KINtO Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 8 Film und Projektionskunst Vergessene Alternativen Techniken der Filmprojektion Unheimliches Theater Die Leinwand als Bühne F. Paul Liesegang Kunst der Überblendung C. Skladanowsky & Söhne Nebelbilder und Bioscop Deutsche Kolonialgesellschaft Lichtbilder und Filme John Heartfield Expressionistische Filmpläne Stroemfeld!Roter Stern KINtop 8 KINtop Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films herausgegeben von Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger KINtop 8 Film und Projektionskunst Stroemfeld/Roter Stern KINtop 8 Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films Herausgeber und Redaktion: Frank Kessler (Weimar), Sabine Lenk (Düsseldorf) Martin Loiperdinger (Trier) Redaktionsbeirat: Paolo Cherchi Usai (Rochester) Thomas Elsaesser (Amsterdam) Andre Gaudreault (Montreal) Heide Schlüpmann (Frankfurt am Main) Redaktionsadresse: c/o Martin Loiperdinger Universität Trier, Medienwissenschaft D-54286 Trier e-mail: kintop@uni-trier.de KINtop is abstracted and/or indexed in: Film Literature Index; International Index to Film Periodicals (FIAF). Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Film und Projektionskunst - Frankfurt am Main ; Basel Stroemfeld/Roter Stern. 1999 (KINtop; 8) ISBN 3-87877-788-4 NE:GT KINtop 8 Film und Projektionskunst Copyright © 1999 Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main · Basel All Rights Reserved. Alle Rechte vorbehalten. Die Vervielfältigungsrechte der einzelnen Beiträge liegen bei den Autoren, alle Rechte an dieser Ausgabe beim Verlag. Satz: bLoch Verlag, Frankfurt am Main Druck: Nexus Druck, Frankfurt am Main KINtop 9 erscheint im Sommer 2000 mit dem Themen-Schwerpunkt »Lokale Kinoge- schichten«. Fotos und Illustrationen: Bundesarchiv, Illuminativ-Theater, Goethe-Museum Frankfurt am Main, Koloniales Bildarchiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Archiv KINtop bzw. die Autoren Bitte fordern Sie unser kostenloses Gesamtverzeichnis an: D-60322 Frankfurt am Main · Holzhausenstr. 4 · e-mail: info@stroemfeld Inhalt Editorial 7 Goethes Begegnungen mit der Zauberlaterne 1 1 Aus dem Repertoire der Skladanowskys »Die Sündfluth« 13 F. Paul Liesegang Die Projektions-Kunst (1909) 21 lne van Dooren Leinwandreisen um die Welt 3 1 Jens Ruchatz Ignoriert und totgesagt Koordinaten zur Geschichte der Photoprojektion in Deutschland 39 Deac Rossell Die soziale Konstruktion früher technischer Systeme der Filmprojektion 53 Ludwig Vogl-Bienek Skladanowsky und die Nebelbilder 83 Wolfgang Fuhrmann Lichtbilder und kinematographische Aufnahmen aus den deutschen Kolonien 101 William Paul Unheimliches Theater 117 * Alison MacMahon Stummfilmgeschichte im Licht der Tonbilder 141 Uli Jung, Stephanie Roll Women Enjoying being Women Some Observations on the Occasion of a Retrospective of Franz Hofer's Extant Films in Saarbrücken 159 John Heartfield Ein wiederentdeckter Brief über expressionistische Filmpläne mit einer Vorbemerkung vonJeanpaul Goergen 169 Sabine Lenk Vom Film zur DVD Visualisierungsprojekte der mediengeschichtlichen Forschung im ausgehenden 20. Jahrhundert 18 1 Michael Wedel Filmform und Filmformat Bausteine zu einer Mediengeschichte des frühen deutschen Kinos 189 Buchbesprechungen 19 5 Die Redaktion hat erhalten 203 Die Autorinnen und Autoren 207 Editorial Unter der Bezeichnung »Projektionskunst« werden seit den 183oer Jahren vielfältige Formen von Lichtbild-Aufführungen verstanden, die von Vorstel- lungen in Privathaushalten über wissenschaftliche Vorträge bis zu opulenten Unterhaltungsprogrammen führender Variete-Theater reichen. Von den An- fängen der Laterna magica im 17. Jahrhundert hat sich die Projektionskunst im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts dank der photographischen Reproduk- tion zum ersten visuellen Massenmedium mit industrieller Fertigung und Dis- tribution entwickelt. Die Erfindung und Verbreitung des Films erfolgte in einem Milieu, das sozial, technisch, ökonomisch und ästhetisch von der Projektionskunst der Laterna magica geprägt war. So übernahm die Kinematographie die Lichtquel- len und die Konstruktion des Strahlengangs für die Filmprojektion von den erprobten Techniken der Laterna magica. Auch die Gestaltung der Filmvor- führungen lehnte sich eng an die bewährte und vom Publikum honorierte Aufführungspraxis stehender Lichtbilder an. Viele Photographen und Schau- steller betrachteten die »lebenden Bilder« als Erweiterung der Projektions- kunst, mit der sie ihr Sortiment oder ihr Veranstaltungsangebot um eine Attraktion bereichern konnten. Die Filmgeschichtsschreibung, lange Zeit fixiert auf eine vermeintliche >Stunde Null< der Kinematographie im Jahr 1895, hat die Projektionskunst teleologisch auf die Rolle eines technischen Vorläufers des Kinos reduziert. Zum 100. Jahrestag der ersten kommerziellen Vorführung des Cinematogra- phe Lumiere im Pariser Grand Cafe, die in Europa als »Geburtstag des Kinos« gefeiert wurde, zeichnete sich aber bereits eine historisierende Betrachtung der Medienumbrüche an der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert ab. Inzwischen ist in den romanischen und angelsächsischen Ländern eine Reihe von Fach- publikationen erschienen, welche auf die lange Tradition aufmerksam macht, in der die Projektion von Film auf Leinwand steht. K!Ntop-Leser kennen bereits zwei Beiträge zur Projektionskunst von Ludwig Vogl-Bienek (K!Ntop 3) und Hiroshi Komatsu (K!Ntop 7). Unser Reprint von Messters Special-Catalog No. 32 (KINt op Schriften 3) dokumen- tiert Projektionslaternen und Lichtquellen im Angebot des deutschen Film- pioniers. Mit dem Schwerpunkt »Aufführungsgeschichten« (K!Ntop 5) haben wir die Inszenierung von Filmprojektionen und die Wahrnehmungserlebnisse des Publikums im frühen Kino thematisiert. Wir führen diesen Fokus auf das Ereignis des Lichtspiels nun in einer weiter gefaßten medienhistorischen Per- spektive fort und befassen uns in dieser Ausgabe mit dem Zusammenhang von Film und Projektionskunst. 7 Nach einer kleinen Reverenz zum Goethe-Jahr eröffnen wir K/Ntop 8 mit der Bilderserie »Die Sündfluth« aus dem Repertoire der Projektionskünstler Carl, Max und Emil Skladanowsky. Es folgen Erläuterungen von Franz Paul Liesegang zu Nebelbilder-Apparaten und zum Kinematographen. lne van Dooren gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen virtueller Me- dien-Reisen im I 9. Jahrhundert. Entgegen geläufigen Auffassungen stellt Jens Ruchatz in einer Skizze zur Entwicklung der Photoprojektion in Deutschland fest, daß diese ihren großen Aufschwung parallel zur Etablierung des Kinos erlebte. Mit einem grundsätzlichen Beitrag wendet sich Deac Rossell gegen die her- kömmlichen Technikgeschichten der Filmhistoriographie: Statt weiterhin teleologische Sichtweisen zu pflegen, die an einer Handvoll glorreicher Erfin- dergestalten ausgerichtet sind, schlägt Rossell eine sozial- und kulturwissen- schaftlich orientierte Neubesinnung vor, die dem Mißerfolg alternativer Mög- lichkeiten der Filmprojektionstechnik den gleichen Forschungsrang einräumt wie der scheinbar selbstverständlichen Durchsetzung derjenigen Verfahren, die heutzutage gängig sind. Im Anschluß daran stellt Ludwig Vogl-Bienek die von Filmhistorikern bisher weitgehend ignorierte Tätigkeit von Carl, Max und Emil Skladanowsky als renommierte Nebelbild-Schausteller vor, denen es aufgrund ihrer jahrelangen Projektionserfahrung gelang, einen Nebelbilder- Apparat für die Filmprojektion zu konstruieren. Wolfgang Fuhrmann beschreibt den Wechsel von stehenden zu bewegten Lichtbildprojektionen in der Werbearbeit der Deutschen Kolonialgesellschaft. William Paul schließlich versteht das Kino als »unheimliches Theater« und rekonstruiert sein doppeltes Erbe. Er untersucht, wie sich die Traditionen der phantasmagorischen Projektionen und des naturalistischen Theaters auf die Präsentation der Filmprojektion in den Kinosälen auswirkten. Außerhalb des Schwerpunkts plädiert Alison MacMahon dafür, scheinbar gesicherte Forschungsergebnisse der Stummfilmgeschichte im Lichte einer Neubetrachtung der frühen Tonbilder zu überprüfen. In einem englischspra- chigen Beitrag nehmen Uli Jung und Stephanie Roll eine Retrospektive aller erhaltenen Filme Franz Hofers in Saarbrücken zum Anlaß, die Filmästhetik dieses vielbeschäftigten Regisseurs der I 9 I oer Jahre zu untersuchen. J eanpaul Goergen stellt einen wiederentdeckten Brief John Heartfields über expressio- nistische Filmpläne vor. Ergänzend zu ihrem Beitrag in K!Ntop 7 über schriftliche Publikationen aus Filmarchiven diskutiert Sabine Lenk einige Projekte zur Visualisierung mediengeschichtlicher Forschungsergebnisse. Michael Wedel bespricht eine jetzt als Buch vorliegende Hamburger Vorlesungsreihe, die den Forschungs- stand zum frühen deutschen Kino hierzulande kennzeichnet. Die nächste Ausgabe von KINt op, die im Sommer 2000 erscheint, widmet sich dem Themen-Schwerpunkt »Lokale Kinogeschichten«. Wir danken den Autorinnen und Autoren dafür, daß sie bereit waren, ihre 8 Beiträge für diese Ausgabe unentgeltlich zu schreiben. Für ihre Hilfe beim Zu- standekommen dieser Ausgabe danken wir außerdem Maria-Luise Sachs, Gabi Stephan, Tom Gunning, dem Bundesarchiv, dem Illuminativ-Theater und der Bibliothek des Deutschen Filminstituts und Deutschen Filmmuseums in Frankfurt am Main. Besonderen Dank sprechen Redaktion und Verlag dem Präsidenten der Universität Trier für seine Unterstützung aus. Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger Errata in K!Ntop 7 Die bei Sabine Lenk, »Von der Notwendigkeit der Wissensverbreitung«, S. 167, 4. Absatz angegebene Filmsammlung des Abbe Joye wurde vom NFTVA nicht aus Bern, sondern aus Zürich übernommen. Due to an error of the composer, three items of Martin Humphrie's article »F rom a Crumbling Ruin to the Work House« were unclear to readers, because the typesetting instruction »Kap« mistakingly replaced film titles: p. 181, para. 2, line 3: MGM's 1925 world war one drama is THE B!G PARADE. p. 181, paragraph 2, line 13: Tony Fletcher's three screen film is Au REVOIR RENEE. p. 182, line 8: The biggest English comedy hit of the year 1904 was DIVING LucY. 9 »Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ist ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen die buntesten Bilder an deine Wand. Und wenn's nichts wäre als das, als vorübergehende Phantome, so macht's doch immer unser Glück, wenn wir wie frische Jungen davor stehen, und uns über die Wunder- erscheinungen entzücken.« Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther 10 Goethes Begegnungen mit der Zauberlaterne Im »Puppentheaterzimmer« des Frankfurter Goethe-Hauses ist ein Ölgemäl- de ausgestellt, das eine Laterna magica-Vorführung zeigt. In der Hell-Dunkel- Komposition des Bildes bedient ein Schausteller die Laterna magica aus dem Schatten heraus, der Junge vor ihm spielt die Drehorgel dazu. Im Rund des hellen Projektionsbildes reitet eine Kolonne nackter Hexen vorüber, während die Zuschauer, wohl Herrschaft und Gesinde eines gutbürgerlichen Hauses, im magisch wirkenden Widerschein des Projektionslichts dargestellt sind. Nach Auskunft des Goethe-Museums ist das um 1760 entstandene Bild Frankfurter Provenienz, Goethe selbst kannte es allerdings wohl nicht. Während die Bedeutung des Puppenspiels für die Entwicklung des Dich- ters in der biographischen Literatur und in Dichtung und Wahrheit hervorge- hoben wird, blieb sein Verhältnis zur Zauberlaterne im Dunkeln. Tagebücher, Briefe etc. zeigen jedoch, daß sie ihm - auch nach dem Werther - vertraut blieb: In einem Gespräch am 24.Juli 1786 unterstützte er den Vorschlag von S. G. Dietmar, »die Naturgeschichte den Kindern in den Abendstunden mittels einer Laterna magica zu lehren«. In Tagebucheintragungen vom November 1807 heißt es kurz: »Laterna magica untersucht.« Oder »Nachher zu From- manns. Die laterna magica producirt.« Im Dezember desselben Jahres bei Frommanns: »Etwas gespielt, gesungen und die laterna magica producirt.« Im Zusammenhang des Faust bewegen Goethe die Phantasmagorien. Die Projektion von Geistererscheinungen war bis weit in das 19. Jahrhundert hin- ein beliebt. Am 12. Dezember 1828 schreibt Goethe an W.J. C. Zahn: ... so wollt ich Sie um folgendes ersuchen: Fürst Radziwill, welcher verschiedene Privataufführungen einiger Scenen meines Faust begünstigte, ließ die Erscheinung des Geistes in der ersten Scene auf eine phantasmagorische Weise vorstellen, daß nämlich, bey verdunkeltem Theater, auf eine im Hintergrund aufgespannte Lein- wand, von hinten her, ein erst kleiner, dann sich immer vergrößernder lichter Kopf geworfen wurde, welcher daher sich immer zu nähern und immer weiter hervorzu- treten schien. Dieses Kunststück ward offenbar durch eine Art Laterna magica her- vorgebracht. Könnten Sie baldigst erfahren: wer jenen Apparat verfertigt, ob man einen gleichen erlangen könnte, und was man allenfalls dafür entrichten müßte? Das vorzustellende Bild würde man von hier aus dem Künstler hinsenden. Kurze Zeit später fügt Goethe selbst ein bewährtes Verfahren der Phantasma- gorien in den zweiten Teil der Tragödie ein: die geisterhafte Erscheinung von Paris und Helena durch Projektion auf Rauch, der Faust ein handgreifliches Ende bereitet. Ludwig Vogl-Bienek II Koohacht'ungsvoll t. ,Sk1lai~~o)Ws'ki ~ s,h,e,, Phototechniker und ~hysiker · , '. ~~lglieder dcr.]olcrnatimlco ·llan1lgeao11co1cb1f~ i1 •Berlin. 12 AUS DEM REPERTOIRE DER SKLADANOWSKYS »Die Sündfluth« Im Buche Moses 6., 7., und 8. Kap. findet man die Sündfluth, wie ich Ihnen solche hiermit bildlich vorführe, beschrieben. Im Anfang, als Gott die Welt, den Menschen und das Vieh erschaffen hatte, vermehrten sich dieselben sehr und mit ihnen die bösen Eigenschaften der Menschen. Es gereute dieses dem Allmächtigen, daß er die Welt und alles Le- bende darauf geschaffen hatte und sprach: »Ich will die Menschen, nebst Vieh und Alles, was auf der Erde lebt, vertilgen.« Zu jener Zeit lebte jedoch auch ein sehr frommer Mann, Namens Noah, der Gnade vor Gott fand und ein gottgefälliges Leben führte. Dieser besaß drei Söhne: Sem, Harn undJapheth. Nr. 1. Als Gottes Plan nun zur Ausführung gebracht werden sollte, er- schien er dem Noah am Abend, als dieser ihm gerade ein Dankopfer darbrach- te und sprach: »Baue dir nach diesem Modell einen Kasten aus Tannenholz mit zahlreichen Kammern, verpiche diese in und auswendig und fertige den Ka- sten in einer Länge von 300 Ellen, in einer Weite von 50 Ellen und in einer Höhe von 30 Ellen an, versehe ihn mit einem Fenster, da ich eine Sündfluth eintreten lassen will, die Alles, was auf Erden und unter dem Himmel lebt, verderben soll. Du dagegen sollst Gnade vor mir finden, weshalb ich Dir ver- heiße, Dein Weib, Deine Söhne und deren Frauen zu Dir in den Kasten zu nehmen. Außerdem von allen Thieren je ein Paar, männlichen und weiblichen Geschlechts, und versorge Dich mit allen Speisen und Futter für's Vieh.« Noah kam den Befehlen des Herrn getreulich nach und Nr. 2. baute mit seinen drei Söhnen eine Arche aus gutem starken Tannen- holz, gab selbst den Söhnen die nöthigen Anleitungen, wie sie ihm von dem Herrn vorgeschrieben und freute sich ob des rüstigen Fortschreitens und Ge- lingens der schwierigen Aufgabe, die ihm gestellt worden. Gottes Geist walte- te über dem Werke, welches nunmehr seiner baldigen Vollendung mit Riesen- schritten entgegen ging. Nr. 3. Die Arche war fertig und Noah beschloß mit seinen Söhnen nebst deren Frauen die bevorstehende Besteigung derselben. Er ließ von allen leben- den Thieren paarweise zutreiben und bestimmte jedem den ihm nach dem Pla- ne verzeichneten Raum. Das Vieh, welches aus allen zu jener Zeit existieren- den Exemplaren bestand, wurde zuerst in die Arche geführt und nach ihm folgte alsdann Noah mit seinen Angehörigen. Nr. 4. Nachdem Noah allen Vorschriften und Befehlen des Herrn folge ge- leistet und bereits seit sieben Tagen keinen Aufenthalt in der Arche genom- men hatte, trat die Wassersnoth gerade am 600. Jahrestage seiner Geburt ein. 13 15 17 Sämmtliche Brunnen überschwammen und der Himmel sandte einen Regen- guß, der 40 Tage und 40 Nächte anhielt. Das Wasser stieg gewaltig, über- schwemmte das Erdreich, wodurch die Arche sich hob und forttrieb. Men- schen und Vieh, die auf der Erde verblieben waren, suchten überall Rettung auf den höchsten sich noch zeig_enden Bergspitzen. Nr. 5. Daß sich bei solchen Uberschwemmungen schreckliche Scenen und Vorgänge ereigneten, die einen grausigen Anblick darbieten, zeigt uns die ge- genwärtige Gruppe. Nr. 6. Nicht allein Menschen flüchteten auf die höchsten Bergspitzen, auch Thiere mit ihren Jungen suchten daselbst Schutz, den sie jedoch schließlich mit dem Tode bezahlen mußten. Nr. 7. Mondscheinlandschaft während der Sündfluthnächte; auch die Be- wohner der Wüste, unter denen die stärksten Thiere leben, mußten sich dem Willen Gottes fügen und ihr Leben den Wellen preisgeben. Nr. 8. Schreckliche Wetter steigen namentlich in den Nächten auf, Donner und Blitze erschlugen Alles, was noch von den Fluten verschont geblieben war. Nr. 9. Das Wasser war 1 5 Ellen über die Gebirge gestiegen, so daß weder Berge noch lebende Wesen sichtbar waren, da gedachte Gott Noahs und Alles was mit diesem in der Arche lebte. Er ließ Wind auf Erden eintreten, die Was- ser fielen, die Brunnen in der Tiefe verstopften, die Fenster des Himmels schlossen sich, wodurch dem Regen Einhalt gethan ward. Die Gewässer ver- liefen sich und nahmen nach 1 50 Tagen ab. Nr. 10. Nachdem die Arche sich nun auf das Gebirge Arrarat niedergelas- sen hatte, öffnete Noah nach 40 Tagen sein Fenster in derselben und ließ eine Taube hinaus, die jedoch nach kurzem Ausbleiben zurückkehrte, weil sie noch keinen Aufenthaltsort zu finden vermochte. Noah verharrte deshalb noch weitere sieben Tage und ließ abermals eine Taube fliegen, welche zu ihrer Fut- terstunde wieder eintraf und ein Oelblatt im Schnabel mit sich führte. Hieran erkannte Noah, daß das Gewässer auf Erden gefallen war. Nach abermaliger Frist von sieben Tagen sandte Noah wiederum eine Taube hinaus, die nicht mehr zurückkam. Hieraus ersah Noah am Besten, daß die Erde zum Bewoh- nen wieder eingerichtet war. Er entfernte jetzt das Dach von seiner Arche und Gott befahl ihm hiernach: »Steige mit Deinem Weibe, Deinen Söhnen und deren Frauen, sowie allen Thieren aus dem Kasten, lebt auf Erden, seid frucht- bar und mehret Euch.« Nr. 11. Noah willfahrte dem Willen des Herrn und nachdem er seine Fami- lie in Sicherheit gebracht hatte, ließ er alle Thiere paarweise wie sie eingestie- gen waren, wieder aus der Arche hinaus. Die mitgenommenen Speisen waren so reichlich, daß sie noch längere Zeit ausgereicht hätten; Noah ließ deshalb Alles Vorhandene aufsammeln und an's Land schaffen, damit es zum Säen be- nutzt würde. Nr. 12. Nach Vollendung seiner schweren Aufgabe, welche Noah zu Got- tes Zufriedenheit bestanden hatte, baute er dem Herrn einen Altar, worauf er aus Dankbarkeit Brandopfer darbrachte. Als der dieses sah, sprach er in sei- nem Herzen: ich will die Erde nicht mehr um der Menschen willen verfluchen. So lange dieselbe besteht, soll Samen und Erndte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht nicht mehr aufhören. Ich verspreche Dir, Deinen Söhnen und deren Weiber, daß keine Sündfluth wieder eintreten soll und zum Zeichen der Aufrechterhaltung meines Versprechens sende ich hiermit einen farbigen Bogen aus den Wolken, der Euch als Erinnerung an mein gegebenes Wort dienen soll. Anmerkung der Redaktion: Der Text ist unverändert übernommen von der gedruckten Version des Vortrags im »Nach- laß Max Skladanowsky« des Bundesarchivs (Signatur: N 1435/1.13). Die wiedergegebenen Glasdiapositive finden sich ebenfalls im »Nachlaß Max Sklada- nowsky« des Bundesarchivs (Signatur: N 1435 / 15 .1.1-9). Es handelt sich um neun farbig gemalte, ungerahmte Bilder im 3 1A-Zoll-Format (8,4 cm x 8,4 cm). Von den im Vortrags- text aufgeführten zwölf Bildern fehlen die Nummern 2, 4 und 8. 19 20 F. PAUL LIESEGANG Die Projektions-Kunst (Auszüge) Der in Auszügen hier abgedruckte Text stammt aus der 12. Auflage des seiner- zeit weit verbreiteten Buchs Die Projektions-Kunst aus dem Hause Liese gang. Die Düsseldorfer Firma fabrizierte und vertrieb Laterna magica-Bilder und -Geräte, später auch kinematographische Apparate und stellt bis heute Pro- jektionsgeräte her. Die ausgewählten Passagen erläutern die verschiedenen Arten von Lichtquellen und Beleuchtungsverfahren bei der Vorführung von Nebelbildern. Außerdem enthalten sie, was selten zu finden ist, ausführliche zeitgenössische Beschreibungen von Bildeffekten. Das zu Anfang erwähnte Skioptikon ist eine verbesserte Laterna magica mit erheblicher Lichtstärke, die auch von interessierten Laien gehandhabt werden konnte. Die Redaktion Nebelbilder-Apparate. (Doppel- und dreifache Laternen.) Während beim gewöhnlichen Skioptikon ein Bild nach dem andern einge- steckt und dann mehr oder weniger schnell gewechselt wird, kann man mit Hilfe des Nebelbilder-Apparates die aufeinanderfolgenden Bilder langsam in- einander übergehen lassen, wodurch sehr hübsche Effekte zu erzielen sind. Die Sonne geht auf, es wird Tag, die Sonne geht unter, es wird Nacht. Der Som- mer verwandelt sich in den Winter usw. Auch kann man Leben und Bewegung in das Bild bringen. Es wird z.B. eine Mühle am Bach gezeigt; das Rad dreht sich, ein Schwan schwimmt daher und steckt den Kopf ins Wasser; dann wird es dunkel, die Fenster der Mühle erhellen sich. Der Mond geht auf und spie- gelt sich im Wasser. Allmählich wird es Winter, die früher grünen Bäume wer- den kahl und bedecken sich mit Schnee, der aus der Luft fällt; das Mühlrad ist eingefroren. Die Mannigfaltigkeit der Bilder-Serien dieser Art ist endlos; spä- ter komme ich darauf zurück. Der Nebelbilder-Apparat besteht aus zwei, drei oder gar vier Skioptikons, die so aufgestellt sind, daß ihre Lichtkreise auf der Wand sich decken, und dem »Dissolver«, einer Vorrichtung, die die Tätigkeit der einzelnen Laternen regu- liert, sie nach Bedarf abwechselnd oder gleichzeitig in Wirksamkeit setzt. - Einen aus zwei Laternen bestehenden Nebelbilder-Apparat nennt man 21 Doppel-Apparat auch Doppel-Apparat. Wird Petroleumlicht oder Gasglühlicht verwandt, so stehen die beiden Skioptikons nebeneinander, entweder in gleicher Höhe oder das eine etwas höher als das andere. Ist die Lichtquelle Acetylen, Kalklicht oder Bogenlicht, so kann man auch einen aus zwei übereinander gebauten Ski- optikons bestehenden Doppel-Apparat benutzen, wie solcher unten darge- stellt ist. Die optischen Systeme der beiden Laternen, Kondensor und Objek- tiv mit den Bildhalter-Vorrichtungen hängen an Messingplatten, die an der Vorderwand des Kastens übereinander angebracht sind. Die obere Platte läßt sich durch Handhabung von zwei Schrauben von oben nach unten neigen, die untere Platte kann mittelst der beiden Schrauben unten aufwärts geneigt wer- den, und so ist man imstande die Lichtkreise genau zur Deckung zu bringen. Was nun die Dissolver-Vorrichtung angeht, so kommen bei Petroleumlicht, Gasglühlicht sowie beim elektrischen Licht die sogen. Katzenaugen-Dissol- ver zur Anwendung. Vor jedem der beiden Objektive ist eine Blendenvorrich- tung angebracht, mit der die Linse geöffnet oder geschlossen werden kann; diese Blenden sind wieder durch einen Hebelmechanismus verbunden. Wenn man den Handgriff bewegt, so öffnet sich das eine »Auge« in dem gleichen Maße, wie das andere sich schließt; während also das erste Bild verschwindet, gewinnt das zweite allmählich an Intensität. Diese Anordnung ist in der nach- stehenden Abbildung dargestellt. Es sei noch bemerkt, daß bei Petroleumlicht beide Lampen unausgesetzt brennen müssen, während man bei Bogenlicht die nicht in Tätigkeit befindliche Lampe ausschalten kann. 22 Bei Verwendung von Gasglühlicht als Lichtquelle ist die Dissolver-Ein- richtung ebenfalls empfehlenswert. Wird mit Acetylen gearbeitet, so benutzt man vorteilhaft einen Gasdissolver, wie ihn die folgende Abbildung zeigt. Der Acetylen-Entwickler wird mit dem Eingangsrohre des Schalthahnes verbun- den, die beiden anderen Rohransätze mit den Brennern. Wenn nun der Hebel des Dissolvers rechts herübergestellt ist, so brennt die eine Laterne voll, wäh- rend in der anderen Laterne durch eine Extra-Bohrung des Hahnes ein kleines Flämmchen erhalten bleibt; steht der Hebel links, so ist es umgekehrt. Bei der Mittelstellung des Hebels brennen beide Laternen gleich hell. Es ist leicht er- sichtlich, daß mit diesem Dissolver ein guter Verwandlungseffekt erzielt wer- den kann; indem man langsam den Hebel z.B. von rechts nach links herüber- dreht, tritt die Laterne I allmählich, immer stärker werdend, in Wirksamkeit, während die andere Laterne im gleichen Maße nachläßt. Dieser Dissolver hat noch den großen Vorzug, daß außerordentlich an Acetylengas gespart wird; würde man doch fast die doppelte Menge Gas verbrauchen, wenn man beide Laternen stets voll brennen ließe und mit dem Katzenaugen-Dissolver arbei- tete. Doppel-Apparat mit Katzenaugen-Dissolver Wir kommen jetzt zum Kalklicht. Hier wird ebenfalls ein Gasdissolver ver- wendet: indes haben wir hier mit zwei Gasen zu arbeiten, mit Sauerstoff und einem brennbaren Gas, Leuchtgas, Wasserstoff oder Ätherdampf. Der Dissol- ver muß daher so konstruiert sein, daß er immer beide Gase gleichzeitig ab- sperrt oder zuläßt, und daß in der abgestellten Laterne stets ein kleines Flämm- chen (Leuchtgas usw.) erhalten bleibt. Eine vielfach gebräuchliche Konstruktion ist der Sechsweghahn; dieser ist aus zwei der beschriebenen 23 II 1 Dreiweg-Dissolver Dreiweghähne zusammengesetzt. Der obere Dissolver verteilt das Leuchtgas auf die beiden Brenner, gerade wie vorher das Acetylen; der Hahn hat eben- falls eine Extrabohrung zur Erhaltung einer kleinen Flamme in der abgestell- ten Laterne. Der untere Dissolver verteilt in gleicher Weise den Sauerstoff, der Hahn ist indes hier so beschaffen, daß der Sauerstoff in dem einen Brenner völlig abgestellt ist, wenn der andere Brenner voll arbeitet. Die Hähne dieser beiden Dissolver sind verbunden und werden durch einen gemeinsamen He- bel gehandhabt. Steht der Hebel rechts, so ist die eine Laterne in Tätigkeit, dreht man nun herüber, so wird das Leuchtgas und der Sauerstoff des Bren- ners allmählich abgestellt - das Licht nimmt ab, während dem zweiten Bren- ner nun mehr und mehr Leuchtgas und Sauerstoff zugeführt wird: das erste Bild, z.B. Sommerlandschaft, geht ganz allmählich in das zweite, Winterland- schaft über. Auch hier haben wir den großen Vorteil sehr viel Gas zu ersparen. [. .. ] Zur Erreichung verschiedener Effekte kommt man mit dem Doppelskiopti- kon nicht aus; man braucht noch eine dritte Laterne, die abwechselnd oder gleichzeitig mit den beiden andern arbeiten kann. Weiter unten werde ich sol- che Effektbilder anführen. In der Regel wird der dreifache Apparat oder das Agioskop aus einem Kasten gebaut, welcher drei Skioptikons übereinander enthält. Gerade wie beim Doppelapparat ist das optische System jeder Laterne beweglich angeordnet. Am zweckmäßigsten stellt man zunächst die mittlere Laterne auf die Wand ein und bringt dann die Lichtkreise der oberen und un- teren Laterne durch Senken und Heben des optischen Systems mit dem der mittleren zur Deckung. Von den drei Laternen werden in der Regel nur zwei ständig gebraucht; die dritte Laterne kommt meist nur gelegentlich in Tätig- keit. [ ... ] Wir kommen nun zu den Bildern, die mit dem Nebelbilderapparat gezeigt werden. Das Doppel-Skioptikon dient, wie bereits erwähnt, einmal dazu, ein Bild langsam in ein anderes übergehen zu lassen. Von vornherein möchte ich anraten, nicht jedes x-beliebige Bild in irgend ein anderes allmählich überge- hen zu lassen; dafür ist der Doppelapparat nicht da. Im Gegenteil, man kann dadurch unter Umständen geradezu lächerliche Effekte hervorrufen. Wie wür- de es zum Beispiel wirken, wenn man das Bild eines Beduinen in Über-Le- bensgröße sich langsam in ein Panorama von Jerusalem verwandeln läßt! So verschiedene Bilder müssen schnell gewechselt werden. Die für den Doppel- apparat zu verwendenden Bilder müssen zusammengehörig sein; das erste Bild zeige z.B. den Kölner Dom bei Tage, das zweite bei Nacht. Oder man zeigt eine Sommerlandschaft und verwandelt das Bild in dieselbe Landschaft im Winter. Da gibt es viel Spielraum. Man kann noch ein drittes und viertes Bild zugeben. Der Kölner Dom z. B. kann zuerst bei Tage gezeigt werden, das zweite Bild (in Laterne II) bringt den Dom bei Abend mit erleuchteten Fen- stern, das dritte Bild (wieder Laterne 1) bei Nacht, Fenster dunkel, und das vierte Bild den Dom mit Mondschein (Laterne II). Ein anderer Effekt ist fol- gender: man bringt mit der ersten Laterne ein Schiff auf hoher See, und zeigt mit der zweiten dasselbe Schiff in Feuer; oder ein Haus, dann dasselbe Haus in Brand und zum Schluß mit der ersten Laterne das niedergebrannte Haus. Sehr wirkungsvoll sind die sogenannten lebenden Statuen. Die erste Laterne proji- ziert eine abgedeckte Statue, in die zweite Laterne bringt man ein Bild dersel- ben Statue, aber zart koloriert; dann läßt man übergehen. Weiterhin erzielt man einen wundervollen Effekt, indem man eine Vase mit Blumen in dasselbe Bild koloriert verwandelt. Des weiteren kann man die zweite Laterne dazu benutzen, um in das Bild der ersten Laterne einen Effekt einzuprojizieren. Ich will hier nur einige Se- rien anführen. Da ist zunächst das hübsche Bild »Jakobs Traum«. Die erste La- terne zeigt uns Jakob auf dem Felde schlafend, mit der anderen Laterne wird nun die Himmelsleiter mit dem Chore der Engel einprojiziert. - »Die Hirten auf dem Felde« heißt eine andere Serie. Den Hirten bei Bethlehem erscheinen die Engel, welche die Geburt Jesu verkünden; das geschieht mit der zweiten Laterne. Nun läßt man die Engel verschwinden (während das erste Bild stehen bleibt) und läßt den Stern erscheinen, der den Hirten den Weg zeigte. Weitere Erscheinungsbilder sind: »Kinder am Grabe der Eltern« (mit Engelserschei- nung), »T raum der Mutter«, die Mutter sitzt am Bette des sterbenkranken 25 Kindes und sieht im Traume, wie die Engel das Kind in den Himmel nehmen; »Traum des Kindes«, es sieht seine Spielgefährten. - Sehr wirkungsvoll ist es, wenn man auf einen Wasserfall, z. B. den mächtigen Niagara, einen Regenbo- gen wirft, oder wenn man in eine Abendlandschaft den Mond einprojiziert, der sich im Wasser spiegelt. Recht dankbar für Projektions-Vorführungen ist der »Vesuvausbruch«. Man zeigt mit der ersten Laterne Neapel mit dem Vesuv bei Tage, dann läßt man Nacht werden, Mondschein (zweite Laterne). Nun bringt man in die er- ste Laterne das dritte Bild »Ausbruch des Vesuv«, wechselt und setzt in die zweite Laterne das Triebwerk (bewegliches Feuer) ein, das darauf geworfen wird. »Das Auswandererschiff« ist eine besonders beliebte Serie. Man zeigt zunächst das Schiff bei Tage, dann bei Abendsturm (mit der zweiten Laterne); nun setzt man Blitz ein in die erste Laterne, läßt ein paar Mal blitzen (am be- sten, indem man die ausgespreizte Hand vor dem Objektiv herbewegt) und bringt nach Umstellen des Dissolvers (an Stelle des Blitzbildes) das Schiff in Feuer. Es wird gewechselt und in die andere Laterne die bewegliche Feuerplat- te eingesetzt. -Die Serie »Das Haus in Brand« besteht aus folgenden Bildern: 1. Haus bei Tage, 2. Haus bei Nacht, 3. Ausbruch des Feuers, 4. Bewegliches Feuer dazu, 5. Haus in Brand, 6. Bewegliches Feuer dazu, 7. Abgebranntes Haus. Es gibt noch eine Reihe anderer Serien, wie »Eddystone Leuchtturm« (Tag, Nacht, Blitz). »Magier vor dem Hexenkessel«, aus dem auf einen Wink mit seinem Stab (Hebelbild) allerhand phantastische Figuren aufsteigen; »Feenfontaine mit farbigem Wasserspiel«, »Alpenglühen«, »Lurlei« (bei Tag, Nacht, Mond geht auf und spiegelt sich im Wasser)- alle diese Serien hier auf- zuführen, würde zu weit führen. Doch ist noch ein hübscher Effekt hier zu beschreiben. Man zeigt mit der ersten Laterne eine Landschaft und läßt diese in ein glattes, rotes Lichtfeld übergehen (dazu setzt man in die zweite Laterne eine rote Glasscheibe), und diese wieder in ein blaues Lichtfeld (eine blaue Glasscheibe) in die erste Laterne; aus diesem blauen Feld läßt man nun eine abgedeckte Statue sich entwickeln, bis der Grund ganz schwarz geworden ist. Mit der dreifachen Laterne können manche Effekte schöner gezeigt wer- den, als mit dem Doppelapparat. Nehmen wir z.B. die Serie »Auswanderer- schiff«. Man kann hier die beiden Bilder »Schiff in Brand« und »Bewegliches Feuer« gleichzeitig in das letzte Bild, »Das Wrack« übergehen lassen. Die Se- rie »Die alte Wassermühle«, welche mit der Doppellaterne bereits gut zur Geltung kommt, läßt sich mit dem dreifachen Apparat noch vorteilhafter zei- gen. Zunächst bringt man die Wassermühle bei Tag, das Rad dreht sich, dann bei Nacht, darauf Schneefall (mit der zweiten Laterne); nun läßt man, wenn der Schneefall zu Ende geht, beide Laternen gleichzeitig in die dritte überge- hen, welche die Wassermühle im Winter zeigt. Arbeitet man mit einem Dop- pelapparat, so muß man bei dieser Serie folgendermaßen verfahren. Man stellt, nachdem der Schneefall gezeigt ist, die zweite Laterne schnell ab, ersetzt rasc4 das Schneefallbild durch das Winterbild und läßt dann Laterne I in II überge- hen. Oder auch in folgender Weise. Während der Schnee fällt, dreht man das Licht in Laterne I kleiner (d ies empfiehlt sich überhaupt, weil so der Schnee besser zur Geltung kommt) und schließlich ganz aus (finstere Nacht), dann schiebt man schnell (während der Schnee noch fällt), an Stelle des Nachtbildes das Winterbild und dreht die Laterne I allmählich wieder an - gleichzeitig stellt man die Laterne II ab. Der Schneefall hört auf, der Morgen graut, es wird Tag, die Landschaft ist mit Schnee bedeckt, das Mühlrad eingefroren. Verhüllte Statuen. - Dieses schöne Effektstück mag folgendermaßen be- schrieben werden. Zuerst wird auf dem Schirm eine Art Nische oder Alkoven sichtbar, über den von oben bis auf den oberen Teil des Piedestals, welcher den Boden des Bildes einnimmt, ein Vorhang herabhängt. Der Vorhang wird lang- sam aufgezogen und enthüllt allmählich eine auf dem Piedestal stehende Fi- gur. Zuerst werden die Füße der Figur sichtbar, dann der übrige Körper, zu- letzt der Kopf, bis eben schließlich die ganze Figur enthüllt ist. Nach einiger Zeit wird der Vorhang in der umgekehrten Weise allmählich wieder herabge- lassen. Wenn sich dann der Vorhang zum zweiten Male hebt, erblickt man eine neue Figur auf dem Piedestal, beim dritten Male abermals eine neue und so fort. Zur Erzielung dieses Resultates kann folgende Methode angewendet wer- den. Zunächst fertigt man als Grundlage des Ganzen ein Bild an, das eine Ni- sche mit Piedestal darstellt. Wenn dies in die untere Laterne eingesetzt wird, zeigt es eine leere Nische. Ein zweites Bild stellt den Vorhang dar: dieser muß so groß sein, daß er die Wölbung der Nische genau deckt, wenn das Bild in die mittlere Laterne eingesetzt wird. Diese beiden Bilder werden erst zusammen gezeigt. Das dritte Bild, die Statue darstellend, wird in die dritte, obere Later- ne eingeschoben. Man gebraucht alsdann noch eine Maske, die eine Öffnung von der genauen Größe der Wölbung der Nische hat, und die dazu dient, ab- wechselnd den Vorhang und die Statue zu enthüllen. Dieses Maskenbild wird in vertikaler Richtung vorn vor den beiden Kondensoren angebracht und durch dessen Anwendung wird das Aufziehen und Herablassen des Vorhangs gleichzeitig mit dem allmählichen Erscheinen und Verschwinden der Statue bewirkt, während die Nische selbst und das Piedestal unverändert bleibt. Sämtliche drei Laternen werden während der ganzen Zeit erleuchtet. Von größter Wichtigkeit beim Arbeiten mit dem Nebelbilder-Apparat ist das Registrieren der Bilder. Es liegt auf der Hand, daß die Konturen der Licht- bilder, die man ineinander übergehen läßt, sich genau decken müssen. Um die- se genaue Deckung zu erzielen, ist aber eine gewisse Vorarbeit erforderlich; man kann nicht eine beliebige Serie in den Nebelbilder-Apparat stecken und erwarten, daß ohne weiters ein exaktes Aufliegen der Konturen statthat. Die einzelnen Bilder müssen den Bildbühnen angepaßt werden. Jedes Bild kommt dazu in ein Holzrähmchen. Nachdem man die Bilder der Serie auf die Later- nen des Apparates verteilt hat (d. h. bestimmt hat, welches Bild oder welche Bilder in die obere, welche in die untere Laterne usw. kommen) steckt man zunächst die beiden ersten Bilder in den Apparat ein. (Zuvor sind die Licht- kreise der Laternen so gut als möglich zur Deckung gebracht.) Man richtet die Bilder in den Bühnen derart ein, bis die Konturen auf der Wand sich decken; aldann muß man die Rähmchen der Bilder durch aufgenagelte oder aufgeleim- te Leistchen derart vergrößern, daß diese genau auf der unteren Führung der Bildbühne laufen; weiteres wird ein Anschlag angebracht, der das Bild in der richtigen Stellung arretiert. Endlich macht man auf dem Rähmchen ein Zei- chen (z.B. »Laterne 1«), das angibt, zu welcher Laterne das Bild gehört. Die Rähmchen müssen natürlich so genau eingepaßt werden, daß beim Einschie- ben bis zum Anschlag die Konturen sich sofort decken. In gleicher Weise ver- fährt man mit sämtlichen Bildern. Ein geschickter Operateur kann auch eine Serie, die zuvor nicht einregistriert ist, zur Darstellung bringen, und zwar ver- fährt er. folgendermaßen. Bevor er das Bild in das folgende übergehen läßt, dreht er den Dissolver soweit herum, daß die Lampe der zweiten Laterne so- eben zu leuchten beginnt und ganz schwach (für das Publikum unmerklich) die Konturen des Bildes auf das erste Lichtbild aufwirft. Mit ein paar Griffen hat der Operateur das zweite Bild zurechtgeschoben und kann nun den Über- gang bewerkstelligen. Dies Verfahren ist jedoch als Notbehelf aufzufassen. Der Kinematograph. Die Darstellung lebender oder kinematographischer Bilder erfreut sich allent- halben großer Beliebtheit. Der Kinematograph ist nun nichts anderes als ein Projektions-Apparat, der mit einem Mechanismus zum schnellen, ruckweisen Transporte der auf einem Bande befindlichen Bilder versehen ist. Das Prinzip des Apparates besteht in folgendem: Ein langes Filmsband, eine ganze Kollek- tion von successiven Aufnahmen enthaltend, wird vor einem Fenster vorbei- geführt, das die Größe des einzelnen Bildes hat.Jedes Bild wird vor dem Fen- ster einen Augenblick angehalten, dann wird in rascher Bewegung das nächste Bild an dessen Stelle gebracht, wieder angehalten usw. Die Projektions-Later- ne, in die der Mechanismus in zweckentsprechender Weise eingebaut ist, wirft die Bilder in starker Vergrößerung auf die Wand. Während des Wechselns der Bilder wird die Wand jedesmal durch eine Blende verdunkelt. Die außeror- dentlich rasche Aufeinanderfolge der Bilder erzeugt in dem Beschauer den Eindruck eines lebendigen Bildes. Was zunächst die Filmbilder angeht, so sind die einzelnen Bildchen etwa 2 Zentimeter hoch und 21h Zentimeter breit, und zwar steht immer ein Bildchen über dem andern. Der Filmstreifen selbst ist etwa 3 lh Zentimeter breit und zu beiden Seiten in regelmäßiger Folge mit Löchern versehen, »perforiert«. Die Perforation ist zum Transportieren des Bandes notwendig. Die Herstellung der Filmbilder geschieht mit einem photographischen Apparat, der einen Transport-Mechanismus hat; dieser entspricht genau dem des Kinematogra- phen. Es gibt eine außerordentlich große Zahl von Kinematographen; doch sind sie im Prinzip alle gleich, wenn die Leistungsfähigkeit der verschiedenen In- strumente auch nicht die gleiche ist. [. ..] Der Mechanismus, welcher Kon- struktion er auch sei, muß natürlich derart eingerichtet sein, daß das Filmband immer genau um ein Bildchen weiterbefördert wird. Das Filmband, welches oben von einer Rolle abläuft und unten wieder aufgerollt wird, wird bei besse- ren Apparaten zunächst von einer Zahntrommel herangeholt und dem Fen- ster zugeführt. Im letzteren wird das Band durch seitliche Federn gehalten, in der Weise, daß nur der Rand, nicht aber das Bild selbst über das Metall gleitet und verletzt werden könnte. Unter dem Fenster ist der Transportmechanis- mus (Maltheserkreuz, Greifer oder Schläger) angebracht. Die Blende, die den Wechselvorgang verdunkelt, befindet sich bei den verschiedenen Modellen zwischen Kondensor und Filmband oder vor dem Objektiv. In der Regel sind die Kinematographen so eingerichtet, daß sie auch zur Projektion von Glasbildern (»stehenden Bildern«) verwandt werden können, indem der Mechanismus beiseite gedreht oder weggeschoben und ein entspre- chendes Projektions-Objektiv an die Stelle gebracht wird. Auch baut man Doppel- und dreifache Apparate, deren untere Laterne mit einem Kinemato- graphen-Mechanismus versehen ist. (aus: Paul Ed. Liesegang, Die Projektions-Kunst.und die Darstellung von Lichtbildern für Schulen, Familien und öffentliche Vorstellungen, Ed. Liesegang's Verlag, M. Eger, Leipzig 1909, 12. durchgesehene Auflage, vollständig umgearbeitet und vermehrt in 11. Auflage von F. Paul Liesegang, S. 142-163.) 30 INE VAN DOOREN Leinwandreisen um die Welt Im 19. Jahrhundert vollziehen sich nicht nur tiefgreifende gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen, es entstehen auch vielfältige technische Erfin- dungen mechanischer, elektrischer oder optischer Art. Zahlreiche Maschinen, Apparate oder Verfahren werden entwickelt, um die komplexen Bedürfnisse zu befriedigen, die durch die zu jener Zeit aufkommenden Transport- und Kommunikationssysteme stimuliert werden. Bildende Künstler, Schriftsteller, aber auch Schausteller reagieren auf diese Umbrüche, indem sie die Technik als Emblem der Gegenwart und als utopisches Bild der Zukunft ihren Werken und Darbietungen einverleiben. Das Großbritannien des viktorianischen Zeit- alters ist fasziniert von allem, was Erfindung oder Experiment ist. Illustrierte Zeitschriften und populärwissenschaftliche Blätter berichten von Entdeckun- gen und Errungenschaften oder spekulieren über zukünftige Entwicklungen. Phantasie und Realitätssinn finden sich Seite an Seite in diesem Reich des vi- sionären Fortschritts. Der Schriftsteller Jules Verne profitiert auf geradezu meisterhafte Weise von seinem Gespür sowohl für den Publikumsgeschmack wie auch für die kulturellen Tendenzen der Zeit. In seinen Bestsellern sind Fakt und Fiktion, Wissenschaft und Abenteuer, Wissen und Moral innig miteinander verquickt. Die Geschichte von Phileas Fogg, der den Erdball in achtzig Tagen umrundet, spricht ein Massenpublikum an.' Zunächst 1872 als Fortsetzungsroman in Le Temps erschienen, erreicht das Buch eine weltweite Leserschaft. Der Held, Phileas Fogg, der Zeit und Raum überwindet, ist ein sprechendes Vorbild für den selbstbewußten, eigenverantwortlichen Mann. Dieser patriarchale Rah- men, wie sehr er auch inzwischen auseinandergebrochen sein mag, beschäftigt noch immer die populäre Vorstellungswelt. Noch heute beschreiben und illu- strieren Bildbände und Fernsehprogramme derartige Reisen um die Welt. Das Unerwartete und das Wunderbare, aber auch Momente von Entbehrung und Ruhm sind dabei immer wiederkehrende Elemente. Die kollektiven Sehn- süchte, die gepaart gehen mit dem Versprechen neuer Grenzüberschreitungen und Abenteuer, verbinden sich mit den Möglichkeiten der jeweils zeitgenössi- schen Medien. In Film und Fernsehen sollen wir von spannenden Erzählun- gen, Selbstüberwindung, aber auch Spezialeffekten sowie verschiedenen For- men realistischer Darstellung gefesselt werden. Im Laufe der Jahre hat z.B. die BBC mehrere Programme produziert, in denen Reisende um die ganze Welt begleitet werden. Besonders bezeichnend ist die 1988 entstandene Serie AROUND THE WoRLD IN 80 DAYS mit dem Ex-Monty Python Michael Palin, 31 die direkt auf die klassische fiktionale Reise von Phileas Fogg verweist. Seit Februar 1999 wird die Reihe RAILWAY JüURNEYS OF THE WüRLD ausgestrahlt, wobei fast zeitgleich auch ein Buch sowie Videokassetten zur Sendung er- schienen sind. Und auch der bislang jüngste Versuch, Foggs Leistung noch zu übertreffen-die Umrundung der Erde in einem Ballon mit u. a. Richard Bran- son, dem >hippsten< aller Millionäre als (letztlich geschlagenem) Wettbewer- ber - hat ein entsprechendes Medienecho gefunden. Jules Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen greift nicht nur die wissen- schaftlichen Entwicklungen der Zeit auf, der Roman bedient auch den zeitge- nössischen Geschmack auf dem Gebiet der Unterhaltung. Populäre Darstel- lungsformen wie das Panorama oder Leinwanddarbietungen wie die Laterna magica und dann der Film spielen eine zentrale Rolle bei der visuellen Verar- beitung der großen Unternehmungen des 19. Jahrhunderts auf den Gebieten von Forschungsreisen, Erkundungen und Kolonisierung. Bilder entfernter Orte, unbekannter Erscheinungen und fremder Kulturen finden ein weitge- streutes Publikum. In dem Maße, wie die Bedeutung der Geschehnisse außer- halb des alltäglichen Erfahrungshorizonts steigt, wächst der Hunger nach visueller Information. Ein wichtiger Aspekt der medialen Repräsentationen ist die Verbindung von Erziehung und Unterhaltung, aber auch die gegenseitige Befruchtung von Wirklichkeit und Vorstellungswelt. Die Genauigkeit der bildlichen Darstellung (vermittels optischer Apparate, illusionistischer Per- spektive sowie photographischer und kinematographischer Aufnahmen) ist eng verknüpft mit dem Effekt des Phantastischen; Belehrung geht gepaart mit Attraktionen. Der Erfolg dieser Medien beruht gerade darauf, daß wissen- schaftliche Genauigkeit und spektakuläre Darbietungen einander durchdrin- gen. Sie bieten detaillierte Informationen und Daten zusammen mit heroisch- patriotischen Taten und Abenteuerromantik, Fakten gleiten über in Fiktionen. Die Mechanismen der sowohl kognitiven wie emotionalen Rezeption führen dazu, daß dargestellte Welten und Wirklichkeitserfahrung scheinbar ineinan- der übergehen. Orte sind weit entfernt und doch nah, Situationen fremdartig und doch vertraut, Reisen sind fiktiv und doch realistisch. So entsteht ein men- taler und affektiver Rahmen, innerhalb dessen auch heute noch Film und Fernsehen ihren Platz haben. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, daß die Welt direkt in unser Wohnzimmer kommt, narrativ aufbereitet, aber doch mit dem Schein der Unmittelbarkeit. Vor hundert Jahren ist dies alles noch keine Selbstverständlichkeit, doch die populären Medien tragen dazu bei, daß die Wahrnehmung von Raum und Zeit sich verändert. Die dabei so spezifische Verbindung von Realismus und Ima- gination soll am Thema der Reise in Panoramen, Laterna magica-Serien und frühen Filmen als Teil einer intertextuellen Tradition beschrieben werden. Die Praxis des Sehens Als Robert Barker 1787 die Idee des Panoramas patentieren läßt, nennt er die- se Art der Darstellung »la nature a coup d'ceil«, die Natur auf einen Blick.' Das großformatige Rundgemälde schafft eine nahezu perfekte Illusion. Das Kunstwort Panorama, »Allsicht«, erscheint 1791 erstmals in einer Anzeige. Auf riesigen, kreisförmig angeordneten Leinwänden erscheinen Ansichten von Städten, Landschaften, aber auch von biblischen und historischen Ereig- nissen. Die 360°-Panoramen, auch Zykloramen genannt, nehmen den Betrach- ter auf in die imaginäre dargestellte Welt. Die Bilder werden in speziell zu die- sem Zweck gebauten Rotunden oder temporär umgebauten Hallen gezeigt, so daß nicht nur städtische Besucher in den urbanen Zentren in den Genuß des neuen Mediums kommen, sondern auch die Bevölkerung in den Regionen. In zunehmendem Maße erscheinen Zeltrotunden auch auf Jahrmärkten, was die Popularität dieser Darstellungen belegt. Neben der eindrucksvollen topographischen Genauigkeit fasziniert vor allem die Macht der Illusion, tatsächlich »vor Ort« zu sein. Der Rundumblick versetzt den Betrachter in eine andere Umgebung. Die panoramatische An- sicht ist daher eingebettet in realistische, dreidimensionale Aufbauten, ohne den Bereich des Wunderbaren dadurch zu verlassen. Es entsteht eine merk- würdige Rollenverdopplung: Der Besucher ist Betrachter, gleichzeitig aber auch Teil der Inszenierung; er steht außerhalb der Darstellung und wird doch in sie hineingesogen. Die Illusion der bemalten Leinwand ist ein Triumph der perspektivischen Darstellung. Ein Freund und Biograph des Malers Consta- ble schreibt 1812 in einem Brief: Ich habe Mr. Barkers Panoramen von der Belagerung Flushings und der Bai von Messina gesehen. Sie sind so gut gemalt, daß sie durchaus täuschend sind, beson- ders das letztgenannte. Sie umspannen rundum den gesamten Raum und der Be- trachter befindet sich im Zentrum. Der Effekt ist sehr erstaunlich. Ich setzte sogar meinen Hut auf, weil ich mir vorstellte, unter dem freien Himmel zu stehen. Die Bilder zeigen die Perspektive in Perfektion, denn ich wurde so sehr getäuscht, daß ich nicht feststellen konnte, wie weit die Leinwand von meinem Auge entfernt war; an der einen Stelle scheint sie 30 Meilen weit weg zu sein, an anderen nur ein paar Fuß. Das ist der erstaunliche Effekt, der durch die strenge Nachahmung der Natur erzielt werden kann.3 Die publikumswirksame Illusion der Dreidimensionalität wird weder als ästhetisches Werk noch als eine funktionelle Darstellungstechnik vermarktet, sondern in erster Linie als Spektakel, das dem Betrachter die Erfahrung eines scheinbar realen Ortswechsels vermittelt. Die abgebildete Örtlichkeit ist zu- dem nicht nur als wirklichkeitsgetreue Wiedergabe interessant, denn die Pano- ramen zeigen zumeist ungewöhnliche, wo nicht sensationelle Ansichten. Oft wird dem Betrachter etwas geboten, das weit jenseits seiner alltäglichen Erfah- 33 rungswelt liegt, wozu eben auch fremde Länder und unbekannte Naturschau- spiele gehören. So in einem der unteren Räume der Rotunde des Regent's Park Colosseum, wo man durch die Fenster eines getreu nachgebildeten Schweizer Chalets auf eine Berglandschaft blickt, in der ein echter Wasserfall mit 90 Ton- nen Wasser pro Stunde einen kleinen See speist.4 Die dreidimensionalen Nachbildungen im Vordergrund gehen dann bruchlos über in die gemalte Kulisse des alpinen Hochgebirges. Derartige spektakuläre Einrichtungen sind in vielerlei Hinsicht beispielhaft für diese Form von Unterhaltungsmedium, wie auch für die Epoche, in der sie ausgestellt werden. Mit wissenschaftlicher Akkuratesse strebt man nach einer Authentizität in der Darstellung, will gleichzeitig aber auch das Publikum erstaunen und feiert dabei die zeitgenös- sischen technischen Errungenschaften, die solche illusionistischen Wunder- werke ermöglichen. Der Besucher des Panoramas befindet sich in einer >begehbaren< Illusion. Er ist Teil einer Inszenierung, bei der die dreidimensionalen Objekte den Schein der Wirklichkeit des gemalten Bildes verstärken und dessen eigentliche Materialität vergessen machen. Die Rundumsicht erlaubt es dem Betrachter, seinen Blick nach Belieben von einem Gegenstand zum nächsten zu wenden. Dabei ist das Staunen über die Perfektion der Illusion wohl fast ebenso wich- tig wie das Dargestellte selbst. Ein Fenster zur Welt In der populären Unterhaltung des 19.Jahrhunderts gehört das Reisethema zu den beliebtesten und meistverbreiteten Sujets. Die Erfindung moderner Trans- portmittel, insbesondere der Eisenbahn, hatte zuvor bereits die Erfahrung des Reisens selbst grundlegend verändert.! Die Fahrt mit dem Zug kann sogar ih- rerseits zu einer Unterhaltungsattraktion werden. Richard Trevithick, ein Ma- schinenbauer aus Cornwall, führt 18 08 seine Catch me who can-Lokomotive auf einer Rundstrecke in London vor. Das Gelände ist rundum durch einen Zaun abgeschlossen und für die Besucher gegen Eintritt zugänglich. Im Innern können sie die Lokomotive auf ihrer endlosen Reise bestaunen. Der Zuschauer mag auch selbst die Maschine besteigen und erlebt dann das Schauspiel der an ihm vorüberziehenden Gesichter derjenigen, die darauf warten, daß die Reihe an ihnen ist. Das Rundbild-Panorama inszeniert allerdings weniger die Reise als den Ortswechsel. Der Betrachter geht durch einen kurzen Gang und findet sich in einer völlig anderen Umgebung wieder. Doch nicht nur die Möglichkeit, ein Abbild der Fremde zu sehen, sondern auch die Simulation der Fortbewegung wird im 19. Jahrhundert in den Moving Panoramas zum Gegenstand populä- rer Schaustellungen. Das Moving Panorama ist in den 182oer und 183oer Jahren im englischen 34 Kairo. Photographisches Projektionsbild, koloriert, 31A-Zoll-Format. Archiv des Illuminativ-Theaters. Theater und auch als eigenständiges Unterhaltungsmedium populär. Ab der Jahrhundertmitte kommen zahlreiche große Moving Panoramas aus den Ver- einigten Staaten nach Europa.6 Der entscheidende Unterschied zu den Rund- gemälden liegt in der Position des Betrachters. Dort kann er sich frei auf der Plattform im Zentrum der Darstellung bewegen und mit jedem Platzwechsel eine neue Perspektive einnehmen. Beim Moving Panorama befindet sich der Besucher fest in einem Sitz, während sich das Bild ständig verändert. Die Lein- wand, die laut zeitgenössischen (möglicherweise aber übertriebenen) Be- schreibungen oft kilometerlang ist, wird aufgerollt und dann nach und nach abgewickelt, der Mechanismus bleibt für den Betrachter natürlich unsichtbar, das vorbeiziehende Bild ist von einem Proszenium eingerahmt. Zu den belieb- testen Motiven gehören vor allem Flußfahrten, aber auch andere Reisen. Die Darstellungsweise ist dabei entweder kontinuierlich oder sie besteht aus einer Reihe von unterschiedlichen Bildern. Noch zur Jahrhundertwende läßt die Bauverwaltung der Sibirischen Eisenbahn von Pavel J akowlewitsch Piassezki ein »Panorama der Eisenbahnmagistrale, quer durch Sibirien und die Mand- 35 schurei bis Wladiwostok« malen, das in Paris auf der Weltausstellung 1900 in der sibirischen Abteilung des russischen Pavillons gezeigt wird/ Die Moving Panoramas zeigen wechselnde Landschaften, aber auch Folgen von Ereignis- sen. Damit ist das Verstreichen der Zeit ebenfalls Teil der Schaustellung. Je nach dem, in welcher Weise die Vorführungen organisiert werden, ist der Be- sucher Teil der Reise-Inszenierung oder Zuschauer in einer theaterähnlichen Präsentation. Bei den verschiedenen Spielarten des Panoramas handelt es sich um gemal- te Bilder, deren Wirkung vor allem auf der ausgeklügelten Technik perspekti- vischer Darstellung beruht. Damit unterscheiden sie sich grundlegend von den projizierten Ansichten der Laterna magica und später des Films. Der Wirk- lichkeitseffekt entsteht nicht nur durch die Qualität der Malerei, sondern auch durch die Inszenierung, die darauf abzielt, den Besucher in eine in sich ge- schlossene Welt zu versetzen, die als täuschend echte Nachahmung einer ihm unbekannten - manchmal aber auch gut bekannten - Realität gestaltet ist. Bei den projizierten Bildern dagegen ist es einerseits der Realismus der Darstel- lung, der den Wirklichkeitseindruck bewirkt, andererseits aber auch die Be- reitschaft des Zuschauers, sich »mitnehmen« zu lassen auf die Reise durch Zeit und Raum, ohne selbst in Bewegung zu sein. In den Katalogen für Laterna magica-Projektionsbilder findet man zahllo- se Serien mit Ansichten von Städten, Landschaften und Sehenswürdigkeiten, darunter oft Darstellungen der Kolonien. Meist handelt es sich dabei um ano- nyme Produktionen, doch findet man darunter auch Bilder berühmter Reise- photographen wie J. Marin Miller und Francis Frith. Immer wieder erschei- nen Titel wieRound the World with a Camera (60 Bilder),Round the World in a Yacht (45 Bilder) oder Round the World through British Territory (54 Bil- der). Auch in den Verkaufslisten früher Filme sind Reisebilder ausgiebig ver- treten mit Titeln wie »Panorama von ... «, die damit auch auf das frühere Un- terhaltungsmedium zurückverweisen. Für die sogenannten phantom rides wird die Kamera vorn auf der Lokomotive installiert. Solch ununterbrochene Kamerafahrten ähneln den Reisedarstellungen in den Moving Panoramas, je- doch mit dem Unterschied, daß die gefilmten Ansichten jeweils die tatsächli- che Fahrzeit wiedergeben. Die Wechselwirkung zwischen der Zugfahrt und den populären Unterhal- tungsformen spielt somit auf verschiedenen Ebenen. Die veränderte Wahrneh- mungsweise wird in den Schaustellungen thematisiert oder simuliert, doch gleichzeitig auch unter Rückgriff auf diese metaphorisch erfaßt. So beschreibt der Schriftsteller Paul de Kock 1842 die Eisenbahn als die »wahre Laterna magica der Natur«.8 Doch es geht nicht nur um die Illusion der Reise. Bei Moving Panoramas, in den Laterna magica-Vorstellungen (zu all den oben genannten» Weltreisen« gibt es ausgearbeitete Begleitvorträge mit genauen Beschreibungen der An- sichten) wie in vielen frühen Filmvorstellungen spielt der Erklärer eine zen- trale Rolle. Die Unterhaltung sowie das Staunen über die exakte Darstellung wird ergänzt durch eine pädagogische Dimension, die man oft genug auch sehr bewußt unterstreicht. Die Ansichten einer immer besser erkundeten Welt tref- fen auf ein Publikum, das sich für Reisen und Expeditionen begeistert, nicht zuletzt weil es im Alltag ein eher ereignisloses Leben führt. Unterhaltung dient auf effiziente Weise dazu, das Neue zu verstehen, zumal die weithin ver- breiteten Aufzeichnungen bekannter Abenteurer einen für alle gemeinsamen Horizont bilden. Das Bedürfnis nach Spektakel und Illusion verbindet sich so mit dem Streben nach Wissen und Bildung. Dies zeigt sich auch daran, daß Barker schon 1790 die topographische Genauigkeit der Panoramen durch In- formationsbroschüren ergänzt. Die Erklärer bei den Moving Panoramas, den Laterna magica-Vorstellungen und später beim Film stehen in genau dieser Tradition. Mit Erzählkunst, Deklamationstechnik, rhetorischer Raffinesse, aber auch Humor begleiten sie die Zuschauer auf ihrer Reise. So ist z.B. Albert Smith einer der großen Erklärer der Zeit um 1850. Er stützt sich auf seine eigenen Erfahrungen sowie auf die Zeiclinungen des ihn begleitenden Malers William Beverly. Zwei seiner beliebtesten Vorträge zu M oving Panoramas sind die »Ü berlandpost nach Indien« und die »B esteigung des Mont Blanc«. Dabei spielt er verschiedene Rollen. Sein Vortrag muß in- struieren, gleichzeitig aber auch das Publikum fesseln. Dazu bedient er sich technischer Hilfsmittel: Mit Licht- und Geräuscheffekten beschwört er Ge- witter herauf, begleitet er Schlachtenszenen, Schiffbrüche und Explosionen. Mit Hilfe mechanischer Tricks dampfen Züge aus Bahnhöfen oder stechen Schiffe in See. Vermittels dioramatischer Transformationen zeigt man Sonnen- unter- und Mondaufgänge, Stürme in den Alpen und Brandszenen. Der Rea- lismus der Darstellung wird angereichert durch eine Reihe von phantastischen Effekten und fiktiven Geschichten. Man mag dies mit dem klassischen Prinzip des delectare et prodesse erklä- ren wollen, doch darf man nicht vergessen, daß es sich bei all diesen populären Unterhaltungsformen um kommerzielle Unternehmen handelt. Das Spekta- kel ist nicht der Zuckerguß, mit dem einem breiten Publikum die Bildung schmackhaft gemacht werden muß. Im Gegenteil, der erhoffte Wissenszu- wachs ist ein mehr oder weniger gleichwertiger Teil der Anziehungskraft sol- cher Darbietungen. Noch bevor die Möglichkeit der tatsächlichen Reise um die Welt für ein breites Publikum zur Realität wird, gehören die Bilder der Fremde zu seinem Erfahrungsschatz. Und während Georges Melies zu An- fang dieses Jahrhunderts noch eine imaginäre Reise zum Mond filmt, »wissen« wir heute, wie es auf dem Mond aussieht, ohne jedoch dort gewesen zu sein. Die populären Bildmedien können uns die Welt offenbar nur vor Augen füh- ren, indem sie gleichzeitig verschiedene imaginäre oder virtuelle Welten er- schaffen. Nicht, daß wir uns dabei selbst betrügen; wir können sehr wohl un- terscheiden zwischen dem, was wir tatsächlich, und dem, was wir im Bild wahrnehmen. Vielmehr scheint die sensationelle Magie der Bilderwelten un- 37 gebrochen. Die heute neuen Bildschirmmedien und ihre virtuellen Welten, in denen wir reisen, ohne uns fortzubewegen, stehen in eben dieser Tradition: Auch hier mischen sich Wirklichkeit und Virtuelles in einem technikbasierten Schauspiel, das Unterhaltung und Bildung verknüpft in Bildern und spannen- den Erzählungen. Anmerkungen 1 Le tour du monde en 80 jours ist der 5 Vgl. hierzu Wolfgang Schievelbusch, mit Abstand größte Erfolg Vernes zu Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Indu- seinen Lebzeiten. Die Volksausgabe zu strialisierung von Raum und Zeit im 3 Francs wird 108000 Mal verkauft. Die il- 19. Jahrhundert, Ullstein, Frankfurt am lustrierte Ausgabe zu etwa 7 Francs erzielt Main, Berlin, Wien 1979. sogar eine dreimal höhere Verkaufszahl. 6 Zum Moving Panorama vgl. Ralph Vgl. Jean-Jules Verne,Jules Verne, Macdo- Hyde, »Excursions. Das Moving Panorama nald and Jane's, London 1976, S. 106. zwischen Kunst und Schaustellung«, in: 2 Repertory of Arts and Manufactures, Sehsucht (Anm. 2), S. 84-93 sowie Oetter- Nr. 4, 1796, S. 165-167. Zitiert nach Ralph mann (Anm. 2), S. 258-274. Hyde, Panoramania! The Art and Enter- 7 Vgl.Sehsucht (Anm. 2), S. 248f. Ähnli- tainment of the ,all-embracing, View, ches versuchen dann auch die berühmten Trefoil Publications, London 1988. Zum Hale's Tours im Bereich des Films. Hier soll Thema Panorama vgl. auch Stephan Oetter- dem Besucher die Illusion einer Zugreise mann, Das Panorama. Die Geschichte eines vermittelt werden, indem die Vorstellung Massenmediums, Syndikat, Frankfurt am im Inneren eines umgebauten Eisenbahn- Main 1980; Kunst- und Ausstellungshalle waggons stattfindet. Zu den Hale's Tours der Bundesrepublik Deutschland, Seh- vgl. Raymond Fielding, »Hale's Tours: Ul- sucht. Das Panorama als Massenunterhal- trarealism in Pre-1910 Motion Picture«, in: tung des 19. Jahrhunderts, Stroemfeld Ver- John L. Fell (Hg.), Film Before Griffith, lag, Basel, Frankfurt am Main 1993. California University Press, Berkeley, Los 3 C.R Leslie an Thomas J. Leslie, 2. Fe- Angeles, London 1983, S. u6-130. bruar 1812. Zitiert nach Hyde (Anm. 2), 8 Zitiert nach Clement Cheroux, »V ues s. 28. du train. Vision et mobilite au XIXe siede«, 4 Vgl. auch die Beschreibung in Oetter- Etudes photographiques, No. 1, November mann (Anm. 2), S. uo. 1996, s. 73· JENS RUCHATZ Ignoriert und totgesagt Koordinaten zur Geschichte der Photoprojektion in Deutschland' I. Die Historiographie der Projektion2 unterliegt nach wie vor den Bedingun- gen der Archäologie des Kinos. Immerhin ist die Laterna magica im Rahmen der Vorgeschichte des Kinos neuerdings von einer bloßen Randnotiz zum ka- nonisierten Vorläufer aufgestiegen.3 Nicht vom gestiegenen Interesse erfaßt worden ist dagegen die Einführung photographischer Projektionsbilder, die als Einschnitt in der Geschichte der Projektion weiterhin marginalisiert, wenn nicht gänzlich ignoriert geblieben ist.4 Die systematische Aussparung läßt sich unter anderem darauf zurückfüh- ren, daß sich die Photoprojektion gegen eine lineare Entwicklungslogik zum Kino hin sperrt. Fixiert auf den roten Faden Bewegung hat sich die Archäolo- gie des Kinos an den Projektionsbildern vorrangig für mechanische Bewe- gungseffekte einerseits, dioramatische Überblendungen andererseits interes- siert. Erstere traten um 1660 gleichzeitig mit der Laterna magica auf, letztere verbreiteten sich als Nebelbilder oder dissolving views ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Bei der Photoprojektion spielten derlei Effekte kaum mehr eine Rolle; sie wurden vielmehr als Relikte einer durch die Photographie überholten Epoche angesehen.! Freilich verdrängte die Photoprojektion we- der die gemalten Projektionsbilder noch die alten Animationspraktiken von der Bildfläche, doch sie relativierte deren Stellenwert gravierend. Bei der Pro- jektion von Photographien wird Bewegung nicht mehr simuliert oder präsen- tiert, sondern -verstärkt durch begleitende Kommentare - zwischen den Bil- dern impliziert. Doch nur wenn man - wie viele kinoarchäologische Texte - den Begriff von Bewegung so ausweitet, daß der qualitative Unterschied zwi- schen den Bewegungseffekten der Laterna magica und der normalisierten, medial konstitutiven Bewegung des Kinos verwischt,6 kann dieser Wandel als Entfernung vom Kino interpretiert werden. Genuin proto-kinematographi- sche Projektionen, Bewegungsbilder in nuce, wie Muybridges Vorführungen mit dem Zoopraxiskop, mögen technikgeschichtlich noch so bedeutsam sein - für die Projektionspraxis bleiben sie randständige Ausnahmen. Die Nichtbeachtung photographischer Projektionsbilder dürfte anderer- seits durch ihre industriell-technische Herstellungsweise begründet sein. In Kontinuität zu den idealistischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts brandmarkt 39 beispielsweise Friedrich von Zglinicki das photographische Diapositiv als technisches Bild: »Die wertvollen handgemalten kleinen Kunstwerke wurden nun auf Grund einer schablonenmäßigen Vervielfältigung zu einer alltäglichen Handelsware.«7 Der aus heutiger Sicht dröge Charakter vieler photographi- scher Diaserien ist wohl dafür verantwortlich, daß die Photoprojektion aus Sammlerkreisen, der zweiten Forschungsbasis zur Projektion, nur partiell - da, wo die Bilder inszeniert und narrativ aufgeladen sind- erforscht worden ist. Um die terra incognita der Photoprojektion zu erschließen, sollten zu- nächst die Grenzen des Erkundbaren theoretisch abgesteckt werden. Ein her- meneutischer Zugang, wie er sich für den Film etabliert hat, dürfte bei der Pro- jektion - ohne tiefes Bedauern - auszuschließen sein, denn hier ist nicht nur der Kontext, sondern der Medientext selbst problematisch. Die verfügbaren Archivalien, gemalte und photographische Bilder, gelegentlich Vortragstexte, stellen bloßes Material dar, das erst im Akt der Vorführung durch Bildrhyth- mus, visuelle Effekte, musikalische Begleitung, Stimme und Vortragsstil zu einem intermedialen Text verwoben wird. Gleich dem Theater produziert die Projektionskunst - und nur so macht dieser Begriff Sinn - »transitorische Kunstwerke«, die jeden Rekonstruktionsversuch in Aporien enden lassen.8 In seinen Arbeiten zur frühen Filmgeschichte hat Charles Muss er gezeigt, wie auf dem Weg zum Langfilm das Performative - das Feld der Projektionskunst - allmählich ins konfektionierte Produkt »Film« hineinverlegt worden ist.9 Ohne greifbare Werke kann sich das Interesse ohne Umschweife auf medien- historisch fruchtbarere Fragestellungen richten. Über medienhistoriographi- sche Standards wie Technik- und Ökonomiegeschichte hinaus läßt sich an der Projektion exemplarisch untersuchen, wie sich ein Medium in Differenz zur Medienumgebung verhält und diskursiv konstruiert wird - im besonderen unter den Bedingungen des intramedialen und intermedialen Wandels.'0 Im Rahmen dieses Beitrags lassen sich freilich nur erste Orientierungsmarkenset- zen. II. Der wesentliche Schritt von älteren Projektionsdispositiven zur Laterna magica besteht in der Trennung von Bildträger und Projektionsapparatur: damit waren Projektionsbilder austauschbar und zu Sequenzen kombinier- bar. Die Einführung der Photographie in die Projektion bedeutet auf der ba- salsten Ebene eine neue Produktionsweise, mit der solche Bilder nun nicht mehr von Hand gemalt werden mußten, sondern auch technisch erzeugt wer- den konnten. Die Herstellung transparenter Positivbilder setzt freilich einen bestimmten Stand der photographischen Technik voraus: Im Gegensatz zur Daguerreotypie, dem ersten praktikablen photographischen Prozeß, sind Po- 40 1 ~Ni!!~!e,,;,~i;. ~iir,n~~~~f! ,!~.!!~~~;~! .__... 1i;n t11 ~i;-qti~ lidi rr'IL C>'irtlt cr,1~tknti..n 12;u4 :a.; iDJl. h..a:p r Tlllit r,111tirmilftri.tf:trt. :'lrth1t.:-FM1li.:bn, ri:11Liriir11 Ullflo tol1111•t1ijr~~·(:i1i~th Cliil,HI l.!-i 1~ rm. S,111u1tl1J11,1 HI n1 1r,c,1R•in i ia:tr un:b atL'I L"il i ii ttr i:at,Ltil ut i,n U Pt,'\'lll ii.frn 'llt1n t>.tn tC'lltti h1i if rn icti.:ifl m,1m>.rr11 ~!:J~~,1r1,~ ii[II'.'._ 1' a-11 t>.' erH, ·p h gfio•flopc. *'*[d:)I!! b"f, ~irD ~Ir· 1::l"n r.tifiilt!l!I ~lotli:t1e,1tl'l1!1jt , TU i-t Ciao!r&-n.~pl lf(l~~n !ille• fH, ~tollllt'lt ic:. 1~1 tl Cl iR~f 61.r l'IFt QU t-te :fi:J l~b mttft11. :i'i•·m· ~1trl1;fi.1"111'@:fH lf',mn· ill'trl ~,i iud)tm btt 1oi11Hdli fall il &ttfll~lollc l.l oß;t.t1 :ft~Efl\ltn .,,,,ntllJ 11.tl J\11 ffri'fi~'lll tin r t11~C~i t O lttDI!' bc~ !lltr{ln icn-111 i:,. c, brjl,t ~ L'l'ol mt~ 11 tD-1l ~iL1>t1t1 fillill 11t1m 1111 tll!mi d~11,eu1 ,mfd - !llc:ii,r lfit'!'• \lo1ijnj , 'llnLIL'flt~11111m1 d u:11b 11uf f i!·~•rp.fi'i lli ij ltt •'II r~t111,11 l!I teUtrill ,ni ,l~ fr,liß.t. : ~LI f ir.:il'lli r Ni -nll tl',~ti:. I~( Ll't1L qJrf iflr ~l.11oltd, J;rH t.lH 4:.l'ilf io:"111 t t, '!I: . .f:r~Pz 01!-lirn ll, ~rit,n.-Utr. ~°llll"I r l:ill• 1 •i .rr !J-l r. 'i 111 .(, ,1 1ri ~ u l 4. SJ,:rt rJ~ ~ Ft~\ 11:t ,rnf t'oc=L ~fü11},:fümßtll ,1fltt m&Un. (!Jl~ril!I 18i~.) sitiv-Negativ-Verfahren auf einen transparenten Zwischenträger angewiesen, der die Durchlichtung für den Positivabzug erlaubt. Weil das transparent ge- machte Papier, das zunächst als Negativ-Schichtträger fungierte, seine faserige Materialität in die fertigen Abzüge einbrachte, blieben Positivabzüge zunächst an Schärfe weit hinter den Direktpositiven der Daguerreotypie zurück. 1847 publizierte der Franzose Niepce de St. Victor ein Verfahren, das mit Glas einen Schichtträger von idealer Transparenz und Immaterialität für die Photogra- phie erschloß. Es war ihm gelungen, mit Albumin (Hühnereiweiß) eine gleich- mäßige und durchsichtige Schicht auf Glas aufzubringen. In der Absicht, Pho- tographien vor Publikum kommerziell auszuwerten, experimentierten zur 41 gleichen Zeit in Philadelphia die Brüder William und Frederick Langenheim mit episkopischer Projektion." Zufriedenstellende Ergebnisse erzielten sie allerdings erst in Durchlichtprojektion, als sie - in Ableitung vom Niep- ceschen Glasnegativprozeß- auch die Positive auf Glas zogen. Ihre Erfindung patentierten sie 18 50 unter dem Namen »Hyalotypie« - Glasdruck- und prä- sentierten sie im folgenden Jahr der Weltöffentlichkeit im Londoner Kristall- palast. Die ersten Rezensenten maßen die Hyalotypie an anderen photogra- phischen Verfahren und betonten die beeindruckende Detailzeichnung der Glasbilder. 12 Die Brüder Langenheim verstanden ihre Hyalotypien jedoch vornehmlich als Konkurrenz zu gemalten Projektionsbildern: The new magic-lantern pictures on glass, being produced by the action of light alo- ne on a prepared glass plate, by means of the camera obscura, must throw the old style of magic lantern slides into the shade, and supersede them at once, on account of the greater accuracy of the smallest details which are drawn and fixed on glass from nature, by the camera obscura, with a fidelity truly astonishing.'J Um die Transparenz und Zeichnungsgenauigkeit der Photographie auf Glas auszuschöpfen, erschien die Projektion als kongeniale Präsentationsweise, gewissermaßen in Fortsetzung der Lupe, mit der seit Daguerre (und noch bei den Langenheims) die Detailfülle der Photographie zu würdigen war. Bezogen auf die Projektion stellte die Photographie nicht nur ein rationel- leres Herstellungsverfahren bereit, sondern vor allem eine radikal neue Art Projektionsbild, das - anders als das gemalte - jeder Vergrößerung stand- hielt. Im Kontext der Londoner Weltausstellung wurde auch in Deutschland erstmals über die Glaspositive berichtet. Aus dem Ausstellungskatalog des Art-Journal übersetzte die Leipziger Illustrirte Zeitung: »Die Hyalotypien oder Photographien auf Glas, sowohl positive als negative -von den positiven Bildern werden viele colorirt, um als Schiebebilder für magische Laternen zu dienen - sind eine sehr nette Anwendung[. ..] .«'4 Innerhalb der Informa- tionsfülle zur Weltausstellung wird diese lapidare Notiz kaum Aufmerksam- keit erregt haben. Auch ohne photographiespezifische Mitteilungsorgane muß sich die Nachricht nichtsdestoweniger in Fachkreisen verbreitet haben, denn wiederum in der Illustrirten Zeitung erschien im Jahr 18 55 regelmäßig eine Anzeige des Hamburger Optikers A. Krüss, in der für »Apparate zur Darstel- lung der Nebelbilder (Dissolving views), mit landschaftlichen, astronomi- schen, geologischen, komischen und photographischen Glasbildern« gewor- ben wurde.'' Daß photographische Projektionsbilder unter den Sachgruppen als eigene Kategorie auftauchten, verweist auf ihren Neuigkeitswert. In unver- änderter Form erwähnte sie eine Folgeanzeige aus dem Jahr 1858, in der die Bilder neben den Apparaten nun aber explizit als eigene Produktgruppe zum Verkauf stehen. 16 Die Tendenz zu Rationalisierung und Einschränkung des 42 Performativen läßt sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt feststellen: Nach englischem Vorbild sind Bilderserien zusammengestellt und mit »populären von den ersten Wissenschaftsmännern ausgearbeiteten Vorträgen« versehen worden.'7 III. Wenngleich sich die Projektionsbranche bis in die siebziger Jahre ausgedehnt hatte,' 8waren photographische Projektionsbilder bis dato keine Normalität geworden. Noch ein Vierteljahrhundert nach der Vorstellung der Projektions- diapositive mußte der Hamburger Projektionshändler Böhm für den Projek- tionsbereich einschränken: »Schon längere Jahre findet die Photographie auch auf diesem Felde Anwendung, jedoch nur in beschränktem Maasse. Statuen, licht gehaltene und gut colorirte figürliche Sujets, passende architektonische Bilder, sowie besonders mikroskopische Aufnahmen eignen sich ganz gut für dieselbe[ ...] .«'9 Tatsächlich herrschten bis in die achtziger Jahre Projektions- vorstellungen nach Art der Nebelbilder vor, bei denen populärwissenschaft- liche Stoffe Anlaß gaben, visuelle Spektakel darzubieten. Photographien wur- den nur integriert, wo sie zur spektakulären Wirkung beitragen konnten. Das gilt etwa für die von Böhm erwähnten Mikrophotographien, die in der Pro- jektion bis zur Monstrosität vergrößert wurden.2° Für das Erschauern beim mehrhundertfach vergrößerten Blick in den Mikrokosmos war die Photogra- phie unverzichtbar, da nur sie - qua Verfahren - die Tatsächlichkeit des Gese- henen garantieren konnte. In vergleichbarer Funktion dienten Photographien in den Vorträgen des Laterna-magica-Schaustellers Paul Hoffmann. Unter dem Titel »Aegypten und das Nilthal vor 4000 Jahren und jetzt« bebilderte er in 28 »nach der Natur aufgenommenen Tableaux« eine Reise nilaufwärts von Alexandria bis Abu-Simbel. Der vielversprechenden Ankündigung zum Trotz war nur eines der Bilder als »Photographie nach der Natur« ausgewie- sen und von den anderen unterschieden.21 Das photographische Einsprengsel sollte vermutlich metonymisch die - sprachlich nur behauptbare - Tatsäch- lichkeit der ägyptischen Ruinen beweisen und so die gemalten Bilder aus der Fiktionalität heben.22 In der Laterna magica, der ab 1877 von der Photographie- und Projek- tionsfirma Liesegang publizierten Fachzeitschrift, appellierte man für eine stärkere Anwendung der Photographie: »W enn man bedenkt, dass Photo- gramme sich am vorteilhaftesten als Transparentbilder zeigen, so erscheint es seltsam, dass so wenige Schaustellungen dieser Art existiren.«23 Erneut wurde argumentiert, daß die Projektion als kongenialer Partner die Vorzüge der Pho- tographie, ihre Wahrheit und Genauigkeit, wie keine andere Präsentations- form zur Geltung bringe. Daß photographische Bilder in puncto Wahrheit über jeden Zweifel erhaben galten, wog zumindest für die Schausteller nicht 43 die brillante Farbigkeit der gemalten Bilder auf. Erst als die Anwendung der Projektion im Bildungsbereich forciert wurde, konnte die Photographie ihre Vorteile ausspielen. Auf diese Bestimmung, die Entwicklung der Diaprojektion zum Lehrmit- tel, ist das photographische Dia - retrospektiv wie zeitgenössisch - festgelegt worden.24 Ab den siebziger Jahren propagierten photographische und - ein- geschränkt - pädagogische Zeitschriften die Projektion für die Bildung. Als Hermann Vogel, Professor für Photochemie und umtriebiger Förderer der Photographie, 1870 zu einer Studienreise in den USA weilte, erstaunte ihn der Projektionsapparat als Lehrmittel: »Ueberhaupt ist hier das Glaspositiv und die Laterna magica mit elektrischem oder ähnlichem Licht ein wichtiges Un- terrichtshülfsmittel geworden. [. ..] Es ist wahrhaft bedauerlich, dass solche Unterrichtshülfsmittel bei uns noch ganz unbeachtet geblieben sind.« 2 i Das Zurückbleiben hinter dem Ausland, zumeist England und die USA, zuweilen auch Frankreich, wurde in solchen Diskursen zum typischen Argument. Auf die Projektionsaktivitäten der Bildungsvereine, die Volksbildung stets unter finanziellen Restriktionen betrieben, hat sich in den siebziger Jahren die Ein- führung des Skioptikons, einer preisgünstigen Laterne mit einer leistungsfä- higen Petroleumlampe, zweifellos förderlich ausgewirkt. Die größte Hürde, namentlich die zeitgenössische Gleichsetzung der Projektion mit naiver Un- terhaltung, lag jedoch in den Köpfen und ließ sich nur diskursiv abbauen. Al- lein so ist zu erklären, warum die Projektion auch in Schule und Universität nur zögerlich Einzug hielt. IV. Daß die Diaprojektion - jedenfalls in Deutschland - ihren großen Auf- schwung parallel zur Etablierung des Kinos erlebte, verwundert angesichts der geläufigen Beschreibungen.26 Für die Ausbreitung der Projektion ab Mitte der neunziger Jahre nennt F. Paul Liesegang, ambitionierter Amateurhistoriker auf dem Gebiet der Projektion, drei Faktoren: technische Fortschritte, beson- ders die Verbreitung effektiver und praktischer Lichtquellen, aber auch - und das soll hier stärker interessieren - die Einführung des Diaverleihs, schließlich das Auftreten des Kinos selbst.27 Vor allem für die Volksbildung war der Ver- leih eine wichtige Innovation. Obwohl die photographische Reproduktion Projektionsbilder erheblich verbilligt hatte, lohnte ihr Erwerb nur für Vor- tragsreisende oder Schausteller, die an wechselnden Orten Vorstellungen ga- ben. Die Bildungsvereine beklagten dagegen, daß ihre Apparate ohne neue Bilderserien nicht langfristig auszulasten waren. Anders als in Frankreich, wo seit den achtziger Jahren durch laizistische Bildungsverbände, ab den neunzi- ger Jahren auch von staatlichen und katholischen Stellen Bilder und Apparate zur Verfügung gestellt wurden,28 entsprang der Verleihbetrieb in Deutschland 44 Fabrik-Versand-Haus ffir Photographie und Projektion Apollo-Trockenplatten-Fabrik Unger & Hoffmann Haupt-Geschäft: Filial-Geschäft: Dresden-A.16, Relsslgerstr. 36, 38 u. 40 * Berlin SW., Jerusalemer Strasse 6 mnstrirte Kataloge, ca., 700 S. stark, mit vielen A.bbildungen, gegen 30 Pf. in Briefma.rken. Inserat, um 1900. Archiv des Illuminativ-Theaters. »einer rein geschäftlichen Initiative, der Erkenntnis, daß das Ausleihen den Apparateverkauf in starkem Maße heben würde.« 29 August Fuhrmann, einst selbst Nebelbildschausteller, reagierte wohl als erster auf den Bilderbedarf und richtete r 892 einen kommerziellen Verleih ein, der Diaserien komplett mit Vorträgen abgab. Durch sein Kaiserpanoramen- Geschäft war Fuhrmann geradezu prädestiniert für diese Innovation. Beim Kaiserpanorama lag die Neuerung nicht im Apparat, bei dem 25 zahlende Be- trachter zugleich durch Gucklöcher eine Serie von Stereodias betrachten konnten, sondern allein im Distributionsprinzip, das der Trennung von Sicht- apparatur und Programm Rechnung trug.l° Fuhrmann lizenzierte ein Netz von Filialen, die er - auf Leihbasis - im wöchentlichen Rhythmus mit wech- selnden Bildserien versorgte. Nur durch den wöchentlichen Programmwech- sel ließ sich die hohe Einstiegsinvestition - ein Kaiserpanorama kostete über 3000 Mark- ökonomisch rechtfertigen. 45 Weil Diaserien vor großem Saalpublikum in der Regel nur einmal am sel- ben Ort projiziert werden konnten, war der Bedarf an neuen Bildern hier kei- neswegs geringer. Als Bildquelle für die Projektionsdias konnte Fuhrmann auf den laufend erweiterten Negativfundus für die Kaiserpanoramen zurückgrei- fen, als zweites Standbein hatte er im Herbst 1891 die Projektionsabteilung des international tätigen Photohändlers Romain Talbot übernommen.3' Die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, Dachorgan der libera- len Bildungsvereine, begrüßte in ihrem Verbandsorgan die neue Möglichkeit, »sich billig einen genußreichen Projektionsabend zu verschaffen.«l2 Es ver- strich jedoch ein weiteres Jahrzehnt, bis die Gesellschaft im Oktober 1901 selbst entschied, »die Anschaffung von Skioptiken zu empfehlen und eine grössere Zahl von Bilderserien für Skioptiken anzukaufen und gegen eine mäßige Leihgebühr den körperschaftlichen Mitgliedern zu Verfügung zu stel- len«.JJ Für diese Verspätung waren finanzielle Gründe sicher nicht entschei- dend, denn zur Förderung des Lesens wurden - vor und nach der Einrichtung des Diaverleihs - beträchtliche Summen aufgewendet.34 Alle Appelle für die Anschaulichkeit konnten nicht über das bei den Volksbildnern tiefsitzende Mißtrauen gegenüber dem Bild hinwegtäuschen. Um der Befürchtung zu be- gegnen, daß das Bild den Text überwuchern könne, »daß man den Vortrag als etwas Nebensächliches ansieht und behandelt, und die Bilder als die Hauptsa- che«,n versah man anfangs die verliehenen Diaserien nicht mit fertigen Vor- tragstexten. Man glaubte den Text zu stärken, indem man die Entleiher nötig- te, den Vortrag anhand der mitgelieferten Sekundärliteratur selbst zu erstellen. V. Ob die Projektionskunst in der zeitparallelen Entwicklung tatsächlich vom Film profitiert hat, steht zu bezweifeln. Liesegang räumt ein, daß »die übrigen Zweige der Projektionskunst durch den Kinematographen in ihren Entwick- lungen einstweilen weder gefördert noch gehemmt [wurden], abgesehen von den Nebelbildern, clenen der Kinematograph den Garaus machte.«J6 Die Ne- belbilder hatten allerdings schon zuvor keine herausragende Rolle mehr ge- spielt. Im Variete, einem der frühen Standorte des Kinematographen, waren Nebelbildvorführungen in den neunziger Jahren eine Seltenheit.37 Liesegang deutet vage an, der Diaprojektion habe genutzt, daß im Rahmen der Kino- debatte erstmals theoretisch über die Projektionsmedien als Lehrmittel ge- stritten worden sei. Tatsächlich wurden ab dem Ersten Weltkrieg und verstärkt in den zwanziger Jahren von der öffentlichen Hand zahlreiche Bildstellen ein- gerichtet, die allesamt in ihren Verleihbeständen nebeneinander über Dias und Filme verfügten. In der Vorführpraxis ist hingegen auffällig, wie wenig - zumindest in Deutschland - Film- und Diaprojektion einander begegnen. Um die Lücke beim Filmrollenwechsel zu überbrücken, bediente man sich bald zweistrahli- ger Projektionsapparate, die den fliegenden Wechsel zwischen Film und Dia ermöglichten. Ansonsten würde das Publikum in der Zwischenzeit durch das grelle Licht geblendet oder - noch schlimmer - im Dunkeln sitzend gerade- zu gezwungen, »über das Gesehene reiflich nachzudenken, was nicht gut ist, denn selbst an den besten Bildern, die vorhanden sind, gibt es mancherlei aus- zusetzen, was von Leuten, die nichts Besseres zu thun haben, leicht herausge- funden wird.«18 Als bloße Lückenbüßer blieben die unbewegten Bilder hier der Filmvorführung jedoch funktional untergeordnet und thematisch unbe- stimmt. Außerhalb des Varietes, wo die Filmvorführung nur ein Programm- punkt unter anderen darstellte, stand in Deutschland stets der Film im Zen- trum. Während in den amerikanischen Kinohäusern noch bis in die zehner Jahre Film als Hauptattraktion durch andere Schaustellungen, darunter in der Regel mit Dias illustrierte Songs, begleitet wurde, bot man hierzulande reine Filmprogramme. Zu narrativen Serien kombinierte Szenen, die Dia und Spiel- film annäherten wie die erwähnten Illustrated songs oder die in England seit den siebziger Jahren inszenierten Life model slides, waren in Deutschland oh- nehin nie üblich.J9 Allenfalls in Erweiterung der etablierten Vortragspraxis wurden Dia und Film integriert, wenn bei einer Reisebeschreibung etwa das Land weiterhin durch photographische Diapositive, die Leute nun aber mit dem Kinemato- graphen vorgeführt wurden. In solch einem Vortrag folgten jedem Filmstück zwei oder drei photographische Projektionsbilder, die zudem die Filmwechsel überbrücken und das flimmergeschädigte Auge beruhigen halfen.40 Nur im Bildungskontext konnten Film und Dia einander noch begegnen, da die nach der Jahrhundertwende rein photographisch gewordene Diaprojektion defini- tiv auf die Lehre festgelegt war: »Die Projektionskunst bewegt sich [ ...] gegenwärtig in anderen Bahnen wie früher, sie ist aus einem angenehmen Zeit- vertreib zu einem sehr wichtigen Bildungs- und Anschauungsmittel gewor- den.«4' Mit der Etablierung ortsfester Kinos und längerer Filme wurden nicht nur die Leerstellen in den Filmvorführungen minimiert, sondern auch die Filmproduktion tendenziell von dokumentarischen auf fiktional-narrative Filme umgestellt.42 Die Zeitschrift Der Kinematograph, die sich im ersten Jahrgang (1907) noch bemüht hatte, ihrem Untertitel gerecht zu werden und als »Organ für die gesamte Projektionskunst« zu fungieren, konzentrierte sich trotz dieses integrativen Anspruchs schon bald auf den Kernbereich Kino. Das spricht nicht für das Verschwinden der Diaprojektion, sondern für die diver- gente Entwicklung von kinematographischer und photographischer Projekti- onspraxis, deren Berührungspunkte sich weiter verringerten. Die Idee, Film und Diapositiv unter dem Oberbegriff »Projektionskunst« anzunähern, ent- sprach weder den ökonomischen noch kulturellen Gegebenheiten, sondern dem kinoreformerischen Wunschdenken, den Kinematographen nach dem Modell der Diaprojektion zu einem reinen Lehrmittel zu machen. 47 VI. Auch auf längere Sicht hat der Film die Diaprojektion nicht im Sinne eines Medienfortschritts verdrängt. »Das Glasbild, als Lichtbild auf die Leinwand geworfen, ist zur Zeit das wichtigste Veranschaulichungsmittel im Vortrags- wesen und zum Teil auch im Schulunterricht«, schreibt Joachim Tews, Gene- ralsekretär der Gesellschaft für Volksbildung, noch 193 I. »Oft tot gesagt, be- hauptet es immer noch den ersten Platz.«43 Nur wo Bewegung thematisch im Zentrum steht, sei der Film als Lehrmittel vorzuziehen. Auch im Photoama- teurbereich, von dem hier nicht die Rede sein konnte, hat sich die Diaprojek- tion im Lauf der achtziger und neunziger Jahre etabliert, nach der Jahrhun- dertwende weiter stabilisiert durch die neuen Farbverfahren, die wie das Autochrom nur als Transparentbild zu rezipieren waren. Vom Verschwinden der Laterna magica zu sprechen macht folglich höchstens Sinn, wenn man unter »Laterna magica« emphatisch eine bestimmte, in diesem Namen fixierte »magische« Verwendungsweise der Diaprojektion versteht. Doch die Ratio- nalisierung der Projektionspraxis setzte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein, um in der Photoprojektion die ideale Realisierung zu finden.44 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach man daher statt von der »Laterna magica« auch von »Bilderlaterne«, »optischer Laterne« oder- abgeleitet vom Marken- namen - vom »Skioptikon«. Auch für die »Entzauberung« der Projektions- praxis wäre mithin nicht der Film verantwortlich. Ohne maßgebliche institutionelle Berührungspunkte bestand in den rele- vanten Bereichen zwischen Kino und Diaprojektion nicht einmal Wettbe- werb. Daraus folgt nicht, daß die Konzeption und Praxis der Projektion durch das Kino unberührt bleiben könnte, daß neue Medien nicht die Existenz- bedingungen der älteren ändern - doch kommen diese Kräfte nur sozial ver- mittelt zum Tragen. Lineare Entwicklungsmodelle, die eine Abfolge so- genannter »Leitmedien« postulieren, die sämtliche medialen Praktiken und Wahrnehmungsweisen dominieren, liefern simplifizierte Beschreibungen. Die Geschichte der Projektion erinnert ein ums andere Mal daran, neben der Tech- nikentwicklung die institutionellen und sozialen Strukturierungen medialer Kommunikation nicht außer Betracht zu lassen. Anmerkungen r Dieser Beitrag stellt Teilergebnisse ei- 2 Ausgehend von wissenschaftlichen nes work in progress, einer Dissertation zur Kreisen wird der vormals rein geometrisch Mediengeschichte der Photoprojektion, verstandene Begriff »Projektion« erstmals vor. Heft 74 der Fotogeschichte, das im De- um r850 in Frankreich auf die Laterna ma- zember r999 erscheint, wird sich ausführ- gica angewandt. In Deutschland läßt sich lich dem Thema »Photographie und Pro- der spezifischer gefaßte Terminus »Projek- jektion« widmen. tionskunst« zuerst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nachweisen und hat only legitimate but desirable; and it was sich von da an allmählich als Bezeichnung equally the duty of the showman to make für die Projektionspraxis eingebürgert. Für up, so far as he could, by the introduction die Historiographie scheint er mir jedoch of >effects< for the coarseness of his pictori- problematisch, weil damals wie heute die al display. Now, however, photography Einordnung der Projektion unter die Kün- supplies pictures of such exquisite beauty ste in ihren Implikationen nicht reflektiert as, but for the absence of colour, tobe sim- worden ist. Als historischer Begriff taugt ply perfect, no adventitious aid is required »Projektionskunst« jedenfalls nicht zur [ .. .].« Trennung von Kino- und Standbildprojek- 6 Vgl. meine Magisterarbeit Zur Kritik tion, denn er konnte-wie im Untertitel der der Archäologie des Kinos, Siegen 1996 Zeitschrift Der Kinematograph: »Organ [MuK, 101/Jo2], S. 48. für die gesamte Projektionskunst« - beides 7 Friedrich von Zglinicki, Der Weg des umfassen. Ich werde daher übergreifend Films, Olms Presse, Hildesheim, New York für die Standbildprojektion den historisch 1979 [zuerst Berlin 1956], S. 77. Im selben unbelasteten Begriff »Diaprojektion« be- Tenor spricht Vogl-Bienek (wie Am. 3), nutzen (wobei Dia als Transparentbild ge- S. 22, von einem »bedauerlichen Nieder- nerell, nicht als photographisches Diaposi- gang der Qualität«. tiv zu verstehen ist), als Unterbegriff dazu 8 Vgl. Theo Girshausen, »Zur Geschich- »Photoprojektion«. te des Fachs«, in: Renate Möhrmann 3 Um einige prominente Beispiele aus (Hrsg.), Theaterwissenschaft heute. Eine der internationalen Forschung zu nennen: Einführung, Reimer, Berlin 1990, S. 21-37; Charles Musser, The Emergence of Cine- ders., »T heaterwissenschaft«, in: ders., ma. The American Screen to 1907 [=The Theaterlexikon. Epochen, Ensembles, Figu- History of the American Cinema, hrsg. von ren, Spielformen, Begriffe, Theorien, hrsg. Charles Harpole, 1], Charles Scribner's von C. Bernd Sucher, dtv, München 1996, Sons, New York 1990; David Robinson, s. 442-444. From Peep Show to Palace. The Birth of 9 Vgl. Charles Musser, Before the Nik- American Film, Columbia University kelodeon. Edwin S. Porter and the Edison Press, New York 1996; Laurent. Mannoni, Manufacturing Company, University of Le grand art de la lumiere et de l'ombre. California Press, Berkeley, Los Angeles, Archeologie du cinema, Nathan, Paris 1994; London 1991, S. 5-9 et passim. Insofern Ludwig Vogl-Bienek, »Die historische Pro- Musser hier eine Verlagerung der Autor- jektionskunst. Eine offene geschichtliche schaft vom Schausteller auf die Projekti- Perspektive auf den Film als Aufführungs- onsfirma konstatiert, begibt er sich aller- ereignis«, in K!Ntop 3, 1994, S. 10-32. dings nicht nur auf begrifflich unsicheres 4 Am ausführlichsten diskutiert Charles Terrain, sondern verfehlt auch den Kern Musser (wie Anm. 3) die Photoprojektion; des Sachverhalts: die Transitorik. Mussers in der Entwicklung zum Kino wird jedoch Beschreibung übertreibt außerdem die Li- wieder einmal die Bewegungsillusion zum nearität der Entwicklung von Dia- zu Telos des Mediums erklärt. Filmprojektion (im Sinne einer Ablösung); 5 Vgl. John Nicol, »Dissolving Views«, hier muß ergänzt werden, daß sich die Pro- in British Journal of Photography, Bd. 26, jektionspraxis seit der kinematographi- no. 1069, 29.10.1880, S. 521: »lt is, no schen Projektion in zwei relativ selbständi- doubt, true that in pre-photographic days, ge Stränge verzweigt, die transitorische when exhibitors were dependent on the Vortragspraxis also neben dem Film beste- coarse, hand-painted daubs that too fre- hen bleibt. quently did duty for pictures, any device 10 Indem man die soziale Konstruktion that would enhance the beauty or increase der Medien in den Blickpunkt rückt, um- the wonder of such exhibitions was not geht man die Quellenproblematik, inso- 49 weit sich die Debatten, anvisierten Ziele 16 Zuerst Illustrirte Zeitung, 30. Band, und Einsatzfelder aus der zeitgenössischen Nr. 760, 23.Januar 1858, S. 68. Fachpresse zu Projektion, Photographie, 17 Fertige Vortragstexte machen nur für Film, Schausteilerwesen und Pädagogik re- Anbieter Sinn, die ihre Bilderreihen seriell konstruieren lassen. Die Ausbreitung der herstellen. Folgerichtig bot der Londoner Projektion läßt sich hingegen selbst durch Optiker Philip Carpenter schon 182 3 zu ei- regionale Historiographie schwer ausloten, ner drucktechnisch vervielfältigten (und schon weil die im Privaten verborgene Pro- anschließend kolorierten) Serie zoologi- jektionspraxis durch das Raster fallen muß. scher Projektionsbilder einen Vortrag an; Kataloge und Bilder schließlich, die einen vgl. David Henry, »T he Pieces Fit«, in The Eindruck von den vorgeführten Bildwelten New Magie Lantern Journal, vol. 3, no. 1, vermitteln könnten, sind hingegen - beson- s. 8-9. ders, was Deutschland anbetrifft - nur in 18 W. Bahr, Der Nebelbilder-Apparat, Ausnahmefällen erhalten. seine Handhabung und die Anfertigung II Vgl. George S. Layne, »The Langen- transparenter Glasbilder, C. A. Koch's Ver- heims of Philadelphia«, in History of Pho- lagsbuchhandlung, Leipzig 1875, S. 4, tography, 11. Jg., Nr. 1, 1987, S. 39-52, nennt in Deutschland immerhin ein Dut- s. 43-44. zend Anbieter. 12 Diese Vergleichsebene drängte sich 19 H. R. Böhm,Anleitung zu Darstellun- auf, weil das alte Papiernegativ nicht zu- gen mittels der Laterna magica und des letzt wegen der höheren Lichtempfindlich- Nebel-Bilder-Apparates für Schaustellun- keit dominant geblieben war. Mit dem noch gen, Lehranstalten und Privatgebrauch schnelleren nassen Kollodium setzte sich nebst praktischer Methode der Glasmalerei, ab 1851 ein Glasnegativverfahren durch, J. F. Richter, Hamburg 1876, S. 15. mit dem in den folgenden Jahrzehnten 20 Der Schausteller Paul Hoffmann inte- die sichtbare Welt archiviert wurde. Da grierte zwischen 18 58 und 188 8 nur wenige beim Positivabzug die Belichtungsdauer photographische Bilder in sein Repertoire- nicht von Belang war, konnte sich das be- darunter Mikrofotografien und die anderen sonders zeichnungsgenaue Albumin für von Böhm genannten Gegenstandsberei- Papierabzüge durchsetzen, auf Glas, also che; siehe Laterna Magica - Vergnügen, für Diapositive, als hochwertige Alternati- Belehrung, Unterhaltung. Der Projektions- ve halten. künstler Paul Hoffmann, Ausstellungska- 13 Die Langenheims zitiert nach Robert talog Historisches Museum Frankfurt Hunt, »On the Applications of Science to 1981, s. 13. the Fine and Useful Arts. lmprovements in 21 Vgl. die Plakate zu dieser Vorstellung Photography. Hyalotype, &c. », in The Art von 1872 (ebd., S. 80), respektive 1878 Journal, New Series,, Vol. 3, April 1851, (ebd., S. 12). s. 106-107, s. 106. 22 Vgl. ebd., S. 81 und S. 92-93. 14 Robert Hunt, »Die Wissenschaft in 23 »Photographische Transparentbilder der Ausstellung«, in Illustrirte Zeitung, bei Vorträgen und öffentlichen Vorstellun- 17. Band, Nr. 427, 6. September 1851, Bei- gen«, in Laterna magica, 1.Jg., Nr. 4, 1877, lage Nr. 17 u. 18, S. 237-238, S. 237. s. 38-40, s. 38. 15 Im 25. Band der Illustrirten Zeitung, 24 Vgl. beispielsweise F. Paul Liesegang, Juli-Dezember 1855, erscheint diese An- »70 Jahre photographische Laternbilder. zeige 15 m al. Entgegen dem Anzeigentext Ein Beitrag zur Geschichte der Projekti- datiert die offizielle Firmengeschichte die onskunst«, in: Photographische Industrie, Fabrikation von Projektionsbildern und Nr. 42, 1918, S. 410-4u, S. 410: »Aber erst -apparaten nach 1860; vgl. Paul Krüss, die Beihilfe der Photographie, erst der un- A. Krüss, Hamburg. 1796, 1844, 1966, Fir- ermeßliche Schatz photographischer Glas- ma A. Krüss, Hamburg 1966, S. 15. bilder machte aus der Laterne das wertvol- le Werkzeug von heute, das geradezu un- in Bildungs-Verein, 33. Jg., Nr. 3, 1903, entbehrlich erscheint, wenn es gilt, einem s. 50-p, s. p. größeren Kreise anschauliche Belehrung zu 36 Liesegang, (wie Anm. 26), S. 545. bieten.«. 37 Sieht man die 189oer-Jahrgänge der 25 H. Vogel, »Briefe von Dr. H. Vogel an maßgeblichen Zeitschrift Der Artist durch, H. Hartmann«, in Photographische Mit- so stößt man äußerst selten auf Werbung theilungen, 7. Jg., 1870/71, S. 107-115, für Nebelbilder, wohingegen ab dem Jahr S. l 14. 1896 Anbieter für »lebende Photographi- 26 Vgl. etwa von Zglinicki (wie Anm. 7), en« unübersehbar und regelmäßig inserie- S. 77: »Und dann verschlang der Kinemato- ren. graph ungestüm vorwärtsstrebend das gan- 38 F. Schuhmann, »Neue Hilfsmittel der ze Interesse und eroberte siegreich die wei- optischen Projectionskunst und der Vor- ße Wand ...« führung von Bewegungsphotographien», 27 Vgl. F. Paul Liesegang, »Die Entwick- in: Jahrbuch für Photographie und Repro- lung des Projektionswesens seit der Mitte ductionstechnik, hrsg. von Josef Maria des vorigen Jahrhunderts bis zum Kriege«, Eder, 13. Jg., 1899, S. 267-275, S. 273. in Der Bildwart, 7. Jg., 1928, S. 540-546, 39 So weit es die Quellenlage zu beur- s. 543· teilen erlaubt, wurden in Deutschland 28 Vgl. Jacques Perriault, Memoires de narrative Diaserien nur als gemalte oder li- l'ombre et du son. Une archeologie de thographische Dias angeboten, als Photo- l'audio-visuel, Flammarion, Paris 1981, graphien weder hergestellt noch impor- S. 107-117. tiert. Am nächsten kamen dem wohl noch 29 Liesegang (wie Anm. 26), S. 544. die beliebten Diareihen von den Oberam- 30 Vgl. Ernst Kieninger und Doris mC;rgauer Passionsspielen, die zugleich ei- Rauschgatt, Die Mobilisierung des Blicks, nen erfolgreichen Exportartikel abgaben. pvs Verleger, Wien 1996, S. 51-58. 40 Vgl. Hermann Lemke, »V olkstümliche 31 Talbots Geschäft wurde 1855 in Paris Reisebeschreibungen«, in Der Kinemato- gegründet. Durch den Krieg mußte er 1870 graph, r.Jg., 1907, Nr. 33 und Nr. 34. seine Tätigkeit nach Berlin· verlagern. Zu 41 »Der Projektionsapparat und die Pro- Tal bot vgl. auch Deac Rossell, »J enseits von jektionskunst. (Zeitgemäße Winke für Messter - die ersten Kinematographen Händler.)«, in Photographische Industrie, Anbieter in Berlin«, KINtop 6, 1997, S. 1904, s. 1199. 176 f. 42 Vgl. Corinna Müller, »V ariationen des 32 Dr. Meyer, »Die Wichtigkeit der Pro- Kinoprogramms. Filmform und Filmge- jektionsanschauung für den Unterricht und schichte«, in: dies. und Harro Segeberg die Belehrung«, in Bildungs-Verein, 22.Jg., (Hrsg.), Die Modellierung des Kinofilms. Nr. 6, 1892, S. 48-49, S. 49. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwi- 33 »XXXII. Jahresbericht der Gesell- schen Kurzfilm und Langfilm [= Medienge- schaft für Verbreitung von Volksbildung«, schichte des Films, Band 2], Fink, Mün- in Bildungs-Verein, 33. Jg., Nr. 8, 1903, chen 1998, S. 43-75, S. 56-57. S. 173. Auf regionaler Ebene waren seit den 43 Joachim Tews, Volk und Bildung. Fest- siebziger Jahren freilich unsystematische schrift zum 6ojährigen Bestehen der Gesell- und bescheidene Initiativen unternommen schaft für Volksbildung, Gesellschaft für worden. Volksbildung, Berlin o. J.[1931], S. p. 34 Vgl.J. Tews, 50Jahre deutsche Volks- 44 Vgl. kursorisch F. Paul Liesegang, bildungsarbeit. Festschrift zum 5ojährigen »Die Anwendung des Lichtbildes im Wan- Bestehen der Gesellschaft für Volksbildung, del der Zeiten: Der Weg zum lehrhaften La- Gesellschaft für Volksbildung, Berlin o. J. tembild«, in Central-Zeitung für Optik [1921], S. 72-73. und Mechanik, 45.Jg., 1904, Nr. 5,S. 40-41, 35 J. Tews, »Vorträge mit Lichtbildern«, Nr. 6, S. 54-57, Nr. 7, S. 64-66. Ausser Konkurrenz. Komplette Kinematographen-Einrichtung mit Motor- und Handbetrieb für lebende und feste Projektion. Diese Anlage, die die neuesten Errungenschaften in sich vereinigt, stellt die vorzüglichste Einrichtung der Gegenwart dar. Die Laterne ge- stattet durch automatische Verstellung der Lampe ein leichtes und sicheres Arbeiten. Empfehlenswert für Ausstellungen, große Etablissements und ständige kinematgr. Theater. Leon Gaumont, Kinematographen und Films (Angebotskatalog), Berlin (1908). DEAC ROSSELL Die soziale Konstruktion früher tech- nischer Systeme der Filmprojektion Der amerikanische Filmhistoriker Tom Gunning hat in einer Reihe von Bei- trägen vorgeschlagen, das frühe Kino wegen der Besonderheiten der Sujets und des Stils seiner Filme radikal vom späteren Erzählkino zu trennen, das ab 1904 wachsenden Zuspruch findet.' Gunning hebt vor allem auf den »nicht- kontinuierlichen Stil früher Filme« ab. Die Wiederholung eines bereits gezeig- ten Vorgangs in der nächsten Einstellung oder Handlungslücken zwischen zwei Einstellungen sind nicht als »Fehler« primitiver Filmemacher anzusehen, sondern als narrative Gestaltungsmittel, die aus nicht-kontinuierlich erzählen- den, populären Unterhaltungsformen wie Comic Strips, Laterna magica- und Variete-Vorführungen übernommen wurden. Gunning betrachtet die frühen Filme als »Kino der Attraktionen«: Dieser Begriff umschließt eine Vielfalt ki- nematographischer Strategien, die im heutigen Verständnis weder als doku- mentarisch noch als fiktional zu klassifizieren sind. Sie folgen einem ganz an- deren ästhetischen Antrieb, der auf Sensation und Überraschung zielt und zahlreiche unterschiedliche, in sich geschlossene Handlungsvorgänge zusam- menfügt. Auf diese Weise lassen sich die frühen Filme vom »Kino der narrati- ven Integration«, dem nahtlosen Geschichtenerzählen der späteren Periode deutlich unterscheiden. Das frühe Kino gilt landläufig als primitiver und unbeholfener Vorläufer des >reifen< Erzählkinos unseres 20. Jahrhunderts. Gunning vermag die Be- trachtung des frühen Kinos aus dieser Sackgasse herauszuführen, indem er die ersten Filme und Filmemacher von der späteren Praxis entschieden trennt und im Rekurs auf zeitgenössische Quellen zu den Filmen und Publikumsreaktio- nen eine neue Sicht entwickelt, die dem frühen Kino sein Eigenleben zurück- gibt. Er schaut nicht mehr durch die teleologische Brille, welche die frühen Filme als Gestammel von Klippschülern erscheinen läßt, die zögerlich den Weg einschlagen, der dann zu Abel Gance, Sergei Eisenstein oder Alfred Hitchcock führen sollte. Gunnings historisierende Sicht hat unsere Fähigkei- ten bei der Betrachtung und Kontextualisierung früher Filme erheblich erwei- tert. Ein vergleichbarer theoretischer Impuls ist nötig, um die Erfindungsge- schichte der Filmprojektion in den 189oer Jahren zu bearbeiten und die Evo- lution ihrer Techniken und Vorführpraktiken zu erklären. Trotz einer Reihe neuer Forschungsergebnisse in den letzten zwanzig Jahren starrt die Historio- 53 graphie hier nämlich nach wie vor durch die teleologische Brille und ist in end- lose Auseinandersetzungen über Erstlingsrechte von Erfindern verstrickt. Die Kontrahenten operieren meist mit einer Menge fragwürdiger Annahmen zu Technologieentwicklungen, die von Historikern anderer Technikbereiche längst zurückgewiesen wurden. Für Apparate zur Aufnahme und Wiedergabe bewegter Bilder wurden zwischen 1890 und 1900 in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern Hunderte von Patenten eingereicht. Die meisten davon wurden nach 1896 ausgegeben. Filmhistoriker erklären die- sen erfinderischen Tatendrang gewöhnlich mit dem sofortigen Publikumser- folg des neuen Sensationsmediums: In den neuen Markt drängten Erfinder und Hersteller mit geschützten Geräten, welche verbesserte Lösungen für die Probleme des Flimmerns, der Haltbarkeit von Filmstreifen, der Beleuchtung und der Handhabung der Geräte anboten, ohne die Rechte der wenigen zuerst patentierten Schlüsselapparaturen zu verletzen. In den 192oer Jahren, als die Kinos auf der ganzen Welt jede Woche Millionen Besucher anzogen, schien sich diese Sicht der ersten Erfinderzeit von selbst zu verstehen. Durch viele begeisterte Zeitungsberichte über die ersten Filmprojektionen in Groß- und Kleinstädten wurde sie scheinbar bestätigt. Als sich nach dem Ersten Weltkrieg abzeichnete, daß die früheste Ära des Kinos bereits Geschichte war, begannen Historiker die weitläufige Patentlite- ratur durchzuarbeiten und die Erinnerungen noch lebender Filmpioniere fest- zuhalten, um just jene »wenigen früh patentierten Schlüsselapparaturen« her- auszufinden, die als Meilensteine auf dem Weg zur reifen Filmindustrie gelten konnten, welche in den meisten Ländern mittlerweile eine herausragende Stel- le einnahm. Diese Auffassung von der Periode der Filmerfindung vor 1900 ging von einem unbeirrbaren Fortschrittsglauben aus, der Technologien mit ihrem Er- folg rechtfertigte: Als zwangsläufiger Zielpunkt für die Entwicklung der Film- technik galt die Projektion von Spielfilmen (manchmal auch Dokumentarfil- men) für ein Massenpublikum in großen, ortsfesten Kinos. »Technikhistoriker scheinen sich oft damit zufriedenzugeben, daß beim offensichtlichen Erfolg eines Artefakts keine weitere Erklärungsarbeit geleistet werden muß«, schrei- ben Trevor J. Pinch und Wiebe E. Bijker in einem wichtigen Beitrag über die soziale Konstruktion technischer Artefakte. Sie fügen hinzu: »Es ist klar, daß ein historischer Bericht, der auf dem retrospektiv betrachteten Erfolg des Ar- tefakts basiert, vieles unerwähnt läßt.« 2 Die Filmgeschichtsschreibung privi- legierte die kommerzielle Kinoauswertung abendfüllender Spielfilme und marginalisierte mit den ursprünglichen Konzepten des frühen Kinos auch den Einsatz von Dokumentarfilmen, wissenschaftlichen Filmen, Lehrfilmen und Amateurfilmen. Retrospektiv konstruierten die Filmhistoriker ihr eigenes li- neares Modell, das die Vielfalt der Aktivitäten in den 189oer Jahren nicht ad- äquat repräsentieren kann. Viel Lärm um nichts gab es um die beherrschende 54 Frage:» Wer war der erste Erfinder des Kinos?« Neben einem technischen De- terminismus unterstellt dieses lineare Modell, daß eine ganz bestimmte Art von »Kino« erfunden wurde. Neuere theoretische Arbeiten von Technikhisto- rikern schlagen andere Modelle für die Entwicklung technischer Artefakte vor. Wie weit sie für das Studium des frühen Kinos anwendbar und nützlich sind, ist Thema dieses Artikels. Zunächst wird ein alternatives, non-lineares Modell der sozialen Konstruktion technischer Artefakte skizziert, dann die Anwen- dung dieses Modells auf die frühe Filmtechnik diskutiert und schließlich wird gezeigt, wie dieses Modell in ein theoretisches Konzept überführt werden kann, mit dessen Hilfe sich viele nicht-technische Aspekte der Praktiken des frühen Kinos erschließen lassen. Die soziale Konstruktion technischer Artefakte: einige Definitionen John M. Staudenmaier zufolge verstehen sich traditionelle Technikgeschich- ten der Stahl-, Elektro- oder Filmindustrie als »saubere innere Logik techni- scher Stammbäume, welche winzige Veränderungen bei den Hemmungen in Uhren oder den Formen des Glockengusses über die Zeiten verfolgt und da- mit widerstreitende Ansprüche auf Erfinderrechte reklamiert (>Wer war der erste ?<)«.J Diese Sichtweise behandelt Technik nach Art einer black box. Über das Innenleben braucht niemand etwas zu wissen - aber Zweck und Funktio- nen des Kastens kennt jedes Kind: Eine Uhr ist dafür da, die Zeit anzugeben; ein Filmprojektor ist dafür da, um bewegte Bilder auf die Leinwand zu wer- fen. Was die technischen Mechanismen in der black box anbelangt, so be- schränken sich Nachforschungen allenfalls auf abstrakte Diskussionen: Die Historiker nehmen einfach an, daß es für ein technisches Problem jeweils nur eine einzige optimale Lösung gibt, die durch ihre technische Überlegenheit zum Standard wird und den Markt beherrscht. Damit separieren sie die tech- nische Entwicklung von dem Hin und Her und den Konflikten der wirklichen Welt. Sie neigen außerdem zur Ignoranz gegenüber gescheiterten Alternativen, die nur als Fehltritte oder Irrläufer auf dem Weg zur Konstruktion eines er- folgreichen Artefakts gelten, wobei Erfolg retrospektiv von der reifen Praxis der Industrie her definiert ist. Reinhard Rürup schreibt zur Teleologie dieser »evolutionistischen Auffassung der Technikgeschichte«: Die vorläufigen Endresultate der Technik erschienen allzu oft als das notwendige Ergebnis der vorhergegangenen Erfindungen und Praktiken, und in den großen grundlegenden Erfindungen schienen jeweils die späteren Auswertungen schon angelegt zu sein und nur noch der Entfaltung auf Grund der »technischen Gesetz- mäßigkeiten« zu bedürfen. Vor allem aber fehlte es dieser Forschung - aus nahelie- genden Gründen - an kritischer Distanz zu ihrem Gegenstand, man schrieb gewis- sermaßen Geschichte in eigener Sache.4 55 Das zirkuläre Denken, welches dieser Art Technikgeschichte eigen ist, kann nicht erklären, warum gerade ein ganz bestimmtes Artefakt konstruiert wor- den ist, welche Faktoren seine Bauweise beeinflußten, welchem weitergehen- den Zweck es dienen sollte und warum es sich gegen seine Konkurrenten durchgesetzt hat. Alle diese Fragen sind in den ersten Jahren der Filmprojek- tion von großer Bedeutung. Um sie zu beantworten, muß die Filmgeschichts- schreibung das black box-Verständnis von Filmtechnik hinter sich lassen und einen weiter ausgreifenden Theorierahmen entwerfen. Das Konzept eines technologischen Rahmens, welches auf neueren soziologischen Arbeiten zur Technikgeschichte basiert, kann nicht nur Fragen klären zu den Ursprüngen, der Erfindung und der Entwicklung der Filmtechnik, sondern vermag auch Antworten zu geben auf Fragen zur Entwicklung früher Filminstitutionen und Projektionspraktiken, die nicht technischer Natur sind. Neuere soziologische Arbeiten zur Technikgeschichte von Wiehe E. Bij- ker, John Law, Michel Callon, Thomas P. Hughes und anderen schlagen ein mehrdimensionales, non-lineares Modell technischer Innovation und Ent- wicklung vor. In Anlehnung an Ergebnisse der Wissenssoziologie untersucht dieses Modell die Erfindung, die Entwicklung und die Reife technischer Arte- fakte und räumt dabei »erfolgreichen« und »gescheiterten« Artefakten glei- ches Gewicht ein. Denn es wird davon ausgegangen, daß es gerade der »E r- folg« eines Artefakts ist, welcher der Erklärung bedarf: Warum wurde eine bestimmte technische Methode gewählt und keine andere? Warum wurde die Arbeit an dieser fortgesetzt und die Entwicklung von Alternativen aufgege- ben? Warum gelangte eine bestimmte Methode zur Vorherrschaft auf ihrem Feld und warum galt sie als die einzige mögliche Lösung für ein bestimmtes technisches Problem? Wesentlich für die gleichwertige Betrachtung technischer Artefakte ist die interpretative Flexibilität des Artefakts, d. h. ein und dasselbe Artefakt kann für unterschiedliche Leute entschieden unterschiedliche Dinge darstellen: Der Gänsekiel in der Hand eines mittelalterlichen Mönchs ist ein Instrument zum Kopieren von Texten, also zur Herstellung einer Zahl exakter Repliken; der- selbe Gänsekiel in der Hand eines mittelalterlichen Gelehrten ist ein Instru- ment zum Ausdruck seiner selbst, mit dem er einer intellektuellen Gemein- schaft sein Wissen und seine Argumente mitteilt. Das Filmhistorikern wohl bekannteste Beispiel für die interpretative Flexibilität eines Artefakts ist Tho- mas Alva Edisons Erfindung des Phonographen: Edison dachte, er habe eine Büromaschine geschaffen, welche die Geschäftskommunikation effektivieren würde. Entsprechend organisierte er die Fertigung und das Marketing des Geräts. Jedermann sonst, der diesen Apparat in Augenschein nahm oder von ihm hörte, dachte an ein Unterhaltungsgerät, das in öffentlichen Räumen und Privatwohnungen zur Wiedergabe von Musik diente. Das Konzept der interpretativen Flexibilität eines technischen Artefakts impliziert, daß mehrere Personen oder Gruppen involviert sind. Für jede hi- storische Analyse der Entwicklung technischer Lösungen für klar erfaßte Pro- bleme, seien es Kunststoffe, Filme oder Telegraphie, gilt: »D ie mit dem Arte- fakt befaßten sozialen Gruppen und die Bedeutungen, welche sie dem Arte- fakt geben, spielen eine entscheidende Rolle: Ein Problem ist erst dann als ein solches definiert, wenn es eine soziale Gruppe gibt, für die es ein ,Problem< darstellt.«i Relevante soziale Gruppen schließen Institutionen und Organisa- tionen ebenso ein wie Gruppen oder Klassen von Individuen. Diese können jeweils Erfinder und Konstrukteure, Hersteller, Verkaufsagenten und Beamte, Nutzer und Konsumenten umfassen-, entscheidend ist nur, »daß alle Mitglie- der einer sozialen Gruppe dieselben Sets von Bedeutungen teilen, die einem spezifischen Artefakt zugeschrieben werden.«6 Viele Annahmen über frühe Filmapparaturen erweisen sich als widersprüchlich und zweifelhaft, sobald die interpretative Flexibilität eines einschlägigen Artefakts im Hinblick auf ver- schiedene beteiligte soziale Gruppen geprüft wird. Nachdem Oskar Messter seine Filmfirmen 1918 an die Ufa verkauft hatte, bekämpfte er über zwei Jahr- zehnte lang den Pionierstatus von Max Skladanowsky. Entsprechend seinem linearen Geschichtsverständnis der Filmtechnik war Messter ganz klar der Auffassung, daß das 3 5m m-Filmband und das Malteserkreuz für den schritt- weisen Filmtransport die konstitutiven Elemente eines >richtigen< kinemato- graphischen Apparats darstellten. Skladanowskys Bioscop war dagegen auf zwei 54 mm-Filmbänder und auf ein Schneckengewinde ausgelegt, das die ein- zelnen Bilder der zwei per Hand zusammengesetzten Filmschleifen abwech- selnd auf eine Leinwand warf. Skladanowsky hatte sein System konsequent aus seinen Erfahrungen mit der Überblendungstechnik bei der Vorführung von Nebelbildern mit der Laterna magica abgeleitet/ Für die Entwicklung der Filmindustrie, in der Messter eine prominente Stellung einnahm, erwies sich das Projektionsverfahren des Bioscop als nicht praktikabel. Ein anderes Beispiel: Georges Demeny demonstrierte 1892 auf der Inter- nationalen Ausstellung der Photographie im Palais des Beaux-Arts 1892 in Paris seinPhonoscope, einen Apparat, der als Guckkasten sowie für Kleinbild- Projektion ausgelegt war und chronophotographische Phasenbilder zeigte, die auf dem Rand einer rotierenden Scheibe angebracht waren. Demeny behaup- tete später, daß er von vielen verschiedenen Unterhaltungskünstlern »eine La- wine von Anfragen« bekam, die er jedoch zurückwies, weil er den Apparat dafür vorgesehen hatte, Taubstummen das Lippenlesen zu lehren. Als Demeny jedoch wenig später die Gründung einer eigenen Firma zur Auswertung des Apparats betrieb, hatte er die völlig anders gearteten Vorstellungen der >Bar- nums< in seine Geschäftspläne übernommen: Die u. a. mit Ludwig Stollwerck gegründete Societe du Phonoscope sah den Einsatz des Apparats für öffentli- che Unterhaltungszwecke vor, während der exklusive Verkauf an Amateur- photographen für den Heimgebrauch dem Agenten George W. de Bedts in Paris vorbehalten war.8 Die interpretative Flexiblilität eines Artefakts unterstreicht, daß Konstruk- 57 tion und Verständnis technischer Artefakte kulturelle Leistungen sind. Mehr noch: »Flexibilität erstreckt sich nicht nur darauf, wie Leute über Artefakte denken, sondern auch darauf, wie Artefakte konstruiert werden.«9 Bijkers Konzept des »technologischen Rahmens« eignet sich am besten, um die Be- ziehungen verschiedener sozialer Gruppen zu einem Artefakt in einem mehrdimensionalen, non-linearen Modell technischer Entwicklung zu analy- sieren. Ein technologischer Rahmen umfaßt nicht nur diejenigen, welche als Erfinder, Mechaniker und Ingenieure direkt an der Entwicklung eines Arte- fakts arbeiten, sondern alle relevanten sozialen Gruppen, die in irgendeiner Weise mit dem Artefakt zu tun haben und von daher seine Interpretation und seine Konstruktion beeinflussen. Das Konzept des technologischen Rahmens zielt gerade auf die Interaktionen zwischen verschiedenen Gruppen von Be- teiligten ab: »E s geht weder um individuelle Merkmale noch um die Merkmale von Systemen und Institutionen: Rahmen sind zwischen handelnden Subjek- ten angesiedelt, nicht in ihnen oder über ihnen.« 10 Verschiedene handelnde Subjekte oder soziale Gruppen identifizieren sich mehr oder minder ausge- prägt mit einem bestimmten technologischen Rahmen, der seinerseits wieder- um ihre Einbindung in diesen Rahmen und folglich die Reaktionen auf ein Artefakt sowie Visionen über seine Verwendungsmöglichkeiten determiniert. Normalerweise ist ein Individuum oder eine soziale Gruppe mehr oder weni- ger stark in mehrere verschiedene technologische Rahmen involviert. Im Er- gebnis besteht ein technologischer Rahmen aus den Konzepten und Verfah- ren, mit denen eine bestimmte Gemeinschaft ihre Probleme löst, d. h. er ist »eine Kombination von aktuellen Theorien, stillschweigenden Kenntnissen, technischer Praxis (wie etwa Konstruktionsmethoden und -kriterien), beson- derer Testverfahren, Ziele und praktischer Verwendungsweisen.«" Ein tech- nologischer Rahmen gibt also Aufschluß darüber, wie Technik die soziale Umgebung beeinflußt und wie umgekehrt diese soziale Umgebung die Kon- struktion eines Artefakts beeinflußt. Vorschläge für eine non-lineare Geschichte der Filmprojektion Dem unvoreingenommenen Blick auf die Ursprünge und die ersten Jahre der Filmprojektion fallen in der traditionellen Filmgeschichtsschreibung sofort einige recht seltsame Anomalien auf: Wie kam es dazu, daß die zwei haupt- sächlichen Titelanwärter auf die Erfindung des Films, Thomas Alva Edison und die Gebrüder Lumiere, schon um 1900 aus dem Filmgeschäft so gut wie ausgeschieden waren und die weitere filmtechnische Entwicklung kaum be- einflußten? Warum schlugen vergleichsweise kleine und unsichere Unterneh- men wie Oskar Messter oder Charles Pathe den größten Erfolg aus dem neuen Medium, noch dazu in Konkurrenz gegen große und wohletablierte Firmen wie Dr. Alfred Hesekiel & Co. oder Jules Dubosq ?11 Wie konnte es dazu kom- men, daß die beste Projektionstechnik für große Theater, das Großformatsy- stem der American Mutoscope & Biograph Company, nach 1902 rapide an Bedeutung verlor? Warum gab es bis in die 192oer Jahre so gut wie keine Er- schließung des Heimkinomarkts, obwohl schon seit Beginn der Filmprojek- tion viele Vorschläge dafür gemacht wurden? Warum standardisierte die In- dustrie die 3 5 mm breiten Filmstreifen von Edisons Kinetoscope zu einem Zeitpunkt, als dieses Format für viele frühe Vorführstätten völlig ungeeignet war und die Industrie in eine Richtung ging, die dieses Mittelformat umge- kehrt noch höheren Ansprüchen aussetzen sollte? Warum wurde die Auswer- tung narrativer Filme zur Unterhaltung für große Publika in ortsfesten Thea- tern die dominante Form des Kinos, sobald die Filmtechnik standardisiert war, obwohl es schon frühzeitig viele verschiedene Ideen (inclusive Spezialappara- turen) für optimale Verwendungen des Films gab, und zwar für Marktsegmen- te, welche Bildung, Industrie, Wissenschaft, Porträts, Reisen, Nachrichten, Dokumentation, Unterhaltung und die Reproduktion von Theater- und Zau- bervorstellungen einschlossen? Vielleicht ließen sich Antworten auf diese und weitere Fragen in Entscheidungen von Filmpionieren der Jahrhundertwende finden, würden die Historiker die Ursprünge des Films und der Projektions- praxis nur gleichwertig und mit kritischer Distanz betrachten. Wiehe E. Bij- ker und John Law sind der Auffassung: Technische Innovation beginnt weder mit einem Technikschub noch mit der Nach- frage von Konsumentenseite, sondern mit einem sozialen und technischen Strip- penziehen, bei dem Versprechen über Techniken und soziale Beziehungen gegen- einander ausgespielt werden, um dauerhafte Lösungen zu suchen.'3 Einige summarische Beispiele für eine non-lineare Sichtweise früher Filmtech- nik und -projektion mögen anschaulich machen, wie drastisch die frühe Film- geschichte umgeschrieben werden muß und wieviel theoretische und empiri- sche Arbeit zu leisten ist, bevor die Firmengeschichte, welche der traditionelle Bezugspunkt früher Filmarbeit ist, völlig reorganisiert werden kann. Black box-Technikgeschichte: die Fälle Marey und Anschütz »Erfinder des Kinos« lautet die stolze Inschrift auf einem Standbild von Eti- enne-Jules Marey in seiner französischen Heimatstadt Beaune. Als einer der größten Naturwissenschaftler seiner Generation widmete sich Marey (1830 - 1904) der Motorik von Menschen und Tieren. Er ersann raffinierte Vorrich- tungen zur graphischen Aufzeichnung von Bewegung und wandte sich 1881 photographischen Methoden zum Festhalten der Bewegungsphasen seiner Untersuchungsobjekte zu. Marey war nicht nur ein großer Physiologe, dem seine Arbeiten über den Blutkreislauf, den Flug der Vögel und die Gangart von 59 Säugetieren weltweiten Ruhm eingebracht hatten, er war auch ein besonders geschickter Erfinder von mechanischen Vorrichtungen, mit denen sich Bewe- gung so aufzeichnen ließ, daß sie präzise gemessen und analysiert werden konnte. Er entwickelte Thermographen zur Messung von Temperaturverän- derungen im Körper (1864), Pneumographen zum Studium der Atmung (1865), Myographen zur Aufzeichnung willkürlicher Muskelbewegungen (1864 - 1866), Odographen zur Vermessung der Schrittlängen von Menschen und Tieren (1867 - 1872) und viele andere Apparaturen zur Bewegungsauf- zeichnung für die mathematische Analyse. In den 187oer Jahren experimen- tierte Marey mit photographischen Verfahren zur Aufzeichnung elektrischer Ladungen im Muskelsystem, doch reichte die Lichtempfindlichkeit der dama- ligen Photoplatten dafür nicht aus. Inspiriert durch die Chronophotographi- en von Eadweard Muybridge kehrte Marey 1881 zu photographischen Ver- fahren zurück: Er konstruierte ein »photographisches Gewehr« für zwölf Aufnahmen auf einer rotierenden Platte und ersann ab 1882 eine Reihe von Kameras, mit denen er um 1885 Bewegungsphasen mit einer Verschlußge- schwindigkeit von bis zu 1/iooo Sekunde auf einer Glasplatte aufzeichnen konnte. Drei Jahre später nahm Marey eine radikale Verbesserung an seiner photo- graphischen Apparatur vor, indem er die Glasplatten durch einen langen, licht- empfindlichen Papierstreifen ersetzte, der mit einer Geschwindigkeit von 20 B/s von einem Elektromagnet an einer Linse vorbeigezogen wurde. 1890 er- setzte er den Papierstreifen durch einen 1, 20 m langen und 90 mm breiten durchsichtigen Zelluloidstreifen. In dieser neuen Kamera drückte ein sechs- strahliges Sternrad eine zylinderförmige Klemme mechanisch gegen den un- perforierten Film, um ihn, während er die Linse passierte, einen Moment für die Aufnahme anzuhalten. Indem er die Anbringung des Sternrads und den Wechsel beim Öffnen zweier gegenläufiger Blendenscheiben veränderte, konnte Marey bis zu 100 Bilder pro Sekunde aufnehmen. So hatte er breiten Spielraum für das Festhalten einzelner Phasen der Bewegung von Vögeln, In- sekten und anderen schnellen Tieren, die für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar sind. Da allerdings in der Kamera jegliche Form der Einzelbild- justierung fehlte, wurden die Aufnahmen unregelmäßig auf den Zelluloid- streifen plaziert. In seiner außergewöhnlichen wissenschaftlichen Karriere war Marey mit dem Aufzeichnen, Zergliedern und Analysieren von Bewegung beschäftigt. Am 2. Mai 1892 schrieb er der Academie des sciences, daß er für seine Reihen- aufnahmen einen Projektor konstruieren wolle. Das gelang ihm jedoch nicht. Angesichts seines Einfallsreichtums und seiner Erfindungsgabe auf mechani- schem Gebiet hätte ihn diese Aufgabe wohl kaum überfordert. Es war gerade die Frage der kommerziellen Auswertung seines Apparats für die Zusammen- setzung und Wiedergabe von Bewegung, wegen der er sich 1894 erbittert von seinem langjährigen Assistenten Georges Demeny trennte. Marey berichtete 60 über seine Arbeit in einem halben Dutzend einflußreicher Bücher und in über 3 50 wissenschaftlichen Artikeln und Fachvorträgen, die in führenden Zeit- schriften veröffentlicht bzw. vor wissenschaftlichen Akademien gehalten wurden. Alle Geschichten über die Ursprünge des Films berichten an promi- nenter Stelle über Mareys Werk und erwähnen vor allem seine Zelluloidstrei- fen-Kamera von 1890 und die vielen »Filme«, die er mit ihr gemacht hat.'4 Nur einige dieser Filmgeschichten behandeln das chronophotographische Werk von Mareys Zeitgenossen Ottomar Anschütz (1846-1907), der nicht Zelluloidstreifen, sondern Glasplatten-Negative verwendete. Anschütz nahm 188 5 Reihenbilder mit einer Batterie von zuerst zwölf und dann 24 einzelnen Kameras auf. Er präsentierte seine Arbeiten vor den Mitgliedern der führen- den photographischen Gesellschaften Europas: Regelmäßig hieß es, seine Bil- der seien denen seiner Vorgänger Marey und Muybridge »weit überlegen«.'' Im März 1887 hatte Anschütz die erste von sieben Ausführungen seines Schnellsehers fertiggestellt, eines Apparats, der zur Betrachtung photogra- phierter Bewegung diente. Alle Modelle arbeiteten nach demselben techni- schen Prinzip: Auf dem Rand einer rotierenden Scheibe waren rundherum einzelne photographische Glasbilder montiert, die von den rasch aufeinander- folgenden Lichtblitzen einer Geisslerschen Röhre durchleuchtet wurden. Vor 1891 benutzte Anschütz eine freistehende Scheibe mit 10 cm breiten Bildern, die von einer kleinen Zuschauergruppe durch einen Ausschnitt in einem Vor- hang oder einer Wand im Dunkeln betrachtet wu1.:gen. Nach 1891 zeigte ein von Siemens & Halske hergestellter elektrisch betriebener Automat nach Art des Guckkastens jeweils für eine Person bewegte Bilder im Format 9 x 12 cm. Zur Projektion bewegter Bilder in großen Sälen 1894 und 1895 in Berlin und Hamburg benutzte Anschütz zwei Bildscheiben, die ruckweise rotierten, während sie kontinuierlich durchleuchtet wurden. Nach dem Debut vom 19. bis 21. März 1887 im Berliner Kultusministeri- um gelangten die frühen Modelle von Anschütz' Schnellseher in vielen Städ- ten zur Vorführung, so in New York, Frankfurt am Main, Düsseldorf, Dres- den, Brüssel, Florenz, Philadelphia, Kassel, Boston, Wien und Warschau. Die Automaten-Ausführung von Siemens & Halske wurde in zahlreichen deut- schen Städten installiert.'6 Spezielle Salons mit vielen Schnellsehern, ähnlich den späterenKinetoscope Parlours, eröffneten in New York, Boston und Lon- don. Auch auf dem Gelände der Weltausstellung in Chicago 1893, die Edisons Kinetoscope wollte, aber nicht bekam, waren Schnellseher-Automaten aufge- stellt. Anschütz' internationale geschäftliche Arrangements zur Auswertung des Schnellseher-Automaten scheiterten Mitte 1893. Das brachte ihm einen Berg von Schulden ein: Abgesehen von seinen Projektionsvorführungen 1894 und 1895 zog sich Anschütz aus dem Geschäft mit bewegten Bildern völlig zurück. Er konzentrierte sich im letzten Jahrzehnt seiner Karriere ganz auf die Unterstützung der Amateurphotographie. Die dem black box-Konzept verhaftete Geschichte der Filmtechnik privi- 61 legiert die Erfindungen Mareys gegenüber denen von Anschütz. Marey gilt einigen sogar als »Erfinder des Kinos«, weil er eine Kamera für Serienaufnah- men auf kurzen, nichtperforierten Zelluloidstreifen entworfen hat. Marey ent- wickelte jedoch keinen Apparat für die Wiedergabe von Bewegung, weil er, eingebunden in den technologischen Rahmen analytischer Naturwissenschaft, daran keinerlei Interesse hatte. Marey photographierte seine Untersuchungs- objekte nicht in natürlicher Umgebung, sondern unter Laborbedingungen. Um die einzelnen Bewegungsphasen möglichst akkurat messen zu können, hatten die Photographien selbst scharfe Schwarzweiß-Kontraste. Die photographischen Gesellschaften feierten Anschütz, weil er in natürli- cher Umgebung Bewegungsaufnahmen machte, die denjenigen von Marey »weit überlegen« waren. Für den zeitgenössischen Geschmack fehlte Mareys Reihenbildern die künstlerische Qualität. Sie galten als technisch interessante Bilddokumente einer weit fortgeschrittenen physiologischen Forschung. '7 Anschütz' Bildern fehlte dagegen die wissenschaftliche Präzision. Seine Inter- essen lagen auf dem Gebiet der künstlerischen Photographie. Schon 1887 sprach Anschütz davon, »noch einen ähnlichen Apparat für Projection zu construiren «. 18 Drei Jahre später wurde berichtet, daß Anschütz »demnächst einen Apparat konstruieren werde, der 5-6000 Aufnahmen liefert, die nach demselben Prinzip wiedervereinigt werden sollen; es werde dann möglich sein, Vorgänge von 20 bis 30 Sekunden Dauer zur lebhaften Darstellung zu brin- gen.«'9 Die Konstruktion eines solchenApN_rats gelang Anschütz nicht. Aber um 1891 photographierte er einige rein unterhaltende Reihenbilder wie MANN MIT WECHSELNDEM MIENENSPIEL und EIN TABAKSCHNUPFENDER ALTER. Unter dem Titel EINSEIFEN BEIM BARBIER imitierte er nach I 894 Edisons Kinetoscope- Motiv BARBER SHOP SCENE, um die überlegene Bildqualität seines Verfahrens im Vergleich zu den kleinen und photographisch unzureichenden Bildern des Edison-Guckkastens zu demonstrieren.2° Anschütz weigerte sich stets, von Glasplatten auf biegsame Zelluloidbänder umzusteigen. Das lag an seiner grundständig konservativen Haltung und seiner plötzlichen Verschuldung, aber letztlich auch vor allem daran, daß er sich seine Reputation im technolo- gischen Rahmen einer qualitätsbewußten, ästhetisch ausgerichteten Photogra- phen-Kultur erworben hatte. Die filmgeschichtliche Rezeption des Werks von Marey und Anschütz zeigt anschaulich, wie das black box-Konzept die faktische Technikgeschichte verfehlt. Die verblüffend logische Rationalität einer »Firmengeschichte«, die von späteren Entwicklungen in einem gereiften Technologiesystem ausgeht, gibt nicht nur einen unvollständigen Bericht über die Ursprünge eines Arte- fakts, sondern zerstört auch den zeitgenössischen Kontext, in dem die Inno- vation »stattfand«. Der Fall Anschütz und Marey verweist außerdem auf hi- storische Probleme und Fragen, die von professionellen Historikern seit langem diskutiert werden, von Filmhistorikern bisher aber kaum beachtet wurden: Welche Ereignisse, welche Artefakte und welche Daten sind für die quellenkritische Verortung der Forschungstätigkeit als konstitutiv zu be- trachten? Mit der Konvergenz verschiedener Technologien in Photographie, Chemie und Feinmechanik und dem starken Interesse an neuen Formen der Kommunikation, Dokumentation und Reproduktion entstand Ende des 19. Jahrhunderts eine Kultur der Bewegungsdarstellung, die eine breitere Erklä- rungsgrundlage verlangt, als sie die traditionelle Historiographie geben kann. Gleichwertigkeit: die Alternative des optischen Ausgleichs Eine Form der öffentlichen Unterhaltung, die allgemein als Vorläufer des Ki- nos gilt, ist Emile Reynauds Theatre Optique, dessen über 12.500 Vorstellun- gen zwischen Oktober 1892 und Februar 1900 im Pariser Musee Grevin von einer halben Million Zuschauer besucht wurde.21 Reynaud zeichnete Bildse- quenzen auf 65 mm breite durchsichtige Streifen, die er von Hand über Zahn- räder vor- und zurückbewegte. Die Zahnräder griffen in Transportlöcher ein, die mit kleinen Metallösen verstärkt waren. Ein Bildstreifen war normalerwei- se 4 5 bis 50 Meter lang und faßte 500 bis 600 gezeichnete Einzelbilder. Eine Laterna magica projizierte einen wechselnden Hintergrund, auf dem sich Reynauds reizende Figuren bewegten, indem die Zeichnungen auf dem Bild- band von einem riesigen Spiegelkranz durch eine Linse auf die Leinwand re- flektiert wurden. Dieses Vorführgerät war eine raffinierte Großformat-Versi- on seines 1877 patentierten Praxinoskops, eines optischen Spielzeugs, das für den Bewegungseffekt ebenfalls Spiegel benutzt, welche die in einer Trommel rotierenden Phasenzeichnungen reflektieren. Unter den diversen Vorläufern des Kinos wie dem Praxinoskop, dem Zoo- trop, dem Phenakistiskop und der Laterna magica mit ihren verschiedenen beweglichen Diapositiven ragt das Theatre Optique heraus, weil es eine Reihe von späteren Kinopraktiken vorwegzunehmen scheint: Es wurde zur kom- merziellen Unterhaltung eines Publikums eingesetzt, projizierte zehn bis fünfzehn Minuten lang eine erzählte Geschichte, arbeitete mit einem biegsa- men, perforierten Bildstreifen und wurde begleitet von einem Piano mit Ge- sang. Technisch bemerkenswert ist allerdings, daß der Effekt natürlicher Be- wegung nicht auf mechanischem, sondern auf optischem Wege erzielt wurde: Der Bildstreifen lief kontinuierlich, während der Spiegelkranz, der das Bild auf die Leinwand reflektierte, das Projektionsbild mindestens zwölf Mal pro Se- kunde unterbrach.22 Warum bevorzugte die frühe Filmprojektionstechnik die mechanische Lösung des intermittierenden Filmtransports, obwohl es für die optische Lösung ein erfolgreiches Vorbild gab, das vorn Publikum schon seit 1892 begeistert aufgenommen wurde? Theoretisch hat die optische Unterbrechung eines kontinuierlich laufen- den Filmstreifens viele Vorteile: Der Film, ohnehin das teuerste und anfälligste Element der Projektionsausrüstung, wird erheblich weniger beansprucht, weil er nicht mindestens zwölf Mal pro Sekunde angehalten und wieder in Bewe- gung gesetzt wird. Kontinuierlicher Filmlauf schützt vor Kratzern und Reis- sen und mindert die Gefahr der Entzündung des leicht entflammbaren Zellu- loids. Warum setzte sich der optische Ausgleich für die intermittierende Bildprojektion nicht durch? Warum war dagegen die mechanische Methode erfolgreich, obwohl sich dadurch die Entwicklung der Kinematographie bis etwa I 904 sehr verzögerte? Eine black box-orientierte Technikgeschichte, die retrospektiv nur die Ent- wicklungsschritte von erfolgreichen Artefakten verfolgt, kann diese Frage nicht beantworten. Sie wird in den herkömmlichen Filmgeschichten auch gar nicht erst gestellt. Optische Lösungen werden nur bis Dezember x8 9 5 berück- sichtigt, und zwar als gescheiterte Experimente - als wären mechanische Un- terbrecher die unvermeidliche und einzig mögliche Lösung des Problems. Um die Frage zu beantworten, warum sich der schrittweise Transport des Film- streifens mit seinen vielen Nachteilen gegenüber dem optischen Ausgleich durchgesetzt hat, ist eine gleichwertige Überprüfung der Quellen im sozialge- schichtlichen Kontext nötig: Welche relevanten sozialen Gruppen waren ganz zu Anfang in die Auswertung »lebender Photographien« involviert? Es waren vor allem Hersteller von Laterna magica- und Photo-Bedarfsar- tikeln, Schausteller, Theaterbesitzer und Impresarios, Zauberer, Photogra- phen, Projektionskünstler, Feinmechaniker und Naturwissenschaftler. Wäh- rend all diese Gruppen jeweils ihre Kenntnisse und Visionen von bewegten Bildern in das neue Medium einbrachten, war ihnen in ihrem technologischen Rahmen die Projektionstechnik und Aufführungskultur der Laterna magica zugleich mehr oder minder vertraut: Ende des 19.Jahrhunderts war die Later- na magica als ausgefeiltes, vielseitiges und allgemein bekanntes Projektions- gerät etabliert. Sie verband sich mit der photographischen wie der optischen Industrie und wurde als wissenschaftliches Instrument, für spezielle Beleuch- tungseffekte in Theatern sowie vor allem für Lichtbildvorführungen einge- setzt. Um geeignete Projektionsbilder für große Säle wie für kleine Zu- schauergruppen zu erzielen, gab es für Laterna magica-Schauen vielfältige Lichtquellen, eine ganze Reihe von Projektionslinsen mit verschiedenen Brennweiten sowie verschiedene Typen von Kondensoren und Reflektorspie- geln. Die praktischen Fragen, wie denn nun Lichtquelle, Linse, Reflektor- spiegel, Kondensor und Glasdiapositiv für die maximale Wirkung auf der Leinwand jeweils optisch auszurichten seien, waren alle gelöst. Um Bewe- gungseffekte zu erzeugen, gab es verschiedene Typen mechanischer Vorrich- tungen an den Bildern selbst (Hebel, Getrieberäder, Kurbeln), außerdem be- wegliche Schattenfiguren und gegenlaufende Scheiben.23 Im technologischen Rahmen der meisten sozialen Gruppen, die in der zweiten Hälfte der 189oer Jahre mit bewegten Bildern zu tun hatten, waren alle optischen Fragen der Projektion gelöst. Die entsprechenden Verfahren waren in der zeitgnössischen Aufführungspraxis allgemein bekannt. Die offe- ne Frage bei der Projektion bewegter Bilder von Zelluloidbändern wurde des- halb nicht auf optischem Gebiet, sondern im mechanischen Problem des schrittweisen Filmtransports vor der Projektionsöffnung erblickt: Ein gut ent- wickeltes optisches System für die Projektion existierte ja bereits. Als der britische Pionier Robert W. Paul im Februar 1896 seinen ersten Filmprojektor entwarf, sollte dieser »zu jeder existierenden Laterna magica passen«.24 Der amerikanische Erfinder C. Francis Jenkins meinte damals: »Der Filmprojektor ist in der Tat nichts weiter als ein modifiziertes Stereopticon bzw. eine Laterna magica, die mit einem mechanischen Bildwechsler ausgerü- stet ist.« 2 1 Henry Hopwood, einer der ersten Technikhistoriker, schrieb 1899: »Ein Film zur Projektion lebender Bilder ist nichts weiter als ein vielfaches Laternen-Diapositiv.«26 Cecil Wrays erster Apparat von 1896, der vom Later- na magica-Hersteller Riley Brothers in Bradford als Riley Kineoptoscope ver- trieben wurde, bestand aus einer einfachen Schrittschaltung, die auf die übli- chen Bildbühnen der Laterna magica-Geräte paßte.27 Ende 1896 oder Anfang 1897 benutzte der Magier John Nevill Maskelyne bei seinen Vorstellungen in der Egyptian Hall am Piccadilly einen selbst er- dachten Apparat mit optischem Ausgleich.28 Für ein solches Gerät war nicht nur die Unterbrechervorrichtung zu entwerfen (eine Aufgabe ähnlich der Konstruktion eines mechanischen Unterbrechers), sondern es war zusätzlich ein ganz neuer Strahlengang zu konstruieren, welcher Lichtquelle, Kondenso- ren, Linsen und Blenden innovativ miteinander koppelte. Im Vergleich zur etablierten optischen Plattform der Laterna magica bedeutete die Konstrukti- on eines völlig neuen optischen Systems mit der für die Projektion bewegter Bilder erforderlichen Präzision eine Extra-Anstrengung, bei der das Verhält- nis von Kosten und technischer Verläßlichkeit schwer abzuschätzen war. Die- se Unsicherheit schlug für die meisten Apparatehersteller und Kinematogra- phenbetreiber gegen die klaren Vorteile des kontinuierlichen Filmlaufs aus.29 Heute betrachten viele Filmhistoriker die Laterna magica-Kultur als be- deutenden Vorläufer des Kinos.3° Wenn die Alternative des optischen Aus- gleichs unvoreingenommen in Erwägung gezogen wird, erscheint die Pro- jektionskunst jedoch eher als das Milieu, in dem sich die Erfindung der Kinematographie bis etwa 1903 abspielte. Beide Medien koexistierten über zwei Jahrzehnte. In dieser Zeit gab es einen engen Austausch von narrativen Sujets, Bildmotiven, visuellen Erzähltechniken und Personal, den die Filmge- schichtsschreibung noch nicht angemessen berücksichtigt hat.3' Relevante soziale Gruppen: das Beispiel des Malteserkreuzes Die Malteserkreuz genannte Schrittschaltung, die von 1896 bis heute verwen- det wird, ist das zentrale technische Artefakt der Filmprojektion. Die Filmge- schichtsschreibung hat die Erfinder und Pioniere favorisiert, die in ihren frü- hen Apparaten diesen Mechanismus benutzten. Allerdings war das Malteser- kreuz vor 1905 nur eine Vorrichtung unter vielen, die alle dem schrittweisen Filmtransport dienten. Von Anfang an gab es eine Reihe von Vorschlägen zur Lösung des Problems, die kontinuierliche Kreisbewegung der Kurbel in eine intermittierende Bewegung des Filmstreifens vor der Projektionsöffnung zu verwandeln. Den Filmhistorikern ist eine Vielfalt von Schrittschaltungen be- kannt, die in der Frühzeit des Kinos auf den Markt kamen. Aber sie ignorieren diejenigen, die nicht in der direkten Entwicklungslinie der Projektionstechnik liegen, die sich schließlich durchgesetzt hat. Auch hier ergibt sich aber ein ganz anderes Bild, wenn die überlieferten Artefakte und Quellen als prinzipiell gleichwertig betrachtet werden, ohne die »W ichtigkeit« eines bestimmten Mechanismus zu präjudizieren. Vorab ein kurzer zeitgenössischer Überblick über Vor- und Nachteile ver- schiedener Schrittschaltungen aus Cecil Hepworths Projektionshandbuch von 1897: Seinerzeit galt das Malteserkreuz keineswegs als die beste Lösung. Mal- teserkreuze arbeiteten anfangs häufig ohne Stiftscheibe und verschlissen rasch, was unweigerlich zu unruhigem Bildstand auf der Leinwand führte. Schneckenradgetriebe beruhen auf einem technisch hervorragenden Prin- zip zur Umwandlung von kontinuierlicher in schrittweise Bewegung. Da je- doch ihre einwandfreie Fertigung schwierig ist, waren sie wenig in Gebrauch. Greifer sind für den Filmtransport sehr vorteilhaft, weil sie die schrittweise Bewegung des Films nicht mit einem plötzlichem Ruck vollziehen. Der Schlä- ger ist extrem einfach konstruiert und gibt sehr gute Resultate, was besonders daran liegt, daß der Filmtransport von Bild zu Bild sehr schnell erfolgt, so daß die Größe der Blende reduziert werden kann und dadurch das Projektionsbild an Brillanz gewinnt. Außerdem zeigten lange Erfahrungen, daß der Schläger die Filmstreifen nicht mehr beschädigt als andere Schrittschaltungen. Die Rei- bungsscheibe der American Mutoscope & Biograph Company bezeichnet Hepworth als Grundelement für einen der erfolgreichsten Filmprojektoren. Sie erziele eine bemerkenswert ruhige Projektion. Die besten Zukunftsaus- sichten räumt Hepworth dem Greifer, dem Schläger und der Reibungsscheibe einY Wie konnte es geschehen, daß Hepworth mit seiner Vorhersage die Durch- setzung des Malteserkreuzes verfehlte? Hepworth schätzte die Entwicklung der Filmauswertung falsch ein. Mit der Herausbildung sozial relevanter Grup- pen, die sich damit befaßten, entstand auch die technische Konstruktion für das Artefakt, welches zur Filmprojektion benutzt wurde. Vor der Jahrhundertwende werteten folgende Gruppen Filme aus: einzelne Wanderschausteller; avancierte Photographen, die mit neuen Materialien ex- perimentierten; etablierte Schausteller-Unternehmen, die ihre Buden um eine neue Attraktion bereicherten; Projektionskünstler, die damit ihr Repertoire erweiterten; Naturwissenschaftler und Lehrer, die physiologische Prinzipien demonstrierten; Theaterbesitzer und Impresarios, welche das »neueste Wun- 66 der« buchten; Unternehmer, die für eine bestimmte Zeitspanne Ladenlokale oder Hotelsäle anmieteten. Diese sozialen Gruppen stellten ganz verschiede- ne Anforderungen an Filmprojektoren: Einige verlangten mechanisch absolut einfache Getriebe, die leicht zu reparieren waren; einige bestanden auf ruhi- gem Bildstand für Großbild-Projektionen; andere benötigten tragbare Projek- toren, die brillante Bilder lieferten; wieder andere wollten eine Kombination von Kamera und Projektor, um das Drehen und die Vorführung von Lokal- aufnahmen zu erleichtern, oder sie wollten kornische Effekte erzielen und brauchten einen Apparat, mit dem sich Filme problemlos rückwärts projizie- ren ließen. Für all diese Geschäftsbedürfnisse hielt der frühe Filrnapparate- markt eine reiche Auswahl an Geräten bereit. Noch 1915 schrieb R. B. Poster in der Neuausgabe von Hopwoods Filmtechnik-Klassiker: Die Tauglichkeit eines gegebenen Gerätetyps hängt weit mehr von handwerklicher Sorgfalt ab als von dem jeweiligen Mechanismus für den Filmtransport; technische Verbesserungen sind kaum von Vorteil, wenn ihnen Fortschritte in der Präzision der Ausführung nicht mindestens entsprechen.Jl Poster stimmt Hopwood noch 1915 darin zu, daß »Schrittschaltungen exzel- lentes Handwerk erfordern und das Material den dauernden Erschütterungen ohne spürbare Verschleißerscheinungen widerstehen muß.«34 Selbst zu die- sem späten Zeitpunkt ist eine herausragende Stellung des Malteserkreuzes noch nicht zu erkennen. Bewährte Schlägerrnechanisrnen wurden weiterhin hergestellt und auf dem Markt angeboten. Nach 1905 tendierte die Filmauswertung immer mehr zu häufig wieder- holten Vorführungen derselben Filmkopien vor einem Massenpublikum in ortsfesten Sälen. Um 1912 errichtete eine mittlerweile blühende Industrieei- gene Zweckbauten für Filmvorführungen. Wanderschausteller verloren an Bedeutung. Seit dem Höhepunkt zur Jahrhundertwende ging die Zahl der Jahrmarktunternehrnen zurück. In diesem veränderten Umfeld der Filmaus- wertung entstand allmählich ein neuer Bedarf an Filmprojektoren. Größere Leinwände verlangten einen absolut ruhigen Bildstand. Die Umstellung von Filmverkauf auf Filmverleih machte die Schonung des Filmmaterials zu einem wichtigen Gesichtspunkt. Ständig wiederholte Vorführungen erforderten sau- ber fabrizierte und einwandfrei arbeitende Projektionsgeräte. Zugleich entfiel das Kriterium der Tragbarkeit: Die dauerhafte Installation von Vorführappa- raten in ortsfesten Abspielstätten gestattete aufwendige Projektorkonstruk- tionen. Die Ausrüstungskosten setzten sich nicht mehr zum Einkommen eines einzelnen Wanderschaustellers ins Verhältnis, sondern zum Kapital- vorschuß für ein ganzes Gebäude, welches ein wachsendes Massenpublikum versorgte. Als einige in der Filmauswertung tätige soziale Gruppen an Bedeu- tung verloren, begann die Schrittschaltung des Malteserkreuzes die Filmpro- jektionstechnik zu dominieren: Die Herstellungskosten waren auch bei sau- berster Ausführung nicht mehr exorbitant;H der Bildstand war ruhiger als bei anderen Schrittschaltungen, weil der Filmstreifen während seiner Durch- leuchtung festgehalten wurde; Laufgeräusch und Abnutzung reduzierten sich deutlich, indem das Malteserkreuz ab 1912 in ein Ölbad eingelassen war. Statt wie Schläger- und Greifermechanismus direkt auf das Filmband einzuwirken, ar- beitet das Malteserkreuz auf einem Zahnkranz und schont so die Perforation.J6 Erst mit der Durchsetzung von Filmverleih und ortsfesten Kinos wurde das Malteserkreuz zum technischen Herzstück der Filmprojektion. In dem von mobilen Vorführungen geprägten ersten Jahrzehnt der Filmgeschichte war diese Entwicklung keineswegs abzusehen. Filmpioniere wie Oskar Mes- ster und Pierre-Victor Continsouza, die das Malteserkreuz benutzten und spä- ter Anspruch auf Erstlingsrechte erhoben, waren nicht hellsichtiger als ihre Konkurrenten, die andere Schrittschaltungen verwendeten. Die aus der Sicht erfolgreicher Pioniere und ihrer Erfindungen betriebene teleologische Film- geschichtsschreibung vermag nicht zu erklären, wie sich diese in der Konfusi- on und Konkurrenz der ersten Jahre tatsächlich durchgesetzt haben. Die Bestimmung des technologischen Rahmens: das Beispiel der Wanderkinematographen Die meisten Filmhistoriker teilen die frühe Filmauswertung in zwei Kate- gorien ein: ortsfeste Theater und Wanderschausteller. Filmvorführungen als Programmnummer in Variete-Theatern oder als kurzes Zwischenspiel auf Theater- und Konzertbühnen sind gut nachweisbar, weil diese etablierten Un- ternehmen leicht zugängliche Dokumente in Form von Anzeigen, Presse- berichten und Geschäftskorrespondenz hinterließen. Sie waren auch das wich- tigste Umfeld, aus dem heraus Kino-Zweckbauten und überhaupt das moderne Auswertungs- und Verleihsystem sich entwickelten.37 Wanderkine- matographen sind sehr viel weniger erforscht: Teils liegt das daran, daß ihre häufigen Ortswechsel viel schwieriger zu verfolgen und erheblich weniger Dokumente dazu erhalten sind, teils daran, daß die Phase der Wandervorfüh- rungen meist als romantisches Vorspiel der Kinogeschichte behandelt wird. Abgesehen von idyllischen Konnotationen umfaßt der Terminus » Wanderki- nematograph« eine Bandbreite unterschiedlicher Tätigkeiten verschiedener Typen von Filmauswertern, die ganz verschiedene Filmprojektoren für ihre Arbeit benötigten. Ein differenziertes Bild der Typen von Wanderkinemato- graphen und ihrer Vorführpraktiken ergibt sich, wenn wir die relevanten so- zialen Gruppen betrachten, die sich im frühen Kino engagierten, und untersu- chen, wie sie mit ihren unterschiedlichen Interessen die Karriere verschiedener technischer Artefakte beeinflußt haben. Obwohl die Überlieferung zu Wan- derkinematographen großenteils aus Anekdoten besteht, lassen sich vier Haupttypen unterscheiden.38 68 Die Gruppe mit dem klarsten Profil sind die Schaustellerunternehmen der großen Messen und Jahrmärkte, die schon sehr früh zu Filmvorführungen übergehen. Sie sind in jüngeren filmhistorischen Studien am ausführlichsten behandelt.J9 Auf den größeren Jahrmärkten und Messen wie etwa in Bremen, Leipzig, München, Hull, Nottingham, Nijmegen, Leeuwarden und anderen Städten war ein guter Stellplatz nur durch jahrelange Standorttreue zu bekom- men. Die hier vertretenen Wanderkinematographen waren meist Schaustel- lerunternehmen, welche die neue Attraktion der bewegten Bilder ihrem sonstigen Unterhaltungsangebot hinzufügten. Christiaan Slieker, der erste Wanderkinematograph der Niederlande, betrieb eine Kuriositätenschau, eine Spielbude und dann einen spektakulären elektrischen Angelapparat.4° Johann Schicht! in Deutschland ergänzte seine Varieteattraktionen und Marionetten- theater mit Filmvorführungen.4' Randall Williams in England verwandelte seine Grand Phantascopical Exhibition, eine Geisterschau, Ende 1896 in einen Wanderkinematographen.42 Die meisten dieser Schausteller gehörten zu Familien mit einer langen Tra- dition in der Branche: Slieker wuchs in einer Schaustellerfarnilie auf und heira- tete die Tochter eines bekannten Karussellbesitzers. Schicht! gehörte zu einer Familiendynastie, die mindestens seit 1800 in der Branche tätig war. Williams rannte schon in jungen Jahren von zu Hause weg, um dann auf Jahrmärkten Zaubervorstellungen zu geben; seine eigenen Shows produzierte er seit den 186oer Jahren. Die Buden dieser Unternehmen faßten oft 500 bis tausend Sitz- plätze. Sie benötigten eine Projektionsausrüstung und Beleuchtung, die derje- nigen von Variete-Theatern in Großstädten keineswegs nachstand. Ihre Reised routen standen durch die Daten der Jahrmärkte schon lange im Vorhinein fest! Ihre aufwendig gestalteten Schaubuden wurden mit Lokomobilen oder Pfutr.;, degespannen transportiert. J -u, 11 Von der Jahrmarktauswertung unabhängige WanderkinematographertrgiJ ben kurzzeitige Vorstellungen in Gasthäusern, Tanzsälen von Hotels,, beii gt{l tem Wetter auf offenen Plätzen, in Pfarrsälen und anderen günstig zu!miillen- den Räumlichkeiten in Dörfern und Städten ganz Europas. Übli!:herwdse> wurden die Vorführungen von einem Schausteller allein bestritten~1d;em~a-Hep..i falls noch eine Hilfskraft zur Seite stand. Die Reiseroute wurde v;~n :Wo0He1w Woche festgelegt: Sobald das Publikum am Aufführungsort aushlieb1,\wt11J!'den Vorstellungen für den nächsten Spielort arrangiert. In diesevlGrti:pp~cfi'hd-eilii sich Wanderschausteller mit großer Erfahrung: Projektionskü:p.sderl die 00'-J lang Laterna magica-Aufführungen veranstaltet hatten, reisnen\j~rAnitf;idero.1 ihnen bekannten Routen mit der neuen Attraktion der leberidenlBifüe1i thre: Anforderungen an die Projektionsgeräte waren bescheideri:i'Tragoorkeit;'lelioh~i te Durchführung von Reparaturen unterwegs, Ausleguh.guf-iiimnehr.ete JFfeJ-? leuchtungsarten je nach den Gegebenheiten vor Ort.1Einiigb'wie,GeorgiFnrk~F nahmen an ihrem Projektionsapparat einige Änderungen-rv,&,1slD'Jdaßrlf~eiJ.1lil1 auch als Filmkamera für Lokalaufnahmen benut~enrkonn:teh;~) Ä.fI\ldet'-ldietih:,k!alenl1i'agespresse. Filmhistoriker ignorieren diese Hinweise in ddt:ifilgel~w.ei!,sicfehebauf identifizierbare Namen, Daten und Orte aus sind, sta'lft ,die,rReko.niltqiktj,oh anonymer Tätigkeitsmuster anzustreben. Weitere Hihrw'ei~fl~ui)dje.,~tiivitläten dieser Gruppe sind den Angeboten der Kinema- ~aphi:!nhetist~llerr~ientnehmen, die ihre Geräte als »komplett im Kasten v~packtjiwld feri1:ig-1rzumr1Betrieb« anpreisen51 oder Kunden anlocken mit Überschriften wie: »V iel Geld verdient man in kürzester Zeit durch Vorfüh- rung des Kinematograph ...« 12 Hier lag das billigere Ende des Marktes, wo im Preis, der eine dominierende Rolle spielte, oft ein Satz von sechs bis sieben Filmen inbegriffen war und der unerfahrene Unternehmer gedrängt wurde, schnell sein Glück zu machen. Viele, wenn nicht die meisten Schausteller die- ser letzten Gruppe blieben nicht lange im Filmgeschäft. Eine sorgfältige Untersuchung der marktgängigen Filmprojektoren in Ver- bindung mit den relevanten sozialen Gruppen, auf die das Angebot jeweils abzielte, ergibt eine Struktur der frühen Vorführungspraxis, die erheblich komplexer ist als allgemein angenommen. Diese Struktur beeinflußte Ent- wicklung und Konstruktion einer ganzen Reihe technischer Artefakte. Als zum Beispiel der Photograph und Projektionskünstler Clemens Seeber mit seinem Sohn Guido im Herbst 1896 von Chemnitz nach Berlin reiste, um ei- nen Filmprojektor zu kaufen, besuchten die beiden »eine Reihe Firmen«, ein- schließlich Philipp Wolff und Dr. Hesekiel. Sie fanden, daß die Geräte »als Untersatz gewöhnlich einen Holzkasten aufwiesen« und kehrten nach Hause zurück mit einem Thaumatograph von Oskar Messter: Er war »auf einem äus- serst schweren gußeisernen dreibeinigen Stativ aufgebaut und sein Projekti- onswerk sowie der Lampenkasten solid montiert auf einer gußeisernen Plat- te«.D Ein halbes Jahr später war auch Philipp Wolffs Vitaphotoscope »ganz aus Metall gefertigt, wobei für den Unterboden.Stahl verwendet wurde«,54 Vor allem an den Wanderkinematographen, die vorübergehend ins Filmge- schäft wechselten, zeigt sich übrigens, daß in der frühen Kinematographie Qualifikationen und Tätigkeiten eine signifikante Rolle spielten, die kaum dokumentiert ist: einen geeigneten Vorführraum finden, das potentielle Publi- kum auf die Veranstaltung aufmerksam machen, Vorführungen für Schulen und Vereine arrangieren, Lokalaufnahmen einsetzen oder auf andere Weise lokale Interessen bedienen und vieles andere mehr. Das Studium der erhalte- nen Projektionsapparate verschafft der Erforschung dieses Sektors der frühen Filmauswertung eine solide Grundlage. Selektive Filmgeschichtsschreibung: der Fall Auguste und Louis Lumiere Für viele Filmhistoriker sind die Gebrüder Lumiere die Erfinder des Kinos. Sie entwarfen den Cinematographe, ein elegantes, zuverlässig arbeitendes, tragbares Gerät, das als Filmkamera, Filmprojektor und Filmkopiermaschine seine Dienste tat. Der Apparat stand zunächst nicht zum Verkauf, sondern wurde ausschließlich von angelernten Operateuren der Firma Lumiere be- dient, die in den Jahren 1896 und 1897 nahezu jede Gegend der bewohnten Welt erreichten. Über 1400 erhaltene Filmaufnahmen beweisen die Qualität und den weltweiten Einsatz des Cinematographe Lumiere. Die erste öffentli- che Projektionsvorführung des Cinematographe Lumiere für ein zahlendes 71 Publikum im Keller des Pariser Grand Cafe gilt als Beginn der kommerziellen Filmauswertung. ARROSEUR ET ARROSE, ein im Juni 1895 gedrehter lustiger Kurzfilm, gilt als der Beginn narrativer Filmproduktion. Öffentliche Filmvorführungen und zur Erheiterung des Publikums ge- drehte narrative Kurzfilme gab es auch schon vorher. Ohne Zweifel sahen aber die Zuschauer in vielen Ländern zuallererst Lumiere-Filme, denn die ersten Filmaufnahmen on location wurden meist von Lumiere-Operateuren ge- macht. Allerdings übernahm das Filmgeschäft weder ganz am Anfang noch in seiner industrialisierten Form, die Anfang der 192oer Jahre voll ausgebildet war, die Geschäftspraktiken der Firma Lumiere. Von Ausnahmen abgesehen, war der Cinematographe Lumiere bis zum Frühjahr 1897 nicht verkäuflich.!! Zu dieser Zeit hatten bereits viele andere Hersteller den Markt besetzt: Die Gebrüder Lumiere vermochten aus der hervorragenden Reputation ihres Ap- parats kein Kapital zu schlagen. Sie bauten die frühen narrativen Elemente von ARROSEUR ET ARROSE nicht weiter aus und trugen in den fünf Jahren ihrer Pro- duktionstätigkeit kaum zur Entwicklung der kinematographischen Gestal- tungsmittel bei. Sie führten auch keine Neuerungen in der Filmproduktion oder Filmdistribution ein. Was für eine Art von Kino haben die Gebrüder Lumiere denn dann »er- funden«? Bislang existiert keine kritische wissenschaftliche Studie über die Gebrüder Lumiere und ihr kinematographisches Werk. Durch eine gleichwer- tige Betrachtung der Artefakte und die Berücksichtigung des technologischen Rahmens, in dem die Gebrüder Lumiere arbeiteten, lassen sich einige Vor- schläge für die künftige Forschung skizzieren. Auguste und Louis Lumiere waren Söhne eines Photographen, der bei Nadar studiert hatte. Vater Claude Antoine Lumiere betrieb ein Photoatelier in Besan~on. Später ging er nach Lyon, wo er mit der Herstellung photogra- phischer Trockenplatten begann. Als Auguste 188 2 vom Militärdienst zurück- kehrte, stand die Firma kurz vor dem Bankrott. Die beiden Brüder mechani- sierten die Produktion der Bromgelatine-Platten und entwickelten eine neue Emulsion. Sie wurde unter dem Markennamen etiquette bleue vertrieben und war so erfolgreich, daß die Firma Lumiere Mitte der 189oer Jahre als größter Trockenplattenhersteller in Europa galt. Als Auguste und Louis mit der Kon- struktion des Cinematographe begannen, hielten sie bereits mehr als ein Dut- zend Patente für photographische Prozesse und Geräte. Sie befaßten sich in- tensiv mit der Verbesserung von Trockenplatten für Farbphotographie, und Auguste hatte bereits seine medizinischen Forschungen vor allem über Tuber- kulose und Krebs aufgenommen, die ihn für seine ganze Karriere nach 1905 fast völlig in Anspruch nahmen. Als sich die beiden Brüder entschieden, an einem Apparat für lebende Bil- der zu arbeiten, waren sie hochgradig involviert in einen technologischen Rah- men von Herstellern und Anbietern photographischer Artikel. Sie hatten ganz besondere Erfahrung in photographischer Chemie und dem Entwerfen raffi- 72 nierter und einzigartiger Fertigungsmechaniken für Emulsionen und Trocken- platten. Die Societe A. Lumiere et fils konnte sich 1894 mit den großen und rasch wachsenden Photoartikel-Anbietern messen, wie etwa John Carbutt in Philadelphia, der Eastman Company in Rochester, Georges Balgny in Paris oder John Henry Blair in London. Unter diesen aggressiven Konkurrenten war sie am ehesten mit Eastman vergleichbar. George Eastman begann mit der Herstellung von Trockenplatten im Jahr 1880, als die Firma Lumiere gerade auf ihrem Tiefpunkt war. Beide Unternehmen verzeichneten in den 188oer Jahren ein rasches Wachstum. Allerdings entwarf Eastman 188 8 eine Photoka- mera, die Kodak; welche die Photographie insgesamt revolutionierte, indem sie das Medium für den Amateurgebrauch öffnete. Mit dem durchschlagenden Erfolg des Kodak-Rollfilmverfahrens sicherte Eastman sein dynamisches Wachstum im Geschäftsbereich photographischer Bedarfsartikel, indem die preisgünstigen Kameras zur Entwicklung der Bilder und zum Laden mit neu- em Film an seine Fabrik eingeschickt werden mußten. Dieses Modell, das ei- nen sicheren Rückfluß für das Kerngeschäft garantierte, konnten die Gebrü- der Lumiere sehr wohl verstehen und schätzen. Als Edison das Kinetoscope mit seinen teuren Filmen herausbrachte, lag es da für einen Hersteller von Photobedarf wie der Societe A. Lumiere et fils nicht nahe, an die Einführung einer Amateurkamera für lebende Bilder zu denken? Unterstützen die techni- schen Artefakte der Gebrüder Lumiere diese Vermutung? Der Cinematographe Lumiere war nicht nur, wie allgemein bemerkt wird, deshalb eine glänzende Erfindung, weil er ein multifunktionales Gerät ist, das wenig wiegt, leicht zu handhaben ist und unter verschiedensten Bedingungen fehlerfrei arbeitet.56 Der Cinematographe Lumiere war auch eine radikale Abkehr von den Richtungen, welche die maßgeblichen zeitgenössische Erfin- der eingeschlagen hatten. Edison und W. K. L. Dickson hatten zur Wiederga- be ihrer lebenden Bilder das Kinetoscope als sperrigen, auf dem Boden stehen- den Apparat geschaffen. Ihre Kamera war eine riesige, fest installierte Studiomaschine, die mit einem Elektromotor angetrieben wurde und alles an- dere als tragbar war. Die chronophotographischen Kameras von Marey, An- schütz, Kohlrausch, Londe und anderen hatten mindestens die Ausmaße einer veritablen Studio-Porträtkamera (und waren sogar manchmal noch größer). Ebenso massiv und schwierig zu handhaben waren die Projektionsapparate von Anschütz und Kohlrausch. Die meisten anderen Erfinder der 189oer J ah- re konzentrierten sich ganz auf den Durchlauf des Filmbands durch die Ma- schinerie, ohne sich um Tragbarkeit und einfache Bedienung zu kümmern: Wordsworth Donisthorpe in Großbritannien entwarf seinen riesigen, auf dem Boden stehenden Apparat nach dem Vorbild von Maschinen, die in der Textil- branche gängig waren.Um Kinetoskop-Filme aufzunehmen, entwickelte Birt Acres für Robert Paul eine Kamera, die zwar mobil war, aber mit einem 60 cm messenden Kurbeirad bedient wurde. Georges Demeny baute seine Kamera, die so groß wie ein Möbelkarton war, nach dem Vorbild von Mareys Geräten. 73 Der Filmprojektor vonJenkins und Armat schließlich war auf eine Bank mon- tiert und wurde mit einem Elektromotor betrieben. Vor diesem Hintergrund der Jahre 1894/95 war der Cinematographe Lu- miere eine radikal konzipierte »Kodak« für lebende Bilder: Er hatte nur die Ausmaße einer großen Zigarrenkiste und wog lediglich vier KilogrammY Damit war er nicht größer als viele photographische Handkameras der Zeit.S8 Im September 1896 patentierten Auguste und Louis Lumiere die Kinora, ein Heim-Betrachtungsgerät für lebende Bilder.S9 Die Kinora ist ein Miniatur- Mutoskop, das mit einem simplen Getriebe arbeitet, welches eine Bildwalze von bis zu 640 knapp 2 cm breiten photographischen Papierabzügen abblät- tert. Die frühe Geschichte der Kinorain Frankreich ist nicht erforscht. Rechte an der Kinora erwarb die American Mutoscope and Biograph Company im Juni 1898. Im Jahr 1900 waren Herstellung und Vertrieb in den Händen von Leon Gaumont. Den Gipfel ihrer Popularität in Großbritannien erreichte die Kinora nach der Einführung durch Charles Urban im Jahr 1902.60 Daß die Gebrüder Lumiere im Jahr 1896, als ihr Cinematographe seine überraschen- den Publikumserfolge feierte, mit der Kinora nach wie vor die Idee der Film- betrachtung in den eigenen vier Wänden verfolgten, ist ein klarer Hinweis, wie sie damals über die künftige Entwicklung der lebenden Bilder dachten. Weitgehend unerforscht ist noch ein weiterer Geschäftsbereich der Firma Lumiere, nämlich die Herstellung und der Vertrieb von Zelluloidfilm.61 In den Jahren 1895 und 1896 arbeiteten die Gebrüder Lumiere mit Victor Planchon in Boulogne-sur-Mer fieberhaft an der Entwicklung eines eigenen Filmmate- rials. Zugleich eruierten sie Möglichkeiten für den Lizenzerwerb von Herstel- lungsverfahren der European Blair Camera Company. Die lange Verzögerung von der ersten Demonstration des Cinematographe am 22. März 1895 an der Sorbonne und dem eilig arrangierten kommerziellen Debut am 28. Dezember 1895 im Grand Cafe lag wahrscheinlich an den Schwierigkeiten bei der Her- stellung eines eigenen Filmmaterials. Den Amateurmarkt, den sie bereits so erfolgreich mit Trockenplatten versorgten, zusätzlich auch noch mit Rohfilm zu beliefern, war anscheinend ein wesentlicher Punkt ihrer geschäftlichen Plä- ne für die weitere Expansion ihrer Firma. Die These, daß die Gebrüder Lumiere die lebenden Bilder als Amateurme- dium fürs Heimkino ansahen, stützen schließlich auch viele Sujets der ersten von Louis Lumiere selbst gedrehten Filmaufnahmen: REPAS DE BEBE, P~CHE AUX PorsSONS, QUERELLE ENFANTINE, PARTIE D'ECARTE, BARQUE SORTANT DU PORT etc. und nicht zuletzt auch L' ARRIVEE D'UN TRAIN A LA C10TAT62 zeigen Szenen aus dem bürgerlichen Familienleben. Sie dominieren die Sujets der er- sten Filme, die Louis Lumiere selbst 1895 und Anfang 1896 vor allem in La Ciotat und Clos de Plage aufnahm. Es waren gerade diese Amateur-Aufnah- men, welche den Triumph des Cinematographe Lumiere in den ersten Mona- ten des Jahres 1896 begründeten. Als die Firma Lumiere zum Verkauf der Fil- me überging, drehte Louis Lumiere im Sommer 1897 von einigen dieser Filme 74 ein Remake, weil frische Negative benötigt wurden.6J Die Aktualitäten und Ansichten aus aller Welt, die das Gros der Lumiere-Produktion ausmachen, wurden erst ab Frühjahr 1896 von Operateuren der Firma, nicht von Louis Lumiere selbst gedreht. Der Rang der Gebrüder Lumiere als herausragende Filmpioniere wird in keiner Weise geschmälert, wenn Filmhistoriker die black box der linear erzähl- ten Technikgeschichte verlassen, die Artefakte sorgfältig und unvoreingenom- men untersuchen und den technologischen Rahmen bestimmen, in dem Au- guste und Louis Lumiere gearbeitet haben. Diese Vorgehensweise trennt die Bestrebungen der Gebrüder Lumiere aber sehr wohl ab von denjenigen Struk- turen, die das Filmgeschäft später als Massenmedium entwickelte. Die beiden sind übrigens in guter Gesellschaft mit Thomas Alva Edison, Birt Acres und vielen anderen Pionieren, die zwar elaborierte, aber letztlich verfehlte Vorstel- lungen von der künftigen Entwicklung der lebenden Bilder hatten: Auf wel- che Weise würden sie dem Publikum dargeboten werden? Welchen Zwecken würden sie dienen - der Erziehung und Bildung, der Wissenschaft, der Kunst, dem Nachrichtenwesen oder der Unterhaltung? Die anfangs große Zahl un- terschiedlicher technischer Lösungen für kinematographische Apparate er- klärt sich aus dieser breiten Vielfalt von Vorstellungen, welche die Pioniere über die lebenden Bilder in ihren Köpfen hatten. Diese Vielfalt scheidet das erste Jahrzehnt der Filmgeschichte von Tom Gunnings »Kino der narrativen Integration«. Technik als Ausgangspunkt: viele verschiedene Ausprägungen von »Kino« Warum sollte eine historische Erforschung des frühen Kinos mit der Technik beginnen? Wissen wir denn nicht schon alles Nötige über die technischen Details von Projektionsapparaten, über Kurbeln, Hebel und surrende Blen- den? Wir wissen tatsächlich noch nicht genug. In seinem bahnbrechenden Essay »T oward a History of Screen Practice«, mit dem er sein Buch The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907 einleitet, behauptet Charles Musser, daß sich sein Modell zur Erforschung der Anfänge des amerikanischen Kinos von früheren Darstellungen unterscheidet, die gekennzeichnet sind von »ei- nem Technikdeterminismus, der die Filmsprache zum Produkt der Technik macht und Filmkunst nur im Rahmen dieser Sprache kennt«. Mussers Modell besagt, daß »der Projektionsbetrieb immer eine technische Komponente hatte sowie ein Repertoire von Präsentationsstrategien und eine sozio-kulturelle Funktion, wobei all das einem wechselseitigen Wandel unterlag.«64 Später kri- tisiert er Historiker, die »eine Technik und nicht eine kulturelle Praxis« zu ih- rem Ausgangspunkt nehmen, weil sie Technik als »determinierende Praxis« ansehen und nicht als »Komponente der Praxis«.65 Was die linearen technik- 75 orientierten Filmgeschichten der Vergangenheit betrifft, hat Musser mit seiner Kritik völlig recht: Jahrzehntelang blieb es den Vorlieben der Filmhistoriker überlassen, auf welche Seite des Erfinderstreits um Erstlingsrechte sie sich schlagen wollten: Edison oder Lumiere? Armat oder Jenkins? Skladanowsky oder Messter? Acres oder Paul? Unter den dürftigen Spuren, die das frühe Kino hinterlassen hat, sind tech- nische Artefakte eine substantielle Quelle, die bisher kaum befragt worden ist, weil die zahlreichen Firmengeschichten nach der black box-Methode geschrie- ben wurden. Patente enthalten mehr als das Einreichungsdatum sowie Be- schreibungen mechanischer Vorrichtungen. In ihren Texten stecken reichhal- tige Informationen über frühe Vorführpraktiken, über die Absichten der Erfinder und über Schwachpunkte bei anderen Komponenten der kinemato- graphischen Strukturen (vor allem bei Zelluloid). Die Annoncen und Firmen- kataloge der Hersteller enthüllen die Evolution der Geräte und ihrer Verwen- dung, die angesprochenen oder gesuchten sozialen Gruppen sowie die Vorstellungen der Hersteller über den Wandel des kinematographischen Me- diums. Eine bewußt überlegte Untersuchung der technischen Apparate selbst vermag noch mehr zu verraten. In den naturwissenschaftlichen und populären Zeitschriften sowie in der Branchenpresse der Photographie und der Projekti- onskunst sind zahlreiche technische Berichte erschienen. Sie sind bislang noch nicht systematisch nach Fakten untersucht worden, die unter ihrer linear ver- standenen Oberfläche verborgen liegen. Wenn dieses Material erneut gesichtet wird, und zwar von einem unvoreingenommenen historischen Standpunkt aus, der offen ist für das Wechselspiel zwischen sozialen Gruppen, technischen Entwürfen, Geschäftspraktiken und institutionellen Strukturen, dann lassen sich reichhaltige Quellen erschließen, die zwar bekannt, aber bisher kaum aus- geschöpft sind. Von diesem Standpunkt aus eröffnen sich neue Perspektiven auf die vielen verschiedenen Ausprägungen von »Kino« in den Jahren 1895 bis 1905, ähnlich wie Tom Gunnings Konzept des »Kinos der Attraktionen«66 neue Bedeutungsebenen der erhaltenen Filme aus dieser Zeit aufdeckte und die Beziehungen zwischen Filmemachern, Zuschauern und der Kultur des späten 19.Jahrhunderts erhellte. (Aus dem Amerikanischen von Martin Loiperdinger) Anmerkungen Keld Nielsen, ehemals European Film College in Ebelhoft, Dänemark, jetzt an der Natio- nal Film School in Kopenhagen, schulde ich besonderen Dank für die Einführung in das Werk von Wiehe E. Bijker und anderen technikgeschichtlich orientierten Soziologen, wäh- rend ich als Visiting Lecturer in Ebelhoft war. Für ihre Ratschläge und Unterstützung dan- ke ich außerdem Martin Loiperdinger, William Uricchio, Stephen Bottomore, Stephen Herbert und Luke McKernan. 1 Vgl. von Tom Gunnings Beiträgen vor schaft. Festschrift für Hans Herzfeld zum allem: »T he Cinema of Attractions. Early 80. Geburtstag, Walter de Gruyter, Berlin, Cinema, its Spectator and the Avant-garde, New York 1972, S. 64f. Wide Angle, Vol. 8, No. 3-4 (Fall 1986), 5 Pinch, Bijker (Anm. 2), S. 30. deutsche Übersetzung: »Das Kino der At- 6 Ebenda. traktionen. Der frühe Film, seine Zuschau- 7 Vgl. dazu den Beitrag von Ludwig er und die Avantgarde«, Meteor 4 (1996), S. Vogl-Bienek in dieser Ausgabe. Doppel- 25-34; »Non-Continuity, Continuity and projektoren für zwei Filmbänder wurden Discontinuity: a Theory of Genres in Early auch von Robert Dempsey Gray, Owen A. Films«, Iris, Vol. 2, No. 1 (1984), S. 101- Eames, William Friese Greene, Birt Acres, 11 2; beide Artikel wieder abgedr. in: Tho- Jules Carpentier und vielen anderen vorge- mas Elsaesser mit Alan Barker (Hg.), Early schlagen. Cinema. Space Frame Narrative, BFI Pu- 8 Vgl. zur Societe du Phonoscope aus- blishing, London 1990, S. 56-67 und S. 101- führlich Martin Loiperdinger, Film & Scho- 112. Vgl. auch Frank Kessler, »Attraktion, kolade. Stollwercks Geschäfte mit lebenden Spannung, Filmform«, montage/av, 2. Jg., Bildern(= K!Ntop Schriften 4), Stroemfeld Nr. 2 (1993), S. 117-126. Verlag, Frankfurt am Main, Basel 1999, S. 2 Trevor J. Pinch, Wiehe E. Bijker, »The 37-55; vgl. außerdem die Monographie von Social Construction of Facts and Artefacts: Laurent Mannoni, Georges Demeny. Pi- Or How the Sociology of Science and the onnier du cinema, Editions Pagine, Douai Sociology of Technology Might Benefit 1997. Each Other«, in: Wiehe E. Bijker, Thomas 9 Pinch, Bijker (Anm. 2), S. 40, Hervor- P. Hughes, Trevor J. Pinch (Hg.), The Soci- hebung im Original. al Construction of Technological Systems. 10 Wiehe E. Bijker, »The Social Con- New Directions in the Sociology and Histo- struction of Bakelite: Toward a Theory of ry of Technology, MIT Press, Cambridge, Invention«, in: Bijker, Hughes, Pinch London 1989, S. 22 und S. 24. (Anm. 2), S. 172. 3 John M. Staudenmaier, »Rationality 11 Ebenda, S. 168. Versus Contingency in the History of 12 Vgl. für einen ersten Blick auf Mess- Technology«, in: Merret Roe Smith, Leo ters Position gegenüber seinen Konkurren- Marx (Hg.), Does Technology Drive Histo- ten Deac Rossell, »Jenseits von Messter - ry? The Dilemma of Technological Deter- die ersten Berliner Kinematographen-An- minism, MIT Press, Cambridge 1994, S. bieter«, K!Ntop 6 (1997), S. 166-184. 261. 13 Wiehe E. Bijker, John Law, »Post- 4 Reinhard Rürup, »Die Geschichtswis- script: Technology, Stability, and Social senschaft und die moderne Technik. Theory«, in: Wiehe E. Bijker, John Law Bemerkungen zur Entwicklung und Pro- (Hg.), Shaping Technologyl Building Socie- blematik der technikgeschichtlichen For- ty. Studies in Sociotechnical Change, MIT schung«, in: Dietrich Kurze (Hg.), Aus Press, Cambridge, London 1992, S. 107. Theorie und Praxis der Geschichtswissen- 14 Kürzlich wurden viele von Mareys 77 chronophotographischen Bildserien auf 19 Photographische Nachrichten, 1890, S. 68. Film übertragen und können jetzt in Bewe- 20 Vgl. zu weiteren Details: Deac Rossell, gung auf Leinwand projiziert betrachtet »Some Entertaining Anschütz Picture-se- werden - was Marey seinerzeit nicht getan ries«, Filmblatt, Nr. 7 (Frühling/Sommer hat. Dieser Transfer auf Kinofilm verfälscht 1998), s. 22-25. die Präsentation von Mareys Artefakten 21 Vgl. als ausführlichste Studie zu aus den frühen 189oer Jahren in erheblicher Reynauds Leben und Werk: Dominique Weise. Auzel, Emile Reynaud et l'image s'anima, 15 Vgl. zu Anschütz und zur zeitgenössi- Editions du May, Paris 1992. schen Rezeption seiner Aufnahmen aus- 22 Bei 12 B/s ergeben 600 Phasenzeich- führlich Deac Rossell, Ottomar Anschütz nungen nicht einmal eine Minute Spielzeit. and His Electrical Wonder, The Projection Reynaud verlängerte die Spielzeit durch Box, London 1997; ders.: »Lebende Bilder. Wiederholung von Szenen, indem er das Die Chronophotographen Ottomar An- Bildband für komische und narrative Ef- schütz und Ernst Kohlrausch«, in: Susanne fekte mit zwei Handkurbeln vor- und zu- Höbermann, Pamela Müller (Hg.), Wir rückbewegte. Wunderkinder. 100 Jahre Filmproduktion 23 Bewegliche Glasbilder für den Einsatz in Niedersachsen, Gesellschaft für Filmstu- in der Laterna magica gehen bis mindestens dien e. V., Hannover 1995, S. 13-34. in das Jahr 1697 zurück; vgl. Hauke Lange- 16 Der kommerzielle Mißerfolg von Edi- Fuchs, »On the Origin of Moving Slides«, sons Kinetoscope in Deutschland ist wahr- The New Magie Lantern Journal, Vol. 7, scheinlich auf die weite Verbreitung von No. 3 (November 1995), S. 10-14. Anschütz' Schnellseher zurückzuführen, 24 Robert W. Paul, »Kinematographie der bewegte Bilder lieferte, die kürzer, aber Experiences«,journal of the Society of Mo- von höherer photographischer Qualität tion Picture Engineers, 27 (November waren. In Deutschland war das Kinetoscope 1936), abgedr. in: Raymond Fielding (Hg.), nicht eine derart überraschende Neuheit A Technological History of Motion Pictures wie in anderen Ländern. Die ersten Film- and Television, University of California projektionen wurden hier meist mit den Press, Berkeley 1967. Leistungen des Anschütz-Schnellsehers ver- 2 5 C. Francis Jenkins,Animated Pictures, glichen, was darauf hinweist, daß sie im Washington D. C. 1898. Gedächtnis der Zuschauer einen starken 26 Henry Hopwood, Living Pictures, Eindruck hinterließen. Zu den Schwierig- London 1899, S. 188. keiten des Kinetoscope auf dem deutschen 27 Cecil Wray, Improvements in Appara- Markt vgl. Loiperdinger (Anm. 8), S. 67-69, tus f or Exhibiting Kinetoscopic or Zoetropic 184-187. Pictures, englisches Patent 19181, 17 Daß sich Maler wie Frantisek Kupka, 31.8.1896, ausgegeben am 12.6.1897. Marcel Duchamp, Jacques Villon und An- 28 John Nevil Maskelyne, An Improved ton Giulio Bragaglia deutlich später, näm- Apparatus for Securing or Exhibiting in lich 1907- 1913, von Mareys Bildern inspi- Series, Records of Successive Phases of rieren ließen, spielt hier keine Rolle. Mein Movement, englisches Patent Nr. n639, Vortrag auf der Konferenz »Film. Litera- 28.5-1896, ausgegeben am 1.5.1897. F. Paul ture and Modernism, 1880 - 1940«, die vom Liesegang zufolge war dieser Apparat noch 13.-15.1.2000 am Centre for English Stu- 1908 im Woolwich Arsenal für Hochge- dies der University of London stattfindet, schwindigkeitsaufnahmen in Gebrauch; wird sich ausführlich mit Mareys Rolle für vgl. ders., »Konstruktionstypen des Kine- die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts matographen«, Physikalische Zeitschrift, 9. auseinandersetzen. Jg. (1908), Nr. 22, S. 744. 18 Photographische Correspondenz, 24. 29 Einen sehr erfolgreichen Filmprojek- Jg., 1887, s. 472-473. tor, der den Strahlengang bei der Projekti- on intermittierend unterbricht, konstruier- hann Falk, Carrette oder die Gebrüder te Emil Mechau 1912. Bis 1934 wurden 500 Bing diese Schrittschaltung in ihren Kin- Stück dieses sog. Mechau-Projektors her- der-Kinematographen. gestellt. 36 Vgl. zum Malteserkreuz auch Christi- 30 Charles Musser liefert eine gut ge- an Ilgner, Dietmar Linke, »V om Malteser- schriebene Geschichte der Laterna magica- kreuz zum Panzerkino«, in: Martin Loiper- Pra.xis; vgl. sein Eröffnungskapitel »T o- dinger (Hg.), Oskar Messter - Filmpionier ward a History of Screen Practice« in: der Kaiserzeit, Ausstellungskatalog des ders„ The Emergence of Cinema. The Filmmuseums Potsdam und des Deutschen American Screen to 1907, Charles Scrib- Museums München (=K!Ntop Schriften 2), ners' Sons, New York 1990, S. 16-54. Aller- Stroemfeld Verlag, Basel, Frankfurt am dings erwähnt er die Laterna magica auf Main 1994, S. 93-110. den verbleibenden 568 Seiten seines Buchs 37 Eine exzellente Darstellung dieses nicht wieder und verleiht ihr damit aber- Auswertungsmodus und seines Einflusses mals den Status eines Vorläufers. Vgl. auch auf die Filmproduktion in Deutschland fin- Deac Rossell, »Double Think: The Cinema det sich bei Corinna Müller, Frühe deutsche and Magie Lantern Culture«, in: John Ful- Kinematographie. Formale, wirtschaftliche lerton (Hg.), Celebrating 1895. The Cente- und kulturelle Entwicklungen, J. B. Metz- nary of Cinema, John Libbey, National ler Verlag, Stuttgart, Weimar 1994, vor al- Museum of Photography, Film and Televi- lem S. 10-102. sion, London, Sydney, Bradford 1998, S. 38 Vgl. dazu ausführlich Deac Rossell, 27-36. »A Slippery Job: Travelling Exhibitors in 31 Martin Loiperdinger bezeichnet das Early Cinema« (erscheint in dem von Si- frühe Kino deshalb als »Spätform der hi- mon Popple und Vanessa Toulmin bei storischen Projektionskunst«; vgl. ders., Flicks Books herausgegebenen Tagungs- »Plädoyer für das frühe Kino«, in: Ursula band Visual Delights. The Popular and Pro- von Keitz (Hg.),Früher Film und späte Fol- jected Image in the 19th Century der gen. Restaurierung, Rekonstruktion und gleichnamigen Konferenz an der Universi- Neupräsentation historischer Kinematogra- tät Sheffield im Juli 1999). phie (= Schriften der Friedrich Wilhelm 39 Vgl. etwa Vanessa Toulmin, »The Fair- Murnau-Gesellschaft, Bd. 6), Schüren Ver- ground Bioscope« und »Bioscope Biogra- lag, Marburg 1998, S. 75f. phies«, in: Colin Harding, Simon Popple J2 Vgl. das Kapitel über »lntermittent (Hg.),/n the Kingdom ofS hadows, A Com- Mechanisms« in: Cecil M. Hepworth, Ani- panion to Early Cinema, Cygnus Arts, mated Photography. The ABC of the Cine- London 1996, S. 191-206 und 249-261; matograph, Hazel, Watson & Viney, Lon- Fritz Peters, Freimarkt in Bremen. Ge- don 1900 (zuerst 1897), S. 23-51. Die von schichte eines Jahrmarkts, Schünemann, Hector Maclean besorgte zweite Auflage un- Bremen 1962; Mark E. Swartz, »An Over- terscheidet sich von der ersten, wie Maclean view of Cinema on the Fairgrounds«,Jour- bemerkt, nur durch ein zusätzliches Kapitel. nal of Popular Film & Television, Vol. 1 5, 33 R. B. Foster, Hopwood's Living Pic- No. 3 (Fall 1987), S. 102-108; Frank van der tures, The Hatton Press, London 1915, S. Maden, Mobiele Filmexploitatie in Neder- 105. Es handelt sich um eine selten zitierte land 1895 - 1913, Nijmegen 1981; vgl. auch revidierte Edition von Hopwoods Film- Anm. 40 und 42. technik-Klassiker (Anm. 26). 40 Harm Nijboer, Asing Walthaus, Geor- 34 Ebenda, S. 152. ge Christiaan Slieker, 1861 - 1945. De eer- 3 5 Ein Malteserkreuz konnte auch sehr ste bioscoopondernemer in Nederland, Pe- einfach und billig hergestellt werden: Von rio, Leeuwarden 1995, S. 7. 1899 bis in die 193oer Jahre verwendeten 41 Vgl. Florian Dering, Margarete Grö- Nürnberger Spielwarenhersteller wie Jo- ner, Manfred Wegner, Heute Hinrichtung. 79 Jahrmarkts- und Varieteattraktionen der 54 Verkaufskatalog Wolff's Film List. Ci- Schausteller-Dynastie Schicht!, Münchner nematographic Films, Apparatus & Accesso- Stadtmuseum, Edition Christian Brand- ries, July!August 1897, wieder abgedr. in: stätter, München 1990, S. 42. Victorian Film Catalogues, The Projection 42 Vgl. Vanessa Toulmin, Randall Willi- Box, Facsimile Series, No. 1, London 1996. ams, King of Showmen. From Ghost Show 5 5 Eine Ausnahme sind Gebrüder Stoll- to Bioscope, The Projection Box, London werck, welche die in Deutschland laufen- 1998, s. 20-23. den Lumiere-Apparate bereits im Januar 43 Georg Furkel, »35 Jahre Kamera- 1897 gekauft haben und weiterverkauften; mann«, Filmhistorische Rundschau, Beilage vgl. dazu Loiperdinger (Anm. 8), S. 177- zu Der Kinematograph, Nr. 1, 2.z.1932. 180. 44 Ilgner, Linke (Anm. 36), S. 103. 56 Problematisch war beim Cinemato- 45 Martin Loiperdinger, »1896 -The Ar- graphe Lumiere allerdings das Flimmern rival in Germany of the Cinematographe des Projektionsbilds, hervorgerufen durch Lumiere / L'arrivo in Germania de! Cine- die Form der Blende sowie die Schritt- matographe Lumiere nel 1896«, in: Paolo schaltung des Greifers, der zwar in Filmka- Cherchi Usai, Lorenzo Codelli (Hg.), Be- meras, nicht aber in Filmprojektoren bei- fore Caligari. German Cinema, 1895-1920 behalten wurde: Im Verhältnis zum / Prima di Caligari. Cinema tedesco, 1895- Stillstand des Films vor der Projektionsöff- 1920, Le Giornate de! cinema muto/Edi- nung war die für den Transport des Film- zioni Biblioteca dell'Imagine: Pordenone bands von einem Bildkader zum nächsten 1990, s. 40. benötigte Zeit zu lang. 46 Gunnar Sandfeld, Den stumme Scene, 57 Der Cinematographe Lumiere ist 19,1 NYT Nordisk Forlag, Arnold Busck, Ko- cm breit, 12,9 cm tief und 19 cm hoch. Mit penhagen 1966, S. 16. der aufgesetzten Rohfilmkassette mißt er in 47 Vgl. Geoffrey Donaldson, »W ie is Wie der Höhe 28,5 cm; vgl. Pete Ariel,Ariel Ci- in de nederlandse film tot 1930: Olinka nematographica Register, Bd. 4, Deutsches (Madame)«, Skrien, No. 127 (Mai/Juni Filmmuseum, Frankfurt am Main, Nr. 986. 1983), s. 26-27. 58 Anschütz' berühmte Handkamera, die 48 Vgl. John Barnes, The Beginnings ab 1890 von Goertz vertrieben wurde, ist of the Cinema in England, Vol. 1: 1894 - 20 cm breit, 13 cm tief, 20 cm hoch und 1896, durchgesehene und erweiterte 2. wiegt 3,3 Kilogramm; vgl. Helmut Kum- Auflage, University of Exeter Press, Exeter mer, Ottomar Anschütz. Ein deutscher 1998. Photopionier, Institut für Photogeschichte, 49 Richard Brown, »Sandow, Eugene München 1983, S. 54. (Frederick Muller)«, in: Stephen Herbert, 59 Auguste und Louis Lumiere, Appareil Luke McKernan (Hg.), Who's Who of Vic- de vision directe des epreuves chronophoto- torian Cinema, BFI Publishing, London graphiques dit ,Kinora,, französisches Pa- 1996, s. 127. tent Nr. 323667, 10.9.1896. 50 Der Komet, Nr. 715, 3.12.1898; Nr. 60 Gaumont gab 1900 eine Verkaufsliste 774, 20.z.1900; Nr. 617, 16.z.1897. von hundertKinora-Bildwalzen heraus, die 51 Werbung von Alfred Wrench, Optical von Lumiere-Filmen gezogen waren. Vgl. Magie Lantern Journal Almanac, 1896/97 Stephen Herbert, »Kinora Living Pic- (August 1896), S. LXIX. tures«, Photo Historian 95 (Winter 1991 ), S. 52 Werbung von H. 0. Foersterling & 104 - 113. Barry Anthony, The Kinora Mo- Co., Der Komet, Nr. 592, 25.7.1896. tion Pictures for the Home 1896 - 1914, The 53 Guido Seeber, »Die ersten Jahre ... «, Projection Box, London 1996, listet über Die Filmtechnik, 3. Jg., Nr. 18 (1927), S. 350 erhaltene Kinora-Bildtrommeln auf, 327. Für diesen Hinweis danke ichJeanpaul unter denen einige die einzigen überliefer- Goergen. ten Kopien früher Filme sind. So 61 Einige Hinweise enthält eine Auswahl DES ZUGS. Gründungsmythos eines neuen aus der Lumiere-Korrespondenz: Jacques Mediums«, K!Ntop 5 (1996), S. 61-66. Rittaud-Hutinet (Hg.), Auguste et Louis 63 ,Klassiker, des Lumiere-Kanons wie Lumiere. Correspondances 1890 - 1953, L'ARRIVEE D'UN TRAIN A LA CIOTAT und Cahiers du Cinema, Paris 1994, S. 56-62, BARQUE SORTANT DU PORT sind nur als Re- 97-98, 104, 113, 117-II8; vgl. als kurzen make bekannt. Überblick: Deac Rossell, Living Pictures. 64 Musser (Anm. 30), S. 16. The Origins of the Movies, State University 65 Ebenda. of New York Press, Albany 1998, S. 71-74. 66 Vgl. Anm. 1. 62 Vgl. zum Amateuraspekt dieses Films: Martin Loiperdinger, »Lumieres ANKUNFT 81 82 LUDWIG VOGL-BIENEK Skladanowsky und die Nebelbilder »Zum ersten Male in Berlin: Anerkannt größtes Welt-Diophrama« Für den 18. und 19. November 1879 kündigt die Berliner Flora eine »V olks- und Schülervorstellung« an, geleitet vom »Physiker C. Skladanowsky«, »hier angekommen aus den Niederlanden (Holland) von Rotterdam und der schö- nen Residenzstadt Haag.«' Mit dieser Aufführung debütiert ein neues Unternehmen auf dem Parkett der gewerblichen Lichtspielunterhaltung. Für den Berliner Carl Sklada- nowsky war der tatsächliche Reiseweg zwar nicht ganz so weit, wie der An- kündigungszettel glauben macht, die großartig herausgestellte Herkunft paß- te aber zum Programm. Scharlatanerie in der Publikumswerbung gehört eben zu den Gepflogenheiten des Gewerbes, in dem er Fuß fassen wollte. Auch der »Physiker« ist in diesem Sinne zu verstehen. Gemeinsam mit seinen Söhnen Max und Emil trat Carl Skladanowsky an diesen beiden Tagen zum ersten Male an die Öffentlichkeit, mit einem Nebelbilderprogramm (nichts anderes verbirgt sich hinter dem exotisch klingenden Phantasiebegriff »W elt-Diophra- ma«), das viele Attraktionen jenes seinerzeit populären visuellen Mediums präsentierte. Max Skladanowsky erinnert sich später: »Am 18. November 1879 hielt mein Vater zum erstenmal einen wissenschaftlichen Vortrag in der Berliner Flora, dem späteren Apollo-Theater in der Friedrichstraße zu Berlin, bei dem ich den großen Doppel-Projektionsapparat bediente, der die zum Vortrag nötigen Lichtbilder riesengroß auf die Leinwand warf .« 2 Der Erfolg stand offensichtlich auf der Seite des neuen Unternehmens: Sei- ne Darbietungen finden sich in den folgenden beiden Dekaden in ganz Deutschland und in Städten des europäischen Auslands wie Wien, Prag oder Christiania, dem heutigen Oslo.J Die mannigfaltigen, aufwendigen Produk- tionen, mit denen sie hervortraten, räumen den Skladanowskys - auch in ge- stalterischer Hinsicht - einen hervorragenden Platz in der zeitgenössischen Unterhaltung mit bewegten Bildern ein.4 Heute verbindet sich der Name Skladanowsky nur noch mit einer einzigen Produktion, demBioscop, einer Abwandlung des Nebelbildapparates zur Pro- jektion lebender Photographien auf Filmstreifen. Das Bioscop kam im No- vemberprogramm des Berliner Wintergarten 189 5 erstmals zum Einsatz.5 Seit den 192oer Jahren wird eine heftige Kontroverse geführt, ob diese Aufführun- gen den Ehrentitel beanspruchen können, die »ersten« Filmvorführungen in Europa gewesen zu sein. Die vielfältigen, mediengeschichtlich höchst auf- schlußreichen Schaustellungen der Skladanowskys wurden dariiber vergessen oder zum belanglosen Präludium herabgewürdigt. Es ist dabei niemandem »Unrecht geschehen«: Max Skladanowsky selbst beanspruchte dieses Erst- lingsrecht und stellte alle friiheren Angebote des eigenen Familienunterneh- mens aus der Perspektive seiner angeblichen »Erfindung des Films« dar. Der bruchstückhafte »Nachlaß Max Skladanowsky« im Bundesarchiv- Filmarchiv wurde bisher von Filmhistorikern nur selektiv konsultiert. Er ent- hält aussagekräftige Quellen zu einem spannenden, aber noch unerforschten Kapitel der Mediengeschichte, das im folgenden skizziert werden soll. » Viele Bilder riefen wahre Sensationen hervor«6 -Die Nebelbilder aus dem Repertoire der Skladanowskys Bei der Sichtung des Nachlasses faszinieren zuerst die 143 erhaltenen »Nebel- bilder«/ Unter diesem Stichwort sind alle Projektionsbilder für öffentliche Auftritte archiviert, auch wenn sie nicht speziell für Über- oder Einblendun- gen konzipiert waren. Diese Zuordnung entspricht dem zeitgenössischen Ge- brauch des Begriffs, da er häufig als Synonym für Projektionsaufführungen im allgemeinen verwendet wurde. Die Bilder zeichnen sich durch hohe maleri- sche Qualität aus, verfügen teilweise über differenzierte Mechanismen der Bildbewegung und verraten einen komplexen Aufbau der Bildsequenzen. Der größte Teil dieser Bilder wird ungerahmt in Kästen aufbewahrt. Einige befin- den sich bereits in Holzrahmen, die für die Aufnahme der Bilder vorbereitet waren, um sie registriert (d . h. justiert zur deckungsgleichen Projektion) in den Nebelbildprojektor einsetzen zu können. Die Bilder messen in der Regel 4 x 4 Zoll bzw.11,7 x 11,7 cm. Dieses ungewöhnlich große Format erlaubte ein ge- naueres Arbeiten beim Malen der Bilder sowie große, lichtstarke Projektio- nen. Es stellte jedoch hohe Anforderungen an die optischen Bauteile der Pro- jektionsapparate, die von den handelsüblichen Geräten nicht erfüllt wurden. Einige der Bilder haben sogar das noch größere Format von 6 x 6 Zoll bzw. 17 ,4 x 17,4 cm - Bilder dieser Größenordnung sind mir sonst nur aus der Roy- al Polytechnic Institution in London bekannt.8 Die mechanisch beweglichen Bilder befinden sich mit dem jeweiligen Schiebe-, Hebel- oder Zahnradmecha- nismus9 in Holzrahmen. Sie zeigen drehende Mühlräder, einen fahrenden Zug, lodernde Flammen, einstürzende Gebäudeteile etc. In der Regel sind die Bilder auf Glas gemalt, es finden sich aber auch ver- einzelt Photographien. Eine Reihe von Bildern zu Nansens Polarexpedition (1893 - 1896) enthält sowohl eine kolorierte Photographie der »Fram« als auch Abb. S. 85: Die Ruinen der Moosburg bei Tag und bei Nacht. Farbiges Projektionsbild, signiert von Max Skladanowsky, Vier-Zoll-Format, ungerahmt. Bundesarchiv. ein gemaltes Nebelbild dieses Schiffes mit einer Einblendung von Elmsfeuer und Nordlicht sowie weitere gemalte Darstellungen. Die Vier-Zoll-Bilder sind zum Schutz mit Deckgläsern gebunden und wir- ken zum großen Teil einheitlich konfektioniert. Es ist durchaus denkbar, daß sie aus dem Angebot von gewerblichen Herstellern wie dem Optischen Insti- tut Krüss in Hamburg stammen. Die Sechs-Zoll-Bilder sind wahrscheinlich alle von Max Skladanowsky selbst gemalt worden. Eine Tag-N acht-Überblen- dung von den Ruinen der Moosburg' 0 ist von ihm mit einem Min einem ge- schwungenen S signiert. In weiteren Kästen befinden sich Glasdiapositive im genormten Format 3 Y-1 x 3 Y-1 Zoll (8,4 x 8,4 cm) bzw. 9 x 12 cm. Die dargestell- ten geographischen und astronomischen Themen können Elemente der Auf- führungstätigkeit gewesen sein, vielleicht entstammen sie aber auch einer spä- teren Produktions- und Handelstätigkeit Max Skladanowskys. Die Bildserien lassen Schlüsse darauf zu, wie sie gezeigt wurden, auch wenn sie oft nicht vollständig erhalten sind. Von einer Sequenz mit dem Schloss Amboise an der Loire sind z.B. ein Tag- und ein Nachtbild bei den ungerahmten Sechs-Zoll-Bildern aufgelistet (das Tagbild fehlt allerdings). Hinzu kommen gerahmte, bewegliche Bilder für Einblendungen, eine Dop- pelblitzplatte, ein Regenbild und eine Brandplatte. Um neben der Überblen- dung von Tag zu Nacht auch strömenden Regen, einschlagende Blitze und aus dem Schlosse lodernde Flammen einblenden zu können, sind vermutlich min- destens drei Projektionseinheiten für die Vorführung eingesetzt worden. An- dere Effekte lassen sich dagegen problemlos mit nur zweien darstellen, wie das Wellhorn im Berner Oberland, das durch Vorschieben eines Blaufilters in tie- fer Abenddämmerung versinkt und mit einem Male, durch Einblendung leuchtender Berggipfel aus einer zweiten Laterna magica, im Alpenglühen er- strahlt. Kleine Notizen und Einkerbungen auf den Bildern machen die individuel- le Arbeitsweise der Projektionskünstler dieser Zeit deutlich. Vor allem muß- ten die Bilder für Ein- und Überblendungen an der Leinwand präzise zur Deckung gebracht werden. Wer keine konkreten Erfahrungen mit den spezi- ellen Bildern des jeweiligen Programms hatte, wäre dazu kaum in der Lage gewesen, zumal die Bilder in schnellem Wechsel ausgetauscht werden mußten. Allein für die Aufführung der »Original-Riesen-Welt-Tableaux« wurden über 300 Verwandlungen auf den Plakaten angekündigt." Dies heißt nicht grund- sätzlich, daß sie nur der Projektionskünstler-Unternehmer selbst zeigen konn- te, aber auch angestellte Vorführer mußten mit dem spezifischen Material der einzelnen Aufführungsprogramme gut vertraut sein - im Gegensatz zu den späteren Filmvorführern, die den für alle Filme gleichen Projektionsmecha- nismus unabhängig vom jeweiligen Film zu bedienen haben. Besonderes Augenmerk verdienen zehn fein gemalte Chromatropen im großen Sechs-Zoll-Format." (Chromatropen sind projizierte Farbenspiele, bei denen zwei gleiche runde, auf Glas gemalte Ornamente in entgegengesetz- 86 PROGRA.1111 dar Wandel- ~CbC (b i (bCr geleitet vom Physiker C. Skladanowsky. 1. THEIL. J. Wolken. 2. Am Nilufer in Egypten. S. Wildbad Gaal.ein. 4. Lohmen in der Sir.h,iachen Schweiz. 5. Bchlnu Auguatenbnrs in der Bichaiachen Br.hweiz (eine Kuh geht im Waeaer und oluft). 6, Eine hollinder MOhle bei Doppel (dieaelbe dreht aicb). 7. Paria. 8. V eaedig. 9. Bchloae Ferrierea bei Paria; ein Luf"tballoa aieht •orOber. 10. Der Calvarienberg in der Adelberger Grotte (dieeelbe bengaliaeh erleuchtet). 11. Tropfateinhöble itn Harz. 12. Am Nord- pol (ein Nordlieht Hammt am Horizont). 1S . Eine Durrhfahn zwiechen den Eia-lnaeln am Nordpol. 14. Daa Franziakaner Klo,ter bei Barago1aa. 1ö . Dorf SplOgen. 16. Kirche d•r heilisen Minyrer in Barragoua bei Tag und dann bei Nacht. 17. Kairo bei Nacht. 18. Die FelaeabrOcke der Rigibahn Ober den Schnnrtobl. 19. Die Mitteraacht1tunde in dem Franzi1kaner Kfo1ter ca Wien. 20. Du Ponal zur heiligen Orabeakirche in Jeruaalem. 10 Miauten Pauee. II, THEIL. J, Wolken. 2. Seebad lnterlaken (ein Begelachill' fähn vorOber). 9. Die Rembran, Mahle im Schwarzwolde im Sommer und Winter. 4. Die Hei11igen Arbeiter im Weinberge dea Herm. ö. Bcblou Wanrick in Cutle (ein Schwaan 1chwimmt vorOberJ. 6. Die EiHD• bahnbrOcke Ober den Hojo in Amerika mit Ei,enbahnzus, 7. Kreuz- gang dea Klnaterw su Pi.•ia (ein Leichenzug zieht vorOber). 8. Der Zailberganen, Roaen blOhen. 9. Der Löwenhnf in der Alhambra n Spanien (mit IJ>ringender Fontaine). 10. Die blaue Grotte auf der ln1el Capri bei Neapel, Rei•ende erleuchten dieeelbe duroh ben• galiach Feuer. II. Der Dom zu Mailand bei Tag und bei Abend, die Kin:ho Rillt 1ir.h allmllis mit Men1chen an. 12. Daa Wetter- bon, in der Schweiz (Nacbil11nd1r.hall - ea wird Tog - die Sonne erglObt am Horizont und beleuchtet die Berppitzen) 18. Kloater Berclttugaden (im Vordergrunde bewegt a1ch eine l'rnaeuion •••· Gbar. 14. Die BeauhOlle zu Brientz bei Tag und Nacht (ein ••· liebandea Gewitter •erdunkelt die Landochall, nar.h mehrmaligen Blit.un echlAgt denelbc in daa Haua ein, die Flammen achlagen beweglioh benor, daa Haue brennt - die rwuchenden TrOmmer werden vom Houd beleuchtet). Nar.htbild. 10 Hinnten Pauoe. m.THEIL. '!)a.s gltärcf>en i,om ~tord). Des Kriegers Traum, seine Familie erscheint ihm. Wt'aJllrd)e ~pm. Jllun,mJlifd)e Jaullerittbff. WOTo ,~At. ~n-agmbff beutrd)eT ilf.tnnff unb ~~Qllffl. IB&inelirc&e !!ladmfDieCe etc. te Richtung gedreht werden. Projiziert erinnern sie an farbenprächtige goti- sche Kirchenfenster, die in der Bewegung zusätzlich einen kaleidoskopähnli- chen Effekt entwickeln.) Sie wurden offenbar mit einem Nebelbildapparat im Zirkus Renz in Berlin eingesetzt, den Max Skladanowky eigens für diesen Zweck konstruiert hatte. Zglinicki berichtet (ohne Quellenangabe), daß damit »verschiedene Teppichmuster zu den Tänzen des Balletts in das Manegenrund geworfen«'J wurden. Diese Darbietung verdeutlicht das breit gefächerte Ein- satzgebiet der historischen Projektionskunst. Das genannte Gerät wurde bei Renz auch für weitere Projektionen verwendet. Eines dieser Bilder, es ist heu- te leider zerbrochen, zeigt einen Kranz von Rosen, der am 26. Januar 1895 zusammen mit einem Bild des Kaisers projiziert wurde. Die Berliner-Börsen- Zeitung berichtet von dem »Kaiser-Geburtstags-Umzug im Zirkus«, »über- ragt von dem gut gelungenen Transparentbild des Kaisers in Husaren- Uniform mit einem sich drehenden Kranz aus Rosen, unter blendender elek- trischer Beleuchtung. Das Publikum nahm diesen spontanen Huldigungsakt mit Begeisterung und unter stürmischem Hervorruf des Direktors auf.« 14 Einen Eindruck vom Ablauf einer Aufführung gibt das abgebildete Plakat mit einem »Programm der Wandel-Nebelbilder geleitet vom Physiker C. Skla- danowsky« aus dem Jahre 1893. Attraktionen der Projektionskunst, Verwand- lungen und Bewegungen in den bunt gemischten Landschaftsdarstellungen werden als Anreiz auf dem Plakat einzeln dargestellt. Die Wolken als Eröff- nungsbild des ersten und zweiten Teils lassen bereits eine gezielte Festlegung der Bildfolge erkennen, auch wenn bisher keine Quelle verrät, wie die an- schließende, zunächst disparat wirkende Programmfolge durch Vortrag oder Musik zusammengeführt wurde. Heutige Erfahrungen mit experimentellen Neuinszenierungen von Nebelbildern zeigen, daß musikalisch begleitete Pro- grammfolgen mit sehr unterschiedlichen Motiven als sehr reizvoll empfun- den werden.'! Das Inszenierungsprinizip einer Nummernfolge muß nicht zwangsläufig von einer inhaltlichen Folgerichtigkeit bestimmt werden. Die umfangreichste Bildsequenz wird als Schlußnummer und Höhepunkt der pit- toresken Landschaften ausführlich angekündigt. Sie wird von Max Sklada- nowsky so beschrieben: Zu meinem großen Bild ,Der Brand der Sennhütte zu Brienz, waren allein vier Ein- zelbilder nötig: Zuerst erschien die Schweizerlandschaft mit der Hütte bei Sonnen- untergang. Langsam verfinsterte sich das Bild durch heranziehende Gewitterwol- ken. Im zweiten Apparat war inzwischen die Blitzplatte eingesetzt worden. Durch schnelles Öffnen und Schließen des Objektivverschlusses war die Täuschung des Blitzes vollkommen. An Stelle des Blitzbildes wurde nun das dritte Bild, die Brand- platte eingesetzt, die langsam auf dem Shirtingvorhang erschien. Eine runde Glas- platte mit rot gemalten Flammenbündeln wurde in Drehung versetzt und zeigte die Sennhütte von Flammen eingehüllt. Langsam erschien dann das vierte Bild. Der Mond stieg herauf und beleuchtete eine Ruine ... 16 88 Mit dem Nachtbild klingt dieser Teil aus. Der dritte Teil präsentiert neben dem Märchen beliebte Projektionseffekte, wie das Nebelbild von des Kriegers Traum, dem seine Familie erscheint, oder das schillernde Farbenspiel der Chromatropen, das offensichtlich in kaum einer Nebelbildaufführung fehlte. Ob hier von einer typischen Nebelbild-Vorstellung gesprochen werden kann, ist schwer zu beurteilen; ich gehe eher davon aus, daß die Aufführungen im Ablauf sehr individuell gestaltet waren. '7 Das Nummernprinzip ist jedoch häufig bei Nebelbildern zu finden und entspricht auch den Gepflogenheiten von Variete- und Zirkusaufführungen. Die bisher bekannten Programmzettel und Plakate der Skladanowskys sprechen dafür, daß Aufführungen, die sie al- leine bestritten, immer nach dem Nummernprinzip in mehreren Abteilungen gestaltet waren. Die archivierten Bilder zeigen, ähnlich dem beschriebenen Aufführungs- programm, einen deutlichen Schwerpunkt bei den landschaftlichen Dar- stellungen, sei es als pittoresk-romantische Bildverwandlung oder als Rei- sebeschreibung.18 Die bei Nebelbild-Vorstellungen häufig anzutreffende Verbindung von »belehrender und angenehmer Unterhaltung«'9 findet sich auch in den Themen und Motiven der Skladanowsky-Bilder. Weitere Doku- mente des Nachlasses wie z.B. die zahlreichen Werbezettel für Schulen bestä- tigen diese Mischung des Angebots. Um die Programme besonders reizvoll auszustatten, standen farbenpräch- tige Chromatropen und humoristische Zauberbilder zur Verfügung, wie das Bild vom Metzger, der einen Schweinskopf auf dem Tablett trägt: Als wäre es Zauberei sitzt mit einem Male der Schweinskopf auf des Metzgers Schultern, während der seine auf dem Tablett liegt. Auf Plakaten wird diese Art Bilder als »Humoristisches Potpourri« angekündigt, »welches durch Verwandlungen überrascht und durch zauberische Farbenpracht und Lichtfülle entzückt.«'0 Als Aufführungsmedium konstituieren sich die Nebelbilder erst in der Präsentation durch verschiedene Akteure. Die Bilder und Bildsequenzen ste- hen im Mittelpunkt elaborierter Inszenierungen, die häufig in aufwendigen Bühnenbildern dargeboten werden. Durch die Gestaltung der Bildfolge und ihres Rhythmus wird der Aufführungsablauf über die Bildebene dramatur- gisch strukturiert. Die Ästhetik der Bildgestaltung erhält bereits durch die Bewegung ein zeitliches Element, Wirkungen, die sich aus der Abfolge erge- ben, treten hinzu. Von zentraler Bedeutung für das Erlebnis der Zuschauer ist aber auch, was sie zu den Bildern hören. Über die auditive Seite (Sprache, Geräusche, Musik, Gesang) in den Aufführungen der Skladanowskys ist bis- her nur wenig bekannt. Es ist davon auszugehen, daß sie im Sinne eines wir- kungsvollen Ganzen ebenso zielbewußt gestaltet war wie die Bilder selbst. Carl Skladanowsky galt als »gewandter Redner«" und beschränkte seine Be- gleitvorträge gewiß nicht auf die notwendigen Erläuterungen allein, sondern suchte auch durch gewählte Wendungen und die Art des Vortrags sein Publi- kum zu faszinieren. Max Skladanowsky vergleicht die Darbietungen später mit »Tonbildern«,22 was als Hinweis auf musikalische Begleitung zu werten ist.'l In den Varietes war Begleitmusik durch Salonorchester üblich. Im Reise- theater der Skladanowskys (siehe Abb. ihrer »Holzbude für Messen und Märkte«) war vor der Bühne ein Platz für Musiker vorgesehen. Die Freund- schaft der Familie Skladanowsky mit dem Kapellmeister des Berliner Winter- gartens Hermann Krüger2 • ist ein weiterer Hinweis, daß ihnen Musik als Mit- tel der Aufführungsgestaltung sehr vertraut war. Definitiv bekannt, wenn auch nicht vollständig erhalten, ist die Orchestermusik zu den Bioscop-Aufführun- gen im Berliner Wintergarten.21 Ein breites Spektrum visueller Schaustellungen »Im Volksmund hießen diese Vorführungen >Nebelbilder<, auf den Program- men standen aber hochtrabende Namen.« 26 Mit diesen Worten beschreibt Max Skladanowsky eine im Metier übliche Gepflogenheit des Unternehmens, mit glanzvollen Worten um die Gunst des Publikums für die Darbietungen zu werben. Auf den im Nachlaß erhaltenen Werbematerialien, Plakaten etc.27 fin- det sich eine große Zahl verschiedener Titel, unter denen die Produktionen aus dem Repertoire der Skladanowskys angekündigt wurden. Sie sind nicht nur mit Nebelbildern aufgetreten, sondern auch mit einer heute noch weniger be- kannten Aufführungsform bewegter Bilder: dem mechanischen Theater, das als» Theatrum Mundi« oder» Welttheater« zu dieser Zeit bereits über eine lan- ge Tradition verfügte. Aus einem Dresdner Ausstellungskatalog von r 984 geht hervor, daß im 19.Jahrhundert eine große Zahl von Unternehmen mit mecha- nischen Theatern unterwegs war. Es handelt sich dabei offenbar um die letzte relevante Publikation zu diesem Thema.28 Die berühmte Münchner Jahr- markts-Dynastie Schicht! ist ein Beispiel dafür, daß auch andere Schausteller sowohl Nebelbilder als auch mechanische Theater im Programm hatten.29 Aus den Dokumenten im Skladanowsky-N achlaß geht hervor, daß mecha- nische Theater und Nebelbilder in denselben Aufführungsprogrammenge- zeigt wurden. Vermutlich standen die mechanischen Theater zeitweise sogar im Mittelpunkt der Aufführungstätigkeit des Unternehmens.3° Inwieweit Carl Skladanowsky an den Aufführungen mit den mechanischen Theatern noch beteiligt war, läßt sich gegenwärtig nicht beurteilen. Jedenfalls finden sich in den Jahren nach r 89 0 viele Ankündigungen, die nur noch die Gebrüder Skladanowsky bzw. ihr Pseudonym Gebrüder Hamilton erwähnen.3' Ein Werbeprospekt für das »Hamilton-Theater« beschreibt ein aufgeführtes Pro- gramm in vier Abteilungen: Der geheimnisvoll arbeitende Mechanismus der Figuren, Wagen, Schiffe, Eisenbah- nen etc. ist nach eigenen Erfindungen angefertigt; die heiteren und seriösen Dar- stellungen auf offener Scene sind der Natur direct abgelauscht und denkt man sich 91 in die Wirklichkeit versetzt beim Anschauen all dieser Wunder - greifbar plastisch erscheint Alles. [ ...] r. Vom Morgenlicht umflossen zeigt sich uns das Strassenleben in allen seinen Be- gebenheiten. Ueber die Bühne schreiten wunderbare Gestalten, der Gang, die Hal- tung, so recht nach dem Leben gebildet. Auf dem Bycicle und Trycicle tummelt sich die junge Welt, zwischen den Spaziergängern hindurchfahrend. [ ...] 2. Die Wandeldecoration setzt sich in Bewegung, die Gebirgswelt umfängt den Zu- schauer. Ein Maler schlägt vor unseren Blicken seine Staffelei auf und conterfeit die herrliche Landschaft. Einen Jäger treibt es hinaus sein Weidmannsglück zu wagen [. .. ]. 3. Sagenhaft türmt sich das Meer vor unseren Blicken auf, belebt durch ein in die Feme eilendes Kauffahrtseilschiff. [ ...] Blitze durchzucken die finstere Wolken- wand [ ...] und in Trümmer liegt das stolze Schiff, ein Opfer der entfesselten Ele- mente, langsam versinkt das Wrack. 4. Im Morgennebel breitet sich New York mit der Riesenbrücke vor unseren er- staunten Augen aus. Im Hafen zeigt sich das New-Yorker Leben in seinen Schattie- rungen.32 Neben dem »Hamilton-Theater« existierte im Repertoire der Skladanowskys noch ein »Elektro-Mechanisch-Pyrotechnisches-Marine-Wasser-Schauspiel- Theater«, in dem auch pyrotechnische Effekte zum Einsatz kamen, und die Wandeldekoration »Eine Exkursion von London bis San Franzisco«.JJ Abge- sehen von der Wandeldekoration waren die mechanischen Theater für Auffüh- rungen in Varietes wie dem Frankfurter Orpheum34 konzipiert. Sie wurden aber auch in einer 1890 konstruierten »Holzbude für Messen und Märkte« gezeigt, deren Bühnenaufbau für das mechanische Theater eingerichtet war. Die Entwurfszeichnung läßt erkennen, daß eine Stellfläche von 162 m2 benö- tigt wurde und 400 Besucher Platz fanden. Der Raum vor der Bühne war ähn- lich einem Orchestergraben für die Musikbegleitung eingerichtet. Die Wan- deldekoration war ebenfalls für Festplätze ausgelegt, benötigte jedoch nur 40 m2 Stellfäche. Der kreisförmige Aufbau umschließt einen Zuschauerraum von vier Metern Durchmesser mit 24 Sitzplätzen.35 Es ist nicht klar erkennbar, wie das Programm »Eine Exkursion von London bis San Franzisco« dargeboten wurde. Die Konstruktionszeichnung läßt jedoch vermuten, daß trotz des kreisförmigen Aufbaus keine Panorama-Rundumsicht zu sehen war. Die Zuschauer blickten vermutlich zu einem Sichtfenster, in dem die me- chanische Verwandlung der Bilder in der Art einer beweglichen Theaterkulis- se oder eines beweglichen Panoramas gezeigt wurde, vielleicht ergänzt durch mobile Figuren, Schiffe etc. Eine auf das Blatt notierte Überschlagsrechnung für Höchsteinnahmen pro Stunde kalkuliert 19 Mark bei 190 Besuchern. Dar- aus ergeben sich acht Zuschauerwechsel in der Stunde, es standen also 7 1h Minuten für die Darbietung sowie Ein- und Auslaß zur Verfügung. Der Ein- trittspreis betrug 10 Pfennige. 92 Für künftige medienhistorische Recherchen werden hier die bisher bekannten Titel von Darbietungen aus dem Repertoire der Skladanowskys aufgelistet. Die Zuordnung unterscheidet nach Nebelbildern und mechanischen Theatern. 1. Nebelbilderprogramme: - »Anerkannt größtes Welt-Diophrama« - »Großes Programm der Wandel-Nebelbilder« - »Nebelbildervorstellung von Prof. Morrieux und Söhne« - »Erstes Illuminativ-Theater Deutschlands« - »Erstes Illuminativ-Theater Deutschlands vom Theater des Crystall-Pala- stes in Leipzig« - »Nebelbildervorstellung der Direction Skladanowsky. Erstes Illuminativ- Theater Hollands« - »Erstes wissenschaftliches Theater« - »Riesen-Gala-Parade« - »Original-Riesen-Wandel-Diorama« (Da bisher keinerlei Anzeichen für Produktion oder Aufführung eines »Dioramas« im Sinne eines Transpa- rentgemäldes zu finden sind, kann davon ausgegangen werden, daß unter dieser Bezeichnung auch Nebelbilder gezeigt wurden; dieser populäre Name wurde auch in anderen Fällen für die ähnlich wirkenden Bildver- wandlungen in projizierter Form eingesetzt.J6 ) - »Original-Riesen-Welt-Tableaux« (Die Verwendung des Begriffs »Welt« erweckt einerseits den Eindruck von Größe und Grenzüberschreitung und schließt andererseits an die seit dem 18. Jahrhundert unter dem Namen »Welt-Theater« oder »Theatrum Mundi« bekannten mechanischen Thea- ter an. Die Verwendung von »T ableaux« verweist traditionell eher auf Pro- jektionsbilder.) - »Riesen-Welt-Tableaux« - »Original-Kaiser-Diorama« (Die Benutzung des Zusatzes »Kaiser« soll augenscheinlich an den Erfolg von Fuhrmanns »Kaiserpanoramen« an- schließen.) - »Bioscop« (in der Kontinuität der Aufführungspraxis der Skladanowskys als Sonderform den Nebelbildprojektionen zuzuordnen.) 2. Mechanische Theater und Wandeldekoration: - »Original-Welt-Theater« - »Hamilton-Theater« - »Elektro-Mechanisch-Pyrotechnisches-Marine-Wasser-Schauspiel-Thea- ter« - Wandeldekoration »Eine Exkursion von London bis San Franzisco« (Bei der » Wandeldekoration« handelt es sich vermutlich um eine Abform des beweglichen Panoramas.J7) 93 tfof'f .~ · r Holzbude für Messen und Märkte: » Vorderansicht 60 Fuß lang; numerierter Stuhlsitz: 42; Sperrsitz: 94; Parquet: 160; Gallerie: 100«. Skizze. Bundesarchiv. Die Branche der Skladanowskys: Lichtspielunterhaltung im 19. Jahrhundert Schon allein die Notwendigkeit, mit großspurigen Titeln um die Gunst des Publikums zu werben, verdeutlicht, daß es sich bei den Darbietungen der Skladanowskys nicht um eine singuläre Erscheinung handelte. Die Unterhal- tung mit Lichtspielen und bewegten Bildern, nach heutigen Begriffen mit »vi- suellen Medien«,J8 war spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Wachstumsmarkt, um den eine steigende Zahl von Unternehmen konkur- rierte. Reisende Projektionskünstler wie die Skladanowskys präsentierten Nebelbilder etc. in Theatern, Varietes, Gasthaussälen oder auch in eigenen mobilen Theatern (»Buden«) auf Messen und Märkten. Daneben existier- ten ortsfeste Einrichtungen, wie das am Gedanken der Volksbildung orien- tierte Urania-Theater des Nebelbildkünstlers Carl Willmann in Hamburg,J? in denen Nebelbilder fester Bestandteil des Programms waren. Selbst Gast- häuser verfügten über eigene Nebelbildapparate für gelegentliche Auffüh- rungen. 94 Carl Skladanowskys Entscheidung mit Nebelbildern aufzutreten ist selbst ein deutlicher Hinweis, daß dieses populäre Medium damals ein erfolgverspre- chendes Gewerbe war. Denn es handelte sich dabei um einen ökonomisch motivierten Branchenwechsel: Als Steinpappenfabrikant hatte Carl Sklada- nowsky seit 18 55 Stuckimitate produziert.40 In den Gründerjahren erfreute er sich, wie sein Enkel Erich berichtet, großer Aufträge im neuen Berliner We- sten: Wie Pilze schossen die Neubauten empor. Große Mengen Stuck, Medaillons, Or- namente, Gold und Tapetenleisten waren bestellt. Von früh bis spät wurde gearbei- tet. Mit seiner Hände Arbeit wäre Großvater Carl bald ein reicher Mann geworden, ja wenn eben der große Krach nicht gekommen wäre. Alle Forderungen wurden dubios, die Verluste so ungeheuer, so daß sich Großvater Carl wohl oder übel nach einer anderen Existenz umsehen mußte. Für ihn als gewandten Redner waren Vor- tragsveranstaltungen mit Nebelbildern das einzig Gegebene. Wohlweislich hatte er ja auch seinen Sohn Max Photographie, Glasmalerei und Apparatebau lernen las- sen.4' Die Familienüberlieferung läßt seine Motive erkennen. Nach dem >Gründer- krach< 1873 konnte er mit dem erhabenen Zierrat der Wohnräume offenbar keine befriedigenden Ums ätze mehr realisieren. Dagegen erschien ihm das Unterhaltungsgeschäft mit Lichtspielen und bewegten Bildern wohl einträg- lich genug, um die künftige Existenz seiner Familie darauf zu gründen. Wel- che Bedeutung er dem Erwerb entsprechender Qualifikationen in seiner Ent- wicklungsstrategie für das neue Unternehmen beigemessen hat, zeigt die Ausbildung seines Sohnes Max: Ab 1877 wird der 14jährige im photographi- schen Atelier Werner und beim Glasmaler und Lithographen Dehn in die Leh- re geschickt, gefolgt von einer Anstellung in der Theaterapparatefabrik von Willy Hagedorn, Abteilung für Nebelbilder und Nebelbildapparate.42 Der raffinierte Entwurf des Nebelbildapparats für den Zirkus Renz43 und die Pläne für die »Bude für Messen und Märkte« sind Beispiele, die Max Skla- danowsky als versierten Konstrukteur ausweisen. Auch seine fein gearbeite- ten Nebelbilder zeigen, daß er eine gute Ausbildung genossen hat. In einem ausführlichen Artikel» Ueber Farbenharmonie« im Branchenblatt Der Artist stellt er seine Kenntnisse aus der Sicht des Malers für die Kostümberatung von Kolleginnen und Kollegen im Artistengewerbe zur Verfügung: »Nach dem Gesetze der Farbenlehre ist es nur möglich, sofort ein Costüm in augenerfreu- enden Farbencontrasten herzustellen, ohne den geringsten Mißgriff zu tun.«44 Nach Darstellung seines Sohnes Erich ist bereits der Apparat für die ersten Aufführungen im November 1879 von Max Skladanowsky selbst hergestellt worden. Er hat auch einen Teil der Bilder dafür gemalt, während ein weiterer Teil bei dem renommierten Optischen Institut Krüss in Hamburg zugekauft wurde.4! Diese Firma wiederum ist ein Beispiel dafür, daß der Lichtspielmarkt des 19. Jahrhunderts nicht nur das Betätigungsfeld der Projektionskünstler 95 war, sondern auch das von Werkstätten, Industrie- und Handelsunternehmen, die Geräte, Zubehör und Bilder herstellten und lieferten. Als Carl Sklada- nowsky sich für das neue Gewerbe entschied, war bereits eine beachtliche Zahl von Firmen in diesem Bereich tätig. In einem 1875 veröffentlichten Text über den Nebelbildapparat heißt es: Jetzt beschäftigen sich ausser A. Krüss, soweit mir bekannt ist, in Deutschland G. Lossau und H. Böhm in Hamburg, Ed. Liesegang in Düsseldorf, die Gebrüder Mit- telstrass in Magdeburg, J. Bischof, Lud. Richter und W. Hagedorn in Berlin, Bernh. Vötter in Gotha und P. C. Kalb und Daenecke in Nürnberg mit dem Bau von recht brauchbaren Nebelbilder-Apparaten, und sie alle haben reichlich damit zu thun - ein Beweis dafür, dass das Publikum diesen zu belehrender und angenehmer Unter- haltung dienenden Instrumenten ein lebhaftes Interesse zugewandt hat.46 Carl Skladanowsky konnte auf reges Publikumsinteresse für die »belehrende und angenehme Unterhaltung« mit Nebelbildern zählen und setzte von vorn- herein auf die Erfüllung hoher Qualitätsansprüche. Um eine gute Position im Markt zu behaupten, mußte neben dem Applaus des Publikums auch das Pla- zet kritischer Theaterdirektoren gewonnen werden. Viele im »Nachlaß Max Skladanowsky« erhaltene Ankündigungszettel und ein »Empfehlungsschrei- ben des Stadtschuldirektors aus Treptow an der Rega für die Nebelbildervor- stellungen von Carl Skladanowsky«47 machen deutlich, daß dem Schausteller- unternehmen an Anerkennung und Empfehlung im Bildungswesen sehr gelegen war, vermutlich nicht zuletzt, um den seriösen Charakter seines An- gebots hervorzuheben. An der Schwelle zur Filmgeschichte Ihr Erfolg als Unternehmer im Unterhaltungsgewerbe und als Artisten, die bewegte Bilder vor großem Publikum präsentierten, läßt ein sicheres Gespür der Skladanowskys für die Produktion sensationeller Neuheiten in der Bran- che und ein waches Interesse für neue Themen und neue Effekte im Metier vermuten. Auf dieser Basis versprachen sie sich in den 189oer Jahren offen- sichtlich großen Erfolg von der Projektion »lebender Photographien«. Max Skladanowskys solide Ausbildung in der Konstruktion von Nebel- bildapparaten, der jahrelange versierte Umgang mit Bewegungsmechanismen bei den Aufführungen und fundierte Kenntnisse der photographischen Tech- nik führten im Ergebnis zu einem brauchbaren Projektionsgerät für chrono- photographische Aufnahmen, das nach dem Prinzip der Nebelbildapparate mit zwei Objektiven arbeitete.48 Die Aufnahmen wurden mit einer selbst kon- struierten Kamera in einer Bildfrequenz von ca. 8 B/s auf Eastman-Film auf- genommen.49 Beim Versuch, die Bildfolge in dieser Frequenz zu projizieren, sah sich Max Skladanowsky mit dem Problem des Flimmerns konfrontiert, zu dessen Lösung er auf die bewährte Nebelbild-Technologie der Überblendung zurückgriff. Er schreibt: »D a meine ersten Serienaufnahmen nur sechs bis acht Bilder pro Sekunde hatten, war das Flimmern bei der Wiedergabe sehr stark, so daß ich zwei Apparate nebeneinander aufstellte, die abwechselnd die Bilder entwarfen, worauf das Flimmern verschwand.«i0 Die beiden Projektionssy- steme, mit denen er arbeitete, waren jeweils mit einem Mechanismus ausge- stattet, der Endlosschleifen mit den photographischen Serien ruckweise am Bildfenster vorbei führte. Auf diesen waren Positivkopien der photographi- schen Reihenbilder so angeordnet, daß eine Schleife alle ungeraden und die zweite alle geraden Aufnahmen in Folge enthielt. Somit konnten sie, durch Überblendung von einem Projektionssystem auf das andere, in der ursprüng- lichen Reihenfolge gezeigt werden. Die Überblendung wurde durch eine vor den Objektiven rotierende halbkreisförmige Scheibe erreicht. Lange Zacken an den beiden Kanten, die den Lichtkegel jeweils freigaben oder schlossen, er- möglichten weiche Übergänge. Blende und Bewegungsmechanismus waren so aufeinander abgestimmt, daß das Bild im jeweils offenen Projektionssystem stillstand, während die Filmschleife im geschlossenen zum nächsten Bild transportiert wurde. Auf der Leinwand zeigten sich die Projektionsbilder in kontinuierlicher Bewegung: Das Känguruh boxte, der Reckturner schwang sich um die Stange und die Gebrüder Skladanowsky verneigten sich vor ihrem Publikum, dank der Endlosschleifen so oft wie gewünscht oder solange der Applaus anhielt. Diese Produktion war für die Direktoren des tonangebenden Berliner Va- rietes WintergartenP als Programmnummer überzeugend. Nachdem sie die Skladanowskys bereits mit dem »Elektro-Mechanisch-Pyrotechnischen-Ma- rine-Wasser-Schauspiel-Theater« für das Oktoberprogramm engagiert hat- ten,12 präsentierten sie das Bioscop im Novemberprogramm 1895 erfolgreich als »interessanteste Erfindung der Neuzeit«.ll Der Artist schreibt: Mit dem Bioscop haben die Herren Skladanowsky eine großartige Erfindung ge- macht: in Lebensgröße werden, dem elektrischen Schnellseher vergleichbar, Arti- sten in ihrer Produktion, z. B.Jongleure, Reckturner usw. auf die Bühne gezaubert, daß man staunt. Die piece ist unstreitig die amüsanteste des Abends; schade daß sie am Schluß des Programms zu finden ist ... 14 Erst durch den Rückgriff auf das Überblendverfahren der Nebelbildtechnik wurde diese Aufführung technisch möglich. Es erbrachte im Gegensatz zu den Verfahren, die mit nur einem einzigen Objektiv arbeiten und die Bildprojek- tion jeweils mit einer Dunkelphase für den Bildwechsel unterbrechen, zwei entscheidende Vorteile für die Skladanowskys: Erstens die flimmerfreie Pro- jektion trotz geringer Bildfrequenz, denn auf der Leinwand wird ein Wechsel von Hell und Dunkel vermieden. Zweitens stand immer die volle Lichtlei- 97 stung der jeweiligen Kohlenbogenlampe zur Verfügung. Das war nicht un- wichtig, denn die Skladanowskys benötigten eine Projektionsausrüstung, die den Auftritt vor großem Publikum ermöglichte, wie sie es gewohnt waren. Bei einer Größe der Einzelbilder von 3 x 4 cm erreichten sie mit dem Bioscop ein projiziertes Bild von beachtlichen 3 x 4 Metern.is Dagegen erreichten andere Filmprojektionen, etwa mit dem Cinematographe Lumiere, zu dieser Zeit nur ein Bild von 1,5 x 2,5 Metern, das für ein großes Variete zu klein gewesen wäre.56 In der Literatur wird häufig die Frage problematisiert, ob die Aufnahmen nicht zwangsläufig mit 12 - 16 B/s gezeigt werden mußten.17 Um eine Bewe- gungsillusion entstehen zu lassen, ist diese Frequenz bei der einstrahligen Filmprojektion mit Dunkelphasen notwendig. Bei dieser Technik wäre eine langsamere Bildfrequenz zudem durch den stark wahrnehmbaren Wechsel von Hell und Dunkel mit einem unerträglichen Flimmern verbunden, das bei kür- zeren Frequenzen stark zurückgeht. Auch wenn es leicht nachvollziehbar ist, daß bei dauernder Überblendung, durch den Wegfall der Dunkelphase, kein Flimmern auftreten kann, bleibt doch die Frage offen, ob bei einer Bildfre- quenz von 8 B/s noch ein kontinuierlicher Bewegungseffekt wahrzunehmen war. Oder wäre es dafür doch erforderlich gewesen, die Bilder mit doppelter Geschwindigkeit zu zeigen? Zunächst halte ich es für unwahrscheinlich, daß der dann eintretende Effekt extrem rasender Figuren von den Skladanowskys oder den Wintergartendirektoren akzeptiert worden wäre. Er wird auch in keinem der bekannten Aufführungsberichte erwähnt. Grundsätzlich ist auch bezüglich der Bewegungsillusion davon auszugehen, daß Projektionen mit ei- nem und mit zwei Projektionssystemen nicht direkt vergleichbar sind: Es ge- hört zur Alltagserfahrung der Projektionskünstler, daß ähnliche Bilder, z.B. dasselbe Gebäude bei Tag und Nacht, wenn sie nicht exakt deckungsgleich projiziert werden, bei rascher Überblendung einen Bewegungseindruck er- wecken, während sich bei langsamer Überblendung (mehrere Sekunden lang) das s1;.richwörtlich »neblige« Übergangsstadium zeigt. Bei der raschen Folge von Uberblendungen, mit der das Bioscop die einzelnen Bewegungsphasen zeigte, müssen daher auch entsprechende Bewegungseffekte aufgetreten sein, die nicht aus der stroboskopischen Trennung der Bilder, sondern aus der sehr kurzen Überblendungszeit von einem zum nächsten Bild resultierten, die von der Zackenlänge der rotierenden Blende und der U mdrehungsgeschwindig- keit abhängig war. Wie sich die vergleichsweise länger andauernde Standzeit (ca. 0,125 Sekunden bei 8 Bildern) der Bilder zwischen den Überblendungen auswirkt, müßte experimentell geklärt werden. Die moderne Dia-AV kennt diesen Effekt auch, Bewegungsphasen selbst in großen zeitlichen Differenzen (1 Sekunde und mehr) werden bei schneller Überblendung als Bewegung wahrgenommen. Werden solche Effekte in Folgen von mehr als zwei Bildern gezeigt, wirkt die Bewegung sehr ruckartig. Ich halte es für wahrscheinlich, daß dieser Effekt - neben Ungenauigkeiten des Bildstandes - bei der schnelle- ren Bildfrequenz der Skladanowskys für ein häufig erwähntes »Zittern« der Figuren verantwortlich ist.58 Das Bioscop stellt den Effekt animierter Photographien, der I 895 als aufregen- de Neuigkeit galt (»interessanteste Erlindung der Neuzeit«), in die Tradition der großen Vorstellungen mit Nebelbildern. Schon in seiner technischen Ge- stalt als Doppelprojektor wird unmittelbar anschaulich, daß das frühe Kino eine »Spätform der historischen Projektionskunst«59 darstellt. Anmerkungen r Bundesarchiv, Nachlaß Max Sklada- nes, »Classification of Magie Lantern Slides nowsky, Bestand N 1435 / 17 (BAN 1435 / for Cataloging and Documentation«, in: 17). Magie Images, herausgegeben von der 2 Zitiert nach Friedrich von Zglinicki, Magie Lantern Society, London 1990, S. 75 Der Weg des Films, Olms Presse, Hildes- -84. heim 1979 (zuerst 1956), S. 72. 10 BAN 1435, hierzu Völschow (Anm. 3 Vgl. Undine Völschow, Findbücher zu 3), Kapitel rp, Nr. 3 u. 4. den Beständen des Bundesarchivs, Band 49, II Vgl.BAN1435/22ff. Nachlaß Max Skladanowsky, Bestand N 12 BAN 1435, hierzu Völschow (Anm. 1435, Koblenz 1995, S. 3. 3),15.6. 4 Vergleichbar ist das hohe Niveau der 13 Zglinicki (Anm. 2), S. 252. Nebelbilder Paul Hoffmanns, die von den 14 Berliner Börsen-Zeitung Nr. 47, 29.r. Skladanowskys auf der mechanischen Ebe- 1895-, zitiert nach Zglinicki (Anm. 2), S. ne noch übertroffen werden. Zu Paul Hoff- 252. mann siehe Laterna Magica - Vergnügen, r 5 Ich beziehe mich hier auf Erfahrungen Belehrung, Unterhaltung - Der Projekti- mit dem Repertoire des I lluminativ-Thea- onskünstler Paul Hoffmann (Ausstellungs- ters, das- von Karin Bienek und mir betrie- katalog), Historisches Museum, Frankfurt ben wird. am Main 198 r. 16 Zglinicki (Anm. 2), S. 73. 5 Der Originalapparat ist im Filmmuse- 17 Die »literarischen Programme« von um Potsdam ausgestellt, kann allerdings Paul Hoffmann unterscheiden sich z. B. nicht mehr in Betrieb genommen werden. deutlich von den Skladanowsky-Program- 6 Zglinicki (Anm. 2), S 72. men. Siehe Anm. 4. 7 BAN 1435, hierzu Völschow (Anm. r 8 Völschow (Anm. 3), S. 70. 3), Kapitel I 5; die genannte Zahl bezieht 19 W. Barth, Der Nebelbilder-Apparat, sich auf Einzelbilder, die mehr oder weni- seine Handhabung und die Anfertigung ger großen Sequenzen angehören. transparenter Glasbilder, Leipzig r 875, S. 4. 8 Vgl. W. F. Ryan, »L imelight on Eastern 20 Werbezettel für eine Aufführung im Europe / the great dissolving views at the Thalia-Theater Berlin am 7. und 8.9.1884. Royal Polytechnic«, The New Magie Lan- BAN 1435 / 22. tern Journal Vol. 4 - The Ten Year Book, 21 Erich Skladanowsky, »Das Bioscop London 1986, S. 48. und seine Vorgeschichte«, in: Max Sklada- 9 Zur differenzierten Vielfalt der Be- nowsky und die Erfindung des Kinos, Ber- wegungsmechanismen für Projektions- lin 1993, S. 31, bilder im 19. Jahrhundert vgl. John Bar- 22 Zglinicki (Anm. 2), S. 72. 99 23 Analog zur Situation bei den Sk.lada- nes Massenmediums, S. 258 ff., Büchergilde nowskys habe ich in anderen Fällen Hin- Gutenberg, Frankfurt am Main 1980. weise auf die Musikbegleitung oft nur in 38 Vgl. Ludwig Vogl-Bienek, »Projekti- Nebensätzen gefunden, was dafür spricht, onskunst - Paradigma der visuellen Mas- daß sie üblich war. senmedien des 19. Jahrhunderts«, in: 24 Vgl. Joachim Castan, Max Sklada- Handbuch Medienwissenschaft, Verlag nowsky oder der Beginn der deutschen Walter de Gruyter, Berlin 2000 (erscheint Filmgeschichte, Füsslin, Stuttgart 1995, demnächst). s. 56. 39 Zglinicki (Anm. 2), S. 75 und Bildteil 25 BAN 1435 / 100. ohne Seitenangabe. 26 Zglinicki (Anm. 2), S. 73. 40 Vgl. Castan (Anm. 24), S. 22. 27 Vgl. Völschow (Anm. 3). 41 Erich Skladanowsky (Anm. 21), S. 31. 28 Vgl. Staatliche Kunstsammlungen 42 Vgl. Völschow (Anm. 3), S. 9. Dresden, Theatrum Mundi, Dresden 1984. 43 Konstruktionszeichnung: »Nebelbild- 29 Vgl. Florian Dering, Margarete Grö- projektor (Genutzt für Vorstellungen im ner, Manfred Wegner, Heute Hinrichtung - Zirkus Renz)«, BAN 1435 / 212. Jahrmarkts- und Varieteattraktionen der 44 Max Skladanowsky, »Ueber Farben- Schausteller-Dynastie Schicht[, München harmonie«, Der Artist, 12. Jg., Nr. 480, 1990, S. 25ff und S. 17off. 22. 4· 1894. 30 Vgl. z.B. den» Werbezettel für Nebel- 45 Erich Skladanowsky (Anin. 21), S. 31. bildvorstellung und das elektro-mecha- 46 Barth (Anm. 19), S. 4. nisch-pyrotechnische Wasserschauspiel- 47 BAN 1435 / 1. Theater der Gebrüder Skladanowsky; in 48 Vgl. Deac Rossell, A Chronology of Prag; 29. Okt. 1893«. BAN 1435 / 87. Cinema 1889 - 1896, Film History, Vol. 7, 31 Vgl. BAN 1435 / 82 - 89. No. 2, London 1995, S. 137 f. 32 Programm und Ausgabenheft für das 49 Vgl. Castan (Anm. 24), S. 30 ff. mechanische Theater der Gebrüder Hamil- 50 Zitiert nach Castan (Anm. 24), S. 41. ton. BA N 1435 / 83, zitiert nach Castan p Vgl. Castan (Anm. 24), S. p. (Anm. 24), S. 28. 52 Ebenda, S. 49. 33 Vgl. BAN 1435 / 82 - 91. 53 BAN 1435 / 108. 34 Vgl. BAN 1435 / 85. 54 Zitiert nach Zglinicki (Anm. 2), S. 242. 35 Siehe die Konstruktions- und Ent- 55 Ebenda, S. 49. wurfszeichnungen: »Automatische Wan- 56 Vgl. Martin Loiperdinger, »Lumieres deldekoration mit Lichteffekten« (18 ANKUNFf DES ZUGS. Gründungsmythos ei- Blatt). BAN 1435 / 223. nes neuen Mediums«, K/Ntop 5 (1997), 36 Vgl. Herrmann Hecht, Pre-Cinema s. 43· History, Bowker, Saur, BFI, London 1993; 57 Ebenda, S. 41 ff. Einträge zum Stichwort »Diorama as an 58 Castan (Anm. 24), S. p ff. exhibiton of dissolving views«: 224, 270D, 59 Martin Loiperdinger, »Plädoyer für 274,447, 540C, 640,672. eine Zukunft des frühen Kinos«, in: Ursula 37 Eine gute Beschreibung beweglicher von Keitz (Hg.),Früher Film und späte Fol- Panoramen findet sich bei Stephan Oetter- gen, Schüren Verlag, Marburg 1998, S. 75. mann, Das Panorama - Die Geschichte ei- 100 WOLFGANG FUHRMANN Lichtbilder und kinematographische Aufnahmen aus den deutschen Kolonien Der anfängliche Kolonialenthusiasmus in Deutschland war zu Beginn dieses Jahrhunderts einer tiefen Ernüchterung gewichen. Revolten und Kriege, Vet- tern- und Mißwirtschaft, Berichte über sadistische Exzesse an der einheimi- schen Bevölkerung und Willkürherrschaft prägten das Bild der Kolonien in der Öffentlichkeit. Im Reichstag sprach man offen von der >Kolonialmüdig- keit< des Volkes', und Karl Liebknecht brachte die Ergebnisse deutscher Kolo- nialpolitik auf die kurze Formel: »Mord, Raub, Totschlag, Syphilis und Schnaps«.2 Eine der Aufgaben der Kolonialpropaganda der Deutschen Kolonialgesell- schaft (DKG) war es, dieses Image zu korrigieren und im Gegensatz dazu ein nationales Interesse und Verständnis für die-Notwendigkeit von Kolonialbe- sitz zu fördern.l 1887 aus einem Zusammenschluß des Deutschen Kolonial- vereins (1882) und der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation (1884) hervor- gegangen, galt die DKG neben dem Deutschen Flottenverein (DFV) und dem Alldeutschen Verband als einer der einflußreichsten nationalen Verbände.4 Durch die Werbearbeit ihrer Mitglieder, die sich überwiegend aus dem mittle- ren und gehobenen Bildungsbürgertum rekrutierten, verstand es die DKG, ihren Einfluß als koloniale pressure group in Industrie und Politik erfolgreich geltend zu machen. Die Propaganda der DKG umfaßte die unterschiedlichsten Werbemaß- nahmen wie die Beteiligung an den Deutschen Kolonialausstellungen 1896 und der Armee-, Marine- und Kolonialausstellung 1907 in Berlin, die Installa- tion von Kolonialwandkarten auf Bahnhöfen oder die Herausgabe eines kolo- nialwirtschaftlichen Atlasses und von Schokoladen-Sammelbildern mit Sze- nen des kolonialen Lebens. Wichtigstes Medium war jedoch der öffentliche Vortrag. Besonders Lichtbildervorträge erfreuten sich seit den neunziger Jah- ren zunehmender Beliebtheit. Dieser Artikel beschreibt den Einsatz von Lichtbildervorträgen durch die DKG und untersucht den Übergang zu kine- matographischen Vorführungen in den Jahren 1905/06.i In der Öffentlichkeit wurde die DKG von einem Präsidium repräsentiert, die eigentliche Entscheidungsgewalt lag jedoch bei eiriem Vorstand, der auf halbjährlich veranstalteten Sitzungen die Anträge der Gauverbände und Ab- teilungen bearbeitete, die zuvor durch einen Ausschuß geprüft und zur Wei- 101 tergabe genehmigt wurden.6 1898 bildete der Ausschuß eine ständige Werbe- kommission, die sich fortan um die Propagandaarbeit in oder zwischen den Abteilungen kümmerte und dem Ausschuß regelmäßig über ihre Arbeit be- richtete und Vorschläge unterbreitete.7 Von ihrer Hauptzentrale in Berlin betreute die DKG die lokal organisier- ten Abteilungen, die in regionalen Gauverbänden zusammengefaßt wurden. Während der Vorstand zentral über die Hauptlinien der kolonialen Propagan- da entschied, erfolgte die Arbeit vor Ort relativ autonom. In größeren Städten besaßen die Abteilungen oft ein eigenes Büro mit einer kleinen Kolonialbi- bliothek, verwalteten Mitgliederbeiträge und erstellten ihrer Finanzkraft ent- sprechend ein eigenes Werbeprogramm, das auf offiziellen Veranstaltungen umgesetzt wurde.8 Der öffentliche Vortrag diente der »Erhaltung des Mitgliederbestandes« und der »Erwerbung neuer Mitglieder«.9 Zu Anschauungszwecken konnte ein Redner auf Photographien aus den Kolonien zurückgreifen, die die DKG seit dem Beginn ihres Bestehens sammelte und den Abteilungen kostenlos zur Verfügung stellte.' 0 1891 erstellte die DKG erstmalig einen Bildervortrag aus Schwarzweißdiapositiven im Format 10 x 10 cm. 11 Der Erfolg dieses »illu- strierten Vortrages« veranlaßte die DKG, die Lichtbildersammlung in den fol- genden Jahren ständig zu erweitern und teilweise zu kolorieren. 12 Die Bilder- reihen dienten zunächst der Versorgung der DKG-Abteilungen. Sie wurden, thematisch zu Serien zusammengefaßt, unentgeltlich auch an »andere patrio- tische Vereine sowie an Schulen und sonstige öffentliche Institute« verliehen, die nur für die portofreie Rücksendung zu sorgen hatten.'3 Aufnahme in das Bildarchiv fanden Sujets aus allen Gebieten der kolonia- len Praxis: »Entdeckungs- und Forschungsreisen, Geologie und Bergbau, Ve- getation und einheimische Landwirtschaft, Landschaften und Tierstudien, die Siedlungstätigkeit Einheimischer und Weißer, Schule und Mission, traditionel- ler Handel und Verkehr, Einführung moderner Verkehrsmittel (Hafenanlagen, Eisenbahnen, Straßen), die Wirtschaftsentwicklung durch Europäer, Schutz- truppen und Aufstände«.'4 1895 bot die DKG bereits eine 100 Bilder umfassende Serie über Deutsch- Ostafrika an, die mit einem begleitenden Manuskript, dem »Material zur Aus- arbeitung von erklärenden Vorträgen zu den Lichtbildern der Deutschen Kolonialgesellschaft über Deutsch-Ostafrika«, versehen war und von den Ab- teilungen in unterschiedlicher Zusammenstellung projiziert werden konnte. Im Durchschnitt bestand ein Lichtbildervortrag aus 50 bis 55 Bildern.11 Dies erschien als angemessen, um keine Langeweile und Ermüdung bei den Zu- schauern aufkommen zu lassen. Das Manuskript über Deutsch-Ostafrika riet dementsprechend dem Vorführer, den Vortrag auf 50 Bilder zu begrenzen.16 Ähnlich wie es Ellen Strain in ihrer Untersuchung über stereoskopische Bildersammlungen nahelegt, waren die Bilderreihen in ihrem Aufbau eine frü- he Form des >edutainment<, in dem sich Geschichtliches mit Geographischem 102 Photographisches Projektionsbild, schwarzweiß, 3 \4-Zoll-Format. Archiv des Illuminativ-Theaters. verband, und ethnographische mit spektakulären oder romantischen Ansich- ten abwechselten.'7 Wie es in dem Bildervortrag Eine Wanderung durch unse- re Kolonien (1901, 68 Bilder) heißt, wird das Publikum auf eine »Rundreise« mitgenommen. Von Hamburg ausgehend werden mit dem Dampfer alle Ko- lonien besucht, um »den Wissensdurst des Zuschauers zu stillen«.'8 Die wachsende Beliebtheit der Lichtbilder stellte die Gesellschaft vor be- trächtliche logistische Probleme. So kam es 1899 und 1900 zu einem vorüber- gehenden Lieferengpaß in der Berliner Zentrale, so daß viele Abteilungen nicht die gewünschten Lichtbilderserien erhalten konnten, obwohl manche Serien in zweifacher Ausführung vorhanden waren.'9 Die steigende Nachfra- ge erforderte die Ausstattung der Abteilungen mit Projektionsgeräten. 1899 stellte der Vorstand 5000 Mark zum Ankauf von Projektoren für die Abtei- lungen zur Verfügung.1° Mit der Bedingung, daß diese benachbarten Abteilun- gen zur Mitbenutzung überlassen werden müßten, erreichte die DKG eine nahezu flächendeckende Versorgung mit Projektionsapparaten. Ab 1901 ver- 103 fügte fast jede größere Abteilung über ihren eigenen Lichtbildprojektor ( 1902: 44 Abteilungen, 1903: 42, 1904: 45).21 Zusätzlich unterstützte die Zentrale in Berlin die Arbeit der Abteilungen, indem sie eigene Projektoren zur Verfügung stellte. 1899 kaufte sie zu den zwei bereits vorhandenen Apparaten zwei weitere dazu, die im folgenden Jahr 48 mal angefordert wurden.22 Die DKG war ständig bemüht, ihre Lichtbildersammlung auf »einem Standpunkt zu halten, welcher den augenblicklichen Verhältnissen in den Ko- lonien entspricht«.2J Dies geschah durch den Ankauf komplett neuer Serien und die Erweiterung der bereits vorhandenen Serien. Zwischen 1901 und 1906 konnte die DKG die Anzahl ihrer Bildreihen von 17 auf 32 (1905: 30) fast ver- doppeln.24 Die Produzenten der Bilderreihen, die in vielen Fällen ihre Serien selbst editierten, rekrutierten sich, ähnlich wie die Redner, aus den verschiedenen ge- sellschaftlichen Bereichen, die in einem kolonialen Bezug standen: Völker- kundler wie Sigfried Passarge (Adamaua, Land und Leute, Transvaal und der Freistaat) oder Karl Dove (Die deutschen Schutzgebiete (allgemeine Samm- lung) und Deutsch Südwestafrika, I und II) waren ebenso vertreten wie Ar- meeangehörige oder Personen, die sich eine gewisse Reputation auf dem kolo- nialen Gebiet erworben hatten - so etwa Prosper Müllendorf, ein Redakteur der Kölnischen Zeitung, der mit Deutsch Südwestafrika zur Zeit des Herero- aufstandes die in der DKG erfolgreichste Serie der Jahre 1904 und 1905 an- bot.25 Die Zentrale mußte unermüdlich daran arbeiten, die Sammlung zu erneu- ern und zusätzliches Geld für den Ankauf neuer Bilder zu beantragen, weil die Bildserien durch ihren häufigen Einsatz relativ schnell unbrauchbar wurden. So nutzten viele Abteilungen die Chance, die bestellte Bilderreihe an mehre- ren Abenden hintereinander zu zeigen oder zusätzliche Vorführungen in Schulen, benachbarten Orten und Handwerksvereinen anzusetzen.26 Wieder- holt beklagte sich die Zentrale, daß die Serien oft in einem schlechten Zustand oder sogar stark beschädigt in Berlin eintrafen und bat die Abteilungen, die Bilder mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln.27 Ab 1902 übertraf die Zahl der jährlich veranstalteten Lichtbildervorträge (LV) die der reinen Redevorträge (RV). Waren es 1900 erst 236 mit Diapositi- ven illustrierte Vorträge gewesen (im Vergleich zu 33 1 Redevorträgen), so konnte die DKG im folgenden Jahr mit 247 LV (279 RV) nur einen geringen Zuwachs verzeichnen, der sich aber rasch vergrößerte.1902:318 LV zu 310 RV, 1903: 351 LV zu 262 RVund 389 LV zu 350 RV in 1904. In diesem letzten Jahr profitierten beide Vortragsarten vom Ausbruch des Herero-Krieges in Deutsch-Südwest, der in der Öffentlichkeit großes Interesse fand.28 Die Beliebtheit der einzelnen Kolonien schwankte von Jahr zu Jahr. War 1900 noch Kamerun der >Favorit<, so waren es in den folgenden Jahren Deutsch-Südwest, Togo und wiederum Südwest. Ab 1903 machten die Bildse- »Ostafrika. Graf Götzen mit erlegtem Nashorn.« Abzug von Glasdiapositiv. Koloniales Bildarchiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. rien aus Südwest 30% der gesamten Nachfrage aus. Mit dem Ausbruch des Herero-Krieges 1904 stieg ihr Anteil auf 54%. Im Gegensatz zu den Lichtbildern, die den Abteilungen kostenlos zur Ver- fügung gestellt wurden, war ein Redner oder Erklärer kostenpflichtig. Für die Veranstaltung eines Projektionsabends offerierte die Zentrale den Abteilun- gen zwei Möglichkeiten: Die erste bestand darin, durch die Zentrale einen »il- lustrierten Vortrag« inclusive Redner vermittelt zu bekommen. In diesem Fall erhob die Zentrale von den Abteilungen einen festen >Zuschuß< von 70 Mark, der garantierte, daß alle eventuell darüber hinaus anfallenden Kosten aus Ge- sellschaftsmitteln gedeckt würden.29 Die zweite Möglichkeit war, auf eigene Rechnung einen Lichtbildervortrag durchzuführen und einen Redner aus den Reihen der Abteilung vor Ort zu rekrutieren. Dieser konnte dann für seinen Vortrag das mitgelieferte Manuskript benutzen. Wie sich aus den Jahresberichten entnehmen läßt, wurde diese zweite Mög- lichkeit spätestens ab 1905 von den Abteilungen bevorzugt.30 Ein Anzeichen dafür ist die in den Jahren größer werdende Differenz zwischen der Anzahl der vermittelten illustrierten Vorträge und der Summe tatsächlich verliehener Bildserien. Demnach verlieh die Zentrale 1905 insgesamt 289 Bildreihen, konnte aber davon nur 172 selbst vermitteln. 1906 betrug die Differenz schon 105 221 (370 Bildserien insgesamt zu 149 vermittelten) und 1907 sogar 396 (527 Serien insgesamt zu nur 131 vermittelten). Die Abteilungen ersparten sich durch die Ausrichtung von Projektionsabenden auf eigene Rechnung den ho- hen >Zuschuß< und konnten statt dessen durch die Erhebung eines Eintritts bei öffentlichen «illustrierten Vorträgen« die Abteilungskasse aufbessern.J' Bei allen Vorträgen riet die DKG, im Anschluß in einem »geselligen Zu- sammensein« die Gelegenheit zu nutzen, um mit der Unterstützung des Red- ners neue Mitglieder zu werben.J• Um möglichst hautnah aus und über die Kolonien zu berichten, bemühte man sich, Redner mit praktischer Erfahrung in der Kolonialarbeit wie Offiziere, Kaufleute, Beamte oder Pflanzer zu enga- gieren.H Die Erweiterung und Wartung der Lichtbildersammlung war generell von den Budgetverhandlungen des Vorstandes abhängig. Eine Unterstützung von 3000 Mark zum Erwerb von Lichtbildern wurde erstmalig 1899 bewilligt. Doch hatte die Werbekommission ständig Geldsorgen, denn entgegen der wachsenden Bedeutung der kolonialen Propaganda war der Werbeetat bis 1904 um mehr als 50% reduziert worden (von 52.580 Mark in 1900 auf 25.000 Mark in 1904). Von 1905 an wurden die Kosten für die Erweiterung und War- tung der Lichtbildersammlung und des technischen Zubehörs schließlich mit einem festen Posten in dem Jahresbudget der Gesellschaft ausgewiesen: 1750 Mark (1906: 1500 Mark) für den Ankauf und die Aktualisierung der Lichtbil- dersammlung und 540 Mark für Projektionsapparate und Reparaturen.J4 Damit waren die Grundlagen für eine aktive >Basisarbeit< geschaffen, in der die Abteilungen einen regen Gebrauch von der Lichtbildersammlung der Zen- trale machten. Allerdings macht sich gerade jetzt die Nachfrage nach einem weiteren visuellen Medium bemerkbar, das die DKG überhaupt noch nicht eingesetzt hat. Der Jahresbericht von 1905 stellt fest, »daß Vorträge ohne Lichtbilder verhältnismäßig geringe Beachtung fanden, und wenn sich auch darüber streiten läßt, ob das ein erwünschter Zustand ist, so war das Büro doch gezwungen, dem Zuge der Zeit zu folgen. Das war um so schwieriger, als die gewöhnlichen Lichtbilder auch nicht mehr die volle Zugkraft entfalten, son- dern vielerorts kinematographische Vorführungen gewünscht wurden.«H Im Mai 1905 befaßte sich der Ausschuß auf seiner Sitzung mit einem Antrag auf »Vorführung kinematographischer Aufnahmen aus Deutsch-Ost und Deutsch-Südwestafrika«. Dazu heißt es im Protokoll: Der Kaufmann und Brauereibesitzer Herr Karl Müller aus Altenburg, der eine Rei- he kinematographischer und Lichtbilderaufnahmen in Deutsch-Ost und Deutsch Südwestafrika gemacht hat, wünscht diese den Mitgliedern des Präsidiums und Ausschusses der Deutschen Kolonialgesellschaft, den Vorständen der beiden Berli• ner Abteilungen und einigen eingeladenen Gästen in etwa 14 Tagen vorzuführen. Er bittet um Festsetzung eines Termins und Erlassung der Einladungen durch die 106 Deutsche Kolonialgesellschaft. Der Ausschuß erklärt sich hiermit einverstanden und nimmt für die Vorführung der Bilder vorbehaltlich der Zustimmung der Vor- stände der beiden Berliner Abteilungen Montag, den 10. April, in Aussicht.36 Die Bedeutung dieses Abends läßt sich darin bemessen, daß kein geringerer als der geschäftsführende Vizepräsident der DKG und Vorsitzende der Wer- bekommission, Dr. von Holleben, diesen Abend eröffnete,17 an dem Carl Müller zum ersten Mal in der deutschen Kolonialgeschichte kinematographi- sche Aufnahmen aus den Kolonien präsentierte.J8 Zu sehen gab es, wie es die Afrika-Post formulierte, »in natürlicher Weise das Leben und Treiben in Deutsch-Ostafrika und Südwestafrika«: Aus ersterer Kolonie wird uns u.a. in deutlichster Weise gezeigt, wie der Kaffee ge- erntet und weiter bearbeitet wird, auch sehr interessante militärische Übungen un- serer schwarzen Soldaten sind kinematographisch aufgenommen. Aus Deutsch Südwestafrika werden uns zum ersten Male die enormen schwierigen Landungs- verhältnisse vor Augen geführt. Wir sehen die Böte in der heftigen Brandung, fer- ner die mit Flössen bewerkstelligte Landung von Maultieren, Rindern und Fuhr- werken. Auch aus der englischen Kolonie Natal sind Aufnahmen vorhanden, die ein ungemein anschauliches Bild des Straßenlebens in Durban geben.J9 War dieser Abend seitens der DKG noch zurückhaltend als >Testvorführung< angekündigt, wurden Müllers Filme nicht zuletzt durch die Berichterstattung in der Deutschen Kolonialzeitung und der Hamburger Afrika-Post innerhalb kürzester Zeit in der kolonialen Bewegung bekannt. Die Afrika-Post sprach zuversichtlich davon, daß nun »den weitesten Kreisen Gelegenheit geboten werde, einen höchst interessanten Einblick in die Verhältnisse zu tun, unter denen das Leben in Afrika sich abspielt«.40 Der Erfolg von Müllers Unternehmen »Der Kinematograph in Afrika«4' läßt sich zahlenmäßig für das Jahr 1905 nicht ermitteln, da die DKG dazu in ihrem Jahresbericht keine genauen Angaben macht. Doch trotz der hohen Kosten einer Filmvorführung, die mit 200 Mark plus den Reisekosten für Müller und seinen Assistenten um das Dreifache höher lagen als für einen Lichtbildervortrag,42 zeigen die Einträge in der Afrika-Postund der Deutschen Kolonialzeitung, die wöchentlich in einer Rubrik über die Aktivitäten ihrer Abteilungen berichtete, daß Müllers kinematographische Vorträge keine >La- denhüter< waren.4J So besuchte er Ende Juni Leipzig, zwischenzeitlich auf Ein- ladung des DFV im September Hamburg,44 im Oktober den Sächsisch-Thü- ringischen Gauverband mit Chemnitz und Müllers Heimatstadt Altenburg und den zu diesem Zeitpunkt noch nicht in einem Gauverband organisierten norddeutschen Raum mit Lübeck, Kiel, Neumünster und abermals Hamburg. In November und Dezember führte Müllers Reise schließlich kreuz und quer durch Deutschland, die in etwa folgendermaßen hätte verlaufen können: vom 107 Karl Müller mit Enkel, ca. 1914. ostdeutschen Raum mit Posen, Breslau und Stettin nach Bremen über das Gebiet des niederrhein-westfälischen Gauverbandes mit Essen, Duisburg und Köln in den mittel- und süddeutschen Raum nach Homburg und Stuttgart, und abschließend Vorführungen im heimatlichen thüringisch-sächsischen Raum mit Weimar und Pirna.45 Müllers Programm bestand nicht nur aus Filmen, die er erklärend begleite- te. Dazu bot er einen r 80 Bilder umfassenden Lichtbildervortrag seiner Afri- kareise von Neapel bis Kapstadt an, den er aus ca. 500 >gelungenen< Aufnah- men erstellt hatte.46 Dieser Vortrag bot Ansichten aus »Deutsch-Ostafrika, Negermarkt in Amboin, Kaffeeplantage, Besuch bei Altenburger Landsleuten, Kettengefangene, Hafen- und Straßenbilder«.47 In seiner Heimatstadt Alten- burg gab es zusätzlich eine »Kuriositätenschau«, die »Geweihe von Kudu·, Edelantilope, Säbelantilope, Hörner vom Naßhorn, Stoß- und Backenzähne vom Elefanten, Straußenfedern und Straußeneiern, den von Herrn Müller ge- 108 tragenen Tropenhut, verschiedene Felle, darunter auch ein Löwen- und Leo- pardenfell« zeigte.48 Vergleicht man Müllers Aktivitäten mit den Zahlen der vermittelten und verliehenen Rede- und Lichtbildervorträge, stellt man für das Berichtsjahr 1905 einen signifikanten Rückgang fest. Die Zahl der Lichtbildervorträge sank demnach um mehr als 25% zum Vorjahr (1904: 389, 1905: 289), die der Rede- vorträge sogar um mehr als 34% (1904: 350, 1905: 230). Vergleicht man nur die Zahlen der Afrika-Serien, so fällt die Differenz mit 28% sogar noch etwas höher als der Durchschnitt aus. Die Ursache für diesen Rückgang war nicht ein Mitgliederverlust, denn die DKG verzeichnete in diesem Zeitraum einen Zuwachs von 2.4% (von 31.390 in 1904 auf 32.159 in 1905),'und das Fehlen von Aktualität konnte ebenfalls nicht der primäre Grund gewesen sein, denn obwohl der Herero-Krieg im August 1904 seinen Höhepunkt überschritten hatte, folgte bereits im Oktober 1904 der Nama-Aufstand im Süden des Lan- des und der Maji-Maji Aufstand im Juli 1905 in Deutsch-Ostafrika. Es ist nicht unproblematisch, die Ursache für den Rückgang allein der Ki- nematographie zuzuschreiben, aber es ist doch wahrscheinlich, daß verschie- dene Abteilungen ihr Geld vorzugsweise in eine kinematographische Veran- staltung investierten anstatt in einen mittlerweile >gewöhnlich< gewordenen Lichtbildervortrag. Dafür spricht, daß Müller beabsichtigte, »in den größeren deutschen Städten mit diesen Bildern Vorführungen zu veranstalten«,49 und es waren gerade die größeren Städte, in denen sich die finanzkräftigen Abteilun- gen der DKG und anderer nationaler Verbände befanden. Von kleineren Ab- teilungen konnte Müllers Forderung von 200 Mark pro Abend nicht ohne weiteres gezahlt werden. Für die Abteilungen in den größeren Städten war es dagegen kein allzu hohes finanzielles Risiko, das zudem durch die Erhebung eines Eintritts bei den Vorführungen verringert werden konnte. Der Erfolg von Müllers Filmen veranlaßte die DKG, auch in Zukunft nicht auf bewegte Bilder zu verzichten, sondern neben der »Ergänzung und Ver- mehrung der Lichtbildersammlung zu kinematographischen Vorführungen überzugehen«.5° Das hieß für die DKG, selbst den Einstieg in das Filmgeschäft zu wagen. 1906 erklärte sie offen ihr Interesse an der Kinematographie und kündigte an, »die Beschaffung von kinematographischen Aufnahmen und Apparaten nach Möglichkeit zu fördern«.!' Eine Maßnahme in diese Richtung war die technische Ausstattung der Abteilungen. 1905 wurden der Abteilung Kaiserslautern 75 Mark zur Umrüstung ihres Lichtbilderapparates für kine- matographische Vorführungen bewilligt.52 Entscheidend war die Verfügung über einschlägiges Filmmaterial. In dieser Hinsicht war sich die DKG sicher, »daß die Aussicht besteht, daß man im laufenden Jahr ohne allzu erhebliche Aufwendungen in den Besitz wenigstens eines Anfangsbestandes von beiden gelangt«.n Dabei dachte man offensichtlich an Müllers Filme, der zu diesem Zeitpunkt bereits für weitere Filmaufnahmen auf seiner zweiten Afrikareise in den deutschen Kolonien Togo, Kamerun und Deutsch-Südwest unterwegs 109 war. Eine umfassende Beschreibung von Müllers neuen und zum Teil kolorier- ten Filmen liefert die Afrika-Post: Da wurden u.a. Schutztruppen für Südwest gezeigt, wie sie am Petersenquai in Hamburg auf einem Woermann-Dampfer eingeschifft wurden, dann folgte eine Menge von Bildern, die das Leben und Treiben in unseren westafrikanischen Schutzgebieten veranschaulichten. Swakopmund mit der Landungsbrücke, das Ausschiffen der Ladung an der Brücke, das Panorama der Stadt, alles zog in farbi- gen Bildern vorbei. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Einschiffung und Aus- schiffung der gefangenen Herero. Andere Bilder zeigten Kamerun mit seinem Le- ben und Treiben an den Kais und in den Lagerhäusern der Firma C. Woermann, den Markt in Duala, den Tanz der Eingeborenen und ihr Baden im Kamerunfluß. Inter- essant waren auch die folgenden Bilder, die die Kolonie Togo behandelten. Auch hier gewährte das Leben und Treiben am Kai und ein abfahrender Eisenbahnzug einen hübschen Anblick. Dann zeigten weitere Bilder das Bepflanzen der Plantagen mit Baumwollpflanzen, die Ernte der Baumwolle und die zum Versand fertigen Baumwollenballen. Schwarze waren an anderer Stelle beim Bau von Häusern und als Handwerker beschäftigt. Auch der dortige botanische Garten mit seinen von den Negern bearbeiteten Anpflanzungen bot ein hübsches Bild; ebenso die Ernte und die Verarbeitung der Kokosnüsse. Eine fesselnde Darstellung war eine im Frei- en abgehaltene Gerichtssitzung. In temperamentvoller Weise sah man die Schwar- zen ihre Angelegenheiten verteidigen.5• Auf der Vorstandssitzung im Juni 1906 wurden die Weichen für den Ankauf von Müllers Filmen gestellt, was zuerst eine Erhöhung des Werbebudgets für das laufende Rechnungsjahr erforderte. Mit Hinweis, daß auch »Lichtbilder nicht mehr den heutigen Ansprüchen genügen und immer mehr kinematogra- phische Vorführungen verlangt werden«, billigte der Vorstand zusätzliche 3000 Mark für den Ankauf von kinematographischen Aufnahmen.!! Anfang Dezember waren die Verhandlungen mit Müller soweit abgeschlossen, daß der Ausschuß das Büro ermächtigte, die Filme zu erwerben. Im Januar 1907 infor- mierte die Zentrale den Ausschuß, daß Müllers Filme in einer Gesamtlänge von 2000 Metern für den Preis von 3200 Mark erworben wurden.!6 Abschließend läßt sich fragen, was die DKG veranlaßte, innerhalb kürze- ster Zeit kinematographische Vorführungen in ihre Propagandaarbeit aufzu- nehmen? Es war sicherlich nicht die technische Qualität der Aufnahmen, die, wenn überhaupt, nur eine sekundäre Rolle spielte. Müller gab selbst gegen- über der DKG zu, daß es sich bei seinen Filmen um Erstaufnahmen handelte, die »keineswegs mustergültig« seien,17 und in den folgenden Jahren kam es auf Grund der mangelnden Qualität wiederholt zu Klagen von den Abteilungen.!8 Um ihr Image als ein seriöser Vertreter kolonialer Interessen nicht zu ge;- fährden, agierte die DKG im allgemeinen sehr zurückhaltend in der deutschen Öffentlichkeit. Ihre Propagandaarbeit entsprach einer »Rückbezogenheit auf klassisch-aufklärerische Bildungseinrichtungen«,19 wie sie in den Vortragsver- 110 "Träger aus dem Inneren waten bei Kribi durch den Fluß (Aufnahme von C. Müller, Alten- burg)«, Deutsche Kolonialzeitung, Nr. 26, 16.6:1906. anstaltungen zum Ausdruck kam, die, wie es E. Kehr für die Marinewerbung formulierte, »keine flatternden Fahnen und Musikkapellen kannte, und noch nicht auf direkte Massenwirkung eingestellt war«.6o Vor diesem Hintergrund läßt sich die ablehnende Haltung der DKG verstehen, die sie noch zu einem früheren Zeitpunkt gegenüber der Kinematographie eingenommen hatte. Im Mai I 89 8 lehnte der Ausschuß die Bitte des Regierungsrats Dr. Stuhlmann ab, der beantragte, »ihm den Betrag von 2500 Mark zur Beschaffung eines (kine- matographischen, d. Verf. ) Apparates für die Aufnahmen sowie der nötigen Negativ-Films zu bewilligen, wogegen die Negative der Gesellschaft zum Entwickeln und zum beliebigen Eigentum überlassen würden.«61 Mit der schnellen Einbindung von kinematographischen Vorführungen in die Propagandaarbeit der DKG- es lag gerade mal ein Monat zwischen Mül- lers Antrag an den Ausschuß und der Bekanntgabe an die Abteilungen, daß Müller sich bereit erklärte, auf Wunsch seine Filme in den Abteilungen vorzu- führen - vollzog sich eine Umkehr von jener Rückbezogenheit hin zu einer offensiveren Propagandaarbeit, in der sich die DKG auch auf Drängen der Abteilungen zunehmend den Kreisen in der Bevölkerung zuwandte, »die für den Erwerb der Mitgliedschaft überhaupt nicht oder zur Zeit nicht in Frage kommen«.6' Dies betraf vor allem Arbeiterkreise und kolonialpolitisch wich- III tige Zielgruppen wie Lehrer, das Militär und die Jugend, die zwar nicht aktiv an der Gestaltung der Kolonien mitarbeiten konnten, aber zumindest ideolo- gisch auf die koloniale Zukunft vorbereitet werden sollten.6J So betonte die DKG, daß »die Ausbreitung des kolonialen Gedankens in den breiten Schich- ten des Volkes nur auf dem Wege möglich sei, daß schon bei der Jugend die Kenntnis unserer Kolonien und die Liebe zu diesen erweckt werde«.64 Ein- dringlich appellierte die Zentrale an die Abteilungen, daß Vorträge für eine »tunlichst große Öffentlichkeit bestimmt« seien.6 ' Sie sollten nicht in »vor- nehmen Hotelräumen« zur Unterhaltung der Mitglieder stattfinden, sondern in »volkstümlichen Lokalen« zur Belehrung der gesamten Bevölkerung.66 Fi- nanziell versprach sich die DKG von den kinematographischen Vorführun- gen, daß »die davon zu erwartende Vermehrung der Mitglieder eine neue Ein- nahmequelle eröffnen würde«.67 Damit dies jedoch gelingen konnte, war eine lebendige Arbeit in den Ab- teilungen und der rege Austausch mit der Zentrale eine wesentliche Grundla- ge. Der Einsatz und die Einbeziehung der Kinematographie in die Kolonial- propaganda resultierte aus dem zunehmenden Druck, den die Abteilungen auf die Zentrale ausübten, indem sie verstärkt nach kinematographischen Vorfüh- rungen nachfragten.68 Man verwies dabei auf die Erfahrungen des Deutschen Flottenvereins, der schon seit 1901 kinematographische Vorführungen erfo lg- reich einsetzte. Zum Zeitpunkt von Müllers Premiere in Berlin waren sie ein fester Bestandteil der Abteilungsarbeit des DFV.69 Allein im Bereich Branden- burg gab es im Zeitraum März/A pril 1905 vier kinematographische Abende in den Abteilungen des DFV: 22.3. in Zehlendorf, 29-3- in Neudamm, 5+ in Potsdamm und 13+ in Friedenau.7° Wie die DKG bemerkte, war es für den DFV, der mit den großen Nord- und Ostseehäfen in Hamburg und Kiel die geeigneten Aufnahmeorte praktisch vor der Tür hatte, sehr viel leichter, sich das nötige Filmmaterial zu beschaffen.7' Dieser Fülle von Filmmaterial konnte die DKG nur mit der Einmaligkeit von Aufnahmen aus den fernen Kolonien begegnen, die, so stellte die DKG Ende 1905 zufrieden fest, »ungemein anlok- kend« seien.71 Aus dem Drängen der Abteilungen läßt sich schließen, daß sich diese, zu- mindest in den größeren Städten, in einer Wettbewerbssituation mit anderen nationalen Verbänden befanden, eine Beobachtung, die von Ulrich Soenius in seiner Studie über die rheinischen Abteilungen bestätigt wird.7J Zu- und Ab- wanderungen waren somit ein Problem, mit dem die Abteilungen ständig kon- frontiert waren, und kinematographische Vorführungen konnten folglich als Zeichen einer erfolgreichen Abteilungsarbeit gesehen werden, die wiederum die Fortführung der Arbeit und die Existenz der Abteilung sicherte.74 Die Abteilung Neumünster verzeichnete zehn Neueintritte nach einer Filmvor- führung und die Abteilung Kiel berichtet von 540 bzw. 300 Zuschauern pro Vorstellung.7' Bei dieser hohen Zuschauerzahl waren Filmvorführungen eine lukrative Einnahmequelle für die Vereinskasse. Diese Erfolge lagen, wie schon 112 bemerkt, im Interesse der Zentrale, denn wollte sie ihren Einfluß als kolonia- ler Interessenverband in der Politik geltend machen und auf Dauer festigen, so mußte sie an der Arbeit der Abteilungen und an wachsenden Mitgliederzahlen interessiert sein. In politischer Hinsicht versprach sich die DKG von den >ersten< Filmen aus den Kolonien nicht nur kurzfristige Aufmerksamkeit. Die Filme sollten darüber hinaus für eine positive Stimmung des Publikums gegenüber der Ko- lonialfrage sorgen. Angesichts der aktuellen politischen Lage in den Kolonien, die zu hitzigen Debatten im Reichstag führte, wurde in der Öffentlichkeit wiederholt die Frage nach dem Nutzen kolonialen Besitzes gestellt. Müllers Filme waren für die DKG eine willkommene Gelegenheit, ein positives Kolo- nialbild zu entwerfen, das durch ein immer beliebter werdendes Medium wei- te Kreise der Bevölkerung erreichte. War bereits zuvor in unzähligen Photo- graphien ein Authentizitätsversprechen durch eine »avancierte Technik der optischen Industrie und der Fetischisierung eines im Zuge der Entwicklung der Naturwissenschaften durchgesetzten Präzisionsbegriffs«76 eingeübt wor- den, konnte man nun im ,lebenden Bild< eine neue Dimension des visuellen Erlebens erschließen. Der Zuschauer hatte die Gelegenheit, sich mit eigenen Augen ein >wirkliches< Bild von dem ,Leben und Treiben< in den Kolonien zu machen, die es, ganz im Sinne der kolonialen Idee, wert waren, verteidigt und besiedelt zu werden. Auf eine >aktuelle< Berichterstattung mußte der Zuschauer auf Grund der extremen klimatischen Bedingungen für die Aufnahmeapparate und Opera- teure und die mehrwöchige An-und Abreise verzichten. Der Erfolg der Filme beruhte stattdessen auf dem besonderen Reiz exotischer Aufnahmen aus der afrikanischen Natur oder von der Bevölkerung sowie >zeitlich unabhängigen< Bildinhalten, die stellvertretend für die koloniale Herrschaft standen wie Ei- senbahnbauprojekte, Plantagenwirtschaft und Bilder aus dem öffentlichen kolonialen Leben. Aus den Filmbeschreibungen läßt sich schließen, daß die Filme ein wesentliches Merkmal mit der populären Kolonialliteratur teilten: Sie waren eine ,Projektionsfläche<, auf der sich wirtschaftliche Interessen mit nationalem Pathos und einem neuen touristischen Sehvergnügen verbanden.77 113 Anmerkungen 1 Gustav Noske, Kolonialpolitik und Bedeutung und Sozialstruktur der regio- Sozialdemokratie, Stuttgart 1914, S.117. nalen Abteilungen untersucht, wird nur 2 Ebenda, S. 78. begrenzt auf die Vortragsformen eingegan- 3 Vgl. die ausführliche und aktualisierte gen. Über kinematographische Vorführun- Bibliographie zur deutschen Kolonialge- gen findet sich kein Hinweis. schichte in Horst Gründers Geschichte der 9 Jahresbericht 1896, S. 58. deutschen Kolonien, 3. Auflage, Schöningh, 10 Der Bildbestand der DKG wird zur Paderborn 1995. Zeit als digitalisiertes Koloniales Bild- 4 Es existiert keine umfassende Arbeit archiv im Internet eingerichtet. Es han- über die Geschichte der DKG. Eine sehr delt sich dabei um ein Forschungsprojekt gute Einführung in die Organisation und der Stadt- und Universitätsbibliothek Interessenpolitik der Gesellschaft bis zum Frankfurt am Main und der Hochschule für Ersten Weltkrieg bietet die Dissertation Technik und Wirtschaft Dresden mit Un- von Richard Victor Pierard, The German terstützung der Deutschen Forschungsge- Colonial Society 1882-1914, Diss. lowa meinschaft, der Marga- und Kurt-Möll- State University 1964. gaard-Stiftung und der Adolf-Messer- 5 Die Geschichte der deutschen Kolo- Stiftung sowie des Hochschulrechenzen- nialkinematographie ist nahezu uner- trums der Johann Wolfgang Goethe Uni- forscht. Eine erste Einführung findet sich versität Frankfurt am Main. Die Gesamt- in den Arbeiten von Guido Convents A la zahl der Bilder beträgt etwa 55 . ooo, unter Recherche des Images oubliees: Prehistoire anderem ca. 5. ooo teilweise kolorierte Dia- du cinema en Afrique: 1897-1918, Organi- positiven (1ox10 cm) und ca. 25.000 Glas- sation Catholique Internationale du Cine- platten-Negative. Weitere Informationen ma et de l'Audiovisuel (OCIC), Brüssel dazu unter: http://www.stub.bildarchiv- 1986; »Film and German colonial propa- dkg.uni-frankfurt.de. Siehe dazu die beiden ganda for the black territorries to 191 8« , in: Aufsätze unter der gleichen Internetadres- Paolo Cherchi Usai, Lorenzo Codelli se: lrmtraud D. Wolcke-Renk »Sicherung (Hg.): Prima di Caligari: Cinema Tedesco und Erschließung des Bildbestandes der 1895-1920, Edizioni Biblioteca dell' Imma- Deutschen Kolonialgesellschaft an der gine 1990, S. 58-77; »Film und deutsche Stadt- und Universitätsbibliothek Frank- Kolonialpropaganda für die subsaharischen furt am Main«, Rundbrief Fotografie, N.F. Gebiete bis 1918)«, Zeitschrift für Afrika- 11, 1996, S.14-20; Uwe U. Jäschke, »Tech- studien (Wien), 9. Jg., 1991, S. 49-67. nische Aspekte zur Sicherung und Er- 6 Vgl. Pierard (Anm. 4), Kapitel V: »The schließung des Bildbestandes der Deut- German Colonial Society as an organizati- schen Kolonialgesellschaft«, Rundbrief on«, S. 96-II 8. Neben den Abteilungen gab Fotografie, N.F. 13, 1997, S.27-30. es noch kleinere Ortsgruppen. II Jahresbericht 1891, S. 11. 7 Jahresbericht der Deutschen Kolonial- 12 Die Jahresberichte geben keine Aus- gesellschaft 1898, S. 2. kunft darüber, wann die ersten Bilder kolo- 8 Die einzige mir bekannte Studie über riert wurden. 1909 beantragt der Ausschuß die Arbeit der Abteilungen stammt von Ul- auf Grund von Klagen der Abteilungen far- rich S. Soenius, Koloniale Begeisterung im bige Lichtbilder anfertigen zu lassen. Be- Rheinland während des Kaiserreiches, richt über die Sitzungen des Vorstandes der Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirt- Deutschen Kolonialgesellschaft' 1909, schaftsgeschichte Band 37, Selbstverlag 9.6.1909. Rheinisch, 1992. Da die sehr detaillierte 13 Jahresbericht 1905, S.p. Arbeit in erster Linie die wirtschaftliche 14 Wolcke-Renk (Anm. 10). 114 15 1905: 52 Bilder, 1906: 56 B., 1907: 57 Jungen einen besonders günstigen Tarif an- B., 1908: 57 B .. bot. 16 Material zur Ausarbeitung von er- 32 Deutsche Kolonialzeitung, DKZ, Nr. klärenden Vorträgen zu den Lichtbildern 33, 19.8.1905, S. 356. Die DKZ war das of- der Deutschen Kolonialgesellschaft über fizielle Organ der DKG. Deutsch-Ostafrika, Berlin 1895, S. 1. 33 Jahresbericht 1905, S. 47. 17 Ellen Strain, »Stereoscopic Visions: 34 Jahresbericht 1905, S. 46. Touring the Panama Canal«, Visual An- 3 5 Ebenda, S. 11. thropology Review, Vol.12, No. 2, fall/win- 36 Bericht über die Sitzung des Ausschus- ter 19961I997, S. 47· ses der Deutschen Kolonialgesellschaft 1905 , 18 Eine Wanderung durch unsere Koloni- 24.3.1905. en, DKG, Berlin 1901, S. 5. 37 DKZ, Nr. 16, 22-4-1905, S. 159. 19 Jahresbericht 1900, S. 61. 38 Afrika-Post, Nr. 8, 29-4-1905, S.119. 20 Jahresbericht 1899, S. 9. Der Afrika-Post zufolge waren Müllers Fil- 21 Jahresbericht 1901, S. 46. me nicht nur in Deutschland, sondern in 22 Jahresbericht 1900, S. 62. ganz Europa einzigartig. Bisher konnte ich 23 Jahresbericht 1901, S. 48. keinerlei Beweise dafür finden, daß bereits 24 Ebenda, S. 47-48; Jahresbericht 1906, zuvor in den deutschen Kolonien gefilmt s. 44· wurde. 25 Erst ab 1905 listet der Jahresbericht die 39 Ebenda. Serien nach Inhalt, Herausgeber, Produkti- 40 Ebenda, vgl. auch DKZ, Nr. 16, onsjahr, Anzahl der Bilder und der Angabe, 22-4-1905, s. 159. wie oft die Serie im Berichtsjahr verliehen 41 Altenburger Zeitung für Stadt und wurde. Ein Vergleich mit den Jahren zuvor Land, 15.2.1905. bleibt somit immer fehlerbehaftet und kann 42 DKZ, Nr. 17, 29-4-1905, S. 168. nur eingeschränkt interpretiert werden. 43 DKZ, Nr. 27, 8.7.1905, Nr. 41, 14.10. 26 Jahresbericht 1899, S. 62. 1905; Nr 42, 21.10.1905, Nr. 43, 28.10.1905; 27 Ebenda. Nr. 45, 11.11.1905, Nr. 7, 17.0.1906. 28 Zwischen 1900 und 1905 wechselte der 44 Afrika-Post, Nr. 127, 8.9.1905. Berechnungszeitraum mehrmals. Beziehen 45 DKZ, Nr. 7, 17.2.1906, S. 68. Die von sich die Zahlen für 1900 und 1901 auf den mir vorgeschlagene Reiseroute folgt den in- Zeitraum von Herbst des Berichtsjahres bis ternen Anweisungen der Zentrale, die dar- zum Frühling des Folgejahres, so gelten die um bat, Vorträge innerhalb der einzelnen Angaben für 1902 bis 1904 für den Zeit- Gaue zu koordinieren. raum von April bis März des folgenden 46 Altenburger Zeitung für Stadt und Jahres. Erst 1905 wurde der Werbezeitraum Land 15.2.1905 und 18.3.1905. dem Kalenderjahr angeglichen. 47 Ebenda, 18.3.1905. 29 Jahresbericht 1905, S. 47. 48 Ebenda, 25.2.1905. 30 Über die Jahre zuvor liegen keine ge- 49 Afrika-Post, Nr. 8, 29-4-1905, S. 119. nauen Angaben vor. Es läßt sich aber aus 50 Jahresbericht 1905, S. 52. den Jahresberichten entnehmen, daß auch 51 Ebenda, S. 11. in jenen Jahren der selbst organisierte Vor- 52 Ebenda, S. 51. trag nicht weniger unüblich war. 53 Ebenda, S. 11. 31 Jahresbericht 1900, S. 62. Nichtsdesto- 54 Afrika-Post, Nr. 15, 9.8.1906. Die weniger kamen auf die Abteilungen und Afrika-Post war eine Hamburger Kolonial- Ortsgruppen Fixkosten zu, wie z.B. die und Handelsschiffahrts-Zeitung, die von Miete von Sauerstofflaschen zum Betrieb Adolph Woermann ins Leben gerufen wur- der Projektoren. Aber auch für diesen Fall de. Woermann war Direktor der größten hatte die DKG ein Abkommen mit einer Dampfschiffahrtsgesellschaft, der Woer- Sauerstoffabrik getroffen, die den Abtei- mann-Linie und Deutschen-Ost-Afrika- 115 Linie, und Vorstandsmitglied der DKG. Es Travelling Exhibitor 1901-1907«. Vortrag scheint, daß Woermann mit Müllers Akti- auf der >International IAMHIST Confe- vitäten vertraut war oder sie sogar erst er- rence< Film and the First World War in möglicht hat. Amsterdam, 5.-11.7.1993. 5 5 Bericht über die Sitzungen des Vor- 70 Die Flotte, Mai 1905, Nr. 5, S. 76-77. standes der Deutschen Kolonialgesellschaft Darüber hinaus besaß Berlin zu der Zeit 1906, s. 42. bereits 16 ständige Kinos und die Berliner 56 Ebenda. Urania zeigte zum zweiten Mal den Licht- 57 Jahresbericht 190J, S. 11. bildervortrag von dem bekannten Afrika- 58 Bericht über die Sitzungen des Aus- reisenden und Photographen Carl Georg schusses der Deutschen Kolonialgesellschaft Schillings, Berliner Tageblatt, 11,4,1905. 1908, 27.11.1908, Bericht über die Sitzun- 71 Jahresbericht 190J, S. 11. gen des Vorstandes der Deutschen Kolonial- 72 Ebenda. gesellschaft 1909, S. 128-129. 73 Soenius, (Anm. 8), S. 61. 59 Sibylle Benninghoff-Lühl: Deutsche 74 So ist der Alldeutsche Verband in di- Kolonialromane 1884-1914 in ihrem Ent- rekter Konkurrenz zur DKG gegründet stehungs- und Wirkungszusammenhang, worden und »die Ortsgruppen des AV ent- Übersee-Museum Bremen: Reihe F, Bre- wickelten sich um einen Kern von verdros- mer Afrika Archiv, Band 16, Selbstverlag senen Mitgliedern der DKG.« Ebenda, des Museums, 1983, S. 26. Anm. 660, S. 81. 60 E. Kehr zitiert in Benninghoff-Lühl, 75 DKZ, Nr. 42, 21.10.1905, S. 452. Die ebenda. DKG ermahnte die Abteilungen, über ihre 61 Bericht über die Sitzungen des Aus- Veranstaltungen und deren Erfolge der schusses 1898, 10.5,1898. Es handelt sich Zentrale zu berichten. Die Abteilungen be- hier wahrscheinlich um Franz Stuhlmann schränkten sich allerdings überwiegend auf (1863-1928), deutscher Zoologe und For- Meldungen zur Art und dem Redner der schungsreisender, der zwischen 1889-1902 Veranstaltung. Deutsch-Ostafrika bereiste und 1902 76 Klaus Kreimeier, »M echanik, Waffen das Biologisch-landwirtschaftliche For- und Haudegen überall: Expeditionsfilme: schungsinstitut von Amani gründete. 1892 das bewaffnete Auge des Ethnografen«, in: erhielt die DKG eine Sammlung seiner Triviale Tropen. Exotische Reise- und Photographien aus Innerafrika. Jahresbe- Abenteuerfilme aus Deutschland 1919- richt 1892, S.15. 1939, edition text und kritik, München 62 Jahresbericht 190 J, S. 46. 1997, s. 48. 63 DKZ, Nr. p, 22.12.1906, S. 507. 77 Vgl. Sybille Benninghoff-Lühl, Joa- 64 Jahresbericht 190J, S. 10. chim Warmbold, »Ein Stückchenneudeut- 65 Jahresbericht 190J, S. 48. sche Erd . .. «. Deutsche Kolonial-Literatur. 66 Jahresbericht 1906, S. 42. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und 67 Sitzungen des Vorstandes 1906, S. 43. Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas, 68 Jahresbericht 190J, S. 11. Haag & Herchen Verlag, Frankfurt am 69 Vgl. Geoff Eley, Reshaping the Ger- Main 1982, bzw. Germania in Africa. man Right. Radical Nationalism and Poli- Germany's Colonial Literature, Studies in tical Change after Bismarck, S. 220-222; Modem German Literature, Vol. 22, Peter Martin Loiperdinger, »Pre-War Film Pro- Lang, New York 1989. paganda in Germany: the Navy League as 116 WILLIAM PAUL Unheimliches Theater1 Das doppelte Erbe des Films Im Herbst 1913 verspricht The Moving Picture News, ein wichtiges Blatt der Kinobranche, das kurz zuvor seinen Konkurrenten Exhibitor's Times aufge- kauft hatte, neben anderen Veränderungen auch, daß man bald »den neuen Namen der nunmehr vereinigten Publikationen« bekanntgeben würde.' Eini- ge Wochen später erscheint die Zeitschrift unter ihrem neuen Namen: The Motion Picture News! Heute mag diese Veränderung unwesentlich erscheinen, doch die Herausgeber erachten diesen Unterschied 1913 offenbar als ausrei- chend, um nunmehr das »höchste Streben der Motion Picture News[ ...] , die Kunst und die Industrie des motion picture in einem würdigen, ehrenhaften und fortschrittlichen Geist darzustellen«, zum Ausdruck zu bringen. Doch wie kann der Wechsel von moving picture zu motion picture in irgendeiner Weise als bedeutsame Veränderung erscheinen? Bald darauf erklärt The Motion Picture News den Unterschied, indem auf der Seite mit redaktionellen Stellungnahmen ein Artikel mit dem Titel »Moti- on Pictures Versus ,Moving< Pictures« gedruckt wird, der in einer Zeitschrift in Boston erschienen war: Wenn viele gute Leute den Irrtum begehen, die motion pictures als moving pictures zu bezeichnen, so hat dies zu zahlreichen humorvollen Bemerkungen über diese Form der Unterhaltung geführt. Obwohl die Masse kaum geneigt ist, die Herkunft einer Bezeichnung oder eines Namens zu analysieren, gibt es doch genügend Men- schen, die wissen, daß die fachgerecht projizierten motion pictures eigentlich eine schnelle Folge von Stereoptikon-Bildern sind, und die Genauigkeit des Ausdrucks »motion pictures« schätzen. In einem motion picture-Haus beschäftigen sich die Zuschauer nur mit dem, was auf der Leinwand erscheint.Jedes der zahllosen Bilder wird auf einer gleichbleiben- den, abgegrenzten Fläche gezeigt, alle zusammen simulieren sie Bewegung, doch die Bilder selbst bewegen sich nicht. Insoweit der Begriff moving pictures sich eingebür- gert hat, wird er von Menschen mit Unterscheidungsvermögen für die minderwer- tigen Häuser verwendet, während motion pictures eher auf den anständigen und geschmackvollen Charakter sowohl der Stätte als auch der Darbietung hinweist.i Wie dieser Artikel zeigt, soll die gewählte Bezeichnung den >Rang< anzeigen, den die Zeitschrift durch diese Aufwertung anstrebt. Der Wechsel von moving zu motion signalisiert den Aufstieg in eine andere Klasse genau zu der Zeit, da l 17 sich der Übergang zum langen Spielfilm als dominanter Form der Kinounter- haltung vollzieht. Die Einführung des Langfilms ist ökonomisch motiviert, da dies die Mög- lichkeit für höhere Eintrittspreise, größere Theater und längere Laufzeiten bietet. Gleichzeitig jedoch behandeln die zeitgenössischen Fachleute diesen Wandel immer wieder als eine Klassenfrage. Sie begreifen, daß der lange Film - der höhere Investitionen verlangt, aber auch ungleich höhere Gewinne ver- spricht - mehr Publikum erreichen kann, indem er ein breiteres Klassenspek- trum anspricht. Der Präsident der William L. Sherry Film Company schreibt 1914: »Langfilme haben mehr als alles andere dazu beigetragen, den Anteil der besseren Kundschaft der motion picture-Theater zu erhöhen. Auch eine vorsichtige Schätzung wird ihnen eine quantitative Steigerung um fünfzig Prozent zuschreiben und noch weit mehr im Hinblick auf den Rang der Indu- strie.«4 Adolph Zukor, Gründer der ersten Gesellschaft für Langfilmproduk- tionen, der Famous Players, behauptet, daß zuvor die meisten Menschen Fil- me »nur um ein Weniges besser als das burlesque-Theater und deutlich unterhalb des billigen Vaudeville« eingeordnet hätten.1 Zukor strebt danach, das Kino so zu verändern, daß der Langfilm »ein Pendant des durchschnittli- chen Bühnenstücks« wird.6 Durch diese Anlehnung an eine anerkannte Form von Bühnendarbietung kann er ein Publikum aus den oberen Klassen anlok- ken und gleichzeitig den anderen eine Art der Unterhaltung bieten, für die sie zwar mehr bezahlen müssen als beim Besuch eines Ladenkinos, die sie sich aber sonst für gewöhnlich überhaupt nicht leisten können. Die Annäherung des Kinos an die Bühne bedeutet auch, es von seinen Wurzeln im Vaudeville, im Jahrmarkt und den Nickelodeons zu trennen. Zu- gleich gilt es, einen neuen Namen zu finden, um die Herauslösung aus diesen Verbindungen zu erleichtern. Schon früh lehnen diejenigen, die hoffen, aus der neuen Unterhaltungsform werde eine neue Kunst hervorgehen, den von Kre- thi und Plethi bevorzugten Ausdruck »movies« ab: »Allgemein herrscht Über- einstimmung, daß diese Bezeichnung in keiner Weise geeignet ist für die wich- tigen Lichtspiel-Produktionen von heute.«7 Essanay, eine der bedeutendsten Produktionsgesellschaften dieser Zeit, veranstaltet 1910 einen »New Name«- Wettbewerb, »mit dem Zweck, eine geeignetere Benennung für den Ausdruck movingpicture show zu finden«.8 Die Juroren entscheiden sich fürphotoplay, Lichtspiel, da dieser Ausdruck [ ...] eine für das allgemeinen Publikum eingängigere und genauere Beschreibung ist als jeder andere auf der langen Liste der eingereichten Begriffe [ ...] . Das Wort Lichtspiel [photoplay] scheint uns größere Chancen zu haben, vom Publikum an- genommen zu werden, als Kombinationen von ausgefallenen oder technischen Ausdrücken wie kino, graph, drome, eine usw. Man wird davon reden können, »ins Lichtspiel zu gehen« oder »ein Lichtspiel zu sehen«, wie das Publikum davon spricht, »in die Oper zu gehen« oder »eine Oper zu hören«, da all diese Ausdrücke sofort einen zutreffenden Eindruck vom Charakter der Darbietung vermitteln.9 118 Daß hier auch der Klassenaspekt eine Rolle spielt, wird durch den Vergleich mit der Oper deutlich: mit einer Bühnenform, die sich fast ausschließlich an die wohlhabendsten Schichten richtet.Um die Respektabilität des Theaters zu erlangen, muß das Kino einen Namen tragen, der seinerseits Würde und An- stand ausstrahlt. Bezeichnungen wirken sowohl konnotativ wie denotativ, und so erklärt sich die Entscheidung für »Lichtspiel« eindeutig damit, daß hier die Nähe zur Bühne evoziert wird. Warum aber motion pictures eher Respektabilität kon- notieren soll als moving pictures, ist merkwürdig, zumal die in The Motion Picture News angebotene Erklärung den Klassenstatus mit einer gewissen Kenntnis verknüpft. Nur wenn wir unser Wissen über die Wirkungsweise der »motion pictures« zu erkennen geben, können wir uns als »Menschen mit Unterscheidungsvermögen« verstehen und dadurch den Film auf das künstle- rische Niveau des Theaters heben. Diese Behauptungen schließen einen Ge- gensatz ein zwischen Wissen und Gebanntsein, der auf das doppelte Erbe des Kinos verweist und seinerseits den Klassengegensatz reflektiert, den ich be- handeln werde. Ich möchte im folgenden dieses doppelte Erbe untersuchen, um zum einen unser Verständnis davon, wie Film zu jener Zeit wahrgenom- men wird, zu bereichern, und andererseits eine faszinierende Vorführungspra- xis der zehner Jahre zu beschreiben, die uns heute überaus fremdartig er- scheint. Mit seiner Definition der »fachgerecht projizierten motion pictures« als »einer schnellen Folge von Stereoptikon-Bildern« stellt der Artikel in The Motion Picture News den Film in den Kontext der Laterna magica-Vorstellun- gen früherer Jahrzehnte. Doch was mag dies für das zeitgenössische Publikum von 1913 bedeutet haben? In den letzten Jahren sind zahlreiche wertvolle Untersuchungen zur Magie in Laterna magica-Vorführungen des späten acht- zehnten und des neunzehnten Jahrhunderts sowie zur Vorliebe für Phantas- magorie und Schauer entstanden. 10 Im Kontext der Entwicklung der Laterna magica kann, wie Tom Gunning sagt, das frühe Kino zurecht als ein »K ino des Staunens« bezeichnet werden. 11 Schon vor dem Film ist Bewegung als Quelle des Erstaunens ein vertrautes Element von Laterna magica-Vorführungen, bei denen die Bewegungssimulation durch eine Verschiebung des Apparats selbst oder das Ineinanderschieben zweier Projektionsbilder erzeugt werden kann. Diese Möglichkeiten sind allerdings beschränkt, so daß das Kino zwar in der Verlängerung der Laterna magica-Vorführung gesehen werden kann, sich von dieser aber darin unterscheidet, daß es scheinbar - auf magische Weise - die unheimliche Wiedergabe naturgetreuer Bewegung erleben läßt. Doch wenn die Erzeugung von Bewegung etwas Magisches hat - eine scheinbare Taschenspielerei, die in die phantasmagorische Tradition der Later- na magica paßt -, so ist diese Magie von völlig anderer Art. Bei der Laterna magica wird die Umgebung bewußt manipuliert, um die Sinne täuschen zu können. So ist z.B. durch die völlige Dunkelheit nicht auszumachen, woge- rr9 nau sich die transparente Leinwand befindet; dies wiederum ermöglicht es, irgendwo im Raum schwebende Geistererscheinungen hervorzurufen. Verän- dert man die Umgebung, indem man den Raum um ein Weniges heller macht, so verschwindet die Illusion. Als Nachkomme der Laterna magica kann auch das Kino derartige Phänomene erzeugen, wie dies um die Mitte der zehner Jahre der Fall ist mit der kinematographischen Imitation von Pepper's Ghost, einer der berühmtesten Phantasmagorien des 19. Jahrhunderts. 12 Bekannt als entweder »Kineplastikon« oder »Photoplast« verwendet das als Pepper's Ghost on the Motion Picture Screen angekündigte Schauspiel eine durchsichti- ge Spiegelscheibe, welche den genauen Standort der Leinwand verbirgt und so den Eindruck hervorruft, die projizierten Schauspieler bewegten sich tatsäch- lich auf der Bühne.'J F. H. Richardson, der wohl scharfsinnigste zeitgenössische Autor zur Filmtechnik, bemerkt: »Die Sache ist, unserer Meinung nach, nicht für ein Filmtheater geeignet. Es ist eine Vaudeville-Nummer [. ..] .«'4 Zu der Zeit, da Richardson dies schreibt, kann er davon ausgehen, daß die meisten sei- ner Leser mit ihm darin übereinstimmen, daß die künstlerische Zukunft des Kinos bei der höheren Kunstform Theater liegt und nicht bei der niede- ren Form von »Nummern«. Dennoch ziehen sich diese durch die gesamte Filmgeschichte, insbesondere im billigen Amüsement und bei speziell für den Nervenkitzel in Vergnügungsparks gedrehten Filmen. Doch das bedeutet meist, daß die Filme entweder Teil anderer sinnestäuschender Darbietungen sind oder von diesen begleitet werden. Auf der anderen Seite benötigt das Kino die Taschenspielerei der Laterna magica-Vorführung nicht, um seine Illu- sionen zu erzeugen. Genauer gesagt, hier geht der Bewegungstrick anders vor sich: »[ ...] die Bilder selbst bewegen sich nicht«, wie The Motion Picture News so emphatisch schreibt. So lange die Bilder in der entsprechenden Mindestgeschwindigkeit projiziert werden, gibt es nichts, was uns während der Vorführung die Einzelbilder, auf denen die Illusion beruht, sehen ließe. Die Bewegung, die Täuschung, vollzieht sich voll und ganz im Geist des Zu- schauers. Auch wenn der Nachbildeffekt schon seit den Anfängen des Films als die wesentliche Erklärung für die Bewegungsillusion angeführt wird, handelt es sich in Wirklichkeit eher um eine Vorbedingung, die für den besonderen me- chanischen Apparat notwendig ist, der zur Projektion verwendet wird.'l Der intermittierende Mechanismus herkömmlicher Projektoren benötigt eine Blende, um während des Filmtransports den Lichtstrahl zu unterbrechen, so daß die Leinwand für eine gewisse Spanne der Vorführzeit pro Bild dunkel bleibt. Der Nachbildeffekt garantiert allein die Bildkontinuität. Doch selbst wenn das Licht ununterbrochen strahlt - wie bei Projektoren ohne Blende oder heutigen Schneidetischen -würde man die Bewegung wahrnehmen, ohne daß Nachbilder hier eine Rolle spielen. 16 Bis heute ist nicht völlig geklärt, was genau für die Wahrnehmung von Bewegung in Filmen verantwortlich ist. Ent- 120 sprechend muß jede mögliche Erklärung geheimnisvoller klingen als die scheinbar einleuchtende Theorie vom Nachbildeffekt. Doch bereits 1912, ein Jahr vor dem Erscheinen der gerade zitierten Arti- kel in The Motion Picture News, bieten Max Wertheimers »Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung« eine Erklärung, die durch die Entdek- kung des »Phi-Phänomens« mit der Theorie des Nachbildeffekts radikal bricht. '7 Der Psychologe Hugo Münsterberg erläutert das Problem, indem er in seinem The Photoplay: A Psychological Study ( 1916), einem der frühesten filmtheoretischen Werke, Forschungen aus »den letzten dreißig Jahren« zu- sammenfaßt: Die Bewegungswahrnehmung ist eine eigenständige Erfahrung, die nicht auf ein einfaches Sehen von einer Folge verschiedener Positionen reduziert werden kann. Ein eigentümlicher Bewußtseinsinhalt muß solch einer Folge visueller Eindriicke beigefügt werden. [ ...] vor allem aber schaffen solche Tests Klarheit dariiber, daß das Sehen von Bewegungen eine einzigartige Erfahrung ist, die vom tatsächlichen Sehen aufeinanderfolgender Positionen völlig unabhängig sein kann. [ ...] Das Be- wegungserleben wird hier offensichtlich durch das Zuschauerbewußtsein hervor- gebracht und nicht von außen erregt.'8 Es ist also etwas Magisches um die Bewegung im Film, weil wir sie nicht gänz- lich erklären können, aber es handelt sich um eine besondere Art der Magie, die nichts mit Taschenspielerei zu tun hat. Der Zauber wird von und in unse- rem Geist erzeugt. Es ist eine Art natürliche Magie.' 9 Diese geistige Magie ist ein zentraler Punkt in Münsterbergs Theorie, da für ihn die Einzigartigkeit des Films als Kunstform in dessen Fähigkeit be- steht, mentale Prozesse imitieren zu können. Das Bild ist eine Fläche, und dennoch entsteht durch perzeptive Hinweise geistig ein Gefühl von Tiefe. Es gibt keinerlei Bewegung im Einzelbild, doch die schnell hintereinander proji- zierten Phasenbilder veranlassen den menschlichen Geist, den Bewegungsein- druck zu erschaffen: Tiefe und Bewegung gleichen sich darin, daß sie in der Welt des Films nicht als harte Fakten, sondern als Mischung von Fakt und Symbol zu uns kommen. Sie sind an- wesend, und doch sind sie nicht in den Dingen. Wir statten die Eindriicke mit ihnen aus.'0 Andre Bazin könnte hiergegen eingewandt haben, daß die Photographie »auf uns [wirkt] als ein >natürliches< Phänomen«21 , doch sie wirkt auf uns auch- insbesondere durch die Bewegung auf der Leinwand - als ein übernatürliches Phänomen. Die Art und Weise, wie das Kino dazu in der Lage ist, aus unserem mentalen Apparat Magie zu ziehen, hat ganz einfach etwas Unh~imliches.'' Dennoch zeigt mein Verweis auf Bazin und seine realistische Asthetik, daß man das photographische Bild auf andere Weise betrachten kann. Weiter oben 121 sprach ich von einem doppelten Erbe des Kinos. Bislang habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie das Kino als Höhepunkt in einer Geschichte der Lein- wandunterhaltung auftritt, als Erbe der 25ojährigen Geschichte der Laterna magica. Doch das Kino erbt auch noch eine andere Geschichte, die für ein Blatt wie The Motion Picture News 1913 besonders wichtig ist: die des Thea- ters. Während The Motion Picture News darauf hofft, daß das Ansehen des Kinos sich durch eine Allianz mit der Bühne verbessert, hat das Theater jener Zeit gerade einen dreißigjährigen tiefgreifenden Wandlungsprozeß durchlau- fen, der sich am auffälligsten in der Arbeit des Autors und Regisseurs David Belasco zeigt: Die Anfänge von Belascos Karriere am Broadway 1882 sind mehr als nur ein wich- tiger persönlicher Meilenstein. Zu dieser Zeit vollzogen sich Veränderungen, wel- che auf das Theater in der ganzen Welt große Auswirkungen hatten; der Bühnenna- turalismus führte die entscheidende Schlacht gegen die älteren, etablierten Konven- tionen und Praktiken.2J Ich werde hier nicht auf die programmatischen Aspekte des Theaternaturalis- mus eingehen, doch die »peinlich genaue Beachtung äußerlicher materieller Details - in Szenerie, Ausstattung, Licht usw.«24 sowie die Abkehr von gemal- ten Kulissen hin zu lebensechten, dreidimensionalen Bühnenbildern sind In- novationen, die auch Auswirkungen haben für die Rezeption der langen Spiel- filme. Wenn das Theater in diesen drei Jahrzehnten, die der Einführung des Langfilms vorausgehen, sich immer mehr in Richtung eines Material-Realis- mus der Gegenstände und Umgebungen bewegt, dann kann der Film ebenso- gut als ein Kulminationspunkt der Theatergeschichte wie der Laterna magica- Tradition gesehen werden.25 Wo das Theater versucht, die Außenwelt in all ihren konkreten Einzelheiten zu zeigen, gelingt dies dem Kino mit einer der Bühne unerreichbaren Leichtigkeit. Diese beiden Geschichten mögen in ein und demselben Gegenstand zu- sammentreffen, doch sie sorgen dort gleichzeitig für eine Art Spannung, da sie unterschiedliche künstlerische Ziele anstreben: eine Art Übernatürlichkeit steht dem Naturalismus gegenüber, das Staunen der Überzeugungskraft. Das will nicht sagen, daß das Publikum 1912 nicht gestaunt hat angesichts von Child's Restaurant, das Belasco einschließlich des Dufts von Pfannkuchen für die Inszenierung von The Governor's Lady peinlich genau nachgebaut hat, doch es handelt sich um eine andere Art von Staunen. Wenn das Restaurant »in allen Einzelheiten genau nachgebildet« ist, wie es in Belascos Bühnenan- weisungen heißt, so handelt es sich dabei ebensowenig um Zauberei wie bei dem angeblichen Ankauf des »I nnern einer Heidelberger Studentenbude« durch den französischen naturalistischen Regisseur Andre Antoine, um diese dann »so wie sie ist auf die Bühne« zu stellen.26 In gewisser Hinsicht wären wir weniger erstaunt, wenn ein Film uns das tatsächliche Child's Restaurant 122 oder eine wirkliche Studentenbude zeigte, und doch ist das Kino auf eine an- dere Art illusionistisch als ein Bühnenbild. Es besteht noch ein weiterer Unterschied, da es in den angeführten Beispie- len um Nachbauten von ihrerseits gebauten Räumen geht, was bedeutet, daß man sie, die nötige Zeit und entsprechende Mittel vorausgesetzt, auf der Büh- ne ebensogut errichten kann wie in der Wirklichkeit. Doch wie verhält es sich mit Naturszenerien? Für Tiger Rose (1917), ein Stück, das im Nordwesten Kanadas spielt, bildet Belasco auf der Bühne einen Wald nach und läßt auf außergewöhnlich realistische Weise Sturm und Regen niedergehen. The Girl of the Golden West ( 1905) eröffnet er mit einer Ansicht des Cloudy Mountain in der Sierra N evada.27 Für derartige Bühnenbilder sind verschiedene Arten von trompe l'ceil-Effekten nötig. Dadurch fallen sie eher in den Bereich des magischen Illusionismus. So erzeugt Belasco in The Girl of the Golden West tatsächlich eine Bewegungsillusion durch ein Rollpanorama, welches das Pu- blikum vom Berg in die Stadt führt. Dies, so ein Kommentar 1940, nimmt »ei- nen für die Filmtechnik charakteristischen >Abwärtsschwenk«< vorweg.28 Doch wie sehr auch der Realismus des naturalistischen Theaters auf das Kino hinzuführen scheint, man muß immer noch unterscheiden zwischen Realis- mus und Realität. Das naturalistische Theater richtet einen dreidimensionalen Raum so her, daß er eine wirkliche Lokalität auf eine Weise evoziert, daß die Zuschauer dies für »realistisch« halten können. Der Film dagegen zeigt eine zweidimensionale Fläche, auf der »Realität« wiedergegeben wird. Im Zusammenhang dieser Entwicklung des Kinos hin zum Theater wird verständlich, warum viele zeitgenössische Schriften zum Film dessen Haupt- vorteil darin sehen, daß er die Welt der Natur in das künstliche Umfeld der Bühne holen kann.29 Wie Tom Gunning scharfsichtig beobachtet: » In ihrem eigenen historischen Kontext betrachtet, bildet die Projektion der ersten be- wegten Bilder den Höhepunkt einer Periode intensiver Entwicklungen im Bereich visueller Unterhaltungsformen, eine Tradition, in der Realismus vor allem für seine unheimlichen Effekte geschätzt wurde.«30 Gunning schließt das Theater nicht mit ein bei den »visuellen Unterhaltungsformen«, und es ist fraglich, ob der europäische Naturalismus mit seiner Absicht, den Einfluß der Umgebung auf die menschliche Existenz zu beschreiben, bewußt nach un- heimlichen Effekten strebt. Der amerikanische Naturalismus, insbesondere Belasco, verfährt anders in dieser Hinsicht, da Belascos Realismus oft so groß- artig angelegt ist, daß es ihm eindeutig darum geht, den Zuschauer in Staunen zu versetzen. Doch auch wenn das Filmbild so viel realer wirkt als jede Wiedergabe einer natürlichen Umgebung auf der Bühne, ist es trotzdem eine größere Illusion als die trompe l'ceil-Techniken, denn, wie schon Münsterberg zutreffend bemerkt, es zeigt etwas, das nicht wirklich da ist.3' Im Theater ist jeder Gegenstand auf der Bühne tatsächlich anwesend und existiert im selben Raum wie die Zu- schauer. Im Film zeigt das Bild eine scheinbare physische Realität, die aus ei- 123 nem bloßen Spiel von Licht und Schatten besteht. Die paradoxe Natur des Films mit seinem Spiel von An- und Abwesenheit provoziert bei dem franzö- sischen Kritiker Louis Delluc nach seinen ersten Erfahrungen im Kino eine vielsagende Reaktion, die selbst spielerisch paradox ist: Ein zufälliger Abend in einem Kino an den Boulevards machte mir eine so außeror- dentliche künstlerische Freude, daß diese nicht mehr von der Kunst abhängig schien. Seither weiß ich, daß der Film dazu bestimmt ist, uns flüchtige und ewige Eindrücke von Schönheit zu verschaffen, wie sonst nur das Schauspiel der Natur oder manchmal das des menschlichen Handelns.l' Künstlerische Freude durch etwas, das nicht Kunst ist, Schönheit, die gleich- zeitig flüchtig und ewig ist - all dies verweist auf die Unheimlichkeit des Ki- nos, das uns eine Erfahrung ermöglicht, die uns bewegt über alle konventio- nellen rationalen Begriffe hinaus, die sie vielleicht noch im Zaum halten könnten. Doch wenn das Kino so viel Macht hat, das Vertrauen in unsere eige- nen Wahrnehmungsmechanismen zu erschüttern, wie kann es dann gleichzei- tig versuchen, seinen Status zu dadurch zu verbessern, daß es mit transparen- ten Bildern zu einem Theateranbieter wird? Die Beherrschung des unheimlichen Bilds Da Theater und Film verschiedene Illusionen erzeugen, haben sich zu der Zeit, als der Langfilm aufkommt, entsprechend unterschiedliche Präsentationsmo- di herausgebildet. Im Folgenden beschäftige ich mich mit diesem Unterschied sowie den Konsequenzen, die sich hieraus für die Vorführpraxis im Kino der zehner Jahre ergeben. Werden Bühnenbild und Handlung durch ein aufwen- diges, vergoldetes Proszenium betrachtet, so ist die Illusion als solche deut- lich, weil das Publikum aktiv dazu beitragen muß, daß sie zustandekommt. Ganz gleich wie sorgfältig, detailliert und realistisch das Bühnenbild gestaltet ist, es gehört demselben Raum an wie das Proszenium. Die Vorstellung einer unsichtbaren vierten Wand kann bei dieser Art Theater nur entstehen, indem das Publikum dazu auf gefordert wird, zum Erschaffen der Bühnenillusion beizutragen, und indem es diese Fiktion akzeptiert. In gewisser Weise wird das Unheimliche der Illusion dadurch gezähmt, daß es unseres Einverständnisses bedarf: Wir tragen dazu bei, sie zu erzeugen. Beim Film dagegen bleibt die Il- lusion auf verstörende Weise unheimlich, denn sie entsteht in unserem Inne- ren als Ergebnis unseres Nervensystem, und gleichzeitig bleibt sie von uns unabhängig, denn wir können sie nicht außer Kraft setzen. , Das naturalistische Theater mit seiner Ästhetik der vierten Wand hat somit einen Weg gefunden, den Raum des Geschehens von dem des Theaters zu scheiden. Doch es ist weniger deutlich, wie das Filmbild, dessen Raum so ver- Abb. 1. Der Weg, der nicht eingeschlagen wurde: Das American Theater in Salt Lake City, Utah, bei seiner Eröffnung 1913 mit 3000 Plätzen das dort größte, speziell für Filmvorstel- lungen gebaute Theater, folgt dem Beispiel der Nickelodeons. Es hat keine Bühne und die Leinwand wird von einem vergoldeten Rahmen eingefaßt. schieden ist von dem, in dem wir uns befinden, vom übrigen Saal abgegrenzt werden soll. Die frühesten Vorführungen in Vaudeville-Häusern beschwören eine Art magischen Piktorialismus herauf: Sie fassen bisweilen die Leinwand in einen vergoldeten Rahmen und versuchen so die Malerei direkt nachzuah- men. Diese Praxis setzt sich auf zweifache Weise in der Nickelodeon-Ära fort, zum einen dadurch, daß man sie ganz einfach beibehält, zum anderen, indem die Einrahmung zu einem architektonischen Element wird. F. H. Richardson, in The Moving Picture World zuständig für technische Fragen, empfiehlt 1908: »Ein Vorhang [d. i. eine Leinwand] von genau der Breite des Filmbildes und von einem auffallenden Proszenium umgeben ergibt den bestmöglichen Ef- fekt«, während ein Artikel von 1911 im selben Blatt eine schwarze Bildmaske vorschlägt, um das Problem, das Filmbild in den zu der Zeit üblichen vergol- deten Rahmen einzupassen, zu vermeiden.H Wie auch immer, bis zum Beginn der Langfilmperiode scheint das wie ein Gemälde gerahmte Leinwandbild gängige Vorführpraxis gewesen zu sein. (Abb. 1) 125 Doch als die ersten langen Spielfilme aufkommen, wird zu einer anderen Vorgehensweise geraten, wodurch die Filmvorführung sich in eine deutlich andere Richtung entwickeln soll: Unserer Meinung nach ist so etwas wie ein Kompromiß zwischen der normalen Bühne und der des Filmtheaters wünschenswert. Stellen wir uns eine gewöhnliche Bühnenöffnung vor: Sie mag etwa zwölf bis fünfzehn Meter breit sein und entspre- chend tief. Doch man will kein Bild in dieser Größe. Wie uns scheint, ist es in einem solchen Fall das Beste, die Leinwand weit hinten auf der Bühne anzubringen und mit den beiden Seiten des Hauses durch bemalte Tücher oder Kulissen zu verbin- den. Bei der Vorführung der Bilder im verdunkelten Saal hat das Publikum dann den Eindruck, es sehe die Darstellung einer Szene im Bühnenhintergrund. Man be- trachtet das Geschehen gewissermaßen durch eine Öffnung oder einen Tunnel, wobei es an den Seiten nichts gibt, was die Aufmerksamkeit ablenken könnte, son- dern im Gegenteil soll die Einrichtung des Ganzen komplementär zum Bild sein und die Aufmerksamkeit auf letzteres konzentrieren.ii Dieser Vorschlag ist eine Folge der Tatsache, daß immer häufiger Filme in Theatern vorgeführt werden, was zu entsprechenden Problemen führt.JS Eine »gewöhnliche Bühnenöffnung«, so heißt es, sei »zwölf bis fünfzehn Meter breit«, doch die Leinwand in dieser Zeit ist »in einem kleinen Haus« etwa vier Meter breit, in einem mit »weitläufigen Dimensionen« vielleicht fünf bis sie- ben Meter.J6 In einer verdunkelten Theaterbühne würde eine schwarze Maske oder ein vergoldeter Rahmen nur die geringe Größe des Bildes unterstreichen und es vom dramatischen Raum der Bühne deutlich absetzen. Die Lösung, die Leinwand durch eine Kulisse einzurahmen, sorgt für eine Kontinuität von Bühne und Filmbild: Wie bei einer Theateraufführung nimmt die Szenerie die gesamte Breite ein, doch die Handlung spielt sich dann gewissermaßen im Hintergrund ab. Auf diese Weise entsteht eine neue Illusion, welche die der realistischen Bühnentechnik ergänzt und erweitert: im Vordergrund eine na- turgetreue Nachahmung, im Hintergrund ein photographisches Abbild der Wirklichkeit. Selbst wenn derartige Vorrichtungen, allgemein »picture settings« genannt, in den Premierekinos bald zur Ausstattung gehören, weiß ich nicht, ob die in dem zitierten Artikel beschriebene Bühneneinrichtung einfach nur eine Emp- fehlung ist oder sich auf eine tatsächliche Praxis bezieht.37 Auch habe ich nicht genau herausfinden können, wann das erste picture setting verwendet worden ist. Doch es gibt einen Vorläufer, der noch in die Zeit vor der Nickelodeon- Ära fällt: die Hale's Tours, die zuerst 1904 auf der Saint Louis Fair stehen und dann für die nächsten Jahre im ganzen Land viel Popularität genießen.38 Die Hale's Tours verwenden einen echten Eisenbahnwaggon mit einer Leinwand an der Vorderwand, so daß man den Eindruck hat, durch ein Fenster zu schau- en. Die meist als Rückprojektion gezeigten Filme werden vorne auf der Loko- motive gedreht. Die gesamte Anordnung soll den Eindruck einer Zugfahrt 126 nachahmen, mit dem Raum des Filmbildes als einer scheinbaren Fortsetzung des Raums, in dem sich die Leinwand befindet. Auch wenn es speziell für die Hale's Tours gedrehte Filme gibt, kann man bereits von Anfang an auf einen Bestand zurückgreifen, der zu diesen Zwek- ken hervorragend geeignet ist: die in England um die Jahrhundertwende so beliebten Phantom Rides, »konventionell projizierte Landschaftsaufnahmen, die vom Schienenräumer einer fahrenden Lokomotive aus gefilmt wurden«.J9 Charles Musser zitiert eine zeitgenössische Reaktion auf einen Phantom Ride- Film: Der Zuschauer war kein Außenstehender, der das Rasen der Wagen von einer siche- ren Position aus betrachtete. Er war der Passagier einer geisterhaften Zugfahrt fphantom train ride], die ihn mit fast einer Meile pro Minute durch den Raum trug. Da war kein Rauch, noch zitternde Scheiben oder mahlende Räder. Da war nichts, was die Bewegung andeutete, außer dem Anblick der schimmernden Gleise, die unaufhörlich und schnell verschlungen wurden, sowie das vorbeischießende Pan- orama des Bahndamms und der Zäune. Der Zug war unsichtbar, und doch fegte die Landschaft unbarmherzig vorbei [ ...] ~0 Wie diese.Beschreibung eines Vorläufers der Hale's Tour zeigt, ist die Bezeich- nung Phantom Ride überaus passend, denn es ist tatsächlich etwas Unheimli- ches um diese Filme, durch welche die Zuschauer scheinbar zu körperlosen Geistern werden. Da jedoch diese »Geisterbilder« in einem wirklichkeitsge- treuen Umfeld verankert sind, können die Hale's Tours den phantastischen Kitzel der Fahrt erzeugen und gleichzeitig die unheimlichen Aspekte des Me- diums zähmen, indem die Illusion von der Leinwand ins Innere des nachge- bauten Waggons ausgedehnt wird. Ein solcher Waggon ähnelt den weiter oben beschriebenen Theaterszenerien, bei denen das Filmbild gewissermaßen im Bühnenhintergrund erscheint. Somit bildet der Eisenbahnwaggon nicht nur ein Umfeld für das Bild, sondern er macht es auch beherrschbar. Bevor ich näher betrachte, wie die Zähmung des Unheimlichen durch Büh- nenbauten für Kinovorstellungen in den zehner Jahren vonstatten geht, möch- te ich kurz auf Sigmund Freuds Artikel zu diesem Thema eingehen, um ge- nauer angeben zu können, wie der magische Effekt des Films in Beziehung zum Theater verstanden werden kannY Freud schreibt, das Unheimliche be- ruhe entweder auf der Wiederkehr von durch die Zivilisation »überwunde- nen« Überzeugungen - wie der vom triumphierenden rationalen Denken aus- getriebene Animismus - oder auf der Wiederbelebung »verdrängter« Gefühle eines Individuums.•• Terry Castle erweitert Freuds Argumentation um eine historische Dimension, die auch für den Film eine Rolle spielt, weil dadurch provozierende Gedanken über das eine Erbe des Kinos möglich werden: Wann aber ereignete sich diese Internalisierung rationalistischer Denkweisen [d ie 127 frühere Formen des Denkens überwinden]? Freud meint, daß dies zumindest für das Abendland nicht lange zurückliegt. An verschiedenen Stellen in »Das Unheim- liche« [ ...] läßt sich nur schwerlich die Schlußfolgerung vermeiden, daß dies wäh- rend des achtzehnten Jahrhunderts geschehen ist, durch die überzeugte Ablehnung von Erklärungen, die auf das Übernatürliche verweisen, mit seinem drängenden Suchen nach systematischem Wissen, mit seiner selbstbewußten Aufwertung der »Vernunft« gegenüber dem »Aberglauben«. Damals erfuhren die Menschen zum ersten Mal das überwältigende Gefühl von Fremdartigkeit und Beunruhigung, das laut Freud für das moderne Leben so charakteristisch ist.4l Die Aufklärung schafft so ihre eigenen Formen der Mystifizierung; dies gilt Castle zufolge insbesondere für die »Geister-Schauen im Europa des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts -illusionistische Darstel- lungen und öffentliche Vergnügungen, bei denen >Gespenster< durch Einsatz der Laterna magica herbeigerufen wurden«.44 Castle verweist auf das auffallende Paradox, wie diese Vorführungen gleichzeitig entzaubern und erneut mystifizieren, eine rationale Erklärung bieten, um ein unheimliches Gefühl hervorzurufen: Die frühen Laterna magica-Vorführungen entwickeln sich als scheinwissenschaftli- che Übungen einschließlich der einleitenden Vorlesung über den Unsinn des Gei- sterglaubens und die verschiedenen Betrügereien, die Geisterbeschwörer und Ne- kromanten im Laufe der Jahrhunderte begangen haben. Doch der pädagogische Vorwand verschwindet schnell, wenn die eigentliche Phantasmagorie beginnt, denn die Schlauen unter den Illusionisten achten darauf, niemals vollständig preiszuge- ben, wie ihre eigenen seltsamen, oftmals furchterregenden Erscheinungen erzeugt werden. Alles dient ganz unverhohlen dazu, den Effekt des übernatürlichen zu verstärken.4s Für solche Vorstellungen in einem scheinbar rationalistischen Kontext gibt es verblüffe nde Parallelen bei den frühesten Filmvorführungen. Die ersten De- monstrationen des Cinematographe finden auf wissenschaftlichen Kongres- sen statt, und Lumiere geht damit, wie Alan Williams anmerkt, »den Weg des >wissenschaftlichen Wunders< bei der Vermarktung seines Apparats«.46 Da er so vor allem »die Wirkungsweise des Apparats selbst [. ..] dokumentiert«,47 bleibt auch während der ersten Vorstellungen in den USA der Projektor für das Publikum sichtbar, wodurch die zur Wiedergabe der lebenden Photogra- phien verwendete Technologie in gleicher Weise Teil des Spektakels ist wie die Bilder. Diese Praxis erscheint angesichts der enormen Feuergefährlichkeit des Nitromaterials überaus fragwürdig, ist aber wesentlich, um den Film als das neueste Wunder des technischen Zeitalters präsentieren zu können. Derartige Demonstrationen sind also ein Zusammentreffen von -Wissen- schaft und Wunder. Wie auch das Zitat aus The Motion Picture News belegt, ist die Mechanik des Films verständlich genug, daß man allgemein weiß, daß der Filmstreifen aus einer Reihe von Einzelphotographien besteht. Im Unter- 128 schied dazu ist die Fernsehtechnik so unsichtbar, daß sie in ihrer Komplexität noch wunderbarer als die des Films scheinen könnte. Dennoch hat sie nicht dieselbe unheimliche Wirkung, weil wir dabei nicht den Eindruck einer magi- schen Verwandlung von Unbewegtem in Bewegung haben.48 Die Beliebtheit des Nachbildeffekts zur Erklärung dafür, wie Film funktioniert, liegt mögli- cherweise in seiner Verständlichkeit, weil die Tatsache, daß intensives Licht eine anhaltende Wirkung auf der Netzhaut hinterläßt, ohne weiters nachvoll- ziehbar ist. Wir können dies leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Doch die- se Erklärung dient gleichzeitig dazu, die tatsächliche zu verdrängen, die weit- aus magischer erscheint, weil sie ein merkwürdiges Phänomen in unserem Geist darstellt. Auf diese Weise läßt unsere wissenschaftliche Erkenntnis Raum für die Wiederkehr des Verdrängten und damit ein Gefühl des Unheim- lichen. Tom Gunning merkt an, daß die frühen Lumiere-Vorführungen mit einem Standbild beginnen, der Projektor dann langsam in Gang gesetzt wird, so daß die Einzelbilder zunehmend - und auf magische Weise - in Bewegung geraten.49 Das, was als Wissenschaft beginnt, endet somit als Zauberei, ähnlich wie in den Geisterbildern, die Terry Castle beschreibt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur U nheimlichkeit des Kinos möchte ich mich nun den frühesten belegten Filmvorstellungen in Theatersze- nerien zuwenden. Der oben zitierte Artikel in The Motion Picture News, der dies empfiehlt, schlägt die Verwend~.mg von Bauten vor, die zu dem im Film Gezeigten passen. Dies scheint bei einigen der frühesten, meist importierten Langfilme der Fall gewesen zu sein, z.B. bei Gu ULTIMI GIORNI DI PoMPEI (Ma- rio Caserini, 1913; Ambrosio). Noch gängiger ist in den zehner Jahren die Pra- xis, durch die Bühnenbauten dem Kino selbst eine bestimmte Identität zu ver- leihen. So im Madison Square Garden, wo man 1915 durch Filmvorstellungen die prekäre finanzielle Situation stabilisieren will und einen enorm großen Saal mit ungefähr 8000 Sitzplätzen einrichtet. Um den Raum vor dem Publikum zu füllen, läßt die Leitung des Hauses die Leinwand mit einem wirkungsvol- len Arrangement umgeben. »Durch reichliche Verwendung von Bühneneis und -schnee erhält die Seite der Arena, die zur Fourth Avenue liegt, ein über- aus arktisches Aussehen, und die Projektionsmaschinen am anderen Ende des Raums lassen in bestimmten Abständen den Eindruck des Nordlichts entste- hen. All dies, um dem Slogan >Meet me at the Iceberg< [ ...] mehr Farbe zu ver- leihen.«10 Die Verwendung des Nordlichts, also einer Art natürlicher Magie, als Mittel, um das Leinwandbild zu unterstreichen, zeugt von einem Verständ- nis des Kinos als einer Art magischer Natur. Da man jedoch das kinematographische Bild durch die Einführung des Langfilms dem Theater annähern will, bedarf es anscheinend sonst eher einer anderen Art der Szenerie, die gerade einen größeren Abstand zur Magie schafft. Hier wird der von mir schon zuvor erwähnte Klassenaspekt wichtig: Die direkte Nachahmung des Theaters erfordert es, daß das Kino weniger magisch und mehr zu einem transparenten Medium wird, das in Massenpro- 129 duktionen eine Erfahrung vermitteln kann, die zuvor nur bei den Vorstellun- gen in jeweils einem einzigen Theatersaal möglich war. Eine der ersten Lang- film-Produktionsgesellschaften meint genau dies mit ihrem Motto: »Famous Players in Famous Plays«. Als Vitagraph 1914 sich mehr und mehr der Her- stellung längerer Spielfilme zuwendet, übernimmt die Gesellschaft das Crite- rion Theater, eine »anerkannte« Bühne am Times Square, und tauft es um in Vitagraph Theater. Um sie in ein Kino zu verwandeln, baut Vitagraph ein Büh- nenbild um die Leinwand: Wenn der Vorhang sich hebt, erscheint ein Atelier mit erlesenen Kunstgegenstän- den, Draperien und Teppichen. In der Mitte ist eine große Verandatür, durch die man auf eine Brüstung blickt. Durch die Tür sieht man das blaue Wasser der New York Bay und im Vordergrund eine eindrucksvolle Gruppe von Wolkenkratzern rund um die Battery.P Der Anblick des Hafens von New York wird durch ein Panoramagemälde wiedergegeben, und da jede Vorstellung mit einem »Sonnenuntergang« be- ginnt, hat man in die bemalte Leinwand in bestimmten Abständen Löcher ge- schnitten, um Sterne leuchten zu lassen. Insgesamt wird deutlich, daß diese Szenerie in der damals vorherrschenden Bühnentradition des trompe l'ceil- Realismus steht. (Abb. 2) Die Kulissen dienen zwar auch als Hintergrund für Auftritte zwischen den Filmvorführungen, doch vor allem sind sie zu dem Zweck entworfen, das Filmbild herauszustellen. In dem Moment, da die Filmvorstellung beginnt - »Dämmerung«-, geschieht etwas Magisches: Ein Vorhang vor der Verandatür wird heruntergelassen und wenn er wieder hochgezogen wird, erscheint die Kinoleinwand anstelle des Panoramagemäldes. Die gefilmte Realität folgt auf die künstliche Realität des gemalten Bildes. In mancher Hinsicht ist die Male- rei gegenüber dem Film im Vorteil: Sie ist vielfarbig und hat eine greifbare physische Präsenz. Doch im Vergleich mit der scheinbar direkten Wiedergabe des Films bleibt das Gemälde immer eine Darstellung der natürlichen Welt. Den von mir eingesehenen Quellen zufolge werden in späterenpicture set- tings nicht mehr derart sepzifische Kulissen wie das Atelier eines Künstlers verwendet. Doch ein Element hier erscheint immer wieder in späteren Bauten: ein »W indow on the World«, wie J. Stuart Blackton, Direktor der Vitagraph, es nennt.'' Um 1916 hat sich in luxuriösen Häusern eine Art Muster für derar- tige Einrichtungen herausgebildet, das ich als »Fenster im Garten« beschrei- ben möchte. (Abb. 3) Eine solche Szenerie zeigt im allgemeinen einen Ziergar- ten, der auch ältere Architekturformen enthält; in der Mitte befindet sich, scheinbar als Teil der Anlage, ein großes Fenster. In ihm erscheint dann-immer das Filmbild. Zwar enthält die Szenerie Elemente aus der Natur, doch gleich- zeitig handelt es sich um ein Ensemble, das auch in der Wirklichkeit nur als Konstruktion existiert. Belasco würde eine solche Anlage ohne trompe l'ceil- 130 Abb. 2: Das Vitagraph Theater, New York City. Um ihre stetig wachsende Langfilm-Pro- duktion zur Geltung bringen zu können, übernimmt die Vitagraph Company ein Broad- way-Theater und integriert die Leinwand in ein Bühnenbild. Auf dieser Zeichnung sind die Seitenflügel breiter dargestellt als sie es in Wirklichkeit waren. Effekt direkt auf der Bühne errichtet haben.Und obwohl diese Bühnenbauten oft überaus phantasievoll sind, gibt es eine den Arbeiten Belascos ähnelnde Bemühung um Realismus, mit echtem Gras und Pflanzen, die dann ständiger Pflege bedürfen. Diese Elemente werden so konsequent immer wieder aufgegriffen, daß sie offenbar eine recht klare Bedeutung für das zeitgenössische Publikum haben. Die älteren architektonischen Formen können dazu dienen, die ehrgeizigen Bestrebungen des neuen Mediums Langfilm in Hinblick auf seinen Klassen- status zu betonen und es so zu einem direkten Konkurrenten des Theaters werden lassen. Andererseits verweisen die natürlichen Elemente zwar auf die Natur, doch so, daß die Gestaltung durch den Menschen mit eingeschlossen ist, da es sich ja um einen angelegten Ziergarten handelt. So gehört zum Bei- spiel ein Springbrunnen direkt unterhalb des Filmbilds offenbar zur Standard- ausrüstung einer solchen Szenerie - und möglicherweise war er während der gesamten Vorstellung in Betrieb. Doch es handelt sich eben um einen Spring- brunnen und nicht um einen Wasserfall. Im Umfeld einer derartigen gestalte- IJI ten Natur kann das filmische Bild seine Überlegenheit bei der Wiedergabe der tatsächlichen Natur auf einer Bühne der Künstlichkeit herausstreichen. Doch wenn auch das Filmbild von der Szenerie getrennt ist, wird es doch paradoxerweise eingerahmt von etwas, das nicht wie ein Rahmen aussieht.!} Während der vergoldete Rahmen der frühen Filmvorstellungen eine deutliche Grenze zwischen Bildraum und Zuschauerraum zieht, schaffen die Szenerien der zehner Jahre eine Verbindung zwischen Filmbild und Bühnenbauten. Zwar sorgt das Proszenium für eine Scheidung von Bühne und Publikum, doch gleichzeitig verbindet es Bild undpicture setting zu einer Art organischer Einheit. Im Unterschied dazu geht bei den Hale's Tours der Illusionsraum der flachen Leinwand über in den realen, dreidimensionalen Raum des Eisenbahn- waggons. In gewisser Weise ist hier die gesamte Einrichtung eine Bühnensze- nerie, wobei die Zuschauer zu Darstellern in einem touristischen Schauspiel werden. In einem Kino der zehner Jahre mit Proszenium sind Filmbild und Bühnenaufbau vom Publikum geschieden und miteinander verbunden, weil sie unterschiedliche Weisen der Wirklichkeitswiedergabe auf der Bühne ver- körpern. Die Szenerie mag den Gegensatz von Film und Theater in dieser Hinsicht unterstreichen, doch gleichzeitig wird der Unterschied auch einge- ebnet, weil die Leinwand ein Teil der Bühnenbauten ist. An dieser Stelle möchte ich noch einmal kurz auf Freud zurückkommen, denn zu dem Spiel von Gegensatz und Ähnlichkeit bei denpicture settings gibt es eine Parallele an einem wesentlichen Punkt in seinem Essay über das Un- heimliche: nämlich die Verbindung zwischen den Gegensätzen. Freud eröff- net seinen Aufsatz mit einer ausführlichen Erörterung der verschiedenen Be- deutungen des Ausdrucks »unheimlich«, den möglichen Übersetzungen in andere Sprachen sowie der diversen Konnotationen im Deutschen. Einleitend stellt er fest: »Das deutsche Wort >unheimlich< ist offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut[. ..] .«14 Doch die Erforschung der Wörterbuch- definitionen ergibt eine merkwürdige Tatsache: Während »heimlich« in seinen ersten Bedeutungen deutlich im Gegensatz zu »unheimlich« steht, ist dies bei einer anderen Definition - »versteckt, verborgen gehalten, so daß man andere nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will«H - nicht der Fall. Somit gilt:»[. ..] daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nu- ancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz un- heimlich zusammenfällt. Das heimliche wird dann zum unheimlichen[ .. .].«i6 Das, was »heimlich« ist, enthält also in gewisser Weise das »Unheimliche«, dieses ist nicht so sehr etwas Fremdartiges, sondern etwas, das in der uns be- kannten Welt existiert. Heute sehen wir das Bild auf der Leinwand durch ein Meer von schwar- zem Tuch getrennt von dem Raum, in dem wir uns befinden, und es schwebt dadurch geisterhaft in der Luft. Zumindest in den zehner Jahren ist das Film- bild jedoch weit durchlässiger. Um 1919/io gibt es verschiedene Versuche, Bühne und Leinwand untereinander zu verknüpfen: Eine direkt an die Hand- 132 Abb. 3: Das Strand Theatre, Newark, New Jersey. Das Fenster im Garten mit Springbrun- nen und einem Schild »Rasen betreten verboten!« lung anknüpfende Bühnendarbietung unterbricht den Film; danach wird die Filmvorführung fortgesetzt. Man könnte meinen, das Gefühl der Durchläs- sigkeit zwischen Leinwand und Szenerie würde die unheimliche Qualität des Films verstärken, indem körperlose Schauspieler neben das auf der Bühne physisch Anwesende treten. Doch wie das Heimliche das Unheimliche ent- hält und vielleicht auch verdrängt, soll die Szenerie das Bild von etwas un- heimlich fremdartigen in etwas unheimlich Vertrautes wandeln. Die Theater- bühne kann ein magischer Ort sein, doch sie ist auch vertrauter in dem Sinn, daß sie sich in eben dem Raum befindet, in dem auch wir selbst leben. Wenn wir uns an die weiter oben zitierte Anweisung erinnern, die vorsieht, daß die Rahmung der Leinwand die Illusion von Schauspielern, die im Bühnenhinter- grund agieren, schaffen soll, so möchte ich behaupten, daß der Versuch, das Kino in die höheren Sphären des Theaters zu heben, auch eine Art Verdrän- gung mit sich bringt. Die in jener Zeit so gebräuchlichen Bühnenbauten die- 133 nen nicht so sehr dazu, das Filmbild einzurahmen, als es zu beherrschen. Spä- tere Kritiker beschreiben den frühen Langfilm oft als » Theaterkonserve«, als canned theater, doch das ist falsch: Das Publikum hat das Kino nie als ein transparentes Aufnahmemedium gesehen. Von Beginn an ist Film uncanny theater - unheimliches Theater. (Aus dem Amerikanischen von Frank Kessler) Anmerkungen 1 Ursprünglich unter dem Titel »Un- bitors H erald, 20. 11 . 1915, S. 11 (a lle Hervor- canny Theater« erschienen in Paradoxa, hebungen im Original). vol. 3, no. 3-4, 1997, S. 321-347. Für die 8 »Photoplay«, The Moving Picture Übersetzung wurde der Text gekürzt um World, 15.10.1910, S. 858. Daß dieser Na- einen Abschnitt zum Kino der zwanziger menswechsel mit dem Erscheinen dramati- Jahre und späteren Entwicklungen. Die scher Filme mit höherem Anspruch einher- Originalfassung erhielt eine »Honorable geht, wird aus einer Feststellung ein Jahr Mention« im Kovacs Essay Award. Der später deutlich: »Eine der größten Leistun- Autor dankt Mike Arzen für seine hilfrei- gen - tatsächlich ist es die größte - dieses chen Kommentare zu einer frühen Fassung Jahres [d. h. 1911] war die erlolgreiche Ein- dieses Artikels. führung von Filmen mit mehr als einem 2 »Announcement«, The Moving Pic- Akt.« The Moving Picture World, 13.1. ture News, 27.9.1913, Jg. VIII, Nr. 13, 1912, s. 106. s. 15. 9 Diese Entscheidung ist von drei Juro- 3 Nachdruck aus The Photo-Era, Boston, ren unterzeichnet: George Kleine, F. C. Ai- The Motion Picture News, 13.12.1913, S. 22 ken und AaronJones. Kleine, ein wichtiger (Hervorhebung im Original). Filmhändler zur Zeit der Nickelodeons, 4 William L. Sherry, »Do Features Pay?«, wird in der Folge zu einer Schlüsselfigur The Motion Picture News, 21.3.1914, S. 19. bei der Entwicklung des Langfilms als 5 Adolph Zukor mit Dale Kramer, The hauptsächlicher Importeur großer italieni- Public is Never Wrong, G. P. Putnam's scher Spektakelfilme; dies beginnt 1913 mit Sons, New York 1953, S. 11. Quo VAms? 6 Ebenda, S. 56. 10 Siehe Richard D. Altick, The Shows of 7 Wie genau die Leute vom Fach zu je- London, Harvard University Press, Cam- ner Zeit den Zusammenhang zwischen dem bridge, Mass. 1978, S. 211-220; Erik Bar- Klassenstatus des Objekts und dem poten- nouw, The Magician and the Cinema, Ox- tiellen Gewinn sehen, belegt ein anderer ford University Press, New York 1981; Kommentar im selben Artikel: >»Movies< Charles Musser, The Emergence of Cine- ist ein legitimer Nachfahre der ,Nickel ma: The American Screen to 1907, Charles Show,, und eben jener letztgenannte Aus- Scribner's Sons, New York 1990, S.,17-29; druck ist laut W. W. Hodkinson, Präsident Jonathan Crary, Techniques of the Obser- der Paramount Pictures Corporation, das ver, MIT Press, Cambridge, Mass. 1990, S. größte Hemmnis in der Geschichte der Film- 132-136; Terry Castle, The Female Ther- industrie.« »>Film Play< and ,Movies<«, Exhi- mometer, Oxford University Press, New 134 York 1995, S. 140-167. [Vgl. auch Ludwig Press, New York 1980, S. 76-95, behandeln Vogl-Bienek, »Die historische Projektions- die bedauerliche Trägheit dank derer die kunst. Eine offene geschichtliche Perspek- Theorie von der Trägheit des Auges noch tive auf den Film als Aufführungsereignis«, immer als Erklärung für die Bewegungs- K!Ntop 3, 1994, S. 11-32; d. Übers.] wahrnehmung im Film herangezogen wird. 11 Tom Gunning, »An Aesthetic of Asto- 16 In der Filmgeschichte kennt man ver- nishment: Early Film and the (ln)Cre- schiedene Versuche, Projektoren ohne dulous Spectator«, Art and Text, Nr. 34 Blenden zu vervollkommnen, da diese im (Spring 1989), S. 31-36. Wiederabdruck Prinzip mehr Licht auf die Leinwand ab- in Linda Williams (Hg.), Viewing Positions: strahlen und auch der Film weniger häufig Ways of Seeing Film, Rutgers Unversi- reißt. Im selben Jahr 1913, in dem The Mo- ty Press, New Brunswick 1994, S. 114- tion Picture News ihren neuen Namen er- 133. hält, wird auch der kontinuierlich laufende 12 Zu Pepper's Ghost vgl. Castle (Anm. Projektor Vanoscope angekündigt. Die 10), S. 151, Abb. S. 15 3 sowie Al tick (Anm. zeitgenössischen Kommentare lassen dar- 10), s. 504 f. auf schließen, daß man weiß, daß der Nach- 13 »What is the Kineplastikon?«, The bildeffekt für die Bewegungsillusion nicht Motion Picture News, 20.12.1913, S. 30. In notwendig ist, sondern diese sogar be- Deutschland, wo der Prozeß auch entwik- hindern kann: »Beim Vanoscope wird das kelt worden ist, heißt er »Kineplastikon«, Bild nicht von oben nach unten von der amerikanische Importeur nennt ihn der Leinwand weggezogen, sondern die »Photoplast«. Eine detaillierte Beschrei- Bilder gehen direkt ineinander über und bung gibt F. H. Richardson, »Projection garantieren so zu hunden Prozent die gan- Depanment«, The Moving Picture World, ze Zeit ein vollständiges Bild auf der 19.6.1915, S. 1938. [Oskar Messter entwik- Leinwand. Bildflimmern kann nicht entste- kelt ein analoges Verfahren, das er Ala- hen, da es nicht nötig ist, sechzehn oder bastra nennt. Vgl. Vogl-Bienek (Anm. 10), mehr Bilder pro Sekunde von der Lein- S. 20 f; d. Übers.] wand zu ziehen um eine andauernde Wahr- 14 F. H. Richardson, »Photoplast«, The nehmung aufrecht zu erhalten. Das Vanos- Moving Picture World, 24. 10. 1914, S. 494· cope projiziert acht Bilder und weniger pro Den einzigen Beleg für eine tatsächliche Sekunde ohne daß von einem Bild zum an- Aufführung dieser »Nummer«, die ich fin- deren eine Veränderung sichtbar würde.« den konnte, ist Teil eines überaus reichhal- W. F. Herzberg, »Concerning the Vanos- tigen Vaudeville-Spektakels, zu dem auch cope«, The Motion Picture News, 27. 12. ein Langfilm gehörte. Die Veranstaltung 1913, s. 28. fand statt im Hippodrome, einem für der- 1986 wohnte ich der Demonstration eines artige Zwecke entworfenen, höhlenartigen Projektors ohne Blende bei einem lokalen Theater in New York, das jedoch gerade zu Treffen der Society of Motion Picture and Filmvorstellungen übergegangen war, um Television Engineers (SMPTE) in New seine oft unsichere wirtschaftliche Lage zu York bei. Das Bild war ebenso gut wie al- verbessern: »[ ...] eine neue Art Film, das les, was ich bis dahin von konventionellen Kineplastikon, illustriert Opern, die Chor Projektoren gesehen hatte, doch meines und Orchester gleichzeitig in der Wirklich- Wissens werden Apparate ohne Blenden keit darbieten.« »Hippodrome Succumbs nicht kommerziell eingesetzt. to Most Popular Amusement«, The Motion 17 Max Wertheimer, »Experimentelle Picture News, 3. 4. 1915, S. 44· Studien über das Sehen von Bewegung«, 15 Joseph und Barbara Anderson, »Moti- Zeitschrift für Psychologie, Nr. 61, 1912, S. on Perception in Motion Pictures«, in: Te- 161-265. Vgl. auch J. und B. Anderson resa de Lauretis und Stephen Heath (Hg.), (Anm. 15), S. 81. The Cinematic Apparatus, St. Martin's 18 Hugo Münsterberg, Das Lichtspiel. 1 35 Eine psychologische Studie [1916] und an- bedürfnis des Menschen«, denn: »Der Tod dere Schriften zum Kino, Synema, Wien ist nur der Sieg der Zeit.« Dies verleiht »der 1996, s. 46 f. ersten ägyptischen Statue [. ..] , der Mumie« 19 Ich verwende bewußt hier diesen Aus- eine magische Funktion, die Bazin aner- druck der »natürlichen Magie«, wegen eini- kennt (ebenda, S. 11). Doch dann stellt er ger Konnotationen, die zumindest bis in fest: » Es versteht sich, daß die parallele die Renaissance zuriickreichen. Erik Bar- Entwicklung von Kunst und Zivilisation nouw (Anm. 10), S. 26 und 107-112, dis- die bildenden Künste von ihren magischen kutiert »den alten philosophischen Streit Funktionen abgelöst hat [ ...] .« (Ebenda S. zwischen >natürlicher, Magie - die zur amü- 12) Man könnte sagen daß hier eine Ent- santen Belehrung und zur wissenschaftli- zauberung stattfindet, ähnlich der des pro- chen Aufklärung verwendet wurde - und jizierten Bildes (vgl. Anm. 19). Doch Bazin der Ausbeutung der Magie, indem wie bei erkennt, daß dieser Prozeß unabgeschlos- der Hexerei übernatürliche Mittel verwen- sen bleibt: »Doch [diese Entwicklung] det oder behauptet wurden.« konnte das nicht zu unterdriickende Be- Sir David Brewster führt den Ausdruck in dürfnis, die Zeit zu bannen, lediglich für seinen Letters on Natural Magie (1832) ge- das rationale Denken sublimieren.« (Eben- rade gegen Irreführung und Täuschung ins da) Mit dieser Bemerkung zur Sublimie- Feld: »Zu allen Zeiten ist der menschliche rung und zur Überdeckung des Irrationa- Geist dem Wunderbaren zugeneigt [ ...) . len durch das Rationale kommt Bazin Als das Wissen im Besitz nur einer Kaste Freuds Begriff des Unheimlichen verblüf- war, war es nicht schwierig es zur Unter- fend nahe. Wenn Bazin dies selbst nicht werfung der breiten Masse einer Gesell- sieht, so liegt das daran, daß er sich letztlich schaft zu gebrauchen.« (r. Brief). Diese mit der Rolle des Realismus weit mehr be- Haltung hatte damals schon eine lange Ge- schäftigt als mit der Magie, doch wir kön- schichte hinter sich. Vgl. Charles Musser nen sagen, daß seine Theorie des Realismus (Anm. 10), S. 17-20, zur »Entzauberung die Wiederkehr des unterdrückten Magi- des projizierten Bildes« in den Schriften schen zuläßt. von Athanasius Kircher, einem Gelehrten 23 Lise-Lone Marker, David Belasco: des 17. Jahrhunderts. Naturalism in the American Theatre, 20 Münsterberg (Anm. 18), S. 50. Princeton University Press, Princeton 21 Andre Bazin, Qu 'est-ce que le cinema? 1975, s. 7. !. Ontologie et Langage, Eds. du Cerf, Paris 24 Ebenda, S. 10. 1958, s. 15. 25 Brooks McNamara, »Scenic Design 22 Bazins Erfindung des »Mumienkom- and the Early Film«, in: Before Hollywood: plexes« als einer psychoanalytischen Erklä- Turn-of-the-Century American Film, Hud- rung für das Verlangen nach Realismus in son Hili Press, New York 1987, S.5 5-56, der Kunst erlaubt den Briickenschlag zwi- bemerkt, daß die Filmpraxis jener Zeit von schen seiner realistischen Theorie und dem der Bühne beeinflußt wird: »Allmählich Bereich der Magie. Es scheint mir wichtig, [ ...] vollzieht sich [ab 1910) eine wichtige hier innezuhalten, da dies auf merkwürdige Veränderung in der szenischen Arbeit [der Weise als ein Echo von Freuds Gedanken Filmemacher]; das konventionelle Bild der über das Unheimliche erscheint, auf die ich Innenräume wird mit den Außenräumen in später noch zuriickkomme. Für Bazin kön- Einklang gebracht [. ..] . Die Hinwendung nen die bildenden Künste das im »Mu- der Filmindustrie hin zu detailreichen, rea- mienkomplex« verkörperte grundlegende listischen Innenräumen ist nicht einfach ein menschliche Verlangen befriedigen: Sie bie- Versuch, eine Einheit mit den Ai{ßenauf- ten einen »W iderstand gegen die Zeit« nahmen herzustellen. Ein weiterer offen- (durch »das materielle Weiterbestehen des sichtlicher Einfluß geht von dem populären Körpers«) und befriedigen so »ein Grund- Realismus des Broadway Produzenten und 136 Regisseurs David Belasco und seiner Nach- chen wir keine Tricks zu verwenden. Wir ahmer aus.« machen es wirklich.<« »De Mille ,Talks Der Wandel bei der Ausstattung ist dem- Shop<«, The Moving Picture World, 29. 8. nach nicht nur eine Frage des Realismus, 1924, s. 1244. sondern auch eine Nachahmung der In einem Interview spricht Adolph Zukor Kunstform, der das Kino nacheifert. über die Vorzüge des Kinos bei der Verfil- 26 Marker (Anm. 23), S. 60 f. mung eines Bühnenstücks von Denman 27 Vgl. Mordecai Gorelik, New Theaters Thompson: »[ ...] wir haben den Vorteil, for Old, Samuel French, New York 1940, S. daß wir dem Publikum die tatsächliche 164 f, sowie Marker (Anm. 23), S. 63 und Szenerie bieten können, die selbst das gro- 141 f. ße Genie Thompson selbst in Form einer 28 Gorelik (Anm. 27), S. 165. bemalten Leinwand auf der Bühne zeigen 29 Hier eine zufällige Auswahl von Äus- konnte. Dasselbe gilt für die Grace Church, serungen von Filmpraktikern und Autoren die den bekannten Hintergrund des dritten aus zeitgenössischen Fachzeitschriften: Akts bildet.« »Public Is Wise: No More »Das Kino heute ist nichts anderes als ein Fakes Tolerated«, Exhibitor's Herald, 11. kleines Theater[ ... ] und wir können weiter- 12. 1915, s. 3· gehen als die Bühnenbilder von Drama Und schließlich sieht auch Sergeij Eisen- oder Komödie und die Natur selbst herein- stein die Idee, das Stück Gasmasken in ei- holen.« William H. Hamilton, »Has the nem echten Gaswerk zu inszenieren, als Motion Picture Business Come to Stay?«, den letzten und unwiderruflichen Schritt The Moving Picture World, 9.5-1908, S. auf seinem Weg hin zum Film: »Das Werk 412. lebte ein Eigenleben. Die Vorführung auf »Das Kinostück hat die ganze Welt zu'r ihrem Gelände ein anderes. Eine wechsel- Bühne«, Rollin Summers, »T he Moving seitige Einwirkung aufeinander kam nicht Picture Drama and the Acted Drama«, The zustande. [. ..] Darüber hinaus erwies sich Moving Picture World, 19. 9. 1908, S.211. der plastische Reiz der Realität dieses Wer- »Der größte Erfolg des Films über das ein- kes als derart stark, daß er die Ebenen des fache Theater ist es, daß er natürliche Sze- Faktenmaterials der Wirklichkeit in neu- nerien, echte Wasserfälle, Bäume, Gärten er Leidenschaft erglühen ließ. Und diese usw. zeigt anstelle von gemalten Kulissen.«, Wirklichkeit nahm alles in ihre Hän- J. M. B., »The Size of the Picture«, The de ... und mußte so notgedrungen den Rah- Moving Picture World, 11. 3. 1911. men einer Kunst verlassen, die ihr keine »Die Szenerie des Lichtspiels ist ungleich unumschränkte Alleinherrschaft zubilligte. echter als alles, was selbst ein Belasco uns Diese Tendenz brachte uns auf den Weg bieten kann.« » What the Motion Picture zum Film.« Sergeij M. Eisenstein, Schriften Theatre Replaces«, The Motion Picture r. Streik, Hanser, München 1974, S. 251. News, 20.12.1913. 30 Gunning (Anm. 11), S. 116. Ein Jahr, nachdem er mit der Filmregie be- 3 1 Auch wenn ich letztlich auf etwas an- gonnen hat, vergleicht Cecil B. De Mille, deres hinauswill, möchte ich auf Christian dessen Vater mit Belasco zusammengear- Metz hinweisen, der das Spiel zwischen beitet hat, Theater und Film in Hinblick An- und Abwesenheit beim Filmbild als auf den Realismus: »>Die Spannweite des Unterscheidungsmerkmal zu unserer Er- Lichtspiels,, sagt Mr. De Mille, »ist so viel fahrung bei einer Theateraufführung her- weiter als die der Bühne. Wir tun Dinge, ausarbeitet. Vgl. Christian Metz, Le signi- anstatt sie zu nachzuahmen. Wenn ein gro- fiant imaginaire, UGE, Paris 1977, S. 92 ff. ßer Effekt notwendig wird, wie zum Bei- 32 Louis Delluc, Ecrits cinematogra- spiel der Brand auf einem Schiff, die Explo- phiques, Bd. II, Cinematheque Fran~aise, sion in einer Mine, ein Zugunglück, die Paris 1986, S. 30 f. Zerstörung eines Häuserblocks, so brau- 33 F. H. Richardson, »Lessons for Opera- 137 tors«, The Moving Picture World, 15. 2. ein kleines Haus, doch für eines mit weit- 1908, S. 113. Richardson meint auch, eine läufigeren Dimensionen sollte das Bild schwarze Einfassung sei nützlich, wenn das mindestens fünf Meter breit sein.« Er Bild die Leinwand nicht bis zum Prosze- spricht zwar von einer Mindestbreite von nium füllt. George B. Rockwell merkt in fünf Metern, doch gleichzeitig macht er dem zweiten Artikel weiter an: »V iele Aus- klar, daß er nicht dafür ist, dies deutlich zu werter machen den Fehler, die Leinwand überschreiten: »Besser ein gutes, kleines einzurahmen und dann eine Linse zu su- Bild als ein schlechtes großes.« (»Plain Talk chen, um den Raum auszufüllen, mit dem to Theatre Managers and Operators«, The Ergebnis, daß es praktisch unmöglich ist, Moving Picture World, 2. 10. 1909, S. 444.) eine zu finden, die den Vorhang genau bis Dieses Problem stellt sich noch in den fünf- zu den Ecken füllt. Das Bild wird entweder ziger Jahren bei der Einführung der Breit- zu klein sein oder bis auf den Rahmen ge- wandverfahren, denn sogar in den größten hen, und wenn dieser, wie meistens der Fall, Kinos mit bis zu 6000 Plätzen und einem vergoldet ist, sind die auf ihm tanzenden Proszenium von 25 bis 30 Metern werden Schatten eine Ablenkung für die Augen der noch Leinwände mit einer Breite von unter Zuschauer, was kaum zu einer guten Wir- 8 Metern verwendet. Vgl. William Paul, kung führt.« (»Framing the Screen«, The »Screening Space«, Michigan Quarterly Moving Picture World, 23. 9. 1911, S. 874.) Review, Winter 1996, S. 143-173. 34 »T he Modern Moving Picture Theatre. 37 Noch 1929 enthält der halbjährlich er- Chapter V. Showing the Picture«, The Mo- scheinende »Buyer's Guide« der Exhibitors ving Picture World, 16. 10. 1909, S. 520. Herald World eine Rubrik für »Picture Set- Dieser Artikel ist Teil einer Serie - darum tings« mit einer Liste von Lieferadressen. Kapitel V - von Beiträgen ohne Autoren- 38 Für eine Geschichte der Hale's Tours nennung über neue Entwicklungen in vgl. Raymond Fielding: »Hale's Tours: Ul- Filmtheatern. trarealism in the Pre-1910 Motion Pic- 35 In einem Artikel von 1908 heißt es, ture«, in: John L. Fell, Film Before Griffith, »zwei normale Theater [ ...] in Brooklyn University of California Press, Berkeley, sind endgültig zu Filmvorführungen über- Los Angeles London 1983, S. 116-130. gewechselt.« (»Moving and Talking Pic- 39 Ebenda, S. 119. tures Attract Many«, The Moving Picture 40 Vgl. Charles Musser, Before the Nik- World, 27. 6. 1908, S. 541.) Bereits 1909 kelodeon, University of California Press, meint F. H. Richardson, daß die Nickelo- Berkeley, Los Angeles, Oxford 1991, S. 261 f. deons. von größeren Filmtheatern, die eher 41 Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimli- Bühnenhäusern ähneln, verdrängt werden: che. Aufsätze zur Literatur, Fischer Verlag, »Daß das ,Ladenkino< langsam verschwin- Frankfurt am Main 1963. Da Freuds Werk den wird, scheint sicher, doch an seine Stel- wieder einmal in die akademische Diskus- le werden speziell zu diesem Zweck gebau- sion geraten ist, möchte ich erklären, war- te Filmtheater mit 500 bis 1000 Plätzen um ich ihn hier anführe. Drei Bemerkun- treten, von denen die meisten ein gemisch- gen vorab: 1) Ich betrachte Freud weder als tes Programm aus Filmen und Vaudeville- oberste Schiedsinstanz noch seine Arbeit Darbietungen für 10 Cents zeigen werden. als das abschließende Wort zum Thema Viele Häuser dieser Art gibt es bereits, und menschlicher Geist. 2) Dieser Artikel soll hier in Chicago sind weitere in Planung.« nicht dazu dienen, die Gültigkeit von (»What Is the Future?«, The Moving Pic- Freuds Denken zu bestätigen. 3) Da ich ture World, 28. 8. 1909, S. 280.) kein Psychiater bin, gebe ich mich auch 36 F. H. Richardson empfiehlt: »Der Vor- nicht der Illusion hin, irgend ein Psychiater hang sollte ein Bild ermöglichen, auf dem könnte diesen Aufsatz als einen Beitrag zur die Figuren mindestens lebensgroß erschei- psychoanalytischen Forschung verstehen, nen. Drei mal vier Meter ist ausreichend für und ich möchte auch nicht, daß sonst je- mand dies tut. Wie immer wir zu der be- scheinbar in unserem Alltag ständig umge- grifflichen Theorie stehen, die Freuds Be- ben, »aus dem Äther« sichtbar werden. obachtungen zugrunde liegt, ich denke, wir 49 »W ährend eine solche Vorführung es Geisteswissenschaftler können aus seiner verbietet, das Bild als Wirklichkeit zu lesen genauen Beschreibung und Analyse - als einen physisch wirklichen Zug-, wird menschlicher Emotionen großen Nutzen gleichzeitig das Moment der Bewegung ziehen. Auf diesem Gebiet scheinen mir stark hervorgehoben. Der Zuschauer ver- Freuds Schriften überaus anregend - und wechselt nicht so sehr Bild und Wirklich- provozierend. Was mich vor allem an- keit, als daß er über die Verwandlung ver- spricht - und für meine Argumentation mittels der neuartigen Illusion projizierter hier besonders wichtig ist-, ist sein scharf- Bewegung staunt. Nicht die Gutgläubig- sinniges Gespür für die Art und Weise, wie keit, sondern das Unglaubliche der Illusion scheinbar gegensätzliche Gefühle mitein- verschlägt ihm die Sprache.« (Gunning ander verbunden sein können. [Anm. II] S. II8.) 42 Vgl. ebenda S. So. 50 New York Times, 6. 6. 1915, II, S. 3. 43 Terry Castle, The Female Thermome- p Wm. A. Johnston, »A New Depar- ter, Oxford University Press, New York ture«, The Motion Picture News, 21. 2. 1995, s. 10. 1914, s. 13. 44 Ebenda, S. 141. 52 J. Stuart Blackton, »V itagraph Picture 45 Ebenda, S. 143. Theater«, The Moving Picture World, 14. 2. 46 Alan Williams, »T he Lumiere Organi- 1914, s. 287. zation and ,Documentary Realism<«, in 53 In diesem Zusammenhang ist interes- Fell (Anm. 38), S. 157. sant, wie Yuri Tsivian das zeitgenössische 47 Ebenda,S.158. Verständnis der Leinwand im frühen russi- 48 Es sollte angemerkt werden, daß das schen Kino beschreibt: »Die Leinwand er- Fernsehen in Wirklichkeit auch mit einer schien als eine mehrdeutige und flüchtige Aneinanderreihung unbewegter Bilder ar- Membrane, eine Grenze zwischen >uns< beitet und somit genau wie das Kino auf und ,denen da,, die - gleichzeitig - zu ver- dem Phi-Effekt beruht. Mir geht es darum, stehen gibt, daß eine solche Grenze nicht daß das Gefühl des Widerspruchs mit unse- besteht.« (Yuri Tsivian, Early Cinema in rem rationalen Wissen darum, wie die Bil- Russia and its Cultural Reception, Rout- der entstehen, beim Fernsehen weniger ledge, London 1994, S. 15 5. ) stark ist. Ich will nicht bestreiten, daß auch 54 Freud (Anm. 41), S. 47. beim Fernsehen in gewisser Weise unheim- 55 Ebenda, S. 50. lich ist, wie geisterhafte Bilder, die uns 56 Ebenda, S. p. 139 oben: AVE MARIA (nach Gounod), unten: MON VERRE. 140 ALISON MCMAHAN Stummfilmgeschichte im Licht der Tonbilder Wenn Kino allein vom Standpunkt des Bildes definiert werden könnte, dann wäre es sinnvoll, die Definition einzig auf den Bild- apparat abzustellen.Unter diesem Blickwinkel gesehen, folgt das Kino während des Jahrhunderts einer mehr oder weniger gera- den Linie. Ein ganz anderes - zickzackförmiges und nicht gerad- liniges - Bild ergibt sich dagegen, wenn man den Ton in Betracht zieht.' Rick Altman veröffentlichte diese Zeilen 1992 in der Einleitung zu seinem Buch Sound Theory- Sound Practice. Seitdem er diese herausfordernde These formuliert hat, ist wenig Neues erschienen. Das soll nicht heißen, daß nichts getan wurde: Einige grundlegende Untersuchungen sind im Entstehen. Was jedoch fehlt, ist eine kritische und historische Neubewertung der Ergebnisse der ersten Forschungen. Ich behaupte, daß die Geschichte des Stummfilmki- nos gänzlich umgeschrieben werden muß, wenn die sogenannten frühen Syn- chron-Ton->Experimente< erst einmal vollständig untersucht sind. Dabei steht das Chronophone von Gaumont im Mittelpunkt, besonders die phonoscenes (Tonbilder), welche diese Gesellschaft zwischen 1902 und 1906 in Frankreich produzierte, sowie auch jene, die zwischen 1908 und 1913 in Amerika entstan- den. Dieser Artikel untersucht, inwieweit die Tonbildproduktion Einfluß auf Schauspielstil und Kameraführung von Stummfilmen hatte und die Einfüh- rung des Starsystems beeinflußte. Damit soll ein erster Beitrag für ein Kon- zept entstehen, wie die Geschichte des frühen Kinos im Lichte neuer Untersu- chungsergebnisse aussehen könnte. Zu den ersten historischen Annahmen, die einer Revision bedürfen, gehört die klassische Periodisierung der Filmgeschichte, etwa durch Kristin Thomp- son und David Bordwell. Doch da alle Historiker ähnlich verfahren, hätte ich auch eine andere Quelle nehmen können: 1880 - 1904 Erfindung und Frühzeit (auch bekannt unter der Bezeichnung »Kino der Attraktionen«) 1905 - 1912 internationale Expansion (auch als Übergang zum narrativen Kino bezeichnet) 141 1913 - 1919 frühe >klassische Periode< 1920 - 1925 späte Stummfilmzeit 1926 - 1945 Entwicklung des Tons.2 Thompson und Bordwell geben nur eine sehr grobe Einteilung, die den Ton überhaupt nicht berücksichtigt, denn sie konzentrieren sich auf die Entwick- lungen in der Bildebene. Wird der Ton hingegen als ein zentrales Element in der Entwicklung der Kinoindustrie betrachtet, dann muß man - vor allem in der ersten Zeit- auf jedes einzelne Jahr eingehen, in dem sich etwas tut. Wenn wir den Ton berücksichtigen, sieht die frühe Chronologie folgendermaßen aus: 1894 Thomas Alva Edison befaßt sich mit der Erweiterung seines Kineto- scope zum Kinetophone. 1896 Oskar Messter läßt zu seinen Filmvorführungen Unter den Linden 21 in Berlin einen Phonographen ertönen.J 1900 Drei verschiedene »Sprechfilm«-Vorführungen werden auf der Pariser Weltausstellung gezeigt: das Phono-Cinema-Theatre, das Theatroscope und das Phonorama. 1901 Leon Gaumont erhält sein erstes Chronophone-Patent, das teilweise von Edisons Kinetophone-Kopplung sowie den Arbeiten von Auguste Baron inspiriert ist. 1902 Gaumont präsentiert erstmals das Chronophone. 1903 Messter führt am 29. August im Berliner Apollo-Theater sein Biophon vor - eine Verbindung von Kinematograph und Phonograph, welche die Firma Gaumont als Plagiat ihres Systems betrachtet. 1905 Bau des Gaumont-Chronophone-Filmstudios. 1906 P. Frely, ein Angestellter von Gaumont, erfindet das erste mit einem elektromagnetischen Signal verbundene Mikrophon zur Aufnahme der menschlichen Stimme. Diese Apparatur wird nicht patentiert, um der Firma Gaumont die Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. 1908 Gaumont hält das Problem der ,Nachsynchronisierung< und der Ton- verstärkung für gelöst. Mit dem Bau eines Chronophone-Filmstudios in den USA wird begonnen.4 1908- In diesen beiden Jahren feiern Firmen wie die von Oskar Messter mit 1909 ihren Tonbildern in Deutschland ihre größten geschäftlichen Erfolge. 1910 Chronophone-Filme werden von Tausenden von Zuschauern gesehen. 1912 Gaumont gibt seine englischsprachige Chronophone-Produktion auf. 1913 Nach einer letzten Anstrengung, das Chronophone zu verkaufen, zieht sich Gaumont ganz aus den USA zurück. Messter beendet zur selben Zeit die Herstellung von Tonbildern. Diese Chronologie ist auf das Chronophone und, wenngleich in geringerem Maße, auf das Biophon von Messter ausgerichtet. Die Entwicklung von Syste- men mit >Ton aus der Konserve< verläuft in Amerika, Deutschland und Frank- reich nach ähnlichem Muster. Spätestens 1914 sind sie vom Markt verschwun- den. Wie viele andere begnügte ich mich einige Zeit damit, die Geschichte des Chronophone zu erzählen. Der Umstand, daß ihm kein nachhaltiger kommer- zieller Erfolg beschieden war, machte mich blind für das, was wirklich in der Geschichte der frühen Systeme mit vorher aufgenommenem Begleitton be- deutend war. Für den Anfang einige Angaben: In Amerika fand sich u.a. das Cameraphone, das Synchronophone und das Chronophone; in England gab es das Cinematophone, das Vivaphone und das sehr erfolgreicheAnimatophone, welches durch Mißmanagement ruiniert wurde.' In Deutschland stellte Os- kar Messter das Biophon her, Alfred Duskes baute das Cinephon, Karl Geyer konstruierte den Ton-Biograph für die Deutsche Mutoskop- und Biograph GmbH und Guido Seeber entwickelte das Seeberophon.6 Laut Michael Wedel wurden in Deutschland auch nach dem Ende von Messters Tonbildprodukti- on noch von 1914 bis 1929 synchronisierte Musikfilme mit den Systemen Beck, Lloyd-Lachman und Notofilm hergestellt/ Die Redaktionen der Fachzeitschriften begleiteten die wachsende Zahl der Apparaturen mit freudiger Erwartung: Von etwa 1906 bis Mitte der zehner Jahre diskutierte beispielsweise das Branchenblatt The Moving Picture World ausgiebig das Thema Herstellung und Verbreitung von Tonfilmen, als ob es sich um ein demnächst eintretendes natürliches Ereignis handelte. Auch die Zuschauer hielten das wohl nur noch für eine Frage der Zeit. Jeder schien dar- auf zu warten, daß das geeignete System vom richtigen Erfinder entwickelt und dann von der rechten Firma verbreitet würde. Die Autoren der Fachpres- se erkannten, daß für die zur Vorführung von Tonfilmen notwendigen Ände- rungen eine starke finanzielle Basis nötig war. Rückblickend notierte Alan William,»[ ...] bis zum Vitaphone [1926, d. Verf.J ist die Geschichte der Ton- filmherstellung eine Geschichte wiederholter Mißerfolge, nicht auf technolo- gischer, sondern auf kommerzieller Seite.«8 Was wir heute in Erinnerung rufen, ist der letztendliche »kommerzielle Mißerfolg« der frühen Tonsysteme. Was dagegen zu berücksichtigen wäre, sind mindestens zwanzig Jahre ununterbrochener und wirtschaftlich erfolg- reicher Tonfilmpraxis auf internationaler Ebene. (Diese erstreckt sich von Mitte der 189oer bis Mitte der 191oer Jahre. Einige Tonsysteme wurden bis in die zwanziger Jahre verwendet, lange nachdem Messter und Gaumont aufge- geben hatten.) Frühe Tonfilme sollten uns veranlassen, die herkömmliche Ge- schichtsschreibung zu überdenken: Wie angeblich das Starsystem entstand; wie sich der Übergang vom histrionischen zum wirklichkeitsgerichteten Dar- stellungsstil vollzog und die Filmsprache sich von Szenentableaux, vom Agie- ren in die Tiefe des Raumes (deep staging) und vom tableauartigen Arrange- 143 ment der Schauspieler hin zum klassischen Montagestil Hollywoods entwik- kelte. Eine künftige Geschichte des frühen Tonfilms wird vermutlich auch die überkommenen Darstellungen der Entwicklung des Studiomanagements so- wie der nationalen Kinematographien revidieren. Tonbilder modifizieren die Geschichte des Starsystems Beginnen wir mit der Entwicklung des Starsystems. Tino Balio faßt die klassi- sche Version seiner Anfänge zusammen: Das Starsystem entwickelte sich auf dem Höhepunkt des Trusts, obwohl nicht alle Mitglieder dabei mitmachten. Die Produzenten der Motion Picture Patent Compa- ny (MPPC) verstanden gewiß den kommerziellen Wert der Stars. Die Industrie konkurrierte mit anderen Unterhaltungsformen um das Geld des Publikums, und es war allen klar, daß das Starsystem bereits erfolgreich im Variete-Theater und auf der normalen Bühne sowie im Bereich der Burleske operierte. Schon 1909 gab die Firma Edison die Anwerbung bedeutender Theatertalente vom Broadway wie der Produzenten David Belasco, Charles Frohman und Otis Skinner bekannt. Verleih- kataloge der Gesellschaft enthielten lange Beschreibungen ihrer Karriere. 1910 führten Kalem und Vitagraph Photos für Schaukästen ein, die Aufnahmen ihres festen Ensembles zeigten. Zu dieser Zeit brachte die Filmfachpresse regelmäßig Re- portagen über das ,wirkliche Leben< der Filmschauspieler, unter ihnen Mary Pick- ford, Ben Turpin, Pearl White und Florence Turner.9 Rick Altmans Version berücksichtigt die Praxis des Cameraphone: Welchen Unterschied macht es, daß die Firma Cameraphone ihr Produkt nicht als Tonfilm ansah, sondern als neue Form der Variete-Nummer. Hätte die Camerapho- ne Filme verkauft, hätte man sie als Komödie, Drama, Abenteuerfilm, Verfolgungs- jagd oder vielleicht auch Musikneuheit bezeichnet. Die Darsteller und Techniker wären nicht erwähnt worden. Wegen der weit verbreiteten Variete-Tradition über- schwemmte Cameraphone jedoch die Seiten der Branchenblätter mit den Namen ihrer Zugpferde: Eva Tanguay, James Harrigan, Alice Lloyd, Blanche Ring, Vesta Victoria und viele andere. Als Antwort auf die starke Publikumsnachfrage begann Cameraphone bald, Abwechslung in ihr Angebot zu bringen, indem sie dramati- sche Themen wie auch hundertprozentige Variete-Nummern produzierte. Ende 1908, Anfang 1909 zeigt die Bedeutung von Cameraphones Selbsteinschätzung als » Variete aus der Konserve« ihre stärkste Wirkung: Voll integriert in die Welt der. Filmauswertung hält Cameraphone an ihrer auf das Variete gestützten Starorientie- rung fest. Seltsamerweise ist das Starsystem Hollywoods nicht das Ergebnis der Maßnahmen von Biograph und Vitagraph zum Dekadenwechsel um 1910, sondern ein vollkommen vorhersehbarer Import aus dem Variete, durchgeführt mit dem Cameraphone und Filmen, die als Variete-Nummer galten, also ,weder Fisch noch Fleisch< waren. '0 144 Dona in CE QUE c'EST QU' UN DRAPEAU. Die Bemerkungen Altmans treffen auch für die Filme des Chronophone zu, die phonoscenes genannt wurden. Alice Guy, die Regie bei mehr als hundert dieser Tonbilder führte, arbeitete mit bekannten Persönlichkeiten aus dem Show-Business: den Schwestern Mante, Tänzerinnen, die damals sehr in Mode waren; Rosa Caron von der Oper mit ihrer Sängerklasse; Frau Mathieu-Luce und Marguerite Care von der Opera Comique; Herrn Note von der Oper; Felix Mayol, Dranem, Polin, Harry Fragson und anderen aus dem Cafe-Con- cert. Sie engagierte auch den Opernsänger Enrico Caruso, der zusagte, mehre- re Tonbilder seiner bekanntesten Arien zu drehen. Der Star änderte aber in letzter Minute seine Meinung und ließ mitteilen, »[ ...] er habe nachgedacht und könne mit seinem Namen nicht vereinbaren, sich für so etwas herzuge- ben.«" Berühmte Darsteller wurden für Tonbilder per Tag engagiert, normaler- weise für einen, manchmal aber auch für mehrere Tage. Sie brachten Kostüme und Ausstattungsstücke selbst mit und dominierten das Geschehen. Oskar Messter und Alice Guy begnügten sich meistens damit, die Kabarettnummer oder Opernszene vor der Kamera nachzustellen, ohne sie dabei substantiell zu ändern. 145 Im Gaumont-Katalog werden die Tonbilder zusammengefaßt unter den Namen der Künstler, die eindeutig als Verkaufsargumente dienten. Einige wie Charlus sowie andere namentlich nicht genannte Künstler tauchen in zwei bis drei Filmen auf. Besser bekannten Sängern wie Polin, Dranem und Mayol sind bis zu zwölf oder dreizehn Tonbilder zuzuordnen. Diese Praxis gilt auch für Unterhaltungsfilme ohne Tonkonserve, die aber eindeutig für eine Begleitung durch Musik oder Geräusch angelegt sind. Dazu zählen besonders Tanzfilme: Der Gaumont-Katalog gibt bereits 1899 für diese ohne Ton aufgeführten Fil- me den Namen des Künstlers an -wenn er denn bekannt genug ist. Tonbilder modifizieren die Stilgeschichte Der Umstand, daß bekannte Variete-Darsteller in den Tonbildern auftraten, hat wohl zu der Entwicklung des Schauspielstils beigetragen, die sich, parallel zum Höhepunkt dieser Filme, zwischen 1902 und 1908 feststellen läßt. In der Regel behalten die Darsteller der Tonbilder die Theatertradition bei und sehen in die Feme, während sie spielen, ohne von der Anwesenheit der Kamera Notiz zu nehmen. Sie suchen keinen Augenkontakt mit dem Zuschauer, auch wenn Dona in CE QUE c'EST QU'UN DRAPEAU sehr nervös ist und jemanden an- blickt, der hinter der Kamera steht und ihm Anweisungen gibt, bevor er mit seiner Nummer beginnt. Er singt, ohne seinen Körper zu bewegen und ohne mit den Händen Gesten auszuführen. Er schaut stolz zur ,Flagge< hinauf und lächelt während der triumphierenden Musikpassagen; doch sobald er nicht singt, läßt er seine Rolle fallen - sein Gesicht wird ruhig und ausdruckslos, während er darauf wartet, daß die Instrumentalphase vorüber ist und er wie- der singen kann. Felix Mayol kommt in QUESTIONS INDISCRETES von links auf die Bühne, nachdem die Musik bereits eingesetzt hat. Sobald er von der Kamera halbnah kadriert ist, bleibt er stehen und verbeugt sich; während der ganzen Zeit ist er nicht in seiner Rolle. Er wirkt wie ein normaler Darsteller im Smoking. In dem Moment, da er zu singen beginnt, ist er wie verwandelt. Das Lied erzählt einen Flirt zwischen einem Mann und einer Frau. Der Anzug erlaubt Mayol, ab- wechselnd die eine, dann die andere Person zu verkörpern, obwohl er seine Position auf der Bühne nicht verändert. Er macht viele Körperbewegungen, um anzudeuten, welche Figur er gerade spielt. Seine Gesten sind eine Kombi- nation aus Bühnenpantomime (die den Dialog des Flirts begleitet) und kari- kierenden Posen: So stemmt er zum Beispiel die Hand mit herausgedrücktem Ellenbogen in die Hüfte und wiegt sich keß hin und her, wenn er das kokette Mädchen mimt. Einmal am Singen, behält er die Rolle bei, bis er auch-den letz- ten Vers des Liedes beendet hat. Obwohl die Musik noch spielt, fällt die Mas- ke schon von ihm ab und er wird wieder zum Sänger Mayol. Er lächelt uns zum Abschied zu und verläßt mit einer halben Verbeugung die Bühne, noch bevor die Musik aufhört. Die Mischung aus mimischen und karikierenden Gesten ist das auffallendste Element dieser Vorführung. In den erhaltenen Tonbildern von Dranem gibt es sogar eine an Figuren noch reichere Leistung. Dranem war ein sehr energiegeladener Darsteller, der die gesamte Bühne nutzte und Attitüden mit Pantomime und Karikatur ver- band. Zwar trägt er in jedem Film dasselbe Vagabunden- oder Clownskostüm, wechselt aber die unterstützenden Accessoires (z.B. Eimer, Umhang, Gemü- se). Er betritt die Bühne bereits in seiner Rolle. Eine ist die des >Erzählers<, der einige Liedzeilen singt, welche die Situation erklären. Dann verkörpert er eine oder mehrere Figuren. In einem Lied stellt er simultan zwei spazierende Men- schen dar, indem er die Personen mit unterschiedlichen typisierenden Bewe- gungen ausstattet. Wenn die Figuren sprechen, begleitet er ihre Reden mit mi- mischen Gesten, welche die Worte ergänzen. Bei einer Musikpassage wird er wieder zum >Erzähler< und gibt mit einem Lächeln oder Stirnrunzeln ein Ur- teil über das Verhalten der >Figur<. Am Ende des Liedes verläßt er das Bild entweder in seiner Rolle als >Erzähler< oder als eine der Figuren. Wenn die Musik zu Ende ist, kommt er als Dranem zurück und verbeugt sich. Um 1909 ging die Firma Gaumont für die Chronophone-Aufnahmen auch nach draußen, wie ANNA QU'EST-CE QUE TU ATTENDS zeigt (in England unter dem Titel LET's ALL Go DoWN TO THE STRAND bekannt). 12 Der Film beginnt mit dem Sänger Fragson, der bereits in der Rolle agiert und mit dem Packen für ein Picknick beschäftigt ist. Die Szene ist vor seinem Landhaus gedreht; für das zweite Bild wurde ein bewaldetes Flußufer gewählt. Er versammelt seine Kinder und fragt singend seine Frau, die dermaßen mit Kleinigkeiten beschäftigt ist, daß sie kaum aufbrechen kann: »Anna, was hält Dich auf?« Im zweiten Bild fährt er mit seinem Lied fort, während Kinder und Frau weiter- hin ihre (schweigenden) Rollen mimen. Diese Darstellung erinnert an spätere Hollywood-Musicalnummern. Frag- son ist von der Rolle her ein ungeduldiger Ehemann, aber er fungiert für den Zuschauer gleichzeitig als Erzähler (o bwohl er den Blickkontakt mit der Ka- mera nicht sucht, außer einmal aus Versehen.) Die >vierte Wand< bleibt intakt, was bei den Filmen von Mayol und Polin nicht der Fall ist. Ob die >vierte Wand< gewahrt wird oder nicht, ist ein Zeichen dafür, ob die Darstellung dem histrionischen oder dem wirklichkeitsgerichteten Stil zugeordnet werden kann. Wie man an dem Film mit Dana erkennen kann, wurden beide Stilarten lange Zeit kombiniert. Trotzdem ist aus den Tonbildern zu schließen, daß Ali- ce Guy als Regisseurin um 1905/06 sich des Unterschieds zumindest bewußt wurde und eine Neigung zum wirklichkeitsgerichteten Darstellungsstil ent- wickelte, auch wenn sie von ihren Darstellern nicht immer die Leistung er- hielt, die sie sich wünschte. In ihrem Filmstudio Solax hing sogar ein langes Transparent mit der Aufschrift »Sei natürlich!« an der Wand. Mit der Bemerkung von Rick Altman über den Zickzack-Verlauf der Film- geschichte im Kopf, können wir nun analysieren, wie sich Tonbilder und 147 Stummfilme, die zur selben Zeit von denselben Regisseuren gedreht wurden, gegenseitig beeinflußten. Die Veränderung im Darstellungsstil könnte zu ei- nem Wechsel bei der Inszenierung geführt, vor allem aber die Regisseure auf den Wert der Großaufnahme aufmerksam gemacht haben. So ist es durchaus denkbar, daß es die zur Inszenierung von Tonbildern nötige Praxis war, die Alice Guy auf Experimente wie in ihrem stummen Streifen MADAME A DES ENVIES (Gaumont, 1906) brachte. Der Übergang zu den Großaufnahmen im frühen Tonfilm Die Gaumont-Kataloge enthalten ein Standphoto von jedem Tonbild. Die überlieferten Filme und Kataloge zeigen: Immer, wenn eine Serie von pho- noscenes mit einem Tonkünstler gedreht wurde, machte der Kameramann we- nigstens eine Aufnahme halbnah oder nah (also hüft- oder brustaufwärts). Im Fall von Mayol ändert sich weder das Kostüm noch der Hintergrund, was andeutet, daß die Lieder in der kürzestmöglichen Zeit aufgenommen wurden. '3 Polin trägt dasselbe Kostüm, doch der Hintergrund ändert sich manchmal. In Tonbild Nr. 139, CHEZ LES LUTIEURS, ist er halbnah (von der Hüfte aufwärts) gedreht. Auf Dranem kommt die Kamera in drei Tonbildern immer dichter heran: Er ist zu sehen in Nr. 163 ETRE LEGUME (ab Kniehöhe), Nr. 158 LE TROU DE MON QUAI (ab Hüfthöhe) und Nr. 164 LES CUCURBITACEES (ab Brusthöhe). Alle Katalogphotos zeigen Mayol in Halbtotale - allerdings läuft er in QUESTIONS INDISCRETES bis zur Naheinstellung in Richtung Kamera. In wenigstens einem Film wird ein Darsteller durch die Blende des Objek- tivs wie durch eine Vignette eingerahmt, wodurch fast ein Nahaufnahmen- effekt erreicht wird.14 Vermutlich hat die Notwendigkeit, in gewissen Tonbil- dern mit der Kamera näher heranzugehen, Alice Guy dazu inspiriert, Groß- aufnahmen in ihren Stummfilmen einzusetzen, vor allem in MADAME A DES ENVIES. Dieser Film präsentiert m. E. zum ersten Mal eine filmische Erzählung, die um Großaufnahmen herum angeordnet ist. Im Unterschied zu den point-of- view-Sequenzen in GRANDMA's READING GLASS (George Albert Smith, 1900) sind die Großaufnahmen in MADAME A DES ENVIES nicht diegetisch motiviert. Sie entspringen in Guys Film der enunziativen Struktur. Da sich die Einstel- lungen von MADAME ADES ENVIES und den Tonbildern in Aufbau und Kadrie- rung ähneln und Guy die meisten phonoscenes im Produktionsjahr dieses Films (1906) drehte, könnte die Regisseurin durchaus von den Tonbildern zu dieser narrativen Struktur angeregt worden sein. Allerdings gab es noch wei- tere lnspirationsquellen: die komischen Gag-Filme (in einer Einstellung ge- drehte Filme, in denen ein Darsteller halbnah oder nah aufgenommen ist und der Spaß in seinen Grimassen besteht) und die melodramatischen Häftlingsfil- me ( ein kinematographisches Pendant zu Photos der Fratzen, welche Häftlin- geschnitten, um ihre Wiedererkennung zu erschweren). Alice Guy hat min- destens einen solchen Film selbst gemacht, HORRIBLES GRIMACES ( 1898). Sie kannte wahrscheinlich den Pathe-Film mit Dranem, MA TANTE (1900), der dem Schema der komischen Gag-Filme entspricht. So war es wohl eine Kom- bination verschiedener Elemente, welche die Regisseurin dazu brachte, schon friih die Großaufnahme für dramatische Zwecke zu nutzen: der Übergang zu wirklichkeitsgerichteten Schauspielern; die bei Tonbildern nötige regelmäßige Verwendung von Nah- und Großaufnahmen; Guys eigene Erfahrung mit in einer Einstellung gedrehten Filmen, deren Attraktion die Großaufnahme war. Bis jetzt betrachteten wir den Einfluß der Tonbilder auf stumme Filme mit Spielhandlung, doch die umgekehrte Wirkung läßt sich ebenfalls feststellen. Die f riihesten Chronophone-Filme gehörten wahrscheinlich der Ästhetik des cinema of attractions an. Wie wir in ANNA, QU'EST-CE QUE TU ATTENDS sehen können, verließen die Filmemacher nach und nach das Studio; sie schnitten von einer Außenszene auf eine weitere, um so das Verstreichen von Zeit zu zeigen. Noch deutlicher wird der Effekt fiktionaler Filme in Tonbildern wahr- genommen, die Dialoge statt Lieder enthalten. Leider ist keiner dieser Filme überliefert, aber ein Typoskript in der Bibliotheque Nationale de France (BNF) zeigt, daß 1908 in Werbefilmen für den Chronophone-Apparat die Fä- higkeit der Filmkamera zum abrupten Szenenwechsel genutzt wurde. Das Typoskript enthält ein albernes Gedicht, das offensichtlich von einer einzigen Figur vorgetragen werden sollte. Das zur Bestätigung des Copyrights erstellte Skript weist darauf hin, daß die Figur »vollständig Stimme und Physiognomie wechselt«, was darauf hindeutet, daß die Kamera angehalten und der Darstel- ler gegen einen anderen ausgetauscht wurde. Die Beschreibung endet mit ei- nem gemütvollen Abschied und einer Entschuldigung für eventuelle Pannen des Systems. In einem anderen Typoskript der BNF, Le voyage sentimental (Gaumont 1909 ), telefoniert ein Mann mit seiner Frau: er in der Telefonzelle, sie in einem eleganten Schlafzimmer. Dies läßt darauf schließen, daß entweder eine geteilte Bühne oder die split-screen-Technik verwendet wurde. Die Idee der Trennung von Bild und Ton, die bei den Tonbildern evident ist ( da beide separat aufge- nommen werden), wirkte sich auch auf den stummen Film aus, wie in CANNED HARMONY (Solax 191 3) erkennbar ist, wo der Mann vorgibt, Violine zu spie- len, in Wirklichkeit aber den Phonographen laufen läßt. Tonbilder modifizieren die Geschichte der Studioentwicklung Die frühen Tonbilder beeinflußten nicht nur den Herstellungsmodus der stummen Filme, sie veränderten auch das Produktionssystem. Das Werk von Alice Guy ist eine Herausforderung für die Filmgeschichte: Das betrifft vor allem ihre Stummfilme für Gaumont (1896 - 1907), ihre phonoscenes (1902 - 149 1906) sowie die ersten stummen Filme, die sie für ihre eigene Filmgesellschaft Solax produzierte und die in den Tonbild-Ateliers von Gaumont in Flushing, New York, gedreht wurden. Etwas mehr als die Hälfte ihrer Filmkarriere fällt in die Zeit von 1 896 bis 1912, die mehrere Schlüsselperioden der Entwicklung von Film und Kino umfaßt. Tom Gunning, J anet Staiger und Charles Musser haben versucht, diese Perioden in besondere Phasen zu unterteilen, die vom Vertriebsmodus und der sich ändernden Rolle der Filmemacher bestimmt sind.'5 Da die Karriere von Alice Guy sich über alle diese Perioden erstreckt, ist es aufschlußreich, die Theorien der genannten Autoren auf sie anzuwenden und zu prüfen, ob sie zu Guys Produktionsweise passen. Alice Guy beschreibt den Prozeß des Drehens und die Art der von ihr gefilmten Musiknummern wie folgt: Das war nicht der Tonfilm, wie Sie ihn kennen; die Stimme des Künstlers (Sänger, Sprecher) und die Musik für die Tänze wurden in den Ateliers aufgenommen, an- schließend gingen die Künstler ins Studio, wo sie ihre Rolle so lange probten, bis sie eine zu der phonographischen Aufzeichnung perfekte Synchronität erzielten. Dann machte man die kinematographische Aufnahme. Die beiden Apparate (Phonograph und Kamera) waren durch eine elektrische Vorrichtung miteinander verbunden, welche die Synchronität gewährleistete.'6 Ein kurzer Dokumentarfilm (ALICE GUY TOURNE UNE PHONOSCENE AUX BUT- TES-CHAUMONT) zeigt uns, wie Alice Guy ein Tonbild dreht. Wir sehen fol- gende Arbeitsvorgänge: Alice Guy startet den Phonographen (der mit einem doppelten Trichter versehen ist) und beobachtet die Tanzgruppe (in einer Sze- ne aus MIGNON) beim Proben der Schritte. In ihrer Nähe nimmt ein Photo- graph Standbilder auf, während der Kameramann auf das Ende der Probe war- tet, um mit der Aufnahme der Vorführung beginnen zu können. Wie sie selbst sagt, hatte Alice Guy mit dem Ton ihrer Tonbilder nichts zu tun. '7 Sie erhielt die vorher aufgenommenen Wachszylinder und übte mit den Darstellern, bis deren Bewegungen zur Tonkonserve paßten. Die erstenphonoscenes drehte sie auf der Betonterrasse hinter den Kopierwerkstätten in Belleville, wo auch die erste Fassung von LA FEE AUX CHOUX entstand. Sie mußte nicht lange auf die- ser Terrasse arbeiten. Bald darauf ließ Gaumont sein Glasatelier in Belleville errichten und baute außerdem zwei Studios für die Tonbildaufnahmen.' 8 Charles Musser'9 schlägt vor, Janet Staigers System der fünf sukzessiven Produktionsstufen zu überdenken. Musser selbst konzentriert sich auf die drei mittleren Stufen ihres Modells: das Regisseur-System (director system), das die Zeit von 1907 bis 1909 dominiert, das Regisseur-Ensemble-System (director- unit system), das sich durch die steigende Produktion nach 1909 entwickelt, und das Produzenten-System (central producer system), das um 1914 die Oberhand gewinnt. Mussers Untersuchung über amerikanische Filmemacher (besonders Edwin S. Porter von der Edison Company) zeigt: 150 [ ...] daß während dieser Zeit die amerikanische Produktion nur einer einzigen fun- damentalen, sich schrittweise ereignenden Veränderung unterlag. Diese betraf hauptsächlich das Gebiet des Spielfilms und beinhaltete eine Verschiebung des Her- stellungsmodus, der von dem zentralen, auf Zusammenarbeit beruhenden Produ- zenten-System, das Janet Staiger skizziert, beherrscht wird. Diese Verschiebung vollzieht sich ungleichmäßig und unbeholfen [. ..] . Obwohl das kooperative Pro- duktionssystem bis auf den heutigen Tag bei vielen Filmherstellungsverfahren an- gewandt wird, zeigt sich doch zwischen 1907 und 1909 ein scharfer Bruch beim Entstehen der Filmindustrie in Hollywood. Diese Veränderung verläuft parallel zur Verschiebung auf darstellerischem und narrativem Niveau, die ich in anderem Zu- sammenhang erörtert habe.'0 Mussers Modell des Übergangs vom Kameramann-Ensemble-System (came- raman-unit system) über die kooperative Regisseur-Kameramann-Einheit (di- rector-cameraman system) hin zum Produzenten-System (central producer sy- stem) scheint den Produktionsmodi, wie sie bei Gaumont zu beobachten sind, angemessener. Das Kameramann-System von Staiger entspricht eher dem >Nachrichten-Operateur<, der Aktualitäten filmt und nur gelegentlich komi- sche Szenen dreht, die vielleicht aus dem Stand heraus improvisiert werden. Als Alice Guy mit Filmaufnahmen anfing, wobei sie sich zuerst der Herstel- lung von Spielfilmen widmete, arbeitete sie im Studio (wenngleich ihr Studio eine Terrasse im Freien war) mit dem Kameramann Anatole Thiberville, mit dem sie dann fast eine Dekade lang gemeinsam drehte. Es läßt sich nicht genau sagen, wie intensiv die ,Zusammenarbeit< (im Sinne Mussers) zwischen beiden tatsächlich war. Alice Guy schrieb die Drehbücher, engagierte die Dekorateu- re, kaufte oder machte die Kostüme und suchte nach den Darstellern für ihre ersten Filme. Um 190 5/ 06, also in den letzten beiden Jahren, welche die Regis- seurin als Leiterin der Filmproduktion bei Gaumont verbrachte, hatte sich der Übergang zu dem vom Regisseur und seinem Darstellerensemble bestimmten Produktionsmodell (director-unit system) im Sinne Staigers vollzogen. Die Produktion von Tonbildern war hierarchischer organisiert als die der Filme ohne Ton, mit denen sich Guy vorher beschäftigt hatte und die sie auch während der Dreharbeiten zu den phonoscenes nicht vernachlässigte. Grund dafür ist die komplizierte und empfindliche Ausrüstung und die vielfältige Natur der Aufgaben, die zu erledigen waren. Dies unterstützt Mussers These (die sich auf Arbeiten von Alfred Chandler Jr. und Janet Staiger beruft), daß die Filmindustrie»[ ...] vom an der Handwerkstradition orientierten Kamera- mann-System zum komplexen Multi-Einheiten-Produktionsmodell des Pro- duzenten-Systems überging, das eine breitere Arbeitsteilung und Hierarchie- ordnung mitbrachte.«21 Allerdings siedelt Musser diese Erscheinung für die Vereinigten Staaten erst nach 1908 an, während dieser Übergang bei Gaumont spätestens um 1905 beendet ist. Es ist bemerkenswert, daß Alice Guy bei den Dreharbeiten zu ihren stummen Filmen fast vollkommene künstlerische Frei- heit besaß und auf einer mehr oder minder kooperativen Basis arbeitete, wäh- lp rend sie zur gleichen Zeit die Tonbilder in einer rigiden, arbeitsteilig aufgebau- ten, hierarchisch organisierten Umgebung inszenierte. Da der Chronophone-Apparat und die dazugehörigen Tonbilder als Paket verkauft wurden, fällt die Tonbildproduktion der Firma Gaumont eher unter die von Tom Gunning geprägte Kategorie der eigenständigen Produzenten (seif contained producers), obwohl diese in der Chronologie erst später auf- tritt.'2 Tonbilder modifizieren die Geschichte des Vertriebs Eine Berücksichtigung der Tonbilder würde auch dazu führen, daß die Ge- schichtsschreibung des frühen Kinos die Vertriebsmuster überdenkt. Ein gu- tes Beispiel liefert die Einführung des Chronophone von Gaumont in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Obwohl seine phonoscenes in fran- zösischer Sprache erklangen (nur einige wenige entstanden in Berlin auf deutsch), versuchte Gaumont zunächst, das Chronophone in Deutschland di- rekt zu vermarkten. Gaumont trat damit in unmittelbaren Wettbewerb mit Oskar Messters Biophon. Messter und Gaumont hatten sich ihre Erfindungen patentieren lassen. Messters Tonbilder verkauften sich gut, solange die Firma ihren technischen Vorsprung gegenüber den anderen Filmherstellern in Deutsch- land wahrte. Außerdem betrieb Messter eigene Biophon-Kinos in Berlin und in verschiedenen westdeutschen Städten. Bis 1913 verkaufte er 500 Biophon- Projektoren. Martin Koerber weist den Tonbildern ab 1905 eine wichtige Rol- le zu bei der Etablierung fester Kinosäle in Deutschland, nachdem sie bereits in den Variete-Programmen erfolgreich gezeigt worden waren. 23 Da es schwierig war, französische phonoscenes in Deutschland und umge- kehrt deutsche Tonbilder in Frankreich zu vertreiben, einigten sich die Firmen Messter und Gaumont auf ein gentlemen 's agreement: Gaumont exportierte seine Filme nicht nach Deutschland und Messter hielt sich von Frankreich fern. Die Apparate jedoch wurden von beiden Herstellern verkauft und sogar gemeinsam unter der Marke Gaumont-Messter Chronophon-Biophon ange- boten.24 In Amerika hatte Gaumont weniger Glück. Das Chronophone war 1907 auf dem Hippodrom in London vorgeführt worden. Dort hatte es die Auf- merksamkeit der Mitglieder der Motion Picture Patents Company (MPPC) erregt, die eine Vertriebslizenz für Amerika erteilten. Gaumont hatte ur- sprünglich die Absicht, einen seiner Manager, Herbert Blache, nach Cleveland zu schicken, um dort mit Unterstützung einiger amerikanischer Investoren zu versuchen, das Chronophone als franchise-Unternehmen, d.h. mit Hilfe von Konzessionsverträgen zu verbreiten. Alice Guy und ihr Mann Herbert Blache gingen nach Flushing, New York, wo Blache in Gaumonts neuerrichteten Stu- dios Arbeit erhielt. Die Firma hatte mindestens 20.000 $ in den Umbau des 152 Studios gesteckt, um es für die Chronophone-Filme umzurüsten!' Ende Ok- tober 1908 wurde das Chronophone dem Publikum vorgeführt.26 Im Novem- ber 1908 verkündete Gaumont imNew York Dramatic Mirror, es würden über 139 Chronophone-Filme in englischer Sprache zur Verlügung stehen, die mei- sten populäre Songs von verschiedenen Variete-Sängern, darunter Titel wie »Cuddle Up a Little Closer« und »I'm Afraid to Come Horne in the Dark«.27 Die US-Studios von Gaumont produzierten nur die Bilder, den Ton lieferten Schallplattenaufnahmen kommerzieller Firmen wie Victor und Gramophone.28 Obwohl die MPPC ursprünglich Interesse für das Chronophone gezeigt hatte, wuchs der Widerstand bei Edison. Schon im Mai 1908 sandte ein Kino- betreiber in Los Angeles ein Telegramm an Edison mit der Frage: »K önnen Sie verhindern, daß Gaumont-Filme hier als Tonbilder gezeigt werden?« Eine handschriftliche Anmerkung am Rand lautet: »V ermutlich ja«.29 Bis zuletzt stellte sich Edison einer Lizenzierung des Chronophone entgegen, wie aus ei- nem Brief seines Chefrechtsanwalts Frank L. Dyer hervorgeht: Ich hatte gestern das Vergnügen, eine sehr gute Vorführung des Chronophone-Ap- parates zu sehen, obwohl ein oder zwei Fehlstarts passierten, bevor er zum Lau- fen gebracht werden konnte. Anschließend sprachen die Herren Gaumont und Bla- che lange über die alten Gründe, warum sie eine Lizenz für das Chronophone erhal- ten sollten. Blache gab praktisch zu, daß es von der morgigen Abstimmung der Pro- duzenten über das Chronophone abhängt, ob Gaumont an seinem Vertrag mit Klei- ne festhält oder nicht. Herr Kleine wird hier sein und, so gab mir Gaumont zu ver- stehen, die Sache zur Sprache bringen. Soweit ich sehen konnte, ist für die Konkur- renz von diesem Chronophone wenig zu befürchten. Es könnten sich möglicher- weise einige Vorteile ergeben, wenn die zugelassenen Produzenten (licensed manu- facturers) einen solchen Apparat den Kinobesitzern anbieten können. Ich hatte den Eindruck, daß es Ihnen eigentlich egal ist, ob das Chronophone eine Lizenz erhält oder nicht, aber Herr Berst informierte mich heute telephonisch, daß Sie sich un- verändert dagegen gestellt haben. Würden Sie mich bitte per Telegramm morgen davon unterrichten, wie Ihre Meinung kundgetan und wie ihre Stimme in dieser Angelegenheit abgegeben werden soll ?i0 Leon Gaumont erhielt die Lizenz für das Chronophone und steckte sofort sei- ne ganze Energie in den Versuch, Mitglied der MPPC zu werden. Außerdem schloß er mit George Kleine einen Vertrag über den Vertrieb seiner Stummfil- me und Tonbilder in den Vereinigten Staaten. Zugleich kam die Firma in sepa- raten Verhandlungen mit der Edison Manufacturing Company überein, daß Gaumont von Edisons Negativen Kopien für den Vertrieb im Ausland zog und Edison die gleichen Dienste für Gaumont in den Vereinigten Staaten lei- stete. Aus dem Briefwechsel zwischen beiden Firmen geht hervor, daß Gaumont weiterhin erlolglos Lobbyarbeit leistete, um in den Kreis der MPPC aufgenommen zu werden. Abgesehen von Edisons Widerstand hatte das Chronophone auch noch eigene Probleme. Die Installation des Systems war teuer. Es fehlte die notwen- dige Verstärkeranlage und der Synchronismus von Filmbildern und Ton konn- te selten bis zum Ende des Tonbilds gehalten werden. Um 1912 war das Ver- triebsarrangement mit der MPPC vollends brüchig geworden. Es gelang Gaumont nicht, von der MPPC aufgenommen zu werden. Auch hatten Klei- ne und Gaumont Anfang 1912 einen Streit, woraufhin Gaumont zu den Un- abhängigen (independent producers) stieß, die ihm allerdings keinen besonders freundlichen Empfang bereiteten. In einem späteren Brief an Herbert Blache verweist Leon Gaumont mehrfach auf das Geld, das er in das Studio in Flush- ing gesteckt und verloren hatte, weil die MPPC den weiteren Vertrieb des Chronophone verhinderte.3' Er begriff, daß jede weitere Investition in Ameri- ka einen Verlust bedeuten würde.32 Gaumont hätte die Produktion von Tonbildern in Amerika aufgeben kön- nen. Aber er hatte sein System in Frankreich verfeinert. Bei einer Vorführung 1910 in Paris machten die phonoscenes einen guten Eindruck auf Gaumonts Kollegen aus Forschung und Wissenschaft, die der Gesellschaft für Photogra- phie angehörten." Beflügelt durch seinen Erfolg kehrte Leon Gaumont mit einem »neuen und verbesserten« Chronophone 1913 nach New York zurück. Das Programm, zusammengestellt aus Chronochrome-Aufnahmen (dem Farbfilmverfahren von Gaumont) und Tonbildern, wurde im Theater an der 39. Straße im Juni 1913 als »erstmalig in Amerika« angekündigt.34 Aber die Kinobesitzer hatten ein gutes Gedächtnis; zudem gab es nun viele >Tonfilm<- Systeme auf dem Markt, u.a. das Cameraphone und Edisons neues, verbesser- tes Kinetophone.Ji Ende 1914 war der Tonbilder-Boom vorbei. Harald Josse deutet diese Ent- wicklung vorsichtig mit technischen und künstlerischen Gründen>6 und nicht mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Bis 1913 wurden in Deutschland rund 500 Biophone verkauft und an die 1 500 Tonbilder mit Längen zwischen 60 und 85 Meter aufgenommen. Gaumont drehte für das Gaumont-Messter Chronophon-Biophon gut 1000 Tonbilder mit einer Gesamtlänge von etwa 60.000 Meter Negativfilm. LautJosse wurde in England etwa die gleiche Zahl Tonbilder produziert wie in Frankreich. Weltweit schätzt er die Produktion auf 3.500 bis 4.000 Tonbilder mit einer Gesamtlänge von 250.000 bis 300.000 Metern.Jl Gaumont verlor nur langsam das Vertrauen in sein Chronophone. Er warb über zwanzig Jahre dafür, von der ersten Präsentation 1902 bis zum 15. Juni 1922, als er im Pariser Gaumont-Theater öffentlich technische Verbesserun- gen demonstrierte.'8 Die Presse reagierte enthusiastisch. 1925 unterschrieb Gaumont einen Partnerschaftsvertrag mit der Danish Electrical Fono Films Company, die Peterson & Poulson repräsentierten, um ein Doppelbandsy- stem, das sogenannte Gaumont-Peterson-Poulson-System zu vertreiben:Ihre Forschungen gipfelten am 18. Oktober 1928 in der Projektion von L'EAU DU 154 NIL (Regie: Marcel Vandal), dem ersten kommerziellen Tonspielfilm in Frank- reich. Allerdings eignete sich die Technologie des Doppelbandsystems nicht für die kommerzielle Auswertung und wurde zugunsten des Lichttons aufge- geben, in den Gaumont ab 1929 investierte. Leon Gaumont gab die Firmenlei- tung im August 1929 ab. Sein Rückzug zum Ende der Stummfilmära fällt mit dem Ende des Synchron-Ton-Systems zusammen, das er mehr als zwanzig Jahre lang favorisiert hatte. Resümee Die bewegte Geschichte des Chronophone von Gaumont ist faszinierend, doch keineswegs einzigartig. Es gab weltweit Dutzende solcher frühen Ton- systeme, die zwischen 1900 und 1929 jeweils von einem eigenen kommerziel- len Champion hergestellt und vertrieben wurden. Vielleicht sollte man diese Einzelgeschichten in einer Anthologie zusammenfassen - dem Beispiel von Fells Film Before Griffith39 folgend mit dem Titel »Sound Before THE JAZZ SINGER«. Dies wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Die eigentliche Aufga- be besteht jedoch darin, die ersten 3 5 bis 40 Jahre der Kinematographie neu zu besichtigen: nicht als zwei unabhängige und ungleiche Entwicklungen von Bild und Ton, nicht als zwei nebeneinander her laufende Geleise, sondern als eine Geschichte mit einer Vielzahl an Erscheinungen, die sich gegenseitig be- einflussen. Wenn wir das frühe Kino von Anfang an als eine Gesamtheit aus Stumm- und Tonfilmen betrachten, dann wird eine neue Geschichte des frü- hen Kinos im Zickzack-Verlauf erzählt werden - als eine Geschichte zweier Entwicklungen, die sich wie ein Tandem bewegten und sich gegenseitig stimu- lierten. (Aus dem Amerikanischen von Sabine Lenk) 1 55 Anmerkungen 1 Rick Altman (Hg.), Sound Theory - me von Pierre-Paul Marsales, Dranem hieß Sound Practice, Routledge, New York, eigentlich Armand Menard [Anm. d. London 1992, S. 113. Übers.]. 2 Aus der Inhaltsangabe von Kristin 12 Ich danke Tony Slide für diesen Hin- Thompson, David Bordwell, Film History: weis. An lntroduction, McGraw Hili, New York 13 Vgl. Comptoir General de Cinemato- 1994. graphie, Projections Parlantes, Etablisse- 3 Vgl. Martin Koerber, »Oskar Messter ments Gaumont,Juli 1908, S. 6of., Tonbild- - Stationen einer Karriere«, in: Martin Loi- nummern 143 bis 155 (Mayol), 129 bis 141 perdinger (Hg.), Oskar Messter - Filmpio- (Polin), 157 bis 168 (Dranem). nier der Kaiserzeit (Ausstellungskatalog), 14 Es handelt sich hier um CE QUE c'EST K!Ntop Schriften 2, Stroemfeld Verlag, Ba- QU'UN DRAPEAU, gesungen von Dona, Ton- sel, Frankfurt am Main 1994, S. 35-36;Jean- bild Nummer 63 5 im Katalog des paul Goergen, »Der Kinematograph Unter Comptoir General de Cinematographie, den Linden 21. Das erste Berliner ,Kino< Phono-Scenes pour Chronophone, Juli 1896/97«, K/Ntop 6 (1997), S. 155-158. 1912, s. 14. 4 Der Begriff »Nachsynchronisation« 15 Tom Gunning, D. W. Griffith and the wird hier umgekehrt zum gewöhnlichen Origins of the American Narrative Film: Sprachgebrauch verwendet, denn das Bild The Early Years at Biograph, University of muß nachträglich dem Ton angepaßt wer- Illinois, U rbana, Chicago 1991, besonders den. Vgl. hierzu »W ie singende Bilder S. 59; David Bordwell, Kristin Thompson, (Tonbilder) entstehen«, Der Kinemato- Janet Staiger, The Classical Hollywood Ci- graph, Nr. 65, 25.3.1908, zit. nach Koerber nema, Columbia University Press, New (Anm. 3), S. 50- 52. York 1985, S. 113-141; Charles Musser, 5 Vgl. Harald Josse, Die Entstehung des »Pre-Classical American Cinema: Its Tonfilms. Beiträge zu einer faktenorientier- Changing Modes of Film Production«, in: ten Mediengeschichtsschreibung, Verlag Richard Abel (Hg.), Silent Films, Rutgers Karl Alber, Freiburg, München 1984, S. University Press, New Brunswick N.J. 82f. und 9of. 1996, S. 85-108, hier zit. nach der Erstver- 6 Vgl. Koerber (Anm. 3), S. 52. öffentlichung in Persistence of Vision (New 7 Michael Wedel, »Schizophrene Tech- York), Nr. 9, 1991, S. 46-65. nik, sinnliches Glück: Die Filmoperette 16 Vgl. Guy (Anm. 11), S. 91; wegen klei- und der synchronisierte Musikfilm«, in: ner Ungenauigkeiten gegenüber dem fran- Katja Uhlenbrock (Hg.), MusikSpektakel- zösischen Original wurde die deutsche Film, Musiktheater und Tanzkultur im Übersetzung der Autobiographie an drei deutschen Film 1922 - 1937, edition text + Stellen geändert [Anm. d. Übers.]. kritik, München 1998, S. 85-104. 17 Vgl. ebenda, S. 93. 8 Alan William, »H istorical and Theore- 18 Vgl. Leon Gaumont, »Historiques: tical Issues in the Coming of Recorded Notes sur les Etablissements Gaumont«, Sound to the Cinema«, in: Altman (Anm. in: Etablissements Gaumont (1895 - 1929), 1), s. 127. Imprimerie Gauthier-Villars, Paris 1929, 9 Tino Balio, The American Film Jndu- s. 2. stry, überarbeitete Auflage, The University 19 Vgl. Musser (Anm. 15), S. pff.; zum of Wisconsin Press, Madison 1985, S. 113f. Produktionsmodell vgl. Staiger in: Bord- 10 Altman (Anm. 1), S. 115f. well, Thompson, Staiger (Anm. 15), S. 93. 11 Alice Guy, Autobiographie einer Film- 20 Musser (Anm. 15 ), S. 51. Die am Ende pionierin 1873 - 1968, tende Verlag, Mün- des Zitats erwähnte frühere Darstellung ster 1981, S. 92f. Polin war der Künstlerna- findet sich in Charles Musser, »T he Nickel- odeon Era Begins: Establishing the Frame- macht mal sich selbst, mal ihren Mann für work for Hollywood's Mode of Represen- das Debüt von Lois Weber verantwortlich: tation«, Framework, No. 22/23, Herbst vgl. Guy (Anm. 11), S. 129. Von der Dar- 1983, S. 4-11, deutsche Übersetzung m stellerei wechselten Weber und ihr Mann K!Ntop 5 (1996), S. 13-35. Phillip Smalley zum Schreiben von Dreh- 21 Musser (Anm. r 5), S. 52. büchern und zur Regie von Tonbildern in 22 Vgl. Gunning (Anm. 15), S. 59. Tom Englisch, was man als den Anfang von We- Gunning beschreibt die Wanderkinemato- bers langer Karriere beim Film ansehen graphen-Besitzer als Geschäftsleute, die kann. Obwohl Alice Guy vermutlich ihre eigenen Projektoren und Filme besas- nichts mit dem Engagement von Weber zu sen und herumreisten, um ihre Ware vorzu- tun hatte, ist anzunehmen, daß es den Män- führen, wobei sie sich in einem Kreis von nern leichter fiel, Lois Weber eine Chance Variete-Theatern, Bildungseinrichtungen zu geben, weil bereits eine Frau für und Jahrmärkten bewegten, gelegentlich Gaumont gearbeitet hatte. aber auch ihre eigene Kinobude aufstellten: 29 Vgl. Gaumont-Dossier des Edison »[Normalerweise] klebten [sie] ihre aus ei- National Historie Site. ner Einstellung bestehenden Filme zu Se- 30 Frank L. Dyer an Edison, 24.2.1909, quenzen und Programmen zusammen und Gaumont-Dossier der Edison National begleiteten sie oft mit Erklärungen, Musik Historie Site. (George Kleine war ein er- und Geräuschen. Diese individuelle Pro- folgreicher Verleiher; die Produzenten, die grammgestaltung bedeutete, daß jede Vor- eine Lizenz zur Auswertung von Edisons stellung ein einzigartiges Ereignis sein Patenten hatten, bildeten den Trust der konnte, das außerhalb der Kontrolle der MPPC, im Gegensatz zu den Unabhängi- Produktionsfirmen lag.« gen (independent producers), die nicht zu 23 Vgl. Koerber (Anm. 3), S. 49. dieser Gruppe gehörten. [Anm. d. Übers.]) 24 Ebenda. 3 I Vgl. den Brief von Leon Gaumont an 2 5 Vgl. den Brief von Gaumont an Edison Frank L. Dyer vom 2.1.1909 im Gaumont- im Gaumont-Dossier der Edison National Dossier der Edison National Historie Site. Historie Site (United States Department of 32 Vgl. den Briefwechsel zwischen Her- the Interior, National Park Service, Edison bert Blache und Leon Gaumont in der National Historie Site, Main Street and Sammlung von Roberta Blache. Lakeside Avenue, West Orange, New Jer- 33 F. Honore, »Le cinematographe par- sey 07052). Vgl. auch »The Gaumont lant: Un spectacle inedit a l'Academie des ,Chronophone<: New Talking-Moving Pic- Sciences«, L'Illustration, 31.12.1910, wie- ture Machine Now Ready with Supply of derabgedruckt in: Etablissements Gaumont Filmsand Records«, The New York Dra- (Anm. 18), S. 82. matic Mirror, 5.9.1908, S. 8. 34 Vgl. das Programmheft Films parlants 26 Vgl. »Gaumont Talking Pictures«, The (Talking Pictures) and Chronochrome, 39th New York Dramatic Mirror, 31.10.1908, S. Street Theatre, New York, Juni 1913. 59· 35 Vgl.Josse (Anm. 5) S. 93f. 27 »New Chronophone Subjects«, The 36 Ebenda, S. 101. New York Dramatic Mirror, 14.11.1908. 37 Ebenda. 28 Alice Guy schreibt in ihren Memoiren, 38 Zur Vorführung in Paris vor der Socie- daß sie ihrem Mann bei der Vermarktung te franc;aise de photographie am 7.11.1902 des Chronophone in Cleveland geholfen hielt Leon Gaumont den Vortrag »Syn- hat, erwähnt aber nirgends, daß sie Tonbil- chronisme du cinematographe et du pho- der im Studio zu Flushing gedreht hat. Die nographe«. Schauspielerin und Gospelsängerin Lois 39 John L. Fell, Film Before Griffith, Weber wurde für Chronophone-Aufnah- University of California Press: Berkeley, men 1907 oder 1908 engagiert. Alice Guy Los Angeles, London 1983. 157 DES ALTERS ERSTE SPUREN (1913). STEPHANIE ROLL and ULI JUNG Women Enjoying Being Women Some Observations on the Occasion of a Retrospective of Franz Hofer's Extant Films in Saarbrücken The rediscovery of Franz Hofer as an auteur of Imperial German cinema at the 1990 Pordenone Silent Film Festival has led film scholars to a number of theoretical approaches towards his films. The person behind the oeuvre, though, has remained, until recently, unknown. While Heide Schlüpmann in her groundbreaking article for the catalog to the 1990 Pordenone Festival1 still assumed that Hofer was Austrian; later research has established that he was born on August 3 1, 1882, in Saarbrücken, nee Franz Wygand Wüstenhöfer, the son of a minor railroad official.• As of 1910 he was involved as an actor, dra- maturge, and stage director for various Berlin theaters.3 At the same time he worked as a playwright. Between 1910 and 1912 he established himself as a screen writer, providing scripts for Franz Porten, Viggo Larsen, Walter Schmidthässler and Ernst A. Becker.In this capacity Hofer was active mainly for the Berlin Vitascope Company, and when one of Vitascope's executives, Julius Kaftanski, left the company to form his own firm, Luna Film-Industrie, he lured Hofer away, offering him the opportunity to direct his own scripts. Moreover, Kaftanski developed a number of strategies to build up Hofer as the company's main attraction.4 Thus from 1913 through 1915 he produced twenty-five films as writer-director, a body of work which from today's point of view marks the peak of Hofer's creative success. Although Hofer left Luna after such successful a period of time, for whatever reasons, he can be seen as a filmmaker who favored working under steady contracts. Thus he usually worked for one company at a time shifting from Luna to Messter Film GmbH, and from there to Apollo Filmgesellschaft (as of 1916) and ultimately to the Bayerische Filmgesellschaft (1917)1 and Olaf Film-Gesellschaft (1919) before forming his own production company, Hofer Film GmbH, in 1920. By this time Hofer's career was already declining, though. Upon the closing down of his company in 1925 after 11 productions Hofer's productivity slowed down considerably. In 1927, he once more was able to produce four films, among which was a remake of his most popular pre-war vehicle, DAS ROSA PANTÖF- FELCHEN. Even before the advent of Nazi power, Hofer joined the NSDAP in 1932,possibly to enhance his faltering film career. In October 1933, he became a member of the Fachschaft Film, a legal prerequisite for his further activities within the German film industry. His last film as a director, DIE DREI KAISER- 159 JÄGER (1933), which was co-directed by Robert Land,6 was also his first and only sound film. After its premiere on November 15, 1933, Hofer's only fur- ther assignment within the German film industry was as Assistant Director to Johannes Guter for his FRÄULEIN LISELOTI ( 1934). After this, Hofer turned his back on the film business for good. As early as 1932 one of his plays, Schill, was premiered on the stage in Berlin. Subsequently Hofer's biography is ob- scure. A few of his plays were reviewed in the journals, and when he attended the premiere of his play Braut auf Abruf7 at the Görlitz local theater late in June, 1944, this was his last recorded public appearance. lt is not known what became of him.8 Of the eighty-four films Hofer directed between 1913 and 1933 only fif- teen are still available. Of course the prints are scattered in archives all over Europe and the United States. In a painstaking effort, the film critic Andrea Dittgen has undertaken to bring the entire extant films of Hofer to his native city where the Saarbrücken Filmhaus hosted a weekend's retrospective from April 16 to 18, 1999. Most of the surviving films derive from the pre-WWI years and give at least an idea of Hofer's thematic preferences and directorial concepts. The two films of the 192os,DIE GLOCKE (1922) andMADAME Lu, DIE FRAU FÜR DISKRETE BERATUNG (1929) demonstrate how Hofer's style became more and more out of date while DREI KAISERJÄGER (1933), set against the eve of the First World War, seems tobe more in line with early Fascist conceptions of heroic and self-sacrificing male film characters. In the academic discussion of Hofe r's ceuvre, his peculiar treatment of fe- male characters has been theorized: Hofer's films are not regressive in relation to the social drama's manifestation of a female gaze in cinema. On the contrary, they represent variations of a sympathetic look at modern woman's awakening, and the fears that this emancipation induces in men. This social-psychological interest is reflected in an aesthetic interest in trans- gressions, in the pleasures of parody, expressed through images of women and through genre [ .. .].9 As important as this theoretical observation may be, it does not illuminate an aspect that became apparent in a overall back to back viewing of the extant films. Hofer does not depict women in their struggle for emancipation, nor does he document their endeavors to this end. In the subjectivity of these cha- racters, the male-female relationships are not acted out as battles of the sexes. His women are playful, teasing sometimes, self-sufficient and self-reliant; their attitude towards men is not threatening, at least not in the men's perception. The female desire in Hofer's films more often than not follows pretty conven- tional expectations. Wedlock is still within the women's wishes, but they insist on the right to their own choice. The men, on the other hand, are not scared away by these female attitudes; on the contrary, they are being lured towards 160 Franz Hofer (1914) these female characters exacdy because of their playful charms, because of the pleasure of being played with. As Heide Schlüpmann in her Saarbrücken lec- ture on Hofer put it: he is not a chronicler of women's liberation. Rather, he is a troubadour: he sings the hymn in praise of women. Hofer's genre versatility has often been noted. Nevertheless, it must be stated, that his generic approaches bear consequences for the depiction of his female characters. In his earliest films Hofer seems to prefer an exotic type of woman, women who attract male gazes and do so in their capacities as artists in the entertainment industry. They present themselves to men as objects of desire only to reassure themselves of their own independence of men. This can be seen especially in DES ALTERS ERSTE SPUREN (1913) where the variety dancer's eroticism provides her upward social mobility in as much as the men compete with each others to keep her, while she does not feel obliged to accept any of the men's proposals. What attracts men, in the long run, are her non- committal manners, the evasiveness with which she treats them. The moment she seems to accept a suitor's proposal, which is to say: the moment she seems to steer into conventional bourgeois living expectations, she looses all her at- tractiveness for this man. Suddenly he realizes the first traces of age in her face and leaves her to a social decline well into the gutter. Moreover, it is the man who offers her his hand in marriage, and the very moment she accepts, he turns her down. In this film the woman's very form of existence depends on her ability to attract the advances of men, an ability she is able to hold up as long as her sen- sual eroticism promises to be available for more than one man, as long as she is promiscuous. Once she is ready to choose one single man, a decision brought about by the heavy blows fate has dealt out to her, her form of existence col- lapses irreversibly. In DIE SCHWARZE KUGEL (1913) things are different. Violetta and Edith only in their public roles as entertainment artists embody a calculated exotic appeal for the gazing men. In their privacy they strive for completely conventional wishfulfilments like fidelity, respectability, and stability in marriage. In DIE SCHWARZE NATTER (1913) however, the two female protagonists cater to diffe- rent male views of feminine eroticism. The one, Blanche Estree, decidedly a hosenrolle, signifies dornination by holding in her hands a riding whip when she is introduced into the narrative. Her opponent, Zadija, is as a dancing sna- ke charmer associated with archetypal threatening potentials, and her erotic interest in Iwan Korff is only faked at the beginning and serves in the end to acquire secret documents from him. The moment her erotic desire for him becomes real, she accepts at the same time bourgeois and conventional beha- vioral patterns. Once the films leave the realms of the circus and entertainment the erotic attractiveness takes on other forms. In DER STECKBRIEF (1913), for example, the depiction of the erotic is divided: the intuitive Nelly Perron gives back to Egon Valier his courage to face life just by devoting some affection to him while the detective Ellen Gray drives him incessantly into a corner and desta- bilizes him through her offensive eroticism. N elly's material existence does not depend on her erotic self-representation towards men. She is a modern, autonomous woman, apparently economically self-reliant, and her understan- ding of her role allows her to open up towards men completely by her own decision. Among the female protagonists in Hofer's extant early films she is by far the strongest and the most self-determined. lt is all the more irritating that she is the only woman in the films we could see who dies by her own hand, a suicide which is brought about by a rnisunderstanding. In his comedies, though, Hofer's preferred genre, '0 he treats his female cha- racters diffe rently. Their playfulness in their treatment of men takes on other aspects, in as much as the question of their material existence is usually not posed: As daughters of bourgeois or aristocratic parents they unanimously belong to the higher strata of society and need not care for material concerns. Moreover, being much younger than the women in the social dramas and sen- sationalist detective stories, these characters seem still to be experimenting, >learning by doing<, seem still to be seeking their (sexual) role in life. Their erotic autonomy is based on their backfisch-identity which is basically staged as pre-erotic. In FRÄULEIN PICCOLO (1914/I 5), for instance, the young girl changing dress is observed by her parents - seemingly a naive and innocuous act which at the same time, though, presents the girl to the gaze of the camera and thus challenges the audience to a voyeuristic perception. In this film the parents, moreover, are aware of their daughter's erotic attractiveness - even in her male masquerade. They are delighted by the sight of the girl and do not feel obliged to problematize her appeal. On the contrary: parental pride makes it possible to incorporate the girl as the hotel's >attraction<; yet at the same time the girl is enhanced in her understanding of her body by this play on gender roles. In HURRAH! EINQUARTIERUNG (1913) the backfisch-eroticism is no longer naive and innocuous, but rather it is utilized consciously, if at first only play- fully: the young girl ensnares the father to divert him from the ends she herself pursues. At the same time she flirts with the camera to let the audience never forget these very same ends. Although her father responds to her charms, he still does so in a completely naive manner. Rather he is motivated by fatherly joy over the flirtations of his daughter. These saucy, wild, untamed aspects are common in many of the backfisch in Hofer's early comedies. Neither do they irritate the generation of the pa- rents, nor do they scare away prospective suitors. Hofer stages these characte- ristics as a sweet eroticism of stubbornness and resistance (Trotzkopferotik) which never fails to achieve its aim. On the other hand this peculiar kind of eroticism must be perceived as a specific form of self-determination within these female images. Young as they may be, these girls chose their lovers them- selves, even if they learn about their true identity only in the course of the film's action. (DAS ROSA PANTÖFFELCHEN [1913]). At the same time, being entirely enveloped by parental love, care and so- cial security, they never experience the threat of a social downfall whatever their attitudes towards their suitors may be. Thus, they are well in the position to turn down prospective husbands their fathers have selected for them and fall in love, instead, with men they run into by mere chance. lt cannot come as a surprise that these comic strategies succeeded to reach their audience. Despite the images of women related above, the female prot- agonists are not measured against the social reality of the (female) audience. Rather, they are perceived as amusing at all events und non-real, because they are not imbedded in something that might be called everyday life. Hofer, in other words, does not create alternative perspectives which formulate concre- te instructions to act upon. Thus, these characters need not be problematized by the audience. Hofer's early comedies, as must be deducted from this, are utterly escapist. EIN VERLIEBTER RACKER ( 191 5) , a film that is no longer available, seems to have been a case in point: In three stages it narrates the playful education sen- timentale of a young woman from her early flirts in school to her juvenile girl- ish scuffles over the advances of boys to her engagement to the aspiring As- sessor Schneidig. »Man sieht also, eine Geschichte des Liebeslebens eines jungen Mädchens, das jedoch nicht von hypermodernen Ideen erfüllt ist, son- dern sich Humor und Laune bewahrt«," remarked Die Filmwoche in their review of March 7, 191 5. What the reviewer underlined was Hofer's decidedly non-didactic approach, an approach that depended greatly on comedy con- ventions of the time and did not venture to utilize the film's narrative for ideo- logical purposes. And conventional indeed were his comic devices. Numerous are the incidents of mistaken identity (DAS ROSA PANTÖFFELCHEN [1913], DER GEPUMPTE PAPA [1916], DER THEATERPRINZ [1917], SEINER HOHEIT BRAUTFAHRT [1918], DAS RosA PANTÖFFELCHEN [remake - 1927]) and masquerade (HuR- RAH! EINQUARTIERUNG [1913], FRÄULEIN PICCOLO [1914/I5], MALHEURCHEN NUMMER ACHT [1914], PRINZESSIN INCOGNITO [1915 ?], DER POSAUNENENGEL [1916], DER FALSCHE WALDEMAR [1917], DIE NOTTRAUUNG [1917], SEINER HOHEIT BRAUTFAHRT [1918]) in his comedies (at least judging from the synop- ses given in the trade press reviews of the time). These are devices which may be virtually absent from the early comedies of Ernst Lubitsch but they were well established in many Henny Porten vehicles of the time. On the other hand, social climbing, a typical Lubitsch topic of the early years, is for Hofer more or less limited to melodramatic narratives (exceptional in this respect is DAS PATSCHULI-MÄDCHEN [1918]). What seems to be unique, though, in Hofer's approach to comedy is his peculiar way of incorporating the audience into the comic plot. This he achieves by having his actors at decisive points of the action look direcdy into the camera and thus into the audience. This de- vice, basically equivalent with the aside on the legitimate stage - and there fair- ly limited to comedies as well -, sucks the audience into the diegetic space and makes them accomplices of the characters' designs which the >victim< is no- ticeably unaware of; the audience becomes part of the plot and is obliged to take sides. The comic ease is thus experienced by way of a pleasurable mali- cious glee. In her lecture Schlüpmann pointed out that Hofer recurrently stages images in which protagonists in the dark foreground are looking through a dark frame (a door etc.) into a lighted space in the background and eveiltually pass into this space crossing over from the dark into the light. Schlüpmann took these images as symbolic for the institution of the cinema with the dark space in the foreground signifying the auditorium and the light space in the background signifying the screen the audience is staring at. The passage of the protagonists from one space into the other was thus characterized by Schlüp- mann as the passage of the audience into the diegeses of the film, as a means of direct audience participation within the narrative space of the film. This very useful observation explains a mechanism of audience positioning in Hofer's melodramatic narratives. Still it may be limited to the >serious< gen- res, or even, it may be signifying the limitations of audience positioning in these genres. In Hofer's comedies, as we have shown, protagonists and audi- ence connect much more directly, more efficiently because the respective de- vices are part of the narrative and not merely part of the analytical qualities of images. In melodrama, the look into the camera and thus into the audience is a non-realistic, anti-illusionist gaze which reminds the audience of the artificia- lity of the depicted and thus of its own identity as audience. This comes for- ward as a suspension of the real as it usually works only within the confines of the comic, or eise it is received by the audience as a deliberate means of aliena- tion (in the Brechtian sense) and self-referentiality. Still, the comic device of characters looking into the camera is not inherent to film comedies as the example of Max Linder's slapstick shows. In his pre- 1910 films it almost never occurs. But by 1910 and later it is one of his much favored tools especially to make the audience perceive his surprise, disgust or other emotional states and, more prominently, to make sure he and the audi- ence are in unison. Around 1910 Linder was the single most popular film eo- median on either side of the Atlantic. And though it is true that he was a fo- rerunner predominantly of the American slapstick comedy a la Mack Sennett and Charles Chaplin, it does not seem to be too far fetched to assume that he also emanated an influence on European comedies. Indeed, surveying early German comedies it can be noticed that prior to 1910 looks into the camera were fairly rare and that thereafter they occurred more often and they served the very same dramaturgical purposes as in Linder. So Linder may have been a dramturgical model for comedies in other European countries, as may not be surprising given the leading role of French (and Italian) narrative films on the European markets. This can be further substantiated by a scene from Linder's MARIAGE FORCE (F 1913) which shows a posse chasing the hero who has just climbed over a wall. The pursuers are not able to climb of this wall, since Linder is squirting water at them from a hose he found lying on the ground. The very same set up is seen in Hofer's PRINZESSIN lNCOGNITO (1914) 12 where the princess fends off the tabloid journalists with the same device shot from a similar camera angle and incorporating the same sense of humor. During the First World War Hofer turned more often to the >serious< gen- res. In these pictures his depiction of the central female protagonists changes. 165 First of all the women's impetus to act becomes more altruistic than before or in the comedies. In WEIHNACHTSGLOCKEN 1914 (1914), for instance, young Lo devotes her entire energies to unselfish ends. She understands most naturally that it is the role of a bourgeois woman to occupy a position next to a husband and - contrary to conventional social considerations - to utilize her emotional composure to the end of a steady love relationship, indeed to make such a re- lationship possible in the first place. The man, who returns from the war a hero, finds through Lo's intervention a firm anchor within the family on which he is able to found his new social existence. This is not to say that these images of warnen may serve to describe sufficiently Hofer's position during WWI. ToDESRAUSCHEN (1914), a film that is no langer available, gives the un- derstanding that the lass of the beloved on the >field of honor< need not neces- sarily be worked through in the same manner by all warnen. A cursory synop- sis which is found in Die Lichtbild-Bühne of October 24, 1914, suggests that at least one of the female protagonists responds to the news of the death of her callous husband with utter relief. 'J If this be so, then this film once more dis- plays Hofer's sensitivity towards the psyche of warnen, which he later on will conceal behind a system of bourgeois norms. After the war, tobe precise, for instance in DIE GLOCKE - DAS VERLORENE ELTERNHAUS (1922), the central fe- male protagonist is altogether more functionalized: although she is still not subordinated to her husband, she is nevertheless reduced to the role of a ho- memaker, a role she fills with an emotional stability inherent to her and which she employs in terms of the founding of a new familial and material basis. In the further course of the film's events into the postwar period, the man's initia- tive becomes more decisive and the aspect of laying new bases is increasingly linked with the building up of a steel works. The woman becomes more and more thrown back upon her traditional social role: as housewife and mother and as a caring nurse for the invalid wartime comrade of her husband. MADAME Lu, DIE FRAU FÜR DISKRETE BERATUNG (1929), the last of Hofer's extant silent films, introduces yet two more interesting female characters at the center of its action. On the one hand there is a fifteen year old girl who is not pushed into the classical role of a >fallen woman< despite her unwanted preg- nancy. Rather, she succeeds to secure against all odds in preserving the peculia- rities of her love, all those uninhibited, affectionately familiar feelings which characterize her relationship to her boyfriend of the same age. The characterization of Madame Lu, the title figure, on the other hand remains at first obscure. Initially she appears to be an unscrupulous, greedy backstreet abortionist, but only in the course of the film does it turn out that she is devoted to more sublime motives. She imitates the criminal methods of the demimonde but only to prevent young girls from falling prey to bunglers and wheeler-dealers. At the same time for those affected she opens up paths back into a social perspective. From today's point of view this seems tobe a completely conservative stand, according to which abortions are tobe preven- 166 ted at all costs. Nevertheless, behind this moral hides a position which strives to keep pregnant young girls from sliding down skid row into social margina- lization. Madame Lu's motivation is not puritan and cannot be reduced to a social practice of hushing up undesirable aspects. Rather, she encourages girls to a responsible dealing with their own bodies. In this respect Madame Lu acts solidarily, an aspect which cannot be undermined completely by the often all too moralizing intertitles of the film. With Madame Lu, a woman becomes apparent who acts confidently and according to her own resolutions. In doing so she develops a sense of social responsibility and cooperates efficiently-with her unconventional methods - with government institutions. Her impetus to act is nevertheless not founded on unreflected morals the likes of which are put forward by conservative soci- al circles; her ethics is rather informed by a pragmatism which takes the single case seriously and pushes demands of state and society back behind them if necessary. Still, Madame Lu's approach in the lang run proves tobe stabilizing to the system. She encourages her »clients« not to deal more freely with their sexua- lity, but rather to abstain. The child conceived out of wedlock, which was not aborted by Madame Lu's intervention, dies at birth of a fever of her mother. In the final analysis the status qua ante has been reestablished which privileges the moral demands of society over the desires of loving people - possibly Hofer's concession to the norms of his day. We have endeavored, on the basis of the films we could see in Saarbriicken and referring to synopses of those films which are no langer available, to de- duct three different characterizations of warnen in Franz Hofer's body of work, characterizations which may not exactly differ existentially, but rather in their symptoms. These symptomatic diffe rences are to be conceived under generic aspects and they develop, on the other hand, historically. Hofer's cen- tral female protagonists have in common, though, a sense of their femininity which is very independent, emotionally multilayered and is first and foremost associated with a deep awareness of their bodies. These are qualities which do not oppose society, but still provide the warnen with room for their personal development, be it just in the realm of the emotional. Hofer's warnen have spa- ce enough to feel comfortable with their f emininity. Likewise, it is noteworthy that the men in Hofer's films do not endeavor to undermine this sense of their women's self-esteem. They do not cut down the spaces of freedom, be they husbands, suitors, or fathers. Moreover, this very form of femininity is partly what attracts these men to the warnen. Hofe r dis- plays a sense of both: the fascination of the men for the warnen and the pleasu- re of the warnen at being warnen. Notes We would like to express our gratitude to Deutsche Tonfilme vol. 4: Jahrgang 1933 Bill Argent for his excellent proof reading (Berlin: U.J. Klaus, 1992), 32f., venture to of this manuscript. explain this cooperation. In both sources as 1 Heide Schlüpmann, »T he Sinister weil as in the credits of the print Hofer's Gaze: Three films by Franz Hofer from name is listed - contrary to alphabetical or- 1913/Lo sguardo sinistro: Tre film di Franz der - second. Hofer del 1913«, Paolo Cherchi Usai, Lo- 7 Of Hofer's plays we could bibliogra- renzo Codelli (eds.), Before Caligari: Ger- phically verify only one: Franz Hofer, Der man Cinema, 1895-1920/Prima di Caliga- Sprung übers Feuer: Komödie in 3 Akten ri: Cinema tedesco, 1895-1920 (Pordenone: (Berlin-Wilmersdorf: Bloch, 1938) which Giornate del Cinema Muto/Edizioni Bi- was published as a typescript, apparently as blioteca dell' lmmagine, 1990), 452-73. a theater textbook. Hofer may have co-au- Schlüpmann reiterated her assertion in her thored with Arthur Lippschitz the operetta book, Unheimlichkeit des Blicks: Das Dra- Der Weibermagnet which was composed ma des frühen deutschen Kinos (Frankfurt by Fritz Lehner; the libretto (»Text der am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1990), Gesänge«) was published in 1909 by the 142. Berlin Mignon Verlag. 2 Hofer's own statement, which was pu- 8 For this biographical sketch we draw blished in Mühsam's and Jacobson's popu- on the research of Andrea Dittgen, Franz lar film dictionary of 1926, that his father Hofer (Saarbrücken: Amt für kommunale ran an engineering works is obviously a Filmarbeit, 1999), 7-14. Upon the comple- misrepresentation. Cf. his entry in Kurt tion of our article Herbert Birett detected Mühsam, Egon Jacobson (eds.), Wie ich Hofer's date of death: he passed away in a zum Film kam: Lexikon des Films (Berlin, Berlin hospital on May 5, 1945 and was 1926), 79f. probably burried in the Neuer St.-Paul- 3 These claims Hofer put forward in his Kirchhof am Dohnagestell (Berlin-Wed- biographical entry mentioned above (ibid.). ding) cemetery. Cf. »Franz Hofer: Todes- He is not listed, though, in the respective datum ermittelt«, Filmblatt 10 (Summer volumes of the Neuer Theater-Almanch 1999), 34· (Berlin, 189off.) which may signify that his 9 Schlüpmann, Pordenone catalog, 454. engagements at least lasted not long 10 Dittgen, loc. cit, 19 f., states that more enough to be recorded in the professional than half of Hofer's films belonged to the yearbooks. genre of the comedy. Her statistics is based 4 For more details cf. Martin Loiperdin- on an analysis of film titles. ger, »Franz Hofers vorsichtiger Aufstieg 11 Cited from Dittgen, loc. cit., 58; our zum Starregisseur«, in: Lilijana Nedic (ed.), emphasis. Prvi sledovi starosti/Des Alters erste Spuren 12 lt is not clear, though, whether PRIN- (Lubljana: Slovenska Kinemathek, 1996), ZESSIN INCOGNITO is identical with DIE 37-40. FEINDLICHEN REPORTER (1919). 5 In the entry mentioned above, Müh- 13 Cf. Dittgen, loc. cit., 53f. The review sam/Jacobson, loc. cit., Hofer stated to does not relate whether the film also carries have run the Bayerische Filmgesellschaft, a a critical response towards the war efforts. claim that has not yet been confirmed. Nonetheless it was banned only from juve- 6 N either Alfred Bauer, Deutscher Spiel- nile viewing and not, as this cursory synop- film Almanach, 1929-1950 (Berlin: Film- sis may suggest, for the remainder of the blätter Verl, 1950), 182, nor, Ulrich]. Klaus, war. 168 JOHN HEARTFIELD Ein wiederentdeckter Brief über expressionistische Filmpläne Vorbemerkung Von November 1917 bis Kriegsende arbeitete John Heartfield (e igentlich: Helmut Herzfeld) im Auftrag des Auswärtigen Amtes an Propagandafilmen für das neutrale Ausland. Hintergründe und Details dieser Filmarbeit, rekon- struiert anhand der Akten der Zentralstelle für Auslandsdienst beim Auswär- tigen Amt,' wurden in K/Ntop 3 vorgestellt! Im George-Grosz-Archiv der Stiftung Archiv der Akademie der Künste konnte ich jetzt einen langen Brief entdecken, den John Heartfield am 3. Dezember 1917 an Harry Graf von Kessler von der Deutschen Gesandtschaft in Bern schrieb und der hier erst- mals dokumentiert wird.J Er bestätigt und ergänzt die bisherigen Forschun- gen und bringt - insbesondere zu Heartfields Konzeption des expressionisti- schen Films - neue wertvolle Hinweise. Der Anstoß zu den Filmarbeiten John Heartfields, zu denen er seinen Freund George Grosz hinzuzog, kam offenbar von dem Kunstmäzen und Diplomaten Harry Graf Kessler, damals an der Deutschen Gesandtschaft in Bern für die deutsche Kulturpropaganda in der Schweiz zuständig. Kessler verantwortete zudem die schweizerischen Aktivitäten des Bild- und Film- Amtes (Bufa). Das Bufa war der Militärischen Stelle der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes, einem Organ der Obersten Heeresleitung, unter- stellt; das Auswärtige Amt hatte sich aber »die Federführung für die politische Seite der Tätigkeit des Bufa und den Einblick über seine gesamte Auslands- Tätigkeit«4 vorbehalten. Zuständig für diese Überwachung des Bufa nach dem Ausland war das Referat G der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes unter Generalkonsul Kiliani. Mit ihm besprachen Heartfield und Grosz so- wohl die Grundlinien der Filmpropaganda als auch Details ihrer Projekte. Die in Heartfields Brief vom 3. Dezember 1917 erwähnte Kaleidoskop- Film wurde aber offenbar nicht gegründet. Vielmehr sollten Heartfield und Grosz mit der Internationalen Gastspiel-Gesellschaft, Berlin, einer Tarnfirma des Auswärtigen Amtes,5 und der von David Oliver geleiteten Oliver-Film GmbH, einer Tochtergesellschaft der Nordischen Film Co., zusammenarbei- ten. Erste nachweisbare Kontakte zwischen John Heartfield und Harry Graf Kessler datieren vom 14. November 1917. An diesem Tag vermerkte Graf Kessler in seinem Tagebuch ein Treffen mit Heartfield, bei dem über Filme sowie über die Gründung und Finanzierung einer Filmgesellschaft gesprochen wurde. Bereits in dieser frühen Phase entwickelten Heartfield und Grosz zahl- reiche Ideen, die sie auch am 22. November 1917 Generalkonsul Kiliani vor- stellten.6 Die Ergebnisse dieses Gespräches flossen in Heartfields Manuskript- Brief ein, an dem zuerst der euphorische Stil auffällt. Offenbar war Heardields Kontakt zu Kessler die erste Gelegenheit, seine »l ang gehegten Filmträume« mit einer realistischen Aussicht auf Umsetzung darzulegen. Seine zum Teil hochgreifenden Pläne belegen, daß er sich zwar intensiv mit dem Medium Film beschäftigt hatte, aber offenbar noch keine Kontakte zur Filmindustrie besaß und mit ihren finanziellen und technischen Bedingungen nur peripher vertraut war. Er erkennt aber, daß Deutschland nicht mit der übermächtigen Wirtschaftskraft der amerikanischen Filmindustrie konkurrieren kann und setzt dagegen auf die Wirkung der künstlerischen Mittel, will »dem Kapital mit geistigen Machtmitteln Konkurrenz bieten«. Propaganda versteht er ganz im Sinne von Generalkonsul Kiliani als Präsentation kultureller Höchstlei- stungen, die durch Qualität überzeugen: »Die Qualität wird immer siegen, überzeugen, mitreissen, zum Denken zwingen, und umstimmen, und ist des- halb die beste Propaganda.« Pragmatisch und im Sinne seines Auftraggebers betont er aber auch die Möglichkeiten verschleierter Propaganda. Sein groß- zügig geplanter Reklamefeldzug für die zu realisierenden Filme zeugt von ei- ner genauen Lektüre der Filmfachpresse, insbesondere der Reklameseiten. Die anvisierte gesetzliche Schützung der Werbeinserate, des Firmennamens »Ka- leidoskop-Film« sowie der diversen Filmideen belegt nicht nur die kaufmän- nische Versiertheit Heartfields, sondern auch die Gewißheit, mit seinen Ideen wirkliches Neuland zu betreten. Folgende Projekte standen zur Diskussion: - ein als Komödie oder Groteske angelegter Film »Soldaten-Lieder«, in dem bekannte Schauspieler Soldatenlieder inszenieren sollten; die politisch-satirische Wochen- oder Monatschronik »Zeichnende Hand« sollte »Zeichnung und Modellierung« resp. »Zeichnung und Plastik« ver- binden und war offenbar als eine Kombination von Schnellzeichner und Puppenspiel gedacht; Puppenfilme, etwa ein »Komischer Puppenfilm über Feldgraue in Italien«, die auf »Plötzlichkeit und auf Überraschung« gestellt, in einer komischen Handlung den derben Soldatenhumor aufgreifen sollten; - einen »ohne Aufdringlichkeit politischen Struwwelpeter«, sowie die Idee, die Träume von Heartfields Bruder Wieland Herzfelde (e igentlich: Wieland Herzfeld) filmisch umzusetzen. Insbesondere aber präzisiert John Heardield in seinem Brief vom 3. Dezem- ber 1917 an Kessler seine bereits aus den erschlossenen Dokumenten bekannte Idee eines expressionistischen Films. Kiliani hatte nach seinem Gespräch vom 22. November 1917 mit Heartfield und Grosz festgehalten, daß sie beabsich- tigten: den expressionistischen Film zu pflegen, d.h. also den kosmischen und expressioni- stischen Ton, wie er z.B. in dem bekannten Film DIE ENTDECKUNG DEUfSCHLANDS7 durch Vorführung von Scenen auf dem Mars angeschlagen war, weiter zu entwik- keln und dazu noch den grotesk-komischen und excentrischen Typ zu gesellen, wie er namentlich mit großem Erfolg in Amerika in Gebrauch ist. Auch da soll unter der Maske der kosmischen und expressionistischen bezw. grotesken Dichtung, die bei den Gebildeten u. Ungebildeten aller Nationen auf Beifall und Interesse rech- nen kann, versucht werden, prodeutsche Propaganda zu treiben.8 Heartfield wollte, wie jetzt deutlich wird, nichts weniger als eine »vollkom- mene Neugestaltung des Films«, einen grundlegenden »Umschwung in der Kinematographie«, plante etwas »noch nie Dagewesenes« - die Umsetzung der expressionistischen Idee auch im Film, denn »unser Vertrautsein mit den geistigen und technischen Möglichkeiten des Expressionismus eröffnet uns tausend Wege«. Ein expressionistischer Film sollte mit den abgeleierten »na- turalistischen Anschauungen« brechen. Um dies zu erreichen, dachte Heart- field vor allem an den konsequenten Einsatz von »T rick und Groteske« als den eigentlichen filmischen Mitteln, an eine »radikale neufilmtechnische An- und Raumordnung«, an eine »toll-fantastische«, aber immer publikumswirksame Inszenierung. Als Vorlage für einen expressionistischen Film erwähnt er Os- kar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray, vor allem aber Edgar Allan Poes Novelle »Die Maske des roten Todes«. Poe schildert hier, wie sich ange- sichts der im Lande wütenden Pest der Fürst Prospero mit einem tausendköp- figen Gefolge in eine befestigte Abtei zurückzieht. Nach einem halben Jahre in der sicheren Burg veranstaltet der Fürst mit einer» Vorliebe für alles Abson- derliche« in den in unterschiedlichen Farben gehaltenen, durch die hohen go- tischen Fenster von außen beleuchteten Festsälen einen Maskenball von uner- hörter Pracht.9 Unter den Masken gibt es »viel Prunkendes und Glitzerndes, viel Phantastisches und Pikantes.« Zu jeder Stunde aber lassen die Schläge ei- ner »schwarzen Riesenuhr« das ausgelassene Treiben erstarren. Nach dem »Zwölfschlag der Mitternacht« bemerken die Feiernden plötzlich eine in Lei- chengewänder gehüllte abscheuliche Gestalt in der Maske des Roten Todes. Der über diesen »gotteslästerlichen Hohn« empörte Fürst verfolgt sie durch alle Gemächer bis in das letzte, das schwarze Gemach, wo er jedoch vor der Maske mit einem durchdringenden Schrei im Todeskampf zu Boden sinkt. Einige Gäste ergreifen »den Vermummten, dessen hohe Gestalt aufrecht und reglos im Schatten der schwarzen Uhr stand. Doch unbeschreiblich war das Grauen, das sie befiel, als sie in den Leichentüchern und hinter der Leichen- maske( ...) keine greifbare Gestalt fanden. Und nun erkannte man die Gegen- wart des Roten Todes.( ...) Und unbeschränkt herrschte über alles mit Fin- sternis und Verwesung der Rote Tod.«10 Man kann durchaus unterstellen, daß Heartfield mit der Wahl dieser Novelle auch an das noch andauernde Völker- schlachten dachte. »Gespenstig, gaukelnd und grotesk« stellte er sich die Umsetzung dieses schauerromantischen Stoffes vor. »Hier schreit ja alles nach toller expressionistischer Gestaltung.« Für sein »neues bildliches Denken« orientierte sich Heartfield an den Bildern von James Ensor - auf dem Hinter- grund der Poeschen Novelle legten insbesondere dessen Maskenbilder' 1 diese Assoziation nahe. Er stellte sich extreme Vogelperspektiven vor, stürzende Linien sowie kurze packende Zwischentitel. Heartfields Brief »in Manuskriptlänge« gewährt bisher nicht bekannte Einblicke in die Diskussion bestimmter Künstlergruppen um die Übertragung des Expressionismus auch auf den Film und kann als Bindeglied zwischen Bernhard Diebolds im September 1916 in der Artikelserie »Expressionismus und Kino«" ausgedrückter Idee eines vom Künstler gemalten Films und dem CABINET DES DR. CALIGARI gewertet werden. Offiziell begannen John Heartfield und George Grosz am 12. Dezember 1917 mit der Arbeit an ihren Propagandafilmen. Von den zahlreichen Ideen und den mehr oder weniger intensiv verfolgten Projekten sollte schließlich nur der Trickfilm PIERRE IN SAINT-NAZAIRE fertig werden, der aber nicht mehr ein- gesetzt wurde, da er von den militärisch-politischen Ereignissen der letzten Kriegsmonate überholt wurde. Eine Kopie dieses Films bewahrte John Heart- field in seiner Wohnung auf, wo sie ihm Anfang der 192oer Jahre bei einem Einbruch gestohlen wurde. ]eanpaul Goergen Kaleidoskopfilm Berlin 3.12.1917 Seiner Hochwohlgeboren Herrn Rittmeister Harry Graf von Kessler Bern Deutsche Gesandschaft Verehrtester Herr Graf! Leider ist bis heute meine Reklamation' 3 noch nicht zu Stande gekommen. Nachdem ich aber jetzt weiss, dass sie schon beim Regiment beinahe erledigt ist und dieser Tage zum Generalkommando zurückgeht, nehme ich mit Be- stimmtheit an, dass ich Anfang nächster Woche frei bin und dann endlich mit positiver Arbeit beginnen kann. Herr Oertel14 hatte die Freundlichkeit beim Pass-Kommando einen nochmaligen Dringlichkeitsantrag an das Ober-Korn- rnando zu erwirken, sonst hätte sich diese Angelegenheit vielleicht noch wei- terhin verzögert. Desgleichen sprach Herr Oertel mit Herrn Oliver betreffs der Schauspieler' 5und werde ich dieser Tage mit Herrn Oliver alles zunächst Notwendige besprechen, um sofort nach meiner Entlassung vorn Postdienst'6 mit den Aufnahmen beginnen zu können. Ich bedaure sehr, dass sich die Sache so sehr verzögert hat, doch lag es ja nicht in meiner Macht, dies zu ändern. Am 1. Dezember musste ich mich der Generaluntersuchung beim Regiment un- terziehen, und wurde arbeitsverwendungsfähig für die Heimat, dauernd, ge- schrieben, sodass meiner Reklamation durch meine Militärfähigkeit keine Schwierigkeiten in den Weg gestellt sind. Morgen, den 4. Dezember muss ich noch zur Reklarnationsuntersuchung, die wohl nur Invaliden- und sonstige Ansprüche regelnd, stattfindet. Die literarischen Vorarbeiten für den Soldaten-Lieder-Film sind erledigt, sodass das theoretische Gerüst nunmehr genau feststeht. Das Scenarium geht Ihnen, Herr Graf, in der nächsten Woche zu, und bitte ich, nach Durchsicht desselben mir über eventuelle Wünsche und Meinungen Ihrerseits Nachricht geben zu wollen, damit dann sofort Abänderungen diesbezüglich getroffen werden. Selbstverständlich stellt das Scenariurn nur den Untergrund des Films dar. Die harmonische Gesamtgestaltung, sowie die plastische Wirkung dessel- ben können hierin nur andeutungsweise sichtbar werden. Was die Reklame anbelangt, (wie besprochen), bitte ich Herrn Grafen, mir doch ein Schriftstück übermitteln zu lassen, in welchem mir bestätigt wird, dass ich über jedwede Reklame, sowie Propaganda, gleichgültig ob in der Tages- oder Fachpresse (betr. Filmfachzeitschriften) erscheinend, vollkommen selbständiges Bestim- mungs- und Entscheidungsrecht habe. '7 Ich muss darum bitten, um allen eventuell meinen Reklameplan kreuzenden Ideen von vornherein die Spitze brechen zu können. Es ist unbedingt notwendig, dass vorn Anbeginn unserer Arbeit ein ungetrübtes Bild unseres Auftretens in die Oeffentlichkeit gestellt wird, welches von keinem falschen Satz entstellt werden kann, und sofort ein- setzt, kompakt und schlagkräftig. Bei der ungeheuren Notwendigkeit der Ein- heitlichkeit, des Hand in Handgehens von Film und dessen Anzeigung ist dies unerlässlich. Es muss mir auch Zeitpunkt und Stelle der Reklame überlassen sein und bitte ich Herrn Grafen ergebenst, mir auch darin vollkommenstes Vertrauen zu schenken, damit ich die Verantwortung hierfür übernehmen und den Beweis erbringen kann, dass das Unternehmen von vornherein von mir so gestartet wurde, dass vorn ersten Tag an der Erfolg gesichert war. Will ich doch vorn Beginn an eine Reklame für den Kaleidoskop-Film schaffen, die sofort dessen spezifische Note angibt und ausschlaggebend für alle nachfolgenden Arbeiten ist. Ein nicht grosszügiges Ersterscheinen würde einen winkelhaften Eindruck machen, den Erfolg nur unterbinden, was sich später nicht mehr aus dem Wege räumen liesse. Die direkten Reklameanlagen gehen Ihnen, Herr Graf, auch schon in der nächsten Woche zu. Im Uebrigen schreiten die Vorar- beiten rüstig fort, wir haben uns bereits mit der Ausarbeitung weiterer Filme 173 befasst, sind dadurch auf kaum geahnte Resultate gekommen. Es handelt sich für uns um nichts weniger, als um eine vollkommene Neugestaltung des Films, einen Bruch mit der abgewirtschafteten alten Tradition, wobei wir natürlich zehnmal bedacht, vorsichtig und kaufmännisch zu Werke gehen werden. Wir schaffen als Erste den Expressionistischen Film. Wir zeigen demnach auch sofort an: »KA«-(Kaleidoskop) Film der expressionistische Film. Wir werden unsres Wissens die Einzigsten sein, die den expressionistischen Film machen können, da wir uns Ihrer werten Unterstützung hierbei sicher fühlen, (Herr Graf legte uns ja selbst mit dem Hinweis auf das erste Blatt »New-York« der Ersten Grosz-Mappe'8 und den diesbezüglichen Andeutun- gen den Weg nahe), und unser Vertrautsein mit den geistigen und technischen Möglichkeiten des Expressionismus eröffnet uns tausend Wege. Was versteht ein heutiger Filmregisseur von Expressionismus?! Was unser weiteres Pro- gramm betrifft, stellt es die Inszenierung eines grossen Struwwelpeter-Films auf. Die Idee ist kurz, ein ohne Aufdringlichkeit politischer Struwwelpeter. Indem wir die Bilder von vornherein auf die eigentliche Filmebene, auf Trick und Groteske stellen, die von andern Regisseuren noch nie rein durchgeführt wurde, da sie dies nicht können, werden wir einen toll-fantastischen Film, aber immer mit dem Blick auf das Publikum, fertigen, der noch nie da war und dadurch alles in den Schatten stellt, durch die radikale neufilmtechnische An- und Raumordnung, auch Wegners Märchenfilme'9 blass erscheinen lässt. Ka- pitel wie Hanns Guck-in-die-Luft, die traurige Geschichte mit dem Feuer- zeug, Freund Nimmersatt, der böse Friederich, die Geschichte vom fliegen- den Robert, usw. geben schon einen äusseren Begriff, eines vielgestaltbaren Themas, das politisch nach allen Seiten hin geschickt und verschleiert auszu- nützen ist. Ich bitte Herrn Grafen uns doch die Wege zur Realisierung dieses aussergewöhnlich reichhaltigen und glücklichen Stoffes möglichst sofort bereiten und sichern zu wollen; denn der Erfolg, den wir mit dem Struw- w[e ]lpeter-Film erreichen, wird ein beispielloser sein, da er ein neues bildli- ches Denken zeigt und einen Umschwung in der Kinematographie bringt, der ausschlaggebend für deren Weiterentwicklung und nicht mehr wegzuleugnen ist. Hiermit wäre der Boden der expressionistischen Idee auch für den Film wirklich zum ersten Mal seit seinem Bestehen betreten. Die nachfolgenden Umwälzungen wären von keinem Regisseur mehr zu umgehen. Der auswärti- gen Filmbranche wäre durch diese auf einen neuen Boden gestellten Tatsache in dieser Beziehung der Rang abgelaufen. Wirklich etwas noch nie Dagewese- nes gebracht, und im Deutschen Film zuerst. Und darauf lege ich besonderen Wert. Mehr noch als Filme mit verkappter, politisch propagandistischer Idee, wie sie die Engländer z.B. äusserst geschickt schaffen, (Herr Grosz und ich sprachen hierüber mit Herrn General-Konsul Kiliani)20 wirken ganz sachli- che Qualitätsfilme, in die, kaum merkbar, politische Absichten ja eingefloch- ten sein können, was die Aufgabe erhöht. Die Qualität ist nie zu umgehen. Trotzdem Amerika unser Feind ist, loben wir die amerikanischen Filme, müs- 174 sen sie ihrer Qualität willen anerkennen, und jeder sieht sie an. Sie erfüllen propagandistische Wirkung. Wer Deutschland hasst, lässt sich schwer durch politische Findigkeiten umstimmen (ich verkenne zwar nicht den Wert dersel- ben, insbesondere in ihrer Wirkung auf das Volk,) und die Intelligenz wird uns auch hier wieder eines Nachmachens beschuldigen, was uns ja gleich gültig sein kann, aber-wir kommen zu spät. Wir dürfen den Ereignissen nicht nach- hinken! Die Qualität wird immer siegen, überzeugen, mitreissen, zum Den- ken zwingen, und umstimmen, und ist deshalb die beste Propaganda. Sie kann nicht mit einer ihr nachgetragenen Absicht abgetan werden, sie ist vornehm. Ich schreibe dies Ihnen, Herr Graf, trotzdem ich ja Ihre vollständige Ueber- einstimmung mit diesen Selbstverständlichkeiten weiss, nur um sie festzule- gen. Sie sind die Folgerungen unserer Unterhaltung mit Herrn General-Kon- sul Kiliani, mit dessen Ansichten wir, was den ausgesprochen politischen Propaganda-Film betrifft, vollständig in Auffassung übereinstimmen und die wir auch nicht ausser Acht lassen werden. Herr General Konsul Kiliani ist aber auch von der Propaganda Wirkung nur neuer Filmideen überzeugt, er sprach davon, nur erwähnend, welche Ueberraschung und welchen Zauber z.B. die Verfilmung von Selmar Lagerlöf's »Reise mit den Wildenten« auslösen müss- te, und sieht Herr General Konsul hier Wege, deren Beschreitung erfolgreich sein muss. Ein Kapitalirrtum der Deutschen Filmbranche ist, dass sie sich von der Amerikanischen führen lässt, an deren Schlepptau hängt, Uebertrumpfen an Kolossalwirkung kann sie sie nur mit künstlerischen Mitteln. Wir können vom Boden des Kapitals aus das Amerikanische Kapital nicht schlagen. Es steht Deutschland ein zu grosser kapitalistischer Komplex entgegen. r 500000 Dol- lars für die Herstellung eines Film (wie Herr Oliver erzählte) sind schlechter- dings nicht zu überbieten und dies wäre auch lächerlich. Das wirtschaftet sich von selbst ab. Der Vorsprung ist uns gegeben, in unsrer minderwirtschaftli- chen Stärke. Ein Riesenvorsprung, (keine Utopie) denn diese bedingt den künstlerischen Vorsprung, zwingt dazu. Wir müssen den Sprung von andrer Seite aus machen, immer kreuzen. Dem Kapital mit geistigen Machtmitteln Konkurrenz bieten. Doch diesen Vorsprung hat man in Deutschland kaum erkannt. Man lässt sich noch durch den Effekt der ausländischen Geldmacht bannen und schwimmt ihm ohnmächtig nach. So auch in der Filmbranche. Der Deutsche wird seinen eigentlichen Machtbezirk zuletzt erkennen, der Ausländer sofort, wo Deutsche Qualität auftritt. I eh halte die Qualität des Films darum für die propa[ga]ndistisch wirksamste. Was die Vervollständigung unseres Programms durch die kurzen Wochen- oder Monatschronikähnlichen politisch-gefärbten Filmbeigaben »Die Zeich- nende Hand« betrifft, arbeitet Herr Grosz soeben Unterlagen aus, die, Zeich- nung und Modellierung verbindend, sich betiteln: »Die neuen Taten des Herakles« mit den Untertiteln, Herakles räumt den Augiasstall, die Keule des Herakles, usw. dann: 175 Don Quichotes Eroberungen und siegreiche Kämpfe, Don Quichotes Kampf mit den bösen Wolken oder so ähnlich. In Charlottenburg ist augenblicklich Schichteis [recte: Schichtls] ausgezeichnetes Puppenspieltheater21 zu sehen, das uns deutlich zeigt, wie köstlich unsere Puppenfilme werden müssen, wenn wir sie auf reich- haltiges, rasch aufeinanderfolgendes Geschehen aufbauen, und auf komische, konzentrierte Handlung stellen. Da kann alles Wunderbare geschehen, ein Berg explodieren, Häuser einstürzen. Da die Mimik fehlt, muss alles auf Be- wegung gestellt sein, auf Plötzlichkeit und auf Überraschung. Ich beauftragte Herrn Grosz bereits mit der Anfertigung gemalter kleiner Hintergrundpro- spekte. Die Herstellung der Puppen und alles Dazugehörenden ist mühselig und langwierig und wird deshalb die Fertigstellung dieses Films geraume Zeit in Anspruch nehmen. Für späterhin kann man eine Organisation treffen, dass die Puppen usw. von dritten, handwerklich geeigneten Personen nach unseren Zeichnungen und Angaben schnellstens und billigst hergestellt werden, um ein sehr schnelles Erscheinen der Puppenfilmserie zu ermöglichen, das dann notwendig sein wird. Es muss aber erst ein Puppenfilm, von uns ganz und gar allein gefertigt, erschienen sein. Um die Sicherung unserer Ideen und Pläne, sowie Reklameentwürfe zu bewerkstellen, werde ich noch diese Woche mit Herrn Justizrat Engel, Fried- richstrasse, konferieren, um durch ihn diese schnellstens in die Wege zu leiten. Es handelt sich vorerst um die Schützung des Namens »Kaleidoskop-Film«, sowie des Puppenfilms, dann der Struwwelpeterfilmidee, sowie der Serie »Die zeichnende Hand«, was Verbindung von Zeichnung und Plastik im Film be- trifft. Im Anschluss daran um Schützung jeder einzelnen Reklame, sodass die Bezeichnung jedes einzelnen Blattes mit einer laufenden Nummer (gesetzlich geschützt Nr. 2, gesetzlich geschützt Nr. 34) schon jede festzustellende Nach- bildung, was besondere Anordnung und Einfälle betrifft, gesetzlich untersagt. Ich glaube Herrn Grafen hiermit einverstanden, und werde des Näheren dar- über genauen Bescheid geben. Unglaublich mutet es mich an, und es geht vielen meiner allernächsten Be- kannten so, dass Edgar Poe's Novelle »die Maske des roten Todes« noch nicht verfilmt ist, die doch die beste Filmunterlage darstellt, die ein Regisseur sich wünschen kann. Die Erklärung dafür liegt daran, dass man die Novelle, auf naturalistische Anschauungen fussend, nicht im Film bringen kann. Es würde dann nur eine sehr magere Handlung bleiben, die enttäuschend hinter der Wirkung der Novelle zurückbliebe. Die heutigen Filmleute würden z.B. die Uhr übertrieben gross oder etwas geheimnisvoll, aber niemals erschreckend wirkend, zeigen. Wie unglaublich reich sind die Möglichkeiten dieses Film- themas jedoch, wenn man es von expressionistischen Gesichtswinkeln aus be- trachtet. Hier schreit ja alles nach toller expressionistischer Gestaltung. Ich möchte Herrn Grafen nur auf die Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten verwei- sen, die der durch die Handlung gehende Maskenball birgt. Wirft man nur ei- nen Blick dabei z.B. auf James Ensors »Einzug Christi in Antwerpen« [recte: Einzug Christi in Brüssel]" oder seine andern grotesk-phantastischen Blätter, so ist man gebannt von der Darstellungsmöglichkeit, die Poe's roter Tod bie- tet. Jedes Bild, z.B. um nur eines zu erwähnen, eines von hoch oben aufge- nommen, unten wimmelnd und klein die Menschenmenge, gejagt vom Ent- setzen, stürzende Ballustraden und Wände, stellt allein eine höchst imposante Aufgabe dar.2l Und dann, wie grässlich sind die jetzigen Filmtitel. Hier würde schon jeder Titel spannende und in seiner Kürze hämmernde Stille auslösen. Selbstredend, der Film muss sehr grosszügig und mit nicht zu kleinem Aufgebot an Kräften und Mitteln geschaffen werden, es müsste ein sogenannter Jeanne d'Arc Stan- dard-Film24 von vornherein geplant sein. Dann wäre ein riesiger Erfolg un- ausbleiblich, den Erfolg eines amerikanischen Films überbietend. Im neutra- len Ausland würde man einmal eine grosse künstlerische Deutsche Marke spielen. Ich habe insbesondere in Verbindung mit dem für diesen Film wie kein zweiter geeigneten Herrn Grosz und den künstlerischen Kräften, die ich noch heranziehen könnte, als einziger die Kraft und Möglichkeit, diesen Film restlos zu gestalten. Dorian Gray, ein guter Vorwurf, wurde verfilmt,21 jedoch wie erbärmlich. Es ist sehr schade, dass Mittelmässigkeit sich an solchen Stof- fen vergreifen kann, und sie dadurch für eine zweite Lösung ausschaltet. Wir besitzen ausser der dazu nötigen gestaltenden Phantasie, die Gabe, die Kultur der Darstellung zu entfalten, die unbedingt gefordert werden muss, um das Recht zu besitzen, so weltbekannte, entzückende Unterlagen zur Verfilmung bringen zu dürfen, welche eine künstlerische Ueberbietung, gleichgültig wel- cher Weltfirma, ausschliesst. Mein Film »Der rote Tod« würde gespenstig, gaukelnd und grotesk. Auch so als würde in einer Zeit abgeleiertester naturalistischer Romanschriftstelle- rei ein vervielfältigter Mark Twain auftreten. Man muss das tolle Geschehen der Handlung ins Quadrat potenzieren. Das verlangt der Film!! Dann kann man erst den Extract ziehen, der den, für den Film bedingten, ganz neuen Horizont schafft. Nur von diesen Punkten aus kann mann sozusagen erst die Filmebene entdecken. Ich bitte Herrn Grafen, meine Absicht den »Roten Tod« zu verfilmen, Niemandem mitteilen zu wollen. Sie ist einweilen ein Hauptpunkt meiner Programmaufstellung. Es würde mich sehr freuen, zu erfahren, wie Sie Herr Graf, über ihn denken und ob der Herr Graf wünschen, dass wir seine Ver- wirklichung im Programm festhalten und uns mit der Ausarbeitung der Idee befassen sollen. Mein Bruder Wieland, der sehr erfreut ist, dass ich durch ihre werte Veran- lassung so schnell zur Ausführung meiner lang gehegten Filmträume schrei- ten kann, schrieb mir: »Ich will mich übrigens anstrengen Ideen zu den Filmplänen mitzuliefern. Träume zu verfilmen, ist ja meine liebste Idee. Aber ob Graf Kessler daran 177 Interesse hätte? Die Idee, Soldatenlieder zu verfilmen, scheint mit sehr gut aber ebenso schwierig.« Was Wielands Idee Träume zu verfilmen betrifft, muss ich mitteilen, dass Wie- lands Träume, die er von Kindheit an schon nieder schrieb, wohl das Seltsam- ste und Beste darstellen, was in dieser Beziehung in der Literatur da war. In diesem Reich ist Wieland meisterlich bewandert. Er gibt Träume mit einer ganz aussergewöhnlichen Begabung, die nur ihm eigen sein kann, wieder. Bis- her erschienen sie noch nicht, da er stets gedachte, sie in einem Gesamtwerke erstmalig zu veröffentlichen. Hätte mein lieber Bruder mit seiner Reklamati- on nur eben soviel Glück wie ich, er verdiente es in reichem Masse. Da dies bisher der Fall nicht ist, fühle ich, wie mein diesbezügliches Glück sich gegen mich stellt. Ich kann mir nicht versagen, Herr Graf, Ihnen für Ihr unbeschränktes Ein- treten für meine Pläne und meine Person, sowie für die daran knüpfenden Bemühungen, desgleichen für die über alle Maassen weitgehende Unterstüt- zung zur Bewerkstelligung meiner Aufgaben, und für das Vertrauen, welches Sie mir zu schenken zu freundlich waren, allerherzlichst zu danken. Es berei- tet mir grosse Freude, dies sagen zu dürfen. Im Gegensatz zu Herrn Oliver, (der skeptisch war, da ihm die inneren künstlerischen Beziehungen fehlen, die sofort ausschlaggebend, von Worten ausgehend, Tatsachen sehen) werde ich ganz und gar bemüht sein, zu bewei- sen, dass Herr Graf seinem sicheren Gefühl folgend, keinen anderen als den unbedingt richtigen Weg anbahnen konnten, was für uns von Anfang an aus- ser Zweifel stand. In Anbetracht dessen, gesellt sich zu meinem Dank die un- bedingte Hoffnung, dass ich der weiteren Unterstützung des Herrn Grafen zur Erreichung meiner Pläne sicher sein kann, und bitte ich freundlichst in jedem Falle darum. Wollen Herr Graf die Manuskriptlänge dieses Briefes entschuldigen. Sie wäre nicht zu Stande gekommen, wäre ich nicht geleitet von dem Wunsch, Herrn Grafen möglichst eingehend von allen unseren Ideen, Plänen und Schritten Bericht zu erstatten, damit in allen auftretenden Punkten, der Boden einer gegenseitigen Uebereinkunft bereitet ist, und Herr Graf stets vollkom- men orientiert und im Bilde sind. Hoffend, baldigst statt Briefe und Plänen sichtbare Zeichen unserer Arbeit Herrn Grafen übermitteln zu können (u.A. Photos) hochachtungsvoll ergebenst Helmut Herzfeld Darf ich mir erlauben ergebendste Grüsse von Herrn Grosz zu bestellen. Anmerkungen 1 Bundesarchiv, Potsdam: R 901, Aus- ge der Propagandatätigkeit in der Schweiz. wärtiges Amt, Zentralstelle für Auslands- (Bundesarchiv, Potsdam: R 901, A. A., Zen- dienst, 951,952,953,955,956,940. tralstelle für Auslandsdienst, Nr. 1031, BI. 2 Jeanpaul Goergen, >»Soldaten-Lieder< 47ff, BI. 57). und ,Zeichnende Hand,. Propagandafilme 6 Goergen, »>Soldaten-Lieder, und von John Heartfield und George Grosz«, ,Zeichnende Hand«<, S. 132f; ders., »Marke K!Ntop 3 (1994), S. 129-142. Siehe auch: Herzfeld-Filme«, S. 35ff (Anm. 2). ders., »Marke Herzfeld-Filme. Dokumen- 7 DIE ENTDECKUNG DEUTSCHLANDS (D te zu John Heartfields Filmarbeit 1917- 1917, R: Georg Jacoby, Richard Otto 1920«, in: John Heartfield. Dokumentati- Frankfurter, EA: Dezember 1916, Berlin). on. Reaktionen auf eine ungewöhnliche Marsbewohner landen in Deutschland, wo Ausstellung. Idee und Konzeption: Klaus sie entgegen der Feindpropaganda ein blü- Honnef und Hans-Jürgen von Osterhau- hendes kulturelles und industrielles Leben sen. Eine Veröffentlichung der Stiftung Ar- entdecken. Auf dem Hintergrund dieses chiv der Akademie der Künste, Berlin, und grotesk-komischen Sujets mag sich auch des Landschaftsverbandes Rheinland, Du- Kilianis Verwechslung von komisch mit Mont, Köln 1994, S. 23-66. Ders., ,,,fil- kosmisch erklären. misch sei der Strich ..., George Grosz und 8 Kiliani, zit. nach Goergen, »>Soldaten- der Film«, in: Peter-Klaus Schuster (Hg.), lieder< und ,Zeichnende Hand«< (Anm. 2), George Grosz. Berlin - New York. Katalog s. 133. zur gleichnamigen Ausstellung in Berlin, 9 Es ist anzunehmen, daß Heartfield Nationalgalerie (21,12.1994 - 17+1995), auch von hier vorgegebenen Farb- und Ars Nicolai, Berlin 1994, S. 211-218; d~rs. Lichtgestaltungsmöglichkeiten beein- (Hg.), George Grosz: die Filmhälfte der druckt war, dies angesichts des Stan- Kunst, Freunde der Deutschen Kinema- dardverfahrens der Virage jedoch nicht thek, Berlin 1994. besonders zu erwähnen brauchte. Im Zu- 3 Stiftung Archiv der Akademie der sammenhang mit dem expressionistischen Künste, Berlin. George-Grosz-Archiv, Film ist erwähnenswert, daß VoN MORGENS Sign. 48. Der dreizehnseitige Brief ist als BIS MITTERNACHT von Karlheinz Martin als Typoskript-Durchschlag mit einigen hand- »der erste Schwarz-Weiß-Film« inseriert schriftlich nachgetragenen Korrekturen wurde (Der Film, Nr. 42, Oktober 1920, S. und Ergänzungen insbesondere an den Zei- 88). lenenden überliefert. Zeichensetzung und 10 Edgar Allan Poe, »Die Maske des ro- Unterstreichungen wurden übernommen. ten Todes«, in: ders., Aus den Tiefen der Wenige offensichtliche Schreibfehler wur- Seele. Phantastische Geschichten, Verlag den stillschweigend korrigiert; einige Er- Der Greif, Wiesbaden o.J., S. 181-188. gänzungen in Klammern gesetzt. Für die 11 Insbesondere »Ensor aux Masques« freundliche Abdruckgenehmigung danken (1896); vgl. auch »La Mort et !es Masques« die Herausgeber der Erbengemeinschaft (1897). Auch Paul van Ostaijen läßt in sei- Heartfield (Rotterdam und New York) so- nem 1919/20 in Berlin entstandenen dadai- wie der Stiftung Archiv der Akademie der stischen Filmszenario »Der Pleite Jazz« Künste, Berlin. Ensormasken aufmarschieren. (Paul van 4 Bundesarchiv, Potsdam: R 901, Aus- Ostaijen, Der Pleite Jazz, Friedenauer wärtiges Amt, Zentralstelle für Auslands- Presse, Berlin 1996, S. 5). Zum Gesamt- dienst, 1030, BI. 100. komplex: Jeanpaul Goergen, »Dada-Berlin 5 Sie gehörte zur Organisation des Gra- und das Kino«, epd Film, Frankfurt am fen Kessler und bildete die Rechtsgrundla- Main, Nr. 7,Juli 1990, S. 20-26. 179 Il Bernhard Diebold, »Expressionismus Verlag, Berlin 1917. Gemeint ist das 1. Blatt und Kino«, Neue Zürcher Zeitung, Nr. »Erinnerung an New York«. Vgl. Schuster 1453, 14.9.1916, Nr. 1459, 15.9.1916 und (Anm. 2). Nr. 1466, 16. 9. 1916. Vgl. auch: ders., »Ex- 19 Die ersten Märchenfilme von Paul pressionismus und Bühnenkunst«,Die Sce- Wegener waren RüBEZAHLS HOCHZEIT ne, Berlin, H. 9, September 1916, S. 159- (1916) und HANS TRUTZ IM SCHLARAFFEN- 164. LAND (1917). 13 John Heartfield war im September 20 Wie Anm. 8. 1914 eingezogen worden und diente beim 21 Franz Xaver August Schicht! (1849- Kaiser-Franz-Joseph-Regiment in Berlin- 1925) »wurde mit seinen illusionistischen Neukölln. Vgl. Akademie der Künste zu Verwandlungsfiguren ( ...) weltberühmt.« Berlin u.a. (Hg.), John Heartfield, Köln (Günter Böhmer, Puppentheater. Figuren 1991 (= Ausstellungskatalog. Altes Muse- und Dokumente aus der Puppentheater- um Berlin 16.5.- 11.7.1991), S. 391. Sammlung der Stadt München, Bruck- 14 Vermutlich Johannes Oertel, Prokurist mann, München 1969, S. Il sowie Abb. 14). bei der Internationalen Gastspiel-Gesell- 22 »L'entree du Christ a Bruxelles en schaft mbH, Berlin. 1899« (1888-1889). 15 Das Projekt »Soldaten-Lieder« sollte 2 3 Möglicherweise ist das graphische mit Schauspielern verfilmt werden. Blatt »La mort poursuivant Je troupeau des 16 Ab 1915 war Heartfield als Aushilfs- humains« (1896) gemeint. briefträger tätig. Vgl. Roland März (Hg.), 24 Es ist nicht klar, auf welchen Film John Heartfield. Der Schnitt entlang der Heartfield hier anspielt.JOAN TttE WOMAN Zeit, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1981, (USA, 1916, R: Cecil B. DeMille, UA: 25. s. 577. u. 1916, USA) dürfte in Deutschland wohl 17 Entsprechende Reklame oder Presse- kaum gezeigt worden sein. zuschriften konnten in der Filmfachpresse 25 DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY (D nicht nachgewiesen werden. 1917, R: Richard Oswald, UA: Juli 1917, 18 Erste George Grosz-Mappe. Mappen- Berlin). werk mit 9 Lithographien, Heinz Barger 180 SABINE LENK Vom Film zur DVD Visualisierungsproj ekte der mediengeschichtlichen Forschung im ausgehenden 20. Jahrhundert In den letzten Jahren wurden einige interessante Projekte durchgeführt bzw. in die Wege geleitet, um Forschungsergebnisse zu visualisieren. Natürlich gibt es gerade bei der Darstellung historischer Fakten schon lange die Form der >Filmgeschichte in 24 Bildern pro Sekunde<: Man denke beispielsweise an die Thames Television-Serie Hollywood von Kevin Brownlow und Sam Gill, um nur eine zu nennen. Ein Star, eine Filmgesellschaft, ein Ort, ein Genre oder eine bestimmte Periode werden oft durch Filmausschnitte, Photos oder Inter- views mit Zeitzeugen vorgestellt. Die im folgenden gewählten Projekte zeigen andere Wege, die für die Zu- kunft richtungsweisend sein könnten. Es handelt sich um neue Methoden der Wissensverbreitung, die sich mitunter neuerer Technologien bedienen: CD- ROM, Laserdisk oder DVD. Es geht bei diesen Projekten nicht um die Dar- stellung von gesammelten Fakten in Datenbanken, wie sie von Archiven und Universitäten bereits seit geraumer Zeit eingesetzt (und teilweise auch im In- ternet bereit gestellt) werden. In den nun genannten Vorhaben geht es um die visuelle und auch auditive Umsetzung von Erkenntnissen. Die gewählte Form soll eine Verbreitung der recherchierten Daten weit über ihre >Kristallisations- punkte< (Forscher, Institutionen) hinaus garantieren und einen direkten, ein- fachen, teilweise interaktiv spielerischen Zugang über Auge und Ohr ermögli- chen. Genannt werden hauptsächlich Initiativen, die sich mit der sogenannten Vor- und Frühgeschichte der Kinematographie beschäftigen. Beispiel 1: Werner Nekes' MEDIA MAGICA auf Film Auch wenn beim ersten Projekt ein traditioneller Träger - das 35mm-Film- band - gewählt wurde, ist die fünfteilige Reihe MEDIA MAGICA von Werner Nekes ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man eine Sammlung von Arte- fakten und die mit ihnen verbundenen Forschungsergebnisse auf ungewöhnli- che Weise präsentiert. 1995 entstanden, ist die Serie seit 1996 als Videokassette zu erwerben; 1998 wurden vier Teile im Fernsehen (ARTE) ausgestrahlt. Werner Nekes ist einerseits bekannt als Regisseur avantgardistischer Filme wie ScHNITIE FÜR ABABA undJüM-JOM (beide 1967), LAGADO (1977), ULIIs- 181 SES (1980/82) oder DER TAG DES MALERS (1997). Zugleich hat er eine reiche Sammlung von Objekten aus mehr als vier Jahrhunderten zusammengetragen, die Aspekte des Films (Raum, Zeit, Bewegung etc.) repräsentieren. Er stellte Teile dieser Kollektion bereits in seinem Film WAS GESCHAH WIRKLICH ZWI- SCHEN DEN BILDERN? ( 198 5) vor. Zudem lehrte er in den letzten Jahren als Pro- fessor an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei sehr unterschiedliche Tätigkeitsbereiche, die eigentlich kaum zu vereinbaren sind, verbindet er so, daß sie sich gegenseitig ergänzen und bereichern: Filmen, Sammeln und For- schen bzw. Lehren. Mit WAS GESCHAH WIRKLICH ZWISCHEN DEN BILDERN? und MEDIA MAGICA zeigt Werner Nekes, wie zwei der wichtigsten Aufgaben eines Filmarchivs - das Zusammentragen und das Zugänglichmachen von Artefakten - erfüllt werden können, auch wenn keine Ausstellungsfläche zur Verfügung steht. Werner Nekes ist natürlich nicht der einzige Sammler, der seine Schätze aus der Vor- und Frühzeit der Kinematographie der Öffentlichkeit präsentiert. David Robinson und die Brüder John und William Barnes aus England bei- spielsweise überließen einen Teil ihrer Sammlung als Dauerleihgabe dem (im August 1999 leider bis auf weiteres geschlossenen) Museum of the Moving Image (MoMI) in London oder stellten Teile selbst aus, wie Robinson anläß- lich des Festivals Le Giornate del Cinema Muto (Pordenone). Ludwig Vogl und Karin Bienek aus Bad Camberg mit ihrem Illuminativ-Theater, Herman Bollaert aus Deinze (Belgien) oder Willem Wagenaar aus Zeist in den Nieder- landen, um nur einige zu nennen, geben mehr oder minder regelmäßig Projek- tionsvorstellungen und verzaubern das Publikum mit dem Charme der Later- na magica-Bilder, dem sich niemand so leicht entziehen kann. Das Besondere an Werner Nekes ist, daß er sein inszenatorisches Können als Regisseur dazu benutzt, die Objekte seiner Sammlung filmisch zur Gel- tung zu bringen. Bereits bei seinem ersten Werk, dem oft gezeigten WAS GE- SCHAH WIRKLICH ZWISCHEN DEN BILDERN? (das seit 1989 in einer musikalisch neu bearbeiteten Fernsehfassung vorliegt), entwickelte er eine Vorgehenswei- se, die er auch in seiner MEDIA MAGICA-Serie anwendet: Prinzipien des Sehens sichtbar und dadurch für den Laien begreiflich zu machen. Während er in sei- nem Erstling noch alle Gebiete streifte, die mit der Kinematographie direkt und indirekt zu tun haben, konzentriert er sich in den fünf Filmen a 52 Minu- ten der Serie MEDIA MAGICA jeweils auf ein Gebiet: 1. DuRCHSEHEKUNST wid- met sich den Abbildungstechniken; 2. BELEBTE BILDER berichtet, wie Bewe- gung ins Bild kommt; 3. VIELTAUSENDSCHAU beschäftigt sich mit Fragen der Montage; 4. BILD - RAuM zeigt, wie Raumwirkung erzeugt wird; 5. WUNDER- TROMMEL behandelt das ,Prinzip Film<, d.h. die Illusion des bewegten Bildes auf der Basis ,stehender/unbewegter Abbildungen<. Wie arbeitet Werner N ekes? In einem Interview mit seinem Kollegen, dem niederländischen Filmemacher Peter Delpeut, bekannte der Mülheimtr Regis- seur: »Ich sammle keine Apparate, ich sammle Prinzipien«.' Diesem Grund- gedanken folgen die Filme: Die Kamera zeigt die Objekte und demonstriert, nach welchen (o ptischen) Gesetzen sie arbeiten. Dabei bedient sich der Filme- macher aller Kniffe seiner Kunst: Er macht Funktionsweisen (u.a. durch die bei der Filmanimation benutzte Einzelbild-Tricktechnik) sichtbar, die beim bloßen Betrachten des Gegenstandes nicht erkennbar sind. So greift er bei- spielsweise auf das bekannte Experiment von Eadweard Muybridge zurück, der für die Analyse der Bewegungen des Pferds mit 24 Apparaten und 24 ein- zelnen photographischen Platten aufnahm, und läßt das abgebildete Tier durch die Synthese der Phasenbilder per Kamera vor den Augen der Zuschau- er laufen. Puristen mögen dieses Vorgehen ablehnen mit der Begründung, die fortlaufende Bewegung des Pferdes sei nicht das Ziel der wissenschaftlichen Untersuchung von Muybridge und seiner Kollegen gewesen. Andererseits weist Nekes durch eine Gesamtaufnahme aller 24 Bilder auf die analytische Untersuchungsmethode hin, bevor er die Bewegung wieder zusammensetzt. Es geht ihm einerseits darum, das erfolgreiche Experiment von Muybridge mit Hilfe von Objekten aus seiner Sammlung in Erinnerung zu rufen; ande- rerseits verdeutlicht er ein optisches Prinzip und zeigt, wie sich die Arbeit von Muybridge in die Reihe der Entdeckungen eingliedert, von denen sich die ver- schiedenen Erfinder der Kinematographie inspirieren ließen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Idee, die Objekte der Sammlung durch den Transfer auf Filmmaterial einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu ma- chen. Sie können überall hingesandt, gezeigt und von mehreren Betrachtern gleichzeitig gesehen werden. Sie stehen der Allgemeinheit zur Betrachtung zur Verfügung, statt in einem Lagerraum nur von den Freunden und Verwandten des Sammlers bewundert zu werden. Zudem nehmen Phenakistiskope, Zau- bertrommeln, Wunderräder, Guckkästen etc. im >zweidimensionalen Filmfor- mat< bedeutend weniger Lagerfläche ein. Und sie sind gegen schlechte Be- handlung durch unerfahrene Hände geschützt. Für N ekes kommt nach eigenem Bekunden dazu, daß er auf die Sammlungsstücke sozusagen weiter- hin >Zugriff hat<, sie weiter ,bewahrt<, auch wenn sie sich längst nicht mehr in seinem Besitz befinden. Die Idee des Bewahrens mutet seltsam an, ist doch das Filmband viel empfindlicher und-im Vergleich mit z.B. Büchern, Zauberla- ternen oder optischem Spielzeug - viel kürzer haltbar. Hier wird die Abbil- dung zum Stellvertreter, was allerdings nur den Zuschauern eine adäquate An- schauung der realen Objekte vermittelt, welche dergleichen schon einmal dreidimensional vor Augen hatten. In den Filmen von Nekes werden die Artefakte immer von einer {von ihm selbst gesprochenen) Erklärung begleitet, die Informationen über die Entste- hung des Objekts, seine Funktion und oft auch den historischen Kontext lie- fert. Natürlich sind die mündlichen Texte kurz, denn bei einer Gesamtspiel- dauer von 52 Minuten pro Film und einer durch die Reichhaltigkeit der Sammlung kaum zu bewältigenden Anzahl von Gegenständen (1999 bereits über 10.000 Einzelstücke) bleibt nicht viel Zeit für lange Ausführungen. Wei- terführende Informationen muß sich der Betrachter des Films selbst beschaf- fen, was allerdings im Museum oft nicht anders ist: Zwar werden mitunter vertiefte Erklärungen zu Ausstellungsstücken angeboten, doch nur wenige, d.h. die interessiertesten Besucher eines Filmmuseums machen sich die Mühe, längere Texte ganz zu lesen, weshalb man sie meistens in den Katalog verbannt. Auch fehlt bei MEDIA MAGICA der haptische Kontakt mit dem Ausgestellten, aber in den meisten Filmmuseen sieht der Besucher die Objekte auch nur durch das Glas der Vitrine. Zusammenfassend kann man sagen: Werner Nekes benutzt seine Samm- lung als Ausgangsbasis für seine Forschung, die den »Entwicklungsschritte[n] der Photographie« und den »Ausdrucksmöglichkeiten von Film und Fernse- hen« gewidmet ist, wie er einleitend in DuRCHSEHEKUNST betont. Seine Filme bilden eine Art >virtuelles Museum<, in dem sonst unzugängliche Objekte >aus- gestellt< werden. Sie demonstrieren zudem deren Funktionsweise, was wegen der Fragilität der zum Teil Jahrhunderte alten Gegenstände in einem echten Museum nicht möglich wäre. Zudem sind die Artefakte auf eine Weise in Sze- ne gesetzt, wie sie die Darbietung in einer traditionellen Institution nicht lei- sten könnte, denn der Transfer von dreidimensionalen Objekten auf Film er- fordert inszenatorische Fähigkeiten, die über die eines Ausstellungsmachers oft hinausgehen. Die Serie MEDIA MAGICA liefert nicht nur reichhaltiges und außergewöhnliches Material für den Spezialisten, sie eignet sich auch für den (Frontal-)Unterricht an Schule und Universität, da sie (oft nach didaktischen Gesichtspunkten aufbereitet) Prinzipien des Film-, Fernseh- und Computer- bilds visualisiert. Da Werner Nekes seine Filme sowohl auf 3 5mm und 16mm als auch auf Video anbietet, sind sie unkompliziert zu handhaben! Beispiel 2: Yuri Tsivians Immaterial Bodies auf CD-ROM Ein anderes Beispiel der Verbreitung von Forschungsergebnissen, diesmal mit modernster Technik, ist lmmaterial Bodies, eine vom lettischen Filmwissen- schaftler Yuri Tsivian erarbeitete und 1998 in den Vereinigten Staaten vorge- stellte CD-Rom. Sie ist das Ergebnis jahrelanger Recherchen zum frühen rus- sischen Kino. 1991 erschienen seine Studien zur Geschichte der Filmrezeption: Kino in Rußland, 1896 - 1930 (wie der Titel in der Übersetzung lautet) in rus- sischer Sprache in Riga. Der Londoner Verlag Roudegde brachte 1994 eine englische Übersetzung als Early Cinema in Russia and its Cultural Reception heraus. Yuri Tsivian untersucht in seinem Buch die Entwicklung der Film- und Kinokultur in Rußland vor 1914, wie sie von der literarischen Intelligentsia gesehen wurde. Er beschäftigt sich nicht nur mit Fragen der Wahrnehmung des neuen Mediums und seiner Erzähltechnik, sondern auch mit Faktoren, die diese Rezeption maßgeblich beeinflußten: Projektionstechnik, Vorführge- schwindigkeit, Raumakustik, Beleuchtung der Kinoräume, Kinoerklärer etc. Untersuchungsgegenstand des Buchs ist der Kinobesucher der Frühzeit und der Eindruck, den die Kinematographie auf ihn machte. Ein Teil seiner Arbeitsergebnisse liegt nun auf CD-ROM vor. Yuri Tsivian nutzt die audiovisuellen Möglichkeiten dieser Technik und präsentiert, was in Buchform nicht darstellbar ist: die Filme selbst. Über 100 Filmausschnitte und eine noch größere Anzahl Abbildungen liefern anschauliche Beispiele aus der vorrevolutionären Periode, ergänzt durch Bildquellen aus anderen Epochen, die wahrscheinlich zur Inspiration dienten. Vor allem Szenen aus Werken des russischen Filmregisseurs Evgenii Frantsevich Bauer (1865 - 1917), die wäh- rend der Giornate del Cinema Muto 1989 in Pordenone erstmals einem begei- sterten Publikum in Westeuropa gezeigt wurden, gehören zu den Attraktio- nen der CD-ROM. Einige Filme liegen bereits seit längerem in einer Video-Edition des British Film Institute (BFI) vor, allerdings ohne Aufberei- tung. Die für Interaktion hervorragend geeignete CD-ROM holt dies nun nach. Yuri Tsivian demonstriert anhand von Filmausschnitten die Ästhetik des frühen russischen Kinos: Kamera, Licht, Bauten, Schnitt etc. Desweiteren zeigt er z.B. Einflüsse auf, die den Darstellungsstil der Schauspieler bestimm- ten (beispielsweise die Bewegungstheorien von Fran~ois Delsarthe). Oder aber er verweist auf zeitgleiche Entwicklungen im Bereich des Theaters, der Literatur, der Musik und der Architektur und verankert dadurch die Filmar- beit in ihrem historischen Kontext. Kunstästhetische Fragen zum Film sowie Informationen zum kulturellen Umfeld sind didaktisch aufbereitet und kön- nen mit Hilfe der CD-ROM eingehend gelehrt bzw. im Selbststudium unter- sucht werden. Im Unterschied zu Nekes' Filmen (bzw. Videos) ermöglicht die Compu- tertechnik eine nicht-lineare Vorgehensweise. Statt passiv von einem Bild zum anderen, von einer Erklärung zur anderen geführt zu werden, setzt die CD- Rom den Willen zur Interaktion voraus. Der Nutzer bestimmt selbst, welche Teile des Programms er besucht, in welcher Reihenfolge er die Themen be- trachtet, wie lange er sich in den durch links untereinander verbundenen Ge- bieten aufhält etc. Springen ist erlaubt, browsen (>durchblättern<) erwünscht. Vor einigen Jahren erstellte der amerikanische Filmwissenschaftler Russell Merritt eine Laserdisk zu INTOLERANCE (1916) von David Wark Griffith, die nach ähnlichen Prinzipien den Film zugänglich machte. Damals war allerdings der Träger noch nicht so flexibel wie die CD-ROM; man konnte zwar von Sektion zu Sektion springen (wie dies bei einer Musik-CD der Fall ist), doch nicht innerhalb eines Abschnitts in weitere Schichten vordringen, um einzelne Aspekte zu vertiefen, bevor man auf eine generelle Präsentationsebene des Themas zurückkehrt. So stellt die CD-ROM auf dem Niveau der Technik der Wissensverbreitung eine Verbesserung dar, vorausgesetzt, man nutzt für die Themenpräsentation die Möglichkeit der nicht-linearen Struktur) Allerdings können sowohl Laserdisk wie auch CD-ROM das Studium des Originals nicht ersetzen. Auch der besten Präsentation gelingt es nicht, die Aura einzufangen, die ein Objekt umgibt. Sie beruht auf der tatsächlichen (und nicht nur virtuellen) Begegnung zwischen Mensch und Artefakt, dem Gefühl, das der Gegenstand beim Betrachter erzeugt, den Details (z.B. den Altersspuren), die im digitalisierten Zustand verschwinden (alles wirkt clean auf dem Bildschirm), der Räumlichkeit (Format, wirkliche und nicht nur illu- sionäre Dreidimensionalität etc.), die die Objekte in ihrer tatsächlichen Größe zeigt und dabei ihre Unterschiede verdeutlicht und nicht-wie bei der virtuel- len Darstellung oft gesehen - sie einheitlich dimensioniert und entsprechend der Bildschirmgröße wiedergibt. Beispiel 3: Exotisches Europa auf DVD Das letzte Projekt ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar in allen Punkten konzipiert, aber nur zum Teil realisiert, d.h. das Ergebnis ist noch nicht genau abzusehen. Exotisches Europa. Reisefilme im frühen Kino nennt sich ein Un- ternehmen, das, von der Europäischen Union gefördert, Archive und Univer- sitäten in Berlin (Fachhochschule für Technik und Wirtschaft, Bundesarchiv- Filmarchiv), Amsterdam (Filmmuseum) und London (Cinema Museum) vereinigt. Es geht (von wenigen Ausnahmen abgesehen) um die Restaurierung von Reisefilmen aus der Frühzeit, die zeigen, wie die Zuschauer in der Zeit vor 1914 die >Nachbarn< zu sehen bekamen bzw. wie das Nachbarland (in der krea- tiven Vorstellung des Filmemachers) gesehen werden wollte. Hinzu kommt die Restaurierung von Projektoren, die ebenfalls aus der Stummfilmära stam- men. Daneben ist eine Ausstellung, eine Retrospektive sowie eine DVD vor- gesehen. Auf ihr sollen eine Anzahl Filme sowie Ergebnisse der Recherche sichtbar gemacht und außerdem Hinweise zur Restaurierung der Filme gege- ben werden. Archive und Filmmuseen entdecken vermehrt die Möglichkeiten der digi- talen Medien und nutzen sie für ihre Zwecke. (Man erinnere nur an die Websi- tes, die die meisten Institutionen mittlerweile eingerichtet haben.)4 Die DVD mit ihrer digitalen Bildverarbeitung bietet ein hochauflösliches Bild, das an Qualität (Schärfe, Farben etc.) das normale Fernsehbild übertrifft. Durch die Fähigkeit, dasselbe Bild mit unterschiedlichen Tonspuren zu vereinen, Text und Abbildung zu kombinieren (z.B. durch das Ein- und Ausblenden von Untertiteln), hohe Datenmengen zu speichern etc., bietet die DVD interessan- te Perspektiven für die zukünftige Aufbereitung von Forschungsergebnissen, gerade im Bereich der Filmarchive, wo eine ausgezeichnete Bild- und Tonqua- lität gefordert ist. Dringend nötig wäre in diesem Zusammenhang, Richtlinien aufzustellen, um für die neuen Technologien ethische Kriterien festzulegen, die bei der Be- arbeitung von Bild und Ton nicht überschritten werden dürfen. Der Manipu- lation des Originals sind technisch kaum Grenzen gesetzt. Damit anything 186 goes nicht zum Grundprinzip wird, sollte man sich bei der Herstellung von DVDs und CD-ROMs selbst Regeln auferlegen und Kontrollmechanismen einbauen, solange generelle Handlungsprinzipien noch nicht vorliegen. Resümee Sowohl in den Augen der Besucher wie bei den geldgebenden Institutionen können Filmmuseen und -archive wohl nicht mehr auf den Einsatz der mo- dernen Technologie verzichten, was angesichts der breiten neuen digitalen Möglichkeiten auch im eigenen Interesse liegt. Gerade auf dem Gebiet der Verbreitung von Informationen u.a. über Sammlungen, Serviceangebote (Ex- pertisen, Führungen etc.), Aufbau (Organigramm), Aufgaben, kulturelle An- gebote (Filmprogramme, Sonder- und Dauerausstellung), Selbstdarstellung etc. ist die Website bereits heute unverzichtbarer Bestandteil der Präsentation und der Werbung. Auch über E-mail verlügen die meisten Filmarchive bereits. Betrachtet man die Entwicklung anderer (Kunst-)Museen (virtuelle Füh- rungen durch Ausstellungen, on-line-Bestellungen von Büchern oder Reser- vierung von Eintrittskarten, Besichtigung von Photo- und Plakat-Beständen auf CD-ROM etc.), so erkennt man eine klare Tendenz: den Einzug des Com- puters in alle Bereiche, nicht nur auf dem Gebiet der Katalogisierung und der Indexierung, wo er heute bei den meisten Filmarchiven zum Standard gehört. Sammlungspräsentationen, wie sie Werner Nekes seit 1985 durchführt, werden vermutlich eines Tages die Regel sein. Dann besucht man Filmmuseen via Internet, surft durch die Kataloge, betrachtet Objekte dreidimensional, arbeitet sich mit DVD in die Ausstellungsthemen ein etc. Gerade für die Vor- und Frühzeit der Kinematographie könnte dies einen Gewinn bedeuten, denn die Gegenstände sind zum Teil sehr empfindlich, über den Erdball verstreut, in Privatsammlungen verborgen. Gedanken zur Didaktik ihrer Präsentation sind Voraussetzung dafür, daß diese Art der Zugänglichmachung auch gut funktioniert. Vor allem aber bedarf es einer gezielten Politik der Wissensver- breitung, damit CD-ROM, Internet-Seiten und andere zukünftige Technolo- gien nicht dazu verwendet werden, den Betrachter mit Informationen zu über- schütten. Wie bei der traditionellen Verbreitung via Publikation gehören Selektion und sorgfältige Aufbereitung der (Er-)Kenntnisse zu den Vorausset- zungen für die Annahme der Information durch den Nutzer. Vielleicht könn- te die eine oder andere Tagung auf diesem Gebiet Anregung bringen. Anmerkungen 1 Siehe Peter Delpeut, «lk verzamel eine englische und eine französische Fas- geen apparaten maar principes. Interview sung. met filmarcheoloog Werner Nekes«, Versus 3 Immaterial Bodies, zu beziehen von 2/x988, s. 97-115. Cine-Discs National Media Series und 2 Die Filme sind zu bestellen bei der der University of Southern California in Werner Nekes Filmproduktion, Kassen- Los Angeles, 75,- $, Anfragen unter: berg 34b, 45479 Mülheim/Ruhr, Tel.: 0208/ stimmler@usc.edu bzw. darcher@usc.edu. 427399, Fax: 0208/4 21011. MEDIA MAGICA lmmaterial Bodies ist sowohl für PCs wie kostet als Videokassette (VHS) für den auch für MACs verfügbar. privaten Gebrauch 89,- DM pro Film bzw. 4 Das Internet als Verbreiter von Re- 3 50,- DM für die gesamte Serie. WAS chercheergebnissen im Bereich frühes Kino GESCHAH WIRKLICH ZWISCHEN DEN BILDERN? wurde bewußt hier weggelassen, da dies ist für 89,- DM für private Zwecke zu eine lange und komplexe Untersuchung er- erwerben; von diesem Film gibt es auch fordert hätte. 188 MICHAEL WEDEL Filmform und Filmformat Bausteine zu einer Mediengeschichte des frühen deutschen Kinos Mußte das deutsche Kino der sogenannten >Übergangsphase< von der Etablie- rung ortsfester Kinos 1905/06 bis zur Gründung der Ufa gegenüber den Pio- nieren der Frühzeit und den Autorenfilmern der Weimarer Jahre lange als gro- tesk unterbelichtet erscheinen, so läßt sich am Ende der neunziger Jahre doch zumindest vermerken, daß sich der filrnhistorische Blick auf diese Periode ge- schärft hat und ihre Bedeutung innerhalb der deutschen Filmgeschichte erst- mals wieder deutlicher hervortreten läßt. In einer Reihe von Retrospektiven, Ausstellungen, Sammelbänden und Monographien standen dabei nicht nur biofilmographische Recherchen oder Fragen der wirtschaftlichen Entwick- lung und ideologischen Ausrichtung im Mittelpunkt.' Zur Erklärung der im internationalen Vergleich oft als >rückständig< und >unfilmisch< beschriebenen stilistischen Dynamik dieser Epoche zwischen frühem Attraktionskino und integriertem Erzählkino wurde immer wieder auch auf den kulturell-institu- tionellen Kontext verwiesen, der in den filmischen Narrativierungsprozeß in Deutschland entscheidender eingegriffen zu haben scheint als anderswo. Die Determinanten der filmsprachlichen Entwicklung wurden vielfach in äußeren Einflußnahmen gesucht und gefunden: die Eingriffe und Auswirkungen von Autorenfilmbewegung und Theaterschauspieler-Transfer, 2 Kinoreform und Kino-Debatte,i Filmkritik4 und Filmzensur,1 Kriegspropaganda und staatli- cher Bevormundung6 lieferten einige der Stichworte, anhand derer die Not- wendigkeit einer kontextualisierenden und historisierenden >kulturellen Poe- tik<7 des deutschen Kinos der zehner Jahre erkannt und zum Teil auch schon umgesetzt wurde. Eine solche >kulturelle Poetik< müßte aber auch implizieren, unter Einbe- ziehung der ästhetischen Standards benachbarter Unterhaltungsmedien und der von ihnen geprägten Publikumserwartungen den eigenen Blick auf die überlieferten filmischen Dokumente erneut zu reflektieren: jede vorschnelle Kanonisierung einzelner Filme, Schauspieler oder Regisseure kritisch zu durchleuchten, zwischen politischen und (populär-)kulturellen Chronologien und Periodisierungen zu differenzieren und die (o ft der Formulierung eines >Reinheitsgebots< gleichenden) hartnäckigen teleologischen Annahmen über die >Bestimmung<, das ,Wesen< oder die >Natur< des Filmischen im Konzert der Künste (Literatur, Theater, bildende Kunst etc.) zu überdenken. Ziel einer sol- chen ,Poetik< könnte sein, Vorsatz und Funktion eines oder einer Gruppe von Filmen in konkreten Konstellationen mit anderen, um spezifische Repräsen- tationsangebote und öffentliche Räume konkurrierenden Formen populärer Unterhaltung zu analysieren und zu bewerten. Ein in dieser Hinsicht äußerst vielversprechendes Projekt ist die aus einer Hamburger Vorlesungsreihe hervorgegangene, auf drei Bände angelegte Me- diengeschichte des Films. Sie stellt sich als Versuch dar, »den Film als ebenso wichtigen wie unverzichtbaren Teilbereich einer ihn selber umfassenden Me- diengeschichte zu betrachten«8 und somit den immer wieder laut werdenden Forderungen nach einer historisch argumentierenden, integrierten Filmge- schichtsschreibung nachzukommen.9 Nachdem der erste Band die Vor- und Frühgeschichte des Mediums von der Frühen Neuzeit bis zur Jahrhundert- wende bearbeitet hatte, beschäftigt sich der zeitlich und räumlich weitaus en- ger gefaßte zweite Band unter dem Titel Die Modellierung des Kinofilms' 0 mit den Entwicklungen und Umwälzungen, die sich ab 1905/06 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs im deutschen Kino vollzogen haben." Ein demnächst er- scheinender dritter Band soll abschließend die» Dissoziierung« 12 (früher hätte man gesagt: Emanzipation) des Kinos von der Literatur zur Zeit der Weimarer Republik in den Mittelpunkt stellen. ' 3 Innerhalb des im Vorwort zum ersten Band umrissenen Gesamtkonzepts soll der vorliegende zweite Band »die Herausbildung des Films zu einer eigen- ständigen Erzähl- und Darstellungsform im populären Erzähl- und Doku- mentarkino der zehner Jahre erhellen«.'4 »Beabsichtigt war«, wird nun im Vorwort zum zweiten Band präzisiert, »weniger eine Geschichte des Films in Auszügen als vielmehr eine Geschichte des Mediums Film, so wie es sich in der Wechselwirkung mit anderen Medien herausbildet, verselbständigt und auf diese Medien zurückgewirkt hat.« (S. 7) Hierbei klingt die im Untertitel hervorgehobene Beschäftigung mit der »Geschichte des Kinoprogramms zwi- schen Kurzfilm und Langfilm« insofern besonders verheißungsvoll, als der traditionell an Regisseuren, Schauspielern oder Genrezugehörigkeiten orien- tierte filmhistorische Zugriff einmal zugunsten eines erkenntnisleitenden In- teresses an programmgeschichtlichen Aspekten des frühen Kinos aufgegeben zu sein scheint. Leider wurde zur Verdeutlichung der Umsetzung dieses Vorhabens von einer internen Gliederung des Buches abgesehen, so daß es dem Leser überlas- sen bleibt, entsprechende Zusammenhänge zwischen den einzelnen Beiträgen herzustellen. Dies jedoch läßt vor allem altbekannte rote Fäden erkennbar werden, entlang derer sich wiederum bevorzugt entweder mit einzelnen ,Filmpionieren< und ,Autorenfilmern< oder mit klassischen Genreaspekten beschäftigt wird. Zur ersten Kategorie gehören Beiträge über Guido Seeber (von Helmut Herbst), Ernst Lubitsch (von Jürgen Kasten) und Franz Hofer (von Heide Schlüpmann), die sich- bei aller Unterschiedlichkeit in der erneu- ten Annäherung an diese drei vieldiskutierten Figuren - vor allem in der de- taillierten Beschreibung (Herbst), Analyse (Kasten) und Interpretation (Schlüpmann) des erhaltenen filmischen Materials auszeichnen. Mit Ausnah- me der Aufsätze von Wolfgang Mühl-Benninghaus zur Darstellung des Ersten Weltkriegs im Nonfiction-Film und von Sebastian Hesse zur Entstehung des deutschen Detektivfilms, in denen die Konkurrenzsituation zu anderen Medi- enangeboten bzw. institutionellen Geboten (Kriegsberichterstattung in der il- lustrierten Presse und Zensurmaßnahmen auf der einen, Groschenheft-Lite- ratur und Kinoreform auf der anderen Seite) als für die Herausbildung einer bestimmten Filmpraxis konstituierend beschrieben werden, liegen auch die - davon im einzelnen unberührten - Verdienste der übrigen Beiträge zur For- mierung einzelner Genres eher abseits der proklamierten medien- bzw. pro- grammgeschichtlichen Stoßrichtung des Bandes. Während Thomas Brandl- meier in seinem Überblick über die frühe Filmkomödie Variete und Zirkus als relevante Bezugsmedien zumindest ins Spiel bringt, grenzt Rainer Rother in seinem Beitrag zwar zunächst das Sub-Genre des Monumentalfilms mit dem wenigstens ex negativo programmbezogenen Merkmal der »Ü berlänge« (S. 375) vom allgemeinen Genre des Historienfilms ab, geht dieser Spur in seiner folgenden, durchaus bestechenden Analyse von VERITAS VINCIT (1918) dann allerdings nicht weiter nach: ein etwaiger Zusammenhang mit der episodischen Handlungsstruktur des Films interessiert ihn weniger als »die spezifischen Leistungen des ersten deutschen Monumentalfilms« ($. 3 86) innerhalb einer auf die Schauwerte Prunk, Spektakel und Massenbewegung ausgerichteten Genrestrategie. In einer anderen Gruppe von Beiträgen führt die medienvergleichende Vorgabe zu dem etwas paradoxen Ergebnis, daß einmal mehr dem Autoren- film und der Auseinandersetzung von Schriftstellern mit dem Film dispropor- tional breite Aufmerksamkeit zukommt. Corinna Müller und Jürgen Kasten stellen in zwei Indizienprozessen den Anteil der (Gelegenheits-)Filmautoren Paul Lindau und Heinrich Lautensack an den Filmen ZWEIMAL GELEBT ( 1912 ), DER ANDERE ( 1913) und DIE LANDSTRASSE ( 191 3) sicher, obwohl sich zur Stüt- zung ihrer Thesen außer den Filmen selbst und den literarischen Werken der beiden Schriftsteller weder konkrete Drehbuchentwürfe noch Dokumente zum Produktionshergang erhalten haben, die eine fundierte Einschätzung des jeweiligen kreativen Prozesses erst erlauben würden. Der Einwand, daß hier ein vermeintlich innovatives medienvergleichendes Konzept weniger der Ein- sicht in unverhoffte Medienkonstellationen und Materialquellen Vorschub lei- stet, als dazu dient, das alte Bild vom >Leitmedium Literatur< neu aufzuberei- ten, trifft auch die Beiträge von Harro Segeberg und Jörg Schweinitz. Während Segeberg in seiner Rekapitulation der Kinodebatte einer »spezifisch literari- schen Kino-Rezeption« (S. 196) nachgeht, dient auch Schweinitz das Kino vor allem als » Objekt der Reflexion durch Schriftsteller« (S. 224) und ein unter der konzeptionellen Prämisse des Bandes in vielerlei Hinsicht zu diskutierender Film wie Wo IST CoLETTI? (1913) 15 lediglich zur Illustration der medienrefle- xiven Modernität von Arnold Höllriegels/Richard A. Bermanns Fortset- zungsroman Die Films der Prinzessin Fantoche (1913). Betrachtet man die Schwerpunktsetzung der Beiträge, so fällt die Gefahr einer sich bereits abermals vorschnell abzeichnenden Kanonisierung auf: die anhaltende Verengung auf einzelne Filme (ZWEIMAL GELEBT, DER ANDERE, Wo IST CoLETTI?, DIE LANDSTRASSE), Personen (Seeber, Hafer, Lubitsch, Mack; Asta Nielsen und Henny Porten in Knut Hickethiers Herleitung des >Star- Phänomens< aus der Theaterkultur der Jahrhundertwende) und Bezugsmedi- en (fast ausschließlich Literatur und Sprechtheater), die entweder schon im- mer oder seit kurzem immer wieder ausführlich gewürdigt werden. Daß die wissenschaftliche Diskussion hierdurch in Gang gehalten wird und sich an wenigen Brennpunkten Interpretationen verfeinern und Recherchen vertiefen können, ist zwar zu begrüßen, angesichts der vielen noch immer wenig beach- teten erhaltenen Filme, vernachlässigten Protagonisten und unbemerkten ln- tertexte des frühen deutschen Kinos aber auf Dauer nicht zu rechtfertigen. Hier wäre zu wünschen gewesen, daß die Autoren noch entschiedener dazu übergegangen wären, die in der existierenden Forschungsliteratur entwickel- ten Hypothesen einmal anhand anderer Filmbeispiele, Personen und Bezugs- medien des deutschen Kinos der zehner Jahre zu überprüfen und gegebenen- falls zu relativieren. Fragt man andererseits, welche konkreten Erklärungsmodelle zur kultu- rellen Einbettung des Kinos und des Mediums Film in Wechselwirkung mit anderen Medien - jenseits von generischen Verwandtschaften und individuell- biographischen >Einflüssen< - in diesem Band bereitgestellt werden, so muß man feststellen, daß ein systematischer, übertragbarer Zugriff auf die histori- sche Funktionsweise des Kinos jener Zeit kaum einmal angestrebt wird. Die Ausnahme bildet hier Corinna Müllers Aufsatz » Variationen des Kinopro- gramms. Filmform und Filmgeschichte« (S. 43-76). Anschließend an ihre frü- heren Arbeiten16 entwickelt Müller hier ein überzeugendes Modell, dessen methodische Grundannahme sich als dialektisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Filmform und Filmformat bezeichnen ließe. Anhand der von den Bedürfnissen der jeweils vorherrschenden Programmierungspraktiken und Aufführungskontexte (vom Variete über das Ladenkino zum Kinopalast) ab- hängigen Veränderungen der Filmlänge gelingt es Müller nicht nur, stichhalti- ge Vorschläge zur Periodisierung zu machen, in denen die historische Ent- wicklung in vier Abschnitte gegliedert wird: 1895-1905 als Phase der Kürzestfilme im Kontext des Varieteprogramms; 1906/07-1910 als Kurzfilm- zeit unter weitgehender Beibehaltung der Programmkonventionen des Varie- tes; 1910/11-1918 als die Zeit des Langfilms im Kurz-Langfilm-Mischpro- gramm und (vermehrt ab 19.15) >Zwei-Schlager-Programms<; ab 1918 als die Zeit programmfüllender Filme. Indem darüber hinaus eindringlich darauf hin- gewiesen (und exemplarisch vorgeführt) wird, daß jeder Stilanalyse eines ge- gebenen Films ein Bewußtsein des jeweils standardisierten, medienkompati- blen (Programm-)Formats zugrunde liegen sollte, über das sich der Grad und die Grenzen von Psychologisierung, Narrativität und ästhetischer Form defi- nieren, liefert Müller wichtige Anhaltspunkte dafür, wie eine >historische Poe- tik<17 des frühen deutschen Kinos zu erarbeiten wäre. Ursprünglich als Eröffnungsbeitrag zu diesem zweiten Band der Medien- geschichte des Films geplant,18 wird Müllers Beitrag eines integrativen, pro- grammorientierten Modells der >Modellierung des Kinofilms< nahezu als ein- ziger der im Untertitel angezeigten Intention des Buches vollauf gerecht. Daß sich die noch oft an herkömmlichen filmhistorischen Kategorien und litera- turwissenschaftlichen Anknüpfungspunkten orientierten Interessenlagen der übrigen Beiträge nicht wirklich in ein derart ambitioniertes revisionistisches Forschungsprogramm integrieren lassen, verweist am Ende vielleicht weniger auf eine herrschende >Ungleichzeitigkeit< in der Beschäftigung mit dem deut- schen Kino der >Übergangszeit<, als auf eine gewisse >Unzeitigkeit<: Noch im- mer sind für diese Epoche die vielfältigen film- wie medienhistorischen Grundlagen- und Detailforschungen, die einem solchen Projekt vorauszuge- hen hätten, nicht im entferntesten geleistet. Auf dem Weg dorthin ergänzen die hier versammelten Beiträge den derzeitigen Reflexions- und Kenntnis- stand jedoch um eine Fülle von Material und prägnanten Einzelanalysen. Anmerkungen 1 Zu nennen wäre hier vor allem die Re- Cinema tedesco / German Cinema, 1895 - trospektive >Vor Caligari - Das deutsche 1920. Pordenone: Biblioteca dell'Immagine Kino 1895-1920, des 9. Internationalen 1990; Thomas Elsaesser, Michael Wedel Stummfilmfestivals in Pordenone, aber (Hg.): A Second Life. German Cinema 's auch das 1995 vom Goethe-Institut in Zu- First Decades. Amsterdam: Amsterdam sammenarbeit mit dem Nederlands Film- University Press 1996; sowie K!Ntop 1: museum und der Stiftung Deutsche Kine- Früher Film in Deutschland. Frankfurt mathek zusammengestellte Filmpaket ,Rot am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1992. für Gefahr, Feuer und Liebe. Friihe deut- Schließlich die Bücher von Heide Schlüp- sche Stummfilme< sowie Retrospektiven mann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Dra- der Filme einzelner Regisseure wie Max ma des frühen deutschen Kinos. Frankfurt Mack (Berlin 1996) und Franz Hofer (Saar- am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1990; brücken 1999); die von Martin Loiper- Herbert Birett: Lichtspiele. Der Kino in dinger konzipierte Ausstellung ,Oskar Deutschland bis 1914. München: Q-Verlag Messter - Filmpionier der Kaiserzeit<, 1994; und Corinna Müller: Frühe deutsche Filmmuseum Potsdam und Deutsches Mu- Kinematographie. Formale, wirtschaftliche seum München 1994; die Sammelbände und kulturelle Entwicklungen 1907-1912. Paolo Cherchi Usai, Lorenzo Codelli Stuttgart, Weimar: Metzler 1994. (Hg.): Prima di Caligari / Before Caligari. 2 Ludwig Greve (Hg.): Hätte ich das 193 Kino! Die Schriftsteller und der Stumm- II Etwas aus dem Rahmen dieses Bandes film. Stuttgart: Kösel 1976; Heinz-B. Hel- fällt somit Karin Esders' Diskussion der ler: Literarische Intelligenz und Film. Zur Genreidentität vermeintlicher früher ame- Veränderung der ästhetischen Theorie und rikanischer> Western< vor dem Hintergrund Praxis unter dem Eindruck des Films. Tü- historischer Produktions-, Vermarktungs- bingen: Niemeyer 1984;Joachim Paech:Li- und Rezeptionsbedingungen, die sich zu- teratur und Film. Stuttgart: Metzler 1988. dem leider weitgehend in einer Rekapitula- 3 Anton Kaes (Hg.):Kino-Debatte. Tex- tion jüngster englischsprachiger For- te zum Verhältnis von Literatur und Film schungsergebnisse erschöpft. 1909 -1929. Tübingen, München: Niemey- 12 Segeberg Vorwort, (Anm. 8), S. 7. er, Deutscher Taschenbuch Verlag 1978; 13 Harro Segeberg (Hg.): Die Perfektio- Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem nierung des Scheins. Das Kino der Weima- Film. Nachdenken über ein neues Medium rer Republik im Kontext der Künste. Mün- 1909 - 1914. Leipzig: Reclam 1992. chen: Fink, i. Vorb. ( = Mediengeschichte 4 Helmut H. Diederichs: Anfänge deut- des Films, Bd. 3). Daß es sich bei der Medi- scher Filmkritik. Stuttgart: Wiedleroither engeschichte des Films somit von Band zu 1986. Band zunehmend um eine Medien- (bzw. 5 Gabriele Kilchenstein: Frühe Filmzen- Literatur-) geschichte des deutschen Films sur in Deutschland. Eine vergleichende Stu- handelt, ist zumindest etwas irreführend die zur Prüfungspraxis in Berlin und Mün- und wurde bisher in keinem der beiden er- chen (1906 - 1914), München: diskurs film schienenen Bände thematisiert, geschweige 1997. denn begründet. 6 Hans Barkhausen: Filmpropaganda in 14 Segeberg Vorwort, (Anm. 8), S. 7. Deutschland im Ersten und Zweiten Welt- 15 Die spezifische Selbst-Positionierung krieg. Hildesheim: Olms 1982. dieses Films an der Schwelle zwischen 7 Zum Begriff einer ,kulturellen Poetik,, Kurz- und Langfilm ist zumindest ange- vgl. Stephen Greenblatt: Grundzüge einer deutet bei Michael Wedel: ,Showman im Poetik der Kultur. In: ders.:Schmutzige Ri- Glashaus. Der Filmregisseur Max Mack<. ten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. In: ders. (Hg.): Max Mack. Showman im Berlin: Wagenbach 1991, S. 107 - 122. Glashaus. Berlin: Freunde der deutschen 8 Harro Segeberg: Vorwort. In: ders. Kinemathek 1996, S. 18f. (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur 16 Vgl. vor allem Müller: Frühe deutsche Vor- und Frühgeschichte des Films in Lite- Kinematographie (Anm. 1), sowie dies.: ratur und Kunst. Wilhelm Fink Verlag, »Anfänge der Filmgeschichte: Produktion, München 1996 ( = Mediengeschichte des Foren und Rezeption«. In: Segeberg (Hg.): Films, Bd. 1), S. 7. Die Mobilisierung des Sehens, (Anm. 8), S. 9 Vgl. z.B. Siegfried Zielinkis Projektei- 295-325. ner »integrierten Mediengeschichte« (S. 15} 17 Zum Begriff einer ,historischen Poe- von Kino und Fernsehen in Audiovisionen. tik, des Kinos vgl. David Bordwell: >Histo- Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in rical Poetics of Cinema,. In: R. Barton Pal- der Geschichte. Reinbek bei Hamburg: Ro- mer (Hg.): The Cinematic Text. Methods wohlt Taschenbuch Verlag 1989. and Approaches. New York: AMS Press 10 Corinna Müller, Harro Segeberg 1989, s. 369 - 398. (Hg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur 18 Vgl. Harro Segeberg, »V on der proto- Geschichte des Kinoprogramms zwischen kinematographischen zur kinematographi- Kurzfilm und Langfilm (1905/6 - 1918). schen (Stadt-}Wahrnehmung. Texte und München: Fink 1998 (=Mediengeschichte Filme im Zeitalter der Jahrhundertwende.« des Films, Bd. 2). Verweise auf diesen Band In: ders. (Hg.): Die Mobilisierung des Se- im folgenden mit Seitenzahlen im Text. hens, (Anm. 8), S. 35 5, Anm. 54. ' 194 Buchbesprechungen Ulrike Hick, Geschichte der optischen Medien, Wilhelm Fink Verlag, Mün- chen 1999, 365 Seiten mit Abb., DM 78.- Gegenstand dieser Marburger Habilitationsschrift ist »die Geschichte der op- tischen Sehmaschinen und ihrer Bilderwelten vor dem Kino« (S. 2). Behandelt werden Camera obscura, Anamorphoten, Guckkasten, Laterna magica, Di- orama, Panorama, Photographie und Stereoskopie. Der Verlagstitel des Buchs ist irreführend: Der Begriff »optische Medien« spielt für die Autorin wohl- weislich keine tragende Rolle. Von einer Mediengeschichte wären über die technischen Artefakte und die visuellen Medienprodukte hinaus auch Anga- ben zur Angebotsstruktur und Reichweite, zur Nutzung und zur Rezeption zu erwarten. Zumindest für den deutschen Raum ist darüber so gut wie nichts bekannt. Die Verfasserin hat sich etwas anderes vorgenommen: Die Sehmaschinen und Bilder sollen »in den sich wandelnden kulturhistorischen Kontexten der Ausformierung einer medialisierten Wahrnehmung verortet werden« (S. 3). Zu diesem Zweck knüpft die Autorin kritisch an die Apparatus-Theorien von Comolli und Baudry an: Sie übernimmt den Dispositivansatz, möchte den Zuschauer aber nicht im Sinne einer »abstrakten, ahistorischen und passiven Größe« verstanden wissen, sondern geht aus »von einer prinzipiellen Histori- zität von Wahrnehmung und Sinnestechnologie und deren diskursiver Orga- nisation« (S. 7). Derart für innovative Forschung gerüstet, unternimmt sie »die Re-Lektüre einer Fülle von historischem Quellenmaterial unter den neuen methodischen Prämissen« (S. 10): Sie liest die klassischen Schriften von Leon Battista Alberti bis Franz Paul Liesegang sowie umfangreiche Sekundärlitera- tur, um »die einzelnen optischen Bildmedien im Hinblick auf ihre differenten dispositiven Fundierungen« (S. 11) zu untersuchen. Im wirklichen Leben dienten die verschiedenen visuellen Artefakte ganz unterschiedlichen Zwecken: vom technischen Hilfsmittel für Maler über amü- santes Spielzeug für Aristokraten und Bürger bis zur Unterhaltung und Be- lehrung eines Massenpublikums. In den Theorierahmen des Dispositivansat- zes gestellt, ergeben sie eine systematische Anordnung: Angelpunkt ihrer Verortung ist die »Dynamisierung des Blicks«, die sich angeblich mit der Zir- kulation von Waren und Menschen seit Anfang des 19. Jahrhunderts entwik- kelt - eine mehrfach beschworene Analogie, die nichts beweist, aber für den Argumentationsgang unerläßlich ist. Denn die Autorin konstruiert Wahrneh- mungsbedürfnisse des Publikums, die auf Bewegung aus sind, um die Sehma- schinen des 19. Jahrhunderts und ihre Bilder als entsprechende Reaktion dar- auf darstellen zu können. Obwohl sie sich ausdrücklich von einem linear progressiven Geschichtsverständnis abgrenzt und den Terminus »Pre-Cine- 195 ma« explizit verwirft (S. 9), verfällt sie damit zwangsläufig der teleologischen Betrachtungsweise der traditionellen Filmgeschichtsschreibung: Die »Dyna- misierung des Blicks« läßt sich schematisch leicht differenzieren in die räum- liche Dynamisierung, repräsentiert im Panorama, und die zeitliche Dyna- misierung, repräsentiert in Diorama und Moving Panorama. In ihrer Zusammenführung, der raumzeitlichen Dynamisierung, repräsentiert im Ki- nematographen, erscheinen beide Aspekte dann zwangsläufig potenziert. Die »diversen Schritte in der Entwicklung der populären Bildmedien[. ..] kulmi- nieren mit dem Auftreten des Kinematographen am Ende des 19. Jahrhun- derts.« (S. 335) Als Kulminationspunkt der Bildmedien-Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts steht das Kino an keiner Stelle des Buchs in Zweifel. Auf diese Weise werden mediengeschichtliche Fragen nicht aufgeworfen, sondern zugedeckt. Da sich mit theoretischen Anleihen bei dem Gewährsmann Walter Benja- min und bei der Apparatus-Theorie systematisierende Entsprechungsverhält- nisse konstruieren lassen, unterbleibt die Befragung des überlieferten Origi- nal-Materials. An Bildquellen zitiert die Autorin eine Fernsehsendung des ZDF, ein Kaufvideo und einen einschlägigen Film von Werner Nekes (S. 359). Aus dem Buch geht an keiner Stelle hervor, ob sie jemals ein Panorama besucht oder eine Laterna magica-Schau erlebt hat. Betrachtet man die Qualität der Abbildungen in dem Band selbst, so kam es ihr darauf vielleicht auch gar nicht an: Die miserable Ausstattung der Medienbücher des Fink-Verlags ist mittler- weile notorisch - hier überschreitet sie die Grenze dessen, was hinzunehmen ist. Als Vorlagen dienen stark ausgefressene Schwarzweiß-Fotokopien aus Büchern (die Provenienz ist akkurat nachgewiesen), welche die abzubilden- den Bilder zur Unkenntlichkeit entstellen. Es ist schlicht unmöglich, über die- se Illustrationen auch nur die leiseste Ahnung darüber zu gewinnen, welche geometrische Muster Chromatropen entfalten (S. 164), wie sich die Überblen- dung der Nebelbilder vollzieht (S. 172, 176) oder worin der Reiz viktoriani- scher life model slides besteht (S. 210). Für geübte selektive Leser, welche die geschichtsphilosophisch allzu stim- migen Konstruktionen ausblenden können, bieten die einzelnen Kapitel teil- weise gute Zusammenfassungen des derzeitigen Kenntnisstandes, wie er sich in der akademischen Literatur niederschlägt. Das gilt besonders für den Ab- schnitt zur Laterna magica im 19. Jahrhundert (S. 156-211). Angesichts der spärlichen Veröffentlichungen zum Thema im deutschen Sprachraum ist die- ser Nutzen des Buchs nicht gering zu veranschlagen. Martin Loiperdinger Deac Rossell, Living Pictures. The Origins of the Movies, State University of New York Press, Albany 1998, xii, 188 S., ill. Am 26. September 1896 stellte Theodor Bläser in dem deutschen Schausteller- blatt Der Komet die Frage: »Edison oder Lumiere?« - und mit eben diesem Zitat leitet Deac Rossell sein Buch über die Anfänge der Kinematographie ein. Doch geht es dem Autor gerade nicht um die Suche nach dem »wahren Erfin- der«, nicht um die so häufig betriebene »retrospektive Teleologie«, die von unserem heutigen Begriff des Kinos ausgehend die vielen Formen lebender Bilder des späten 19. Jahrhunderts nur danach gewichtet, wie bedeutend ihr »Beitrag« für die weitere Entwicklung des Mediums war. Deac Rossell inter- essiert sich vor allem für die Vielfalt an Apparaten und Verfahren und ver- sucht, ihre jeweilige Bedeutung im zeitgenössischen Zusammenhang zu er- gründen. Theoretischer Ausgangspunkt für Rossells Buch sind die Überlegungen des niederländischen Technikhistorikers Wiehe E. Bijker und dessen Modell des »technologischen Rahmens«. Für Bijker wird die Gestalt von Artefakten bestimmt durch die Interaktion verschiedener Akteure (Erfinder, Hersteller, Verkäufer, Kunden, Nutzer, Kontrollinstanzen usw.). Hieraus ergeben sich Bedeutungs- und Funktionszuschreibungen, nach denen sich Brauchbarkeit, Verwendungszweck, Wert für die jeweiligen Akteure bemessen. Die Frucht- barkeit dieser Herangehensweise wird schnell deutlich, wenn man sich verge- genwärtigt, aus welch verschiedenen Zusammenhängen heraus z. B. Louis Lumiere, Thomas Alva Edison oder Max Skladanowsky (um nur drei derbe- kanntesten Figuren zu nennen) ihre Apparate entwickelten. Und gleichzeitig hilft diese Sichtweise, besser zu verstehen, daß Geräte, die von der traditionel- len Filmgeschichtsschreibung allenfalls als »mißglückte Versuche« verbucht werden, innerhalb ihres eigenen technologischen Rahmens durchaus sinnvoll und zweckmäßig waren. Eine Besonderheit von Deac Rossells Darstellung ist der genaue Blick für die technischen Eigenschaften der Apparate, die hier weit über das übliche Maß hinaus in die Argumentation mit einbezogen werden. Trotz dieses durchaus pointierten Ansatzes handelt es sich bei Living Pic- tures nicht um eine hochspezialisierte Untersuchung, sondern um eine Ein- führung - allerdings auf hohem Niveau. Nach einer knappen Übersicht über die unterschiedlichen Arten bewegter Bilder im 19. Jahrhundert, die einem mehr oder weniger großen Publikum vorgeführt wurden - die Laterna magica mit ihren verschiedenen Möglichkeiten sowie Emile Reynauds Praxinoscope -, widmet sich ein Kapitel ausführlich der Chronophotographie. Die Bewe- gungsstudien, die Eadweard Muybridge oder Etienne Jules Marey durchführ- ten sowie die vom preußischen Kriegsministerium finanzierten Aufnahmen von Ottomar Anschütz dienten zwar vor allem wissenschaftlichen Zwecken, doch sehr bald schon sah man die Möglichkeit ihrer kommerziellen Auswer- tung. Anschütz vergab Rechte an seinem Elektrischen Schnellseher in die USA 197 und war selbst Teilhaber der 1892 in London gegründeten Electrical Wonder Company. Georges Demeny trennte sich unter anderem auch deshalb von sei- nem Arbeitgeber Marey, weil er das Potential seines Phonoscope sah, der Wis- senschaftler Marey aber keinerlei Neigung hatte, die Chronophotographie zur reinen Unterhaltung einzusetzen. Der Mathematik- und Physiklehrer Ernst Kohlrausch setzte chronophotographische Aufnahmen zur Unterstützung der Gymnastiklehre ein. Daraus ergab sich auch die Notwendigkeit der Pro- jektion und der Bewegungssynthese. Kohlrausch blieb aber wie Anschütz bei den Glasplatten als Träger, da deren Bildqualität den ersten kinematographi- schen Projektionen auf Zelluloid deutlich überlegen war. Der Entwicklung des Zelluloids mit all ihren Schwierigkeiten gilt dann das folgende Kapitel, bevor Rossell sich Thomas Alva Edison zuwendet. Der ist gerade unter dem Gesichtspunkt des gewählten Ansatzes interessant, da der »technologische Rahmen«, innerhalb dessen der Erfinder sich bewegte, ihn daran hinderte, schon frühzeitig das Problem der Projektion anzugehen. Da- durch lief Edison der Entwicklung des Marktes schon bald hinterher. Auf- grund seiner Patente blieb er zwar eine zentrale Figur, mit der die Konkurren- ten unvermeidlich zu rechnen hatten, doch seine Rolle war letztlich vor allem defensiv. Die für Rossell wohl wichtigste Traditionslinie ist zweifellos die der Laterna magica, aus der heraus (im doppelten Wortsinne) sich die Kinemato- graphie entwickelt. (Siehe dazu auch den Beitrag Rossells in diesem Band.) Das letzte Kapitel beschäftigt sich schließlich mit der Vielzahl von kinemato- graphischen Apparaten und Verfahren, die zwischen 1896 und 1900 miteinan- der konkurrierten. Angesichts all der Unternehmer, Schausteller, Gerätebauer mit ihren faszinierenden Maschinen und Auswertungsmethoden tritt die Fra- ge nach dem Erfinder des Kinos tatsächlich völlig in den Hintergrund. Der Versuch, jeweils Einzelpersonen die entscheidende Entdeckung zuzuschrei- ben, der noch bei den Gedenkveranstaltungen anläßlich der Hundertjahrfei- ern immer wieder unternommen wurde, verstellt den Blick auf eine weitaus interessantere Dimension der 189oer Jahre, nämlich die schier unglaubliche Vielfalt, die im Bereich der lebenden Bilder herrschte. Deac Rossells Buch bietet eine zwar kaum 200 Seiten starke, aber dafür sehr reichhaltige Einführung in die Geschichte der lebenden Bilder im späten 19. Jahrhundert. Der Autor stützt sich dabei auf eine immense Kenntnis der Materie, wie er mit seiner Cinema Chronology (= Film History, vol. 7, no. 2, 1995), der immer noch bedeutendsten und verläßlichsten Datensammlung die- ser Art, gezeigt hat. Beide Bücher sollten zur Standardausstattung einer jeden Bibliothek zum Thema gehören. Frank Kessler Richard Abel, The Red Rooster Scare. Making Cinema American 1900-1910, University of California Press, Berkeley, Los Angeles, London 1999, x, 301 S., ill. Der amerikanische Filmhistoriker Richard Abel ist weltweit einer der besten Kenner des frühen französischen Stummfilms. Seine umfangreiche Studie The Cine Goes to Town. French Cinema 1896-1914, in einer erweiterten Neuaus- gabe 1998 endlich auch als preisgünstigeres Paperback erschienen, bietet einen umfassenden Überblick über die Filmproduktion in Frankreich vor dem Er- sten Weltkrieg. Diesem Buch steht bislang auch in französischer Sprache nichts Vergleichbares gegenüber. Mit seiner jüngsten Veröffentlichung erwei- tert Abel das Feld, indem er die Rolle der Firma Pathe Freres auf dem ameri- kanischen Markt analysiert. Damit ist diese Untersuchung gleich in zweierlei Hinsicht von Interesse: Zum einen liefert der Autor eine systematische Fall- studie zur Bedeutung von Pathe als international operierender Gesellschaft, indem er das für die Firma wichtigste ausländische Absatzgebiet analysiert, zum anderen durchbricht er die in nationalen Filmgeschichten übliche Be- schränkung auf die jeweilige heimische Produktion. Schon in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts sind es nämlich vor allem französische Produktionen, die in den Vaudevilles und anderen Theatern be- sonders erfolgreich waren, allen voran Melies-Filme wie CENDRILLON (1899) oder VoYAGE DANS LA LUNE (190+), Titel die immer wieder in Fachzeitschrif- ten wie Billboard herausgehoben werden und offenbar auch vergleichsweise lange Laufzeiten hatten. Als dann durch die wachsende Zahl von Abspielstät- ten die Nachfrage stieg, eroberte Pathe schnell eine Spitzenposition auf dem amerikanischen Markt. Abel vertritt mit Nachdruck die These, daß der stetige Nachschub an neuen Filmen, wie ihn zu jener Zeit allein Pathe garantieren konnte, von entscheidender Bedeutung für den Nickelodeon-Boom um 1905- 1906 war, zumal die französische Firma durch die Bandbreite ihrer Produkti- on praktisch alle Programmsparten bediente. Darüber hinaus galten die Pa- the-Filme auch in qualitativer Hinsicht als nahezu konkurrenzlos. Einern Brief George Eastmans aus dem Jahr 1907 zufolge verkaufte Pathe zu diesem Zeitpunkt jährlich über 10 Millionen Meter belichteten Positivfilm in den Ver- einigten Staaten, fast doppelt so viel wie alle amerikanischen Produzenten zu- sammen. Der übermächtige Konkurrent aus Frankreich erschien den inländischen Firmen mehr und mehr als Bedrohung, und schon bald formierte sich der Widerstand. Obwohl auch Pathe Teil der unter der Führung Edisons gebilde- ten Motion Picture Patents Company war, erhoben sich erste Stimmen gegen den Einfluß der nun dezidiert als »ausländisch« apostrophierten Firma. Der Aufstieg der amerikanischen Filmproduktion in den folgenden Jahren wurde begleitet von immer nationalistischeren Tönen und der Behauptung, die fran- zösischen Filme seien ungeeignet für das amerikanische Publikum, weil sie 199 dessen Ansprüchen in ästhetischer wie in moralischer Hinsicht nicht genüg- ten. Selbst der zunächst noch von einigen Journalisten gelobte film d'art wurde schon bald für seine »unverständliche« Erzählweise und die düsteren, tragischen Sujets gerügt. Ab 1908 fanden dagegen die amerikanischen Produk- tionen in der Branchenpresse stets mehr Anerkennung, vor allem hob man hervor, daß diese handlungsreich sowie einfach und klar erzählt seien. In diesen Debatten, auch das zeigt Abel, ging es aber nicht nur um Rücker- oberung von Marktanteilen. Sie fanden vor dem Hintergrund von Diskussio- nen um die »Ü berfremdung« der Vereinigten Staaten durch den Zustrom von Einwanderern vor allem aus Ost- und Südeuropa statt. Auch das Kino wurde zur Zielscheibe der Kritik, da es von »moralisch zweifelhaften«, ausländischen Filmen dominiert sei und damit die Integration des sich zu weiten Teilen aus Immigranten rekrutierenden Publikums behindere und gleichzeitig dessen »kriminelle Neigungen« begünstige. Einer der Höhepunkte der Kampagne war dann die zeitweilige Schließung aller Nickelodeons in New York im De- zember 1908. Die daraufhin einsetzende »Amerikanisierung« des Kinos zielte also ab auf eine »Amerikanisierung« der Zuschauer und letztlich auf die »Amerikanisierung« der Gesellschaft. Die einheimische Filmbranche über- nahm diese Strategie, weil sie damit einerseits den Konkurrenten Pathe an den Rand drängen und andererseits die Reputation des Kinos wieder aufwerten konnte. Von einem Störfaktor wurde es im öffentlichen Diskurs zu einem Motor der Integration. r 909 erklärte Carl Laemmle dann auch: »I will make American subjects my speciality [. ..] I want strong virile American subjects.« Das Buch schließt mit einem Kapitel über den frühen Western, der in diesem Zusammenhang als das amerikanische Sujet par excellence vermarktet wurde. Abel beschreibt diese Entwicklung in sechs Kapiteln, denen er in unregel- mäßiger Folge insgesamt neun zeitgenössische Dokumente beifügt, die das jeweils behandelte Thema illustrieren. Außerdem werden in fünf Entr'actes, also »Zwischenspielen«, weitere Aspekte der frühen Kinogeschichte beleuch- tet: die Rolle der Markennamen und -zeichen, die Kolorierung der Filme, die Branchenpresse, die Musik in den Nickelodeons und das Entstehen des Star- systems. Der auf diese Weise geradezu durchkomponierte Band enthält dar- über hinaus zahlreiche Abbildungen, so daß Abel in seinem Buch ein weitge- spanntes Panorama entfalten und das zentrale Thema in ein facettenreich gezeichnetes Gesamtbild einbetten kann. Auf breiter Materialbasis und mit schlüssiger Argumentation behandelt The Red Rooster Scare einen zentralen Aspekt der Geschichte der Firma Pathe Freres und des frühen amerikanischen Kinos, der trotz seiner immensen Bedeutung bislang erst in Ansätzen er- forscht ist. Frank Kessler 200 Deniz Göktürk, Künstler, Cowboys, Ingenieure ... : Kultur- und medienge- schichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912-1920, Wilhelm Fink Verlag, München 1998, 265 S., ill., DM 68,- Was dieses Buch über seinen wissenschaftlichen Anspruch hinaus spannend macht, ist seine thematische Aktualität. Es zeigt nämlich, wie das heute vieler- orts als bedrohlich empfundene Phänomen der >Amerikanisierung<, das eben nicht neu ist, sondern bereits zu Beginn des Jahrhunderts, im späten Kaiser- reich, kontrovers diskutiert wurde, als kontinuierlicher Diskurs das Denken und die Imagination deutscher Intellektueller und Leser beflügelt hat. Daß dieser Diskurs nicht nur auf dem literarischen Feld alleine ausgetragen wor- den ist, sondern auch im frühen Kino, kann nicht weiter überraschen; daß aber auch die literarischen Phänotypen ihre Amerikabilder häufig mit Utopien über (audio)visuelle Massenmedien anreicherten, mag bereits ein erstes Indiz für die Herausbildung Amerikas als Leitkultur der westlichen Modeme sein. Deniz Göktürk läßt den Aspekt der Medialisierung nie aus dem Auge. Ausgehend von Franz Kafkas Amerika-RomanDer Verschollene, dessen Prot- agonist Karl Roßmann nach seiner Odyssee im >Teater von Oklahoma< »gleichsam in die Utopie Amerika eingeht« (S. 18), erläutert sie an einer Reihe weniger kanonischer Texte, wie die Amerika-Imagination europäischer Intel- lektueller als Sinnbild einer absinkenden Kultur Verwendung fand. Gerhart Hauptmanns Künstlerroman Atlantis (1912), der eigene Erfahrungen einer Amerika-Reise des Jahres 1894 verarbeitet, belegt die »grundsätzliche Ambi- valenz der deutschen Amerika-Bilder« (S. 55 ), in denen die großstädtische Massengesellschaft einem Bild von Natur und Wildnis gegenübergestellt wird, das »die Einlösung von utopischen Befreiungs- und Selbstfindungsphantasi- en« (S. 55) verspricht. August Bioms Verfilmung (Dänemark 1913), die Gök- türk im Zusammenhang mit den Nobilitierungsbestrebungen der Filmindu- strie im Rahmen des deutschen >Autorenfilms< diskutiert, nimmt die bei Hauptmann signifikante erotische Aufladung der Massenunterhaltung zu- rück, »da der Film sich einem herrschenden Standard von hoher Kultur anzu- nähern und ein bildungsbürgerliches Publikum ins Kino zu locken suchte.« (S. 63) Gerade dieser Aspekt jedoch, wie Göktürk in ihrem Referat der zeitge- nössischen Rezeption zeigt, blieb aber umkämpftes Terrain, nicht nur für das Bildungsbürgertum und seine Meinungsführer, sondern auch für die Intellek- tuellen selbst, denn: »Zwar taten sich [für literarische Autoren] neue Ver- dienstmöglichkeiten auf, doch die eigene privilegierte Position war in Gefahr und mußte scharf verteidigt werden.« (S. 77) Im Genre der Science Fiction, das Göktürk anhand der Romane Der Tun- nel von Bernhard Kellermann und Der Golfstrom von Hans Peter Rosegger (beide 1913) in ihre Diskussion einbringt, arbeitet sie einen Zusammenhang zwischen der Vernetzung des Massenverkehrs und der »weltweiten Zirkula- tion von Bildern« (S. 20) heraus, der in der gewagt erscheinenden These gip- 201 feit: »Die Geschichte vom transatlantischen Tunnelbau liest sich in diesem Kontext auch als eine Evolutionsgeschichte des Kinos.« (S. 20) Es ist kein Wunder, daß William Wauers Filmadaption DER TUNNEL (1914/i5) die medi- enreflexiven Bestandteile des Romans kaum ausführt, was Göktürk darauf zu- rückführt, daß der Film »hinter den Standards der Zeit« (S. 115) zurückblieb. Ein Kapitel über die Wechselbeziehungen zwischen Fleisch- und Filmin- dustrie zu Beginn des Jahrhunderts leitet zum thematischen Komplex der Ima- gination des amerikanischen Westens über, in dem die prototypische Figur des >Cowboys< völlig richtig als »Produkt der fortschreitenden Industrialisie- rung« (S. 21), nämlich als »Zuarbeiter der expandierenden Fleischindustrie im späten neunzehnten Jahrhundert« (S. 157) gekennzeichnet wird, dessen Mas- senwirkung und romantische Idealisierung der Popularität des Westerngenres zu danken ist. Göktürks Aufmerksamkeit gilt hier vorzugsweise der deut- schen Westernproduktion im Umfeld der Heidelberger Chateau-Film Gesell- schaft des Produzenten, Regisseurs und Schauspielers Hermann Basler, der mit seinen Filmen Lücken füllte, die seit Kriegsbeginn durch den Stopp aus- ländischer Filmimporte aufgerissen waren. In der Kopie amerikanischer Vor- kriegsfilme fällt hier jedoch eine deutliche Aufwertung weiblicher Protagoni- sten auf, die andererseits durch die Zeichnung eines Männlichkeitsbildes gekontert wird, das durch die Verkörperung »maskuliner Qualitäten des mili- tärischen Typus« (S. 203) auch Konservative ansprechen konnte. Schließlich wendet sich Göktürk dem kulturkritischen Werk des Österrei- chers Robert Müller zu, der »die Entwicklung Amerikas zum inszenierten Kunstraum und zum wiedererkennbaren, zitierfähigen Schauplatz innerhalb einer kinematographisch kondensierten Geographie« (S. 205) als einen »Pro- zeß der ,Entwirklichung«< (S. 205) beschreibt. In diesem Sinn »entsproß der Amerikanismus also nicht in Amerika, sondern in Deutschland, insbesondere in Berlin« (S. 213) und war geprägt durch mediale Bilder, die ihrerseits hoch- gradig auf die Eskapismusbedürfnisse des deutschen Publikums eingingen. In den Schlußbemerkungen verweist Göktürk eindringlich auf die >>Ver- quickung der Imaginationsräume Amerika und Kino« (S. 2 30 ), und zieht dar- aus den bedeutsamen Schluß: »Als das Kino zum wichtigsten Medium illusio- nistischer Unterhaltung wurde, schlugen die Romanautoren andere Wege ein und begannen die Kanäle von Publizität genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Funktionswandel des Romans Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stand nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Reflexion filmischer Illusionie- rung.« (S. 213) Göktürks Arbeit verbindet über ihren kulturellen Diskurs Einsichten in die spätwilhelminische Gesellschaft mit einer kulturwissenschaftlichen Zuge- hensweise, die das Zusammenspiel unterschiedlicher kultureller Felder (Lite- ratur, Film) und ihre letztendliche Ausdifferenzierung und Funktionalisierung in einen größeren theoretischen Rahmen stellt. So sind ihre Analysen literari- scher Texte auch für genuine Filmwissenschaftler von großem Nutzen. 202 Die Redaktion hat erhalten: Vanessa Toulmin, Randall Williams. King of Showmen. From Ghost Show to Bioscope, The Projection Box, London 1998, 54 S., ill., 6.95 f:. Dokumentation zur professionellen Einführung des Films für das englische Jahrmarkt- publikum durch Randall Williams mit seiner 1000 Zuschauer fassenden Schaubude. Stephen Herbert, Industry, Liberty, and a Vision. Wordsworth Donisthorpe's Kinesigraph, The Projection Box, London 1998, 120 S., ill., 10.95 f:. Kulturgeschichtliche Dokumentation zu Donisthorpes 1889 patentierter Filmkamera. John Fullerton (Hg.), Celebrating 1895. The Centenary of Cinema,John Lib- bey, Sydney / The National Museum of Photography, Film & Television, Bradford, 288 S., ill. Hervorragend ausgestatteter Tagungsband der internationalen Konferenz zu » 100 Jah- re Kino« in Bradford 1995, mit zahlreichen Beiträgen zur technischen Innovation der Kinematographie, zu Auswertung und Publikum, popular culture, kultureller Reprä- sentation sowie zur Neubetrachtung der Entwicklung der Filmform im frühen Kino. Claire Dupre la Tour, Andre Gaudreault, Roberta Pearson (Hg.), Le cinema au tournant du siecle / Cinema at the Turn of the Century, Eds. Nota Bene, Quebec/ Payot, Lausanne 1999, 397 S., ill. Akten des 3. Internationalen Kongresses der Gesellschaft DOMITOR, der 1994 in New York stattfand und sich mit dem Kino der Jahrhundertwende beschäftigte. Beiträ- ge von Forschern aus Australien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Polen, Rußland und den USA, jeweils in französischer oder englischer Spra- che. Marie-Sophie Corey, Jacques Malthete, Laurent Mannoni, Jean-Jacques Meusy (Hg.), Les premieres annees de la societe L. Gaumont et Cie. Corre- spondance commerciale de Leon Gaumont 189 5-1899, Association fram;:aise de recherche sur l'histoire du cinema, Bibliotheque du Film, Gaumont, Paris 1998, 495 S., ill., 260 FF. Ausführlich kommentierte Ausgabe der Geschäftskorrespondenz von Leon Gaumont vor 1900. Juan M. Minguet Batllori, Segundo de Chom6n, beyond the cinema of attrac- tions (1904-1912), Filmoteca de la Generalitat de Catalunya, Barcelona 1999, 63 S., ill. (Bezug über: Filmoteca de Ja Generalitat de Catalunya, Portal de San- ta Madrona 6-8, E-08001 Barcelona). Monographie zu dem aus Spanien stammenden Segundo de Chom6n, der für Pathe als Kameramann und Regisseur arbeitete. Vor allem in seinen zahlreichen Trickfilmen und Feerien versucht er, mit Georges Melies zu konkurrieren. 203 Francesco Bono, Paolo Caneppele, Günter Krenn (Hg.), Elektrische Schatten. Beiträge zur österreichischen Stummfilmgeschichte, Filmarchiv Austria, Wien 1999, 203 s., ill. Markus Nepf über die österreichischen Filmproduktionspioniere Anton Kolm, Louise Veltee/Kolm/Fleck und Jakob Fleck; Günter Krenn über Sascha Kolowrat; Paolo Ca- neppele und Günter Krenn zu Methoden der Erforschung der unwiederbringlich ver- lorenen Stummfilme. David Emrich, Hollywood, Colorado. The Selig Polyscope Company and The Colorado Motion Picture Company, Postmodem Company, Lakewood, Co- lorado 1997, Buch (80 S., ill., 9.95 US-$) und Video (65 min., 19.95 US-$). Das Buch behandelt frühe Western aus Canon City, drei von ihnen sind auf dem Video zu besichtigen. · Melvyn Stokes, Richard Maltby (Hg.), American Movie Audiences. From the Turn of the Century to the Early Sound Era, bfi Publishing, London 1999, 186 s., 14.99 f'.. Zahlreiche Beiträge u.a. von Giorgio Bertellini, Roberta Pearson und William U ricchio zum Publikum des frühen Kinos in New York, in Chicago, zum Kinderpublikum in den Nickelodeons, zur Filmrezeption im Ersten Weltkrieg und zur Repräsentation des Publikums in der Kinowerbung. Andre Gaudreault,Du litteraire au filmique (2. Auflage), Editions Nota Bene, Quebec/ Armand Colin, Paris 1999, 197 S. Vom Autor durchgesehene und um ein Nachwort erweiterte Neuauflage des immer noch grundlegenden Werks zur Narratologie vor allem des frühen Films. Silvana Sinisi (Hg.), Cantami o Diva. I percorsi de/ femminile nell'imma- ginario di fine secolo, Avagliano Editore, Cava de' Tirreni 1999, 222 S., ill., 32.000 Lit. Sammelband zu Frauendarstellungen und Frauenfiguren in Literatur, bildender Kunst, Theater und Film um die Jahrhundertwende. Zum frühen Kino Beiträge von Antonio Costa zur Ikonographie des Weiblichen bei Melies sowie von Monica Dall'Asta zu Pearl White und anderen serial queens. Leonardo Quaresima, Alessandra Raengo, Laura Vichi (Hg.), La nascita dei generi cinematografici, Forum, Udine 1999, 441 S., ill., 48.000 Lit. Akten des 5. Internationalen filmwissenschaftlichen Kongresses in Udine, der den An- fängen der Filmgenres gewidmet war. Die Beiträge sind in der jeweiligen Vortragsspra- che {italienisch, französisch oder englisch) publiziert. montagelav, 7.Jg., Nr. 2, 1998, 154 S., 20 DM. Übersetzung von Boleslas Matuszewskis Plädoyer für die Einrichtung eines Filmar- chivs aus dem Jahr r 898; Nico de Klerk über Nachrichtenfilm und Technikinteresse in Amsterdamer Filmvorführungen bis 1910. 204 Film History, vol. 10, no. 2, 1998,Film, Photography and Television, 130 S., ill., 20 US-$. Gary W. Harner über die Bestrebungen der Kalem Company, mit Reisefilmen und on location-Aufnahmen ein Markenimage zu formen. Film History, vol. 11. no. 1, 1999, Film Technology, 127 S., ill., 20 US-$. Englische Version von Nico de Klerks Artikel über Nachrichtenfilm und Technikinter- esse in Amsterdamer Filmvorführungen bis 1910 aus montage/av; chronologischer Abriß von Eugene Augustin Laustes Biographie (Paul C. Spehr) und Verzeichnis seiner Apparate in der Smithsonian Institution Qohn Hiller); Michael J. Quinn über Para- mount und den Spielfilmverleih 1914 - 1921. Film History, vol. 11. no. 2, 1999, Emigre Filmmakers and Filmmaking, 118 S., ill., 20 US-$. Charles Grimm zur Vorgeschichte der Paper Print Collection in der Library of Con- gress; Samantha Barbas über Publikumsreaktionen auf amerikanische Zensurmaßnah- men 1912 - 1922. Historical Journal of Film, Radio and Television, vol. 19, no. 2, 1999, 151 S., ill., ca. 20 DM pro Ausgabe für IAMHIST-Mitglieder. Charles Musser über den Cinematographe Lumiere in den Vereinigten Staaten 1896/ 97; Stephen Bottomore zum train effect, den Publikumsreaktionen auf heranfahrende Lokomotiven; Microfiche-Dokumentation von Roger W. Warrens Lokalstudie zur frü- hen Kinogeschichte in Denver bis 1911, mit einer Einführung von Charles Musser. Griffithiana, Nr. 62/63, Mai 1998, 181 S., ill., 40.000 Lit. Wiedergabe einer Podiumsdiskussion über D. W. Griffith vom Oktober 1997 in Por- denone; Paul C. Spehr und Jean-Jacques Meusy über die Anfänge der American Muto- scope and Biograph Company in Frankreich. Griffithiana, Nr. 64, Oktober 1998, 191 S., ill., 40.000 Lit. Artikel von Karen Merritt über SNOW Wt:IITE (1916), Vittorio Martinelli über Gabriele d'Annunzio und das Kino, ein Drehbuch von d'Annunzio mit einer Einleitung von Russell Merritt, Luke McKernan über Kino und Sport von den Anfängen bis in die zwanziger Jahre sowie Paul Fryer über Enrico Caruso im Film. 1895, Nr. 24,Juni 1998 Die neueste Ausgabe der französischen Filmhistorikerzeitschrift aus Paris bietet u.a. einen Artikel von John Barnes zu Robert William Paul sowie eine von Jacques Malthete aufgestellte Übersicht der Copyright-Logos in den Filmen von Georges Melies. TGM, tijdschrift voor mediageschiedenis,Jg. 1, Nr. 1, 1998 Die in Amsterdam erscheinende und vom Nederlands Audiovisueel Archief und der Vereniging Geschiedenis, Beeld en Geluid unterstützte Zeitschrift hat sich zur Aufgabe gemacht, die mediengeschichtliche Forschung in den Niederlanden zu unterstützen und ihr ein Publikationsforum zu bieten. Diese Nummer enthält u.a. Artikel von An- 205 nette Förster über die französische Schauspielerin Musidora, von Kristine de Valck über die ersten Jahre der Kinematographie in Rotterdam sowie von Marga Altena, die einen Werbefilm der Firma Philips auf das Jahr 1913 zu datieren versucht. TGM, tijdschrift voor mediageschiedenis,Jg. 2, Nr. 1, 1999 Im jüngsten Heft der TMG ist ein englischsprachiger Schwerpunkt dem Thema »Gen- der and Silent Cinema« gewidmet, als Vorbereitung zu einer Tagung, die im Oktober 1999 an der Universität Utrecht stattfand. Neben einem Übersichtsartikel zum Thema von Annette Förster und Eva Warth findet man dort zwei Artikel von Heide Schlüp- mann und wiederum Eva Warth, die sich mit der Darstellung von Körperlichkeit im frühen Film auseinandersetzen. Cinegrafie, Nr. 12, 1999, 30.000 Lit. Schwerpunktheft zum Thema Stummfilmdiven, dem auch das diesjährige Festival II Cinema Ritrovato in Bologna gewidmet war. Beiträge zum frühen Kino von unter an- derem Alberto Boschi, Gian Piero Brunetta, Angela Dalle Vacche und Heide Schlüp- mann. lmmagine -Note di Storia del Cinema, Nr. 36, 1996, 9000 Lit. Dokumentation von Maria Silvia Fiengo zum Kino Stella d'Italia in Gravedona am Corner See 1909-1913. lmmagine - Note di Storia del Cinema, Nr. 38-39, 1997, 9000 Lit. Gaetano Strazzulla über die kinematographischen Anfänge in Florenz. 206 Die Autorinnen und Autoren lne van Dooren arbeitet als Moving Image Archivist am South East Film & Video Archive in Brighton, unterrichtet an der Universität Brighton und ist Mitglied der Arbeitsgruppe Visual Culture of the 19th and 20th Century. Wolfgang Fuhrmann promoviert an der Universität Utrecht über deutsche Kolonialkinematographie. Jeanpaul Goergen, Filmhistoriker, Vorstandsmitglied von CineGraph Babels- berg, lebt in Berlin. UliJung, Filmhistoriker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Projekts »Geschichte und Ästhetik des dokumentarischen Films in Deutschland« an der Universität Trier. Frank Kessler lehrt derzeit als Gastdozent Medienwissenschaft an der Bau- haus-Universität Weimar. Sabine Lenk leitet das Filmmuseum der Stadt Düsseldorf. Martin Loiperdinger lehrt Medienwissenschaft an der Universität Trier. Alison MacMahon unterrichtet Film- und Medienwissenschaft an der Univer- sität Amsterdam. William Paul lehrt Film- und Medienwissenschaft an der Washington Univer- sity in St. Louis und arbeitet derzeit an einem Buch zur Geschichte von Kinoarchitektur und -technologie sowie deren Einfluß auf kinematogra- phische Darstellungsweisen. Stephanie Roll studiert Germanistik, Komparatistik und Medienpsychologie an der Universität des Saarlandes. Deac Rossell, Kinomacher und Filmhistoriker, forscht zur Kinematographie des 19. Jahrhunderts. Jens Ruchatz promoviert am Graduiertenkolleg »lntermedialität« der Univer- sität-Gesamthochschule Siegen über die Mediengeschichte der Photopro- jektion. Ludwig Vogl-Bienek ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Historische Projektionskunst (Frankfurt am Main) und Mitbegründer des Illuminativ- Theaters. Michael Wedel promoviert an der Universität Amsterdam über Stilwandel und Medienwechsel im frühen deutschen Kino. 207