. Neben dem Fokus auf Identität, Selbstdar- stellung und selfhood31 wird der Fotografie gerade im afrikanischen Kontext und 24 Vgl. auch Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation« und Schüttpelz/Meyer: »Ein Glossar zur Praxistheorie« in diesem Band. 25 Miller/Horst: »Digital Anthropology«; Pink u. a.: »Digital Ethnography«. 26 boyd/Ellison: »Social Network Sites«; Miller: »Social Networking Sites«; siehe auch Miller u. a.: »How the World Changed Social Media«. Die Autorin danah m. boyd bevorzugt die Kleinschreibung ihres Namens. 27 Pink u. a.: »Digital Ethnography«, S. 57. 28 Pink u. a.: »Digital Ethnography«, S. 9; Postill: »Introduction: Theorising Media and Prac- tice«. 29 Vgl. Cruz/Lehmuskallio: »Digital Photography and Everyday Life«. 30 Edwards: »Photographs and the Sound of History«. 31 Z. B. Uimonen: »Visual Identity in Facebook«; vgl. für den senegalesischen Kontext auch Mustafa: »Portraits of Modernity«. NAVIGATIONEN 60 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ insbesondere aufgrund der kulturellen Bedeutung der erweiterten Familie eine aktive Rolle für die Ausgestaltung von Verbindungen in sozialen Beziehungen zu- geschrieben: »(...) photographs are embedded in social relations, which determine the scope of how photographs are used to extend socialities beyond Face-to-Face encounters.«32 Der Fokus liegt hier nicht auf den Individuen, sondern auf den so- zialen Beziehungen, die in den indexikalischen Spuren der Fotografien enthalten sind. Die emotionale oder affektive Kraft einer Fotografie entsteht nicht nur durch das Bild selbst, sondern auch durch die Praktiken und die Handhabung der Bilder in sozialen Beziehungen, wie zum Beispiel des Betrachtens von Fotografien auf Facebook. Durch das Bild wird emotionale und soziale Präsenz und Nähe über Raum und Zeit ermöglicht.33 Es gilt für diesen Beitrag, die Verbindung von Abwesenheit, Anwesenheit, Nähe und Distanz in sozialen Beziehungen, nicht nur in Bezug auf Fotografien, näher zu beleuchten. 3. ABWESENDE ANWESENHEIT: MEDIENPRAKTIKEN DES ZEIGENS UND LÖSCHENS IM MEDIALEN AUSTAUSCHRAUM Wie in der eingangs zitierten Feldforschungsnotiz am Beispiel meiner eigenen Forschung deutlich wird, verbinden sich auf Facebook unterschiedliche urbane Kontexte meiner Forschung in Berlin und Dakar. In persönlichen Nachrichten und öffentlichen Mitteilungen erreichen mich Neuigkeiten von Geburten und Geldfor- derungen in Dakar oder Konzertankündigungen meiner Kontakte in Berlin. Phy- sisch abwesende Personen werden so über geografische und zeitliche Distanz in die unterschiedlichen Kontexte mit einbezogen und anwesend gemacht. Diese Form des medialen Ko-Präsent-Machens wird nicht durch eine »(...) gemeinsame physisch räumliche Verortung, sondern über wechselseitige kommunikative Er- reichbarkeit oder Ko-Lokalisierung im virtuellen Raum erzeugt«, so Erika Linz und Katharine S. Willis.34 Unter medial vermittelter Ko-Präsenz wird hier in Anlehnung an Pink u. a. ein Konzept verstanden, das »(...) stands for a range of ways of being together that do not necessarily involve being in the same physical- material locality, including during ethnography.«35 Das eindringliche rote Anzeigen jeder neuen Nachricht durch Facebook macht die Teilnehmer_innen meiner Forschung in meinem Alltag präsent und ver- leiht ihren Nachrichten und Forderungen zusätzlichen Nachdruck. Khadys per- sönliche Mitteilung auf Französisch und mit für Facebook typischer Schriftlich- 32 Uimonen: »›I’m a Picture Girl!‹«, S. 24. 33 Edwards: »Photographs and the Sound of History«, S. 33-34. 34 Linz/Willis: »Mobile Ko-Präsenz«, S. 145. 35 Pink u. a.: »Digital Ethnography«, S. 84. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 61 SIMONE PFEIFER keit36 verweist auf die Geburt der Tochter der gemeinsamen Freundin Fatou, die selbst keinen Facebook-Account nutzt.37 Abb. 1: Screenshots: ›Neue Nachricht‹ auf Facebook, persönliche Mitteilung von Khady an die Autorin (10.11.2012). Hallo Simone, wie geht es Dir38 und der Familie? Bist Du auf dem Laufenden? Fatou hat eine Tochter bekommen, seitdem sind zwei Wochen vergangen [Übersetzung SP]. Diese Nachricht erreichte mich im Auftrag der gemeinsamen Freundin Fatou und enthielt neben der üblichen Frage nach meinem und dem Wohlergehen meiner Familie nur die Nachricht von der Geburt Fatous Tochter, jedoch keine persönli- che Information von Khady selbst. Hier entstand medial vermittelt also eine ›so- ziale Ko-Präsenz‹ zwischen Fatou und ihrer Tochter, Khady und mir. Die unter- schiedlichen Personen wurden durch die private Nachricht anwesend gemacht. Wie mir unterschiedliche senegalesische Kontakte in Berlin mitteilten, ver- binden sich mit der Nachricht einer Geburt auch finanzielle Erwartungen. In die- sem Fall ist die zeitliche Angabe, dass die Geburt schon zwei Wochen her ist, be- deutend. Denn bereits eine Woche nach der Geburt hatte die Mutter Fatou wie in Dakar üblich, eine große Tauffeier (ngente) im Haus der Schwiegermutter or- ganisiert und viel Geld dafür ausgegeben (Abbildungen 2 und 4). In Feierlichkeiten dieser Art verbinden Frauen ökonomischen Austausch mit ritueller und sozialer Autorität, wie die amerikanische Ethnologin Beth Buggenhagen ausführlich in ihrer Ethnografie darlegt.39 Aus der Feldforschungsnotiz wird weiter deutlich, dass Fatous Halbschwes- ter von dieser Tauffeierlichkeit auch Bilder mit ihrer Handykamera erstellt und etwa zwei Wochen nach Khadys persönlicher Mitteilung auf Facebook eingestellt hat (Abbildung 2). Im Gegensatz zu Khadys persönlicher Nachricht, die ausdrück- 36 Auf die Besonderheiten von Sprache und Schriftlichkeit von Französisch, Wolof und an- deren senegalesischen Sprachen in Facebook kann hier nicht weiter eingegangen wer- den. In Bezug auf Mobiltelefone und SMS siehe die Arbeit von Lexander: »Texting and African Language Literacy«. 37 Viele Frauen aus ländlichen Regionen oder ärmeren Haushalten haben wie Fatou nur ei- nige Jahre eine Schule besucht und können deshalb nur wenig Lesen und Schreiben. Auf Plattformen wie Facebook sind sie daher häufig eingeschränkt oder mit Unterstützung von Freund_innen und Familienmitgliedern aktiv. 38 Die Höflichkeitsform ›vous‹ wird hier mit ›Du‹ übersetzt, da es die freundschaftliche Be- ziehung zwischen Khady und mir besser darstellt. Französisch wird in Dakar meist als Zweitsprache in der Schule erlernt, und auch in engen Beziehungen wird die Höflich- keitsform und das persönlichere ›tu‹ im Wechsel genutzt. 39 Buggenhagen: »Muslim Families in Global Senegal«. NAVIGATIONEN 62 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ lich auf Fatous Wunsch mit der impliziten finanziellen Forderung an mich ge- schickt wurde, sind diese Bilder allein auf Initiative ihrer Halbschwester in Face- book eingestellt worden. Die Bilder stellen eine Verbindung des Ereignisses und der abgebildeten Personen mit einem neuen Kontext in Facebook her. Dieser mediale Austauschraum ist Teil eines Interaktionsraumes, der die Teilneh- mer_innen immerzu umgibt. Geprägt ist dieser Austauschraum von einer ständi- gen Verfügbarkeit des Anderen, einer »ambient virtual co-presence«, wie Itō und Okabe dies in Bezug auf Mobiltelefonnutzung in Japan nennen.40 Durch die Foto- grafien werden in diesem medialen Austauschraum jedoch das Ereignis der Taufe und auch Personen präsent gemacht, die nicht direkt Teil der ständigen Verfüg- barkeit im Sinne Itō und Okabes sind. Abb. 2: Screenshot Ausschnitt: Fotoalbum ›nguenT BI‹, eingestellt von Scandale Wista’h Bre- lier am 30.11.2012. Als ich die Fotos von Fatous Halbschwester der Taufe sah, hatte ich ein Bild von ihr im Kopf, wie sie mit dem Computer der Frau ihres Großcousins an der niedri- gen Mauer im ersten Stock im Haus ihres Vaters stand und versuchte Zugang zum freien WLAN Netz des Nachbarn zu bekommen. Meist schloss sie ihr Mobiltele- fon, mit dem sie normalerweise die Fotos erstellte, mit einem Kabel an den Lap- top an und lud alle verfügbaren Fotos auf einmal auf Facebook, so wie hier in die- sem Album nguenT BI.41 All diese Elemente wie Geräte, Zugang, soziale und öko- nomische Praktiken müssen zusammenspielen, damit die Bilder auf Facebook ein- gestellt werden können. Dieses Zusammenspiel ist nach dem Einstellen der Foto- grafien auf Facebook jedoch nicht sichtbar und wird auch nicht reflektiert. Hier erinnern die Bilder lediglich an eine globale (Facebook-)Ästhetik: Sie zeigen Port- räts von Menschen, die auf bestimmte Weise von der Plattform Facebook in ei- 40 Itō/Okabe: »Technosocial Situations«, S. 264. 41 Auf Wolof heißt ngente bi die Taufe. Die Schreibweisen auf Facebook variieren sehr stark. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 63 SIMONE PFEIFER nem Album angeordnet werden. Die Bilder selbst setzen jedoch eine lokale Äs- thetik der Selbstdarstellung und Selbstpositionierung fort.42 Die Bilder des Facebook-Fotoalbums der Tauffeier verweisen nicht nur auf die Personen im Bild, sondern auch auf den Ort, an dem sie aufgenommen wur- den. Beim Betrachten der Bilder war mir, wie auch der Freundin in Berlin, sofort klar, dass die Tauffeier bei Fatous Schwiegermutter in einem recht repräsentati- ven und wohlhabenden Haus stattgefunden hat. Fatou war kurz nach ihrer Hoch- zeit aus ihrem relativ armen Elternhaus in das Haus der Schwiegermutter in ei- nem anderen Viertel Dakars gezogen. Mit dieser Tauffeier stellte sie sich das ers- te Mal als Gastgeberin im Haus der Schwiegermutter vor, obwohl sie dort mit ih- rem Mann nur ein kleines Zimmer auf dem Dach bewohnte. Die Teilneh- mer_innen meiner Forschung wählen bewusst Hintergründe der Bilder aus, und diese Hintergründe werden auf Facebook auch wahrgenommen. Damit werden Orte angezeigt, teilweise aber auch bestimmte Verhältnisse verschleiert und nicht im Bild gezeigt. Durch das unmittelbare ›Liken‹ der einzelnen 17 Bilder des Al- bums markierte die Freundin in Berlin, wie sie mir in einem informellen Gespräch mitteilte, dass sie die Bilder gesehen und für gut befunden hatte. Damit zeigte sie trotz physischer Abwesenheit und geografischer Distanz ihre Anwesenheit für die Gruppe ihrer Facebook-Freund_innen an. In den einzelnen kleinteiligen Medienpraktiken werden die zeitlichen Merk- male der Plattform Facebook genutzt und unterschiedliche Formen des medial vermittelten Präsent-Machens43 durch persönliche Mitteilungen, öffentliche Bil- der, ›Likes‹ und Kommentare gestaltet. In der Zeitleiste werden durch Facebook automatisch alle Ereignisse zeitlich zugeordnet und in chronologischer Weise in einem Profil aufgeführt. Diese Chronologie wird jedoch von vielen meiner Kon- takte in Dakar und auch Berlin umgangen oder gebrochen. Das Taufalbum nguenT BI wurde beispielsweise nicht mit dem Datum der Taufe verbunden. Lediglich das Datum der Einstellung des Albums - zwei Wochen nach dem Ereignis - verriet, wann die Taufe ungefähr stattgefunden haben musste. Einige Monate später hatte Scandale Wista’h Brelier das komplette Album wieder aus ihrem Profil gelöscht. Einzelne Fotos des Albums lud sie später erneut als Profil- und Hintergrundbild auf Facebook hoch. Damit verschwanden nicht nur das Ereignis der Taufe, son- dern auch die Kommentare und ›Likes‹ zu diesem Album aus ihrer Zeitleiste. Das Ereignis konnte Scandale Wista’h Brelier somit nicht mehr zugeordnet werden. In den Hintergrund- und Profilbildern blieb die Taufe noch einige Zeit erhalten (Ab- 42 Beth Buggenhagen fokussiert in ihrer Arbeit vor allem darauf, wie junge Frauen in Dakar durch Fotografien und deren Zirkulation einen Raum der Respektabilität schaffen; Bug- genhagen: »A Snapshot Of Happiness«. Sie bezieht sich dabei auf frühere Arbeiten, in denen Porträtfotografie und deren Aneignung als zentrale Elemente des Selbst und der Persönlichkeit herausgearbeitet wurden; vgl. Mustafa: »Portraits of Modernity«; Buckley: »Self and Accessory in Gambian Studio Photography«; Roberts u. a.: »A Saint in the City«. 43 Linz/Willis: »Mobile Ko-Präsenz«, S. 149. Vgl. auch Pink u. a.: »Digital Ethnography«, S. 89. NAVIGATIONEN 64 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ bildung 3). Im Februar 2013 veränderte Scandale Wista’h Brelier erneut ihr Profil- bild und im April des gleichen Jahres nahm sie auch das Hintergrundbild heraus. Die Spuren und Verweise der Taufe waren nun nicht mehr in ihrem Profil sicht- bar. Die Medienpraktik des Löschens von Bildern aus der Timeline und den Face- book-Profilen vieler junger Frauen in Dakar und Berlin zeigt häufig eine veränder- te Perspektive im Leben der jungen Frauen oder aber eine Veränderung des sozi- alen Status durch Heirat oder Geburt eines Kindes an. Zur Darstellung einer jun- gen, ungebundenen Frau passte der Status des Taufalbums nur für kurze Zeit. In- nerhalb weniger Wochen wurden die Tauffotografien durch Bilder mit Gleichalt- rigen und Ereignissen wie Geburtstagsfeiern, die erst seit kurzer Zeit und vor al- lem von jungen Menschen in Dakar gefeiert werden, ersetzt. Auch durch die spielerische Nutzung eines Pseudonyms wie im Fall von Scandale Wista’h Brelier44, die sehr lange nur unter ihrem Pseudonym und nicht unter ihrem tatsächlichen Namen auf Facebook aktiv war, wird der Status einer jungen und ungebundenen Frau deutlich. Mit dem Pseudonym konnten nur Per- sonen, die sie auch aus anderen Kontexten kannten, ihr Facebook-Profil mit ihr verbinden. Mit einem Perspektivwechsel in ihrem Leben und dem Fokus auf eine anstehende Heirat veränderte sich auch ihr Verhalten auf Facebook. Nicht nur die Bilder, auch das Pseudonym verschwand aus ihrem Profil. Abb. 3: Öffentliches Hintergrundbild, Screenshot vom 16.12.2012 Die Hoffnung auf soziale und geografische Mobilität, aber auch Ereignisse wie Hochzeiten, Taufen und Migration wirken auf die Facebook-Praktiken zurück. In die Medienpraktiken sind Normen und Erwartungen eingeschrieben, und damit 44 Wie mir die junge Frau in einem persönlichen Gespräch mitteilte, setzte sich das Pseu- donym aus der arabischen Übersetzung ihrs Vornamens (Wista’h) und dem tatsächli- chen Nachnamen einer Sängerin (Brelier) zusammen. Diesem Namen setzte sie das Sub- stantiv Scandale voran, um spielerisch auf sich aufmerksam zu machen. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 65 SIMONE PFEIFER sind nicht nur die »Bedürfnisse und Erwartungen an die kommunikative Prä- senz«45 gemeint. Auch weitergehende soziale Normen sind beispielsweise in ei- ner Nachricht über die Ankündigung der Geburt eines Kindes enthalten, wenn mit der bloßen Ankündigung auch Erwartungen wie finanzielle Geschenke ver- bunden sind. Durch den Fokus auf Medienpraktiken wird deutlich, dass transnati- onale soziale Beziehungen erst in einem medialen Austauschraum miteinander verknüpft und verstanden werden können.46 An den unterschiedlichen Orten werden abwesende Personen durch Medienpraktiken des Zeigens dazu eingela- den und aufgefordert, Anwesenheiten zu schaffen. Zeitlichkeit spielt hierbei eine besondere Rolle, da sie nicht nur die unterschiedlichen Zeitebenen der Ereignisse selbst oder die Zeitlichkeit von Facebook umfasst, sondern auch beinhaltet, dass durch die Medienpraktik des Löschens Ereignisse und Spuren von vorherigen Me- dienpraktiken aus den Profilen und Zeitleisten verschwinden. 4. UN/SICHTBARE BEZIEHUNGEN: DIE SOZIALE VERFASSTHEIT DER MEDIENPRAKTIKEN Mit Fokus auf die soziale Verfasstheit der Medienpraktiken rückt vor allem die Un/Sichtbarkeit von Medienpraktiken für unterschiedliche Personengruppen in den Vordergrund. Nicht nur das nachträgliche Löschen als ›unsichtbare‹ Medien- praktik führt dazu, dass Beziehungen nicht (mehr) sichtbar sind. Auch finanzielle Unsicherheiten und alltägliche Unwägbarkeiten vieler Senegales_innen in Dakar werden auf Facebook verschleiert. Dies wurde bereits darin deutlich, dass Fatous Halbschwester die Bilder der Taufe nicht ohne das soziale Netz der Familie (Computer) und Nachbarschaft (WLAN) einstellen konnte. Der gleichzeitige Zu- gang zu technischen Geräten und dem offenen WLAN des Nachbarn war nur während eines bestimmten Zeitfensters möglich. Diese zeitliche Begrenzung formte teilweise ihre Medienpraktiken mit, da sie sich meist nicht die Zeit nahm, Korrekturen an einem bereits eingetippten Text vorzunehmen. So blieb der Titel des Albums »nguenT BI« mit den Großbuchstaben am Ende des Wortes in Face- book erhalten. Zudem stellte sie meist alle Bilder eines Ereignisses auf einmal in Facebook ein, ohne eine Auswahl zu treffen. Dies konnte ich häufig beobachten, wenn ich mit meinem Laptop neben ihr an der Mauer im Haus ihres Vaters stand, um auch das WLAN des Nachbarn zu nutzen.47 Auch in anderen Situationen ge- meinsam mit ihrer Schwester oder in den Internetcafés des Viertels konnte ich immer wieder die technischen Begrenzungen des Zugangs zum Internet beobach- ten und musste selbst lernen, mit ihnen oder beispielsweise defekten Tastaturen umzugehen. Angesichts dieser Beschränkungen wird die Bedeutung von digitalen 45 Linz/Willis: »Mobile Ko-Präsenz«, S. 149. 46 Zillinger: »Was sind mediale Räume?«. 47 Während eines Feldforschungsaufenthaltes in Dakar (2013) lebte ich im gleichen Haus und hatte dadurch engen Kontakt zu dieser jungen Frau und ihrer Familie. NAVIGATIONEN 66 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ Fotografien auf Facebook noch deutlicher. Dies liegt jedoch auch in der histori- schen Bedeutung von (Porträt-) Fotografien in Senegal begründet.48 Porträt-Fotografien und Fotoserien spielen nicht nur auf Facebook, sondern auch als materielle Fotoalben eine besondere Rolle und werden hier zu ›analogen‹ sozialen Medien. Für die oben beschriebenen Tauffeierlichkeiten hatte die junge Mutter ihren Mann und alle verfügbaren sozialen Netzwerke finanziell um Unter- stützung gebeten. Die finanziellen Mittel gab sie zu einem kleinen Teil für die Be- wirtung der Gäste aus. Der weitaus größere Anteil diente dazu, die Familie ihres Mannes, ihre Schwiegermutter, Schwägerin, aber auch die Brüder und Onkel des Mannes angemessen und den Erwartungen entsprechend zu beschenken. Die professionellen Bilder der Tauffeier wurden für das Fotoalbum genutzt, um ein, wie Tobias Wendl dies nennt, »Ritual zweiter Ordnung« herzustellen.49 Durch das Zeigen des Taufalbums (siehe Abbildung 4) konnte sich die Mutter Fatou auch zu einem späteren Zeitpunkt in ihren sozialen Beziehungen als Ehefrau und Mutter situieren und ihre soziale Autorität in der neuen Familie verdeutlichen. In diesem Album sind vor allem sie selbst, das Baby, aber auch das Ehepaar mit dem neuen Baby im Mittelpunkt zahlreicher Fotomontagen. Zusätzlich gibt es viele Bilder von der jungen Mutter mit den unterschiedlichen anwesenden Gästen – aber auch ei- nige Seiten mit den betenden Männern und der muslimischen Namensgebungsze- remonie, die allein von den anwesenden Männern durchgeführt wurde. Abb. 4: die erste und zweite Seite des Taufalbums, Aufnahme Dakar 30.01.2013. 48 Vgl. z. B. Bajorek: »Democratization and Photography in Senegal« und Hickling: »Early Studio Photography in Senegal«. 49 Wendl: »Photographien, Radios und Bestattungsvideos«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 67 SIMONE PFEIFER Da Fatou, wie bereits erwähnt, aus unterschiedlichen Gründen selbst keinen Fa- cebook-Account nutzt50, zirkulierten auf Facebook vor allem Bilder der Taufe von Gästen wie ihrer Halbschwester. Diese hatte während ihres Besuches mit ih- rem Mobiltelefon einen bestimmten Ausschnitt der Feierlichkeiten fotografiert. Besuche der Familie des Mannes oder der offizielle rituelle Teil der Feierlichkeit fanden sich nur im Fotoalbum und Video der Taufe wieder. Im Gegensatz zu den professionellen Bildern der Taufe sind die Amateurbilder von geringerer Qualität und werden von der Plattform Facebook auf eine bestimmte Weise als Album dargestellt. Im Mittelpunkt stehen vor allem die jungen Frauen, das Neugeborene und die Mutter innerhalb ihrer Freundinnen (Abbildung 2). Die Feierlichkeit wird hier also aus einer anderen sozialen Perspektive dargestellt und von der Halb- schwester für ihre eigene Präsentation auf Facebook genutzt. Auf der Plattform entwickeln die Bilder zudem eine andere Wirkkraft und Reichweite im digitalen Netz.51 Eine besondere Form der Aufforderung auf Bilder zu reagieren, stellt das ›Taggen‹ dar. Hierzu werden ausgewählte Personen im Bild als ›anwesend‹ mar- kiert. Dadurch erscheinen diese Personen mit Namen und Link zum Profil, wenn man im Bild mit dem Mauszeiger über die Stelle der Markierung geht. Zusätzlich werden sie neben dem Bild mit Namen und Link aufgeführt. Durch diese Art des Markierens wird eine Gruppe von Personen als Gemeinschaft ausgewiesen, die mit dem Bild verbunden ist. Dies stellt einerseits eine Aufforderung dar, das Bild zu ›liken‹ und zu kommentieren. Andererseits entsteht eine erhöhte Sichtbarkeit, denn bei jedem Kommentar oder ›Like‹ des Bildes, in dem eine Person markiert wurde, informiert Facebook in den Standardeinstellungen die jeweilige Person über diese Veränderung. Diese ›Tags‹ und die Antworten darauf werden so zu ei- ner sozialen Verbindung, die soziale Nähe in den Beziehungen trotz räumlicher Trennung herstellt. Zudem wird diese soziale Verbindung – und das ist spezifisch für Medienpraktiken auf Facebook – für eine eingeladene Gruppe von Facebook- Freund_innen sichtbar. 50 Zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben hatte Fatou vor allem die soziale Mobilität inner- halb ihrer Schwiegerfamilie als Ziel und nicht, wie zu anderen Zeitpunkten, geografische Mobilität und Verortung in einer translokalen Gemeinschaft. 51 Auf die unterschiedlichen Reichweiten und Formen der Gemeinschaftsbildung in den un- terschiedlichen Fotoalben (auf Facebook und ›analog‹) kann hier nur verwiesen, aber nicht im Detail eingegangen werden. Dieser Punkt wird auch im Fazit noch einmal auf- gegriffen. NAVIGATIONEN 68 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ Abb. 5: Bildausschnitt: Anonymisierter Teil eines Screenshots mit ›Tags‹ (30.11.2012) Vor allem Freundinnen und Nachbarinnen der Halbschwester, aber auch der Mutter Fatou wurden in den Bildern der Taufe markiert und damit aufgefordert, auf das Bild zu reagieren. Die Freundin aus Berlin antwortete auf den ›Tag‹ sofort mit einem ›Like‹ jedes einzelnen Bildes des Albums. Das Fehlen von Kommenta- ren und ›Likes‹ wird von beiden Seiten wahrgenommen und in persönlichen Ge- sprächen negativ kommentiert. Beispielsweise wurde in Dakar über einige meiner Kontakte in Berlin angemerkt: »Sie meldet sich nicht, sie hat uns vergessen, sie ist nicht gut.« Oder aber: »Ja, er denkt immer an uns, auch wenn er im Moment kein Geld schicken kann, weiß ich, dass er immer an uns denkt und bei uns ist«. Als Gegensatz zur oben beschriebenen Tauffeier möchte ich eine andere Taufe anführen, die 2013 zwischen Berlin und Dakar stattfand. Mariama war da- mals Mitte zwanzig und wohnte erst seit ca. vier Jahren in Berlin. Nach der Ge- burt ihres ersten Sohnes in Berlin hielt Mariamas Schwiegerfamilie in Abwesenheit von ihr und des Kindes eine kleine muslimische Tauffeier in Dakar ab. Es gab we- der einen offiziellen Fotografen, noch wurden viele Bilder mit dem Smartphone geschossen oder gar auf Facebook veröffentlicht. Die Feier diente vor allem der Namensgebung und des Schutzes des Kindes und nicht der sozialen Positionie- rung der jungen Mutter. Als ich nach der Geburt ihres Kindes in Deutschland mit Mariama über die Geburt und Taufe ihres ersten Sohnes auf Deutsch sprach, meinte sie dazu: Ich hab ihnen [den Schwiegereltern/Familie] meinen Sohn per Skype gezeigt und auch Fotos [per E-Mail] geschickt. Meine Schwiegermut- ter, sie meinte immer wieder, dass ich dem bébé die Haare rasieren muss, sie hat auch immer wieder gesagt, dass ich ihn schützen muss und [sie hat] mir über eine Freundin gris gris52 zukommen lassen. Aber ich will das nicht, hier ist Deutschland. Hier will ich das nicht. Ich hab ihr gesagt, dass es hier sehr kalt ist und ich deshalb die Haare nicht abrasieren kann. Andere machen das, aber ich will das nicht. Auch die Amulette, habe ich danke gesagt und genommen. Aber hier gibt es diese Magie nicht, hier braucht man das nicht, nur für dort. 52 Mit gris gris (xondiom in Wolof) werden in Senegal unterschiedliche Schutzamulette, die mit magischen Worten, Koranversen, Gegenständen und Flüssigkeiten ausgestattet werden, bezeichnet. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 69 SIMONE PFEIFER Diese junge Mutter kommuniziert mit ihren Schwiegereltern vor allem über Skype und Mobiltelefon. Das Ereignis der Geburt und Taufe ihres Sohnes hat sie auf Facebook nicht dokumentiert. Erst einige Zeit nach der Geburt und unabhän- gig von der Taufe hat sie Bilder ihres Sohnes auf Facebook eingestellt. Ein Grund dafür war, dass sie die Haare nicht abrasiert hatte. Wie bereits oben ausgeführt, sind hier unterschiedliche Zeitlichkeiten für die jeweiligen Medienpraktiken ent- scheidend. Die Verweigerung, Bilder auf Facebook zu posten, muss in Verbindung mit den oben angeführten Medienpraktiken des Löschens und Zeigens betrachtet werden. Die spezifische Situation in Berlin erlaubte es Mariama gegenüber ihrer Schwiegermutter in Dakar, auch als junge Frau eine starke Position einzunehmen und die von ihr eingeforderten sozialen, rituellen und medialen Praktiken abzu- lehnen. Wie in diesem kurzen Gesprächsausschnitt deutlich wird, ordnet Mariama ihre Verweigerung des Abrasierens als besonders ein, da sie betont, dass andere senegalesische Mütter in Berlin diese Praktiken nicht verweigern. In beiden Beispielen der Geburt und Taufe eines Kindes wird die Bedeutung der Beziehung zur Schwiegermutter deutlich. In beiden Fällen ist es wichtig, die Beziehung nicht (oder nur teilweise) über öffentliche Bilder, sondern über direkte Interaktion und Vermittlungen, Geldgeschenke, Skype und Telefon herzustellen. Facebook hingegen spielt hier eine untergeordnete Rolle und wird vor allem für die Beziehungen zu Freund_innen und etwa gleichaltrigen Verwandten und Nachbar_innen gepflegt. Hierin zeigen sich in Bezug auf die Betrachtung von Facebook-Praktiken zwei wichtige Elemente: Erstens sind die Facebook-Praktiken für eine bestimmte Per- sonengruppe und für Beziehungen zwischen jungen Frauen und Männern von Be- deutung. Das heißt auch, dass diese Praktiken in erster Linie zwischen diesen Per- sonengruppen eingeübt und routiniert durchgeführt werden. Senegales_innen in Berlin sind aufgrund der Situation und des Migrationskontextes häufig eher zu- rückhaltend, setzten die Praktiken des ›Likens‹ und ›Kommentierens‹ stärker ein und posten nur sehr gezielt Bilder von sich und spezifischen Ereignissen. Dies tun sie nicht nur, um sich Anforderungen von wichtigen Personen wie beispielsweise der Schwiegermutter zu entziehen, sondern teilweise auch, um die schwierige Si- tuation in Berlin oder den relativen Reichtum in der Migration nicht preiszugeben. Zweitens zeigt sich, dass die Facebook-Praktiken auch in Relation zu und als Fort- setzung von anderen Medienpraktiken gesehen werden müssen, wenn man, wie in diesem Artikel, von den sozialen Beziehungen und der Perspektivierung der Medienpraktiken durch soziale Beziehungen ausgeht. 5. MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ: EIN VORLÄUFIGES FAZIT In meinem Beitrag habe ich ganz unterschiedliche Medienpraktiken des Zeigens, Löschens und der sozialen Positionierung auf Facebook in Verbindung mit ande- ren medialen Formaten beschrieben und analysiert. Hierbei habe ich Ensembles NAVIGATIONEN 70 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ von kleinteiligen Medienpraktiken zu Ereignissen und Situationen zusammenge- fasst. Daran wurden beispielhaft alltägliche Routinen herausgearbeitet und auf kreative Innovationen verwiesen. Einen ›Tag‹ als Aufforderung und Verpflichtung zur Reaktion zu verstehen, verdeutlicht, wie sich eine Medienpraktik stabilisiert und innerhalb bestimmter sozialer Beziehungen zwischen Freund_innen in Berlin und Dakar als soziales Medium innerhalb eines Ensembles von Medienpraktiken etabliert. Hierbei wird die Stabilität der Medienpraktiken als Bezugsgröße des Vergleichs, wie dies von Schüttpelz und Gießmann53 in ihrem programmatischen Aufsatz gefordert wurde, deutlich gemacht. Die Medienpraktik des ›Taggings‹ bleibt jedoch auch interpretativ flexibel, wenn diese nicht nur als eine Aufforde- rung zum ›Like‹ verstanden wird, sondern auch dazu dient, abwesende Personen präsent zu machen und damit Ko-Präsenz herzustellen. Wie gezeigt wurde, wird Präsenz im Sinne von Anwesenheit in diesem Bei- trag immer als vermittelt und kulturell konstruiert gesehen. Ko-Präsenz wird in meinen Beispielen durch private E-Mails, Fotografien, Kommentare, ›Likes‹ oder ›Tags‹ hergestellt. Dabei beinhaltet Ko-Präsenz nicht nur die wechselseitige »kommunikative Erreichbarkeit«54 oder »ambient virtual co-presence«55 zwischen zwei oder mehreren Personen, sondern es werden auch Personen, die nicht aktiv Teil des Kommunikationsraumes sind, beispielsweise über Erwähnungen oder Fo- tografien, präsent gemacht. Die unterschiedlichen Formen der Ko-Präsenz stellen soziale Nähe zwischen anwesenden und abwesenden Personen her. Durch ›Tags‹ oder Fotografien wird Präsenz und gleichzeitig emotionale und soziale Nähe ge- staltet, die bei einer entsprechenden Reaktion wie einem ›Like‹, einem Kommen- tar oder einer finanziellen Zuwendung erwidert und dadurch bestätigt wird. Doch Ko-Präsenz muss nicht immer soziale Nähe herstellen. In Mariamas Beispiel wur- de deutlich, dass sie zwar auf die Forderung der Ko-Präsenz ihrer Schwiegermut- ter in einem Skype-Gespräch und durch persönliche Bilder reagiert hat, jedoch durch die Verweigerung bestimmter Medienpraktiken, wie Bilder des nicht rasier- ten Babys nach der Taufe zu zeigen, sich in der Beziehung von ihrer Schwieger- mutter trotz Ko-Präsenz distanzierte. Dieses ›Nicht-Zeigen‹ von Bildern kann mit unterschiedlicher Zeitlichkeit einerseits als Verweigerung oder wie in Scandale Wista’h Breliers Fall als nachträgliches Löschen von Bildern erfolgen. Die Medien- praktiken des ›Nicht-Zeigens‹ verdeutlichen also, wie soziale Distanzierung auch mit unterschiedlichen Situationen in den jeweiligen sozio-kulturellen Biografien zusammenhängen. Der Fokus auf Medienpraktiken konkretisiert nicht nur, wie technische Me- dien soziale Interaktionen und Wahrnehmung formen, wie McLuhan56 dies so be- rühmt herausgestellt hat, sondern zeigt vor allem, wie Medien in sozio-kulturelle 53 Schüttpelz/Gießmann: »Medien der Kooperation«, S. 25. 54 Linz/Willis: »Mobile Ko-Präsenz«. 55 Itō/Okabe: »Technosocial Situations«. 56 McLuhan: »Understanding Media«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 71 SIMONE PFEIFER Interaktionen und Prozesse eingebunden sind und dabei selbst durch diese ge- formt werden. Dies wird besonders bei dem Blick auf ›ältere‹ soziale Medien wie dem Taufalbum und deren Verbindungen zu ›neueren‹ sozialen Medien57 wie ei- nem Fotoalbum in Facebook deutlich. Das Taufalbum fungiert zur sozialen Positi- onierung der Besitzerin und ist in Prozesse des Geschenkaustauschs eingebunden, um die soziale Autorität, aber auch den ökonomischen Profit der Mutter zu stär- ken. Das Fotoalbum auf Facebook stellt die soziale Perspektive eines Gastes der Taufe dar und auch hier werden ähnliche Dynamiken der sozialen Positionierung wirksam, zumindest für eine kurze Zeit. Es ist nicht nur die Materialität der Foto- grafien selbst, die sich hier unterscheidet, sondern auch die Einbindung in ein an- deres Format. Das ›analoge‹ Fotoalbum zeichnet sich durch digitale Montagen und manuell ausgeschnittene Collagen aus und die Besitzerin kann genau kontrol- lieren, wer das Album zu Gesicht bekommt. Auf Facebook werden die Bilder durch die Möglichkeiten der Plattform in einem Album versammelt und automa- tisch in einer Übersicht angeordnet. Das Album mit allen Kommentaren, ›Tags‹ und ›Likes‹ ist nicht nur in dyadischen, sondern auch in Gruppenbeziehungen sichtbar. Soziale Verbindungen sind so für eine kaum kontrollierbare Gruppe von Facebook-Freund_innen und ›Freunde von Freunden‹ nachvollziehbar. Gerade diese Form der Öffentlichkeit und Sichtbarkeit führt in vielen Fällen zu Medien- praktiken des Löschens von Ereignissen oder dem gezielten Verschleiern der Ar- mut der Nutzer_innen in Dakar, aber auch der migrantischen Lebenssituation in Berlin. Die Reflexion der teilnehmenden Beobachtung und das Erlernen von Medi- enpraktiken nicht nur durch enculturation, sondern auch durch enskilment58 er- laubte mir Zugang zum medialen Austauschraum zwischen Berlin und Dakar. Die Feldforschungsnotiz verdeutlicht, wie ich selbst in die Medienpraktiken der sozia- len Nähe und Distanzierung eingebunden bin und teilweise ähnliche Dynamiken wie bei den Teilnehmer_innen meiner Forschung wirksam werden. Auch die Plattform selbst wirkt auf meine Praktiken ein. Erst durch die ethnografische Dar- stellung, die Feldforschungsnotiz und die Bildschirmfotos aus Facebook werden die Medienpraktiken beobachtbar und als Dimensionen der Medienpraktiken der sozialen Nähe (zeigen) und Distanzierung (löschen und nicht zeigen) analysierbar. Neben der Reflexivität der eigenen Methoden muss auch der Reflexivität der Me- dienpraktiken selbst59 Aufmerksamkeit zukommen. Denn was die Teilneh- mer_innen meiner Feldforschung mit Medien tun, wird auch in den Medienprak- 57 Schulz: »Mediations of ›Spiritual Power‹«. 58 Ingold: »The Perception of the Environment«; vgl. auch Grasseni: »Skilled Visions«. 59 Dies sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Begriffe von Reflexivität. Erstens ist damit eine Forschungshaltung und aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im gesam- ten Forschungsprozess gemeint. Vgl. Ruby: »Picturing Culture«, Kap. 6. Der zweite Be- griff der Reflexivität schließt an ethnomethodologische Grundgedanken an und betont den genuin reflexiven Charakter von Praktiken, die neben einem Tun auch anzeigen, was sie tun. Vgl. hierzu Meyer: »Mikroethnographie«, S. 59. NAVIGATIONEN 72 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ tiken reflektiert, wenn beispielsweise ein Pseudonym wie Scandale Wista’h Brelier genutzt und erst bei einem Perspektivwechsel der persönlichen Situation mit dem Namen der Person ausgestattet wird. Zusammenfassend zeigen die Ausführungen, dass Medien und Praktiken sich in meinem Fallbeispiel gegenseitig konstituieren und soziale Nähe und Distanz in transnationalen und translokalen Beziehungen vermitteln. Gerade die Online- Plattform Facebook gilt als emblematisch für ›soziale Medien‹, jedoch sind es eben nicht allein die technischen Voraussetzungen oder Inhalte der Kommunika- tion, die soziale Verbindungen herstellen. Vielmehr werden in den alltäglichen Medienpraktiken und auch beispielsweise dem Umgang mit Fotografien Bezie- hungen vermittelt und das ›Soziale‹ hergestellt.60 Durch meine Forschung wurde deutlich, dass soziale Praktiken nicht von Medienpraktiken getrennt betrachtet werden können, denn erst durch die Vermittlung werden diese Praktiken als so- ziale Medienpraktiken bestimmbar. LITERATURVERZEICHNIS Abend, Pablo/Haupts, Tobias/Müller, Claudia (Hrsg.): Medialität der Nähe. Situa- tionen, Praktiken, Diskurse, Bielefeld 2012. Bajorek, Jennifer: »›Ça bouscoulait!‹ Democratization and Photography in Sene- gal«, in: Vokes, Richard (Hrsg.): Photography in Africa: Ethnographic Per- spectives, Woodbridge u. a. 2012, S. 140-165. Behrend, Heike: Contesting Visibility: Photographic Practices on the East African Coast, Bielefeld 2014. Bender, Cora/Zillinger, Martin: »Medienethnographie: Praxis und Methode«, in: Bender, Cora/Zillinger, Martin (Hrsg.): Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015, S. XI-LII. boyd, danah m./Ellison, Nicole B.: »Social Network Sites: Definition, History, and Scholarship«, in: Journal of Computer-Mediated Communication, Bd. 13, Nr. 1, 2011, Artikel 11. Bräuchler, Birgit/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010. Buckley, Liam: »Self and Accessory in Gambian Studio Photography«, in: Visual Anthropology Review, Bd. 16, Nr. 2, 2000, S. 71-91. Buggenhagen, Beth: »A Snapshot of Happiness: Photo Albums, Respectability and Economic Uncertainty in Dakar«, in: Africa, Bd. 84, Nr. 1, 2014, S. 78-100. Buggenhagen, Beth: Muslim Families in Global Senegal: Money Takes Care of Shame, Bloomington/Indianapolis 2012. 60 Vgl. zu einer ähnlichen Argumentation auch den Artikel von Dorothea Schulz: »Media- tions of ›Spiritual Power‹«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 73 SIMONE PFEIFER Casetti, Francesco: »What Is a Screen Nowadays?«, in: Berry, Chris/Harbord, Janet/Moore, Rachel (Hrsg.): Public Space, Media Space, London 2013, S. 16-41. Couldry, Nick: »Theorising Media as Practice«, in: Social Semiotics, Bd. 14, Nr. 2, 2004, S. 115-132. Cruz, Edgar Gómez/Lehmuskallio, Asko (Hrsg.): Digital Photography and Every- day Life: Empirical Studies on Material Visual Practices, London 2016. Edwards, Elizabeth: »Photographs and the Sound of History«, in: Visual Anthro- pology Review, Bd. 21, Nr. 1-2, 2005, S. 27-46. Grasseni, Cristina (Hrsg.): Skilled Visions: Between Apprenticeship and Standards, Oxford/New York 2007. Hickling, Patricia: »Bonnevide: Photographie des Colonies: Early Studio Photog- raphy in Senegal«, in: Visual Anthropology, Bd. 27, Nr. 4, 2014, S. 339-361. Ingold, Tim: The Perception of the Environment: Essays on Livelihood, Dwelling and Skill, London 2000. Itō, Mizuko/Okabe, Daisuke: »Technosocial Situations: Emergent Structurings of Mobile Email Use«, in: Itō, Mizuko u. a. (Hrsg.): Personal, Portable, Pedestri- an: Mobile Phones in Japanese Life, Cambridge 2005, S. 257-277. Lexander, Kristin Vold: »Texting and African Language Literacy«, in: New Media & Society, Bd. 13, Nr. 3, 2011, S. 427-443. Linz, Erika/Willis, Katharine S.: »Mobile Ko-Präsenz. Anwesenheit und räumliche Situierung in mobilen und webbasierten Kommunikationstechnologien«, in: Richterich, Annika/Schabacher, Gabriele (Hrsg.): Raum als Interface, Siegen 2011, S. 145-162. McLuhan, Marshall: Understanding Media: the Extensions of Men. London 2006 [1964]. Meyer, Christian: »Mikroethnographie: Praxis und Leib als Medien der Kultur«, in: Bender, Cora/Zillinger, Martin (Hrsg.): Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015, S. 57-76. Miller, Daniel: »Social Networking Sites«, in: Miller, Daniel/Horst, Heather A. (Hrsg.): Digital Anthropology, London/New York 2012, S. 146-161. Miller, Daniel/Costa, Elisabetta/Haynes, Nell/McDonald, Tom/Nicolescu, Razvan/Sinanan, Jolynna/Spyer, Juliano/Venkatraman, Shriram/Wang, Xinyuan: How the World Changed Social Media, London 2016. Miller, Daniel/Horst, Heather A. (Hrsg): Digital Anthropology, London/New York 2012. Mustafa, Hudita Nura: »Portraits of Modernity: Fashioning Selves in Dakarois Popular Photography«, in: Landau, Paul Stuart/Kaspin, Deborah D. (Hrsg.): Images and Empires: Visuality in Colonial and Postcolonial Africa, Berkeley u. a. 2002, S. 231-247. NAVIGATIONEN 74 MEDIE NP RAKTIKEN MEDIENPRAKTIKEN DER NÄHE UND DISTANZ Paßmann, Johannes: »Was war Twitter? Eine Medienethnographie«, Unveröffent- lichte Dissertationsschrift, Siegen 2016. Pink, Sarah/Horst, Heather/Postill, John/Hjorth, Larissa/Lewis, Tania/Tacchi, Jo: Digital Ethnography: Principles and Practice, London 2015. Postill, John: »Introduction: Theorising Media and Practice«, in Bräuchler, Bir- git/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010, S. 1-34. Rao, Ursula: »Embedded/Embedding Media Practices and Cultural Production«, in: Bräuchler, Birgit/Postill, John (Hrsg.): Theorising Media and Practice, New York/Oxford 2010, S. 147-170. Roberts, Allen F./Nooter Roberts, Mary: A Saint in the City: Sufi Arts of Urban Senegal, Los Angeles 2003. Ruby, Jay: Picturing Culture: Explorations of Film and Anthropology, Chica- go/London 2000. Schüttpelz, Erhard/Gießmann, Sebastian: »Medien der Kooperation: Überlegun- gen zum Forschungsstand«, in: Navigationen: Zeitschrift für Medien- und Kul- turwissenschaften, Bd 15, Nr. 1, 2015, S. 7-55. Schüttpelz, Erhard/Meyer, Christian: »Ein Glossar zur Praxistheorie. ›Siegener Version‹. Frühjahr 2017«, in Navigationen: Zeitschrift für Medien- und Kul- turwissenschaften, Bd. 17, Nr. 1, 2017, S. 155 - 163. Schulz, Dorothea E.: »Mediations of ›Spiritual Power‹. Islamic Renewal and ›Social Media‹ in (and Beyond) Urban Mali«, Manuskript zur Publikation eingereicht, 2017. »Senegal Facebook Statistics«. Socialbakers: Heart of Facebook Statistics, 2011. Online verfügbar: http://www.socialbakers.com/facebook-statistics/senegal, 2011. Swidler, Ann: »What Anchors Cultural Practices«, in: Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hrsg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001, S. 74-92. Uimonen, Paula: »›I’m a Picture Girl!‹ Mobile Photography in Tanzania«, in: Cruz, Edgar G./Lehmuskallio, Asko: Digital Photography and Everyday Life: Empiri- cal Studies on Material Visual Practices, London 2016, S. 19-34. Uimonen, Paula: »Visual identity in Facebook«, in: Visual Studies, Bd. 28, Nr. 2, 2013, S. 122-135. Wendl, Tobias: »Photographien, Radios und Bestattungsvideos: Medienethnogra- phische Fallstudien aus Ghana«, in: Bender, Cora/Zillinger, Martin: Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015, S. 17-35. Zillinger, Martin: »Was sind mediale Räume?«, in: Bender, Cora/Zillinger, Martin: Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015, S. 173-186. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 75 EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN Eine kultursoziologische Perspektive auf digitale Bildkommunikation V O N C H R I S T I A N M E Y E R U N D C H R I S T I A N M E I E R Z U V E R L 1. EINLEITUNG Mit der Allgegenwart mobiler Kommunikationstechnologien im beruflichen wie privaten Leben hat sich gesellschaftliche Medialisierung zu einem Hauptmotor so- zialen und kulturellen Wandels entwickelt. Eine herausragende Rolle hierfür spielt freilich das Internet und, damit eng verbunden, das mobile Kommunikationsgerät Smartphone, das massenmediale und interpersonale Kommunikationsoptionen in jeder Lebenslage und in Echtzeit ermöglicht. Ein wesentliches Novum des Smart- phones besteht darin, dass es die Konvergenz von Face-to-Face-Interaktion und medialer Kommunikation ermöglicht. Das heißt, das Smartphone erlaubt interak- tionsnahe Echtzeitkommunikation (wie Videotelefonieren, schriftliches ›Chatten‹ usw.) bei räumlicher Ferne und Mobilität. Dieser Entwicklung wurde empirisch, kultursoziologisch und sozialtheore- tisch bisher noch nicht ausreichend Rechnung getragen. Auf der einen Seite haben die Forschungen zur Face-to-Face-Interaktion in der Traditionslinie Goffmans und Luhmanns Medien aus theoretischen Gründen komplett unberücksichtigt gelas- sen. Sie haben die Unvermitteltheit von Face-to-Face-Interaktion vielmehr gera- dezu verklärt und so den Weg zu einer angemessenen soziologischen Bewertung des Medialen verbaut.1 Auf der anderen Seite hat die klassische kultursoziologische Medienforschung zwar die durch Massenmedien produzierte ›Enträumlichung‹ und ›Vergleichzeiti- gung‹ der Gesellschaft sowie ihre Integrations- und Differenzierungsfunktion her- vorgehoben – freilich meist in einer an Max Webers frühen Aufsatz2 über das Zei- tungswesen anschließenden kausaldeterministischen Perspektive. Medialisierte in- terpersonale und interaktionsnahe Kommunikation hat sie jedoch nicht in ihre Überlegungen einbezogen.3 Und dies, obwohl Georg Simmel schon 1908 am Bei- spiel des Briefeschreibens die Bedeutung der Eigenstruktur des Medialen für die Bildung sozialer Beziehungen hervorgehoben hat.4 1 Vgl. z. B. Kieserling: »Kommunikation unter Anwesenden«. 2 Weber: »Zu einer Soziologie des Zeitungswesens«. 3 Vgl. dazu Schultz: »Mediatisierte Verständigung«; Hörisch: »Gott, Geld, Medien«, S.191. 4 Vgl. Simmel: »Exkurs über den schriftlichen Verkehr«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL Für die neuere kultur- und mediensoziologische Forschung sind immerhin drei Richtungen zu nennen, die eine Hybridisierung von massenmedialer und in- terpersonaler Kommunikation theoretisch in Rechnung gestellt haben. Erstens haben Soziologen im Anschluss an den symbolischen Interaktionismus mit dem Theorem der para-sozialen Interaktion hervorgehoben, dass massenmediale Kommunikation auf der Simulation von Interaktion basiert und so einen Vertrau- ensvorschuss auf Seiten der Rezipienten einfordert, der Kooperation forciert.5 Zweitens hat Karin Knorr Cetina6 mit ihrem Theorem der synthetischen Situation darauf hingewiesen, dass mit der kontinuierlichen Entwicklung und Verfeinerung technischer Medien soziale Situationen der Kopräsenz permanent durch syntheti- sche Komponenten angereichert und so räumliche Strukturen der ›Anwesenheit‹ aufgebrochen werden. Drittens schließlich hat die Medienrezeptionsforschung Medien als Arrangements praktischer Handlungsbedingungen in ihrer konkreten technischen Konstitution beschrieben und dabei das Wechselverhältnis zwischen dem Wandel von Kommunikation und dem Wandel von Kultur herausgearbeitet.7 In allen drei Forschungsrichtungen wurde auf die unterschiedlichen Formen des Eindringens von Medien in den Alltag und die damit verbundene Vermischung kommunikativer Formen fokussiert, die eine immer stärkere Alltagsbezogenheit medialer Inhalte und eine wachsende Orientierungsfunktion der Medien mit sich bringt. Besonders die sogenannten neuen Medien bieten mit ihren immer neuen technischen Möglichkeiten kommunikative Potenziale, die sich erst in kreativen und unvorhergesehenen Aneignungspraktiken der Mediennutzer realisieren. Da- bei prägen diese Medien auch neue Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen sozia- ler Wirklichkeit. Ein technologisch bedingter Wandel, wie ihn das Smartphone auslöst, führt so zu neuen ›epistemischen Regimen‹. Im vorliegenden Fall, so unse- re Annahme, führen diese dazu, dass Akteure visuellen Dokumentationen mehr Evidenz zusprechen, als etwa sprachlichen Narrationen vergangener Ereignisse. 2. BILDKOMMUNIKATION MIT DEM SMARTPHONE An diese Untersuchungen werden wir im Folgenden anknüpfen. Wir werden da- bei jedoch ein neues Phänomen der Medialisierung von Face-to-Face- Kommunikation fallorientiert in den Fokus rücken, nämlich das Smartphone und die von ihm gebotene ständige Verfügung über Möglichkeiten der digitalen Do- kumentation und Kommunikation persönlicher Erlebnisse. Die neue Möglichkeit, Bilder, Audio- und Videodokumente in die interpersonelle Telekommunikation einzubetten, stimuliert, wie wir zeigen werden, einige Wandlungsprozesse in der Alltagskultur, nicht nur in Bezug auf die sozialen, räumlichen und zeitlichen Koor- dinaten gesellschaftlicher Praxis, sondern insbesondere auch hinsichtlich generati- 5 Vgl. Wenzel: »Die Abenteuer der Kommunikation«. 6 Knorr Cetina: »The Synthetic Situation«. 7 Vgl. z. B. Holly/Püschel: »Medienrezeption als Aneignung«. NAVIGATIONEN 78 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN onenspezifischer epistemischer Präferenzen, Subjektformationen und spezifischer Formen der Weltaneignung. Im Folgenden werden wir insbesondere auf die Produktion und Zirkulation von Bildern mit dem Smartphone eingehen. Zwar ist Bildlichkeit selbst kein neues Thema, zumal nicht nach dem »pictorial« bzw. »iconic turn«8, der eine generelle Dominanz des Visuellen in der Moderne konstatiert, die sich in den Massenmedi- en darin zeigt, dass zunehmend auf dekontextualisierte visuelle Eindruckskraft statt auf deutende, explizierende und rahmende Narrative gesetzt wird. In der in- terpersonellen Telekommunikation stellt der mit Bildern verbundene rätselhafte Präsenzgestus, den Roland Barthes »Realitätseffekt«9, Lambert Wiesing »artifiziel- le Präsenz«10 und Mike Sandbothe »appräsente Präsenz«11 genannt haben, jedoch eine grundlegende Neuerung dar. Hans-Ulrich Gumbrecht12 spricht von der kör- perlich-affektiven Involviertheit bei der Bildrezeption und einer daraus folgenden »Interpretationsresistenz« der schnellen Bilder. Die Entwicklung des Smartphones zum aufzeichnungs- und internetfähigen Kommunikationsmedium zugleich erlaubt die mühelose Dokumentation des Selbst und seiner Erlebnisse und die Information Dritter in Form von Bildern. Diese über Bilder erzeugte neue kommunikative Präsenz bei gleichzeitiger kör- perlicher Abwesenheit, der Zusammenhang zwischen Praktiken des visuellen Do- kumentierens in der Alltagskommunikation und der Herausbildung neuer episte- mischer Präferenzen sowie die damit verbundene neue Wissensordnung werden wir im Folgenden aus kultursoziologischer Perspektive thematisieren. Eine kultursoziologische Perspektive bedeutet hierbei, diejenigen differ- enzfähigen Methoden und Techniken ins Zentrum des Interesses zu stellen, die im sozialen Handeln zur prozeduralen und symbolischen Grundlage von Verge- sellschaftung und sozialer Kontinuität genommen und dabei ständig modifiziert und aktualisiert werden. Eine solche Perspektive fokussiert auf die Partikularität des Alltags als Ergebnis eines qualitativen Zusammenspiels von Praktiken, Seman- tiken, Artefakten, Technologien, Medien und Infrastrukturen. Durch die Wech- selwirkungen zwischen diesen einzelnen Dimensionen bilden sich aufgrund der rasanten technologischen und medialen Innovationen nicht nur ständig neue Wahrnehmungs- und Wissenskulturen, sondern auch neue ›Mediengenerationen‹ heraus. Deren Mitglieder besitzen wegen ihrer Sozialisation eine gewissermaßen ›eingefleischte‹ Vertrautheit mit den neuen Technologien und Medien und deren Wahrnehmungs- und Wissensoptionen, so dass diese im Alltag als unproblema- tisch zuhandene Extensionen erfahren werden. 8 Mitchell: »Picture Theory«; Böhm: »Was ist ein Bild?«. 9 Barthes: »L’Effet de réel«. 10 Wiesing: »Artifizielle Präsenz«. 11 Sandbothe: »Pragmatische Medienphilosophie«, S. 200. 12 Gumbrecht: »Wahrnehmung versus Erfahrung oder die schnellen Bilder und ihre Inter- pretationsresistenz«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 79 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL 3. KOMMUNIKATION MIT WHATSAPP Eine derartige neue Medientechnologie ist neben Internetdiensten wie Youtube, Younow und Instagram die Smartphone-Anwendung WhatsApp, und es erscheint möglich, dass sich gegenwärtig bereits eine damit sozialisierte Mediengeneration herausbildet. Im Folgenden werden wir an diesem Beispiel zeigen, wie sich ge- genwärtig eine neue medientechnisch stimulierte epistemische Kultur etabliert. Wir werden zuerst einige Informationen zu WhatsApp geben, um dann allgemei- ne Eigenschaften des Programms vorzustellen. Dabei ähnelt WhatsApp auch an- deren mobilen Instant-Messaging-Diensten, so dass WhatsApp synonym für eine gewisse Funktionalität dieser gesamten Dienste steht. An zwei Beispielen von Nutzerpraktiken werden wir zeigen, welche neuen epistemischen Praktiken sie stimulieren, um im Fazit mögliche kulturelle Veränderungen der digitalen Netzge- sellschaft zu diskutieren. WhatsApp ist ein internetbasierter Instant-Messaging-Dienst für den zeitna- hen, persönlich adressier- und identifizierbaren Austausch von Text-, Bild-, Ton- und Video-Nachrichten zwischen Benutzern von Smartphones. Einfach ausge- drückt: WhatsApp bietet eine mobile, mit Bildern, Filmen und Audiodateien an- reicherbare Chatfunktion für das Smartphone. Statistiken zufolge nutzen in Deutschland über 50 Prozent der Smartphone-Nutzer WhatsApp, was mehr als 35 Millionen aktive Nutzer bedeutet. Besonders beliebt und verbreitet erscheint WhatsApp in der sog. »Post-Facebook-Generation«, d. h. der Alterskohorte von heute ca. 12 bis 22 Jahren.13 Selbst wenn einige dieser jüngeren Mediennutzer auch andere Dienste (z. B. Facebook) nutzen, so hat sich ihre Medienpräferenz dennoch in Richtung chatbasierter Internetdienste wie WhatsApp reorientiert. Die nachfolgenden empirischen Beispiele sind im Rahmen einer Lehrveran- staltung an einer deutschen Universität erhoben worden. Bei diesen Beispielen handelt es sich um ungestellte WhatsApp-Kommunikationen. Abb. 1: ›Typischer‹ Austausch 13 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: »JIM 2014«, S. 49f. NAVIGATIONEN 80 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN Hier sieht man einen typischen Austausch mit WhatsApp, der in diesem Fall einer terminlichen Abstimmung gilt (Abb. 1). Das Programm erlaubt eine basale, tech- nisch generierte Form der »Wahrnehmungswahrnehmung«14, indem es anzeigt, ob der Gesprächspartner online ist und, wenn ja, ob er oder sie gerade schreibt sowie ob eine Nachricht auf dem Empfänger-Smartphone angekommen ist. Auf- fällig ist eine sehr große Zeitnähe der Nachrichten: der Austausch findet oft in- nerhalb von Minuten, wenn nicht Sekunden statt. Da es uns um die medialen epis- temischen Praktiken und nicht um die visuelle Gestaltung einzelner Kommunika- tionsakte geht, verzichten wir an dieser Stelle auf eine weitergehende visuelle Analyse unserer Beispiele. WhatsApp-Kommunikation verläuft nicht nur in Dyaden, sondern auch als Mehrpersonenkommunikation mit variierender Beteiligung. Auffällig im folgenden Beispiel (Abb. 2) ist auch die Dichte an Emoticons, die zusätzlich zum Text eine soziale Konnotation und Präsenz der Nachrichten ermöglichen, sowie außerdem eine Inflation an Ausrufezeichen, die prosodische Elemente ersetzen. Abb. 2: Gruppenchat in WhatsApp 14 Luhmann: »Soziale Systeme«, S. 561. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 81 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL Das nächste Beispiel (Abb. 3) zeigt, dass WhatsApp-Nutzer normative Erwartun- gen an die Reaktionszeit stellen, mit der Nachrichten beantwortet werden. Kommunikationen und ihre Antwortschnelligkeit werden als ›Dokument für‹ die soziale Beziehung zwischen den Kommunikatorinnen gewertet – in unserem Fall für eine soziale Distanzierung durch eine bei alter befürchtete Verärgerung. Aus der medientechnisch erzeugten Möglichkeit, Anwesenheit zu beobachten, resul- tieren also wieder neue soziale Verpflichtungen und Risiken. Abb. 3: Erwartungen an Reaktionszeit 4. BILDKOMMUNIKATION MIT WHATSAPP 4.1 ZEIGENDE BILDKOMMUNIKATION Wir kommen nun zu einer Form des visuellen, gewissermaßen ›zeigenden‹ Kom- munizierens von Erlebnisinhalten zusätzlich zum ›berichtenden‹ oder ›erzählen- den‹ Kommunizieren, die besonders mit der Verwendung von WhatsApp verbun- den ist, aber ein generelles Merkmal aktueller, auch weniger interaktionsnaher sozialer Medien ist. Durch die Möglichkeit, mit dem Smartphone Bilder aufzu- nehmen und direkt zu verschicken, eröffnet diese Form des Nachrichtenaus- tauschs einen telekommunikativen Zugang zu den gleichzeitig gegenwärtigen Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Aktivitätsinhalten der Kommunikationspartner. Das telekommunikative ›Zeigen‹ kann als eine neue epistemische Praxis ge- deutet werden, die mit Anwendungen wie WhatsApp Verbreitung in der inter- NAVIGATIONEN 82 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN personalen Kommunikation findet. Mit dem Begriff der epistemischen Praxis schließen wir an wissenssoziologische Vorarbeiten an, spezifisch an neuere Versu- che, professionelle Bereiche der Wissensgenerierung zu beschreiben, wie es z. B. Karin Knorr Cetina15 für die Naturwissenschaften getan hat. Hier wenden wir ihn jedoch im Sinne von Berger und Luckmann16 auf den Alltag an. Denn auch in der Alltagskommunikation unter ›Laien‹ werden Wahrheits- und Authentizitätsan- sprüche gestellt und Plausibilisierungs- und Evidenztechniken eingesetzt. Sie wir- ken – wie etwa die laborethnografischen Forschungen gezeigt haben – ihrerseits auf die wissenschaftliche bzw. alltägliche Praxis zurück. Die Möglichkeit der sogenannten neuen Medien, Fotos und Videos – d. h. technisch erstellte und konservierte Dokumente sozialer Wirklichkeit – in die in- terpersonale Telekommunikation einzubetten, stellt insofern eine folgenschwere kulturelle Innovation dar, als sie die Praktiken des Stellens von Wahrheits- und Authentizitätsansprüchen und Plausibilisierungs- und Evidenztechniken rekonfigu- riert. Die Medienpraktiken, die uns hier interessieren, sind Praktiken des visuellen Dokumentierens alltäglicher Ereignisse, die aufgrund fehlender physischer Koprä- senz und mittels leicht zugänglicher technischer Möglichkeiten medialisiert kom- muniziert werden. Mit WhatsApp und anderen Instant-Messaging-Diensten erreicht diese Mög- lichkeit gegenwärtig eine große Interaktionsnähe. Damit ist gemeint, dass wech- selseitige reflexive Wahrnehmung – Wahrnehmungswahrnehmung – und unmit- telbarer sequentieller Sinnanschluss in einem Mindestmaß garantiert sind.17 Unter der Bedingung räumlicher Entgrenzung kann so Verortung erzeugt und ›Anwe- senheit‹ wie in einer Face-to-Face-Interaktion simuliert werden. 15 Knorr Cetina: »The Manufacture of Knowledge«. 16 Berger/Luckmann: »The social construction of reality«. 17 Vgl. Meyer: »›Metaphysik der Anwesenheit‹«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 83 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL Abb. 4: Bildkommunikation Hier sieht man ein Beispiel für eine zeigende Bildkommunikation (Abb. 4). A schickt ein in einer Point of View-Einstellung aufgenommenes Foto ihres aufge- schlagenen Seminarordners und kommentiert es bildintern mit einer »Daumen- hoch«-Geste sowie bildextern mit der Textnachricht »Läuft alles«. Beantwortet wird die Nachricht eine Minute später von der Adressatin B mit einer fast iden- tisch gestalteten Aufnahme, die – begleitet von der gleichen Handgeste – ihre subjektive »Welt in aktueller Reichweite«18 zeigt. Diese visuellen Bildkommunikationen können nicht inhaltlich, wohl aber als Kommunikationsakt in eine sprachliche Beschreibung überführt werden. Die (Selbst-)Kommentierung »Läuft alles« verweist auf diese prinzipielle Möglichkeit. Paraphrasieren kann man den Austausch wie folgt: 18 Schütz/Luckmann: »Strukturen der Lebenswelt«, S. 63. NAVIGATIONEN 84 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN A sagt: »Schau mal, ich tue gerade DAS. Es läuft gut. (Vielleicht auch: Wie du weißt, muss ich für meine Geschichts-Prüfung lernen.)« B antwortet: »Schau mal, und ich tue gerade DAS. (Und: Wie Du weißt, muss ich im Moment nicht lernen.)« Abstrakter formuliert drücken beide durch ihr Bild jeweils aus: »Schau mal, das ist meine gegenwärtige Umwelt, und diesem Objekt gilt meine aktuelle Aufmerk- samkeit.« Dem Bildtheoretiker Jacques Rancière19 zufolge »sagen« solche Bilder mit ihrem Zeigegestus jeweils: »Voici!« – »Hier, schau her!« Wie die Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Gallison20 de- monstriert haben, folgte der Erfindung der Fotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unmittelbar eine Rekonfiguration von Objektivitätsvorstellungen in der Wissenschaft. Die maschinelle Produktion von Bildlichkeit wurde mit einem professionellen Ethos der Nonintervention und einem epistemischen Ideal der Authentizität assoziiert. So entstand eine starke Verbindung zwischen dem Visuel- len und dem Faktischen. Diese Vorstellungen von den epistemischen Qualitäten der Fotografie wurden mit deren Popularisierung nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Alltag gewendet. Schon 1965 hat Pierre Bourdieu gezeigt, wie der Foto- grafie seitens der Nutzer die Fähigkeit zur »getreuen Spiegelung des Wirklichen« zugeschrieben wird. Jedoch gilt laut Bourdieu unter den Akteuren Wirklich- keitstreue nur dann, wenn normative Grundsätze eingehalten werden: nicht Ver- wackeln, den Apparat nicht schräg halten, nicht bei Gegenlicht oder schlechten Belichtungsverhältnissen fotografieren, usw.21 Bei WhatsApp handelt es sich um ein Zeigen von Fotos über räumliche Dis- tanz, das dann in zeitlicher Simultanität erfolgt, wenn zwei oder mehrere Nutzer zugleich in einem Chat sind. Die zeigende Kommunikation bietet die Möglichkeit, unter Bedingungen der räumlichen Abwesenheit die je relevante »Welt in aktuel- ler Reichweite«22 wechselseitig in Form visueller Dokumente zu präsentieren und auf diese Weise als evidentes, anschaubares Wissensobjekt verfügbar zu machen. Dieses Wissensobjekt muss jedoch durch die Akteure hinter den Smartphones – die über ein geteiltes Interaktionswissen übereinander verfügen – als ein ›Doku- ment von‹ etwas gedeutet werden. Das nicht vorhandene Teilen einer Situation wird medialisiert und durch ›zei- gende‹ Telekommunikation ersetzt. Da die Kommunikationspartner nicht das gleiche Wahrnehmungsfeld teilen, übermitteln sie es ihren Kommunikationspart- nern mit nach aktueller Relevanz selegierten visuellen Dokumenten und können so soziale Vertrautheit erneuern. 19 Rancière: »Politik der Bilder«, S. 33. 20 Daston/Gallison: »The Image of Objectivity«. 21 Vgl. Bourdieu: »Un art moyen«. 22 Schütz/Luckmann: »Strukturen der Lebenswelt«, S. 63. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 85 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL Mediensoziologische Ansätze wie diejenigen von Niklas Luhmann und des symbolischen Interaktionismus sind sich darin einig, dass die visuelle Kommunika- tion mediale ›Objekte‹ erzeugt, die wieder- und weiterverwendet werden kön- nen.23 Solche Objekte – d. h. die Inhalte geteilten visuellen Wissens – produzieren eine gemeinsame Gegenwart unter Bedingungen der Abwesenheit, selegieren ei- ne spezifische Vergangenheit und legen Zukunftserwartungen fest. Während im Fall der Massenmedien Wissensobjekte jedoch aufmerksam- keitsgenerierend, problematisch und irritierend seien24, sind sie im Falle von WhatsApp das genaue Gegenteil, nämlich Alltagsinformationen. Sie erzeugen jen- seits einer Face-to-Face-Situation die Fiktion einer stabilen und normalen gemein- samen Bezugswelt und Alltagskultur. Dadurch, dass WhatsApp-Bilder in Live- Ticker-Manier ›auf dem Laufenden‹ halten, können Informationen als Ereignisse mit tatsächlichem Neuigkeitswert als solche überhaupt identifiziert werden. »Denn ohne Gedächtnis könnte ja nichts als ›neu‹ erscheinen«, sagt Luhmann25 in Bezug auf die Massenmedien. Der Neuigkeitswert der WhatsApp-Nachrichten liegt darin, dass sie den Bestand an selbstverständlichem Wissen ständig aktualisie- ren, aus dem dann Neuigkeiten mit Irritationswert hervortreten können. Handlungstheoretisch formuliert wird durch die Bildkommunikation mit WhatsApp also eine wesentliche Konstitutionsbedingung künstlich erzeugt, die in der Face-to-Face-Situation als unproblematische Vorannahme in die Situation ein- gebracht wird. Schütz26 hat diese Vorannahme »die Generalthesis der Reziprozi- tät der Perspektiven« genannt. Sie umfasst erstens die »Vertauschbarkeit der Standpunkte«: d. h. die Annahme, dass, wäre ego dort, wo alter jetzt ist, ego die Dinge in gleicher Perspektive und Reichweite erfahren würde wie alter und um- gekehrt. Zweitens die »Kongruenz der Relevanzsysteme«, d. h. die Annahme, dass »Objekte in Reichweite« für beide für den Moment der Begegnung aus prak- tischen Gründen die identische Bedeutung haben. Die Bildkommunikation mit WhatsApp produziert also beides auf technische Weise: sie präsentiert alter den aktuellen Standpunkt egos, um so dessen Ver- tauschbarkeit zu ermöglichen, und sie informiert alter über egos gegenwärtige Handlungsrelevanz, um Kongruenzen zumindest vorzubereiten. Beides wird also nicht wie bei Schütz als implizite Vorannahme mitgeführt, sondern aktiv und mit technischer Unterstützung hergestellt. Die aktive Herstellung wird allerdings zu- gleich dethematisiert, indem sie den Grundsätzen ›professionellen‹ Fotografierens gerade nicht folgt, sondern – hier unterscheidet sich WhatsApp vom Bourdieu- schen Fotografieren – neben der Antwortgeschwindigkeit auch durch ›unprofes- sionelle‹ Ästhetik, Spontanität und Authentizität inszeniert. 23 Vgl. Luhmann: »Die Realität der Massenmedien«, S. 74. 24 Ebd., S. 149f. 25 Ebd., S. 77. 26 Schütz: »Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Han- delns«, S. 12f. NAVIGATIONEN 86 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN Auffällig und in sozialen Netzwerken viel diskutiert an der Bild- Kommunikation ist ihre scheinbare Banalität: Anders als Luhmann für die Mas- senmedien konstatiert, irritieren die Bilder kaum. Ähnlich zu den empirischen Un- tersuchungen Bourdieus zu den fotografischen Praktiken der französischen Mit- telschicht thematisieren sie den banalen Alltag. Bei WhatsApp werden Bilder aus genau diesem Grund der Banalität mit gleichartigen Bildern beantwortet, denn es geht nicht um die Thematisierung der Bilder mittels einer Kommunikation über die Bilder, sondern es geht um die Kommunikation mit Bildern. So werden geteilte vi- suelle Erfahrungen erzeugt, die als geteilte Wissensbestände für spätere An- schlusskommunikationen in Face-to-Face-Situationen dienen können. Aus diesem Grund wird das kommuniziert, was unter der Bedingung der Kopräsenz gerade nicht thematisiert werden müsste, weil es für die Beteiligten selbstverständlich wäre. Das Überangebot an visuellen Stimuli der kommunizierten Bilder könnte in anschließenden kopräsenten Face-to-Face-Situationen in der Regel ohnehin nicht in vollem Umfang thematisiert werden. Die Lösung hierfür ist das unmittelbare Ratifizieren visueller Informationen durch andere Bilder, Interjektionen, Emoti- cons oder kurze Kommentare. Luhmanns Anmerkung zur Liebesbeziehung in der Hochmoderne27 gilt offenbar auch für die Freundschaft im digitalen Zeitalter: Was in ihr gesucht wird, ist in erster Linie die Validierung wechselseitiger Selbstpräsen- tationen, da in einer Welt frei wählbarer und fluider Beziehungen die Selbstdar- stellung zum Vertrauensakt wird. 27 Vgl. Luhmann: »Liebe als Passion«, S. 207. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 87 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL 4.2 DAS ZEIGEN VERGANGENER KOMMUNIKATIONEN Nachdem einige Charakteristika der Kommunikation mit WhatsApp deutlich wurden, möchten wir kurz ein zweites empirisches Beispiel für die zeigende Te- lekommunikation präsentieren. Abb. 5: Screenshot-Zitate Das Beispiel zeigt die neue Möglichkeit, vergangene WhatsApp-Kommunikationen direkt als Bildzitat an Dritte zu senden. Nutzer von WhatsApp können sich über Kommunikationen mit anderen Personen austauschen, indem sie diese Kommu- nikationen nicht mehr per direkter Rede rekonstruieren oder per indirekter Rede paraphrasieren, sondern indem sie einfach einen Screenshot der betreffenden Kommunikation anfertigen und verschicken. In der Alltagsinteraktion ist die Verwendung direkter Rede – wie zahlreiche Studien gezeigt haben28 – genuin verbunden mit dem Kontextualisieren, Kom- mentieren, Positionieren und Evaluieren des zitierten Textes. Der Text wird be- 28 Vgl. z. B. Holt: »Reporting on Talk«; Günthner: »Polyphony and the ›Layering Of Voices‹ in Reported Dialogues«. NAVIGATIONEN 88 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN reits in einer Weise zitiert – z. B. mit prosodischen Mitteln –, die ihm eine Inter- pretation oder Perspektive der zitierenden Person einschreibt. Und nicht nur das: Direkte Rede ist in der Regel zudem gesprächsstimulierend und die Interpretation wird dialogisch hervorgebracht. Z. B. generiert sie Nachfragen: »Was hat er denn genau gesagt?«, »Wie hat er’s gesagt?«, »Was hast Du dabei gedacht?« usw. Dies fällt im gezeigten Beispiel der Bildzitation weg, und ein Grund dafür liegt in der medialen Form, denn der Screenshot bietet aus einer pragmatischen Sicht der Akteure bereits alle verfügbaren objektiven Informationen über den Aus- tausch und erlaubt dadurch kleinere Deutungsspielräume als die mündliche Wie- dergabe. Daher erscheint als Antwort auch nur ein Smiley, der die teilnahmsvolle Kenntnisnahme der Freundin signalisiert. Beim simplen Zeigen von Zitaten fällt al- so die selbst-reflexive, sich selbst thematisierende, rekursiv-distanzierende Sprachdimension weg, die der Kommunikation sowohl Kommentierbarkeit als auch Kritisierbarkeit verleiht. Wenn man mit Michail Bachtin29 Kultur als intertextuelles Universum an Stimmen begreift, innerhalb dessen Individuen die Stimmen anderer ständig auf- greifen, reproduzieren und transformieren, und so eine gemeinsame, diskursiv oder narrativ vorinterpretierte Alltagswelt erschaffen und aufrechterhalten, dann erzeugt die Bildzitation im Kontrast dazu eine epistemische Kultur der direkten Anschauung. Insgesamt kann also gesagt werden, dass Wissensinhalte mit dem Eindringen von WhatsApp in die interpersonelle Kommunikation nicht mehr nur – diskursiv – berichtet, sondern – visuell – gezeigt werden. Neu ist dabei, dass Zeigen nun auch mit Zeigen beantwortet wird, wodurch sich gemeinsames Anschauungswissen konstituiert. Während eine Erzählung immer eine rekursive Kontextualisierung umfasst, operiert das ausschließliche Zeigen – selbst wenn vergangene Kommuni- kation als Bild in einen laufenden Chat integriert wird – mit dem Evidenzprinzip der direkten Anschauung, dem Gestus des »Mach Dir selbst ein Bild!«. Und wie Luhmann30 betont, kann Bildern im Gegensatz zur Sprache schwer im gleichen Modus, also code-intern, widersprochen werden. 5. FAZIT Das Verwenden von Dokumenten in der Alltagskommunikation geht mit der Herausbildung neuer epistemischer Präferenzen der Anschauung und Erfahrungs- nähe einher. Die ›Generation WhatsApp‹ besitzt offenbar eine solche ›epistemi- sche Präferenz‹, die in einem nicht-diskursiven Modus operiert und daher, wie wir gesehen haben, auch zunächst wenig diskursfähig ist. Die Akteure können die- se nicht-diskursiven Potentiale freilich durch anschließende Diskursivierungen und Narrativierungen in kopräsenten Interaktionen ausschöpfen. Die »Generationsla- 29 Bachtin: »Probleme der Poetik Dostoevskijs«. 30 Luhmann: »Die Realität der Massenmedien«, S. 80. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 89 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL gerung« der Generation Smartphone – wie Mannheim31 sagen würde – ist also nicht über die Partizipation an einem gemeinsamen Schicksal – etwa Krieg –, son- dern über eine geteilte medientechnische Praxis und Erfahrung erzeugt. Es han- delt sich um einen nicht dialogisch-rekonstruierenden, sondern zeigend- dokumentarischen Modus der ›epistemischen Vergemeinschaftung‹. WhatsApp ist nur ein Beispiel für die wachsende Verbreitung ›zeigender‹ Formen interpersoneller Kommunikation. Während sie in den Massenmedien be- reits seit langem verbreitet sind, ist ihre Einbettung in interpersoneller Telekom- munikation und -interaktion ein neues Phänomen, dessen Entwicklung erst am Anfang steht. Mit technischen Entwicklungen wie Google-Glass wird die ständige Produzierbarkeit von relativ ›ungefilterten‹ Dokumenten sozialer Wirklichkeit im Alltag und deren problemlose und zeitnahe oder sogar quasi-simultane Zirkulier- barkeit in der Interaktion und interaktionsnahen Telekommunikation weiter ge- steigert. Wie wir gesehen haben, stellt die interaktionsnahe, interpersonelle Tele- kommunikation mit WhatsApp als Konstitutionsbedingung für enträumlichtes ›so- ziales Handeln‹ aktiv Wissensobjekte her, die in der weiteren Kommunikation vo- rausgesetzt werden können und Vertrautheit erzeugen. Die quasi-simultane Zei- gekommunikation mittels WhatsApp und ähnlichen Instant-Messaging-Diensten kann durch ihre Unmittelbarkeit die Fiktion eines geteilten Alltags interaktionsnä- her erschaffen und mit direkterer Anschaulichkeit und Erfahrungsnähe ausstatten als alle bisherigen Medien interpersonaler Kommunikation. Die neue dokumentationsaffine, zeigende epistemische Kultur konstituiert dabei auch eine neue Subjektkultur. Dieser Wandel der Subjektkultur – um dies nur kurz anzureißen – betrifft nicht nur wie bei Ulrich Bröckling32 oder Andreas Reckwitz33 den Übergang vom moralisch souveränen Bürger oder nach- bürgerlichen Angestelltensubjekt zum sich in ästhetischer und ökonomischer Hin- sicht selbst optimierenden postmodernen Selbst, was die exzessive Zirkulation von Selfies zutreffend beschreibt. Er könnte jedoch auch zudem in der Transition von einem hermeneutischen Subjekt und entsprechenden Ausdrucksformen der narrativen Selbst- und Fremdthematisierung zu einem zeigenden, dokumentari- schen Subjekt bestehen, dem Wissensformen der direkten Anschauung und perzeptiven Erfahrungsnähe plausibel und evident erscheinen, darunter die Selbst- und Fremddokumentation per technischer Aufzeichnung. Der prototypische Bio- grafiegenerator der Generation WhatsApp – um Alois Hahns34 Ausdruck aufzu- greifen – ist der digitale visuelle Liveticker, nicht mehr das Fotoalbum, der Le- benslauf oder gar die Beichte wie in vergangenen Zeiten. Damit verbunden ist ei- ne epistemische Haltung, die technisch Registriertem und Dokumentiertem grö- 31 Mannheim: »Das Problem der Generationen«. 32 Bröckling: »Das unternehmerische Selbst«. 33 Reckwitz: »Das hybride Subjekt«. 34 Hahn: »Identität und Selbstthematisierung«, S. 12. NAVIGATIONEN 90 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN ßere Evidenz zuschreibt als narrativ kommunizierten Inhalten. So entsteht eine neue epistemische Alltagskultur bzw. ein neues »doing truth«35, also eine neue Form dessen, was als plausibel und wahr in Anspruch genommen werden kann. Stabilisiert wird die neue epistemische Ordnung in Institutionen – etwa der Poli- zei – die zunehmend ebenfalls Plausibilisierungen von Ereignissen über eine direk- te visuelle Dokumentation von Smartphone-Nutzern mit einbeziehen und so den neuen epistemischen Standard mit sozialer Zwangsgewalt ausstatten. In diesem Text haben wir einige kultursoziologische Implikationen des Smartphones anhand der Frage diskutiert, wie sich Sozialität durch dieses Medium gestaltet und welche neuen Wissensordnungen dadurch entstehen. Durch das Zusammenspiel von Praktiken, Semantiken und Technologien bildet sich eine neue ›Mediengeneration‹ heraus, die sich durch eine eigene Alltagskultur aus- zeichnet. Am kleinen Beispiel WhatsApp haben wir insbesondere zwei kulturelle Trends aufzuzeigen versucht, die durch das Zusammenfallen der drei medialen Funktionen Kommunizieren, Speichern und Transportieren in der neuen Medien- technologie Smartphone entstehen: erstens eine verstärkte Bedeutung von visuel- len Interaktionen für die Pflege vertrauter sozialer Beziehungen unter Bedingun- gen der Enträumlichung und zweitens eine gestiegene Affinität zum Dokumentie- ren als neues epistemisches Regime, verbunden mit einer neuen Subjektformati- on. Für die Kultursoziologie bedeutet dies zumindest zweierlei: Erstens legen die neuen Medienpraktiken möglicherweise einen ›post-hermeneutischen‹ Umgang mit dokumentiert kommunizierten Inhalten nahe, wobei direkte visuelle Evidenz, Dokumentation und Transparenz zum neuen kulturellen Imperativ der Konstitu- tion von Glaubwürdigkeit, Geltung, Wahrheit, Erkenntnis usw. würden. Hieraus könnte als epistemische Alltagskultur entweder ein ›neuer Realismus‹ oder Ab- bildpositivismus folgen. Oder der Verzicht auf Diskursivität könnte eine herme- neutische Haltung auch gerade wieder neu befeuern. Ob es sich also um eine kommende ›Post-Hermeneutik‹ oder eine neue ›Hyper-Hermeneutik‹ handeln wird, ist eine empirische Frage. Zweitens wird die Aktualisierung gemeinsamer kultureller Grundlagen, die als Hintergrundwissen und Verständigungsbasis für weitere Kommunikationen zwischen Individuen dienen und als bekannt vorausgesetzt werden können, d. h. nicht immer eigens mitkommuniziert werden müssen, nicht mehr nur sprachlich- narrativ, sondern insbesondere visuell-dokumentarisch geleistet. Dabei entstehen hybride Formen der enträumlichten Vergesellschaftung, die zwischen Mikro- und Makroöffentlichkeiten sowie partikularen und generalisierten Gruppen vermitteln und über die Formensprache als auch die Inhalte sowohl inkludierend als auch ex- kludierend wirken können. 35 Kleeberg/Suter: »›Doing truth‹«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 91 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL Insbesondere die der Evidenzkraft geschuldete emotionalisierende Aktivie- rungswirkung der visuellen Dokumentationen als »Seht her, was sich da tut!« er- laubt es, Gattungen der moralischen Kommunikation wie Klatsch, Spott oder auch Situationskomik, die zuvor der Face-to-Face-Gemeinschaft des ›Dorfs‹ vorbehal- ten waren, nun in den enträumlichten, aber synchronen Medien der visuellen bzw. dokumentierenden Kommunikation mit neuer Kraft zu vollziehen. LITERATURVERZEICHNIS Bachtin, Mikhail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm, München 1971 (russ. Original 1929). Barthes, Roland: »L’Effet de réel«, in: Communications, Bd.11, Nr. 1, 1968, S. 84- 89. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The social construction of reality. A treatise in the sociology of knowledge, New York 1966. Böhm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994. Bourdieu, Pierre (Hrsg.): Un art moyen. Essais sur les usages sociaux de la photo- graphie, Paris 1965. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungs- form, Frankfurt a. M. 2007. Daston, Lorraine/Galison, Peter: »The Image of Objectivity«, in: Representations, Special Issue: Seeing Science, Bd. 40, 1992, S. 81-128. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Wahrnehmung versus Erfahrung oder die schnellen Bilder und ihre Interpretationsresistenz«, in: Recki, Birgit/ Wiesing, Lambert, (Hrsg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München 1997, S. 160-179. Günthner, Susanne: »Polyphony and the ›Layering Of Voices‹ in Reported Dia- logues. An Analysis of the Use of Prosodic Devices in Everyday Reported Speech«, in: InLiSt, Nr. 3, 1998, S. 685-708. Hahn, Alois: »Identität und Selbstthematisierung«, in: Hahn, Alois/Kapp, Volker (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a. M. 1987, S. 9-24. Holly, Werner/Püschel, Ulrich (Hrsg.): Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Medienforschung, Opladen 1993. Holt, Elizabeth: »Reporting on Talk: The Use of Direct Reported Speech in Con- versation«, in: Research on Language and Social Interaction, Bd. 29, Nr. 3, 1996, S. 219-245. Hörisch, Jochen: Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im In- nersten zusammenhalten, Frankfurt a. M. 2004. Kieserling, André: Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktions- systeme, Frankfurt a. M. 1999. NAVIGATIONEN 92 MEDIE NP RAKTIKEN EPISTEMISCHE REGIME DER NEUEN MEDIEN Kleeberg, Bernhard/Suter, Robert: »›Doing truth‹. Bausteine einer Praxeologie der Wahrheit«, Zeitschrift für Kulturphilosophie 2014, Nr. 2, S. 211-226. Knorr Cetina, Karin: »The Synthetic Situation: Interactionism for a Global World«, in: Symbolic Interaction, Bd. 32 2009, Nr. 1, S. 61-87. Knorr Cetina, Karin: The Manufacture of Knowledge: An Essay on the Construc- tivist and Contextual Nature of Science, Oxford 1981. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 2., erw. Aufl., Opladen 1996. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 2001. Mannheim, Karl: »Das Problem der Generationen«, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Bd. 7, 1928, S. 157-184 und S. 309-330. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM 2014. Jugend, In- formation, (Multi-) Media Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, Stuttgart 2014. Meyer, Christian: »›Metaphysik der Anwesenheit‹. Zur Universalitätsfähigkeit so- ziologischer Interaktionsbegriffe«, in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft »Interaktion – Organisation – Gesellschaft«, 2014, S. 321-345. Mitchell, W. J. Thomas: Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representa- tion, Chicago 1994. Rancière, Jacques: Politik der Bilder, Zürich/Berlin 2005. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010. Sandbothe, Mike: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist 2001. Schultz, Tanjev: »Mediatisierte Verständigung«, in: Zeitschrift für Soziologie, Nr. 30, 2001, Nr. 2, S. 85-102. Schütz, Alfred: »Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschli- chen Handelns«, in: Schütz, Alfred: Gesammelte Aufsätze I. Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Dordrecht 1971, S. 3-54. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt a. M., 1979. Simmel, Georg: »Exkurs über den schriftlichen Verkehr«. in: Simmel, Georg: So- ziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M.: 1992 [1908], S. 429-433. Weber, Max: »Zu einer Soziologie des Zeitungswesens«, in: Deutsche Gesell- schaft für Soziologie, (Hrsg.): Schriften der Deutschen Gesellschaft für Sozio- logie, Serie 1, Bd. 1, Tübingen 1911, S. 39-62. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 93 CHRISTIAN MEYER / CHRISTIAN MEIER ZU VERL Wenzel, Harald: Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne, Weilerswist 2001. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz – Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005. NAVIGATIONEN 94 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Überlegungen zu einer praxeologischen Rezeptionsforschung V O N R A P H A E L A K N I P P 1. EINLEITUNG Die Fokussierung auf Medienpraktiken erlangt innerhalb der Medien- und Kultur- wissenschaften zunehmende Aufmerksamkeit. Vermittelt wird diese Entwicklung insbesondere durch praxeologische Ansätze aus der Soziologie und der qualitati- ven Sozialforschung, den angloamerikanischen Media and Cultural Studies sowie der noch jungen Disziplin der Medienethnografie.1 So unterschiedlich die ver- schiedenen Richtungen die Begriffe ›Medien‹, ›Praktiken‹ und ›Medienpraktiken‹ bisweilen perspektivieren, lässt sich als ein gemeinsamer Nenner die Annahme herausstellen, dass mediale Phänomene nicht allein als textuelle oder diskursive Konstrukte, sondern eingebettet in Handlungsprozesse bzw. spezifische, alltägli- che ›Gebrauchskontexte‹ verstanden und untersucht werden müssen.2 Solche praxeologischen Ansätze der Erforschung von Medien und medienbezogenen Phänomenen stehen auch im Fokus der am Siegener DFG-Graduiertenkolleg »Lo- cating Media« angesiedelten Arbeiten in ihren jeweils unterschiedlichen fachspezi- fischen Ausprägungen.3 Als Literaturwissenschaftlerin möchte ich im Rahmen dieses Beitrages der Frage nachgehen, inwiefern sich die praxeologische Perspektive, die ihren Fokus auf konkrete Akteure und Praktiken im Umgang mit Medien, hier literarischen Texten, richtet, auch für literaturwissenschaftliche Forschungen nutzbar machen lässt.4 Konkret zielen meine Überlegungen auf ein spezifisches Teilgebiet der Lite- 1 Grundlegend u. a. Couldry: »Theorising Media as Practice« (s. dazu auch Punkt 2); Schatzki: »The Site of the Social«; Schatzki u. a.: »The Practice Turn in Contemporary Theory«; Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«; Ben- der/Zillinger: »Handbuch der Medienethnographie«. 2 Vgl. dazu Bender/Zillinger: »Handbuch der Medienethnographie«, S. XXX: »Medien werden erst in ihrem Gebrauch zu Medien […] und erst im dichten Kontext von Medi- enpraktiken verständlich.« 3 Exemplarisch etwa Dreschke u. a.: »Reenactments«; Abend: »Geobrowsing«; Richterich: »Geomediale Fiktionen«. 4 Zur Praxeologie und ihrer interdisziplinären Reichweite vgl. auch Elias u. a.: »Praxeolo- gie«. In der Einleitung (S. 3) heißt es: »Entwickelt hat sich die Praxeologie aus einem Strang der Kulturtheorien, die sich von einem strukturalistischen, normativen Kulturver- ständnis abwenden und stattdessen die praktische Handhabung und Produktion von Kul- tur im Handeln der Akteure in den Vordergrund stellen.« NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN RAPHAELA KNIPP raturwissenschaft: die Leser_innen- und Rezeptionsforschung.5 Meine These lau- tet, dass sich ein praxeologischer Ansatz für diesen Bereich als besonders produk- tiv erweisen kann, weil dadurch Aspekte der Literaturrezeption untersucht wer- den können, die im Kontext tradierter hermeneutischer Ansätze wie etwa der Rezeptionsästhetik (siehe Punkt 2) ein blinder Fleck bleiben. Die nachstehenden Ausführungen gliedern sich dazu in drei Schritte: Gemes- sen an dem gestiegenen Interesse an ›Praktiken‹ bzw. ›Medienpraktiken‹ in be- nachbarten Disziplinen, spielen die Begrifflichkeiten innerhalb der Literaturwis- senschaft bislang kaum, allenfalls eine marginale Rolle.6 In einem ersten Schritt (Punkt 2) ist daher zunächst eine begrifflich-konzeptuelle Annäherung vorzuneh- men: Was kommt überhaupt als Forschungsgegenstand in den Blick, wenn der Schwerpunkt auf Praktiken der Literaturrezeption liegt und welche Rolle spielen Medien dabei? Welches theoretisch-methodische Angebot geht mit der praxeolo- gischen Fokussierung einher? In einem zweiten Schritt (Punkt 3) werden aufbau- end auf exemplarisch skizzierten Forschungsbeispielen Koordinaten einer praxeo- logischen Analyse gegenwärtiger Rezeptionsphänomene aufgezeigt. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum zum sogenannten »Shared Reading« (Punkt 3.1) sowie meine eigenen Forschun- gen zur Praktik des Literaturtourismus (Punkt 3.2). Punkt 4 fasst die Erkenntnisse der Punkte 2 und 3 in einem abschließenden Fazit zusammen. 5 Diese Konturierung des Gegenstandsbereiches mag als eine allzu vorschnelle Eingren- zung des Feldes ›literaturbezogener Praktiken‹ erscheinen, heuristisch ist sie jedoch notwendig, um meinen spezifischen Blickwinkel auf das Thema deutlich zu machen: Es geht mir folgend primär um literaturverarbeitende, d. h. dem literarischen ›Text‹ nach- gelagerte Praktiken im Umgang mit Literatur. Genauso spannend wäre es, die Frage der Anschlussfähigkeit von praxeologischen Ansätzen und Literaturforschung von den Prak- tiken des Schreibens bzw. der Literaturproduktion her aufzufächern. Für diese Perspek- tive sei auf gelungene Arbeiten jüngeren Datums verwiesen, z. B. von McGurl: »The Program Era«, der den Einfluss von Creative Writing-Programmen auf die amerikanische Nachkriegsliteratur untersucht oder in historischer Perspektive Spoerhase: »›Manuscript für Freunde‹«, der sich mit der Zirkulation und Bearbeitung von Manuskriptdrucken als Vorstufen zum literarischen Werk in Autorenkreisen um 1800 befasst. 6 Gleichwohl lassen sich vereinzelt Tendenzen beobachten, die auf ein gesteigertes Inte- resse an Praktiken bzw. praxeologischer Forschung innerhalb der Literaturwissenschaft schließen lassen. Als besonders fruchtbar erweisen sich z. B. die Überlegungen von Ste- phan Michael Schröder und Joachim Grage (vgl. Schröder/Grage: »Performativität und li- terarische Praktiken«) sowie von Wolfgang Behschnitt (vgl. Behschnitt: »Literatur als Praxis«), die im Kontext des DFG-geförderten Projektes »Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900« (2010-2013) entstanden sind. Literarische Praktiken werden dabei als ein bestimmtes Bündel konkreter Aktualisierungen von Literatur begriffen, die von den handelnden Akteuren als ›literarisch‹ reflektiert werden. NAVIGATIONEN 96 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN 2. THEORETISCHE ANNÄHERUNGEN In seinem 2004 erschienenen forschungsprogrammatischen Artikel »Theorising Media as Practice« spricht Nick Couldry von einem »new paradigm of media re- search that understands media, not as texts or structures of production, but as practice.« Als Leitfrage dieses neuen ›Forschungsparadigmas‹ formuliert Couldry: »What, quite simply, are people doing in relation to media across a whole range of situations and contexts?«, bzw. an anderer Stelle differenzierter: »[…] what types of things do people do in relation to media? And what types of things do people say in relation to media [Hervorh. R.K.]?«7 Couldry, dessen Wurzeln unter ande- rem in den angloamerikanischen Audience Studies liegen,8 darf als einer der Pio- niere der aktuellen Diskussion um Medienpraktiken gelten. Gegen die Betrach- tung von Medien als ›Texten‹, ›Inhalten‹ oder ›Strukturen‹ stellt er die einfache Frage: Was ›machen‹ Menschen mit Medien? Couldry legt damit den Fokus ers- tens auf den ›Gebrauch‹ von Medien innerhalb konkreter kultureller und sozialer Zusammenhänge (»across a whole range of situations and contexts«) sowie zwei- tens auf die wechselseitige Performanz von Medien und medienbezogenen Prak- tiken. So eingängig Couldrys Ansatz, Medien »not as texts […], but as practice« zu denken, auf den ersten Blick erscheint, darf seine Brisanz andererseits allerdings nicht unterschätzt werden. Aus literaturwissenschaftlich-philologischer Perspekti- ve betrachtet, muss Couldrys programmatischer Vorschlag, den analytischen Fo- kus von Medien als ›Texten‹ auf die kulturelle und soziale Praktik im Umgang mit Medien, hier literarischen Texten, zu verlagern, zweifelsohne zunächst provokativ wirken. Die Literaturwissenschaften verstehen sich nun einmal, um es ganz klar zu sagen, primär als Textwissenschaft. Das präferierte ›Medium‹ bzw. der zentra- le Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse sind Texte. Dies gilt bezeich- nenderweise überwiegend auch für die Rezeptionswissenschaft als Teildisziplin li- teraturwissenschaftlicher Forschung. So begreift sich etwa die für leser_innen- und rezeptionsorientierte Literaturtheorien nach wie vor grundlegende und ka- nonische Rezeptionsästhetik, die im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Arbeiten von Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß repräsentiert wird,9 in erster Linie als eine Theorie und Analyse der Ästhetik und Wirkung literarischer Texte und eben nicht als ›Leser_innen-‹ oder ›Praktikenanalyse‹. Obgleich Iser und Jauß zwar den Interaktionscharakter von literarischen Texten und Leser_innen beto- nen, halten sie am Text als zentralem Untersuchungsobjekt und der Textanalyse als grundlegender Arbeitspraxis fest. Dies wird besonders deutlich in Isers 1976 publizierten Schrift Der Akt des Lesens, in der Leser_innen nicht als empirische, 7 Couldry: »Theorising Media as Practice«, S. 115, 119 u. 121. 8 Vgl. u. a. Couldry: »The Place of Media Power«. 9 Grundlegend Jauß: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«; Iser: »Der Akt des Lesens« (folgend zitiert nach der 2. Aufl.) sowie Iser: »Der implizite Le- ser«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 97 RAPHAELA KNIPP mit Texten ›handelnde‹ Subjekte konzipiert werden, sondern als Strukturelement des Textes: »Folglich ist der implizite Leser […] in der Struktur der Texte selbst fundiert«, so Iser. An anderer Stelle heißt es noch deutlicher: »Die Leserrolle be- stimmt sich als eine Textstruktur […].«10 Isers Ansatz liegt damit eine Vorstellung von Literaturrezeption zugrunde, deren Voraussetzung der gelesene Text ist. In- dem die Leserin/der Leser ›im‹ Text verortet wird, kann der Rezeptionsprozess losgelöst von ›außertextuellen‹ Faktoren, z. B. sozialer oder kultureller Herkunft, betrachtet werden.11 Man muss kritisch fragen – und dies ist bisweilen auch mit Nachdruck ge- schehen, z. B. in den Arbeiten der sogenannten »Empirischen Literaturwissen- schaft« oder den sozialethnografischen und literaturanthropologischen Studien von Janice Radway, Elizabeth Long oder Martin Sexl –,12 ob und inwieweit das re- zeptionsästhetische Modell überhaupt (noch) zeitgemäß und geeignet ist, um lite- rarische Rezeption(en) in ihrem idiosynkratischen und vor allem in ihrem empiri- schen Charakter (siehe dazu unten ausführlicher) adäquat abzubilden und zu er- fassen. Daran soll auch im Folgenden angeknüpft und eine Alternative zum ›Text- paradigma‹ der Rezeptionsästhetik fokussiert und erprobt werden. Ausgehend von Couldry schlage ich vor, das programmatische Angebot, »media, not as texts […], but as practice« zu fassen, weniger als eine Provokation zu betrachten, denn vielmehr als eine Chance bzw. ein ›Denkgeländer‹ für eine literaturwissenschaftli- che Leser_innen- und Rezeptionsanalyse, die andere Akzente setzt. Dazu wird der Untersuchungsfokus von den Texten hin zu konkreten Leser_innen und ihren Praktiken im Umgang mit Literatur verschoben. Bevor ich dazu zwei konkrete Beispiele betrachte, folgen zunächst einige weiterführende und die Beispiele vor- bereitende theoretisch-methodische Überlegungen: Was bedeutet es genau, lite- rarische Rezeption(en) unter dem Blickwinkel der Praktiken zu betrachten? Wel- che Rolle spielen Medien und Medialität dabei? Und wie unterscheidet sich bzw. erweitert eine solche Perspektivierung den textzentrierten Ansatz der Rezepti- onsästhetik? 10 Iser: »Der Akt des Lesens«, S. 60f. 11 Isers Ansatz besitzt natürlich weitreichendere Implikationen, als sie hier dargestellt wer- den können. Mir geht es lediglich darum, sein Konzept von Literaturrezeption als Aus- gangspunkt und Kontrastfolie zu einem praxeologischen Ansatz ins Feld zu führen. Für eine gelungene Auseinandersetzung mit Iser jüngeren Datums vgl. z. B. Strasen: »Rezep- tionstheorie«. 12 Exemplarisch etwa Zyngier u. a.: »Directions in Empirical Literary Studies«; Hauptmei- er/Schmidt: »Einführung in die Empirische Literaturwissenschaft« (die Arbeiten der so- genannten »Empirischen Literaturwissenschaft« sind meist jedoch eher ›quantitativ‹ aus- gerichtet). Für qualitative Rezeptionsstudien vgl. Radway: »Reading the Romance«; Long: »Book Clubs«; Sexl: »Literatur und Erfahrung«. NAVIGATIONEN 98 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Literatur(rezeption) als (Medien-)Praktik »[…] Lesen als Praxis [gewinnt] stets in bestimmten Gesten, Räumen und Ge- wohnheiten Gestalt […]«, erinnern Roger Chartier und Guglielmo Cavallo in ihrer Einleitung zur Aufsatzsammlung Die Welt des Lesens von 1995.13 Die Autoren machen darin auf zwei wichtige Aspekte aufmerksam: Erstens, Lesen bzw. Litera- turrezeption ist nicht nur ein hermeneutisch-kognitiver Vorgang, sondern eine konkrete körperliche und verkörperte Praktik,14 die, zweitens, immer in be- stimmte soziokulturelle und materiell-mediale Kontexte eingebettet ist. Dies muss vor dem Hintergrund des gerade Gesagten umso deutlicher betont werden, weil die rezeptionsästhetischen Studien eben genau diese Aspekte überwiegend ausblenden. Für gewöhnlich sind nicht die konkreten Leser_innen und ihre (Lek- türe-)Praktiken, d. h. der jeweilige ›Gebrauchszusammenhang‹ der Textrezeption Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse, sondern der literarische Text als solcher, gedacht als ein immaterielles und von den vorstehend genannten Para- metern weitgehend unabhängiges Objekt. Ob – und vor allem auch wie – wir als Leser_innen beispielsweise Thomas Manns Roman Buddenbrooks als gedrucktes Taschenbuch oder E-Book konsumieren, individuell oder in der Gruppe (z. B. in einem Literaturkreis), im Garten oder in der Bahn, leise oder laut (vor-)lesen, den Roman als Literaturverfilmung oder Hörbuch rezipieren oder ihm im Rahmen ei- ner Literaturausstellung oder szenischen Lesung begegnen – oder wie wir als Le- ser_innen überhaupt bestimmte Lesestoffe auswählen – spielt für rezeptionswis- senschaftliche Untersuchungen meist weniger eine Rolle als etwa die sprachliche, semantische oder ästhetisch-narrative ›Machart‹ des Textes und ihre möglichen Wirkungen auf Leser_innen. Um nicht missverstanden zu werden, soll es mir nicht darum gehen, den lite- rarischen Text in seiner sprachlichen und ästhetischen Dimension zu verabschie- den. Meine These lautet allerdings, dass es (a) nicht ausschließlich nur ›Texte‹ bzw. textimmanente Faktoren sind, die Rezeptionen determinieren, und (b) die Rezeptionsforschung ganz entscheidende Aspekte vernachlässigt, insofern sie die Praktiken sowie die Medien, mit und in denen Leser_innen literarischen Texten alltäglich begegnen, außen vor lässt. Literaturrezeption als (Medien-)Praktik zu denken, heißt damit also zum einen, sich die ›Materialität‹ literarischer Kommuni- kation und Rezeption bewusst zu machen.15 Wie die Aufzählung oben zeigt, kann dies z. B. bestimmte Technologien oder Dinge als Textträger und Lesemedien einschließen, aber auch (alltägliche) Orte und Situationen der Rezeption sowie – und gerade – die Körper der Leser_innen selbst. Man muss hier allerdings ergänzen, dass im Zuge medien- und kulturwissen- schaftlicher Neuorientierungen innerhalb der Literaturwissenschaft die Frage nach 13 Chartier/Cavallo: »Die Welt des Lesens«, S. 12. 14 Zum Lesen als körperlicher bzw. verkörperter Praktik vgl. insb. Schön: »Der Verlust der Sinnlichkeit«. 15 Vgl. dazu auch Gumbrecht/Pfeiffer: »Materialität der Kommunikation«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 99 RAPHAELA KNIPP den unterschiedlichen medialen und kulturellen Vermittlungs- und Rezeptions- formen von Literatur in den letzten Jahren durchaus verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hat. Dem geht die Erkenntnis voraus, dass sich Literaturrezeption eben nicht nur im Medium des ›Textes‹ vollzieht, sondern sich auf eine Vielzahl an Me- dien und medienkulturellen Formen im Umgang mit Literatur verteilt. So haben sich inzwischen etwa digitale Lesemedien wie E-Books, Hörbücher, Literaturver- filmungen, multimediale Formate wie Literaturausstellungen, Lesungen oder Lite- raturfestivals, aber auch institutionalisierte Formen wie Dichterhäuser und Litera- turmuseen als Gegenstände literaturwissenschaftlicher Forschung – mehr oder weniger – etablieren können.16 Häufig ist dabei aber Folgendes zu beobachten: Meist wird diesen medienkulturellen Formen literarischer Kommunikation und Vermittlung mit ganz ähnlichen Konzepten und Methoden begegnet, wie es die Rezeptionsästhetik im Hinblick auf ihren Gegenstand ›Text‹ tut. Fokussiert wer- den vor allem medienästhetische und medienkomparatistische Aspekte (z. B. Fra- gen der Intermedialität). Das Augenmerk richtet sich weiterhin hauptsächlich auf›Einzelmedien‹. Man vergleicht nun nicht mehr Texte mit Texten, sondern Texte mit z. B. auditiven und visuellen Codes anderer Medien, die literarische In- halte auf je spezifische Weise vermitteln. Damit ist aber wiederum wenig gesagt über den ›Gebrauch‹, d. h. die tat- sächlich stattfindenden und die je nach medialem bzw. kulturellem ›Setting‹ variie- renden (alltäglichen) Aneignungsprozesse von Literatur. Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, welche unterschiedlichen Rezeptionserfahrungen und Rezepti- onsbedürfnisse Leser_innen dabei jeweils generieren und bearbeiten. Wenn hier also die Rede von einer praxeologischen Perspektive ist, so genügt es eben gerade nicht, einzelne Medien, in denen Literatur ›in Erscheinung‹ tritt, zu definieren und voneinander abzugrenzen. Vielmehr – und darauf zielt letztlich auch Couldrys Ein- lass – müssten die konkreten Praktiken, d. h. das ›Handeln‹ mit Literatur in seinen unterschiedlichen medialen Modi und sozialen Kontexten in den Fokus der Auf- merksamkeit rücken. Um meine bisherigen Überlegungen zu resümieren, lässt sich hinsichtlich der Frage nach literaturbezogenen Praktiken und der Rolle, die Medien dabei zukommt, damit zweierlei festhalten: Erstens steht nicht mehr pri- mär, wie noch bei der Rezeptionsästhetik, die Frage im Zentrum, welches Wir- kungspotenzial literarische Texte möglicherweise entfalten, sondern was mit Lite- ratur – ganz konkret – in einem bestimmten Rezeptionszusammenhang ›gemacht‹ wird.17 Es geht also um die auf den Text gerichteten (Alltags-)Praktiken von Le- 16 Exemplarisch sei auf Binczek u. a.: »Handbuch Medien der Literatur« verwiesen, das den aktuellen Forschungsstand umfangreich abbildet und Einzelbeiträge u. a. zu den hier ge- nannten Formaten enthält. 17 Vgl. dazu auch Behschnitt: »Literatur als Praxis«, S. 119: »Im Mittelpunkt steht nicht mehr in erster Linie die Aufgabe, die Gestalt eines Textes zu analysieren und seine Be- deutungen zu erschließen, sondern die literarische Praxis – die Frage, was in einem lite- rarischen Handlungszusammenhang mit Texten und mit den Beteiligten geschieht«. NAVIGATIONEN 100 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN ser_innen.18 Zweitens wird die Frage relevant, wie sich Literatur in diesen Prakti- ken auf je spezifische Weise vermittelt und welche ›Medien‹ – Zeichen, Körper, Dinge, Orte etc. – dabei zum Einsatz kommen. Ersichtlicherweise muss sich die Literaturwissenschaft mit einer solchen pra- xeologischen Perspektive auf Literaturrezeption zunächst schwertun – auch und gerade, weil es bislang nur wenige Arbeiten gibt, auf die sich berufen werden kann. Erst in jüngerer Zeit lässt sich ein, allerdings bisher eher randständiges, Inte- resse an praxeologisch orientierten Fragestellungen und Herangehensweisen im Kontext der Literaturforschung beobachten. So formuliert etwa Anja Johannsen in einem pointierten Essay ein »Plädoyer für eine praxeologische Gegenwartslitera- turwissenschaft«, deren Ziel es sein müsse, »Literaturproduktion sowie ihre - distribution und -rezeption als zu erforschende kulturelle Praxis und als soziales Handeln [Hervorh. R.K.]« begreifbar zu machen.19 ›Praxeologisch‹ versteht sich auch der ebenfalls von Johannsen mitherausgegebene Band Doing Contemporary Literature, in dessen Einleitung die Autor_innen sich dafür aussprechen, »Texte verstärkt in ihren Kontexten zu lesen« und – ganz im Sinne Chartiers (siehe oben) – darauf verweisen, dass »Literatur […] im Zusammenspiel verschiedener Akteu- re, Praktiken und Materialitäten [entsteht und wirkt]«.20 In beiden Publikationen geht es jedoch weniger um konkrete Leser_innen und ihre Rezeptionspraktiken als vielmehr um einen programmatischen Fokus, dessen konkrete Umsetzung in weiten Teilen noch aussteht. Dies dürfte vor allem auch auf die forschungsprakti- schen Herausforderungen zurückzuführen sein, die sich mit praxeologischen Vor- haben verknüpfen. Denn die Frage nach Praktiken im Umgang mit Literatur ver- weist auf methodischer Ebene zwangsläufig auf eine ›empirische‹ Herangehens- weise bzw. ein ›ethnografisches‹ Methodenrepertoire. Literaturwissenschaft- ler_innen, die es primär gewohnt sind, mit Texten zu arbeiten, müssten sich die- ses erst einmal aneignen. Eine besondere Anforderung stellen dabei auch die ver- änderten Datenkorpora dar, die – wie die folgenden Beispiele zeigen – nicht mehr nur aus Texten, sondern auch aus Beobachtungen, Interviews, Audioauf- nahmen etc. bestehen.21 Dass eine solche an literaturbezogenen Praktiken inte- 18 Vgl. dazu auch Habscheid u. a.: »Alltagspraktiken des Publikums«. 19 Johannsen: »To pimp our minds sachwärts«, S. 181. Johannsen fokussiert allerdings we- niger Leser_innenpraktiken als vielmehr literaturproduzierende und -distribuierende In- stanzen wie Autor_innen, Buchmarkt, Verlage etc. 20 Bierwirth u. a.: »Doing Contemporary Literature«, S. 9-19, hier 11 u. 13. Für eine ›pra- xeologische Wende‹ in den Literaturwissenschaften plädieren auch Martus/Spoerhase: »Praxeologie der Literaturwissenschaft«. Die Autoren haben dabei jedoch in erster Linie die Arbeits- und Interpretationspraktiken von Literaturwissenschaftler_innen im Blick. 21 Dies registriert auch Martin Sexl, der eine empirisch-ethnografische Studie zu Lektüre- praktiken von Krankenschwestern im Kontext ihres Berufsalltags durchgeführt hat: »Die Frage nach dem Zweck von literarischen Texten in alltäglichen oder alltagsnahen Lektü- resituationen wird zwar immer wieder erhoben […], die Konsequenz daraus, nämlich der Gang in die Empirie, scheint allerdings viele Literaturwissenschaftler/innen abzu- schrecken, und dies nicht nur aus Gründen des in der Literaturwissenschaft ungewohn- NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 101 RAPHAELA KNIPP ressierte Rezeptionsforschung aber funktionieren und wie sie im Einzelnen ausse- hen kann, möchte ich nun anhand von zwei Beispielen aus der Forschungspraxis näher skizzieren. 3. ZWEI FORSCHUNGSBEISPIELE Nachstehend sollen die bisher nur theoretisch gebliebenen Ausführungen mit Blick auf zwei exemplarische Untersuchungsbeispiele und -felder konkretisiert und dabei, mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen, Dimensionen einer praxeo- logischen Analyse gegenwärtiger Phänomene der Literaturrezeption aufgezeigt werden. Die Beispiele stammen aus dem Umfeld eigener Forschungen und wur- den ausgewählt, weil sie besonders deutlich zeigen, wie eine praxeologisch ausge- richtete Literaturforschung, welche die Praktiken der Akteure in den Fokus rückt, den Blick auf Rezeptionsfragen erweitern kann. 3.1 SHARED READING: BEYOND THE BOOK-PROJEKT Im ersten Forschungsbeispiel geht es um das sogenannte »Shared Reading«, wo- runter Praktiken des kollektiven, gemeinsamen Rezipierens von Literatur ver- standen werden können. Literaturgeschichtlich betrachtet handelt es sich dabei um kein neues Phänomen,22 welches jedoch in der Gegenwart, befördert durch audiovisuelle (z. B. Fernsehen) sowie digitale soziale Medien, ein bemerkenswer- tes Revival erlebt.23 Konkret gehe ich auf Studien der Literatur- und Kommunika- tionswissenschaftlerinnen Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo ein, die sich mit dieser spezifischen Form der Literaturrezeption im Rahmen ihres Projektes Beyond the Book: Mass Reading Events and Contemporary Cultures of Reading in the UK, USA and Canada zwischen 2005 und 2008 auseinandergesetzt haben.24 Das ten Einsatzes von Untersuchungsmethoden aus der empirischen Sozialwissenschaft – die eine methodische Zugangsweise und eine spezifische Form des Arbeitsaufwandes erfor- dern, die philologischen Fächern in der Regel fremd sind –, sondern vor allem deshalb, weil die ›Objekte‹ der Forschung nicht Texte, sondern konkrete Leser/innen sind.« Sexl: »Lesend die Welt erfahren«, S. 159. Vgl. dazu ferner auch meine Ausführungen in Knipp: »Vom Text zum Feld?«. 22 Für einen historischen Überblick mit Fokus auf den US-amerikanischen Raum vgl. Long: »Book Clubs«; für den deutschsprachigen Raum vgl. z. B. Seibert: »Der literarische Sa- lon«. 23 Dies gilt insbesondere für den angloamerikanischen Raum (z. B. durch die TV- Sendungen und den Online-Buchclub von Oprah Winfrey oder Literaturplattformen wie www.librarything.com), auf den sich die folgenden Ausführungen beziehen. Inzwischen lassen sich aber auch im deutschsprachigen Raum ähnliche Entwicklungen beobachten (siehe z. B. die Webseite www.lovelybooks.de). 24 Vgl. insb. Fuller/Rehberg Sedo: »Reading Beyond the Book« sowie dies.: »A Reading Spectacle for the Nation«. Das Projekt war eine Kooperation der University of Birmin- gham (UK) und der Mount Saint Vincent University (Halifax, Nova Scotia). Für weitere NAVIGATIONEN 102 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN empirische Feld, in dessen Kontext die Autorinnen Formen des »Shared Reading« untersuchen, sind sogenannte »Mass Reading Events« (MREs). Dabei handelt es sich um ein relativ junges, im angloamerikanischen Raum aber umso populäreres Phänomen, wobei die Bezeichnung »mass« differenziert zu betrachten ist. Es geht um lokale, zum Teil auch auf nationaler Ebene angesiedelte Literaturevents bzw. -kampagnen, deren Ziel es ist, möglichst viele Menschen (z. B. aus einer Kommune, einer Stadt oder auch landesweit) dazu zu bringen, ein ausgewähltes Buch zu lesen und darüber in verschiedenen Veranstaltungen und Medien zu dis- kutieren.25 Das genannte Projekt fokussiert insgesamt acht solcher Events und Kampagnen in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada. Eines der Untersuchungsbeispiele ist etwa das Format »One Book, One Community«, das in verschiedenen Städten und Regionen in den USA und in Kanada jährlich über einen Zeitraum von mehreren Wochen durchgeführt wird. Ein Selektionskom- mitee, das sich aus literaturinteressierten Bürger_innen, Buchhändler_innen und Bibliothekar_innen zusammensetzt, wählt einen Buchtitel aus, der dann im Fokus verschiedener Aktivitäten steht, an denen Leser_innen aus der jeweiligen Stadt oder Region partizipieren können. Meist handelt es sich um Texte mit inhaltli- chem lokalen Bezug oder solche von lokalen Autor_innen. Als Partizipationsmög- lichkeiten werden zum Beispiel Face-to-Face-Diskussionsgruppen initiiert, in de- nen Leser_innen zusammenkommen, um sich über das Buch auszutauschen. Zu- dem werden Social-Media-Tools (z. B. Webseiten, Online-Foren, Facebook etc.) angeboten, die von den teilnehmenden Akteuren genutzt werden, um den litera- rischen Text zu kommentieren und mit anderen Leser_innen aus der Region zu diskutieren. Darüber hinaus finden auch Lesungen, Gewinnspiele, Performances, Signierstunden etc. zum jeweiligen Buch statt (siehe Abb. 1). Begleitet werden die Kampagnen häufig auch durch Medien wie Fernsehen und Radio, die von den Veranstaltungen berichten, aber zum Beispiel auch Lesungen etc. live übertragen. Informationen und Publikationen siehe http://www.beyondthebook.bham.ac.uk/, 20.07.2016. 25 Im deutschsprachigen Raum existieren vergleichbare Formate, z. B. die Aktion »Eine Stadt liest ein Buch«, die jährlich in verschiedenen deutschen Städten durchgeführt wird. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 103 RAPHAELA KNIPP Abb. 1: One Book, One Community-Aktivitäten in Kanada, hier: Signierstunde mit Au- tor Nino Ricci, Ontario 2004, Quelle: Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo26 MREs, wie sie Fuller und Rehberg Sedo untersuchen, zeichnen sich also durch ei- nen von Leser_innen geteilten Fokus der Aufmerksamkeit auf einen literarischen Text aus und involvieren dazu verschiedene Akteure, Medien und Praktiken. Das übergreifende Interesse des Forschungsprojektes richtet sich somit – in Abgren- zung zu Isers »implizitem Leser« – auf ›reale‹, nicht-professionelle Leser_innen und ihre alltäglichen, vergemeinschaftenden Aneignungs- und Gebrauchsweisen von Literatur, wie sie im Rahmen der MREs beobachtbar werden: »We began our analysis […] by emphasizing our interest in the uses that readers make of books and reading [Hervorh., R.K.],«27 so die Autorinnen. Analysiert werden die auf den literarischen Text bezogenen Lektüre- und Bewertungshandlungen der teilneh- menden Akteure, sowie die verschiedenen sozialen und medialen Formen der Partizipation an (lokaler) literarischer Kultur. Die MREs ermöglichen Leser_innen z. B. Face-to-Face-Treffen, Online-Diskussionen, Lesungen und Gespräche mit Autor_innen, Performances etc. Um diese Aspekte zu adressieren, bedient sich das Projekt eines Mixed-Method Ansatzes: Textanalysen werden mit Feldstudien im Rahmen der MREs kombiniert, die verschiedene quantitative und qualitative 26 Ich danke Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo für die freundliche Genehmigung, die Abbildung für diesen Artikel zu verwenden. 27 Fuller/Rehberg Sedo: »Reading Beyond the Book«, S. 248. NAVIGATIONEN 104 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Erhebungsverfahren einschließen. Es werden Methoden der teilnehmenden Be- obachtung während der Eventaktivitäten eingesetzt, Face-to-Face-Fokusgruppen gebildet, in denen Leser_innen zu ihren Rezeptionspraktiken und -erfahrungen im Kontext der MREs befragt werden, quantitative Fragebogenerhebungen und qua- litative Einzelinterviews durchgeführt sowie Webseiten, Webposts von Le- ser_innen, Medienberichte, Werbematerialien etc. analysiert. Zur Gruppe der un- tersuchten und befragten Akteure zählen neben den teilnehmenden Leser_innen ferner auch die Organisatoren der MREs, darunter z. B. Verlage, Buchhandel oder Medieninstitutionen. Denn, wie die Studien zeigen, sind MREs letztlich auch Mar- ketinginstrumente, um bestimmte Bücher innerhalb einer Gruppe von Le- ser_innen zu distribuieren.28 Die Besonderheit der Rezeptionsstudie, wie sie Fuller und Rehberg Sedo durchgeführt haben, besteht damit darin, dass nicht die literarischen Texte bzw. ihre ›Inhalte‹ den Fokus der Untersuchung bilden, sondern – ganz im Sinne Couldrys – die auf den Text gerichteten Performanzen und Handlungen der Ak- teure sichtbar gemacht werden. Wie die ›literarische Qualität‹ der im Rahmen der MREs gelesenen Texte bewertet wird und wie und weshalb bestimmte Texte und Textgenres innerhalb der jeweiligen Gruppe Popularität erlangen, wird nicht in erster Linie von textimmanenten Eigenschaften her zu erklären versucht, sondern als Ergebnis unterschiedlicher Wertungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren nachvollziehbar gemacht. Wie die Einblicke in das Feld und das reichhaltige Datenkorpus zeigen, erweisen sich MREs als Agenten und Mediato- ren einer »middlebrow«-Literatur und -Lesekultur, die sich sowohl von der Hochkultur als auch der Massenkultur abzugrenzen versucht. Anhand der behan- delten Textbeispiele wird deutlich, dass MREs eine Affinität zu bestimmten »book types« bzw. Genres aufweisen. In der Regel werden im Rahmen der Events litera- rische Texte rezipiert, die der erzählenden Unterhaltungsliteratur zuzurechnen sind, die sich durch einen ›realistischen‹ Erzählstil auszeichnen, einen breiten Pub- likumsgeschmack bedienen und alltagsnahe Themen behandeln, die Anknüpfungs- punkte für Diskussionen zwischen Leser_innen bieten. Die Ergebnisse des Projektes zeigen ferner, dass Leser_innen durch die Teil- nahme an den »Shared Reading«-Praktiken der MREs vielfältige Möglichkeiten der Partizipation an Literatur realisieren und dabei unterschiedliche Rezeptionsbe- dürfnisse bearbeiten. Zwei Aspekte sind dabei besonders interessant: Erstens lässt sich anhand des aus den MREs gewonnenen Datenmaterials aufzeigen, wie Lese- und Literaturerfahrungen zum einen medial aufbereitet und (weiter-) ver- arbeitet werden (z. B. in Gesprächen, Webposts oder Performances), zum ande- ren wird aber auch deutlich, dass durch die MREs neue bzw. über das Lesen des Textes hinausgehende (mediale) Möglichkeiten der Begegnung mit Literatur ge- schaffen werden. Fuller und Rehberg Sedo sprechen diesbezüglich auch von 28 Dieser Aspekt ist keineswegs zu unterschätzen, insofern Verlage solche Events und die damit einhergehenden Medien-/Praktiken (z. B. Online-Foren) verstärkt nutzen, um mit Leser_innen – und damit potentiellen Kund_innen – in Kontakt zu treten. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 105 RAPHAELA KNIPP einem »›variety-packs‹ reading model«: »[T]he program’s multi-platform presen- tation«, so die Autorinnen, »offers new opportunities for readers to experience books and share reading in a variety of ways.«29 Die Spanne des Publikums reicht dabei von individuellen Leser_innen über Literaturkreise, die sich in einem größe- ren Rahmen über das Gelesene austauschen möchten und dazu unterschiedliche mediale Formate nutzen, bis hin zu Literaturinteressierten, die das Buch nicht un- bedingt gelesen haben müssen. Letztere finden in den Aktivitäten der MREs eine Gelegenheit, Literatur ohne Lektüre auf ›unterhaltsame‹ und vergemeinschaftende Art und Weise zu begegnen und darin an einem Bildungskanon der Mittelschicht zu partizipieren. Zweitens arbeiten Fuller und Rehberg Sedo anhand ihres empiri- schen Materials die These heraus, dass MREs an Traditionen oraler literarischer Kulturen, wie z. B. mündliches Erzählen und lautes Lesen, anschließen bzw. diese wiederzubeleben versuchen: »One of the significant social dynamics at play in many face-to-face OBOC [One Book, One Community, R.K.] events is the resto- ration and reanimation of oral cultures of storytelling and reading aloud.«30 In die- sem Aspekt wird unter anderem deutlich, dass es sich bei den »Shared Reading«- Praktiken der MREs um spezifische Formen der Vermittlung von Literatur sowie der Lektüreerfahrungen zwischen Leser_innengruppen handelt. Mit Blick auf die hier nur in aller Kürze skizzierten Ergebnisse könnte man gegen die Studie zweifellos einwenden, dass die Literatur als solche, d. h. die lite- rarischen Referenztexte, in den Untersuchungen nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Letztlich ist dies aber gar nicht das entscheidende Anliegen des Projektes, denn vielmehr geht es der praxeologischen Studie darum, konkrete Einblicke in ein populäres Phänomen der gegenwärtigen Lesekultur zu geben und die dabei beobachtbaren Praktiken der Aneignung literarischer Texte nachzuzeichnen: Wie wird »Shared Reading« als spezifische Form der Literaturrezeption von den Akt- euren im Rahmen der MREs organisiert und etabliert? Inwiefern wird durch die kollektiven Praktiken ein gruppenspezifischer ›literarischer Geschmack‹ ausgebil- det? Wie konvergieren (individuelle) Lektürepraktiken mit anderen Praktiken der MREs? Ausgehend von den vielen kleinteiligen und lokal situierten Studien, die Fuller und Rehberg Sedo im Rahmen ihres Projektes an unterschiedlichen Orten durchgeführt haben, entsteht so letztlich ein sehr differenziertes Bild kollektiver Praktiken der Literaturaneignung, sowie der soziokulturellen Kontexte, in die die- se Praktiken eingebettet sind. Die Studien von Fuller und Rehberg Sedo führen anhand der MREs damit letztlich ein Modell literarischer Kommunikation vor, das als integrales Moment interagierende – ›soziale‹ – Leser_innen voraussetzt. Lite- raturrezeption wird dabei nicht als ein intimer Akt zwischen Text/Buch und ein- zelner Leserin/einzelnem Leser praktiziert, sondern als kollaboratives und öffent- lich inszeniertes Gemeinschaftserlebnis. 29 Fuller/Rehberg Sedo: »A Reading Spectacle for the Nation«, S. 30. 30 Fuller/Rehberg Sedo: »Reading Beyond the Book«, S. 236-242, hier 238. NAVIGATIONEN 106 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN 3.2 VERKÖRPERTE LEKTÜRE: LITERATURTOURISMUS-ETHNOGRAFIE Von den Praktiken des »Shared Reading« wechsle ich nun, im zweiten Beispiel, in ein gänzlich anderes Feld literaturbezogener Praktiken. Diesmal geht es um Le- ser_innen, die Handlungsorte literarischer Texte bereisen, auch Literaturtouris- mus genannt. Da sich diese Praktik häufig in der Gruppe vollzieht (z. B. im Kon- text literarischer Stadtführungen), ergibt sich allerdings in dem Aspekt der ›Ver- gemeinschaftung durch Literatur‹ eine erste strukturelle Parallele zum vorange- gangenen Beispiel. Konkret beziehe ich mich hier auf eigene Untersuchungen, die ich im Rahmen meiner Dissertation zum Phänomen des Literaturtourismus durchgeführt habe.31 Literaturtourismus stellt inzwischen eine durchaus etablierte Rezeptionspraktik im Umgang mit Literatur dar. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sich literarische Schauplätze – man denke etwa an ›Sherlock Holmes’ Wohnhaus‹ in der Baker Street 221b in London oder das Lübecker Budden- brookhaus nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann – als Destinatio- nen im Feld des Kulturtourismus erfolgreich platziert haben und eine entspre- chende Angebotsstruktur aufweisen. Dazu zählen z. B. Musealisierungen literari- scher Schauplätze (siehe die Beispiele oben), literaturthematische Führungen und Stadtspaziergänge oder Themenwanderwege im ländlichen Raum.32 Dass es sich beim Literaturtourismus offenkundig um ein Bedürfnis handelt, das viele Le- ser_innen teilen, bestätigen zudem entsprechende »Literary-Traveller«-Blogs und Webseiten im Netz, auf denen mögliche Reiseziele und Erfahrungen zwischen User_innen ausgetauscht werden.33 Von wissenschaftlicher, insbesondere literaturwissenschaftlicher Seite ist die Praktik des Literaturtourismus lange Zeit jedoch marginalisiert worden,34 ob- gleich sie spannende Fragen für eine rezeptionsseitig orientierte Literaturfor- schung aufwirft. In meiner praxeologischen Studie untersuche ich erstens, welche ästhetischen Angebote literarische Texte in ihren Raumkonzeptionen für literatur- touristische Praktiken machen. Im Rahmen von empirischen Feldstudien gehe ich dann zweitens der Frage nach, ob und wie die Texträume (a) von den gestalten- den Akteuren (Museen, Touristiker, Tour Guides etc.) in ortsbezogene Angebote, z. B. Musealisierungen oder Themenwege, übersetzt werden und (b) wie mit die- sen Literaturinszenierungen durch die partizipierenden Leser_innen bzw. Litera- turreisenden umgegangen wird. Übergreifend geht es mir also um die Frage, was 31 Vgl. Knipp: »Begehbare Literatur. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zum Literaturtourismus«. 32 So lässt sich z. B. St. Petersburg aus der Perspektive der Figur ›Raskolnikow‹ aus Dostojewskis Roman Verbrechen und Strafe (1866) erkunden oder Rom anhand der in Dan Browns Illuminati (Angels and Demons, 2000) entworfenen Narration im Raum – dies nur zwei Beispiele. 33 Siehe z. B.http://www.novelexplorations.com, 20.07.2016; http://www.bibliotravel.com, 20.07.2016; http://literarytourist.com/, 20.07.2016. 34 Siehe aber z. B. Watson: »The Literary Tourist« sowie Schaff: »›In the Footsteps of…‹«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 107 RAPHAELA KNIPP mit einem literarischen Text in einem konkreten Handlungszusammenhang ›ge- macht‹ und wie Literatur dabei von den handelnden Akteuren angeignet und er- fahren wird. Damit leitet die Studie ein ähnliches Untersuchungsinteresse wie die Arbeiten von Fuller und Rehberg Sedo, nur ändert sich der kontextuelle Rahmen. Um diese Aspekte zu adressieren, bediene ich mich, wie im vorstehenden Beispiel auch, eines bestimmten Sets an textanalytischen und empirisch-ethnogra- fischen Methoden. Zu ›klassischen‹ Textanalysen treten ethnografische Feldstu- dien, die teilnehmende Beobachtungen an den jeweiligen Orten der Praxis (zum Teil auch unter Einsatz von Foto- und Videokamera), Interviews mit Literaturtou- risten und den Anbietern vor Ort sowie die Sammlung und qualitative Auswer- tung von Dokumenten wie Museumsflyer, touristische Werbebroschüren oder Gästebucheinträge umfassen. Ich werde folgend kurz auf eines von insgesamt drei untersuchten Fallbeispielen näher eingehen – das Genre des sogenannten ›Eifel- Krimi‹ –, um einige der zentralen Ergebnisse meiner Studie zu skizzieren und deutlich zu machen, wie und mit welchem Erkenntnisgewinn dabei die Untersu- chungskategorie der Praktiken relevant wird. Der ›Eifel-Krimi‹ ist ein serielles Genre der populären Regionalkriminallitera- tur der Gegenwart.35 Neben einem wiederkehrenden Figureninventar liegt eine besondere Qualität der Texte in ihrem regionalspezifischen Ortsbezug. Die fikti- ven Handlungen werden jeweils an real nachvollziehbaren Örtlichkeiten der Eifel- Landschaft situiert. Wie meine empirischen Erhebungen zeigen, stellt dieser für die Kriminalromane konstitutive Ortsbezug für viele Leser_innen ein bzw. das reizvolle Lektüremoment dar und hat schließlich eine spezifische Praktik der An- eignung der Texte hervorgebracht: Mit der wachsenden Popularität des Eifel- Krimi suchten in den 1990er Jahren immer häufiger Leser_innen das Tourismus- büro der Stadt Hillesheim auf, um sich dort nach den Schauplätzen der Krimi- Texte zu erkundigen. Ausgehend von diesem Interesse, das, wie mir Manfred Schmitz, Tourismusleiter der Stadt Hillesheim, erläutert, anfangs zunächst über- raschte,36 bemühte man sich in den darauffolgenden Jahren um eine touristische Inwertsetzung der Eifel-Krimi-Texte. Die vor Ort tätigen Gästeführerinnen lasen sämtliche Romane des Genres akribisch auf deren Ortsbezüge hin und entwickel- ten daraus schließlich Themenwanderwege und geführte Touren, die ausgewählte Schauplätze der Texte in einer landschaftlich attraktiven Route miteinander ver- binden. Die Themenwanderwege wurden ferner durch Hinweisschilder markiert 35 Der erste Eifel-Krimi erschien 1989 unter dem Titel Eifel-Blues von Jacques Berndorf. Die Reihe sowie auch die sich in diesem Genre betätigenden Autor_innen sind inzwi- schen stark expandiert. 36 »Die Leute kamen mit den Krimis hierher. Man sah, wie die Leute hier – weil die [Kri- mis, R.K.] ja authentisch sind – die Krimis also wirklich auch als Reiseführer nutzten. […]. Das hat uns aber gesagt: Guck mal, die Leute gehen zu den Schauplätzen, die su- chen das. Das war auch für uns der Anlass, diese Schauplätze durch diesen Wanderweg zu erschließen.« (Interview vom 13.12.2014). NAVIGATIONEN 108 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN (siehe Abb. 2), wozu eine Begleitbroschüre erschienen ist, die einschlägige, schauplatzbezogene Textpassagen aus den Romanen enthält. Abb. 2 u. 3: Hinweisschild am ›Eifel-Krimi-Wanderweg‹ (links) und Lesung während einer literarischen Wanderung (rechts), Quelle: R. Knipp Was es in der (Alltags-)Praxis genau heißt, sich als Leser_in auf einen nach den Angeboten der literarischen Texte gestalteten Themenwanderweg zu begeben, habe ich während meiner teilnehmenden Beobachtung sowie der Interaktion und den Gesprächen mit den daran teilnehmenden Akteuren ›am eigenen Leib‹ erfah- ren können. Es heißt zuallererst, Literatur in einem sehr spezifischen ›medialen‹ Modus zu erleben. Als ›Literaturwanderer‹ bewegt man sich zugleich in einem imaginären als auch in einem ganz materiellen, körperlich erfahrbaren Raum. Mei- ne Studien zeigen ferner, dass die literarischen Texte während der geführten Wanderungen in unterschiedlicher Weise ›medialisiert‹ werden: Wiederholt wer- den einzelne und zu den Schauplätzen passende Textpassagen mündlich rezitiert (zur Oralität im Umgang mit Literatur siehe auch das vorherige Beispiel), es wer- den einzelne Szenen in verteilten Rollen gelesen (siehe Abb. 3) sowie zum Teil auch, in Form von Reenactments,37 von den Teilnehmer_innen körperlich nach- gestellt. Mit Blick auf diese performativen Handlungen lässt sich auch von einer ›verkörperten Lektüre‹ sprechen, die im Kontext des Literaturtourismus vollzo- gen wird. Das, was man sich als Leser_in zuvor kognitiv-imaginär, lesend angeeig- net hat, wird im Rahmen der literaturtouristischen Praktik in eine sinnlich- konkrete Erfahrung übersetzt. Diesen Punkt greift auch Manfred Schmitz im In- terview auf: Sie [die Literaturreisenden, R.K.] wollen ihr Lesehobby mal auf eine andere Art und Weise begleitet haben. Also mal nicht Literatur als Le- seerlebnis haben, sondern vielleicht auch ein bisschen darüber hinaus. […] Wenn ich in dieser authentischen Krimilandschaft bin, [...] wenn 37 Zum Zusammenhang von Reenactment-Praktiken und Literaturtourismus siehe ausführ- lich Knipp: »Nacherlebte Fiktion«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 109 RAPHAELA KNIPP ich das nachvollziehe, bin ich auch Teil des Krimis. Ich [...] kann mich ja in die Handlung hineinversetzen. [...] Also nicht den üblichen Zu- gang, das Buch zu und weg [...], sondern das Buch ein bisschen nach- klingen zu lassen, auf eine ganz eigene Art und Weise.38 Wie bereits in den Studien von Fuller und Rehberg Sedo deutlich wurde, verwei- sen auch Schmitz’ Ausführungen darauf, dass Literaturrezeption deutlich mehr umfasst als das Lesen von Texten und unterschiedliche Medien-/Praktiken im Umgang mit Literatur jeweils spezifische Rezeptionsbedürfnisse von Leser_innen erfüllen. Auch hier spielt es z. B. eine Rolle, mit Gleichgesinnten Literatur ›ge- meinsam‹ zu erleben. Die Relevanz von Medien wird mit Blick auf den Literaturtourismus in zwei- facher Hinsicht sinnfällig: Erstens stellen die ortsgebundene Inszenierung und tou- ristische Inwertsetzung der literarischen Texte durch die gestaltenden Akteure (Touristiker_innen, Gästeführer_innen) spezifische Medienpraktiken im Umgang mit dem Eifel-Krimi dar. Wie die Angebote jeweils ausfallen, hängt dabei zum ei- nen von den ›affordances‹ der Texte ab (Beschreibungsqualität/Detailrealismus der Texte im Hinblick auf den Realraum), den Erwartungen, die das Publikum an die Orte heranträgt, sowie den (touristisch-ökonomischen) Zwecken, die die An- bieter verfolgen. Zweitens stellt aber auch die Begehung der Orte durch die Lite- raturreisenden ihrerseits wiederum eine Form der Medialisierung von Literatur dar, bei der literarische Lektüren bzw. Leseerfahrungen von den handelnden Akt- euren räumlich und körperlich-sinnlich (wieder-)angeeignet werden. Wie die Ein- blicke in das Feld und die Interviews zeigen, liegt eine besondere Qualität der Praktik darin, dass der Literaturtourismus Sinnesmodalitäten adressiert, die bei der Textlektüre qua Medium nicht bzw. nur eingeschränkt bedient werden kön- nen. Der Handlungsraum ›Eifel‹ wird atmosphärisch, visuell, olfaktorisch und taktil erlebbar, gleichzeitig wird die Landschaft durch die literarischen Bezüge ästhe- tisch aufgewertet. Anhand der praxeologischen Untersuchung des Literaturtourismus lässt sich also nachzeichnen, wie durch Literatur bzw. literarische Verfahren eine spezifi- sche Rezeptionspraktik hervorgebracht wird, in der sich literarische Lektüren wiederum auf besondere Weise vermitteln. Es lässt sich aber noch mehr zeigen: Will man nämlich den Eifel-Krimi als Genre sowie seine anhaltende Popularität begreifen, so kommt man meines Erachtens – ganz ähnlich wie es in den Studien von Fuller und Rehberg Sedo im Hinblick auf die Etablierung einer »middlebrow«- Literatur und -Lesekultur deutlich wird – um eine Analyse der auf die Texte be- zogenen Handlungen nicht herum. Erst dadurch gelingt es, spezifische, hier für das literarische Genre des Eifel-Krimi konstitutive Zusammenhänge herauszustellen. Denn wie meine Studien auch zeigen, stehen die Texte bzw. ihre Produktion und die Rezeptionspraktik des Literaturtourismus in einem wechselseitigen Bedin- 38 Interview mit Manfred Schmitz vom 13.12.2014. NAVIGATIONEN 110 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN gungsverhältnis. Die Texte produzieren eine literarische Landschaft, die von Le- ser_innen und Liebhaber_innen des Genres bereist und literaturbezogen angeeig- net wird. Die in der Region stattfindenden touristischen Praktiken bleiben aber wiederum nicht folgenlos für die (Folge-)Produktion der Texte. Autor_innen und Touristiker_innen registrieren, zum Teil sehr bewusst, den Effekt der topogra- fisch-realistischen Schreibweise und kalkulieren mit diesem. Dies geschieht zum Beispiel, indem noch touristisch unerschlossene Ortschaften Eingang in die Texte finden, um deren Bekanntheitsgrad zu steigern,39 oder Autor_innen das Rezepti- onsformat der begleiteten literarischen Wanderung nutzen, um ihre Bücher zu vermarkten und beim Lesepublikum bekannt zu machen.40 4. FAZIT Was folgt nun aus diesen Beispielen und den vorangegangenen theoretischen Aus- führungen? Inwiefern verändert bzw. erweitert ein praxeologischer Ansatz, wie er hier anhand von zwei Untersuchungen exemplarisch vorgeführt wurde, den Blick auf Literatur(rezeption)? Abschließend sollen die Überlegungen unter Punkt 2 und die in Punkt 3 behandelten Beispiele noch einmal reflektiert und zusam- mengeführt werden. Ausgehend von einem ›(media) practice turn‹ in den Medien- und Sozialwissenschaften war es das Ziel dieses Beitrages, die Untersuchungska- tegorie der Praktiken auf ihren Nutzen für die literaturwissenschaftliche Rezepti- onsforschung hin zu befragen. Als Ausgangspunkt diente Couldrys kontroverse Position, »media, not as texts […], but as practice« zu denken, die aufgegriffen wurde, um die rezeptionsästhetische Idee von Literatur(rezeption) als ›Text‹ zu erweitern. Dazu wurden in einem ersten Schritt einige theoretisch-konzeptuelle Überlegungen zur Literaturrezeption als Praktik und der Rolle von Medi- en/Medialität unternommen. Diese theoretischen Überlegungen wurden dann anhand der vorstehend skizzierten Beispiele aus unterschiedlichen Rezeptionsfel- dern exemplarisch veranschaulicht. Was es konkret bedeutet, Literaturrezepti- on(en) als Praktik(en) zu konzipieren und zu untersuchen und worin die Heraus- forderungen des praxeologischen Ansatzes liegen, soll nun noch einmal in drei Punkten pointiert herausgestellt werden: (1) Von den Texten zu den Praktiken: Eine praxeologische Herangehensweise zeichnet sich erstens dadurch aus, dass sich der Aufmerksamkeitsfokus von Text- bedeutungen auf die Frage nach der konkreten Praktik, d. h. dem ›Gebrauch‹ von 39 Wie aus dem Interview mit Manfred Schmitz hervorgeht, tauschen sich die Autor_innen und das Tourismusbüro auch über mögliche Schauplätze aus, die Eingang in die Krimi- nalromane finden sollen. 40 Ein Beispiel dafür ist etwa die Autorin Elke Pistor, die geführte Wanderungen zu den Schauplätzen ihrer Kriminalromane anbietet und dabei aus ihren Texten vorliest (vgl. dazu http://www.elkepistor.de/mordsspaziergang/, 20.07.2016). NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 111 RAPHAELA KNIPP Literatur in bestimmten Rezeptionskontexten verlagert. Für die beiden vorgestell- ten Untersuchungsbeispiele kann, in Anlehnung an Couldry, folgende übergrei- fende Leitfrage (re-)formuliert werden: Was ›machen‹ Leser_innen mit Literatur, bzw. was ›macht‹ Literatur mit Leser_innen in unterschiedlichen sozialen und kul- turellen Feldern? Eine solche Perspektive unterscheidet sich grundlegend von ei- nem rezeptionsästhetischen Ansatz. Den Ausgangspunkt beider Untersuchungen bilden nicht in erster Linie die literarischen Texte in ihrer ästhetischen Dimension und Wirkungsstruktur, sondern die mit ihnen verbundenen Praktiken konkreter Leser_innen in ihren jeweils spezifischen soziokulturellen ›Settings‹. Dies gilt für die organisierten und im Kollektiv praktizierten Literaturgespräche und -performances der von Fuller und Rehberg Sedo untersuchten MREs ebenso wie für die nicht minder kollektiven, körperlichen und raumbezogenen Literatur- praktiken im Feld des Literaturtourismus. Während die Rezeptionsästhetik literarische Rezeptions- und Aneignungsprozesse losgelöst von ihren sozialen, kul- turellen und medialen Bedingungen betrachtet, geht es einer praxeologischen Perspektive genau darum: Unter dem Vorzeichen der Praxeologie geraten das (Alltags-)Handeln und die Alltagskontexte der Literaturrezeption in den Blick. (2) Medialität der Praktiken: Literatur und literaturbezogene Praktiken sind stets auf materielle Vermittlung angewiesen und jede dieser Vermittlungen – ob Textlektüre oder mündliche Lesung – besitzt ihre spezifische Medialität, durch die Literatur auf unterschiedliche Weise(n) erfahrbar gemacht wird. Ein literarischer Text vermittelt sich in der ›stillen‹ Individuallektüre anders als beispielsweise im Kontext der organisierten Literaturgespräche und -performances der MREs oder im Rahmen einer literarischen Wanderung in der Eifellandschaft. Es kommen je- weils ›Medien‹ zum Einsatz, die jedoch nicht als feststehende Entitäten oder ›Ein- zelmedien‹ gedacht werden können, sondern als Ensembles aus Zeichen, Dingen, Körpern, Orten etc., die literarische Inhalte/Texte in einer bestimmten Weise ›performieren‹41. (3) Methodische Öffnung: Der Rekurs auf Praktiken und Praxeologie ermög- licht es drittens, das soziale und mediale Handeln von Leser_innen mit Literatur in den Fokus zu rücken. An die Stelle von impliziten, im literarischen Text antizipier- ten Leser_innen treten damit konkrete, ›empirische‹ Leser_innen oder Le- ser_innengruppen. Dies bedarf zwangsläufig ›empirischer‹ Quellen. Um die jewei- ligen Praktiken aus der Sicht der Akteure zu erschließen, bildet die methodische Öffnung hin zu empirischen bzw. ethnografischen Verfahren ein gewisses a priori. In beiden Untersuchungsbeispielen treten neben tradierte Methoden der Textanalyse qualitative bzw. auch quantitative Verfahren aus der empirischen So- zialforschung und der Ethnografie (Beobachtungen, Interviews, Dokumenten- sammlung etc.). Wie mit diesen ›neuen‹ Datenkorpora von literaturwissenschaftli- cher Seite umzugehen ist, stellt zweifelsohne eine nicht zu unterschätzende Her- 41 Im Sinne von vollziehen bzw. etwas ›in Vollzug‹/›in Handlung‹ setzen. NAVIGATIONEN 112 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN ausforderung für praxeologische Untersuchungen im Bereich der Literaturfor- schung in Zukunft dar. Bei alldem mag sich dem philologisch geschulten Leser abschließend die Fra- ge stellen, die man bereits Couldry kritisch entgegnen müsste: Wenn der Fokus sich auf Praktiken, Akteure und Kontexte im Umgang mit Literatur verlagert, wel- che Rolle spielt dann überhaupt noch die Literatur selbst? Welche Rolle kommt ästhetischen Aspekten zu und muss ein praxeologischer Zugang nicht als eine Kontradiktion literaturwissenschaftlicher Ansätze erscheinen? Auch hierzu lässt sich aus den Ausführungen und behandelten Beispielen eine Antwort ableiten: Grundsätzlich wird deutlich, dass der Untersuchungsfokus zwar ein anderer ist als der der Rezeptionsästhetik wie auch die skizzierten Studien andere Ergebnisse hervorbringen. Das heißt aber letztlich nicht, dass sich ästhetisch-poetologische Fragestellungen und praxeologische Forschung ausschließen müssen bzw. Litera- tur in ihrer ästhetischen Dimension im Kontext einer praxeologischen Perspekti- vierung keine Rolle mehr spielen würde. Vielmehr – und dies zeigen die beiden Beispiele meines Erachtens sehr deutlich – steht die Literatur, auch und gerade in ihrer ästhetischen Dimension, im Zentrum. Es geht jeweils um bestimmte Kon- kretisierungen bzw. Aktualisierungen von Literatur, die ohne die jeweiligen Refe- renztexte so nicht existieren würden. In beiden Fällen ergänzen sich Literatur- und Praktikenforschung: Es lässt sich zeigen, wie aus bestimmten Texten oder Textgenres spezifische literaturbezogene Praktiken hervorgehen, und andersher- um: wie diese Praktiken bestimmte literarische Genres mitformieren – z. B., im Falle der MREs, eine »middlebrow«-Literatur, die ein bestimmtes ästhetisches Raster zu erfüllen hat, oder – in Bezug auf den Eifel-Krimi – die Herausbildung ei- ner touristischen bzw. tourismusaffinen Schreibpraxis. Mein abschließendes Plä- doyer zielt daher nurmehr auf eine Literatur(rezeptions)forschung, die konkreten Leser_innen und ihren sozialen und medialen Praktiken im Umgang mit Literatur stärkere Beachtung schenkt. Die praxeologische Erweiterung eröffnet Zugänge zu verschiedenen alltäglichen Feldern der Literaturrezeption, die durch eine Textanalyse allein letztlich gar nicht sichtbar würden, aber umso dringlicher der Aufmerksamkeit bedürfen, will man gegenwärtige Lese- und Rezeptionskulturen in ihrer Dynamik verstehen. LITERATURVERZEICHNIS Abend, Pablo: Geobrowsing. Google Earth und Co. – Nutzungspraktiken einer digitalen Erde, Bielefeld 2013. Behschnitt, Wolfgang: »Literatur als Praxis. Tegnérs Romanze Axel (1822) als Vor- lesestück«, in: European Journal of Scandinavian Studies (EJSS), Bd. 41, Nr. 2, 2011, S. 117-135. Bender, Cora/Zillinger, Martin (Hrsg.): Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 113 RAPHAELA KNIPP Bierwirth, Maik/Johannsen, Anja/Zeman, Mirna (Hrsg.): Doing Contemporary Lit- erature. Praktiken, Wertungen, Automatismen, München u. a. 2012. Binczek, Natalie/Dembeck, Till/Schäfer, Jörgen (Hrsg.): Handbuch Medien der Li- teratur, Berlin u. a. 2013. Chartier, Roger/Cavallo, Guglielmo (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schrift- rolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M./New York/Paris 1999. Couldry, Nick: »Theorising Media as Practice«, in: Social Semiotics: A Transdisci- plinary Journal in Functional Linguistics, Semiotics and Critical Theory, Bd.14, Nr. 2, 2004, S. 115-132. Couldry, Nick: The Place of Media Power: Pilgrims and Witnesses of the Media Age, London u. a. 2000. Dreschke, Anja/Huynh, Ilham/Knipp, Raphaela/Sittler, David (Hrsg.): Reenact- ments. Medienpraktiken zwischen Wiederholung und kreativer Aneignung, Bielefeld 2016. Elias, Friederike/Franz, Albrecht/Murmann, Henning/Weiser, Ulrich Wilhelm (Hrsg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheore- tischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin/Boston 2014. Fuller, Danielle/Rehberg Sedo, DeNel: Reading Beyond the Book. The Social Practices of Contemporary Literary Culture, New York/London 2013. Fuller, Danielle/Rehberg Sedo, DeNel: »A Reading Spectacle for the Nation: The CBC and ›Canada Reads‹«, in: Journal of Canadian Studies, Bd. 40, Nr. 1, 2006, S. 5-36. Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommuni- kation, Frankfurt a. M. 1988. Habscheid, Stephan/Hrncal, Christine/Knipp, Raphaela/Linz, Erika (Hrsg.): All- tagspraktiken des Publikums: Theater, Literatur, Kunst, Populärkultur (=Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 4), Siegen 2016. Hauptmeier, Helmut/Schmidt, Siegfried J.: Einführung in die Empirische Literatur- wissenschaft, Braunschweig 1985. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 2. Aufl., Mün- chen 1984. Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972. Jauß, Hans Robert: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissen- schaft«, in: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik, 2. Aufl., München 1979, S. 126-162. Johannsen, Anja: »To pimp our minds sachwärts. Ein Plädoyer für eine praxeo- logische Gegenwartsliteraturwissenschaft«, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband: Zukunft der Literatur 2013, S. 179-186. NAVIGATIONEN 114 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Knipp, Raphaela: Begehbare Literatur. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zum Literaturtourismus. Heidelberg, 2017. Knipp, Raphaela: »Nacherlebte Fiktion. Literarische Ortsbegehungen als Reenact- ments textueller Verfahren«, in: Knipp, Raphaela/Dreschke, Anja/Huynh, Il- ham/Sittler, David (Hrsg.): Reenactments. Medienpraktiken zwischen Wie- derholung und kreativer Aneignung, Bielefeld 2016, S. 213-236. Knipp, Raphaela: »Vom Text zum Feld? Zur Rolle ethnographischer Ansätze in der Literaturwissenschaft«, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kultur- wissenschaften, Bd. 13, Nr. 2, 2013, S. 75-85. Long, Elizabeth: Book Clubs. Women and the Uses of Reading in Everyday Life, Chicago/London 2003. Martus, Steffen/Spoerhase, Carlos: »Praxeologie der Literaturwissenschaft«, in: Geschichte der Germanistik 35/36, 2009, S. 89-96. McGurl, Mark: The Program Era: Postwar Fiction and the Rise of Creative Writ- ing, Cambridge/London 2009. Radway, Janice: Reading the Romance. Women, Patriarchy and Popular Litera- ture, Chapel Hill 1984. Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozial- theoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 4, Nr. 32, 2003, S. 282-301. Richterich, Annika: Geomediale Fiktionen. Map Mashups – Zur Renaissance der literarischen Kartographie in der digitalen Literatur, Bielefeld 2014. Schaff, Barbara: »›In the Footsteps of....‹. The Semiotics of Literary Tourism«, in: KulturPoetik, Jg. 11, H. 2, 2011, S. 166-180. Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, 2002. Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/Savigny, Eike von (Hrsg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York, 2011. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, 2. Aufl., Stuttgart 1993. Schröder, Stephan Michael/Grage, Joachim: »Performativität und literarische Prak- tiken: Zum Erkenntnispotential einer Verschränkung von Performativitätsfor- schung und Praxistheorie«, in: Schröder, Stephan Michael/Grage, Joachim (Hrsg.): Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900. Fallstudien, Würz- burg 2012, S. 7-35. Seibert, Peter: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklä- rung und Vormärz, Stuttgart/Weimar 1993. Sexl, Martin: »Lesend die Welt erfahren«, in: Bilstein, Johannes/Peskoller, Helga (Hrsg.): Erfahrung – Erfahrungen, Wiesbaden 2012, S. 159-180. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 115 RAPHAELA KNIPP Sexl, Martin: Literatur und Erfahrung. Ästhetische Erfahrung als Reflexionsinstanz von Alltags- und Berufswissen. Eine empirische Studie, Innsbruck 2003. Spoerhase, Carlos: »›Manuscript für Freunde‹. Die materielle Textualität literari- scher Netzwerke, 1760-1830 (Gleim, Klopstock, Lavater, Fichte, Reinhold, Goethe)«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 88, Nr. 2, 2014, S. 172-205. Strasen, Sven: Rezeptionstheorie: Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle, Trier 2008. Watson, Nicola J.: The Literary Tourist. Readers and Places in Romantic and Vic- torian Britain, Basingstoke u. a. 2006. Zyngier, Sonia/Bortolussi,Marisa/Chesnokova, Anna/Auracher, Jan: (Hrsg.): Direc- tions in Empirical Literary Studies. In Honor of Willie van Peer, Amster- dam/Philadelphia 2008. ZITIERTE LITERARISCHE WERKE Berndorf, Jacques: Eifel-Blues, Dortmund1989. Brown, Dan: Illuminati [Angels and Demons], Köln 2000. Dostojewski, Fjodor: Verbrechen und Strafe [Prestuplenie i nakazanie], Frankfurt a. M. 1866. NAVIGATIONEN 116 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN Apparative Radioexperimente in der Weimarer Republik V O N C H R I S T O P H B O R B A C H Für den Rundfunk, diese wundervolle Synthese von Technik und Kunst auf dem Weg der Übermittlung, gilt der Satz: Im Anfang war das Experiment.1 Hans Flesch, 1930 1. MEDIENGESCHICHTE ≠ MEDIENPRAKTIK Was Mediengeschichten anhand von Patenten oder reine Technikgeschichten meist verschweigen, ist Mediennutzung – die Art und Weise wie mit Medien agiert wurde. Somit stellt sich medienhistorischen Analysen die Frage nach den Prakti- ken meist nicht. Aber nicht allein im medienhistorischen, sondern auch im medi- entheoretischen Diskurs bleibt die Frage nach der Medienpraktik oft ein blinder Fleck. Die klassische ›German Media Theory‹ proklamierte mit einer von Fried- rich Kittler bestimmten Perspektivierung stets die Begrenzung der Nutzer_innen mit ihrem ›Computeranalphabetismus‹ durch das Black Boxing der Geräte. Sie fo- kussierte dabei auf die Normen, Standards und somit Gleichschaltungen der tech- nischen Medien. Dagegen erlaubt uns der Begriff der Medienpraktik mit Kittler über Kittler hinauszugehen. Denn wenn sich an der dissimulatio artis der techni- schen Medien erst gestoßen wird, »wenn etwas schiefgeht«2, ist es apparative Medienpraktik, die eine epistemologische Hinwendung zur Eigenlogik technischer Medien benennen kann. Der Fokus dieses Aufsatzes liegt nach einer historischen Kontextualisierung auf Szenarien der Rückbesinnung auf ein mögliches ›Arteigenes des Radios‹ in der Weimarer Republik, ausgehend vom radiotheoretischen Kerntext Bertolt Brechts »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«. Hieran anschließend wird versucht, die Brecht’sche Radiopraktik in die apparative Radiolandschaft der 1930er einzu- betten. Denn keineswegs war Brechts Radiopraktik ein Unikum in der von der Radiopolitik der Weimarer Republik beeinflussten Radioästhetik, von welcher er sich als Gegenpol abzugrenzen versuchte. Abschließend werden die Überlegung- en unter Fokussierung einer der Rundfunktechnik verwandten Medientechnik, der Radartechnik, zum Begriff der »Medienpraktik« rückgebunden. Im Anschluss an das Argument von Erhard Schüttpelz, dass Medienpraktiken nicht notwendi- 1 Flesch: »Das Studio der Berliner Funkstunde«, S. 117. 2 Kittler: »Gleichschaltungen«, S. 255. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN CHRISTOPH BORBACH gerweise zwischen Mensch und Medium, sondern auch im Einzelmedium und zwischen technischen Medien stattfinden3, wird versucht, den Begriff der »Medi- enpraktik« definitorisch zu schärfen und einzugrenzen. Denn der vorliegende Bei- trag versteht sich als ein Plädoyer dafür, dass der Mensch durchaus notwendig für den Begriff der »Medienpraktik« ist, jedoch für eine gegenseitige Verfertigung von Medium und Praktik (und auf diese sollte der Begriff der »Medienpraktik« referie- ren) eine bestimmte Handlungseinstellung gegenüber technischen Medien not- wendig ist, wie sie in den hier fokussierten Fallbeispielen auffindbar ist. Die unter- suchten Radioexperimente als Medienpraktiken vollziehen sich nämlich nicht – im besten Sinne – oberflächlich als Mediumsnutzung. Vielmehr verstanden die Radio- Experimentatoren, die Erwähnung finden werden, das Medium selbst als Bot- schaft im Sinne Marshall McLuhans. Das heißt, sie schauten unter die Oberfläche des Mediums, hinein in die Black Box und betrachteten die elektrotechnischen Grundlagen des Radios. Sicher, es gibt eine unübersichtliche Menge an Forschungsliteratur zu Bertolt Brecht im Allgemeinen, zu seiner so genannten Radiotheorie im Besonderen so- wie zur Radiolandschaft der Weimarer Republik. Worin also, ließe sich berechtig- terweise fragen, liegt das Potenzial eines Aufsatzes, der seinen primären Fokus auf eben dies unter dem Aspekt der »Medienpraktik« legt? Es soll keineswegs An- liegen sein, die apparative Auseinandersetzung mit dem Radio in der Weimarer Republik zu beschreiben und dabei das Wort »Radioschaffen« schlicht durch den Begriff »Medienpraktik« zu ersetzen. Dies wäre allenfalls ein inflationärer Begriffs- gebrauch. Genau umgekehrt liegt das Brisante darin begründet, das Brecht’sche Radioschaffen als Ausgangspunkt zu nehmen, um mit diesem eine Präzisierung des Begriffs »Medienpraktik« vorzunehmen. Denn am Fallbeispiel Brecht lässt sich die wechselseitige Verfertigung von einerseits Theorie, andererseits Praxis ablesen, wobei es nicht nur schwer, sondern unratsam erscheint, das Eine als dem Ande- ren vorgelagert zu beschreiben.4 Radiotheorie ist hier keine Vorbedingung für ap- parative Radioexperimente, sondern beides ist reziprok aufeinander bezogen und kulminiert als untrennbare Zweiheit in einer Radiopraktik: Der theoretisch unter- mauerten Handlungsweise, wie der Umgang mit dem Medium Radio ausgestaltet werden soll. Dass der Begriff des Politischen in diesem Kontext sehr technisch verstanden werden muss, verdeutlicht der Begriff der Gleichschaltung, der gerade nicht ori- ginär einem politischen, sondern einem elektrotechnischen Diskurs entstammt, 3 Vgl. Schüttpelz: »Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien«. 4 Zu dieser Einsicht gelangt auch Dieter Wöhrle, wenn er auf die wechselseitige Bedingt- heit von Experiment und Theorie in Brechts Radiopraktik referiert, Wöhrle: »Das Ra- dioexperiment ›Der Lindberghflug‹«, S. 52. Im Vermeiden der Frage nach Originalität von entweder Theorie oder Praxis liegt im Übrigen Michel Foucaults Interesse an der Archäologie als einem geisteswissenschaftlichem Forschungsfeld, Foucault: »›Die Ord- nung der Dinge‹«, S. 645. NAVIGATIONEN 118 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN hier: Der technischen Vereinheitlichung von Rundfunkempfängern und dem Ver- bot, mit diesen zu experimentieren5. 2. GLEICHSCHALTUNG Der Anfangspunkt des Radios der Weimarer Republik, nämlich die ›Eröffnung des deutschen Unterhaltungsrundfunks‹ am 29.10.1923 im Berliner Vox-Haus durch den späteren Reichs-Rundfunk-Kommissar Hans Bredow, markierte zugleich ei- nen Endpunkt. Und zwar einen Endpunkt in Bezug auf die Frage, wie man sich das Radio als Massenmedium von staatlicher Seite aus vorstellte. Denn die Freiga- be des Mediums »für die Allgemeinheit«, so Bredow 19236, war die Freigabe ei- nes Mediums, das ein anderes war, als noch zu Zeiten des Ersten Weltkriegs7 oder zu Zeiten des kolonialen Kriegs in »Deutsch-Südwestafrika«8. Die eindeutige »Differenzierung zwischen dem Radio als Befehls- und Nachrichtenmedium, das heißt als Wechselsprechanlage, und dem Radio als Unterhaltungsmedium, das ausschließlich Hörer kennt« war vor 1923 noch nicht gegeben, ja, es schienen in der Funktechnik Formen des Nur-Hörens und Nur-Sendens im Radio sogar als »perverse Formen des Gebrauchs«9 – wenngleich die gemeinhin als erste Radio- sendung titulierte funktechnische Sendung von Musik durch den Kanadier Regi- nald Fessenden am Heiligabend 1906 die Programmspezifik des Rundfunks der Weimarer Republik schon vorwegnahm.10 Diente der Rundfunk im Ersten Weltkrieg noch der wechselseitigen Kom- munikation, der Unterhaltung, lag das normative Moment des Rundfunks der 5 Auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bescheinigten dem Radio ein per se politisches, nämlich autoritäres Prinzip medientechnisch abzubilden, Adorno/Horkheimer: »Kulturindustrie«, S. 129-130. Das Radio als Massenmedium hatte so in den 1920er Jahren ein radiophones Bewusstsein in der Gesellschaft geschaffen, wobei seine systemische Anordnung die kommunikative und somit Macht-Struktur des Hitlerfaschismus schon vorwegnahm. 6 Bredow: »Dem ›Deutschen Rundfunk‹ zum Geleit«, S. 1. Eben jene Formulierung Bre- dows nahm Bertolt Brecht sogleich als Ausgangspunkt für Radiokritik, denn »[n]icht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit (...)«, Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, S. 138. 7 Hierzu Bredow: »Im Banne der Ätherwellen«. 8 Hierzu Gethmann: »Der Sicherheitston«, S. 46-48. 9 Siegert: »Eskalation eines Mediums«, S. 18. 10 Obgleich sich der ausgebildete Elektriker Fessenden der Möglichkeit des gleichzeitigen Sendens und Empfangens von Impulsen und Signalen in einem technischen Gerät durch- aus bewusst war, wie es seine Pionierarbeit am Aktivsonar zeigt. Im Januar 1913 über- reichte Fessenden der Bostoner Submarine Signal Company seinen Vibrator, später Fessenden Oszillator genannt, mit welchem Unterwasserimpulse zur Ortung von Eis- bergen gesendet und empfangen werden konnten. Dennoch wurde der Oszillator sei- tens des Bostoner Auftraggebers zunächst als reines Unterwasser-Telegraphiesystem vermarktet statt als Ortungstechnologie. Siehe Frost: »Inventing Schemes and Strate- gies«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 119 CHRISTOPH BORBACH Weimarer Republik (und nicht nur dort) im bloßen Empfangen. Diese radiophone Akzentverschiebung ergab sich jedoch nicht schlicht, sondern war Ergebnis staat- licher Restriktion. Die Normierung der Radiogeräte in der Weimarer Republik (in anderen Worten: ihre Gleichschaltung) sah unter staatlichem Reglement vor, dass zum ›Schutz des funkentelegraphischen Verkehrs‹ der Rundfunk als ziviles Medi- um von Anbeginn an, 1923, kontrolliert wurde, insofern das unbefugte Mithören und selbstredend auch das eigene Senden mit Spionage gleichgestellt wurde. Ent- sprechend musste der Besitz und Betrieb eines Radioempfängers zunächst beim Fernsprechamt beantragt und zugelassen werden, wobei die Zulassung des Ge- räts sogleich mit einem erneuten ›Missbrauch von Heeresgerät‹11 einherging: Sei- ner Limitierung auf Normen und Standards des Staates. Denn sämtliche Geräte waren durch die Reichstelegraphenverwaltung (RTV) plombiert, sodass allein be- stimmte Frequenzen empfangen werden konnten und insbesondere der materiel- le Eingriff zur Modifizierung des Apparats erschwert wurde.12 Die Initiative zur Einführung eines deutschen Unterhaltungsrundfunks ging von der Deutschen Reichspost aus, die aufgrund des Telegraphengesetzes von 1892 über Funkhoheit verfügte. Der erste Paragraph des Gesetzes sicherte der Reichspost das alleinige Recht zu, Telegraphenanlagen zu errichten und zu betrei- ben, was nach dem im Jahr 1908 eingefügten Zusatz auch Funkanlagen beinhalte- te.13 Geleitet wurde die Initiative durch die Erklärung des Rundfunks zum ›Kul- turfaktor‹, wie es Hans Bredows Vision war: »Erholung, Unterhaltung und Ab- wechslung lenken den Geist von den schweren Sorgen des Alltags ab, erfrischen und steigern die Arbeitsfreude; aber ein freudloses Volk wird arbeitsunlustig. Hier setzt die Aufgabe des Rundfunks ein.«14 Die Kehrseite jener so positivistisch- optimistischen Maxime ist jedoch hochpolitisch in dreierlei Dimensionen. Zum ei- nen zeigt sein Radioansatz die Grundannahme, dass das deutsche Volk durch den Rundfunk tatsächlich ›gelenkt‹, in welchem Sinne auch immer, werden könne. Zweitens legt er implizit die inhaltliche Ausrichtung des Rundfunks der Weimarer Republik fest, wenn dieser der »Erholung, Unterhaltung« dienen sollte, was zu- 11 Das Senden von Unterhaltungsprogramm über ›Heeresfunkgerät‹ wurde im Ersten Weltkrieg noch als ›Missbrauch von Heeresgerät‹ bezeichnet. Kittler: »Grammophon Film Typewriter«, S. 149, dort im Zitat Wedel: »Die Propagandatruppen der deutschen Wehmacht«, S. 12. 1923 nun war es eben jener ›Missbrauch‹, der zum normativen Prin- zip des Rundfunks werden sollte. 12 Lerg: »Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik«, S. 60. Kittler dramatisiert bewusst polemisch: »Definition von Rundfunk ist es folglich: plombiert zu sein gegen den Emp- fang der Wahrheit (von ihrer Ausstrahlung ganz zu schweigen).« Kittler: »Rockmusik – Ein Mißbrauch von Heeresgerät«, S. 94. 13 In der Novelle zum Telegraphengesetz vom 07.03.1908, dem »Gesetz zur Abänderung des Telegraphengesetzes«, heißt es: »Elektrische Telegraphenanlagen, welche ohne me- tallische Leitungen Nachrichten vermitteln, dürfen nur mit Genehmigung des Reiches errichtet oder betrieben werden.« Zitiert nach Lerg: »Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik«, S. 30-31. 14 Bredow: »Dem ›deutschen Rundfunk zum Geleit«, S. 1. NAVIGATIONEN 120 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN gleich die Legitimation war, ihn vollständig von politischen Inhalten zu befreien. Zum dritten, genauso implizit, besagt der Kulturauftrag die Passivität des Empfän- gers, der eben ›gelenkt‹ wird, statt selbst zu lenken. Rundfunk war demnach Sa- che des Staates, was seine inhaltliche Programmgestaltung, aber auch seine Tech- nik bestimmte. Nach Artikel 48 der Reichsverfassung wurde 1924 eine (Not-)Verordnung erlassen, die »Verordnung zum Schutze des Funkverkehrs vom 8. März 1924«, die am 4. April 1924 in Kraft trat: »Man war nämlich der Ansicht, daß auch Empfangs- anlagen mit nur geringen Veränderungen zu Sendern umgebaut werden könnten. Auf diese Weise könnte ein der Staatsgewalt entzogenes, geheimes Nachrichten- netz entstehen.«15 Entsprechend fügte der Reichspostminister dem Text der Notverordnung als Erklärung bei: Die Zahl geheimer Funkanlagen ist in steter Zunahme begriffen. Das Bestehen solcher Anlagen gefährdet ernstlich die Sicherheit des Staa- tes und der öffentlichen Ordnung, da sie für staatsumstürzlerische Kreise die Möglichkeit bieten, sich ein umfassendes geheimes Nach- richtennetz zu schaffen, das in Fällen von Gefahr die Durchführung von Maßnahmen der verfassungsmäßigen Regierung ernstlich gefähr- den kann.16 In der Notverordnung heißt es: §1 Sendeeinrichtungen und Empfangseinrichtungen jeder Art, die ge- eignet sind, Nachrichten, Zeichen, Bilder oder Töne auf elektrischem Wege ohne Verbindungsleitungen oder mit elektrischen, an einem Leiter geführten Schwingungen zu übermitteln oder zu empfangen (Funkanlagen), dürfen, soweit es sich nicht um Einrichtungen der Reichswehr handelt, nur mit Genehmigung der Reichstelegraphen- verwaltung errichtet oder betrieben werden. (…) §2 Wer vorsätzlich entgegen den Bestimmungen dieser Verordnung eine Funkanlage (§1) errichtet oder betreibt, wird mit Gefängnis be- straft. Der Versuch ist strafbar.17 Die Möglichkeit rundfunktechnischen Sendens war somit nicht schlicht eine tech- nische Möglichkeit des Radios. Vielmehr galt das private Senden durch Radio- Amateure in Erinnerung an den so genannten ›Funkerspuk‹ der unmittelbaren Nachkriegszeit 1919 als eine subversive, sicherheitspolitische Bedrohung erster Güte und als eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung des Staates. Bedeutet 15 Lerg: »Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik«, S. 94. 16 Ebd., S. 99, Brief vom 03.03.1924. 17 Ebd., S. 101. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 121 CHRISTOPH BORBACH Gleichschaltung »stets die Aufhebung unkontrollierter Selbständigkeit«18 (und ist sie im Übrigen das Gegenteil des Experimentellen), ist die künstliche Limitierung des Radios auf einen passiven Empfänger hin ein höchst politischer Akt. Dieser findet nicht auf inhaltlicher Ebene, sondern materiell als Restriktion der techni- schen Operativität statt, als dass nun »Normen und Standards jedem Benutzer- eingriff entzogen bleiben«19. Und sich Rundfunk als Technik damit selbst dissimu- liert.20 Mit etwas Zeitverzug wirkte dies wiederum auf die ›construction prac- tices‹ technischer Medien – wie eben dem Radio – rück und es gilt für dieses, was man 1948 am Radiation Laboratory des Massachusetts Institute of Technology in Hinblick auf die Ausdifferenzierung in Messmedien einerseits, Massenmedien an- dererseits feststellte. Zweitere seien gekennzeichnet durch kompakte Bauweise, Robustheit und Unempfindlichkeit (»ruggedness«), Portabilität, garantierte Min- destleistungsfähigkeit und eben durch wenige Korrekturen, die der/die Nutzer_in selbst vornehmen muss (und soll und vor allem kann).21 So viel zu den Geburtsjahren des deutschen Unterhaltungs-Rundfunks, die erstens für seine Ausdifferenzierung in Sender und Empfänger und damit für die Erscheinung des Radios konstitutiv sind und zweitens gesetzlich festschrieben, dass mit den Rundfunkgeräten nicht privat im Frequenzhoheitsbereich des Staates experimentiert werden durfte. 3. MEDIENPRAKTIK DES RÜCKKANALS Das Zeitalter der technischen Gleichschaltung, das weder durch Kunstwerke noch Unterhaltungsmedien, sondern Colts Revolver, mithin einem Waffensystem startete22, brachte einen dromologischen wie ökonomischen Vorteil gegenüber vorherigen Epochen mit sich, da es einen industriellen Herstellungsprozess er- laubte. Durch die Gleichschaltung von Elektronik – also Gleich-Schaltung als sol- che – erst wurde die buchstäbliche Umschaltung von vielen Einzelmedien hin zu noch mehr Massenmedien denk- und umsetzbar. Dass jeder Radio-Empfänger trotzdem noch immer ein potenzieller Sender sein kann, wurde durch das staatli- che Sendeverbot in der Weimarer Republik lange Zeit vergessen, bis Hans Magnus Enzensberger 1970 wieder daran erinnerte: »Die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger. Jedes Transis- torradio ist, von seinem Bauprinzip her, zugleich ein potentieller Sender.«23 Ge- nau aus dieser technischen Erkenntnis bestand auch der Kern von Bertolt Brechts 18 Dahrendorf: »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«, S. 436. 19 Kittler: »Gleichschaltungen«, S. 255. 20 Denn »(…) simulieren besagt, zu bejahen, was nicht ist, und dissimulieren besagt, zu verneinen, was ist (…)«. Kittler: »Fiktion und Simulation 1«, S. 271. 21 Proctor u. a.: »The Design and Construction of Electronic Apparatus«, S. 691. 22 Kittler: »Gleichschaltungen«, besonders S. 258. 23 Enzensberger: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, S. 160. NAVIGATIONEN 122 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN Radiotheorie, wenn er den radiophonen Rückkanal technisch statt diskursiv wie- der zu installieren beabsichtigte. Es ist dieser technische Begriff des Kanals, der bei Bertolt Brecht als einem Nicht-Ingenieur das erste Mal in Deutschland medi- entheoretische Verwendung erfährt, wenngleich Brecht ihn allein an einer Stelle nutzte und er sonst in der Latenz verharrt. Brecht ging es zunächst nicht um eine genuine Radiokunst, die dem techni- schen Zeitgeist des Rundfunks entspräche oder darum, Formate an die ästheti- schen Bedürfnisse des Radios anzupassen. »Jede andere Reproduktion unserer Theaterstücke ist für sie besser als die des Theaters«24, formulierte Brecht noch 1927. Dies änderte sich dahingehend, dass er nicht mehr im Theaterformat dach- te, sondern als »Medienpraktiker« seinem radiopraktischen Schaffen radiotheore- tische Reflexionen anbei stellte und seinen Fokus nicht mehr auf die Inhaltsdimen- sion des Radios, sondern das technische Medium selbst richtete. Um zu einer ei- genen Radiotheorie zu finden, musste Brecht also zunächst einmal Inhalte über- winden und Radiogeräte als Realien nach eigenem Recht anerkennen. Und das heißt, in konsequenter Tradition des Radios als Kriegsmedium im frühen 20. Jahr- hundert, das Radio als Wechselsprechanlage zu verstehen: Nicht allein als passi- ven Empfänger, sondern zugleich als aktiven Sender. Ein Modell, wie er den Rundfunk umzugestalten suchte, lieferte Brecht mit seinem ›Radiolehrstück‹: Dem im Rahmen der Baden-Badener Musikwoche 1929 aufgeführten Radioexperiment »Der Ozeanflug«25, wie er in einem Text erläuter- te.26 Der Sinn des Stückes lag in einer Verschaltung von Radio und Hörer, wobei die Übenden, gemeint sind die Hörer auf einem von zwei Bühnenteilen, allein funkisch in Kontakt mit einem Orchester standen: »Auf diese Art entsteht eine Zusammenarbeit zwischen Apparat und Übendem, wobei es mehr auf Genauig- keit als auf Ausdruck ankommt.«27 Sein Radioexperiment war also nicht schlicht Experiment im, sondern mit dem Radio, wobei das Novum des Brecht’schen Ra- dioexperiments eben darin bestand, dass beide Bühnenteile aufeinander in Dia- logstruktur reagierten.28 Ausdrücklich hatte dieses Setting keinen Kunstwert, sondern verstand sich als Lehrgegenstand für einen aktiven Umgang des Hörers mit dem Medium Radio, als ein experimentelles Proben des Aufstandes, dem »Aufstand des Hörers, seine Aktivisierung und seine Wiedereinsetzung als Produ- zent.«29 24 Brecht: »Junges Drama und Rundfunk«, S. 189. 25 Das Stück trug zunächst den Titel »Der Lindberghflug«, später »Der Flug der Lind- berghs« und letztlich lediglich »Der Ozeanflug«, um der Identifikation des ›Hö- rers‹/›Übenden‹ mit dem Helden, der Person Charles Lindbergh, gemäß der Brecht’schen Theorie des epischen Theaters vorzubeugen. Der Begriff ›Radiolehrstück‹ ist eine Anlehnung an sein episches ›Lehrstücktheater‹. 26 Brecht: »Erläuterungen zum ›Ozeanflug‹«, S. 134-137. 27 Ebd., S. 135. 28 Hierzu Wöhrle: »Das Radioexperiment«, S. 55-57. 29 Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, S. 136. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 123 CHRISTOPH BORBACH Theoretisch unterfüttert wurde dieses Radioexperiment durch seinen Text »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, der erst 1932 veröffentlicht wurde. Der Text ist Brechts zweiter Radiophase zuzurechnen, jener, in der er das Medi- um, statt es schlicht zu beliefern, zu verändern suchte. Brecht verfolgte in diesem die These, dass die Erfindung des Radios als ziviles Medium nicht aus einer Not- wendigkeit heraus erfolgte, sondern als eine Art Zufallsprodukt entstand, was sich an der Gestaltung des Sendeprogramms zeige, welches konventionelle Aus- drucksformen schlicht übertrage, ohne sie auf die Spezifik des Mediums hin anzu- passen. Das Radio sei eine »Erfindung, die nicht bestellt« war und seine Existenzle- gitimation erst noch beweisen müsse, denn technische Möglichkeiten allein wür- den Medien nicht legitimieren, vielmehr bräuchten sie einen gesellschaftlichen Nutzen und vor allem ein gesellschaftliches Bedürfnis.30 So stand, vermeintlich, zum Einen einem staatlichem Bedürfnis nach Verbreitung des Rundfunks kein äquivalentes Bedürfnis nach Rundfunk in der Gesellschaft gegenüber. Zum Ande- ren, wenn nun die Möglichkeit bestand, »allen alles zu sagen«, bräuchten die Rundfunkinhalte auch eine ihnen medientechnisch entsprechende Form statt schlicht Theater, Oper, Konzert oder Vortrag zu übertragen. Im Folgenden for- mulierte Brecht die radikalste Forderung, die vor dem Hintergrund der Radio- landschaft der Weimarer Republik formuliert werden konnte: Der Rundfunk solle nicht einseitig gerichtet senden, er solle auch die Seite der vormals stummen Kommunikationspartner berücksichtigen, das Radio solle senden und empfangen gleichermaßen, um »den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten zu begegnen«31: Um nun positiv zu werden, das heißt, um das Positive am Rundfunk aufzustöbern, ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommuni- kationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar groß- artigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein unge- heures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.32 Bertolt Brechts in der Praxis vorgeführte Theorie stellt somit beiden politischen Dimensionen von Bredows Radiokonzept eine Radiopraktik gegenüber, die sich erstens auf die Inhalte des Rundfunks auswirkte und zweitens damit und dadurch die materielle Neunormierung des Radios beabsichtigte. Beide Ebenen, die des neuen Inhalts und die der veränderten medientechnischen Form, sind, das ist ent- scheidend, gleichermaßen politisch. Denn einerseits ist das materielle ›Hacken‹ 30 Ebd., S. 138. Kursiv im Original. 31 Ebd., S. 143. 32 Ebd., S. 140-141. NAVIGATIONEN 124 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN des Radios Bedingung für die buchstäbliche Aktivierung des vormals passiven Empfängers (Praxis). Und wenn zweitens im Sinne Marshall McLuhans das Medi- um die Botschaft ist, materialisiert das Brecht’sche Radiokonzept Mündigkeit als solche, wenn sie dem vormals stummen Empfänger eine Stimme, zumal in der Semantik politischer Mitbestimmung, verleiht (Theorie). Beides zusammen, das Radioexperiment in der Praxis und die dazugehörige Radiotheorie, für die das Ex- periment ein Beispiel der Überführung des Empfangs- in einen Kommunikations- apparat ist, ergeben Brechts Radiopraktik. Denn durch die theoretische Unterfüt- terung der experimentellen Praxis erlangt diese den Status einer verfertigten Handlungsweise, wie das Radio exemplarisch zu gebrauchen sei und ist somit ein auf ein Ziel hin ausgerichtetes, konditioniertes Vorgehen statt singulärer Selbst- zweck. Zudem ist die technische Wiederinstallation des radiophonen Rückkanals zugleich die Installation eines Rückkanals vom Akteur zum Medium, wodurch sich technisches Medium und Mediumpraktik33 tatsächlich gegenseitig konstituieren. 4. THEORIE ⇔ PRAXIS = PRAKTIK Doch keinesfalls ist das Brecht’sche Radioexperiment singulär für die Radioland- schaft der Weimarer Republik. War ihr Rundfunk zwar explizit von allem Politi- schem befreit, schloss der ›Kulturauftrag‹ des Rundfunks die, solange genehmigt, experimentelle Suche nach neuen Ausdrucksformen, die auf dem technischen Stand ihrer Zeit waren, implizit ein. So ist das Format des ›Hörspiels‹ eine genuin radiospezifische Ausdrucksform, die entwickelt wurde. Wenngleich der Begriff des Hörspiels schon von Friedrich Nietzsche genutzt wurde, geht seine Verwen- dung als terminus technicus auf Hans Siebert von Heister zurück, den Redakteur der Programmzeitschrift »Der Deutsche Rundfunk«, der im August 1924 damit auf »das arteigene Spiel des Rundfunks« referierte, »das in uns die Illusion einer unmittelbar vor unserem Ohr sich abwickelnden lebendigen Handlung zu erwe- cken vermag.«34 Und sogleich das erste Hörspiel, Hans Fleschs selbstreferentielle »Zauberei auf dem Sender«, Erstausstrahlung am 24.10.1924, war von besonders ›arteigenem Spiel‹, als es mit dem Hören spielte und sich selbstreflexiv zum Inhalt hatte: Störungen des Sendebetriebs im Frankfurter Sender an eben jenem 24.10.1924 – eine Referenz des Rundfunks auf sich selbst, in welcher Hans Flesch, der im Hörspiel sich selbst spielte, seinem tatsächlichen Kollegen Ernst Schoen die Gretchenfrage des Rundfunks stellte: »Herr Schön [sic], halten Sie es für mög- lich – ich meine – ganz im Prinzip, daß eine Musik ertönt, die tatsächlich nirgends gespielt wird?«35 Denn wie von Solveig Ottmann herausgearbeitet, ist das Schaf- 33 Der Singular ist bewusst gewählt. Denn statt von »den Medien« und »den Medienprakti- ken« zu sprechen, respektive zu schreiben, erlaubt die Vermeidung des Plurals die Be- tonung der Fokussierung auf das technische Gerät. 34 Zitiert nach Ladler: »Hörspielforschung«, S. 52. 35 Flesch: »Zauberei auf dem Sender«, S. 544. Hierzu ausführlicher Hagen: »Der Neue Mensch und die Störung«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 125 CHRISTOPH BORBACH fen früher Radiopioniere, hier am Beispiel von Ernst Schoen und Hans Flesch ver- deutlicht, durch hohe Experimentierfreudigkeit gekennzeichnet. Ernst Schoen verstehe »das Radio also als Medium und Experimentierfeld, das nicht einfach ge- nutzt werden kann, sondern mit dem gearbeitet werden muss (...)« und »Hans Flesch versuchte den Rundfunk von der Apparatur her zu denken und immer die Maschinerie als solche in seine Überlegungen mit einzubeziehen.«36 Am 18.08.1929 eröffnete die Sendereihe »Studio« der Berliner »Funk- Stunde«, die im Feld einer adäquaten Radiokunst experimentierte, für welche Hans Flesch die Aufgaben und Ziele definierte und das Experimentelle des Studios betonte.37 Insofern war das »Studio« eine Art Labor für Hörfunkpraktiker und er- füllte zumindest eine der Forderungen Bertolt Brechts, die er in seinen »Vor- schlägen für den Intendanten des Rundfunks« (1927) an den damaligen Intendan- ten des Berliner Rundfunks Carl Hagemann richtete: »Sie müssen ein Studio ein- richten. Es ist ohne Experiment einfach nicht möglich, Ihre Apparate oder das, was für sie gemacht wird, voll auszuwerten.«38 Aber die Suche nach rundfunkspezifischen Ausdrucksformen brachte nicht al- lein innovative Formate, sondern auch apparative Neuerungen hervor. Nicht nur am Brecht’schen Fallbeispiel lässt sich die gegenseitige Beeinflussung von prakti- schem Experiment und theoretischer Fundierung belegen, wenn es um die frühen Jahre des deutschen Rundfunks und die Suche nach einer genuinen Radioform geht – wie zum Beispiel an der Frage, wie sich eine Rückbesinnung auf das ›Artei- gene des Radios‹ gestalten kann, wenn der Neuartigkeit des technischen Mas- senmediums soundästhetisch Sorge getragen wird. Auch Kurt Weill kritisierte den unpolitischen Rundfunk der Weimarer Repub- lik. Als Fachkenner des Mediums Radio und von Musik gleichermaßen erkannte Weill, dass bloße Übertragungen dem Medium Radio nicht gerecht werden und war Verfechter einer ›Absoluten Radiokunst‹ in Anlehnung an den Absoluten Film als Teilgebiet der Abstrakten Kunst. Unter dieser wird zunächst eine künstleri- sche Äußerung ohne Gegenstandsbezug verstanden; eine Kunst also, die ihre Le- gitimation in sich selbst enthält, statt zu imitieren oder zu reproduzieren. »Mög- lichkeiten absoluter Radiokunst« lautet Weills entsprechender programmatischer Artikel, welcher 1925 im 26. Heft vom »Der Deutsche Rundfunk« erschien, in welchem er dafür plädierte, dass sich die Absolute Radiokunst am Vorbild des Abstrakten Films orientieren solle.39 Hatte der Film die Möglichkeit, ungeahnte und irreale Gebilde sich in der Zeit bewegen zu lassen und somit etwas revolutio- 36 Ottmann: »Im Anfang war das Experiment«, S. 263 und 264. 37 Flesch: »Das Studio der Berliner Funkstunde«, S. 119. 38 Brecht: »Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks«, S. 133. 39 Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«. Obgleich er in diesem Artikel auf den uto- pischen Charakter der Forderung zu jener Zeit eingeht: Ob das Vorhaben eine Utopie bleibe, hinge ganz allein vom technischen Fortschritt ab, denn »schließlich wäre im Jahre 1910 auch der absolute Film technisch unzulänglich oder gar unmöglich gewesen.« Ebd., S. 195. NAVIGATIONEN 126 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN när Neues zu schaffen, so sollte dem Rundfunk auch eben solches zukommen: Genuin technische Klänge sollten zum soundästhetischen Ideal der Radiokunst werden. Weill stand damit in der Tradition des Kunstideals seines Lehrers Ferruccio Busoni und bezog sich auf seinen 1907 erstveröffentlichten Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. »Darstellung und Beschreibung [sind] nicht das Wesen der Tonkunst«, heißt es dort, und »somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik [sic] aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Ton- kunst.« – Absatz – »Absolute Musik!«40 Das hierfür notwendige Experiment denkt Busoni gleich mit: »Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fort- gesetzte Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte Material einer heran- wachsenden Generation der Kunst gefügig machen.«41 Der passende Ort für solche Rückbesinnungen auf ein mögliches ›Arteigenes des Radios‹ auf experimenteller Basis war die im Mai 1928 gegründete »Rund- funkversuchsstelle« an der Hochschule für Musik zu Berlin, die bis zu ihrer Auflö- sung durch die Nationalsozialisten 1935 Radioexperimente institutionalisierte und als Ergebnis technische Musikinstrumente hervorbrachte. Als ›Laboratorium für neue Töne‹ diente sie der Evaluation und künstlerisch-wissenschaftlichen Erpro- bung der zu ihrer Zeit neuen Speicher- und Reproduktionsmedien Grammophon, Rundfunk und Tonfilm nebst der technischen Realisierung der »Neuen Musik« als Konnex von Musik und Technik.42 Das prominenteste Ergebnis jenes Experimen- tierens der Rundfunkversuchsstelle ist das elektronische Musikinstrument Friedrich Trautweins, das dieser nach sich selbst benannte: Das Trautonium – ein Vorläufer des modernen Synthesizers, das aufgrund seines Klangs für die Filmmu- sik von Alfred Hitchcocks Die Vögel verwendet wurde. Das Theremin, jenes »Ätherwellenmusikinstrument« im Zitat Trautweins, als Vorbild nehmend43, ist das Trautonium ein erstes elektroakustisches Instrument. Die elektrische Klangsynthese gründet hierbei auf der Theorie Hermann von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik (1863), dass nämlich Obertöne eines Tons seine Klangfarbe be- stimmen, während der tiefste Ton als Grundton empfunden wird.44 Wobei das Instrument nicht allein Resultat technischen Experimentierens, sondern kunstthe- oretisch begründet war. Mit anderen Worten: Es entsprang einem künstlerischen wie elektrotechnischen Diskurs gleichermaßen. Mit den Worten von Trautwein: 40 Busoni: »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst«, S. 9. 41 Ebd., S. 45. 42 Schenk: »Die Berliner Rundfunkversuchsstelle (1928-1935)«, S. 124-127. Für eine aus- führlichere Geschichte Schenk: »Die Rundfunkversuchsstelle«, S. 257-272. 43 Trautwein: »Elektrische Musik«, S. 7. 44 Bei Trautwein heißt es: »Die exakte Nachahmung bestimmter Klangfarben mußte daher von vornherein sehr schwer erscheinen, jedoch war zu prüfen, welche musikalischen Eindrücke durch beliebig obertonreiche elektrische Schwingungen hervorgerufen wer- den, wenn man diese durch Lautsprecher in akustische Schwingungen umwandelt.« Ebd., S. 8. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 127 CHRISTOPH BORBACH »Zur Festlegung von Konstruktionsprinzipien für elektrische Musikinstrumente wird daher besser nicht von den technischen Möglichkeiten, sondern von den musikalischen Erfordernissen ausgegangen, um erst im Anschluß daran zu prüfen, wie diese Wünsche technisch erfüllt werden können.«45 Für die Konstruktion des Trautoniums stand das Radio Pate46, aber noch weiter geht die Äquivalenz von Trautonium und Radio, wie sie im so genannten »Radio-Trautonium« apparativ wird. In den ersten 1930er Jahren nämlich wurde das Trautonium als integrierter Rundfunkempfänger beworben, was zur Evidenz bringt, »wie eng die Verknüp- fung von Rundfunk- und elektroakustischer Tongeberforschung in Deutschland gediehen war.«47 Wenngleich sich das Trautonium als Musikinstrument nicht durchsetzen konnte, war es nichtsdestotrotz Kristallisationsobjekt hochaufgela- dener theoretischer Forderungen von Busoni bis Weill. Die erste Aufführung des Trautoniums fand am 20. Juni 1930 an der Hoch- schule für Musik in Berlin mit Paul Hindemiths Komposition »Sieben Stücke für drei Trautonien«, auch »Des kleinen Elektromusikers Lieblinge« genannt, statt. Eben jene Elektromusik, die nun auch ›Elektromusiker‹ hervorbrachte, ist ein Ne- beneffekt der experimentellen Erforschung genuiner Radiokunst, die zudem eine Pionierleistung für die elektronische Musik als solche darstellt – von den tech- nisch-epistemologischen Grundlagen für Synthie Pop oder Techno, die so ge- schaffen wurden, ganz zu schweigen. Wie verwoben Radiotechnik noch mit anderen Medientechniken war, zeigt nicht allein das Trautonium der Rundfunkversuchsstelle, sondern auch die histori- sche Rhetorik des deutschen Hochfrequenztechnikers Eugen Nesper. Im Vor- wort zum Band »Lautsprecher« von 1925 in der von ihm herausgegebenen Serie »Bibliothek des Radio-Amateurs« schreibt er vom Rundfunk noch als »Radiotelephonie«48 und fasst die Euphorie der experimentellen Radioamateur- Bewegung zusammen. Denn schon mit manchem in jedem Haushalt vorhandenen Altgegenstand lassen sich ohne besondere Geschicklichkeit Empfangsresultate erzielen. (...) [F]ast frei von irdischen Entfernungen, ist er [der Kristalldetektoren- empfänger] in der Lage, aus dem Raum heraus Energie in Form von Signalen, von Musik, Gesang usw. aufzunehmen. Kaum einer, der so 45 Ebd., S. 24 46 »Für die konstruktive Durchbildung und die Formgebung des Trautoniums gelten etwa dieselben Grundsätze wie für den Bau von Rundfunkempfängern.« Ebd., S. 36. 47 Hagen: »Das Radio«, S. 98. Zur genauen Beschreibung von Trautonium und Volks- Trautonium siehe Donhauser: »Elektrische Klangmaschinen«. 48 Nesper: »Bibliothek des Radioamaterus«, S. V-VI. NAVIGATIONEN 128 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN mit einfachen Hilfsmitteln angefangen hat, wird von der Beschäftigung mit der Radiotelephonie loskommen.49 Das Bezeichnende an all diesen Radioexperimenten und Erprobungen eines möglichen ›Arteigenen des Radios‹ für das Thema dieses Sammelbandes ist, dass diese Radiopraktiken sind. Denn die theoretisch fundierten, praktischen Radioex- perimente sind eine zielgerichtete Handlungsweise, in denen sich Medium und Praktik gegenseitig konstituieren, statt dass technische Medien schlicht genutzt werden. Zudem ist das Radioexperiment eine Medienpraktik, als dass durch Kon- stanz in der experimentellen Praxis mit technischen Medien (Busoni: »gewissen- haftes und langes Experimentieren«50) ein auf ein Ziel hin ausgerichtetes Handeln als eine bestimmte Weise des Vorgehens sich verfertigt. 5. OPERATIVITÄT ALS MEDIENPRAKTIK? ›BRECHTS RADARTHEORIE‹ Der Unterschied zwischen Medium und Medientechnik benennt die Differenz zwischen konkreter Apparatur und ihren Medienepistemen, den technischen Wissensgrundlagen. Vor dem Hintergrund, dass Medientechnik nicht notwendi- gerweise Kommunikationstechnik nach menschlichen Maßstäben ist, eröffnet sich ein medientechnisches Feld – und zwar ein, für den vorliegenden Kontext buch- stäbliches, nämlich elektromagnetisches –, das es zu beachten gilt: Wenn Fried- rich Kittler bescheinigte, Rundfunk und Radar beruhen auf denselben technischen Grundlagen51, ist dies keinesfalls korrekt, darf aber als richtungsweisend verstan- den werden. Um den Begriff der »Medienpraktik« definitorisch zu schärfen, wird nun der Bogen von der Brecht’schen Radiopraktik, der Installation des radiopho- nen Rückkanals, zur Radartechnik, jener laut Kittler selben Medientechnik wie Radio, gespannt. Der erste Satz des Kapitels »How Radar Works« des für die US-Navy be- stimmten Bandes Report on Science at War über Radar aus dem Jahr 1945 benennt sogleich die technisch-basale Unterscheidung von Ortungs- zu Kommunikations- technik: »IN RADAR, unlike communications, the transmitter and the receiver are located at the same place, and more often than not has a common antenna.«52 Denn die konventionelle Medientechnik des Aktivradars sieht vor, dass der Emp- fänger eines elektromagnetischen Ortungsimpulses zugleich der zuvorige Sender 49 Ebd., S. V. Wobei die Radiopraktik des Radioamateurs von Theorie und Praxis gleicher- maßen bestimmt sei, denn dieser »muß technisch und physikalisch die Materie beherr- schen, muß also weitgehendst in das Verständnis von Theorie und Praxis eindringen.« Ebd., S. VI. 50 Busoni: »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst«, S. 9 51 Der Unterschied zwischen Radio und Radar besteht nach Kittler lediglich im Unter- schied von »kommerziellem Konsum und militärischer Optimierung ein und derselben Medientechnik.« Kittler: »Benns Gedichte – ›Schlager von Klasse‹«, S. 121. 52 Joint Board on Scientific Information Policy: »Radar«, S. 2. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 129 CHRISTOPH BORBACH dieses Impulses war. Wobei der kritische Faktor, der eine Differenz von Radio zu Radar markiert, die Antenne ist: »The problem of antenna design is also one of the major problems in radar, incomprehensible as this may seem to the operator of a home radio receiver, who finds a few yards of wire strung up on his roof ad- equate for his purpose.«53 Die Hauptdifferenz liegt allerdings im Zeitkritischen begründet: Radio als Übertragungstechnik semantischer Information kommt wei- testgehend ohne zeitkritische Dimension im medienwissenschaftlichen Sinn aus. Dahingegen wird im Aktivradar der Faktor t kritisch, als dass er zum fundamenta- len Kriterium für erfolgreiches - und das heißt exaktes - Orten wird. So heißt es an anderer Stelle, im Band »Electronic Time Measurements« des M.I.T. Radiation Laboratory von 1949: »Highly precise timing techniques are an essential part of most radars. A number of systems for precision navigation embody no other func- tion than time measurement (...).«54 Abb. 1: Grundlegendes, stark vereinfachtes Radar-Prinzip. Eaves/Reedy: Principles of Modern Radar, S. 2. Abgesehen von jener zeitkritischen Differenz von Rundfunk zu Radar, sei der Bo- gen somit zur Brecht’schen Radiotheorie gespannt, deren zentrale Forderung in der Radartechnik schon immer hervorragend eingelöst war. Erinnern wir uns an dieser Stelle daran, dass das englische radio nicht allein auf das Radiogerät und den Hörfunk referiert, sondern als Adjektiv auf funktechnisch. Doch wenngleich die Brecht’sche Radioforderung des Sendens und Empfangens im Radar bereits einge- löst ist, statt Utopie zu bleiben: Haben wir es hier noch mit einer Medienpraktik zu tun? 53 Ebd., S. 51. 54 Chance u. a.: »Electronic Time Measurements«, S. 2. An eben jenem zeitkritischen Mo- ment setzt mein Promotionsprojekt am Graduiertenkolleg Locating Media unter dem Arbeitstitel »Zeitkanäle|Kanalzeiten. Eine Mediengeschichte des Δt« an. NAVIGATIONEN 130 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN Vor diesem Hintergrund und unter Einbeziehung der Argumentation, dass Medienpraktiken nicht notwendigerweise Menschen verschalten, sondern durch- aus auch zwischen Medien und im Einzelmedium (wie es das konkrete Radargerät ist) stattfinden: Wo sind dann die Grenzen des Begriffs der Medienpraktik? Ist das Kernstück jeder Medientechnik ihre Operativität55 in Abgrenzung zur möglichen Performativität menschlichen Handelns, und setzen wir die Argumentation auch für Kommunikation im nachrichtentheoretischen Sinn an, so verschmilzt der Be- griff der Medienpraktik mit dem Begriff medientechnischer Operativität. Mit an- deren Worten: Wenn das Operieren (hoch)technischer und technomathemati- scher Medien als konstante, immer gleiche und verfertigte Aktion, ja Automation somit immer Medienpraktik wäre, erscheint es dann nicht notwendig, den Men- schen in die Begriffsdefinition einzubeziehen, um für notwendige Trennschärfe zu sorgen? Ja, definitiv. Denn nur so können sich beide Begriffe, jener der Operativi- tät und dieser der Medienpraktik, behaupten, da sie eben nicht gleichbedeutend, geschweige denn gleichzusetzen sind. Wie es schon der in der Medientheorie wiederentdeckte Gilbert Simondon konstatierte, »operativ ist kein Synonym für praktisch (...).«56 Der vorliegende Beitrag zeigte am Beispiel einer Medientechnik, der Radio- technik, wie sich Mediumpraktiken ausgestalten können und verstand sich als ein Plädoyer dafür, schlichte Mediumnutzung nicht mit dem Begriff Mediumpraktik gleichzusetzen. In den konkreten Beispielen war der Mensch nicht schlicht Medi- umsnutzer_in, sondern griff in die Operativität technischer Medien materiell ein. Somit wurde zugleich ein Rückkanal der Mediumnutzer_innen zum Medium selbst hergestellt und Medium sowie Mediumpraktik konstituierten sich gegenseitig. Sei dies durch die buchstäbliche Installation eines technischen Rückkanals oder durch das medientechnische Experimentieren der Rundfunkversuchsstelle der Weima- rer Republik. Der Begriff der »Medienpraktik« sollte also mitnichten die Gleichschaltung der Mediennutzer_innen evozieren oder auf diese implizit referieren, sondern sollte dezidiert auf Situationen verweisen, in denen nicht technische Medien Handlungsmöglichkeiten vorgeben und den Schein der Nutzungsfreiheit suggerie- ren, sondern auf Situationen, in denen Nutzer_innen zu Experimentator_innen, Radioamateur_innen, Programmierer_innen57 (und dergleichen mehr) werden und sich so technisches Medium und menschliche Praktik tatsächlich gegenseitig verfertigen – nur so wird der kompositorische Begriff der »Medienpraktik« seinen beiden Wortgliedern gerecht: Der »Praktik« und den »Medien«, ist die Gewich- tung des Begriffs doch zumeist zugunsten der »Praktik«. 55 Zum Begriff der Operativität siehe Mersch: »Kritik der Operativität«. 56 Simondon: »Die Existenzweise technischer Objekte«, S. 236. Kursivierung im Original. 57 Die Medienpraktik des Programmierens statt des Experimentierens wäre ein anderes funktionales Fallbeispiel für das Argument dieses Aufsatzes gewesen. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 131 CHRISTOPH BORBACH LITERATURVERZEICHNIS Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massen- betrug«, in: Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklä- rung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969, S. 128-176. Brecht, Bertolt: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funk- tion des Rundfunks«, in: Brecht, Bertolt: »Schriften zur Literatur und Kunst.« Band 1, 1920-1939, Berlin 1966, S. 138-147. Brecht, Bertolt: »Erläuterungen zum ›Ozeanflug‹«, in: Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst. Band 1, 1920-1939, Berlin 1966, S. 134-137. Brecht, Bertolt: »Junges Drama und Rundfunk«, in: Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 21: Schriften 1. 1914- 1933, Berlin/Frankfurt a. M. 1992, S. 189-190. Brecht, Bertolt: »Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks«, in: Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst. Band 1, 1920-1939, Berlin 1966, S. 130-133. Bredow, Hans: »Dem ›Deutschen Rundfunk‹ zum Geleit«, in: Der Deutsche Rundfunk, Jg. 1, Heft 1, 1923, S. 1. Bredow, Hans: Im Banne der Ätherwellen, Band 2: Im Banne der Ätherwellen, Entstehung des Rundfunks, Stuttgart 1954. Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1916. Chance, Britton/Hulsizer, Robert/MacNichol, Jr., Edward/Williams, Frederick C.: MIT Radiation Laboratory Series, Vol. 20: Electronic Time Measurements, New York 1949. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. Donhauser, Peter: Elektrische Klangmaschinen. Die Pionierzeit in Deutschland und Österreich, Wien 2007. Eaves, Jerry/Reedy, Edward (Hrsg.): Principles of Modern Radar, New York 1987. Enzensberger, Hans Magnus: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kurs- buch Nr. 20, 1970, S. 159-186. Flesch, Hans: »Das Studio der Berliner Funkstunde«, in: Reichs-Rundfunk- Gesellschaft (Hrsg): Rundfunk Jahrbuch 1930, Berlin 1930, S. 117-120. Flesch, Hans: »Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske«, in: Funk. Die Wochenschrift des Funkwesens, Jg. 1, Heft 25, 1924, S. 543-546. Foucault, Michel: »›Die Ordnung der Dinge‹. Gespräch mit R. Bellour, in: Focault, Michel: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band 1, 1954-1969, Frankfurt a. M. 2001, S. 644-652. Frost, Gary L.: »Inventing Schemes and Strategies: The Making and Selling of the Fessenden Oscillator«, in: Technology and Culture Nr. 42, Heft 3, 2001, S. 462-488. NAVIGATIONEN 132 MEDIE NP RAKTIKEN EXPERIMENTELLE PRAKTIKEN Gethmann, Daniel: »Der Sicherheitston«, in: TRANSIT (Hrsg.): On the Air. Kunst im öffentlichen Datenraum, Innsbruck 1994, S. 45-60. Hagen, Wolfgang: »Der Neue Mensch und die Störung. Hans Fleschs vergessene Arbeit für den frühen Rundfunk«, in: Schüttpelz, Erhard/Kümmel, Albert (Hrsg.): Signale der Störung, München 2003, S. 275-286. Hagen, Wolfgang: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München 2005. Joint Board on Scientific Information Policy (Hrsg.): Radar. A Report on Science at War. For: Office of Scientific Research and Development, War Department, Navy Department. Distributed through the Facilities of the Office of War In- formation, Washington 1945. Kittler, Friedrich: »Benns Gedichte – ›Schlager von Klasse‹«, in: Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 105-129. Kittler, Friedrich: »Fiktion und Simulation 1«, in: Reck, Hans Ulrich (Hrsg.): Kanal- arbeit. Medienstrategien im Kulturwandel, Basel/Frankfurt a. M. 1988, S. 269-274. Kittler, Friedrich: »Gleichschaltungen. Über Normen und Standards der elektroni- schen Kommunikation«, in: Faßler, Manfred/Halbach, Wulf R. (Hrsg.): Ge- schichte der Medien, München 1998, S. 255-267. Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986. Kittler, Friedrich: »Rockmusik – Ein Mißbrauch von Heeresgerät«, in: Grivel, Charles (Hrsg.): Appareils et machines a répresentation, Mannheim 1988, S. 87-102. Ladler, Karl: Hörspielforschung. Schnittpunkt zwischen Literatur, Medien und Äs- thetik, Wiesbaden 2001. Lerg, Winfried B.: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, München 1980. Mersch, Dieter: »Kritik der Operativität. Bemerkungen zu einem technologischen Imperativ«, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie, Bd. 2, Heft 1, 2016, 31-52. Nesper, Eugen: Bibliothek des Radio-Amateurs, Bd. 20: Lautsprecher, Berlin 1925. Ottmann, Solveig: Im Anfang war das Experiment. Das Weimarer Radio bei Hans Flesch und Ernst Schoen, Berlin 2013. Proctor, W. G./Holdam Jr., J. V./Hughes Jr., A. C.: »The Design and Construction of Electronic Apparatus«, in: Greenwood Jr., Ivan A./Holdam, J. Vance/ MacRae Jr., Duncan: MIT Radiation Laboratory Series, Vol. 21: Electronic In- struments, New York 1948, S. 667-708. Schenk, Dietmar: »Die Berliner Rundfunkversuchsstelle (1928-1935). Zur Ge- schichte und Rezeption einer Institution aus der Frühzeit von Rundfunk und Tonfilm«, in: Rundfunk und Geschichte, Heft 23, 1997, S. 124-127. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 133 CHRISTOPH BORBACH Schenk, Dietmar: »Die Rundfunkversuchsstelle«, in: Schenk, Dietmar: Die Hoch- schule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romanti- schem Klassizismus und Neuer Musik, 1869-1932/33, Stuttgart 2004, S. 257- 272. Schüttpelz, Erhard: »Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien«, Pre- Publication, in: Media in Action, Nr. 0. 2016, S.1-21. Siegert, Bernhard: »Eskalation eines Mediums. Die Lichtung des Radiohörens im Hochfrequenzkrieg«, in: TRANSIT (Hrsg.): On the Air. Kunst im öffentlichen Datenraum, Innsbruck 1994, S. 13-39. Simondon, Gilbert: Die Existenzweise technischer Objekte, Zürich 2012. Trautwein, Friedrich: Elektrische Musik. Veröffentlichungen der Rundfunkver- suchsstelle bei der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik, Bd. 1, Berlin 1930. Wedel, Hasso von: Wehrmacht im Kampf Band 34: Die Propagandatruppen der deutschen Wehrmacht, Neckargmünd 1962. Weill, Kurt: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, in: Weill, Kurt: Musik und Theater: Gesammelte Schriften, Berlin 1990, S. 191-196. Wöhrle, Dieter: »Das Radioexperiment ›Der Lindberghflug‹ und Brechts Ausei- nandersetzung mit dem Medium Rundfunk«, in: Wöhrle, Dieter: Bertolt Brechts medienästhetische Versuche, Köln 1988, S. 45-60. NAVIGATIONEN 134 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME Zum Verhältnis von Körper- und Gerätetechnik am Beispiel von Hilfsmitteln für Menschen mit spastischen Lähmungen V O N A N D R E A S H E N Z E 1. EINLEITUNG Ich treffe Karl in seiner Wohnung zum verabredeten Interview. Karl hat spastische Tetraparese.1 Im Verlauf des Gesprächs zeigt er mir verschiedene technische Dinge, die seinen Alltag charakterisieren und erleichtern. Währenddessen blättert seine persönliche Assistentin in einer Werbebroschüre, um einen in naher Zukunft stattfindenden Urlaub zu planen. Nachdem Karl mir die Bedienung von PC, TV, Radio und Telefon vorgeführt hat, schlägt er vor, dass wir sein Lesegerät ausprobieren. Dafür begeben wir uns in sein Schlafzimmer. In einer Zimmerecke neben dem Kleiderschrank sehe ich ein Gerät, das auf den ersten Blick ästhetisch den Standards der frühen 1990er Jahre zu entsprechen scheint – mattes Grau, groß, klobig. Es steht auf einem kleinen Holztisch und setzt sich aus einem Monitor und einer rechteckigen Unterlage zusammen, beide aus schlichtem, grauem Kunststoff. Große Hebel dienen der Regulierung von Umfang und Schärfe des Bildausschnittes. Karl schaltet das Gerät ein. Es dauert einige Zeit, bis es einsatzbereit ist. Dann legt Karls Assistentin ihre Broschüre unter das Vergrößerungsglas. Auf dem Monitor ist folgender Ausschnitt zu lesen: »Landhausstil,...ende Zimmer...EZ 75 Euro, DZ...nkl., Halbpen-«. Da der Kontext bekannt ist, fällt es nicht schwer, die Wörter einer Seite der Reisebroschüre zuzuordnen. Die sicht- und lesbaren Informationsschnipsel sind aber weit davon entfernt für eine Buchung der angepriesenen Unterkunft eindeutig genug zu sein. Ich frage Karl, wie er eine ganze Seite liest, da er, wie ich bereits erfahren habe, ein kleinteiliges Hin- und Herschieben der Broschüre unter dem Vergrößerungs- glas per Hand nur mit größerem Aufwand bewerkstelligen könnte. Karl grinst mich an, schiebt seinen Stuhl etwas zurück und zeigt unter den Tisch. Dort sehe ich zwei Pedale. Karl rückt wieder an den Tisch heran und bedient die Pedale mit seinen Füßen. Auf dem Monitor sehe ich nun, wie sich der Ausschnitt nach rechts und links bzw. oben und unten bewegt. Karl liest eine Textseite nicht nur mittels seiner Augen, sondern auch per Fuß und Pedal. Dieser Einstieg sollte verdeutlichen, wie für den alltäglichen Gebrauch von Medien und Technik eine kompetente Hand- oder eben Fußhabe von Geräten 1 Das trifft auf alle in diesem Beitrag erwähnten Personen zu und bedeutet, dass alle vier Gliedmaßen sowie die Sprechmuskulatur aufgrund einer Schädigung des zentralen Ner- vensystems bei der Geburt unterschiedlich stark gelähmt sind. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN ANDREAS HENZE und Objekten erforderlich ist.2 Um eine Werbebroschüre zu lesen, benötigt Karl Kraft in den Beinen und die motorischen Fähigkeiten, um ein Pedal zu bedienen und mit dem Lesevorgang der Augen zu koordinieren. Besonders im alltäglichen Gebrauch von Technik wird deutlich, dass dieser körperliche Fähig- und Fertigkeiten zur Grundlage hat. Einen Körper zu haben, wird bei der Teilnahme an sozialen Praktiken, mal mehr (wie z. B. beim Kampfsport), mal weniger (wie z. B. beim Schulunterricht) explizit, ist aber unausweichlich.3 Hören, sehen oder sich bewegen zu können, die Kraft um ein Gerät zu halten, die Koordination von Fingern, ohne zu zittern, Ausdauer, Geschicklichkeit, sinnliche Wahrnehmung und körperliche Belastung sind nur einige Beispiele dafür, wie im praktischen Umgang mit technischen Geräten der menschliche Körper so offensichtlich wie unbemerkt, als »seen but unnoticed background of everyday life«4 mit-handelt. Und hat man in den Körpergliedern zwar »Kraft, aber keine Macht«5, so kann unter Umständen der Umgang mit Geräten und Objekten zu einer täglichen Herausforderung werden. Marcel Mauss hat in seinem Aufsatz zu den Körpertechniken auf diesen Sach- verhalt hingewiesen.6 Ob Laufen, Schwimmen, sich die Hände geben, Essen, Trinken, Tanzen, Klettern, Springen – alle diese Tätigkeiten, die das soziale Leben ausmachen, besitzen eine bestimmte Form der körperlichen Ausführung. Sie wurden erlernt und trainiert, haben einen sozialen Ursprung und ermöglichen 2 Das trifft zunächst für prinzipiell jeden Akteur zu, unabhängig von seinem sozialen Status als behindert oder nicht-behindert. Da es im weiteren Verlauf um besondere, für Men- schen mit körperlichen Behinderungen entworfene, sogenannte Hilfsmittel gehen wird, läuft eine solche Verallgemeinerung Gefahr, die Besonderheiten des Alltags mit einer Lähmung zu unterschlagen. Andererseits unterliegt aber auch ein unhinterfragter Ge- brauch und die Reproduktion des Begriffs Behinderung, der Gefahr, den Gegenstand Behinderung begrifflich als fixen und fertigen Zustand zu naturalisieren. Jenseits dieses Dilemmas versuche ich die wechselseitige Hervorbringung von Körper und Dingen zu beschreiben und die Beschreibungen nicht unter die Begriffe Behinderung und Hilfsmit- tel zu subsumieren. Solch eine Beschreibung kann Kenntnisse über die Spezifik eines solchen Alltags generieren, aber auch allgemeiner auf die Beschaffenheit moderner sozi- aler Praktiken verweisen – und damit die Unterscheidung von behindert/nicht-behindert unterlaufen. Vgl. für eine solche Vorgehensweise Schillmeier: »Rethinking disability«. 3 Vgl. Schindler: »Kampffertigkeit«; Falkenberg: »Stumme Praktiken«. 4 Garfinkel: »Studies in Ethnomethodology«, S. 118. Das lässt sich auch in in einer zuneh- mend digitalisierten und virtualisierten Sozialwelt behaupten, vgl. Krämer: »Does the body disappear?«. 5 Dieses und folgende Zitate stammen aus Interviews und ethnografischen Protokollen, die ich im Zuge meiner Promotionsforschung durchgeführt habe. Die empirischen Da- ten wurden für die ersten beiden Beispiele auf bestimmte Themen und Details hin co- diert und verdichtet. Das dritte Beispiel einer biografischen Erzählung wurde mit Hilfe der Narrationsanalyse ausgewertet. Vgl. Schütze: »Prozessstrukturen des Lebenslaufs«; Schütze: »Biographieforschung und narratives Interview« und zum Codieren von ethno- grafischem Material, Breidenstein u. a.: »Ethnografie«, S. 109-176. 6 Vgl. Mauss: »Techniques of the body« sowie für eine soziologische Fundierung der Thesen von Mauss Crossley: »Body Techniques, Agency and Intercorporeality«. NAVIGATIONEN 136 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME kompetentes und nachvollziehbares Handeln in Situationen mit anderen körperli- chen Akteuren. Soziologische Praxistheorien beleben gegenwärtig die Ideen von Mauss und räumen dem Körper einen zentralen Stellenwert in der Analyse von sozialen Zusammenhängen ein. Sie verorten ihn nicht außerhalb des Sozialen, als natürliches und damit uninteressantes Faktum. Praxistheorien konzipieren dage- gen den Körper als materiellen Partizipanden von sozialen Praktiken. Der Körper hat entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung und Ausführung von Praktiken. Er ist nicht nur am Vollzug von Praxis beteiligt, sondern konstitutiv für diesen, da er praxisrelevante Fähigkeiten bereithält und situativ ausführt. Durch körperliche Fähig- und Fertigkeiten wird die Praxis am Laufen gehalten und damit jeder sozia- len Praktik eine besondere Bewegungs- und Vollzugsform verliehen.7 Versteht man also »Sozialität durch körperliche Praktiken«8, so wird das So- ziale erstens als prozessualer Vollzug körperlicher Bewegungen, zweitens anhand der Bezogenheit von mehreren, unterschiedlichen Körpern aufeinander und drit- tens durch den körperlichen Umgang mit anderen Elementen, z. B. technischen Objekten, innerhalb des regelmäßigen Ablaufs einer Praxis, analysierbar.9 Anhand der Präsenz von Körpern und ihrer Einbettung in den Praxisvollzug lässt sich ver- deutlichen, wie Bewegungen, sinnliche Wahrnehmung, Tätigsein, Eingreifen oder etwas Handhaben, allgemein der agierende Körper, die Teilhabe an und den Voll- zug von Praktiken strukturieren. In einer praxistheoretischen Perspektive kann das als zentrales Moment alltäglichen Handelns in den Vordergrund gestellt wer- den und zeigen, was »gegenständliche[s] Körperhaben«10 in der Ausführung von Tätigkeiten, wie z. B. E-Mailschreiben, Miteinandersprechen, Freizeit- und Ar- beitsaktiviäten sowie der biografischen Entwicklung von Kommunikationstechni- ken, bedeutet. Darüber hinaus bildet die Praxistheorie des Körpers in diesem Beitrag den Leitfaden zur Rekonstruktion der wechselseitigen Hervorbringung und Ver- schränkung von Körpern und technischen Objekten in sozialen Praktiken. Kon- kretes Ziel ist es, zu beschreiben, wie Menschen mit körperlichen Behinderungen Praktiken gestalten, technische Geräte in diesen gebrauchen und dadurch den Praktiken ihre Form verleihen. In diesem Beitrag wird daher die praxistheoreti- 7 Vgl. zum Körper in der soziologischen Praxistheorie Hillebrandt: »Soziologische Praxis- theorien«, S. 61-75; Hirschauer: »Praktiken und ihre Körper«; Reckwitz: »Grundelemen- te einer Theorie sozialer Praktiken«, S. 290f.; Schäfer: »Die Instabilität der Praxis«, S. 328-345; Schmidt: »Soziologie der Praktiken«, S. 55-62. 8 Gugutzer: »Soziologie des Körpers«, S. 7.; vgl. Gugutzer: »Verkörperungen des Sozia- len«, S. 39-83. Aspekte des leiblichen Handelns in der Tradition der Phänomenologie können hier nicht berücksichtigt werden. 9 Vgl. Meuser: »Körper-Handeln«, S. 103-106. 10 Gugutzer: »Soziologie des Körpers«, S. 152. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 137 ANDREAS HENZE sche Perspektive angewandt, um die Bedeutung des Körpers und körperlichen Handelns in der Nutzung von Technik und Medien hervorzuheben.11 Medien stehen in meiner Herangehensweise nicht am Anfang der Untersu- chung fest. Medien, genauer mediale Aspekte entstehen in und durch soziale Praktiken. In sozialen Praktiken, also in der praktischen Hervorbringung von Kör- pern und Geräten, wird das Soziale vermittelt. Sozialer Sinn und soziale Ordnung werden durch die jeweils spezifisch praktizierte Verknüpfung von Körper und Technik in den Vollzügen der Wirklichkeitskonstruktion hergestellt, d. h. sicht- und nachvollziehbar gemacht.12 Auf diese Weise untersuche ich nicht Medien, sondern mediale Aspekte von sozialen Praktiken. Nicht ein fixes Medium steht im Vordergrund. Sondern anhand der Verknüpfung von Körper und Technik inner- halb einer Praktik, der besonderen Vollzug- und Bewegungsform der Praktik, wird gefragt, wie dadurch sozialer Sinn und genauer, die soziale Konstruktion ei- ner körperlichen Behinderung, vermittelt und hergestellt wird. Im zweiten Kapitel geht es darum, das Verhältnis von Körper und Technik in- nerhalb einer Praxis zu beschreiben. Am Beispiel des Verfassens einer E-Mail und zwei dafür verwendeter Geräte, frage ich: Welche »Wechselwirkung von Medien- techniken und Körpertechniken«13 strukturiert die Handhabung von Geräten im Vollzug der Praktik? Im dritten Kapitel wird das Thema der Einheit von Körper und Gerät über den Vergleich von unterschiedlich lokalisierten Praktiken14 und darin sich vollziehender Verwendungsweisen eines Sprachcomputers beschrie- ben. Ziel ist es, Erkenntnisse über die lokalen Kontexte und deren soziotechni- sche Arrangements zu generieren und die Frage nach der unterschiedlichen Art und Weise, wie mit der Einheit von Gerät und Körper umgegangen wird, zu be- antworten. Das vierte Kapitel nimmt eine diachrone Perspektive ein und fragt, wie sich Kommunikationspraktiken und deren jeweils besondere Verknüpfung von Körper und Technik im Laufe eines Lebens verändern. Im Wandel der gebrauch- ten Medientechnik über die Zeit spielt auch der Körper eine jeweils andere, le- bensphasenspezifische Rolle.15 Ziel ist es, die für biografische Phasen dominanten Wirklichkeitsordnungen von Körper und Technik zu rekonstruieren. 11 Vgl. Rammert/Schubert: »Körper und Technik«; Schindler: »The Flying Body«. Weniger geht es darum, sozialtheoretische Vorannahmen mit dem »Erfindungsreichtum der Praktiken« zu konfrontieren. Vgl. dazu Hirschauer: »Die Empiriegeladenheit von Theo- rien und der Erfindungsreichtum der Praxis«; Schmidt: »Soziologie der Praktiken«, S. 33- 38. 12 Vgl. Thielmann: »Taking into Account« für eine ethnomethodologisch inspirierte Praxis- theorie der Medien. 13 Schüttpelz: »Körpertechniken«, S. 107. 14 Vgl. zum praxistheoretischen Vergleichen Schmidt: »Soziologie der Praktiken«, S. 99- 129. 15 Vgl. Abraham: »Der Körper im biographischen Kontext«. NAVIGATIONEN 138 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME 2. KARL – ODER: WIE MAN EINE E-MAIL SCHREIBT Zurück zu Karl. Nachdem ich bei ihm klingelte, höre ich nur wenige Sekunden später den Türöffner summen. Ich gehe ein Stockwerk nach oben und mir öffnet überraschenderweise eine junge Frau. Ich trete ein und wir stellen uns vor – sie ist Karls persönliche Assistentin.16 Sie nimmt mir die Jacke ab und ich spreche mit ihr über den Weg und den Stadtteil, als mich plötzlich aus dem Wohnzimmer her- aus eine Stimme begrüßt. Karl sitzt dort in einem Sessel. Ich beende das Gespräch mit der Assistentin und gehe auf Karl zu. Links von ihm steht ein Schreibtisch, auf dem ich einen Monitor und eine Telefonanlage sehe. Rechts von ihm befindet sich ein weiteres Gerät. Ich erfahre später, dass es sich dabei um seine Umgebungs- steuerung handelt, mit der er u. a. TV und Radio bedient. Etwas unsicher, wie wir uns begrüßen sollen, reiche ich ihm meine Hand. Er legt seine Hand in meiner ab. Ich drücke ein wenig. Karls Hand reagiert nicht, zumindest nicht für mich spürbar. Wir verharren kurz so, schütteln nicht die Hände und äußern gleichzeitig verbal die üblichen Begrüßungsfloskeln. Wir produzieren und praktizieren durch die syn- chrone Organisation verbaler wie nonverbaler Marker eine Variante der Begrü- ßung. Im Verlauf des Gesprächs erfahre ich, dass vor allem in Karls rechter Kör- perseite »tote Hose« ist. Wir hatten uns mit der rechten Hand begrüßt. Anhand der Begrüßung per Hand, einer eher nebensächlichen Situation, die vor allem dazu dient den Rahmen für ein Interview zu konstituieren und die Inter- viewsituation zu eröffnen wie zu fokussieren17, wird bereits in mikroskopischer Weise deutlich, inwiefern Karls körperliche Konstitution nicht nur für eine Begrü- ßung, sondern allgemein für seinen alltäglichen Umgang mit Technik prägend ist. Zwei Besonderheiten des Handschlags sind für die weitere Argumentation rele- vant: Erstens, Karls Hand verfügt über weniger Kraft als meine. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Karl meinen Händedruck nicht erwidert. Stattdessen legt er seine Hand in meine und ich entscheide, wie stark ich diese drücke. Eine spürbare Gegenreaktion von Karl bleibt aus. Zweitens, Karls Hand formt sich nicht analog zu meiner, sodass wir uns zwei gleichartig geformte Hände zur Begrüßung geben. Er formt nicht mit der Handinnenfläche eine kleine Wölbung, um Platz für die an- dere Hand zu machen, um dann über diese Wölbung hinwegzugreifen und Teile der Hand so anzuspannen, dass ein Händedruck entsteht. Nicht nur dokumentiert sich in dieser kleinen Handlung und ihren körperlichen Details eine verkörperte Differenz und Andersheit. Es wird auch deutlich, worin diese Andersheit besteht, was sie hervorbringt und welche Eigenschaften im Ausüben der sozialen Praktik ›Begrüßen per Handschlag‹ aufgerufen werden und symptomatisch für Karls all- täglichen Umgang mit technischen Geräten stehen: körperliche Kraft und die kon- trollierte Koordination einzelner Gliedmaßen. 16 Vgl. zum Pflegemodell ›Persönliche Assistenz‹ Kotsch: »Assistenzinteraktionen«. 17 Vgl. zur Bedeutung von Eröffnungen und Begrüßungen Schegloff: »Sequencing in Con- versational Openings«; Mondada/Schmitt: »Situationseröffnungen«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 139 ANDREAS HENZE Im Verlaufe des Interviews erzählt mir Karl von seinem Computer und schlägt vor, diesen mitsamt seiner Bedienungshilfen auszuprobieren. Nachdem der Computer startklar ist, greift Karl zuerst zu seinem Joystick. Neben dem Steuerhebel finden sich am unteren Rand des Joysticksockels runde Tasten, die die Funktion des rechten, linken sowie doppelten Mausklicks erfüllen. Karl legt zunächst seine Hand auf den Steuerhebel. Da das Gerät eine breite Grundfläche hat, die nicht mit der sich bewegenden Hand mitläuft, kann Karl problemlos auf dem Desktop navigieren. Das wäre bei einer Computermaus nicht möglich, da diese den Bewegungen der Hand folgt und auf den Bildschirm übersetzt. Solch ei- ne unmittelbare Übersetzung ist beim Joystick nicht vorgesehen. Der stabile So- ckel gleicht dagegen Karls Handbewegungen aus. Er ermöglicht aufgrund seiner Standfestigkeit einen für Karl kontrollier- und nutzbaren Bewegungsspielraum auf dem Desktop. Hinzu kommt, dass es für Karl schwer wäre, mit einer Compu- termaus gleichzeitig einen Cursor zu bewegen und auf Desktopsymbole zu kli- cken. Stattdessen steuert er auf das gesuchte Symbol zu und lässt den Steuergriff im Moment des Erreichens los. Der Cursor ist nun eingefroren und unbeweglich. Im nächsten Schritt drückt Karl eine der Tasten, die einen Rechts- bzw. Linksklick auslösen. Karl erledigt also Bewegen und Klicken nicht in einem Zug. Die Bewe- gung des Cursors und das Anklicken vollziehen sich in zwei diskreten Handlungs- vollzügen. Das materialisiert sich im Aufbau des Joysticks und seiner aufgetrenn- ten Navigations- und Auswahlelemente. Nachdem sich das E-Mail-Programm geöffnet hat und Karl per Umschalttaste im Nachrichtenfeld angelangt ist, zieht er seine Tastatur heran und beginnt zu schreiben. Seine Körperhaltung ist dabei folgende: Er lehnt sich nach vorne. Sein linker Arm liegt auf dem Tisch. Sein Blick ist auf die Tastatur gerichtet. Seine rechte Hand hängt neben dem Stuhl nach unten. Zum Schreiben der Nachricht bedient er sich einer besonderen Tastatur. Die Buchstaben sind vergrößert, das Gehäuse ist massiv. Die gesamte Tastatur ist größer, da die Abstände zwischen den einzelnen Tasten größer sind. Sie ist nicht gleichmäßig flach wie eine stan- dardmäßige Tastatur, sondern im hinteren Teil erhöht. Über der ganzen Tastatur liegt ein Raster aus durchsichtigem Kunststoff mit Löchern für die einzelnen Tas- ten. Es erinnert an die Wählscheibe älterer Telefone. Anstatt mit der Hand über der Tastatur schweben zu müssen, ermöglicht das Raster, dass Karl seine Hand auf der Tastatur ablegen kann, ohne dabei verse- hentlich Tasten zu drücken. Karl ist körperlich nicht in der Lage, die für eine Tas- taturnutzung typische Handhaltung nachzuahmen. Er verfügt nicht über genügend Kraft, seine Hand über einen längeren Zeitraum anzuspannen und in der Luft zu halten. Wenn er dann die richtige Taste gefunden hat, lässt er seinen Zeigefinger in die umrahmte Taste hineinfallen, ohne umliegende Buchstabentasten, die durch das Raster geschützt sind, in ungeplanter Weise mit dem Rest der Hand zu berüh- ren. Bei seiner Handhaltung würde das sonst passieren, da sich die Finger und der Handballen in ihrer verkrampften Haltung nicht ohne Weiteres einzeln für sich NAVIGATIONEN 140 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME bewegen lassen und vom Drücken umliegender Tasten abzuhalten sind.18 Eine Tastatur ohne Raster erfordert also eine kontrollierte Hand, die gezielt einen ein- zelnen Finger in Richtung einzelner Tasten steuert und zudem über die Kraft ver- fügt, den Rest der Hand über der Tastatur und in Entfernung zu ihr schweben zu lassen. Für einen Körper, der derartiges vermag, ist eine Standard-Tastatur ge- baut. Karl dagegen legt seine Hände nicht am unteren Tastaturrand ab, um von dort aus einzelne Tasten mit einem oder mehreren Fingern anzusteuern. Erst die Verschränkung von Raster und Karls typischer Handkoordination, seinem Schrei- ben mit dem Zeigefinger der linken Hand und dem Bewegen der gesamten Hand über die Tastatur, ermöglicht ihm das Verfassen einer Nachricht. Was also sind die körperlichen Herausforderungen der Praktik E-Mail- schreiben? Ein grundlegendes Erfordernis für das Verfassen einer E-Mail besteht darin, dass mit der Hand gearbeitet wird und diese den notwendigen und kontrol- lierten Kraftaufwand aufbringt. Die Hand als besonderer Körperteil macht die Körperlichkeit des E-Mailschreibens aus. Ihre Beweglichkeit, ihre Form, ihre Formbarkeit und die Steuerung einzelner Glieder charakterisieren Karls besonde- re Motorik, die sich in Kombination mit den Geräten für die Ausführung der Prak- tik als geordnete Aktivität verantwortlich zeigen.19 Kraft und kontrollierte Koor- dination der Hand in Verbindung mit einer auf ihn ausgerichteten Technik, er- möglichen Karl das Verfassen einer E-Mail. Die Verbindung von Technik und Kör- per hat dafür folgende, strukturelle Eigenschaften: erstens, die Standfestigkeit des Joysticks und die Aufteilung von Befehlen in diskret vollziehbare, körperliche Handlungsschritte, sowie zweitens der Ausschluss ungewollter, unbeabsichtigter Bewegungen und Aktivitäten (andere Tasten drücken) und die Möglichkeit ge- wollter Nebenaktivitäten (Hand ablegen). Ihre mediale Dimension gewinnt die Praktik des E-Mailschreibens, indem sie Bewegungsverläufe und Aktivitäten verteilt, delegiert und verhindert. So kann die Tastatur bestimmte Aktivitäten, die sich aufgrund der körperlichen Eigenschaften Karls ergeben würden, verhindern. Des Weiteren wird Karls Motorik durch den Sockel und die Tasten des Joysticks so übersetzt, dass er auf dem Desktop navi- gieren kann. Im Zusammentreffen der gebrauchten Geräte und des besonderen Körpers wird Handlungsinitiative derart verteilt und delegiert, dass sich der Ab- lauf der Handlungsschritte in sinnhafter Weise für den pragmatischen Kontext des körperlichen Verfassens einer E-Mail vollziehen kann. Die Verknüpfung von Kör- per und Gerät und deren wechselseitige Delegation und Übersetzung von Hand- lungsinitiativen, machen den medialen Charakter der beschriebenen Praktik aus.20 18 Das hatten wir gemeinsam mit einer Tastatur, die für die Assistentin gedacht ist, aus- probiert. 19 Vgl. für eine ähnliche Argumentation am Beispiel des Klavierspielens, Sudnow: »Ways of the Hand«. 20 Vgl. Schüttpelz: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, S. 14-18; Schubert: »Die Technik operiert mit«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 141 ANDREAS HENZE Es zeigt sich also, wie im E-Mailschreiben die Hand und die Geräte die abver- langten Eigenschaften und Fähigkeiten bereithalten, wie sich die körperlichen Vo- raussetzungen und technischen Erfordernisse praktisch vermitteln und miteinan- der in Bezug setzen und es dadurch möglich machen, eine E-Mail zu verfertigen. Karls E-Mail entsteht durch die Verschränkung von sich bewegendem Körper, seiner Kraft und kontrollierten Koordination von Gliedmaßen und der kontrolliert und kraftvoll gehandhabten Technik. Die Vermittlung zwischen Körper- und Ge- rätetechnik wird durch die medialen Aspekte der Praktik, die im Übersetzen, De- legieren und Verhindern von Aktivitäten bestehen, gewährleistet. 3. TONI – ODER: WIE MAN MIT EINER STIMME SPRICHT In diesem Abschnitt geht es um den 19jährigen Toni. Ich treffe ihn und seine El- tern in ihrem Haus. Letztere empfangen mich an der Tür und führen mich in To- nis Zimmer. Sie sperren den Hund aus, lassen die Katze herein und nehmen beide am Interview teil. Toni begrüßt mich beim Eintritt in sein Zimmer mit dem Satz: »Ich kann richtig geil mit dem Talker sprechen.« Diesen Satz lässt er durch eben- jenen Talker sagen. Mit Talker ist sein Sprachcomputer gemeint. Dieser hat die Größe eines Tablets und ist mit einer Querstrebe an der Vorderfront seines Roll- stuhls befestigt. Über seinem Schoß, auf der Höhe der Brust und in Reichweite seiner Arme angebracht, bedient Toni den Talker über ein Display mit seiner lin- ken Hand. Er tippt auf Bilder, die in Kombination Wörter bzw. Sätze ergeben und durch eine technisch generierte Stimme nach dem entsprechenden Tastenbefehl ausgesprochen werden. Des Weiteren verfügt Toni über die Möglichkeit »ja« und »nee« ohne Talker auszusprechen. Eine Besonderheit der Kommunikation mit dem Talker ist folgende: Sobald Toni etwas sagen möchte, neigt er seinen Kopf nach vorne zum Display, lässt sei- ne linke Hand über dem Gerät schweben und während des Tippens hört man elektronische Geräusche. Diese Mischung aus Tonis Körperhaltung und den Ne- bengeräuschen seines Talkers markiert den Beginn seines Redebeitrages. Und zwar schon bevor die Computerstimme einen ersten Ton von sich gibt. Dieser multimodale, körperliche wie technische Vorgang zeigt an und macht es für ande- re nachvollziehbar, dass Toni die Rede im Folgenden übernehmen wird.21 Dem- entsprechend praktizieren die Eltern und Toni ein besonderes turn design22 in ih- 21 Das wäre vergleichbar mit einem Räuspern, durch das man auf sich aufmerksam machen kann. Ein solches wird aber nur gelegentlich und unter besonderen Bedingungen einge- setzt. Das Tippen von Toni gehört konstitutiv zu seinem Sprechen. 22 Vgl. Sacks u. a.: »A simplest systematics for the organization of turn-taking« und zu fami- liären Kommunikationspraktiken Keppler: »Tischgespräche«. Da hier nicht im vollen Umfang auf die konversationsanalytische Rekonstruktion der familiären Kommunikation eingegangen wird, ist in einem einschränkenden Sinne zu erwähnen, dass das von mir rekonstruierte Strukturmuster von der Familie selbst nicht in jeder Situation und jedem Moment eingehalten wird. Stattdessen entstehen durch die Eigendynamik des Ge- NAVIGATIONEN 142 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME rer Gesprächspraxis: Mutter und Vater beenden die eigenen Redebeiträge oder schwächen diese von der Intonation und Lautstärke her ab, sobald Toni tippt und damit seine Redeübernahme und Äußerungsproduktion signalisiert. Im Moment der auditiven Wahrnehmung der Tippgeräusche und der sichtbaren Zuwendung von Toni zu seinem Display, wird die Redeübergabe angekündigt und für die El- tern prinzipiell (nach-)vollziehbar. Es entspricht dann nicht der familiären Konver- sationspraxis in die zeitlich aufwendige Phase von Tonis Produktionspraxis von Redebeiträgen, in der aber noch kein Wort zu hören ist, hinein zu reden. Das Einhalten von Pausen, der Abbruch von Redebeiträgen, das im-Sande-verlaufen- lassen von angefangenen Sätzen wird von der Familie als sinnhafte, kommunikati- ve Praxis vollzogen.23 Tonis vokale, multimodale Geste wird, im Sinne von Mead, innerhalb eines sozialen Raumes mit anderen Sprecherinnen, im Kommunikationsnetz mit ande- ren, hörenden Akteuren, zur signifikanten Geste. Als sprachliche Geste trägt sie daher den Charakter einer »mediale[n] Entäußerungshandlung«24 und generiert soziale Effekte. Im praktischen Umgang mit dem Talker verwirklicht und vermit- telt sich eine besondere sozial-sinnhafte Ordnung des familiären Gesprächs: Talker und Toni bilden innerhalb der familiären Kommunikation eine strukturelle Einheit. Toni ›spricht‹, wenn der Talker Geräusche erzeugt. Die Tastengeräusche sind Teil von Tonis Artikulation, dem Klang und Rhythmus seiner Stimme, seiner verkörperten Sprache und seinen materiellen Performanzbedingungen, die sei- nem Sprechen eine soziale Form geben.25 Die in der Familie gemeinschaftlich ge- leistete Verknüpfung von Gerät und Tonis Handlungskörper, die Einheit aus bei- dem, bringt seine Stimme hervor.26 Toni kommt derart in und durch die familiäre Gesprächspraxis zum Sprechen. sprächs auch immer wieder Momente, in denen Tonis Tippen überhört wird. Das Strukturmuster ist eben keine Regel, die immer eingehalten wird, sondern ein Muster, das hergestellt und angewandt werden kann, aber nicht muss. Vgl. zum Regelbegriff in der Praxistheorie Schatzki: »The Site of the Social«, S. 79ff.; Hillebrandt: »Soziologische Praxistheorien«, S. 36-43. 23 Pausen innerhalb Sprechphasen eines Sprechers oder zwischen vollendeten Sprechein- heiten verschiedener Sprecher müssen durch die Zuhörenden erkannt, verstanden und eingehalten werden. Die Kontinuität einer Äußerung wird durch das Stillbleiben der Konversationspartner (hier der Eltern) gewährleistet, die visuell und auditiv die Pausen von Toni nachvollziehen und selbst pausieren, sobald Toni zu tippen beginnt. Das ist im Fall von Toni deshalb relevant, da er häufig nicht nur Pausen zwischen größeren Sinneinheiten macht, sondern innerhalb von Sätzen, nach jedem Wort bzw. kleinen Wortgruppen, entstehen mehrere Sekunden Pause, in denen Toni die Symbole für das nächste Wort sucht und eintippt. Vgl. Goodwin: »Conversational Organization«. 24 Linz: »Die Reflexivität der Stimme«, S. 61. Vgl. Mead: »Geist, Identität und Gesellschaft«. 25 Vgl. Krämer: »Sprache – Stimme – Schrift«. Die Medialität der Sprechperformanz ist im Falle von Toni allerdings keine stumme bzw. lautlose Medialität, sondern macht sich vi- suell und auditiv bemerkbar. Vgl. ebd., S. 332. 26 Vgl. Moser/Law: »Making Voices«, Ashby: »Whose ›voice‹ is it anyway?«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 143 ANDREAS HENZE Neben der Bewältigung alltäglicher Kommunikationserfordernisse hält Tonis Talker die Möglichkeit bereit, sich per Bluetooth-Adapter mit anderen Geräten zu verbinden und diese durch Befehlsfelder auf dem Talker-Display zu bedienen. Wie Toni sein Radio, den CD-Player und seinen Fernseher an- und ausschaltet und mit dem Display steuert, führt er mir auf Nachfrage unmittelbar vor: Er wählt ein Gerät, das Zeichen ›Blitz‹, schaltet es an und alles Weitere geschieht per Be- dienungsfeldern auf dem Display. Der Adapter ermöglicht Toni auch eine Verbin- dung zum Tablet und damit zum Internet und WhatsApp, was einerseits die Onli- ne-Kommunikation mit anderen Personen, z. B. dem Interviewer, oder mit den Eltern, wenn diese unterwegs sind, und anderseits das Schauen von Musikvideos ermöglicht. Als er mir zeigt, wie er das macht, kommentiert seine Mutter: »also er macht das auch überwiegend alleine is jetzt nicht so, dass wir jetzt nachmittags hier mit ihm sitzen.« Daran wird deutlich, dass seine umfangreiche Vernetzung im Zimmer per Talker es Toni ermöglicht, als selbständig und selbstbestimmt Han- delnder zu agieren. Nichts, was er mit dem Talker und anderen Geräten macht, braucht große Unterstützung durch die Eltern. Das Netz, ausgehend vom Talker, ermöglicht Praktiken in denen Selbstbestimmung umgesetzt werden kann. Das heißt, in der praktischen Verknüpfung von Körper und Dingen wird Selbstbe- stimmung nicht nur konstruiert, sondern durch den sozial-medialen Charakter der Praktiken realisierbar, sicht- und nachvollziehbar, für Toni selbst, wie für an- dere.27 Zum Ende unseres Gesprächs fassen seine Mutter und Toni zusammen, was der Talker bedeutet: es wird darauf geachtet, dass der »Talker immer beim Toni ist« und er sagt selbst: »ich kann ohne den Talker einfach nichts machen«. Die strukturelle Einheit von Talker und Toni und das Netzwerk ›Körper-Talker- Adapter-Gerät X‹ charakterisiert Tonis Praktiken und ermöglicht, dass er selb- ständig in seinem Zimmer agiert.28 Zusammengefasst handelt Toni in seinem Zimmer, einem auf seine Kompetenzen und Bedürfnisse ausgerichteten Setting und netzwerkartigen Arrangement an Medientechnik, selbstsicher und in der Re- gel ohne Hilfe. Dabei ist der Talker Teil seiner Stimme und bildet eine Einheit mit ihm und seinem agierenden Körper. Ein anderes Bild zeigt sich, wenn Toni von seinem Praktikum in einer Holz- werkstatt berichtet. Das Praktikum wurde vor kurzem abgeschlossen und soll in eine Ausbildung in der Holzverarbeitung münden. Toni berichtet positiv von der Tätigkeit und dem Umfeld der Werkstatt.29 Als zentrale Praktiken werden das Schleifen von Holzbrettern und das Zusammenbauen von Regalen herausgestellt. 27 Vgl. zur Bedeutung der Konstruktion von Selbstbestimmung im Kontext Behinderung Waldschmidt: »Selbstbestimmung als Konstruktion«. 28 Vgl. zur Verknüpfung von Fertig- und Fähigkeiten mit Dingen und Geräten, um Interak- tionsordnungen zu stabilisieren Latour: »Eine Soziologie ohne Objekt?«. 29 In der Holzwerkstatt ist die Arbeit mit größeren Gegenständen und umfangreicherem Radius der auszuführenden Bewegungen im Endeffekt weniger belastend und anstren- gend als die kleinteilige Arbeit mit Schrauben und Tüten in einem anderen Praktikum. NAVIGATIONEN 144 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME Auch im Bericht über die Werkstatt wird mir ein kompetenter Handlungskörper präsentiert: er wird von den Eltern beschrieben und von Toni in seiner pantomi- mischen Vorführung des Holzschleifens gezeigt. Schlussendlich wurde die Praktik des Schleifens auch in die Einheit von Toni und Talker eingeschrieben, indem eine Bilder-Kombination ausgesucht und gespeichert wurde. Eines aber unterscheidet den Körper zu Hause vom Körper in der Werkstatt: Er wird im materiellen Ar- rangement der Werkstatt als ein Körper ohne Stimme und Sprache praktiziert und organisiert. Denn der Talker kommt in der Werkstatt nicht zum Einsatz. Wa- rum? Das liegt zum einen an der Tätigkeit an sich, die Bewegungsspielraum im Frontalbereich des Körpers erfordert. Der Talker stände dabei im Weg. Zum an- deren ist die Werkstattumwelt problematisch: der Holzstaub könnte den Talker beschädigen und verschmutzen. Das hat zur Konsequenz, dass der Talker wäh- rend der Arbeit abmontiert wird. »Wenn ich dann die Arbeit mache kann ich nicht sprechen«, formuliert Tonis Mutter für ihn. Die Einheit Körper-Talker wird temporär aufgetrennt, damit Toni selbständig eine arbeitsförmige Tätigkeit voll- ziehen kann. Toni agiert, ohne sich durch Wörter und Sätze zu artikulieren. Er ist ein arbeitender Körper ohne ›talking machine‹. Der Vergleich der unterschiedlich lokalisierten Praktiken zeigt, wie das je- weilige Arrangement, einerseits im Zimmer, andererseits am Arbeitsplatz, zwei unterschiedliche Körper erzeugt: mit und ohne Talker. Hier zeigt sich, wie der Körper durch unterschiedliche soziomaterielle Arrangements praktisch hervorge- bracht wird und dabei nicht immer der gleiche Körper bleibt. Im Anschluss an Mol und Law, meint das, dass in unterscheidbaren Settings, deren Praktiken, Wirklich- keits- und Wertigkeitsordnungen sowie typischen lokalen Arrangements und Ver- bindungen von materiallen Elementen, ein soziales Objekt, z. B. ein Körper, ebenso unterschiedlich verwirklicht und behandelt wird.30 In verschiedenen loka- len Settings involviert und eingesetzt, wird der Körper multipel hervorgebracht. Im Fall von Toni heißt das, dass zwei unterschiedliche Arten der Körperlichkeit praktiziert werden: Ein Körper mit technisch produzierter Stimme innerhalb ei- nes technologischen Gerätenetzwerks zu Hause und einer ohne Stimme, dafür körperlich arbeitend innerhalb eines auf materielle Produktion angelegten Ortes, an dem Kommunikation kein zentrales Erfordernis für die Erledigung körperlich zu bewältigender Aufgabenstellungen darstellt. In der Werkstatt und zu Hause herrschen unterschiedliche Wirklichkeitsord- nungen vor, deren praktischer Vollzug sich weiter klären lässt durch die Art und Weise wie eine Symmetrie von technischem Talker und körperlichem Akteur hergestellt wird. Derart kann die These von der Einheit und Auftrennung von Ge- rät und Körper und der Multiplizierung des Körpers mit dem Konzept der Sym- 30 Vgl. Mol: »The Body Multiple«; Mol/Law: »Embodied Action, Enacted Bodies«; Law: »Af- ter Method«, S. 45-67; Bischur/Nicolae: »Annemarie Mol: Multiple Ontologien und vielfältige Körper«. Vgl. im Bezug auf körperliche Behinderungen Moser: »On becoming disabled and articulationg alternatives«; Moser: »Sociotechnical Practices and Differ- ence«; Winance: »Trying out the wheel chair«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 145 ANDREAS HENZE metrie von Technischem und Sozialem31 vertieft werden. Zu Hause wird eine Symmetrie von Talker und Körper praktiziert. Beides hat den gleichen Status in- nerhalb der Verknüpfung, die Tonis Stimme ausmacht. In der Verschränkung von agierendem Körper und technisch-generierter Stimme herrscht ein symmetri- sches Gleichgewicht. In der familiären Konversationslogik sowie den Freizeitakti- vitäten im Zimmer sind beide materiellen Elemente gleichrangig verantwortlich für die Konstitution des Sprechens und das selbständige Handeln Tonis. In der Werkstatt wird diese Einheit aufgebrochen, die Wechselwirkung von Körper und Technik wird asymmetrisch praktiziert: Körper und Gerät sind durch unter- schiedliche Relevanzen charakterisiert und daher auch auftrennbar. Der Körper arbeitet am Holz und wird in der Praxis priorisiert; das Gerät wird mit dem Status des Schützenswerten, der Fürsorge praktiziert; es und damit seine Handlungs- möglichkeiten ›verschwinden‹ in der staubundurchlässigen Tasche. Die sprechen- de Einheit von Körper und Gerät wird in der Werkstatt in ihre Bestandteile aufge- trennt, an das Holzregal einerseits, in die Tasche andererseits verteilt – und dadurch allein der Körper zum Ausdrucksmittel. 4. STEFAN – ODER: WIE SICH DAS SPRECHEN VERÄNDERT Als letztes zu Stefan. Er ist in den 1970ern geboren. Aufgrund der Stärke der spastischen Lähmung verfügt er über keine verbale Kommunikation und seine Handbewegungen sind besonders zeit- und kraftaufwendig. Ich treffe ihn für ein Gespräch in seinem privaten Zimmer im Wohnbereich einer Einrichtung für Men- schen mit Behinderungen. Auch er kommuniziert per Sprachcomputer, steuert sein Display allerdings per Augensensor. In der naiven Vermutung, dass auch mit einer per Sprachcomputer kommunizierenden Person die übliche Vorgehenswei- se des biografisch-narrativen Interviews schon irgendwie funktionieren würde, be- ginne ich unser Gespräch mit einer offenen Eingangsfrage, um eine umfangreiche Stegreiferzählung hervorzulocken und mich samt Notizzettel im Sessel zurückzu- lehnen, in der Folge darauf beschränkt verbal und nonverbal kurze Anzeichen von interessierter Aufmerksamkeit zu geben.32 Mit meiner Erwartungshaltung bricht Stefan unmittelbar. Anstatt nur per Sprachcomputer zu kommunizieren, integriert Stefan in seine biografische Narra- tion zusätzlich körperliche und visuelle Praktiken. Bereits nach wenigen Minuten schaut Stefan plötzlich nach oben. Nachdem er seine linke Hand zu seinem Joy- stick geführt hat, mit dem er seinen Rollstuhl steuert, fährt er zur Wand neben dem Zimmereingang. Ich folge ihm und wir schauen gemeinsam auf ein älteres Foto. Es zeigt ihn, wie er mit einem Stock an seinem Kopf auf einen Sprachcom- 31 Vgl. Latour: »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft«, S. 109-149; Roßler: »Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft«, S. 64-83. 32 Vgl. Schütze: »Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung«. NAVIGATIONEN 146 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME puter tippt. Stefan lässt seinen Talker sagen: »Da ich meine Hände nicht benutzen kann, musste ich ihn mit dem Stirnstab bedienen.« Im Verlauf des Interviews visu- alisiert Stefan wiederholt seine Narration und zeigt mir weitere Fotografien. Da- für wurde von beiden Interaktionspartnern der Körper mobilisiert, in Bewegung gebracht und visuelle Fähigkeiten gebraucht. Die Forschungssituation selbst ver- deutlicht, dass Kommunikation mehr ist als nur das Sprechen eines Einzelnen, sondern ebenso mit nonverbalen, visuellen und technischen Mitteln praktiziert wird und den Körper der Zuhörer miteinbezieht.33 Das ist für Stefans Biografie, auf die ich im Folgenden eingehe, insgesamt von Bedeutung und zeigte sich be- reits als konstitutiv für die Forschungssituation selbst. Stefan beginnt seine Erzählung mit einer pointierten Beschreibung seiner Fä- higkeiten: »Ich kann nicht sprechen, aber alles verstehen.« Durch die Aufteilung in produktives und rezeptives Können verdeutlicht er sein generelles Handlungs- problem: den Zusammenhang von ›Artikulierenkönnen und Verstandenwerden‹. Dieser charakterisiert seinen Umgang mit anderen Menschen. In der Kindergar- ten- und Schulzeit, so Stefan weiter, spricht er mit den Augen oder durch Zeigen am Körper. So war Blinzeln zum Beispiel ein Zeichen der Zustimmung. Im Verlauf der Schulzeit kamen Symbole hinzu, die auf einer Tafel abgebildet waren und durch Stefan mit einem Stab, der an seiner Stirn befestigt war, angezeigt wurden. In dieser Zeit war das Sprechen mit und Verstandenwerden von anderen Menschen ein Problem. Im Kindergarten zeigte Stefan mit dem und am Körper an, welche körperlichen Bedürfnisse der Bearbeitung bedurften. Der unproble- matischen Artikulation dieser ›einfachen‹ Bedürfnisse steht die erzählerische Vermittlung komplexer Sachverhalte, wie Erlebnisse und Ereignisse, gegenüber – was im Zuge des Aufwachsens relevanter, aber nicht vollziehbar, wurde.34 Be- dürfnisse zu artikulieren stand für Stefan im Kontrast zum nachvollziehbaren Er- zählen von in sich komplex strukturierten Erlebnissen. Erzählen konnte nicht durch körperliches Zeigen allein vollzogen werden. Die oben erwähnten Symbole justieren Stefans Kommunikationspraktiken während der Schulzeit neu. Die Symbole sind vom individuellen Körper Stefans losgelöst und stehen für potentiell verständliche, sozial geteilte Bedeutungszu- sammenhänge. Wenn Stefan mit dem Stab, der ihm um den Kopf gebunden ist, auf die Felder zeigt, so bleibt zwar die Praktik des Zeigens35 dominant, sie wird allerdings mit abstrakten Symbolen geleistet. Stefan kann sich nun durch ›Zeichen 33 Zur Relevanz visueller Ressourcen bei Menschen mit eingeschränkter Lautsprache vgl. Bauer: »Miteinander im Gespräch bleiben«; Goodwin: »Co-Constructing Meaning in Conversations with an Aphasic Man«; Hörmeyer: »Der Einsatz von Körper und Maschi- ne in der Unterstützten Kommunikation«; Nilsson: »Communication Mediated by a Po- wered Wheelchair«; vgl. im Bezug auf das narrative Interview Wundrak: »Die Materiali- tät des Erzählens«. 34 Vgl. zur kindlichen Entwicklungslogik von Erzählstrukturen Boueke u. a.: »Wie Kinder erzählen«. 35 Vgl. Schmidt u. a.: »Zeigen«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 147 ANDREAS HENZE zeigen‹ ausdrücken und komplexere Sachverhalte, wie z. B. »Ich habe gestern ei- nen Hund gesehen«, zur Anzeige bringen. Eine Zuhörerin interpretiert das Ge- zeigte und spricht für ihn einen möglichen Satz aus, welchen Stefan bestätigen oder ablehnen kann. Dadurch werden Gespräche zu kollektiven wie kooperativen Akten der Symbolinterpretation. Diese Kommunikationspraktik erweitert das Spektrum an Möglichkeiten des interpretativen Fremdverstehens zwischen Stefan und seinen Mitmenschen. Stefan konstatiert in dieser Phase entsprechend eine Verbesserung seiner Ausdrucksmöglichkeiten: er kann nun mit Symbolen erzählen. Das bedeutet je- doch nicht, dass er auch verstanden wird. So berichtet er von konstanten Ver- ständigungsproblemen mit dem schulischen Lehrpersonal. Symbole zeigen und durch andere interpretieren lassen, reicht für den pragmatischen Kontext der Schule – und vermutlich darüber hinaus – nicht aus, um wechselseitiges Verstehen kontinuierlich zu sichern. Zudem bemerkt Stefan, dass er in der unruhigen Welt einer Schule nicht lautstark auf sich aufmerksam machen konnte und häufig über- hört wurde. Zeigen war also nur beschränkt ausreichend, um wechselseitiges Verstehen dauerhaft zu erreichen und es löste nicht das Problem der Aufmerk- samkeitserzeugung durch Lautstärke: Symbole können eben nicht laut rufen, be- sitzen keine Lautstärkeregler. 1994 bekam Stefan seinen ersten elektronischen Sprachcomputer. Stefans Kommunikation wird dadurch technisiert. Gleichzeitig rückt sein Körper in der erzählerischen Darstellung in den Vordergrund. Die Displaytasten bediente Stefan weiterhin mit dem Stirnstab. Da aber nun mehr Symbole zur Verfügung standen, sprach Stefan auch mehr. Das Mithandeln eines materiellen Elementes, des Sta- bes, erzeugte dabei immer stärkere Nebenfolgen, die den Körper belasteten. Ste- fan wurde von chronischen Nackenschmerzen heimgesucht. Neben der bereits bestehenden körperlichen Herausforderung des Ansteuerns der Symbole, waren es nun Nackenschmerzen, die sich beim längeren Kommunizieren als Problem erwiesen. Stefan wurde auf diese Weise explizit auf seinen Körper zurückverwie- sen. Indem seine Kommunikationspraxis sich zunehmend technisierte, meldete sich gleichzeitig lautstark sein Körper, machte sich bemerkbar als relevantes, da verletzliches Element im Netzwerk aus Sprachcomputer, Stirnstab und Person. Die daraus resultierenden Schmerzen machten eine Transformation und Umge- staltung alltäglicher Praktiken und deren Arrangement von Körper und Technik notwendig.36 Vier Jahre und einen neuen Talker später, konnte er nun mit einem Sensor, der an einem Brillengestell befestigt und mit einem Kabel zum Talker verbunden war, das Display bedienen und sich dadurch artikulieren. Die sprachlichen und kommunikativen Fortschritte, die diese Schritte ermöglichen, spielen in der Er- zählung keine Rolle.37 Das ist ein Indiz dafür, dass sie zur Routine und Selbstver- 36 Vgl. Winance: »Pain, disability and rehabilitation practices«. 37 Sie wurden im Zuge von Nachfragen erwähnt. NAVIGATIONEN 148 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME ständlichkeit geworden sind. Vordergründiger Gegenstand von Stefans Narration ist weiter der Körper und seine Verkopplung mit dem Talker. Die erste entschei- dende Veränderung bestand in der technischen Ausstattung: Da die Bedienung durch eine Brille mit optischem Sensor praktiziert werden konnte, gehörte der lästige Stirnstab der Vergangenheit an. Der Sensor wurde als roter Punkt auf dem Display reflektiert. Wenn Stefan eine bestimmte Zeit auf einem Bild auf dem Dis- play verharrte, wurde dies als Auswahl vom Talker erkannt. Stefan entwickelte ein körperliches Gespür für seinen Blickpunkt, der sich auf dem Brillengestell zwi- schen seinen Augen befand. Nicht mehr unter Nackenschmerzen leidend, erlern- te Stefan seine Kopfhaltung und seinen Blick mit dem Display zu koordinieren, durch die Bewegung des Kopfes auf dem Display zu navigieren und für einen be- stimmten Zeitabschnitt das gewünschte Symbol zu fixieren. Ein anderes Element des Talkers spielte aber in dieser Phase für Stefans be- sondere Körperlichkeit eine Rolle. Das Kabel, mit dem Talker und Brille verbun- den wurden, sorgte bei Stefans spastischen Anfällen und seiner allgemeinen Schwierigkeit der Gliedmaßenkontrolle für Komplikationen. In Stefans Darstellung dieser Phase werden Probleme in der Kopplung von Körper-Gerät und nicht mehr im Körper alleine verortet: anstatt zu Schmerzen, kommt es zu Kollisionen. Die acht Jahre später erworbene neue Version des Talkers hat kein Kabel mehr nötig und im nächsten Schritt, wiederum vier Jahre später, verschwindet auch die Brille. Aufgrund der verbesserten Sensortechnik kann Stefan seinen Sprachcom- puter nun unmittelbar mit den Augen steuern – und damit, wieder wie zu Beginn seiner Erzählung, quasi ›mit den Augen sprechen‹. Nachdem der Körper bisher vordergründig war, verändert sich zum Ende von Stefans Erzählung erneut der Fokus. Das für einige Zeit primäre Problem ei- ner reibungslosen Verschaltung von Körper und Gerät geht über in Themen so- zialer und individueller Entwicklung. In den letzten fünf Jahren übernimmt Stefan zunehmend sozial verantwortliche Aufgaben. Er nimmt an der Arbeitsteilung in verschiedenen Institutionen teil und übernimmt z. B. Schreib- und Planungsaufga- ben sowie Botengänge innerhalb der Wohnanlage – immer dabei: der Talker. Hinzu kommt ein Vereinsengagement als Vorstandsmitglied und die regelmäßige Tagungsvorbereitung und -teilnahme. Er nimmt an Weiterbildungen teil und hält Vorträge mit dem Ziel, anderen Menschen in einer ähnlichen Lebenslage zu hel- fen. In Bezug auf seine Person nennt er die Entwicklung von Selbstbewusstsein, was für ihn wesentlich mit dem Erhalt einer Stimme zusammenhängt und ihn in die menschliche Gemeinschaft integriert: »Ohne eine Stimme habe ich mich nicht richtig als Mensch gefühlt.« Er kann nun Gespräche beginnen, aufrechterhalten und gestalten. Die Kommunikation über den unmittelbaren Umkreis (Internet, E-Mail, Skype) hinaus rundet die Sammlung von Praktiken ab, in denen er mithilfe des Talkers sein Leben »aktiv gestaltet« – in Bezug auf soziale Vergemeinschaf- tung, wie auf sich selbst. Gegenüber körperlichen oder technischen Problemen dominiert in dieser Phase ein Wechselspiel aus individueller Entwicklung und ver- gemeinschaftender Sozialintegration. Der durch die nun reibungslose Verknüp- NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 149 ANDREAS HENZE fung von Körper und Gerätetechnik ermöglichte Vollzug von Kommunikations- praktiken generiert und vermittelt Sozialisationsprozesse.38 5. SCHLUSS In diesem Beitrag wurden drei Varianten einer praxistheoretischen Herange- hensweise dargestellt: die Rekonstruktion einer einzelnen Praktik, dem Schreiben einer E-Mail, zeigte, wie körperliche Fähigkeiten, die kontrollierte Koordination von Gliedmaßen und die Ausübung körperlicher Kraft in Wechselwirkung mit technischen Geräten zum Vollzug einer Praktik beitragen. Dann wurden unter- schiedlich lokalisierte Praktiken miteinander verglichen: Zu Hause vermittelt die symmetrische Wechselwirkung aus Körper und Technik eine strukturelle Einheit, die innerhalb soziotechnischer Vernetzungen selbstbestimmtes Handeln ermög- licht. In der Werkstatt wird dagegen die Wechselwirkung asymmetrisiert und die Körperlichkeit der Arbeit priorisiert. Der Talker wird im soziotechnischen Arran- gement Werkstatt zu etwas Schützens-, aber nicht Gebrauchswertem. Die ab- schließende Rekonstruktion einer Biografie warf eine diachrone Perspektive auf Kommunikationspraktiken und die Entwicklung des individuellen Sprechenkön- nens. Anhand der sich wandelnden Wechselwirkung von Körper und Technik wurde gezeigt, wie sich ein Lebensverlauf strukturiert und lebensphasenspezifi- sche Handlungsprobleme und -lösungen generiert werden. Dabei konnte der As- pekt der Zeitlichkeit sozialer Praktiken nur angedeutet werden: In der sequentiel- len Anordnung von Handlungsschritten, dem Tempo und Rhythmus der familiären Konversation und der Konstruktion biografischer Zeitabschnitte durch den Ge- brauch von Kommunikationsgeräten, ist angedeutet, wie Temporalität im Zu- sammenspiel mit dem Körper für den Vollzug sozialer Praktiken eine Rolle spielt. Eine E-Mail verfassen, im Internet Musikvideos anschauen, mit den Eltern sprechen, von sich selbst erzählen – der Körper hat jeweils seinen Anteil am prak- tischen Geschehen und generiert in Verbindung mit den gebrauchten Geräten die soziale Ordnung des alltäglichen Lebens mit einer körperlichen Behinderung. So ist es eine Herausforderung technische Geräte zu bedienen, wenn in den Händen ›tote Hose‹ ist. Praktiken sehen dann vielleicht anders aus, sind zeitintensiver, ha- ben andere Dinge, wie Tastaturen mit Rastern, Stirnstäbe oder Talker. Wenn man aber Hände schüttelt, selber mit dem Sprechen aufhört und im Zimmer nach Fotos sucht, lässt sich manches lernen über die Verfasstheit und Voraussetzungs- haftigkeit von Medienpraktiken, die manchmal, aber nicht immer, keine Hürden aufstellen. 38 Vgl. Grundmann: »Sozialisation«. NAVIGATIONEN 150 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME LITERATURVERZEICHNIS Abraham, Anke: Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziolo- gischer Beitrag, Wiesbaden 2002. Ashby, Christine: »Whose ›voice‹ is it anyway? Giving voice and qualitative research involving individuals with significant disabilities«, in: Disability Studies Quarterly, Jg. 31, Nr. 4, 2011. Online verfügbar unter: http://dsq- sds.org/article/view/1723/1771. Bauer, Angelika: Miteinander im Gespräch bleiben. Partizipation in aphasischen Alltagsgesprächen, Mannheim 2009. Bischur, Daniel/Nicolae, Stefan: »Annemarie Mol: Multiple Ontologien und vielfältige Körper«, in: Lengersdorf, Diana/Wieser, Matthias (Hrsg.): Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, Wiesbaden 2014, S. 269- 278. Boueke, Dietrich/Büscher, Hartmut/Schünlein, Frieder/Wolf, Hartmann/ Wolf, Terhorst: Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten, München 1995. Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung, Konstanz 2013. Crossley, Nick: »Body Techniques, Agency and Intercorporeality: On Goffman’s Relations in Public«, in: Sociology, Vol. 29, Nr. 1, 1995, S. 133-149. Falkenberg, Monika: Stumme Praktiken. Die Schweigsamkeit des Schulischen, Stuttgart 2013. Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, New Jersey 1967. Goodwin, Charles: Conversational Organisation. Interaction between Speakers and Hearers, New York 1981. Goodwin, Charles: »Co-Constructing meaning in conversation with an aphasic man«, in: Research on Language and Social Interaction, Jg. 28, 1995, S. 233- 260. Gugutzer, Robert: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012. Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers, 5. vollst. überarb. Aufl., Bielefeld 2015. Grundmann, Matthias: Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie, Konstanz 2006. Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014. Hirschauer, Stefan: »Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns«, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 151 ANDREAS HENZE Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73-91. Hirschauer, Stefan: »Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis«, in: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/ Lindemann, Gesa (Hrsg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a. M. 2008, S. 169-187. Hörmeyer, Ina: Der Einsatz von Körper und Maschine in der Unterstützten Kommunikation. Eine konversationsanalytische Untersuchung, Mannheim 2015. Keppler, Angela: Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaf- tung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt a. M. 1994. Kotsch, Lakshmi: Assistenzinteraktionen. Zur Interaktionsordnung in der persön- lichen Assistenz körperbehinderter Menschen, Wiesbaden 2012. Krämer, Sybille: »Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performati- vität als Medialität«, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprach- philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 323-346. Krämer, Sybille: »Does The Body Disappear? A comment on computer generated spaces«, in: Seifert, Uwe/Kim, Jin Hyun/Moore, Anthony (Hrsg.): Paradoxes of Interactivity. Perspectives for Media Theory, Human-Computer Interac- tion, and Artistic Investigations, Bielefeld u. a. 2008, S. 26-43. Latour, Bruno: »Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivi- tät«, in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 11, Nr. 2, 2001, S. 237-252. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007. Law, John: After Method. Mess in Social Science Research, London u. a. 2004. Linz, Erika: »Die Reflexivität der Stimme«, in: Linz, Erika/Epping-Jäger, Cornelia (Hrsg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 50-64. Mauss, Marcel: »Techniques of the body«, in: Economy and Society, Jg. 2, Nr. 1, 1973, S. 70-88. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1973. Meuser, Michael: »Körper-Handeln. Überlegungen zu einer praxeologischen Soziologie des Körpers«, in: Gugutzer, Robert (Hrsg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 95-116. Mol, Annemarie: The Body Multiple. Ontology in Medical Practice, Durham 2002. Mol, Annemarie/Law, John: »Embodied Action, Enacted Bodies. The Example of Hypoglycaemia«, in: Body & Society, Jg. 10, Nr. 2-3, 2004, S. 43-62. Mondada, Lorenza/Schmitt, Reinhold (Hrsg.): Situationseröffnungen. Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion, Tübingen 2010. NAVIGATIONEN 152 MEDIE NP RAKTIKEN TASTATUR UND TALKER, HAND UND STIMME Moser, Ingunn: »On becoming disabled and articulating alternatives. The multiple modes of ordering disability and their interferences«, in: Cultural Studies, Jg. 18, Nr. 6, 2006, S. 667-700. Moser, Ingunn: »Sociotechnical Practices and Difference. On the Interference between Disability, Gender and Class«, in: Science, Technology & Human Values, Jg. 31, Nr. 5, 2006, S. 537-564. Moser, Ingunn/Law, John: Making voices. New Media Technology, Disabilities, and Articulation, Centre for Science Studies, Lancaster 2001. Online verfügbar unter: htp://www.comp.lancs.ac.uk/sociology/papers/Moser-Law- Making-Voices.pdf. Nilsson, Lisbeth: »Communication Mediated by a Powered Wheelchair: People with Profound Cognitive Disabilities«, in: Disability Studies Quarterly, Jg. 31, Nr. 4, 2011. Online verfügbar unter: http://dsq-sds.org/article/view/1708. Rammert, Werner/Schubert, Cornelius: Körper und Technik. Zur doppelten Verkörperung des Sozialen, TUTS – Working Papers, Nr. 1-2015, Berlin 2015. Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Nr. 4, 2003, S. 282-301. Roßler, Gustav: Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft. Sozialität – Kognition – Netzwerke, Bielefeld 2015. Sacks, Harvey/Jefferson, Gail/Schegloff, Emanuel A.: »A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation«, in: Language, Jg. 50, Nr. 4, 1974, S. 696-735. Schäfer, Hilmar: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013. Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A philosophical account of the constitution of social life and change, University Park, PA 2002. Schegloff, Emanuel A.: »Sequencing in Conversational Openings«, in: American Anthropologist, Jg. 70, Nr. 6, 1968, S.1075-1095. Schillmeier, Michael: Rethinking Disability. Bodies, Senses, and Things, New York 2010. Schindler, Larissa: Kampffertigkeit. Eine Soziologie praktischen Wissens, Stuttgart 2011. Schindler, Larissa: »The Flying Body: Wie Körper und Dinge sich gegenseitig und eine Flugreise hervorbringen«, in: Body Politics , Jg. 3, H. 6, S. 285-308. Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a. M. 2012. Schmidt, Robert/Stock, Wiebke M./Volbers, Jörg (Hrsg.): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 153 ANDREAS HENZE Schubert, Cornelius: »Die Technik operiert mit. Zur Mikroanalyse medizinischer Arbeit«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 40, Heft 4, 2011, S. 174-190. Schüttpelz, Erhard: »Körpertechniken«, in: ZMK Zeitschrift für Medien- und Kul- turforschung, Jg. 1, Nr. 1, 2010, S. 101-121. Schüttpelz, Erhard: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, in: Schüttpelz, Er- hard/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld 2013, S. 9-67. Schütze, Fritz: »Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch re- levanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung: dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen.«, in: Ar- beitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Kommunikative Sozialforschung: Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politi- sche Erwachsenenbildung, München 1976, S. 59-260. Schütze, Fritz: »Prozeßstrukturen des Lebenslaufs«, in: Matthes, Joachim u. a. (Hrsg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Kolloqium am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Erlangen- Nürnberg, Nürnberg 1981, S. 67-156. Schütze, Fritz: »Biographieforschung und narratives Interview«, in: Neue Praxis, Jg. 13, Nr. 3, 1983, S. 283-293. Sudnow, David: Ways of the Hand. A Rewritten Account, Cambridge/London 2001. Thielmann, Tristan: »Taking into Account. Harold Garfinkels Beitrag für eine Theorie sozialer Medien«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 6, Nr. 1, 2012, S. 85-102. Waldschmidt, Anne: Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behin- derter Frauen und Männer, 2., korr. Aufl., Wiesbaden 2012. Winance, Myriam: »Trying Out the Wheelchair. The Mutual Shaping of People and Devices through Adjustment«, in: Science, Technology & Human Values, Jg. 31, Nr. 1, 2006, S. 52-72. Winance, Myriam: »Pain, disability and rehabilitation practices. A phenomenologi- cal perspective«, in: Disability and Rehabilitation, Jg. 28, Nr. 18, 2006, S. 1109-1118. Wundrak, Rixta: »Die Materialität des Erzählens. Die Bedeutung von Dingen und Körpern im biographischen Interview. Ein Beispiel aus Jaffa (Israel)«, in: Ös- terreichische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 40, Nr. 4, 2015, S. 355-371. NAVIGATIONEN 154 MEDIE NP RAKTIKEN EIN GLOSSAR ZUR PRAXISTHEORIE »Siegener Version« (Frühjahr 2017) V O N E R H A R D S C H Ü T T P E L Z U N D C H R I S T I A N M E Y E R NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN ERHARD SCHÜTTPELZ / CHRISTIAN MEYER Abb. 1: Sequenz-Zeichnungen von Lucie Leutenecker nach Weldon Kees und Jurgen Rueschs Film »Approaches and Leave-Takings«. Zwei Freundinnen laufen über einen Campus, eine dritte kommt von rechts dazu und begrüßt sie. Die mittlere Frau sucht zuerst körperlichen Kontakt zur neu hin- zugekommenen Freundin zur rechten, dann zu ihrer Freundin zur linken, mit der sie zuvor über den Campus gegangen war, bis sie sich schließlich bei der neuan- gekommenen Freundin unterhakt. Nach einigen Schritten zu dritt verabschiedet sich die linke Frau. Das neue Paar auf der rechten Seite bleibt übrig und läuft wei- ter. Als gemeinsame Abläufe sind zu beobachten: das soeben Beschriebene, das wir als Begrüßungen und Verabschiedungen »sehen«, also das kooperative Zu- standekommen einer Interaktion.1 Die wechselseitig verfertigten gemeinsamen Abläufe lassen sich gut erkennen und im Nachhinein problemlos erzählen. Aller- dings handelt es sich um einen Film ohne Tonspur, und daher bleiben nur die vi- suellen Abläufe und Indizien als Anhaltspunkte unseres Wissens und Unwissens. Wir sehen das Zustandekommen von Mitteln und Zielen, von erzählbaren Hand- lungen und unterstellbaren Motiven, ohne dass wir Mittel, Ziele und Abläufe aus- einanderhalten könnten oder auch müssten. Das in wechselseitiger Verfertigung befindliche Geschehen (die Praxis) kon- stituiert sich fortlaufend durch die Feingliederung der wechselseitigen Improvisa- tion. Es wird durch die retrospektive Erzählbarkeit nicht in dieser Feingliederung 1 Kees/Ruesch: »Approaches and Leave-Takings«. NAVIGATIONEN 156 MEDIE NP RAKTIKEN EIN GLOSSAR ZUR PRAXISTHEORIE analysiert, sondern nur durch summarische Begriffe – durch ein Motivvokabular – erfasst: »sie haben sich getroffen, sie haben sich untergehakt, sie haben sich ver- abschiedet und getrennt«. Die größte Schwierigkeit einer Praxistheorie liegt in der Grobheit unseres Vokabulars für praktische, und d. h. für kooperative und improvisierte Abläufe. Diese Grobheit zeigt sich insbesondere in dem Wunsch nach disjunktiven und in der Unmöglichkeit von disjunktiven Unterscheidungen. Am eigenen Entwurf verdeutlicht: Wir werden »Kooperation« durch »die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe, Ziele und Mittel« definieren; und das kann so klingen, als seien »Abläufe, Mittel und Ziele« drei verschiedene Dinge. Unser terminologischer Vorschlag besagt außerdem: »Kooperation« schafft »Interaktion«, d. h. die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel oder Abläufe lässt die gemeinsamen Abläufe einer »Interaktion« entstehen. Aber sobald wir versuchen, für eine beliebige Sequenz ihre Abläufe, Ziele und Mittel auseinan- derzuhalten, zeigt sich, dass jeder Teilabschnitt eines Ablaufs als »Mittel« für den nächsten »dient«, und dass ein »erzielter« und vorher »angestrebter« Teilabschnitt eines Geschehens wiederum als »Mittel« für den nächsten Teilablauf vorausge- setzt wird. Und wann genau haben diese Kategorisierungen die Seiten gewech- selt, oder sollten sie in der Analyse die Seiten wechseln? Das bleibt aus guten Gründen unbestimmt. Wie bereits geschildert und durch Zeichnungen abgebildet, sehen wir, wie zwei Freundinnen Arm in Arm über den Campus schlendern, eine dritte Freundin schließt sich ihnen an, wird untergehakt, einen Moment lang laufen sie so zu dritt, dann hakt sich die Freundin auf der anderen Seite aus und das verbliebene neue Paar läuft weiter. Das ist die Zusammenfassung, wie man sie »in vernünftiger Weise« geben würde; aber sie ist nicht einmal für diesen simplen Ablauf exakt ge- nug. Zweifelsohne eine »wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe und Ziele«, aber alle Teilabschnitte und ihre »Abläufe« waren auch »Mittel« und »Teil- ziele«. Erst im Nachhinein enthält – oder erhält – die Sequenz ihre drei unmiss- verständlichen Tatbestände, die Außenstehende und Beteiligte gleichermaßen be- richten können: Zwei Freundinnen haben eine dritte »getroffen«, die eine hat sich »verabschiedet« und daraus ist ein neues Paar entstanden, das »zusammen wei- terspaziert«. Abläufe, Mittel und Ziele gingen dabei bruchlos ineinander über. Wir folgern daraus: Die Kategorisierung des Grundvokabulars einer Praxis- theorie kann nicht disjunktiv sein und sollte auf die Absicht von Disjunktionen ver- zichten, die schon an der einfachsten Sequenzanalyse zum Scheitern verurteilt sind. Mittel und Ziele und Abläufe sind fortlaufend und wechselseitig das eine und das andere für einander; das ist es, was mit dem Wort von der »wechselseitigen Verfertigung« mitgemeint sein sollte, wenn man die Definition vertieft. Nicht nur handelnde Personen und eine Handlungsinitiative auslösende Größen befinden sich in der wechselseitigen Verfertigung eines Geschehens und inmitten seiner improvisierten Mittel und Ziele, sondern die Mittel, Ziele und Abläufe ebenso. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 157 ERHARD SCHÜTTPELZ / CHRISTIAN MEYER Das in einer wechselseitigen Verfertigung befindliche Geschehen bringt die wechsel- seitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel und Abläufe hervor. Und die wech- selseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe lässt wechselseitig verfertigte gemein- same Abläufe entstehen. Die Übergängigkeit von Mitteln, Zielen und Abläufen ist das basale Medium, durch das Praxis zur Interaktion wird. Gibt es ein Vokabular, das der improvisierenden Vorläufigkeit, aber auch der Präzision und Erzählbarkeit alltäglicher kooperativer Abläufe gerecht wird? Ein solches Vokabular wollen wir im Folgenden entwickeln und erläutern und haben wir bereits in Ausschnitten verwendet. DAS GRUNDVOKABULAR EINER PRAXISTHEORIE Das Ziel des folgenden Grundvokabulars bleibt eine Konstitutionsanalyse, die es ermöglichen soll, die Praxis allen anderen (sozialen oder technischen) Erklärungs- größen vorzuordnen. Das Grundvokabular kondensiert die angestrebte Konstitu- tionsanalyse. DEFINITIONEN Kooperation: die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mit- tel oder Abläufe. Interaktion: die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe. Praktiken: wechselseitig verfertigte gemeinsame Abläufe. Handlung: die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer oder nicht- gemeinsamer Ziele. Routine: die Wiederholbarkeit (wechselseitig verfertigter) gemeinsa- mer Abläufe. Technik: die wiederholbare Verfertigung der Wiederholbarkeit (wechselseitig verfertigter) gemeinsamer Abläufe. Praxis: das in einer wechselseitigen Verfertigung befindliche Gesche- hen. THEORETISCHE IMPLIKATIONEN Kooperation wird durch Praxis hervorgebracht. Interaktion wird durch Kooperation hervorgebracht. Praktiken werden durch Interaktion hervorgebracht. NAVIGATIONEN 158 MEDIE NP RAKTIKEN EIN GLOSSAR ZUR PRAXISTHEORIE Handlungen werden durch Praktiken hervorgebracht. Routinen werden durch Handlungen und Praktiken hervorgebracht. Techniken werden durch Routinen, Handlungen und Praktiken her- vorgebracht. ERLÄUTERUNGEN 1. Praxistheorie ist das theoretische Vermögen, die Praxis allen anderen sozialen Größen vorzuordnen. Kooperation, Interaktion, Praktiken, Handlungen, Routi- nen, Techniken, technische Medien werden »in der Praxis« hervorgebracht, d. h. in einem sich in wechselseitiger Verfertigung befindenden Geschehen. Praxis kann durch Begriffe der Interaktion, Handlung, Routine oder Technik theoretisch er- fasst und gegliedert werden, aber nur im Rahmen empfindlicher Einschränkungen. Diese Einschränkungen versuchen wir auch für theoretische Angebote von ande- rer Seite zu berücksichtigen; und durch die Definitionen und Implikationen des Vokabulars versuchen wir sowohl diese Einschränkungen als auch unsere Konsti- tutionsanalyse terminologisch zu kondensieren. 1.1 Die theoretischen Herleitungen der Praxis durch Kooperation, der Kooperati- on durch Interaktion, der Interaktion durch Praktiken, der Praktiken durch Hand- lungen, der Handlungen (oder Praktiken) durch Routinen und der Routinen durch Techniken bleiben unvollständig. Z. B. die theoretische Herleitung der Interaktion durch Praktiken erfasst Praktiken und den Anteil der Praktiken an der Interaktion, aber nicht die Interaktion. Analog gilt das für alle weiteren Paare benachbarter oder weiter entfernter Begriffe (s. die Definitionen). 1.2 Insbesondere die in soziologischen Theorien beliebte Begründung von Prakti- ken durch Routinen (oder durch Dispositive, Dispositionen, Habitus u.a.) erfasst den Anteil von Routinen an Praktiken, aber nicht die Praktiken selbst; und sie er- fasst die Routinen nur »als Routinen«, aber nicht die Praktiken, die Interaktion oder die Praxis, in denen eine Routine zur Ausführung und Improvisation oder zum Gelingen und Misslingen gelangt. 1.3 Analog gilt dies für Techniken und die Erklärung von Praktiken durch Techni- ken (oder durch »Kulturtechniken«). 1.4 Zugleich gilt auch für uns: Eine »Theorie der Praxis« bleibt insgesamt unvoll- ständig, denn sie kann nur in schwächeren und abgeleiteten Begriffen stattfinden. Machbar und wünschenswert ist »Praxistheorie« in ihren theoretischen Darstel- lungen und empirischen Untersuchungen. 2. Die gewählten Definitionen erscheinen durch die Verwendung eines einheitli- chen Vokabulars zweifelsohne etwas redundant, aber das sind sie nicht. Sie sind gewählt, um eine elementare Konsistenz des Vokabulars zu ermöglichen, die bishe- NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 159 ERHARD SCHÜTTPELZ / CHRISTIAN MEYER rigen praxistheoretischen Vorschlägen fehlt. Es folgen einige Erläuterungen zur Konsistenz der Definitionen. 2.1 Kooperation: die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel oder Abläufe. Das Vokabular des Definiens besteht aus: wechselseitig, Verfertigung, gemeinsam, Ziele, Mittel, Abläufe. Zur Erläuterung: 2.2 Wechselseitigkeit vs. Wechselwirkung: Der von Georg Simmel2 vorgeschlage- ne und später im Goffman’schen Interaktionskonzept aufgegangene Begriff der »Wechselwirkung«3 erscheint für viele Vorgänge der Interaktion zu stark und wurde von Alfred Schütz wie folgt kritisiert: Eine Wirkensbeziehung liegt dann vor, wenn auf Seiten eines Han- delnden ein Akt des Fremdwirkens in der Erwartung gesetzt wird, der Andere, auf den dieses Wirken abzielt, werde darauf reagieren oder doch wenigstens hinsehen. Die Wirkensbeziehung hat also nicht eine Wechselwirkung, d. h. ein durch den Partner zu setzendes, auf mich hinzielendes soziales Wirken oder auch nur Handeln zur Vorausset- zung, sondern nur, daß der Partner mir, dem Handelnden gegenüber einen Akt der Fremdeinstellung vollziehe, auf mich hinsehe, mich in den Blick fasse, das von mir gesetzte Erzeugnis als Zeugnis für meine Bewußtseinserlebnisse interpretiere usw. Der Andere muß mir, dem Handelnden, also nicht handelnd zugekehrt sein, er muß mir nur überhaupt zugewendet sein. Vorausgesetzt ist also eine besondere at- tentionale Haltung des Partners, welche freilich alle seine Bewußt- seinserlebnisse modifiziert.4 Es empfiehlt sich ein Rückgriff auf den Begriff der »Wechselseitigkeit« (eines Ge- schehens), der auch dann stimmig bleibt, wenn die Kennzeichnung als »Wechsel- wirkung« unpassend erscheint. 2.3 Verfertigung ist für den Grundvorgang einer »wechselseitigen« Herausbildung gemeinsamer Mittel, Ziele, aber auch Abläufe angemessener als »erarbeiten« (aufgrund des Arbeitsbegriffs), »herstellen« (eine Vokabel, die meist auf geplante Vorgänge verweist) oder erst recht »produzieren« und »konstruieren«. »Verferti- gung« kann mit griechisch poiesis verglichen werden und entspricht englisch ac- complishment. 2.4 Die Wechselseitigkeit liegt der Gemeinsamkeit von Abläufen, Mitteln und Zie- len zugrunde und nicht umgekehrt. Diese theoretische Auffassung und ihre Auf- nahme in die Definitionen bedeutet, wie nicht eigens kommentiert zu werden 2 Simmel: »Soziologie«. 3 Vgl. Bergmann: »Von der Wechselwirkung zur Interaktion – Georg Simmel und die Mik- rosoziologie heute«. 4 Schütz: »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt«, S. 176f. NAVIGATIONEN 160 MEDIE NP RAKTIKEN EIN GLOSSAR ZUR PRAXISTHEORIE braucht, eine empfindliche Weggabelung. Selbstverständlich entsteht die Wech- selseitigkeit der Verfertigung gemeinsamer Abläufe, Mittel und Ziele auch durch (wechselseitig verfertigte) gemeinsame Abläufe, Mittel und Ziele. Aber alle Ge- meinsamkeiten müssen wechselseitig verfertigt werden (bzw. wechselseitig ver- fertigt worden sein und danach immer wieder in situ aktualisiert werden), und die gesamte Wechselseitigkeit dieser Verfertigung kann nicht durch gemeinsame Zie- le, Mittel und Abläufe erfasst oder hergeleitet werden. Auf Englisch: »wechselseitig« vs. »gemeinsam«: mutual (constitution, as- sistance, repair usw.) vs. common und z.T. auch joint oder shared (goals, means, ac- tions). 2.5 Interaktion ist definiert durch »die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe«: D. h. überall, wo das zutrifft (die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe), d. h. dass eine »wechselseitige Herstellung gemeinsamer Abläufe« statt- findet, findet »Interaktion« statt, das wäre eine »überall da, wo«-Definition. ODER man definiert (dogmatisch) Interaktion durch »die wechselseitige Ver- fertigung gemeinsamer Abläufe« für und durch Anwesende (die sich aber dabei auf Abwesendes beziehen können, d. h. die Grenze wird nicht klarer gezogen), dann braucht man noch eine Zusatzklausel: die »wechselseitige Verfertigung ge- meinsamer Abläufe« für und durch Anwesende und ihre Größen der »Kooperati- on«. ODER man fasst »Kooperation« als den allgemeineren Begriff (der auch alle Nah/Fern-Wechselwirkungen umfasst), und »Interaktion« wird auf den Nahbe- reich (im eben genannten Sinne) beschränkt. Alle diese Optionen bleiben möglich, ohne die gewonnene Theorie- Disposition zu verlassen. Allerdings ist es nicht in unserem Sinne, die beiden letz- ten Optionen (einer Reduktion auf Anwesende bzw. den Nahbereich) zu verfol- gen; und sie erscheinen uns auch deshalb als unrealistisch, weil im Nahbereich immer auch abwesende Größen zur Geltung gebracht und in Mitleidenschaft ge- zogen werden, die zur »wechselseitigen Verfertigung der gemeinsamen Abläufe« beitragen. Daher ist die »überall da, wo«-Definition zu bevorzugen. Sie kann al- lerdings mithilfe von Garfinkels »Kooperationsbedingungen«5 präzisiert werden, und zwar durch die doppelte Hinsicht: (erstens) dass in den Abläufen »eine wech- selseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe« geschieht und (zweitens) dass in den Abläufen wechselseitig verfertigend zur Geltung gebracht wird, dass eine »wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe« geschehen soll. Wenn man will, könnte man das unter (erstens) formulierte Kriterium einen »umfassenden« oder »inklusiven Interaktionsbegriff« nennen, und seine Verstärkung durch (zwei- tens) einen »starken Interaktionsbegriff«. Allerdings wird man dann feststellen, 5 Vgl. Garfinkel: »A conception of and experiments with ›trust‹ as a condition of concert- ed stable actions«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 161 ERHARD SCHÜTTPELZ / CHRISTIAN MEYER dass Garfinkel6 eine Interaktionstheorie vertritt (ohne das Wort »Interaktion« über Gebühr zu strapazieren), die besagt, dass »eine wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe« beinhaltet, dass in den Abläufen (durch die fortlaufenden, von ihm benannten »Kooperationsbedingungen«) wechselseitig verfertigend zur Geltung gebracht wird, dass eine »wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ab- läufe« geschieht. Daher reicht die kürzere Definition, auch für Garfinkels Version, ohne Einschränkungen auf Anwesenheit und Nahbereich. 2.6 Interaktion und Handlung: Nach der Definition kann auch Interaktion als Hand- lung bzw. genauer, als Prozess der Verfertigung einer Handlungswelt verstanden werden, aber nur insofern die Gemeinsamkeiten der Abläufe ein vorausgesetztes und erarbeitetes Ziel der Interaktion bleiben. Diese Perspektive beinhaltet immer eine theoretische und/oder praktische Einschränkung der Abläufe. Aber es geht in einer Interaktionstheorie nicht darum, »Handlungstheorie« abzuschaffen oder zu relativieren, sondern nur darum, für sie einen anderen Ort in der theoretischen Herleitung und im praktischen Geschehen auszuweisen. Es bleibt die (theoreti- sche und praktische) Asymmetrie: (Soziale) »Handlungen« durch die wechselseiti- ge Herstellung von (gemeinsamen oder nicht-gemeinsamen) Zielen in Interakti- onsabläufen bestimmen zu können, aber nicht umgekehrt. 2.7 Technik: die wiederholbare Verfertigung der Wiederholbarkeit (wechselseitig verfertigter) gemeinsamer Abläufe. Diese Definition scheint u. U. redundant, was die »Wiederholbarkeit« betrifft. Aber das ist sie nicht, denn zum einen erwarten wir von der Verfertigung (von Abläufen) durch »Technik« (auch Körpertechniken und alle Geschicklichkeiten), dass es um etwas geht, das wiederholbar ist (und auf seine Wiederholbarkeit hin verfertigt wird), und dass diese Verfertigung selbst ei- ne Wiederholbarkeit »enthält«, die das Technische des Vorgangs ausmacht. 2.8 Techniken setzen in der gewonnenen Definition Handlungen, Praktiken und Routinen voraus. Der Zusammenhang lässt sich folgendermaßen explizieren: »Techniken« entstehen, indem und wenn die wechselseitig verfertigten gemein- samen Abläufe (i.e. Praktiken) durch ihre Wiederholbarkeit (i.e. Routinen) zu wechselseitig verfertigten gemeinsamen Zielen (i.e. Handlungen) gemacht wer- den. Indem die Verfertigung gemeinsamer Abläufe (i.e. die Beschaffenheit von Praktiken) zum gemeinsamen Ziel von Praktiken (i.e. zu Handlungen) gemacht wird, werden die hierdurch verfertigten gemeinsamen Abläufe gemeinsame Mittel für weitere Praktiken (und mögliche andere Techniken) und d. h. für mögliche unterschiedliche Ziele.7 Diese Definition verweist darauf, dass jede Technik sich durch eine Lehr- und Lernbarkeit (apprenticeship) auszeichnet, m.a.W. dass man in Techniken auch bei individueller und einsamer Ausübung »ohne Zuschauer und Zuhörer« auf »wechselseitig verfertigte gemeinsame Abläufe« zurückgreift, die auf mögliche 6 Ebd. 7 Vgl. Wundts »Heterogonie der Zwecke« in Wundt: »Grundriß der Psychologie«, S. 404f. NAVIGATIONEN 162 MEDIE NP RAKTIKEN EIN GLOSSAR ZUR PRAXISTHEORIE »gemeinsame Ziele« hin eingerichtet worden sind. Technische Verrichtungen sind Verrichtungen, die auch jemand anderes mit anderen Zielen ausüben könnte. 2.9 Die gewonnenen Definitionen beinhalten außerdem u.a. folgende theoreti- schen Aussagen: Handlungen setzen Interaktionen voraus. Praktiken können nicht durch »Routine«/ Routinen (oder Habitus) erklärt werden (nur umgekehrt), die Erläuterung von Praktiken erfolgt aus dem Begriff der Inter- aktion und diese wiederum aus der Vorordnung der Wechselseitigkeit vor allen Gemeinsamkeiten (z. B. gemeinsamen Praktiken oder gemeinsamen Techniken). 3. Kooperation wird durch Praxis hervorgebracht, und zwar im Medium der Über- gängigkeit von Zielen, Mitteln und Abläufen. Vor allen weiteren Medien der Ko- operation konstituiert sich das Medium der Kooperation, sprich: dadurch, dass die Mittel und Ziele und Abläufe einer Interaktion fortlaufend und wechselseitig das eine und das andere für einander sind. LITERATURVERZEICHNIS Bergmann, Jörg: »Von der Wechselwirkung zur Interaktion – Georg Simmel und die Mikrosoziologie heute«, in: Tyrell, Hartmann/Rammstedt, Otthein/Meyer, Ingo (Hrsg.): Georg Simmels große ›Soziologie‹ – Eine kriti- sche Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld 2011, S. 125-148. Garfinkel, Harold: »A conception of and experiments with›trust‹ as a condition of concerted stable actions«, in: Harvey, O.J. (Hrsg.): Motivation and Social Ac- tion, New York 1963, S. 187-238. Kees, Weldon/Ruesch, Jurgen: Approaches and Leave-Takings, USA 1952, 12 Mi- nuten (Film). Leutenecker, Lucie: Sequenz-Zeichnungen nach Kees, Weldon/Ruesch, Jurgen, »Approaches and Leave-Takings« (1952), 2016. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf- tung, Berlin 1908. Wundt, Wilhelm: Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 163 AUTOR_INNEN Christoph Borbach studierte Musik-, Medien- und Geschichtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit April 2016 ist er Wissenschaftlicher Mit- arbeiter am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media« an der Universität Siegen. In seinem medienwissenschaftlichen Promotionsprojekt untersucht er unter dem Titel »Zeitkanäle | Kanalzeiten. Eine Mediengeschichte des Δt« Operationalisier- ungen von Signallaufzeit. Aktuelle Veröffentlichung: »Siren Songs and Echo’s Re- sponse: Towards a Media Theory of the Voice in the Light of Speech Synthesis«, On_Culture: The Open Journal for the Study of Culture 2 (2016). Mark Dang-Anh, Kollegiat am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media« der Universität Siegen. Zuvor Mitarbeit im Projekt »Deliberation im Netz« des DFG- Schwerpunktprogramms »Mediatisierte Welten« an der Universität Bonn. Studi- um der Sprachwissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie an der RWTH Aachen. Forschungsschwerpunkte: Medienlinguistik, politische Kommunikation, Protestkommunikation und kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung. Mithe- rausgeber Journal für Medienlinguistik. Aktuelle Veröffentlichung: »Die interaktio- nale Konstitution einer synthetischen Protestsituation«, in: Kämper, Heidrun/ Wengeler, Martin (Hg.): Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit, Poli- tikkritik in der Demokratie, Bremen 2017, S. 133-149. Andreas Henze studierte Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit November 2015 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media« an der Universität Siegen. In seinem Promotionsprojekt untersucht er die Bedeu- tung von Medien und Technik für den Alltag und das Leben mit einer körperlichen Behinderung. Raphaela Knipp, Dr. phil., ist seit 2016 Wissenschaftliche Koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs »Das Dokumentarische. Exzess und Entzug« an der Ruhr-Universität Bochum; 2016 Promotion im Fach Germanistik/Neuere deut- sche Literaturwissenschaft; 2012-2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG- Graduiertenkolleg »Locating Media« der Universität Siegen; Forschungsschwer- punkte: Medien der Literatur, Rezeptions- und Publikumsforschung, Praxeolo- gie/Ethnographie in der Literaturwissenschaft, Literaturgeographie, Literaturaus- stellung. Aktuelle Veröffentlichungen u.a.: Begehbare Literatur. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zum Literaturtourismus, Heidelberg 2017; Mit- hrsg.: Alltagspraktiken des Publikums: Theater, Literatur, Kunst, Populärkultur. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 4 (2016). NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN AUTOR_INNEN Christian Meier zu Verl studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Bielefeld. Von 2010 bis 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld; von 2013 bis 2015 Wissenschaft- licher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media«; 2015/16 Wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Spezielle Soziologie und Qualitative So- zialforschung des Instituts für Politikwissenschaft und Soziologie der Justus- Maximilians-Universität Würzburg und seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie der Universität Kon- stanz. In seiner Dissertation »Doing Social Research. Eine ethnomethodologische Untersuchung ethnografischer Arbeit« thematisiert Christian Meier zu Verl die Praxis ethnografischer Arbeit aus einer kultur- und wissenschaftssoziologischen Perspektive. Publikation: »Hermeneutische Praxis. Eine ethnomethodologische Rekonstruktion sozialwissenschaftlichen Sinnrekonstruierens«, in: Sozialer Sinn 14: S. 207-234 (zusammen mit Christian Meyer). Christian Meyer, Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Kultursozio- logie an der Universität Konstanz. Zuvor Professuren, Professurvertretungen und Gastprofessuren an den Universitäten Würzburg, Duisburg-Essen, Siegen, Ha- waii/Manoa, Halle-Wittenberg, Södertörn und Bielefeld. 2013/14 Senior Fellow am Käte Hamburger-Kolleg »Global Cooperation Research Center« in Duisburg; 2004-07 Leiter eines von der Volkswagenstiftung finanzierten Tandemprojekts. Forschungsschwerpunkte: Kultur, Sprache, Interaktion sowie Qualitative Metho- dologie. Aktuelle Veröffentlichungen: Intercorporeality: Emerging Socialities in In- teraction, hg. zusammen mit Jürgen Streeck und J. Scott Jordan; New York, 2017 (i.E.). Simone Pfeifer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media« der Universität Siegen. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitar- beiterin am Institut für Ethnologie der Universität zu Köln. Studium der Ethnolo- gie, Mittleren und Neueren Geschichte, Psychologie und Visuellen Anthropologie in Heidelberg, Köln und Manchester. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medi- enethnologie und Audiovisuelle Anthropologie, Migration, Mobilität und Transna- tionalismus; regional liegt ihr Schwerpunkt auf Europa und Westafrika. Aktuelle Veröffentlichungen: Neumann, Ulf/Pfeifer, Simone: »To Declare One’s Hand: Pic- tures on the Table, Pictures on the Move« (in Begutachtung), in: Journal#3, Spe- cial Issue: Migration and Motion: Dialogues on Human Movement, Bd. 2, Nr. 1, 2017. Anna Lisa Ramella studierte spanische und italienische Literaturwissenschaft in Berlin und Madrid sowie Transkulturelle Studien in Bremen. Seit Oktober 2015 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg »Locating NAVIGATIONEN 166 MEDIE NP RAKTIKEN AUTOR_INNEN Media« an der Universität Siegen. Ihr Promotionsprojekt untersucht die Mobilität von Musiker_innen im Zusammenspiel mit der Digitalisierung von Musikmedien und Social Media mit Methoden der visuellen Anthropologie und digitaler Ethno- graphie. Aktuelle Veröffentlichung: »Finding one’s rhythm: a mobile ethnography on the road with a touring band« (im Druck), in: Estalella, A./ Sánchez-Criado, T. (Hg.): Experimental collaborations: Ethnography through fieldwork devices, EASA Book Series, New York 2017. Clemens Reisner ist Kollegiat am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media« der Universität Siegen. Zuvor Studium der Japanologie und Globalgeschichte in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Mediengeschichte, Globalgeschichte nach 1945 und game studies. Aktuelle Veröffentlichungen: »On the media practice of highscoring«, in: Cogent Arts and Humanities 3 (1) https://doi.org/10.1080/ 23311983.2016.1210277, 2016. Erhard Schüttpelz, Prof. Dr., nach Studium und Forschung in Hannover, Exe- ter, Bonn, Oxford, Köln, New York, Konstanz und Wien seit 2005 Professor für Medientheorie an der Universität Siegen. Ehemaliger Sprecher des Graduierten- kollegs »Locating Media« und jetzt Sprecher des SFB »Medien der Kooperation«. Forschungsschwerpunkte: Sprache, Literatur, Medien. Aktuelle Veröffentlichun- gen: Medienrevolutionen und andere Revolutionen, Zeitschrift für Medienwissen- schaft 17 (2/2017) (i.E.). Lisa Villioth, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB »Medien der Kooperation«, Teilprojekt B03 »Going Public in medienkooperativen Engagementformen« und zuvor Kollegiatin am DFG-Graduiertenkolleg »Locating Media«, beides Universität Siegen. Studium der Medienwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Marburg, Siegen und Coimbra (Portugal). Forschungsschwer- punkte: Politische Protestkampagnen, Online-Aktivismus, Social Media, Medien und Gesellschaft. Aktuelle Veröffentlichung: Baringhorst, Sigrid/Villioth, Lisa: »Sa- me, Same but Different – Zum Wandel von Organisations- und Beteiligungsfor- men von Protest im Netz« In: POLIS Report der Deutschen Vereinigung für Poli- tische Bildung. Heft 3/2016: Schwerpunkt »Digitalisierung und politische Bildung«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN 167 LIEFERBARE HEFTE Kulturen des Kopierschutzes I Herausgegeben von Jens Schr̈ter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel K̈hne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Stefan Meretz u. Martin Senftleben. 2010 Jg. 10 H.1 - 135 Seiten Kulturen des Kopierschutzes II Herausgegeben von Jens Schr̈ter, Ludwig Andert, Carina Gerstengarbe, Karoline Gollmer, Daniel K̈hne, Katharina Lang, Doris Ortinau, Anna Schneider u. Xun Wang; weitere Beiträger: Brian Winston, Till A. Heilmann u. Alexander Fyrin. 2010 Jg. 10 H.2 - 138 Seiten High Definition Cinema Mit Beiträgen von Jens Schr̈ter, Marcus Stiglegger, Helmut Schanze, Ivo Ritzer, J̈rg von Brincken, Benjamin Beil, und einem Nachruf für Gundolf Winter. Herausgeber: Jens Schr̈ter, Marcus Stiglegger 2011 Jg. 11 H.1 - 111 Seiten Game Laboratory Studies Mit Beiträgen von Jens Schr̈ter, Philipp Bojahr, Tobias Gläser, Lars Schr̈er, Gisa Hoffmann, Marlene Schleicher u.a. Herausgeber: Benjamin Beil, Thomas Hensel 2011 Jg. 11 H.2 - 149 Seiten Film Körper. Beiträge zu einer somatischen Medientheorie Mit Beiträgen von Kai Naumann, Julia Reifenberger, Irina Gradinari, Susanne Kappesser, Romi Agel u.a. Herausgeber: Ivo Ritzer, Marcus Stiglegger 2012 Jg. 12 H.1 - 145 Seiten I am Error - Störungen des Computerspiels Herausgeber: Benjamin Beil, Philipp Bojahr, Thomas Hensel, Markus Rautzenberg, Stephan Schwingeler, Andreas Wolfsteiner 2012 - Jg. 12 H.2 - 118 Seiten Der Medienwandel der Serie Mit Beiträgen von Gabriele Schabacher, Michael Cuntz, Nicola Glaubitz, Lorenz Engell, Herbert Schwab u. Isabell Otto. Herausgeber: Dominik Maeder, Daniela Wentz 2013 - Jg. 13 H.1 - 145 Seiten Vom Feld zum Labor und zurück Mit Beiträgen von Anna Brus, Juri Dachtera, Anja Dreschke, Katja Glaser, Matthias Meiler u.a. Herausgeber: Raphaela Knipp, Johannes Paßmann, Nadine Taha 2013 - Jg. 13 H.2 - 187 Seiten Pasolini - Haneke: Filmische Ordnungen von Gewalt Mit Beiträgen von Konrad Paul, Hans J. Wulff, Oliver Jahraus, Uta Felten, Marcus Stiglegger u.a. Herausgeber: Marijana Erstic, Christina Natlacen 2014 - Jg. 14 H.1 - 130 Seiten 50 Jahre Understanding Media Mit Beiträgen von Barbara Filser, Till A. Heilmann, Rembert Hüser, John D. Peters, Nina Wiedemeyer u. Marshall McLuhan. Herausgeber: Jana Mangold, Florian Sprenger 2014 - Jg.14 H.2 - 124 Seiten Medien der Kooperation Mit Beiträgen von Erhard Schüttpelz, Sebastian Gießmann, Susan Leigh Star, Heinrich Bosse, Kjeld Schmidt, Mark-Dang Anh, Ilham Huynh u. Matthias Meiler. Herausgeber: AG Medien der Koperation 2015 - Jg.15 H.1 - 148 Seiten Von akustischen Medien zur auditiven Kultur Zum Verhältnis von Medienwissenschaft und Sound Studies Mit Beiträgen von Rolf Großmann, Maren Haffke, Felix Gerloff, Sebastian Schwesinger, Lisa Åkervall, Sarah Hardjowirogo, Malte Pelleter u.a. Herausgeber: Bettina Schlüter, Axel Volmar 2015 - Jg.15 H.2 - 164 Seiten PLAYIN‘ THE CITY Artistic and Scientific Approaches to Playful Urban Arts Mit Beiträgen von Miguel Sicart, Martin Reiche, Michael Straeubig, Sebastian Quack, Marianne Halblaub Miranda, Martin Kn̈ll u.a. Herausgeber: Judith Ackermann, Andreas Rauscher, Daniel Stein 2016 - Jg.16 H.1 - 182 Seiten Medienwissenschaft und Kapitalismuskritik Mit Beiträgen von Christian Siefkes, Christoph Hesse, Christine Blättler, Martin Doll, Jens Schr̈ter, Till A. Heilmann, Andrea Seier u. Thomas Waitz. Herausgeber: Jens Schr̈ter, Till A. Heilmann 2016 - Jg.16 H.2 - 165 Seiten