Matthias Brütsch Traumbühne Kino ZÜRCHER FILMSTUDIEN HERAUSGEGEBEN VON CHRISTINE N. BRINCKMANN MATTHIAS BRÜTSCH TRAUMBÜHNE KINO DER TRAUM ALS FILMTHEORETISCHE METAPHER UND NARRATIVES MOTIV Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühlingssemester 2007 auf Antrag von Prof. Dr. Christine N. Brinckmann und Prof. Dr. Margrit Tröhler als Dissertation angenommen. Schüren Verlag GmbH Universitätsstr. 55, D-35037 Marburg www.schueren-verlag.de © Schüren 2011 Alle Rechte vorbehalten Korrektorat: Flavia Giorgetta Gestaltung: Erik Schüßler Umschlaggestaltung: Bringolf Irion Vögeli, Aarau/Zürich Druck: fva, Fulda Printed in Germany ISSN 1876-3708 ISBN 978-3-89472-517-4 Inhalt Dank 8 Einleitung 9 1. Dream-Screen? Die Film/Traum-Analogie im theoriegeschichtlichen Kontext 21 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums 23 1.2 Die Surrealisten und die Frage des «psychischen Automatismus» 32 1.3 Die Impressionisten und die Möglichkeiten der Kameratechnik 39 1.4 Psychoanalytische Ansätze 42 1.5 Neurophysiologische Hypothesen 60 1.6 Kunstphilosophische Positionen und Hollywood als «Traumfabrik» 67 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 72 1.8 Das Problem der Traumdarstellung: Film als Traum versus Traum im Film 84 2. Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Die klassische Filmtheorie zu Traum und Subjektivierung 91 2.1 Narrative Techniken als Analoga zu mentalen Prozessen: Münsterbergs The Photoplay 91 2.1.1 Theoretische Grundannahmen 91 2.1.2 Subjektivierung und Traumdarstellung 95 2.2 Die seelische Tiefendimension: Balázs’ Theorie 98 2.2.1 Theoretische Grundannahmen 98 2.2.2 Subjektivierung und Traumdarstellung 100 2.3 Verschmähte Subjektivität: Bazins Realismustheorie 103 2.3.1 Theoretische Grundannahmen 103 2.3.2 Subjektivierung und Traumdarstellung 106 2.4 «Filmfantasie» versus «Kamerarealität»: Kracauers Theory of Film 111 2.4.1 Theoretische Grundannahmen 111 2.4.2 Subjektivierung und Traumdarstellung 113 2.5 Die Konventionalität mentaler Bilder: Mitrys Esthétique et psychologie du cinéma 120 6 Inhalt 2.5.1 Theoretische Grundannahmen 120 2.5.2 Subjektivierung und Traumdarstellung 122 2.6 Konstanten und Kontraste in der Beurteilung 126 3. Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 129 3.1 Formen der Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 130 3.1.1 Übergangsmarkierungen 130 3.1.1.1 Fließende Übergänge 137 3.1.1.2 Simultane Darstellungsweisen 146 3.1.2 Sequenzimmanente Markierungsformen 152 3.1.2.1 Handlungslogik und Beschaffenheit der Welt 152 3.1.2.2 Die filmische Diegese als primäre Referenzwelt 158 3.1.2.3 Exkurs: Traumuniversum und unlogische Weltenkonstruktion 161 3.1.2.4 Die Gestaltung von Bild und Ton 171 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 182 3.2.1 Strategien der Traumverschleierung 182 3.2.2 Effekte nachträglicher Kennzeichnung 195 3.3 Verunklarung des Status 211 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 222 4. Träume erzählen: Narrative Instanzen, Ebenen und Perspektiven 237 4.1 Der erzählerische Zugriff auf Traum und Innenwelt 238 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen: Die Figur als Erzähler und der Traum als récit second? 247 4.3 Erzählperspektive: Vom Fokalisierungsmodell zu differenzierteren Konzeptionen 260 4.3.1 Genettes Fokalisierungsmodell und seine filmwissenschaftliche Adaption 260 4.3.2 Differenzierungsvorschläge 265 4.3.2.1 Räumliche Fokussierung und indirekte Formen der Subjektivierung 268 4.3.2.2 Visuelle Perspektive 269 4.3.2.3 Akustische Perspektive 272 4.3.2.4 Verzerrte Wahrnehmung 273 4.3.2.5 Der direkte Einblick ins Figureninnere 276 4.3.2.6 Orientierung am Erleben der Figur 283 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 285 4.4.1 Ordnung 287 4.4.2 Dauer 290 4.4.3 Frequenz 296 Inhalt 7 5. Narrative Funktionen des Filmtraums in unterschiedlichen Genres 299 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 299 5.1.1 Charakterisierung der träumenden Figur 301 5.1.2 Symbolische Konfliktdarstellung 309 5.1.3 Verrätselung und Enthüllung 314 5.1.3.1 Traumentschlüsselung im Kriminalfilm 318 5.1.3.2 Der Traum als Gegengift zur Gehirnwäsche im Verschwörungsthriller 331 5.1.4 Verunsicherung 335 5.1.5 Antizipation und Prophezeiung 343 5.1.6 Entrückung in eine andere Welt 350 5.1.7 Evokation von Atmosphäre 356 5.1.8 Parodie und Selbstreflexion 360 5.2 Filmtraum und Genre 368 5.2.1 Traumhafte versus traumlose Genres 368 5.2.2 Entgrenzung des Traums im Science-Fiction- und Horrorfilm 369 5.3 Der Traum als Element der dramatischen Struktur 382 5.3.1 Loser Zusatz oder systemischer Bestandteil? 382 5.3.2 Einsatz an neuralgischen Stellen 383 5.3.3 Dramaturgie der Traumsequenz selbst 388 Schlusswort und Ausblick: Das Traummotiv im filmhistorischen Wandel 391 Bibliografie 398 Filmindex 414 Dank Mit Büchern ist es wie mit Filmen. Damit jemand Regie führen kann, braucht es Helfer im Hintergrund, die in verschiedenen Funktionen zum Erfolg des Projekts beitragen. An erster Stelle möchte ich Christine N. Brinckmann danken, die mein Forschungsvorhaben früh gefördert und als Hauptreferentin mit großem Engagement kritisch begleitet hat. Margrit Tröhler, die mir als Ko-Referentin zur Seite stand, danke ich für die auf- merksame Lektüre des Manuskripts und für wertvolle Kritik und Hinwei- se. Jörg Schweinitz verdanke ich anregende Diskussionen insbesondere über den erzähltheoretischen Teil der Studie. Alle drei haben am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich zudem – trotz explodierender Studierendenzahlen – für ein forschungsfreundliches Umfeld gesorgt. Zahlreiche weitere Personen haben auf unterschiedliche Weise zum Gelingen der Studie beigetragen. Besonders erwähnen möchte ich die Teilnehmer des Forschungskolloquiums für die kritische Würdigung der Arbeit in unterschiedlichen Konzeptphasen, Hans Jürgen Wulff für das großzügige Zustellen einer kommentierten Filmliste, Thomas Christen für wertvoll Hilfe insbesondere beim Beschaffen schwer zugänglicher Filme, Simon Spiegel für Tipps zu Science-Fiction-Filmen, Vinzenz Hediger und Daniela Casanova für diverse Literaturhinweise, Philipp Brunner für An- regungen bei der Bildauswahl, Natalie Bringolf für die überzeugende Ge- staltung des Buchcovers, Flavia Giorgetta fürs genaue Lektorat und, last but not least, Daniela Casanova und Alice Christoffel für die stärkenden Mittagessen am Seminar. Die beiden Lehrveranstaltungen zum Forschungsthema haben sich als idealer «Resonanzkörper» für meine Thesen und große Fundgrube an Ideen erwiesen. Allen Studierenden, die sich aktiv daran beteiligt haben, sei herzlich gedankt. Schließlich möchte ich verschiedenen Personen aus meinem privaten Umfeld danken: Meinen Eltern für ihr Interesse an meiner Arbeit und die finanzielle Unterstützung. Claudia Ziegler, Leonora Thofte und Christine Moser für ihre Nachsicht mit meiner Traum-Obsession. Und, ganz beson- ders, Malik und Marianne Hänseler für alles. Ihnen ist dieses Buch gewid- met. Einleitung Der Mensch verbringt mindestens ein Viertel seines Lebens im Schlaf, und ein ansehnlicher Teil dieser Zeit ist durch Traumerlebnisse geprägt. Die Er- innerungsfähigkeit an das nächtliche Kopftheater schwankt von Individu- um zu Individuum zwar enorm – Einzelne geben an, sich gar nie zu erin- nern, Andere können fast jeden Morgen detailliert berichten –, Ergebnisse der empirischen Traumforschung zeigen jedoch, dass es bei einer Mehrheit mindestens einem Traum pro Woche gelingt, ins Wachbewusstsein vorzu- dringen (Strauch/Meier 1992: 58–78; Schredl 1999: 17–35). Träume beglei- ten uns vom Kindes- bis ins Greisenalter; und auch historisch und kultu- rell betrachtet kann man die Traumerfahrung als universelles Phänomen bezeichnen, wenngleich Herkunft, Funktion und Bedeutung der inneren Visionen in jeder Epoche und Kultur wieder anders eingeschätzt werden. Während der Traum – zumindest der «wahre» und bedeutungsvol- le – in der Antike wie auch im Christentum als Gebilde betrachtet wurde, das unabhängig vom Träumer entsteht und diesem von göttlicher Seite als Botschaft zugesandt wird, dominiert seit Sigmund Freuds grundlegender Neubeurteilung die Auffassung vom Traum als individuellem psychischem Produkt, das mit persönlichen Gedanken und unbewussten Wünschen di- rekt verknüpft ist. Zum Universellen kommt im 20. Jahrhundert also der Charakter des Privaten und Intimen hinzu. Der Traum erscheint nun als Tor zur Innenwelt, ja als Schlüssel zum Verständnis des einzelnen Menschen. Angesichts seiner Stellung als fester Bestandteil des menschlichen Er- fahrungsschatzes vermag es nicht zu erstaunen, dass der Traum immer wieder Eingang in kulturelle Erzeugnisse gefunden hat, sei es als iko- nografisches und erzählerisches Motiv oder als Rahmen und Anlass für philosophische Erörterungen. Davon ausgenommen blieb auch der Film nicht, der just zu dem Zeitpunkt die ersten Zuschauer in seinen Bann zog, als sich das Traumverständnis mit Freuds neuen Ansichten radikal zu än- dern begann. Schon ein oberflächlicher Blick in die Filmgeschichte führt deutlich vor Augen, dass der Traum in diversen Epochen, Ländern und Genres ein wichtiges Motiv mit unterschiedlichen narrativen Funktionen darstellt, das interessante Gestaltungsformen und dramaturgische Kons- tellationen hervorgebracht hat. Der Wahl des Studienobjekts liegt eine doppelte Faszination zugrunde. Zum einen am Traum an sich: Mit welch absurden Situationen, überbor- 10 Einleitung denden Gefühlen oder abscheulichen Taten einen Träume Nacht für Nacht konfrontieren und welch seltsame Bezüge zur Lebenswelt sich daraus er- geben, hat mich – gerade als rationalen Menschen – schon immer beein- druckt. Zum anderen eine Faszination an der filmischen Fiktion und der Frage, was sie aus dem schwer fassbaren, schillernden Motiv macht: Was geschieht, wenn sich zwei unterschiedlich gelagerte Irrealitäten – die der Fiktion und die des Traums – verbinden? Welche Aspekte des vielschich- tigen Phänomens macht sich der Film erzählerisch und dramaturgisch zu- nutze? Und wie geht das audiovisuelle Medium ästhetisch mit dem Traum um? Bevor ich näher auf die zentralen Fragestellungen dieser Studie ein- gehe, soll zunächst der Forschungsstand kurz dargelegt werden: Wie hat sich die Filmwissenschaft mit dem Traummotiv auseinandergesetzt? Im Gegensatz zur Literatur- und Kunstwissenschaft, in denen diverse syste- matische und übergreifende Darstellungen vorliegen,1 war das Interesse der Filmwissenschaftler für das Thema bis in die jüngste Zeit eher einsei- tig und punktuell ausgerichtet. Zu einem zentralen Untersuchungsgegen- stand wurde das Traummotiv meist nur im Rahmen der Analyse einzel- ner herausragender Filme oder des Werks eines Regisseurs.2 Die wenigen Monografien mit umfassenderer Perspektive vermögen methodologisch nur bedingt zu überzeugen: Bruce Kawins Mindscreen: Bergman, Godard, and First-Person Film (1978) führt schwer verständliche narratologische Ka- tegorien ein und definiert den filmischen mindscreen so vage und dispa- rat, dass er unfassbar bleibt. Die Kohärenz und Aussagekraft von Robert Eberweins Film and the Dream Screen: A Sleep and a Forgetting (1984) leidet maßgeblich darunter, dass das ganze Buch auf dem problematischen psy- choanalytischen Konzept des «dream screen» von Bertram Lewin (1946 und 1948) aufbaut. Und die vor einigen Jahren erschienene, in essayisti- 1 Zu nennen sind etwa Jürgen Struves Das Traummotiv im englischen Drama des XVII. Jahrhunderts (1913); Albert Béguins L’âme romantique et le rêve: Essai sur le romantisme allemand et la poésie française (1939); Jacques Bousquets Les thèmes du rêve dans la lit- térature romantique (1964); A. C. Spearings Medieval Dream-Poetry (1976); Michael R. Katz’ Dreams and the Unconscious in Nineteenth-Century Russian Fiction (1984); Kathryn L. Lynchs The High Medieval Dream Vision: Poetry, Philosophy, and Literary Form (1988); Jean-Daniel Golluts Conter les rêves: La narration de l’expérience onirique dans les oeuvres de la modernité (1993); Wilhelm Richard Bergers Der träumende Held: Untersuchungen zum Traum in der Literatur (2000); Christine Waldes Die Traumdarstellungen in der griechisch- römischen Dichtung (2001) oder Stefan Bogens Träumen und Erzählen: Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300 (2001). 2 Siehe z. B. der von Vlada Petrić herausgegebene Sammelband Film and Dreams: An Approach to Bergman (1981b); Haim Callevs The Stream of Consciousness in the Films of Alain Resnais (1997); Cynthia Ramseys The Problem of Dual Consciousness: The Structure of Dream and Reality in the Films of Luis Buñuel (1998) oder Thorsten Botz-Bornsteins Films and Dreams: Tarkovsky, Bergman, Sokurov, Kubrick, and Wong Kar-wai (2007). Einleitung 11 schem Stil verfasste Studie Dreams on Film: The Cinematic Struggle Between Art and Science (2003) der amerikanischen Journalistin Leslie Halpern setzt die analysierten Filme zwar ständig in Bezug zu psychologischen und psy- choanalytischen, jedoch kaum zu filmwissenschaftlichen Konzepten. Interessanter als die genannten Monografien erscheinen mir einzel- ne Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden, die aufgrund ihres be- schränkten Umfangs jedoch lediglich als Ausgangspunkt für weiterfüh- rende Überlegungen betrachtet werden können. Zu nennen sind insbeson- dere die Aufsätze von Antonio Costa und Silvia Capocchia in der Zeit- schrift Cinema&Cinema (1991, «Onirikon: Tutti i sogni del cinema»), von Hans J. Wulff und Peter Wuss in Träumungen: Traumerzählung in Film und Literatur (1998), von Jacqueline Nacache in Rêves: Cinéma/théâtre (2001) so- wie von Laura Rascaroli und Kristina Jaspers in Das Kino träumt: Projektion. Imagination. Vision (2009). Filmische Traumdarstellungen sind bisher vor allem deshalb nur verein- zelt oder am Rande behandelt worden, weil das Interesse der Filmtheore- tiker wie -kritiker von Anbeginn nicht in erster Linie auf konkrete Träume fiktionaler Figuren, sondern, wie das erste Kapitel dieser Studie zeigen wird, auf grundsätzliche Traumähnlichkeiten des Films und seiner Rezep- tion gerichtet waren: Nicht der Traum im Film, sondern der Film als Traum hat die Aufmerksamkeit fast vollständig auf sich gezogen. Die Liste ent- sprechender Publikationen ist lang, und die Vorstellung einer allgemeinen Verwandtschaft von Film und Traum hat auch diejenigen Autoren geprägt, die sich konkreten Traumsequenzen zugewandt haben.3 Wie aussagekräftig ist der Film/Traum-Vergleich? Eine genaue Ana- lyse der verschiedenen Analogien wie auch ihrer theoretischen Fundie- rung ergibt, wie ich in Kapitel 1.7 darlegen werde, ein eher ernüchterndes Bild: Oft werden sowohl die Filmwahrnehmung als auch das Traumerleb- nis von vornherein ungenau oder zumindest undifferenziert erfasst, so- dass der Vergleich zu Ergebnissen führt, die in ihrer Pauschalität fragwür- dig sind. Zudem werden Dysanalogien meist ausgeblendet und die Logik der Vergleichsbildung kaum reflektiert. Obwohl es im Bezug auf bestimm- te Phänomene, etwa die immersive Kraft vieler Spielfilme, durchaus Sinn machen kann, die Traumwahrnehmung als eine mögliche Vergleichsgröße beizuziehen, vermag die Analogie ein besseres Verständnis des Filmerleb- nisses nur sehr bedingt zu erzielen. Gleichzeitig scheint, wie ich in Kapitel 1.8 zeigen werde, die Domi- nanz der Film/Traum-Analogie die Beurteilung konkreter Traumdarstel- 3 So auch Kawin, Eberwein und Halpern. 12 Einleitung lungen negativ beeinflusst und zu einer Reduktion auf die Frage nach Ent- sprechungen mit tatsächlichen Träumen geführt zu haben. Dies ist mit ein Grund, weshalb ästhetische Wirkungen und dramaturgische Funktionen, die filmische Traumdarstellungen jenseits einer wie auch immer gearteten Entsprechung mit tatsächlichen Träumen entfalten können, bisher erst ver- einzelt untersucht wurden. Die kritische Aufarbeitung, genaue Analyse und weitgehende Relativierung der Aussagekraft der Film/Traum-Ana- logie dient nicht zuletzt dem Zweck, das Feld frei zu machen für eine äs- thetisch, narratologisch und genretheoretisch ausgerichtete Beschäftigung mit dem Filmtraum, die sich unter der Vorherrschaft des Analogiediskur- ses nur ansatzweise entwickeln konnte. Allein die Kritik an der oft problematischen Gleichsetzung von Film und Traum rechtfertigt das Gewicht, das dem ersten Kapitel dieser Arbeit zugemessen ist, jedoch nicht. In den historisch ausgerichteten Unterkapi- teln (1.1–1.6) steht denn auch nicht die analytische, sondern die theoriege- schichtliche Perspektive im Vordergrund. Auch wenn die Ausführungen zur Traumähnlichkeit den Film nur bedingt zu erhellen vermögen, über ihre Urheber und deren Auffassung von Traum und Kino sagen sie sehr wohl etwas aus. Und da es sich in den meisten Fällen weniger um Einzelstim- men als um Ansichten handelt, die große Verbreitung gefunden haben, ist die Analyse der Film/Traum-Analogie auch aus kultur- und ideenge- schichtlicher Perspektive sehr aufschlussreich. Für Autoren, die Film und Traum als Thema explizit in den Vordergrund rückten, spielten Traumsequenzen also lange Zeit gar keine oder eine nur untergeordnete Rolle. Sucht man in der klassischen Epoche der Filmtheo- rie (1920er- bis 1960er-Jahre) nach einer Beschäftigung mit Formen der Traumdarstellung, so wird man eher bei Autoren fündig, die das Thema nicht ins Zentrum ihrer Überlegungen stellten, aufgrund der umfassenden Ausrichtung ihres Theorieentwurfs aber dennoch darauf zu sprechen ka- men. So finden sich, wie das zweite Kapitel zeigen wird, in den Schriften so unterschiedlicher Filmtheoretiker wie Hugo Münsterberg (1916), Béla Balázs (1922–1945), Siegfried Kracauer (1960) oder Jean Mitry (1963/65) interessante Passagen zum Traum im Film. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen kreist dabei um Fragen der Gestaltung und Ästhetik, der Subjektivität und Subjektivierung sowie der Ausrichtung des Mediums im Spannungsfeld von Realismus und Fantastik. Wie brauchbar erscheint die Auseinandersetzung mit dem Traumphä- nomen in den erwähnten Theorien der klassischen Epoche aus heutiger Sicht? Zum einen kann man sagen, dass wichtige Punkte, die es bei der Analyse von Innenweltdarstellungen zu berücksichtigen gilt, bereits an- Einleitung 13 gesprochen werden. Dazu gehören Markierungsarten, das Abgrenzungs- und Einbettungsverhältnis zwischen Traumsequenz und diegetischem Kontext, die Gegenüberstellung unterschiedlicher Imaginationsformen, insbesondere des Traums und der Erinnerung, oder die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Formen der Subjektivierung. Die ent- sprechenden Ausführungen sind jedoch eher punktueller Natur und bil- den keine zusammenhängende, systematische Theorie. Der Hauptgrund, weshalb die Ansätze der klassischen Epoche heu- tigen Ansprüchen nicht genügen, liegt jedoch darin, dass sie zu sehr dem normativen Denken verhaftet sind, das die Filmtheorie bis in die 1960er- Jahre hinein geprägt hat. Im Vordergrund steht nicht das Bemühen, die Funktionsweise der Subjektivierung und Traumdarstellung möglichst präzise zu erfassen und die Bandbreite an Formen und Wirkungen zu er- örtern und in einen historischen Kontext zu stellen, sondern die Frage, ob es überhaupt dem Wesen des Mediums entspricht, Einblick ins Figurenin- nere zu gewähren; und wenn ja, welche Formen ästhetisch überzeugen und welche nicht. Ähnlich wie die Film/Traum-Analogien stellen also auch die Posi- tionen der klassischen Theoretiker lediglich eine Ausgangsbasis dar, die in einigen Punkten zwar als Grundlage für weiterführende Überlegungen dienen können, in anderen jedoch überwunden werden müssen. Und wie beim Analogiediskurs ist die ausführliche Darlegung der verschiedenen Standpunkte in dieser Studie dadurch begründet, dass die entsprechenden Kapitel nicht nur als Vorbereitung für eigene Überlegungen zum Traum im Film, sondern auch dem Zweck dienen, eine bisher wenig beachtete Seite des Nachdenkens über Film in der klassischen Epoche aus theoriege- schichtlicher Perspektive zu beleuchten. Dies ist auch der Grund, weshalb die Realismustheorie André Bazins mitberücksichtigt wird, obwohl er sich in seinen Schriften kaum zur Traumdarstellung äußert. Im entsprechen- den Kapitel geht es um eben die Frage, weshalb er diesen Aspekt nur am Rande berührt und was dies über seine Filmauffassung aussagt. Im Zentrum meiner eigenen Beschäftigung mit filmischen Traumdarstel- lungen, die auf die beiden theoriegeschichtlich ausgerichteten Kapitel folgt, stehen ästhetische, narratologische, fiktions- und genretheoretische sowie dramaturgische Fragestellungen. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Form, Ästhetik und dem fikti- onalen Status filmischer Traumsequenzen. Welche Arten der Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung gibt es, und mit welchen Wirkungen sind sie verbunden? Weshalb werden für sequenzimmanente Traumkenn- zeichnungen epochen-, genre- und länderübergreifend oft dieselben Ge- 14 Einleitung staltungsmittel verwendet? Liegt dies daran, dass es den entsprechenden Techniken gelingt, die Form tatsächlicher Träume überzeugend nachzuah- men, oder handelt es sich vielmehr um konventionelle Darstellungswei- sen, die beliebig austauschbar sind? Welche Art von Welt stellt das filmi- sche Traumuniversum dar, und in welcher Beziehung steht sie zur diege- tischen Realität? Ist es angebracht, von «möglichen Welten» im Sinn der Possible-Worlds-Theorien zu sprechen? Welche dramaturgischen Konstella- tionen und Wirkungen ermöglichen Traumsequenzen, die erst im Nachhi- nein und somit rückwirkend markiert sind? Und was geschieht, wenn die Erzählung im Bezug auf den Realitätsstatus einzelner Handlungen oder ganzer Sequenzen unklare oder gar widersprüchliche Signale aussendet? Am Ende des dritten Kapitels steht schließlich der Versuch, in der Fülle der Gestaltungsoptionen Tendenzen auszumachen, die sich in unter- schiedlichen Epochen oder Genres als dominante Traumästhetiken etab- liert haben. Dabei wird sich zeigen, dass die meisten Traumdarstellungen im Spannungsfeld von zwei gegensätzlichen Polen angesiedelt werden können: einer Ästhetik der Überfrachtung und Stilisierung, die die Dif- ferenz zum diegetischen Kontext betont, auf offenes Spektakel setzt und – mit Ed Tan (1996) gesprochen – «Artefakt-Emotionen» in den Vorder- grund rückt; und Erzählkonstellationen, die sich im Gegenteil den filmi- schen Realitätseffekt zunutze machen, um eindringliche dramaturgische Verwicklungen zu inszenieren, die uns in die Fiktion hineinziehen und ihren Traumcharakter oft erst im Nachhinein preisgeben. Das vierte Kapitel widmet sich narrativen Fragestellungen: Welche For- men narrativer Aneignung von Innenwelt stehen im filmischen Medium zur Verfügung? Stimmt die oft geäußerte Behauptung, die literarische sei der filmischen Narration bei der Darstellung subjektiver Innensicht überlegen? Wer erzählt die Träume fiktionaler Figuren? Die Träumenden selbst oder eine übergeordnete, unpersönliche Erzählinstanz? Ist es sinn- voll, von wahrnehmenden oder träumenden Figuren als Fokalisierungs- instanzen zu sprechen? Auf welcher Erzählebene sind Traumsequenzen anzusiedeln? Welche Rolle spielen Traum- und Innenweltdarstellungen bei der narrativen Perspektivierung? Wie ist ihre Wirkung im Vergleich zu anderen Subjektivierungsformen einzuschätzen, etwa der subjektiven Kamera oder indirekten Formen der Vermittlung innerer Zustände? Und wie vermag der Sprung in die Innenwelt die Zeitstruktur der Erzählung zu beeinflussen? Angesichts der Tatsache, dass sich die literatur- wie auch die film- wissenschaftliche Erzähltheorie jahrzehntelang intensiv mit Fragen der narrativen Instanzen, Ebenen, Perspektiven und Zeitstrukturen auseinan- Einleitung 15 dergesetzt haben, könnte man annehmen, diese Fragen seien bereits be- antwortet. Ein Blick in die vorhandenen Theorien offenbart jedoch, dass in etlichen der genannten Bereiche terminologischer Wildwuchs herrscht oder die propagierten Konzepte nicht in allen Punkten widerspruchsfrei und kohärent sind. Und vereinzelt wurden Fragestellungen durch die Fi- xierung auf bestimmte Erzählmuster regelrecht blockiert, so die Frage der Perspektivierung durch den Point-of-View-Shot. Um die aufgeworfenen Fragen schlüssig beantworten zu können, ist es deshalb – insbesondere hinsichtlich der Instanzen und Perspektiven der Erzählung – nötig, zu- nächst terminologische und konzeptuelle Klärungsarbeit zu leisten. Warum träumen wir? Und wie sind die Hirngespinste zu deuten, die uns nachts regelmäßig heimsuchen? Die Frage nach der Funktion und Bedeu- tung von Träumen steht seit jeher im Zentrum der Aufmerksamkeit und hat so unterschiedliche Disziplinen wie die Philosophie, Theologie, Psy- chologie oder Neurophysiologie über Jahrhunderte beschäftigt, sodass mittlerweile eine imposante Fülle an Erklärungsansätzen und Deutungs- systemen vorliegt. Während in den meisten vormodernen Gesellschaften, wie eingangs bereits erwähnt, die Vorstellung herrschte, dass Träume Bot- schaften überirdischer Mächte enthalten, sehen psychoanalytische Theo- rien den Traum als Hüter des Schlafs und Schauplatz innerer Konflikte (Freud) oder sprechen ihm im Verhältnis zur Wachrealität eine Kompen- sationsfunktion zu (Jung). Verschiedene Neurophysiologen gehen, wie Schredl in seiner Übersicht darlegt (1999: 135), davon aus, dass die Trau- maktivität für die Gehirnreifung, die Entwicklung der visuellen Wahrneh- mung oder die Stabilität des mentalen Systems wichtig sei (Dement 1974; Berger 1963; Bent 1990). Andere moderne Traumforscher (z. B. Wright/ Koulack 1987) betonen die adaptive Funktion, die dem Traum insofern zukomme, als er einen geschützten Rahmen biete, in dem Handlungen ausprobiert und Lösungen für Probleme des Wachlebens gesucht werden können. Die Liste der physiologischen und psychologischen Funktionen, die dem Traum zugeschrieben werden, ließe sich beliebig erweitern, ganz zu schweigen von den Anleitungen zu seiner inhaltlichen Deutung, die von Artemidors Oneirokritika aus dem 2. Jahrhundert über Freuds Traumdeu- tung (1900) bis hin zur neuesten Esoterikschrift ganze Bücherregale füllen. Trotz dieser erdrückenden Vielzahl an Theorien bleibt festzuhalten, dass die These der nachvollziehbaren Funktion und Sinnhaftigkeit des Träu- mens bis heute spekulativ geblieben ist und kontrovers diskutiert wird. So wurde der psychoanalytischen Interpretation immer wieder vorgeworfen, dass sie den Träumen Bedeutung nach vorgefassten Mustern aufoktroy- 16 Einleitung iere: «Der Analytiker aber bearbeitet den Traum und fügt ihm das hinzu, was ihm fehlt: Sinn. Dieser Prozess spiegelt sich nun aber im Bewusstsein der Analysanden und Analysierten so wider, dass die nachträglich hinzu- gefügte Bedeutung als das präsentiert wird, was dem Traum präexistier- te», moniert etwa Sabine Lenk (1983: 16). Gleichzeitig vertreten namhafte Neurophysiologen wie Ray Meddis (1977), Hobson/McCarley (1977) und Owen Flanagan (1996) die Auffassung, Träume seien lediglich phyloge- netische Überbleibsel, eine Anhäufung zufälliger Signale im Gehirn ohne nachvollziehbare psychologische Fundierung oder Epiphänomene ohne eigene Funktion. Schredl, der die Ergebnisse der psychologischen Traum- forschung in diesem Bereich zusammenfasst, stellt nüchtern fest: «Als Fa- zit dieses Kapitels und des Buches lässt sich sagen, dass […] letztendlich […] die Traumfunktion noch ein Buch mit sieben Siegeln» ist (1999: 138). Untersuchungsgegenstand dieser Studie ist jedoch nicht der reale, sondern der fiktionale Traum. Und genauso wie es bezüglich Form und Ästhetik zwischen tatsächlichen und filmisch konstruierten Träumen kein einfaches Abhängigkeitsverhältnis gibt (wie Kapitel 3.1 zeigen wird), so bestehen auch bezüglich Funktion und Bedeutung wesentliche Unter- schiede. Fiktionale Träume sind Elemente einer Erzählung, die absichts- voll gestaltet wurden, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Aus diesem Grund ist bei filmischen – wie auch literarischen – Träumen, wie wir im fünften Kapitel sehen werden, grundsätzlich davon auszugehen, dass sie eine narrative Funktion erfüllen und im Sinngefüge der Erzählung eine spezifische Rolle spielen. Fiktionale und reale Träume unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Bedeutsamkeit – die im einen Fall gegeben, im an- deren umstritten ist –, sondern auch bezüglich der konkreten Funktionen, die ihnen zugeschrieben werden. Zwar gibt es, wie wir sehen werden, im psychologischen und metaphysischen Bereich (Offenbarung innerer Kon- flikte, Vorausdeutung) eine beachtliche Schnittmenge, gleichzeitig sind jedoch etliche neurophysiologische Funktionen, die dem realen Traum nachgesagt werden – etwa die der Gehirnreifung – dramaturgisch uner- giebig; und umgekehrt kann der fiktionale Traum diverse erzählerische Funktionen übernehmen (Rezipientensteuerung, Spiegelung der Werk- struktur), die dem realen Traum nicht zukommen, da er lediglich Erfah- rungsgegenstand eines Individuums, nicht aber Teil einer Erzählung ist. Zwischen der Traumkonzeption einer bestimmten Epoche und der filmischen oder literarischen Verwendung des Traummotivs besteht ohne Zweifel ein Abhängigkeitsverhältnis, allerdings kein einfaches. Joachim Latacz’ Auffassung, wonach «Träume auf den Leser eines Literaturwerks nur [wirken können], wenn sie nachvollziehbar die Traum-Erfahrung und Einleitung 17 die Traum-Handhabung der vom Autor angezielten Rezipienten wider- spiegeln» (1992: 76), erscheint mir jedenfalls zu eng gefasst. So wird sich zeigen, dass fiktionale Werke des 20. Jahrhunderts auch nach der freudiani- schen Wende immer wieder – nicht zuletzt aus dramaturgischen Gründen – auf die vormoderne Traumauffassung der göttlichen Prophezeiung zu- rückgreifen, obwohl dies nicht mehr der dominanten Meinung entspricht. Gleichzeitig ist nicht einzusehen, wieso die Fiktion bei der Verwendung des Traummotivs nicht über dieselben Freiheiten verfügen sollte wie in allen anderen Bereichen. Im Kapitel 5.2.2 zur Entgrenzung des Traums im Science-Fiction- und Horrorfilm werden wir sehen, dass selbst Traumkon- zeptionen, die über reale Vorstellungen und Erfahrungen hinausgehen, dramaturgisch effektiv eingesetzt werden können. Im Vergleich zur Ästhetik und Markierung sind Fragen der narrativen und dramaturgischen Funktion der Traumdarstellung in der Filmtheorie bis- her erstaunlich selten behandelt worden – im Gegensatz zur Literaturwis- senschaft, die sich dem Thema schon früh und immer wieder zugewandt hat.4 Und die wenigen Versuche einer Systematisierung (Eberwein 1984: 53–90; Robards 1991: 115; Costa 1991: 11–12; Borgomano 1997: 28; Gross 1998: 141) überzeugen, wie Kapitel 5.1 zeigen wird, nur teilweise. Ich wer- de deshalb eine neue Kategorisierung vorschlagen, die die folgenden acht narrativen Funktionen umfasst: Charakterisierung der träumenden Figur, symbolische Konfliktdarstellung, Verrätselung und Enthüllung, Verunsi- cherung, Antizipation und Prophezeiung, Entrückung in eine andere Welt, Evokation von Atmosphäre sowie Parodie und Selbstreflexion. Da sich die verschiedenen Filmgenres nicht nur hinsichtlich ihrer «Traumdichte», sondern auch ihrer Traumverwendung unterscheiden, lässt sich die Frage der Funktion nicht unabhängig von der Genrefrage beantworten. Deshalb werden die narratologischen und dramaturgischen Fragestellungen im fünften Kapitel verschiedentlich um genretheoretische Erörterungen ergänzt, insbesondere im Kapitel 5.2, wo es um den Sonder- fall der Traumentgrenzung gehen wird, der fast ausschließlich im neueren Horror- und Science-Fiction-Film zu beobachten ist. Überlegungen zum Traum als Element der dramatischen Struktur zie- hen sich ebenfalls quer durchs fünfte Kapitel und werden in 5.3 schließlich gebündelt, wenn folgende Fragen ins Zentrum rücken: Sind Träume le- diglich loser Zusatz oder systemischer Bestandteil der Erzählstruktur? An welchen Stellen im Erzählverlauf sind sie häufig platziert und mit welchem Effekt? Und: Wie sind die Traumsequenzen selbst dramaturgisch gebaut? 4 Zum Beispiel Struve 1913, Stearns 1927 und Bächli 1954. 18 Einleitung Im Ausblick schließlich werden Möglichkeiten einer stärker filmhistorisch ausgerichteten Beschäftigung mit dem Traummotiv skizziert. In einzelnen Kapiteln kommt diese Dimension bereits vorher ins Spiel, etwa bei Über- legungen zu seiner Ästhetik, narrativen Funktion oder Genreverortung. Durch das Bereitstellen analytischer Kategorien und Systematisierungen (etwa im Bereich der Markierung und narrativen Funktion) sowie durch Klärung und Differenzierung erzähltheoretischer Konzepte (etwa im Be- reich der Erzählperspektive) stellt die vorliegende Studie jedoch eher Grundlagen zur Verfügung, auf deren Basis filmhistorische Untersuchun- gen in Angriff genommen werden können. Die skizzenhaften Ausfüh- rungen im Ausblick sind denn auch explizit als Einladung dazu gedacht und regen an, die Geschichte der filmischen Traumform unter anderem im Spannungsfeld von Narration versus Attraktion, von psychologischer versus apsychologischer Figurenkonzeption und von klassischen versus modernen Erzählstilen zu schreiben. Ich schließe an diese Auslegeordnung drei kurze Bemerkungen an zum Filmkorpus, zur Eingrenzung des Studienobjekts und zum Aufbau der Arbeit: Wie breit abgestützt sind die Analysen der vorliegenden Studie? Das Korpus, mit dem ich gearbeitet habe, umfasst ungefähr 800 Filme, also etwa dreimal so viele wie in der Arbeit und im Filmindex Erwähnung fin- den.5 Bei allem Bemühen um eine möglichst solide Datenbasis möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass mein Vorgehen im Gegensatz etwa zu dem- jenigen von David Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thompson in The Classical Hollywood Cinema (1996 [1985]) nicht darin bestand, ein «unbiased sample» (vgl. 388–396) zusammenzustellen, das nach überprüfbar neutra- len oder zufälligen Kriterien ausgewählt wurde. Zudem muss einschrän- kend festgehalten werden, dass das Korpus zwar Filme aus allen Epochen und Genres, jedoch nur vereinzelt Beispiele aus nicht-westlichen Ländern beinhaltet. Der Aspekt der geografisch-kulturellen Differenz stellt somit – neben demjenigen der filmhistorischen Ausdifferenzierung – eine weitere 5 Bei der Suche nach Filmen mit Traumsequenzen kam mir sehr entgegen, dass das Schlagwort «Traum» in der Videothek des Seminars für Filmwissenschaft der Univer- sität Zürich von Christine N. Brinckmann früh etabliert worden war und die entspre- chenden Titel in der Zwischenzeit auf über 400 angewachsen sind. Des Weiteren war ich bestrebt, die in der konsultierten Literatur beschriebenen Filme zu beschaffen. Als dritte ergiebige Quelle hat sich die International Movie Database (www.imdb.com) erwiesen, deren Verschlagwortung zwar nicht sehr systematisch, aber bei intelligen- ter Nutzung doch hilfreich ist. Und schließlich haben mein eigener reger Kinobesuch und ein Netzwerk an Informanten weitere Hinweise auf Filme geliefert, die im Korpus nicht fehlen durften. Einleitung 19 Dimension dar, die in dieser Studie nur am Rand zum Zuge kommen wird und nach weitergehenden Untersuchungen verlangt.6 Was das Verhältnis des Traumphänomens zu anderen Imaginations- formen betrifft, so wird es weder möglich noch erwünscht sein, eine ra- dikale Abgrenzung vorzunehmen. Eine Differenzierung zwischen Traum, Tagtraum, Vision, Halluzination und subjektiver Erinnerung ist wichtig und soll wo immer nötig geleistet werden. Die erwähnten Vorstellungsin- halte erscheinen aber, gerade wenn man die Ästhetik und Funktion ihrer filmischen Darstellung betrachtet, oft eher als Einheit denn als disparate Phänomene, die sich auch bei narratologischen Fragestellungen gut unter dem Begriff der «figuralen Innenwelt» zusammenfassen lassen. Zum Aufbau der Arbeit sei angemerkt, dass die Abfolge der Kapitel zwar einer bestimmten Logik gehorcht: Auf die Beschäftigung mit Traum und Film (1. Kapitel) folgt die Beschäftigung mit Traum im Film (Kapitel 2–5); auf Theoriegeschichte (1 und 2) folgen Theorie und Analyse (3–5); auf ästhetisch-formale Fragestellungen (3) folgen narratologische (4–5) und genretheoretische (5); trotzdem sind die einzelnen Kapitel auch unabhän- gig voneinander lesbar. Wer sich also mehr für Theorie als für Theoriege- schichte interessiert, braucht von den ersten beiden Kapiteln nur 1.7 und 1.8 zu lesen, um von dort direkt zum dritten Kapitel überzugehen. Wer pri- mär an narratologischen Fragestellungen interessiert ist, kann direkt im 4. Kapitel einsteigen, und wer sich ausschließlich über narrative Funktionen des Filmtraums kundig machen will, kann nur Kapitel 5.1 lesen. Abschließend sei die dreifache Zielsetzung dieser Studie nochmals zu- sammengefasst: Erstens will sie bestehende Theorien rund um die The- menkomplexe Traum und Film und Traum im Film kritisch analysieren. Zweitens soll die systematische Aufarbeitung dieser Konzepte eine dis- kursanalytische und theoriegeschichtliche Perspektive eröffnen. Und drit- tens geht es darum, eigene Vorschläge zu präsentieren, die es erlauben, den Filmtraum aus ästhetischer, narratologischer, dramaturgischer und genretheoretischer Perspektive besser zu verstehen. Ich hoffe, damit dem schillernden Phänomen der «Traumbühne Kino» gerecht zu werden, auf dass ihr Spektakel an Reiz und Faszination noch gewinnen möge. 6 Filmographische Informationen werden nach folgendem Prinzip angegeben: Bei der Erstnennung in jedem Kapitel sind Land, Erstaufführungsjahr und Originaltitel ange- geben. In der Folge wird bei englischen, französischen, spanischen und italienischen Produktionen nur noch der Originaltitel genannt, bei allen anderen fremdsprachigen Filmen der deutsche Verleihtitel. Im Filmindex am Buchende werden die Informatio- nen durch Regieangaben ergänzt. 1 Dream-Screen? Die Film/Traum-Analogie im theoriegeschicht- lichen Kontext Unternimmt man einen Streifzug durch die Filmtheorie auf der Suche nach Analysekonzepten zur Traumdarstellung, so begegnet man auf Schritt und Tritt der Behauptung, der Film an sich sei schon traumhaft.1 Der Traum wurde schon so oft als Vergleichspunkt oder Metapher für das Kinoerlebnis beigezogen, dass man ihn als einen der Schlüsselbegrif- fe der Filmtheorie bezeichnen kann.2 Umso erstaunlicher ist es, dass die Film/Traum-Analogie in theoriegeschichtlichen Untersuchungen bisher nur punktuell behandelt wurde. Zwar wird in Darstellungen einzelner Theoriebewegungen oder Denkschulen bisweilen auch deren Auffassung von Traum und Film reflektiert, so etwa in Alain und Odette Virmaux’ Studie zum Filmverständnis der Surrealisten (1988 [1976]: 22–30), in Ed- ward Lowrys Untersuchung der französischen Filmologiebewegung (1985 [1982]: 125–136) oder in Charles F. Altmans oder Mechthild Zeuls Betrach- tungen psychoanalytischer Schriften zum Kino (Altman 1985 [1977]; Zeul 1994b: 978–985). Wegen ihrer Fokussierung auf einzelne Epochen oder Theorieströmungen bleibt die Perspektive dieser Monografien jedoch ein- geschränkt. Versuche, einen Überblick zu liefern, gibt es nur wenige, und sie vermögen selten zu überzeugen. Vlada Petrićs «Film and Dreams: A Theoretical-Historical Survey» (1981a) zum Beispiel löst das im Titel gegebene Versprechen nicht wirklich ein. Petrić geht nur zu Beginn seines 43-seitigen Aufsatzes auf verschiede- ne Autoren ein, die Film und Traum vergleichen, liefert dabei aber nicht viel mehr als eine Anhäufung von Zitaten, die zudem in wichtigen Aspek- ten unkommentiert bleiben.3 Ihm geht es vielmehr darum, einerseits Argu- 1 Dieses Kapitel ist in gekürzter Form bereits erschienen (Brütsch 2009a; in englischer Übersetzung: Brütsch 2009b). 2 Der Film ist nicht die einzige Kunstform, die mit dem Traum in Verbindung gebracht wurde. Traumdeuter, Dichter und Philosophen – etwa Artemidor, Friedrich Hebbel, Friedrich Nietzsche oder Hermann Hesse und natürlich die Romantiker (Jean Paul, Novalis) – haben in verschiedenen Epochen Poesie und Traum gleichgesetzt. Vgl. Schmidt-Hannisa 1998: 214–215; Berger 2000: 35–37; Pierrot 1972: 30–31; Paliyenko 1995: 173–198; Walde 2001: 459. 3 Erstaunlich ist auch, dass er mit keinem Wort auf die Theorien von Christian Metz und Jean-Louis Baudry eingeht, obwohl ihre einschlägigen Texte damals bereits in engli- scher Übersetzung erschienen waren (Metz 1975; Baudry 1976). 22 1 Dream-Screen? mente für seine eigene Variante der Film/Traum-Analogie vorzubringen, die Übereinstimmungen von Film- und Traumwahrnehmung im neuro- physiologischen Bereich postuliert, und andererseits die Behauptung zu untermauern, dass diese Verwandtschaft erst in den 1960er-Jahren durch Buñuel, Resnais, Fellini und Bergman filmisch fruchtbar geworden sei. Petrićs Ausführungen kranken nicht zuletzt daran, dass sie Überlegungen zum Film/Traum-Vergleich mit normativen Forderungen zur Ästhetik der filmischen Traumdarstellung verknüpfen, ohne dass plausibel würde, wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt. Auch Frank Manchel, der in seiner Analytical Bibliography (1990: 577– 603) auf ein gutes Dutzend Autoren eingeht, die Film und Traum mitei- nander in Beziehung setzen, gelingt es nicht, Ordnung im Dickicht der Theorien zu schaffen. Für Konfusion sorgt schon die Tatsache, dass sei- ne Ausführungen unter der Überschrift «Stereotyping in Film» und dem Unterkapitel «Psychoanalysis and Film» figurieren, obwohl er mehrere Texte behandelt, die sich weder mit Stereotypenbildung befassen noch einen psychoanalytischen Ansatz vertreten. Vor allem aber irritiert, dass Manchel Zitate und eigene Kommentare bruchlos aneinanderreiht, ohne ausreichend zu reflektieren, dass sich viele von ihnen, auch wenn sie im weitesten Sinn etwas mit Traum und Film zu tun haben, auf ganz unter- schiedliche Fragestellungen beziehen und somit völlig disparate Aspekte des Themenkomplexes beleuchten. Erst Irmela Schneider geht in ihrem Aufsatz «Filmwahrnehmung und Traum» (1998) wirklich analytisch vor, indem sie sowohl nach der je- weiligen Bezugsebene als auch der Auffassung von Traum fragt, die den verschiedenen Analogiediskursen zugrunde liegen. Somit ist sie – im Ge- gensatz zu Petrić und Manchel – in der Lage, die verschiedenen Positionen sinnvoll in Beziehung zu setzen und voneinander abzugrenzen. Leider be- schränkt sich die Untersuchung, wie sie selber betont, auf einige wichtige Ansätze. So bleiben zum Beispiel die Studien im Umfeld der französischen Filmologen, der neurophysiologische Standpunkt oder die meisten der auf Bertram Lewins «dream screen» rekurrierenden Theorien unberücksich- tigt. Trotz dieser Lücken bildet Schneiders «theoriegeschichtlicher Streif- zug» eine geeignete Ausgangsbasis für eine umfassendere Analyse der Film/Traum-Analogien. Ebenfalls hilfreich ist Laura Rascarolis Aufsatz «Like a Dream: A Critical History of the Oneiric Metaphor in Film Theo- ry» (2002), auch wenn sie fast ausschließlich auf den psychoanalytischen Standpunkt fokussiert. Mehr als das Defizit in der theoriegeschichtlichen Aufarbeitung über- rascht allerdings, dass lange Zeit weder der Erklärungswert der Analogie noch die zahlreichen Thesen, die den Analogiebehauptungen zugrunde 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums 23 liegen, hinterfragt wurden, und zwar auch dann nicht, wenn sie äußerst spekulativen Charakter annahmen oder miteinander unvereinbar waren. Zwar hat Altman bereits 1977 in diesem Zusammenhang auf die Tücken des reasoning by analogy hingewiesen (1985 [1977]: 528–531). Grundsätzlich beanstandet hat die Analogie allerdings erst Noël Carroll. Er stellte einer- seits im Zuge seiner Fundamentalkritik an den Grundsätzen der psycho- analytischen Filmtheorie die Validität verschiedener von Christian Metz und Jean-Louis Baudry vorgebrachter Vergleichspunkte radikal in Frage und zog andererseits in seiner Analyse von Hugo Münsterbergs The Photo- play die Legitimität und Aussagekraft von Analogien zwischen filmischen Phänomenen und mentalen Prozessen prinzipiell in Zweifel (Carroll 1988: 9–52 und 1996: 293–304). Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Film/Traum-Analogien theorie- historisch situieren und gleichzeitig der Frage nachgehen, welche Aspekte von Traum und Film als analog betrachtet und welche Vergleichspunkte dabei am häufigsten vorgebracht werden. Besonderes Augenmerk wird auf den ideengeschichtlichen Kontext und die Traumtheorien gerichtet sein, die den Vergleichen zugrunde liegen. Danach werde ich die Aussage- kraft der Analogie kritisch beleuchten und auf Carrolls Fundamentalkritik näher eingehen. Und schließlich stellt sich die Frage, wie die verschiede- nen Analogiediskurse mit der Tatsache umgehen, dass der Film, abgese- hen davon, dass er möglicherweise als «Ganzes» – in seiner Erscheinungs- weise, als Wahrnehmungsmodalität oder Erlebnisform – wie ein Traum wirkt, auch konkrete Träume darstellen kann. 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums Eigenheiten von Film oder Kino mit Verweis auf das Traumerlebnis zu erklären ist eine Argumentationsstrategie, die beinahe so alt ist wie der Diskurs über Film überhaupt. Allein im deutschen Sprachraum erscheinen ab den frühen 1910er-Jahren, also noch in der Frühzeit der Filmpublizistik, mehrere Artikel und Essays, die entsprechende Analogien herstellen.4 So schreibt etwa der Schriftsteller Theodor Heinrich Mayer in seinem 1912 publizierten Essay «Lebende Photographien», dass sich «so viele Berüh- rungspunkte mit Traumerscheinungen nachweisen [lassen], dass das Traumgefühl als im Prinzip des Kinematographen liegend angenommen 4 Schriften aus der Frühzeit der deutschen Filmpublizistik sind u. a. in folgenden kom- mentierten Anthologien erschienen: Kaes 1978, Güttinger 1984 und Schweinitz 1992. Zur frühen deutschen Filmkritik und ihren Organen siehe Diederichs 1986. 24 1 Dream-Screen? werden muss». Im Zusammenhang mit der stetigen Bewegung der Bilder spricht er von einer «traumhafte[n] Wirkung, die im Grunde jedem Kine- matographen anhaftet» (Mayer 1984 [1912]: 120). Zwar steht der Vergleich mit dem Traum zu dieser Zeit noch nicht im Vordergrund – weshalb er auch im Titel keinen Niederschlag findet –, er wird jedoch an verschie- denen Stellen dazu benutzt, einzelne Facetten des Kinos zu erhellen. Erst Hugo von Hofmannsthal rückt in seinem einflussreichen Aufsatz «Der Er- satz für die Träume» aus dem Jahr 1921 die Analogie ins Zentrum seiner Überlegungen (Hofmannsthal 1984 [1921]). Wie ist der Rekurs auf den Traum bei diesen Autoren motiviert? Und wie lassen sich die Beiträge im Zusammenhang der damaligen Kinodebat- te situieren? Ein Merkmal des neuen Mediums, das in den ersten Dekaden weithin für Irritationen sorgte, war die häufig beobachtete Tatsache, dass der Film einen stärkeren Realitätseindruck zu vermitteln imstande ist als jede Theateraufführung – und dies, obwohl lediglich Licht und Schatten auf eine weiße Leinwand fallen, während auf der Bühne Menschen aus Fleisch und Blut auftreten. Mit dieser Beobachtung verbunden war nicht selten eine große Faszination für die Technik der filmischen Reproduktion und insbesondere das Dispositiv der Kinoprojektion. So schreibt Alfred Polgar: Da ist, im dunklen Saal, eine weiße Leinwand oder ein Stück eingerahm- ter, glatt getünchter Mauer. Und aus einer mystischen, unsichtbar regierten Lichtquelle quillt, unter bescheidenem Geräusch, eine Fülle von Lebendig- keit auf diese Leinwand. […] Wenn es aber wieder hell im Saal, so sieht man, dass all dieses graue oder kolorierte Leben nicht die geringste Spur auf der Leinwand zurückgelassen hat. Rührend weiß, ganz und gar unberührt er- scheint sie nach wie vor. (Polgar 1984 [1911]: 57) Und Georg Lukács, der im Fehlen der physischen Präsenz der Schauspie- ler das wesentliche Kennzeichen des Kinos sah, spricht davon, dass Filme nur Bewegungen und Taten von Menschen sind, aber keine Menschen. […] Dadurch werden die unheimlich lebensechten, nicht nur in ihrer Technik, sondern auch in ihrer Wirkung der Natur wesensgleichen Bilder des «Kino» keinesfalls weniger organisch und lebendig, wie die der Bühne, sie erhalten nur ein Leben von völlig anderer Art; sie werden – mit einem Wort – phan- tastisch. (Lukács 1992 [1911]: 301–302) Das erstaunliche Maß an «Lebensechtheit», das die bewegten Bilder – obwohl stumm und oft farblos – hervorzurufen vermochten, war eine neuartige Erfahrung, die etwas Magisches an sich hatte. Polgar war der Auffassung, der starke Wirklichkeitscharakter des visuellen Eindrucks sei 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums 25 imstande, unsere Fantasie anzuregen und weitere Sinne in Schwingung zu versetzen. Die Analogie zum Traum liegt für ihn in der daraus resultieren- den Wahrnehmungsqualität, die die Realitätswahrnehmung an Fülle und Reinheit übertrifft: Die Wiese im Kinematographentheater duftet besser als die auf der Bühne, weil ja der Kinematograph eine wirkliche, echte Wiese zeigt, der ich den Duft ohneweiteres zutraue und ihn nun so vollkommen, als die durch nichts ge- störte Phantasie sich ihn erträumt, meiner Nase suggeriere. Sie duftet aber auch besser als die natürliche, lebende Wiese, weil diese niemals so lieblich und unvermischt Extrakt duften kann [sic] wie meine blühende Wiese, die ist und doch nicht ist. … Nur im Traum und im Kinematographen gibt es eine Wirklichkeit ohne Schlacken. (Polgar 1984 [1911]: 59–60)5 Der scheinbare Widerspruch zwischen überwältigendem Realitätsein- druck und fehlender materieller Wahrnehmungsgrundlage führt auch Mayer dazu, Überlegungen zur Filmrezeption anzustellen. Für ihn steht jedoch die komplexe Wechselbeziehung von Präsenz und Absenz, tatsäch- lichen Sinneseindrücken und inneren Vorstellungen, realer Wahrnehmung und Illusion im Zentrum, die zu einem – vorsichtig formulierten – Ver- gleich nicht mit dem Nacht-, sondern dem Tagtraum führt. In verschiede- ner Hinsicht sind somit Problemstellungen antizipiert, die Christian Metz (1993b [1975]) über 60 Jahre später beschäftigen werden: Wir setzen also etwas nicht Bestehendes für bestehend, um bei etwas wirk- lich Geschautem, von dem wir wissen, dass es nicht lebt […], die Illusion des Lebens zu erwecken. Wir sehen das Bild als solches wirklich, das «Le- ben» aber nur als Bewegung. […] Tatsächlich Vorhandenes und Unwirkliches verbinden sich hier zu einem eigentümlichen Komplex, für den es keinen bezeichnenden Namen gibt, der aber einem ganz leisen Hinträumen mit of- fenen Augen noch am nächsten kommt. (Mayer 1984 [1912]: 120–121) An diesem Zitat lässt sich bereits eine Funktion der Film/Traum- oder Film/Tagtraum-Vergleiche ablesen: Sie dienen dazu, eigentümliche, fas- zinierende und gleichzeitig schwer erklärbare Phänomene annäherungs- weise zu fassen, indem sie mit etwas in Beziehung gesetzt werden, das 5 «Mystische Lichtquellen», «befreite Fantasie», «Wirklichkeit ohne Schlacken»: Mög- licherweise klingen bei Polgar noch Vorstellungen der Romantik nach, für die der Traum als mystische Erfahrung, Befreiung des Geistes und Tor zur unverfälschten Na- tur eine zentrale Rolle spielte. Mit der Annahme, die Filmwahrnehmung gleiche der Traumwahrnehmung, insofern als beide gegenüber der Realitätswahrnehmung einen «Qualitätsüberschuss» aufweisen, ist hier andererseits bereits das Konzept des «plus- que-réel» angedeutet, das Baudry in den 1970er-Jahren als ein zentrales Element seiner Film/Traum-Analogie entwickeln wird (Baudry 1975, siehe Kapitel 1.4). 26 1 Dream-Screen? zum eigenen Erfahrungsschatz gehört. Gerade in der Frühzeit des Kinos bot sich diese Vorgehensweise an, denn nicht nur waren die mit der Film- wahrnehmung verbundenen Erfahrungen und Wirkungen noch neu und ungewohnt, sondern es hatten sich auch viele – gerade unter den Gebil- deten und Intellektuellen, die am ehesten als Adressaten des Diskurses impliziert waren – noch nie herabgelassen, ein Kino zu besuchen.6 In den meisten Fällen ist diese Absicht allerdings nicht so explizit ausformuliert wie bei Mayer, der davon ausgeht, dass es keine Bezeichnung für die von ihm beschriebenen Eigenheiten gibt und dass der Vergleich mit dem Tag- traum als behelfsmäßige Verständnishilfe aufzufassen ist. Weitere «Berührungspunkte mit Traumerscheinungen» sieht Mayer auf der physiologischen Ebene: Die Filmprojektion verursache wegen der ständigen Bewegung und des Flimmerns der Bilder «ein leises Verträu- men». Und auch die Programmstruktur – damals noch eine Abfolge von Kurzfilmen – rufe einen «leichte[n] Traumzustand» hervor (Mayer 1984 [1912: 120–121). Das Augenmerk liegt hier auf der Wirkung des visuellen Reizangebotes, das ständig wechselt, gleichzeitig aber stark repetitiven Charakter aufweist. Dadurch gewinnt es für Mayer hypnotischen Einfluss, der die Zuschauer in eine Art Trance versetzt. Mayers Äußerungen führen vor Augen, dass auf der Filmwirkung basierende Traumanalogien immer auch im Kontext der historisch sich ändernden Rezeptionsbedingungen zu betrachten sind. So war in den An- fangsjahren das Flimmern der Bilder tatsächlich ein technisch noch unbe- wältigtes Problem, das Auswirkungen auf die Wahrnehmung hatte. Und der Hinweis auf die Reihung von Kurzfilmen im Programm bezieht sich ebenfalls auf ein epochenspezifisches Phänomen. Auch Friedrich Kaysslers Analogie spiegelt historische Gegebenhei- ten des Kinoangebots, des Zuschauerverhaltens wie auch der Filmform: Es gibt sicherlich wenig Menschen, für die der Traum keinen Reiz hat. Und die Beliebtheit des Traumes hängt sicherlich stark mit der Mühelosigkeit des Genusses zusammen. Man braucht sich nur der Müdigkeit hinzugeben und genießt Träume. Ganz allmählich, wie wir aus dem Lärmen und Jagen des wachen Lebens in das Dunkel des Schlummers gleiten, um Träume zu suchen 6 Für Carroll (1996: 302–303) ist es gerade die Tatsache, dass wir viel mehr über die Funk- tionsweise und Wirkung von Filmen als von Träumen wissen, die den Erklärungswert von Film/Traum-Analogien radikal in Frage stellt. Auch wenn man dieser Argumenta- tion grundsätzlich zustimmt, muss man anerkennen, dass – zumindest in der Frühzeit des Kinos – der Film das neuartige und ungewohnte Phänomen war, während der Traum, auch wenn er wissenschaftlich noch weniger erforscht war als heute, als geeig- nete Referenzgröße erschien, da er allen durch persönliche Erfahrung vertraut war. Ich werde im Kapitel 1.7 näher auf diesen Zusammenhang eingehen. 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums 27 und zu finden, so taucht der Passant mitten aus dem Straßengewirr unter in das Dunkel einer Filmvorstellung und gibt sich den Bildern hin, die ihm dort geboten werden. Die geheimnisvolle Lautlosigkeit der sich abrollenden Geschehnisse, begleitet von einer meist unsichtbaren Musik, verstärken den Eindruck des Traumhaften. In dieser Ähnlichkeit liegt für mein Gefühl ein wesentlicher Teil des allgemeinen Zaubers, den der Film als solcher auf die Menschen ausströmt […]. (Kayssler 1984 [1925]: 502) Die Leichtigkeit und Unmittelbarkeit des Zugangs als gemeinsamer Reiz, das mühelose Abgleiten in traumerfüllten Schlaf als Metapher fürs Ein- tauchen aus geschäftigem Alltag direkt in die Filmvorführung: Kaysslers Parallele wird erst richtig nachvollziehbar, wenn man sie vor dem Hinter- grund des in den 1910er- und 1920er-Jahren verbreiteten Zuschauerverhal- tens betrachtet, das den Kinobesuch als schnelles Vergnügen sah, das man sich – oft spontan beim Einkaufen oder zwischen zwei Geschäftsgängen – in einem der zahlreichen und durchgehend Einlass gewährenden «Kin- tops» genehmigte.7 Im Gegensatz zur Originalität des ersten Vergleichspunkts ist Kayss- ler mit dem zweiten – der «Lautlosigkeit der Bilder» – unter den Autoren der Stummfilmzeit in guter Gesellschaft. Einige formulieren die Analogie allerdings noch stärker, so etwa Hofmannsthal, der schreibt: «Dass diese Bilder stumm sind, ist ein Reiz mehr; sie sind stumm wie Träume» (1984 [1921]: 447). Abgesehen davon, dass die Behauptung, Träume seien stumm, in dieser absoluten Form nicht stimmt,8 zeigt sich hier ein typischer Mecha- nismus des Film/Traum-Vergleichs, der schon bei diesen frühen Autoren wirksam wird. Er besteht darin, dass infolge der Grundannahme, Film und Traum seien analoge Phänomene, Eigenschaften des besser zugänglichen und genauer beschreibbaren Films auf den schwer fassbaren und kaum re- flektierten Traum projiziert werden. Anders kann man es sich nicht erklä- ren, dass nach der Einführung des Tonfilms die angebliche Stummheit der Träume und nach Ausbreitung des Farbfilms die «bekanntlich ganz außer- ordentlich geringe Farbenintensität der Traumvorstellungen» (Mayer 1984 [1912]: 121) nicht mehr als analoge Eigenschaften ins Feld geführt werden.9 7 Michael Quinn (2001: 41–43) hat für die 1910er-Jahre den Begriff der «transient au- dience» geprägt, der das damals – zumindest in den Städten – übliche «Mal Rein schau- en»-Verhalten treffend kennzeichnet. 8 Empirische Untersuchungen, bei denen Traumberichte nach den verschiedenen Sinnes- wahrnehmungen aufgeschlüsselt werden, kommen übereinstimmend zum Schluss, dass das visuelle Element im Normalfall zwar dominiert, in etwa zwei Dritteln der Träume jedoch auch akustische Wahrnehmungen stattfinden. Vgl. Strauch/Meier 1992: 79–84. 9 Strauch und Meier haben in einer Versuchsreihe verschiedene Probanden ihre visuel- len Eindrücke in Nachbefragungen genauer beschreiben lassen. Dabei war der Bericht von intensiven Farbwahrnehmungen keine Seltenheit (1992: 82). 28 1 Dream-Screen? Die frühe Filmpublizistik setzte sich in erster Linie mit dem Kino als kultureller Institution und neuer Erlebnisform auseinander.10 Es ist daher kein Zufall, dass die bisher ermittelten Vergleichspunkte allesamt auf die Rezeptionssituation, die Wahrnehmungsqualität oder das Reizangebot des neuen Mediums Bezug nehmen. Einige der hier besprochenen, frühen deutschsprachigen Autoren sehen jedoch auch Parallelen auf der Ebene der Gestaltung von Film- und Traumwelt. Für Polgar sind beide dadurch charakterisiert, dass «die Naturgesetze aufgehoben, die Schwerkraft erlo- schen, das Dasein ohne Bedingtheit» ist (1984 [1911]: 60). Mayer sieht eine Analogie im «lückenlos aufeinanderfolgenden, allerdings unmotivierten Wechsel der Szenerie» (1984 [1912]: 121). Und auch Lukács (1992 [1911]: 302–303) setzt die filmische Welt mit der des Traums gleich, da in ihr die Ordnung der Realität – physikalische Gesetze, Kausalität der Ereignisse, Einheit von Raum und Zeit – außer Kraft gesetzt seien. Zudem weist er ex- plizit darauf hin, dass die Befreiung von den Bedingungen unserer Wirk- lichkeit nicht zuletzt durch das technische Potenzial des Mediums begüns- tigt wird: Neben den Wirkungen der Montage erwähnt er die Möglichkeit, Ereignisse rückwärts laufen zu lassen, und beschreibt schließlich eine Sze- ne aus Dream of a Rarebit Fiend (USA 1906), in der mit Hilfe verschie- dener Tricktechniken Gegenstände animiert werden und ein Mann im Bett durch die Luft fliegt.11 Im Film entsteht demnach eine Welt, die durch ihre Fantastik mit der des Märchens und des Traums vergleichbar ist.12 «Ein naheliegendes und verbreitetes Gesprächsthema ist die Frage, worin im Grunde das Anziehende einer Filmvorstellung beruht» (Kayssler 1984 [1925]: 502). «Was die Leute im Kino suchen, […] was alle die arbeitenden Leute im Kino suchen, ist der Ersatz für die Träume» (Hofmannsthal 1984 [1921]: 446). Analogien im Bereich der psychischen Funktion von Film und Traum, die in Kaysslers Ausgangsfrage angelegt und in Hofmannsthals Eröffnungssatz gleich ins Zentrum der Überlegungen gestellt werden, sind ein letzter Punkt, den es im Zusammenhang der hier untersuchten 10 Vgl. Schweinitz 1992: 9–10. 11 Lukács macht keine Angabe darüber, aus welchem Film die von ihm beschriebene Szene stammt. Aufgrund seiner Beschreibung wird jedoch klar, dass es sich um den genannten Titel handeln muss. 12 In der Vorstellung vom Kino als einem Medium, wo Grenzen und Gesetze der Wirk- lichkeit ihre Gültigkeit verlieren, machen sich – zumindest bei Lukács – neoromanti- sche Auffassungen bemerkbar. Er ist denn auch der Ansicht, dass sich im Kino «al- les realisieren [könne], was die Romantik vom Theater – vergebens – erhoffte» (1992 [1911]: 303). Irmela Schneider (1998: 26) weist darauf hin, dass Lukács zu einer Gruppe von Theoretikern gehörte, «die in einer neoromantischen Konzeption des phantasti- schen Films eine Lösung für das Problem sahen, wie man den Film als eine neue Kunst begründen könne». 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums 29 frühen Schriften zu erörtern gilt. Für Kayssler liegt in der Tatsache, dass wir genauso leicht und gerne ins Dunkel eines Kinos eintauchen und uns den Bildern hingeben wie wir in Träume versinken, «etwas Entscheiden- des, und zugleich die Brücke zu einem Gebiet des Reizes von schon höhe- rer Art, den die Gröberen wie die Feineren teils bewusst, teils unbewusst als etwas eigenartig Anziehendes empfinden» (Kayssler (1984 [1925]: 502). Zwar führt er den Gedankengang nicht weiter aus, in seiner Formulierung kommt aber zumindest die Vermutung zum Ausdruck, dass Verbindun- gen zwischen Traum- und Filmerlebnis auch im unbewussten psychischen Bereich vorhanden sein könnten. Von den hier besprochenen Texten aus den 1910er- und frühen 1920er- Jahren ist es jedoch «Der Ersatz für die Träume», der am deutlichsten in diese Richtung argumentiert. Im ersten Teil seines Aufsatzes beschreibt Hofmannsthal aus einer damals unter Intellektuellen verbreiteten zivilisa- tionskritischen Warte die Auswirkungen der Industriegesellschaft auf das psychische Befinden der arbeitenden Massen in den Großstädten: Ihre Köpfe sind leer, nicht von Natur aus, eher durch das Leben, das die Gesellschaft sie zu führen zwingt. Da sind diese Anhäufungen von kohlen- geschwärzten Industrieorten, mit nichts als einem Streifchen von verdorr- tem Wiesengras zwischen ihnen […]. Da ist der Werktag: die Routine des Fabriklebens oder des Handwerks; die paar Handgriffe, immer die gleichen; das gleiche Hämmern oder Schwingen oder Feilen oder Drehen […]. Davor flüchten sie zu unzähligen Hunderttausenden in den finsteren Saal mit den beweglichen Bildern. (Hofmannsthal 1984 [1921]: 447) Weder Bildung noch Politik vermögen aus dieser Situation der Leere und Ohnmacht hinauszuführen, denn im Vortragssaal wie auf der Parteiver- sammlung werde ausschließlich mit Sprache operiert, die den Massen ab- strakt, fremd und – als Machtwerkzeug der Gebildeten – gar bedrohlich vorkomme. Die Verkümmerung der Erfahrungs- und Erlebniswelt in den Industriebezirken wirke umso bedrückender, als sie alle eine andere Macht [kennen], eine wirkliche, die einzig wirkliche: die der Träume. Sie waren Kinder und damals waren sie mächtige Wesen. Da wa- ren Träume, nachts, aber sie waren nicht auf die Nacht beschränkt; sie waren auch bei Tag da, waren überall: eine dunkle Ecke, ein Anhauch der Luft, das Gesicht eines Tiers, das Schlürfen eines fremden Schrittes genügte, um ihre fortwährende Gegenwart fühlbar zu machen. (Hofmannsthal 1984 [1921]: 448) Im erwachsenen Dasein des Industriearbeiters, dem kindliche Abenteuer- fantasien nur noch als vage Erinnerung geblieben sind, bietet einzig das Kino – mit seinen starken Bildern und ohne verwirrende Sprache – «Ersatz 30 1 Dream-Screen? für die Träume» und somit eine Zufluchtsstätte, um der Ohnmacht und «Öde des Daseins» vorübergehend zu entfliehen. Gleichzeitig vermittle das Filmerlebnis ein Gefühl der Herrschaft und Macht, das den geknech- teten Arbeitern im realen Leben vorenthalten bleibt: Aber es ist nicht bloß die Beschwichtigung der quälenden, so oft enttäusch- ten Neugier: wie beim Träumenden ist hier einem geheimeren Trieb seine Stillung bereitet: Träume sind Taten, unwillkürlich mischt sich in dies schran- kenlose Schauen ein süßer Selbstbetrug, es ist wie ein Schalten und Walten mit diesen stummen, dienstbar vorüberhastenden Bildern, ein Schalten und Walten mit ganzen Existenzen. (Hofmannsthal 1984 [1921]: 448) Das Kino, diese «Kiste mit zauberhaftem Gerümpel, die sich auftut», er- füllt demnach eine kompensatorische Funktion: Es gleicht – genau wie die Fantasie im Kindesalter – Defizite des Gefühls- und Erlebnisreichtums aus (Hofmannsthal 1984 [1921]: 448). Und es ermöglicht eine im Alltag ver- misste, intensive und sinnliche Erfahrung, die den Menschen – anders als abstrakte Worte – nicht nur an der Oberfläche berührt: Es ist der ganze Mensch, der sich diesem Schauspiel hingibt; nicht ein einzi- ger Traum aus der zartesten Kindheit, der nicht mit in Schwingung geriete. Diese ganze unterirdische Vegetation bebt mit bis in ihren dunkelsten Wur- zelgrund. (Hofmannsthal 1984 [1921]: 449) Hofmannsthal betont mehrmals, dass sich die Massen über die Gründe für die starke Anziehungskraft der bewegten Bilder nicht im Klaren seien. Es sind somit unbewusste Bedürfnisse, die das Filmerlebnis – da die Träume und Fantasien des erwachsenen Industriearbeiters dazu nicht mehr in der Lage sind – zu befriedigen hat. Wie lassen sich die frühen Film/Traum-Vergleiche im Kontext der damaligen Kino-Debatte situieren?13 Es ist kein Zufall, dass alle besprochenen Texte von Repräsentanten der literarischen Szene stammen, während die Filmgegner in der «Kinoreformbewegung» den Vergleich mit dem Traum nicht heran- zogen. Zwar war es keineswegs so, dass alle Literaten dem Kino und seinen kulturellen Auswirkungen positiv gegenüberstanden; die Stellungnahmen waren durchaus kontrovers, und bei Einzelnen dominierte eine skeptische oder gar verächtliche Haltung, Ausdruck des Unbehagens gegenüber dem neuen Medium, das durch seinen Massencharakter und seine Orientierung an populären Unterhaltungsstoffen tradierte Kunstvorstellungen herausfor- 13 Zur Kino-Debatte in Deutschland siehe Schweinitz 1992: 55–64, 145–152 und Heller 1985: 45–108. 1.1 Die Literaten und der Reiz des neuen Mediums 31 derte. Trotz der offensichtlichen Diskrepanz zum eigenen Kulturverständnis übte der «Kinematograph» mit seinem dynamischen Wahrnehmungsange- bot und seiner großen Wirkmacht aber auch starke Faszination auf breite Kreise der literarischen Intelligenz aus. Und genau an dieser – durchaus ambivalent gefärbten – Faszination über die neuartige Erfahrung mit einer fremden Welt scheint sich die Traumanalogie entzündet zu haben. Für die Kinogegner – Juristen, Lehrer, akademische und kirchliche Würdenträger –, die die guten Sitten und kulturellen Werte in Gefahr sahen, war das neue Medium hingegen ein klar einzuordnendes Phänomen, das es zu bekämpfen galt. Zwar wurde in diesem Lager ebenfalls die Suggestiv- kraft und Wirkung der bewegten Bilder betont, man sah darin jedoch nicht einen Reiz, sondern eine Gefahr für die Psyche der Zuschauer. Deshalb zog man als Vergleich nicht den Traum heran, der ein «selbstbestimmtes», natürliches Phänomen darstellt, sondern den Alkohol- und Drogenrausch oder die Hypnose – von außen beeinflusste, abnorme oder krankhafte Zu- stände also, die im Gegensatz zum Traum negative Assoziationen auslösen. Für die bildungsbürgerlich geprägten Kinoreformer konnte auch das Fehlen des Wortes im Stummfilm nur als Defizit erscheinen. Ein Vergleich mit dem Traum durch den Bezug auf die Visualität, wie er zum Beispiel beim sprach- kritisch eingestellten Schriftsteller Hofmannsthal vorkommt, hätte deshalb genauso wenig in die Argumentationsstrategie der Kinoreformer gepasst. Die bisher angeführten Schriften aus der frühen deutschsprachigen Film- publizistik weisen bereits verschiedene Merkmale des Analogiediskurses späterer Epochen auf: Die Vergleiche beziehen sich – je nach Argumen- tationsweise – auf ganz unterschiedliche Aspekte von Traum und Film. Der Begriff «Traum» wird zum Teil sehr weit gefasst und schließt mitunter – etwa bei Hofmannsthal oder Mayer – den Wunschtraum oder die Wach- fantasie genauso mit ein wie den eigentlichen Traum. Zudem entstammen die bisher erwähnten Film/Traum-Vergleiche Zeitungs- oder Zeitschrif- tenartikeln von relativ kurzem Umfang. Die Autoren verstehen sich als Beobachter eines kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, das sie aus der Warte des Kinozuschauers beschreiben. Ihre Ausführungen stellen also keine ausgearbeiteten Theorien dar, umso mehr als sie sich sowohl in Bezug auf den Traum als auch den Film ausschließlich von intuitiven Vor- stellungen leiten lassen. Dies erstaunt nicht weiter, wenn man berücksich- tigt, dass in dieser Zeit filmtheoretische Entwürfe erst im Entstehen waren und sowohl die empirische Traumforschung als auch Freuds Traumdeu- tung (1996 [1900]) noch keine große Verbreitung gefunden hatten. Wir wer- den jedoch sehen, dass eine impressionistische, subjektiv-intuitive Heran- gehensweise auch bei vielen späteren Film/Traum-Analogien vorherrscht. 32 1 Dream-Screen? 1.2 Die Surrealisten und die Frage des «psychischen Automatismus» Trotz einzelner früher Stimmen nimmt der Film/Traum-Vergleich in Frank- reich erst ab Beginn der 1920er-Jahre klare Konturen an. Allen voran sind es die Surrealisten und Personen aus deren Umfeld, die Film und Traum immer wieder in Beziehung setzen. Um ihre Äußerungen richtig einordnen zu können, ist es wichtig zu verstehen, welchen Stellenwert sie dem Traum beimaßen und welche Rolle Film und Kino für sie spielten.14 Die Surrealis- ten begriffen sich nicht als literarische Bewegung, die lediglich eine neue Stilrichtung oder Ästhetik etablieren wollte; Surrealismus wurde vielmehr als eine revolutionäre Einstellung verstanden, die es ermöglichen sollte, die Gesellschaft zu verändern. Surrealistische Aktionen richteten sich ge- gen Grundwerte der bürgerlichen Ordnung. Die beengenden Gesetze von Logik, Verstand und Funktionalität sollten aus den Angeln gehoben wer- den, um der befreienden Wirkung von Unordnung, Zufall und Absurdität Platz zu machen. Herkömmliche Vorstellungen von Moral, Pflicht und Ver- antwortung wurden herausgefordert, und die klare Trennung und einsei- tige Wertschätzung von normal versus verrückt, rational versus irrational, bewusst versus unbewusst vehement in Frage gestellt. Der Traum war für die Surrealisten eine Erfahrung, die diese Rich- tung vorgab. Sie waren begeistert von seiner Inkohärenz und fehlenden Logik, seiner Missachtung von Moral und Anstand, seinen Absurditäten und Überraschungsmomenten. Der Traumzustand wurde so zu einem Modell, das die Realitätswahrnehmung bereichern, ja verändern sollte.15 Er entsprach zudem ihren Vorstellungen einer neuen Art künstlerischen Ausdrucks, denn er stellte eine authentische, persönliche Produktion dar, bei der jedoch die Kontrolle des Verstandes ausgeschaltet war. In ihren künstlerischen Erzeugnissen versuchten sie denn auch immer wieder, durch traumverwandte Bewusstseinszustände ähnliche Resultate zu er- zielen. Die berühmte Methode der écriture automatique zum Beispiel kann 14 Die ausführlichste Studie über die Bedeutung des Traums für die Surrealisten hat Sara- ne Alexandrian mit Le surréalisme et le rêve (1974) vorgelegt. Zum Verhältnis der Surrea- listen zum Kino vgl. Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 6–95. Das Buch enthält gleichzeitig eine thematisch geordnete Sammlung von Schriften der Surrealisten zum Kino. Wei- tere Anthologien finden sich in Rondolino 1972 und Hammond 1978. Linda Williams (1981) hat surrealistische Drehbücher, Filme und Schriften zum Kino aus psychoanaly- tisch-semiotischer Perspektive untersucht. 15 Freuds Theorie, die in Frankreich erst in den 1920er-Jahren Verbreitung fand, hatte gro- ßen Einfluss auf die Surrealisten und bestärkte sie in ihrer Wertschätzung des Traumer- lebnisses. Zwar war das Verhältnis vieler Surrealisten zu Freud ambivalent, in wesent- lichen Punkten, etwa der Theorie der Triebe oder der zentralen These des Traums als Wunscherfüllung, stimmten sie jedoch mit ihm überein. Vgl. Alexandrian 1974: 47–70. 1.2 Die Surrealisten und der «psychische Automatismus» 33 als Versuch gewertet werden, durch Beschleunigung des Schreibtempos die kontrollierende Instanz von Intellekt und Vernunft auszuschalten, um einen «psychischen Automatismus» zu erreichen, wie er nach ihrer Auf- fassung in der Traumproduktion vorherrscht.16 Für den Film hatten die Surrealisten schon früh eine große Leiden- schaft entwickelt. Ein Hauptgrund dafür war die Überzeugung, dass sei- ne Struktur und Gestaltungsmittel – ähnlich denen des Traums – Wirkun- gen ermöglichen, die genau dem surrealistischen Geist entsprachen.17 Die amerikanischen Burlesken oder die populären Serien von Louis Feuillade verkörperten für sie eine Form der Spontaneität und Irrationalität, wie sie sonst nur im Traum anzutreffen war. Mit regelmäßigen Streifzügen durch verschiedene Kinos, ohne Beachtung von Programm oder Anfangszeiten, versuchten sie, den (traumhaften) Charakter des Unberechenbaren, Zufäl- ligen und Fragmentarischen noch zu steigern.18 Und zum Eindruck der In- kohärenz und fehlenden Kausalität kamen die Wunder der Fantastik hin- zu, zu denen das neue Medium gerade dank seiner realistischen Technik fähig war. André Breton spricht im Rückblick denn auch vom «pouvoir de dépaysement» als größtem Reiz des damaligen Kinos (1972 [1951]: 89–90). Nicht nur Inhalt und Struktur der Filme, auch die Rezeptionssituation – der dunkle Kinosaal mit den flimmernden Bildern – hat die Surrealisten zu Vergleichen mit dem Traum angeregt. Ruft man sich ihre zahlreichen Ex- perimente mit traum- und hypnoseähnlichen Zuständen während der «pé- riode de sommeil» in Erinnerung, so überrascht ihr diesbezügliches Interes- se nicht weiter.19 Sowohl André Breton (1972 [1951]: 90) als auch Benjamin Fondane (1972 [1930]: 153) vergleichen das Eintauchen in die Fiktion mit dem Übergang vom Wach- in den Schlafzustand. Jacques Brunius (1951: 12) setzt das Verdunkeln des Kinosaals mit dem Schließen der Augenlider und dem Absinken der Gedanken in die «Nacht des Unbewussten» gleich. Ro- bert Desnos (1992b [1927]: 81) beschreibt – Jahre vor Roland Barthes (1975) – das Auftauchen aus der Fiktion und Verlassen des Kinos analog zum Erwa- 16 Aus heutiger Sicht mag diese Anerkennung und Wertschätzung des Traums unspekta- kulär erscheinen. Für die damalige Zeit stellte sie eine radikal neue Sichtweise dar. 17 Neben der Auffassung, der Film sei ein dem Traum vergleichbares, surrealistisches Ausdrucksmittel, hatte die Begeisterung fürs Kino noch andere Gründe: Zum einen war es gerade die Geringschätzung vieler kultureller Meinungsträger für die neue Unterhaltungsform, die in den Surrealisten eine Passion entfachte, insbesondere für die in billigen Quartierkinos gezeigten, unprätentiösen Kommerzproduktionen. Zum anderen war die Neuartigkeit des Mediums eine Garantie dafür, dass sich die filmische Ausdrucksform noch frei von einengenden Traditionen und Konventionen entfalten konnte. Die für alle verständliche Bildsprache ließ den Stummfilm zudem internationa- listisch erscheinen, was die Surrealisten als willkommenes Gegengift zum verhassten französischen Chauvinismus begrüßten. Vgl. Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 12–20. 18 Vgl. Breton 1972 [1951]: 89–90. 19 Vgl. Alexandrian 1974: 103–132. 34 1 Dream-Screen? chen aus traumerfülltem Schlaf. Und für Luis Buñuel (1991 [1958]: 143) gerät der Zuschauer in einen hypnoseähnlichen Zustand, in dem er einen hohen Prozentsatz seines Begriffsvermögens verliert.20 Die prognostizierte Verfas- sung – vermindertes Bewusstsein und reduziertes Urteilsvermögen – war für die Surrealisten im Gegensatz zu den Filmgegnern jedoch nicht negativ konnotiert. Ein Bestreben des Surrealismus bestand ja gerade darin, eine Brücke zu schlagen zwischen Schlaf- und Wachrealität, Bewusstem und Un- bewusstem. Und der Film sollte, genauso wie der Traum, dazu beitragen. «Et comment ne pas identifier les ténèbres du cinéma aux ténèbres nocturnes, les films au rêve!» (Desnos 1992b [1927]: 81). Wie für Desnos war es für die meisten Surrealisten unbestritten, dass Film und Traum ver- gleichbare Phänomene sind. Genaue Begründungen für ihre Analogien sucht man deshalb vergebens. Die für sie zentrale Frage des «psychischen Automatismus» wurde hingegen eingehender erörtert und – unter Betei- ligung von Personen, die nicht im engeren Sinn ihrer Gruppe angehörten – teilweise auch kontrovers diskutiert. Die Surrealisten waren, ähnlich wie Hofmannsthal, äußerst sprach- kritisch eingestellt. Sprache, zumindest wie sie gemeinhin eingesetzt wur- de, war für sie der Inbegriff von Logik, Vernunft und Konvention, die es zu bekämpfen galt. In der Stummheit des Films bestand folglich einer seiner großen Reize. Sie waren der Überzeugung, dass eine Abfolge von Bildern besonders geeignet sei, das vordiskursive, prälogische Denken und insbe- sondere die Mechanismen des Traums in einer Art «automatisme visuel» (Kyrou 1953: 90) direkt wiederzugeben. Antonin Artauds Begründung, wieso er seine Idee zu La coquille et le clergyman (F 1927) als Film verwirklichen wollte, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: J’ai éstimé, en ecrivant le scénario de La Coquille et le Clergyman, que le cinéma possédait un élément propre, vraiment magique, vraiment cinéma- tographique, et que personne jusque-là n’avait pensé à isoler. Cet élément distinct de toute espèce de représentation attachée aux images participe de la vibration même et de la naissance inconsciente, profonde de la pensée. Il se dégage souterrainement des images, et découle non de leur sens logique et lié, mais de leur mélange, de leur vibration et de leur choque. […] C’est dire à quel point ce scénario peut ressembler et s’apparenter à la mécanique d’un rêve sans être vraiment un rêve lui-même, par exemple. C’est dire à quel point il restitue le travail pur de la pensée. (Artaud 1972a [1928]: 144–145, Herv. i. O.) Und an anderer Stelle schreibt er: 20 Auch Jean Cocteau, der oft in die Nähe der Surrealisten gerückt wird, obwohl er von ihnen verabscheut wurde, hat das Filmerlebnis immer wieder mit der Traumerfahrung gleichgesetzt. Vgl. Roloff 1998: 152. 1.2 Die Surrealisten und der «psychische Automatismus» 35 [L]e cinéma me semble surtout fait pour exprimer les choses de la pensée, l’intérieur de la conscience, et pas tellement par le jeu des images que par quelque chose de plus imponderable qui nous les restitue avec leur matière directe, sans interposition, sans représentations. […] Le cinéma arrive à un tournant de la pensée humaine, à ce moment précis où le langage usé perd son pouvoir de symbole, où l’esprit est las du jeu des représentations. Si le cinéma n’est pas fait pour traduire les rêves ou tout ce qui dans la vie éveillée s’apparente au domaine des rêves, le cinéma n’existe pas. (Artaud 1972b [1930]: 146) Es war jedoch nicht nur die Negation der überkommenen Sprachlogik, auch die Schnelligkeit, mit der sich die Bilder auf der Leinwand jagen, und die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung führten zur Überzeugung, im Film könne sich der «automatisme psychique pur» verwirklichen, wie ihn Bre- ton im «Manifest» als Wesensmerkmal des Surrealismus festgelegt hatte (1963 [1924]: 37).21 Dass gerade die Filmproduktion – aufgrund ihrer Technik ein schwer- fälliges, teures und zudem kollektives Unterfangen – die direkte Übermitt- lung spontaner Gedanken ermöglichen sollte, bedurfte natürlich einiger Argumentation. Jean Goudals Aufsatz «Surrealisme et cinéma» von 1925 ist in diesem Zusammenhang besonders interessant.22 Der Autor, selbst nicht Mitglied der surrealistischen Bewegung, erwähnt darin zwei ge- nerelle Schwierigkeiten, die bei jeglichem Versuch bestehen, durch einen «psychischen Automatismus» unbewusste Inhalte ans Tageslicht zu beför- dern: erstens das Problem des Zugangs zum Unbewussten: «[D]ès que la conscience réussit à fouiller dans l’inconscient, on ne saurait plus parler d’inconscient […] on ne voit pas par quel biais on fera communiquer deux domaines incommunicables par définition» (Goudal 1988 [1925]: 307). Und zweitens die Frage nach der Vermittlung: Ce que nous appelons raison est, en somme, la partie de notre esprit com- mune à tous les hommes: si elle vient à manquer, ne tomberons-nous pas dans un mode d’expression individuel et incommunicable? […] une fois fixé dans son ingénuité absolue ce «mécanisme scriptural et mental» de M. A. Breton, qui n’est valable que pour M. A. Breton lui-même, pourquoi le faire imprimer et publier? N’est-ce pas pour que nous établissions, sous un angle 21 Die vollständige Definition im «Manifeste du surréalisme» lautet: «Surréalisme, n.m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoc- cupation esthétique ou morale.» 22 Vgl. Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 23–25 und Williams 1981: 17–19. 36 1 Dream-Screen? quelconque, une comparaison entre son esprit et notre esprit, et cette compa- raison est-elle possible sans quelques repères essentiels que seule la raison, la logique, peuvent fournir? (Goudal 1988 [1925]: 307–308, Herv. i. O.) Sobald man die surrealistischen Thesen nicht auf die Literatur und den sprachlichen Ausdruck, sondern aufs Kino anwende, verlören diese Einwän- de jedoch ihre Gültigkeit. Die Dunkelheit des Saals sowie die durchgängige Begleitmusik sorgten dafür, dass – wie im Schlaf – jegliche Wahrnehmung der realen Umgebung abgeblockt werde. Das Fehlen der Farbe und der drit- ten Dimension sowie die künstliche Beschränkung durch den Rahmen sei- en Vereinfachungen des visuellen Eindrucks, wie man sie im Traum auch antreffe.23 Die Montage der Bilder wirke realitätsfern, und die stummen, ruckartigen Bewegungen ließen die Leinwandfiguren zu Traumgestalten werden. Und schließlich liefen die Ereignisse in einem solchen Tempo ab, dass kein Platz für Erklärungen und logische Verbindungen bleibe. Die Film- erfahrung stelle deshalb einen Zustand dar, der Elemente von Traum- und Wacherfahrung, Bewusstem und Unbewusstem auf einmalige Art verbinde: Le cinéma constitue donc une hallucination consciente et utilise cette fusion du rêve et de l’état conscient que le surréalisme voudrait voir réalisée dans le domaine littéraire. Ces images mouvantes nous hallucinent, mais en nous laissant une conscience confuse de notre personnalité et en nous permettant d’évoquer, si c’est nécessaire, les disponibilités de notre mémoire. (Goudal 1988 [1925]: 310–311) Somit sei im Kino der Zugang zum Unbewussten gewährleistet. Und da der Film mit Bildern und nicht mit Sprache operiere, stelle die fehlende Lo- gik der zu vermittelnden Inhalte auch keine Schwierigkeit dar. Die arbeits- teilige Organisation der Filmproduktion sei zudem ein vorübergehendes Phänomen; die Zukunft gehöre Filmautoren, die alle kreativen Prozesse kontrollieren und somit den persönlichen Ausdruck innerster Gedanken verwirklichen. Aus all diesen Gründen sei das Kino und nicht die Literatur der Ort, wo sich der Surrealismus am besten verwirklichen lasse. Dass die Surrealisten Goudals Ansichten – zumindest was das Kino betrifft – teilten, machte Breton 1951 deutlich: «Vingt-cinq années se sont écoulées depuis que M. J. Goudal, dans La Revue hebdomadaire, mettait en évidence la parfaite adéquation de ces moyens [du film] à l’expression sur- réaliste de la vie et cela seconde par seconde» (Breton 1972 [1951]: 92). Jedoch blieb die Behauptung, im Kino seien alle Probleme aufgehoben, die sich der direkten Vermittlung unbewusster, vordiskursiver Inhalte in den Weg stell- 23 Diese Behauptung wird, wie ich anhand der frühen Schriften deutscher Literaten be- reits ausgeführt habe, durch die empirische Traumforschung nicht gestützt. 1.2 Die Surrealisten und der «psychische Automatismus» 37 ten, nur weil der Film ein visuelles Medium sei und die Zuschauer in einen traumähnlichen Zustand verfallen, nicht unwidersprochen.24 René Clair, auch er kein Surrealist im engeren Sinn, beurteilte zwar das Filmerlebnis wie Goudal als «état de demi-rêve» (Clair 1951 [1926]: 111).25 Trotzdem gab er in einer direkten Replik auf Goudals Artikel zu bedenken, dass die filmischen Ausdrucksmöglichkeiten der Technik des Mediums unterworfen sind: Pour traduire en images la plus pure conception surréaliste, il faudra la sou- mettre à la technique cinématographique, ce qui risque de faire perdre à cet «automatisme psychique pur» une grande part de sa pureté. Pour cette rai- son, je ne puis croire que le cinéma soit le meilleur moyen d’expresssion sur- réaliste. (Clair 1988 [1925]: 318) Noch kategorischer äußerte sich Marc Soriano (1946): «[L]es mots cinéma et surréalisme sont contradictoires» (zit. nach Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 26, Herv. i. O.). Insbesondere die Annahme, der angestrebte Automatismus lasse sich im Film besser verwirklichen als in sprachlichen Erzeugnissen, stieß bei verschiedenen Autoren außerhalb der surrealistischen Bewegung auf Kritik. So schreibt Jean-Marie Mabire: «[L]a technique cinématogra- phique est loin de pouvoir atteindre l’automatisme auquel peut parvenir le langage» (zit. nach ebenda).26 Auch Walerian Borowczyk, der den ange- strebten «Kurzschluss» zwischen Künstler und Rezipient einen «échange de rêves» nennt, sah im schwerfälligen Apparat der Aufnahme- und Pro- jektionstechnik ein Hindernis. Für ihn galt deshalb das Drehbuch, der «po- tenzielle Film», als einzige filmische Ausdrucksform, die dem Geist des Surrealismus entspricht: Il n’est de véritable film surréaliste que sous forme de scénario, film poten- tiel. Il faudrait que le cinéaste soit délivré de la caméra, de la pellicule et de l’appareil de projection, pour que le film soit directement communiqué d’un cerveau diffuseur à un cerveau récepteur. (Borowczyk 1965: 155)27 24 Vgl. Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 25–26. 25 Clair bezieht sich auf ähnliche Charakteristika der Kinosituation, wenn er den Zustand des Zuschauers und des Träumers in Analogie setzt: die Dunkelheit des Saals, der «be- täubende» Effekt der Begleitmusik sowie die suggestive Wirkung der stummen Bilder. 26 Odette und Alain Virmaux selber (1988 [1976]: 26–27) sind der Auffassung, der an- gestrebte Automatismus sei grundsätzlich schwer zu erreichen. Die Filmproduktion komme ihm jedoch – trotz schwerfälliger Technik und großem Mitarbeiterstab – dank den Möglichkeiten der Montage näher als sprachliche Erzeugnisse, die jeden Geistes- blitz durch Umwandlung in konventionalisierte Zeichen verfälschten. 27 Tatsächlich haben verschiedene Surrealisten – u. a. Artaud, Desnos, Ribemont-Dessaig- nes, Dalí, Fondane – Drehbücher geschrieben, die jedoch mit wenigen Ausnahmen nie verfilmt wurden. Vgl. Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 64–75 und Williams 1981: 6–52. 38 1 Dream-Screen? Die Surrealisten, von denen nur Luis Buñuel Erfahrung als Filmemacher mitbrachte, hatten das Kino als Zuschauer entdeckt und betrachteten es in erster Linie aus dieser Perspektive. Angesichts ihrer immer wieder geäu- ßerten Überzeugung, der Film sei das surrealistische Ausdrucksmittel par excellence, erstaunt es trotzdem, dass sie fast keine Filme realisiert haben. Die wenigen, die entstanden sind, machen jedoch deutlich, wie sehr sich die Surrealisten vom Traum haben inspirieren lassen. Robert Desnos, für den das Kino – wie für Hofmannsthal – einen Traumersatz darstellt, hat die Filmemacher gar dazu aufgefordert, ihre Träume möglichst direkt und detailgetreu auf die Leinwand zu bringen: Du désir du rêve participe le goût, l’amour du cinéma. A défaut de l’aventure spontané que nos paupières laisseront échapper au réveil, nous allons dans les salles obscures chercher le rêve articifiel et peut-être l’excitant capable de peupler nos nuits désertées. Je voudrais qu’un metteur en scène s’éprît de cette idée. Au matin d’un cauchemar, qu’il note exactement tout ce qu’il se rappelle et qu’il le reconstitue avec minutie. (Desnos 1992a [1923]: 32) Die Drehbücher und tatsächlich entstandenen Filme, insbesondere Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí (F 1929), zeigen je- doch, dass es den Surrealisten in ihrer Filmpraxis meist nicht wie Desnos um die Wiedergabe konkreter Trauminhalte ging, sondern vielmehr da- rum, die bizarre Logik und eigenartigen Mechanismen des Traums um- zusetzen.28 Sie waren sich auch bewusst, dass das Etikett «Traum» dazu geeignet war, das verstörende Potenzial eines Films abzuschwächen. Ar- tauds Streit mit Germaine Dulac über die richtige Bezeichnung von La coquille et le clergyman ist in dieser Beziehung aufschlussreich.29 Du- lac, die Regie führte, sah folgenden Titel vor: «La Coquille et le Cler­ gyman, rêve d’Antonin Artaud, composition visuelle de G. Dulac.» Und dies, obwohl Artaud im Vorwort zu seinem Drehbuch klargemacht hatte, dass er nichts davon hielt, den Film als Traum auszugeben: «Ce scénario n’est pas la reproduction d’un rêve et ne doit pas être considéré comme tel. Je ne chercherai pas à en excuser l’incohérence par l’échappatoire facile des rêves» (1960 [1927]: 58–59). Durch energischen Protest gelang es ihm schließlich, die Etikettierung zu verhindern. Der Traum war für die Sur- realisten Inspirationsquelle und Bewusstseinsform mit Modellcharakter zugleich. Er sollte nicht dazu degradiert werden, lediglich als Verständ- nishilfe für unkonventionelle Filme zu dienen.30 28 Vgl. Williams 1981: 23–33. 29 Vgl. Virmaux/Virmaux 1988 [1976]: 28–30 und Alexandrian 1974: 178. 30 Der fertige Film wurde von den Surrealisten wegen seines angeblichen Ästhetizismus trotzdem abgelehnt und bei der Premiere lauthals niedergeschrien. 1.3 Die Impressionisten und die Kameratechnik 39 Die Euphorie über das surrealistische Potenzial des Films wich mit den Jahren einer gewissen Ernüchterung über die wenigen tatsächlich rea- lisierten Projekte.31 In rückblickenden Äußerungen schwingt bei den meis- ten Surrealisten eine gewisse Wehmut mit angesichts dessen, was alles im Film – gerade dank seiner engen Verwandtschaft mit dem Traum – mög- lich gewesen wäre, aber nicht eingelöst wurde. 1.3 Die Impressionisten und die Möglichkeiten der Kameratechnik Zweifelsohne war die surrealistische Bewegung diejenige intellektuelle Strömung im Frankreich der Zwischenkriegszeit, die die Film/Traum- Analogie am vehementesten verfocht. Es gab jedoch auch unter den Im- pressionisten eine Sensibilität für die Verwandtschaft von Film und Traum, die sich einerseits in ihrer Filmpraxis niederschlug und die andererseits – oft allerdings erst in späteren Jahren – in ihren Schriften reflektiert wurde.32 Die Impressionisten erachteten den Film als eine eigenständige Kunstform mit spezifischen Ausdrucksmitteln, über die die herkömmlichen Künste, insbesondere das Theater, nicht verfügen.33 Im Vordergrund standen für sie die Möglichkeiten der Kameratechnik – die Wahl von Distanz, Perspek- tive, Aufnahmegeschwindigkeit, Schärfe, Objektiv, Filter –, die dem me- chanischen Prozess der Aufnahme einen Gestaltungsspielraum eröffne- ten, der den persönlichen künstlerischen Ausdruck erst ermöglichte. Das Schlagwort photogénie, mit dem der spezielle Reiz des Films erfasst werden sollte, wurde denn auch oft für Effekte verwendet, die auf der Gestaltung oder Verfremdung des Bildes durch den Aufnahmeapparat basierten. Ein- griffe im profilmischen Bereich – die Möglichkeiten der Inszenierung oder die Gestaltung von Kostümen und Dekor – wurden hingegen als sekundär gewertet, da sie vom Theater übernommen, also nicht filmspezifisch seien. In diesem Zusammenhang ist die folgende Äußerung von Jean Epstein aus 31 Die Surrealisten selber haben praktisch nur Un chien andalou und L’âge d’or (F 1930) als authentische surrealistische Werke anerkannt. Und von ihren zahlreichen Drehbüchern wurde nur La coquille et le clergyman realisiert. Dafür entstanden einige literarische Werke, u. a. sogenannte poèmes cinématographiques, die direkt von fil- mischen Ausdrucksmöglichkeiten inspiriert waren. 32 Als «filmischer Impressionismus» wird eine französische Avantgarde-Bewegung be- zeichnet, die in den frühen 1920er-Jahren ihren Anfang nahm und als deren Hauptver- treter Louis Delluc, Germaine Dulac, Jean Epstein, Marcel L’Herbier, Abel Gance und René Clair gelten. 33 Zur Filmtheorie der Impressionisten vgl. Bordwell 1980: 92–134; Abel 1988: 95–124 und 195–223; Aitken 2001: 69–90; Andrew 1995: 24–50; Fahle 2000. 40 1 Dream-Screen? dem Jahr 1955 zu sehen, in der er die Auffassung der Impressionisten in den 1920er-Jahren rückblickend wiedergibt: On avait été frappé par une grosse ressemblance générale entre le rêve et le film: leur pouvoir commun, quoique bien entendu inégal, de figurer un monde irréel, fantastique. Toutefois, cet irréalisme primitif du cinéma était encore, presque tout entier, d’origine extérieure à l‘instrument cinématogra- phique proprement dit, à l’appareil de prise de vues. Il s’agissait d’une fan- tasmagorie de décors, de machinerie d’opéra. Or ce qu’il importait de saisir et de réaliser, c’est que la capacité de transformation et de dépassement de la réalité pouvait être intégrée au mécanisme et à l’optique de la caméra. (Epstein 1955: 84) Die Ähnlichkeit von Film und Traum erschöpfe sich nicht in der Tatsache, dass beide die Realität überwinden und ein fantastisches Universum kre- ieren können. Wichtig sei vielmehr, dass sie dies mittels derselben Tech- niken erreichen. In L’Intelligence d’une machine schreibt Epstein unter der Überschrift «Le cinématographe, machine à rêver»: Or, les procédés qu’emploie le discours du rêve et qui lui permettent sa sin- cérité profonde, trouvent leurs analogues dans le style cinématographique. Telle est, d’abord, une sorte de très fréquente synecdoque, où la partie repré- sente l’ensemble, où un détail, en lui-même infime et banal, se trouve grossi, répété, devenu le centre et le motif conducteur de toute une scène rêvée ou vue à l’écran. Ce sera, par exemple, une clef ou un nœud de ruban ou un ap- pareil téléphonique, dont le rêve et l’écran feront un gros plan, chargé d’une immense force émotionnelle […]. (Epstein 1946: 142) Noch ausgeprägter formuliert Paul Ramain die Analogie der Darstel- lungstechniken: [L]a technique du film [est] une technique du rêve. Tous les procédés expressifs et visuels du cinéma se trouvent dans le rêve, et s’y trouvent depuis que l’homme existe et songe. La simultanéité des actions, le flou, le fondu, la surimpres- sion, les déformations, le dédoublement des images, le ralenti, le mouvement dans le silence ne sont-ils pas l’âme du rêve et du songe? (Ramain 1925: 8, Herv. i. O.) Die gestalterischen Möglichkeiten der Kameratechnik waren für die Im- pressionisten keineswegs Selbstzweck. Sie wurden mit dem Ziel einge- setzt, die vom Objektiv erfassten Gegenstände in neuem Licht erscheinen zu lassen, ihnen durch Veränderung der visuellen Erscheinung eine neu- artige Bedeutung zu geben. Der Traum mit seinen Metamorphosen und symbolischen Transformationen bot sich auch hier als Vergleichsgröße 1.3 Die Impressionisten und die Kameratechnik 41 an. Die Veränderung der visuellen Erscheinung – und somit der Bedeu- tung der Objekte – sollte natürlich nicht zufällig geschehen, sondern der künstlerischen Intention und persönlichen Sichtweise des Filmemachers entsprechen. Für Ricciotto Canudo war es deshalb nicht der Traum an sich, sondern die innere Vorstellungswelt des Künstlers, die als Maßstab und Vergleichsgröße für die Filmgestaltung zu nehmen sei: «L’écraniste se doit de transformer la réalité à l’image de son rêve intérieur» (1927: 38). Angesichts ihrer Auffassung vom Film als rein visueller Kunst er- staunt es nicht, dass auch einzelne Impressionisten in der Stummheit eine Analogie zum Traum erblickten.34 Mit dieser Ansicht sind sie, wie wir an- hand der Schriften Kaysslers, Hofmannsthals und der Surrealisten bereits gesehen haben, in guter Gesellschaft. Die Impressionisten haben aber nicht nur die Visualität, sondern auch die Bewegung als besonderes Wesens- merkmal der Filmkunst hervorgehoben. Dank dieses dynamischen Fak- tors standen dem Film die Möglichkeiten der rhythmischen Gestaltung of- fen, die bisher nur die Musik für sich beanspruchen konnte. Ramain zieht auch in diesem Bereich Parallelen zum Traum: De plus le rêve est progressif, jamais statique. Le cinéma aussi. Or, cette pa- renté entre le mouvement dynamique du cinéma et le mouvement dynamique du rêve engendre une troisième alliance: celle du cinéma et de la musique. La Musique, art supérieur du rêve, du rêve auditif, est elle même dynamisme et mouvement. Cette simultanéité, ce flou, ces surimpressions, ces déformations, ce mouvement propre au cinéma et au rêve se retrouvent intégralement et acoustiquement dans la musique: fugue, contrepoint, harmonie […]. Cinéma, rêve et musique forment donc une manière de Trinité: 3 états en un seul. Et il n’est pas dit que, s’inspirant de cela, le cinéma traducteur du rêve ne devienne pas un jour une vraie musique optique […]. (Ramain 1925: 8, Herv. i. O.) Die Auffassungen der Impressionisten und der Surrealisten unterscheiden sich in vielen Belangen diametral. Die Impressionisten waren bestrebt, den Film als Kunstform zu etablieren und verabscheuten die kommerzielle, auf reine Unterhaltung ausgerichtete Produktion. Sie sahen in der Bildge- staltung durch die Aufnahmetechnik die Möglichkeit für den Filmkünst- ler, einen persönlichen Stil zu entwickeln und gleichzeitig den Film äs- 34 Siehe zum Beispiel Clair 1951: 112. Auch hier ist der bereits erwähnte Mechanismus feststellbar, dass Eigenschaften des (Stumm-)Films auf den Traum projiziert werden. Besonders ausgeprägt bei Ramain, der schreibt: «Dans les songes, les personnages sont muets, les mets n’exhalent aucune odeur, les liquides sont insipides: il en est de même à l’écran» (Ramain 1925: 8). Empirische Untersuchungen von Traumberichten kommen zum Schluss, dass Geruchs- und Geschmacksempfindungen zwar eher selten sind, aber durchaus vorkommen, und dass akustische Eindrücke circa ein Viertel der Sinneswahrnehmungen im Traum ausmachen. Vgl. Strauch/Meier 1992: 79–84. 42 1 Dream-Screen? thetisch zu legitimieren. Die Surrealisten wandten sich gegen eben diese Bestrebungen, den Film in die hohe Sphäre der herkömmlichen Künste einzureihen und ihn so durch Traditionen und Konventionen zu belasten. Der visuelle Stil der Impressionisten erschien ihnen gekünstelt und dazu angetan, den Film seiner Unmittelbarkeit und revolutionären Kraft zu be- rauben. Dass trotz dieser unterschiedlichen Standpunkte Vertreter beider Bewegungen im Traum ein dem Film analoges Phänomen sahen, zeigt, dass der Film/Traum-Vergleich ganz unterschiedlichen ästhetischen und filmtheoretischen Auffassungen als Argumentationsstrategie gedient hat. 1.4 Psychoanalytische Ansätze Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Annahme einer en- gen Verwandtschaft von Film und Traum bereits in den ersten Jahrzehn- ten des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Denktraditionen verankert war. Dass Sigmund Freuds 1900 erschienene Traumdeutung und mit ihr das psychoanalytische Gedankengut insgesamt zu weiteren Film/Traum-Ver- gleichen anregen würde, erstaunt aus heutiger Sicht kaum. Erklärungsbe- dürftig erscheint vielmehr die Tatsache, dass es Jahrzehnte gedauert hat, bis erste ausdrücklich psychoanalytisch argumentierende Film/Traum- Analogien formuliert wurden.35 Und dies, obwohl die psychoanalytische Theorie schon früh und von ihrem Gründer selbst nicht nur zur Therapie pathologischen Verhaltens, sondern auch zur Analyse künstlerischer Pro- dukte herangezogen wurde. Ein Grund für diese Zurückhaltung dürfte in bildungsbürgerlich motivierten Vorurteilen vieler Psychoanalytiker gegenüber der «vulgären» neuen Unterhaltungsform gelegen haben.36 Gepaart mit Unkenntnis über das neue Medium führte dies dazu, dass psychoanalytische Erkenntnisse zwar immer wieder für Interpretationen traditioneller Kunstwerke, insbesondere in den Bereichen Literatur und Theater, herangezogen, zunächst jedoch kaum auf das Kino angewandt wurden.37 Gleichzeitig dauerte es auch geraume Zeit, bis das psychoanaly- 35 Die Nähe von Film und Traum wurde zwar seit den frühen 1910er-Jahren von ein- zelnen Psychoanalytikern am Rande vermerkt, so etwa von Otto Rank, der 1914 von der «in mehrfacher Hinsicht an die Traumtechnik gemahnende[n] Kinodarstellung» spricht (1925 [1914]: 7), oder von Lou Andreas-Salomé (1958 [1913]) und Hanns Sachs (1929); argumentativ entwickelt wird der Vergleich meines Wissens jedoch erst Ende der 1930er-Jahre. Die Surrealisten wiederum waren zwar von Freuds Ideen inspiriert, ihre Ausführungen können jedoch nicht als psychoanalytisch bezeichnet werden. 36 Freuds Abneigung ist legendär, und sowohl Hanns Sachs’ als auch Karl Abrahams aus- geprägtes Interesse am Film war eine Ausnahmeerscheinung. Vgl. Zeul 1994b: 971. 37 Vgl. Greenberg 1993: 17–18. 1.4 Psychoanalytische Ansätze 43 tische Gedankengut unter Intellektuellen im deutschen Sprachraum – und erst recht über die Sprachgrenze hinaus – Verbreitung fand. Gegen Ende der 1930er- und im Verlauf der 1940er-Jahre unternah- men schließlich verschiedene praktizierende Psychoanalytiker den Ver- such, Eigenheiten der Filmwirkung mit Rekurs auf den Traumzustand und Freuds Traumtheorie zu erklären. Wohl im Bewusstsein, dass der Film im Vergleich zu anderen Künsten von der angewandten Psycho- analyse bisher vernachlässigt worden war und dass ihr Beitrag deshalb nur ein Anfang sein konnte, nannten die italienischen Psychoanalytiker Angelo Montani und Giulio Pietranera ihren 1938 gemeinsam verfass- ten Aufsatz «First Contribution to the Psycho-Analysis and Aesthetics of Motion-Picture». Aufgrund des Krieges konnte er erst 1946 in New York publiziert werden. Bereits 1943 war – ebenfalls in einer englischsprachi- gen psychoanalytischen Fachzeitschrift – John Pratts «Notes on Commer- cial Movie Technique» erschienen. In Frankreich entstand sodann Ende der 1940er-Jahre die interdisziplinär ausgerichtete Filmologie-Bewegung, die die Psychoanalyse (neben der Soziologie, Ethnologie, Linguistik, Äs- thetik, Philosophie, Psychologie und Physiologie) explizit als eine für die wissenschaftliche Erforschung von Film und Kino hilfreiche Disziplin an- erkannte.38 Unter diesem Vorzeichen erschienen in den ersten Nummern der Revue internationale de filmologie verschiedene Artikel von praktizieren- den Psychoanalytikern aus Frankreich und Italien, die Film und Traum in Verbindung brachten: Jean Depruns «Cinéma et identification» (1947) und «Cinéma et transfert» (1947), Robert Desoilles «Le rêve éveillé et la Filmologie» (1948), Serge Lebovicis «Psychanalyse et cinéma» (1949) sowie Cesare Musattis «Le cinéma et la psychanalyse» (1949).39 Ebenfalls 1949 erschien zudem in der englischen Zeitschrift The Penguin Film Review der Aufsatz «Psychology of Film Experience» des deutschen Psychoanalyti- kers Hugo Mauerhofer. Nachdem eine explizit psychoanalytische Position im Analogiedis- kurs lange Zeit ausgeblieben war, wurde sie Ende der 1940er-Jahre also gleich mehrfach artikuliert, wobei die Revue de filmologie eine herausragen- de Stellung einnahm.40 Im Vergleich zu den zahlreichen wahrnehmungs- 38 Zur Geschichte der Filmologie-Bewegung, die in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Filmtheorie auch heute noch oft unterschätzt wird, siehe Lowry 1985 [1982] und Hediger 2003. 39 Sämtliche genannten Texte außer demjenigen von Desoille sind in deutscher Überset- zung erschienen in Montage/av, 13/1, 2004. Zu ihrer diskursgeschichtlichen Position innerhalb der psychoanalytischen Filmtheorie siehe Hediger 2004: 112–125 und 2006: 137–160. 40 Umso mehr überrascht bei der Lektüre die Tatsache, dass keiner der genannten Auto- ren Überlegungen eines anderen aufnimmt oder weiterentwickelt. Sogar nach einem 44 1 Dream-Screen? psychologischen Untersuchungen machten die erwähnten psychoanalyti- schen Beiträge innerhalb der Filmologie-Bewegung jedoch nur eine kleine Minderheit aus. Mit der wachsenden Bedeutung der empirischen Zu- schauerforschung in den 1950er-Jahren wurde der psychoanalytische An- satz nicht mehr weiterverfolgt.41 Es dauerte mehr als zwei Jahrzehnte, bis er von Jean-Louis Baudry und Christian Metz wieder aufgenommen wur- de.42 Die beiden Mitte der 1970er-Jahre in der Zeitschrift Communications erschienenen Aufsätze «Le dispositif: Approches métapsychologiques de l’impression de réalité» (Baudry 1975) und «Le film de fiction et son spec- tateur (Étude métapsychologique)» (Metz 1993a [1975]) stellen bis heute zweifellos die bekanntesten Film/Traum-Vergleiche dar.43 Weitere Stationen im psychoanalytisch inspirierten Analogiediskurs sind schließlich Robert Eberweins Film and the Dream Screen: A Sleep and a Forgetting (1984), Gertrud Kochs «Traumleinwand» (2002) und Mecht- hild Zeuls «Bausteine einer psychoanalytischen Filmtheorie» (2003) – alle drei (wie schon Baudrys Überlegungen) auf Bertram Lewins Dream-Screen- Theorie Bezug nehmend; außerdem Richard Allens Projecting Illusion: Film Spectatorship and the Impression of Reality (1995), ein Versuch, nach Carrolls Fundamentalkritik (1988: 9–52) den Film/Traum-Vergleich in modifizier- ter Form neu zu lancieren. Dieser kurze chronologische Abriss zeigt unter anderem Folgendes: Die ersten Überlegungen stammen von praktizierenden Psychoanalyti- kern und werden in psychoanalytischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Schon bald erscheinen die Aufsätze in Filmzeitschriften, sind jedoch nach wie vor von Psychoanalytikern verfasst. Serge Lebovici etwa hält zu Be- ginn seines Aufsatzes explizit fest, er komme aus der psychoanalytischen Praxis und sei «nullement spécialiste de la filmologie» (1949: 49). Mit Baudry und insbesondere Metz wird der Analogiediskurs sodann von Filmtheoretikern übernommen, die selber keine Erfahrung als Psycho- analytiker aufweisen, sondern sich psychoanalytische Konzepte für ihre simplen Verweis sucht man vergeblich, selbst in den Artikeln, die in kurzer Folge und derselben Zeitschrift erschienen sind. Mechthild Zeul (1994a) kommt bei ihrer umfang- reichen Analyse von Zeitschriftenartikeln zum Schluss, dass sich Texte von Psychoana- lytikern zum Film generell durch fehlende gegenseitige Bezugnahme auszeichnen. Als Korpus dienten ihr alle im Grinstein-und-Chicago-Katalog zum Thema Psychoanalyse und Film aufgeführten Artikel. 41 Vgl. Lowry 1985 [1982]: 127, 133, 136. 42 Aus der Zeit zwischen Ende 1940er- und Mitte 1970er-Jahre ist mir nur ein Interview aus dem Jahr 1969 mit Janine Chasseguet-Smirgel bekannt (1988 [1969]), das die Film/ Traum-Analogie mit psychoanalytischen Argumenten propagiert. 43 Wiederum überrascht, dass keiner der beiden Autoren Bezug auf die in den 1940er- Jahren entstandenen Aufsätze nimmt, obwohl zentrale Punkte ihrer Thesen dort be- reits angelegt sind und obwohl zumindest Metz die Schriften der Filmologen gekannt haben muss, nahm er doch in seinen frühen Schriften immer wieder Bezug auf sie. 1.4 Psychoanalytische Ansätze 45 filmtheoretischen Überlegungen zunutze machen.44 Gleichzeitig wird der Vergleich, der in frühen Schriften einzelner Psychoanalytiker lediglich in Nebensätzen angedeutet und in den 1940er-Jahren nur kurz ausgeführt wird, bei Baudry, Metz, Eberwein und Allen detaillierter, komplexer und – zumindest bei Metz und Allen – auch nuancierter und umsichtiger. Die fehlende Bezugnahme der Autoren aufeinander wurde bereits erwähnt. Erst Eberwein durchbricht die Serie von Monologen und stellt seinen Bei- trag in ein Verhältnis zu anderen Film/Traum-Analogien. Der Anflug ei- ner Debatte kommt jedoch erst mit Carrolls Kritik und Allens Reaktion darauf zustande.45 Trotz dieser sprunghaften Entwicklungen sind sich die zentralen Grundannahmen der psychoanalytischen Film/Traum-Analogie in etwa gleich geblieben. Im Folgenden wird deshalb mehr Gewicht auf das Ge- meinsame der Positionen denn auf kleinere Differenzen gelegt. Bevor die wichtigsten Argumente dargelegt werden, soll der Film/Traum-Vergleich jedoch innerhalb des psychoanalytischen Ansatzes situiert werden. Man kann verschiedene Arten der psychoanalytischen Beschäftigung mit Film und Kino unterscheiden.46 Eine Gruppe von Untersuchungen zielt darauf ab, die psychische Konstitution einzelner (herausragender) Autoren mit Hilfe ihrer Filme zu erfassen. Wiederkehrende Motive, Bilder oder Figurenkonstellationen werden als Symptome gewertet, die es – in Verbindung mit biografischen Hintergrundinformationen – erlauben sol- len, den Filmkünstler wie einen Patienten in der Kur zu analysieren.47 Eine 44 Baudry und Metz waren in den 1970er-Jahren bekanntlich die zentralen Figuren einer Zusammenführung von Psychoanalyse und Filmtheorie. Neben den beiden genannten Aufsätzen gelten insbesondere «Cinema: Effets idéologiques produits par l’appareil de base» von Baudry (1970) und «Le signifiant imaginaire» von Metz (1993a [1975]) als Grundsteine einer psychoanalytischen Filmtheorie. 45 Es ist interessant, darüber zu spekulieren, weshalb der psychoanalytische Ansatz in der Filmtheorie erst Mitte der 1970er-Jahre den Durchbruch schaffte, obwohl in den genannten Aufsätzen der 1940er-Jahre die Grundpositionen bereits formuliert sind. Hediger (2004: 122–123) macht zeithistorische, wissenschaftssoziologische und dis- kurstheoretische Gründe geltend: Das ideologiekritische Potenzial der Kino/Psyche- Analogie war erst nach 1968 gefragt, für die Verbreitung des Ansatzes bedurfte es der Institutionalisierung der Filmwissenschaft, und innerhalb der Filmologie-Bewegung wurde der psychoanalytische Ansatz durch empirische und sozialwissenschaftliche Ansätze verdrängt. 46 Vgl. hierzu Metz 1993a [1975]: 37–57; Andrew 1984: 133–156; Casetti 1999 [1993]: 177– 196; Allen 1999: 125–131. 47 Metz nennt diesen Ansatz «méthode psychocritique» oder «voie nosographique», Zeul «biographisch-pathographischer Ansatz» und Andrews «psycho-biography». Oft ver- leitet diese Methode zu biografistischen und reduktionistischen Auslegungen, gleich- zeitig widerspricht sie der psychoanalytischen Theorie und Praxis, da in der Regel biografische Daten aus objektiven Quellen Grundlage der Interpretation bilden und nicht spontane, assoziative Äußerungen des Patienten in der Kur. Vgl. hierzu Green- berg 1993: 22. 46 1 Dream-Screen? andere Art der Analyse fokussiert ebenfalls auf wiederkehrende Themen, Handlungsabläufe oder formale Konfigurationen einzelner Filme, jedoch weniger um die Psyche ihrer Autoren zu entschlüsseln, als vielmehr um latente, verdeckte oder verdrängte Bedeutungen der Filmtexte ans Tages- licht zu fördern. Eine dritte Variante schließlich nimmt den Film respektive das Kino an sich ins psychoanalytische Visier, also weder einzelne Auto- ren noch einzelne Werke, sondern das Vorführdispositiv respektive die Fil- merfahrung als solche. Ziel dieser dritten Stoßrichtung – der sogenannten Apparatustheorie – ist es, die außergewöhnliche Faszination und Anzie- hungskraft des Kinos sowie seine Wirkung auf die Zuschauer zu erklären. Nach psychoanalytischer Auffassung spielen unbewusste Prozesse nicht nur bei der Produktion und Rezeption einzelner Filme eine wichtige Rolle (erste und zweite Variante), sondern sie waren schon bei der Konzeption der technischen Aufnahme- und Vorführgeräte bestimmend und sind für die starke Wirkung des Mediums allgemein verantwortlich (dritte Varian- te/Apparatustheorie). Dieser dritte Ansatz ist es denn auch, der sich am ausdrücklichsten auf die Verwandtschaft von Film und Traum beruft. Als Erstes gilt es jedoch festzuhalten, dass die meisten von psychoanalyti- scher Seite vorgebrachten Vergleichspunkte bereits Jahre zuvor von ande- ren Autoren angeschnitten, teils gar ausführlich thematisiert worden wa- ren. Die Situation des Kinozuschauers im dunklen Saal, die Betonung der Visualität, der starke Realitätseindruck, die wirklichkeitsferne Logik der Ereignisse, die Bedeutung von Filmtechnik und Montage oder die Nähe zum Tagtraum sind – wie die bisherigen Ausführungen aufgezeigt haben – Punkte, die bereits von deutschen Literaten in der Zeit der frühen Filmpu- blizistik sowie von den Surrealisten oder Impressionisten in unterschied- licher Form aufs Tapet gebracht worden waren. Sogar zentrale Motive wie das der Regression oder des Kinobesuchs als psychische Ersatzhandlung sind etwa bei Hofmannsthal oder Kayssler ansatzweise vorweggenom- men. Der psychoanalytische Diskurs hat, wie wir sehen werden, lediglich einzelne neue Aspekte ins Feld geführt, etwa die Vergleichbarkeit von fil- mischer und psychischer Zensur, die Ähnlichkeit von Film- und Traumer- lebnis für Patienten in therapeutischer Behandlung oder die auf Bertram Lewins Dream-Screen-Theorie rekurrierende Behauptung, Träume würden im Wahrnehmungsapparat des Menschen wie Filme auf eine innere Lein- wand projiziert.48 Die Tatsache, dass Baudrys und Metz’ Beiträge Mitte der 1970er-Jahre als derart neu und originell gefeiert wurden, lässt sich nur 48 Die wichtigsten zwei Aufsätze, mit denen Bertram Lewin seine Theorie des «dream screen» begründete, sind: «Sleep, the Mouth, and the Dream Screen» (1973a [1948]) sowie «Inferences from the Dream Screen» (1973b [1948]). 1.4 Psychoanalytische Ansätze 47 dadurch erklären, dass ältere Film/Traum-Vergleiche wenig Beachtung gefunden hatten oder bereits wieder in Vergessenheit geraten waren. Neu an der psychoanalytischen Variante der Film/Traum-Analogie war jedoch, dass sie systematisch vorging und theoretisch fundiert erschien. Den Ausführungen früherer Autoren lag ebenfalls eine bestimmte Kon- zeption von Mensch und Kino zugrunde, sie blieb jedoch meist implizit. Psychoanalytisch argumentierende Beiträge konnten sich hingegen auf ein Theoriegebäude stützen, das in den Geisteswissenschaften spätestens seit Anfang der 1970er-Jahre als richtungsweisendes Erklärungsmodell für ei- nen Großteil der menschlichen Aktivitäten angesehen wurde und das dem Traum von vornherein eine herausragende Rolle für das Verständnis der menschlichen Psyche zuschrieb. Entsprechend erhöhte sich die Tragweite, die dem Vergleich beigemessen wurde. Es ging nicht mehr nur darum, den Vergleich mit dem Traum punktuell zur Erhellung einzelner besonders auf- fälliger Aspekte der Kinoerfahrung oder der Filmgestaltung beizuziehen; vielmehr sollte er nun nichts weniger leisten, als der Funktionsweise und Wirkmacht des Kinos ganz allgemein auf den Grund zu gehen. Freuds Theorie geht davon aus, dass menschliches Handeln, Fühlen und Denken zu einem großen Teil durch unbewusste psychische Kräfte be- stimmt wird.49 Dabei herrscht strenge kausale Determination vor, nichts ge- schieht unmotiviert, auch wenn die zugrundeliegenden Ursachen oft nicht direkt einsichtig sind. Sein Konzept unterteilt den psychischen Apparat in die Bereiche des Bewussten, des Vorbewussten und des Unbewussten, wo- bei Letzteres als Ort archaischer Wunsch- und Triebregungen eine heraus- ragende Stellung einnimmt. Die im Unbewussten wirkenden Kräfte folgen anderen Gesetzmäßigkeiten als das rationale Denken, einer anderen Logik, die entwicklungspsychologisch als ursprünglicher, «primärer» einzustufen ist als die «sekundären» Prozesse der bewussten Verstandestätigkeit. Ver- schiedene, sich zum Teil widersprechende Regungen suchen dort perma- nent und unabhängig voneinander nach unmittelbarer Befriedigung, ohne dass sie in diesem Streben durch Prinzipien des bewussten Denkens einge- schränkt würden. So kann es im Unbewussten etwa völlig widerspruchs- frei zur Umkehrung, Vertauschung, Angleichung oder Verschmelzung von Vorstellungsinhalten kommen, die zudem im Gegensatz zum vorbewuss- 49 In meinen kurzen Ausführungen zur psychoanalytischen Theorie erhebe ich keines- wegs den Anspruch, dieser in zahlreiche Strömungen aufgeteilten Denkschule in ihrer Komplexität und historischen Entwicklung gerecht zu werden. Es geht hier lediglich darum, einige Grundthesen, die für das Verständnis der psychoanalytischen Film/ Traum-Analogie hilfreich sind, möglichst unkontrovers und in vereinfachter Form in Erinnerung zu rufen. 48 1 Dream-Screen? ten und bewussten System lediglich aus konkreten «Sach-» oder «Ding- vorstellungen» und nicht aus abstrakten «Wortvorstellungen» bestehen, also immer visueller Natur sind. Das Verhältnis und die Durchlässigkeit zwischen unbewusstem, vorbewusstem und bewusstem Bereich ist streng geregelt und durch Widerstände und Zensurmechanismen bestimmt. Frühkindlichen psychosexuellen Entwicklungsstadien, in denen «primitive» Regungen wie der Drang nach unmittelbarer Wunscherfül- lung und Lustbefriedigung noch dominieren, jedoch bereits mit der Um- welt in Konflikt geraten, wird in der psychoanalytischen Theorie entschei- dende Bedeutung für die Persönlichkeitskonstitution beigemessen. Ein wesentlicher Schritt im Entwicklungsprozess stellt für das Kleinkind die Unterscheidung von Ich und Umwelt, von innerer Vorstellung und äuße- rer Wahrnehmung dar («Realitätsprinzip»). Ebenfalls zentral ist die kom- plexe Dynamik der emotionalen Beziehung zu beiden Eltern, die verschie- dene Formen der Identifikation und Abgrenzung beinhaltet und jeweils nach bestimmten Szenarien (z. B. dem «Ödipuskomplex») ablaufen. Die wesentlich von der Kraft der Sexualtriebe bestimmte psychologische Ent- wicklung verläuft nicht immer geradlinig, es kann zu Fixierungen (dem Verbleiben auf einer bestimmten Stufe) oder Regressionen (der Rückkehr zu einer früheren Phase in der Entwicklung) kommen. Überhaupt bleiben die Triebkräfte und Emotionen früherer Phasen, die im bewussten Leben überwunden scheinen, dem unbewussten System erhalten und können in spezifischen Situationen neu aktiviert werden. Die beschriebenen Mechanismen des psychischen Apparates, obwohl in allen Menschen wirksam, sind der Beobachtung und Analyse nur schwer zugänglich, da sie eng mit dem unbewussten System verknüpft sind. Psy- chisch Kranke in ihrem abnormen Verhalten, aber auch gesunde Menschen in bestimmten Momenten oder Bewusstseinszuständen ermöglichen je- doch einen – zumindest indirekten – Einblick unter die Oberfläche des Be- wusstseins. In diesem Zusammenhang ist die herausragende Bedeutung zu sehen, die Freud dem Traum als «Königsweg zum Unbewussten» beimaß. Allen psychoanalytischen Film/Traum-Analogien liegt mehr oder weni- ger explizit die Annahme zugrunde, dass das Filmerlebnis eine menschli- che Aktivität darstellt, die in ähnlicher Weise mit unbewussten Prozessen verknüpft ist wie die Traumerfahrung. Beide führen einen speziellen Zu- stand herbei, der unbewussten Regungen und Trieben Vorschub leistet. Um diese Behauptung zu stützen, wird meist als Erstes auf die ähnlichen Bedingungen verwiesen, in denen sich Kinozuschauer und Träumer be- finden. Der Kinosaal reproduziere eine Umgebung und versetze den Zu- schauer in eine Lage ähnlich der des schlafenden Menschen: Dunkelheit, 1.4 Psychoanalytische Ansätze 49 Abschirmung gegen störende Umwelteinflüsse und Umgebungswahrneh- mungen, bequeme Körperhaltung, Immobilität und Passivität. Damit ein- her gehe, betont insbesondere Metz, eine Reduktion des Wachheitsgrades, der zwar nie wie im Schlaf ganz herabgesetzt sei, sich diesem Zustand aber doch annähere: En opposition aux activités ordinaires de la vie, l’état filmique tel que l’induisent les films traditionnels de fiction (et en cela, il est vrai qu’ils démo- bilisent) se signale par une tendance générale à la baisse de vigilance, par un début de sommeil et de rêve. […] L’état filmique réalise ainsi, à un degré plus faible, certaines conditions économiques du sommeil. (Metz 1993b [1975]: 130, 143) Baudrys Äußerungen gehen in dieselbe Richtung, er formuliert den Ver- gleich jedoch weniger vorsichtig und stellt eine direkte Parallele her zwi- schen Kinodispositiv und psychischem Apparat im Schlafzustand: «Le dispositif cinématographique reproduit le dispositif de l’appareil psy- chique durant le sommeil» (1975: 71). Und für Roland Barthes kommt das Filmerlebnis gar einer Form von Hypnose gleich; es entlässt den Zuschau- er «un peu engourdi, engoncé, frileux, bref ensommeillé: il a sommeil, voilà ce qu’il pense; son corps est devenu quelque chose de sopitif, de doux, de paisible: mou comme un chat endormi» (1975: 104, Herv. i. O.). Nach Freud kann der Schlafzustand als eine Form von Regression in eine frühkindliche oder gar pränatale Entwicklungsphase bezeichnet werden: Unser Verhältnis zur Welt, in die wir so ungern gekommen sind, scheint es mit sich zu bringen, dass wir sie nicht ohne Unterbrechung aushalten. Wir ziehen uns darum zeitweise in den vorweltlichen Zustand zurück, in die Mutterleibsexistenz also. Wir schaffen uns wenigstens ganz ähnliche Verhält- nisse, wie sie damals bestanden: warm, dunkel und reizlos. Einige von uns rollen sich noch zu einem engen Paket zusammen und nehmen zum Schlafen eine ähnliche Körperhaltung wie im Mutterleibe ein. (Freud 1994 [1915–1917/1932]: 105–106) Und auch die Traumaktivität fasst Freud als einen psychischen Vorgang auf, der im Gegensatz zur bewussten Verstandestätigkeit von regredienten Strömungen bestimmt wird: Das Träumen sei im ganzen ein Stück Regression zu den frühesten Verhältnis- sen des Träumers, ein Wiederbeleben seiner Kindheit, der in ihr herrschend gewesenen Triebregungen und verfügbar gewesenen Ausdrucksweisen. (Freud 1996 [1900]: 524) 50 1 Dream-Screen? An diese Überlegungen anknüpfend, sehen die meisten psychoanalytisch argumentierenden Autoren eine der Hauptparallelen zwischen Film und Traum darin, dass beide auf ähnliche Weise regressive Tendenzen begüns- tigen.50 Der dunkle Kinosaal – Barthes spricht vom «cocon cinématogra- phique» (1975: 105) und Metz vom «ventre noir de la salle» (1993b [1975]: 143) – versetze den Zuschauer, ähnlich wie der Traum den Träumer, in ei- nen Zustand, der stärker als das normale Wachbewusstsein in vergangene Stadien der psychischen Entwicklung zurückgreift. Der Grad der Regressi- on wird dabei nicht immer genau bestimmt, oft ist lediglich allgemein von der Aktivierung eines «infantile narcissism» (Montani/Pietranera 1946 [1938]: 188), einer «mode de penser très regressif et infantile» (Lebovici 1949: 52) oder einer «archaic oral experience» (Pratt 1943: 186) die Rede. Bei der Lektüre der Schriften von Baudry (1975) und Eberwein (1984) wird jedoch klar, dass eine ganz frühe Phase gemeint ist, die ersten Jahre oder gar nur Monate, in denen das Neugeborene nach psychoanalytischer Auf- fassung noch nicht zwischen sich selbst und seiner Umwelt, zwischen in- nerer Vorstellung und äußerer Wahrnehmung unterscheiden gelernt hat, in denen seine motorische Fähigkeit noch sehr eingeschränkt, seine visu- elle Wahrnehmung hingegen bereits entwickelt ist und in denen sich im psychischen Apparat diejenigen «primitiven» Mechanismen herausbilden, die im weiteren Verlauf zwar durch realitätskompatiblere Verhaltensmus- ter ersetzt werden, dem unbewussten System jedoch erhalten bleiben. Verschiedene Vergleichspunkte zwischen Film und Traum, denen wir bei anderen Autoren bereits begegnet sind, erhalten vor diesem Hintergrund neue Bedeutung. So zum Beispiel der vorwiegend visuelle Charakter beider Wahrnehmungsformen: Er wird nun als Vorherrschen jener Sinnesmodalität gesehen, die am Ursprung der psychologischen Entwicklung anzusiedeln ist und gleichzeitig unbewussten, infantilen Regungen auch im Erwachse- nenalter noch Ausdruck verleiht. Oder die starke Identifikation mit Figuren im Traum respektive Film. Sie wird nun zurückgeführt auf frühkindliche Formen der Identifikation mit den ersten Bezugspersonen. Film und Traum sind in dieser Sichtweise nicht mehr nur deshalb vergleichbar, weil einzelne Aspekte ähnlich erscheinen, sondern vor allem deshalb, weil sich für zahl- reiche Merkmale ein gemeinsamer psychischer Ursprung finden lässt. Am ausgeprägtesten manifestiert sich diese Argumentation bei den Ausführungen zum Realitätseindruck respektive zur Realitätsillusion. Die Analogie von Kinosituation, Schlafzustand und frühkindlichem Entwick- 50 Die Regressionsthese ist, wie Vinzenz Hediger anmerkt (2002: 46), neben ihrer Fundie- rung in der psychoanalytischen Theorie nicht ganz frei von althergebrachter bildungs- bürgerlicher Kritik am Kino, insbesondere dem «Vorwurf der Infantilität des Mediums, d. h. der Infantilisierung des Publikums durchs Medium». 1.4 Psychoanalytische Ansätze 51 lungsstadium besteht für einige Autoren nämlich auch im kognitiven Be- reich. Aufgrund der fehlenden Mobilität und der Abschirmung jeglicher Umgebungsreize sei es – so behaupten insbesondere Baudry und Eber- wein – dem Kinozuschauer nicht mehr (oder nur noch sehr bedingt) mög- lich, die auf ihn einströmenden Bilder und Töne einem Realitätstest zu unterziehen. Wie der Träumer, der seine nächtlichen Fantasiegebilde für real hält, und das Kleinkind, das noch nicht zwischen äußerer Wahrneh- mung und mentaler Vorstellung zu unterscheiden weiß, erliege auch der Filmzuschauer einer Täuschung und nehme die zweidimensionalen Bilder als reale und gegenwärtige Ereignisse wahr: [F]ilms seem «real» in the way dreams do; in fact, their ability to make us believe we are a part of the action is for many one of film’s most important achievements as a form of art. […] [O]ur experience of film permits us to return to the state of perceptual unity that we first participated in as infants and that we can know as dreamers. […] Our sense of being present to the events of films and dreams is a result of the revived feeling of oneness; the filmic and oneiric worlds are extensions of ourselves and we seem to inhabit the same space. (Eberwein 1984: 3–5) Nach Baudry führt die Kinosituation und die mit ihr verbundene Regres- sion gar zum Eindruck eines «plus-que-réel», einer gesteigerten Form der Realitätsillusion: L’inhibition relative de la motricité le rapprochant de l’état du dormeur, comme le statut particulier de la réalité qu’il perçoit (cette réalité est faite d’images) favoriserait la simulation de la position régressive et serait déter- minante dans l’effet-sujet de l’impression de réalité, de ce plus-que-réel de l’impression de réalité, dont nous avons vu qu’il était caractéristique, non pas du rapport du sujet à la réalité, mais justement du rêve et de l’hallucination. (Baudry 1975: 69–71) Der gemeinsame psychische Ursprung von Kino und Traum lässt sich so- mit, wie Schneider treffend formuliert, fassen als archaischer Wunsch, Bilder von Realität als Realität aufzufassen, ohne sie einem Realitätstest un- terziehen zu müssen […], eine Realitätserfahrung zu erreichen, […] zu deren Realität es […] kein Nicht-Reales als Gegenbegriff gibt […], zwischen Reprä- sentation und Wahrnehmung, zwischen dem eigenen Körper und der Au- ßenwelt nicht mehr trennen zu müssen. (Schneider 1998: 39) Dass das Kino eine Erfahrung ermöglichen kann, die dem erwachsenen Menschen ansonsten nur im Traum erhalten geblieben ist, erscheint aus dieser Perspektive freilich kein Zufall. Es sei nämlich genau das Verlangen 52 1 Dream-Screen? nach einem solchen Erlebnis gewesen, das die Erfindung und technische Entwicklung des kinematografischen Dispositivs überhaupt erst motiviert und vorangetrieben habe: Film und Traum sind also schon deshalb ver- gleichbar, weil hinter der Entwicklung der filmtechnischen Apparatur der unbewusste Drang vermutet wird, ein frühkindliches Erlebnisdispositiv künstlich nachzubauen, für das im Erwachsenendasein einzig die Traum- situation als Modell dienen kann. Die Kinoapparatur entspricht deshalb dem psychischen Apparat des Menschen, weil der Mensch, ohne dass er sich dessen bewusst wäre, immer wieder dazu angetrieben wird, Maschi- nen zu bauen, die sein eigenes psychisches Räderwerk nachahmen.51 Der Behauptung, die Zuschauer erlägen im Kino einer Illusion und täusch- ten sich über den Realitätsstatus der Bilder und Töne, begegnet man in der Filmtheorie und -kritik immer wieder – nicht nur bei Verfechtern eines psychoanalytischen Ansatzes. Aufgrund der gewählten Formulierungen wird dabei nicht immer klar, welche der denkbaren Arten der Täuschung gemeint ist: die Wahrnehmung von Bewegung und Kontinuität, wo doch ein Film lediglich aus getrennt projizierten, statischen Einzelbildern be- steht; die Meinung, die in Spielfilmen dargestellten, fiktionalen Ereignisse hätten in der Realität wirklich stattgefunden; oder der Glaube, dass sich die Leinwandgeschehnisse tatsächlich im Hier und Jetzt ereignen, man die Figuren in Fleisch und Blut vor sich habe und manchmal gar unmittelbar mit ihnen interagiere.52 Der Vergleich mit der Traumerfahrung legt nahe, dass in psychoanalytischen Texten im Normalfall die dritte – und somit stärkste – Form der Illusion gemeint ist, die eine Täuschung sowohl im Bezug auf den Realitätsstatus (eine erfundene Geschichte wird für real gehalten) als auch auf die medialen und raum-zeitlichen Zusammenhän- ge beinhaltet (Ereignisse, die lediglich in Form einer audiovisuellen Auf- zeichnung wiedergegeben werden, sich also in der Vergangenheit und wo- anders zugetragen haben müssen, werden als präsent und gegenwärtig eingestuft). Denn es ist tatsächlich eines der auffälligsten Charakteristika des Traums, dass wir seine Begebenheiten – solange wir träumen – für real und gegenwärtig halten, uns direkt in sie involviert fühlen, uns also erst nach dem Aufwachen bewusst werden, dass wir reine Vorstellungen für tatsächliche äußere Wahrnehmungen gehalten haben.53 Dass bei der Film- 51 Siehe insbesondere Baudry 1975: 71–72. 52 Zu dieser Unterscheidung und Argumenten, die gegen das Postulieren einer Illusion sprechen, vgl. Currie 1995: 19–47 und Carroll 1988: 90–106. 53 Dieser Aspekt der Traumerfahrung scheint im Deutschen auch für die Wortbildung ausschlaggebend gewesen zu sein, liegt dem Wort «Traum» doch das germanische «draugma» zugrunde, das so viel wie «Trugbild» bedeutet. Vgl. Strauch/Meier 1992: 11. 1.4 Psychoanalytische Ansätze 53 wahrnehmung eine vergleichbare Form der Täuschung vorliegen soll, ist jedoch höchst unplausibel. Allein das Verhalten des Publikums, dessen Reaktionen fundamental von denen abweichen, die man erwarten müsste, würde es einer Täuschung im oben genannten Sinn unterliegen, ist ein starker Beleg gegen die Illusionsthese.54 Wie verschiedene Vergleichspunkte zwischen Film und Traum, denen wir bei anderen Autoren bereits begegnet sind, etwa die Stummheit oder Farblosigkeit, trifft auch das Kriterium der Realitätsillusion nur auf eines der beiden Phänomene zu. Interessant ist jedoch, dass in diesem Fall die postulierte Gemeinsamkeit nicht mehr im Bezug auf den Traum, sondern im Bezug auf den Film nicht stimmt. Während in der Frühzeit der Filmthe- orie, wie wir gesehen haben, infolge der Grundannahme, Film und Traum seien analoge Phänomene, Merkmale des besser beschreib- und fassbaren Films auf den schwer zugänglichen und wenig reflektierten Traum pro- jiziert wurden, scheint es so, als ob die psychoanalytischen Autoren, die die Mechanismen des Traums genau studiert haben und ihnen enorme Er- klärungsmacht zuschreiben, nun Eigenschaften des Traums über Gebühr dem Film zuschreiben. In einem Punkt, der sogenannten Dream-Screen-These, läuft der Be- deutungstransfer jedoch auch bei den psychoanalytischen Theoretikern vom Film in Richtung Traum. Freud hat in seiner «Metapsychologischen Ergänzung zur Traumlehre» den Traum mitunter auch als eine Projektion bezeichnet: [A]n Stelle des inneren Anspruches, der ihn [den Schläfer] beschäftigen soll- te, ist ein äußeres Erlebnis getreten, dessen Anspruch erledigt worden ist. Ein Traum ist also auch eine Projektion, eine Veräußerlichung eines inneren Vorganges. (Freud 1917: 414) Der Terminus wird von Freud im analytischen Sinn verwendet und be- zeichnet einen unbewussten Abwehrmechanismus, mit Hilfe dessen das Subjekt unerträgliche Vorstellungen, Ängste oder Wünsche durch Projek- tion nach außen, auf andere Personen oder Objekte, zu verdrängen sucht. 54 Man kann die Auffassung vertreten, dass keiner der genannten Theoretiker wirklich an eine Täuschung in diesem extremen Sinn glaubt, dass die entsprechenden Passagen leidglich Rhetorik seien, um bestimmte Wirkungen von Film und Kino zu beschreiben. Die Autoren selber schränken ihre Aussagen jedoch nicht in diesem Sinn ein, sodass es vertretbar ist, ihre Position so zu nehmen, wie sie explizit formuliert ist. Über die Frage der illusionären Wirkung von Fiktionen gibt es im Übrigen eine lange abendländische Diskussion, im Verlaufe derer der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge in seiner Biographia Literaria 1817 die Formel von der «willing suspension of disbelief» einge- bracht hat, die heute noch von vielen als beste Konzeption erachtet wird. Noël Carroll (1990: 63–68) hat jedoch überzeugend dargelegt, dass auch sie problematisch ist. 54 1 Dream-Screen? Für Baudry schwingt bei der freudschen Verwendung des Begriffs die filmtechnische Bedeutung trotzdem mit, «puisqu’il s’agit bien d’images qui, projetées, reviennent au sujet comme un réel perçu de l’extérieur» (Baudry 1975: 66). Auch Musatti bringt den von Freud erwähnten und im Traum wirksamen Abwehr- und Projektionsmechanismus mit dem Kino- dispositiv in Verbindung: En effet le rêve n’est pas seulement l’expression des impulsions et des désirs mais aussi des mécanismes de défense (censure, refoulement) qui s’opposent à leur réalisation. J’ai pu constater que cette censure s’exprimait parfois dans le rêve sous forme de l’impression que le sujet avait de ne pas participer à l’action mais d’en être le spectateur comme au cinéma. Cette impression se retrouve assez souvent, les malades vous disent: «ce n’était pas réel, c’était comme quelque chose que l’on voit au cinéma… j’ai vu ceci ou cela, comme projeté sur l’écran… je ne faisais rien, je regardais, et je voyais comme dans un film», etc. […] Cette objectivation et cette dépersonnalisation des phantas- mes et des rêves est une sorte d’atténuation due aux forces refoulantes […]. (Musatti 1949: 190–191) Viel stärker noch als Freuds Konzept der «Projektion» haben indes Bert- ram Lewins Spekulationen über eine vermeintliche «dream screen» psy- choanalytische Autoren dazu veranlasst, die psychische und kinematogra- fische Apparatur auch in Bezug auf die Form ihres «Bildträgers» in Ana- logie zu setzen. In zwei einflussreichen Aufsätzen stellte Lewin die These auf, Träume würden im Wahrnehmungsapparat des Menschen wie Filme auf eine innere Leinwand projiziert: «The dream screen, as I define it, is the surface onto which a dream appears to be projected. It is the blank back- ground, present in the dream though not necessarily seen» (1973a [1946]: 88). Und im Gegensatz zu Freud weist er explizit auf die Parallele zur Film- wahrnehmung hin, die die Wahl des Begriffs motiviert habe: «The term was suggested by the motion pictures; because, like its analogue in the cinema, the dream screen is either not noted by the dreaming spectator, or it is ignored due to the interest in the pictures and action that appear on it» (Lewin 1973b [1948]: 101). Die Präzisierung, dass die postulierte Leinwand im Normalfall nicht wahrgenommen werde, ist für Autoren wie Baudry oder Eberwein wichtig, denn nur dank ihr kann die Leinwand-Analogie vorgebracht werden, ohne dass die (wie wir gesehen haben unzutreffen- de) Ansicht fallen gelassen werden muss, Film- und Traumwahrnehmung seien beide illusionär.55 Diese Behauptung erscheint nun gar untermauert 55 Musatti, dessen oben zitierte Ausführungen im Widerspruch zur Behauptung stehen, der Leinwandcharakter der Traumbilder werde in der Regel nicht wahrgenommen, baut seine Film/Traum-Analogie bezeichnenderweise auch nicht auf der Realitätsillusion auf. 1.4 Psychoanalytische Ansätze 55 durch die Annahme, dass auch im Traum zweidimensionale, projizierte Bilder fälschlicherweise als realer, dreidimensionaler Raum wahrgenom- men würden.56 Lewins Ausführungen boten sich jedoch nicht nur dazu an, die An- gleichung von psychischem und kinematografischem Apparat argumen- tativ weiter voranzutreiben, sie schienen auch geeignet, die Regressions- these zu stützen. Denn in seiner ebenso abenteuerlichen wie fragwürdigen Argumentation steht die weiße Leinwand für die Mutterbrust, die das vi- suelle Feld des Neugeborenen beim Säugen und somit vor dem Einschla- fen – und das heißt vor den ersten und konstitutiven Traumwahrnehmun- gen – ausgefüllt hat. Die Leinwand wird nach dieser Überzeugung zu ei- nem weiteren gemeinsamen Element von Traum und Kino, das auf einen frühkindlichen Ursprung zurückgeht. Die bisher aufgeführten, psychoanalytisch fundierten Vergleichspunk- te betreffen allesamt die Anordnung des Wahrnehmungsdispositivs und den damit verbundenen psychischen Zustand des Zuschauers respekti- ve Träumers. Einige Autoren richten ihr Augenmerk jedoch auch auf die Darstellungsformen und Ausdrucksmittel von Film und Traum. Nach psy- choanalytischer Auffassung ist der Traum zu großen Teilen ein Erzeugnis des Unbewussten, in dem die befremdende «Logik» primärprozesshafter Mechanismen stärker als sonst zum Tragen kommt. Die Szenen, die wir nachts erleben, sind lediglich ein Endprodukt, dem komplexe «Darstel- lungstechniken» vorangehen (die zensurbedingt meist auch der Entstel- lung dienen). Bevor ein Traum überhaupt wahrgenommen wird, müssen die ihm zugrunde liegenden latenten Traumgedanken mittels Verschie- bung und Verdichtung, unter Berücksichtigung der Darstellbarkeit – also durch Umwandlung in Bilder – sowie durch sekundäre Bearbeitung erst in den manifesten Trauminhalt umgewandelt werden. Verschiedene Autoren aus dem psychoanalytischen Lager sehen in diesen Gestaltungsmitteln der Traumarbeit enge Parallelen zu bestimmten filmischen Darstellungstechniken:57 56 Die Hypothese, Traumbilder erschienen wie Filmbilder auf einer zweidimensionalen, leinwandartigen Fläche, wurde vereinzelt auch unabhängig von Lewins psychoanaly- tisch fundierter Dream-Screen-Theorie aufgestellt, etwa von Jean Goudal, der bereits 1925 schrieb: «dans le rêve, les images mouvantes se succèdent sans relief, sur un plan unique artificiellement délimité par un rectangle qui est comme une trouée géométrique sur le royaume métapsychique» (1988 [1925]: 310, Herv. i. O.) oder von John Michaels, der seinen Aufsatz «Film and Dream» mit den Worten beginnt: «Film and dream are similar in many ways. They are both highly visual experiences; both are primarily two- dimensional, although depth is implied and accepted because of such things as perspec- tive and differences in rate or motion between foreground and background» (1980: 85). 57 In diesem Punkt ist die psychoanalytische Position mit derjenigen der französischen Impressionisten (siehe Kapitel 1.3) vergleichbar. 56 1 Dream-Screen? Des procédés techniques comme «les fondus», «le travelling» ne sont-ils pas ceux même qu’utilise le rêveur? (Lebovici 1949: 51) [C]ertaines des figures les plus spécifiques, en même temps que les plus usu- elles, de l’expression cinématographique portent en elles, dès leur définition «technique» et littérale, quelque chose qui n’est pas sans rapport avec la con- densation ou le déplacement. Pour s’en tenir à un exemple unique, […] la surimpression et le fondu-enchaîné […] reposent sur des trajets mentaux où se maintient une certaine déliaison d’ordre primaire. (Metz 1993b [1975]: 154–155) [T]he technique of «montage» […] corresponds at its best to the oneiric work. (Montani/Pietranera 1946 [1938]: 183) But in one respect at least the film itself has to meet a technical problem simi- lar to one encountered by the dream-work – in that of the concrete represen- tation of an abstract idea. (Pratt 1943: 186) Filmspezifische Techniken wie die genannten – insbesondere Formen der Montage – führen nach diesen Autoren auch dazu, dass die Raum- und Zeitkonstruktion sowie die kausale Verknüpfung der Ereignisse sprung- hafter und inkohärenter – und somit traumähnlicher – werden. Dies be- wirke, dass im Film eine Logik vorherrsche, die stärker den Prinzipien des Unbewussten als denen der Verstandestätigkeit folge. Schließlich wird auch noch die Tendenz zu symbolhaften Bildern als Eigenschaft angeführt, die sowohl der filmischen als auch der traumtypischen Ausdrucksweise eigen sei.58 Am radikalsten – und gleichzeitig fragwürdigsten – erscheint in die- sem Punkt die Position von Montani und Pietranera. Für die beiden Au- toren herrscht bei den Ausdrucksmitteln von Film und Traum nicht nur ungefähre Entsprechung, sondern genaue Übereinstimmung: «The ‹close shot› and the ‹long shot› are an actual process of dreaming. […] Panning and zooming is continuous in the dream. […] [T]he unconscious thought is a director who expresses himself as per motion-picture. […] ‹There is a psy- chic film at the base of our unconscious thought›» (Montani/Pietranera 1946 [1938]: 179, 183, 185, Herv. i. O.). Zudem führt sie die Opposition «bildli- cher versus sprachlicher Ausdruck» sowie die Verknüpfung des einen mit unbewussten Mechanismen und des anderen mit der bewussten Verstan- destätigkeit zur undifferenzierten Behauptung, «motion-picture becomes 58 Thierry Kuntzel (1972 und 1975) hat für diese Annäherung von Film und Traum im Bezug auf die Art ihrer Bedeutungskonstruktion in direkter Anlehnung an Freuds «Traum arbeit» den Begriff «Filmarbeit» («travail du film») geprägt. 1.4 Psychoanalytische Ansätze 57 the language of the unconscious thought just as literature is the language of the conscious thought» (Montani/Pietranera 1946 [1938]: 181). Hinzu kommt eine Überlegung, der wir bereits bei Baudry – dort allerdings im Bezug auf das Wahrnehmungsdispositiv – begegnet sind: Die spezifische Ausdrucksweise des filmischen Mediums komme nicht von ungefähr, sondern fuße auf dem archaischen, unbewussten Verlangen, sich durch Bilder auszudrücken, stelle also sowohl menschheitsgeschichtlich als auch individualpsychologisch ein Urbedürfnis dar: Infantile life, like that of the primitive man, is full of the sense and of the plea- sure of seeing and translating the thought with visible means. A period of our life is full of the experience of sight, and sight is loaded with the «Schaulust». The experience of visualizing remains in us as an ancient psychic patrimony. It lives just suffocated by the conscious-logical life, but it exercises a true at- traction on man’s thought and takes all possible advantages to become his expressive form. […] The primary system expresses itself as motion-picture does, and in the unconscious thought there is a deep need for cinematogra- phic expression, bound to the first experiences of the species and of infancy. (Montani/Pietranera 1946 [1938]: 179, 181) Wie wir gesehen haben, stammen einige der hier besprochenen Aufsätze von praktizierenden Psychoanalytikern. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass zur Stützung der Film/Traum-Analogie nicht nur theoreti- sche Überlegungen, sondern auch praktische Erfahrungen ins Feld geführt werden. An Traumberichten von Patienten, so wird etwa ausgeführt, fielen nicht nur die expliziten Verweise auf das Filmerlebnis auf, sondern auch die Tatsache, dass häufig einzelne Filmbilder oder ganze Szenen direkt ins nächtliche Spektakel inkorporiert werden.59 Der Film fungiere dies- bezüglich – gerade aufgrund seiner Affinität zum Traum – als geeigne- tes Ausgangsmaterial und bevorzugter Stofflieferant. Gleichzeitig könne beobachtet werden, dass beim freien Assoziieren im Zusammenhang mit der Erinnerung an Träume häufig Filmhandlungen evoziert würden. Auch dies sei ein Beweis für die enge Verwandtschaft beider Phänomene – und setze, wie sowohl Musatti (1949: 190) als auch Lebovici (1949: 53) neben- bei erwähnen, eine solide Filmkultur sowie regelmäßigen Kinobesuch von Seiten des Psychoanalytikers «par devoir professionel» voraus. Neben dem mühelosen innerpsychischen Transfer zwischen Film- und Traumsze- nen wird verschiedentlich auf die spezifische Wirkung beider Phänomene hingewiesen, die sich ebenfalls in der Therapie beobachten lasse. Filmbil- 59 Chasseguet-Smirgel berichtet gar von regelrechten Begriffstransfers: «Der Patient sagt oft anstelle von ‹mein Traum› ‹mein Film› und umgekehrt ‹der Traum, den ich gesehen habe›, wenn er von einem Film spricht» (1988 [1969]: 82). 58 1 Dream-Screen? der seien in der Lage, ähnliche Reaktionen auszulösen wie unbewusste Fantasien, und ihr Bewusstmachen könne deshalb ähnliche therapeutische Wirkungen erzielen. Mit der psychoanalytischen Variante hat die Film/Traum-Analogie ohne Zweifel ihre Blütezeit erreicht, sowohl in quantitativer Hinsicht als auch bezüglich der Erklärungsmacht, die ihr zugeschrieben wurde. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass das Forcieren des Vergleichs und das Hochschrauben seiner Tragweite bei verschiedenen Autoren nur auf Kosten der argumentativen Sorgfalt und wissenschaftlichen Genauigkeit gelang. Der Boom des Analogiediskurses hat nicht nur interessanten, son- dern ebenso fragwürdigen, spekulativen oder gar nachweislich falschen Behauptungen Vorschub geleistet. Und dies, obwohl man sich auf ein ausgearbeitetes Theoriegebäude stützen konnte – oder vielleicht gerade deswegen, denn der Vorwurf der spekulativen Beweisführung kann in vielen Punkten gegenüber der psychoanalytischen Theorie insgesamt er- hoben werden. Diese Kritik trifft allerdings nicht alle Autoren in gleichem Maß. Ins- besondere Metz war sich der Gefahr einer undifferenzierten Angleichung von Film und Traum durchaus bewusst. So insistiert er bei mindestens drei der zentralen Vergleichspunkte – der Realitätsillusion, dem Wachheits- grad und der Primärprozesshaftigkeit – zuerst auf der grundsätzlichen Differenz zwischen Film und Traum: Le rêveur ne sait pas qu’il rêve, le spectateur du film sait qu’il est au cinéma: première et principale différence entre situation filmique et situation onirique. On parle parfois d’illusion de réalité pour l’une et l’autre, mais l’illusion vraie est propre au rêve et à lui seul. […] [L]e spectateur du film est un homme éveillé, alors que le rêveur est un homme qui dort. […] Le film diégétique est en général considérablement plus «logique» et plus «construit» que le rêve. […] [Le film] n’est pas une production directe de l’inconscient, ou du moins ne l’est pas d’avantage que les discours et les actes ordinaires de la vie. […] [L]e film est largement secondaire et le spectateur largement éveillé […]. (Metz 1993b [1975]: 123, 131, 148, 152, 157) Daran anschließend versucht er aufzuzeigen, dass diese Unterschiede in speziellen Augenblicken der Film- und Traumerfahrung, an bestimmten Stellen des Film- und Traumtextes oder auch mit Seitenblick auf die Re- alitätswahrnehmung stark reduziert erscheinen. So erkennt er eine An- näherung im Grad der Wachheit und des Bewusstseins, wenn Momente intensiver affektiver Anteilnahme am Filmgeschehen mit der Erfahrung 1.4 Psychoanalytische Ansätze 59 eines Klartraumes verglichen werden.60 Oder er sieht die Primärlogik des Unbewussten an einzelnen Stellen des filmischen Textes durchschimmern, sodass sich dort das Ausmaß der sekundären Bearbeitung nicht mehr ganz so stark von dem der Traumerfahrung unterscheidet. Die Tatsache, dass sein Parcours möglicher Affinitäten zwischen Film und Traum neben grundlegenden Unterschieden immer nur parti- elle Übereinstimmung hervorbringt, veranlasst Metz schließlich, den Tag- traum als dritte Vergleichsgröße einzuführen. Dadurch fallen wichtige Differenzen weg und vergrößern sich die Gemeinsamkeiten: Sowohl die Filmwahrnehmung als auch das Tagträumen sind Wachaktivitäten. Bei beiden bleibt das Bewusstsein erhalten, dass es sich «nur» um einen Film respektive Tagtraum handelt. Es kommt also nicht wie beim Traum zu ei- ner Realitätsillusion, sondern lediglich zu einer «pseudo-croyance», einer «simulation consentie», die jedoch einen ähnlichen Grad der Wunscher- füllung und affektiven Befriedigung zulässt (Metz 1993b [1975]: 167). Und auch im Ausmaß der sekundären Bearbeitung sieht Metz größere Über- einstimmung zwischen Film und Tagtraum als zwischen Film und Traum: Il est remarquable […] que le degré et le mode de cohérence logique du film romanesque sont à peu près semblables à ceux du «petit roman», de la «sto- ry» qu’est le fantasme conscient selon les termes de Freud, c’est à dire que le rapport des forces entre l’élaboration secondaire et les diverses opérations primaires est sensiblement le même dans les deux cas. […] Il est rare que la démarche narrative d’ensemble, dans un film de fiction, fasse vraiment pen- ser à un rêve ; il est fréquent, il est même de règle qu’elle participe largement de cette formule romanesque qui est propre à la rêverie, à la «fantaisie» au sens de Freud (qui la définissait justement par référence aux oeuvres artistiques de représentation). (Metz 1993b [1975]: 160, 163) Metz ist in seinen Ausführungen stets bestrebt, den genauen Platz zu eruieren, der der Filmwahrnehmung im Vergleich zum Traum, zum Tag- traum und zur aktiven Wachhandlung zuzuordnen ist. Das Spezifische und Außergewöhnliche des Filmerlebnisses sieht er darin, dass es in man- cher Hinsicht genau am Schnittpunkt zwischen Wachen und Schlafen, Be- wusstsein und Illusion, primärer und sekundärer Logik anzusiedeln ist, in einer Zwischenregion zwischen Traum und Realität, nicht weit von der Stelle, wo auch der Tagtraum zu verorten ist. 60 Von einem Klartraum oder luziden Traum spricht man, wenn der träumenden Person während des Traums bewusst wird, dass sie träumt. 60 1 Dream-Screen? Ein weiterer Autor, der bemüht ist, die Wesensverwandtschaft von Film und Traum zu beweisen, ohne dabei grundlegende Differenzen zu leug- nen, ist Richard Allen. In Projecting Illusion: Film Spectatorship and the Im- pression of Reality (1995) richtet er sein Augenmerk auf die Art des vom Film ausgehenden Realitätseindrucks und die dadurch möglichen Formen affektiver Befriedigung und Wunscherfüllung. Er vertritt die Ansicht, im Kino sei eine Form der Wahrnehmung möglich, bei der die Zuschauer das Bewusstsein der Konstruiertheit und Medialität der Darstellung verlieren, sich vorstellen oder gedanklich darauf einlassen, eine kohärente und kom- plett ausgestattete Welt vor sich zu haben, ohne dabei dem Glauben zu verfallen, die fiktionalen Ereignisse spielten sich tatsächlich im Hier und Jetzt ab. Diese spezifische Form der Rezeption, die er «projective illusi- on» nennt, führe dazu, dass Filmhandlungen mit derselben psychischen Intensität auf uns einwirkten wie Traumereignisse und deshalb auch ähn- liche Formen der affektiven Erfüllung ermöglichten. Allerdings bleibe die Tatsache bestehen, dass die Filmzuschauer wach seien. Sie könnten des- halb – im Unterschied zur Traumsituation – der Illusion, ihre unbewussten Wünsche seien durch die wahrgenommenen Ereignisse tatsächlich reali- siert, nicht komplett verfallen, sondern nur teilweise und in ähnlich abge- schwächter Form, wie dies beim Tagtraum der Fall sei. 1.5 Neurophysiologische Hypothesen Die im vorangehenden Kapitel analysierten Film/Traum-Analogien beru- hen allesamt nicht nur auf einer ganz bestimmten Konzeption der mensch- lichen Psyche, sondern – damit verbunden – auch auf präzisen Vorstellun- gen über Entstehung und Funktion der Träume. Neben der Psychoanalyse hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts jedoch auch die neurophysiolo- gisch ausgerichtete Schlafforschung dem Phänomen Traum zugewandt. Wichtige Voraussetzungen dafür waren die Fähigkeit, die elektrischen Potenzialschwankungen des menschlichen Gehirns aufzuzeichnen (erst- mals 1924), der Nachweis, dass die Gehirnaktivität (gemessen am Elekt- roenzephalogramm) sich sowohl beim Wechsel vom Wach- zum Schlafzu- stand als auch innerhalb des Schlafs grundlegend verändert (1930er-Jahre) sowie die Entdeckung des REM-Schlafs (1953).61 In der Folge wurde die Erforschung der nächtlichen Gehirnaktivität weiter vorangetrieben – mit besonderem Augenmerk auf die REM-Phase, die durch empirische Unter- suchungen als jenes Schlafstadium ermittelt werden konnte, in dem bei 61 Vgl. Strauch/Meier 1992: 16–21. 1.5 Neurophysiologische Hypothesen 61 Weckungen am häufigsten lebhafte Träume berichtet wurden. 1977 stellten Allan Hobson und Robert McCarley, zwei führende Wissenschaftler am Harvard Medical School Department of Psychiatry in Boston, schließlich eine neue Traumtheorie zur Diskussion. In ihrem Aufsatz «The Brain as a Dream State Generator: An Activation-Synthesis Hypothesis of the Dream Process» (1977) vertreten sie die Ansicht, es seien primär neurophysiologi- sche – nicht psychologische – Faktoren, die die Traumentstehung bestim- men. Der REM-Schlaf, den verschiedene Säugetiere mit dem Menschen teilen, sei ein automatisch ausgelöster, stereotyp ablaufender und dyna- misch kontrollierter Prozess,62 der für den Organismus wichtige Funkti- onen erfülle. Da Träume vor allem während dieser Schlafphase nachge- wiesen werden können, müssten Beginn, Länge und Häufigkeit biologisch bedingt und physiologisch gesteuert sein. Damit nicht genug: Die Autoren stellen darüber hinaus die These auf, dass auch dem Geheimnis verschiedener formaler und inhaltlicher Traum- charakteristika am ehesten mit neurophysiologischen Erklärungsversu- chen beizukommen sei. Ihre Argumentation stützt sich auf folgendes Mo- dell der Traumentstehung (das ich hier vereinfacht wiedergebe): Während des REM-Schlafs ist das Gehirn äußerst aktiv, insbesondere im visuellen Zentrum des Gehirnstamms. Die gemessenen elektrischen Impulse – na- mentlich die sensorischen und motorischen Signale – erscheinen jedoch willkürlich und ungeordnet. Es kommt häufig zu zeitgleichen Aktivierun- gen von Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern, die im Wachen nicht üblich sind. Das Gehirn ist somit gezwungen, eine Vielzahl unzusammen- hängender Informationen zu einer Einheit zu verarbeiten. Erschwerend wirkt sich dabei ein komplexer Koordinationsmechanismus zwischen Ge- hirn, Wahrnehmungs- und Bewegungsapparat aus, der für das Wachleben unabdingbar ist: Um sicherzustellen, dass die Einschätzung der eigenen Körperposition und die räumliche Orientierung stimmen, muss das Ge- hirn ständig die «Bewegungsbefehle», die es an Augen, Kopf und Körper ausgibt, mit den Daten abgleichen, die über die Wahrnehmungskanäle hereinkommen. Drehen sich zum Beispiel die Augen nur leicht zur Seite, hat das eine markante Änderung des Netzhautbildes zur Folge, und nur dank der Tatsache, dass das Gehirn diese Veränderung mit der Bewegung des Auges gegenrechnet, entsteht nicht der falsche Eindruck, der Raum 62 Wird das Eintreten des REM-Schlafs durch gezieltes Wecken verhindert oder regelmä- ßig unterbrochen, so holt der Organismus das Verpasste durch häufigeres Auslösen und erhöhte Dauer der REM-Phasen nach. Zudem zeigt ein Vergleich zwischen ver- schiedenen Säugetieren, dass die Länge der REM-Phasen von der Körpergröße abhän- gig ist. Vgl. Hobson/McCarley 1977: 1338 und Hobson 1980: 12–13. 62 1 Dream-Screen? bewege sich.63 Im REM-Schlaf bewegen sich die Augen zwar noch heftiger und willkürlicher als im Wachzustand, und das Gehirn sendet auch fort- laufend und ungeordnet Aktivierungssignale an den Bewegungsapparat. Da die Augen aber geschlossen sind und Körperbewegungen aufgrund des unterdrückten Muskeltonus nicht oder nur sehr reduziert erfolgen, fehlen die zu erwartenden Informationen über Veränderungen in der Au- ßenwahrnehmung. Dadurch entsteht für das Gehirn eine Differenz, die es als Bewegung oder räumliche Veränderung interpretiert. Somit lassen sich gemäß Hobson und McCarley traumtypische Ele- mente wie Raumsprünge, abrupte Szenenwechel, unlogische Übergänge, disparate Sinneswahrnehmungen, Identitätsverschiebungen und bizar- re Elemente dadurch erklären, dass das Gehirn im REM-Schlaf mit einer Vielzahl ungeordneter und widersprüchlicher Signale konfrontiert wird – insbesondere bezüglich Körperbewegung und Raumwahrnehmung –, die unter Zuhilfenahme gespeicherter Daten (Erinnerungen) so gut wie möglich zu einem Ganzen synthetisiert werden. Komplizierte psychologi- sche Erklärungsmodelle – etwa die von Freud postulierten Mechanismen der Zensur und Traumarbeit – könnten fallengelassen werden zugunsten einer viel einfacheren Auslegung, die wesentliche Gründe für die spezifi- sche Gestalt der Träume in den physiologischen Bedingungen sieht, unter denen das Gehirn während des Traumstadiums zu arbeiten hat. Hobson und McCarley bestreiten nicht, dass bei der Traumentste- hung auch psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Allerdings kommt in ihrem Modell der Rückgriff auf gespeicherte Erfahrungen und Erinne- rungen erst dann ins Spiel, wenn der Prozess der Traumgenerierung längst initiiert worden ist und verschiedenste elektrische Signale und Impulse das Gehirn zu einer Syntheseleistung zwingen. Nach welchen Prinzipi- en dieser Rückgriff genau funktioniert, können sie nicht erklären. Aus- gemacht scheint den Autoren jedoch, dass der Prozess viel direkter und konstruktiver ablaufen muss als von Freud postuliert: Unfortunately, neurophysiology is not yet in a position to model precisely the synthetic side of the process. Thus, such concepts as wish-fulfillment, symbo- lization, defense, and conflict are still viable with respect to the way in which the brain assembles and makes sense out of relatively inchoate sensorimo- tor signals. But rather than retain these elaborate and complicated notions – which were actually introduced to account for the bizarre features of the 63 Das beschriebene «Reafferenzprinzip» wird erkennbar, wenn man die Augen mecha- nisch von außen bewegt statt durch internen Befehl übers Gehirn. Drückt man den Augapfel mit dem Finger nach unten, so entsteht der Eindruck, der Raum bewege sich nach oben. Vgl. Kebeck 1994: 82–83. 1.5 Neurophysiologische Hypothesen 63 dream experience – we would be inclined to see the synthetic process as pro- ceeding in a relatively straightforward, constructive manner. During dream- ing sleep, the brain – information processing machine par excellence – makes the best of a very bad job by synthesizing the dream out of the inchoate ele- ments sent up to the forebrain from the brain stem. (Hobson 1980: 15)64 Anstelle eines psychischen Abwehrdispositivs, das defensiv darauf ausge- richtet ist, einen unbewussten Wunsch zurückzuweisen oder in eine Form zu bringen, die dem Bewusstsein akzeptabel erscheint, sehen sie als zen- trale Instanz also das Gehirn, das eine Unzahl zufälliger Impulse ad hoc und ohne große Umwege zu einem Traumgeschehen verbindet.65 Diese neuen Hypothesen zur Traumentstehung sind in unserem Zusam- menhang – neben der Tatsache, dass sie einige Annahmen der psychoana- lytischen Theorie in Frage stellen – vor allem deshalb interessant, weil sie Hobson zur Lancierung einer eigenen Variante der Film/Traum-Analogie animiert haben. Der Neurowissenschaftler war immer wieder bestrebt, seine Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns mit Entwicklun- gen in Kunst und Kultur in Beziehung zu setzen. So hat er 1977 die Aus- stellung Dreamstage: An Experimental Portrait of the Sleeping Brain am Car- penter Center for the Visual Arts an der Harvard University organisiert, in der er den Versuch unternahm, neurophysiologische Forschungsergeb- 64 Neueste Erkenntnisse gehen davon aus, dass Erinnerungen je nach Entwicklungsphase, aus der sie stammen, auf unterschiedlichen Stufen abgelegt sind, deren Zugänglichkeit asymmetrisch geregelt ist: Im Schlaf, der einen weniger komplex organisierten Zustand repräsentiert, kann das Gehirn sowohl auf Gedächtnisinhalte auf hohem als auch auf tiefem Komplexitätsniveau zugreifen, also auf Erinnerungen aus frühen wie späteren Entwicklungsphasen. Im Wachen (komplexer Zustand) kann das Gehirn jedoch fast nur auf Inhalte auf hohem Niveau zugreifen. (Dies erklärt sowohl die frühkindliche Amnesie als auch die Schwierigkeit, Träume zu erinnern.) Gleichzeitig werden mit dem Wechsel in den weniger komplexen Schlafzustand auch kognitiv-emotionale Strategien aus frühen Entwicklungsstadien (der Kindheit) aktiviert. Form und Inhalt der Träume sind also auch dadurch bedingt, dass im Schlaf ein weiter zurückreichendes Reservoir an Erinnerungen zur Verfügung steht und gleichzeitig in einer Weise damit umgegan- gen wird, die der kindlichen Fantasie näher kommt als erwachsener Verstandeslogik. Vgl. Lehmann/Koukkou 2000: 47–68 und Koukkou/Lehmann 2000: 227–249. 65 Hobson und McCarley sind der Meinung, dass ihr Modell auch verschiedene traum- typische Situationen zu erklären vermag, die bisher meist psychoanalytisch gedeutet wurden. Das Gefühl, sich nicht fortbewegen zu können, sei viel eher direktes Abbild der motorischen Hemmung als Ausdruck eines unbewussten Wunsches, gefasst zu werden. Und Flugträume kämen höchstwahrscheinlich durch die beschriebenen au- ßergewöhnlichen Bewegungseindrücke zustande und müssten nicht sexuell gedeutet werden. Vgl. Hobson/McCarley 1977: 1339 und McCarley 1998: 117–133. Interessant ist auch ihre These (McCarley/Hobson 1977: 1211–1221), Freud habe seine Konzeption der menschlichen Psyche direkt auf einem neurophysiologischen Modell aufgebaut, an dem er zwischen 1890 und 1895 gearbeitet hatte, das damals unveröffentlicht blieb (Freud 1950) und unterdessen weitgehend widerlegt sei. 64 1 Dream-Screen? nisse in Zusammenarbeit mit Künstlern einem breiten Publikum sinnlich erfahrbar zu machen.66 Und in seinen Aufsätzen taucht immer wieder die Frage nach Gemeinsamkeiten zwischen Kunst und Wissenschaft auf. Vor diesem Hintergrund erstaunt es weniger, dass er im Frühling 1979 an einer filmwissenschaftlichen Tagung zum Thema Bergman and Dreams teilnahm, um in einem Referat den Konsequenzen seiner Forschungsergebnisse für die kreative Arbeit des Filmkünstlers nachzugehen (Hobson 1981: 75–95).67 Hobsons Film/Traum-Analogie stützt sich auf die Überlegung, dass Filmschaffende dank der spezifischen Techniken, die ihnen zur Verfügung stehen, in der Lage sind, die oben beschriebenen Mechanismen der Traum- generierung nachzuahmen und Bildfolgen zu entwerfen, die der tatsäch- lichen Gestalt der Träume sehr nahe kommen. So ermögliche das Mittel der Montage die willkürliche Anordnung unzusammenhängender Einstel- lungen oder auch abrupte Wechsel von Schauplätzen und Personen; jump cuts, Flashbacks, Flashforwards oder Parallelmontagen könnten räumliche und zeitliche Diskontinuitäten zum Ausdruck bringen; Zeitraffer und freeze frame entsprächen Formen der unvorhersehbaren Beschleunigung oder Im- mobilisierung im Traumgeschehen; und das Verhältnis von Bild- und Ton- spur könne die Disparitäten zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungs- formen wiedergeben. Filmschaffenden steht eine reiche Palette an Bildern und Tönen zur Verfügung, die sie in beliebiger Art und Weise kombinieren können. Gelingt es, dem Faktor Zufall, der bei der Traumgenerierung eine wichtige Rolle spielt, genügend Spielraum zu lassen und sich zu lösen vom Zwang zur kohärenten, nachvollziehbaren Spielhandlung, so ist gemäß Hobson der Weg frei für experimentelle Filmwerke, die die wirre Gestalt und Bizarrheit der Träume überzeugend nachzeichnen.68 Unterstützend wirke dabei die dem Traumerlebnis vergleichbare, illusionäre Wahrneh- mung: «Like film viewing, dreams are predominantly visual hallucinoid experiences and, like film, they are accepted as real» (Hobson 1980: 15). Während Hobson erwartungsgemäß die meisten Filme oder Filmpas- sagen, die sich explizit oder implizit an Traumstrukturen orientieren, als zu kohärent und zu stark in einen narrativen Rahmen eingebettet erscheinen, entspricht die Eröffnungssequenz von Persona (SE 1966) genau seinen Vorstellungen einer «radically new treatment of dream imagery» (Hobson 1980: 19). Das Aneinandermontieren kurzer Einstellungen verschiedener 66 Eine Beschreibung der Ausstellung findet sich in Petrić 1980: 78–87. 67 Dieselben Überlegungen finden sich auch in Hobson 1980. 68 Hobson unterscheidet nicht klar zwischen der Frage, ob Filme generell mit Träumen vergleichbar sind, und jener, ob einzelne Sequenzen durch eine spezifische Ästhetik traumähnlich gestaltet werden können. Ich werde auf diese Schwierigkeit im Kapitel 1.8 näher eingehen. 1.5 Neurophysiologische Hypothesen 65 Gegenstände, Lebewesen und Szenerien, abrupte Szenenwechsel, Ansich- ten, die fragmentarisch bleiben, Zeitrafferaufnahmen, ungewohnte Bilder, die jähe Stimmungsumschwünge bewirken: All dies lasse in der Kompo- sitionsarbeit ein Spiel mit dem Zufall erkennen und zeige, dass hier mit filmtechnischen Mitteln – insbesondere Formen der Montage – die Art und Weise simuliert wird, wie das Gehirn während der REM-Phase Traumbil- der generiert. Die Tatsache, dass Ingmar Bergman Persona konzipiert hat, wäh- rend er sich wegen wiederholter Schwindelanfälle im Spital befand, ist für Hobson ein weiterer Beleg für die Nähe zum Traumentstehungsprozess. Denn Schwindelanfälle rühren daher, dass das für die Balance zuständi- ge Organ im Innenohr aufgrund einer Infektion fälschlicherweise dem Nervensystem eine Körperbewegung meldet. Da sich der Körper aber gar nicht bewegt, entsteht der verwirrende Eindruck, der Raum bewege sich. Dieser Eindruck sei vergleichbar mit der Bewegungswahrnehmung im Traum und müsse Bergman bei der Gestaltung der Eröffnungssequenz als Inspirationsquelle gedient haben. Hobson ist davon überzeugt, dass ein Großteil der Filmemacher und -kri- tiker durch das psychoanalytische Menschenbild und den damit verbun- denen psychischen Determinismus in ihrem Denken stark beeinflusst und somit eingeengt sind. Die durch seine neurophysiologischen Forschungen gewonnenen Erkenntnisse, die die Psychoanalyse in wesentlichen Punk- ten widerlegen, könnten zu einer Befreiung aus diesem Korsett der vorge- formten Muster und Bedeutungen führen und zu einer Inspirationsquelle werden. Die kreative Kompositionsleistung des Gehirns könne für den Filmkünstler zum Modell werden, um Werke hervorzubringen, die nächt- liche Traumgebilde nun endlich – losgelöst von psychoanalytischen Kli- schees – in ihrer tatsächlichen Inkohärenz und wilden Bizarrheit zeigen. Hobson siedelt die Parallele zwischen Film und Traum also hauptsächlich im Bereich ihrer Entstehung an. Eine direkte Verbindung zwischen beiden ist möglich, da das Gestaltungsmaterial dem Filmkünstler erlaubt, auf ähnliche Weise kreativ zu werden, eine ähnliche Kompositions- und Syn- theseleistung zu erbringen wie das traumgenerierende System im Gehirn. Hobsons metaphorische Gleichsetzung des Gehirns mit einer Kamera respektive einem Filmprojektor ist dazu angelegt, die Gemeinsamkeiten im Entstehungsprozess zusätzlich zu unterstreichen: Stated very simply, my thesis is that during the waking state the brain acts like a camera to incorporate images into memory, at the same time analy- zing them on-line for perceptual content. During the dream state, the visual 66 1 Dream-Screen? system of the brain acts more like a projector or image generator, and stored images are pulled out of memory and assembled into a synthetic perceptual whole. (Hobson 1980: 14) Obwohl Hobson sich als Vorreiter einer innovativen Sichtweise versteht, die psychoanalytische Positionen radikal zu überwinden vorgibt, sind auch seine Verbindungslinien zwischen Traum und Film nicht durchge- hend neu. So hatten schon die Surrealisten, die zudem von Freuds Theo- rien inspiriert waren, das Augenmerk auf den filmischen Entstehungspro- zess gerichtet und ebenfalls das Zufällige, Unlogische und Inkohärente als gemeinsame Qualitäten von Film und Traum hervorgestrichen. Hobsons Tabelle, in der er eine Verbindung von «film devices» und «dream proces- ses» zu etablieren sucht (Hobson 1980: 23), könnte beinahe unverändert auch im Aufsatz eines französischen Impressionisten oder eines Psycho- analytikers stehen. Und besonders erstaunlich erscheint die Tatsache, dass er die Illusionsthese, die zahlreichen psychoanalytischen Film/Traum- Analogien als Grundlage dient, nicht etwa als Irrtum entlarvt, sondern unreflektiert übernimmt – obwohl er es als Neurophysiologe, der mit Wahrnehmungsphänomenen vertraut ist, eigentlich besser wissen müsste. Wirklich neu an Hobsons Film/Traum-Analogie ist jedoch, dass sie ihre Inspiration und theoretische Fundierung aus neurophysiologischen Forschungsergebnissen bezieht. Und obwohl verschiedene Aspekte seiner Überlegungen Anlass zur Kritik bieten (etwa der hohe Stellenwert, den er dem Physiologischen beimisst, seine Einschätzung der Funktionsweise einzelner filmischer Techniken oder die eher naiv anmutende Auffassung vom Entstehungsprozess experimenteller Filmwerke) oder von neuesten Gehirnforschungen teilweise wieder in Frage gestellt werden69 – die Tatsa- che, dass sich ein Neurophysiologe auf filmwissenschaftliche Äste hinaus- wagt, bleibt bemerkenswert. Hobsons Überlegungen sind nicht ohne Resonanz geblieben. Seine Thesen wurden im Tagungsband Film and Dream: An Approach to Bergman (Petrić 1981b) wie auch in Dreamworks publiziert, einer interdisziplinär ausgerich- teten Zeitschrift, die 1980 mit dem Ziel gegründet wurde, das Verhältnis 69 So scheint nicht mehr haltbar, dass der Traumentstehungsprozess fast ausschließlich auf der Grundlage der Gehirnaktivität während der REM-Phase modelliert wird, denn einige Indizien sprechen dafür, dass die relative Spärlichkeit der Traumberichte bei Weckungen aus anderen Schlafphasen eher mit dem Funktionieren der Erinnerung als dem tatsächlichen Ausbleiben der Traumaktivität zu tun hat. Andererseits wird Hob- sons und McCarleys Auffassung, verschiedene Charakteristika der Träume könnten durch spezifische Hirnmechanismen erklärt werden (wodurch psychoanalytische Mo- delle an Überzeugungskraft verlieren), von neuesten neurophysiologischen Studien geteilt. Vgl. Lehmann/Koukkou 2000: 47–68 und Koukkou/Lehmann 2000: 227–249. 1.6 Kunstphilosophische Positionen 67 des Traums zu verschiedenen Kunstformen zu untersuchen, und die in der editorischen Einleitung die neurophysiologische Perspektive – neben der ästhetischen, anthropologischen, philosophischen, psychologischen und religiösen – als valable Herangehensweise erwähnt (Dreamworks 1980: 3).70 Zudem haben einzelne Autorinnen und Autoren wie Marsha Kinder (1980), die Herausgeberin von Dreamworks, oder John Michaels (1980) in der Folge Versatzstücke aus Hobsons Thesen in ihre eigenen Überlegun- gen aufgenommen. Und sowohl Vlada Petrić, der Organisator der Tagung Bergman and Dreams, als auch Bruce Kawin waren bestrebt, zusätzliche neurophysiologische Verbindungslinien zwischen der Film- und Traum- wahrnehmung zu etablieren: Petrić, indem er behauptete, der menschliche Wahrnehmungs- und Verarbeitungsapparat werde im Kino dank der laut ihm stroboskopisch wirkenden Vorführtechnik und spezifischer Darstel- lungsmittel (wie dynamische Kamerabewegungen und Montageformen) unterschwellig auf ähnliche Weise erregt wie während des Träumens (1981a: 18);71 Kawin, indem er spekulierte, dass Filme wie Träume bei ihrer Erschaffung und Verarbeitung vorwiegend die rechte Hirnhälfte in An- spruch nähmen (Kawin 1981: 13–17).72 1.6 Kunstphilosophische Positionen und Hollywood als «Traumfabrik» Neben den Autoren, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche, Denkschule oder Filmbewegung sinnvoll gruppiert werden kön- nen, gibt es im Film/Traum-Diskurs verschiedene Einzelstimmen, die sich weniger klar einordnen lassen. Darunter befinden sich sowohl viel zitierte Filmtheoretiker (Siegfried Kracauer und Jean Mitry)73 und Kunstphiloso- phen (Susanne Langer, F. E. Sparshott und Edgar Morin) als auch weniger bekannte Autoren und ebenso längere Abhandlungen (z. B. Uwe Gaubes 70 Die erste Nummer wurde bezeichnenderweise dem Verhältnis von Traum und Film gewidmet. 71 Auch David Thomson (1977: 103–107) versuchte eine Verbindung zwischen dem Fli- ckern der Filmbilder und neurophysiologischen Aktivitäten zu etablieren. Eine Erläu- terung, wie es möglich sein soll, dass ein Effekt, der unter der menschlichen Wahrneh- mungsschwelle liegt, dermaßen auf die Psyche einwirkt, bleiben sowohl Thomson als auch Petrić jedoch schuldig. 72 Bei großzügiger Auslegung kann gar ein früher Vorläufer der Ende der 1970er-Jahre angerollten Welle von neurophysiologischen Film/Traum-Vergleichen ausgemacht werden. In seiner Studie «Vergleichspunkte zwischen Film und Traum» nahm der Wie- ner Nervenarzt und Universitätsprofessor Otto Pötzl (1950 [1938]) Hobsons metapho- rische Angleichung des visuellen Wahrnehmungsapparates mit der Kamera und des Gehirns im Traumstadium mit dem Filmprojektor bereits 1938 vorweg. 73 Auf Mitrys Überlegungen werde ich im Kapitel 2.5 eingehen. 68 1 Dream-Screen? Film und Traum, 1978) wie kurze Anmerkungen. Zum Abschluss meines theoriegeschichtlichen Parcours sollen nun die Positionen von Langer, Sparshott und Morin, die je einen neuen Aspekt ins Spiel bringen, sowie die Metapher von Hollywood als «Traumfabrik», ohne die die Palette der Film/ Traum-Vergleiche unvollständig bliebe, noch kurz besprochen werden.74 Die Konstruktion von Raum und Zeit ist, wie wir gesehen haben, einer der Bereiche, in dem fast alle Autoren wichtige Parallelen zwischen Film- und Traumwelt ansiedeln. Meist werden die Inkohärenz räumlicher Zusam- menhänge und die Diskontinuität zeitlicher Abläufe erwähnt. Vereinzelt wird auch behauptet, die Traumwahrnehmung beruhe genauso wie die Filmwahrnehmung auf der dreidimensionalen Interpretation zweidimen- sionaler (auf eine innere Traumleinwand projizierter) Bilder. F. E. Sparshott und Susanne Langer haben den Analogieerwägungen auf diesem Gebiet je einen weiteren Aspekt hinzugefügt. Langer postulier- te als gemeinsame Qualität von Film und Traum einen spezifischen Prä- sentationsmodus, der sich dadurch auszeichne, dass er den Anschein der Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit erzeuge. Zuschauer wie Träumer hätten ständig das Gefühl, im Brennpunkt eines Geschehens zu stehen, das sich im Hier und Jetzt, direkt vor ihnen abspielt: Cinema is «like» dream in the mode of its presentation: it creates a virtual present, an order of direct apparition. That is the mode of dream. […] The most noteworthy formal characteristic of dream is that the dreamer is always at the center of it. […] His relation is, so to speak, equidistant from all events. Things may occur around him or unroll before his eyes; he may act or want to act, or suffer or contemplate; but the immediacy of everything in a dream is the same for him. This aesthetic peculiarity, this relation to things perceived, characterizes the dream mode: it is this that the moving picture takes over, and whereby it creates a virtual present. In its relation to the images, actions, events, that constitute the story, the camera is in the place of the dreamer. […] The «dreamed reality» on the screen can move forward and backward be- cause it is really an eternal and ubiquitous virtual present. The action of dra- ma goes inexorably forward because it creates a future, a Destiny; the dream mode is an endless Now. (Langer 1953: 412–413, 415, Herv. i. O.)75 74 Verweise auf weitere Autoren und Textpassagen, die Film und Traum in Verbindung bringen, hier aus Platzgründen jedoch nicht berücksichtigt werden konnten, finden sich in Morin 1995 [1956]: 15–16, Casebier/Casebier 1980: 88–91 und Bordwell 1991 [1989]: 76–77. 75 Die Funktion der Kunst besteht nach Langers Theorie darin, Bereiche unseres emotio- nalen Innenlebens zu objektivieren und dadurch für uns klarer erkennbar zu machen. Jede Kunstform ist in dieser Sichtweise geeignet, bestimmte Aspekte unseres subjek- 1.6 Kunstphilosophische Positionen 69 Für Sparshott existiert Übereinstimmung zwischen Filmzuschauer und Traum-Ich ebenfalls in der Form der Raumwahrnehmung und Anteil- nahme, die sich allerdings durch eine Art entfremdete Doppelperspektive auszeichne: starkes Involviertsein bei gleichzeitig detachierter Beobachter- position. [I]n film our sense of space is somehow bracketed or held in suspense: we are aware of our implied position and accept it, but are not existentially com- mitted to it. We do not situate ourselves where we see ourselves to be. […] A director determines the audience’s spatial relationship to his film. But what he determines remains an imaginary space: we are within the film’s space without being part of its world, and observe from a viewpoint at which we are not situated. The alienated space of film is not the only experienced space in which the spectator participates without contact, and which he observes from a vantage point that contrives to be at once definite and equivocal or impossible. The spatiality of dreams is somewhat similar. […] In my dreams, too, I see from where I am not, move helplessly in a space whose very nature is inconsistent, and may see beside me the being whose perceptions I share. (Sparshott 1971: 115–116)76 Eine vergleichbare Parallele sieht Sparshott im zeitlichen Verhältnis von Zuschauer und Traum-Ich zu den Film- und Traumereignissen: Beide näh- men das Geschehen einerseits als gegenwärtig, als sich im Hier und Jetzt abspielend wahr, stünden den zahlreichen Rück- und Vorgriffen, Beschleu- nigungen und Verlangsamungen aber ebenso als distanzierte Beo bachter einer konstruierten Zeitlichkeit gegenüber: «Film time has a quality ana- logous to that dreamlike floating between participation and observation, between definite and indeterminate relationships, that gives film space its pervasive character» (Sparshott 1971: 116). Sowohl Langers als auch Sparshotts Vergleich ist nicht unproblema- tisch. Langer setzt sich mit ihrer Charakterisierung der Filmwahrnehmung derselben Kritik aus wie die auf der Illusionsthese basierenden Film/Traum- Vergleiche. Und Sparshotts Konzept wurde von Robert Curry (1974: 83–89) zu Recht dahingehend kritisiert, dass es das Traumerlebnis unzutreffend wiedergibt, denn in der Regel ist das Traum-Ich ja integraler Bestandteil seiner Traumwelt und aktiv in die Geschehnisse involviert, sodass – außer tiven Gefühlslebens darzustellen, der Film verkörpere das ideale Instrument, um den Traum zu objektivieren (vgl. Carroll 1988: 13). Aufgrund der großen Verbreitung und Popularität von Feeling and Form hat auch Langers «A Note on the Film» – obwohl le- diglich ein fünfseitiges Anhängsel zu ihrer über 400-seitigen allgemeinen Kunsttheorie – große Beachtung gefunden. 76 George Linden (1970: 171–194), der im Bezug auf das Verhältnis des Träumers zu sei- nem Traum von einer «psychic bi-presence» spricht, argumentiert ähnlich. 70 1 Dream-Screen? in luziden Träumen – Distanz und kritisches Bewusstsein fehlen, die nötig wären, um der Konstruiertheit der räumlichen und zeitlichen Zusammen- hänge überhaupt gewahr zu werden. Und auch die bereits von den An- hängern der Dream-Screen-These vorgebrachte Feststellung, dass sich das Traum-Ich oft nicht in agierender, sondern in beobachtender Position be- finde, ist ein eher schwaches Anaologieargument, solange nicht aufgezeigt werden kann, dass diese Konstellation eher der spezifischen Kinosituat ion als lediglich einer normalen Beobachtersituation im Alltag entspricht. In seiner Antwort auf Currys Kritik hat Sparshott (1974: 92) seine Po- sition dahingehend revidiert, dass er zugab, der beschriebene Eindruck einer seltsamen Doppelperspektive entstehe nicht im Traum selbst, son- dern erst in der nachfolgenden Erinnerung daran. Diese Präzisierung wirft allerdings die Frage auf, ob die postulierte Doppelperspektive nicht eine normale Folge des Erinnerungsvorgangs ist – der sich dadurch auszeich- net, dass zwei unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, eine vergangene und eine aktuelle, aufeinandertreffen –, also nicht als spezifische Eigenart der Traumerinnerung bezeichnet werden kann. Einmal mehr scheinen hier Eigenheiten des Films auf den Traum projiziert zu werden, wobei auch Sparshotts Charakterisierung der Filmwahrnehmung kritisch zu hinter- fragen wäre. Gleichzeitig zeigen seine Ausführungen, wie wichtig und gleichzeitig schwierig es ist, konsequent zwischen Traumerlebnis und nachträglicher Traumerinnerung (das eine gelangt ja nur mittels des an- deren ins Bewusstsein) zu unterscheiden – eine Differenzierung, die viele Autoren nicht vornehmen, obwohl sie für ihre Argumentation je nach Be- darf auf Eigenheiten der einen wie der anderen Erfahrung zurückgreifen. Eine weitere erwähnenswerte Variante der Film/Traum-Analogie aus der Feder eines Philosophen findet sich in Edgar Morins Le cinéma ou l’homme imaginaire (1956). Viele in diesem Buch aufgeführte Vergleichs- punkte sind zwar altbekannt – Aufbrechen raumzeitlicher Zusammenhän- ge, unvermitteltes Auftauchen und Verschwinden von Objekten, Verlang- samungen, Beschleunigungen oder Umkehrungen –, speziell an Morins Analogie ist jedoch, dass sie auf ein besonderes Verständnis des Traums als «musée imaginaire de notre pensée en enfance: la magie» rekurriert (1995 [1956]: 84–85). Film und Traum in Beziehung setzen bedeutet für Morin deshalb, wie Schneider formuliert hat, «filmische und magische Wahrneh- mungsformen zu vergleichen» (1998: 33). Die Verknüpfung von Film und Kino mit dem Traum bezieht sich nicht immer auf den eigentlichen Nachttraum. Verschiedentlich wurde, wie wir gesehen haben, der Tagtraum als Vergleichsgröße ins Spiel gebracht. Hin- zu kommt, dass «Traum» oft in einem metaphorischen oder erweiterten 1.6 Kunstphilosophische Positionen 71 Sinn gebraucht wird und Bedeutungen wie Wunschvorstellung, Fanta- sie, Sehnsucht oder Idealbild mit einschließt. In diesem Sinn ist auch das bekannte Schlagwort von Hollywood als «Traumfabrik» zu verstehen, das im deutschen Sprachraum bereits 1931 (Ilja Ehrenburgs Die Traumfa- brik), im englischen 1951 (Hortense Powdermakers Hollywood, the Dream Factory) als Buchtitel in Erscheinung trat.77 Mittlerweile kann man ganze Regale füllen mit Büchern, die Hollywood, die Filmindustrie allgemein oder neuerdings auch Bollywood als Traumfabrik bezeichnen. Die Ver- wendung des Begriffs fällt dabei meist ambivalent aus: Die Kombination von «Fabrik» mit «Traum» bringt auf der einen Seite ein Bedauern über die Standardisierung und massenhafte Fertigung von etwas ursprünglich sehr Persönlichem und Intimem zum Ausdruck (Powdermaker spricht von Hollywoods «mass production of prefabricated daydreams» 1951: 39). Zudem bedient sie, wie folgendes Zitat von René Fülöp-Miller zeigt, vorgefasste Meinungen vom Film als fantasieabtötender, zu Passivität ver- leitender Kommerzware, die vor allem in der frühen Filmpublizistik weit verbreitet waren: So erspart die Phantasiemaschine den vielen von der Natur stiefmütterlich ausgestatteten Menschen, die nicht einmal die geistige Kraft haben, sich ohne fremde Hilfe die Erfüllung ihrer Wünsche vorzustellen, jede Art Anstren- gung, indem sie ihnen das jeweils ersehnte Phantasiebild fix und fertig als käufliche Ware liefert. (Fülöp-Miller 1931: 65) Auf der anderen Seite schwingt meist auch eine Portion Faszination über die «ready-made day-dreams» (Wolfenstein/Leites 1977 [1950]: 12) mit, suggeriert das Wort «Fabrik» doch ebenso Effizienz, starke Verbreitung und große Wirkmacht. Die Filmindustrie bringt es fertig, selbst unsere intimsten Sehnsüchte auf die Leinwand zu bannen und durch serielle Vervielfältigung in den öffentlichen Raum – und damit ins kollektive Be- wusstsein – zu projizieren. In diesen Zusammenhang gehört auch die – je nach Autor eher posi- tiv oder negativ konnotierte – Auffassung des Kinos als Ort unbewusster eskapistischer Wunschfantasien, wie sie etwa in Hofmannsthals bereits be- sprochenem «Ersatz für die Träume» oder in Barbara Demings Buch Run- ning Away from Myself: A Dream Portrait Drawn from the Films of the Forties (1969) zum Ausdruck kommt. 77 Eine weitere frühe Publikation mit einer ähnlichen Metapher im Titel ist René Fülöp- Millers Die Phantasiemaschine: Eine Saga der Gewinnsucht (1931). Vgl. auch Schneider 1998: 30–31. 72 1 Dream-Screen? 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? Die vorangehenden Kapitel haben gezeigt, wie vielfältig die Formen sind, die der Film/Traum-Vergleich annehmen kann, und wie unterschiedlich zugleich die theoretischen Fundamente – sofern vorhanden – aussehen, auf denen er aufbaut. Zudem hat der theoriegeschichtliche Streifzug punktuell bereits verschiedene Probleme zutage gefördert, die die Analo- giebildung oft zweifelhaft erscheinen lassen. Im Folgenden möchte ich die Schwachpunkte und Schwierigkeiten der Analogie systematischer darstel- len, als dies in den historisch ausgerichteten Kapiteln möglich war. Argumentationen, die sich auf Analogien stützen, versuchen Situati- onen, Phänomene oder Objekte dadurch genauer zu fassen, dass sie ähnli- che Situationen, Phänomene oder Objekte als Vergleichsgröße beiziehen.78 Besteht in einer hinreichenden Anzahl von relevanten Vergleichspunkten Übereinstimmung, so wird angenommen, dass weitere (mit diesen Punk- ten in einem kausalen Zusammenhang stehende) Charakteristika, die nur vom einen Phänomen bekannt sind, mit großer Wahrscheinlichkeit auch aufs andere zutreffen. Der erhoffte Erkenntnisgewinn beruht also auf ei- ner Art Wissenstransfer: Ein bestimmter Bereich X eines Phänomens A entzieht sich der direkten Beobachtung und Erhellung; die Eigenschaf- ten eines anderen, ähnlichen Phänomens B in demselben Bereich X sind hingegen genau erfasst. Kann nun gezeigt werden, dass die Bedingungen und Umstände, die bei Phänomen B zu den entsprechenden Eigenschaf- ten geführt haben, bei Phänomen A genauso vorliegen, so wird spekuliert, dass Phänomen A im unbekannten Bereich X dieselben Eigenschaften aufweist. Je höher die Anzahl und je enger die kausale Verknüpfung der gemeinsamen Eigenschaften, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Transfer vom einen aufs andere Phänomen berechtigt ist. Umgekehrt nimmt die Berechtigung ab, je mehr Disanalogien den Analogien gegen- überstehen. Die Grundvoraussetzung dafür, dass eine Analogie etwas auszusa- gen vermag, besteht jedoch darin, dass die Phänomene überhaupt diffe- renziert und richtig charakterisiert werden. Sind schon die zentralen Ver- gleichsmerkmale falsch gefasst, so ist die Analogie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Folgenden möchte ich deshalb mein Augenmerk zunächst darauf richten, wie der Film respektive Traum in den bespro- chenen Analogien beschrieben werden. Dabei stellt sich allerdings fol- gendes Problem: Die meisten Autoren machen nicht nur ihre eigene, oben 78 Die Überlegungen zur Analogiebildung in diesem Abschnitt stützen sich auf Carroll 1988: 14–15. 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 73 skizzierte Vorgehensweise nicht explizit, sie scheinen in der Regel auch davon auszugehen, dass sowohl der Film und das Kinoerlebnis als auch der Traum relativ klar zu fassende, einheitliche Phänomene darstellen. Nur so lässt sich erklären, dass sie sich zumeist gar nicht oder zumindest nicht lange damit aufhalten, die beiden Komplexe erst einmal unabhängig voneinander und differenziert darzustellen. Und auch dort, wo einer Ana- logiebehauptung ganz spezifische Film- und Traumerlebnisse zugrunde liegen, ist oft weiterhin pauschal von «dem Kino» und «dem Traum» die Rede. Es wird im Folgenden also auch darum gehen, implizite Annahmen und Auffassungen aufzudecken. Zuerst zum Film: Hier stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Art von Film vorausgesetzt wird. Zwar gibt es einzelne – sehr pauschal an- mutende – Versuche, bestimmte Traumarten mit spezifischen Filmgenres in Verbindung zu bringen. So wurden schon Alb- und Angstträume mit dem Horror-, Katastrophen- und Suspense-Genre, erotische Träume mit erotischen Filmen oder «süße» Träume mit Komödien verglichen (Curry 1974: 84; Mast 1983 [1977]: 41–46); und für einige Autoren erweisen sich einzelne Genres als besonders traumnah, etwa der fantastische (Brunius, Desnos und Goudal), komische (Goudal) oder animierte Film (Montani und Pietranera). Im Normalfall wird die Filmart jedoch nicht spezifiziert. Folglich müssten die entsprechenden Überlegungen zur Affinität von Film und Traum eigentlich für sämtliche Gattungen gelten, den Industrie-, Lehr-, Überwachungs- oder Experimentalfilm genauso wie den Spielfilm. Einzelne Autoren wie etwa Baudry, die vornehmlich auf die Anordnung der Kinoapparatur und die Wirkung dieses Dispositivs fokussieren, schei- nen tatsächlich eine Traumverwandtschaft als gegeben zu erachten, die völlig unabhängig von Art, Form und Inhalt der projizierten Filme exis- tiert. Kommen in den Vergleichen aber Aspekte wie die Gestaltung der fik- tionalen Welt, spezifische Darstellungstechniken, die Immersion der Zu- schauer in die Leinwandereignisse oder die Nähe zur Wunschfantasie zur Sprache – und dies ist mitunter auch bei Baudry der Fall –, so wird schnell klar, dass die entsprechenden Überlegungen, auf trockene Lehrfilme, abs- trakte Experimentalfilme oder monotone Aufnahmen stationärer Überwa- chungskameras angewendet, ihren Sinn größtenteils verlieren. Eine erste Einschränkung besteht also darin, dass viele der Parallelen zwischen Film und Traum, denen wir begegnet sind, nur für den Spielfilm Gültigkeit be- anspruchen können. Einer der wenigen, die diese Limitierung thematisie- ren, ist Metz, der in Abgrenzung zum Wissenschafts- oder Avantgarde- Film vom «régime plénier de la narration-repésentation» spricht und sei- ne Ausführungen explizit auf das «cinéma de fiction narrative, qui n’est qu’un cinéma parmi d’autres possibles» bezieht (1993b [1975]: 154). 74 1 Dream-Screen? Aber auch in Bezug auf den Spielfilm stellt sich die Frage, ob nicht weitere Differenzierungen nötig wären. Die Verminderung von Wachheit und kritischem Bewusstsein, das vollständige Eintauchen in die Fiktion erscheint in dem behaupteten Ausmaß zumindest bei Filmen fraglich, die den Artefaktcharakter bewusst ausstellen und durch selbstreflexive oder ironische Elemente neben der erzählten Welt immer auch den Erzählvor- gang selbst in den Vordergrund rücken, mitunter auch die Zuschauer di- rekt adressieren. Somit drängt sich der Verdacht auf, dass mit «Film» in der Regel nicht nur eine bestimmte Gattung (der Spielfilm), sondern innerhalb dieser Gattung eine bestimmte Variante gemeint ist, die gemeinhin mit dem Label «klassisch» oder «illusionär» bezeichnet und mit Hollywood in Verbindung gebracht wird. Weiter kann den pauschal formulierten Analogien vorgehalten wer- den, dass sie auch im Bezug auf historisch, kulturell, geografisch oder soziodemografisch bedingte Unterschiede in der Praxis des Kinobesuchs und der Art der Anteilnahme am Filmgeschehen eine ganz bestimmte – eher modern, westlich, städtisch und intellektuell geprägte – Form des Zuschauerverhaltens in den Vordergrund rücken. Wer je in Sri Lanka oder Marokko im Kino war oder sich im eigenen Land in ein vornehmlich von Teenagercliquen frequentiertes Vororts-Multiplex gewagt hat, weiß, dass es andere Rezeptionsmodi gibt als das stille und gebannte Versinken in die Fiktion. Auch in diesem Punkt stellt Metz die löbliche Ausnahme dar, wenn er explizit das «public enfantin, public rural ou peu scolarisé, public de type communautaire, où tout le monde se connaît dans la salle» den «salles anonymes et silencieuses» der großen Städte gegenüberstellt und versucht, die entsprechenden Verhaltensweisen gesondert zu analysieren (1993b [1975]: 123–125).79 Dass das komplexe und vielgestaltige Phänomen Filmerlebnis oft nur einseitig beleuchtet wird, zeigt sich auch daran, dass vor lauter Beto- nung des Bildcharakters (in Analogie zur Visualität des Traums) der Ton als zweites konstitutives Element, über das der Film seit Ende der 1920er- Jahre verfügt, meist in Vergessenheit gerät. Die systematische Vernachläs- sigung der auditiven Dimension wurde zweifelsohne durch das Konzept der Schaulust und die generelle Vorliebe psychoanalytischer Ansätze für visuelle Metaphern begünstigt. Sie stellt allerdings ein Defizit dar, das nicht nur Film/Traum-Analogien, sondern die Filmtheorie insgesamt kennzeichnet, die den Ton – von wenigen Ausnahmen abgesehen – lange Zeit stiefmütterlich behandelt hat.80 79 Vgl. Schneider 1998: 43. 80 Vgl. Altman 1985 [1977]: 528–529 und Rosen 1986: 284. 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 75 Als Letztes kann denjenigen Autoren, die sich bei ihrem Vergleich auf die Form der Projektion berufen – etwa Petrić oder Thomson, die be- haupten, die «stroboskopische» Vorführtechnik respektive das Flickern der Bilder entsprächen neuronalen Erregungsmustern des Traumstadi- ums – entgegengehalten werden, dass mit Video und digitalen Techniken in der Zwischenzeit neue Projektionsmethoden entwickelt worden sind, die nicht mehr nach demselben Prinzip funktionieren, dass ihr Vergleichs- punkt also – so er denn stimmt (was mehr als fraglich erscheint) – nur noch auf Vorführungen mit herkömmlicher Technik zutrifft. Die meisten Film/Traum-Analogien beziehen sich also, ohne dies trans- parent zu machen, auf eine quantitativ zwar weit verbreitete, qualitativ aber ganz bestimmte Form des Filmerlebens. Hinzu kommt, dass die Charakteri- sierung dieser Erfahrung nicht in allen Punkten über jeden Zweifel erhaben ist. Insbesondere die Behauptung, das Publikum verliere im Kino jegliches Bewusstsein seiner Zuschauerposition und erliege einer Realitätsillusion, ist in ihrer absoluten Form, wie bereits ausgeführt, unhaltbar. Aber auch andere, damit verknüpfte Auffassungen, die die Psychologie der Filmrezep- tion betreffen, erscheinen zumindest anfechtbar. So wurde etwa die Ansicht, die Filmwahrnehmung gehe mit Passivität und einem stark verminderten Wachheitsgrad einher, von der kognitiven Filmtheorie vehement in Abrede gestellt. Und die Analogie mit der Unbeweglichkeit des unter motorischer Hemmung stehenden Träumers wurde dahingehend relativiert, dass der im Kinosessel versunkene Zuschauer diese Haltung im Gegensatz zum Träu- mer zwecks Aufmerksamkeitsfokussierung bewusst eingenommen hat und jederzeit davon abweichen kann (vgl. Carroll 1988: 22–24, 45–47). Noch ausgeprägter als beim Film erscheint die Undifferenziertheit und Ungenauigkeit der Autoren allerdings im Bezug auf den Traum. Robert Curry hat seiner Kritik an Sparshotts und Lindens Analogie denn auch folgende Ermahnung vorangestellt: The persistent tendency to compare films and dreams has usually been un- dertaken in an attempt to illuminate the nature of film, but if we seek to learn about x by comparing it to y, a serious interest in the comparison requires that we be clear about y. And when y is the dream, as elusive and slippery as anything in our experience, we may well need to spend some time with it before being in a position to proceed. (Curry 1974: 83) Viele Autoren stützen sich in ihrer Argumentation fast ausschließlich auf eigene Traumerlebnisse, die sie bedenkenlos verallgemeinern, oder auf verbreitete Annahmen, die sie kritiklos übernehmen. Dort, wo versucht wurde, das Traumverständnis theoretisch abzustützen, diente fast immer 76 1 Dream-Screen? die psychoanalytische Konzeption als alleinige Referenz. Die in der expe- rimentellen Psychologie angesiedelte empirische Traumforschung hingegen (die mit den Arbeiten von Alfred Maury und Marquis d’Hervey de Saint- Denys bereits in den 1860er-Jahren ihren Anfang genommen und sich seit Mitte der 1950er-Jahre stark entwickelt hat) wurde kaum zur Kenntnis ge- nommen.81 Dies führte dazu, dass beim Vergleich mit dem Film immer wieder zweifelhafte Traumeigenschaften ins Spiel gebracht wurden, die in keiner Weise empirisch abgestützt waren.82 Hinzu kommt, wie Strauch und Meier im folgenden Zitat ausführen, dass nicht nur der Volksmund, sondern auch die professionelle Traumdeutung und die meisten nicht em- pirisch fundierten Traumtheorien sich schon immer mehr für die Spekula- tion über die Bedeutung auffälliger Eigentümlichkeiten der Träume inter- essiert hat als für den Versuch, durch eine nüchterne Bestandesaufnahme erst einmal zu eruieren, welches tatsächlich die wichtigsten Charakteristi- ka der nächtlichen Erlebniswelt sind: Die Theorien zum Traum und die Praxis der Traumdeutung haben in der lan- gen Geschichte der Traumpsychologie immer schon eine bevorzugte Stellung eingenommen. Es waren also die Herkunft und die Bedeutung des Traums, die die Überlegungen zum Traum am stärksten angeregt haben. Demgegen- über ist der Zugang zum Traum, mit dem aufgezeigt werden soll, wie Träu- me «wirklich» sind, weniger beachtet worden. Eine solche Untersuchung des Traums ist aber nicht zuletzt deshalb notwendig, weil viele Aussagen über Träume seit langem überliefert werden, die sich an ihren auffallenden und nicht an ihren allgemeinen Merkmalen orientieren. Wenn Träume immer wieder als bizarr, dramatisch und gefühlsbetont beschrieben werden, dann fehlt hier die Überlegung, ob das Besondere am Traum auch das Typische repräsentiert. (Strauch/Meier 1992: 15) Vermutlich hat die Tatsache, dass jeder Mensch privilegiert und scheinbar problemlos Einblick in seine eigene Traumwelt erhält – während die wis- senschaftliche Erforschung stets mit dem Problem des Zugangs zu kämp- fen hat –, bei vielen Autoren des Film/Traum-Vergleichs eine unreflektiert introspektive Haltung begünstigt. Dass dabei Probleme des Umgangs mit dem eigenen Erfahrungsmaterial oft unterschätzt wurden, zeigt sich etwa darin, dass, wie wir gesehen haben, meist nicht explizit unterschieden 81 Eine gute Übersicht über die Methoden und den aktuellen Forschungsstand der empi- rischen Traumforschung findet sich in Schredl 1999. 82 Das Fehlen einer empirischen Datengrundlage ist im Übrigen ein Manko, das zu gro- ßen Teilen auch die psychoanalytische Traumtheorie aufweist, die sich nie wirklich um breite Abstützung und Überprüfbarkeit ihrer Hypothesen gekümmert hat. Vgl. Creed 1998: 87. 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 77 wird zwischen dem – in unbewusstem Zustand erfolgenden – direkten Traumerlebnis und der nachträglichen Wacherinnerung. Vor diesem Hintergrund erscheint es weniger erstaunlich, dass ver- schiedene Autoren immer wieder Behauptungen aufstellen – etwa: Träu- me seien stumm, schwarz-weiß oder einfarbig, Traumbilder erschienen zweidimensional und wie auf eine innere Leinwand projiziert, das Traum- Ich sei eher distanzierter Beobachter (eine Art Zuschauer) als direkt invol- vierter Akteur –, die durch empirische Erkenntnisse der experimentellen Forschung nicht gestützt oder gar widerlegt werden.83 Dass praktisch alle fragwürdigen Charakterisierungen der Traumwahrnehmung tatsächlich auf die Filmwahrnehmung (der jeweiligen Epoche) zutreffen, kann dabei kaum Zufall sein und liegt, wie ich bereits ausgeführt habe, vermutlich daran, dass im Analogiediskurs Eigenschaften des Films über Gebühr auf den Traum projiziert werden. Die Film/Traum-Analogie krankt also häufig schon daran, dass die beiden Phänomene nur ungenau erfasst werden. Ebenso problematisch erscheint die Art und Weise, wie Film und Traum sodann miteinander in Bezie- hung gesetzt werden. Dass die jeweilige Vorgehensweise fast nie explizit gemacht wird – und folglich auch die Beschränkungen und Tücken der Analogiebildung nicht reflektiert werden –, habe ich bereits erwähnt. Ein weiteres Problem vieler Texte besteht darin, dass unklar bleibt, ob tatsäch- lich eine stringente Argumentation intendiert ist, die stichhaltige Analo- gieschlüsse ermöglichen soll, oder ob die Traumerfahrung eher als (mehr oder weniger vage) Metapher gedacht ist, die gar nicht den Anspruch er- hebt, argumentativer Sorgfalt zu gehorchen. Ein Schwachpunkt verschiedener Beiträge ist ferner, dass sie zwar di- verse Parallelen zwischen Film und Traum herstellen, jedoch nicht reflek- tieren, dass sich diese zum Teil auf unterschiedliche Aspekte beziehen. So werden auf der Seite des Traums oft Merkmale in einem Atemzug genannt, 83 Wie verbreitet der sorglose Umgang mit Behauptungen über die Form der Träume ist, zeigt sich daran, dass selbst ein scharfer Kritiker der Film/Traum-Analogie wie Noël Carroll, der bestrebt ist, Disanalogien zu etablieren, ganz selbstverständlich schreibt: «The single film image is ordinarily complete, by which I mean that, typically, it is visually articulated throughout. Dream images, on the other hand, tend to be incom- plete, foregrounds without backgrounds or figures in a void» (1988: 26) – ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, dass diese Charakterisierung der Traumbilder, die vermutlich auf unsystematischer Introspektion beruht, überindividuell abgestützt werden müsste, bevor sie allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Meine eigenen Traumerinnerungen unmittelbar nach dem Erwachen entsprechen jedenfalls nicht dieser Beschreibung, allenfalls Erinnerungen an weiter zurückliegende Träume, wo- bei auch hier die Reduktion des «Trauminventars» eher eine Folge des verminderten Erinnerungsvermögens als der tatsächlichen Traumgestalt sein dürfte. 78 1 Dream-Screen? die sich auf den – dem Subjekt nicht bewussten – Schlafzustand (Dunkel- heit, motorische Inhibition), die Situation des Traum-Ichs (Traumerlebnis) oder aber des wachen Subjekts (Traumerinnerung) beziehen. Noël Carroll und Robert Curry werfen der Traumanalogie denn auch vor, sie missach- te den Grundsatz, Gleiches nur mit Gleichem zu vergleichen, und stelle fragwürdige Vergleichsebenen her, etwa wenn sie den dunklen Raum und die Immobilität als Gemeinsamkeit ins Feld führe. Wenn überhaupt, so müsse der Filmzuschauer nicht mit der schlafenden Person, sondern mit dem Traum-Ich verglichen werden: Die Dunkelheit der Umgebung und relative Immobilität des Körpers seien diesem – im Gegensatz zum Kino- zuschauer – nicht bewusst und deshalb auch nicht relevant. Eine klarere und explizitere Formulierung der Analogie hätte diese Kritik zwar nicht gegenstandslos machen, aber doch zumindest präzisieren können, wie die Verbindung von Zuschauer- und Schlafsituation gedacht war. So wie ich die verschiedenen Ausführungen interpretiere, versuchen sie diese nämlich durch die folgende, nicht direkt ausgesprochene Annah- me zu etablieren: Aufgrund der illusionären und Identifikation fördernden Wirkung des Films sei der Zuschauer genauso in die Leinwandereignisse hineinversetzt wie das Traum-Ich in seinen Traum. Er vergesse deshalb die Kinosituation, die jedoch – ähnlich wie die Schlafsituation für den Träu- mer – vor und nach dem Eintauchen in die Fiktion (sowie unterschwellig auch während des Films) nach wie vor eine Rolle spiele. Eine Zweiteilung ähnlich derjenigen zwischen schlafender Person und Traum-Ich wird so- mit – so ist zumindest zu vermuten – auch für den Kinozuschauer ange- nommen, der physisch zwar unbewegt im dunklen Saal sitzt, psychisch und emotional aber in die Diegese eintaucht. Carrolls und Currys Vorwurf trifft die Analogie demnach nicht ganz am richtigen Ort. Denn unter der Annahme, die postulierte Charakterisierung der Filmerfahrung stimme, ist an der Logik des Vergleichs nichts auszusetzen. Die Kritik müsste also nicht lauten, dass der Vergleich falsch angelegt sei, sondern dass das eine der beiden Phänomene von vornherein falsch (zu ähnlich dem anderen) eingeschätzt werde. Ein anderer Vorwurf Carrolls, der ebenfalls die Logik der Analogie- bildung betrifft, wiegt hingegen schwerer, weshalb es ihn genauer zu er- örtern gilt. Wie eingangs dieses Kapitels dargelegt, beruht der Erkennt- nisgewinn einer Analogie auf einer Art Wissenstransfer: Kenntnisse über ein Phänomen sollen helfen, ein anderes, ähnliches zu erhellen. Vorausset- zung für den «Erfolg» einer Analogie ist also, dass das als Hilfskonstrukt beigezogene Phänomen – zumindest in dem Bereich, um den es geht – besser bekannt und erforscht ist als das, welches es erhellen soll. Für Car- roll scheint klar, dass bei jeglicher «film/mind analogy» – und somit auch 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 79 bei der Analogie zwischen Film und Traum – genau diese Voraussetzung nicht erfüllt ist: Nevertheless, even if there is a long tradition of mentalistic analogies in film theory, it is not clear that this tradition has much to recommend it. For we must ask if the analogy approach – whether employing rational or irrational analogs – is very profitable, since, in fact, so little about the mind and its processes is known. For an analogy to be informative, we should know more about the item that is meant to do the illuminating than we do about the item that is supposed to be illuminated, e.g. we should know more about dreams than we do about films. This is basic to the logic of analogy. But I am not sure that this condition is met by film/dream analogies. Indeed I suspect that we probably know more about the workings of film than we do about the wor- kings of the mind. […] We know quite a lot about how film works, about why it works, about its conventions, and about its techniques. Far less is certain about the mind in either its rational or its irrational aspects. […] The reason, of course, that films are not mysterious is that we make them. We make them to work in a certain way and in the majority of cases they work the way we designed them to work. In general, we understand our own tools and inven- tions better than that which we have not created. (Carroll 1988: 48–49)84 Autoren aus dem psychoanalytischen Lager könnten Carroll entgegenhal- ten, Freuds Theorie habe die Mechanismen der Psyche und die Bedeutung der Träume sehr genau erforscht und es deshalb ermöglicht, nun endlich Aspekte des Filmerlebens zu erhellen, die für die herkömmliche Filmthe- orie unerklärlich geblieben sind.85 Berücksichtigt man diese Vorzeichen, unter denen die psychoanalytische Filmtheorie operiert hat, so kann ih- ren Vertretern nicht vorgeworfen werden, die Bedingungen missachtet zu haben, nach denen der Wissenstransfer funktioniert. Auch hier kann die Kritik nur an einem früheren Punkt ansetzen – Carroll tut dies an anderer Stelle auch – und die Grundannahmen in Zweifel ziehen, dass es einerseits der psychoanalytischen Theorie gelungen sei, den unbewussten Bereich der Psyche zu erklären, und andererseits wesentliche Aspekte des Filmer- lebnisses nach wie vor einer schlüssigen Erklärung harren. Gerade letztere Behauptung samt ihrer Begründung (wir verstünden, was wir selber her- gestellt haben) erscheint mir jedoch gewagt. Sie verneint, dass menschliche Produkte bedeutende Effekte haben können, die bei der Konzeption weder beabsichtigt waren noch auf Anhieb kontrolliert und verstanden werden können. Wir wissen sehr viel über Motorentechnik, Aerodynamik und Air- 84 Vgl. auch Carroll 1996: 302–303. 85 Tatsächlich haben psychoanalytisch argumentierende Autoren es praktisch nie für nö- tig befunden, auf Kritik seitens der kognitiven Filmtheorie einzugehen. 80 1 Dream-Screen? bags, aber hilft uns das, wenn es darum geht, die gesellschaftliche, soziale und vor allem psychologische Bedeutung des Autos zu erörtern, um zum Beispiel die Frage zu klären, wieso viele Menschen am Steuer leichter in aggressive Verhaltensmuster verfallen als in anderen Situationen? Trotz dieser Einschränkungen erscheint Carrolls Einwand für einige Film/Traum-Analogien berechtigt. Gleichzeitig macht er aber deutlich, dass seine Kritik in einer rein analytisch-theoretischen Perspektive grün- det, die den theoriegeschichtlichen Kontext der verschiedenen film/mind analogies bewusst ausblendet.86 Wie ich anhand der Texte aus den 1910er- und frühen 1920er-Jahren zu zeigen versucht habe, war eine wichtige Funktion des Film/Traum-Vergleichs ja gerade, den eigentümlichen und schwer fassbaren Reiz eines völlig neuen Mediums dadurch annäherungs- weise zu ergründen, dass man ihn mit der nächtlichen Erlebniswelt in Ver- bindung brachte – also mit etwas, das zu jedermanns Erfahrungsschatz gehörte und sich doch hinreichend von der Realitätswahrnehmung unter- schied, mit der der Film immer wieder abwertend in Verbindung gebracht wurde. In der damaligen Zeit, als man gerade erst begann, ernsthaft über den Film nachzudenken, und gleichzeitig viele Bildungsbürger und In- tellektuelle dem Kino vorurteilsbehaftet fernblieben, konnte der Verweis auf Mechanismen des Traums oder auch bewusster Gedankentätigkeit die Leser zumindest anregen, die Filmbilder anders zu denken als nur als me- chanische Reproduktion der Realität. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Annäherung von Traum und Film sich nicht unnötiger Kritik aussetzt, ist natürlich, dass sie auch offensichtliche Disanalogien erwähnt und in die Überlegungen einbezieht, etwa die Tatsache, dass Filme im Gegensatz zu Träumen öffentlich sind, von einem uns fremden Urheber stammen und in wachem und bewusstem Zustand gestaltet und rezipiert werden. Oft werden einzelne Mechanismen – etwa filmische und «traumtypische» Darstellungstechniken – vorschnell und ohne kritische Hinterfragung gleichgesetzt, sodass nicht einmal klar wird, ob die Analogie phänomenologisch oder funktional begründet ist.87 86 Immerhin gibt Carroll selbst in einer Fußnote den Einwand einer Kollegin (Mary Deve- reaux) wieder, Münsterbergs Theorie, anhand derer er die Problematik der film/mind ana- logy diskutiert, müsse im historischen Kontext gesehen werden (1996: 304, Fußnote 15). 87 Bei dieser Unterscheidung geht es um die Frage, ob z. B. eine Überblendung im Film und ein Szenenwechsel im Traum deshalb gleichgesetzt werden, weil behauptet wird, die visuelle Erscheinung sei für den Zuschauer und den Träumer die gleiche – das wür- de heißen, dass im Traum die Erscheinung einer Szene langsam ausblenden müsste, während sich das Bild einer neuen Szene langsam darüberlegt –, oder weil angenom- men wird, beide erfüllten dieselbe strukturelle oder «narrative» Funktion, etwa eine Veränderung zu markieren, die gleichzeitig als Zäsur und Verknüpfung dienen soll. Vgl. Carroll 1996: 301–302. 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 81 Charles F. Altman sieht im Ausblenden von Differenzen bei der Ana- logiebildung (wobei er sich auf die Film/Spiegel-Analogie bezieht) gar ei- nen psychischen Mechanismus am Werk, der just dem entspreche, den die psychoanalytische Theorie zu entschlüsseln versuche: In short, the very notion of analogy, so essential to Metz’s concept of the «Imaginary signifier», itself sets up an Imaginary relationship not unlike that associated by Lacan with the mirror stage. When I say that one thing resem- bles another, and thus can be understood by reference to that other (e.g., the cinema-viewing situation and the mirror stage), I am claiming to establish the unity of one area by finding it reflected in another. As in the relationship between the child and his mirror image, however, I must deny the differen- ces implicit in the reflection in order to create that unity. It is thus only by adopting an Imaginary discourse himself that Metz is able to demonstrate that cinema has an Imaginary signifier. As a method of reasoning, analogy presents the constant danger that critical language will remain a prisoner of Imaginary relationships. (Altman 1985 [1977]: 530–531) Zu Metz’ Verteidigung muss allerdings angefügt werden, dass er sich – zumindest was seinen Film/Traum-Vergleich betrifft – vorbildlich bemüht hat, nicht nur die Ähnlichkeiten, sondern auch die wesentlichen Unter- schiede zu reflektieren. Undifferenziertes Filmverständnis, fragwürdige Traumcharakterisierun- gen, Vernachlässigung empirischer Befunde, unreflektiertes Vorgehen bei der Analogiebildung, Ausblenden wichtiger Unterschiede, schwammi- ge Formulierungen – stellt der Film/Traum-Vergleich in Anbetracht der langen Liste von Beanstandungen ein fehlgeleitetes Unterfangen ohne jeglichen Nutzen für die Filmtheorie dar? So wichtig das Aufdecken der diversen Mängel ist, die Frage nach dem theoretischen Nutzen lässt sich mit Verweis auf Schwachstellen einzelner Analogien nicht beantworten. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob selbst korrekt gebildete und nuanciert for- mulierte Vergleiche nichts zum Verständnis des Filmerlebnis beizutragen vermögen. Für Carroll, den schärfsten Kritiker, ist klar, dass die Traumana- logie keinerlei Erkenntnisgewinn ermöglicht. Liest man seine Abrechnun- gen mit Münsterberg, Metz und Baudry aufmerksam, so machen allerdings einzelne Aussagen wie etwa die folgende zur Rezeptionssituation stutzig: Movies can be watched with no loss of effect while standing; people frequently walk to the rear of the theater and watch, stand in the aisles while they grab a smoke or relax their bottoms. Nor are such standing filmgoers necessarily stationary; if one watches the film while pacing across a side aisle, the impres- 82 1 Dream-Screen? sion the film imparts need not be lost. […] In my own case, I have found that I can back out of a movie theater while watching the screen or return to my seat from the beverage bar with no discernible difference in the impressions I derive from the screen when I am seated. (Carroll 1988: 23, Herv. i. O.) An anderer Stelle relativiert er die Bedeutung des dunklen Vorführsaals mit der Bemerkung: «And movies can be viewed in well-lit circumstances» (Carroll 1988: 26). Und wenn er Metz’ Konzeption des Kinoerlebnisses als einsamer Erfahrung mit dem Hinweis auf das auch in westlichen Ländern weit verbreitete gemeinschaftliche Zuschauerverhalten angreift (ebenda 41–42), so drängt sich der Verdacht auf, er habe nicht nur Metz’ ausdrück- liche Erwähnung desselben überlesen, sondern halte die Ausdifferenzie- rung dieser beiden Formen der sozialen Rezeption für unnötig. Macht es für das Filmerlebnis tatsächlich keinen Unterschied, ob die Zuschauer in bequemen Sesseln sitzen, im Gang stehen oder im Kino umherlaufen, ob sie still und gebannt nach vorne schauen oder mit ihren Sitznachbarn interagieren und das Leinwandgeschehen lautstark kom- mentieren? Oder ob der Saal in Dunkelheit gehüllt oder hell erleuchtet ist? Betrachtet man die Filmwahrnehmung lediglich als Problemlösungs- prozess, bei dem es darum geht, Hypothesen zu testen und Schlüsse aus narrativen cues zu ziehen, wie dies frühe Vertreter der kognitiven Filmthe- orie vornehmlich taten, so scheinen Differenzierungen der Rezeptionsum- stände tatsächlich zweitrangig. Will man aber Phänomenen auf die Spur kommen, die sich durch die kognitive Theorie nicht restlos erklären lassen – etwa die starke emotionale Wirkung und immersive Kraft vieler Spiel- filme –, so scheint es unumgänglich, auch die genauen Bedingungen der Rezeption in Rechnung zu stellen. Und geht man davon aus, dass der ge- bannt im dunklen Saal und bequemen Sessel versunkene Zuschauer eine spezifische Haltung einnimmt, die gewisse Rezeptionsprozesse begüns- tigt, so kann es durchaus Sinn machen, die Traumwahrnehmung im Sinn einer Denkhilfe als Vergleichsgröße beizuziehen. Ebenso kann es sinnvoll sein, Untersuchungen zur Wirkung der Montage und raumzeitlichen Or- ganisation filmischer Narrationen mit einem Seitenblick auf Formen der Gedankenassoziation und Traumkonstruktion anzureichern. Und auch wenn sich die Fragen um filmische Realitätseffekte, Zusammenspiel der Sinnesmodalitäten oder künstlerische Kreativität drehen, kann sich der Verweis auf den Traumprozess als hilfreich erweisen. Voraussetzung ist freilich, dass das Abwägen von Ähnlichkeiten und Unterschieden tatsächlich zum genaueren Erfassen der filmischen Phäno- mene und nicht zu einer Verzerrung durch unbedachte Gleichsetzungen führt. Ferner gilt es, das Augenmaß im Bezug auf die Aussagekraft der 1.7 Wie aussagekräftig ist die Analogie? 83 Analogie zu wahren. Psychologische Prozesse der Filmwahrnehmung und -verarbeitung sind so vielschichtig, dass ein Vergleich mit dem – nicht weniger komplexen – Traumerlebnis allenfalls einzelne Facetten zu erhel- len vermag. Und auch wenn dies gelingt, so gilt es zu beachten, dass, wie Carroll richtig anmerkt (1988: 14–15), Analogieschlüsse im besten Fall eine gewisse Wahrscheinlichkeit, nie aber absolute Beweiskraft erlangen kön- nen. Mangelnde Bescheidenheit ist ein fast ebenso großes Problem vieler Film/Traum-Analogien – insbesondere der psychoanalytischen – wie un- sorgfältige Vorgehensweisen. Ein besseres Verständnis des Filmerlebnisses vermag die Traumanalogie also nur bedingt zu erzielen. In gewissen Punkten scheint sie es sogar be- hindert zu haben. So kann man sich fragen, ob sie nicht mitverantwortlich war für die lange Lebensdauer der Illusionsthese oder den häufigen Ge- brauch des Schlagworts «Identifikation», die beide einer differenzierteren Untersuchung der Rezeptionshaltung der Zuschauer abträglich waren. Unbestritten scheint mir jedoch, dass der Analogiediskurs interessante Einblicke in die jeweilige Auffassung von Film und Traum ermöglicht. In meinen Ausführungen stand daher die theoriegeschichtliche Perspektive im Vordergrund. Der Traum als eine der großen Metaphern der Filmtheorie, als Ort, wo sich Überlegungen diverser Autoren kreuzen, bietet die Gele- genheit, Denkschulen unterschiedlicher Provenienz einander gegenüber- zustellen und in einen Dialog treten zu lassen, der in den Texten selber allzu selten stattfindet. Der Vergleich hat Autoren inspiriert, die sich punkto Film (Surrealis- ten und französische Impressionisten) wie auch punkto Traum (Psycho- analytiker und Neurophysiologen) zum Teil diametral widersprechen. Und auch in der Frage, ob die Nähe zum Traum eher positiv oder negativ zu werten ist, sind erhebliche Unterschiede zu verzeichnen: Während bei den frühen Literaten der Reiz einer neuen Wahrnehmungsform im Vorder- grund stand, der je nach Autor durchaus zwiespältig erscheinen konnte, sahen euphorische Kommentare der Surrealisten im Film wie im Traum befreiende Kräfte mit revolutionärem Potenzial am Werk. Psychoanalyti- sche Theoretiker werteten die Nähe zum Traum hingegen als Beweis für die psychische Determiniertheit des Zuschauersubjekts, eine Einschät- zung, die vor allem bei Baudry eher negativ konnotiert erscheint, in ihren nuancierteren Varianten allerdings – insbesondere bei Metz – ihren Reiz und ihre Ambivalenz zurückgewinnt. Die neurophysiologische Variante griff sodann den Determinismus der Psychoanalyse direkt an und sah im filmischen Gestaltungsprozess – analog zur Traumentstehung – wiederum kreative Kräfte freigesetzt, die es, auch wenn sie teilweise auf zufälligen 84 1 Dream-Screen? Konstellationen beruhen, positiv zu werten und auszuschöpfen gilt. Dass es schließlich Vertreter der kognitiven Filmtheorie – allen voran Noël Car- roll – waren, die den Film/Traum-Vergleich erstmals vehement in Frage stellten, ist ebenfalls kein Zufall. Sie sahen die Filmrezeption in erster Linie als rationalen Prozess, wandten sich gegen psychoanalytische Positionen und hegten generell Skespis gegenüber Metaphern und Analogien – ins- besondere, wenn sie als allumfassende Erklärungsmodelle daherkamen. Die größte Gemeinsamkeit von Film und Traum besteht vielleicht darin, dass beide in vielen Aspekten nach wie vor so komplex und uner- gründlich sind, dass sie ganz unterschiedliche Einschätzungen zulassen und immer wieder neue Erklärungsversuche provozieren – mitunter auch solche, die genau in der Zusammenführung der beiden schwer fassbaren Phänomene ihre Chance sehen. 1.8 Das Problem der Traumdarstellung: Film als Traum versus Traum im Film Wie beurteilen Verfechter der Film/Traum-Analogie die Möglichkeiten der filmischen Traumdarstellung? Die Frage erweist sich als komplexer, als es auf den ersten Blick scheint, denn: Wie können Filme konkrete Träume ein- zelner Figuren wiedergeben, wenn sie kraft ihrer Gestaltung, Struktur und Wirkweise selbst schon traumhaft sein sollen? Müssen die entsprechenden Sequenzen noch traumähnlicher wirken als der Rest des Films? Oder tut sich der Film genau aus diesem Grund schwer, Träume darzustellen? Ver- einfacht ausgedrückt: Hat der Traum noch Platz im Film, wenn angenom- men wird, der Film als Ganzes sei schon wie ein Traum? In Anbetracht der relativ hohen Zahl von Traumsequenzen in den meisten Genres, Ländern und Epochen erstaunt es, dass die Frage, wenn überhaupt, meist nur am Rande gestreift wird. Es scheint Mühe zu bereiten, die konkrete Gestaltung einzelner Traumsequenzen mit der generellen Annahme einer filmischen Traumverwandtschaft sinnvoll in Beziehung zu setzen. Ausdruck dieser Schwierigkeit ist die Tatsache, dass Autoren wie Hobson oder Petrić in ih- ren Formulierungen immer wieder das eine mit dem anderen vermischen. Eine genaue Lektüre der diversen Film/Traum-Analogien lässt in dieser Frage zwei Positionen erkennen: Auf der einen Seite sprechen psy- choanalytisch argumentierende Autoren wie Metz, Pratt oder Baudry dem Film grundsätzlich die Fähigkeit ab, Träume überzeugend darzustellen, wie die folgenden Zitate zeigen: Le psychologue René Zazzo, rejoignant pour le fond une remarque répétée de Freud, affirme avec raison que le contenu manifeste d’un rêve, s’il était 1.8 Das Problem der Traumdarstellung 85 strictement porté à l’écran, ferait un film inintelligible. […] [L]e film a du mal à atteindre l’absurdité véritable, l’incompréhensible pur, cela même que le plus ordinaire de nos rêves, dans certaines séquences, atteint d’emblée et sans effort. C’est pour la même raison, sans doute, que sont presque toujours si peu crédibles les «séquences de rêve» qui figurent dans les films narratives. (Metz 1993b [1975]: 149) Of course the montage can be used in numerous other ways, as to represent a dream or a state of mental confusion. But of these I cannot remember any very convincing examples, except perhaps of the latter. (Pratt 1943: 187) Une parenté [zwischen Film und Traum] qui a pu conduire les cinéastes à croire que le cinéma était l’instrument enfin approprié de représentation des rêves. Il resterait à comprendre l’échec de leur tentative. […] [E]t rien de plus ridicule que ces flous nuageux censés représenter la représentation onirique […]. (Baudry 1975: 64) Auf der anderen Seite vertreten verschiedene Autoren, die dem surrealisti- schen Umfeld angehören (Brunius, Kyrou, Desnos) oder der neurophysio- logischen Traumtheorie zuneigen (Hobson, Petrić), die Meinung, der Film sei durchaus in der Lage, Träume zu simulieren – vorausgesetzt, die richti- gen Techniken und Gestaltungsmittel kämen zum Einsatz. Allerdings wird auch von diesen Autoren bedauert, dass es nur wenige geglückte Versu- che gebe, und gegenüber herkömmlichen, konventionellen Formen der Traumdarstellung, wie sie insbesondere in kommerziellen Filmen gang und gäbe seien, kommt die gleiche Geringschätzung zum Ausdruck wie bei Autoren, die Traumsequenzen generell skeptisch gegenüberstehen. Hobson spricht in diesem Zusammenhang von «stereotyped and weak idiomatic labels of film dreams: fuzzy focus, pale shots, soundless vision, flowing gowns, and the like» und behauptet: «These film conventions are successful only because, as indications of the filmmaker’s difficulty in re- presenting the dream world, they correlate with the viewer’s difficulty in describing his own» (1980: 15). Und Petrić beklagt, dass: Dream films, or dream sequences, especially in narrative cinema, seldom make use of the wealth of devices that are both peculiar to the film medium and capable of stimulating psycho-physiological responses characteristic of the oneiric state. Rather, illustrative-histrionic resources are utilized – main- ly bizarre imagery and disjointed plot line – to depict the thematic aspect of dreams or the psychical distortions of the human mind. […] Ninety-nine percent of commercial films use dreams only as the narrative material or as a contribution to a literary interpretation of the film plot. (Petrić 1981a: 2, 15) 86 1 Dream-Screen? «Wenig glaubwürdig», «wenig überzeugend», «stereotyp», «völlig lä- cherlich»: Das Urteil über die Art, wie in den meisten Filmen Träume zur Darstellung kommen, fällt also durchwegs vernichtend aus – auch bei denjenigen Autoren, die einzelne Ausnahmen gelungener Traumwieder- gabe anerkennen. Sogleich stellt sich jedoch die Frage, welcher implizite Anspruch sich hinter diesem pauschalen Verdikt verbirgt. Nach welchem Maßstab wird hier geurteilt? Oder anders gefragt: Worauf bezieht sich das angebliche Scheitern der meisten Traumsequenzen? Die Antwort ist so einfach wie überraschend: Die Äußerungen beruhen eindeutig auf einem – eher naiven – Authentizitätsanspruch. Traumsequenzen sind unglaubwür- dig, weil es ihnen nicht gelingt, die Absurdität und Unverständlichkeit des Traums zu erreichen, und lächerlich, weil ihre «wolkigen Unschärfen» vom hoffnungslosen Versuch zeugen, die tatsächliche Traumerscheinung wiederzugeben. Hobson und Petrić verlangen gar, die filmischen Mittel müssten den Entstehungsprozess realer Träume simulieren und dem Zu- schauer ein ähnliches sinnliches Erlebnis ermöglichen wie der tatsächliche Traum. Filmische Darstellungen werden von den Autoren also direkt vergli- chen mit eigenen Vorstellungen davon, wie Träume aussehen respektive was charakteristisch für die Traumerfahrung ist. Je größer die Differenz, desto kläglicher das Scheitern. Und da die angeblichen Versuche authen- tischer Traumwiedergabe offenbar meist auf ähnliche Art misslingen, da dieselben unbeholfenen Mittel zum Einsatz kommen, werden sie als ste- reotyp und konventionell verurteilt.88 Geradezu exemplarisch kommt die- se Haltung in den folgenden Ausführungen von Hobson zum Ausdruck, der wiederum die fehlende Authentizität und mangelnde Nähe zum tat- sächlichen Traumerlebnis beanstandet: […] Bergman has stated that the coffin dream [die erste Traumsequenz in Smultronstället/Wilde Erdbeeren, SE 1957] is a direct realization of one of his own dreams. But one would like to question him about the degree of detail that appeared in the dream – whether he recalled it during or after sleep, and how much material was added in its adaptation to the film. For me, the coffin sequence is rather more like an interpreted dream than one actually experienced; it is too cool, too calm, too well-constructed – too con- trived and too predictable to be authentic. […] In the dream sequence of Wild Strawberries, a distinctly narrative framework is created with Borg himself appearing in all of the sequences and maintaining a sense of personal iden- tity and meaning. Very little attention is paid to representing many striking 88 Auf die Frage der Konventionalität filmischer Traumdarstellung werde ich im Kapitel 3.1.2.4 genauer eingehen. Vgl. auch Brütsch 2001. 1.8 Das Problem der Traumdarstellung 87 formal features of the dream experience. It is almost as if the dreams in Wild Strawberries were already analyzed. They seem more like a psychoanalyst’s interpretation of dreams described by a patient, and more like a patient’s dreams arranged for telling to a psychoanalyst, than dreams themselves. (Hobson 1981: 79, 89) Das Zitat lässt erkennen, wo die Gründe für das systematische Scheitern einer authentischen Traumwiedergabe angesiedelt werden: Das Problem bestehe im Wesentlichen darin, dass die filmische Umsetzung zu gut aus- gedacht und konstruiert wirke, dass eine narrative Einbettung stattgefun- den habe und der Traum wie für eine Erzählung und ihre anschließende (psychoanalytische) Deutung arrangiert erscheine. Demgegenüber sei die genaue Übereinstimmung mit Bergmans tatsächlichem Traum nur wenig beachtet, durch Hinzufügen von Material oder Ergänzen von Details gar zusätzlich beeinträchtigt worden.89 In die gleiche Richtung geht Petrićs weiter oben zitierter Vorwurf, kommerzielle Filme verwendeten Träume lediglich als «Erzählmaterial» und nicht – so die implizite Forderung – als Anlass für möglichst lebensechte Traumsimulationen. Offenbar fragen sich die Autoren nicht, ob es überhaupt vordringli- cher Zweck von Traumdarstellungen – insbesondere in Spielfilmen – sein muss, die Form und Wirkung der Träume so authentisch wie möglich zu rekonstruieren. Kann man die Traumsequenzen in Wilde Erdbeeren als gescheitert bezeichnen, nur weil sie kohärenter, detailreicher sowie weni- ger absurd und unverständlich sind als tatsächliche Träume? Ist zu bemän- geln, dass sie geschickt in den Haupterzählstrang eingebettet sind und im Bezug auf den Rest der Erzählung einen nachvollziehbaren Sinn ergeben? Irritierend an der verbreiteten Kritik ist, dass oft genau diejenigen Aspekte abqualifiziert werden, welche die Traumsequenzen erst zu einem konsti- tutiven Teil der filmischen Narration machen. Solche Sequenzen sind ja nicht deshalb «gut ausgedacht», «geschickt konstruiert» und nach einer bestimmten Logik in den Kontext eingebettet, weil die Filmemacher den- ken, dies seien Qualitäten unserer tatsächlichen Träume (oder weil beim ungeschickten Versuch, deren tatsächliche Form nachzuzeichnen, ein zu kohärentes und sinnvolles Gebilde entstanden ist), sondern weil sie ganz bestimmte narrative, genrebedingte oder ästhetische Funktionen erfüllen. Es ist, als nehme man es den Traumsequenzen übel, dass sie sich auf Kos- ten einer von den Autoren erträumten Authentizität für so profane und alltägliche Dinge wie das Erzählen einer Geschichte einspannen lassen.90 89 Hobson hat hier eine Aussage von Bergman wörtlicher genommen, als sie vermutlich gemeint war. 90 In Experimentalfilmen ist die Situation insofern anders, als die Rücksichtnahme auf 88 1 Dream-Screen? In der Literaturwissenschaft und -kritik scheint übrigens eine ähn- liche Haltung verbreitet,91 sah sich Franz Stanzel in seiner vielbeachteten Habilitationsschrift doch gleich zu Beginn des Kapitels «Darstellung des Bewusstseins» zu einer Klarstellung veranlasst: Es sei hier gleich vorweggenommen, die «realistische» Darstellung des Be- wusstseins einer Gestalt ist in der Literatur unmöglich. Was aus dem Inhalt eines Bewusstseins zur Darstellung gelangt, ist stilisiert, deutet an oder ver- sinnbildlicht die Vorgänge in einem Bewusstsein, reproduziert sie jedoch nicht. Die Leistung jener Autoren, die als die Pioniere der Bewusstseinsdar- stellung im modernen Roman gelten […], kann nur dann gerecht beurteilt werden, wenn man nicht nach dem Grad der «realistischen» Reproduktion, der ihnen gelungen ist, sondern nach der der literarhistorischen Epoche des einzelnen Werkes gemäßen literarischen Wirksamkeit der von ihnen entwor- fenen Stilisierungen des Bewusstseins fragt. (Stanzel 1969 [1955]: 145) Baudrys Begründung dafür, wieso der Film kein geeignetes Instrument der Traumdarstellung sei, bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: On peut se demander si le rêve au cinéma ne jouerait pas comme le rêve dans le rêve, détruisant justement l’impression de réalité de la même façon que la pensée qu’on rêve s’introduit dans le rêve comme moyen de défense contre le désir «entrepreneur» du rêve. Le déboitement du rêve dans la projection a pour effet immanquable de renvoyer le spectateur à sa conscience de specta- teur, d’imposer une distance qui dénude l’artifice […] et de détruire à coup sûr l’impression de réalité qui justement définit aussi le rêve. (Baudry 1975: 64) Obwohl lediglich in einer Fußnote enthalten und meines Wissens bisher kaum beachtet, sind Baudrys Ausführungen bemerkenswert. Er vergleicht den Traum im Film mit dem luziden Traum (wie auch mit dem Traum im Traum, wobei er anzunehmen scheint, es handle sich um dasselbe Phänomen),92 geht also davon aus, dass eine Traumdarstellung den Zu- schauer plötzlich die (von ihm postulierte) illusionäre Wirkung des Films Verständlichkeit sowie verschiedene narrative Zwänge zu großen Teilen wegfallen. Obwohl in einzelnen Fällen der Versuch einer realitätsnahen Traumsimulation tat- sächlich Motivation sein mag, dient der Traum auch in dieser Gattung mehr als Inspi- rationsquelle für ästhetische Experimente denn als Referenzgröße für eine möglichst getreue Wiedergabe. 91 Folgendes Zitat von Jean Pierrot ist ein Beispiel hierfür: «Malheureusement, lorsque dans la littérature contemporaine le rêve apparait […] il constitue plus un procédé d’exposition et un artifice littéraire qu’il ne correspond à une expérience onirique véri- table» (1972: 38). 92 Beim luziden Traum wird dem Träumer bewusst, dass er träumt. Beim Traum im Traum träumt der Träumer, dass er einschläft und zu träumen beginnt, ohne dass ihm bewusst ist, dass die vermeintlich reale Ebene bereits ein Traum war. 1.8 Das Problem der Traumdarstellung 89 als Täuschung erkennen lasse. In gewisser Weise ist Baudrys Überlegung konsequent: Wenn der Film an sich schon wie ein Traum wirkt, dann be- deutet jede Traumsequenz eine Art Verdoppelung, die den Traumstatus des ganzen Filmes in Frage stellt. Gleichzeitig schafft Baudry mit dieser Überlegung aber einen beträchtlichen Widerspruch in seinem Theoriege- bäude, denn die Apparatustheorie beruht ja auf der Annahme, die Anord- nung und Wirkung des Kinodispositivs halte die Zuschauer in einer Illu- sion gefangen ganz unabhängig davon, was projiziert wird. Sind die Ket- ten von Platons Höhlenbewohnern, mit denen Baudry die Filmzuschauer vergleicht, so schwach, dass eine Traumszene sie zu sprengen vermag? Und wenn die Illusion angesichts einer Traumsequenz zerbricht, wie steht es dann mit anderen selbstreflexiven Momenten, in denen der filmische Diskurs auf seine eigene Konstruiertheit aufmerksam macht? Vielleicht geht die Gleichsetzung des Kinozuschauers mit dem Träumer bei Baudry tatsächlich so weit, dass er einen Bruch der Illusion nur für den Fall ein- gesteht, dass ihm zum Bewusstsein kommt, einen Traum wahrzunehmen, während alle Versuche, den Zuschauer daran zu erinnern, dass er nur ei- nen Film schaut, ins Leere laufen. Wie dem auch sei, fest steht, dass auch Baudry filmische Versuche, Träume darzustellen, als durchwegs misslun- gen erachtet und sein Urteil ebenfalls in einem unausgesprochenen Au- thentizitätsanspruch gründet. Dieser Anspruch überrascht vor allem deshalb, weil es, wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, schwierig ist, über Träume allge- meingültige Aussagen zu formulieren, sie in irgendeiner Form objektiv zu erfassen. Somit stellt sich die Frage, woran die angestrebte Authentizität der filmischen Traumwiedergabe gemessen werden soll. Der allgegenwärtige Film/Traum-Vergleich scheint auf die Beurtei- lung konkreter Traumdarstellungen negativ abgefärbt und zu einer ein- seitigen Reduktion auf die Frage nach Entsprechungen mit tatsächlichen Träumen geführt zu haben. Dies erklärt, weshalb ästhetische und vor al- lem erzähl- und genretheoretische Bedeutungen, die filmische Traumdar- stellungen auch unabhängig von einer wie auch immer gearteten «authen- tischen» Wiedergabe tatsächlicher Träume aufweisen, bisher erst in Ansät- zen behandelt worden sind. Um die Erforschung dieser vernachlässigten Bereiche wird es in den folgenden Kapiteln in erster Linie gehen. 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Die klassische Filmtheorie zu Traum und Subjektivierung Bevor ich in den Kapiteln 3–5 eigene Überlegungen zur Ästhetik, narrati- ven Form und Genreverortung des Filmtraums präsentieren werde, sollen nun einige der wichtigsten Theorien der klassischen Epoche auf die Frage hin untersucht werden, wie sie Formen der Traumdarstellung und Sub- jektivierung beurteilen und auf welchen Prämissen ihr Urteil beruht. Fol- gende Texte, die allesamt den Anspruch erheben, das Wesen des Mediums Film möglichst umfassend zu erforschen, stehen dabei im Zentrum: • Hugo Münsterberg: The Photoplay: A Psychological Study, 1916; • Béla Balázs: Der sichtbare Mensch, 1924; Der Geist des Films, 1930; Is- kusstvo Kino, 1945 (dt.: Der Film: Werden und Wesen einer neuen Kunst, 1949); • André Bazin: Qu’est-ce que le cinéma?, Artikelsammlung 1946–1958; • Siegfried Kracauer: Theory of Film: The Redemption of Physical Reality, 1960; • Jean Mitry: Esthétique et psychologie du cinéma, Bd. I: 1963, Bd. II: 1965. 2.1 Narrative Techniken als Analoga zu mentalen Prozessen: Münsterbergs The Photoplay 2.1.1 Theoretische Grundannahmen 1916, als The Photoplay erschien, war die Ansicht weit verbreitet, der Film sei eine schlechte Nachahmung des Theaters und biete lediglich grob- schlächtige Unterhaltung für die Massen. Münsterbergs Argumentation ist darauf angelegt, diese Auffassung Schritt für Schritt zu widerlegen, um für den Film den Status einer eigenständigen, vom Theater unabhängigen Kunstform zu beanspruchen. Der Autor teilt seine Analyse in zwei Berei- che ein: den psychologischen und den ästhetischen.1 Im ersten untersucht 1 Als Harvard-Professor war Münsterberg in seinem Fachbereich Psychologie eine der herausragenden Wissenschaftspersönlichkeiten seiner Zeit, wobei er es dank innova- 92 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? er die Wahrnehmung von Tiefe und Bewegung in filmischen Bildern. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass Tiefe und Bewegung nicht im Reizangebot des Filmes selbst schon vorhanden sind und ihre Apperzeption auch nur bedingt auf die spezifische Funktionsweise des menschlichen Wahrneh- mungsapparates zurückzuführen ist. Vielmehr sei die innere, psychische Zuschaueraktivität dafür verantwortlich, dass flächige Linien zu einer plastischen Szenerie mit Tiefenwirkung und einzelne starre Bilder zu ei- ner kontinuierlichen Bewegung verbunden werden. Tiefe und Bewegung sind demnach in erster Linie Produkte des menschlichen Bewusstseins, mit denen die äußeren Eindrücke im Kino ausgestattet werden (41–50).2 Die Wahrnehmung von Ereignissen in Bewegung und Tiefe bildet gemäß Münsterberg jedoch erst die Grundvoraussetzung für die Filmrezeption: Zu einer Szene, die unser Interesse wachhält, gehört viel mehr als der simple Eindruck entfernter und sich bewegender Objekte. Wir müssen das Gesehe- ne mit einem Strom von Ideen begleiten. Sie müssen für uns Bedeutung er- langen, sie müssen durch unsere eigene Phantasie angereichert werden, sie müssen Spuren früherer Erlebnisse wecken, sie müssen unsere Gefühle und Emotionen erregen, sie müssen mit unserer Suggestibilität spielen, sie müs- sen Vorstellungen und Gedanken anregen, sie müssen von unserem Bewusst- sein mit der kontinuierlichen Kette des Spiels verbunden werden, und sie müssen unsere Aufmerksamkeit ständig auf die wichtigen und wesentlichen Elemente der Handlung lenken. Eine Fülle solch innerer Vorgänge muss mit der Welt der Eindrücke zusammentreffen. (51) Hier wird schon deutlich, dass Münsterberg psychischen, mentalen und emotionalen Prozessen, die sich während der Rezeption abspielen, gro- ße Bedeutung bei der Konstruktion eines Films zuschreibt. Diese Ansicht, mit der er seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war, leitet sich aus seiner Auffassung von der Realitätswahrnehmung im Generellen ab, nach der der Mensch ständig einem Chaos von Umwelteindrücken ausgesetzt ist, dem er erst durch innere Strukturierungsprozesse Sinn zu geben vermag. Bedeutung ist für Münsterberg etwas, das nicht von außen kommt und mit der Wahrnehmung selbst schon gegeben ist, sondern im Innern erst konstruiert wird. Die wichtigsten psychischen und mentalen Prozesse, die bei dieser aktiven Realitätskonstruktion eine Rolle spielen, sind für ihn auch bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Theaterstücken oder tiver Forschungsvorhaben insbesondere im Bereich der angewandten und der Experi- mentalpsychologie zu hohem Ansehen brachte. Zu seiner Biografie und Theorie vgl. das Vorwort von Jörg Schweinitz in Münsterberg 1996 [1916]: 9–26. 2 Wenn kein Autor angegeben ist, beziehen sich die Seitenangaben in diesem Kapitel auf Münsterberg 1996 [1916]. 2.1 Münsterbergs The Photoplay 93 Filmen am Werk: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Fantasie und Emotion. Münsterberg möchte aber nicht nur aufzeigen, welche Relevanz diesen psychischen Fakultäten bei der Rezeption von Kunstwerken generell zu- kommt; ihm geht es insbesondere darum, zu untersuchen, inwieweit diese Verarbeitungsprozesse in die formale Gestaltung und narrative Struktur der Werke bereits eingeschrieben sind. Er kommt dabei zu folgender Erkenntnis: Im Gegensatz zur Bühne verfügt der Film über verschiedene Mittel, um die dargestellten Ereig- nisse analog der Art und Weise zu gestalten, wie der Mensch äußere Sin- neseindrücke – durch Verlagerung der Aufmerksamkeit, Aktivieren von Gedächtnisinhalten, Bildung von Hypothesen und unter Einbezug von Gefühlsempfindungen – innerlich verarbeitet und strukturiert. Demnach entspricht die Großaufnahme der Aufmerksamkeitsfokussierung, die Rückblende dem Aktivieren von Erinnerungen, die Vorausblende dem Aufsteigen von Vorahnungen, der rasche Szenenwechsel in der Parallel- montage der Aufmerksamkeitsteilung oder -verlagerung, und in der Ge- staltung von Hintergrund und Dekor finden Gefühlsempfindungen der Zuschauer ihre Entsprechung. Münsterberg stellt somit eine direkte Ana- logie her zwischen narrativen Techniken und Prozessen, die im psychisch- mentalen Apparat des Menschen vor sich gehen. In der ästhetischen Untersuchung, die sich an die psychologische anschließt, geht es um das Wesen der Kunst, das Verhältnis von Kunstwerken zur Rea- lität und den Kunstcharakter des Films. Gleich zu Beginn lässt Münsterberg eine dezidiert antimimetische Position erkennen: Wenn es um die «Nachbil- dung der Menschenwelt» geht, so offenbare der Film im Gegensatz zum The- ater «ein nahezu katastrophales Versagen» (72). Während die Zuschauer im Theater wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut sehen, die sich tatsächlich bewegen, seien wir uns im Film der Künstlichkeit von Tiefe und Bewegung zumindest teilweise bewusst. Während die Bühnenaufführung wesentliche Merkmale der Wirklichkeit – wie Farbe, Geräusche, plastische Körperlichkeit – konserviere, gehen diese in der stummen Darbietung von farblosen Einzel- bildern auf einer flachen Leinwand größtenteils verloren (72). Münsterberg geht indes nicht nur der Frage nach, ob das Spektrum und die Qualität der von Kino- respektive Theatervorführung vermittelten Sinnesinformationen wesentliche Erscheinungsattribute der Realität zu erhalten vermögen. Sei- ne in der Philosophie Kants wurzelnde Realitätsauffassung postuliert, dass Dinge und Ereignisse in der objektiven Wirklichkeit durch eine feste Zeit-, Raum- und Kausalitätsordnung verbunden sind.3 Realität ist demnach in 3 Vgl. Andrew 1976: 25. 94 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? erster Linie durch Konsekutivität und Kausalität der Vorgänge sowie durch Konsistenz und Homogenität des Raumes charakterisiert. Nun sei der Film dank seiner Gestaltungsmöglichkeiten und narrativen Techniken wie kein anderes Medium dazu veranlagt, gerade diese die Realität konstituierende Ordnung der Dinge durcheinander zu werfen. Aus diesen Gründen sei er denkbar ungeeignet, Wirklichkeit in objektiver Weise wiederzugeben. Indem Münsterberg dem Film die Fähigkeit aberkennt, die Natur wirklichkeitsgetreu nachzubilden, nimmt er ein Denkmotiv auf, das zu seiner Zeit immer wieder einer ästhetischen Beurteilung als Grundlage diente, welche danach trachtete, dem neuen Medium – im Vergleich zu den herkömmlichen Künsten und insbesondere zum Theater – jeglichen Kunstcharakter abzusprechen. Er geht jedoch von einer Kunstauffassung aus, die dem mimetischen Standpunkt, wonach die Hauptaufgabe der Kunst in der Nachahmung der Natur liege, diametral widerspricht. Zwar anerkennt er, dass ein Kunstwerk «Wirklichkeitsinteressen» wachrufen und daher «Züge der Wirklichkeit» aufweisen muss (74). Das Wesen der Kunst liege aber nicht in der Reproduktion oder Imitation der Wirklichkeit begründet, sondern im Gegenteil darin, dass sie «die Wirklichkeit über- windet, aufhört nachzuahmen» und «Leben in einer von der Wirklichkeit völlig verschiedenen Weise» gestaltet (74, 78). Im Idealfall sei ein Kunst- werk gar vollständig von der Sphäre der Realität abgelöst und bilde ein isoliertes, selbstvollendetes und in sich ruhendes Artefakt. In synthetischer Verbindung der psychologischen und ästhetischen Untersuchung formuliert Münsterberg schließlich die Hauptthese von The Photoplay: Gerade die Tatsache, dass filmische Werke die Welt nicht ein- fach nachbilden, sondern zu etwas Neuem, von der Wirklichkeit Abwei- chendem umformen, verleiht ihnen Kunstcharakter. Die Umformung der Realität geschieht jedoch nicht in beliebiger Weise. Die Ereignisse werden von der äußeren Realitätsordnung befreit und nach inneren Gesetzen der Psyche und des Geistes modelliert: Es ist, als hätte die Realität [in der filmischen Darstellung] ihre eigene konti- nuierliche Bindung verloren und wäre entsprechend den Ansprüchen unse- rer Seele geformt worden. […] Es [das Lichtspiel] hat die Beweglichkeit unse- rer Vorstellungen, die nicht von der physischen Notwendigkeit der äußeren Ereignisse beherrscht werden, sondern von den psychologischen Gesetzen der Assoziation. […] Das Lichtspiel folgt den Gesetzen des Bewusstseins mehr als denen der Außenwelt. (59) Und genau in diesem Punkt liegt für Münsterberg die medienspezifische Eigenart der filmischen Erzähl- und Darstellungsweise, die das «Licht- spiel» zu einer neuartigen und eigenständigen Kunstform erhebt. 2.1 Münsterbergs The Photoplay 95 2.1.2 Subjektivierung und Traumdarstellung Als einer der führenden Psychologen seiner Zeit war Münsterberg – wie kein anderer vor und lange nach ihm – bei seiner wissenschaftlichen Hin- wendung zum Film an Wahrnehmungsprozessen, subjektiven Bewusst- seinsinhalten und psychisch-mentalen Vorgängen interessiert. Die kurze Zusammenfassung seiner filmtheoretischen Position hat allerdings klar- gemacht, dass er sein Hauptaugenmerk auf psychische Prozesse richtet, die die Realitätswahrnehmung generell und, damit verbunden, die Zu- schauerrezeption betreffen. Wenn Münsterberg von Aufmerksamkeitsfo- kussierung und -verlagerung, Erinnerung, innerer Vorstellung oder Zu- kunftsvision spricht, dann sind damit in erster Linie Prozesse gemeint, die sich in Geist und Psyche der Zuschauer abspielen (und denen sich gemäß seiner Hauptthese die filmische Welt in ihrer Darstellungsform angleicht). In den Kapiteln, in denen er filmische Erzähltechniken auf Analogien zur Fantasietätigkeit und zum Erinnerungsvermögen untersucht, gerät jedoch unvermittelt die Tatsache ins Blickfeld, dass im Film auch die Möglichkeit besteht, subjektive Wahrnehmung und innere Vorstellungen der fiktionalen Figuren darzustellen: Aber das Spiel von Gedächtnis und Phantasie kann in der Kunst des Films eine noch reichere Bedeutung haben. Die Leinwand kann nicht nur das pro- duzieren, woran wir uns erinnern oder was wir uns vorstellen, sondern auch das, was im Bewusstsein der Spielfiguren vorgeht. […] Geradeso, wie wir den Erinnerungen des Helden folgen können, vermögen wir seine Phanta- sien zu teilen. Wiederum ist der Fall klar von dem unterschieden, in dem wir, die Zuschauer, unsere Phantasievorstellungen auf der Leinwand ver- wirklicht bekamen. Hier sind wir passive Zeugen der Wunder, die durch die Phantasie der Spielfiguren sichtbar werden. (59–60) Auch hier drängt sich für Münsterberg der Vergleich mit dem Theater auf. Er weist darauf hin, dass auf der Bühne Träume und Erinnerungen lediglich im Dialog oder Monolog angedeutet werden können, während der Film sie direkt zeige. Dabei geht er implizit von der Auffassung aus, dass Erinnerungen, Träume oder Vorahnungen ausschließlich bildhaften Charakter haben. Der Stummfilm als rein visuelles Medium könne – im Gegensatz zum Theater, das hauptsächlich mit Sprache operiert – innere Vorstellungen «dem Auge anbieten» und somit «wirklich lebendig» zeigen (60–61). Dies führe zu einer stärkeren Form der Anteilnahme am Schick- sal des Protagonisten: Während wir im Theater «die [im Traum erlebten] Wunder der Welt nicht wirklich mit den Augen seiner Seele und mit der Glut seiner Hoffnung» sehen, erfahren wir im Film «die ganze Hoffnung und Begeisterung […] mit ihm» (61). 96 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Neben solchen grundsätzlichen Überlegungen zur Eignung des filmi- schen Mediums für die Darstellung subjektiver Vorstellungsinhalte weist Münsterberg bereits auf mehrere formale Aspekte hin, die eine Analyse von Traum- oder Erinnerungssequenzen in Betracht ziehen muss. Zum einen spricht er die Art an, wie eine Sequenz, die subjektive Erinnerung darstellt, formal eingeführt und dadurch markiert wird: Die Technik der Kamera-Bühne hat mit Erfolg eine eigene Form für diese Art Darstellung eingeführt. Erinnert sich eine Person innerhalb der Szene an die Vergangenheit […], dann werden die früheren Ereignisse nicht als völlig neue Bildfolge auf die Leinwand gebracht, sondern mit der gegenwärtigen Szene durch einen langsamen Übergang verbunden. (59) Und er sieht in der Technik «solch langsamer Übergänge von einem Bild in ein anderes und wieder zurück» mehr als ein lediglich auf Konvention beruhendes, syntaktisches Zeichen: «[D]er Effekt symbolisiert in der Tat etwas vom Erscheinen und Verschwinden einer Erinnerung» (60). Wieder- um wird also ein erzähltechnisches Verfahren direkt mit einem psychisch- mentalen Prozess in Verbindung gebracht. Auch zur Länge einer Traum- oder Erinnerungssequenz äußert sich Münsterberg: In manchen Filmen sei «[n]icht mehr als eine Minute» für die Darstellung eines Traumes nötig, in anderen «kann sogar das gesamte Stück seinen Rahmen in einer Konstruktion finden, die einen Fünf-Rollen- Film als einen großen phantastischen Traum ausgibt» (61). Erstaunlich ist auch, dass Münsterberg hier bereits ein Thema andeutet, das erst Jahr- zehnte später in der filmischen Narrationstheorie Bedeutung erlangen wird: die Verteilung von narrativem Wissen unter den involvierten Instan- zen. Er spricht in Bezug auf die subjektiv motivierte Rückblende davon, dass «eine Vergangenheit, die dem Zuschauer völlig unbekannt sein mag, die aber im Gedächtnis des Helden oder der Heldin lebt», auf die Lein- wand gebracht wird (59). Schließlich – und hier bewegt er sich wieder stärker im Bereich der zeitgemäßen Auseinandersetzung mit dem neuen Medium – betrachtet Münsterberg die Traumdarstellung mittels spezifisch filmischer Techniken. Während im Theater die Schönheit der Verse über die mangelnde visuelle Wirkung hinweghelfen müsse, könne der Lichtspielkünstler hier Triumphe feiern, da er mit der Kamera über ein Instrument verfüge, Träume bildlich wiederzugeben. Münsterberg ist zudem der Auffassung, dass die Darstel- lung fantastischer Ereignisse durch filmische Technik, selbst wenn sie auf «vulgären» Effekten basiert, ein «erträgliches Spektakel» bietet, «weil alles in unwirklichen Bildern aufgehoben ist» (61). Der irreale Status des Ge- zeigten bringt demnach für den Filmkünstler eine gewisse Narrenfreiheit 2.1 Münsterbergs The Photoplay 97 mit sich und erlaubt visuelle Exzesse, die in Szenen, die fiktionale Realität darstellen, zu verurteilen wären. Auch thematisch scheint die Gegenüber- stellung einer realen und einer subjektiv-irrealen Ebene für Münsterberg die Extreme zu begünstigen, etwa das Motiv der Umkehrung, das in der traumhaften Darstellung einer «verkehrten Welt» zum Tragen kommt (61). Wo sich Münsterberg mit Gefühlsempfindungen auseinandersetzt, unterscheidet er ebenfalls explizit zwischen den «Emotionen des Zuschau- ers» und den «Emotionen der Figuren des Spiels» (68). Der Film verfüge, obwohl die verbale Ebene fehle, über diverse Möglichkeiten, Gefühle aus- zudrücken. Jahre, bevor Balázs seine auf der Wirkung des Mienenspiels und der Großaufnahme basierende Filmtheorie formuliert, hebt Münster- berg bereits hervor, dass «Gesten, Handlungen und Mienenspiel […] so eng mit dem psychischen Vorgang einer intensiven Emotion verwoben [sind], dass dennoch jede Nuance [des Gefühls] treffenden Ausdruck fin- den» und «die Großaufnahme den Eindruck bedeutend steigern» kann (65). Die Möglichkeiten seien zudem nicht auf den körperlichen Ausdruck durch Mimik und Gestik beschränkt; stärker noch als im Leben oder auf der Bühne ströme im Film «die emotionale Gestimmtheit über den Kör- per» und das «Fühlen der Seele […] in die Umgebung hinaus». Münster- berg geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur die Gestaltung von Dekor und Hintergrund könne bei der Visualisierung von Gefühlen eine Rolle spielen, auch in der «Kameraarbeit» und in «formalen Aspekten der Dar- stellung» liege ein – noch weitgehend ungenutztes – Potenzial. Münsterberg betrachtet verschiedene Möglichkeiten der Figurensubjekti- vierung. Die Bedeutung, die er ihnen beimisst, muss allerdings relativiert werden: Sein Hauptinteresse gilt filmischen Erzähltechniken ganz allge- mein – unabhängig davon, ob sie subjektive oder objektive Inhalte vermit- teln – und ihrer Beziehung zu menschlichen Kognitionsprozessen.4 Wo die Sprache auf Erinnerung, Fantasie und Gefühle kommt, geht er zwar auf verschiedene Formen der Subjektivierung ein, seine Ausführungen haben aber eher punktuellen Charakter und erscheinen lediglich als Nebenpro- dukt seiner Überlegungen. In den ausführlichen Textpassagen, in denen die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung zusammengefasst sind, sucht man denn auch vergebens nach einem Hinweis darauf. Obwohl Münsterberg in seiner Hauptthese von starken Analogien zwi- schen psychisch-mentalen Prozessen und filmischen Erzähltechniken aus- 4 So betrachtet Münsterberg zum Beispiel die Großaufnahme lediglich als ein ästheti- sches Mittel, welches der Aufmerksamkeitsfokussierung der Zuschauer nachgezeich- net ist, lässt aber außer Acht, dass sie auch das gesteigerte Interesse einer fiktionalen Figur symbolisieren kann (51–57). 98 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? geht, leitet er daraus nicht explizit ab, dass es eine besondere Aufgabe des Lichtspiels sei, die Innenwelt fiktionaler Figuren darzustellen. Zwar spricht er dem Film durchaus die Eignung für solche Inhalte zu, verwahrt sich je- doch dagegen, bestimmte Sujets als besonders filmtauglich zu bezeichnen. 2.2 Die seelische Tiefendimension: Balázs’ Theorie Balázs’ filmtheoretische Position zusammenzufassen ist nicht ganz ein- fach; seine Schriften verstehen sich immer auch als direkte Stellungnah- men zu einer noch in Entwicklung stehenden Kunstform. Er selbst nannte im Nachhinein sein 1924 erschienenes Buch Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films «ein Kennenlernen und eine Liebeserklärung» und seine 1930 veröffentlichte Schrift Der Geist des Films «das theoretische Tagebuch eines Augenzeugen und Teilnehmers». Erst sein drittes filmtheoretisches Buch Der Film: Werden und Wesen einer neuen Kunst (1945, erste deutsche Ausgabe 1949) betrachtete er als «reguläre kunsthistorisch-theoretische Arbeit» (Balázs 1972: 8).5 Balázs’ Schriften sind stark aufeinander bezogen, er nimmt gern eigene Argumente wieder auf, wiederholt oder variiert sie und schreckt auch vor Revisionen nicht zurück, vor allem dort, wo die unerwartete Entwicklung des Mediums eine neue Sichtweise erforderte. 2.2.1 Theoretische Grundannahmen Balázs geht – insbesondere in seinen Überlegungen zum Stummfilm – von der Auffassung aus, dass die Erfindung des Kinos dem Visuellen, das in einer Kultur der Worte lange Zeit dem Gedanklich-Begrifflichen unterge- ordnet war, endlich wieder zu Bedeutung verhilft. Sinnvermittlung durch die äußerlich sichtbare Erscheinung sei eine ursprünglichere und auch entwicklungsfähigere Ausdrucksform als die dem unmittelbaren Sein des Menschen und der Dinge entfremdete begriffliche Mitteilung. Da im Stummfilm Erzählinhalte rein visuell vermittelt werden, komme der äuße- ren Erscheinung der Dinge und insbesondere der Physiognomie und Ge- bärdensprache der Schauspieler entscheidende Bedeutung zu. Diese Auf- fassung liegt der Hauptthese von Balázs’ erster filmtheoretischer Schrift zugrunde, die in der hohen Kunst des Schauspiels – in ausdrucksstarkem Mienenspiel und subtiler Gestik – jene Kraft sieht, die den Menschen end- lich wieder zu einem sichtbaren Menschen macht. 5 Sämtliche Angaben ohne Autornennung in diesem Kapitel beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebenen Werke Balázs’. 2.2 Die seelische Tiefendimension: Balázs’ Theorie 99 Auch nach Einführung des Tons bleibt der Film für Balázs in erster Linie eine visuelle Kunst. Die Darstellung muss deshalb, wenn es darum geht, Gefühle, Charakterzüge oder die psychische Verfassung einer Figur zu vermitteln, ganz auf den Sinngehalt äußerer Erscheinungen bauen. Sie hat «das Innere zu bedeutsam-sichtbaren Formen» zu gestalten (1982: 134). Und dies ist genau der Bereich, in dem die große Wirkung von Ge- bärdensprache und Mienenspiel sich entfalten kann. Balázs fasst Physio- gnomie, Mimik und Gestik – diese «subjektivsten Ausdrucksformen des Menschen» – also primär als Instrumente zur Offenbarung von «Seelen- zuständen» auf (1972: 52). Der «beredte» Körper wird in seiner Theorie zum «empfindlichen Medium der Seele, zum nervösen Spiegel, der jede leiseste Seelenregung zeigt» (1982: 55). Nur dank dieser Körperwerdung von Seele und Geist sei eine präzise Figurenpsychologie ohne Rückgriff auf sprachliche Erläuterungen möglich. Mit dem «sichtbaren Menschen», den er immer wieder beschwört, ist also nicht eigentlich die äußere Gestalt gemeint, sondern das, was diese vom Inneren offenbart. Balázs wendet den Physiognomie-Begriff allerdings nicht nur auf die menschliche Figur, sondern auch auf ihr Umfeld an. Da wir zur Ver- menschlichung des Betrachteten neigen, also in hohem Maße anthropo- morph vorgehen, hafte jeder Erscheinung – als notwendiger Kategorie unserer Wahrnehmung – etwas Physiognomisches an (1982: 103, 1972: 80). Die Aufgabe insbesondere künstlerisch anspruchsvoller Filme bestehe in- des darin, die Atmosphäre des szenischen Umfeldes auf die Gefühle der Figuren abzustimmen. Im Idealfall soll die Gestaltung der gesamten Sze- nerie Ausdruck ihrer subjektiven Befindlichkeit sein. Neben der Ausdruckskraft des Schauspiels rücken Balázs’ spätere Schrif- ten vermehrt formale und filmsprachliche Aspekte ins Zentrum. Als wich- tigste formale Neuerung der Filmkunst erachtet er die Aufteilung der Ge- samtszene in Detailbilder und die Montage einzelner Einstellungen aus unterschiedlicher Distanz und Perspektive. Dieses neue Formprinzip er- mögliche – erstmals in der Geschichte der visuellen Künste – die Aufhe- bung der bis anhin fixen Distanz zum Kunstwerk und die Verlagerung der Zuschauerperspektive in den dargestellten Raum hinein. Als wichtigste Konsequenz dieser neuartigen Darstellungsform eröffne sich dem Film die einzigartige Möglichkeit, Zuschauer- und Figurenperspektive gleichzuset- zen. Solche «‹subjektiven› Einstellungen»6 vermitteln nach Balázs’ Auf- fassung weit mehr als nur einen optischen Standpunkt (1972: 119). Denn: «Jeder visuelle Standpunkt bedeutet auch einen seelischen Standpunkt» 6 Balázs verwendet bereits die heute noch übliche Bezeichnung. 100 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? (1972: 78). Das Teilen der Perspektive führe deshalb zwangsläufig zum Teilhaben an den Gefühlen und der psychischen Verfassung des Betrach- ters: «Die Kamera identifiziert uns nicht nur räumlich, sondern auch ge- fühlsmäßig mit den Personen des Films. [… ] Sie müssen uns nicht mittei- len, was sie empfinden, wir sehen ja, wie sie es sehen» (1984: 73; 1972: 38). Balázs geht also davon aus, dass allein schon das Gleichsetzen von Figuren- und Zuschauerperspektive zu starkem Mitfühlen, ja zu einer ei- gentlichen Identifikation führt. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die subjektive Einstellung durch zusätzliche Techniken zu einem Instrument werden kann, um außergewöhnliche Zustände einer Figur gezielt zu ver- mitteln: Taumelnde Häuser können Betrunkenheit andeuten, Gegenstän- de in verzerrter Einstellung das Entsetzen des Betrachters spiegeln und ein verschwommenes Bild auf Kurzsichtigkeit oder Fieberschübe hinweisen (1972: 81, 90). Balázs sieht zahlreiche Möglichkeiten, diese neuartige «Sub- jektivierung durch das Objektiv» wirkungsvoll anzuwenden und dadurch eine starke «seelische Identifizierung» auszulösen, die für ihn «ureigenste Wirkung der Filmkunst» ist (1972: 78, 79). 2.2.2 Subjektivierung und Traumdarstellung Wie beurteilt Balázs die Möglichkeit, im Film Träume darzustellen? Die Distanz zur äußeren Realität wirft natürlich die Frage auf, ob die filmi- sche Darstellung, die mit Aufnahmen äußerer Erscheinungen arbeitet, überhaupt in der Lage ist, innere Vorstellungsbilder zu vermitteln. Balázs, der die filmtechnische Apparatur nicht als Reproduktionsmaschinerie, sondern als Instrument produktiver Gestaltung auffasst, zweifelt keines- wegs daran: «[D]ie Bildgestaltung des Films ist heute soweit, dass sie an die psychischen und geistigen Tatsachen direkt herankann, genauso wie die Wirklichkeitsfilme an die gegenständliche Welt» (1984: 129). Und zur Frage, ob der Traum überhaupt ein filmwürdiges Motiv darstellt, hält er unmissverständlich fest: «[D]er Traum […] zählt zu den ureigensten Bau- stoffen des Films» (1972: 83). Wie hat eine Traumsequenz für Balázs auszusehen? Auf jeden Fall anders als eine Szene, die äußere Wirklichkeit darstellt. Denn ihr irrealer Status soll – ohne erklärende Worte – sofort erkannt werden: [Es] muss doch auf dem Film jedes Ding zu erkennen und auch ohne Titel zu identifizieren sein. Man schreibt ja auch nicht: «Das ist ein Haus» oder «das ist ein Berg». So muss auch der Traum aus seinem Bild – ohne Titel – als solcher erkenntlich sein und darf nicht dieselbe Valeur, dasselbe Kolorit, die- selbe Substantialität haben wie die Bilder der Wirklichkeit. (1982: 94) 2.2 Die seelische Tiefendimension: Balázs’ Theorie 101 Traum und Vision sind das Gebiet, «wo der Expressionismus jedem Phi- lister einleuchtet». Die Tatsache, dass die Dinge dort anders aussehen dür- fen, eröffne dem Regisseur «unermessliche poetische und psychologische Möglichkeiten». Balázs kann deshalb nicht verstehen, dass manche Filme- macher dieses künstlerische Potenzial nicht ausschöpfen, sondern Traum- und Visionsbilder «mit demselben Naturalismus einstellen und photogra- phieren wie die der Wirklichkeit» (1982: 94). Balázs hat genaue Vorstellungen davon, wie man von der naturalisti- schen Darstellungsweise abweichen sollte, um einer Szene Traumcharak- ter zu verleihen: Es gehe nicht darum, das Dekor zu stilisieren oder die Form der Gestalten zu verändern. Es genüge auch nicht, unwahrscheinli- che, märchenhafte Ereignisse geschehen zu lassen. Wie im Film überhaupt, komme es nicht so sehr auf den Fabelinhalt oder auf die Gestaltung der Elemente vor der Kamera an, sondern auf die mit spezifisch filmischen Mitteln hervorgebrachte Erscheinung im Bild (1982: 94–96). Eine «lyrisch- expressionistische» Darstellungsweise soll eine den Traumwesen eigene Stofflichkeit und Physiognomie hervorbringen (1982: 95). Mitunter genü- ge ein spezieller Beleuchtungseffekt oder eine leichte Veränderung des Be- wegungsrhythmus, um diese Wirkung zu erzielen. Verschiedene filmtechnische Verfahren bewirken starke Verzerrun- gen der visuellen Erscheinung oder Veränderungen der Bewegungsabläu- fe. Aus diesem Grund stellen sie für Balázs probate Mittel dar, um psychi- sche Prozesse nachzuzeichnen: Die Kamera hat viele rein optisch-technische Mittel, um die konkrete Gegen- ständlichkeit des Motivs in eine subjektive Vision zu verwandeln. Überblen- dung, Zeitlupe, Zeitraffer, Softfocus, Schleier, Zerrlinse, Trickaufnahme usw. und alle Wunder der Schüfftanschen Spiegeltechnik. Solche Trickbilder zei- gen nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Verwandlung seiner Gestalt in unserem Geiste. (1984: 134) Überblendungen erachtet er als besonders geeignet, die unnatürlichen Raumwechsel und Zeitsprünge von Träumen und Erinnerungen zu ver- mitteln – ohne die Kontinuität ihres Bilderflusses zu unterbrechen (1972: 134). Und die Montage spielt für ihn bei der Darstellung subjektiver Vor- stellungen ebenfalls eine wichtige Rolle. Besonders fasziniert ist Balázs von der Möglichkeit, Detailbilder in freier Abfolge aneinander zu schnei- den, um den irrationalen und assoziativen Charakter der Fantasietätigkeit hervorzuheben (1972: 94). Diese Technik der «psychischen Assoziations- Montage» ermögliche Bildfolgen, die nicht der Logik äußerer Ereignisse, sondern der irrationalen Gesetzmäßigkeit innerer Vorgänge gehorchen (1984: 130). 102 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Balázs fasst den Film primär als Erzählmedium auf, dem nichtnarra- tiven Experimentalfilm steht er eher skeptisch gegenüber. Bei der Darstel- lung des Unbewussten, wo der narrative Film an seine Grenzen komme, könne es jedoch durchaus sinnvoll sein, auf die Formexperimente des «ab- soluten Films» zurückzugreifen. Gerade die Abkehr der Avantgardisten von der Erzählfunktion, die Balázs ansonsten beanstandet, erachtet er hier als Vorteil: «Die Flucht vor der erfundenen, konstruierten, literarischen Fa- bel führt auch hier zu einem Rohstoff. Zum unkonstruierten Rohstoff der Seele: zum Unterbewusstsein» (1984: 133). Filme avantgardistischer Aus- richtung seien dank ihres innovativen Umgangs mit filmischen Techniken sowie ihrer Unabhängigkeit von Erzähllogik und gegenständlicher Dar- stellung besser gerüstet, das phantomhaft-impressionistische Gepräge, die chaotisch-tumultuöse Eigenart und den fluiden Charakter der Seelenzu- stände zu evozieren. Hingegen sind für ihn «absolute» oder surrealistische Filme nur zu isolierter, vom größeren Kontext der menschlichen Existenz losgelöster Darstellung psychischer Prozesse fähig. Balázs erachtet es jedoch als Auf- gabe des Films, ganze Menschen zu gestalten. Am gewinnbringendsten erscheint ihm deshalb, experimentelle und avantgardistische Ausdrucks- formen als «Methode der Seelendarstellung» und «Mittel zu innerer Cha- rakterisierung» in den Spielfilm einzubauen. Sie könnten sich auf diese Weise «in den Traumbildern künstlerischer Spielfilme zu ungewöhnlicher Ausdrucksfähigkeit» entwickeln (1984: 128, 133; 1972: 164). Indem Balázs die formal-ästhetische Andersartigkeit als Mittel zur Irrealisierung und Subjektivierung propagiert, gibt er zu erkennen, dass Traumsequenzen für ihn als klar unterscheidbare Sequenzen mit Ein- schub- oder Enklavencharakter zu gestalten sind. Wie schon Münster- berg weist er darauf hin, dass diese Strukturierung normalerweise durch Überblendungen markiert wird. Er erwähnt allerdings auch Filme, die die Grenzen zwischen innerer Vorstellung und äußerer Wirklichkeit bewusst verwischen. Phantom von Friedrich Wilhelm Murnau (D 1922), der den Versuch unternommen habe, «eine vom Traum überschwemmte Wirklich- keit zu photographieren», dient ihm wiederholt als Beispiel. Balázs behauptet, der Film sei zumindest teilweise in der Lage, die subjek- tive Vorstellungstätigkeit auf realistische Weise zu gestalten. Insbesonde- re der Assoziationsprozess und die innere Bilderflut könnten durch einen entsprechenden Montagerhythmus im «Originaltempo» wiedergegeben werden. Mitunter stellt er auch – ähnlich Münsterberg, wenn auch we- niger explizit – direkte Analogien zwischen psychischen Prozessen und filmischen Techniken her: 2.3 Verschmähte Subjektivität: Bazins Realismustheorie 103 Solche Trickbilder zeigen nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Ver- wandlung seiner Gestalt in unserem Geiste. Nicht nur das, was mit dem Ding geschieht, sondern auch das, was gleichzeitig in uns geschieht. In diesen Ver- wandlungen offenbart sich unsere psychische Apparatur. Wenn man etwa überblenden, verzerren, ineinanderkopieren könnte, ohne dieses mit einem bestimmten Bilde zu tun, wenn man also die Technik gleichsam leerlaufen lassen könnte, dann würde diese «Technik an sich» den Geist an sich dar- stellen. (1984: 135) An anderer Stelle spricht er gar davon, dass die Darstellung subjektiver Assoziationen und Gedanken lediglich «einen im Bewusstsein abrollen- den ‹inneren› Film» auf die Leinwand projiziere (1972: 109). Hinzu kommt, dass Balázs bezüglich der Darstellung subjektiver In- halte immer wieder die Überlegenheit des Films im Vergleich zu Literatur und Bühne betont. Einerseits argumentiert er dabei mit den technischen Möglichkeiten und der Wirklichkeitsnähe der filmischen Darstellung; an- dererseits seien die vorwiegend mit Worten operierenden Künste durch ihre rationale Begrifflichkeit in der Erschließung der irrationalen, assozi- ativen und vorwiegend bildhaften inneren Vorstellungswelt behindert. Träume, Visionen und andere innere Vorstellungen sind nach Balázs Da- fürhalten im Film besonders wirkungsvoll auszudrücken. Sie stellen des- halb sein «feinste[s] Kunstmittel» dar und erschließen ihm eine seelische «Tiefendimension» (1982: 94; 1972: 224). 2.3 Verschmähte Subjektivität: Bazins Realismustheorie 2.3.1 Theoretische Grundannahmen In den zahlreichen Artikeln, die Bazin dem Kino gewidmet hat und in de- nen er sich immer wieder Gedanken macht über Wesensmerkmale und Po- tenzial des Mediums, äußert er sich nur vereinzelt zu den Möglichkeiten filmischer Subjektivierung und zur Darstellung von Träumen und inneren Vorstellungen. Ich möchte im Folgenden versuchen, Bazins theoretische Position sowie seine ästhetischen Grundüberzeugungen kurz darzustel- len, um sodann, gewissermaßen ex negativo, seine weitgehend unausge- sprochene Haltung zur filmischen Darstellung subjektiver Vorstellungen herauszuarbeiten. Für Bazin ist das Kino aus dem zutiefst menschlichen Bedürfnis her- aus entstanden, die Wirklichkeit möglichst genau nachzubilden. Bereits in der Malerei habe diese «obsession de la ressemblance», insbesondere seit 104 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? der Renaissance, immer wieder eine der Hauptantriebskräfte dargestellt. Das gemalte Bild, wenn auch der Fotografie in der Genauigkeit der Nach- bildung nicht in allen Aspekten unterlegen (etwa bei der Wiedergabe von Farbe), unterscheide sich jedoch in einem wesentlichen Punkt vom foto- grafischen: Seine Entstehung sei direkt von der gestalterischen Tätigkeit des Malers abhängig, der unweigerlich seine subjektive Sicht mit einbrin- ge, während das fotografische Bild eine mechanische und ohne menschli- che Eingriffe generierte Reproduktion darstelle: Pour la première fois, entre l’objet initial et sa représentation, rien ne s’interpose qu’un autre objet. Pour la première fois, une image du monde extérieur se forme automatiquement sans intervention créatrice de l’homme, selon un déterminisme rigoureux. (1990a [1945]: 13) Objektivitätseindruck und Glaubwürdigkeit, die das fotografische Bild auslösen, sind für Bazin nicht nur von der formalen Übereinstimmung der Abbildung mit dem Abgebildeten abhängig, sondern vor allem von der psychologischen Wirkung, die das Wissen um den technischen Automatis- mus der Bildherstellung auf den Betrachter ausübt. Während dieser ohne direktes menschliches Zutun ablaufende physikalisch-chemische Prozess der Belichtung dem fotografischen und filmischen Bild von Anfang an zugrunde liegt – und gemäß Bazin einen psychologischen Realismus be- wirkt –, ist die Übereinstimmung mit der abgebildeten Realität von den technischen Möglichkeiten der Filmapparatur abhängig. Und in der Ent- wicklung der Apparate (vom unbewegten Bild der Fotografie zum beweg- ten des Films, vom Stumm- zum Tonfilm, von der flachen zur tiefen Schärfe, von der starren zur bewegten Kamera, vom Schwarzweiß- zum Farbfilm, vom «Normal»format zur Breitleinwand, vom zwei- zum dreidimensiona- len Bild) sieht Bazin einen kontinuierlichen Fortschritt zu einer präziseren und umfassenderen Repräsentation der Realität, was genau der Idee ent- spreche, die der Erfindung des Kinos zugrunde gelegen habe. Für Bazin ist der Film die vollkommenste Verwirklichung der Wunschvorstellung des 19. Jahrhunderts, die Welt realitätsgetreu und objektiv nachzubilden: Le mythe directeur de l’invention du cinéma est donc l’accomplissement de celui qui domine confusément toutes les techniques de reproduction méca- nique de la réalité qui virent le jour au XIX siècle, de la photographie au phonographe. C’est celui du réalisme intégral, d’une recréation du monde à son image, une image sur laquelle ne pèserait pas l’hypothèque de la liberté d’interprétation de l’artiste […]. (1990b [1946]: 23) Der Begriff «Realität» ist in Bazins Schriften allgegenwärtig. Zwar finden wir nirgends eine explizite Definition; aus Formulierungen und Ausdrü- 2.3 Verschmähte Subjektivität: Bazins Realismustheorie 105 cken, die er immer wieder verwendet, wenn er sich über die Realitäts- darstellung in Malerei und Film Gedanken macht, wird jedoch erkennbar, wo der Akzent in seinem Verständnis liegt. Er spricht wiederholt von der «äußeren Welt», von «Dingen und Objekten», von der «physischen und räumlichen Realität» und der «räumlichen Einheit der Ereignisse» (1990a [1945]: 10–11, 14; 1990e [1953/57]: 56–59). Grundsätzlich ist mit «Realität» also die äußerlich wahrnehmbare, dingliche, physische Welt gemeint, wo- bei der Schwerpunkt auf der räumlichen Anordnung und Interaktion der Ob- jekte, Gegenstände und Lebewesen liegt. Realität wird als eine organische Gesamtheit und Gleichzeitigkeit von physischen Dingen in einer spezifi- schen räumlichen Wechselbeziehung und Kontinuität verstanden. Im Ge- gensatz zu späteren, strukturalistischen Filmtheorien vertritt Bazin zudem die (religiös und mythisch inspirierte) Auffassung, dass in der Natur ein Sinngehalt liegt, der – jenseits kulturell bedingter Bedeutungsstrukturen – vom Menschen direkt aufgenommen werden kann: Ce reflet dans le trottoir mouillé, ce geste d’un enfant, il ne dépendait pas de moi de les distinguer dans le tissu du monde extérieur; seule l’impassibilité de l’objectif, en dépouillant l’objet des habitudes et des préjugés, de toute la crasse spirituelle dont l’enrobait ma perception, pouvait le rendre vierge à mon attention et partant à mon amour. (1990a [1945]: 16) Dieser von der Realität ausgehende Sinngehalt ist allerdings weniger ein- deutig als in den von kulturellen Konventionen abhängigen, semantischen Systemen der menschlichen Kommunikation üblich. «[R]endre au film le sens de l’ambiguïté du réel» ist dementsprechend für Bazin eines der wich- tigsten ästhetischen Postulate, die ein Film erfüllen sollte (1990f [1958]: 77). Aus der Tatsache, dass der Film als erste und einzige Kunstform in der Lage sei, die Realität sehr exakt zu reproduzieren, und dies erst noch durch ein neutrales, rein technisches Verfahren, ergebe sich für die Filme- macher die ästhetisch-moralische Verpflichtung, ihre Gestaltungsmittel so einzusetzen, dass die Realität (also Dingliches in spezifischer räumlicher Anordnung) in ihrer unversehrten Ganzheit, Gleichzeitigkeit und vieldeu- tigen, ursprünglichen Sinnhaftigkeit vermittelt wird. Das Medium Film, schon dank seiner technischen Funktionsweise in der Essenz realistisch, werde jedoch erst dann nach seiner wesensmäßigen Bestimmung einge- setzt, wenn eine ästhetische Grundhaltung vorherrsche, die dem Baustoff der Filmherstellung – einzelnen rohen Realitätsausschnitten («morceaux de réalité brut» / «fragment de réalité brut» / «le fait») respektive den Spuren, die sie auf dem Filmstreifen hinterlassen – gerecht wird (1990c [1948]: 281). Diese Forderung hat Bazin, wie hinlänglich bekannt, zur Pro- pagierung von natürlichem Dekor, dem Einsatz von Laienschauspielern, 106 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Plansequenzen und Tiefenschärfe (also der Inszenierung von Handlungen und Ereignissen innerhalb der einzelnen Einstellung) veranlasst, und dies in offenem Widerspruch zu den von der Filmkritik und -theorie bis dazu- mal hauptsächlich wertgeschätzten Montagetechniken, expressivem De- kor und diversen Tricktechniken. Für Bazin gibt es einen filmischen Realismus, der nicht auf Konven- tionen und expressiver Formensprache beruht, einen ästhetischen Stil, der keine inhärenten und somit abstrakten Bedeutungen aufweist, sondern lediglich den von der Kamera eingefangenen, unbearbeiteten Realitäts- bruchstücken verhilft, ihre Sinnhaftigkeit kundzutun. Natürlich war er sich bewusst, dass die filmischen Apparate komplexe, vom Menschen fa- brizierte und in spezifischer Weise eingesetzte Instrumente sind.7 Er war jedoch der Auffassung, dass sie auf eine Art verwendet werden können, die die profilmische Realität unverzerrt und ohne Manipulation direkt auf die Zuschauer einwirken lässt. Der menschliche Eingriff ist somit auf die Auswahl und Anordnung der Realitätsausschnitte beschränkt. Die Kame- ra respektive das filmische Bild als Fenster auf die Welt, die Kadrage als eine Abdeckmaske («cache»): In diesen Metaphern, die Bazin immer wie- der verwendet, kommt die Auffassung von der direkten Konfrontation mit einem Realitätsausschnitt sinnbildlich zum Ausdruck. 2.3.2 Subjektivierung und Traumdarstellung Welchen Platz räumt eine solche theoretische Grundposition den verschie- denen Möglichkeiten der filmischen Subjektivierung und insbesondere der Darstellung von Träumen und anderen inneren Vorstellungen ein? In «Théâtre et cinéma» äußert sich Bazin zu der Art, wie die klassische Spiel- filmästhetik eine Handlung oder ein dramatisches Ereignis darzustellen pflegt: Mais il nous semble que le découpage ordinaire est un compromis entre trois systèmes d’analyse possible de la réalité: 1° une analyse purement logique et descriptive (l’arme du crime près du cadavre); 2° une analyse psychologique intérieur au film, c’est-à-dire conforme au point de vue de l’un des protago- nistes dans la situation donnée (le verre de lait [in Wirklichkeit handelt es sich um eine Tasse Kaffee] – peut-être empoisonné – que doit boire Ingrid Bergman dans Notorious [USA 1946]); 3° enfin, une analyse psychologique en fonction de l’intérêt du spectateur; intérêt spontané ou provoqué par le 7 Den Aufsatz «Ontologie de l’image photographique» beschließt Bazin überdies mit dem Satz: «D’autre part le cinéma est un langage», was deutlich macht, dass er Filme auch als diskursive Anordnungen betrachtet. 2.3 Verschmähte Subjektivität: Bazins Realismustheorie 107 metteur en scène précisément grâce à cette analyse: c’est le bouton de porte tournant à l’insu du criminel qui se croit seul. (1990d [1951]: 145–146) Diese handlungslogisch, figurenpsychologisch oder dramaturgisch moti- vierten Inszenierungsformen seien charakteristisch für eine klassische Äs- thetik, die Bazin ablehnt, weil sie die profilmische Realität auf willkürliche Art und Weise zerstückle, ihre räumliche Kontinuität und Homogenität missachte und den Zuschauern eine vordefinierte Bedeutung und Sicht der Ereignisse aufzwinge. Le découpage classique, découlant de Griffith, décomposait la réalité en plans successifs qui n’étaient qu’une suite de points de vue, logiques ou subjectifs, sur l’événement. Un personnage, enfermé dans une chambre, attend que son bourreau vienne l’y trouver. Il fixe avec angoisse la porte. Au moment où le bourreau va entrer, le metteur en scène ne manquera pas de faire un gros plan du bouton de la porte tournant lentement; ce gros plan est psychologique- ment justifié par l’extrême attention de la victime à ce signe de sa détresse. C’est la suite des plans, analyse conventionnelle d’une réalité continue, qui constitue proprement le langage cinématographique actuel. Le découpage introduit donc une abstraction évidente dans la réalité. (1990c [1948]: 271) Dabei fällt auf, dass insbesondere die zweite Variante, die subjektive Ka- mera also, die uns hier besonders interessiert, den ästhetischen Postula- ten Bazins zu widersprechen scheint.8 Aus welchen Gründen? Damit die Blickpunkteinstellung überhaupt als eine Einstellung erkannt wird, die die subjektive Sicht einer Figur repräsentieren soll, muss im Normalfall diese Figur vorher oder nachher gezeigt werden (meistens weisen dabei Gestik und Mimik darauf hin, dass sie etwas Bestimmtes fixiert). Bei der subjektiven Kamera handelt es sich also um eine diskursive Struktur, die erst durch die Montage von mehreren Einstellungen zustande kommt. Der subjektive Charakter ist meist nicht bild- und tonimmanent, sondern erst durch die kontextuelle Einbettung – durch Montage mit anderen Einstel- lungen – gegeben. Dies widerspricht Bazins Auffassung von einer realis- tischen Filmästhetik, von der er glaubt, sie könne Realitätsbruchstücke zum Tragen bringen, deren Sinnhaftigkeit nicht durch eine konventionelle Formensprache und den durch die Montage hergestellten Bezug zu den vorhergehenden und nachfolgenden Einstellungen gegeben ist. L’unité du récit cinématographique dans Païsa [I 1946] n’est pas le «plan», point de vue abstrait sur la réalité qu’on analyse, mais le «fait». Fragment de 8 Im Zusammenhang mit Lady in the Lake (USA 1947) spricht Bazin von einer «puérile identification du spectateur au personnage par le truchement de la caméra» (1990d [1951]: 146). 108 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? réalité brute, en lui-même multiple et équivoque, dont le «sens» se dégage seulement a posteriori grâce à d’autres «faits» entre lesquels l’esprit établit des rapports. Sans doute le metteur en scène a bien choisi ces «faits», mais en respectant leur intégrité de «fait». Le gros plan du bouton de porte auquel je faisais allusion tout à l’heure était moins un fait qu’un signe dégagé a priori et par la caméra, et qui n’avait pas plus d’indépendance sémantique qu’une préposition dans la phrase. (1990c [1948]: 281–282) Bazin sieht in der Übereinstimmung von Figuren- und Kameraperspek- tive einen den Zuschauern vom konventionellen filmischen Diskurs auf- erlegten Zwang, das in der Einstellung Sicht- und Hörbare lediglich auf die entsprechende Figur, ihren psychischen Zustand und die dramati- sche Situation zu beziehen. Hinzu kommt eine scheinbar zwangsläufi- ge und automatische Identifikation mit dieser Figur, die die Filmtheorie dieser Konstellation lange Zeit unterstellt hat und die auch Bazin nicht hinterfragt, auch wenn er sie abschätzig als «kindisch» bezeichnet (1990d [1951]: 146). Er sieht in der subjektiven Kamera eine diskursive Form, die extrem bedeutungsgerichtet ist. Dies widerspricht seinem Ideal ei- ner Ästhetik, die dem bereits in der Natur vorhandenen Sinngehalt keine eigene, festgelegte Bedeutung aufoktroyiert und somit dem Zuschauer bei der Sinnsuche größtmögliche Freiheit lässt. Die Beispiele, die Bazin erwähnt, sind diesbezüglich symptomatisch: Sowohl in Notorious als auch in Shadow of a Doubt (USA 1943) bestehen die subjektiven Bildin- halte aus Objekten – die Kaffeetasse, der Fingerring –, die für die entspre- chende Figur und den Handlungszusammenhang von ganz spezifischer Bedeutung sind. Auch was die Konstruktion des filmischen Raums betrifft, läuft die subjektive Kamera den ästhetischen Postulaten Bazins diametral entge- gen. Neben der bereits erwähnten Forderung nach Inszenierungsformen innerhalb langer Einstellungen hat er sich wiederholt für die Unabhängig- keit der Kamera von den Ereignissen und den handelnden Figuren aus- gesprochen. Die Möglichkeit der Kamera, jederzeit unmotiviert und un- abhängig von Logik und Dramatik der Handlung in irgendeine Richtung abzuschwenken oder sich wegzubewegen, bilde eine Garantie dafür, dass das filmische Universum – genauso wie das reale – als ein kontinuierli- ches wahrgenommen werde. Bei der subjektiven Kamera wird nun aber die räumliche Beziehung zwischen der wahrnehmenden Figur und dem Objekt, das sie wahrnimmt, hauptsächlich durch die Montage hergestellt, und die Kamera wird, da sie an Position und Perspektive einer Figur ge- koppelt ist, unmittelbar in die dramatischen Ereignisse eingebunden. Für Bazin bringt die subjektive Kamera somit eine künstliche und konventio- 2.3 Verschmähte Subjektivität: Bazins Realismustheorie 109 nelle Konstruktion des filmischen Raumes mit sich, die einem der Haupt- merkmale der Realität – räumliche Integrität und Homogenität – nicht ge- recht wird und zudem die Unabhängigkeit der Kamera der momentanen Dramaturgie und Figurenpsychologie opfert. Es ist interessant, dass Bazin zwar die Blickpunktaufnahme der Kaf- feetasse in Notorious erwähnt, jedoch nicht auf die anschließenden Ein- stellungen zu sprechen kommt, in denen nicht nur die Perspektive und Aufmerksamkeitsfokussierung der Figur durch die Kameraposition zum Ausdruck kommt, sondern darüber hinaus auch ihre veränderte (durch die im Kaffee enthaltene Droge beeinträchtigte) visuelle und auditive Wahrnehmung durch entsprechende Gestaltung von Bild und Ton (Ver- zerrungen und Verfremdungen durch Filter, Unschärfe und Hall) vermit- telt wird. Noch stärkere Formen der Figurensubjektivität, die Darstellung in- nerer Vorstellungen und Träume, die ja gerade in Hitchcocks Filmen eine prominente Rolle spielen, lässt Bazin in den genannten Artikeln ebenfalls unerwähnt. Mir ist einzig ein vierseitiger Artikel über die Doppelbelich- tung bekannt («Vie et mort de la surimpression», 1958 [1946]), in dem er sich kurz zu Traum und Fantastik im Film äußert. Die folgenden Über- legungen zu Bazins Haltung filmischen Traumdarstellungen gegenüber stellen somit über weite Strecken eine Extrapolation seiner theoretischen Grundposition dar und stützen sich nur vereinzelt auf explizite Aussagen. Als entsprechend spekulativ sind sie zu betrachten. Einige der in Bazins Texten implizit oder explizit enthaltenen Vorbehal- te gegenüber der subjektiven Kamera können in ihrer Stoßrichtung auch auf Traumdarstellungen übertragen werden und gewinnen dabei noch an Schärfe. Gleich der subjektiven Kamera müssen Traumsequenzen, um als solche überhaupt verständlich zu sein, durch spezifische filmische Mittel gekennzeichnet werden, die für Bazin jedoch «pure Konvention» sind: Le ralenti et la surimpression n’ont jamais figuré dans nos cauchemars. La surimpression à l’écran signifie: «Attention, monde irréel, personnage imagi- naire», elle ne représente en aucune manière ce que sont réellement les hallu- cinations ou les rêves […]. (1958 [1946]: 27) Auch bei dieser Zuordnung zu einer anderen (subjektiven) Wirklichkeits- ebene, die durch konventionelle Markierungen geschieht, handelt es sich um eine von der Narration konstruierte, abstrakte Bedeutungszuweisung. Zudem kommen oft filmische Mittel wie etwa Tricktechniken, Montage- formen, Verfremdungs- und Deformationseffekte zum Einsatz, die für Bazin Teil einer expressiven Formensprache sind, die der von ihm ge- 110 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? forderten realistischen Ästhetik zuwiderläuft und die er im Hinblick auf Traumdarstellungen als «onirisme faussement esthétique» (1958 [1946]: 29) kritisiert. Bazins Denkweise legt nahe, Traumsequenzen – stärker noch als Blickpunkteinstellungen – als vorbestimmte Bedeutungseinheiten zu betrachten, die darauf angelegt sind, lediglich im Hinblick auf die psychi- sche Situation der träumenden Figur gelesen zu werden. Die Anbindung an eine bestimmte Figur ist zudem noch enger als bei der subjektiven Ka- mera, sollen die filmischen Bilder und Töne doch als direktes Produkt ih- rer geistig-psychischen Vorstellungstätigkeit aufgefasst werden. Es ist des- halb anzunehmen, dass Bazin seine gegen die subjektive Kamera zum Teil explizit vorgetragenen Vorwürfe (starke Bedeutungseinengung, abstrak- te, konventionelle Formensprache, Unterordnung der filmgestalterischen Mittel unter dramaturgische und figurenpsychologische Aspekte) in noch stärkerem Maße gegen Traumdarstellungen vorgebracht hätte. Bazin spricht sich nicht grundsätzlich gegen ein Kino mit fantastisch- traumhafter Ausrichtung aus, hält jedoch fest: «Le fantastique au cinéma n’est permis que par le réalisme irrésistible de l’image photographique. C’est elle qui nous impose la présence de l’invraisemblable, qui l’introduit dans l’univers des choses visibles» (1958 [1946]: 27). Und die Analyse ei- ner Todesvision in Our Town (USA 1940), in der eine Figur als Geist zu den Angehörigen zurückkehrt, zeigt sodann, dass Bazin seine realistischen Ansprüche betreffend räumlicher Inszenierung selbst bei Erscheinungen aufrecht erhält, die innerhalb der fiktionalen Welt der irrealen Sphäre zu- geordnet sind: «Il n’y a aucune raison pour qu’un fantôme n’occupe pas lui aussi une place exacte dans l’espace, ni pour qu’il déteigne inconsidé- rément sur son entourage» (ebenda). Filme, die nicht nur die äußere (visuelle und auditive) Wahrnehmung einer Figur zu vermitteln trachten, sondern auch innere Vorgänge zur Dar- stellung bringen, stellen für Bazins Theorie eine Herausforderung dar, da er davon ausgeht, die matière première der filmischen Kreation bestehe aus objektiv und authentisch wirkenden Realitätsausschnitten, woraus sich die moralische Forderung ableiten lasse, Thematik und Ästhetik müssten diesem Grundbaustoff gerecht werden. In Traumsequenzen wird natürlich genauso mit fotografisch eingefangenen «Realitätsausschnitten» operiert wie in «normalen», «objektive Realität» darstellenden Sequenzen. Diese «Realitätsbruchstücke» eignet sich der filmische Diskurs jedoch an, um daraus irreale Hirngespinste einer fiktionalen Figur zu weben. Dabei wird die Kontinuität und Homogenität des Raumes – für Bazin eines der wich- tigsten Merkmale der Realität, das es durch eine entsprechende Ästhetik unbedingt zu erhalten gilt – in Frage gestellt. Die Darstellung subjektiver 2.4 Kracauers Theory of Film 111 Vorstellungswelten öffnet neue, imaginäre Räume, die meist nach eigenen Gesetzen gestaltet sind und somit innerhalb des fiktionalen Universums heterogene Elemente bilden. Der Film als Tummelplatz von Fantasien und Träumereien lässt sich schwer mit der Auffassung in Einklang bringen, der Film sei in erster Li- nie dazu da, die dingliche, äußerlich wahrnehmbare Welt möglichst exakt nachzubilden. Begreift man die Kamera wie Bazin als ein genau registrie- rendes und das Registrierte getreu wiedergebendes Instrument und sieht man die Aufgabe der filmischen Ästhetik vor allem darin, die Beschaffen- heit dieser Realität möglichst intakt zu lassen, so steht für den Film nicht im Vordergrund, sich die Welten der Träume und inneren Vorstellungen zu erschließen. 2.4 «Filmfantasie» versus «Kamerarealität»: Kracauers Theory of Film Kracauers filmtheoretische Überzeugungen weisen über weite Strecken in dieselbe Richtung wie diejenigen Bazins, auch wenn in manchen Punkten Unterschiede bestehen. Wie Bazin hatte Kracauer über Jahre hinweg das Filmschaffen als Kritiker begleitet, im Gegensatz zu diesem unternahm er mit Theory of Film (1960) jedoch den Versuch, ein systematisch angelegtes, umfassendes Theoriegebäude zu entwerfen. Die Frage, ob der Film sich für die Darstellung von Träumen, Halluzinationen und anderen subjek- tiven Inhalten eignet, wird darin relativ ausführlich behandelt. Wir sind also nicht mehr wie im vorangegangenen Kapitel darauf angewiesen, die Grundhaltung eines Filmtheoretikers hypothetisch auf einen Bereich aus- zudehnen, zu dem er sich selber nur am Rande geäußert hat. Trotzdem möchte ich auch hier die Grundannahmen kurz zusammenfassen, die das Fundament der Theorie bilden, um in ihrem Lichte Kracauers Bewertung der unterschiedlichen Arten von Traumdarstellung besser nachvollziehen zu können. 2.4.1 Theoretische Grundannahmen Kracauer geht davon aus, «dass jedes Medium einen spezifischen Cha- rakter hat, der bestimmte Arten von Mitteilungen begünstigt, während er sich gegen andere sperrt» (1996 [1960]: 25). Er vertritt die Meinung, dass ein Werk nur dann als geglückt angesehen werden kann, wenn es von den spezifischen Eigenschaften seines Mediums ausgeht und nicht «auf Effekte abzielt, die der Natur eines anderen Mediums besser entsprächen» 112 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? (36).9 Insbesondere sei jedes Medium denjenigen Inhalten besonders zuge- tan, die nur es allein darstellen kann. Angesichts dieser Annahme, die er «ästhetisches Grundprinzip» nennt (36–38), überrascht es nicht, dass die Frage, was als filmisch respektive unfilmisch zu gelten hat, sich wie ein roter Faden durch den Text zieht und als Raster zur ästhetischen Beurteilung einzelner Werke, Genres oder Stilrichtungen dient. Kracauer betrachtet den Film als eine Erweiterung der Fotografie. Seine wichtigste Grundeigenschaft bestehe darin, dass er «in einzigartiger Weise dazu geeignet [ist], physische Realität wiederzugeben und zu ent- hüllen» (55) sowie «die vielfältigen Geschehnisse des wirklichen Lebens […] eindringlich und lebensgetreu zu reproduzieren» (54). Die Kamera sei «ein ideales Hilfsmittel zur Durchdringung und unverzerrten Wiedergabe der Natur» (28), das «materielle Phänomene um ihrer selbst willen fest- hält» (68). Filme müssen sich «der Wiedergabe realer Ereignisse widmen» (54) und sich «an die Oberfläche der Dinge klammern» (13). In Kracauers Realitätsverständnis liegt der Schwerpunkt also – wie bei Bazin – auf der materiellen, dinglichen Umwelt. Er listet zudem eine ganze Reihe spezifischer Merkmale der äußeren Realität auf, für die das Medium Film eine besondere Affinität besitze. Dazu gehören das Unge- stellte, das Zufällige und das Unbestimmbare. Der Film eigne sich ins- besondere dazu, «Natur im Rohzustand wiederzugeben» (45), so wie sie sich offenbart, bevor sie von Menschenhand durch strukturierende oder kompositorische Gestaltung in einen spezifischen Form- und Sinnzusam- menhang gebracht wurde. Wie in Bazins Schriften manifestiert sich auch hier der Glaube daran, dass in Naturobjekten ein reichhaltiger, mehrdeu- tiger Sinngehalt verborgen liegt, der von der Kamera eingefangen werden kann. Dementsprechend wendet sich auch Kracauer gegen eine Ästhetik und Dramaturgie, die den im Film gezeigten Objekten oder Ereignissen einen symbolischen, im Voraus festgelegten Sinn aufoktroyiert, der «von außen an die Bilder […] herangetragen wird» und somit alle davon abwei- chenden Bedeutungen unterdrückt (175). Kracauer listet indes nicht nur die besonderen Affinitäten des Films auf, er macht auch deutlich, was dem Medium fremd ist. Ihm erscheint alles «theaterhaft Gestellte» oder «Kulissenhafte» und insbesondere die «thea- tralische Story» grundsätzlich unfilmisch. Ein fiktionaler Kosmos aus fab- rizierten Kulissen und eine der Bühnendramaturgie entlehnte Erzähllogik seien mit der filmischen Welt unvereinbar. An theatralischen Storys stört ihn, dass sie sich auf «menschlich Bedeutsames» beschränken und dabei 9 Wenn kein Autor angegeben ist, beziehen sich alle Seitenangaben in diesem Kapitel auf Kracauer 1996 [1960]. 2.4 Kracauers Theory of Film 113 spezifisch filmische Sujets – nebensächliche Alltagsereignisse, unmerkliche Naturerscheinungen, die materielle Textur toter Gegenstände – einer in sich geschlossenen und stringent durchkomponierten Handlung opfern. Ge- genüber abstrakten Mustern und ungegenständlichen Formen ist Kracauer ebenfalls skeptisch eingestellt. Den avantgardistischen Filmemachern, die «lieber Formen erfinden als bestehende Formen registrieren oder entde- cken» (245), wirft er vor, dass ihre frei gestalteten Schöpfungen die fotogra- fische Natur des Mediums missachten und der Realität keinen Tribut zollen. Präzisierend muss hier gesagt werden, dass Kracauer nicht dogma- tisch fordert, Filme dürften keine (in seinem Sinne) unfilmischen Elemen- te enthalten. Für ihn ist vielmehr wichtig, dass der realistischen Tendenz, dem grundsätzlichen Streben nach Erkundung der materiellen Realität, nicht der Vorrang streitig gemacht wird. Interessant ist diesbezüglich, dass er einem kurzzeitigen Ausscheren ins Theaterhafte, Abstrakte, Gestellte oder Stilisierte sogar eine dem Realismus des gesamten Films dienliche Funktion zuschreibt. Insbesondere wenn eine solche Einlage die unrea- listischen Elemente bewusst hervorstreicht, erreiche sie eine Kontrastwir- kung, die die Zuschauer umso empfänglicher macht für den Realismus der sie umschließenden Sequenzen. Kracauer hebt von den Grundeigenschaften des Films, von denen bisher die Rede war, die technischen Eigenschaften ab. Dazu zählt er die Montage, aber auch «speziellere Filmtechniken» wie die Wahl der Einstel- lungsgröße, Doppel- oder Mehrfachbelichtung, Überblendung, Zeitlupe und -raffer sowie Tricks und Sondereffekte (55–56). Diese technischen Ver- fahrensweisen könnten in einer Art eingesetzt werden, die der Grundei- genschaft des Mediums entspreche oder auch entgegenwirke. Ersteres sei der Fall, wenn der Akzent auf filmspezifischen Mitteln liegt und diese der Grundeigenschaft des Mediums – der Wiedergabe und Enthüllung von Realität – Rechnung tragen. Die filmische Qualität eines Films hängt für Kracauer also nicht in erster Linie von der Wahl einer spezifischen Insze- nierungs- oder Montageform ab. Hier besteht ein grundlegender Unter- schied zu Bazins Theorie, die gewissen «technischen Verfahrensweisen» im Sinne Kracauers automatisch eine der Realitätswiedergabe förderliche oder auch hinderliche Wirkung zuspricht. 2.4.2 Subjektivierung und Traumdarstellung Wie geht nun Kracauers Filmtheorie mit Subjektivierungen und Traum- darstellungen um? Für Kracauer kann die Kamera entweder den Bereich der sichtbaren Realität durchmessen oder aber sich ins «Reich der Fanta- sie» vorwagen und somit Welten einbeziehen, «die außerhalb des Bereichs 114 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? unserer Wirklichkeit liegen» (115). Was alles rechnet er zum «Bezirk der Fantasie»? Vom filmischen Gesichtspunkt aus wäre es vielleicht am besten, unter dem Be- griff «Fantasie» alle diejenigen vorwiegend visuellen Erlebnisse zusammenzu- fassen, die, ob sie nun bewusst imaginiert sind oder für real gehalten werden, Welten jenseits der eigentlichen Kamera-Realität angehören – das Übernatürli- che, Visionen aller Art, poetische Bilder, Halluzinationen, Träume usw. (121) Diese und andere Aussagen, wie auch zahlreiche angeführte Beispiele, machen deutlich, dass Kracauer die Darstellung der subjektiven Wahrneh- mung und inneren Vorstellung («Visionen», «Halluzinationen» und «Träu- me») derselben Kategorie zurechnet wie übernatürliche Vorgänge und Er- scheinungen in fantastischen Filmen. Zudem scheint auch eine gewisse «poetische» Art der Inszenierung und bildlichen Darstellung impliziert zu sein, die sich von einem prosaisch-realistischen Stil stark abhebt. Gleich zu Beginn seiner Überlegungen stellt Kracauer fest, dass zahl- reiche Filme, ja ganze Genres sich immer wieder dem Bereich des Fantas- tischen und Irrealen zuwenden. Im Gegensatz zu Bazin, den dieser Be- reich nur am Rande interessiert, sieht Kracauer darin ein «faszinierendes Problem» (81). Betrachtet er Figurensubjektivierungen und Traumdarstel- lungen zugleich als ästhetisch legitim? In Anbetracht seiner Hauptthese, wonach die Wiedergabe materieller Realität die einzig wirklich medien- gerechte Verwendung des Films darstellt, erstaunt es nicht weiter, dass für Kracauer ein Vordringen in den Bereich des Unwirklichen und Sub- jektiven dem filmischen Wesen tendenziell zuwiderläuft: «Der subjekti- ve Einsatz innerhalb dieses Mediums ist unabtrennbar von Prozessen der Entfremdung» (42). Und weiter: «Eins ist gewiss: Wenn ein Filmproduzent […] sich ins Reich der Fantasie vorwagt, läuft er Gefahr, die Grundeigen- schaften seines Mediums zu verleugnen» (115). Vernachlässigung der Au- ßenwelt und Gleichgültigkeit gegenüber der äußeren Wirklichkeit sind die wichtigsten Anklagepunkte (66). In einem ersten Schritt hält Kracauer also unmissverständlich fest, dass Filme, die das Erkunden der materiellen Re- alität zugunsten der freien Schöpfung künstlicher Traumbilder, phantom- hafter Gestalten oder fantastischer Wesen vernachlässigen, Gefahr laufen, das Medium für Zwecke zu missbrauchen, die der ästhetischen Legitimi- tät entbehren. Er versteht sein grundsätzlich negatives Urteil als Antithese zu einem Standpunkt, der in Filmtheorie und -kritik vorherrsche: Die meisten Filmschriftsteller sehen keine Veranlassung zwischen Realem und Irrealem zu unterscheiden, und lehnen es deshalb ab, der Kamera-Re- alität besondere Vorrechte zuzugestehen. […] Eine Anzahl von Kritikern [er 2.4 Kracauers Theory of Film 115 nennt sie in der Folge «Extremisten»] versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass «die wahre Bedeutung des Kinos im Reich der Träume liegt». (122).10 In der Folge ist Kracauer allerdings bestrebt, sein prinzipiell negatives Verdikt zu differenzieren und Kriterien festzulegen, auf Grund derer der filmische oder unfilmische Charakter von «Traumszenen» und «Filmfanta- sien» beurteilt werden kann.11 Kracauers Beurteilungsschema gründet auf zwei Hauptkriterien. Das erste, das er den «technischen Faktor» nennt, betrifft «die Art und Weise, in der Fantasie zur Erscheinung gebracht wird: ob mit theaterhaften Mitteln oder mit Hilfe spezifisch filmtechnischer Ver- fahren oder im Material physischer Realität selbst». Das zweite, der «in- haltliche Faktor», betrifft «die Beziehungen, die innerhalb eines gegebe- nen Filmwerks zwischen Fantasie und physischer Realität bestehen» und welche sich verändern «je nach dem Gewicht, das der einen oder anderen zugeteilt wird». Dabei seien zwei Möglichkeiten zu beachten: «[I]n seiner Relevanz fürs Medium kann das Fantastische der sichtbaren Wirklichkeit entweder gleichgestellt oder untergeordnet werden.» Für völlig unfilmisch hält Kracauer «Filmfantasien», wenn sie vor- wiegend durch Kostümierung, künstliche Kulissen, abstrakte Formen und theaterhafte Inszenierung erzeugt werden. Als Paradebeispiel dienen ihm Das Cabinett des Dr. Caligari (D 1920), der seine «Herkunft aus dem Atelier nicht verleugnen kann» (123–124), und The Red Shoes (GB 1948), in dem irreale Welten dargestellt werden durch «ein Gemisch von landschaftsähnlichen Formen, nahezu abstrakten Gebilden und üppigen Farbenschwelgereien, das alle Spuren von Kulissenmalerei an sich trägt» (63–64). Einerseits kommt in diesem Urteil Kracauers profunde Ableh- nung gegenüber allem Künstlichen und theaterhaft Gestellten zum Aus- druck; auch seine Vorbehalte gegen die Verwendung abstrakter Muster und ungegenständlicher Formen manifestieren sich. Andererseits leitet sich sein hartes Verdikt aus der Forderung ab, jedes Werk habe sich auf die spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten seines Mediums zu beschränken und dürfe nicht auf Effekte abzielen, die der Natur eines anderen besser entsprächen. Für Kracauer gehören irreale Welten, die durch «Kulissen- zauber» und abstrakte Gebilde heraufbeschworen werden, auf die Bühne oder auf die Leinwand des Malers, nicht aber ins Kino. Genau wie das Theaterhafte im Allgemeinen werde das theaterhaft Fantastische allerdings filmisch legitim, wenn es als Einschub inmitten realistischer Sequenzen konzipiert ist und somit durch Kontrastwirkung 10 Namentlich erwähnt er René Clair, Pierre-Quint und Ado Kyrou. 11 Die folgenden Zitate und Paraphrasierungen beziehen sich auf S. 122–123. 116 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? die Natürlichkeit der benachbarten Sequenzen umso deutlicher zutage tre- ten lässt. Dem Fantastischen in solchen «Zwischenspielen» hält Kracauer zugute, dass es gar nicht beabsichtigt, mit dem Realismus der umschlie- ßenden Sequenzen um ästhetische Gültigkeit zu wetteifern. Insbesondere wenn es sich beim Einschub um «Fantasien […] in der Form von Träu- men» handelt, sei die Gefahr weniger akut, dass das Irreale dem Realen den Vorrang streitig macht. Wird das theaterhaft Fantastische zudem in parodistisch-übertriebener oder ironisch-verspielter Form, «gleichsam mit einem Augenzwinkern» (127), dargeboten, so entspreche es in jedem Fall dem Geist des Mediums. Die Traumsequenzen aus Sunnyside (USA 1919) und The Kid (USA 1921) dienen hier als Beispiele: Chaplin versucht gar nicht erst, den theaterhaften Charakter dieser Traumse- quenzen zu verbergen; im Gegenteil, er übertreibt ihn bewusst und gibt uns damit zu verstehen, dass wir sie nicht ernst nehmen sollen. Sie sind ironisch- verspielte Fantasien – was von vornherein den Gedanken ausschließt, dass sie die mit ihnen gegebene imaginäre Welt als ebenso real wie unsere Umwelt hinstellen wollten. Gerade ihre betonte Theaterhaftigkeit zeigt an, dass sie einem ursprünglichen Interesse an der physischen Realität entspringen. (126) Nach der Darstellung des Fantastischen mit theaterhaften Mitteln betrach- tet Kracauer als zweites die «verwandelnde Kraft filmischer (und foto- grafischer) Techniken […], um Aufnahmen der Realität Fantastisches zu entlocken» (127). Gemeint sind Verfahren wie Doppel- und Mehrfachbe- lichtung, Zeitlupe und -raffer, Freeze Frame, Zerrlinsen, besondere Mon- tagetechniken oder das Einfügen von Negativmaterial. Kracauer stuft die tricktechnische Bearbeitung realistischer Aufnahmen für übernatürliche und unwirkliche Vorgänge jedoch als problematisch ein, wenn «der Film […] auf ihrem Realitätscharakter besteht» (128), die fantastischen Ereig- nisse also innerhalb der fiktionalen Welt als real postuliert werden.12 Aller- dings führt auch hier die Tatsache, dass die Erzeugung des Fantastischen sich auf technische Besonderheiten des Mediums stützt, zu einer Milde- rung des Urteils. Zudem wird die filmische Qualität in zwei Fällen grund- sätzlich anders bewertet: Technisch erzeugte Fantasien bestätigen die höhere Gültigkeit physischer Re- alität und erwerben daher filmische Qualität, wenn sie entweder spielerisch behandelt sind oder in der Form von Träumen auftreten. (128) 12 Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau (D 1922) dient als repräsentatives Beispiel für diese Art des Fantastischen (128). 2.4 Kracauers Theory of Film 117 Wiederum bewirkt also die Darbietung in spielerisch-ironischer Übertrei- bung, vor allem aber in Traumform, dass das Irreale und Unwirkliche den ästhetischen Ansprüchen Kracauers gerecht wird. Während er bei der Ver- wendung realistischer Aufnahmen für übernatürliche Ereignisse Bedenken anmeldet, betrachtet er es im Falle von Träumen als Vorzug, dass sie «sich tatsächlich von Aufnahmen herleiten, die diese Welt wiedergeben», und dass sie «Bilder [vorführen], die, wie sehr auch manipuliert, gegebene ma- terielle Phänomene darbieten» (130). Und dies obwohl Kracauer grundsätz- lich fordert, dass reale Objekte stets um ihrer selbst und um des in ihnen ver- borgenen Sinngehaltes willen dargestellt werden. Diese Auffassung scheint auf zwei Überlegungen zu gründen. Erstens: Träume im Film erheben gar keinen Anspruch auf Realitätscharakter, sondern werden in der fiktiona- len Welt als irreal postuliert. Somit anerkennen sie «in ihrer Eigenschaft als Träume […] das Primat der realen Welt» (130). Deshalb dürfen hier auch Aufnahmen realer Objekte und Ereignisse verwendet werden, denn es ist damit gar nicht der Anspruch verbunden, Realität in ihrer geheimnisvollen Vieldeutigkeit wiederzugeben. Zweitens: Oft tauchen in Traumsequenzen Elemente auf, die zuvor schon in realistischen Sequenzen erschienen sind: Man denke auch an die traumartige Vision des sterbenden Toulouse-Lautrec in Moulin Rouge [USA 1952]: Der Banjo spielende Chocolat, La Goulue und die anderen, die jetzt, wie Luftgeister vor seinem inneren Auge schwebend, strahlend aus der dunklen Wand des Zimmers hervordringen und zu ge- dämpften Offenbachschen Klängen ins Nichts hineintanzen, sind ihrem We- sen nach die gleichen Figuren, die er so oft auftreten sah, als er noch mit und unter ihnen lebte. Gewiss, all diese Bilder sind auf eine Art bearbeitet oder geschnitten (oder beides), die ihren Traumcharakter unterstreichen soll; den- noch gehen sie über die Grenzen der Kamera-Realität niemals so weit hinaus, dass es nicht mehr möglich wäre, sie von ihr abzuleiten. Die vielen mehr- deutigen Aufnahmen unter ihnen, die «Realität in einer anderen Dimension» darstellen – Zeitlupenbilder, Aufnahmen aus ungewohnten Blickpunkten usw. –, sind in der Regel so gehandhabt, dass sie die realen Gegebenheiten ins Gedächtnis rufen, denen sie entstammen, sich aber nicht zu davon abgelös- ten Formen entwickeln. Es ist, als hielte die Gewalt der realistischen Tendenz sie bei den wirklichen Dingen zurück. (130) Nach Kracauers Auffassung entsprechen folglich traumhafte oder visionä- re Erscheinungen der realistischen Grundhaltung, wenn sie in fiktionale Realität eingebettet sind und einen direkten Bezug zu ihr aufweisen. Als letztes betrachtet Kracauer «Fantasien auf der Leinwand», die «im Ma- terial physischer Realität selbst» zur Erscheinung gebracht werden (122). 118 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Es geht um Filme oder Filmepisoden, die realistischen Aufnahmen fantasti- schen und irrealen Charakter verleihen, ohne dabei auf Trickverfahren zu- rückzugreifen. Diese Darstellungsart entspreche grundsätzlich dem realis- tischen Geist des Mediums. Auch hier gelten allerdings Einschränkungen: Wird in einem Film die Existenz des Übernatürlichen als selbstverständlich vorausgesetzt, so hat das zur Folge, dass den zu seiner Darstellung verwen- deten realistischen Aufnahmen ein eindeutiger Sinngehalt aufoktroyiert wird, sodass sie zu Symbolen und Versinnbildlichungen vorgefasster In- halte degradiert werden, die keinen Bezug zur vieldeutigen Realität mehr haben.13 Dieser Bezug ist aber unbedingt notwendig, denn nur er rechtfer- tigt nach Kracauers Auffassung den Einsatz realistischer Aufnahmen. In zwei Fällen ist er gegeben und garantiert volle filmische Qualität: Wenn Fantasien «durch Aufnahmen verbildlicht [werden], die sich von denen gewöhnlichen Alltaglebens nicht unterscheiden lassen» (133); und wenn sie die Wirklichkeit zeigen, wie sie einer der filmischen Figuren subjektiv erscheint. Als Beispiel dient eine Episode aus Dead of Night (GB 1945), in der ein Patient mitten in der Nacht zum Fenster der Anstalt hinausschaut und eine sonnenüberflutete Straße erblickt, auf der ein Leichenwagen steht. [E]rschiene die sonnige Straße nicht mitten in der Nacht im Film, könnte sie ge- nausogut eine normale sonnige Straße sein. Zweitens sind beide Fantasien als Halluzinationen kenntlich gemacht, die ihren Ursprung in seltsamen oder krank- haften seelischen Zuständen haben. […] Der gespenstische Kutscher und die auf- sässige Puppe sind die Realität, wie sie Menschen erscheint, von denen der eine die Gabe des zweiten Gesichts hat, der andere an Schizophrenie leidet.(133–134) Für Kracauer entspricht das Irreale also dem Geist des Mediums am stärks- ten, wenn sich seine filmische Darstellung gar nicht von der realer Ereig- nisse unterscheidet, wenn es also lediglich durch den handlungslogischen Kontext überhaupt als irreal ausgewiesen wird. Und er spricht gar von «extreme[m] Realismus im Fantastischen», wenn Ereignisse in dieser Dar- stellungsform der subjektiven Realität einer Figur zugeordnet sind (134).14 Filme sind nicht nur in der Lage, innere Vorstellungswelten zu offenbaren, sie können auch die äußere (fiktionale) Realität in einer Form zeigen, wie sie von einer der Figuren subjektiv wahrgenommen wird. Ersteres rech- net Kracauer zur Kategorie «Fantasie», welche er in gewissem Sinne als 13 Aus dieser Überlegung kritisiert Kracauer an anderer Stelle auch den Symbolismus surrealistsischer Filme (255–258). 14 Interessanterweise zieht Kracauer in diesem Zusammenhang die subjektive Wahrneh- mung nur gerade von kranken oder ungewöhnlichen Figuren in Betracht: Wahnsinni- ge, Schizophrene oder Hellsehende. 2.4 Kracauers Theory of Film 119 Gegenbegriff zu «Realität» versteht. Die zweite Möglichkeit behandelt er hingegen im Kapitel «Die Darstellung physischer Realität», wobei er im Falle subjektiver Färbung oder Verzerrung von «Sonderformen der Reali- tät» spricht (93–94). Dies legt den Schluss nahe, dass Kracauers Realitäts- auffassung nicht von einer unabhängig vom Menschen existierenden Um- welt ausgeht, sondern dass menschliche Wahrnehmung und Bewusstsein durchaus miteingerechnet sind. Kracauer betrachtet also die durch außer- gewöhnliche Geisteszustände bedingte Erscheinungsweise der Umwelt in der subjektiven Wahrnehmung als eine Form der physischen Realität. Da er gleichzeitig die Enthüllung und Wiedergabe dieser Realität als Haupt- aufgabe des Films ansieht, ist es nur folgerichtig, wenn er festhält: «Auch diese Bilder gehören zu den filmischen Gegenständen» (93). Der Bereich des Geistig-Ideellen ist gemäß Kracauer hingegen vor- wiegend dem Roman vorbehalten. Versuche, solche Inhalte durch Dialog, inneren Monolog oder eine Erzählstimme wiederzugeben, hält er für un- filmisch, da das sprachliche Element auf Kosten des bildlichen zu stark in den Vordergrund rücke (275, 314). Da Geistig-Sprachliches unsichtbar und immateriell sei, bleibe es dem auf die materielle Umwelt ausgerichteten Film prinzipiell unzugänglich und könne lediglich indirekt und andeu- tungsweise durch die von der Darstellung materieller Phänomene ausge- hende suggestive Wirkung zum Ausdruck kommen. Wie wir gesehen haben, beschäftigt sich Kracauer, obwohl er das Medium primär als Instrument zur Erforschung und Wiedergabe der äußeren Wirk- lichkeit begreift, relativ ausführlich mit dem Unwirklichen und Subjekti- ven. Er anerkennt, dass der Film über verschiedene Möglichkeiten verfügt, die innere Welt einer Figur bildlich oder verbal nachzuzeichnen. Einige dieser Versuche, vor allem solche, die auf «unfilmische» Elemente Rück- griff nehmen, hält er für medienfremd, andere vermögen eher dem Geist des Films zu entsprechen. Kracauers Realismustheorie ist also flexibel ge- nug, auch der Darstellung des Subjektiven und Irrealen unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Formen filmische Qualitäten zuzuge- stehen. Dies ändert jedoch nichts an seiner Grundhaltung: Das Medium Film ist primär am Materiellen, Dinglichen, äußerlich Sichtbaren interes- siert. Deshalb entspricht es auch eher seinen Grundeigenschaften, das Au- genmerk nicht direkt ins Innere einer Figur zu richten, sondern sichtbare Phänomene aufzudecken und zu registrieren, die, zuerst einmal um ihrer selbst willen dargestellt, unter Umständen und in zweiter Linie auch Rück- schlüsse auf Gemütszustände zulassen. Inneres, Subjektives und Geistiges kann gemäß Kracauer dann vom Film am besten wiedergegeben werden, wenn es sich am Äußeren, Objektiven und Materiellen festmachen lässt. 120 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? 2.5 Die Konventionalität mentaler Bilder: Mitrys Esthétique et psychologie du cinéma Mitrys Esthétique et psychologie du cinéma, in zwei Bänden 1963 und 1965 erschienen, steht am Übergang von der klassischen zur modernen Film- theorie: Das Werk stellt den letzten Gesamtentwurf dar, den man teilwei- se noch der klassischen Epoche zurechnen kann, gilt gleichzeitig jedoch bereits als Wegbereiter neuerer Theorieströmungen. Es unterscheidet sich nicht nur in Umfang (knapp 900 Seiten) und Fülle behandelter Themen, sondern auch methodologisch von den meisten seiner Vorgänger. Als Na- turwissenschaftler, Filmhistoriker und Filmemacher in Personalunion, der zudem über fundierte Kenntnisse in Psychologie, Philosophie, Linguistik, Kunst- und Literaturgeschichte verfügte, etablierte Mitry eine neue Art der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Er betrachtete Film und Kino als einen großen Themenkomplex, der eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Fragen aufwirft, die mit Hilfe von Theorien und Model- len aus allen relevanten Disziplinen einer differenzierten Analyse unter- zogen werden müssen. Als Mitbegründer der Cinémathèque Française und Autor einer umfassenden Filmgeschichte, die kurz nach Esthétique et psychologie du cinéma erschien (Mitry 1967), maß er zudem der filmhistori- schen Perspektive theoretischer Fragestellungen besondere Bedeutung bei. Mitrys Position, oft eher abwägend als polemisch, eher eine Synthe- se unterschiedlicher Ansichten als polarisierend, ist schwieriger auf den Punkt zu bringen als die eines Münsterberg oder Bazin. Trotzdem soll auch in diesem Kapitel versucht werden, Mitrys Äußerungen zur filmi- schen Subjektivierung und Traumdarstellung vor dem Hintergrund seiner theoretischen Grundannahmen zu diskutieren. Es versteht sich von selbst, dass dabei nicht auf alle Aspekte seiner Theorie eingegangen werden kann. 2.5.1 Theoretische Grundannahmen Eine Frage, die sich wie ein roter Faden durch die beiden Bände zieht (und in der Folge von Christian Metz wieder aufgenommen wurde),15 ist die, in welchem Maß der Film als Sprache aufgefasst werden kann. Im Ge- gensatz zur gesprochenen oder geschriebenen Sprache, die sich abstrakter Zeichen bediene, operiere der Film mit bewegten Bildern, die der Realität zumindest ähnlich seien. Mitry betont in einem ersten Schritt den Abbild- charakter des Mediums und die Nähe des filmischen Bildes zur visuellen Erscheinung der äußeren Realität. Erst durch die diskursive Anordnung, 15 Zum Beispiel in Metz 1968d [1964]. 2.5 Mitrys Esthétique et psychologie du cinéma 121 das Zueinander-in-Beziehung-Setzen der Realitätsabbildungen werde der Film zur Sprache, etabliere er eine Bedeutungsebene, auf der es möglich werde, Gedanken und Ideen durch Zeichen oder Symbole auszudrücken. Da Mitry Abbildungen der «konkreten Realität» als Grundmaterial der Filmsprache betrachtet, pocht er darauf, dass die Sinnvermittlung auf der sprachlich-diskursiven respektive symbolischen Ebene nicht durch Darstellungen bewerkstelligt wird, die den Regeln der Plausibilität und Realitätslogik widersprechen. So erachtet er die Art, wie der Sturz des Za- renregimes in Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosez Potjomkin, SU 1925) durch das Überbordwerfen des Mannschaftsarztes und die Zertrüm- merung seines Zwickers symbolisiert wird, als gelungenes Beispiel, da Arzt, Zwicker und was mit ihnen geschieht sich aus der konkreten Hand- lungssituation ergeben, also als plausible Ereignisse erscheinen. Die Ein- stellung eines geschlachteten Stiers mitten in einer Szene, in der Soldaten streikende Arbeiter verfolgen (Der Streik / Stackka, SU 1924), verurteilt er hingegen als willkürlichen Einschub, der «die dramatische Wahrheit verfälscht» (199). Laut Mitry eignet sich der Film nicht dazu, abstrakte Ideen und Kon- zepte direkt zum Ausdruck zu bringen. Er soll vielmehr Ereignisse auf möglichst plausible und realitätsnahe Weise in Szene setzen. Durch ge- schickte Anordnung der Handlungselemente könne die sinnlich-emoti- onale Wirkung jedoch so strukturiert werden, dass abstrakte Bedeutung entsteht, die über das in Bild und Ton explizit Gezeigte hinausgeht. Mitry wendet sich nicht nur gegen die direkte Umsetzung abstrakter Konzepte, sondern auch gegen konventionalisierte Formen, für die er keinen Platz im filmischen Medium sieht. Indem Mitry das filmische Bild sowohl als analoges Realitätsabbild als auch als Element eines strukturierten Diskurses betrachtet, gelingt ihm eine Synthese realistischer und formalistischer Positionen. Wie alle bisher diskutierten Theoretiker fasst Mitry den Film als eine eigenständige Kunst- form auf. Er unterscheide sich von den «Sprachkünsten» Literatur und Theater und von der Malerei dadurch, dass er durch das bewegte Bild die reale Welt direkt ins Spiel bringe, das Dargestellte also nicht von Grund auf künstlich erschaffen müsse. Als weiteren wichtigen Unterschied betrachtet Mitry den Umstand, dass filmisch dargebotene Ereignisse gegenwärtiger erscheinen, eher als im Moment sich abspielend aufgefasst werden als in den anderen Medien. 122 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? 2.5.2 Subjektivierung und Traumdarstellung Mitry, der die Untersuchungen der Filmologen zum Realitätseindruck und zur psychologischen Wirkung filmischer Bilder genau studiert hatte und als Universitätsprofessor seinen Studierenden immer wieder Filme zu ex- perimentellen Zwecken vorführte, war stark an der Rezeptionssituation im Kino interessiert. Dabei stellt er ähnliche Überlegungen an wie einige der im ersten Kapitel besprochenen Autoren. Als wichtigste Merkmale der Kinosituation betrachtet er die Tatsache, dass durch die Verdunklung des Raums die Realitätswahrnehmung unterbunden und gleichzeitig die Auf- merksamkeit gesteigert wird, wodurch die lichtstark projizierten Bilder, die eine fast totale Wahrnehmungsillusion auslösen, an ihre Stelle treten können (123). Im Absorbieren der Aufmerksamkeit sowie in der Substi- tution der Realwahrnehmung durch eine imaginäre Welt liegen für ihn starke Parallelen zu Traum oder Tagtraum: Il s’agit donc d’un fait semblable à l’hypnose par la captation de notre con- science attentive, mais aussi et surtout d’un état analogue à celui du rêve (intermédiaire entre le rêve proprement dit et le rêve éveillé) par le fait de ce «transfert perceptif» ou l’imaginaire se substitue au réel. (123) Die Nähe zum Tagtraum erachtet Mitry als besonders groß, da dieser es – ähnlich wie der Film mit seinen positiven Helden und aufregenden Aben- teuern – ermöglicht, Situationen imaginär durchzuspielen, die unerfüllten Wünschen entspringen (126, 279). Insbesondere auf der Ebene der «par- ticipation psychique» besteht für ihn eine enge Wesensverwandtschaft, die sich höchstens durch die Intensität der Erfahrung unterscheide (65). Weiter sieht er in der filmischen Vorführtechnik Analogien zu psychisch- mentalen Aktivitäten. Das filmische Bild sei, genau wie das mentale, das einer abwesenden Realität. Der Vorgang, mit dem die Bilder vom Film- streifen auf die Leinwand projiziert und somit aktualisiert werden, könne mit dem Aufrufen mentaler Bilder aus der Erinnerung verglichen werden (124, 128). Neben den Gemeinsamkeiten spricht Mitry jedoch auch Un- terschiede zwischen Filmrezeption und innerer Vorstellung an. Als wich- tigste Differenz erachtet er die Tatsache, dass die Bilder im Kino fremder Herkunft sind und sich von außen dem Bewusstsein aufdrängen (124). Trotz der erwähnten Berührungspunkte von filmischem und men- talem Bild zieht Mitry enge Grenzen, wenn er die Möglichkeiten dis- kutiert, ins Innere der Figuren vorzudringen. Citizen Kane von Orson Welles (USA 1941), ein Film, der genau diese Schwierigkeit zum Thema macht, erscheint ihm diesbezüglich als intelligenter Kommentar. Das «No Tresspassing», das am hohen Zaun von Kanes Wohnsitz auf einem Schild 2.5 Mitrys Esthétique et psychologie du cinéma 123 prangt, stehe im übertragenen Sinn für die generelle Undurchdringbarkeit filmischer Figuren. Mitrys Vorbehalte gegenüber der Wiedergabe subjektiver Vorstel- lungswelten werden verständlich, wenn man sich seine theoretischen Grundannahmen vor Augen hält, nach denen filmische Erzählungen mit Wirklichkeitsabbildungen operieren, die für sich genommen schon eine erste Bedeutungsebene etablieren und erst in einem zweiten Schritt, durch diskursive Anordnung, das narrative Sinngefüge konstituieren: Toute chose, tout événement, tout individu, ont de par eux-mêmes, de par leur simple présence «dans-le-monde», une certaine signification. L’image qui les donne au regard étant constituée par tout ce dont elle est image, il est normale que sa signification première soit celle des choses représentées. (65) Die Analogie der visuellen Erscheinung und die tatsächliche Wiedergabe der Bewegung erzeuge zudem einen starken Realitätseindruck, der dazu führe, dass die Zuschauer den Abbildcharakter vergessen und stattdessen direkt die abgebildeten Objekte anvisieren (77). Werden in der filmischen Fiktion nun aber nicht reale, sondern irre- ale, nur subjektiv wahrgenommene Ereignisse präsentiert, so bekundet Mitry Mühe, dies in sein Modell des filmischen Darstellungs- und Er- zählprozesses zu integrieren. Denn in einer Traumsequenz steht in der Regel die Tatsache im Vordergrund, dass die Bilder und Töne subjekti- ver Bewusstseinsinhalt einer Figur, also von ihrem Status her bereits mit komplexer narrativer Bedeutung aufgeladen sind. Hier scheint für Mitry ein Widerspruch zu bestehen zum Prinzip, dass narrativer Sinngehalt, durch den filmischen Diskurs generiert, erst in einem zweiten Schritt zum Tragen kommen soll, aufbauend auf der Bedeutung, die den abgebilde- ten Objekten und Ereignissen an sich schon zugeschrieben wird. Im Ge- gensatz zu konkreten Objekten und Ereignissen können mentale Bilder zudem von der Kamera nicht direkt eingefangen werden. Mitry folgert daraus, es sei prinzipiell unmöglich, subjektive oder mentale Bilder dar- zustellen: D’autre part, l’image subjective n’est pas nécessairement, n’est même pas du tout la représentation d’une quelconque «vision subjective» qu’il est impossi- ble d’extérioriser. En aucun cas, on ne saurait représenter une image mentale, puisque, dès l’instant qu’elle le serait, ce ne serait plus une image mentale. (288) Zwar könne man den Zuschauern subjektive Eindrücke oder Gefühle der Figuren vermitteln, es müssten jedoch «ästhetische Entsprechungen» (288) für die inneren Bilder gesucht werden, und dies führe auf jeden Fall zu 124 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? stark konventionalisierten, künstlich wirkenden Darstellungsformen, die unfilmisch seien. Ein weiteres Problem, insbesondere der «subjektiven Kamera», ortet Mitry im Bereich der Zuschaueranteilnahme. Um mit einer Figur mitfüh- len, sich in ihre Situation versetzen, vor allem jedoch ihr die subjektiven Bilder überhaupt zuschreiben zu können, müsse sie zuerst und immer wieder objektiv dargestellt werden. Subjektive Bilder könnten deshalb le- diglich in Ergänzung zu objektiven funktionieren und auch dies nur in geringer Dosierung (288–289, 300, 314). Ähnlich wie vor ihm bereits Balázs und Kracauer weist Mitry darauf hin, dass in filmischen Erzählungen das Figureninnere vor allem durch äußere Handlung zum Ausdruck komme: On saisit l’intérieur d’une conscience par le dehors et l’analyse, toujours de- scriptive, est conséquente d’une série d’implications déterminées par des «ob- servables». Elle est, en fait, synthétique, puisque les personnages se révèlent, se «construisent» psychologiquement à la faveur de leurs actes. (81, Herv. i. O.) Die Art der Inszenierung und formalen Gestaltung könne zudem in starkem Maße dazu beitragen, innere Befindlichkeiten nachvollziehbar zu machen. Überhaupt genüge es, nahe bei der Figur zu sein und ihren Handl ungen zu folgen, um sich in ihre Situation einfühlen zu können. «Halb-subjektive» oder «assoziierte» Einstellungen wie der «over-the-shoulder-shot», der an- näherungsweise die Perspektive der Figur einnimmt, sie jedoch im Vor- dergrund noch zeigt, eignen sich gemäß Mitry besser für die Darstellung der Subjektivität als Point-of-View-Einstellungen, in denen die Figur selber nicht zu sehen ist und sich deshalb auch nicht als Projektionsfläche anbietet. Die Möglichkeiten, im Film subjektive Inhalte direkt wiederzugeben, beur- teilt Mitry also sehr skeptisch – mit einer Ausnahme: Die Erinnerung hält er für die einzige Imaginationsform, der das Medium gerecht zu werden vermag: «L’image subjective ne peut être réellement subjective que dans le cas du souvenir.» Und weiter: «Les seules images mentales acceptables au cinéma et susceptibles d’une traduction filmique sont celles du sou- venir» (291, 314). Es gibt verschiedene Gründe für diese Bevorzugung gegenüber dem Traum oder der freien Fantasie. Als Erstes macht Mitry geltend, dass sich Erinnerungsbilder immer direkt auf eine «erlebte Re- alität» (314) beziehen; und zwar sowohl in Rückblenden, die vergangene Ereignisse aus einer Perspektive des «unsichtbaren Beobachters» so wie- dergeben, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben, als auch in Sequenzen, die den psychischen Prozess des Erinnerns in den Vordergrund stellen, 2.5 Mitrys Esthétique et psychologie du cinéma 125 die Ereignisse also subjektiv gefärbt – achronologisch, bruchstückhaft oder verzerrt – präsentieren (291). Durch direkten Bezug zur diegetischen Re- alitätsebene scheint für Mitry die – beim Traum akute – Gefahr gebannt, von abstrakten, begrifflichen Konzepten auszugehen und auf konventio- nelle Darstellungsformen zurückzugreifen. Nicht nur die Verbindung zur realen Lebenswelt, auch der Gegen- wartscharakter bleibe gewahrt. Da die filmische Erzählform nur ein Tem- pus, das Präsens, kenne, erscheinen die in einer «objektiven» Rückblende dargestellten Ereignisse als gegenwärtig, auch wenn die zeitliche Distanz – etwa durch eine Erzählstimme – gekennzeichnet sei. Und in den stärker subjektiv gefärbten Darstellungen gehe es ohnehin in erster Linie um den Prozess des Erinnerns, der sich in der Gegenwart abspiele (82–84, 291, 292). Erinnerungen sind für Mitry gerade dadurch eminent filmisch, dass sie das Aktualisierungspotenzial des Mediums aufzeigen, das auch Ver- gangenes im Hier und Jetzt präsentiert. Als erfundenes und frei gestaltetes Artefakt ist eine filmische Erzählung für Mitry immer Ausdruck der subjektiven Vision ihres Autors. Da die- ser jedoch mit Wirklichkeitsabbildern arbeitet, erhält seine Sicht der Din- ge den Charakter einer objektiven Realitätsdarstellung, auch wenn diese Realität fiktional ist. Diesem Sachverhalt, der zwangsläufig Faktoren wie Plausibilität und Realitätslogik ins Spiel bringt, müsse auch bei Subjekti- vierungen Rechnung getragen werden: Lorsqu’Antonioni, pour traduire l’état euphorique de Monica Vitti, nous la montre dans une chambre soudain colorée en rose, alors que nous l’avons vue, cette chambre, sous ses couleurs réelles quelques images auparavant, il y a un hiatus insoutenable doublé d’une naïveté psychologique singulièrement primaire. Non seulement on ne peut pas faire entrer subitement le spectateur dans la subjectivité d’un personnage, jusque-là considéré objectivement, par l’intermédiaire d’un décor qui, tout d’un coup, prendrait une couleur «inté- rieure», mais cette couleur, nous venons de le voir, n’existe pas comme telle. L’irréalisme subjectif devient alors conventionnalité pure. (313, Herv. i. O.) Bilder oder Töne, die der Vorstellungswelt einer Figur entspringen oder ihren psychischen Zustand versinnbildlichen sollen, dürfen gemäß Mitry auf keinen Fall im Widerspruch zur Realitätslogik der Handlungssituati- on stehen. Er empfindet es als künstliches «Aufpfropfen», wenn die als objektive Realität etablierte äußere Erscheinung der Dinge willkürlich verändert wird, nur um einen subjektiven Zustand wiederzugeben. So- gar an einem Film wie Ingmar Bergmans Das Schweigen (Tystnaden, SE 1963), der durch seine Inszenierung und Bildsprache von der ersten Ein- 126 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? stellung an als der Traumlogik nahestehendes, parabelhaftes Psychodra- ma erscheint, setzt er aus, die Handlung widerspreche der Realitätslogik, wenn im Hotel außer den Kleinwüchsigen keine Gäste zu sehen seien und mitten in der Ortschaft, obwohl offensichtlich kein Krieg herrsche, Panzer aufrollten (470, 471). Einzig wenn dem subjektiven Element klare Grenzen gesetzt sind, innerhalb derer es nicht in Widerstreit mit der Erscheinung der realen Dinge gerät, wird es von Mitry akzeptiert. Als wirklich problemlos erachtet Mitry eine Abweichung von der etablierten Erscheinungsweise der Dinge nur dann, wenn eine Episode – zum Beispiel die Fabel vom kleinen Mädchen in Il deserto rosso (I/F 1964) – als rein imaginär gekennzeichnet, von der Realitätsebene also völ- lig losgelöst ist (313). Die meisten anderen Subjektivierungsformen – mit Ausnahme der Rückblende – widersprechen der Auffassung vom Film als einem Medium, dem kraft seiner Reproduktionstechnik die konkrete Er- scheinung der äußeren Welt zur Verfügung steht und deshalb abstrakte Be- deutung und konventionelle Darstellungsformen weitgehend fremd sind. 2.6 Konstanten und Kontraste in der Beurteilung Nachdem die Positionen von Münsterberg, Balázs, Bazin, Kracauer und Mitry einzeln dargestellt wurden, soll nun noch vergleichend analysiert werden, wie ausführlich und explizit das Thema in den verschiedenen Theorien behandelt wird, wie groß die Bandbreite der Ansichten ist und ob sich bestimmte Konstanten in der Beurteilung erkennen lassen. Viel Platz nimmt die Beschäftigung mit Subjektivierungen und Traum- darstellungen in den Ausführungen von Balázs und Kracauer ein. Sie haben spezielle Kapitel für diverse Aspekte des Themas reserviert, stellen eigene Beurteilungsschemata auf und teilen das Phänomen in verschiedene Kate- gorien ein. Mitry äußert sich zur subjektiven Kamera und zu gewissen in- direkten Subjektivierungsformen in separaten Kapiteln relativ ausführlich. Auf die Darstellung innerer Vorstellungen – insbesondere der subjektiven Erinnerung – geht er in verschiedenen Zusammenhängen ein. Allerdings sind seine Darlegungen über das fast neunhundertseitige Werk verstreut und haben deshalb eher punktuellen Charakter. Münsterberg befasst sich sehr ausführlich mit Analogien zwischen narrativen Techniken und psychi- schen Prozessen; die Darstellung der Figurensubjektivität behandelt er den- noch nur nebenbei. Und in Bazins Realismustheorie nehmen Subjektivierun- gen und insbesondere Traumdarstellungen nur einen sehr kleinen Platz ein. Das Spektrum der Subjektivierungsformen, die in den untersuch- ten Schriften behandelt werden, ist recht groß; und auch die Vielfalt der 2.6 Konstanten und Kontraste in der Beurteilung 127 Betrachtungsweisen ist bemerkenswert. Trotzdem kristallisieren sich bei genauem Hinsehen Konstanten heraus: Fast alle Theoretiker sprechen sich dafür aus, Inneres und Subjektives durch Materielles, Körperliches und äußerlich Sichtbares zu suggerieren, etwa durch Gestik und Mimik oder die Gestaltung des Dekors. Ganz ausgeprägt ist diese Ansicht bei Balázs und Kracauer, stark auch bei Mitry. Die meisten erwähnen neben- bei die Möglichkeit, durch formale Mittel – etwa den Schnittrhythmus, Kamerabewegungen oder die Bildkomposition – Stimmung und Gefühle der Figuren zu evozieren. Im Bezug auf die subjektive Kamera kann man zwei Betrachtungsweisen ausmachen: Balázs und Kracauer sehen darin ein wirkungsvolles Mittel, um nicht nur den optischen, sondern auch den psychischen Standpunkt einer Figur zu vermitteln. Vorbehalte oder gar Ablehnung finden sich hingegen in den Schriften Mitrys und vor allem Bazins. Auch betreffend der Darstellung von Träumen, Visionen oder Hallu- zinationen stimmen die Autoren in einigen Punkten überein: Für die meis- ten sind innere Vorstellungen charakteristischerweise befreit von chrono- logischen Abläufen, räumlicher Konstanz und rationaler Kausalität. Es gelten deshalb nicht dieselben Gesetze wie bei der Darstellung fiktionaler Realität. Als allgemeingültig behauptete ästhetische Prinzipien werden für den Spezialfall der Darstellung des Figureninneren außer Kraft gesetzt (zum Beispiel werden die ansonsten missbilligten formalen Experimente des «absoluten Films» hier toleriert). Einzig Bazin hält seine Ansprüche einer realistischen Inszenierung auch dem Fantastischen und Irrealen ge- genüber aufrecht. Für Balázs und Kracauer lassen sich Träume und andere innere Vorstellungen durch spezifisch filmische Techniken und Tricks be- sonders überzeugend darstellen. In fast allen Schriften finden sich Formu- lierungen, die darauf hinweisen, dass Traumsequenzen, zumal durch ihre formal-ästhetische Andersartigkeit ein Kontrast zu den übrigen Sequen- zen entsteht, als Einschub oder Enklave aufzufassen sind. Münsterberg und Balázs verweisen zudem explizit darauf, dass eine Abgrenzung durch Überblendungen üblich ist. Balázs und Kracauer sind allerdings auch von der Möglichkeit begeistert, die Grenze zwischen objektiver und subjekti- ver Wirklichkeit bewusst verschwimmen zu lassen. Die Nähe des Traum- haften zur Darstellung des Fantastischen wird vor allem von Kracauer, aber auch von Balázs und Mitry hervorgehoben. Einige Autoren, allen voran Mitry, äußern immer wieder die Sorge, subjektiv-irreale Bilder und Töne könnten in Widerspruch zur objektiven Erscheinungsweise der äußeren Wirklichkeit geraten. Somit würden Plau- sibilität und Realitätslogik der Handlung untergraben, die es unbedingt zu wahren gelte. 128 2 Hohe Filmkunst oder Verleugnung des Mediums? Den inneren Monolog als Mittel, um Denken und Fühlen der Figuren zu vermitteln, erwähnen die meisten. Insbesondere für Balázs und Mitry stellt er ein ästhetisch überzeugendes Subjektivierungsmittel dar. Für Kra- cauer rückt hier hingegen das sprachliche Element im Vergleich zum vi- suellen zu sehr in den Vordergrund. Den Vergleich mit den Möglichkeiten der Literatur und des Theaters ziehen alle Autoren. Meist wird dabei die Überlegenheit (oder zumindest Ebenbürtigkeit) des filmischen Darstel- lungspotenzials zur Vermittlung des Subjektiven betont. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang gegenüber den im Abstrakt-Begrifflichen verhafteten Bühnenstücken und literarischen Erzählungen die visuelle Ebene des Films als Trumpf ausgespielt. Die untersuchten Schriften stammen aus einer Epoche, in der normative Ansätze in der Filmtheorie dominierten. Zum Schluss möchte ich deshalb zusammenfassend darlegen, wie Subjektivierungen und Traumdarstel- lungen von den Autoren generell beurteilt werden. Gelten sie als ästhe- tisch legitim, oder werden sie im Gegenteil als unfilmisch verurteilt? Für Münsterberg, dessen frühe Filmtheorie erstaunlicherweise nur vereinzelt normative Züge aufweist, ist die Möglichkeit, Erinnerungen, Träume und Fantasien der Figuren darzustellen, eine wertvolle Bereicherung, insbe- sondere weil dabei spezifisch filmische Techniken und narrative Verfah- ren zum Einsatz kommen. Auch Balázs’ Urteil ist positiv, um nicht zu sagen euphorisch. Die Darstellung von Traum und Vision ist für ihn das Gebiet, wo sich dem Regisseur «unermessliche poetische und psychologi- sche Möglichkeiten» bieten, und kreative Lösungen in der Erkundung des Figureninnern kommen den «schönsten Wundern der Filmkunst» gleich (1982, 94–95). Bazin äußert sich nur vereinzelt zu den Möglichkeiten fil- mischer Subjektivierung und Traumdarstellung. Aus seiner filmtheoreti- schen Grundüberzeugung (und einzelnen Aussagen zur subjektiven Ka- mera) kann allerdings geschlossen werden, dass sie seinen ästhetischen Postulaten eher zuwiderlaufen. Für Kracauer, der von einer realistischen Berufung des Films ausgeht, birgt ein Vordringen in den Bereich des Sub- jektiven und Unwirklichen zwar grundsätzlich die Gefahr, sich dem We- sen des Mediums zu entfremden. Trotzdem kann er je nach Gestaltung, inhaltlicher Motivation und kontextuellem Bezug gewissen «Filmfantasi- en» durchaus filmische Qualitäten abgewinnen. Mitry schließlich, der den konventionellen Charakter von Darstellungen mentaler Bilder hervorhebt, ist der Auffassung, dass nur für die subjektive Erinnerung filmisch über- zeugende Lösungen gefunden werden können, nicht aber für Träume oder Visionen. 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Die ersten beiden Kapitel haben sich von unterschiedlichen Seiten dem Filmtraum angenähert: über die kritische Aufarbeitung der Film/Traum- Analogie im ersten, über die Analyse klassischer Theorien hinsichtlich ihrer Beurteilung von Traumdarstellungen im zweiten Kapitel. Beiden Zugängen war gemein, dass die theoriegeschichtliche gegenüber der ana- lytischen Perspektive im Vordergrund stand. In den Kapiteln 3–5 geht es nun um eigene Überlegungen zum Traummotiv. Bevor ich im vierten und fünften Kapitel auf narratologische und genretheoretische Fragestellun- gen eingehe, sollen zunächst Fragen der Gestaltung, Markierung und Äs- thetik erörtert werden. Was macht eine Sequenz zu einer Traumsequenz? Woran erkennen wir Träume überhaupt als solche, und wie bedeutet uns die Erzählung, welcher Figur wir sie zuordnen müssen? Welche Gestaltungs- und Mar- kierungsformen haben sich historisch herausgebildet? Und beruhen diese auf arbiträren Konventionen oder vermögen sie die Traumform auf «au- thentische» Weise wiederzugeben? Welche dramaturgischen Konstellati- onen und Wirkungen ermöglichen Traumsequenzen, die erst im Nachhi- nein, rückwirkend markiert sind? Und was geschieht, wenn die Erzählung zum Realitätsstatus einzelner Handlungen oder ganzer Sequenzen unkla- re oder gar widersprüchliche Signale aussendet? Träume oder Fantasien einer Figur zu identifizieren, ist mit der Frage nach der Spezifik unterschiedlicher fiktionaler wie nicht-fiktionaler Uni- versen verbunden. Aus diesem Grund werde ich meine Überlegungen gelegentlich in Beziehung setzen zu Konzepten aus der Fiktionstheorie, insbesondere der so genannten Theorie der «möglichen Welten», die, ur- sprünglich in der Sprachphilosophie und Modallogik entwickelt, im Ver- lauf der 1970er- und 1980er-Jahre in modifizierter Form auch Eingang in die Literatur- und Filmwissenschaft gefunden hat. Dabei wird sich zeigen, dass der Gewinn durchaus ein gegenseitiger sein kann, lenkt die Ausei- nandersetzung mit der Eigenart des Traums das Augenmerk doch auch auf Unklarheiten in einzelnen Hypothesen zu den Possible Worlds. 130 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 3.1 Formen der Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung Fragt man sich, welche gestalterischen Mittel eingesetzt werden, um ei- ner Sequenz Traumcharakter zu verleihen, so drängt sich eine erste Fest- stellung auf: Im Film kommen Realität und Traum, so sehr sie sich in der Wirklichkeit unterscheiden, durch dasselbe Material – Bilder und Töne – zur Darstellung, die uns zudem über dieselben Wahrnehmungskanäle – die nach außen gerichteten Sinnesorgane – erreichen. Hinzu kommt, dass wir im Spielfilm dargestellte Ereignisse zwar als fiktional auffassen, sie innerhalb der fiktionalen Welt im Normalfall jedoch als reale, intersubjek- tiv wahrnehmbare Geschehnisse interpretieren. Es bedarf deshalb spezi- eller Mittel, um audiovisuellen Darstellungen irrealen oder traumhaften Charakter zu verleihen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Mar- kierungen, Signalen oder Indikatoren, die den Zuschauern bedeuten, dass eine Sequenz auf einer anderen Realitätsebene angesiedelt ist und als sub- jektive Vorstellung verstanden werden soll. In der Theorie der möglichen Welten wird immer wieder darauf hin- gewiesen, dass die von einer Erzählung entworfene Welt ohne gegentei- lige Hinweise als ein Universum aufgefasst wird, das seine wesentlichen Eigenschaften von der «aktuellen Welt» oder «Welt unserer Erfahrung» entliehen hat: «[…] fictional worlds are parasitical worlds because, if al- ternative properties are not spelled out, we take for granted the properties holding in the real world» (Eco 1989: 63). Für unseren Zusammenhang ist wichtig zu ergänzen, dass diese Überlegung – auch wenn dies nicht eigens erwähnt wird – impliziert, dass wir ohne gegenteilige Hinweise automa- tisch damit rechnen, uns auf der Ebene der bewussten Wachwelt zu befinden, die Jean-Daniel Gollut treffend als «référent d’office» bezeichnet (1993: 62). 3.1.1 Übergangsmarkierungen Filmischen Erzählungen stehen diverse Möglichkeiten offen, eine Sequenz als Traum, Tagtraum, Erinnerung, Vision oder Halluzination zu markieren. Zum einen kann der Übergang von der Außen- in die Innenwelt hervor- gehoben werden. Oft geschieht dies durch ein Zusammenspiel bestimm- ter Handlungselemente, Inszenierungsformen und optischer Effekte: Eine Figur legt sich hin und schließt die Augen (Traum), wirkt abwesend und blickt verträumt ins Leere (Tagtraum, Erinnerung) oder starrt mit aufge- rissenen Augen und expressivem Gesichtsausdruck in eine bestimmte Richtung, ohne einen konkreten Gegenstand zu fixieren (Vision und Hal- luzination); die Kamera nähert sich langsam dem Gesicht – meist durch 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 131 1a–j Klassischer Traumeinstieg durch Kamerafahrt und Überblendung in The Man­ churian Candidate (USA 1962) 132 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik eine Fahrt, seltener durch Zoom oder Schnitt –, bis das Bild verschwimmt, unscharf wird oder sich wellenartig zu bewegen beginnt und schließlich in die Traumwelt ab- und auf- oder überblendet. In dieser stark konventi- onalisierten Form der Übergangsmarkierung stellt die optische Isolierung der Figur sicher, dass wir die innere Vorstellung richtig zuordnen, der Ge- sichtsausdruck weist auf eine vom realen Geschehen abgewandte Haltung hin, die Kamerabewegung zum Kopf der Figur deutet an, dass wir in ihr Inneres eindringen, und das sich in Unschärfe, Unter- oder Überbelich- tung auflösende und kurze Zeit später neue Konturen annehmende Bild bringt zum Ausdruck, dass die etablierte Realitätsebene im Begriff ist, ei- ner anderen, inneren Wirklichkeit zu weichen (vgl. Abb. 1a–j). Für Metz stellt die Überblendung ein «mixte indiscernable et équita- blement réparti de séparation et de fusion» dar. «C’est de lui, plus que de toute autre ponctuation, que l’on peut dire qu’il sépare toujours en reliant, qu’il relie toujours en séparant» (1972b [1971]: 136). Diese zweifache Wir- kung der Überblendung ist zweifelsohne ein Grund für ihre häufige Ver- wendung als Übergangsmarkierung, geht es doch genau darum, eine Ver- bindung (zwischen Figur und innerer Vorstellungswelt) herzustellen und gleichzeitig eine Trennung (zwischen Realität und Traum) zu etablieren. Die visuellen Effekte werden bisweilen diegetisiert. So kann das Ver- schwimmen oder Ausblenden des Bildes durch Zigarettenrauch (The Locket, USA 1947), ein Moskitonetz (Die kleine und die grosse Liebe, D 1938), ein im Vordergrund vorbeifahrendes Auto (Midnight Cowboy, USA 1969) zu- standekommen oder, wenn die letzte Einstellung vor dem Eintauchen in die Innenwelt dem Blickpunkt der Figur entspricht, durch vors Gesicht gehalte- ne Hände (Liebe 47, D 1948), ein aufs Gesicht gelegtes Tuch (Dark Passage, USA 1947; Abb. 2a–h) oder das Schließen der Augen motiviert sein. Die optischen Markierungen können durch akustische unterstützt werden. In der Epoche des klassischen Hollywood wurde der Einstieg in die Traumwelt häufig musikalisch «eingeläutet» – besonders beliebt wa- ren hohe Streicher- und Harfenklänge – oder durch bestimmte Geräusche (plötzlich einsetzender Wind) und Halleffekte akzentuiert. Neben Hinweisen auf der Ebene der Handlung und audiovisuellen Inszenierung, die, auch wenn sie stark von Konventionen geprägt sind und nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lassen, immer implizite Formen darstellen, steht der filmischen Narration auch die explizite verba- le Ankündigung zur Verfügung, die zwar seltener als in der Literatur, aber doch hin und wieder zum Einsatz kommt.1 So deutet in The Dream of a Rarebit Fiend (USA 1906) oder Cauchemar blanc (F 1991) bereits der 1 Zur Traummarkierung in der Literatur vgl. Gollut 1993: 61–85. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 133 2a–h Übergang in traumerfüllten Narkoseschlaf mit diegetischer Motivierung der Abblende in Dark Passage 134 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Titel darauf hin, dass ein Traum im Zentrum stehen wird, in Aladin ou la lampe merveilleuse (F 1906; «Le rêve d’Aladin»), Cabiria (I 1914; «Il sogno di Sophonisba»), The Kid (USA 1921; «Dreamland») oder Geheim­ nisse einer Seele (D 1926; «Der Traum») werden die Traumsequenzen durch Zwischentitel unzweideutig eröffnet, und in Murder, My Sweet (USA 1944) oder Wilde Erdbeeren (Smultronstället, SE 1957) sorgen die Erzählstimmen dafür, dass jegliche Zweifel über den Realitätsstatus der einsetzenden Bilder und Töne von Beginn an ausgeräumt sind.2 Nicht nur der Ein-, auch der Ausstieg aus der Innenwelt wird häufig deutlich signalisiert. Dies kann – in spiegelbildlicher Umkehrung – durch dieselben oder ganz ähnliche Mittel wie für den Sequenzbeginn gesche- hen: Die Traum- oder Vorstellungsbilder verschwimmen ihrerseits und blenden über auf das Gesicht der erwachenden Figur, zu der die Kamera langsam wieder auf Distanz geht, um das reale Umfeld, auf das sich die Aufmerksamkeit nun erneut richtet, zu erfassen. Neben Indikatoren, die den Einstiegssignalen entsprechen – und zu einer symmetrischen Form der Rahmung führen3 –, kommen am Sequenzende auch spezielle Mar- kierungen zum Einsatz: Eine Beschleunigung des Schnittrhythmus, Ver- dichtung der Geräuschkulisse und Erhöhung des Musikpegels, die in ein eigentliches optisches wie akustisches Crescendo übergehen können, wei- sen zum Beispiel auf den unmittelbar bevorstehenden Höhepunkt einer Traumsequenz hin, der in der Regel mit ihrem Schluss zusammenfällt.4 Endet der Traum – im eigentlichen oder übertragenen Sinn – mit einem Paukenschlag, so geht meist auch das Erwachen weniger behutsam von- statten als das Einschlafen. Insbesondere wenn in der letzten Szene eine psychische oder physische Extremsituation inszeniert wird, folgt eher ein harter Schnitt und ein angsterfülltes Aufschrecken als eine langsame Über- blendung und ein sanftes Erwachen. Das Hochfahren aus albtraumhaften 2 In Wilde Erdbeeren lautet die Passage: «In den frühen Morgenstunden des 1. Juni hatte ich einen eigentümlichen und sehr unbehaglichen Traum. Ich träumte, dass ich mich während meines Morgenspaziergangs in leeren, von verfallenen Häusern ge- säumten Straßen verirrte.» Ein expliziter verbaler Hinweis konnte in der Stummfilm- zeit auch von einem die Vorführung kommentierenden Erzähler stammen. So ist beim eingeblendeten Bild einer Mutter mit Kind in Life of an American Fireman (USA 1903) weder sofort klar, ob es sich um eine Erinnerung, Vision oder einen Traum des Feuerwehrmanns handelt, noch welche Beziehung zwischen den Figuren besteht. Die von der Produktionsfirma Edison damals publizierte Synopsis, die gemäß Scott Sim- mon (2004: 115) möglicherweise als Vorlage für Live-Kommentare gedient hat, legt je- doch dar: «and the inference is that he dreams of his own wife and child» (Zit. ebenda). 3 Beispiele streng symmetrischer Rahmungen sind etwa: The Black Angel (USA 1946), Trigger Jr. (USA 1950) oder An American in Paris (USA 1951). 4 Zum Beispiel die Traumsequenzen zu Beginn von Wilde Erdbeeren oder Nothing Lasts Forever (USA 1983). 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 135 a b c d e f g h 3a–h Aufschrecken aus angsterfülltem Traum mit direktem Blick in die Kamera in Geheimnisse einer Seele (a), Wilde Erdbeeren (b), House of Usher (c; Format an- gepasst), David and Lisa (d), Vertigo (e), The Manchurian Candidate (f), A Night­ mare on Elm Street II (g) und Raising Arizona (h) 136 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Erlebnissen wird oft – etwa in Geheimnisse einer Seele, Vertigo (USA 1957), Wilde Erdbeeren, House of Usher (USA 1960), David and Lisa (USA 1962), The Manchurian Candidate (USA 1962), A Nightmare on Elm Street II (USA 1985) oder Raising Arizona (USA 1987) – so insze- niert, dass die aus dem Schlaf gerissene Figur für einen Moment direkt in die Kamera blickt – eine Konfiguration, deren eigentümliche Wirkung eine kurze Erörterung rechtfertigt (Abb. 3a–h).5 Der Blick in die Kamera wird in der Filmtheorie meist als Konstellation beschrieben, die im klassischen, «illusionären» Spielfilm «verboten» sei, da sie durch Verweis auf den Aufnahmeapparat und den Zuschauersaal sowohl die Herstellungs- als auch die Rezeptionssituation ins Bewusstsein rufe und somit die Immersion ins fiktionale Universum störe. Dieser selbstreflexive Effekt spielt zwar auch im Umfeld von Traum- und Innenweltdarstellungen eine Rolle, muss in diesem Kontext jedoch neu betrachtet werden.6 Der Blick einer aus traumerfülltem Schlaf erwachenden Figur scheint sich in der Regel nur allmählich nach außen zu richten, sodass auf Seiten der Zuschauer erst nach einer Weile das Gefühl entsteht, angeschaut zu werden. Oft wird die frontale Konstellation just in dem Moment durch ein Abwenden der Figur (Wilde Erdbeeren, House of Usher, David and Lisa und Shock Corri­ dor, USA 1963) oder einen Einstellungswechsel (Vertigo und Les amants criminels, F 1999) wieder aufgelöst, in dem sich der Eindruck eines «Blick- kontakts» einzustellen beginnt. Filme, die als Endmarkierung einen Blick in die Kamera einsetzen, heben die innerdiegetische Grenze zwischen Traum und Realität somit dadurch hervor, dass sie eine andere Grenze – diejenige zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Diegese und Zuschauerraum – kurzzeitig berühren oder gar überschreiten. Auf indirekte Weise wird dadurch die Empathie mit der Figur begünstigt, denn die beim Zuschauer ausgelöste Irritation findet eine Entsprechung in der vorübergehenden Ver- wirrung des Träumers, der sich in der Wachwelt erst wieder zurechtfinden und die soeben noch für real gehaltenen Traumereignisse richtig einord- nen muss. Der direkte Kontakt beim Erwachen unterstreicht und verlängert überdies die spezielle Verbindung zwischen Zuschauer und Figur, die sich durch seinen privilegierten Zugang in ihre Innenwelt ergeben hat. Marc Vernet erwähnt in Figures de l’absence als eine Variante des regard à la caméra den «regard de la rêverie, de l’évocation», behauptet jedoch – 5 In Vertigo fungiert der Blick in die Kamera nicht nur als Traumend-, sondern auch als Einstiegssignal, und er wird nicht nur zur Rahmung von Scotties Traum, sondern auch von Madeleines Erinnerung eingesetzt. 6 Der Blick in die Kamera ist nicht zwangsläufig mit dem erwähnten Effekt verbunden, wie Francesco Casetti (1990 [1986]: 39–80), Marc Vernet (1988: 8–28) und Christian Metz (1995 [1991]: 39–52) auf je eigene Weise gezeigt haben. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 137 ohne ein konkretes Beispiel zu nennen –, er fungiere hauptsächlich als «pi- vot classique, dans le film de fiction, pour amener le flash-back» (1988: 18). Nach meinem Dafürhalten kommt der Blick in die Kamera jedoch häufiger im Umfeld von Träumen als von Erinnerungen vor und meist nicht beim Einstieg, sondern während oder unmittelbar nach der entsprechenden Se- quenz. Traumwelten markieren einen stärkeren Bruch zur Wirklichkeit als Erinnerungen, und die erneute Konfrontation mit der Realität wirkt meist verstörender als das Eintauchen in die nächtliche Erlebniswelt; aus diesen Gründen scheint das Traumende den Blick in die Kamera eher zu rechtfer- tigen als andere Sequenzübergänge. 3.1.1.1 Fließende Übergänge Transitionssignale bewirken in der Regel eine deutliche Abgrenzung des Trauminhalts von der Schlafsituation. Es sind jedoch auch fließende Über- gänge oder eigentliche Verzahnungen der beiden Wirklichkeitsebenen mög- lich. Zieht sich der Wechsel vom Gesicht der Figur auf die Traumszenerie länger als bei normalen Überblendungen hin, so entsteht für kurze Zeit eine Doppelbelichtung, in der sich die Welt der schlafenden Figur und diejeni- ge des Traum-Ichs überlagern, sodass das verbindende Element des Über- gangs gegenüber dem trennenden in den Vordergrund rückt. In Der letzte Mann (D 1924) etwa bleibt das Gesicht des im Alkoholrausch eingenickten Portiers noch geraume Zeit in Großaufnahme sichtbar, während quer über Augen und Stirn schon die grotesk in die Länge gezogene Drehtüre des Hotels aufscheint, die durch ihre Rotation nicht nur sein Schwindelgefühl zum Ausdruck bringt, sondern bereits die erste Szene seines nächtlichen «Kopftheaters» darstellt. Und auch die Rückkehr zur Wachwelt ist fließend gestaltet: Der gekonnte Jonglierakt mit dem schweren Koffer findet gegen Ende des Traums gewissermaßen über dem Kopf des Schlafenden statt, der einige Zeit vor seinem Erwachen erneut eingeblendet wird (Abb. 4a–k). Eine Verzahnung der Ebenen liegt vor, wenn die Erzählung während des Traumprozesses wiederholt zur Schlafsituation zurückkehrt, sei es par- tiell – wie in Trigger, Jr. oder André und Ursula (D 1955), wo das Gesicht der schlafenden Figur mehrmals in Doppelbelichtung über die Traumbilder gelegt wird – oder vollständig – wie in Geheimnisse einer Seele, wo Ein- stellungen des unruhig im Bett liegenden Protagonisten den bedeutungs- schweren Traum immer wieder unterbrechen. Das Ineinandergreifen von Schlaf- und Traumsituation unterstreicht nicht nur die Anbindung an die Fi- gur, es suggeriert zugleich, dass das Traumgeschehen zur Wachwelt wichti- ge Bezüge aufweist. Im letztgenannten Film wird der Traum nicht nur durch Einstellungen des Protagonisten, sondern auch seiner im angrenzenden Zimmer wachliegenden Frau unterbrochen – ein Zeichen, dass das Traum- 138 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a b c d e f geschehen für sie ebenfalls von großer Bedeutung ist. Zudem zeigt das Beispiel, dass ein wiederholtes Einblenden der Schlafsituation auch dazu dienen kann, eine längere Traumsequenz in mehrere Episoden zu gliedern. Die Verbindung zwischen den beiden Ebenen wird auch dann her- vorgehoben, wenn das Traumgeschehen direkt an die Einschlafsituation anknüpft oder in den Aufwachvorgang weiterwirkt. In Iwans Kindheit (Iwanowo Deztwo, SU 1962) gleitet die Kamera nahtlos vom Bett mit dem schlafenden Titelhelden zur Traumszene – weder Schnitt noch Überblen- dung trennt die unterschiedlichen Sphären, die für einen Moment inei- nanderfließen. In The Kid schläft der Tramp, als er das Kind für immer 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 139 g h i j 4a–k Traumeinstieg (a–f) und Rückkehr in die Wachwelt (g–k) durch lange Über- blendungen in Der letzte Mann k verloren glaubt, auf der Schwelle seiner verschlossenen Haustür ein. Diese Einstellung wird nach dem Zwischentitel «Dreamland» zunächst identisch wieder aufgenommen, bevor sich der vertraute Straßenzug durch einge- blendete Blumengirlanden und im Engelskostüm erscheinende Nachbarn in eine paradiesartige Traumkulisse verwandelt. Der Tramp muss vom Jungen jedoch erst «geweckt» werden, um all dies überhaupt wahrzu- nehmen. Vom Moment der Umgebungsmetamorphose bis zum aktiven Eintritt in die Traumwelt befinden wir uns somit in einer Art Zwischen- reich, in der ein und dieselbe Gestalt sowohl noch die schlafende Figur als auch schon das Traum-Ich verkörpert. Eine analoge Konstellation findet 140 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 5a–g Schrittweiser Übergang von der Wach- in die Traumwelt in The Kid 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 141 sich in Sunnyside (USA 1919), wo die von Chaplin verkörperte Figur beim Versuch, eine entlaufene Kuh zu bändigen, stürzt und bewusstlos liegen bleibt. Dort erscheinen alsbald blumengeschmückte Nymphen, die ihn «wecken» und zu einem Traumtanz animieren (Abb. 5a–g). Die Loslösung des Traum-Ichs von der schlafenden Figur und sein Übertritt von der realen in die erträumte Welt wurde vor allem in der Stummfilmzeit häufig noch expliziter visualisiert. In Alice in Wonder­ land (USA 1915) legt sich die Titelheldin neben einem Bach schlafen, der das Bild diagonal in zwei Bereiche teilt. Nachdem uns ein Zwischentitel («Alice enters Dreamland.») auf das Kommende vorbereitet hat, erscheint am gegenüberliegenden Ufer ein menschengroßer Hase im Anzug – un- verkennbar bereits eine Figur aus ihrem Traum – und winkt sie zu sich herüber. Der schlafenden Alice entschlüpft nun – vorerst noch als «zer- brechliche» Gestalt in Doppelbelichtung – eine zweite, identische Figur, die dem Ruf folgt und über eine Brücke ins Traumreich vorstößt, wo sie, sobald wir die reglos liegen gebliebene Alice aus den Augen verloren ha- ben, volle visuelle Konsistenz erlangt. Auch in Sherlock Jr. (USA 1924) beginnt die Traumhandlung mit der «Aufspaltung» der eingeschlafenen Figur, allerdings hat Buster Ke- aton diese Form des Übergangs mit einigen parodistischen Elementen angereichert (was darauf schließen lässt, dass sie damals recht verbreitet war):7 Nach erfolglosem Werben um eine schöne Frau kehrt der Kinoope- rateur mit Detektivambitionen widerwillig an seinen Arbeitsplatz zurück und nickt nach Beginn der Vorführung in der Projektionskabine ein. Der halb durchsichtige «Doppelgänger», der sich alsbald von ihm löst, wird sofort vom vorgeführten Film in Bann gezogen. Als er auf der Leinwand seine Angebetete und den Nebenbuhler aus der Wachwelt entdeckt, will er sein schlafendes Alter Ego darauf aufmerksam machen und stupst es mehrmals in die Seite – der Weckversuch misslingt jedoch, da er in Dop- pelbelichtung, wie er feststellen muss, lediglich ein körperloses Phantom darstellt. So entscheidet er sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, allerdings nicht ohne sich vor Verlassen der Vorführkabine seinen Hut auf- zusetzen, der sich zu seiner und unserer Verwunderung genauso in einen zurückbleibenden, «schlafenden» und einen in die nächtlichen Abenteuer aufbrechenden «Traumhut» aufteilt (Abb. 6a–f). In Sherlock Jr. kommt hinzu, dass die Grenze zwischen Wach- und Traumwelt mit der innerdiegetischen Grenze zwischen Realität und Fikti- 7 In späteren Epochen ist sie nur noch äußerst selten anzutreffen, etwa in La nuit fantas­ tique von Marcel L’Herbier (F 1942) oder in Los olvidados von Luis Buñuel (Mexiko 1950). In der Stummfilmzeit wurde die gleiche Technik auch für die Visualisierung des Übergangs ins Jenseits eingesetzt, zum Beispiel in Der müde Tod von Fritz Lang (D 1921). 142 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 6a–f Durch Doppelbelichtung löst sich in Sherlock Jr. das Traum-Ich vom Schläfer on zusammenfällt. Die Szene in der Vorführkabine, in der das Traum-Ich körperlich noch nicht «gefestigt» ist, aber auch die Ereignisse im Kinosaal, in denen es – trotz auffälligem Verhalten – von niemandem wahrgenom- men wird, bilden lediglich Vorstufen zur eigentlichen Traumwelt, die erst mit dem Eindringen ins Universum des vorgeführten Films erreicht ist. Während in diesen Beispielen aus der Stummfilmära das Bestreben im Vordergrund steht, den Übergang ins Traumreich ohne realistische Ansprüche möglichst anschaulich und effektvoll zu visualisieren, ist man in späteren Epochen stärker darauf aus, ein authentisches Gefühl für den 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 143 seltsamen Zustand zwischen Wachen und Schlafen zu vermitteln, der im Englischen hypnagogic state genannt wird. Besonders virtuos ist das stufen- weise Übergleiten in die Traumsphäre von Roman Polanski in Rosemary’s Baby (USA 1967) inszeniert worden: Guy legt Rosemary, der plötzlich schwindlig ist, nach dem Abendessen ins Bett. Von der Lichtgebung her unterscheidet sich das halb abgedunkelte Schlafzimmer bereits deutlich vom hell erleuchteten Esszimmer. Auf eine Großaufnahme von Rosemary, deren Augen schon geschlossen sind, folgt ein erstes kurzes Traumbild, das mit der Einschlafsituation noch eng verknüpft ist: Es zeigt sie, nach wie vor angezogen auf dem Bett liegend, nur dass sich dieses nicht mehr im Schlafzimmer, sondern auf offenem Meer befindet. Die Tonkulisse bleibt mit dem Ticken des Weckers und Guys beruhigenden Worten in der Wach- welt verankert – nur Rosemarys Ausruf «nice!» (bei dem unklar ist, ob er sich auf die Einschlafsituation oder die imposante Meereskulisse bezieht) und das leise Rauschen der Wellen, das man plötzlich zu hören glaubt (das aber auch ein Rascheln der Bettdecke sein könnte) wirken ambivalent. Das erste kurze Abdriften in die Traumwelt reiht sich auch deshalb fließend in die Einschlafszene ein, weil diese mit einer Handkamera gefilmt ist, deren Bewegungen nahtlos ins Wogen des schwimmenden Bettes übergehen. Das zweite Abtauchen dauert etwas länger und ist vom Bildmotiv her weiter von der Einschlafsituation entfernt: Rosemary befindet sich nun auf Deck eines kleinen Schiffs in Gesellschaft verschiedener Perso- nen. Auf der Tonspur ist wiederum keine Zäsur festzustellen: Rosemarys Atmen und das Ticken des Weckers sind weiterhin zu hören, und auch das Schiffshorn, das perfekt zur Traumkulisse passt, war schon in anderen Szenen vernehmbar, was angesichts des Schauplatzes New York durchaus plausibel erscheint. Von Rosemary ausgehend, erfasst die Kamera nun ei- nen Passagier nach dem anderen, bis der Kapitän ins Bild kommt, der sich nach einer Drehung plötzlich als Hutch (ein Freund von ihr) entpuppt und leicht irritiert zur Seite blickt. Es folgt ein Umschnitt auf Rosemary, die auf der Treppe zum Oberdeck liegt und deren Kleid gerade von jemandem ge- öffnet wird. «Why are you taking them off?» fragt sie, «To make you more comfortable», antwortet Guy, worauf sie erwidert: «I am more comfortab- le.» Während des letzten Satzes wechselt das Bild unvermittelt ins Schlaf- zimmer zurück und bestätigt, dass der Dialog aus der Wachwelt stammt und Guy tatsächlich damit beschäftigt ist, Rosemary auszuziehen. Dies hat ins beginnende Traumgeschehen hineingewirkt und sie nochmals in die Wachwelt zurückgeholt, wo wir allerdings nur kurze Zeit verbleiben, denn das behutsame Abstreifen der Hosen in der abgedunkelten Intimität des Schlafzimmers findet mittels match-on-action eine abrupte Fortsetzung auf dem sonnenüberfluteten Schiffsdeck, wo Guy ihr das Kleidungsstück 144 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a b c d e f g h i j 7a–j Fließender Übergang in Rosemary’s Baby: Einschlafszene (a–b), Vermischung Einschlafszene / Traum (c), Traum (d), Vermischung (e), Einschlafszene (f), Vermi- schung (g), Traum (h–j) 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 145 8a–d Fließende Gestaltung der Rückkehr in die Wachwelt in The Kid regelrecht vom Leib reißt, sodass sie ihre Blöße nur mit Not vor der Schiffs- gesellschaft verbergen kann. Mit den Windgeräuschen weist nun auch die Tonspur ein Element auf, das eindeutig der Traumwelt zuzuordnen ist; noch ist jedoch das Ticken des Weckers zu hören, das erst ausklingt, als der Traumdialog einsetzt. Er fungiert als Zeichen, dass die Wachwelt nun definitiv aus Rosemarys Bewusstsein ausgeblendet ist. Wach- und Traumwelt sind in der beschriebenen Übergangsphase, die volle zwei Minuten dauert, eng ineinander verwoben. Eine separate Betrachtung der Bild- und Tonspur macht zudem deutlich, dass der etap- penweise Vorstoß in die Traumwelt vor allem durch visuelle Elemente er- folgt, während die Geräuschkulisse primär dazu dient, die Verankerung in der Wachwelt aufrechtzuerhalten. Bild- und Tonebene zusammen ver- mitteln den Eindruck eines Schwebezustands, in dem Traum und Realität für eine Weile ineinanderfließen – eine Konstellation, die, wie wir in der eingehenderen Besprechung von Rosemary’s Baby im Kapitel 5.1.4 sehen werden, den Gesamteffekt des Films im Kleinen vorwegnimmt. Eine physische Interaktion zwischen Traum- und Wachwelt, wie sie durch Guys Entkleiden von Rosemary in der Einschlafphase zustande kommt, wird häufig auch verwendet, um den Aufwachvorgang fließend zu gestalten und an der Stelle, wo der Traum abbricht, einen Berührungs- 146 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik punkt mit der Wachhandlung zu etablieren. In The Kid wird der Tramp am Ende des Paradiestraums, nachdem als erstes Zeichen des Erwachens der über ihn gebeugte Junge plötzlich verschwindet, von einem Engelspo- lizisten geschüttelt – bis eine Überblendung zurück in die Wachwelt offen- bart, dass ein realer Polizist tatsächlich daran ist, ihn wachzurütteln (Abb. 8a–d). Bis der Tramp mit dem verzweifelten «Flügelschlag» seiner Arme aufhört und realisiert, dass er zurück in der tristen Realität angelangt ist, dauert es jedoch auch nach Ausblenden der Engelskostüme noch eine geraume Weile. Auch in Sunnyside landet Charlie am Ende des Traums nach einer zu gewagten Tanzeinlage wieder am Ausgangspunkt, und die Nymphen, die ihn behutsam an den Armen nochmals in ihr Fantasiereich hochzuziehen versuchen, entpuppen sich nach einer Überblendung als erzürnte Dorfbewohner, die den unachtsamen Kuhhirten unsanft am Hin- tern in die Realität zurückzerren. Das physische Ineinandergreifen der bei- den Welten wird meist dazu benützt, um einen Kontrast augenfällig zu machen und dadurch einen komischen oder dramatischen Effekt – oder, wie im Fall von The Kid, eine Mischung von beidem – zu erzielen. 3.1.1.2 Simultane Darstellungsweisen Die bisher erwähnten Darstellungsformen basieren im Wesentlichen auf einer konsekutiven Anordnung der drei Elemente, die im Umfeld ei- ner Traumsequenz üblicherweise inszeniert werden: Einschlafsituation, Trauminhalt und Aufwachen. Dem Film als audiovisuellem Medium, das auf seinen verschiedenen Ausdrucksebenen eine Vielzahl von Informatio- nen gleichzeitig vermitteln kann, bietet sich eine simultane Darstellungswei- se von Wach- und Traumwelt jedoch genauso an. Die besprochenen Bei- spiele, in denen die Übergänge fließend gestaltet sind oder die träumen- de Figur punktuell eingeblendet wird, weisen bereits in diese Richtung. Eine vollständige visuelle Kopräsenz ist allerdings nur gegeben, wenn die Schlafsituation nie ganz ausblendet. Dies ist zum einen der Fall, wenn die Bilder des Traums und der träumenden Figur in durchgängiger Doppel- belichtung übereinander gelegt sind, wie etwa in Jack Claytons The In­ nocents (GB 1961) oder Wolfgang Staudtes Ich hab’ von dir geträumt (D 1943).8 Die simultane, bildfüllende Präsenz beider Ebenen ermöglicht komplexe Kompositionen, die die Traumobjekte und -gestalten in ein be- deutungsvolles Verhältnis zur schlafenden Figur setzen. So schiebt sich im erstgenannten Beispiel gleich zu Beginn der Traumsequenz das Medaillon 8 Genau genommen bleibt das Bild der Schlafenden in beiden Filmen nicht ganz durch- gängig sichtbar, sondern wird ein- respektive zweimal kurz ausgeblendet. Der Ein- druck einer permanenten Kopräsenz von Traumwelt und Schlafsituation wird dadurch jedoch nicht geschmälert. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 147 9a–e Durchgängige Doppelbelichtung mit simultaner Präsenz von träumender Figur und Traum in The Innocents mit dem Konterfei des verstorbenen Dieners langsam über das Gesicht der schlafenden Gouvernante, bis es fast mit ihr zur Deckung kommt – eine optische Konstellation, die zum Ausdruck bringt, dass seine Erscheinung und die Gerüchte, die um ihn ranken, langsam von ihr Besitz ergreifen, was im übertragenen Sinn in der Wachwelt tatsächlich geschieht. In der anschließenden Einstellung, in der die beiden ihr anvertrauten Kinder im Flüsterton über ein Geheimnis sprechen, von dem wir wissen, dass es mit dem ominösen Diener zu tun hat, ist die schlafende Erzieherin zwischen den beiden Traumfiguren positioniert, sodass der Junge ihr die vertrau- lichen Worte direkt ins Ohr flüstert. Auch diese visuelle Anordnung ist nicht zufällig gewählt, ist Miss Giddens doch zunehmend davon über- zeugt, sie wisse Bescheid über die vergangenen Vorkommnisse und die damit verbundene Gefahr für die Kinder, was sie bald darauf veranlasst, die beiden zu trennen (Abb. 9a–e). Auch in Ich hab’ von dir geträumt unterstützt die mehrschichtige visuelle Komposition die Bedeutung von Marias Traum: Der Verehrer wirkt vor allem deshalb so omnipräsent und aufsässig, weil er Maria nicht nur im Traum verfolgt, sondern mit seiner Erscheinung sie auch als schlafende Figur permanent «überschattet». Die Parallelführung der beiden Ebenen ermöglicht zudem eine Art doppelte Montage. In The Innocents ändern sich nicht nur die Traumsze- nen in hoher Frequenz, auch die schlafende Figur wird in ständig wechseln- den Positionen dargestellt. Die versetzten Einstellungs- und Positionswech- sel unterstreichen den unruhigen Charakter und die verstörende Wirkung 148 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a b c d 10a–i Traumdarstellung als Bild im Bild: durch profilmischen Kulissentrick in Histoire d’un crime (a–b) und durch Maskenverfahren in Life of an Ameri­ can Fireman (c–e) und Aladin ou la lampe merveilleuse (f–i; gegenüberlie- gende Seite) e des Traumerlebnisses, dessen Visualisierung dank geschickter Lichtfüh- rung und Überblendungsmontage trotzdem wie aus einem Guss erscheint. Eine simultane Darstellung von Traum und träumender Figur mittels bildfüllender Doppelbelichtung bringt eine Verdichtung der visuellen Infor- mation mit sich, die leicht dazu führen kann, dass das Bild überfrachtet und schwer lesbar erscheint. Sie wird deshalb nur selten und vorwiegend für kurze Sequenzen eingesetzt, in denen die Intensität des Traumerlebens im Vordergrund steht.9 Hingegen wurden Träume und Visionen, insbesondere 9 Die entsprechenden Sequenzen in The Innocents und Ich hab’ von dir geträumt sind 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 149 f g h i im frühen Stummfilm, häufig als Bild im Bild inszeniert, als eng gerahmte Subkadragen, die einen wesentlichen Teil der Bildfläche für die Darstel- lung der schlafenden oder hellsichtigen Figur freiließen (Abb. 10a–i). Die geträumten oder vorausgeahnten Ereignisse wurden dabei meist im oberen Teil des Bildes angesiedelt, während der untere Teil Platz für die liegenden oder sitzenden Träumer bot. In der Regel wurden die Figur und ihre inne- ren Bilder zudem seitlich versetzt, sodass sie diagonal zueinander standen: oben rechts zu unten links10 oder oben links zu unten rechts.11 Der Rahmen der eingeblendeten Traum- oder Visionsbilder nahm oft runde (daher die weniger als zwei Minuten lang, eine ähnlich gelagerte in Shock Corridor, in der der Protagonist in Elektroschocktherapie und gleichzeitig die Flut der dadurch ausgelösten mentalen Bilder gezeigt werden, dauert nur 20 Sekunden. In A Christmas Carol (USA 1938) wird die Doppelbelichtung in Kombination mit einer Überblendungsmontage dazu verwendet, die fantastische Zeitreise in die Nähe eines Traumerlebnisses zu rücken. 10 Zum Beispiel in Santa Claus (GB 1898); Life of an American Fireman; Aladin ou la lampe merveilleuse; Nerone (I 1909). 11 Zum Beispiel in Les aventures du Baron de Munchhausen (F 1911); Weihnachtsge­ danken (D ca. 1911); Herr Arnes Schatz / Herr Arnes Pengar (SE 1919). Eine Um- kehrung der Anordnung, wie sie in The Bridge (USA 1929) vorkommt, wo die letzte Erinnerung des zum Tode Verurteilten schräg unter seinem geneigten Kopf erscheint, wirkt aufgrund ihrer Seltenheit entsprechend auffällig und irritierend, was in diesem Fall der Intention, die Extremsituation mit gestalterischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen, durchaus entspricht. 150 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a b c d 11a–d Neros Reaktion auf die eigenen Traumbilder in Nerone Bezeichnung dream balloon)12 oder rechteckige,13 vereinzelt auch speziellere Formen an: In Aladin ou la lampe merveilleuse besteht die Grenze zwi- schen Traumbildern und Schlafsituation aus einer mehrfach geschwunge- nen Linie, die stark an eine Comicblase erinnert, in Nerone erscheint der Übergang von Neros Vision zu ihm selber wolkenartig ausgefranst (Abb. 11a–d), und in Georges Méliès’ Alchimiste Parafaragamus ou la cor­ nue infernale (F 1906) werden die wunderlichen Traumgesichte zeitweise durch die Umrisse eines überdimensionierten Destillierglases begrenzt. Unabhängig von ihrer Form umfasste die von den Traumszenen be- anspruchte Fläche meist nicht mehr als ein Drittel des gesamten Bildes. Zweidimensional betrachtet, wurden die inneren Vorstellungen zudem von der realen Szene mit der träumenden Figur oft ganz oder teilweise umschlossen, sodass das Einbettungs- und Abhängigkeitsverhältnis der unterschiedlichen Realitätsebenen sehr anschaulich zum Ausdruck kam. Die Form und Positionierung der Traumvignette im Verhältnis zur ent- 12 Zum Beispiel in The Corsican Brothers (GB 1898); Life of an American Fireman, Les aventures du Baron de Munchhausen, Herr Arnes Schatz, The Bridge. 13 Zum Beispiel in Histoire d’un crime (F 1901); The Dream of a Rarebit Fiend; Cabiria. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 151 a b c d 12a–d (Tag-)Traumbilder als Subkadragen in Of Human Bondage (a), You’ll Never Get Rich (b), The Fountainhead (c) und Billy Liar (d) sprechenden Figur stellte zudem sicher, dass die mentalen Bilder – sofern überhaupt alternative Möglichkeiten bestanden – richtig verankert wur- den. In Aladin ou la lampe merveilleuse etwa wird eine korrekte Zu- ordnung nicht nur durch den expliziten Zwischentitel «Le rêve d’Aladin», sondern auch durch die Tatsache garantiert, dass die Traumblase zum Kopf des schlafenden Aladin hin und nicht zur gleichzeitig anwesenden Frau auf der gegenüberliegenden Bildseite geschwungen erscheint (Abb. 10g). Interessant ist auch, dass der Träumer oft noch im Schlaf auf den Traum reagiert oder aber nach dem Erwachen in diejenige Richtung gesti- kuliert, wo die Traumbilder erschienen sind (Abb. 10e, h; 11c, d). Die Inszenierung von Traum oder Tagtraum als Bild im Bild kann vereinzelt auch nach der Stummfilmepoche noch beobachtet werden, etwa in Of Human Bondage (USA 1934), You’ll Never Get Rich (USA 1941), The Fountainhead (USA 1948) oder Billy Liar (GB 1963) (Abb. 12a–d). Bei aller Variation erscheint mir folgende Gemeinsamkeit wichtig: Gegen- über der konsekutiven Vermittlung von Schlafsituation und Traum zeichnen sich die unterschiedlichen Formen simultaner Darbietung dadurch aus, dass 152 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik der Inszenierung der träumenden, fantasierenden oder hellsichtigen Figur oft ebensoviel oder mehr Gewicht zukommt als den Traumbildern, die fort- während in Beziehung zur Situation ihres «Urhebers» gesetzt erscheinen. 3.1.2 Sequenzimmanente Markierungsformen Übergangsmarkierungen oder optische Rahmungen im Zusammenspiel mit der Inszenierung einer Introspektions- oder Einschlafsituation reichen aus, um eine Sequenz als Traum, Fantasie oder Erinnerung einer Figur kenntlich zu machen. Daher braucht sich die audiovisuelle Gestaltung geträumter oder erinnerter Ereignisse kaum von derjenigen diegetischer Geschehnisse zu unterscheiden. Im Kapitel 3.2 zum Zeitpunkt der Traum- kennzeichnung werden wir sehen, dass dies – aus gutem Grund – vor al- lem in Sequenzen der Fall ist, die erst im Nachhinein als innere Vorstel- lungen erkannt werden sollen, die also nicht nur auf sequenzimmanente, sondern auch auf Anfangsmarkierungen verzichten. In deutlich gerahm- ten und von Anbeginn als subjektiv ausgewiesenen Sequenzen ist eine In- szenierungsform, die sich vom Rest des Films nicht wesentlich unterschei- det, viel seltener – außer in Erinnerungssequenzen, die sich, wie wir noch sehen werden, durch einen stärkeren Realitätsbezug auszeichnen.14 3.1.2.1 Handlungslogik und Beschaffenheit der Welt Träume, Tagträume oder Visionen werden in der Regel also nicht nur «an den Rändern» und kontextuell, sondern auch im Inneren markiert. Dabei spielen die Gestaltung von Bild und Ton ebenso eine Rolle wie die Hand- lung, Logik der Ereignisse und Beschaffenheit des dargestellten Univer- sums. Wenden wir uns zuerst dem zweiten Komplex zu. In einer Sequenz aus Die Stunde des Wolfs (Vargtimmen, SE 1966) betritt Johan Borg auf der Suche nach Veronika, seiner ehemaligen Gelieb- ten, ein weitläufiges Anwesen. Eine alte Dame, auf die er zuerst trifft, kann ihm den Weg weisen, will jedoch, dass er ihr als Gegenleistung die Strümp- fe auszieht und die Füße küsst. Als Nächstes begegnet er dem Ehemann von Veronika, der nach kurzem Gespräch die Zimmerwand hochschreitet, 14 Ein besonders frappantes Beispiel stellt Two Seconds (USA 1932) dar, in dem durch Rahmung und verbale Hinweise eine im Todesmoment sekundenschnell evozierte Flut von Erinnerungen angekündigt wird, die sich von ihrer audiovisuellen Form her je- doch überhaupt nicht vom normalen Inszenierungsstil der Rahmenerzählung und des klassischen Hollywood unterscheidet. Dass gleichzeitig eine direkte visuelle Anbin- dung an die Figur fehlt – es wird nicht, wie sonst üblich, vom Gesicht des Protagoni- sten in die Todesvision überblendet, sondern vom Bild der Figur, die den Stromschalter bedient –, hängt hingegen damit zusammen, dass es nach den Regeln des Production Code nicht erlaubt war, eine Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl darzustellen. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 153 13a–e Surreale Gesichts-Dekomposition in Stunde des Wolfs seinen Gang an der Decke kopfunter fortsetzt und ihm zu verstehen gibt, dass es Eifersucht sei, die ihn so umtreibe. «Ja, natürlich», meint Johan und verlässt den Raum. Im Salon, den er darauf betritt, wird er Zeuge davon, wie sich eine greise Frau mit Glatze die Haut vom Gesicht reißt und die Augäpfel in einem Weinglas versenkt (Abb. 13a–e). Erschrocken weicht er zurück und läuft in die Arme eines seltsamen Herrn, der der Meinung ist, er müsse für das Treffen mit seiner Geliebten erst noch zurechtgemacht werden, ihn schminkt, parfümiert und ihm seinen Morgenrock borgt. Auf dem Weg zu ihr müssen sich die beiden durch einen Schwarm von Tauben kämpfen; plötzlich bemerkt Johan, dass sein Begleiter ebenfalls Flügel hat. Als er schließlich im Gemach von Veronika ankommt, findet er sie aufge- 154 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik bahrt unter einem weißen Tuch vor. Nachdem er sie aufgedeckt und ihren Körper berührt hat, beginnt sie unvermittelt zu lachen und umarmt ihn stürmisch; ihr Lachen geht dabei in kollektives Gelächter über, und Johan stellt verwundert fest, dass sämtliche Personen, denen er auf dem Weg zu ihr begegnet ist, anwesend sind und ihn aus seltsamen Positionen – am Boden liegend oder auf dem Fenstersims stehend – beobachten. Wenn wir uns, dem Thema dieses Kapitels gemäß, auf die Frage der Markierung beschränken, können wir feststellen, dass sich die beschriebe- nen Ereignisse als Traum interpretieren lassen, obwohl weder Beginn noch Ende der Sequenz mit konventionellen Signalen – etwa der Inszenierung einer Schlafsituation und Überleitung durch Überblendung – versehen sind. Anlass dazu bieten Vorgänge und Handlungen, die verschiedenen Normen zuwiderlaufen, die wir mit realem Geschehen und alltäglichen Verhältnissen verbinden. Ein Mensch, der eine Wand hochläuft, wider- spricht der Schwerkraft; eine Tote, die lebendig wird, eine Greisin, die sich Haut und Augäpfel aus dem Gesicht reißt, und ein Mann, dem Vogelflü- gel wachsen, setzen anatomische und medizinische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Neben der physikalischen und biologischen Ordnung wer- den jedoch auch soziale und gesellschaftliche Normen verletzt: Von einem Herrn zu verlangen, dass er einem als Dank für eine Wegbeschreibung die Füße küsst, gehört sich genauso wenig, wie einen Gast heimlich zu beobachten und auszulachen. Der bizarre Charakter der entworfenen Welt wird dadurch noch verstärkt, dass nicht nur die Regelverstöße selbst, son- dern auch die Reaktionen darauf befremden. Johan weist die alte Dame nicht zurecht, sondern kommt ihrem lüsternen Wunsch nach; er empört sich nicht über das voyeuristische und hinterhältige Verhalten der Schloss- gesellschaft, sondern leidet still; und seine Antwort an die Adresse von Veronikas Ehemann lässt darauf schließen, dass ihm dessen Erklärung für sein «akrobatisches» Verhalten durchaus plausibel erscheint. Betrachten wir ein zweites Beispiel: In Alice in Wonderland wird der Traum der Titelheldin, wie wir bereits gesehen haben, durch eine verbale Ankündigung und die Inszenierung einer Einschlaf- und Über- trittssituation deutlich markiert. Darüber hinaus verweist jedoch auch das Universum, das Alice betritt, permanent auf den Traumcharakter, etwa wenn eine menschengroße Raupe Wasserpfeife raucht und palavernd am Wegrand sitzt, ein Krocketspiel mit Flamingos als Schlägern und Igeln als Bällen veranstaltet wird, eine grinsende Katze plötzlich ihren Körper, nicht aber ihr Grinsen verliert, Alice mit ihren Tränen ein ganzes Zimmer unter Wasser setzt oder ein Baby sich in ein Ferkel verwandelt, nachdem dessen Mutter meinte, man müsse es schlagen, wenn es niest, das kleine «Schwein» wolle sie nur ärgern. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 155 Wie in Die Stunde des Wolfs sind es auch hier nach Realitätsnormen unmögliche Kreaturen und Transformationen sowie unübliche Handlungen und Äußerungen, die den Szenen ihre traumtypische Absurdität verleihen. In Alice in Wonderland kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Gleich zu Be- ginn lockt der Hase Alice in ein Erdloch und durch einen Höhlengang, der unverhofft in ein stattliches Zimmer mit zahlreichen Türen mündet. Alle sind verschlossen, außer einer kleinen Luke knapp über dem Fußboden, die Ausblick auf eine prächtige Gartenanlage gewährt. Etwas später kommt Alice an einem Baum vorbei, der sich wie ein Tor öffnen lässt und sie, ob- wohl er mitten im dichten Wald steht, direkt zum Hof des Herzkönigs führt. Dass Wonderland ein Traumuniversum darstellt, wird also nicht nur durch seine Geschöpfe und ihre Handlungen, sondern auch durch die eigenartige Topografie betont, die heterogene Orte direkt aneinandergrenzen lässt und überraschende Passagen in einem unübersichtlichen Labyrinth gewährt. Traumsequenzen weisen oft solche Formen räumlicher Inkohärenz auf: In La città delle donne (I 1981) flüchtet Guido im Frauenkongresszentrum vor einer Horde aufgebrachter Feministinnen in einen Lift, fährt mehrere Stockwerke hoch, landet in einer großen Turnhalle, wird eine halbe Treppe in einen Heiz- und Waschraum hinuntergestoßen, von wo ein Garagentor ebenerdig ins Freie führt. Etwas später im Schlafzimmer des Herrn Cazzone bemerkt er unter dem Bett Flüster- und Windgeräusche. Als er nachschaut, entdeckt er im Fußboden eine Öffnung, die sich als Zugang zu einer giganti- schen Rutschbahn unter freiem Himmel entpuppt. In Brazil (GB 1985), um ein weiteres Beispiel räumlicher Anomalie anzufügen, gerät Sam Lowry auf der Flucht vor den Truppen des Innenministeriums in eine Kapelle, stürzt in einen umgekippten Sarg, fällt in ein schwarzes Loch und befindet sich im nächsten Moment in einem Labyrinth unterirdischer Gänge, in dem er schließlich in eine Sackgasse gerät, die von Steinmauern begrenzt ist. Kurz bevor seine Verfolger ihn eingeholt haben, gelingt es ihm, eine Tür zu öffnen und Zuflucht in einem dahinter liegenden Raum zu suchen. Dort bemerkt er, dass er sich auf dem Anhänger eines fahrenden Trucks befindet, mit dem seine Freundin ihn – vermeintlich – in Sicherheit bringt. Eine uneinheitliche, ja paradoxe Raumstruktur, die wesentlich zur traumhaften Qualität einer Sequenz beitragen kann, lässt sich im filmi- schen Medium denkbar einfach erreichen. Räumliche Kohärenz wird im Spielfilm ja in der Regel nicht durch eine Orientierung an der Lage und Topografie der tatsächlichen Drehorte, sondern durch Mise-en-scène, Montage, Sounddesign und andere Gestaltungsmittel erzielt. Es genügt also, bei dieser weitgehend virtuellen Art der Raumkonstruktion auf Überblick und Orientierung gewährende establishing shots zu verzichten, einzelne Kohärenzregeln nicht einzuhalten, gleichzeitig durch Kontinui- 156 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 14a–c Paradoxe Raumkon- struktion in A Nightmare on Elm Street V tätsmontage und den Weg des Protagonisten als rotem Faden trotzdem den Eindruck eines – wenn auch auf bizarre Weise – zusammenhängenden Universums zu vermitteln. Die dadurch erreichte Instabilität des Raums bringt die kon struierte Welt nicht zum Einsturz, verleiht ihr jedoch eine irreale, traumhafte oder fantastische Qualität.15 Noch augenfälliger sind Raumparadoxien, die nicht durch Montage und Mise-en-scène, sondern durch Tricktechnik innerhalb einzelner Ein- stellungen erzielt werden. Die Traumsequenz in A Nightmare on Elm 15 Buster Keaton treibt dieses Prinzip in Sherlock Jr. auf die Spitze – und stellt es somit selbstreflexiv aus –, wenn er den von ihm verkörperten Operateur, sobald dieser im Traum die Kinoleinwand erklommen hat, bei jeder Bewegung durch einfachen Schnitt und match on action in eine neue Umgebung versetzt. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 157 15a–d «Abnorme» Größenrelationen in Liebe 47 Street V (USA 1989), offenkundig durch M. C. Eschers «unmögliche Figu- ren» inspiriert, baut gleich mehrfach auf den Effekt widersprüchlich pers- pektivierter Bilder (Abb. 14a–c). Ähnlich wie Anomalien in der Anordnung und Verknüpfung von Schauplätzen vermögen Verschiebungen der Größenverhältnisse den Traumcharakter einer Sequenz zu unterstützen. In Liebe 47 erscheint dem Kriegsheimkehrer Beckmann ein ehemaliger Untergebener, an dessen Tod er schuld zu sein glaubt, als bedrohlicher Riese; und etwas später liegt er klein wie ein Wurm im Straßengraben, während hinter ihm überdimensio- nierte Schuhe vorbeischlendernder Passanten zu sehen sind (Abb. 15a–d). In Emil und die Detektive (D 1931) zieht sich das Zugabteil, in dem Emil eingeschlafen ist, plötzlich in die Breite und Höhe. Und in Shock (USA 1946) wird Janets Angst, ihren Mann nicht wiederzusehen, durch die Dehnung des Korridors und eine übergroße Tür symbolisiert, die unüberwindbar scheint. Nicht nur die Raumkonstruktion, auch die Figurenidentitäten können von fehlender Konsistenz und paradoxen Verbindungen betroffen sein. So kann es vorkommen, dass das Traum-Ich dem Sarg begegnet, in dem seine eigene Leiche aufgebahrt ist (Vampyr, F/D 1931; Wilde Erdbeeren; Von Angesicht zu Angesicht / Ansikte mot ansikte, SE 1976), an seiner ei- genen Beerdigung teilnimmt (Accatone, I 1961), eine halbe Armee (Billy 158 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Liar) oder ein ganzes Orchester inklusive Dirigent, Pianist und Publikum in Personalunion verkörpert (An American in Paris). Wie die weiter oben erwähnten Metamorphosen und Identitätsverschiebungen entfalten solche Formen der Identitätsaufspaltung traumkennzeichnende Wirkung. Neben Abweichungen von Naturgesetzen, kulturellen Normen, der räum- lichen Proportion und Kohärenz oder dem Identitätsprinzip können, wie Gollut anmerkt, auch Gegebenheiten, die in offensichtlichem Widerstreit zum enzyklopädischen Wissen stehen, als Traumsignale fungieren, etwa die Präsenz der Freiheitsstatue in La Rochelle (Traumbericht zit. in Gollut 1993: 99) oder des Eiffelturms in London (The Eiffel Tower / Eiffeltornet, SE 2004). Auch kann der Eindruck einer mangelhaften Übereinstimmung mit realweltlichen Zusammenhängen nicht nur durch einzelne Handlungen, Objekte oder Zustände, sondern ebenso durch eine unübliche Verkettung von Ereignissen entstehen, die einzeln betrachtet der Wachlogik gar nicht widersprechen. In Iwans Kindheit steht Iwan mit seiner Mutter an einem Ziehbrunnen. Als er seine Hand ausstreckt, um nach der Lichtreflexion im Wasser zu greifen, befindet er sich unvermittelt ganz unten im Schacht. Im nächsten Moment sind von oben deutsche Soldatenstimmen zu hören, ein Schuss ertönt und der volle Eimer, den die Mutter gehalten hat, rast in die Tiefe auf Iwan zu. Beim Aufprall ergießt sich sein Inhalt jedoch nicht in den Schacht, sondern, wie die Montage suggeriert, auf die oben neben dem Brunnen liegende Mutter. Zur «sprunghaften» räumlichen Anordnung kommt hier hinzu, dass die Ereignisabfolge dem Prinzip von Ursache und Wirkung zuwiderläuft. Ein ähnlicher Effekt entsteht durch die Umkehrung von Bewegungsabläufen, so in jener Traumszene in Geheimnisse einer Seele, in der aus einem Teich mit Seerosen unverhofft eine Kinderpuppe hochgleitet und direkt in den Armen von Fellmans Frau landet. 3.1.2.2 Die filmische Diegese als primäre Referenzwelt Die Liste möglicher Traumsignale, die mit der Logik der Handlung und Beschaffenheit des dargestellten Universums zu tun haben, ließe sich er- weitern. Wichtig erscheint mir die Erkenntnis, dass der Irrealisierung in den meisten Fällen eine Form von Abweichung oder Diskrepanz zugrun- de liegt. Hinsichtlich der Frage, was die Referenzgröße darstellt, an der sich eine Diskrepanz festmachen lässt, war bisher wiederholt von «Wach- logik», «Realitätsnormen» oder «realweltlichen Zusammenhängen» die Rede, ohne dass dieser Bezugspunkt weiter erläutert oder ausdifferenziert wurde. Die Analyse filmischer Traumsequenzen macht deutlich, dass das Spannungsverhältnis in der Regel ein doppeltes ist: Neben unserer All- tagserfahrung, unseren Normvorstellungen und unserem Weltwissen ist 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 159 es vor allem die durch die Erzählung etablierte diegetische Realität, von der sich Traumereignisse abheben müssen. Und diese kann sich je nach Genre markant unterscheiden von der Realität, in der wir leben – so sehr, dass die meisten der bizarren oder «unmöglichen» Handlungen, die ich erwähnt habe, statt als Traumsignal auch als real und alltäglich präsentiert sein könnten. Es gilt also, genrespezifische Konventionen und Erwartun- gen zu berücksichtigen. Niemandem käme in den Sinn, die in Die Stunde des Wolfs von der fremden Frau verlangte Gegenleistung in einem por- nografischen Film als Traumindiz zu interpretieren. Gleichzeitig stellen sprechende Tiere und Riesen im Märchen- und Fantasyfilm das Normalste der Welt dar. Und auch ein Mann, der mühelos die Wand hochläuft, kann real erscheinen, wenn ein Spider-Man-Kostüm im Spiel ist. In den erwähn- ten Beispielen wirken die ungewöhnlichen Gestalten und Ereignisse nur deshalb als Traumhinweise, weil sie einen offensichtlichen Kontrast zum diegetischen Rahmen bilden.16 Die Diskrepanz zum diegetischen Ko-Text kann nicht nur etablierte Realitätsnormen, sondern auch konkrete Gegebenheiten der erfundenen Welt betreffen, etwa die Beziehungen zwischen den Figuren. Eine Sequenz in Les choses de la vie (F 1969) zeigt Pierre und Hélène im Zentrum einer ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft, die bei strahlender Sonne unter frei- em Himmel speist. Als Pierre seinen Blick über die Tischrunde schweifen lässt, kommen nach Bekannten und Verwandten plötzlich Figuren ins Bild, die zwar zur Gesellschaft passen – auch sie sind festlich gekleidet und prosten ihm fröhlich zu –, von denen wir aufgrund der vorangegangenen Sequenz jedoch wissen, dass sie fehl am Platz sind, handelt es sich doch um die Lastwagenfahrer, den Polizisten, den Notarzt und den Priester, die an Pierres Autounfall und der anschließenden Bergung beteiligt waren.17 In einer Sequenz aus Les amants criminels wird die Irritation da- durch ausgelöst, dass Alice frei im Wald herumläuft, obwohl sie eben noch in einem unterirdischen Verlies eingesperrt war. Im ersten Moment er- scheint die Möglichkeit plausibel, dass uns ihre Flucht vorenthalten wurde; sobald sie jedoch auf Saïd trifft, von dem wir wissen, dass er tot ist, muss diese Vermutung zugunsten einer Traumzuschreibung fallen gelassen wer- den, die kurz darauf durch ihr Aufwachen im Kerker bestätigt wird. 16 In Kapitel 3.3 werden wir sehen, dass sich im Fall von Die Stunde des Wolfs die Gren- ze zwischen Traum und Realität immer mehr auflöst. 17 Dass es sich nicht um reale Ereignisse, sondern eine Wunschfantasie des sterbenden Pierre handelt, machen natürlich auch die Sequenzübergänge deutlich. Dem benom- men im Krankenwagen Liegenden – so suggeriert es die Inszenierung und musikali- sche Untermalung – wird der illusionäre Charakter des fantasierten Glücksmoments jedoch erst bewusst, als die nicht zur Gesellschaft passenden Figuren ins Gesichtsfeld rücken. 160 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Manchmal wird die traumtypisch verfremdete Logik einer Handlung oder Dialogpassage überhaupt erst im Bezug zu diegetischen Ereignissen offensichtlich. An einer Stelle von Belle de jour (F 1966) entspinnt sich folgender Dialog zwischen Sévérines Ehemann und ihrem Freund Henri: «Est-ce qu’on donne un nom aux taureaux comme aux chats? – Mais oui. La plupart de ceux-là s’appellent remords, excepté le dernier qui s’appelle expiation. … Quelle heure est-il? – Entre deux et cinq heures, mais pas plus tard que cinq heures.» Erst das Wissen um Sévérines heimliche Bordellbe- suche zwischen zwei und fünf lässt die Aussagen nicht absurd, sondern als Ausdruck innerer Schuldgefühle erscheinen, die sie im Traum verarbeitet. Im ersten Kapitel dieser Studie haben wir gesehen, dass nicht nur der Film an sich, sondern auch seine Traumdarstellungen häufig mit tatsächlichen Träumen verglichen werden. Unsere eigenen Erfahrungen mit Träumen wie auch in der Kultur verbreitete Annahmen über ihr Wesen spielen bei der Traumzuschreibung einzelner Sequenzen eine nicht zu unterschätzen- de Rolle. In meinen bisherigen Ausführungen ging es mir jedoch darum aufzuzeigen, dass die Wachwelt in ihrer Funktion als Ausgangs-, End- punkt und oft auch Gegenbild zur Traumsphäre eine genauso wichtige, wenn nicht wichtigere Bezugsgröße darstellt, und zwar nicht nur die reale, in der wir leben, sondern vor allem die fiktionale, die als einzige im Erzähl- text respektive direkt auf der Leinwand den Träumen der Figuren gegen- übersteht. In meinen Augen lohnt es sich – insbesondere aus narratologi- scher und fiktionstheoretischer Warte – die gängige «Referenzhierarchie» umzukehren und nicht tatsächliche Träume, sondern die filmische Diegese als primäre Bezugswelt zu betrachten. Das folgende Schema illustriert die Bezüge: je fetter die Verbindungslinien (oben) respektive je näher die Käst- chen (unten), desto direkter der Bezug. «reale» Traumwelt fiktionale Traumwelt reale Wachwelt fiktionale Wachwelt = Diegese fiktionale Traumwelt «reale» fiktionale Traumwelt Wachwelt reale Wachwelt 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 161 3.1.2.3 Exkurs: Traumuniversum und unlogische Weltenkonstruktion Im Zentrum der bisherigen Ausführungen zu sequenzimmanenten Traummarkierungen standen Überlegungen zur Beschaffenheit und Logik der fiktionalen Welt und des darin eingelassenen (und darüber hinaus- reichenden) Traumuniversums. Bevor ich mich zum Schluss des Kapitels den Traummarkierungen durch audiovisuelle Gestaltungsformen zuwen- de, möchte ich an dieser Stelle einen Seitenblick auf einige Überlegungen von Literaturwissenschaftlern werfen, die sich mit Possible-Worlds-Theo- rien auseinandergesetzt haben. Die meisten von ihnen unterscheiden wie Lubomír Doležel folgende Formen von Weltentwürfen, die unterschied- lich stark vom Referenzwert der Realität (oder «aktuellen Welt») abwei- chen: «‹physically possible› worlds […] where nothing exists and nothing happens that would violate the laws of the actual world» und «physically impossible, supernatural worlds […] that violate the laws of the actual world». Weiter führt Doležel aus: I hasten to forestall a serious misunderstanding, one that arises when physi- cal and logical (im)possibility are confused. Possible-worlds logicians give a lucid explanation of the difference: «By a ‹possible world› … we do not mean only a physically possible world. Countless worlds which are physically im- possible are numbered among the possible worlds. […] the set of physically possible worlds forms a proper subset of all logically possible worlds» (Brad- ley and Swartz 1979: 6 […]). In other words, physically impossible worlds are logically possible. Only worlds containing or implying contradictions are logically impossible or impossible simpliciter. (Doležel 1998: 115–116) Im Glossar definiert Doležel mögliche und unmögliche Welten schließlich folgendermaßen: «Possible world: A world that is thinkable. […] Impossi- ble world: A world that contains or implies logical contradictions» (1998: 280–281). Wenn wir die Definitionsmerkmale zusammentragen, so ergibt sich folgende Aufteilung: possible worlds impossible worlds logically and physically logically possible, logically impossible, possible, thinkable physically impossible, unthinkable thinkable Dass Welten, die den physikalischen Gesetzen widersprechen, nach Reali- tätsnormen also eine Unmöglichkeit darstellen, trotzdem möglich im Sinn von denk- und konstruierbar sind,18 wird von sämtlichen Autoren betont 18 Weshalb in den Theorien der möglichen Welten ein und dasselbe Adjektiv für «den Realitätsnormen entsprechend» und «denk- und konstruierbar» verwendet wird, wo 162 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik und erscheint angesichts der langen Liste übernatürlicher Universen im Märchen-, Fantasy-, Horror- oder Science-Fiction-Genre unkontrovers. In- teressanter – und gleichzeitig komplexer – wird es, wenn die Frage der Logik ins Zentrum rückt. In diesem Zusammenhang spielt in der Possible- Worlds-Semantik neben der «Möglichkeit» und «Unmöglichkeit» die Kate- gorie der «Notwendigkeit» eine wichtige Rolle: The model structure is supplemented with a model that assigns each atomic proposition a truth value in each world belonging to the system. In agree- ment with Leibniz’ logic, propositions that are true not only in the actual world but in all possible worlds as well will be called necessary truths. (Pavel 1986: 44–45) Eco nennt Tautologien (kein unverheirateter Mann ist verheiratet), Aus- sagen mit semantischer Implikation (kein Junggeselle ist verheiratet; eine Kutsche ist ein Wagen, ein Kreis ist rund), das Identitätsprinzip oder die Unumkehrbarkeit von Ursache und Wirkung (man kann nicht sein eigener Vater sein) als Beispiele logisch notwendiger Wahrheiten. Wenn postuliert wird, dass es Wahrheiten gibt, die in allen mögli- chen Welten Gültigkeit haben, so folgt daraus, dass Welten, in denen die- se Wahrheiten nicht gelten, unmöglich sind. Unter der Annahme, dass «möglich» hier im Sinn von «denk- und konstruierbar» gemeint ist, heißt das, dass Welten, die logisch notwendigen Wahrheiten widersprechen, gar nicht erdacht und entworfen werden können. Für die meisten Autoren scheint ein Abweichen von Gesetzen der Lo- gik und Kohärenz eine stärkere Form von Unmöglichkeit darzustellen als ein Abweichen von physikalischen oder biologischen Normen. Entspre- chend erscheint die logisch unmögliche Welt in Doležels Definition – zu- mindest implizit –19 nicht als «unmögliche mögliche», sondern als «un- mögliche unmögliche Welt». Wie sehr Logik und Kohärenz als elementare Grundlage möglicher Welten betrachtet werden, zeigt auch der erste Satz von Ecos «einleitende[n] Definitionen», der den Grundsatz der Eindeutig- keit und Widerspruchsfreiheit hervorhebt: «Wir bezeichnen als mögliche es doch gerade darum geht, den Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten her- auszuarbeiten, ist mir schleierhaft. In der Regel erfolgt die Differenzierung – ohne dass dies explizit gemacht würde – über die Wortstellung. Das erstgenannte Adjektiv be- zieht sich auf die Übereinstimmung mit den Gesetzen der Realität, das zweitgenann- te auf die Konstruierbarkeit der Alternativwelt. Eine «unmögliche mögliche Welt» ist demnach eine Alternativwelt, die den Realitätsnormen widerspricht («unmöglich»), trotzdem aber denk- und konstruierbar ist («möglich»). 19 Wenn Doležel die «mögliche» als «denkbare» Welt definiert, so muss die «unmögliche» eine «undenkbare» sein. Welten, die logische Widersprüche beinhalten, widersprechen nach Doležels Auffassung somit nicht nur den Realitätsgesetzen, sie sind auch nicht denk- und konstruierbar, also «unmöglich unmöglich». 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 163 Welt einen Zustand von Dingen, der von einer Gesamtheit von Propositi- onen ausgedrückt wird, wobei für jede Proposition entweder p oder ~ p [nicht p] gilt» (1994 [1979]: 162). An späterer Stelle führt er aus: [A]uf der einen Seite aber definieren, dass es unmöglich sei, zugleich Jung- geselle und verheiratet zu sein (Bedeutungspostulat), und gleichzeitig be- haupten, dass einige Junggesellen verheiratet seien, ist nichtsdestoweniger unvernünftig. Wir können eine Weltmatrix konzipieren, in der wir aus ir- gendwelchen Gründen es nicht für essentiell erachten, dass Junggesellen Menschen seien (zum Beispiel in dem Ausdruck: «In dem Universum von Walt Kelly ist Pogo Possum Junggeselle»);20 ist aber einmal vereinbart wor- den, dass ein Junggeselle (auch wenn er kein Mensch ist) unverheiratet ist, so können wir nicht mehr sagen, dass im Universum von Walt Kelly Pogo Possum ein Junggeselle und verheiratet sei. (Eco 1994 [1979]: 187–188) Konsequenterweise sieht Eco logisch notwendige Wahrheiten auch «nicht als Eigenschaften der Individuen einer Welt», sondern «als metasprachliche Bedingungen der Konstruierbarkeit der Weltmatrizen» (Herv. i. O.): Eine logische Wahrheit wie zum Beispiel «p oder ~ p» ist die Bedingung der Wahrscheinlichkeit einer Weltstruktur. Wenn eine Welt W4 existierte, in der die Individuen die Eigenschaft haben könnten, gleichzeitig rund zu sein und nicht rund zu sein […], so wäre diese Welt nicht konstruierbar (und, wenn man so will, «nicht konzipierbar»: jedoch in dem Sinne von strukturell nicht formulierbar). […] Die logisch notwendigen Wahrheiten sind keine Elemente der Ausstattung einer Welt, sondern formale Konstruktionen der Konstruier- barkeit ihrer Matrix. (Eco 1994 [1979]: 188)21 In welchem Licht erscheinen Ecos und Doležels Ausführungen, wenn wir sie mit dem Traumuniversum in Beziehung setzen? Als Erstes stellt sich die Frage, ob die beiden Autoren (und Possible-Worlds-Theorien im allgemei- 20 Ich bin gezwungen, hier von der deutschen Übersetzung abzuweichen, in die sich just der Widerspruch eingeschlichen hat, dessen Unmöglichkeit Eco zu erläutern versucht. Die Klammerbemerkung im Original (1979: 149) lautet: «per esempio nell’espressione: ‹Nell’universo di Walt Kelly, Pogo Possum è scappolo›», auf Deutsch wird sie wieder- gegeben mit: «zum Beispiel in dem Ausdruck: ‹In dem Universum von Walt Kelly ist Pogo Possum Junggeselle und verheiratet›» (Herv. hinzugefügt). 21 Eco verwendet die Begriffe «möglich»/«unmöglich» nicht nur in zwei, sondern in drei verschiedenen Bedeutungen: a) den Realitätsnormen entsprechend, b) vorstellbar/ konstruierbar und c) benennbar/nominierbar. Welten, die von einer Erzählung zwar benannt, jedoch nicht konstruiert und deshalb in der Vorstellung der Rezipienten auch nicht entstehen können, nennt er manchmal «unmöglich» (z. B. 1989: 64, 4. Abschnitt), manchmal «unmöglich möglich» (ebenda, 3. Abschnitt), während Doležel in diesen Fällen konsequent von «unmöglichen Welten» spricht. 164 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik nen) Träume – reale wie fiktionale – überhaupt als mögliche Welten auffas- sen. Dass sie dies tun, zeigen folgende Textstellen: Eine Welt als solche besteht aus einer Gesamtheit von Individuen, die mit Ei- genschaften ausgestattet sind. Da einige dieser Eigenschaften oder Prädika- te Handlungen sind, kann eine mögliche Welt auch als Ablauf von Ereignissen angesehen werden. Da dieser Ablauf von Ereignissen nicht aktuell, sondern eben nur möglich ist, muss er abhängig sein von den propositionalen Haltun- gen dessen, der jenen Verlauf bestätigt, ihn glaubt, träumt, ihn wünscht oder voraussieht etc. (Eco 1994 [1979]: 162, Herv. i. O.) The alethic contrast between the natural and the supernatural is bridged by intermediate worlds. Dreams, hallucinations, madness, drug-induced altered states are physically possible, natural human experiences; at the same time, physically impossible persons, objects, and events appear in these frames. Fictional stories have exploited the remarkable potential of intermediate worlds in many forms and functions. (Doležel 1998: 117) Eco reiht das Träumen als welterschaffende Aktivität gleichberechtigt ne- ben das Bestätigen, Glauben, Wünschen und Voraussehen. Doležel führt zwar eine neue Bezeichnung –«Zwischenwelt» – ein; dass es sich dabei um eine mögliche Welt handeln muss, wird jedoch dadurch klar, dass er sie zwischen der «natürlichen» und der «übernatürlichen» einordnet, die bei- de in seinem System, wie wir gesehen haben, mögliche Welten darstellen.22 Träume sind bei den Ausführungen also mitgemeint. Angesichts die- ser Tatsache erstaunt es, dass sie nicht stärker in die Überlegungen einbe- zogen werden, vor allem wenn man bedenkt, dass sie einen für Possible- Worlds-Theorien äußerst interessanten Spezialfall darstellen. Neben Hallu- zinationen und Wahnvorstellungen bilden Träume die einzige Form einer möglichen Welt, in der wir, während sie sich uns offenbart, tatsächlich zu leben glauben: Der Traum als Traum ist Welt, und zwar nicht nur eine Welt unter anderen Welten, sondern die wirkliche Welt, in der der Träumende ist. Andererseits ist er [der Traum] aber, solange er die Welt ist, noch gar nicht als Traum. (von Uslar 1964: 7, Herv. i. O.) Im Schlaf sind Träume für uns also nicht nur eine mögliche, sondern die aktuelle Welt, erst beim Erwachen erkennen wir sie als mentales Kons- trukt. Alle anderen Weltentwürfe, sämtliche fiktionalen inklusive, sind, 22 Die natürliche betrachtet Doležel als mögliche, die unnatürliche als unmögliche mögli- che Welt. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 165 auch wenn die Illusionsthese das Gegenteil behauptet, jederzeit als erfun- den und konstruiert erkennbar. Aus dieser Perspektive betrachtet, sind Träume zwischen dem Bereich der aktuellen und der möglichen Welten angesie- delt – werden im direkten Erleben für das eine gehalten und erst im indi- rekten Erinnern als das andere erkannt –, können also, sofern räumliche Metaphern in diesem Zusammenhang erlaubt sind, als Welten bezeichnet werden, die näher bei der aktuellen und weiter weg von den unmöglichen angesiedelt sind als alle anderen Arten möglicher Welten: aktuelle Welt mögliche Welten unmögliche Welten Träume Traumerlebnis aus Traumerlebnis aus der Perspektive des der Perspektive Träumenden der nachträgli- chen Wacherin- nerung Es versteht sich von selbst, dass dies für fiktionale Träume nur aus der Perspektive der Figuren gilt. Wir Leser oder Zuschauer erkennen deren Träume genauso problemlos als mögliche Welten wie die diegetische Rea- lität, die ihre aktuelle Welt darstellt. Unsere eigenen Erfahrungen mit der illusionären Wirkung von Träumen stellen jedoch einen wichtigen Hinter- grund dar, vor dem auch filmische und literarische Traumentwürfe ihre welterzeugende Kraft entfalten können. Wie lässt sich nun die Erkenntnis, dass fiktionale Träume mögliche Wel- ten darstellen, mit der Behauptung von Doležel und Eco unter einen Hut bringen, dass innere Kohärenz, Logik und Widerspruchsfreiheit eine un- abdingbare Voraussetzung für die Konstruierbarkeit möglicher Welten sei, wenn wir an verschiedene Beobachtungen denken, die wir bei der Bespre- chung sequenzimmanenter Traummarkierungen gemacht haben? Da hat sich gezeigt, dass in einer Traumwelt derselbe Ort sich sowohl mehrere als auch nur ein halbes Stockwerk über Boden, sowohl mitten im Haus als auch unter freiem Himmel befinden kann. Figuren können sich verdoppeln oder vervielfachen, gleichzeitig tot und lebendig sein oder sich in Tiere ver- wandeln. Die Liste von Beispielen, in denen durch räumliche Paradoxien, folgewidrige Kausalketten oder widersprüchliche Figurenidentitäten logi- sche Notwendigkeiten missachtet werden, lässt sich beliebig erweitern: In Otto e mezzo küsst Guido seine Mutter, die seine Frau ist; in Rosemary’s Baby sitzt Rosemary nackt auf dem Schiffsdeck, trägt jedoch ein Bikini; in 166 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Lost Highway (F/USA 1996) sieht Fred eine Frau, die Renee und doch nicht Renee ist. Man könnte so weit gehen, Unlogik und Inkohärenz als eigentliches Konstruktionsprinzip vieler filmischer Traumwelten anzuse- hen. Und nicht nur filmische, auch literarische Traumerzählungen sind oft mit logisch-semantischen Widersprüchen oder Inkonsistenzen durchsetzt, wie folgende Zitate zeigen, die ich Gollut (1993: 105–116) entleihe: Il y avait dans le fond de la salle une extrême hilarité, mais personne ne riait. (P. Valéry: Cahiers) J’ai fait un rêve singulier. […] Je n’étais pas morte, mais j’avais perdu la vie. […] Soudain un homme qui te ressemblait, mais qui n’avait ni ton visage, ni tes manières, s’éleva des flots et vint vers moi. Il n’avait pas de vêtements et pourtant il n’était pas nu… (R. Vitrac: Connaissance de la mort) Diese Beispiele zeigen, dass Träume nicht nur «physically impossible per- sons, objects, and events» aufweisen, wie Doležel in obigem Zitat anmerkt, sondern eben auch logisch unmögliche Ereignisse und Verknüpfungen. Eco und Doležel sind sich natürlich bewusst, dass es Erzählungen gibt, die logische Widersprüche und Inkohärenzen gezielt einsetzen. Zwar verwei- sen beide nur vereinzelt auf fiktionale Traumuniversen,23 erwähnen jedoch verschiedene Beispiele, die ähnlich gelagert sind wie die soeben zitierten, etwa aus dem Genre des Skaz, des «nouveau roman» oder – wie im folgen- den Zitat – der Science-Fiction: Allerdings könnte jemand einwenden, dass in den erzählerischen Welten Fäl- le vorkommen, in denen logische Wahrheiten negiert werden. Typisch dafür sind zahlreiche Science-Fiction-Romane, in denen es zum Beispiel geschlosse- ne Kausalketten gibt, wobei es geschieht, dass A Ursache von B ist, B Ursache von C und C wiederum Ursache von A, oder aber, dass Reisende, die sich in der Zeit zurückbegeben, sich nicht nur selbst in jüngeren Jahren begegnen können, sondern auch ihr eigener Vater oder Großvater werden. Wir könn- ten auch angeben, dass auf einer derartigen Reise der Protagonist entdecken würde, dass 17 keine Primzahl sei und er viele andere Dinge, die «ewige Wahrheiten» genannt werden, in Frage gestellt fände. Könnte man demnach nicht von Welten sprechen, in denen die logisch notwendigen Wahrheiten nicht mehr haltbar wären? Es scheint uns jedoch, dass es sich hierbei schlicht und einfach um eine erzählerische Illusion handelt. Diese Welten sind nicht «konstruiert», sie werden einfach «nominiert». Man kann ohne weiteres sa- 23 Doležel etwa im Zusammenhang mit Joris-Karl Huysmans Roman A Rebours (1884): «Only in dreams and nightmares, such as the horrific vision of Pox, is the imagination freed from logic and causality, capable of creating original, complex, phantasmagoric ima- ges» (1998: 52, Herv. hinzugefügt). 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 167 gen, dass es eine Welt gebe, in der 17 keine Primzahl sei, ebenso wie man von einer Welt behaupten kann, dass es dort steinfressende Pflanzen gebe. Doch um diese beiden Welten zu konstruieren, muss man zuallererst Regeln for- mulieren können, auf deren Grundlage 17 durch irgendeine andere Zahl als sich selbst teilbar wäre, und im anderen Fall die als steinfressende Pflanzen bezeichneten Individuen beschreiben und sie mit Eigenschaften ausstatten. […] Dagegen wird in einem Science-Fiction Roman, in dem behauptet wird, dass es eine Maschine gebe, die einen Würfel entmaterialisiere und ihn zu einem anderen Zeitpunkt wiedererscheinen lasse, […] ein solches Instrument nominiert, aber nicht konstruiert, das heißt: man sagt, dass es das gebe und dass es einen bestimmten Namen habe, aber man sagt nicht, wie es funktio- niere. (Eco 1994 [1979]: 188–189, Herv. i. O.) Überzeugt die Argumentation, dass Welten mit unlogischen Verknüpfun- gen, paradoxen Strukturen oder folgewidrigen Abläufen leere Worthülsen bleiben, die als Weltgebäude gar nicht entstehen können, nur weil keine Erklärungen oder Regeln über ihr Funktionieren mitgeliefert werden? Seit wann ist es eine Voraussetzung für die Existenz fiktionaler Ereignisse, dass ihnen zugrundeliegende Mechanismen und Funktionsweisen erläutert werden? Zwar könnten solche Erklärungen in den meisten Fällen erbracht werden – es müssen ja nicht nach Realitätsnormen plausible oder ratio- nal nachvollziehbare Erklärungen sein –; dies ist jedoch gar nicht nötig, denn es gehört zu den wunderbaren Privilegien fiktionaler Erzählungen, Dinge einfach in die Welt zu setzen, ohne kleinliche Erklärungsarbeit leis- ten zu müssen. Ein Roman muss nicht erklären, wie es funktioniert, dass eine Pflanze Steine kauen, schlucken und verdauen kann, um eine Welt mit steinfressenden Pflanzen zu konstruieren. Es genügt, wenn der Fress- akt erzählt wird. Genauso wie es im Spielfilm genügt, ihn zu inszenieren.24 Das Beispiel ist ohnehin schlecht gewählt, denn eine steinfressende Pflanze stellt nicht eine logische, sondern eine physisch-biologische Unmöglichkeit dar, die nach Ecos eigenem Bekunden der Fiktion keine Probleme bereiten sollte. Aber auch Welten mit logischen Widersprüchen sind ohne Erklä- rungsaufwand konstruierbar: Im Film können, wie La città delle don­ ne, Brazil oder Lost Highway zeigen, Welten mit paradoxen Raum- oder Zeitstrukturen allein durch Inszenierung und Montage konstruiert werden. 24 Für Alain Boillat sind Erklärungen unnatürlicher Phänomene, zumindest im fantasti- schen Genre, nicht nur meist nicht nötig, sie würden auch den Erzählfluss hemmen: «Notons que les ‹nouvelles lois de la nature› peuvent procéder d’une logique de l’ajout ou de la suppression, et que souvent, dans le merveilleux, elles ne sont ni explicitement formulées dans le texte, ni forcément établies par le lecteur. Le genre même en abolit la nécessité. […] Le spectateur n’est […] jamais censé s’interroger sur certaines données du monde dont l’explication systématique ruinerait l’avancée du récit (2001: 144). 168 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Für Eco werden nach rationaler Logik unerklärliche Welten, für die kein erläuterndes Regelwerk mitgeliefert wird, hingegen nur «benannt» oder «nominiert», ihre «Konstruktion» findet nur scheinbar statt und stellt eine «erzählerische Illusion» dar. In «Small Worlds» kommt er nochmals auf das Beispiel einer Science-Fiction-Erzählung mit unlogischer Zeit- und Kausalstruktur zu sprechen: As an example of a long-term illusion (and of the linguistic strategy that ma- kes it possible) let me quote a typical SF situation, instanced by many novels – and recently borrowed by a movie, Back to the Future [USA 1985]. Sup- pose of a story [sic] where a narrative character (let us call him Tom 1) travels into the future where he arrives as Tom 2 and then travels backwards in time, coming back to the present as Tom 3 ten minutes before his former departure. Here Tom 3 can meet Tom 1, who is on the verge of leaving. At this point, Tom 3 travels again to the future, arrives there as Tom 4 a few minutes after the former arrival of Tom 2 and meets him. If we transform the story into a visual diagram it will be similar to a Penrose drawing. It is impossible to ac- cept a situation where the same character splits into four different Toms. But in the course of the narrative discourse the contradiction disappears because of a simple linguistic trick: the Tom who says «I» is always the one with the higher exponent. When this story becomes a movie – temporally organized in the same way as the verbal tale – we always see the situation from the point of view of the «higher» Tom. Only through such linguistic and cinematic ma- chinery can a text partially conceal the conditions of its referential impossibi- lity. Self-disclosing metafiction shows how impossible worlds are impossible. SF, on the contrary, sets up impossible worlds that give the illusion of being conceivable. (Eco 1989: 66–67) Auch diese Überlegungen überzeugen nicht wirklich. Zum einen ist die Erzählperspektive in der Back to the Future-Trilogie nicht ganz so ein- heitlich, wie Eco annimmt. Unsere Position orientiert sich weder rein op- tisch noch was die raumzeitlichen Koordinaten oder den Wissensstand be- trifft konsequent nur am «higher» Marty McFly, der auch nicht der Einzige ist, der durch die Zeit reist. Eine der für Teil II essenziellen Verwicklungen entsteht gerade dadurch, dass wir in der Zukunft einen wichtigen Moment lang die Perspektive des alten Biff teilen. Selbst wenn sich die Vermittlung der Ereignisse auf sämtlichen für die Erzählperspektive relevanten Ebe- nen permanent an derjenigen Figur orientieren würde, die «an vorderster Front» durch die Zeit reist, würden die Widersprüche keineswegs aufgeho- ben. Trotzdem bekundet man als Zuschauer von Back to the Future keine große Mühe, gedanklich ein Universum als Rahmen für die fiktionalen Er- eignisse zu entwerfen, auch wenn diese sich nach rationaler Realitätslogik 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 169 teilweise als paradox erweisen.25 Macht es Sinn, als Ausgangspunkt dieser Vorstellungsleistung einen Text anzunehmen, der die entsprechende Welt nur benennt und lediglich mit Hilfe linguistischer und erzählperspektivi- scher Tricks darüber hinwegtäuscht, dass er gar nicht imstande ist, sie zu konstruieren? Und weshalb soll es unmöglich sein, eine fiktionale Situation zu akzeptieren, in der dieselbe Figur sich in vier verschiedene Toms oder Martys aufteilt? Wenn dies inakzeptabel im Sinn von unverständlich oder unvorstellbar wäre, dann hätte Back to the Future kaum 380 Millionen Dollar eingespielt und zwei Sequels nach sich gezogen. Doležel vertritt eine ähnliche Haltung wie Eco, auch wenn seine Begriff- lichkeit eine umgekehrte Dynamik suggeriert. Er spricht eher davon, dass erzählerische Welten sich selbst «entleeren» oder «bloßlegen», als davon, dass sie nicht konstruiert werden können. Neben ironischen und selbst- reflexiven Erzählformen sind auch für ihn vor allem Welten, die logische Widersprüche etablieren, von diesem Effekt betroffen, der ihre fiktionale Existenz in Frage stellt: The performative act of skaz and metafiction has no authentication force; fic- tional worlds projected by self-voiding and self-disclosing narratives lack au- thenticity. On the one hand, possibles seem to be brought into fictional exis- tence, since a standard narrative text is written; on the other hand, fictional existence is not achieved, because the text’s authentication force is nullified. […] The voiding of the authentication force of the narrative texture is the result of violations of the pragmatic (felicity) conditions of the performative speech act. However, the collapse of authentication can also be brought about by a semantic strategy, by introducing contradictions into the fictional world. (Doležel 1998: 162–163) Mit «authentication» ist in Doležels Theorie das Etablieren von Tatsachen auf der Ebene der fiktionalen Realität gemeint. «Fictional existence» bezieht sich lediglich auf diese Ebene. Dass Widersprüche oder Inkohärenzen un- ter diesen Vorzeichen als «disauthenticating device», als Mittel zur Irreali- sierung diegetischer Ereignisse, dienen können, entspricht meinen Überle- gungen im Zusammenhang mit Formen der Traumkennzeichnung.26 Dass 25 Auf die Tatsache, dass uns dabei die Erfahrung mit Traumwelten helfen kann, spielt der Film mehrmals an: Gleich nach seiner – ungeplanten – Reise zurück in die 1950er- Jahre sagt der ungläubig staunende Protagonist zu sich: «Ok McFly, get a grip on yourself, it’s all a dream; it’s just a very intense dream!» Und am Morgen nach der ersten in der Vergangenheit verbrachten Nacht glaubt er für kurze Zeit wiederum, es sei alles nur ein Traum gewesen. 26 Doležel selbst erwähnt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit des «‹disauthentica- ting› use of dreams» (1998: 117). 170 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a b c d e f 16a–g Visuelle Verzerrungen in Der letzte Mann (a–d) und Una lucertola con la pelle di donne (e–g) g dadurch zwingend «unmögliche» im Sinn von «undenkbare» Welten ent- stehen, erscheint mir jedoch, gerade für den Bereich der subjektiven Vor- stellungswelt fiktionaler Figuren, nicht plausibel. Selbst auf der Ebene der Diegese kann man nicht davon ausgehen, dass sich widersprüchliche Ele- mente einfach gegenseitig aufheben und die fiktionale Welt implodieren 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 171 lassen. Inkohärenzen, Folgewidrigkeiten und unlogische Verknüpfungen führen zweifelsohne zu einer Destabilisierung und Verfremdung, die un- ter Umständen so weit getrieben werden können, dass das Weltengebäude in sich zusammenfällt. Meist gerät es dadurch jedoch nur in Schieflage und kann weiterhin als Rahmen für (traumhaftes) fiktionales Geschehen dienen – vorausgesetzt, die Rezipienten bringen genügend kognitive Fle- xibilität und Lust am Irrationalen auf. 3.1.2.4 Die Gestaltung von Bild und Ton Rahmungen oder Hinweise auf der Ebene der Handlungslogik und Be- schaffenheit der Welt reichen, wie wir gesehen haben, aus, um eine Sequenz als Traum zu markieren.27 Trotzdem kann man feststellen, dass sich oft auch die audiovisuelle Gestaltung deutlich vom diegetischen Kontext abhebt: In Der letzte Mann verweist nicht nur der physisch unmögliche Kraftakt des Portiers und das absurde Verhalten der Hotelgäste, die frenetisch applau- dieren, auf den Traumstatus, sondern auch der Umstand, dass die Ereignis- se größtenteils verschwommen oder verzerrt dargestellt sind (Abb. 16a–d). In Crainquebille (F 1923) wird das groteske Benehmen der drei vorsitzen- den Richter, die auf ihre Pulte klettern und über den Protokollschreiber hin- weg in den Gerichtssaal springen, dadurch zusätzlich verfremdet, dass die Aktion in extremer Zeitlupe und teilweise im filmischen Negativ wiederge- geben wird. In Los olvidados wird der irreale Charakter der symbolträch- tigen Schlafzimmer-Szene, die bereits durch die «Aufspaltung» Pedros in eine schlafende und eine traumerlebende Figur sowie die seltsame Präsenz Jaibos unter dem Bett als Traum gekennzeichnet ist, dadurch verstärkt, dass die Bewegungsabläufe drastisch verlangsamt sind und der Dialog zwischen Mutter und Sohn mit Hall belegt ist. Hinzu kommt, dass die Geräuschkulis- se nur selektiv wiedergegeben wird: Das gackernde Huhn und den plötzlich aufkommenden Wind vernehmen wir überdeutlich; Jaibo, der trotz blut- verschmiertem Gesicht unbändig lacht, hören wir hingegen nicht, genauso wenig wie das Gerangel zwischen ihm und Pedro um das Stück Fleisch. Zu- sammen mit der – auch wegen der Zeitlupe – ungenauen Lippensynchroni- tät führt dies zum Eindruck einer seltsamen Diskrepanz zwischen Bild- und Tonspur. In André und Ursula kommt zur Zeitlupe, hallenden Akustik und lückenhaften Geräuschkulisse die Mehrschichtigkeit des Bildes hinzu: Einerseits scheint das Gesicht der schlafenden Figur wiederholt durch die Traumbilder hindurch, andererseits überlagern sich die Traumszenen selbst immer wieder oder blenden ineinander über (Abb. 17a–b). 27 Die wichtigsten Überlegungen dieses Kapitels habe ich an anderer Stelle anhand des Kurzfilms REM (CH 1991) entwickelt (vgl. Brütsch 2001). 172 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 17a–b Mehrfachbelichtungen in André und Ursula Der Wirklichkeitsstatus einer Sequenz hängt auch stark von der Be- leuchtung der Szene und Belichtung des Filmstreifens ab. Bergman und seine Kameraleute Sven Nykvist und Gunnar Fischer haben wiederholt auf son- nenüberflutete Szenerien, harte Kontraste und stark überbelichtete Passagen gesetzt – etwa in Abend der Gaukler (Gycklarnas Afton, SE 1953), Wilde Erdbeeren oder Die Stunde des Wolfs –, um ihren Traum- und Erinnerungs- darstellungen eine irreale, albtraumhafte Qualität zu verleihen (Abb. 18a–g). Neben den genannten Formen der audiovisuellen Verzerrung, Ver- fremdung, Überhöhung oder Auslassung entsteht die Differenzierung zwischen innerer Vorstellung und diegetischer Realität manchmal durch einen Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe (The Wizard of Oz, USA 1939; Shock Corridor; Johnny Got His Gun, USA 1971; Drei D, D 1988), von Farbe zu Schwarzweiß (Midnight Cowboy; Living in Oblivion, USA 1995) oder ein weitgehend monochromes Einfärben der Traumszene (orangerot in Vertigo und Dreamscape, USA 1984; blau und violett in House of Usher; grün in The Premature Burial, USA 1961; blau in The Sentinel, USA 1977)28 (Abb. 19a–e; 20a–e). Sequenzimmanent werden Träume also häufig durch eine Kombination der folgenden Gestaltungsmittel markiert: Zeitlupe, Überbelichtung, vi- suelle Verzerrung, Überblendungen, Doppel- und Mehrfachbelichtungen, Veränderungen in der Farbgebung, Hall im Ton, Absenz diegetischer Ge- räusche und Inkongruenzen zwischen Bild- und Tonspur. Diese Mittel zu eruieren ist nicht allzu schwierig; komplexer wird es, wenn man die Frage zu beantworten sucht, weshalb eine beschränkte Anzahl formaler Mittel epochen-, genre- und länderübergreifend immer wieder für die Traumdar- stellung beigezogen wird. 28 Die Dominanz einzelner Farben kann durch Beleuchtung, Filter oder nachträgliche Bildbe- arbeitung erreicht werden. In Vertigo wird die Traumszenerie nicht durchgängig, sondern mit regelmäßigen Unterbrüchen in Orangerot getaucht, was zu einer Art Blinkeffekt führt. 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 173 a b 18a–g Kontrastverschärfungen und Überbelichtungen zur Unterscheidung der Traum- und Erinnerungsbilder (b–c und e–g) von der Wachwelt (a und d) in Wilde Erdbeeren (a–c) und Abend der Gaukler (e–g) c d e f g 174 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 19a–e Sepiagetöntes Schwarzweiß versus Technicolor zur Abgrenzung von Wach- und Traumwelt in The Wizard of Oz Für die meisten Autoren, die sich Gedanken zum Traum im Film ge- macht haben, stellt sich die Frage in diesem Sinn jedoch nicht. Auf der einen Seite wird, wie wir im ersten und zweiten Kapitel gesehen haben, behauptet, im Medium Film sei es möglich, Träume so zu gestalten, dass sie der Form, in der sie uns nachts erscheinen, weitgehend entsprechen. Es werden direkte Analogien zwischen filmischen Techniken und psy- chischen Prozessen, zwischen filmischem und mentalem Bild postuliert. Überblendungen stellen das Erscheinen und Verschwinden einer inne- ren Vorstellung dar oder ermöglichen traumcharakteristische Metamor- phosen. Die Zeitlupe gibt die typische Veränderung des Zeitempfindens wieder. Die Absenz realistischer Geräusche wird mit der vorwiegenden 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 175 a b c d 20a–e Monochrome Einfärbung der Traumbilder in Vertigo (a), Dream­ scape (b), House of Usher (c–d) und The Premature Burial (e) e Bildhaftigkeit der Traumwelten in Verbindung gebracht, und visuelle Ver- zerrungen widerspiegeln ihre bizarren Verformungen. In dieser Betrach- tungsweise ist die Ästhetik der Traumdarstellung sozusagen realistisch motiviert. Traumsequenzen werden demzufolge durch diejenigen Mittel gestaltet, die am besten geeignet sind, die tatsächliche Form der Träume wiederzugeben.29 Auf der anderen Seite wird argumentiert, es handle sich bei Traum- sequenzen um reine Darstellungskonventionen. Die entsprechenden Markierungen seien arbiträre, austauschbare Signale. Eine irgendwie ge- artete Ähnlichkeit mit realen Träumen wird ausgeschlossen oder nicht in Betracht gezogen. Der Traumstatus beruhe allein auf der «Abmachung» zwischen Filmemachern und Zuschauern, eine Sequenz, die gewisse auf- fällige formale Merkmale aufweist, als Traum zu akzeptieren.30 29 Diese Auffassung findet sich – mehr oder weniger ausgeprägt – z. B. bei Münsterberg (1996 [1916]: 59–60) oder Balázs (1984 [1926–1931]: 98, 123, 127, 134–135). 30 Diese Ansicht vertreten z. B. Mitry (1990 [1963/1965]: 61–72), Metz (1972a [1967]: 43–48, 1993a [1975]: 148–149, 1995 [1991]: 120) und Branigan (1984: 16–38, 85–94). Bei einigen Autoren ist, wie wir in Kapitel 1.8 gesehen haben, die Verurteilung gewisser Traum- markierungen als klischeehafte Konventionen verbunden mit der Überzeugung, dass originellere ästhetische Lösungen durchaus wesentliche Charakteristika des Traumes auszudrücken vermögen: z. B. Petrić (1981a: 23–48) oder Hobson (1980: 15–21). 176 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Die Filmgeschichte scheint mir genug Beispiele zu liefern, um die Auffassung zu stützen, das filmische Medium verfüge über das Potenzial, bestimmte formale oder strukturelle Eigenheiten, die für die nächtliche Er- lebniswelt charakteristisch anmuten, eindringlich nachzuzeichnen. Dabei handelt es sich natürlich um kunstfertige Nachbildungen, um geschickte Evokationen gewisser Eindrücke, die gemeinhin als traumtypisch ange- sehen werden, und keineswegs um eine authentische Wiedergabe der tat- sächlichen Erscheinungsform der Träume. Denn wir dürfen nicht verges- sen, dass wir gar nicht genau wissen, wie unsere Traumwelten beschaffen sind, haben wir doch nur in schlafendem, also unbewusstem Zustand un- mittelbaren Zugang zu ihnen. Da eine direkte, überprüfbare Analogie des Filmtraums mit tatsächlichen Träumen prinzipiell unerreichbar ist, gibt es nichts einzuwenden gegen die Feststellung, Traumdarstellungen seien konventionalisiert. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sich um völlig ar- biträre Markierungen handelt, die sich im Verlauf der Filmgeschichte in bestimmten Konstellationen eingebürgert haben, die im Prinzip aber be- liebig austauschbar sind. Für diesen Standpunkt spricht zum einen, dass eine gewisse Bandbreite verschiedener Markierungsarten besteht, zum anderen, dass die meisten der eingesetzten Mittel auch ganz andere Be- deutungen tragen können. Trotzdem überzeugt die Auffassung von der Beliebigkeit und Aus- tauschbarkeit der Traummarkierungen nicht restlos. Mit Ausnahme des Wechsels von Farbe zu Schwarzweiß sind die Kennzeichnungen nämlich nicht einfach «umkehrbar». Mir ist jedenfalls kein Film bekannt, in dem sämtliche diegetischen Sequenzen unscharf, verzerrt, mit Hall belegt, über- oder mehrfach belichtet sind und sich die Traumsequenzen davon durch Schärfe, normale Belichtung und fehlenden Hall abheben. Die Belie- bigkeitsthese lässt insbesondere die Tatsache ungeklärt, weshalb trotz der Vielfalt der Möglichkeiten bestimmte Darstellungsformen über alle Epo- chen hinweg immer wieder auftauchen. Zudem entfalten die meisten die- ser Gestaltungsformen, wenn kunstgerecht eingesetzt, eindringliche Wir- kungen, die nicht klischeehaft erscheinen müssen. Ich möchte deshalb der Frage nachgehen, ob die Traumästhetik nachvollziehbaren Mechanismen folgt, die nicht direkt mit der Analogie oder Konventionalität der Darstel- lung zu tun haben. Für diesen Erklärungsversuch muss ich allerdings das Problem von der Gegenseite her aufrollen. Ich gehe dabei von der Annahme aus, dass Träume einen Gegenpol sowohl zur außerfilmischen als auch zur diegeti- schen Realität bilden, dass also ihre Irrealität als wesentlichstes Merkmal betrachtet werden kann. Ich stelle deshalb zuerst die Frage, wie real uns fil- mische Darstellungen im Normalfall erscheinen. Auf der einen Seite muss 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 177 in diesem Zusammenhang die Künstlichkeit der filmischen Darstellungs- weise hervorgehoben werden: Figuren und Objekte sind nicht wirklich präsent, erscheinen lediglich in Form reproduzierter Bilder und Töne; die Leinwand ist flach, und das Format entspricht nicht unserem Wahrneh- mungsfeld; meist werden nur fragmentarische Ansichten geboten; und oft ertönt Begleitmusik, deren Quelle nicht in der fiktionalen Szene verankert ist und für die es in der Wirklichkeit keine Entsprechung gibt. Die filmi- sche Welt ist fabriziert, künstlich erschaffen. Realität erreicht uns deshalb nie in ursprünglichem Zustand, sondern immer in medialisierter Form.31 Trotzdem kann man beobachten, dass filmische Darstellungen in der Regel einen sehr starken Realitätseindruck auslösen.32 Obwohl künst- lich produziert, erscheinen die Ereignisse mit Leben erfüllt und physisch unmittelbar präsent. Die Bilder und Töne scheinen wie aufgeladen mit Wirklichkeitscharakter. Welche Faktoren sind für diesen Realitätseindruck verantwortlich? Konstitutiv ist das motivierte Zeichenverhältnis zwischen Darstellung und Dargestelltem. Die Bilder und Töne vermögen wesent- liche visuelle und auditive Erscheinungsattribute zu reproduzieren. Die Tatsache, dass das Medium über eine Bild- und eine Tonspur verfügt, also Informationen auf zwei Sinneskanälen gleichzeitig vermittelt, verstärkt den Realitätscharakter, insbesondere wenn Synchronismus vorherrscht. Ein entscheidender Faktor ist zweifelsohne, dass wir die Bilder in Bewe- gung wahrnehmen. Neben der Tatsache, dass Bewegung von Aktivität und Leben zeugt und uns deshalb in ihren Bann zieht, ist für den Reali- tätseindruck ausschlaggebend, dass sich durch die Bewegung der Bilder – und damit die Bewegung im Bild – die zweidimensionale Leinwand in einen dreidimensionalen Raum verwandelt, die Gegenstände und Figuren sich aus der Flächigkeit lösen, Volumen und Körperlichkeit erlangen und dadurch erst physisch präsent erscheinen. Zudem werden normalerwei- se Aufnahme- und Projektionsgeschwindigkeit aufeinander abgestimmt, sodass das Tempo der Bewegungsabläufe demjenigen entspricht, das uns aus der Wirklichkeit vertraut ist. Obwohl wir im Kino also lediglich Licht und Schatten in Bewegung und Töne aus Lautsprechern wahrnehmen, können audiovisuelle Darstellungen einen starken Realitätseindruck aus- lösen. 31 Zu Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen filmischem Bild und menschlicher Wahrnehmung vgl. Brinckmann 1997 [1994]: 278–281. 32 Für die «Filmologen» – insbesondere Albert Michotte van den Berck (1948) und Jean- Jacques Riniéri (1953) – und in ihrer Folge Edgar Morin (1995 [1956]: 121–153) und Christian Metz (1968c [1965]) waren der Charakter des filmischen Realitätseindrucks und die ihn konstituierenden Faktoren ein zentrales Thema. Ich gehe in den folgenden Ausführungen teilweise von ihren Überlegungen aus, um sie in eine bestimmte Rich- tung weiterzuführen. 178 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Rufen wir uns nun die für zahlreiche Traumsequenzen charakteris- tischen Gestaltungsformen in Erinnerung, so können wir feststellen, das die meisten Manipulationen von Bild und Ton genau diejenigen Elemen- te und Faktoren im Darstellungsprozess betreffen, die für den Realitäts- eindruck konstitutiv sind. Durch Zeitlupe wird die Bewegung gebremst. Dies schwächt zwar nicht unbedingt den Eindruck von Bewegung (sie er- scheint sogar seltsam übersteigert), vermindert jedoch die Tiefenwirkung und nimmt den Figuren etwas von ihrem Volumen und ihrer Körperlich- keit. Zudem wirken durch die Manipulation der Bildlaufgeschwindigkeit die Bewegungen unnatürlich. Je nach Konstellation führt dies zu einer starken Irrealisierung der Ereignisse. Verzerrungen und Verfremdungen der Bilder und Töne beeinträchtigen die Ähnlichkeit von Darstellung und Dargestelltem. Die verschwommenen, unscharfen oder anderweitig verfremdeten Bilder lassen die Objekte zwar meist noch erkennen oder zumindest erahnen, die für den Eindruck der realen Präsenz konstitutive Analogie der Erscheinung ist jedoch gestört oder stark vermindert. Das Fehlen diegetischer Geräusche schwächt den Realitätseindruck ebenfalls, da wir es im Tonfilm gewohnt sind, dass die visuellen Sinnesinformatio- nen durch auditive ergänzt werden. Die Manipulation der Lichtintensität ist, vor allem wenn sie das ganze Bild erfasst, ebenfalls folgenreich. Denn letztlich ist bewegtes Licht, neben Schallwellen, das Einzige, was wir – physiologisch betrach- tet – im Kino überhaupt wahrnehmen. Ein massiver Eingriff in diesem Bereich, etwa eine starke Überbelichtung, erschüttert das Fundament des filmischen Darstellungsprozesses und damit auch den Realitätsein- druck. Schwarz- und Weißüberblendungen, also Bildfolgen, bei denen der Lichtstrahl des Projektors für kurze Zeit abgeblockt ist oder aber in voller Intensität durchscheint, gehören ebenfalls hierher. Dabei ist eine interes- sante Asymmetrie zu beobachten: Wird das Licht zurückgenommen, bis auf der Leinwand völlige Dunkelheit herrscht, so scheinen die Figuren und Objekte langsam zu verschwinden; wird die Lichtintensität hingegen langsam erhöht, so verschwinden die Objekte auf der Leinwand nicht, es scheint sich lediglich ihr Wirklichkeitsstatus zu verändern. Zwar werden sie aus der realen Sphäre langsam entrückt, bleiben aber noch präsent. Der Höhepunkt der Weißüberblendung stellt eine paradoxe Situation dar: Obwohl die Lichtwahrnehmung aufs Maximum gesteigert ist, vermögen wir keine Konturen und Formen mehr zu erkennen. Es entsteht der seltsa- me Eindruck einer irrealen Präsenz, denn obschon mit Sinneseindrücken überflutet, sehen wir nichts. Dieser Effekt ist wohl dafür verantwortlich, dass die Weißüberblendung im Vergleich zur Schwarzüberblendung äu- ßerst selten eingesetzt wird, und wenn sie zum Zuge kommt, dann fast 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 179 21a–p Weißüberblendung innerhalb der Traumsequenz (Aus dem Leben der Marionetten, a–g) … 180 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik … und als Endmarkierung (Seven Days to Live, h–p) ausschließlich, um einen Übergang in den Bereich des Irrealen und Sub- jektiven zu markieren, oder als Montageform innerhalb von Traumse- quenzen (Abb. 21a–p). In Traumdarstellungen wird oft eine weitere Voraussetzung für den Realitätseindruck untergraben, und zwar eine, die so elementar und selbst- verständlich ist, dass ich sie noch gar nicht erwähnt habe: Das Bild wird im Normalfall nur einmal belichtet. Die Doppelbelichtung, bei der sich zwei halb transparente, halb sichtbare Bilder flächig überlagern, bewirkt, dass die Tiefenwirkung verloren geht, Objekte und Figuren an Konsistenz und 3.1 Abgrenzung, Markierung und Figurenanbindung 181 a b c d 22a–d Mehrfachbelichtungen in Strange Impersonation (a), Dark Passage (b), The Innocents (c) und Shock Corridor (d) Körperlichkeit einbüßen und die Konturen sich verwischen. Meist ist auch die einheitliche Perspektive gestört und die Größenverhältnisse stimmen nicht mehr.33 Es handelt sich hierbei um Effekte, die den Eindruck der un- mittelbaren, materiellen Präsenz, der Dinglichkeit und Fassbarkeit der Ob- jekte stark abschwächen. Bei Mehrfachbelichtungen ist dies noch stärker der Fall (Abb. 22a–d). Aufgrund dieser Überlegungen möchte ich folgende These aufstellen: Die Tatsache, dass sich im Verlauf der Filmgeschichte bestimmte Gestaltungs- formen als dominante Traummarkierungen etabliert haben, ist nicht zufäl- lig. Es handelt sich nur zum Teil um beliebig austauschbare Mittel und Tech- niken. Wenn die Traumdarstellung gewissen Mechanismen folgt, so sind sie nicht ausschließlich im Versuch motiviert, tatsächliche Träume nachzu- zeichnen, sondern hängen mit dem filmischen Darstellungsprozess insge- samt und insbesondere der Konstitution des Realitätseindrucks zusammen. Für Träume werden in der Regel diejenigen Mittel bevorzugt, die den Rea- litätseindruck abschwächen oder gar nicht in vollem Ausmaß aufkommen lassen. Ob wir die so irrealisierten Ereignisse schließlich als Traum, Tag- traum, Vision, subjektive Erinnerung oder Halluzination auffassen, hängt maßgeblich vom Kontext und von allfälligen Übergangsmarkierungen ab. 33 Zur Wirkung der Überblendung vgl. Vernet 1988: 59–87. 182 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der Traumcharakter ei- ner Sequenz meist bereits im Vorfeld angekündigt, bei Beginn durch Tran- sitionssignale markiert oder kurz danach durch auffällige Verfremdungen erkennbar wird. Dieser offenen Form der Traumwiedergabe steht jedoch die Möglichkeit gegenüber, eine Weile mit verdeckten Karten zu spielen und den irrealen Status der Ereignisse erst allmählich oder im Nachhinein offenzulegen. Die Rezeption von Erzähltexten ist ein dynamischer Prozess, dem das ständige Bilden, Verwerfen und Neubilden von Hypothesen zugrun- de liegt.34 Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, welche Strate- gien häufig zur Anwendung kommen, um Zuschauer vorübergehend zu «falschen» Annahmen im Bezug auf den Realitätsstatus einer Sequenz zu verleiten, und welche Effekte die nachträgliche Traumoffenbarung zu ent- falten vermag.35 3.2.1 Strategien der Traumverschleierung Ohne gegenteilige Signale gehen wir von realen, in der fiktionalen Welt intersubjektiv wahrnehmbaren Geschehnissen aus. Um den retroaktiven Modus36 zu etablieren, genügt es somit im Prinzip, auf auffällige Markie- rungen zu Beginn oder im Verlauf der Sequenz zu verzichten und dafür das Ende des Traums umso deutlicher hervorzuheben. Analysiert man entsprechende Beispiele genauer, wird jedoch schnell klar, dass es einer geschickten Handhabung dieser Grundkonstellation und zusätzlicher «Tricks» bedarf, um gelungene Überraschungseffekte zu erzielen. Als Erstes stellt sich das Problem, dass das Eintauchen ins Figuren- innere und Hinübergleiten von der realen in die geträumte Welt in dem Moment, wo es stattfindet, nicht wahrgenommen, im Nachhinein aber dennoch eruierbar und plausibel werden soll. Der Beginn des Traums muss demnach als Fortsetzung der Wachhandlung erscheinen; gleichzei- tig besteht die Notwendigkeit, eine Situation zu inszenieren, die nachträg- lich als Moment des Einschlafens erkannt werden kann, und eine Form von Einschnitt oder Übergang zumindest so weit anzulegen, dass dieser 34 Vgl. Branigan 1984: 50–56. 35 Zum retroaktiven Traummodus in der Literatur vgl. Gollut (1993: 69–81). 36 Robert Eberwein hat den Begriff des «retroactive mode» im Zusammenhang mit filmi- schen Traumdarstellungen eingeführt (1984: 140–191). 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 183 23a–f Beiläufige Inszenierung des Einschlafmoments in The Avenging Conscience rückwirkend als Wechsel der Realitätsebene interpretierbar erscheint. Wie vollbringen filmische Erzählungen dieses Kunststück? Eine Strategie besteht darin, die Figur in einer Lage zu zeigen, die ein Einschlafen zwar nicht ausschließt, jedoch weniger offensichtlich sug- geriert als etwa das Im-Bett-Liegen. Wenn sich die Figur in einem Sessel niederlässt (The Avenging Conscience or «Thou Shalt Not Kill», USA 1914; The Woman in the Window, USA 1944; The Strange Affair of Uncle Harry, USA 1945) oder am Tisch sitzt und den Kopf auf die Arme stützt (Sunnyside; Dans la nuit, F 1929; Wenn d’Fraue wähle, CH 1958), so rechnen wir nicht ohne Weiteres damit, dass sie nun einschläft und ein 184 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Traum beginnen wird, insbesondere dann nicht, wenn zusätzliche Signa- le des Eindringens ins Figureninnere fehlen oder nicht eindeutig genug erscheinen, auf die wir uns bei der Traumzuschreibung normalerweise stützen. So wird etwa in The Avenging Conscience das erschöpfte Nie- dersinken des Protagonisten aus relativ großer Distanz – einer fixen Halb- totalen – gezeigt und zudem so dargeboten, dass ein Tisch und ein Stuhl im Vordergrund die Sicht auf die Figur teilweise verdecken. Der Vorgang wird also bewusst beiläufig inszeniert und nicht, wie in markierten Traum- sequenzen üblich, narrativ hervorgehoben (Abb. 23a–f). In Sunnyside, Dans la nuit und Wenn d’Fraue wähle erscheinen die Figuren zwar etwas prominenter im Bild, auch hier wird jedoch auf einen Zeigegestus mittels Kamerafahrt oder Sprung in die Großaufnahme verzichtet. Im Kapitel 3.1.1 haben wir gesehen, dass der Übergang von der Außen- in die Innenwelt neben der Annäherung ans Gesicht der Figur meist durch eine kurzzeitige Unschärfe, eine Überblendung oder eine andere Form von optischer Zäsur markiert wird, die sich vom einfachen Schnitt abhebt. Interessant ist nun, dass verdeckte Traumanfänge an der Nahtstelle zwischen realem und irrealem Geschehen – die vorerst ja gar nicht als solche erkannt werden soll – oft ähnliche oder gar dieselben op- tischen Markierungen aufweisen. In The Avenging Conscience kommt eine Schwarzblende zum Einsatz, in Sunnyside eine Irisblende, in Dans la nuit eine Kombination von Verschwimmen des Bildes und Schwarz- blende und in The Woman in the Window und The Strange Affair of Uncle Harry eine Überblendung. Wie kommt es, dass der Wechsel der Realitätsebene hier unbemerkt bleibt, obwohl eine deutliche formale Zä- sur vorliegt? Die Antwort ist relativ einfach: Die genannten optischen Transitionen können – je nach Kontext – Träger ganz unterschiedlicher Bedeutungen sein. Neben dem Übergang in die Innenwelt können sie genausogut ei- nen Raum- oder Zeitsprung anzeigen. Die retroaktive Darstellungsweise macht sich diese Polyvalenz gezielt zunutze. Sie inszeniert den Sequenz- übergang so, dass wir «fälschlicherweise» von einem Raum- oder Zeit- sprung und einer Fortsetzung der realen Wachhandlung ausgehen. Macht ein plötzliches Erwachen dann eine Neuorientierung erforderlich, lässt sich der formale Einschnitt dank seiner Mehrdeutigkeit leicht als Markie- rung des Traumbeginns uminterpretieren. Ein besonders raffiniertes Beispiel stellt The Strange Affair of Uncle Harry dar, der gleich doppelt mit der Polyvalenz filmischer Mit- tel spielt. Der Film handelt von der psychischen Unterdrückung Harrys durch seine Schwester Lettie, die um jeden Preis verhindern will, dass er von ihr unabhängig wird und Deborah, seine Verlobte, heiratet. Als Letties 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 185 24a–h Ambivalenter Übergang in The Strange Affair of Uncle Harry 186 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik vorgetäuschte Pflegebedürftigkeit sowie ihre totale Vereinnahmung Har- rys Deborah schließlich veranlasst, die Verlobung aufzulösen, drängt sich ihm der Gedanke auf, seine Schwester zu vergiften. Die Einstellung, die nachträglich als letzte Wachhandlung interpretiert werden muss, besteht aus einer Kamerafahrt auf Harry, der sich spätabends im Gartenhaus in einem Schaukelstuhl niedergelassen hat, und endet mit einer langsamen Überblendung. Dass die Szene trotzdem nicht als Einschlafsituation ge- deutet wird, liegt daran, dass Harry ein Fläschchen mit Gift so vor sich hält, dass die Fahrt auf sein Gesicht gleichzeitig eine Fahrt auf dieses be- deutungsträchtige Objekt darstellt, das er gedankenverloren anstarrt. Da- durch werden wir veranlasst, die Kamerabewegung lediglich als narrati- ven Gestus zu interpretieren, der Harrys Fokussierung des Fläschchens und dessen Rolle für den weiteren Verlauf hervorhebt, statt sie als Bewe- gung ins Innere der Figur zu deuten. Auch die Überblendung vermag uns nicht auf die Traumfährte zu bringen, denn die anschließende Einstellung der Schwester, die in den Garten tritt, lässt uns annehmen, dass der mar- kierte Übergang lediglich einen kleinen Raum- und Zeitsprung andeutet. Wenn kurz darauf Harrys Stimme aus dem Gartenhaus ertönt, gehen wir davon aus, dass er sich in der Zwischenzeit erhoben und seine Schwester erblickt haben muss, die er nun zu sich ruft (Abb. 24a–h). Neben dem Spiel mit der Mehrdeutigkeit filmischer Mittel besteht das Täuschungsmanöver also auch darin, den Traumbeginn raum-zeitlich fast unmittelbar an die letzte Wachszene anschließen zu lassen. Der vermeint- liche Wechsel vom Inneren des Gartenhauses nach draußen und das Über- springen einiger Minuten erscheint als ganz normaler Szenenanschluss in- nerhalb einer weitgehend kontinuierlichen Handlung und erhält erst nach- träglich die Bedeutung einer Zäsur, die Reales von Erträumtem trennt.37 Hinzu kommt, dass die Szenen oft so inszeniert sind, dass sie kurz vor dem eigentlichen Einschlafen der Figur abbrechen. Die letzten Ein- stellungen der Wachhandlung in The Strange Affair of Uncle Harry, Dans la Nuit und The Woman in the Window zeigen die Protagonisten zwar schläfrig und gedankenverloren, jedoch mit noch halb geöffneten Augen vor sich hin blickend oder ein Buch lesend. Findet das Einnicken der Figur nicht «verstohlen» im Hintergrund statt – wie in The Avenging Conscience –, so wird es meist durch eine kleine Ellipse übersprungen oder soweit verkürzt, dass man es nicht ohne Weiteres erkennt.38 37 Wie sehr der Produktion daran gelegen war, dass der irreale Status der Ereignisse erst im Nachhinein erkannt wird, beweist folgender Hinweis an die Zuschauer im Ab- spann: «In order that your friends may enjoy this picture, please do not disclose the ending.» 38 Am Beispiel von Abre los ojos werden wir noch sehen, dass diese Ellipse in Spezial- 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 187 Das Einschlafen der Figur wird jedoch nicht in allen Fällen verkürzt, in den Hintergrund geschoben oder gänzlich ausgelassen. Eine besonders «listige» Variante des verdeckten Traumbeginns inszeniert es im Gegenteil explizit und deutlich, macht uns aber glauben, die Figur sei nach kurzem Schlaf wieder erwacht und setze ihre Aktivitäten in der Wachwelt fort. In Strange Impersonation (USA 1946) spritzt sich die Wissenschaftlerin Nora Goodrich in einem Selbstversuch und in Anwesenheit ihrer Assis- tentin Arlene ein selbst entwickeltes Betäubungsmittel und legt sich auf eine Couch. Ihr Abtauchen in die Bewusstlosigkeit wird sodann auf eine Art inszeniert, wie sie für den Einstieg in eine Traumsequenz klassischer nicht sein könnte: Die Kamera nähert sich langsam ihrem Gesicht, bis sich ein bewegter Schleier übers Bild legt, der, durch hohe Streicher- und Harfenklänge akzentuiert, die Konturen verschwimmen lässt und in eine langgezogene Überblendung mündet. Was sich, wenn das Bild schließ- lich wieder an Schärfe gewinnt, unserem Blick offenbart, ist jedoch keine Traumwelt, sondern die Assistentin Arlene, die neben der Couch sitzt und mit Notizblock und Stift in der Hand den Schlaf ihrer Vorgesetzten über- wacht. An diesem Punkt hat es also den Anschein, als diene die optische und akustische Markierung lediglich dazu, Noras Einschlafen und nicht gleichzeitig einen Übertritt in ihr Inneres zu signalisieren. Arlene verharrt aber nicht, wie ihr aufgetragen wurde, in Beobachterposition, sondern macht sich, nachdem sie sich vergewissert hat, dass Nora fest schläft, da- ran, die mitgebrachten Chemikalien zur Explosion zu bringen, um Nora schwere Verbrennungen im Gesicht zuzufügen. Dieses hinterhältige Ver- halten schockiert zwar, erscheint im Rahmen eines Film Noir und unter Berücksichtigung vorgängiger Ereignisse – mehrere Szenen suggerierten, dass Arlene Noras Verlobten attraktiv findet und eifersüchtig sein könnte – durchaus realitätskompatibel. Die folgende Sequenz zeigt uns Nora mit verbundenem Kopf im Spital und wieder bei Bewusstsein. Erst viel später, nach zahlreichen weiteren Wendungen, stellt sich heraus, dass sie die Er- eignisse nach dem Einschlafen lediglich im Traum erlebt hat (Abb. 25a–n). In The Show (USA 1922) folgt das «falsche» Erwachen noch unmittel- barer auf das Bewusstlos-Werden und wird auch expliziter inszeniert. Als der von Larry Semon verkörperte Bühnenarbeiter beobachtet, wie einer seiner Mitarbeiter den Schmuck einer Künstlerin stiehlt, stellt er sich die- sem in den Weg, wird jedoch kurzerhand k. o. geschlagen. Die Bestohlene und eine weitere Frau eilen sofort herbei, fächern dem Helden frische Luft zu, geben ihm zu trinken und helfen ihm, sich aufzurichten. In diesem fällen trotz vorgetäuschter Kontinuität der Handlung auch um einiges umfangreicher sein kann. 188 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 25a–n Klassischer Traumeinstieg mit scheinbarer Rückkehr zur Wachwelt in Strange Impersonation 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 189 Moment kann sich der Dieb, der in der Zwischenzeit von anderen Mitar- beitern des Varietés aufgehalten wurde, losreißen und ergreift die Flucht. Unser Held ist unterdessen so weit aufgepäppelt, dass er die Verfolgung aufnehmen kann. Diese verläuft turbulent und abenteuerlich, entpuppt sich jedoch zum Schluss, als das Bild des jubelnden Larry mit der wieder- eroberten Schmucktasche überblendet in das bereits bekannte Bild des be- nommen daliegenden Larry, als Wunschfantasie eines Bewusstlosen, der erst jetzt erwacht und zu seiner Verwunderung mit leeren Händen dasitzt. Die Konstellation des expliziten Einschlafens mit vorgetäuschtem Wiedererwachen ist deshalb besonders «hinterhältig», weil uns die Er- zählung genau denjenigen Inhalt vermittelt, den sie vorgibt auszulassen. 190 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Uns wird vorgemacht, der Schlaf oder die Bewusstlosigkeit seien so kurz, traumlos oder unbedeutend, dass darüber hinweggegangen und direkt beim Wiedererwachen angeknüpft werden könne. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass sämtliche Ereignisse sich just in derjenigen Zeit- spanne und demjenigen Modus zugetragen haben, die zuvor als scheinbar inhaltslos übergangen worden waren. Eine weitere Verschleierungstaktik, die nicht weniger arglistig erscheint, besteht darin, bereits vor dem unmarkierten Übergang einen kurzen Wechsel in die Innenwelt zu vollziehen, diesen jedoch deutlich zu sig- nalisieren, sodass man den Eindruck erhält, ein expliziter Erzählmodus herrsche vor, der immer anschaulich vor Augen führt, auf welcher Reali- tätsebene man sich gerade befindet. Ein Beispiel hierfür ist La rivière du hibou (F 1962), auf den ich in den Kapiteln 3.2.2 und 4.4.2 zurückkommen werde, weshalb sein Inhalt hier kurz zusammengefasst sei: Die Geschichte spielt während des amerikanischen Bürgerkriegs und handelt von Peyton Fahrquhar, einem Plantagenbesitzer, der erhängt wird, weil er das von der Nordstaaten-Armee erlassene Verbot missachtet, sich Eisenbahnbrücken zu nähern. Die Erzählung beginnt in medias res mit den Vorbereitungen zur Hinrichtung, die am Tatort selbst, auf der Owl Creek Bridge, ausge- führt werden soll. Die Exekution misslingt jedoch, denn im entscheiden- den Moment reißt der Strick, sodass Fahrquhar unversehrt in den Fluss stürzt. In der Folge gelingt es ihm, sich von seinen Fesseln zu befreien und trotz flächendeckendem Kugelhagel stromabwärts zu entkommen. Außer Schussweite der Soldaten setzt er seine Flucht an Land fort, rennt durch unendlich scheinende Wälder, bis er schließlich sein Zuhause erreicht, wo ihm seine Frau mit offenen Armen entgegenkommt. Kurz vor der ersehn- ten Wiedervereinigung spürt er jedoch einen gewaltigen Ruck im Nacken, und im nächsten Moment baumelt er leblos am Strick, der von der Brücke herunterhängt. Die gesamte Flucht, so wird nun klar, war lediglich ein im Todesmoment halluziniertes oder erträumtes Geschehen.39 Die erwähnte Verschleierungstaktik besteht nun darin, dass dem ver- deckten Sprung in die Fluchtfantasie eine kurze Erinnerung an Frau und Kin- der vorgeschaltet ist, deren subjektiver Charakter deutlich markiert ist: Die Kamera bewegt sich langsam auf das Gesicht des Todgeweihten zu, der ge- fesselt und mit einem Strick um den Hals auf der Brücke steht und die Augen schließt. Die nächste Einstellung zeigt eine Frau und zwei Kinder vor einem stattlichen Anwesen – offensichtlich sein Zuhause –, die sich in extremer Zeit- 39 Der Film basiert auf Ambrose Bierces Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge (1891), die bereits 1929 von Charles Vidor (The Bridge) und kürzlich erneut von Brian James Egen (USA 2005) verfilmt wurde. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 191 lupe frontal auf die Kamera zubewegen, während das verfremdete Ticken einer Uhr immer schneller und lauter wird, bis der Befehl «Take his watch!» die Figur und uns abrupt in die Realität zurückholt. Die überdeutliche Mar- kierung des Sprungs in die Innenwelt konditioniert die Rezeptionshaltung der Zuschauer, die in der Folge umso leichter in die Irre zu führen sind. Für ein erfolgreiches Täuschungsmanöver muss die Erzählung also das Ein- schlafen der Figur vertuschen (oder durch ein vermeintliches Wiedererwa- chen sozusagen wieder rückgängig machen), den Sequenzübergang so ge- stalten, dass er nicht als Wechsel der Realitätsebene erkannt wird, die erste Traumszene als direkte Fortsetzung der Wachhandlung erscheinen lassen und darauf achten, dass sich die Traumwelt inhaltlich wie formal nicht zu stark vom diegetischen Kontext abhebt. Diese Bedingungen müssen aller- dings nur erfüllt sein, wenn ein diegetischer Kontext überhaupt schon eta- bliert ist, wir mit der (Wach-)Welt der Figuren, ihren Aktivitäten und somit auch dem Genre des Films also bereits vertraut sind. Ist dies nicht der Fall, so fehlt die innerfilmische Bezugsgröße, die, wie wir gesehen haben, eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob Ereignisse als Traum oder Realität in- terpretiert werden. Mit anderen Worten: Der einfachste Weg, den retroakti- ven Modus zu etablieren, besteht darin, den Film gleich mit einem Traum zu eröffnen. Das Einschlafen und der Übergang in die Traumwelt haben in die- ser Konstellation stattgefunden, bevor die Erzählung einsetzt, und müssen deshalb nicht verheimlicht werden. Und ein Setting, eine Atmosphäre oder eine Handlung, die im Widerspruch zum Genre des Films und den Reali- tätsnormen der fiktionalen Welt stehen, können erst im Nachhinein, wenn der Kontext etabliert ist, als traumbedingte Abweichung erkannt werden. Heinz im Mond (D 1934) und Belle de jour sind zwei Beispiele nicht markierter Traum- respektive Tagtraumeröffnung: Buñuels Film beginnt mit der Kutschenfahrt von Pierre und Sévérine in herbstlicher Landschaft. Der Dialog setzt in dem Moment ein, als Pierre sich der Liebe Sévérines versi- chern will. Als deren Antwort ein leichtes Zögern verrät, spricht er ihre Ge- fühlskälte an, worauf sie ihn schroff zurückweist. Gekränkt befiehlt Pierre den beiden Kutschern anzuhalten und Sévérine in den Wald zu zerren. Dort reißt er ihr das Kleid vom Leib, lässt sie auspeitschen und gibt den Kutschern schließlich, obwohl sie ihn anfleht aufzuhören, ein Zeichen, dass sie sich an ihr vergehen können. Als der erste Kutscher sie von hinten umfasst und ihren Nacken küsst, schmiegt Sévérine ihren Kopf an den seinen und ver- zieht lustvoll das Gesicht. In diesem Moment ertönt Pierres Stimme: «A quoi penses-tu, Sévérine?». Die nächste Einstellung zeigt das Paar im Schlafzim- mer, Sévérine mit gedankenverlorenem Gesichtsausdruck bereits im Bett, während Pierre eben seine Abendtoilette beendet hat und sich ihr zuwendet. 192 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Hätten wir die «realen» Figuren und ihre Situation schon kennenge- lernt – Pierre wird in der Folge als liebevoller, fast überfürsorglicher Ehe- mann dargestellt, Sévérine als Frau, die großes Unbehagen ob ihrer wohl- behüteten Situation zu verspüren scheint –, hätten wir die Szene im Wald leichter als Ausgeburt ihrer Fantasie erkannt. So wie sie uns dargeboten wird, ohne einleitende Rahmung, werden wir hingegen dazu veranlasst, das ungewöhnliche Verhalten erst einmal der Psychologie der Figuren – Pi- erre erscheint als impulsiver und sadistischer Mensch – und dem Weltent- wurf – der Film spielt offensichtlich in einer Gesellschaft, wo solche Dinge geschehen – zuzuschreiben, nicht aber dem irrealen Status der Ereignisse.40 Heinz im Mond zeigt uns in der ersten Sequenz einen unerschrockenen Cowboy, der eine weiße Frau vom Marterpfahl befreit, mit ihr die Flucht er- greift, von den Indianern aber eingeholt und in einen wilden Kampf verwi- ckelt wird – bis das Bild in ein kleinbürgerliches Schlafzimmer überblendet, in dem sich das Gerangel mit den Indianern in ein Ringen mit der Bettdecke verwandelt. Als der «Westernheld» schließlich erwacht, sehen wir neben dem Bett einen Band von Karl Mays Winnetou-Erzählungen, der den Ur- sprung seines abenteuerlichen Traums erklärt. Auch hier wähnen wir uns mangels einer etablierten Bezugsgröße vorerst eher in einem Western als in einem Traum, obwohl es natürlich irritiert, wenn eine Gesellschaftskomö- die mit Heinz Rühmann im Wilden Westen ihren Anfang nimmt. Ein Film, der mit einem nachträglich markierten Traum beginnt, stellt keine einfache Erzählkonstellation dar, auch wenn wir sie, da sie uns ge- läufig ist, leicht verstehen. Dass diese Form der Trauminszenierung be- reits um die Jahrhundertwende mit George Albert Smiths Let Me Dream Again (GB 1900) auftaucht, belegt, dass der Film schon wenige Jahre nach seiner Erfindung mit komplexeren Erzählmustern zu experimentieren be- gann. Der Miniplot von Let Me Dream Again – ein älterer Herr schäkert mit einer hübschen jungen Frau, erwacht, als er sie küssen will, zu seinem Schrecken jedoch im trauten Ehebett und in den Armen seiner hässlichen Gemahlin – kam beim Publikum offenbar so gut an, dass er in der Folge mehrfach wiederaufgenommen und variiert wurde, etwa von Ferdinand Zecca in Rêve et réalité (F 1901)41 (Abb. 26a–o). Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es besonders leicht ist, einen Traumbeginn zu verdecken, wenn er mit dem Filmanfang zusam- 40 In der Folge verwischt Belle de jour die Grenzen zwischen Realität und Traum zuse- hends, beim ersten Übergang erscheinen die beiden Welten jedoch noch klar getrennt. 41 In Let Me Dream Again wird der Übergang vom Traum zur Aufwachszene durch Unscharf- und wieder Scharfstellen des Bildes markiert, in Rêve et réalité durch eine Überblendung. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 193 26a–o Erwachen mit Überraschungseffekt in Let Me Dream Again (a–h) … 194 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik … und Rêve et réalité (i–o) 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 195 menfällt, und dass eine weitere Verschleierungstaktik darin besteht, ein scheinbares Erwachen zu inszenieren. Der maximale Täuschungseffekt ist wohl erreicht, wenn diese beiden Elemente kombiniert werden, denn was könnte den irrealen Modus unwahrscheinlicher machen, als mit dem Er- wachen des Helden zu beginnen, der sich den Schlaf aus den Augen reibt und seine Aufmerksamkeit auf die anstehenden Tagesgeschäfte richtet? Cauchemar blanc, Abre los ojos (ES/F/I 1997) und sein Hollywood- Remake Vanilla Sky (USA 2001) machen sich genau diesen Effekt zu- nutze, um die Zuschauer gleich zu Beginn in die Irre zu führen – bis ein erneutes Erwachen das erste als nur vermeintliches entlarvt und den Film- anfang retroaktiv als Traum markiert. 3.2.2 Effekte nachträglicher Kennzeichnung Nachdem es bisher um unterschiedliche Formen der Verschleierung des Traumstatus ging, möchte ich nun der Frage nachgehen, welche Wirkung seine nachträgliche Offenlegung zu entfalten vermag. Im Gegensatz zum Einschlafen und zum Einstieg in den Traum muss sein Ende und das Er- wachen in der retroaktiven Konstellation deutlich hervorgehoben werden. Durch das plötzliche Erwachen der Figur und den damit verbundenen Situationswechsel entsteht eine Diskrepanz zum vergangenen Gesche- hen, die sich nur durch eine Traumzuschreibung sinnvoll auflösen lässt. In manchen Fällen, etwa den erwähnten sehr kurzen Beispielen aus der frühen Stummfilmzeit, erscheint die abrupte Wendung lediglich als zwar amüsanter, aber eher harmloser Überraschungsgag. Wenn sich das Traum- geschehen hingegen in die Länge zieht, sehr ereignisreich gestaltet und der Handlungsverlauf zudem eine große Abweichung zwischen fantasier- ter und realer Situation entstehen lässt, so bekommt die unerwartete Wen- dung, mit der sich alles bloß als Traum herausstellt, ein anderes Gewicht. Ein Blick auf die in diesem Kapitel bereits erwähnten Beispiele macht deutlich, dass als reales Geschehen getarnte Traumerlebnisse häufig den Hauptteil der Erzählung ausmachen und sich in eine Richtung entwickeln, die sich als verhängnisvoll erweist: Im Zentrum von The Avenging Con­ science steht ein Konflikt zwischen dem Protagonisten und seinem On- kel. Dieser hat ihn als Waise bei sich aufgenommen, deshalb ist er ihm zu Dank verpflichtet; mit seiner altmodischen und autoritären Haltung steht der Onkel nun jedoch dem Liebesglück des Neffen im Weg. Ein heftiger Streit macht dem Neffen endgültig bewusst, dass seine Liebesbeziehung ohne Einverständnis des Onkels keine Zukunft hat. Nach schmerzvollem Abschied von seiner Geliebten kommt er nach Hause und sinkt in einen Sessel. Im Anschluss an diese im vorangehenden Kapitel bereits beschrie- 196 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik bene, eher unauffällige Szene setzt – unbemerkt – der Traum ein. Der Pro- tagonist schickt nun seinen Onkel unter einem Vorwand zu einer steilen Felsküste, stellt sicher, dass dessen Gang dorthin von den Dorfbewohnern bemerkt, die Rückkehr jedoch unbeobachtet bleibt. Sobald der Onkel wie- der zu Hause ist, erwürgt er ihn und mauert seinen Leichnam im Kamin ein. Die erhoffte Freiheit stellt sich jedoch nicht ein, denn nun wird der Neffe von einem Erpresser, der die Tat beobachtet hat, von einem Freund des Onkels, der immer wieder misstrauische Fragen stellt, und vor allem von seinem Gewissen in Form von Wahnvorstellungen heimgesucht, bis er sich schließlich das Leben nimmt. Als seine Geliebte davon erfährt, stürzt auch sie sich in den Tod. In diesem Moment wacht der Protagonist auf und stellt erleichtert fest, dass er die schreckliche Tat und ihre Folgen lediglich im Traum durchgespielt hat. In The Woman in the Window verläuft die albtraumhafte Verstri- ckung nach ähnlichem Muster und genauso fatal: Psychologieprofessor Richard Wanley, glücklich verheiratet, zurzeit jedoch Strohwitwer, wird auf dem Weg zum abendlichen Clubbesuch von einem Frauenporträt in einem Schaufenster in Bann gezogen. Als er es später nochmals betrachtet, steht Alice, das Modell für das Gemälde, plötzlich in Fleisch und Blut vor ihm. Richard lässt sich auf ein Abenteuer mit ihr ein, wird jedoch von ih- rem Liebhaber überrascht und bringt ihn in Notwehr um. Nach kurzem Zögern entscheiden sich die beiden gegen ein Einschal- ten der Polizei und versuchen, den Leichnam unbemerkt wegzuschaffen. Mit der Aufklärung des Falls wird ausgerechnet ein enger Freund Richards beauftragt. Dieser nimmt ihn, als die Leiche lokalisiert ist, zu einer Besich- tigung des Fundorts mit. Dabei verhält sich Richard so ungeschickt, dass er wiederholt Verdacht auf sich zieht. Hinzu kommt, dass der verschwun- dene Liebhaber einen Leibwächter hatte, der über sein Verhältnis mit der Frau informiert war und sie nun erpresst. Richard und Alice entscheiden sich, ihn zu vergiften, was jedoch misslingt. Nun sieht Richard keinen Aus- weg mehr aus der verfahrenen Situation und bereitet für sich selber eine tödliche Dosis vor. In der Zwischenzeit kommt der Erpresser in einem Feu- ergefecht mit der Polizei um. Als Alice davon erfährt, ruft sie Richard an, der mit halb geschlossenen Augen zusammengesunken in seinem Sessel sitzt, ein fast leeres Glas in der Hand und zu schwach, den Hörer abzuneh- men. Als sein Kopf auf die Brust sinkt und seine Augen zufallen, scheint sein Schicksal besiegelt. Umso überraschter sind wir, als plötzlich aus dem Off die Stimme des Clubdieners ertönt, die den Professor daran erinnert, dass es halb elf sei; dieser öffnet die Augen, und eine Fahrt vom Close-up zurück in die Halbtotale offenbart, dass wir uns immer noch im Club be- finden und das Glas in Richards Hand mit einem Rest Brandy gefüllt ist. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 197 In Dans la nuit, Strange Impersonation, The Strange Affair of Uncle Harry oder Cauchemar blanc sind die Schicksalsschläge, die die Protagonisten treffen, und die Verstrickungen, in die sie hineingera- ten, nicht weniger folgenreich. Naturkatastrophen, Unfälle oder als Unfall getarnte Attacken ereignen sich (Dans la nuit, Strange Impersonation und Cauchemar blanc), Gesichter werden verunstaltet (Dans la nuit und Strange Impersonation), Schüsse gehen – mit fatalen Folgen – unbe- absichtigt los (Strange Impersonation, Cauchemar blanc), Identitäten werden vertauscht (Dans la nuit, Strange Impersonation) und Mordab- sichten gehegt, die jedoch die Falschen treffen (Dans la nuit, The Strange Affair of Uncle Harry). In sämtlichen Fällen manövrieren sich die Pro- tagonisten in eine ausweglose Lage, die mit der Ausgangssituation stark kontrastiert, in die uns das Ende des Traums abrupt zurückversetzt. Der Moment, der sich im Nachhinein als Traumbeginn erweist, erscheint dabei oft als eine Art Scheideweg. Die Hauptfigur befindet sich in einer außer- gewöhnlichen Situation, die verschiedene Handlungsoptionen offen lässt, und wird sozusagen auf die Probe gestellt: In The Avenging Conscience und The Strange Affair of Uncle Harry steht eine Person aus dem engs- ten Familienkreis ihrem Liebesglück entgegen. Vermag der Protagonist das Dilemma zwischen Familienloyalität und Liebe aufzulösen, ohne sich zu versündigen? Die Frau in Dans la nuit ist frisch und glücklich verheira- tet. Wird sie zu ihrem Ehemann stehen, auch wenn er durch eine Explosi- on verunstaltet ist? In Strange Impersonation steht Nora Goodrich kurz vor einem Experiment, das den wissenschaftlichen Durchbruch bedeuten könnte, erhält jedoch just in diesem Moment einen Heiratsantrag. Wird sie auf das Angebot eingehen oder durch wissenschaftliche Ambitionen die Eheaussichten aufs Spiel setzen? Professor Wanley verabschiedet sich zu Beginn von The Woman in the Window von seiner Familie, die in die Ferien fährt. Wird er sich in dieser Zeit so verhalten, wie es sich für einen treuen Ehemann gehört, oder sich auf ein amouröses Abenteuer einlassen, wie es seine Faszination für das Schaufensterporträt befürchten lässt? In sämtlichen Fällen wählen die Protagonisten den – aus der moralisch- ideologischen Optik der Erzählung – falschen Weg, der fatale Folgen zeitigt und in eine Sackgasse führt, aus der erst die Traumauflösung wieder heraus- führt. Das innerlich durchlebte Drama, das die Konsequenzen moralischen Versagens drastisch aufzeigt, führt zu einer Läuterung der Hauptfiguren, die nach dem Erwachen froh sind, dass alles nur ein Traum war, und nun wissen, was zu tun ist. In Cabin in the Sky (Vincente Minnelli, USA 1943) wird diese implizite moralische Struktur durch ein Tauziehen zwischen Gottes General und Lucifer Jr., die beide versuchen, das Traum-Ich auf ihren Pfad zu bringen, gar explizit und zugleich religiös überhöht inszeniert. 198 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Die erwähnten Beispiele führen vor Augen, dass es zu einer Häufung dieser Erzählkonstellation im Hollywood der 1940er-Jahre kam – insbe- sondere im Film Noir. Neben einem in dieser Epoche und diesem Genre generell starken Interesse an der inneren Befindlichkeit des Individuums und den dunklen Seiten der menschlichen Psyche lässt sich die Beliebt- heit der rückwirkenden Traumoffenbarung auch dadurch erklären, dass sie künstlerische, kommerzielle und moralisch-ideologische Ansprüche auf eine für die Bedürfnisse und Zwänge von damaligen Hollywood-Pro- duktionen elegante Weise unter einen Hut brachte: Tragisches Schicksal und menschliches Fehlverhalten konnten bis fast zur letzten Konsequenz durchgespielt werden, trotzdem war ein – wenn auch überraschendes – Happy End möglich und die Einhaltung des Production Code garantiert, da verwerfliches Verhalten nur im Traum stattfand.42 Im Vergleich zum beschriebenen Erzählmuster stellt Cauchemar blanc ei- nen interessanten Spezialfall dar. Zwar übernimmt der Film die Grundkon- stellation, verändert sie jedoch in wichtigen Punkten: In einer französischen Banlieue lauern vier Typen zu später Stunde im Auto einem arabischstäm- migen Mann auf – offenbar in böser Absicht. Als der Gesuchte aufkreuzt, nehmen sie die Verfolgung auf, verlieren ihn in den Straßen der schlecht be- leuchteten Wohnsiedlung jedoch aus den Augen und krachen ungebremst in eine Telefonkabine. Bewohner der Siedlung werden wach und mischen sich ein, sodass die Ereignisse weiter eskalieren, bis der Anführer der Gang, von einer wütenden Menge umringt, schließlich erwacht und realisiert, dass sie immer noch auf den Araber warten. Nun taucht dieser tatsäch- lich auf, sie verfolgen und verprügeln ihn und machen sich unbehelligt aus dem Staub. Eine Bewohnerin der Siedlung, die die Szene vom Fenster aus beobachtet, wendet sich ab und löscht das Licht. Ansonsten bleibt es ruhig. Auch in diesem Fall handelt der Protagonist verwerflich, und sein Verhalten führt in die Katastrophe. Auf das Erwachen folgt jedoch keine Läuterung, der gewalttätige Übergriff wird durchgezogen, als habe das Traumerlebnis gar nicht stattgefunden. Auch stellt sich in der realen Vari- ante niemand der rassistischen Gang in den Weg. Der Albtraum des Ras- 42 Der Motion Picture Production Code (auch bekannt als Hays Code) war ein Regelwerk, das sich die großen Hollywood-Studios 1930 selbst auferlegten, um eine staatliche Zensur abzuwenden. Er wurde 1968 durch das MPAA film rating system ersetzt. Eine der Regeln besagte, dass sich Verbrechen nicht auszahlen dürfen. Gemäß Boschi (1991: 58) zwang die Produktionsfirma von The Strange Affair of Uncle Harry, Universal Pictures, Robert Siodmak die Traumauflösung, die in der ursprünglichen Drehbuchfassung nicht vorgesehen war, in letzter Minute auf, da der Protagonist ohne sie den Mord tatsächlich begangen hätte und trotzdem straffrei davongekom- men wäre. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 199 sisten – die Vorstellung einer Gesellschaft, in der genug Zivilcourage vor- handen ist, um fremdenfeindliche Übergriffe zu verhindern – erweist sich als Utopie, die an der tristen Realität scheitert. Auf eine kurze Formel reduziert, lässt sich das Erzählmuster der meisten dieser Beispiele folgendermaßen fassen: Eine angesehene und beruflich erfolgreiche Figur trifft eine falsche Entscheidung und verstrickt sich in kriminelle Handlungen, die in letzter Konsequenz ihre Existenz zerstören. Die nachträgliche Offenbarung, dass alles nur ein Traum war, stellt eine unverhoffte Rettung dar, die der Figur eine zweite Chance gibt, sich nun richtig zu verhalten. Doch der retroaktive Modus erlaubt auch eine Umkehrung dieser Konstellation: In La rivière du Hibou und Brazil erscheint die Situation in dem Moment völlig aussichtslos, wo die subjektive Fantasie – unbemerkt – einsetzt: Die Protagonisten sind von Sicherheitskräften gefasst worden, gefesselt und kurz davor, erhängt respektive gefoltert zu werden. Und nun ist es die wundersame Rettung, die sich im Nachhinein als Fantasiegebilde entpuppt, wenn uns der Tod der Figur plötzlich an den Ausgangspunkt zurückholt. Die Diskrepanz zwischen Traum und Realität, die sich schlag- artig auftut, ist in dieser Konstellation genauso groß; die Umorientierung, die uns aufgezwungen wird, verläuft jedoch in die gegenteilige Richtung: nicht vom Elend zurück ins Glück, sondern von der scheinbar wiederge- fundenen Freiheit zurück in den definitiven Untergang (Abb. 27a–j). Im Bezug auf die dramaturgische Struktur der Erzählung kann man Träu- me, die als Realhandlung ausgegeben werden, als eine Form von falscher Fährte betrachten, die uns vorübergehend zu inkorrekten Hypothesen ver- leitet. Und die nachträgliche Traummarkierung stellt eine Variante des (fi- nal) plot twist dar, der uns unvermittelt zu einer radikalen Umorientierung zwingt. In gewissen Genres, etwa dem Kriminalfilm (insbesondere dem Whodunit) oder der Gaunerkomödie, rechnen wir als Zuschauer von An- fang an damit, dass die Erzählung versuchen wird, uns in die Irre zu füh- ren und durch abrupte Wendungen zu überraschen. Das Auslegen falscher und Aufspüren richtiger Fährten gehört hier ausdrücklich mit zum Spiel, auf das wir uns bewusst einlassen.43 In den von mir erwähnten Beispielen verdeckter Traumwiedergabe handelt es sich hingegen um falsche Pfade, auf die wir unwissentlich geraten und die bewusst den «kommunikativen Pakt» zwischen Erzählung und Rezipient verletzen.44 43 Vgl. Wulff 2005. 44 In diesem Sinn entsprechen sie Britta Hartmanns enger Auffassung falscher Fährten, zu deren Definitionsmerkmal gehört, dass sie vorerst nicht bemerkt werden (1995: 154– 200 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik 27a–j Vermeintliche Rettung und Rückkehr zur ausweglosen Situation in Brazil 155). Zum Konzept des kommunikativen Pakts, den Hartmann ebenfalls hintergangen sieht, vgl. Casetti 1994. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 201 Formen der gezielten Zuschauertäuschung und Aufsehen erregende plot twists, wie sie im Film Noir bereits prominent vertreten waren, erleben im amerikanischen und europäischen Kino seit den 1990er-Jahren eine er- neute Blüte. Interessant ist, dass in diesen neueren, oft äußerst raffinierten Varianten der Irreführung zwar wiederum die mentale Disposition der Hauptfigur den Ausgangspunkt bildet, «normale» Traumerfahrungen je- doch selten die Basis für die unbemerkte Realitätsabkoppelung darstellen. Viel häufiger sind es künstlich erzeugte Traum- und Vorstellungswelten (To­ tal Recall, USA 1990; Abre los ojos; The Matrix, USA 1999; ExistenZ, GB/CA 1999; Vanilla Sky; The Matrix Reloaded, USA 2003)45 oder durch Schizophrenie und andere psychische Störungen ausgelöste Wahn- vorstellungen (Track 29, GB/USA 1988; Fight Club, USA 1999; A Beauti­ ful Mind, USA 2001; Identity, USA 2003; El Maquinista, ES 2004; Shut­ ter Island, USA 2010). Eine weitere Spielart der Bewusstseinstäuschung ist in The Sixth Sense (USA 1999) und The Others (ES/F/USA 2001) zu finden, wo die Hauptfiguren gar nicht mehr leben, ihr «Geisterdasein» uns Zuschauern wie auch ihnen selber jedoch erst zum Schluss enthüllt wird.46 Wie auch immer die Abweichung vom realen Geschehen figurenpsycho- logisch motiviert ist, die nachträgliche Offenbarung der mentalen Paral- lelwelt stellt auf jeden Fall einen starken Überraschungs- oder gar Schock- moment dar, der eine grundlegende Neuorientierung von uns verlangt. Erzählerische Wendepunkte, die alles bisher Etablierte über den Haufen werfen, laufen natürlich Gefahr, künstlich aufgesetzt oder als billiger Trick 45 Im Science-Fiction-Film ermöglicht der retroaktive Modus eine besonders interessante Konstellation: Die Erzählung kann in einer realistisch anmutenden Welt beginnen, die sich nicht wesentlich von unserer Gegenwart unterscheidet, sich im Nachhinein jedoch als virtuelle Traumwelt herausstellt, die die weit in der Zukunft angesiedelte und um einiges düsterere tatsächliche Gegenwart des Films anfangs überdeckt. The Matrix, in dem sich die reale Gegenwart der Diegese – eine dystopische Endzeitvision – erst nach Aufbrechen der Matrix offenbart, ist ein schönes Beispiel. 46 Auch komplexere Täuschungsmanöver mit falschem Erwachen, dramatischer Zuspit- zung und überraschender Schlussauflösung findet man bereits in der frühen Stumm- filmzeit, wie folgende Inhaltsangabe zu The Somnambulist (GB 1903) zeigt, die dem Lubin-Katalog entnommen ist: «The scene is laid in the boudoir of a pretty maiden, who is seen in her bed fast asleep. She is a somnambulist. Rising, she lights a candle and leaves her room. We follow her through the corridor out on the roof, where she walks as though in a trance. We follow her for a full block across the roofs of the houses until she arrives at the corner, when she turns and walks on the outer edge for a few feet and, missing her footing, she is violently thrown to the ground, fifty feet below. The picture changes, and the body is seen to fall through space and land on the ground, but by that time she is lifeless. An officer picks her up, but life is extinct. A man passing at the time assists the officer in carrying her to the hospital. Again the picture changes, and we see the maiden fast asleep in her room. Suddenly she rolls out on the floor, when she awakens and finds it but a dream, a hideous nightmare. Falling on her knees at her bedside, she prays fervently. Magnificent.» (http://imdb.com/title/tt0934957/ plotsummary, 3.4.2007). 202 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik zu erscheinen, insbesondere dann, wenn sie den Lauf der Dinge ganz zum Schluss noch um 180 Grad kehren. In der Filmkritik findet man diesbezüg- lich auch immer wieder negative Bemerkungen, etwa wenn das Ende von The Woman in the Window als «unsporting finish» bezeichnet47 oder die späte Wendung in The Sixth Sense als «dramaturgischer Taschenspieler- trick» abgetan wird.48 Aber nicht nur Kritiker, auch Filmwissenschaftler bekunden bisweilen Mühe mit der beschriebenen Erzählkonstellation. David Bordwell lässt die «‹and then I woke up› resolution» für eine B- Movie-Komödie zwar gelten, im ernsthaften Kriminalfilm erscheint sie ihm jedoch unangebracht: «But what worked in a comedy like Sh! The Octopus [USA 1936] is stridently out of place in a crime thriller, and the resolution [in The Woman in the Window] jars us by its triviality» (Bord- well 1982: 4). Tom Gunning spricht im Zusammenhang mit Langs Film vom «hackneyed feeling of the ‹it’s all dream› revelation» (2000: 304–305), und für Brooks Robards zeugen Filme wie The Woman in the Window von den «difficulties of incorporating dream sequences into film struc- ture» (Robards 1991: 121). Das folgende Zitat von Thomas Koebner bringt das verbreitete Unbehagen gegenüber der rückwirkenden «Umpolung» ganzer Erzählabschnitte, insbesondere wenn sie mit einem unerwarteten Perspektivwechsel einhergehen, deutlich zum Ausdruck: [W]enn es [das Publikum] langfristig indes auf eine Sichtweise festgelegt wird, die sich im Nachhinein, bei einer dann notwendigen zweiten Lektüre als spezifisch eingeengte Perspektive entpuppt, kann die Reaktion auch Ent- täuschung sein. Nicht, weil man zu spät bemerkt hat, dass die Leitfigur, der man Vertrauen geschenkt hat, ein Wahnsinniger oder gar ein Toter sei, son- dern weil ein solches «Umsehen» der Gesamtgestalt vor allem bei längeren Erzählungen auch in eklatanter Weise auf die unzuverlässige Wahrnehmung des Publikums verweist. Das enttäuscht nicht nur Leser oder Zuschauer, sondern es diskriminiert auch ihr Urteilsvermögen. Zugleich kann ein nach langer Zeit eintretender «Kickmoment», der alles, was vorher konstituiert wurde, in einem anderen Licht erscheinen lässt, wegen des Blitzhaften im er- forderlichen Umdenken wie ein Witz erscheinen: unerwartet, jäh, und doch, angesichts der beträchtlich angeschwollenen Erzählmasse, wie ein nachge- schobener Jahrmarktsgag. Er entwertet die zuvor aufgewendete Identifika- tion – diese Identifikation fällt besonders intensiv aus, wenn während der Handlung heftige und starke Affekte aufgerührt worden sind: Annäherung zwischen Menschen, Liebe, Hoffnung, Sehnsucht. (Koebner 2005: 22, Herv. i. O.) 47 Variety, 11. Oktober 1944, zit. in Robards 1991: 121. 48 Franz Everschor zit. in Hartmann 2005: 168. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 203 Zur Zeit des Hays Code wurde gegenüber Produzenten und Regisseu- ren zudem wiederholt der Verdacht erhoben, nachträgliche Traumauflö- sungen würden lediglich aus Furcht vor der Zensur eingefügt. In einem Artikel der New York Times vom 18. März 1945 heißt es unter der Über- schrift «Hollywood dreams again»: The dream technique of storytelling, once a studio «must not» because it was deemed too convenient and unimaginative, is back in Hollywood’s good gra- ces. […] In The Woman in the Window the artifice was used to satisfy the Hays purity code so that the married college professor’s indiscretions and homicidal experiences would be shown as imagination rather than fact. (Stanley 1984 [1945]) Und nach dem Kinostart von The Strange Affair of Uncle Harry war in derselben Zeitung zu lesen, «this business – compelled by the Hays Of- fice – of having murderers dream their crimes is becoming extremely ag- gravating» (Crowther 1970 [1945]: 2077, zit. in Robards 1991: 121). Der Vorwurf war nicht immer unberechtigt. Im Fall von Oscar Michaux’ Body and Soul (USA 1925) ist die nachträgliche Traumauflö- sung tatsächlich auf eine Intervention der Zensurbehörde zurückzufüh- ren, die sich an der negativen Darstellung eines Priesters gestört hatte.49 Da Michaux offenbar kein Geld für aufwändige Nachdrehs hatte, verän- derte er lediglich den Schluss, sodass sich die Schandtaten des Gottesman- nes lediglich als Albtraum eines Gemeindemitglieds erweisen. Fritz Lang hingegen hat das unverhoffte Happy End in The Woman in the Window mit Verweis auf die Moral der Geschichte und seine Ak- zeptanz durchs Publikum explizit verteidigt und als eigene bewusste Ent- scheidung bezeichnet: When I made Woman in the Window I was chided by critics for ending it as a dream. I am not always objective about my own work, but in this case my choice was conscious. If I had continued the story to its logical conclusion, a man would have been caught and executed for committing a murder because he was one moment off guard.50 Even were he not convicted of the crime, his life would have been ruined. I rejected this logical ending because it seemed to me a defeatist ending, a tragedy for nothing brought about by an impla- cable Fate – a negative ending to a problem which is not universal, a futile dreariness which an audience would reject. Woman in the Window enjoyed 49 Vgl. Regester 1995 und 1996, Lefèvre-Thierry 2005: 48 und http://www.imdb.com/ title/tt0015634/trivia (6.3.2007). 50 Lang spielt hier auf den Titel der Romanvorlage von J. H. Wallis (1942) an, der Once Off Guard lautet. 204 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a considerable success, and while it may be hindsight on my part, I think that with another ending its success would have been less. (Lang 1948: 28) Auch mir ist in diesem Kapitel daran gelegen, den retroaktiven Traummo- dus vor dem pauschalen Vorwurf der Künstlichkeit und billigen Effektha- scherei in Schutz zu nehmen, allerdings nicht aufgrund moralischer oder kommerzieller, sondern dramaturgischer und wirkungsästhetischer Über- legungen. Im Normalfall handelt es sich ja nicht, wie bei Body and Soul oder der Fernsehserie Dallas, um eine erst spät beschlossene und eilfertig umgesetzte Notlösung,51 sondern um eine Erzählstrategie, die vom Dreh- buch über die Inszenierung bis hin zur Montage und Postproduktion mi- nutiös geplant und verwirklicht wird. Mit meinen bisherigen Ausführungen habe ich aufgezeigt, dass be- reits die Traumverschleierung eine anspruchsvolle Angelegenheit dar- stellt. In der Folge möchte ich nun darlegen, dass für einen gelungenen retroaktiven Perspektivwechsel weitere Anforderungen hinzukommen. Wirklich überzeugend wirkt dieser nämlich nur, wenn man sich im Mo- ment des Situationsumbruchs an diverse kleine Unstimmigkeiten und An- deutungen erinnert, die eigentlich auf den irrealen Status der Ereignisse hätten aufmerksam machen müssen, dank geschickter Dosierung und Ver- teilung jedoch nur unterschwellig wirksam waren. Ein schönes Beispiel hierfür stellt La rivière du Hibou dar, auf den ich im vorangehenden Kapitel bereits eingegangen bin: Kurz nach dem unmarkierten Beginn der Fluchtvision, die, wie sich im Nachhinein he- rausstellt, Fahrquhar im Todesmoment durch den Kopf schießt, erscheinen die Ereignisse rund um ihn plötzlich in extremer Zeitlupe. Bei der ersten Vi- sionierung schreiben wir diese Verlangsamung, von der nicht nur die Bild-, 51 Die berühmt gewordene, völlig überraschende Wendung in Dallas, die die ganze 9. und das Ende der 8. Staffel (also nicht weniger als 32 Episoden) rückwirkend in einen Traum von Pamela umdefiniert, wurde tatsächlich erst gegen Ende der Dreharbeiten an der 9. Staffel von den Produzenten unter höchster Geheimhaltung beschlossen und diente dem Zweck, den Schauspieler Patrick Duffy – und mit ihm die in der 191. Folge verstorbene und der 192. feierlich beerdigte Figur Bobby – in die Serie zurückzubrin- gen, in der Hoffnung, dadurch die sinkenden Zuschauerzahlen wieder anzuheben. Das verstörende Bild des plötzlich wieder lebendig unter der Dusche stehenden Bobby (am Ende von «Blast from the Past») diente im Erstausstrahlungsjahr (1986) zudem als cliffhanger, der erst nach der Sommerpause (in «Return to Camlot») mit der rückwir- kenden Traumzuschreibung aufgelöst wurde. Die Legende will, dass die Idee auf einen Witz von Duffys Ehefrau zurückgeht (vgl. http://www.ultimatedallas.com/episode- guide/dreamzonefaq.htm, 11.3.2007), und etliche Kritiker beurteilten das spektakuläre Manöver auch als schlechten Witz, der die Serie der Lächerlichkeit preisgebe. Immer- hin hält die nachträglich zur «dream season» gewordene 9. Staffel mit über 42 Stun- den Erzählzeit, eineinhalb Jahren Ausstrahlungszeit und einer genauso beträchtlichen Spanne erzählter Zeit den Rekord für den längsten Traum der Fernsehgeschichte. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 205 sondern auch die Tonspur betroffen ist, der psychischen Verfassung und gesteigerten Wahrnehmung Fahrquhars zu, der sich eben erst vom gerisse- nen Strick befreit hat, aus dem Fluss wieder aufgetaucht ist und nun reali- siert, dass die Soldaten ihn unter Beschuss nehmen. Bei einer zweiten Visi- onierung erscheint uns die Verlangsamung jedoch als früher Hinweis auf den mentalen Charakter und die subjektive Dehnung der gesamten Episode. Zu einer ähnlichen Neubeurteilung kommt es hinsichtlich der Plausi- bilität der Ereignisse. Dass der Strick überhaupt nachgibt, obwohl ein Sol- dat seine Reißfestigkeit gerade noch getestet hatte, überrascht zwar schon im ersten Durchgang, wird jedoch akzeptiert, denn schließlich erwarten wir im Kino nicht nur Alltägliches. Dass es Fahrquhar gelingt, sich unter Wasser von seinen Fesseln zu lösen und den Gewehr- und Kanonensal- ven einer halben Kompanie unverletzt zu entkommen, erscheint auch sehr unwahrscheinlich, entspricht jedoch dem in Western-, Abenteuer- und Ac- tionfilmen gängigen Muster, dass der Held auch einer aussichtslosen Situ- ation zu entrinnen vermag. Der abrupte Tod Fahrquhars, der den Film am Ende schlagartig von einer Abenteuergeschichte in ein realistisches Drama verwandelt, entlarvt diesen stereotypen Ablauf im Nachhinein gnadenlos als Fantasiegebilde, das wenig mit der Realität zu tun hat. Auch auf einer symbolischen Ebene liefert La rivière du Hibou früh Anhaltspunkte dafür, dass Fahrquhar Gefangener seiner Imagination und seine Lage ausweglos ist. Nach dem ersten Luftholen beim Auftauchen und noch bevor er die Soldaten am Ufer bemerkt, nimmt er die taufrischen Laubblätter, das Vogelgezwitscher und krabbelnde Tiere wahr – alles Zei- chen einer soeben wiedererlangten Lebenskraft. Das letzte Naturschau- spiel, an dem sein Blick hängenbleibt, kurz bevor die Stimmen der Sol- daten seine Aufmerksamkeit absorbieren – und das eine Detailaufnahme hervorhebt –, ist hingegen eine Spinne, die dabei ist, ein in ihrem Netz gefangenes Insekt einzuwickeln. Aus dem Stimmengewirr der Soldaten, das durch die Verlangsamung der Tonspur unnatürlich tief und verzerrt klingt, kristallisieren sich sodann die Worte «in a trap» heraus, die mehr- mals wiederholt werden und bei denen nicht klar ist, ob sie dem Ausruf ei- nes Soldaten oder einer inneren Stimme Fahrquhars entstammen. Dass die optisch wie verbal angedeutete Falle nicht nur auf die momentane Lage, sondern die Gesamtsituation, und nicht nur auf die Wahrnehmung des Helden, sondern auch auf die unsere anspielt, wird uns wiederum erst im Nachhinein bewusst. Wie zu Beginn kommt es auch gegen Ende der Vision zu einer Häufung von Signalen, die ihren irrealen Status unterschwellig andeuten: Nachdem es Fahrquhar gelungen ist, stromabwärts schwimmend außer Schusswei- te zu gelangen, sehen wir ihn durch dichte Wälder rennen, offenbar ohne 206 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik festes Ziel und einzig darauf bedacht, die Soldaten möglichst weit hinter sich zu lassen. Plötzlich befindet er sich auf einer kerzengeraden Allee, und seinem ebenso verwunderten wie erfreuten Gesichtsausdruck entnehmen wir, dass er unverhofft in die Nähe seines Heims geraten ist. Die künstli- che Beleuchtung der Szenerie akzentuiert die Merkwürdigkeit des unver- mittelten Wechsels von wildnishafter zu zivilisierter Umgebung. Und der schlafwandlerische Charakter der Rückkehr wird dadurch unterstrichen, dass sich das Eingangstor wie durch Geisterhand zu öffnen scheint.52 Besonders raffiniert ist schließlich das Wiedersehen mit seiner Frau inszeniert: Fahrquhar nähert sich mit letzter Kraft seinem Ziel. Die Kame- ra gleitet, seine Perspektive simulierend, durch den Vorgarten, verdrängt letzte Äste, die die Sicht noch verdecken, und gibt endlich den Blick frei auf die Frontseite des Hauses, wo die Ehefrau schon erwartungsvoll die Treppe herunterkommt. Nur noch wenige Meter scheinen die beiden zu trennen. Ein Gegenschuss zeigt uns Fahrquhar, der auf die Kamera zu- rennt, der frontale Winkel, kombiniert mit dem Effekt des Teleobjektivs vermittelt jedoch den Eindruck, dass er kaum vom Fleck kommt. Nach erneutem Umschnitt gleitet die Kamera weiter auf die Frau zu, die sich glücklich lächelnd nähert. Es folgt wieder eine frontale Einstellung Fahr- quhars, der, beide Arme nun bereits ausgestreckt, immer noch der Kamera entgegenrennt, ohne wirklich vorwärtszukommen. Die nächsten beiden Einstellungen der Frau, wiederum jeweils im Gegenschuss des «am Ort» rennenden Mannes, irritieren noch mehr, denn zwar bewegen sich Kamera und Figur nach wie vor aufeinander zu, die Annäherung setzt jedoch jeweils an einem Punkt wieder an, der in der vorhergehenden Einstellung bereits überschritten war: Die Frau kommt wiederholt die Treppe herunter, und auch die Kamera macht zwischen den Einstellungen jeweils einen Sprung zurück. Konventionen der Montage, Raumkonstruktion und Figurenanordnung werden an dieser Stelle gezielt und immer deutlicher untergraben. Derweil sind keine diegetischen Ge- räusche mehr zu hören – auch das wirkt irrealisierend –, dafür erklingt ein Gitarrenmotiv, das durch seine Beschwingtheit zwar gut zum bevor- stehenden Wiedersehen passt, in der ständigen Wiederholung jedoch den Eindruck verstärkt, dass hier etwas – wie bei einem Sprung in der Platte – nicht stimmt. 52 Die Einstellung mit dem sich öffnenden Tor ist ein schönes Beispiel dafür, wie geschickt La rivière du Hibou irreal erscheinende Momente einbaut, die auch eine realistische Lesart zulassen. Die Bewegung der Torflügel wird nämlich nicht ganz von Anfang an gezeigt, und Fahrquhar hat an dem Punkt, wo die Einstellung einsetzt, bereits einen Schritt durchs Tor gemacht. Den seltsamen ersten Eindruck eines sich automatisch öff- nenden Tores können wir uns somit dadurch erklären, dass er es zuvor selbst aufgesto- ßen hat. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 207 Als die beiden endlich aufeinander treffen, tastet die Frau vorsichtig den Körper des Mannes ab, als könne sie gar nicht glauben, dass er noch lebt. Doch bevor ihre Hände seinen Nacken berühren, ertönt plötzlich das Geräusch eines sich spannenden Seils, ein furchtbarer Würgelaut ist zu hö- ren, Fahrquhars Gesicht verzieht sich vor Schmerz, und er wird nach hinten gerissen. Im nächsten Augenblick hängt er am Strick unter der Eulenbrücke. Die Signale, die schon während der Flucht auf den imaginären Cha- rakter der Szene hindeuten, sind also relativ zahlreich und verdichten sich zum Schluss hin. Trotzdem glaubt man bei einer ersten Visionierung bis zuletzt daran, dass Fahrquhar entkommen ist.53 Auch in vielen anderen Filmen im retroaktiven Modus kann man Elemen- te eruieren, die vor der finalen Offenbarung auf die Traumvariante hin- weisen. Häufig sind im Dialog geäußerte Andeutungen bereits vor dem verdeckten Traumbeginn. In The Woman in the Window will Professor Wanley fast zu Beginn des Films, als er vor dem Schaufenster steht, von seinen Kollegen wissen, wer die faszinierende Frau ist. «I haven’t the fain- test idea», antwortet einer von ihnen, «but we decided she’s our dream girl.» Als sie sich kurze Zeit später im Club – halb scherzhaft – über Wan- leys vorübergehende Freiheit von Ehe- und Familienpflichten unterhalten, meint ein Kollege zu Wanley: «And tell us that on the first night of your summer bachelorhood you are not going to a burlesque show?»; worauf dieser antwortet: «No, but if one of the young ladies wishes to come over here and perform about there [zeigt auf die gegenüberliegende Seite der Lounge], I’ll only be too happy to watch.» Dass das Porträt in der Folge tatsächlich zu einer «Traumfrau» – respektive Frau im Traum – wird und Wanley sich wirklich nicht aus seinem Sessel zu bewegen braucht, um ei- nem aufregenden (inneren) Spektakel beizuwohnen, können wir zu die- sem Zeitpunkt noch nicht wissen. In Strange Impersonation erfolgt die verbale Andeutung noch frü- her und erscheint um einiges expliziter: Nora Goodrich erläutert in der allerersten Szene vor Wissenschaftskollegen ihres Chemieinstituts die Wir- kung des von ihr entwickelten Betäubungsmittels: «Here is the section of the brain where the reaction will occur [zeigt auf die entsprechende Stelle an einem Modell], and it will come very quickly within seconds of injec- tion. The anaesthesia should be complete for approximatively one hour during which time the mind may indulge in dreams or fantasies normal 53 Diese Erfahrung hat sich in verschiedenen Lehrveranstaltungen bei insgesamt über 50 Studierenden bestätigt. Einige wenige schöpften in der Schlussphase der Flucht (wäh- rend der Schuss/Gegenschuss-Abfolge) Verdacht, die überwiegende Mehrheit stellte den realen Charakter der Ereignisse hingegen nicht in Frage. 208 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik or otherwise.» Deutlicher könnte der Hinweis, dass auf die Injektion und Bewusstlosigkeit eine Traumsequenz folgen wird, eigentlich nicht sein; und so wie Ankündigungen im klassischen Hollywood üblicherweise zu verstehen sind, müsste man sich eher auf außergewöhnliche («otherwise») denn auf normale Traumereignisse gefasst machen. Manchmal erweisen sich auch Dialogpartien oder Zwischentitel in- nerhalb der unmarkierten Traumsequenz als versteckte Andeutungen. In The Strange Affair of Uncle Harry reagiert Lettie auf Harrys beschwö- rende Worte, dass er den Mord an Hester gestehen werde, um sie vor der Todesstrafe zu retten, mit den Worten: «Dear Harry! Always so imagina- tive. You remember when you were a child. You used to have nightmares. And I used to comfort you and tell you that it was all in your mind.» Und in The Avenging Conscience werden die Mordvorbereitungen des Nef- fen gleich nach dem verdeckten Traumbeginn in einem Zwischentitel als «the plan of a fevered brain» bezeichnet. Die Traumhandlung baut meist geschickt auf Ereignissen kurz vor dem verdeckten Moduswechsel auf, die sich im Nachhinein als Tagesreste erweisen. Die betrunkenen Gestalten mit ihren Fastnachtsfratzen und das mit Rasierschaum verschmierte Gesicht des Ehemannes in Dans la nuit, die Vorlesung über psychologische Motive bei Mordtaten sowie das Frau- enporträt in The Woman in the Window oder die kleine Explosion im Labor und der glimpflich verlaufene Unfall auf dem Heimweg in Strange Impersonation sind alles Ereignisse und Eindrücke, die in dramatisierter Form im Traum wieder auftauchen. Auch die in La rivière du Hibou festgestellte Zuspitzung der Situati- on und Häufung irritierender Signale gegen Ende der Sequenz sind verbrei- tete Phänomene. In Strange Impersonation orientiert sich die Gestaltung der allerletzten Szene vor dem Aufwachen mit ihren verkanteten Kamera- winkeln, Doppelbelichtungen, Überblendungen, der expressiven Beleuch- tung und überfrachteten Tonspur gar relativ auffällig an Konventionen ex- pliziter Traumdarstellung. Und in The Woman in the Window und Brazil wird der unerwartete Übergang wie in La rivière du Hibou durch einen Irritationsmoment ganz zum Schluss akzentuiert: Die Hand des Butlers, die nach dem Tod von Professor Wanley ins Bild kommt und ihn an der Schul- ter stupst, können wir im ersten Moment genauso wenig einordnen wie die Gesichter der beiden Folterärzte, die sich vor die idyllische Landschaft mit dem geretteten Sam Lowry und seiner Geliebten schieben.54 54 In The Woman in the Window wird die Irritation noch dadurch verstärkt, dass der Übergang zurück in die Realität innerhalb derselben Einstellung, also ohne Schnitt in- szeniert ist. 3.2 Zeitpunkt der Markierung: Der retroaktive Modus 209 Auch für die Final-plot-twist-Filme neueren Datums ließen sich ganze Lis- ten unterschwelliger Signale und Irritationsmomente erstellen, die bereits vor dem spektakulären Wendepunkt auf die Zuschauertäuschung hindeu- ten.55 Wichtig erscheint mir dabei die Erkenntnis, dass die Zeichen meist «so unauffällig oder ambivalent [sind], dass sie nur bei äußerst aufmerk- samer, wiederholter oder verlangsamter Rezeption richtig gedeutet wer- den können» (Helbig 2005: 136).56 Ihre Funktion ist deshalb weniger, schon während der entsprechenden Szenen auf die falsche Fährte aufmerksam zu machen, als vielmehr die Dynamik und den Effekt des nachträglichen Kippmoments zu unterstützen. Verschleierte Traumdarstellungen enden, wie wir gesehen haben, ja oft damit, dass eine tot, verhaftet oder anderwei- tig in aussichtsloser Situation geglaubte Figur plötzlich wieder lebendig und frei erscheint oder dass sich im Gegenteil eine für gerettet gehaltene Figur doch als tot erweist. Die Erzählung etabliert somit unvermittelt eine krasse Diskrepanz zwischen der aktuellen Situation und den vergangenen Ereignissen. Sämtliche unterschwellig gesetzten Signale treten in diesem kognitiven «Krisenmoment»57 nun plötzlich hervor, und die ambivalent gehaltenen Andeutungen, die bisher einer realistischen Lesart untergeord- net blieben, erhalten auf einmal eine Bedeutung, sodass einem die Traum- auflösung plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt.58 In Dans la nuit wird das blitzschnelle Wiederaufrufen der wichtigs- ten Ereignisse, das in den meisten Fällen ja nicht nur im Kopf der Rezi- pienten, sondern genauso in der Figur abläuft, explizit inszeniert: Gleich nach dem Erwachen der Protagonistin folgt eine kurze Montagesequenz, in der die Schlüsselmomente der albtraumhaften Vorkommnisse in schnel- ler Abfolge nochmals evoziert und gleichzeitig Verbindungen zu fantasie- anregenden Elementen aus der Wachwelt (z. B. den Fastnachtsmasken) aufgezeigt werden. Der retroaktive Traummodus erweist sich bei genauerer Betrachtung folg- lich als überaus effektvolle und keineswegs banale Erzählkonstellation. Der Vorwurf einer künstlichen und unmotivierten Konfliktauflösung ist gegenüber manchen Beispielen zwar nicht ganz unangebracht, betrifft je- 55 Vgl. Jörg Helbig (2005) und Britta Hartmann (2005), die aus leicht unterschiedlicher Perspektive die Filme Fight Club, A Beautiful Mind und The Sixth Sense einer ent- sprechenden Analyse unterziehen. 56 Dies heizt natürlich, wie Helbig ebenfalls anmerkt (2005: 145), die Internetdiskussio- nen und DVD-Verkäufe an, was einem durchaus erwünschten, ja bewusst einkalkulier- ten kommerziellen Nebeneffekt entspricht. 57 Vgl. Hartmann 2005, die von falschen Fährten als «textpragmatischen Krisenexperi- menten» spricht. 58 Zu den mehrdeutig gestalteten Momenten gehört in vielen Fällen, wie wir gesehen haben, auch die Einschlafsituation und der verdeckte Traumbeginn. 210 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik doch weniger die Traumstruktur als die Rahmenhandlung. Sowohl in The Avenging Conscience als auch The Strange Affair of Uncle Harry liegt der Ursprung der Mordabsichten, die die Protagonisten unbewusst hegen – und aus denen die Albträume entstehen – in handfesten zwi- schenmenschlichen Konflikten, die vor dem verdeckten Traumbeginn aus- führlich in Szene gesetzt wurden. Nach dem Traumende lösen sich diese Spannungen, wenn der autoritäre Onkel der Liebesbeziehung des Neffen plötzlich zustimmt und der unselbständige Harry sich dem Einfluss sei- ner Schwester problemlos zu entziehen vermag, wie im Nichts auf. Die moralische Frage, wie auf die ausweglose Situation zu reagieren ist, und der damit verbundene innere Konflikt wurden mit Hilfe des retroaktiven Traummodus anschaulich ausgetragen, und die Läuterung der Protago- nisten erklärt sich plausibel aus den intensiv durchlebten Traumereignis- sen. Dass sich im Anschluss an die innere Besserung auch alle äußeren Kon- flikte lösen, erscheint in diesen Beispielen in der Tat etwas aufgesetzt, ist jedoch dadurch begründet, dass die Erzählung eben primär an der inneren moralischen Auseinandersetzung interessiert ist. Ich kann die negativen Einschätzungen verschiedener Filmkritiker und -wissenschaftler jedoch noch aus einem anderen Grund nicht teilen. Das besprochene Erzählmuster weist nämlich nicht nur großes dramaturgi- sches Potenzial auf, es gelingt ihm auch, wie Gollut treffend festhält, die Dynamik der tatsächlichen Traumwahrnehmung auf überzeugende Art und Weise zu simulieren: On pourrait ne voir là qu’un procédé destiné à déconcerter le lecteur. Mais on peut aussi y trouver une manière de représentation du processus psycho- physiologique dans lequel est engagé le personnage rêveur. Car l’entrée dans le sommeil n’est en principe pas perçue par la conscience qui s’endort, et le rêve ne lui apparaît pas, sur le moment, pour ce qu’il est; c’est au réveil qu’on s’avise d’avoir dormi et, peut-être, d’avoir rêvé. (Gollut 1993: 80) Und dies heißt ja nichts anderes, als dass die rückwirkende Traumkenn- zeichnung ein äußerst wirksames Subjektivierungsmittel darstellt, das uns sowohl auf der Ebene des Wissens als auch der Wahrnehmung in die Lage und Perspektive der Figur zu versetzen vermag. Roger Caillois geht in Anbetracht dieses Umstandes gar so weit, das Vorenthalten des irrealen Status als Voraussetzung für die gelungene Ge- staltung literarischer Träume zu postulieren: «[I]l ne convient en aucun cas d’annoncer au lecteur qu’il s’agit d’un rêve: tout serait perdu s’il en était averti.» Die literarische Praxis der Surrealisten, die den Traumcharakter durch bizarre Elemente offen zelebrierten, kritisiert er dementsprechend: 3.3 Verunklarung des Status 211 Certes, le rêve est volontiers incohérent et fantastique. C’est sans doute ce qui, au premier abord, frappe le plus en lui, mais il demeure beaucoup plus saisissant, que, quelles qu’en soient les inconséquences, les contradictions, les impossibilités, elles ne paraissent jamais telles au rêveur, qui les accepte comme allant de soi. Elles présentent pour lui l’épaisseur, la solidité, le carac- tère naturel et incontestable de la réalité de tous les jours. D’ou l’erreur des écrivains qui, enthousiastes du rêve à cause précisément de son aspect fan- tastique et incohérent, ont entrepris de raconter les leurs dans une rubrique spéciale de la Révolution surrealiste. Ils en forçaient à plaisir le merveilleux. Comme leur doctrine leur commandait d’une part d’identifier le rêve et la fantaisie la plus débridée, d’autre part d’opposer le plus possible le rêve à la logique et à la réalité, leurs récits sont assurément propres à déconcerter, mais ils ne donnent nullement l’impression d’être des rêves, précisément parce qu’ils prennent soin de le souligner par toutes sortes d’adjectifs appropriés. C’est agir à contre-sense, car le rêve donne, quant à lui, une impression irré- cusable d’évidence et de réalité. (Caillois 1956: 126–127) Woher Caillois die Gewissheit nimmt, dass es in der Literatur nur Platz habe für den Versuch, das unmittelbare Traumerlebnis nachzuzeichnen, bleibt allerdings offen. In meinen Augen ist es nicht angebracht, normative Vorgaben zur Traumgestaltung zu machen. Erst recht problematisch er- scheint mir, die nächtliche, direkte Erfahrung gegen die nachträgliche, in- direkte Wachperspektive auszuspielen. Unsere Existenz besteht aus einem ständigen Wechsel von Wachen und Schlafen. Im einen Zustand nehmen wir Träume für wahr, im anderen erscheinen sie uns bizarr, inkohärent und irreal. Retroaktive und sequenzimmanente Markierungsformen be- ziehen sich auf das Traumphänomen aus je unterschiedlicher Perspektive, die jedoch gleichermaßen berechtigt sind. Der retroaktive Modus stellt in meinen Augen weder einen plumpen Trick noch die einzig wahre Form der Traumwiedergabe dar; er repräsen- tiert vielmehr eine dramaturgisch und erzählperspektivisch besonders effektvolle Variante, die einen guten Teil ihrer Wirkung aus der uns wohl- bekannten Erfahrung schöpft, dass wir Traumwelten erst dann erkennen, wenn wir sie bereits verlassen haben. 3.3 Verunklarung des Status In den vorangehenden Kapiteln habe ich unterschiedliche Formen der Traumkennzeichnung analysiert. Dabei hat sich gezeigt, dass in der Re- gel mehrere Elemente kombiniert werden, um Ereignisse als irreal und subjektiv zu markieren. So wird der Traum kurz nach Beginn von Wilde 212 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Erdbeeren nicht nur verbal angekündigt, er erscheint durch Einschlaf- und Aufwachszenen sowie optisch und akustisch akzentuierte Übergän- ge auch deutlich gerahmt und ist darüber hinaus durch inhaltliche wie formale Abweichungen vom diegetischen Kontext sequenzimmanent markiert. Um der Klarheit willen oder um die Gestaltungsoptionen voll auszuschöpfen, wird eine Redundanz der Kennzeichnung oft bewusst in Kauf genommen. Gleichzeitig haben wir gesehen, dass der Traumcharak- ter für eine bestimmte Zeit auch verschleiert oder lediglich unterschwellig angedeutet sein kann. Doch auch im retroaktiven Modus wird der Status der Ereignisse im Nachhinein meist geklärt. Der mehrfachen, eindeutigen Markierung steht die Möglichkeit ge- genüber, ambivalente oder gar widersprüchliche Signale auszusenden, die die Zuschauer über den Wirklichkeitsstatus einer Sequenz nicht nur für eine gewisse Zeit, sondern permanent im Unklaren lassen. Im Folgen- den möchte ich der Frage nachgehen, welche Strategien der Verunklarung häufig zu beobachten sind und welche Wirkung die Auflösung deutlicher Grenzen zwischen Traum und Realität zu entfalten vermag. Im Kapitel 3.1.2 sind wir davon ausgegangen, dass man den Schlossbesuch Borgs in Die Stunde des Wolfs als Traum interpretieren kann, da die Er- eignisse nicht nur von allgemeinen, sondern auch von diegetisch etablierten Realitätsnormen abweichen. Zwar erscheinen auf der angeblich einsamen Insel immer wieder seltsame Gestalten, die sich absonderlich verhalten, physikalische und anatomische Gesetzesmäßigkeiten werden jedoch erst bei Borgs Besuch aus den Angeln gehoben. Kurz nach dieser Sequenz, als Alma ihren Mann im Wald sucht und schließlich am Boden liegend findet, tauchen die Schlossbewohner allerdings nochmals auf und verwandeln sich bei ihrer Attacke kurzzeitig in Raubvögel. Auch diese Ereignisse können als innere Vorstellung interpretiert werden, denn nachdem Alma dem Angriff auf Borg hilflos zugeschaut hat, befindet sie sich plötzlich wieder einsam im Wald und sucht immer noch nach ihm. Es könnte sich also auch hier um eine Angstprojektion handeln. Die Häufung der fantastischen Elemente, die nicht explizit subjektiv markiert sind, führt jedoch dazu, dass wir zunehmend al- ternative Lesarten in Betracht ziehen: Handelt es sich bei den Figuren, die die Insel bevölkern, insgesamt um Projektionen von Borg und Alma? Oder hat der Film den durch den Erzählrahmen und die Inszenierung der ersten Sequenzen gelegten realistischen Boden ganz verlassen, sodass wir besser von einem fiktionalen Universum ausgehen, das Platz bietet für fantastische Wesen, die einmal als Mensch und im nächsten Moment als Tier erscheinen? Die «Naturalisierung» der bizarren Elemente durch eine Traumzuschrei- bung erscheint gegen Ende des Films nur noch als eine mögliche Variante. 3.3 Verunklarung des Status 213 Eine zunehmende Verunklarung des Realitätsstatus lässt sich auch in Barton Fink (USA/GB 1991) beobachten. Zwar wirken Milieu und Figu- ren – wie in den meisten Produktionen der Gebrüder Coen – generell über- zeichnet, und die Szenen im alten Grand Hotel, in dem sich Barton nach seiner Ankunft in Hollywood niederlässt, erscheinen durch die visuelle Gestaltung und einige inhaltliche Details von Anbeginn in leicht irreales Licht getaucht. Trotzdem etabliert der Film eine Realitätsebene, die sich an realistischen Normen und den historischen Gegebenheiten der Filmme- tropole zu Beginn der 1940er-Jahre orientiert. Doch als Barton eines Mor- gens aufwacht und die Geliebte eines Schriftstellerkollegen, die die Nacht bei ihm verbracht hat, in einer Blutlache tot neben sich findet, erscheint die Situation so unerklärlich und vom bisherigen Handlungsverlauf ab- weichend, dass man damit rechnet, dass er schweißgebadet aufwacht und sich alles als Albtraum herausstellt. Als später allerdings zwei Detektive der Mordkommission aufkreuzen und Barton mitteilen, dass sein Zimmer- nachbar Charlie ein verrückter Killer ist, der mit Vorliebe Frauen die Kehle durchschneidet, erscheinen die Vorkommnisse plausibilisiert und ihr rea- ler Charakter bestätigt, auch wenn es nicht ganz leicht fällt, sich den jovia- len Charlie als Serienmörder vorzustellen. Als dieser gegen Ende des Films ins Hotel zurückkehrt, um die beiden Detektive auszuschalten, die unter- dessen Fink ins Visier genommen haben, kippt das fiktionale Universum jedoch wieder ins Surreale: Rund um Charlie, der nun wie einem Horror- film entstiegen scheint, entzündet sich alles Brennbare, bis schließlich das ganze Hotel in Flammen steht. Auch diese Ereignisse, auf die Barton selt- sam gefasst reagiert, lösen sich trotz ihres fantastischen Charakters nicht als Traum auf. Am Ende des Films, als sich vor Barton exakt die Szenerie mit Frau im Badekostüm darbietet, die auf einem Bild im Hotelzimmer festgehalten war, fragt man sich allerdings, welche Ereignisse sich wirklich und welche sich nur in seinem Kopf abgespielt haben. Könnte es sein, dass ihn die Fantasiewelt Hollywoods so sehr infiziert hat, dass die Ereignisse um ihn herum zu klischierten Genreversatzstücken mutiert sind? In Harry, un ami qui vous veut du bien von Dominik Moll (F 2000) ist die Ausgangslage noch alltäglicher: Ein französisches Ehepaar mit drei Kindern ist unterwegs in die Ferien. Im ersten Teil konzentriert sich die Erzählung darauf, die schwierige Beziehung des überforderten Paars auf realistische, fast dokumentarische Weise zu schildern. Im Zentrum steht dabei Michel, der es allen recht machen will, jedoch eingeklemmt ist zwi- schen den Bedürfnissen von Kindern, Frau und Eltern. In diese Situation platzt unverhofft Harry, ein Schulfreund Michels, der mit seiner Freun- din Prune unterwegs ist, jedoch anbietet, einen Abstecher zum Ferienhaus der Familie zu machen. Harry fällt die unbefriedigende Situation Michels 214 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik auf, gleichzeitig erinnert er diesen an die schriftstellerischen Ambitionen, die er in der Schulzeit gehegt hatte. Harry bleibt länger als geplant und scheint darauf erpicht, seinem Schulfreund aus der festgefahrenen Situati- on herauszuhelfen. Als das alte Auto der Familie in Reparatur muss – was wieder einmal zu Streit zwischen Michel und Claire führt –, schenkt er ihnen kurzerhand einen klimatisierten Geländewagen. Als die Großeltern zu Besuch kommen, merkt Harry jedoch, dass es nicht nur materielle Sor- gen und äußere Umstände, sondern auch Angehörige sind, die Michel in seiner Entfaltung behindern. Deshalb lockt er Michels Eltern spätabends auf eine einsame Berg- Straße und drängt sie vom Weg ab, sodass ihr Wagen in die Schlucht stürzt. Der Film nimmt hier eine drastische Wendung, die Harry in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Angesichts der Ungeheuerlichkeit seiner Tat fragen wir uns im ersten Moment jedoch, ob sie tatsächlich geschehen ist. Die Erzählung alimentiert unsere Zweifel vorerst auch, denn auf die nächtlichen Ereignisse folgt eine Einstellung, in der die Kamera lange auf dem weißgrauen Morgenhimmel verweilt – was als deutliche visuelle Zä- sur erscheint –, bevor sie sich senkt und den Blick frei gibt auf Harry, Pru- ne und die Familie, die in der Morgensonne vor dem Ferienhaus sitzen. Das Gespräch zwischen den beiden Frauen dreht sich dabei um die Frage, wie es der Tochter geht, die nachts so lange geweint hat, und ob sie wohl ein Albtraum geplagt hat. Ein Telefonanruf unterbricht das Gespräch, und dem Gesichtsausdruck von Harry, den die Kamera erst jetzt von vorn er- fasst, wie auch der Körperhaltung von Michel, der im Hintergrund den Hörer abnimmt, entnehmen wir, dass der «Unfall» wohl tatsächlich statt- gefunden hat. Als Michel die Nachricht vom Tod seiner Eltern verkündet und in der nächste Szene die Leichenhalle aufsucht, sind unsere Zweifel vorderhand ausgeräumt. Harry lässt es jedoch nicht bei der Beseitigung der Eltern bewen- den. Auch der Bruder Michels, der nach der Beerdigung beschließt, mit ins Ferienhaus zu kommen, wird beseitigt, denn er stellt in Harrys Au- gen ebenfalls ein Hindernis auf dem Weg zu Michels Selbstfindung dar. In der folgenden und letzten Nacht werden die Ereignisse schließlich noch befremdlicher. Michel, der nun wieder schreibt und deshalb spätabends wach ist, hört plötzlich ein Geräusch in der Küche. Dort überrascht er Har- ry, der einen Plastiksack sucht. Als er ihm ins Gästezimmer folgt, realisiert er, dass der Sack dazu dient, den blutenden Kopf der erschlagenen Prune einzupacken. Bis zu diesem Punkt hatte Harry seine Bluttaten erfolgreich verheimlicht oder als Unfall getarnt; nun unternimmt er jedoch nichts, um die Leiche vor Michel zu verbergen. Im Gegenteil, er gibt ihm zu verste- hen, dass ihn Michels Einschätzung, seine Freundin sei ein Hemmschuh 3.3 Verunklarung des Status 215 für ihn, zur Tat motiviert habe. Michel schreit weder auf, noch ruft er die Polizei; er starrt lediglich intensiv vor sich hin und hilft Harry gar, die Leiche zum Brunnenloch hinter dem Haus zu schleppen. Zurück in der Küche nimmt dieser zwei Messer aus der Schublade, gibt das eine Michel und weist ihn an, sich um Claire zu kümmern, er selber könne die Kinder übernehmen. Michel zögert, rammt sein Messer schließlich jedoch Harry in den Bauch. Nachdem er ihn ebenfalls in den Brunnenschacht geworfen hat, macht er sich daran, das Loch zuzuschütten. Auf diese nächtlichen Ereignisse folgt erneut eine Einstellung, in der die Kamera auf dem weißgrauen Morgenhimmel verweilt, bevor sie auf das Haus hinabschwenkt. Gegen Mittag überraschen Claire und die Kin- der Michel mit selbst gepflückten Blumensträußen. Claire gibt zu, dass sie, während Michel schlief, heimlich seinen Romanentwurf gelesen hat und beeindruckt ist. Michel entschuldigt sich dafür, dass er in den vergange- nen Tagen so unerträglich war und sagt ihr, dass er sie liebt. Sie verzeiht ihm und erwidert seine Liebesbezeugung. Die letzten beiden Szenen zei- gen eine harmonische und glückliche Familie vor dem Ferienhaus und auf der Heimfahrt im Auto. Wie kommt es, dass sich plötzlich alles einrenkt und die nächtlichen Bluttaten wie weggeblasen erscheinen? Waren die Ereignisse der Nacht – oder gar sämtliche Vorkommnisse rund um den seltsamen Harry – etwa nur ein böser Traum? So einfach lässt sich die Idylle am Schluss nicht er- klären, denn das blutbefleckte Kissen, das Michel mit den Leichen entsorgt hat, bleibt verschwunden, und der Wagen, in dem die Familie nach Hause fährt, ist der neue, klimatisierte Offroader. Oder ist den idyllischen Schluss- bildern nicht zu trauen, die die Heimfahrt der Familie zu beschwingter Musik in leichter Untersicht, Zeitlupe und Überbelichtung zeigen, so als schwebten sie auf Wolken nach Hause? Harry, un ami qui vous veut du bien lässt vieles offen, ermöglicht jedoch auch Lesarten jenseits einer ein- fachen Einteilung in Reales und Erträumtes. Statt nur im Spannungsfeld zwischen realistischem Familienporträt und groteskem Thriller kann der Film auch als allegorische Inszenierung weitgehend unbewusster, innerer Prozesse betrachtet werden. Harry und seine Taten stellen in dieser Inter- pretation die Verkörperung verdrängter Triebe und Wünsche dar, die im Inneren von Michel plötzlich wach werden. Die Beseitigung von Eltern und Bruder wie auch die in Betracht gezogene Aggression gegen Frau und Kinder können als symbolische Akte gelesen werden, die nicht im gleichen Maß als real einzustufen sind wie Handlungen in einem realistischen Dra- ma. Dass Michel sein Messer im entscheidenden Moment nicht gegen sei- ne Familie, sondern gegen Harry richtet, bringt zum Ausdruck, dass seine innere Aggression das gesunde Maß nicht überschreitet und er sich nach 216 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik der «Befreiung» vom blockierenden Einfluss seiner Angehörigen wieder in den Griff bekommt und neu auf seine Familie einlassen kann. Dies wür- de auch erklären, weshalb die im Wald versteckten und hinter dem Haus verscharrten Leichen keine Kriminalbeamten auf den Plan rufen, sondern nach durchstandenem inneren Konflikt für immer aus der Welt geschafft bleiben. Verschiedene Ereignisse in Die Stunde des Wolfs, Barton Fink und Harry, un ami qui vous veut du bien lassen sich also nicht einfach einer diegetisch-realen oder einer Traumebene zuschreiben. Vielmehr entsteht in diesen Filmen der Eindruck, dass einzelne Figuren oder Handlungs- stränge in ihrem Status schwanken zwischen realem Ereignis und Traum, subjektiver Projektion und allegorischer Veräußerlichung. Die Tatsache, dass die Traumvariante in allen drei Filmen immer wieder mobilisiert, je- doch nie definitiv bestätigt wird, trägt wesentlich zur Verunklarung des Status bei und fördert zudem Lesarten, die die Handlungen nicht nur auf der Ebene äußerer Konflikte, sondern auch innerer Auseinandersetzung begreift. Hinsichtlich der Traumsignale lässt sich festhalten: Ein schwankender Realitätsstatus kann sich insbesondere dort einstellen, wo die Markierun- gen nicht explizit und vor allem nicht redundant eingesetzt sind. Wären die erwähnten Sequenzen nicht nur durch bizarre Handlungselemente, son- dern zusätzlich durch die Inszenierung von Einschlaf- und Aufwachsze- nen und eindeutige Signale des Eindringens ins Figureninnere gerahmt, so würde kaum ein ambivalenter Eindruck entstehen. Neben der fehlenden Eindeutigkeit der Traummarkierung rührt die Verunsicherung auch da- her, dass die ungewöhnlichen Vorkommnisse dazu angelegt sind, unsere ursprünglichen Hypothesen im Bezug auf die Genrezuordnung und den Charakter der fiktionalen Welt in Frage zu stellen. So bietet sich in allen drei Beispielen neben der Psychologisierung und «Verinnerlichung» der außergewöhnlichen Ereignisse eine Verschiebung dieses Referenzrahmens vom realistischen Drama zur Groteske, zum Horror oder zur Fantastik an. Nicht nur mangelnde Redundanz, auch das Aufeinanderprallen konträrer Signale kann zu einer Verunsicherung bezüglich des Realitätsstatus führen. Ein in dieser Hinsicht besonders interessantes Beispiel stellt Laura (USA 1944) von Otto Preminger dar. Der Film ist – zumindest vordergründig – als Kriminalgeschichte angelegt, in der Detektiv McPherson den Mord an der Titelheldin aufzuklären versucht, die durch Schüsse ins Gesicht getötet wurde. Durch die Befragung verschiedener Personen aus ihrem Umfeld, die im Fall ihres väterlichen Verehrers und Förderers Lydecker zu einer Se- 3.3 Verunklarung des Status 217 rie von Rückblenden führt, erfahren wir – und mit uns McPherson – einiges über die faszinierende junge Frau. Im Zuge seiner Ermittlungen hält sich der Detektiv wiederholt in Lauras Appartment auf und stöbert auf der Su- che nach Anhaltspunkten in ihren Schubladen, liest ihr Tagebuch und ihre persönlichen Briefe. Eine längere Sequenz in der Mitte des Films zeigt Mc- Pherson, wie er spätabends innerlich aufgewühlt in Lauras Wohnung auf und ab geht, ihr Porträt an der Wand betrachtet, ihren Kleiderschrank ins- piziert und an ihren Parfümflaschen riecht. Offensichtlich hat sich der eher verschlossen und gefühlskalt wirkende Detektiv in die Tote, deren Mord er aufklären soll, verliebt.59 Nach mehreren Gläsern Whiskey schläft er in einem Sessel direkt unter dem Porträt ein. Kurze Zeit später kommt Laura plötzlich zur Tür herein, schaltet das Licht an und fragt den sich erstaunt die Augen reibenden McPherson, was er in ihrer Wohnung zu suchen hat. Ist Laura tatsächlich noch am Leben, oder handelt es sich um eine Traumerscheinung? McPhersons Faszination für die Unbekannte, sein Al- koholkonsum, die späte Tageszeit, das mit einer Kamerafahrt auf sein Ge- sicht hervorgehobene Einnicken und die wundersame «Wiederbelebung» Lauras lassen es plausibel erscheinen, dass es sich um einen Wunschtraum handelt. Unterstützt wird diese Lesart durch eine am selben Abend gefal- lene Bemerkung Lydeckers, der angesichts von McPhersons Faszination für Laura wissen wollte, ob er bereits von ihr geträumt habe. Gegen die Trauminterpretation spricht jedoch, dass auf die Fahrt zum eingenickten Detektiv keine visuelle Zäsur und auch kein Szenenwechsel folgt. Die Kamera fährt wieder zurück und zeigt, dass er durch das Ge- räusch der eintretenden Laura geweckt wird. Auch kann Laura auf Mc- Phersons Fragen, wo sie die ganze Zeit gesteckt und weshalb sie nichts vom Aufsehen erregenden Mord mitbekommen habe, plausible Antwor- ten liefern. Und da das Opfer durch Schüsse ins Gesicht verunstaltet war, könnte die Leiche tatsächlich falsch identifiziert worden sein. Echtes oder falsches Erwachen? Rückkehr zur Wachhandlung oder Fortsetzung des Traums? Die Frage lässt sich an diesem Punkt nicht schlüssig beantworten, denn die Erzählung ist bewusst so angelegt, dass beide Varianten möglich erscheinen.60 Das – insbesondere im Kontext des 59 Lydecker, der McPherson an diesem Abend kurz aufsucht und dem dessen seltsames Verhalten auffällt, macht eine entsprechende Bemerkung: «You better watch out, Mc- Pherson, or you’ll end up in a psychiatric ward. I don’t think they’ve ever had a patient who fell in love with a corpse.» 60 Kristin Thompson hat in «Closure within a Dream? Point of view in Laura» (1988) die ambivalenten Traumsignale in Laura ebenfalls untersucht. In einem wichtigen Punkt sind ihre Ausführungen jedoch ungenau: In ihren Augen mobilisiert das «track-in-and- out» der Kamera in der Einschlafszene «classic cinematic cues for a dream sequence». Dies stimmt jedoch nur teilweise, denn der klassische Traumübergang besteht nicht 218 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik klassischen Hollywood – Außergewöhnliche an Laura ist jedoch, dass der weitere Verlauf der Erzählung keine Klärung dieser Frage bringt, denn die Realitäts- und Traumsignale halten sich bis zum Schluss die Waage: Ei- nerseits bringt McPhersons fortgesetzte Investigation weitere Details ans Licht, die die Verwechslung des Mordopfers und Lauras vorübergehendes Verschwinden erklären; vor allem aber endet der Film mit der restlosen Aufklärung des Verbrechens, ohne dass McPherson aufwacht und sich Lauras Rückkehr retroaktiv und explizit als subjektive Fantasie heraus- stellt. Andererseits nehmen die Ereignisse einen Verlauf, der so sehr im Einklang mit McPhersons heimlichen Wünschen steht – Laura wendet sich sowohl von ihrem Verlobten als auch von Lydecker ab und verliebt sich in ihn –, dass wir uns fragen, ob der Schluss nicht doch einem «closure within a dream» entspricht, wie der während der letzten Sequenz im Radio verle- sene Text wörtlich suggeriert.61 Im Kapitel 3.2 haben wir gesehen, dass sich der Filmanfang für die Ver- tuschung des Traumcharakters besonders eignet, da sich Genre und Re- alitätsnormen an diesem Punkt erst noch etablieren müssen. Ambivalenz kann demgegenüber besser am Filmende erzielt werden, denn um ein Gleichgewicht zwischen sich konkurrierenden Lesarten zu etablieren, braucht es eine gewisse Vorbereitungszeit, und das Ende markiert zu- gleich die Grenze, nach deren Überschreiten definitiv keine Klärungen mehr möglich sind. Audition (Ôdishon, JP/Südkorea 1999) von Takashi Miike führt diesen Zusammenhang noch deutlicher vor Augen als Laura. Der Film beginnt als realistisches Porträt eines Mannes, der seine Frau ver- loren hat und nun die Zeit gekommen sieht, wieder zu heiraten. Mittels fingiertem Schauspiel-Casting findet er tatsächlich eine junge Frau, die ge- nau seinen Wünschen entspricht. Am ersten Wochenende, das die beiden gemeinsam in einem Hotel an der Meeresküste verbringen, verschwindet sie jedoch plötzlich. Die entsprechende Szene im Hotelzimmer ist bewusst verwirrend inszeniert: In dem Moment, in dem sich Shigeharu über Asami nur aus einer Kamerafahrt zum Gesicht, sondern zusätzlich aus einer Überblendung und einem Szenenwechsel, der von der realen in die Traumsituation hinüberführt. Wäre die Stelle in Laura so inszeniert, hätten wir kaum Zweifel, dass es sich um einen Traum handelt. Die Rückwärtsbewegung der Kamera erfolgt jedoch in derselben Ein- stellung und ohne dass die Einschlafszene verlassen wird. Auch das gleich anschlie- ßende Erwachen McPhersons erwähnt Thompson nicht explizit, obwohl es maßgeblich für die Ambivalenz der Szene verantwortlich ist und, wie wir am Beispiel von Strange Impersonation gesehen haben, alles andere als eine klassische, explizite Traumeröff- nung darstellt. 61 In der multiperspektivisch erzählten Romanvorlage (Laura von Vera Caspary, 1942) wird auf die Traumoption zwar ebenfalls angespielt, die Ambivalenz wird jedoch nicht lange aufrechterhalten. 3.3 Verunklarung des Status 219 beugt, um sie zu umarmen, folgt ein Schnitt zum unteren Teil des Betts, die Decke wirbelt geräuschvoll herum, und als die Kamera wieder hochfährt, liegt Shigeharu allein da und erhebt sich mit schwerem Kopf, als habe er lang und tief geschlafen. Hat er die Episode mit der Frau nur geträumt, oder hat die Erzählung einen abrupten Zeitsprung vollzogen, während dem Asami aus noch unerfindlichen Gründen tatsächlich abgereist ist? Ein Anruf der Rezeption, die sich erkundigt, ob er nach der Abreise seiner Begleiterin eine weitere Nacht zu bleiben gedenke, bestätigt vorerst die zweite Variante. In der Folge versucht Shigeharu Asami telefonisch zu erreichen und macht sich, als niemand antwortet, auf die Suche nach ihr. Von verschiedenen Personen aus ihrem Umfeld erfährt er seltsame Din- ge über sie, seine Nachforschungen verlaufen jedoch im Sand. Als er sich eines Abends erschöpft in seinen Sessel fallen lässt, scheint er resigniert zu haben. Nach einem großen Schluck aus dem Whiskeyglas fühlt er sich plötzlich unwohl und fällt mit Lähmungserscheinungen zu Boden. Es folgt eine Reihe kurzer Szenen, die ihren Ausgangspunkt in Erlebnissen der ver- gangenen Tage haben, jedoch zusehends den Charakter bizarrer Horrorvi- sionen annehmen. Im nächsten Augenblick fällt Shigeharu erneut zu Bo- den, sodass wir die verstörenden Ereignisse als sekundenschnelle innere Bilderflut interpretieren. Nun taucht überraschend Asami auf, ausgerüstet mit Lederschürze, Handschuhen und einem Koffer voll Folterwerkzeug. Genüsslich macht sie sich daran, dem wehrlosen Shigeharu Nadeln in die Augenlider zu stechen und seine Füße abzusägen. Als Shigeharus Sohn nach Hause kommt und Asami einen Schuss auf ihn abfeuert, schreckt Shigeharu hoch und befindet sich wieder im Hotelbett neben Asami, die friedlich an seiner Seite schläft. Der irritierende Übergang in der Mitte des Films war also doch keine Ellipse, sondern ein verdeckter Traumbeginn mit einem falschen Erwa- chen als Ausgangspunkt. Trotz der nachträglichen Traumauflösung lassen sich die brutalen Folterszenen, die in der Erzählung beträchtlichen Raum einnehmen, jedoch nicht einfach beiseite schieben, sodass Asamis zärtlich ausgesprochene Worte, sie nehme seinen Heiratsantrag an, nun wie eine Drohung klingen und Shigeharu innerlich erschauern lassen, obwohl er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte. Ob die schrecklichen Ereignis- se wirklich nur ein Albtraum waren, bleibt am Schluss jedoch vor allem deshalb offen, weil dem erschöpft im Hotelbett liegenden Shigeharu die Augen bald wieder zufallen, worauf die Folterszene genau dort wieder einsetzt, wo sie vor dem abrupten Aufwachen aufgehört hatte. Und nun folgt kein Erwachen mehr, denn nachdem es Shigeharus Sohn gelungen ist, Asami zu überwältigen und zur Rettung seines verstümmelten Vaters den Notarzt zu rufen, läuft der Abspann übers Bild. 220 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Die Tatsache, dass auf die verstörenden Schlussbilder keine weitere Se- quenz folgt, die als Rahmen oder Bezugsgröße bei der Zuordnung helfen könnte, trägt also wesentlich zur ambivalenten Wirkung von Auditions Ende bei. Eine deutliche Rahmung und klare Verortung einzelner Szenen kann jedoch schon vor der Schlussphase untergraben werden. Erschwert ist die Orientierung zum Beispiel dann, wenn die Figurenanbindung ge- lockert und der Faden der äußeren Handlung nach subjektiven Einschü- ben nicht dort wieder aufgenommen wird, wo sie verlassen wurde. Die Schwierigkeit, sich im Universum von Federico Fellinis Otto e mezzo (I/F 1962) zurechtzufinden, hängt zu einem guten Teil von diesem Effekt ab: Träume, Visionen und Erinnerungen wechseln fast bruchlos mit real erscheinenden Szenen ab, und die Übergänge sind so gestaltet, dass die Rückkehr auf die diegetisch-reale Ebene meist mit einem Raum- und Zeit- sprung verbunden ist, sodass wir uns jedes Mal neu orientieren müssen. Auch die Anbindung an Guidos Innenwelt erfolgt oft nur implizit, ist er doch manchmal vor und nach den Übergängen gar nicht im Bild. Hinzu kommt, dass auch die als real etablierte Ebene – Guidos Kuraufenthalt, den er mit den Vorbereitungen zu seinem neuen Film verbindet – in zu- nehmendem Maß von surrealen Elementen durchsetzt ist, sodass es im- mer schwieriger wird, eine klare Grenze zwischen Realität und Fantasie, Außen- und Innenwelt zu ziehen.62 Noch verwirrender als lose Strukturen wirken Multiplikationen und Verschachtelungen subjektiver Sequenzen. Die Handlung von Living in Oblivion beginnt auf einem Low-Budget-Filmset, wo der Dreh einer län- geren Einstellung ansteht, die Nick, dem Regisseur, besonders am Herzen liegt. Ins Bild ragende Mikrophone, Lärm von der Straße, platzende Lam- pen, ein sich übergebender Kameramann und zuletzt ein unerklärliches Piepsen, das nirgends lokalisiert werden kann, verwandeln den Drehtag in einen Albtraum – bis Nick schweißgebadet aufwacht und sich heraus- stellt, dass das Piepsen von seinem Wecker stammt. Der Drehtag, nun nicht mehr in körnigem Schwarzweiß, sondern in Farbe, und, wie wir an- nehmen, nicht mehr als Traum, sondern als reale Handlung, beginnt von Neuem. Wieder kommt es zu Komplikationen, diesmal nicht mehr tech- nischer, sondern zwischenmenschlicher Art, und wieder schreckt, als sich die Lage zuspitzt, jemand aus dem Schlaf, nun jedoch nicht Nick, sondern Nicole, die Hauptdarstellerin. Die Realität, in der Nick aus seinem Traum erwacht ist, stellt sich im Nachhinein als Traum von Nicole heraus. Der 62 Bei einigen Verleihern scheint diese Schwierigkeit Unbehagen ausgelöst zu haben, denn gemäß Antonio Costa (1995: 201) kamen in Italien Kopien in Umlauf, bei denen durch Einfärbungen in Ocker versucht wurde, traumartige Sequenzen von realen ab- zugrenzen. Es wäre interessant zu sehen, wo die Grenze gezogen wurde. 3.3 Verunklarung des Status 221 Drehtag beginnt nun ein drittes Mal; das Gefühl zu wissen, auf welcher Realitätsebene wir uns befinden, ist jedoch definitiv erschüttert, zumal jetzt der Dreh einer Traumsequenz auf dem Plan steht, bei dem wiederum einiges aus dem Ruder läuft. Noch stärker auf die Spitze getrieben wird die Multiplikation des retroaktiven Modus in Le charme discret de la bourgeoisie von Luis Buñuel (F 1972), wo nicht weniger als vier verschiedene Figuren an unter- schiedlichen Stellen der Erzählung plötzlich aus dem Schlaf aufschrecken und wir die vorangehenden Szenen rückwirkend zu Traumerlebnissen umdeuten müssen. Dabei können wir die Länge der Traumsequenzen je- doch nicht abschätzen, da – im Gegensatz etwa zu The Strange Affair of Uncle Harry oder The Woman in the Window – keine im Nach- hinein identifizierbaren Einschlafmomente inszeniert wurden. Hinzu kommt, dass innerhalb der retroaktiv markierten Traumsequenzen bereits verschiedene Erinnerungs- und Traumerzählungen transvisualisiert wur- den, sodass es am Schluss unmöglich ist zu entscheiden, was von wem geträumt und was tatsächlich geschehen ist. Während das Spiel mit den Realitätsebenen in Le charme discret de la bourgeoisie als subversive mise en abîme konventioneller Erzähl- strukturen erscheint, die mit einem Distanzierungseffekt verbunden ist und den Traummodus bis zu einem gewissen Grad entpsychologisiert,63 führt das undurchschaubare Hin und Her zwischen Traum und Realität in Abre los ojos dazu, dass wir immer tiefer in die sich überstürzenden Er- eignisse und die verwirrte Psyche der Hauptfigur hineingezogen werden. Dabei kommt es mehrmals vor, dass eine spektakuläre Wendung durch die nächste gleich wieder aufgehoben wird, wie folgender Erzählabschnitt zeigt: César, ein erfolgreicher, gut aussehender Mann, verliebt sich an einer Party in Sofía. Nachdem er sie nach Hause begleitet hat, passt ihn Nuria, seine eifersüchtige Ex-Geliebte, ab und überredet ihn, auf ein letztes se- xuelles Abenteuer zu ihr zu kommen. Auf dem Weg dorthin rast sie in einer Kurve über den Straßenrand hinaus, sodass das Auto in eine Mauer kracht. In der folgenden Sequenz sehen wir César unversehrt durch ei- nen Park gehen, wo er Sofía trifft, die ihn fragt, ob er gut nach Hause ge- kommen sei. Er bejaht und erzählt, er habe allerdings einen schrecklichen Traum gehabt: Seine Ex-Geliebte habe ihm angeboten, ihn nach Hause zu fahren, dann jedoch absichtlich einen Unfall gebaut, der sein Gesicht völ- lig entstellt habe. Darauf will Sofía wissen, ob nach seiner Rückkehr noch jemand an der Party gewesen sei. César schaut sie verwirrt an: welche Par- ty? Da erklingt das Geräusch eines Weckers und er erwacht. Vorerst sehen 63 Vgl. Moine 2001: 97–100. 222 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik wir ihn nur von hinten und im Gegenlicht; doch als er im Badezimmer das Licht anknipst, steht er mit furchtbar entstelltem Gesicht vor uns. Ein ganz ähnliches Wechselbad der Gefühle entsteht an einer zentra- len Stelle in Absolut von Romed Wyder (CH 2004), wo Alex’ Flucht aus der Klinik so inszeniert ist, dass sie zuerst real, als er in der Neurologie- abteilung mit Elektroden am Kopf aufwacht, als Traum, kurz darauf, nach erneutem Hochschrecken am Zufluchtsort, jedoch wieder real erscheint. Wenn die Erzählung innert kurzer Zeit mehrere sich gegenseitig aufhe- bende Umpolungen vornimmt, bei denen unser Wissensstand permanent an eine Figur gekoppelt ist, die psychisch immer labiler erscheint, so zwei- feln wir nicht nur an deren Wahrnehmung, sondern zunehmend auch an der Verlässlichkeit der Erzählung. Die Verunsicherung rührt nicht zuletzt daher, dass die Multiplikation des retroaktiven Modus zu einer ständigen Wiederholung gleicher oder ähnlicher Szenen führt, deren Realitätsstatus mit jeder neuen Auflage fragwürdiger erscheint. Einige der in diesem Kapitel erwähnten Beispiele, etwa Le charme discret de la bourgeoisie, befinden sich bereits an der Grenze zu Erzählformen, die nicht mehr von einer konsistenten Welt und einer nachvollziehbaren Handlungslogik ausgehen. Ein Schritt weiter in diese Richtung führt zu modernistischen Werken wie Alain Resnais’ L’année dernière à Mari­ enbad (F/I 1960), in denen der Versuch, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden, definitiv ins Leere läuft, da gar keine verbindliche Reali- tätsebene mehr vorausgesetzt wird. Ebenfalls gesondert zu betrachten wä- ren labyrinthische Erzählstrukturen wie in Davis Lynchs Lost Highway oder Mulholland Dr. (USA/F 2002), die eine realistisch-psychologische Lesart zwar immer wieder anregen, durch die Inkohärenz ihres fiktionalen Universums jedoch unterlaufen. 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung Die bisherigen Ausführungen zur Traumkennzeichnung haben eine Viel- zahl von Gestaltungsoptionen und Markierungsformen herausgestellt, die in spezifischen Kombinationen unterschiedliche Wirkungen entfalten. Zum Schluss des dritten Kapitels möchte ich nun der Frage nachgehen, ob sich in der Fülle von Möglichkeiten Tendenzen ausmachen lassen, die sich in unterschiedlichen Epochen oder Genres als dominante Traumästheti- ken etabliert haben. In Kapitel 3.1 haben wir festgestellt, dass Traumsequenzen um der Klarheit willen meist durch Kombination verschiedener Elemente mar- 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 223 b a c d 28a–d Visuelle Verfremdung durch Schleie r, Netze und andere Muster in The Black Angel (a), Rosemary’s Baby (b), House of Usher (c) und Three Women (d) kiert werden. Oft nimmt die Häufung der Signale jedoch ein Ausmaß an, das sich nicht allein mit der Angst vor Unklarheit begründen lässt. In Fil- men wie Die kleine und die grosse Liebe, Ich hab’ von dir geträumt, Murder, My Sweet, The Black Angel, Dark Passage, Demokratie in Gefahr (CH 1949), Vertigo, The Innocents, The Premature Burial oder Midnight Cowboy erscheint die Multiplikation der Markierungs- formen vielmehr als eigentliches ästhetisches Programm, das über die Traumkennzeichnung hinaus mit spezifischen Effekten verbunden ist. Charakteristisch für die erwähnten Beispiele sind diverse Formen visueller Verfremdung, Vervielfachung und Dynamisierung. Unschär- fen, Doppel- und Mehrfachbelichtungen, bewegte Netze, Schleier, Wellen oder andere Muster, die sich übers Bild legen, sowie Objekte und Figuren, die sich multiplizieren, führen zu einer Verdichtung und «Verkomplizie- rung» der visuellen Information (Abb. 28a–d). Hohe Schnittfrequenzen, die Betonung der Diagonalen, unübliche Kamerabewegungen, sich rasant drehende Objekte und Bilder oder das Motiv des Fliegens und Stürzens wirken beschleunigend. Durch Point-of-View-Einstellungen, Bewegungen auf uns zu und Blicke direkt in die Kamera werden wir dem Geschehen zudem häufig frontal ausgesetzt (Abb. 29a–f). Nicht nur die Bild-, auch die Tonspur erscheint durch eine Anhäufung von Dialogfetzen, Geräuschen und musikalischen Klängen überladen und durch Hall, Verzerrungen und Dissonanzen stark verfremdet. Vereinzelt kommen Spezialeffekte wie 224 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik d a e b f 29a–f Frontale Ausrichtung zur Ka- mera in André und Ursula (a), Wilde Erdbeeren (b), Midnight Cowboy (c), House of Usher (d), Dreamscape (e) und The Manchurian Canidate (f) c stroboskopisches Licht, ein schneller Wechsel von Schwarzweiß und Far- be oder die Verwendung von Filmnegativ hinzu. Insgesamt wirken derart gestaltete Traumsequenzen optisch wie akustisch überfrachtet und sind dazu angelegt, die Sinne mit starken Reizen zu überfluten (Abb. 30a–d).64 Ihren Ursprung scheint diese exzessive Form der Traumgestaltung in Rauschdarstellungen der Stummfilmzeit zu haben. Bereits in The Dream of a Rarebit Fiend wurde Trunkenheit durch eine optische Vervielfa- chung und Dynamisierung vermittelt: Als sich der Restaurantbesucher nach ausgiebiger Zecherei auf den Heimweg macht, ist das Bild mindes- 64 Deuleuze vertritt ein ähnliches Konzept, wenn er als eine Ausrichtung der Traumäs- thetik von den «images-rêve [produits] par des moyens riches et surchargés, fondus, surimpressions, décadrages, mouvements complexes d’appareils, effets spéciaux, ma- nipulations de laboratoire, allant jusqu’à l’abstrait» spricht (1985: 79). 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 225 a b c d 30a–d Traumbilder mit umgekehrten Tonwerten in Liebe 47 (a–b; Wiedergabe im Negativ) und Girl on a Motorcycle (c–d; Verfremdung durch Solarisierung) 31a–c Rauschdarstellung durch Kame- rabewegung und Mehrfachbelichtung in The Dream of a Rarebit Fiend 226 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a d b e c f 32a–f Verfremdung und Dynamisierung der … und Geheimnisse einer Seele (d–f) Traumbilder in Der letzte Mann (a–c) … tens dreifach belichtet. Zur schwankenden Einstellung des Trunkenbolds kommen mehrere Schichten hinzu, die von um ihre eigene Achse rotieren- den Kameras stammen (Abb. 31a–c). Barry Salt erwähnt zwei Filme der frühen 1910er-Jahre, die Rauschzustände ebenfalls durch eine Akkumula- tion von Überblendungen, Mehrfachbelichtungen und unüblichen Kame- rabewegungen zum Ausdruck bringen: Victorin Jasset’s Zigomar contre Nick Carter [F 1912] contains a sequence in a opium den, and the drugged vision of one of the clients is represented 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 227 a d b e c f 33a–f Verzerrung und Vervielfältigung des … und Dark Passage (d–f) Bildinhalts in Murder, My Sweet (a–c) … as a series of superimpositions overlaid onto the main scene, and these even- tually build up into a set of multiple images within the one frame. There is a development of this idea the next year in the Itala company’s Tigris [Vincen- zo Denizot, I 1913]. This is mostly a rather clumsy imitation of the earlier «Zi- gomar» criminal mastermind thrillers by Jasset, but a drug vision in it takes the device closer to the later standard form of the montage sequence. As the effect of the drug takes hold, this is represented by tilting the frame sideways, then superimposing a series of dijointed images fading and dissolving in and out on a patterned background. (Salt 1992 [1983]: 109) 228 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Die Rausch- und Traumdarstellung in Der letzte Mann folgt ebenfalls dem Prinzip der Verfremdung, Dynamisierung und Überfrachtung. Durch schnelle Fahrten, Schwenks und verzitterte Bewegungen erscheint die Ka- mera regelrecht entfesselt; und optische Verzerrungen, Doppelbelichtungen und expressive Lichteffekte tragen das Ihre zu einem Überborden der Sin- nesreize bei. Auch Teile der Traumsequenz in Geheimnisse einer Seele – etwa die Ankunft des Vetters mit der Eisenbahn – sind geprägt von kom- plexen optischen Verdichtungs- und Verfremdungseffekten (Abb. 32a–f). Deutsche Stummfilme der 1920er-Jahre – unter anderem Murnaus Der letzte Mann – übten großen Einfluss nicht nur auf die Filmprodukti- on anderer europäischer Länder, sondern vor allem auch Hollywoods aus, dessen System durchaus gewillt und in der Lage war, innovative ästheti- sche Strömungen zu assimilieren. So wurden vielschichtig gestaltete, dy- namische Einstellungen – im professionellen Jargon «Ufa shots» genannt – gegen Ende der 1920er- und noch ausgeprägter in den 1940er-Jahren in Hollywood immer häufiger zur Darstellung von Träumen und anderen Momenten gesteigerter Subjektivität verwendet (Abb. 33a–f).65 Welche Wirkungen entfalten Traumsequenzen, die nach dem beschriebenen Muster gestaltet sind? Die starke Dynamisierung und das Überangebot an optischen wie akustischen Reizen, deren Entzifferung durch Hall, Verzer- rung und Unschärfe zusätzlich erschwert ist, können zu einer kognitiven Überforderung führen. Wir sind auf Anhieb gar nicht in der Lage, sämtli- che Figuren, Objekte und Worte genau zu erfassen und in eine sinnvolle Be- ziehung zueinanderzusetzen. Dieser Umstand kann distanzierend wirken und die Konstruiertheit der Sequenz betonen. Hinzu kommt, dass unge- wohnte Einstellungsfolgen, Kamerawinkel und Soundeffekte die sonst üb- liche Kontinuitätsmontage und Raumkohärenz aushebeln. Und die in sich ruhende Abgeschlossenheit des fiktionalen Universums erscheint durch die frontale Ausrichtung und die häufigen Blicke direkt in die Kamera auf- gebrochen. All diese Elemente sind dazu geeignet, den Diskurscharakter der Erzählung hervorzuheben, die Immersion der Zuschauer ins fiktionale Geschehen abzuschwächen und – mit Ed Tan (1996) gesprochen – die arte- fact emotions gegenüber den fiction emotions zu privilegieren (Abb. 34a–c).66 Formal überbordende Traumsequenzen sind in der Regel deutlich ge- rahmt und vom realen Kontext abgegrenzt. In Sequenzen mit simultaner 65 Vgl. Bordwell/Staiger/Thompson 1996 [1985]: 72–77. 66 Unter fiction emotions versteht Tan Emotionen, die durch das Eintauchen in die fiktiona- le Welt und das Miterleben der Filmhandlung ausgelöst werden. Artefact emotions sind demgegenüber solche, die ein bewusstes Wahrnehmen von Ästhetik, Gestaltung oder Erzählstruktur mit sich bringt. 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 229 b a 34a–c Komplexe, vielschichtige Traum- bilder in Shock Corridor (a), The Inno­ cents (b) und Three Women (c) c Darstellung von Traum und Träumer, die ebenfalls oft nach dem Prinzip der Überfrachtung funktionieren, bleibt die diegetische Ebene zwar einge- blendet, die schlafende Figur und ihr Traum erscheinen dennoch von der Wachhandlung abgehoben. Dank des von Anbeginn markierten Sonder- status wissen wir, dass die Inszenierung und Informationsvergabe nicht unbedingt den üblichen Gesetzen der Kohärenz und Verständlichkeit ge- horchen. Zudem können wir damit rechnen, dass der Faden der Wach- handlung am Ausgangspunkt wieder aufgenommen wird, die Traumse- quenz unter Umständen also eher als Einschub denn als zwingendes Glied in der erzählerischen Kausalkette fungiert. Dies lädt dazu ein, zuerst ein- mal das gebotene Spektakel zu genießen und die Fülle an optischen und akustischen Eindrücken erst in zweiter Linie nach Informationen abzusu- chen, die für den weiteren Handlungsverlauf relevant sein könnten. Ganz losgelöst vom diegetischen Kontext sind Traumsequenzen der beschriebenen Art gleichwohl nie, denn die explizite Rahmung durch Ein- schlaf- und Aufwachszenen führt zur deutlichen Anbindung ans Innere einer Figur. Und die auffälligen Verfremdungen dienen meist auch der Ver- mittlung subjektiven Erlebens. In Kapitel 3.2 haben wir festgestellt, dass der Subjektivierungseffekt im retroaktiven Modus am größten ist, da bei einer erst nachträglichen Traumkennzeichnung unser «Glaubensregime» und Involviertsein ins Geschehen demjenigen der Figur am nächsten kommt. Der überfrachteten, exzessiven Inszenierungsform gelingt es dafür bes- ser, den Rauschcharakter und die Sinnesüberwältigung zu simulieren, die ebenso Teil des Traumerlebnisses sein kann. Bringt es eine Traumdarstel- lung fertig, durch erhöhten Schnittrhythmus, stroboskopisches Licht und eindringliche Soundeffekte die Zuschauer zu betören, so kann der Rück- bezug dieses Erlebnisses auf die diegetische Figur bei aller Faszination für die technische Rafinesse auch das Eintauchen in die Fiktion begünstigen. 230 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik Dass sich das klassische Hollywood trotz seiner strengen Inszenie- rungsregeln bei der Traumgestaltung auf formale Experimente einließ, hängt zweifelsohne damit zusammen, dass die entsprechenden Sequen- zen als Enklaven funktionieren (also nicht dazu angetan sind, die Prin- zipien der Verständlichkeit, Kohärenz und kausalen Logik der Gesamt- erzählung zu untergraben) und dass die «Regelbrüche» diegetisch und figurenpsychologisch motiviert sind. Unter diesen Vorzeichen betrachtet, stellten Traumsequenzen eine Art eingezäunte Spielwiese dar, auf der den Filmgestaltern einiges erlaubt war, was ansonsten nicht geduldet wurde. Die Experimentierfreude und formale Innovation hielt sich jedoch in Gren- zen, denn das auf Effizienz und Wiederholbarkeit ausgelegte System Hol- lywoods bewirkte, dass die meisten Produktionen auf ähnliche Art und Weise von Darstellungskonventionen abwichen, sodass die «Regelbrüche» ihrerseits wieder zur Norm wurden. Sie waren den Zuschauern schnell ge- läufig und etablierten sich als neue Konventionen, die immer wieder neu kombiniert werden konnten. In dieser Hinsicht – wie auch im Bezug auf die Verdichtung und den Spektakelcharakter – gleicht die beschriebene Form der Traumdarstellung den Zeit komprimierenden Montage-Sequen- zen, die ursprünglich ebenfalls eine formale Innovation darstellten, bald jedoch zur fixen Formel wurden. Eine andere Form von Bruch mit dem diegetischen Kontext entsteht in Se- quenzen, die nicht überfrachtet, sondern auf auffällige Art stilisiert sind. Pa- radebeispiel dieser Traumästhetik ist die berühmte Sequenz in Hitchcocks Spellbound (USA 1945), die in Zusammenarbeit mit Salvador Dalí ent- standen ist und in der nach surrealistischer Manier gestaltete Kulissen den Rahmen für die rätselhaften Ereignisse bilden. Anleihen für die Stilisierung wurden nicht nur beim Surrealismus, sondern häufig auch beim deutschen Expressionismus gemacht. Einzelne Traumszenen in Der letzte Mann und Geheimnisse einer Seele, die durch unübliche Bildkompositionen, abstrakte Kulissen, kontrastreiche Beleuchtung und auffällige Schattenmus- ter geprägt sind, haben vermutlich als Vorbilder für spätere Hollywoodpro- duktionen, insbesondere im Bereich des Film Noir, gedient (Abb. 35a–h).67 Das Genre, in dem eine auffällige (und aufwändige) Stilisierung zum eigentlichen Gestaltungsprinzip von Traumsequenzen erhoben wurde, war das Musical. Die Traumwelten in The Wizard of Oz, Yolanda and the Thief (USA 1945), An American in Paris, The 5000 Fingers of Dr. T (USA 1953), Oklahoma! (USA 1955) oder All that Jazz (USA 1979), um nur ei- 67 So weist etwa die Gestaltung der Gerichtsszene in Stranger on the Third Floor (USA 1940) einige Parallelen zur Gerichtsszene in Geheimnisse einer Seele auf. 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 231 a b c d e f g h 35a–h Stilisierung durch künstliches Dekor und expressionistische Beleuchtung in Ge­ heimnisse einer Seele (a), Stranger on the Third Floor (b–e) und Spellbound (f–h) 232 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik a c b d 36a–d Stilisiertes Traumdekor mit surre- … und The 5000 Fingers of Dr. T (c–d) alistischem Touch in Yolanda and the Thief (a–b) … nige Beispiele zu nennen, sind nicht nur durch Tanz- und Gesangseinlagen hervorgehoben, sondern auch durch abstrakte Bühnenbilder, künstliche Farbdramaturgien und stilisierte Choreographien. Selbst wenn die reale Ebene bereits einer künstlichen Studioästhetik verpflichtet war, wurde die Stilisierung in den Traumeinlagen nochmals erhöht (Abb. 36a–d).68 Nicht nur die Überfrachtung, auch die Stilisierung betont den Dis- kurscharakter der Erzählung und lässt die Traumdarbietung, insbesonde- re wenn sie in Form einer Musicalnummer inszeniert ist, als audiovisuel- les Spektakel erscheinen, dessen Daseinsberechtigung nicht allein in seiner narrativen Funktion begründet liegt. Neben der Überfrachtung und Stilisierung kann eine «Ausdünnung» des audiovisuellen Angebots als weitere Variante einer Traumästhetik betrach- tet werden, die auf einen deutlichen Kontrast zum diegetischen Kontext baut. Die Gerichtsszene in Fritz Langs Secret Beyond the Door (USA 1948), die sich der Protagonist Mark in einem Tagtraum vorstellt, findet vor blanker Kulisse in einem fast leeren Raum statt. Sämtliche Figuren außer 68 Vgl. Feuer 1993 [1982]: 67–86. 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 233 d a e b f 37a–f Traumfiguren vor «leerem» Hin- tergrund in Aus dem Leben der Mario­ netten (a–c) und Another Woman (d–f) c Mark selber, der sowohl den Ankläger als auch den Angeklagten verkör- pert, erscheinen lediglich als dunkle Silhouetten. In Woody Allens Another Woman (USA 1988) spielen die meisten Szenen von Marions Traum in ei- nem dunklen Theatersaal, von dessen scharzem Hintergrund sich einzig die spotlichtartig beleuchteten Figuren abheben. In Geheimnisse einer Seele sind es verschiedene Einstellungen in der Therapiesituation, die Fellmanns Traumerinnerungen als stilisierte Szenen vor leerem Hintergrund wieder- geben. Aus dem Leben der Marionetten von Ingmar Bergman (BRD 1980) treibt die «Entleerung» der Szenerie noch weiter. Im Traum von Peter er- scheinen er und seine Frau – beide nackt – vor absolut weißem, unbegrenz- 234 3 Traumwelten: Status, Markierung und Ästhetik tem Hintergrund, der gar keine Raumdimensionen mehr erahnen lässt. Auch der Dialog und die Geräuschkulisse sind ausgeblendet (Abb. 37a–f). Überfrachtung, Stilisierung und Ausdünnung sind Gestaltungsprinzipien, die in etlichen Traumdarstellungen kombiniert werden, etwa in Geheim­ nisse einer Seele, La petite marchande d’allumettes (F 1928), Stran­ ger on the Third Floor, Liebe 47 oder Girl on a Motorcycle (F/GB 1968). Die Grenzen sind ohnehin fließend, denn die Reduktion des audio- visuellen Angebots kann als eine Form von Stilisierung betrachtet werden, und die Stilisierung kann ihrerseits – insbesondere im Musical – Formen annehmen, die der Überfrachtung sehr nahe kommen. Sequenzen, die nach einem der drei erwähnten Prinzipien gestaltet sind, tragen die Differenz zum diegetischen Kontext offen zur Schau. Der Traumcharakter ergibt sich aus Abweichungen von Darstellungs- und Inszenierungskonventionen diegetisch realer Ereignisse. Wie im Zusam- menhang mit sequenzimmanenten Markierungsformen bereits erwähnt, kann man diesbezüglich von einem Blick auf den Traum aus der Wachper- spektive sprechen, aus der uns seine Andersartigkeit ja überhaupt erst be- wusst wird. Stark stilisierte oder optisch und akustisch reduzierte Szenen sind denn auch innerhalb der Diegese oft nicht als direktes Traumerlebnis, sondern als Transvisualisierung eines nachträglichen Traumberichts insze- niert. Dies ist sowohl in Geheimnisse einer Seele als auch in Spellbound, Liebe 47, Fiddler on the Roof (USA 1971) und Aus dem Leben der Mari­ onetten der Fall, wo die Protagonisten ihre nächtlichen Erlebnisse ande- ren Figuren mitteilen, worauf die Erzählung umgehend vom verbalen ins (stilisierte) audiovisuelle Register wechselt. Überfrachtete Traumsequenzen werden seltener durch diegetische Erzählsituationen eingeführt. Es kommt jedoch vor – etwa in Murder, My Sweet, Strange Illusion (USA 1945) oder Fear in the Night (USA 1947), dass die Erzählstimme der Figur, die ebenfalls eine rückblickende Pers- pektive ins Spiel bringt, in sie überleitet. Am anderen Ende des Spektrums stehen Darstellungsformen, die sich para- doxerweise gerade den filmischen Realitätseffekt für eindringliche (und oft erst nachträglich erkennbare) Trauminszenierungen zunutze machen. Ver- deckte oder «schleichende» Irrealisierungen, wie ich sie in Kapitel 3.2 aus- führlich behandelt habe, betonen nicht die Differenz, sondern im Gegenteil die Nähe des Traumhaften zum realen Erleben und etablieren einen Bruch zwischen den beiden Welten höchstens im Nachhinein. Im Vordergrund stehen hier nicht die auffällige Gestaltung und das offen zelebrierte Spekta- kel, sondern die dramaturgische Verwicklung und das Schicksal der Prota- gonisten; nicht die Artefakt-, sondern die Fiktions-Emotionen dominieren. 3.4 Offenes Spektakel versus unscheinbare Irrealisierung 235 Auf eine verkürzte Formel gebracht, könnte man sagen, dass die Traum- ebene gestalterisch und inszenatorisch sowohl durch ein Mehr (Überfrach- tung), ein Anders (Stilisierung) oder ein Weniger (Entleerung) als auch durch ein Fast-Gleich (unscheinbare Irrealisierung) etabliert werden kann. Die drei erstgenannten Varianten bilden den einen, die letztgenannte den anderen Pol, in deren Spannungsverhältnis die meisten filmischen Traum- darstellungen stehen. Bei dieser schematischen Einteilung handelt es sich nicht um fixe Entwe- der/Oder-Kategorien, sondern um ein weites Spektrum, das Kombinationen und graduelle Abstufungen ermöglicht. Für die Extrempositionen lassen sich auch kaum Beispiele finden, denn eine Traumsequenz kann noch so auffällig als eingeschobenes Spektakel konzipiert sein, ganz abgelöst vom Handlungs- verlauf und der Figurenentwicklung erscheint sie dennoch fast nie. Und im retroaktiven Modus, der auf den Realitätseffekt baut und uns in die Fiktion hineinzieht, macht sich der Diskurs über kurz oder lang trotzdem bemerkbar, entweder schon während der Sequenz durch die eingestreuten Irritationsmo- mente, spätestens jedoch im Moment der nachträglichen Traumoffenbarung, die nicht nur starke Fiktions-Emotionen (Schock oder Freude angesichts der abrupt geänderten Lage der Figur), sondern genauso starke Artefakt-Emo- tionen (Bewunderung für die raffinierte Konstruktion oder Ärger über den plumpen dramaturgischen Trick) auszulösen vermag. Ambivalent gehaltene Sequenzen stehen ohnehin im Spannungsfeld beider Pole. Wenn der Reali- tätseffekt lediglich durch einzelne verfremdende oder stilisierende Elemente untergraben wird, so stellen wir uns nicht nur die Frage, ob die Ereignisse real oder geträumt sind und was mit der Figur geschieht, sondern auch, in welcher Welt die Handlung spielt und welche Art Film wir schauen. In Kapitel 1.8 hat sich gezeigt, dass Autoren, die eine enge Verwandtschaft zwischen Film und Traum postulieren, konkreten Traumdarstellungen skeptisch gegenüberstehen. Nach meinen Überlegungen zu unterschiedli- chen Formen der Traumgestaltung wird nun klarer ersichtlich, wie es zu dieser Einschätzung kommt: Die entsprechenden Autoren beziehen sich nur auf explizit markierte, auffällig gestaltete Traumsequenzen, betrachten diese jedoch nicht aus der «Wachperspektive», sondern stellen implizit die For- derung auf, sie müssten ein authentisches Gefühl für das direkte Traumer- lebnis vermitteln. Dass es dieser Form der Traumdarstellung viel mehr um filmisches Spektakel und formale Experimentierfreude als um authentische Traumwiedergabe geht, ziehen sie genauso wenig in Betracht wie die Tatsa- che, dass die filmische Traumästhetik schon früh andere Formen entwickelt hat, die der unmittelbaren Traumerfahrung zumindest in einzelnen Aspek- ten näher kommt. 4 Träume erzählen: Narrative Instanzen, Ebenen und Perspektiven Nachdem im dritten Kapitel grundlegende Fragen der Gestaltung und Markierung von Traumsequenzen behandelt wurden, geht es in diesem Kapitel um narratologische Fragestellungen. Wie gewährt die filmische – im Vergleich zur literarischen – Erzählform Einblick ins Figureninnere? Wer erzählt die Träume fiktionaler Figuren: die Träumenden selbst oder eine übergeordnete Erzählinstanz? Macht es Sinn, die träumenden Figuren als Fokalisierungsinstanzen zu bezeichnen? Auf welcher Erzählebene sind Traumsequenzen anzusiedeln? Welche Wirkung entfalten sie im Vergleich zu anderen Subjektivierungsformen, etwa der subjektiven Kamera oder indirekten Formen der Vermittlung innerer Zustände? Wie beeinflusst der Sprung in die Innenwelt das Zeitgefüge der Erzählung? In der Einleitung habe ich bereits darauf hingewiesen, dass diese Fragen trotz einer Fülle an Publikationen in verschiedenen Punkten noch nicht schlüssig beantwortet sind. Zum einen erschwert in etlichen Berei- chen terminologischer Wildwuchs die Diskussion; zum anderen kursieren Konzepte und Modelle, die zum Teil in sich widersprüchlich oder inko- härent erscheinen. Und vereinzelt wurden Fragestellungen durch die Fi- xierung auf bestimmte Erzählmuster regelrecht blockiert, so die Frage der Perspektivierung durch den Point-of-View-Shot. Um die aufgeworfenen Fragen schlüssig beantworten zu können, ist es deshalb – insbesondere hinsichtlich der Instanzen und Perspektiven der Erzählung – nötig, zuerst terminologische und konzeptuelle Klärungsar- beit zu leisten. Hinsichtlich der theoriegeschichtlichen Dimension dieser Arbeit sei da- rauf hingewiesen, dass narratologische Fragestellungen in der Filmtheorie erst nach der klassischen Epoche, also erst ab den 1960er-Jahren in den Vordergrund gerückt sind. Die erzähltheoretische Beschäftigung mit dem Traummotiv stand dabei jedoch, wie ich in Kapitel 1.8 ausgeführt habe, im Schatten der psychoanalytischen Fixierung auf die Film/Traum-Analogie. 238 4 Träume erzählen 4.1 Der erzählerische Zugriff auf Traum und Innenwelt Dass die literarische der filmischen Narration bei weitem überlegen sei, wenn es darum geht, die subjektive Sicht oder gar Innenwelt einer Figur darzustellen, scheint für viele Narratologen – literatur- wie filmwissen- schaftlicher Provenienz – außer Zweifel zu stehen. Schon in L’univers fil- mique, einem frühen Sammelband, der wichtige Fundamente für die fil- mische Erzähltheorie legte, schreibt Etienne Souriau in seinem zentralen Beitrag: A coté de tant de merveilleuses propriétés qui le rendent si supérieur au monde afilmique […], il a, cet univers [filmique], quelques évidentes caren- ces, quelques manifestes infériorités par rapport au monde terrestre. […] ses habitants les personnages […] ne disposent guère d’intériorité, de présence purement conscientielle. Le spectateur […] ne pénêtre que difficilement dans une intériorité souvent absente, ou, si on la suppose poliment présente, dif- ficilement ouvrable et montrable. Tout est devant lui […] à la troisième per- sonne. […] Combien il est inférieur en cela, ce monde du film, au monde du roman, où on peut sonder les cœurs et les reins, ouvrir les crânes comme Asmodée ourvrait les toits! Combien les habitants de cet univers filmique sont pauvres (toujours en ce qui concerne l’intériorité, et d’une façon géné- rale la psychologie) par rapport à ceux, soit de l’univers romanesque, soit de l’univers afilmique! Et comme ils la ressentent durement, cette obligation fondamentale qui leur est faite de toujours […] s’offrir à la caméra dans leur aspect physique, toujours se borner à mettre en évidence, prérogativement, ce qui en eux est atteignable avant tout par le regard! (Souriau 1953 [1951]: 24–25, Herv. i. O.) Nach George Bluestones Auffassung ist die filmische Narration im Bezug auf die Vermittlung von Innenwelt noch stärkeren Einschränkungen un- terworfen. In seiner Studie zu Literaturverfilmungen schreibt er unter der Rubrik «Limits of the Novel and the Film»: The rendition of mental states – memory, dream, imagination – cannot be as adequately represented by film as by language. If the film has difficulty presenting streams of consciousness, it has even more difficulty presenting states of mind which are defined precisely by the absence in them of the vi- sible world. Conceptual imaging, by definition, has no existence in space. […] For the same reason, dreams and memories, which exist nowhere but in the individual consciousness cannot be adequately represented in spatial terms. Or rather, the film, having only arrangements of space to work with, 4.1 Der erzählerische Zugriff auf Traum und Innenwelt 239 cannot render thought, for the moment thought is externalized it is no longer thought. The film, by arranging external signs for our visual perception, or by presenting us with dialogue, can lead us to infer thought. But it cannot show us thought directly. It can show us characters thinking, feeling, and speaking, but it cannot show us their thoughts and feelings. […] That is why pictorial representations of dreams or memory on the screen are almost always disap- pointing. The dreams and memories of Holiday for Henrietta [La fête à Henriette, F 1952] and Rashomon [JP 1950] are spatial referents to dreams and memories, not precise renditions. (Bluestone 1971 [1957]: 47–48) Für Michaela Bach darf «bei der Darstellung innerer Vorgänge […] nicht übersehen werden, dass die Darstellung von Gedanken, Gefühlen, etc. im Film eine andere, in gewissem Sinne unschärfere Qualität als in der Lite- ratur besitzt» (Bach 1997: 17). Und Anke-Marie Lohmeier bedauert, dass [a]uch der mit der personalen ES [Erzählsituation] verbundene Zugewinn an Möglichkeiten der Darstellung von Innerlichkeit […] beim Film eher be- scheiden aus[fällt], weil filmische Rede auf die phototechnisch erfassbare Au- ßenhaut der Dinge, auf die Welt des Sichtbaren angewiesen ist. Innerlichkeit müsste hier folglich als verinnerte Außenwelt zur Darstellung kommen, d.h. […] Außenwelt müsste in Innenwelt übersetzt werden, ein schwieriges Un- ternehmen, dem die meisten Filmemacher aus dem Wege gehen. Einer der Auswege ist die Darstellung reiner Innenwelt […]. Sofern diese Innenwelt nicht […] selbst schon eine Bilderwelt, sondern eine abstrakte Gedankenwelt ist, müssen mentale Abstrakta optisch reformuliert, im Rekurs auf die Welt des Sichtbaren in Bilder «übersetzt» werden, was der «gegenständlichen» Sprache des Films naheliegenderweise erhebliche Probleme bereitet. […] Ein anderer Ausweg ist die Darstellung von Innerlichkeit als Reaktion auf Außenwelt […]: Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren werden Bilder montiert, die abwechselnd perspektivierend referierte Wahrnehmungen der Figur und deren Reaktionen auf das Wahrgenommene zeigen […]. Kamerablicke dieser Art haben einen ähnlichen Status wie der auktoriale Gedankenbericht in er- zählenden Texten, bleiben aber gegenüber der differenzierten und präzisen Bezeichnung mentaler Prozesse, die die Sprache leisten kann, naheliegender- weise sehr viel unbestimmter. (Lohmeier 1996: 204–205, Herv. i. O.) Für Chatman schließlich ist die Sache so klar, dass es überhaupt keiner Diskussion mehr bedarf, wie sein Kommentar zum Aufbau von Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film deutlich macht: «I skip over issues that seem reasonably settled (such as the relation of story time to discourse time, and the greater facility of literary narrative for rendering the mental life of characters)» (1990: 3). 240 4 Träume erzählen Die in den Zitaten zum Ausdruck gebrachte Ansicht, filmische Erzählfor- men seien im Gegensatz zu literarischen nur sehr bedingt geeignet, men- tale Prozesse oder generell Innerpsychisches darzustellen, ist weit verbrei- tet. Welche Argumente lassen sich aus den – oft eher pauschalen – Ausfüh- rungen herauslesen? Zwar ist einleitend meist allgemein von «mental states», «mental life», «Innenwelt» oder «Innerlichkeit» die Rede, bei der Diskussion kon- kreter Möglichkeiten der Innenweltdarstellung steht aber oft vor allem das Denken im Zentrum, das in der Regel als rein verbale Aktivität aufgefasst wird. Der Literatur als sprachlichem Medium wird deshalb automatisch eine sozusagen natürliche Begabung zur Wiedergabe mentaler Prozesse attestiert, während beim Bildmedium Film unweigerlich die Probleme der optischen Darstellbarkeit abstrakt-verbaler Inhalte und die mit einer solch künstlichen Transformation verbundenen Verluste in den Vordergrund rücken. Hinzu kommt, dass die literarische Technik des inneren Mono- logs oder stream-of-consciousness den meisten Autoren mehr oder weniger explizit als Maßstab dient, dem der Film nichts Vergleichbares entgegen- zusetzen habe. Die Technik des stream-of-consciousness wird dabei oft so be- schrieben, als sei sie in der Lage, die Innenwelt der Figur nicht nur sehr un- mittelbar, sondern auch sehr umfassend und detailgetreu wiederzugeben. Auf Seiten des Films ortet man demgegenüber nicht selten auf einer ganz grundsätzlichen Ebene Probleme bei der Wiedergabe mentaler Vor- gänge. Das filmische Medium arbeite lediglich mit «external signs» (Blues- tone) und sei auf die sichtbare Welt oder, wie Lohmeier es formuliert, die «phototechnisch erfassbare Außenhaut der Dinge» angewiesen. Somit ste- he der Film vor dem grundlegenden Problem, Inneres durch Äußeres dar- stellen zu müssen. Bluestone geht gar so weit, dem Film aus diesem Grund die Fähigkeit zur Darstellung oder Wiedergabe der Gedanken einer Figur gänzlich abzusprechen.1 Zu solchen darstellungstechnischen gesellen sich nicht selten filmhis- torische Argumente: Ein (meist sehr summarischer) Blick in die Filmge- schichte zeige, dass direkte Formen der Subjektivierung und Innenwelt- darstellung eher selten vorkommen und in der Regel erst noch enttäu- schend ausfallen. Die skeptische Grundhaltung vieler Narratologen dem filmischen Poten- zial der Innenweltdarstellung gegenüber gründet meines Erachtens in ei- ner Kombination von falschen Einschätzungen auf der psychologischen, 1 Auch Jean Mitry spricht, wie wir im Kapitel 2.5 gesehen haben, von der Unmöglichkeit des Films, mentale Bilder darzustellen (1990 [1963/1965]: 288). 4.1 Der erzählerische Zugriff auf Traum und Innenwelt 241 Vorurteilen auf der ästhetischen und einer Vermischung von getrennt zu betrachtenden Aspekten auf der analytischen Ebene. Als Erstes muss unterschieden werden zwischen der Frage, was in ei- nem bestimmten Medium überhaupt zu einem Gegenstand der Erzählung werden kann, und der Frage, welche Form die Vermittlung eines Erzäh- linhaltes annimmt. (Die Beantwortung beider Fragen sollte zudem nicht von vornherein mit Werturteilen verknüpft werden.) Das Argument, die auf die Welt des Sichtbaren und Gegenständlichen ausgerichtete filmische Erzählform sei nicht oder nur schwerlich in der Lage, innere Prozesse (die sich durch Unsichtbarkeit und Immaterialität auszeichnen) darzustellen, zielt auf die erste Frage ab. Es ist uns im zweiten Kapitel bei Exponen- ten der klassischen Filmtheorie (insbesondere Kracauer und Mitry), die sich stark mit Realismusfragen und dem Verhältnis des Kunstwerks zur Wirklichkeit beschäftigt haben, bereits begegnet; im aktuellen Zusammen- hang erstaunt eigentlich nur, dass das gleiche Argument auch in späteren Epochen und vor allem in modernen Narrationstheorien immer wieder auftaucht. Es scheint deshalb notwendig, folgende zwei Punkte grundsätzlich festzuhalten: Zum einen ist die Darstellung psychisch-mentaler Bewusst- seinsinhalte immer, in jedem Medium und in jeder Erzählform, eine Veräu- ßerlichung oder Übersetzung von etwas Innerem. Bluestones Bemerkung, dass Gedanken, sobald externalisiert, keine Gedanken mehr sind, versteht sich von selbst, und seine daraus abgeleitete, implizite Forderung, die Wiedergabe von Gedanken müsse deren innerpsychisch-immateriellen Charakter bewahren, kann von keinem Medium erfüllt werden, auch nicht von der Literatur. Denn auch in literarischen Werken ist ein innerer Mono- log, so authentisch er das Denken einer Figur auch wiederzugeben scheint, mit einer Veräußerlichung und Materialisierung von etwas rein Innerem und Geistigem verbunden.2 Zum anderen wird mit der angeblichen Abhängigkeit der filmischen Darstellung vom Gegenständlichen oder vom Sicht- und Hörbaren auf eine Einschränkung Bezug genommen, die lediglich den aufnahmetechni- schen Bereich betrifft. Die Gesetze der Optik und der Akustik wollen es, dass nur auf den Filmstreifen gebannt und vom Mikrofon erfasst werden kann, was sich physikalisch – durch Licht oder Schallwellen – manifes- tiert. Selbst auf dieser grundsätzlichen Ebene der Bild- und Tonproduktion 2 Dasselbe gilt noch ausgeprägter für Gefühle. Bluestone erwähnt bezeichnenderweise nur die Unfähigkeit der filmischen Erzählform, Gefühle direkt darzustellen, und un- terlässt es zu erwähnen (respektive suggeriert gar das Gegenteil), dass die literarische dies genauso wenig kann. Mit Sprache können Gefühle benannt, beschrieben oder zum Ausdruck gebracht, aber genauso wenig «direkt» wiedergegeben werden wie im Film. 242 4 Träume erzählen bestehen allerdings – nicht erst seit der digitalen «Revolution» – diverse Techniken, die diese Abhängigkeit stark relativieren. Auf einer narratolo- gischen Ebene kann hingegen keine Rede von einer Einschränkung auf die Welt des Sicht- und Hörbaren sein. Erzählungen, auch filmische, stellen fiktionale Ereignisse dar. Welche dieser Ereignisse vom Zuschauer als au- ßenweltliche und welche als innerpsychische aufzufassen sind, wird nar- rativ konstruiert und hat herzlich wenig damit zu tun, ob dafür Aufnahmen realer Gegenstände und Laute verwendet wurden oder nicht. Hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeiten erzählerischer Aneig- nung kann man festhalten: Sowohl der literarischen als auch der filmischen Narration steht die Innenwelt sämtlicher Figuren grundsätzlich offen, und zwar für die Darstellung einer großen Vielfalt innerpsychischer Phänomene. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang weniger die mediale Be- dingtheit der Erzählform (die im Film andere Möglichkeiten und Beschrän- kungen mit sich bringt als in der Literatur) als vielmehr der fiktionale Cha- rakter der Erzählinhalte (der in beiden Medien gleichermaßen gegeben ist). Bei der Frage nach der Art der narrativen Vermittlung wird meist auf die schon von Aristoteles eingeführte Mimesis/Diegesis- oder auf die von Hen- ry James propagierte Telling/showing-Dichotomie verwiesen. Die von James verwendete Begrifflichkeit ist insofern problematisch, als die mimetische oder szenisch-dramatische Wiedergabe eines Ereignisses genauso einen Erzählakt darstellt wie die nicht-mimetische, «narrative». Wird der Begriff «erzählen» auf das verbale Vermitteln eingeschränkt, so fehlt eine überge- ordnete Bezeichnung für den Erzählprozess. Ein weiteres Problem der Ge- genüberstellung besteht darin, dass sie zwei zwar verknüpfte, aber doch getrennt zu analysierende Aspekte verbindet: Auf der einen Seite die Frage, ob eine Erzählform mit den ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln einen Inhalt sozusagen «imitieren» oder «zitieren», also relativ direkt und in ihrer «ursprünglichen» Form wiedergeben kann (wie etwa das Sprachmedi- um Literatur den Dialog zweier Figuren) oder ob Transpositionen von einer Sinnes- oder Ausdrucksebene in eine andere nötig sind; auf der anderen Seite die Frage, wie sehr die Art der Vermittlung eines Inhaltes den Erzähl- prozess in den Vordergrund rückt, die Erzählung als solche spürbar macht. Die eingangs zitierten Ansichten sind bezüglich der «Direktheit» der narrativen Vermittlung nicht weniger problematisch als bezüglich der grundsätzlichen Möglichkeit zur narrativen Aneignung. Man braucht auf die komplexe Materie innerpsychischer Prozesse gar nicht im Detail einzugehen, um festzustellen, dass die entsprechenden Autoren den nicht- verbalen Anteil mentaler Vorgänge entweder massiv unterschätzen oder in ihren Überlegungen nicht gebührend berücksichtigen. Aufschlussreich in 4.1 Der erzählerische Zugriff auf Traum und Innenwelt 243 diesem Zusammenhang ist die Annexion des Begriffs stream-of-conscious- ness durch die Literaturwissenschaft. Wie das folgende Zitat zeigt, wurde die Metapher des «Bewusstseinsstroms» von William James Ende des 19. Jahrhunderts in die Psychologie eingeführt, um den fließenden, sich stän- dig wandelnden Charakter des Bewusstseins in all seinen Dimensionen – also des gesamten psychisch-mentalen Erlebens – zu betonen: What I wish to lay stress on is this, that no state once gone can recur and be identical with what it was before. Now we are seeing, now hearing; now reaso- ning, now willing; now recollecting, now expecting; now loving, now hating; and in a hundred other ways we know our minds to be alternately engaged. […] Consciousness, then, does not appear to itself chopped up in bits. Such words as «chain» or «train» do not describe it fitly as it presents itself in the first instance. It is nothing jointed; it flows. A «river» or a «stream» are the metaphors by which it is most naturally described. In talking of it hereafter, let us call it the stream of thought, of consciousness, or of subjective life. (James 2001 [1892]: 21, 26; Herv. i. O.)3 Die literarische Technik des stream-of-consciousness kann somit nur einen Teil dessen «direkt» wiedergeben, was in der Psychologie «Bewusstseins- strom» genannt wird. Für sämtliche nicht verbalen – visuellen, olfaktori- schen, taktilen oder emotionalen – Wahrnehmungen, Empfindungen und Vorstellungen muss ein Widerhall im verbalen Denken der Figur konstru- iert werden, um sie mittels innerem Monolog überhaupt zum Ausdruck zu bringen.4 Im besten Fall – und es gibt einige berauschende Beispiele – wirkt diese Technik sehr organisch und vermag den Leser regelrecht in die In- nenwelt der Figur hineinzuziehen. In weniger gelungenen Beispielen ent- larvt sich die übermäßige Verbalisierung des Bewusstseins immer wieder als Kunstgriff, der über längere Passagen einer tour de force gleichkommt. Wie auch immer das ästhetische Urteil ausfällt, fest steht, dass nicht nur die filmische, sondern auch die literarische Narration beim Versuch, die psychisch-mentale Innenwelt einer Figur umfassend zum Ausdruck zu bringen, auf «künstliche» Transpositionen («Reformulierungen» oder «Übersetzungen», um Lohmeiers Begriffe aufzunehmen, von Nicht-Ver- balem in Verbales) angewiesen ist – und zwar nicht nur bei der «Psycho- Narration» (Cohn 1983 [1978]) oder dem Gedankenbericht (der verbalen 3 Erstmals Erwähnung findet der Begriff stream of consciousness in James’ The Principles of Psychology (1890); in die Literaturwissenschaft eingeführt wurde er 1918 von der eng- lischen Schriftstellerin May Sinclair im Zusammenhang mit dem Werk von Dorothy Richardson. 4 Zu weiteren Beschränkungen der sprachlichen Vermittlungsform vgl. Gaudreault 1988: 101–102. 244 4 Träume erzählen Umschreibung durch den Erzähler), sondern auch beim inneren Monolog, der unmittelbarsten Variante literarischer Innenweltdarstellung.5 Die für den Film nachteiligen Schlüsse, die einige Narratologen aus ihrem Vergleich der literarischen und filmischen Möglichkeiten zur Wiederga- be von Innerpsychischem ziehen, irritieren insbesondere deshalb, weil sie meist sehr grundsätzlich formuliert sind. Bleibt man auf der Ebene der prinzipiellen Möglichkeiten beider Erzählmedien, so gilt es jedoch festzu- halten, dass der Film über die sprachliche Ausdrucksform genauso verfügt wie die Literatur. Und mehr noch: Die filmische Narration kann das ver- bale Element nicht nur in Form von geschriebenem Text, sondern auch als gesprochene Sprache einsetzen und somit Eigenschaften wie Klangfarbe, Intonation, Rhythmus oder Lautstärke zum Ausdruck bringen, die in der Literatur – außer sie wird mündlich vorgetragen – lediglich angedeutet oder umschrieben werden können.6 Handelt es sich – wie bei den Gedan- ken einer Figur – um nicht ausgesprochene Sprache, so stellt die filmische Wiedergabe natürlich ebenfalls eine Veräußerlichung von etwas rein Inne- rem dar; ihre akustische Beschaffenheit kann somit lediglich als ungefähre Entsprechung der Qualität der inneren Stimme aufgefasst werden (indem zum Beispiel die Lautstärke für die innere Intensität steht). Im Gegensatz zur Literatur ist im Film jedoch keine Transformation von der mündlichen in die schriftliche Form nötig. Von den medialen Bedingungen her ist er somit im Prinzip besser gerüstet als die Literatur, um die ungefähre Qua- lität eines Gedankenstroms – seinen bruchstückhaften Charakter, sich än- dernden Rhythmus oder sprunghaften Intensitätswechsel – «direkt» zum Ausdruck zu bringen, und zwar auch die eines rein verbalen. Im Prinzip und von den grundsätzlichen Möglichkeiten her: Aber ist es nicht äußerst «unfilmisch», wenn die Sprache übermäßig in den Vorder- grund rückt? Und zeigen die wenigen Werke, in denen die Gedanken einer Figur tatsächlich verbal vermittelt werden, nicht deutlich, dass der innere Monolog im Film eher fehl am Platz ist?7 5 Oft wird zudem vergessen, dass es sich bei einer sehr ausgedehnten Anwendung des inneren Monologs oder stream-of-consciousness nicht nur um eine Technik zur Darstel- lung innerer Gedankenprozesse handelt, sondern auch um eine literarische Form, mit der ganze Geschichten erzählt werden. So finden immer wieder Aussagen Eingang ins Denken der entsprechenden Figuren, die offensichtlich mehr dem Hintergrundwissen oder der räumlichen Orientierung des Lesers dienen als einer möglichst authentischen Darstellung innerer Gedankenprozesse. 6 Da die menschliche Stimme im Film analog zur Literatur meist nur als Träger einer bestimmten verbalen Information und nur selten auch als akustisches Phänomen be- trachtet wird, hat sie erst vereinzelt die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhalten, etwa durch Michel Chion (La voix au cinéma, 1993 [1982]). 7 Nicht nur der innere Monolog, auch die Erzählstimme im Film wird oft sehr skeptisch betrachtet. Vgl. Kozloff 1988. 4.1 Der erzählerische Zugriff auf Traum und Innenwelt 245 Die Diskussion um die Spezifität des filmischen Mediums, die in ihrer normativen Extremvariante Einheit und Reinheit der Kunstform fordert (alles soll dem Visuellen untergeordnet sein), ist uns ebenfalls aus der Epo- che der klassischen Filmtheorie bereits bekannt. Von einem erzähltheore- tisch-analytischen Standpunkt aus, der primär das grundsätzliche Poten- zial einer Erzählform auszuloten versucht, ist eine mit Werturteilen ver- knüpfte Unterscheidung in «filmisch» und «unfilmisch» jedoch mit Vor- sicht anzuwenden, denn gegen die Begriffe ließe sich einwenden, dass als «filmisch» alles betrachtet werden muss, was im Medium Film möglich ist, und als «unfilmisch» nur gelten kann, was sich gar nicht ausdrücken lässt. Sobald man im Zuge grundsätzlicher erzähltheoretischer Erörterun- gen «die Filmgeschichte» als Kronzeugen mobilisiert, gilt es andererseits zu beachten, dass nicht nur erzähltechnische, sondern auch ökonomische, ideologische oder kulturelle Faktoren die Entstehung und Wandlung einer Erzählform bestimmen und dass zukünftige Entwicklungen nicht voraus- sehbar sind. Mit anderen Worten: Dass der innere Monolog im Spielfilm bisher nicht breit und prominent in Erscheinung trat,8 muss nicht – oder nicht nur – erzähltechnisch begründet sein und rechtfertigt auch kein pau- schales und abschließendes Urteil über sein narratives Potenzial. Wollte man mit der Eigenart oder Spezifität argumentieren, so müsste man für die Literatur, wenn schon, nicht die sprachliche Ausdrucksform an sich hervorstreichen (die verschiedenen anderen Erzählformen auch zur Verfügung steht), sondern die Tatsache, dass sie das einzige Medium darstellt, in dem die Sprache keine Konkurrenz durch andere Ausdrucks- weisen erfährt. Dass zahlreiche Autoren die Affinität der Literatur zum inneren Monolog (und, in einer impliziten Pars-pro-toto-Erweiterung, zum Ausdruck der gesamten psychisch-mentalen Innenwelt) derart betonen, hängt zweifelsohne auch damit zusammen, dass Werke wie Les lauriers sont coupées (Edouard Dujardin, 1888), Leutnant Gustl (Arthur Schnitzler, 1901) oder der letzte Teil von Ulysses (James Joyce, 1922) aus nichts ande- rem bestehen als dem verbalen Gedankenfluss der zentralen Figur. Im Film kommen im Normalfall das bewegte Bild, meist auch Geräusche, Musik und andere Stimmen als die innere hinzu, sodass nur schwerlich eine der- art exklusive Konzentration auf den reinen Gedankenprozess möglich ist. Die soeben erwähnte, reiche Palette an Ausdrucksebenen, die dem Film mit seiner Bild- und Tonspur zur Verfügung steht, stellt andererseits ein hervorragendes Instrumentarium zum Ausdruck einer ganzen Reihe von nichtverbalen mentalen Prozessen dar. Vor diesem Hintergrund wer- 8 Im Art Cinema der 1960er- und 1970er-Jahre gibt es immerhin eine gewisse Häufung des Phänomens. 246 4 Träume erzählen den die skeptischen Äußerungen dem filmischen Darstellungspotenzi- al gegenüber noch unverständlicher, insbesondere dort, wo sie, wie bei Bluestone, explizit den Traum, die Erinnerung oder Fantasie ins Spiel brin- gen – Bewusstseinsinhalte, die sich weit stärker durch ihren visuellen und akustischen als durch ihren verbalen Charakter auszeichnen. Die Auffassung, das filmische Medium bekunde aus darstellungstech- nischen Gründen Mühe bei der Konstruktion von Innenwelt, geht meist einher mit der Ansicht, das Ergebnis sei dort, wo es trotz der Schwierigkei- ten versucht wurde, unbefriedigend. Im ersten Kapitel haben wir bei der Diskussion der Film/Traum-Analogie bereits gesehen, dass dieses Urteil erstaunlich oft auf einem unausgesprochenen Authentizitätsanspruch be- ruht. Bluestones Begründung, weshalb die Traum- und Erinnerungsdar- stellungen in Holiday for Henrietta und Rashomon ihn enttäuschen – sie seien keine «precise renditions» –, ist ein exemplarisches Beispiel für diese Haltung. In Anbetracht der soeben diskutierten Ausdrucksebenen, die dem Film und der Literatur je zur Verfügung stehen, fragt man sich al- lerdings, wie denn die Literatur (mit der Bluestone die angeblichen Schwä- chen des Films implizit kontrastiert) in der Lage sein soll, die erinnerten oder geträumten Bilderwelten unmittelbarer und präziser darzustellen. Außer Frage steht die Tatsache, dass in literarischen Werken inner- psychische Vorgänge oder die emotionale Befindlichkeit einer Figur viel häufiger als im Film durch den Erzähler explizit beschrieben werden. Da- bei handelt es sich um ein anderes Verfahren als bei der Technik des inne- ren Monologs oder stream-of-consciousness, die versucht, das Denken der Figur zu «zitieren» oder zu «imitieren». Innerpsychische Phänomene, die nicht oder nicht primär verbal sind (und für die kein Widerhall im ver- balen Denken konstruiert wird), können durch die Sprache nicht in ihrer «ursprünglichen» Form wiedergegeben und müssen deshalb umschrieben werden.9 Die filmische Narration greift eher selten zu dieser Art der Ver- mittlung, nicht weil sie nicht dazu in der Lage wäre – eine Erzählstimme oder eingeblendete Schrifttafeln können jederzeit über das Innere der Fi- gur Auskunft geben –, sondern weil sie eine Kombination von impliziteren (z. B. Gefühlsausdruck durch Mimik) und direkteren Formen (audiovisu- elle Inszenierung innerer Vorstellungen) bevorzugt und Rückschlüsse auf innere Befindlichkeiten meist eher suggeriert als eindeutig benennt. Es sei hier jedoch nochmals ausdrücklich angemerkt, dass ich nicht der Auffassung bin, das primäre Ziel der literarischen oder filmischen Darstel- lung von Träumen oder Erinnerungen müsse eine – ohnehin schwierig zu 9 Wobei es auch Mischformen wie z. B. die erlebte Rede gibt. 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 247 beurteilende – möglichst «authentische» Evokation tatsächlicher mentaler Prozesse sein. Und genauso wenig erscheint es legitim, unmittelbarere oder «direktere» Erzähl- und Darstellungsweisen als ästhetisch hochwertiger (oder minderwertiger) einzuschätzen als mittelbarere, indirektere Formen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen bestimmten Erzähl- oder Dar- stellungsinhalten und den einem Medium zur Verfügung stehenden Aus- drucksmitteln ist interessant und hat auf jeden Fall ihre Berechtigung, je- doch weniger, um zu einem (ohnehin fragwürdigen) pauschalen Werturteil als um zu einem besseren Verständnis der grundsätzlichen Gestaltungsop- tionen zu kommen. Dies wiederum erleichtert die ästhetische Würdigung einzelner Werke wie auch historischer Entwicklungen. In diesem Sinn habe ich im dritten Kapitel versucht aufzuzeigen, wie die filmische Narration (mit oder ohne Einbezug verbaler Ausdrucksmittel) die psychisch-mentale Innenwelt und insbesondere Träume zu ihrem Erzählgegenstand macht. 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen: Die Figur als Erzähler und der Traum als récit second? Beginnt eine Figur innerhalb der Diegese etwas zu erzählen, so wird sie als sekundäre Instanz zum Erzähler eines Teils der Geschichte. Nun stellt sich die Frage, ob dies in Traumsequenzen – oder generell in Szenen, in denen wir Einblick in die innere Vorstellung oder subjektive Wahrnehmung einer Figur erhalten – auch der Fall ist. Wayne Booth äußert sich in seinem ein- flussreichen Werk The Rhetoric of Fiction diesbezüglich unzweideutig: «We should remind ourselves that any sustained inside view, of whatever depth, temporarily turns the character whose mind is shown into a narrator» (1983 [1961]: 164). Gemäß Stanzel ist eine solche «Bedeutungserweiterung des Begriffs ‹narrator› […] auch bei einigen anderen englischen und amerika- nischen Erzähltheoretikern und Romankritikern gegeben [und] im Übrigen bereits in den ‹Prefaces› von Henry James zu finden» (1995 [1979]: 202). In einigen filmwissenschaftlichen Erzähltheorien sind ähnliche Po- sitionen auszumachen. So vertritt Manuela Bach die Meinung, ein «Fo- kalcharakter» – also eine Figur, auf deren Erleben und Wahrnehmen sich die Erzählung konzentriert, übernehme die Aufgabe der expliziten Ver- mittlung von Erzählinhalten, werde also selber zum Erzähler (Bach 1997: 28). Manchmal wird, wie folgendes Zitat zeigt, gar behauptet, schon ein Point-of-View-Shot mache die blickende Figur zum Erzähler: «Beim point of view-shot nun fällt der Blick des ‹Autors› (Kameramann/Regisseur) mit dem des ‹Erzählers› (die jeweilige diegetische Person) und dem des ‹Zu- schauers› zeitgleich zusammen» (Speck 1999: 11). 248 4 Träume erzählen Für Jost ist es eine offene Frage, ob ein Traum von der träumenden Fi- gur oder der übergeordneten, unpersönlichen Erzählinstanz vermittelt wird: Des images identifiées comme oniriques par le spectateur peuvent soit être rapportées au discours d’une instance narrative, c’est-à-dire le personnage auquel on peut rattacher ces images mentales (et dans ce cas on serait face au discours de son inconscient-narrateur), soit comme une visualisation directe par son imaginaire; non plus comme une transformation de son récit verbal, mais au contraire un enchaînement de plans indépendant de sa parole nar- ratrice. (1980: 130–131) Und auch Branigans Position lässt zwei Interpretationen zu. Auf der einen Seite unterscheidet er zwischen echten Erzählern und Figuren, die ledig- lich agieren, wahrnehmen, denken und träumen. Auf der anderen Seite dehnt er die Begriffe narration / narrator trotzdem immer wieder auch auf Letztere aus, etwa wenn er die halluzinierende Louise in Possessed (USA 1947) als Erzählerin ihrer Halluzination (1984: 92) oder den Point-of-View- Shot allgemein als «narration given by a character in the narrative» (1984: 2) bezeichnet.10 Ist es sinnvoll, halluzinierende, träumende oder gar normal die Außen- welt wahrnehmende Figuren als Erzähler derjenigen Einstellungen aufzu- fassen, die uns ihre Vorstellungen oder Wahrnehmungen vermitteln? Al- lenfalls könnte man argumentieren, dass aus kognitionspsychologischer Warte Träumen, Sich-etwas-Vorstellen – und bis zu einem gewissen Grad auch das Wahrnehmen äußerer Ereignisse – aktive und auch konstruktive Tätigkeiten sind. Im Bezug auf innere Vorstellungen könnte zudem gel- tend gemacht werden, dass die Ereignisfolgen, die wir in Träumen oder Tagträumen für unser inneres Auge produzieren, in Ansätzen durchaus narrativen Charakter annehmen können. Wahrnehmungsapparat und Psyche als aktive «Produzenten» der Wahrnehmungen des Subjekts, als «Erzähler» der kleinen «Geschichten», die es in Tag- und Nachtträumen durchlebt – rechtfertigt dies das narratologische Konzept, Figuren in ent- sprechenden Situationen als filmische oder literarische Erzählinstanzen zu begreifen? Fasst man Erzählen, wie ich das tun werde, als bewussten Kom- munikationsakt auf, so muss diese Frage verneint werden, denn in allen 10 Branigans Theorie (insbesondere 1996 [1992]) untersucht, wie in filmischen Erzählun- gen Wissen fliesst. Zu diesem Zweck bestimmt er den Erzählprozess sehr umfassend und unterteilt ihn in diverse hierarchisch abgestufte Ebenen, die auch normale Figu- renaktivitäten (Agieren, Wahrnehmen) umfassen. Auch wenn ich seine theoretische Konzeption interessant finde, erscheint mir die übermäßige Ausdehnung des Begriffs der Narration problematisch, insbesondere hinsichtlich der narratologischen Veror- tung von Figurenträumen, um die es mir in diesem Kapitel geht. 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 249 genannten Konstellationen fehlt der Aspekt der (bewussten) Vermittlung. Eine Figur, die schläft, träumt, ihren Fantasien nachhängt oder eine Hallu- zination erlebt und sich dabei an niemanden wendet, kann nicht gleichzei- tig als Erzählinstanz fungieren. Bei der Vermittlung von Träumen kommt hinzu, dass ohnehin nicht «die Figur», sondern nur ihr – weitgehend unbewusst operierender – psy- chisch-mentaler Apparat als eine Art Erzähler aufgefasst werden könnte, und auch das nur, wenn sein Erzeugnis als narrativ und die innerpsychi- sche Repräsentation als eine Form von Kommunikation begriffen wird. Diese sehr weite Auslegung des Begriffs «Erzähler» ist insbesondere des- halb problematisch, da Figuren, wie noch eingehender zu erörtern ist, im ganz eigentlichen Sinn zu Erzählern ihrer Träume, Fantasien oder Wahr- nehmungen werden können, dann nämlich, wenn sie ihre Erfahrung einer anderen Figur (oder uns Zuschauern) tatsächlich mitteilen.11 Die Problematik der Zuschreibung einer Erzählfunktion an die Figur tritt besonders zutage, wenn man Überlegungen zum Wahrheitsverhältnis des Traums anstellt. Hans J. Wulff konstatiert zu Recht, dass Träume zur Lüge schlicht nicht fähig sind, denn die Lüge ist eine kommunikative Tatsache, der Traum ist dagegen nicht in Kom- munikation fundiert; der Lügner ist unaufrichtig und verstößt gegen eine kommunikationsethische Maxime, wogegen der Traum resp. der Träumer nicht durch «konversationelle Rahmenbestimmungen» eingefasst ist. […] Erst dann, wenn der Traum wiederum gerahmt und als Traum [von der Fi- gur] erzählt ist, kann auch sein Wahrheitswert täuschen (weil man im Erzäh- len lügen kann, aber nicht im Träumen selbst). […] Die Intentionalität des Erzählens erst ermöglichte einen «erlogenen Traum».12 (Wulff 1998: 62–63) Die Frage nach dem Erzähler ist direkt verknüpft mit der Frage nach der Erzählebene, auf der Träume, Tagträume oder Erinnerungen vermittelt werden. Die meisten Narratologen sehen in ihren Modellen ein System 11 Die richtige Zuordnung der Erzählaktivität scheint insbesondere dort Mühe zu berei- ten, wo beim Leser oder Zuschauer der Eindruck entsteht, unmittelbar an den – sehr persönlichen und intimen – Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken einer Figur teilzuhaben, sodass es schwer vorstellbar erscheint, dass nicht sie selbst als Vermittle- rin fungiert. Norman Friedmans Einschätzung der Erzählsituationen in Henry James’ Romanen kann als Beispiel dienen, auch wenn er seine Aussage durch das «as if» etwas abschwächt: «One of the chief means to this end [James’ Bestreben, die Realitätsillusion durch Verminderung der Autorenpräsenz zu erhöhen] is to have the story told, albeit in the third person and the past tense, as if by a character in the story in the present» (Friedman 1975: 138). 12 In Fiddler on the Roof (USA 1971) erfindet der Protagonist zum Beispiel einen Traum (den die Erzählung auch audiovisuell vermittelt), um seine Frau in der Wahl des Bräu- tigams für ihre Tochter umzustimmen. 250 4 Träume erzählen hierarchisch abgestufter Ebenen vor, von denen die übergeordnetere (res- pektive grundlegendere) die nächstfolgende jeweils umfasst und die sich im Prinzip unendlich fortsetzen können. Eine zusätzliche Ebene entsteht immer dann, wenn innerhalb einer Erzählung eine neue Erzählaktivität einsetzt, die eine weitere, untergeordnete oder eingebettete Erzählung generiert. In Genettes Terminologie ist der extradiegetische Erzähler ver- antwortlich für die primäre Erzählung, in der eine der Figuren zu einem die getischen Erzähler werden kann, der eine sekundäre (oder metadiegetische) Erzählung zum Besten gibt. In dieser metadiegetischen Erzählung kann eine der Figuren wiederum zum Urheber einer neuen Erzählung werden, die auf einer dritten Ebene angesiedelt ist (récit métamétadiégétique) und so weiter (Genette 1972: 238–243). Schematisch lässt sich dieses Modell fol- gendermaßen darstellen: narrateur récit primaire / extradiégétique / [diégétique] primaire >> narrateur récit secondaire / (intra)diégétique / métadiégétique secondaire >> narrateur [tertiaire] / récit [tertiaire] / métadiégétique >> métamétadiégétique etc. Die Grenze zwischen den verschiedenen Stufen bezeichnet Genette als «frontière mouvante mais sacrée entre deux mondes: celui où l’on raconte; celui que l’on raconte» (Genette 1972: 245). Der Wechsel der Erzählebene wird also im Wesentlichen davon abhängig gemacht, ob innerhalb einer bestehenden Erzählung eine neue Erzählinstanz auf den Plan tritt, die eine eigene Erzählaktivität entwickelt. Somit erstaunt es nicht weiter, dass Au- toren wie Booth oder Branigan, die davon ausgehen, dass eine träumen- de, sich erinnernde oder halluzinierende Figur zum Erzähler respektive Vermittler der entsprechenden Wahrnehmungen oder Vorstellungen wird, auch davon ausgehen, dass in diesen Fällen die Erzählebene wechselt. Fasst man den Erzählerbegriff, wie ich das tue, hingegen enger, so ist die Frage nach einem allfälligen Stufenwechsel nicht so einfach zu beantwor- ten. Genettes Position ist in diesem Zusammenhang, gerade aufgrund ih- rer Widersprüchlichkeit, aufschlussreich. Im Kapitel zur Erzählperspekti- ve wendet er sich klar gegen die oben beschriebene Auffassung: 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 251 Ma critique des classifications antérieures […] porte évidemment sur la confusion qu’elles opéraient entre mode et voix, soit (Friedman, Booth) en baptisant «narrateur» un personnage focal qui n’ouvre pas la bouche, soit en répertoriant des situations narratives complexes (mode + voix) sous la rubrique du «point de vue» […]. [Fußnote:] Il convient, dit justement Dorrit Cohn [1981: 171], de «mettre un terme à l’habitude négligente (sloppy) qui consiste à qualifier les protagonistes de romans à focalisation interne, comme Stephen, Samsa ou Strether, de ‹narrateurs› de leur histoire». (Genette 1983: 43). Im Kapitel zu den Erzählebenen geht Genette dann aber davon aus, dass auch Erinnerungen, Träume oder Tagträume, die eine Figur lediglich in- nerlich evoziert oder erlebt, ohne sie jemandem mitzuteilen, als récits se- condaires aufzufassen sind: Mais le récit second peut lui aussi n’être ni oral ni écrit, et se donner, ouver- tement ou non, comme un récit intérieur: ainsi le rêve de Jocabel dans Moyse sauvé [Marc Antoine Girard de Saint-Amant, 1653], ou, de façon plus fréquen- te et moins surnaturelle, toute espèce de souvenir remémoré (en rêve ou non) par un personnage: c’est ainsi […] qu’intervient au second chapitre de Sylvie [Gérard de Nerval, 1970 [1853]: 31] l’épisode («souvenir à moitié rêvé») du chant d’Adrienne: «Je regagnai mon lit et je ne pus y trouver le repos. Plongé dans une demi-somnolence, toute ma jeunesse repassait en mes souvenirs… Je me représentais un chateau du temps de Henry IV, etc.» [Fußnote:] On a donc là une analepse métadiégétique […] procurée par la mémoire du héros […]. (Genette 1972: 241)13 Kann man beim erwähnten Beispiel aus Sylvie wirklich von einem récit intérieur im Sinne einer Erzählung zweiten Grades sprechen? Geht man von der oben genannten Bedingung eines Wechsels der Erzählinstanz aus, so würde dies heißen, dass nicht das erzählende Ich (oder, in Genettes Ter- minologie, der gleichzeitig extra- und homodiegetische Erzähler), sondern das erlebende Ich (oder sein psychisch-mentaler Apparat) sich selber die Ereignisse aus seiner Vergangenheit erzählt. Das in schläfrigem Zustand Sich-Erinnern wird in Sylvie jedoch anschaulich als Akt beschrieben, bei dem die Figur nicht nur verbales Denken, sondern eine alle Sinne umfas- sende, innere Vorstellungstätigkeit entfaltet. Die evozierten Ereignisse ent- halten farbenprächtige Stimmungsbilder eines Dorffestes, an dem getanzt und gesungen wird und an dem sich etwas Aufwühlendes ereignet hat: 13 Auch Metz (1968a [1966]: 30, 31) fasst die innere Evokation vergangener Ereignisse als einen Erzählakt («auto-récit») auf. 252 4 Träume erzählen Je me représentais un château du temps de Henri IV avec ses toits pointus couverts d’ardoises et sa face rougeâtre aux encoignures dentelées de pierres jaunies […]. Des jeunes filles dansaient en rond sur la pelouse en chantant de vieux airs transmis par leurs mères. […] Tout d’un coup, suivant les règles de la danse, Adrienne se trouva placée seule avec moi au milieu du cercle. Nos tailles étaient pareilles. On nous dit de nous embrasser et la danse et le chœur tournaient plus vivement que jamais. En lui donnant ce baiser, je ne pus m’empêcher de lui presser la main. Les longs anneaux roulés de ses che- veux d’or effleuraient mes joues. De ce moment, un trouble inconnu s’empara de moi. (De Nerval, 1970 [1853]: 31) Kein Leser dieses Abschnitts wird davon ausgehen, dass der in träumeri- schem Halbschlaf liegende Protagonist (das erlebende Ich) zu sich selber sagt: «Les longs anneaux roulés de ses cheux d’or effleuraient mes joues. De ce moment, un trouble inconnu s’empara de moi.» Vielmehr gehen wir davon aus, dass er die vergangenen Ereignisse innerlich nochmals durch- lebt, sich die tanzenden Mädchen anschaulich vorstellt, ihren Gesang als innere Stimmen wahrnimmt und den physischen Kontakt mit der schönen Adrienne als haptisches und emotionales Erlebnis erneut verspürt. Die verbale Erzählung dieser vergangenen und in der Erinnerung noch einmal vergegenwärtigten Erlebnisse (der zitierte Erzähltext) kann somit nur vom extradiegetischen Erzähler und nicht von der diegetischen Figur stammen. Etwas weniger eindeutig – zumindest im Bezug auf den Modus der inneren Repräsentation – erscheint die Situation an folgender Stelle des- selben Kapitels: J’étais le seul garçon dans cette ronde, où j’avais amené ma compagne toute jeune encore, Sylvie, une petite fille du hameau voisin, si vive et si fraîche, avec ses yeux noirs, son profil régulier et sa peau légèrement hâlée! … Je n’aimais qu’elle, je ne voyais qu’elle, – jusque-là! (De Nerval, 1970 [1853]: 31–32) Zumindest der letzte Satz des Zitats kann als verbaler Gedanke gewertet werden, den die diegetische Figur innerlich in dieser Form äußert. Trotz- dem erscheint es auch hier nicht sinnvoll, von einem Wechsel der Erzäh- linstanz auszugehen, denn die Gedankentätigkeit, auch wenn sie verbal ist und – abgesehen vom Unterschied zur schriftlichen Form – genau dem Erzähltext entspricht, kann schwerlich als Erzählung der Figur gewertet werden. Dass er vor der Begegnung mit Adrienne nur Sylvie geliebt hat, erzählt oder berichtet der Protagonist ja nicht – auch nicht sich selber; er bringt lediglich die mit der Vergegenwärtigung der damaligen Situation verbundenen Gefühle durch einen inneren Ausruf zum Ausdruck. Oder, wie Chatman es allgemein ausdrückt: «Interior monologue […] has no 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 253 conscious sense of audience. It is expressive, not communicative, of the character’s thoughts» (1993 [1978]: 172). Genettes widersprüchliche Ausführungen (in der intern fokalisierten Er- zählung werde die Figur nicht zum Erzähler; trotzdem seien Träume oder subjektive Erinnerungen als deren récit intérieur zu werten) rühren daher, dass er – zumindest an einer zentralen Stelle – Fragen der Distanz, der Erzähleridentität und der Erzählebene auf unglückliche Weise vermischt und gleichzeitig discours (Rede) und récit (Erzählung) zu wenig ausein- anderhält. In Figures III unterscheidet er im Bezug auf die Erzählobjekte grundsätzlich zwischen dem Erzählen von Ereignissen (récit d’événements) und dem Erzählen von Worten (récit de paroles [prononcés/intérieurs]). Die Erzählung von Worten gliedert er nach abnehmendem Grad der Mittel- barkeit weiter auf in erzählte, übertragene und zitierte Rede (discours [pro- noncé/intérieur] narrativisé / transposé / rapporté, Genette 1972: 184–194). Im Nouveau discours du récit bringt er seine Gegenüberstellung von Ereignis- und Worterzählung mit Doležels und Schmids Unterscheidung von Erzäh- ler- und Personentext in Verbindung: On peut être tenté de rabattre ces deux oppositions l’une sur l’autre, comme équivalentes: c’est ce que fait Pierre van den Heuvel. Mais ce n’est pas si sim- ple: ma dichotomie est par l’objet, celle de Doležel est par le mode, et elles ne sont pas réductibles, car du récit d’événements peut être assumé par un per- sonnage et du récit de paroles peut être assumé par le narrateur. Il vaudrait donc mieux dissocier les critères et les croiser dans un […] tableaux à double entrée […]. On y distinguerait le récit d’événements assumé par le discours de narrateur (récit primaire à narrateur extradiégétique), ou par le discours de personnage (récit second à narrateur intradiégétique, ou narrateur-per- sonnage), le récit de paroles assumé par le discours de narrateur (discours narrativisé ou transposé), ou par le discours de personnage (discours rappor- té ou transposé). Soit cette grille: mode → discours de narrateur discours de personnage objet ↓ événements récit primaire récit second paroles discours narrativisé et discours rapporté et discours transposé discours transposé (Genette 1983: 42). Genette lässt an dieser Stelle seiner Ausführungen außer Acht, dass eine Figur, sobald sie zu erzählen beginnt, automatisch zu einem Erzähler wird, dem sämtliche Erzählmöglichkeiten offen stehen, dem es also frei steht, 254 4 Träume erzählen in welcher Form er eine Figurenrede wiedergeben will. Gleichzeitig stellt das Denken einer Figur (discours intérieur de personnage), wie wir gesehen haben, noch keine Erzählaktivität dar, und auch ihr Sprechen (discours pro- noncé de personnage) kann nur in bestimmten Fällen als Erzählen gewertet werden. Sprachliches Erzählen ist immer auch eine Rede oder ein Diskurs – récit und discours de narrateur sind insofern gleichbedeutend –, aber nicht jede Rede ist eine Erzählung, deshalb muss bei den Äußerungen der Figur zwischen récit (= discours der gleichzeitig récit ist) und discours (= discours, der nicht gleichzeitig récit ist) unterschieden werden. In der rechten Kolonne seiner Tabelle trifft Genette jedoch genau diese Unterscheidung nicht. Wenn die Figurenrede (discours de personna- ge) eine Erzählung zweiten Grades (récit second) hervorbringen soll, dann kann es sich nur um Äußerungen der Figur mit Erzählcharakter handeln. In der Erzählung zweiten Grades, die dadurch entsteht, können einerseits nur Äußerungen von (in Genettes Terminologie) metadiegetischen Figuren vermittelt werden (Genette meint demgegenüber mit discours de personna- ge im Feld rechts oben und discours rapporté/transposé im Feld rechts un- ten die Rede derselben Figur), andererseits können diese Äußerungen nicht nur in zitierter oder übertragener, sondern genauso in erzählter Form ver- mittelt werden. Gleichzeitig kann der extradiegetische Erzähler die Rede einer die getischen Figur nicht nur in erzählter oder übertragener, sondern genauso in zitierter Form vermitteln (linke Kolonne). Zwar entspricht in diesem Fall der Erzähltext (bis auf die schriftliche Form) der Figurenrede, trotzdem ist es der Erzähler und nicht die Figur, der diese Rede zitiert und somit vermittelt. Die Tabelle muss demnach folgendermaßen ergänzt und präzisiert werden: mode → discours = récit de narrateur récit de personnage = récit / objet ↓ extradiégétique discours du narrateur diégé- tique événements récit primaire récit second paroles discours (du personnage) nar- discours (du personnage rativisé / transposé / rapporté métadiégétique) narrativisé / (par le récit du narrateur transposé / rapporté (par le extradiégétique) récit du narrateur diégétique) Im Film ist die Situation, wie wir bereits gesehen haben, insofern anders gelagert, als die filmische Narration audiovisuell ist und sowohl auf der Bild- als auch der Tonspur über mehrere Ausdrucksmittel verfügt (beweg- tes Bild und Schrift / Geräusche, Musik und gesprochene Sprache), von de- nen nur die Schrift und die gesprochene Sprache verbal-sprachlicher Natur sind. Ein Erzähler, der sich lediglich verbal äußert, kann somit nicht im 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 255 gleichen Ausmaß wie in der literarischen Narration an die Stelle der über- geordneten Instanz treten und den filmischen Erzählprozess als Ganzes übernehmen, denn seine sprachlichen Äußerungen werden üblicherwei- se von nicht-sprachlichen begleitet.14 Die Aufgliederung einer Erzählung auf verschiedene Ebenen erscheint im Film somit in der Regel weniger absolut, die übergeordnete Erzählinstanz stärker präsent und die für den Wechsel verantwortlichen, untergeordneten Instanzen weniger «federfüh- rend» als ihre literarischen Pendants. Handelt es sich beim entsprechenden Erzählsegment hingegen um einen Traum, Tagtraum oder eine subjekti- ve Erinnerung, um ein innerpsychisches Phänomen also, dessen Erschei- nungsart nicht nur die verbale, sondern zusätzlich die visuelle und akusti- sche Ebene mit einschließt, so scheint die «Einheit der Ausdrucksmaterie» für einmal auch im Film weitgehend gegeben, sodass die Versuchung, die entsprechende Figur zum Erzähler zu machen und ihren Traum oder Tag- traum auf einer eigenen Erzählebene anzusiedeln, noch größer ist als in der Literatur (wo dies aufgrund der Unmöglichkeit, Nicht-Verbales «direkt» zu vermitteln, eigentlich von vornherein ausgeschlossen sein müsste). Auch hier gilt es jedoch, Erlebnis und Erzählung dieses Erlebnisses, Wahrnehmung, Erfahrung und Vermittlung dieser Wahrnehmung und Erfahrung auseinanderzuhalten. Und auch wenn die Ausdrucksmodi der innerpsychischen und der filmischen Instanz in gewissem Sinn teilweise übereinstimmen, kann nicht im selben Maß von einer direkten Entspre- chung die Rede sein wie zwischen verbalen Erzählungen in der Realität und in der Literatur. Träume werden uns Zuschauern auch im Film durch die grundlegende Erzählinstanz vermittelt und nicht durch die Figur oder ihre «instance onirique», wie Genette die innerpsychische Instanz nennt, die für das récit intérieur verantwortlich zeichnen soll (1972: 246). Die Darstellung von Innenwelt führt also nur dann zur Etablierung einer neuen Erzählebene, wenn die Figur eine innere Wahrnehmung oder Vor- stellung tatsächlich (verbal) erzählt. Trotzdem erscheinen viele Träume, Tagträume oder subjektiven Erinnerungen auch dort deutlich vom Rest der Erzählung abgehoben, wo dies nicht geschieht. Es stellt sich somit die Frage, ob der Sprung in die innere Vorstellungswelt nicht doch als Ebe- nenwechsel aufgefasst werden sollte. Das Problem der meisten Modelle, die die Strukturierung von Erzählungen auf unterschiedlichen Ebenen zu beschreiben versuchen, besteht darin, dass sie zu ausschließlich auf den Wechsel der Erzählinstanz fokussieren. Eine Erzählung kann ja nicht nur auf unterschiedliche Erzähl-, sondern auch auf unterschiedliche Realitäts- 14 Vgl. Gaudreault/Jost 1990: 49–54. 256 4 Träume erzählen ebenen aufgeteilt sein, und zwar auch dann, wenn für sie durchgehend ein und dieselbe Instanz verantwortlich zeichnet. Nicht nur die Erzählak- tivität, auch das Erzählobjekt kann mehrschichtig strukturiert sein. Ein durch das Eintauchen in die figurale Innenwelt bedingter Wechsel der Realitätse bene führt, wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, neben der Verschiebung im Status der entsprechenden Bilder und Töne (von ob- jektiv-real zu subjektiv-irreal) oft auch zu Veränderungen im Bereich der raum-zeitlichen Orientierung, der Logik der Ereignisse sowie der atmo- sphärisch-emotionalen Stimmung. Ein besonderer Reiz der Innenweltdar- stellung besteht genau darin, dass sie eine komplexe Strukturierung der Erzählung in verschiedener Hinsicht erlaubt, ohne dass ein – in der Regel eher schwerfälliger – Wechsel der Erzählinstanz nötig ist.15 Wenn eine Figur in Sequenzen, die ihre Innenwelt – oder die Außenwelt aus ihrer subjektiven Sicht – darstellt, schon nicht zum Erzähler wird, kann man sie wenigstens für die Ausrichtung der Erzählperspektive, den Akt der «Fokalisierung» verantwortlich machen? Verschiedene Narrato- logen bezeichnen die Figur, auf deren Perspektive sich die Erzählung ein- schränkt, als focalizer,16 als Instanz, die «fokalisiert»: On parlera, dans le cas (exceptionel) de La dame du lac [Lady in the Lake, Robert Montgomery, USA 1947] de focalisation du récit cinématographique par un personnage […]. (Percheron 1976: 100, Herv. i. O.) On the grounds of distribution, for instance the fact that a character focalizes the first and/or the last chapter, we label it the hero(ine) of the book. […] In The Evenings, Frits is the only character that functions as focalizor. […] Lot often focalizes his mother, mama Ottilie […] Evidently, it is important to as- certain which character focalizes which object. […] Conversely, the image a focalizor presents of an object says something about the focalizor itself. […] Alain is focalizing his own dream. (Bal 1999 [1985]: 148–150; 1991: 100) Fokalisieren und Erzählen seien unterschiedliche Aktivitäten, die es ausei- nanderzuhalten gelte: 15 Ein Wechsel der Erzählinstanz und die damit verbundene Etablierung einer neuen Er- zählebene führt natürlich oft auch zu Veränderungen in den erwähnten Bereichen, etwa wenn eine Figur eine fantastische Geschichte erzählt und somit (innerhalb der Fiktion) ein Wechsel von der realen in eine fiktionale Welt mit eigener Logik, Atmosphäre und eigenen raum-zeitlichen Koordinaten stattfindet. (Und wenn die entsprechende Figur einen Traum oder Tagtraum erzählt, ist dies erst recht der Fall.) Diese Gemeinsamkeit ist vermutlich ein Grund für die unrechtmäßige Zuschreibung eines Instanzenwech- sels auch bei inneren Vorstellungen, die von der Figur lediglich erlebt und nicht wei- tererzählt werden. 16 Die Endung wird uneinheitlich geschrieben. Rimmon-Kenan: «focalizer», Bal: «focali- zor». 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 257 Thus, speaking and seeing, narration and focalization, may, but need not, be attributed to the same agent. The distinction between the two activities is a theoretical necessity […] focalization and narration are distinct activities. (Rimmon-Kenan 1996 [1983]: 72–73) Auch Seymour Chatman insistiert in diesem Zusammenhang auf dem Un- terschied zwischen Erzähler und Figur. Für ihn besteht das Problem darin, dass sich die Begriffe point-of-view, perspective und focalization allesamt auf die Perspektive beider beziehen. Zur besseren Differenzierung schlägt er deshalb slant für die Erzählperspektive und filter für die Figurenperspek- tive vor (1990: 139–160). Im Bezug auf den Zusammenhang von Erzählinstanz und Erzählper- spektive können die zitierten Passagen auf zwei unterschiedliche Arten in- terpretiert werden. Entweder man beschreibt mit dem Begriff Fokalisieren (respektive Filtern bei Chatman) lediglich normale Wahrnehmungs- und Kognitionsvorgänge, oder man versteht darunter tatsächlich eine narrative Aktivität der Figur. Im ersten Fall stellt sich die Frage, weshalb es dafür einen – erst noch neu gebildeten – narratologischen Begriff braucht. Wenn mit Fokalisieren gemeint ist: seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, et- was wahrnehmen, erfassen oder anschauen, jemandem zuhören, an etwas denken, sich etwas vorstellen, von etwas träumen; wenn damit also nicht narrative, sondern kognitive Aktivitäten der Figur beschrieben werden, so reicht dafür das herkömmliche (alltägliche oder allenfalls kognitions- psychologische) Vokabular vollkommen aus. Im zweiten Fall, wenn der Begriff eine narrative Aktivität benennen soll, stellt sich hingegen die Frage, ob diese tatsächlich von der Figur ausgeht. Denn die Wahl der Er- zählperspektive, die Entscheidung, auf welche Bereiche und Aspekte der erfundenen Welt die Erzählung fokussiert, aus welchem Blickwinkel sie die Ereignisse präsentiert, ist in jedem Fall Sache der Erzählinstanz und nicht der Figur.17 Natürlich kann die Erzählinstanz entscheiden, diese Per- spektive ausschließlich oder vorwiegend an einer bestimmten Figur und ihrem Erlebnishorizont auszurichten. Könnte man also sagen, dass die Fi- gur insofern eine narrative Aktivität ausübt, als sie die Perspektive auf sich zieht und somit sozusagen aktiv die Wahl der Perspektive beeinflusst oder steuert? Eine derartige Konzeption erscheint seltsam, denn sie setzt voraus, dass die Figur unabhängig von der Erzählung existiert. Nur so könnte sie das Interesse und die Aufmerksamkeit der Erzählung auf sich lenken. Tatsächlich existiert die Figur jedoch lediglich in dem Maß, als die 17 Wobei es sich von selbst versteht, dass die Figur zur Erzählinstanz werden kann, so- bald sie selber eine Geschichte erzählt. In sämtlichen Fällen, auf die sich die aufgeführ- ten Zitate beziehen, ist dies jedoch nicht der Fall. 258 4 Träume erzählen Erzählung sie für uns Leser oder Zuschauer konstituiert, sodass wir uns ein Bild, eine Vorstellung von ihr machen können.18 Der Begriff Fokalisierung ergibt daher nur Sinn, wenn er tatsächlich eine Erzählaktivität bezeichnet, sich also auf die Perspektive der Erzäh- lung und nicht der Figur bezieht. Dabei versteht sich von selbst, dass es darum geht, in welchem Verhältnis die Perspektive der Erzählung zu der- jenigen der Figuren und insbesondere der Hauptfigur steht. Die verschie- denen Formen der Fokalisierung, wie sie etwa Gérard Genette entwickelt hat (focalisation zéro, interne und externe), beziehen sich denn auch primär auf dieses Verhältnis. Und das wichtigste Kategorisierungskriterium ist die Frage, inwiefern zwischen ihnen eine Übereinstimmung vorliegt. Chat mans Vorwurf, focalization beziehe sich sowohl auf die Erzähl- wie auf die Figurenperspektive, erscheint vor diesem Hintergrund unverständ- lich. Der Begriff soll sich ja genau auf beide beziehen, denn er beschreibt ein Verhältnis, eine Konstellation zwischen ihnen. Indem Chatman ihn ab- lehnt, verweigert er sich dem Versuch, diese unterschiedlichen Konstellati- onen zu modellieren und begrifflich zu fassen. Mit der Einführung eines je eigenen Begriffs für die Erzähl- wie für die Figurenperspektive gewinnt er hingegen nichts, denn slant und filter fungieren in seiner Theorie lediglich als Synonyme für die Erzähl- respektive Figurenperspektive. Gérard Genette, der den Begriff Fokalisierung von Brooks’ und War- rens «focus of narration» (1943) abgeleitet und eingeführt hat, äußert sich zur hier diskutierten Problematik in einer Replik auf Mieke Bals Kritik fol- gendermaßen: Pour moi, il n’y a pas de personnage focalisant ou focalisé: focalisé ne peut s’appliquer qu’au récit lui-même, et focalisateur, s’il s’appliquait à quelqu’un, ce ne pourrait être qu’à celui qui focalise le récit, c’est à dire le narrateur – ou, si l’on veut sortir des conventions de la fiction, l’auteur lui-même, qui délègue (ou non) au narrateur son pouvoir de focaliser, ou non. (Genette 1983: 48–49; Herv. i. O.) 18 Wie unklar der Begriff «Fokalisierung» und seine abgeleiteten Formen oft verwendet werden, zeigt das oben angeführte Zitat von Bal, in dem zuerst davon die Rede ist, dass die Figur ein Kapitel des Buches und einige Zeilen später, dass sie eine andere Figur fokalisiere (vgl. auch Bronzwaers Kritik an Bals Konzept [1981]). Ähnlich problemati- sche Formulierungen finden sich bei Percheron und Rimmon-Kenan, die ebenfalls von der Figur als Fokalisator und gleichzeitig davon sprechen, dass le récit oder narratives (also Erzählungen) fokalisiert werden. Wie kann eine Figur die Erzählung fokalisieren, durch die sie selber ja überhaupt erst entsteht? Die mangelnde Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erzählaktivitäten ist jedoch nicht allein auf den problematischen Umgang mit einer Wortneuschöpfung zurückzuführen. Wolf Schmid etwa, der mit herkömmlichen Begriffen operiert – «Perspektive», «Erfassen», «Wiedergeben» – ver- tritt ebenfalls die Ansicht, bereits das Erfassen (Erleben, Sehen, Wahrnehmen) eines Geschehens sei ein «Akt des Erzählens», nicht erst das tatsächliche Wiedergeben (Er- zählen, Berichten) des Erlebten (2005: 126). 4.2 Erzählinstanzen und -ebenen 259 Das Zitat macht deutlich, dass Genettes Konzeption von Anfang an darauf ausgerichtet war, die vom Erzähler gewählte perspektivische Ausrichtung oder Einschränkung zu beschreiben. Weshalb er sich allerdings nicht nur gegen die Bezeichnung «personnage focalisant» (die Figur als focalizer), sondern auch gegen «personnage focalisé» ausspricht und die Begriffe Fo- kalisierung/fokalisiert auf die Qualifizierung der Erzählung beschränken will, ist nicht nachvollziehbar. Wenn Genette die Erzählung als fokalisiert bezeichnet – das Partizip Perfekt lässt im Prinzip zwei Interpretationen zu –, meint er damit ja nicht, dass der Fokus des Erzählers (und somit auch die Perspektive der Erzählung) auf bestimmte Aspekte oder Bereiche der Erzählung, sondern vielmehr der Geschichte, der erfundenen Welt gerichtet ist, zum Beispiel das Umfeld einer bestimmten Figur. «Fokalisiert»/«focalisé» kann sich somit durchaus auch auf die Figur beziehen.19 Ein Grund dafür, dass der Figur oft Aktivitäten der Erzählinstanz zuge- schrieben werden, liegt wohl darin, dass die beiden Instanzen, insbeson- dere im Bezug auf die filmische Narration, konzeptionell nicht deutlich genug unterschieden werden. Die Aktivitäten der filmischen Erzählin- stanz werden oft mit Worten beschrieben, die implizieren, dass es sich bei ihr, genau wie bei der Figur, um ein wahrnehmendes Subjekt handelt, das sieht, Dinge anschaut oder Ereignisse registriert. Grundlage dieser Auffas- sung – oder dieses metaphorischen Sprachgebrauchs – bildet einerseits die Drehsituation, in der verschiedene Personen (etwa der Regisseur oder der Kameramann) tatsächlich aufgrund ihrer Wahrnehmungen künstlerische Entscheidungen treffen und Kamera wie Mikrofon als Aufzeichnungs- apparate fungieren, andererseits ein spezifischer Fiktionseffekt: der Um- stand, dass fiktionale Begebenheiten den Rezipienten oft so erscheinen, als existierten sie auch unabhängig von der sie konstituierenden Erzählung. Fasst man die Erzählinstanz jedoch als Erzeuger der fiktionalen Ereignisse auf, als Instanz, die die Figuren und Objekte nicht sieht, sondern generiert, entstehen lässt oder präsentiert,20 so wird der Unterschied zur Figur, die diese Fähigkeit nicht besitzt, erst richtig deutlich. Und da Fokalisieren mit der Entscheidung zusammenhängt, welche Ereignisse erzeugt und wie sie präsentiert werden sollen, wird nun auch klar, dass eine Figur diese Akti- vität nicht ausüben kann – schon deshalb nicht, weil sie im Gegensatz zur Erzählinstanz innerhalb der fiktionalen Welt situiert, also Teil von ihr ist. 19 Genettes Ablehnung der Bezeichnung «personnage focalisé» erscheint auch deshalb unverständlich, als er selber für das gleiche Phänomen einen ganz ähnlichen Begriff – «personnage focal» – gebraucht, dem Ersterer schon aus sprachlichen Gründen jedoch vorzuziehen ist. 20 Vgl. Chatman 1990: 155. 260 4 Träume erzählen 4.3 Erzählperspektive: Vom Fokalisierungsmodell zu differenzierteren Konzeptionen Ob eine Erzählung Einblick in Träume gewährt, ist für die Frage ihrer per- spektivischen Ausrichtung direkt relevant. Betrachtet man die wichtigsten Theorien zur Erzählperspektive, so wird jedoch deutlich, dass ein differen- ziertes Modell, das die Rolle der Traumdarstellung gebührend berücksich- tigt, bisher fehlt. 4.3.1 Genettes Fokalisierungsmodell und seine filmwissenschaftliche Adaption Am meisten Verbreitung gefunden hat das dreiteilige Fokalisierungsmo- dell, das in der Literaturwissenschaft 1972 von Genette eingeführt und in der Folge von verschiedenen Filmwissenschaftlern adaptiert wurde. Wie geeignet ist das Modell, Perspektivkonstellationen hinsichtlich ihrer subjek- tivierenden Wirkung zu unterscheiden? Welchen Platz räumt das Konzept der Traumdarstellung und anderen Formen von direkter Innensicht ein? Genette unterscheidet zwischen Null-, externer und interner Fokali- sierung, was in etwa denjenigen Kategorien entspricht, die in älteren The- orien «auktorial-allwissende Perspektive», «neutral-objektive Perspekti- ve» und «persönliche Innnenperspektive» genannt wurden. Die drei Perspektivtypen lassen sich wie folgt definieren: • Nullfokalisierung: Der Erzählinstanz sind keinerlei Restriktionen auferlegt, ihr Erzählen ist an keine Position gebunden, die eine Ein- engung der potenziell vermittelbaren Information zur Folge hätte. • Externe Fokalisierung: Die Erzählinstanz ist auf eine Figur und ihr unmittelbares Umfeld fokussiert, ohne dabei direkten Einblick in ihre subjektive Wahrnehmung und innere Vorstellung zu gewähren. • Interne Fokalisierung: Die Erzählinstanz beschränkt ihre Perspek- tive auf den Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Wissenshorizont einer Figur. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass der räumliche Stand- punkt an die Figur gebunden, die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Introspektion der ihrigen angepasst und die Vermittlung narrativer Information durch ihren Wissensstand limitiert ist. Aus den Definitionen wird ersichtlich, dass sowohl die nicht als auch die intern fokalisierte Erzählung zur Vermittlung von Träumen imstande ist, nicht aber die extern fokalisierte, die sich am äußerlich Sichtbaren zu ori- entieren hat. Gleichzeitig muss jedoch festgehalten werden, dass weder die interne noch die Nullfokalisierung auf Traumdarstellungen angewie- 4.3 Erzählperspektive 261 sen ist. «Nullfokalisiert» heißt lediglich, dass die Erzählung potenziell zu allen inneren Wahrnehmungen und Vorstellungen Zugang hat, nicht aber, dass sie diese auch zu einem Erzählgegenstand machen muss. Und die interne Fokalisierung ist in der Regel so weit definiert, dass sie bereits als gegeben erachtet wird, wenn die Erzählung lediglich auf die äußere Wahr- nehmung einer Figur fokussiert. Der Unterschied zwischen einer Erzäh- lung, in der uns zwar alles aus der Wahrnehmungsperspektive einer Figur dargeboten wird, der Fokus aber fast ausschließlich auf äußeren Ereignis- sen und Handlungen liegt, und einer Erzählung, in der wir darüber hinaus immer wieder und auch während längerer Phasen in innere Gedanken, Fantasien oder Träume der Figur eintauchen, kann mit dem Modell also nicht benannt werden, da es für beide Varianten nur eine Kategorie – die interne – vorsieht und diese im Normalfall auch nicht weiter unterteilt. Um die gegenüber der äußeren Wahrnehmungen stärker subjektivie- rend wirkenden inneren Erlebnisse – darunter Träume – zu berücksich- tigen, müsste die interne Kategorie also ausdifferenziert werden. Auch mit einem entsprechenden Zusatz weist das Fokalisierungsmodell jedoch grundlegende Mängel auf, die ich im Folgenden nur kurz umreißen kann: Das Konzept versucht eine Vielzahl möglicher Perspektiv-Konstellationen zwischen der Erzählinstanz, den diversen Figuren und dem Rezipienten, die sich zudem auf verschiedene Aspekte beziehen (raumzeitliche Postiti- on, Wissensstand, subjektive Wahrnehmung), mit nur drei Kategorien zu fassen. Ein erstes Problem besteht also darin, dass es zu grobmaschig ist. Ein zweites Problem betrifft den «Umfang» oder «Geltungsbereich» der Perspektivtypen. Sollen mit den Kategorien der internen, externen und Nullfokalisierung die Perspektivkonstellationen gesamter Erzählungen, längerer Erzählabschnitte oder nur einzelner Erzählmomente bezeichnet werden? Ruft man sich die Definitionen der drei Kategorien in Erinne- rung, wird das Problem offensichtlich: Im Gegensatz zur internen und externen Fokalisierung besteht das Merkmal der Nullfokalisierung ja nicht in einer festgelegten perspektivischen Ausrichtung, sondern vielmehr in ihrer uneingeschränkten Variabilität. Legt man die Mindestlänge des Erzählsegments nicht fest, bei der von einer perspektivischen Einschrän- kung gesprochen werden kann, so entsteht ein Abgrenzungsproblem: Ist eine Erzählung mit sich ändernder Perspektive als abwechselnd intern, extern und nicht fokalisiert oder aber als durchgängig nicht fokalisiert auf- zufassen? Ein drittes Problem bei der Handhabung des literaturwissenschaftli- chen Analysemodells betrifft die Frage, wie eng die Definitionen der einzel- nen Perspektivtypen auszulegen sind. Herrscht zum Beispiel noch interne Fokalisierung vor, wenn äußere Ereignisse zwar aus der Perspektive einer 262 4 Träume erzählen Figur erzählt werden, sie selber dabei aber auch benannt oder gar ansatz- weise beschrieben wird? Eine weite Auslegung, die dies bejaht (z. B. Ge- nette 1972: 209–210), führt nicht nur dazu, dass die Eigenart der Erzählper- spektive von Werken wie Les lauriers sont coupées oder Leutnant Gustl, die in der konsequenten Reduktion auf innere Gedanken und Wahrnehmungen besteht, mit dem Modell nicht mehr benannt werden kann, sondern auch, dass Abgrenzungsprobleme zur externen Fokalisierung entstehen. Denn eine Erzählung kann den direkten Zugang zu den Gedanken und Gefühlen ei- ner Figur zwar verweigern, den Leser im Bezug auf die äußeren Ereignisse gleichzeitig dennoch in ihre Wahrnehmungsperspektive hineinversetzen (und dadurch indirekt einiges über ihre innere Befindlichkeit aussagen).21 Stellt eine solche Konstellation nun eine interne oder eine externe Fokalisie- rung dar? Der Figurenstandpunkt als Konglomerat von Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Gefühls- und Wissensperspektive ist komplexer und vielschich- tiger, als es das literaturwissenschaftliche Fokalisierungsmodell glauben macht, das nicht nur Gedanken, Gefühle und Wissen, sondern auch inne- re Vorstellung und äußere Wahrnehmung unterschiedslos einer einzigen Fokalisierungskategorie zuordnet, ohne in Betracht zu ziehen, dass eine Erzählung die Perspektive der Figur auch nur teilweise, zum Beispiel in einem dieser Punkte, übernehmen kann, um gleichzeitig in einem anderen Punkt eine offensichtliche Diskrepanz zu etablieren. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Kategorien als fixe Ent- weder/oder-Einteilungen konzipiert sind. Es erstaunt deshalb nicht, dass seine Befürworter gezwungen sind, sich immer wieder mit Erzählungen auseinanderzusetzen, die sich nicht konsequent an einen der drei Perspek- tivtypen halten. Genettes Hauptverdienst in Figures III – neben der Tren- nung der Perspektiv- von der Erzähleridentitätsfrage – besteht denn auch darin, die Aufmerksamkeit auf die häufigen Abweichungen und Ausnah- men gelenkt zu haben, die er altérations nennt und in zwei Gruppen einteilt: Paralipsen (der Umstand, dass der Erzähler weniger Informationen vermit- telt, als möglich und nötig wären, zum Beispiel wichtige Gedanken einer intern fokalisierten Figur auslässt) und Paralepsen (ein «Überschuss» an In- formation im Verhältnis zu dem, was der herrschende Fokalisierungscode eigentlich erlauben würde, zum Beispiel die Wiedergabe des Traums einer Figur, die ansonsten extern fokalisiert ist). Angesichts der Tatsache, dass – je nach Auslegung – der Fokalisierungscode häufig wechseln kann, dass bei längeren Erzählabschnitten mit im Prinzip einheitlichem Code häufig «Übertretungen» festzustellen sind und dass zudem zwei gegenläufige 21 Dies ist gerade auch in Werken der Fall – z. B. Hemingways Hills Like White Elefants (1927) –, die immer wieder und auch von Genette selber als Musterbeispiele für die externe Fokalisierung genannt werden. 4.3 Erzählperspektive 263 Codes gleichzeitig etabliert sein können, stellt sich allerdings die Frage, ob ein eher auf graduelle Unterschiede denn auf binäre Oppositionen ausge- richtetes Analysesystem nicht sinnvoller wäre. Zudem drängt sich ange- sichts der Tatsache, dass die verschiedenen Aspekte der Erzählperspekti- ve (räumlicher Standort, innere und äußere Wahrnehmung, Wissen) nicht immer genau gleich miteinander verknüpft oder «gleichgeschaltet» sein müssen, eine Differenzierung des Modells auf. Es ginge somit nicht mehr nur um die Frage, ob die Erzählung ihre Ausrichtung an der Perspekti- ve einer Figur orientiert oder nicht, sondern wie sehr (gar nicht, teilweise, weitgehend oder vollständig?) und im Bezug auf welche Aspekte (ihr Wissen, Denken, Erleben und Fühlen, ihre innere oder äußere Wahrnehmung oder nur ihre räumliche Position und ihren Aktionsradius?). Man kann nicht nur «raconter plus ou moins ce que l’on raconte, et le raconter selon tel ou tel point de vue», wie Genette zur Wahl des grammatikalischen Begriffs mode als Überschrift für seine Ausführungen zur distance und perspective narrati- ve anmerkt (1972: 183, Herv. i. O.), sondern auch mehr oder weniger aus einer bestimmten Perspektive erzählen. Nicht nur die narrative Distanz, auch die Perspektive weist oft graduelle Unterschiede auf. Als sich die Filmwissenschaft – vorwiegend im französischen Sprachraum – gegen Ende der 1970er-Jahre verstärkt dem Thema der Erzählperspekti- ve zuzuwenden begann, orientierte sie sich trotz der genannten Probleme weitgehend am literaturwissenschaftlichen Fokalisierungsmodell. Explizit auf Genettes Modell beziehen sich u. a. Daniel Percheron (1976), Francis Va- noye (1989 [1979]), Michèle Lagny, Marie-Claire Ropars-Wuilleumier und Pierre Sorlin (1984), François Jost (1983, 1984, 1989 [1987]), André Gaud- reault und François Jost (1990) sowie André Gardies (1984, 1988, 1993). Die meisten Autoren sind zwar bemüht, bei der Adaption des Modells die Ei- genart der filmischen Erzählform zu berücksichtigen. Dabei werden eini- ge sinnvolle Differenzierungen vorgenommen, trotzdem überzeugen die diversen Modelle nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Verschiedene Probleme der literaturwissenschaftlichen Fokalisierungskategorien treten auch in den filmwissenschaftlichen zutage, insbesondere die Frage ihrer ge- nauen Definition (eng oder weit?) und ihres «Geltungsbereichs» (einzelne Einstellungen, längere Erzählabschnitte oder ganze Erzählungen?). Mehre- re Autoren gehen von einem falschen Verständnis einzelner Kategorien des literaturwissenschaftlichen Modells aus und nehmen entsprechend proble- matische Übertragungen, Umbenennungen oder Streichungen vor. In den meisten Modellen dreht sich fast alles um die äußere visuelle Wahrneh- mung; entsprechend groß ist das Gewicht, das der «subjektiven Kamera» – meist eng als Point-of-View-Einstellung aufgefasst – beigemessen wird. 264 4 Träume erzählen Damit verbunden ist die Tendenz der meisten Autoren, sich in ihren Analysen vorwiegend auf die Mikroebene einzelner Einstellungen zu kon- zentrieren. Überlegungen zur perspektivischen Ausrichtung längerer Er- zählabschnitte oder ganzer Erzählungen sucht man oft vergebens – außer es ist von einem Film wie Lady in the Lake die Rede, der sich dank seiner starren Form als Ganzes scheinbar problemlos einer einzelnen Kategorie zuordnen lässt. In einigen Modellen (Jost und Gardies) spielen überdies Aspekte mit hinein – die Art der Markierung und Präsenz der Erzähl- instanz –, die nicht direkt mit der perspektivischen Ausrichtung zu tun haben oder zumindest nicht in eindeutiger Korrelation zu ihr stehen. Ist mehr als eine Erzählebene im Spiel, so bekunden viele Autoren erst recht Mühe, die Perspektive genau zu fassen. Hinzu kommt, dass von den bei- den Grundproblemen des literaturwissenschaftlichen Fokalisierungsmo- dells – seinem Reduktionismus (eine minimale Anzahl Kategorien für eine Vielzahl komplexer Konstellationen) und seinem «Absolutismus» (reine Entweder/oder-Kategorien, die keine graduellen Abstufungen zulassen) – nur das erste ansatzweise gelöst wird, und auch nur von einzelnen Auto- ren.22 Die filmwissenschaftlichen Modelle erscheinen aus all diesen Grün- den sowohl konzeptionell als auch terminologisch zu wenig kohärent und differenziert, als dass mit ihrer Hilfe eine nuancierte Analyse komplexer filmischer Perspektivkonstellationen möglich wäre. Nicht nur die Modelle insgesamt, gerade auch die vorgenommenen Übertragungen und Neudefinitionen der internen Kategorie erweisen sich, insbesondere für die erzählperspektivische Bedeutung der Innenweltdar- stellung, die in unserem Zusammenhang besonders interessiert, als wenig überzeugend. Die ausgeprägte Konzentration auf die äußere Wahrneh- mung und ihre Repräsentation durch den Point-of-View-Shot führt bei vielen Autoren dazu, dass die Darstellung innerer Vorstellungen gar nicht oder lediglich am Rande berücksichtigt wird. Diese einseitige Auffassung der personal ausgerichteten Innenperspektive lässt sich zurückführen auf die bereits in früheren Epochen auffällige Dominanz von Fragen rund um die «subjektive Kamera». Sie ist im Übrigen auch in Erzähltheorien zu be- obachten, die sich nicht auf Genettes Fokalisierungsmodell stützen, etwa bei Anke-Marie Lohmeier oder Matthias Hurst, die beide – wie im deut- schen Sprachraum üblich – von Stanzels Typenkreis und seiner Theorie der Erzählsituationen ausgehen.23 Auch Literaturwissenschaftler verwei- 22 Lagny, Ropars-Wuilleumier und Sorlin (1984) reduzieren die Anzahl Kategorien gar von drei auf zwei, wodurch das Problem der Undifferenziertheit noch akuter wird. 23 Hurst stellt die Extremvariante dieser Position dar, betrachtet er die Innenweltdar- stellung für die filmische Innenperspektive doch nicht nur als nebensächlich, sondern schlicht als irrelevant, wie das folgende Zitat zeigt: «Die literarische Innenperspektive 4.3 Erzählperspektive 265 sen, wenn sie die interne Fokalisierung mit einem Filmbeispiel zu illustrie- ren suchen, in der Regel nur auf die subjektive Kamera.24 Wird die Möglichkeit des direkten Einblicks in die innerpsychische Sphäre nicht gänzlich unterschlagen (Percheron) oder gar explizit ausge- klammert (Hurst), so wird sie kategoriell oft nicht von der Wiedergabe der äußeren Wahrnehmung unterschieden (Vanoye, Gardies). Findet eine Un- terscheidung statt (Lagny/Ropars-Wuilleumier/Sorlin, Jost), so überzeugt sie in der Regel weder terminologisch noch konzeptionell. Zum einen wer- den ganze Bereiche wie das verbale Denken (Lagny/Ropars-Wuilleumier/ Sorlin) oder mentale Bilder (Jost) aus der Systematik der Perspektivkate- gorien ausgegliedert. Zum anderen dreht sich die Diskussion besonders häufig um Fragen, die für die erzählperspektivische Ausrichtung wenig relevant sind, etwa unterschiedliche Markierungsformen und ihre histo- rische Entwicklung (Jost, Branigan). Hinzu kommt, dass die Handhabung der eingleisigen Innen/Außen-Dichotomie bei Innenweltdarstellungen besondere Probleme bereitet und bisweilen zu fragwürdigen Schlüssen führt, etwa wenn Einstellungen innerhalb einer Traumsequenz, die nicht aus der visuellen Perspektive des Traum-Ichs erfolgen, der externen Kate- gorie zugerechnet werden (Jost). 4.3.2 Differenzierungsvorschläge Im Anschluss an die Diskussion des Fokalisierungsmodells, dessen Pro- bleme ich in dieser Studie nicht im Detail erläutern kann,25 möchte ich nun versuchen, das Instrumentarium zur Analyse der filmischen Erzähl- perspektive, insbesondere im Bezug auf Fragen der Subjektivierung und Innenweltdarstellung, kohärenter anzulegen und zu verfeinern. Statt mit ist gekennzeichnet durch die Darstellung von Gedanken und Gefühlen des oder der Protagonisten, durch Einblicke in deren Bewusstsein und durch die daraus entstehen- de momentane Identifizierung zwischen Rezipient und fiktiver Figur. Eine gebräuchli- che literarische Technik, dies zu erreichen, ist beispielsweise der innere Monolog. Für den Film jedoch – wie er im Augenblick verstanden werden soll: als visuelles Medium in seiner allgemeinsten Form – bedeutet die Innenperspektive zunächst nichts anderes als der von innen nach außen gerichtete Blick; kinematographische Innenperspekti- ve ist nicht die Betrachtung der Innenwelt eines Protagonisten, nicht die Darstellung seiner Gedanken- und Gefühlswelt, kein innerer Monolog und keine Reflexion, sie ist vielmehr der Blick einer Figur der Filmhandlung auf die sie umgebende fiktive Au- ßenwelt, also beispielsweise eine Einstellung mit subjektiver Kamera. Die Innenper- spektive der kinematographischen Erzählsituationen ist eine nach außen gewandte Perspektive» (Hurst 1996: 96–97). 24 Vgl. zum Beispiel Lethbridge/Mildorf 2005: 58–59. 25 Für eine ausführliche Kritik und Diskussion des Fokalisierungsmodells sei auf Modelle der Erzählperspektive in Literatur- und Filmwissenschaft verwiesen, eine Studie, die als «Nebenprodukt» meiner Dissertation entstanden ist und voraussichtlich 2011 in der Reihe Narratologia bei De Gruyter erscheinen wird. 266 4 Träume erzählen einem reduzierten Set pauschaler Kategorien und Gegensätze werde ich versuchen, der Komplexität möglicher Perspektivkonstellationen mit gra- duellen Abstufungen beizukommen. Allgemein geht es mir mehr um die Dynamik der Perspektivierung längerer Erzählabschnitte und ganzer Er- zählungen als um lokale Effekte im Bereich einzelner Einstellungen. David Bordwell und Murray Smith, die nicht vom literaturwissen- schaftlichen Fokalisierungsmodell ausgehen (weshalb ich sie im aktu- ellen Zusammenhang noch nicht erwähnt habe), werden mir als Aus- gangspunkt dienen, bieten ihre Konzepte doch wenigstens zwei wesent- liche Vorteile gegenüber den bisher besprochenen. Bordwell (1993 [1985]: 57–58) unterscheidet zwischen der Breite und der Tiefe des Wissens (range und depth of knowledge). Je stärker die vermittelten Informationen den Ho- rizont der Figuren überschreiten, desto breiter oder umfangreicher ist das Wissen, das uns die Erzählung zur Verfügung stellt.26 Mit Tiefe des Wissens bezeichnet er den Grad der Subjektivierung, der von indirekten Hinwei- sen durch das Verhalten der Figur über die Vermittlung der visuellen und auditiven Wahrnehmung bis hin zur vollständigen Offenbarung des men- talen Innenlebens reicht. Smith trifft in Engaging Characters (1995: 142–165) eine ähnliche Unterscheidung: Die Ausrichtung (alignment) der Erzählung – und somit des Zuschauers – auf die fiktionale Welt sei im Wesentlichen bestimmt durch die raum-zeitliche Anbindung (spatio-temporal attachment) an und den subjektiven Zugang (subjective access) zur Figur. Die Bandbreite der Möglichkeiten reicht dabei von multipler bis exklusiver Anbindung und von subjektiver Obskurität bis Transparenz. Beide Autoren trennen somit zwei Aspekte, die das Fokalisierungs- modell von vornherein verknüpft, obwohl eine zwingende Korrelation nur in intern fokalisierten Erzählabschnitten gegeben ist: die Frage der raum- zeitlichen Positionierung des Erzählstandpunkts (der sich mehr oder we- niger stark auf den Aktionsradius der Figur eingeschränken kann) und die Frage der Orientierung an ihrer subjektiven Wahrnehmung. Die strikte Orientierung am persönlichen Erleben der Figur setzt logischerweise eine Einengung auf ihren Aktionsradius voraus; der Umkehrschluss ist jedoch nicht zulässig: Eine Konzentration auf das unmittelbare Umfeld der Figur führt nicht automatisch zum Einblick in ihre Wahrnehmung, Vorstellung und innere Befindlichkeit, auch wenn eine solche Verbindung – insbeson- dere in klassischen Erzähltraditionen – häufig gegeben ist.27 Die Gewich- 26 Bordwell hält es zwar nicht für nötig anzugeben, welche Art von Wissen gemeint ist, aufgrund der Gegenüberstellung mit der Tiefe des Wissens muss jedoch angenommen werden, dass es ihm bei der Breite vor allem um Informationen über außenweltliche Ereignisse und Handlungen geht. 27 Vgl. Smith 1995: 143. 4.3 Erzählperspektive 267 tung der beiden Aspekte kann sehr unterschiedlich ausfallen und erlaubt eine Vielzahl von Konstellationen, die eine je eigene Dynamik zu entfalten vermögen. Das Fokalisierungsmodell mit seiner beschränkten Anzahl von Kategorien ist, zumindest nach enger Auslegung, lediglich in der Lage, zwei fixe Extremvarianten zu benennen: die permanente und vollstän- dige Orientierung an der subjektiven Wahrnehmung der Figur (die eine Einengung auf ihren Aktionsradius voraussetzt) und die durchgehende Konzentration auf ihr Handeln und ihre äußere Erscheinung bei vollstän- digem Verzicht auf jegliche Form direkter Subjektivierung. Alle anderen Gewichtungen und Kombinationsmöglichkeiten, so unterschiedlich sie auch ausfallen, müssen entweder pauschal der Nullkategorie zugerechnet oder umständlich mit einem (mitunter häufigen) Wechsel zwischen den drei Kategorien beschrieben werden, wie die folgende tabellarische Dar- stellung zeigt: Einengung auf Orientierung an Kategorie Fokalisierungsmodell Aktionsradius subj. Wahrnehmung 100% 100% interne Fokalisierung 100% 0% externe Fokalisierung < 100% < 100% Nullfokalisierung oder Wechsel zwischen Null-, externer u. interner Fokalisierung Mit der Trennung der beiden Aspekte und einer Terminologie, die die Bezeichnung gradueller Unterschiede und Veränderungen zulässt – die «Breite» und «Tiefe des Wissens» respektive die raum-zeitliche Anbin- dung und der subjektive Zugang zur Figur können mehr oder weniger ausgeprägt sein und im Verlauf der Erzählung variieren –, sind Bordwell und Smith in der Lage, Konstellationen, die zwischen oder neben den bei- den oben genannten, fixen Extremvarianten liegen, präziser zu fassen als das dreiteilige Fokalisierungsmodell. Zur Frage, welche Varianten und Intensitäten einer Erzählung in ih- rer Fokussierung auf das Umfeld und subjektive Erleben der Figur zur Verfügung stehen, äußern sich die beiden Autoren jedoch teilweise unter- schiedlich und insgesamt nicht sehr differenziert. Im Bezug auf die «Breite des Wissens» unterscheiden sie lediglich zwischen exklusiver und multi- pler Anbindung, also zwischen Erzählungen, die dem Weg einer einzigen, und solchen, die verschiedenen Figuren folgen. Und was den Grad des subjektiven Zugangs betrifft, wendet Smith – trotz explizitem Bezug auf Bordwell (Smith 1995: 83, 142) – einen anderen Maßstab an als dieser: Voll- ständiger Zugang zur Subjektivität ist für ihn gegeben, sobald uns keine 268 4 Träume erzählen signifikanten Wahrnehmungen, Gedanken oder Motivationen der Figur vorenthalten werden. So bezeichnet er etwa Ben und Jo McKenna in der ersten Hälfte von The Man Who Knew Too Much (USA 1956) als «sub- jectively transparent» – auf seiner Skala der Maximalwert des subjektiven Zugangs –, auch wenn ihre Gedanken und innere Disposition lediglich indirekt und eher punktuell (durch Handlungen, Mimik und Gestik sowie die vereinzelte Wiedergabe ihrer optischen Perspektive) vermittelt wer- den. Für Bordwell ist maximale «Tiefe des Wissens» hingegen nur gege- ben, wenn uns die Erzählung «the whole of a character’s mental life» of- fenbart (1993 [1985]: 58). Die Differenz zwischen den beiden Autoren zeigt, dass es zwei unterschiedliche Methoden gibt, den Grad des subjektiven Zugangs zu messen: eine relative, die danach fragt, inwieweit die für den Erzählzusammenhang relevanten subjektiven Informationen vermittelt werden (Smith), und eine absolute, die abzuschätzen versucht, wie um- fassend und tief wir Einblick ins Figureninnere erhalten und welche Rolle subjektive Inhalte im Verhältnis zu objektiven in einer Erzählung über- haupt spielen (Bordwell). Ich möchte im Folgenden versuchen, mögliche Varianten des subjektiven Zugangs genauer zu fassen. Dabei werden, nach ansteigendem Grad der Orientierung am Erleben der Figur, zuerst Formen der räumlichen Fokus- sierung und indirekten Subjektivierung und danach die Vermittlung der äußeren und schließlich der inneren Wahrnehmung zur Sprache kommen. Traumdarstellungen gehören zur letzten Kategorie, die, wie sich zeigen wird, bei weitem das stärkste Subjektivierungspotenzial aufweist. 4.3.2.1 Räumliche Fokussierung und indirekte Formen der Subjektivierung Der Erzählstandpunkt lässt sich einteilen in Positionen außerhalb des Um- felds, im näheren und im direkten Umfeld der Figur. Setzt man diese Grade der räumlichen Fokussierung mit Formen der Subjektivierung in Bezie- hung, so kommt man zur wenig überraschenden Einsicht, dass Letztere vor allem bei der Darstellung von Ereignissen zu beobachten sind, an denen die Hauptfigur beteiligt ist oder denen sie beiwohnt. Eine relativ ausgeprägte, rein räumliche Konzentration auf den Protagonisten ist kei- ne Garantie, jedoch notwendige Grundlage für einen Erzählmodus, der sich weitgehend an seinem subjektiven Erleben orientiert. Indirekte Sub- jektivierungsformen, etwa durch die Beleuchtung, Bildgestaltung oder musikalische Untermalung, sind jedoch auch außerhalb seines Umfelds nicht ausgeschlossen. Eine subjektiv aufgeladene Atmosphäre kann sich leicht auf Szenen, an denen die Figur gar nicht beteiligt ist – und letztlich 4.3 Erzählperspektive 269 auf den gesamten fiktionalen Kosmos – übertragen.28 Neben der atmosphä- rischen (durch Gestaltung des Dekors, Inszenierung des Wetters etc.) gilt dies auch für Formen der situativen Subjektivierung.29 Empathie mit dem Helden kann nicht nur durch seine Inszenierung, sondern auch durch die Gegenüberstellung seiner Lage mit derjenigen einer anderen Figur ange- regt werden. Trotz der Möglichkeit einer mehr oder weniger ausgepräg- ten «Ausdehnung» der subjektiven Einfärbung, konzentrieren sich auch die indirekten Formen der Erschließung inneren Erlebens vorwiegend auf Szenen im direkten Umfeld der Figur. Dies umso mehr, als einige Varian- ten – etwa die verbale oder mimische und gestische Subjektivierung (also die Offenbarung innerer Gedanken oder Befindlichkeiten durch den Dialog oder die Körpersprache) – direkt an ihre Präsenz gebunden sind. 4.3.2.2 Visuelle Perspektive Neben der Frage, wie sehr die Vermittlung der außenweltlichen Ereignis- se Aufschlüsse über das innere Erleben zulässt, ist bei Szenen mit Beteili- gung der Figur relevant, ob wir ihre optische und akustische Perspektive teilen. Wie wir bereits gesehen haben, nimmt der erste dieser beiden As- pekte in den meisten Konzepten eine dominante Stellung ein und fun- giert in vielen Fällen gar als wichtigstes Kriterium zur Unterscheidung verschiedener Perspektivtypen. Ist das große Gewicht, das dieser Fra- ge beigemessen wird, berechtigt? Rein quantitativ kann man festhalten, dass Einstellungen aus dem physischen Blickwinkel der Figuren in der Regel nicht sehr zahlreich sind. Da es sich überdies meist um eher kurze Momente handelt – ein Rückschnitt auf die blickende Figur erfolgt meist umgehend –, ist ihr Anteil an der Erzählzeit eher gering. Filme, die die optische Außenwahrnehmung der Figur mehr als nur vereinzelt ins Bild setzen, stellen die Ausnahme dar.30 Zur Tatsache, dass es sich in aller Regel um ein lediglich punktuell eingesetztes Subjektivierungsmittel handelt, kommt hinzu, dass mit der Blickpunkteinstellung oft die optische Wahr- nehmung nicht nur der Haupt-, sondern auch verschiedener Nebenfigu- ren präsentiert wird. 28 Ein schönes Beispiel hierfür ist Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni (I/F 1964), in dem das Umfeld der Protagonistin fast durchgehend als Seelenlandschaft ge- staltet ist. Vgl. Christen 2002b: 77–78. 29 Konzept und Bezeichnung der meisten in diesem Abschnitt erwähnten Formen der Subjektivierung – situative, atmosphärische, verbale, mimische und gestische – stammen von Christine N. Brinckmann (unveröffentlichtes Handout des Seminars «Spielformen der Subjektivierung» an der Universität Zürich, Sommersemester 1995). 30 Die bekanntesten Beispiele sind Lady in the Lake, der mit Ausnahme der Rahmen- handlung durchgehend, und Dark Passage (USA 1947), der im ersten Drittel vorwie- gend den Blickwinkel der Hauptfigur übernimmt. 270 4 Träume erzählen Untersucht man die narrative Bedeutung der Point-of-View-Einstel- lungen, die ja nicht in Korrelation zu ihrem quantitativen Gewicht stehen muss, so kann man feststellen, dass einzelnen von ihnen spezielle Rele- vanz zukommen kann, etwa wenn sie uns eine folgenreiche Entdeckung oder eine emotional aufwühlende Beobachtung der Figur vermitteln oder wenn ihre optische Einengung im Gegenteil das Erkennen einer drohen- den Gefahr – zum Beispiel im Horrorfilm – hinauszögert. Blickpunkt- einstellungen dieser Art legen aufgrund des speziellen Charakters ihres Wahrnehmungsobjekts meist ganz spezifische mentale oder emotionale Reaktionen der Figur nahe und sind oft Träger von für den Fortgang der Erzählung besonders relevanten Informationen. Die überwiegende Mehrheit der Point-of-View-Shots ist jedoch nicht derart mit Bedeutung aufgeladen. Einstellungen aus der Sicht der Haupt- und vereinzelt der Nebenfiguren gehören auch einfach zum konventio- nellen Repertoire, um Szenen, in denen verschiedene Figuren interagieren oder sich eine Figur nach etwas umschaut, in der Decoupage sinnvoll und variantenreich aufzugliedern. Überhaupt sollte die «subjektive Kamera» nicht isoliert, sondern als Teil einer mehrere Einstellungen oder ganze Sequenzen umfassenden Kompositionsstruktur betrachtet werden.31 Nur schon deshalb erscheint es nicht sinnvoll, daraus eine eigene Fokalisie- rungskategorie zu machen, die in bestimmten Szenen fast im Sekunden- takt wechseln würde. Überdies stellt sich die Frage, wie subjektivierend die «subjektive Kamera» überhaupt zu wirken vermag. In Überlegungen zur Zuschaue- ridentifikation mit den Figuren wurde immer wieder behauptet, Point-of- View-Einstellungen vermittelten nicht nur die Sicht, sondern zugleich die psychisch-mentale Verfassung der Figur. Balázs’ in Kapitel 2.2 bereits er- örtertes Statement, dass «[j]eder visuelle Standpunkt […] auch einen see- lischen Standpunkt [bedeutet]», ist ein frühes Beispiel dieser Auffassung (1972 [1945]: 78). Murray Smith spricht in diesem Zusammenhang von Trugschluss und von einer «conflation of sight and subjectivity»: POV shots are thought to represent, synechdochically, the entire mind of the character – an assumption that I am tempted to call the «fallacy of POV». […] But the mind is not always consumed by what the eyes see, and what the eyes see does not itself tell us what the mind thinks. (Smith 1995: 156–157) Ähnliche Überlegungen wurden bereits im Zusammenhang mit dem Er- scheinen von Lady in the Lake angestellt, insbesondere in Frankreich, 31 Edward Branigan hat die möglichen Einstellungsfolgen zur Etablierung eines Point-of- View-Shot in Point of View in the Cinema (1984: 103–121) im Detail erörtert. 4.3 Erzählperspektive 271 wo es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer intensiven Diskussion rund um die Wirkung der subjektiven Kamera kam.32 Die meisten Auto- ren betonten schon damals, dass die Sicht der Figur normalerweise erst in Verbindung mit der Sicht auf die Figur Rückschlüsse auf ihr inneres Erleben zulässt, da nur so ihre emotionale Reaktion an ihrem mimischen und ges- tischen Ausdruck abgelesen werden kann.33 Hinzu kommt, dass auch die Frage der Ausrichtung an der optischen Perspektive der Figur keine reine Entweder/oder-Angelegenheit ist. Er- eignisse können nicht nur genau, sondern auch annähernd aus dem Blick- winkel der Figur dargestellt werden. Solche halbsubjektiven Einstellungen, die zum Teil nicht nur die ungefähre Sicht der Figur, sondern ansatzweise auch sie selber abbilden – etwa Teile der Schulter und des Hinterkopfs im so genannten Over-the-Shoulder-Shot – sind in der Tat häufiger als reine Blickpunkteinstellungen. Insbesondere das klassische Hollywood, aber auch andere Erzählstile greifen sehr oft auf eine Kameraposition zurück, die das Sehfeld der Figur nicht exakt, sondern leicht versetzt wiedergibt. Der Einsatz der halbsubjektiven Einstellung zeigt noch deutlicher als derjenige der subjektiven, dass die mehr oder weniger exakte räumliche Ausrichtung des Erzähl- an einem Figurenstandpunkt bei weitem nicht nur den Protagonisten betrifft und nur ganz selten über längere Phasen aufrecht erhalten bleibt. Oft wird sie als eher unterschwellig wirkendes Mittel eingesetzt, um der Inszenierung sporadisch eine persönliche Note zu verleihen, die nicht nur auf die Hauptfigur bezogen ist. Christine N. Brinckmann beschreibt diesen Effekt folgendermaßen: Dank der ständigen Verzahnung von Schuss/Gegenschuss-Folgen werden die Personen sowohl ins Auge gefasst wie aufeinander bezogen, charakte- risieren sich durch ihre eigenen Blicke wie unter den Blicken der anderen, und auch die Räume und Objekte werden häufig aus der Perspektive einer Person, als Gegenstand ihres Interesses gezeigt. So hat fast jede Einstellung eine persönliche Beimischung, vermag zu subjektivieren – was für die Wirk- samkeit der Fiktion von großer Bedeutung ist –, ohne doch explizit subjektiv zu sein. (Brinckmann (1997 [1994]: 289) Welche Rolle kann man nun Point-of-View-Einstellungen für die perspek- tivische Ausrichtung filmischer Erzählungen zugestehen? Und welchen Grad des subjektiven Zugangs ermöglichen sie? Fokalisierungsmodelle, die fast ausschließlich auf die Übereinstimmung des optischen Blickwin- 32 Vgl. Metz 1995 [1991]: 115–117. 33 Diese Position vertritt auch Mitry, wie wir in Kapitel 2.5 gesehen haben. 272 4 Träume erzählen kels mit der figuralen Außenwahrnehmung fokussieren, messen ihnen eindeutig zu großes Gewicht bei. Blickpunkteinstellungen kommt sowohl quantitativ als auch hinsichtlich ihrer «Exklusivität» und narrativen Re- levanz meist nicht eine derart herausragende Bedeutung zu, wie die ent- sprechenden Perspektivkonzepte suggerieren. Vor allem aber stellen sie kein autonomes Mittel dar, sondern vermögen ihre Wirkung im Normal- fall erst im Zusammenspiel mit anderen Formen der Subjektivierung zu entfalten. 4.3.2.3 Akustische Perspektive Im Vergleich zum optischen Standpunkt, dessen Bedeutung nicht nur in narrationstheoretischen, sondern auch in didaktisch-filmanalytischen Pu- blikationen ihren festen Platz hat, ist die akustische Perspektive viel selte- ner erörtert worden.34 Im Film eine auditive Perspektive zu etablieren, ist aus verschiedenen Gründen schwieriger als eine optische. Meist ermög- licht erst die Zuhilfenahme visueller Informationen die Lokalisierung ei- ner Klangquelle. Zudem erscheint die visuelle Perspektive in den meisten Fällen individueller als die akustische. Ein Objekt sieht nicht nur aus un- terschiedlicher Entfernung, sondern auch aus unterschiedlichen Winkeln unterschiedlich aus. Die Qualität eines Geräusches oder Klangs hingegen ändert sich auf deutlich wahrnehmbare Weise meist erst durch eine maß- gebliche Veränderung der Distanz zu seiner Quelle. Dass wir in Szenen im nahen Umkreis einer Figur etwa dasselbe hören wie sie, erscheint deshalb selbstverständlich und vermag keine große subjektivierende Wirkung zu entfalten, zumal andere Figuren in ihrer Nähe fast dieselbe Wahrnehmung mir ihr und uns teilen. Etwas stärker ins Bewusstsein zu dringen vermag die ungefähre Übereinstimmung unserer akustischen Wahrnehmung mit derjenigen der Figur erst, wenn gleichzeitig auf der visuellen Ebene eine Diskrepanz besteht. Vermittelt uns die Tonspur den Dialog zweier Figuren deutlich hörbar, obwohl das Bild sie lediglich aus der Ferne zeigt, so wird die akus- tische Nähe erst durch die visuelle Distanz hervorgehoben. Eine ähnliche 34 Als Ausnahmen zu nennen sind Claudia Gorbman, die in «Teaching the Soundtrack» (1976) schon früh Analysekategorien vorgeschlagen hat, die Fragen der Orientierung an der Figur berücksichtigen; Michel Chion, der in seinen zahlreichen Publikationen zu unterschiedlichen Aspekten des Filmtons in Analogie zum point de vue die Frage des point d’écoute (Hörpunkt) gestellt hat (insbesondere 1992 [1985]: 51–57 und 1990: 79–82); François Jost, der in seinen Überlegungen zur Erzählperspektive mit den Kategorien der auricularisation die auditive Ebene gesondert von der visuellen betrachtet (insbe- sondere 1989 [1987]: 45–67 und Gaudreault/Jost 1990: 134–136); sowie Barbara Flücki- ger, die in ihrer ausführlichen Untersuchung des filmischen Sound Designs möglichen Strategien akustischer Subjektivierung ein eigenes Kapitel widmet (2001: 362–411). 4.3 Erzählperspektive 273 Wirkung kann erzielt werden, wenn uns ein geschlossenes Fenster oder eine Glastür von den Figuren trennt, wir aus ihrem Umfeld aber dennoch akustische Informationen deutlich wahrzunehmen imstande sind. Welche Rolle spielt die Ausrichtung an der akustischen Wahrneh- mung der Figur für die Erzählperspektive? Ähnlich wie im optischen kön- nen wir in vielen Filmen auch im akustischen Bereich die verbreitete Ten- denz zu einer leichten Subjektivierung feststellen, die weder sonderlich auffällt noch ausschließlich auf die Hauptfigur zugespitzt ist. Aufgrund der Tatsache, dass das Hören generell weniger individualisiert erscheint als das Sehen und die akustischen Wahrnehmungsobjekte der Figuren öf- ter dieselben sind als die visuellen, müssen meist spezielle Konstellationen mit isolierten Schallräumen oder technischen Geräten (Telefonapparate, Kopfhörer) mobilisiert werden, um die Individualität einer akustischen Wahrnehmung punktuell hervorzuheben. Betrachtet man das Zusammenspiel von Bild und Ton im Hinblick auf eine Annäherung an die Wahrnehmungsperspektive der Figuren, so zeigt sich, dass die beiden Ebenen oft nicht genau im Gleichschritt aktiviert sind. Gesamthaft gesehen können wir festhalten: Die äußere Wahrnehmung der zentralen Figuren dient in den meisten Szenen als Orientierungsfeld, dem sich die akustische wie die visuelle Perspektive mehr oder weniger stark annähert, meist jedoch, ohne komplett darin aufzugehen. Auch wenn die beiden Ebenen eher komplementär als synchron wirken, handelt es sich auf jeden Fall um ein Zusammenspiel, das feine Modulationen der pers- pektivischen Ausrichtung auf die verschiedenen Figuren ermöglicht. Im Verhältnis zu den Subjektivierungsformen, um die es im Folgenden gehen wird, wirkt die partielle Übernahme der äußeren Wahrnehmung jedoch nur als Fundament, auf dem weitergehende und eindringlichere Varianten aufbauen. 4.3.2.4 Verzerrte Wahrnehmung Bisher habe ich lediglich Point-of-View-Einstellungen besprochen, die uns primär räumlich in die Perspektive der Figur versetzen und eine «norma- le» Wahrnehmung der Außenwelt suggerieren. Weicht in einer Blickpunk- teinstellung die Darstellung des Wahrnehmungsobjektes jedoch deutlich von den Normen und Konventionen der jeweiligen Epoche und des be- treffenden Filmes ab, so werden uns mehr als nur Standort und Sehfeld der Figur vermittelt. Auffällige optische Veränderungen – Deformationen und Verzerrungen (durch Spezialobjektive, Filter, Unschärfe, Zeitlupe, Veränderungen am Objekt/Dekor selber), ungewöhnliche Kamerabewe- gungen (z. B. bewegte Handkamera im klassischen Hollywoodfilm) oder Farb- und Lichtmanipulationen – verweisen zusätzlich auf eine veränder- 274 4 Träume erzählen te, beeinträchtigte, abnorme oder besonders intensive Wahrnehmung. Wir sehen in solchen Momenten nicht nur aus derselben Perspektive, was die Figur sieht, uns wird auch vermittelt, wie sie wahrnimmt. Zusammen mit weiteren Hinweisen aus dem narrativen Kontext kann so auf den Gemüts- zustand, das Befinden oder die mentale Disposition der Figur geschlossen werden, die etwa betrunken, krank oder geschockt sein kann. Edward Branigan (1984: 78–82, 94–96) hat für diese Art von Einstel- lung den Begriff perception shot (Wahrnehmungseinstellung) geprägt und neben zahlreichen Beispielen, in denen der Blickpunkt genau mit der Fi- gur übereinstimmt (strict perception shots), auch Sonderfälle beschrieben, in denen dies nicht ganz oder gar nicht der Fall ist. So kann etwa durch die Verringerung der Distanz zum Wahrnehmungsobjekt – einen zoom-in, eine schnelle Kamerafahrt auf einen Gegenstand oder einen Schnitt zu einer Großaufnahme – die gesteigerte Aufmerksamkeit der Figur zum Ausdruck gebracht werden. Auch in solchen dynamischen Wahrnehmungseinstellungen sind mit Hilfe des Kontextes oft Rückschlüsse auf den Gemütszustand der Figur möglich – ihre Angst, Neugier oder ihr Abscheu zum Beispiel. Nicht nur die visuelle, auch die akustische Wahrnehmung der Figur kann durch entsprechende Gestaltung der Tonspur subjektiv verändert erscheinen. Neben Verzerrungen durch Hall oder sonstige Effekte wird manchmal auch die Lautstärke einzelner Geräusche oder Dialogpartien variiert. Welche erzählperspektivische Bedeutung kommt der Vermittlung von außergewöhnlichen im Vergleich zu «normalen» Sinneseindrücken zu? Wahrnehmungseinstellungen sind in den meisten filmischen Erzählun- gen zwar noch seltener anzutreffen als Blickpunkteinstellungen, trotzdem vermögen sie oft eine stärkere subjektivierende Wirkung zu entfalten als diese. Einerseits hängt dies mit ihrer größeren Exklusivität zusammen: Die beeinträchtigte, übersteigerte oder anderweitig veränderte Wahrneh- mung, die in ihnen zum Ausdruck kommt, ist fast immer die der Haupt- figur. Andererseits sind perception shots oft länger als die vor allem in Schuss/Gegenschuss-Folgen üblichen Point-of-View-Einstellungen, denn die optische Verfremdung muss ihre Wirkung entfalten und die Zuschauer zur erwünschten kognitiven Verarbeitung – dem Rückschluss auf die Ver- fassung der Figur – bringen können. Ganz kurze Einstellungen kommen fast nur zum Einsatz, wenn das Schockmoment oder die Plötzlichkeit ei- ner Entdeckung betont werden sollen. Hinzu kommt, dass Wahrnehmungseinstellungen ihre Wirkung noch ausgeprägter als Point-of-View-Einstellungen im Zusammenspiel mit ande- ren Subjektivierungsmitteln entfalten. Ihr Einsatz wird meist durch einzelne 4.3 Erzählperspektive 275 halbsubjektive und subjektive Einstellungen oder Formen der atmosphäri- schen und mimisch-gestischen Subjektivierung vorbereitet, die die Perspek- tive bereits auf die Hauptfigur einengen. Perception shots fungieren deshalb nicht selten als Höhepunkte subjektiv besonders akzentuierter Passagen. Ein schönes Beispiel hierfür findet sich an einer zentralen Stelle in Hitchcocks Notorious (USA 1946), an der die Hauptfigur Alicia realisiert, dass ihr Ehemann und seine Mutter sie langsam vergiften. Die Szene gip- felt in mehreren perception shots, die durch Hall, Zerrlinsen, Veränderungen der Schärfe und Beleuchtung die vom Gift beeinträchtigte akustische wie optische Wahrnehmung der Figur vermitteln, bis sie schließlich zusam- menbricht. Das physische wie psychische Hineinversetzen in ihre Lage wird schrittweise vorbereitet, indem zuerst Nah- und Großaufnahmen der Figur in Kombination mit halbsubjektiven Einstellungen, dann einzelne Point-of-View-Shots und schließlich zwei dynamische Wahrnehmungsein- stellungen das Terrain für die noch stärker subjektivierende Verfremdung der Sinneseindrücke vorbereiten. Der größte Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Blickpunkt- einstellung besteht jedoch darin, dass Erstere im Normalfall deutlich mehr vom Innern der Figur preisgibt. Zwar erfolgt die Information auch hier in- direkt, schließlich werden lediglich die Folgen einer inneren – physischen oder psychischen – Kondition vor Augen (oder Ohren) geführt. Die als Symptom aufgefassten Bild- oder Tonmanipulationen legen – im narra- tiven Kontext – konkrete Rückschlüsse auf spezifische innere Zustände jedoch meist näher als reine Blickpunkteinstellungen, in denen nicht das Wie, sondern lediglich das Was der Wahrnehmung im Vordergrund steht. Deshalb erscheint auch die narrative Bedeutung der perception shots im Vergleich zu den meisten Point-of-View-Einstellungen größer. Die deut- lich und mit gestalterischem Aufwand suggerierte innere Verfassung der Figur spielt in der Regel für das Verständnis ihrer Lage und den Fortgang der Ereignisse eine nicht unwesentliche Rolle. Die Vermittlung qualitativer Aspekte der äußeren Wahrnehmung, die zusätzlich zum räumlichen zumindest indirekt und partiell auch ein psy- chisch-mentales Hineinversetzen in die Figur ermöglicht, bedeutet somit in der Regel einen deutlich erhöhten Grad des subjektiven Zugangs. Die meis- ten der besprochenen Perspektiv-Modelle sind, da sie Wahrnehmungs- wie Blickpunkteinstellungen unterschiedslos einer einzigen Kategorie der «sub- jektiven Kamera» oder der «focalisation / ocularisation interne» zuschrei- ben, zu dieser Differenzierung nicht in der Lage. Dies gilt auch für Josts Konzept, denn seine Unterscheidung zwischen ocularisation interne primaire und secondaire deckt sich, entgegen dem ersten Anschein, nicht mit derje- nigen zwischen Wahrnehmungs- und Blickpunkteinstellungen. Zwar wird 276 4 Träume erzählen in Ersteren die subjektive Zuschreibung tatsächlich meist schon im Bild deutlich, aber nicht alle Einstellungen, in denen dies der Fall ist, können als perception shots gewertet werden. Jost selber erwähnt mehrere Beispiele, in denen die subjektive Sicht zwar bildimmanent etabliert, die Art der Wahr- nehmung dennoch nicht speziell markiert ist: Einstellungen, in denen Haar oder Hände der Figur in entsprechendem Winkel ins Bild ragen, solche, die durch kreisförmige Begrenzungen den Blick durch ein Fernrohr suggerieren oder die aufgrund ihres Blickwinkels (z. B. über ein Steuerrad hinweg auf die bewegte Fahrbahn) die wahrnehmende Präsenz einer Figur nahelegen. Statt Grade des subjektiven Zugangs, wie es in einer Perspektivtypologie sinnvoll wäre, unterscheidet Josts Primaire/secondaire-Aufteilung Modi der subjektiven Zuschreibung – und vereint somit Konfigurationen mit unglei- chem Subjektivierungspotenzial in derselben Kategorie und verteilt solche mit ähnlich subjektivierender Wirkung in unterschiedliche Kategorien. 4.3.2.5 Der direkte Einblick ins Figureninnere Sämtliche bisher betrachteten Perspektivierungs- und Subjektivierungsfor- men – raumzeitliche Einengung auf den Aktionsradius, bedeutungsvolle Gestaltung des Umfelds, Hervorheben der Mimik und Gestik, Vermitteln der äußeren Wahrnehmung – sind darauf angelegt, uns das persönliche Erleben der zentralen Figuren durch die Inszenierung äußerer Vorgänge näher zu bringen. Auch wenn die Hauptfigur an sämtlichen Handlungen beteiligt ist und diese für sie ausnahmslos spezielle Relevanz besitzen, teil- weise gar aus ihrer optischen oder akustischen Perspektive gezeigt wer- den, so handelt es sich in diesen Fällen trotzdem immer um Ereignisse, die intersubjektiv wahrnehmbar sind, zu denen also auch alle anderen Figuren potenziell Zugang haben. Spielfilme, die lediglich äußeres Geschehen in- szenieren, liefern zwar, wie wir gesehen haben, aufschlussreiche Anhalts- punkte über die Motivation oder innere Befindlichkeit der Protagonisten; der in ihnen gewährte Einblick ist jedoch ein indirekter und überdies einer, den wir nicht selten – zumindest wenn es um die Interpretation von Ges- tik, Mimik, Dialog und Handlungsweise geht – mit einzelnen fiktionalen Figuren teilen müssen. Selbst in perception shots, die relativ konkrete Rück- schlüsse auf die innere Disposition erlauben, gehören die dargestellten Objekte (oder Geräusche) der intersubjektiv wahrnehmbaren Außenwelt an; lediglich ihre optische (oder akustische) Verfremdung ist individuell und somit stärker nach innen gerichtet. Kommen hingegen nicht nur äußere Ereignisse, sondern auch Träu- me, Tagträume oder andere innere Vorstellungen zur Darstellung, so erhal- ten wir direkten Einblick ins Figureninnere. Nicht mehr die Subjektivierung von etwas Objektivem steht dann im Zentrum, sondern das Vermitteln von 4.3 Erzählperspektive 277 Inhalten, die per se subjektiv sind. Im Vergleich zur Vermittlung innerer Zu- stände via Gestaltung des Umfelds, der Mimik und Gestik oder der äußeren Wahrnehmung handelt es sich hier um eine neue Dimension des subjekti- ven Zugangs. Zwar müssen auch Träume, Fantasien oder Gedankengänge interpretiert und in ihrem Kontext betrachtet werden, um ein besseres Ver- ständnis der Figur zu ermöglichen, die Rückschlüsse auf ihre Lage und Be- findlichkeit sind jedoch direkter und oft ergiebiger, da der Ausgangspunkt bereits im Inneren der Figur liegt. Hinzu kommt, dass Vorstellungen und Gedanken anderer Menschen eine Sphäre darstellen, zu der wir in der Re- alität keinen unmittelbaren Zugang haben. Die Möglichkeit, direkten Ein- blick in Innenwelten zu gewähren, ist eine der Besonderheiten fiktionalen Erzählens.35 Da dieser Zugang innerhalb der fiktionalen Welt in der Regel genauso wenig wie in der Realität besteht, handelt es sich überdies um ein Privileg, das nur uns Zuschauern oder Lesern zuteil wird, uns gegenüber den diegetischen Figuren also einen erheblichen Vorteil verschafft.36 In Anbetracht dieser Zusammenhänge erstaunt es, dass die meis- ten Narratologen in ihren Perspektiv-Modellen die Innenweltdarstellung nicht gesondert berücksichtigen. Meist wird, wie wir gesehen haben, die Vermittlung äußerer Wahrnehmungen und innerer Vorstellungen unter- schiedslos einer einzigen internen Kategorie zugeordnet. Der qualitative Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Außen- und Innenwelt zeigt nun jedoch, dass die eingleisige Anwendung auf ein Außer- versus Innerhalb der Figur problematisch ist. Geht man nämlich davon aus, dass die Erzählperspektive nicht nur durch einen Standpunkt, sondern auch ein damit verknüpftes Wahrnehmungsfeld bestimmt ist, so ergibt die Kombi- nation der Variablen inner- und außerhalb der Figur nicht zwei, sondern vier Konstellationen: Standpunkt Wahrnehmungsobjekt 1 außerhalb Figur Außenwelt 2 außerhalb Figur Innenwelt 3 innerhalb Figur Außenwelt 4 innerhalb Figur Innenwelt Die Auflistung zeigt: Das Figureninnere ist in drei der vier Fälle direkt in- volviert, entweder als Erzählstandpunkt, als Erzählobjekt oder als beides 35 Käte Hamburger, die in Logik der Dichtung bereits 1957 auf diesen Umstand hingewie- sen hat, formuliert es folgendermaßen: «Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheo- retische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann» (1994 [1957]: 73, Herv. i. O.). 36 In Kapitel 5.2.2 werden wir sehen, dass diese prinzipielle Unzugänglichkeit auch in- nerhalb der Fiktion durch Formen der Traumtransgression aufgehoben werden kann. 278 4 Träume erzählen zusammen. Wohl deshalb wird zwischen diesen drei Konstellationen trotz wesentlicher Differenzen oft nicht oder nur ungenügend unterschieden. So musste etwa Wolf Schmid noch 2005 mit Nachdruck auf die Eigenart der zweiten Variante hinweisen: Der Erzähler kann durchaus volle Introspektion in den inneren Zustand ei- nes Helden haben und ihn gleichwohl von einem äußeren Standpunkt aus beschreiben. Auch hier verwechselt Uspenskij [1975/1970] Introspektion und Perspektive. Eine Innensicht im Sinne der Perspektive setzte voraus, dass die Welt mit den Augen Fedor Karamazovs wahrgenommen würde [in Dos- tojewskijs Brüder Karamazov, 1879/80]. Von einer Innenperspektive bei der Darstellung des inneren Zustands eines Helden könnte also nur dann die Rede sein, wenn der Erzähler die Selbstwahrnehmung dieser Person, also die Wahrnehmung der innersten Seelenregungen durch den Helden selbst gestaltete. […] Die Darstellung der Welt, wie sie von einer Person wahrge- nommen wird, setzt die Introspektion des Erzählers in das Bewusstsein der Person voraus. Die Umkehrung ist freilich nicht zulässig: Die Introspekti- on in das Bewusstsein der Person ist durchaus auch dort möglich, wo der Erzähler nicht durch das Prisma der Person erzählt. Der Erzähler kann das Bewusstsein einer Person beschreiben, ohne ihre perzeptive Perspektive zu übernehmen. Fedor Karamazov z. B. wird «innerlich» beschrieben, aber kei- neswegs durch das Prisma seiner eigenen Wahrnehmung. Introspektion in das Innere einer Person und die Übernahme der perzeptiven Perspektive der Person sind, wie oft sie in Perspektivtheorien auch vermengt werden mögen […], zwei durchaus verschiedene Dinge. Im ersten Fall ist die Person, genau- er ihr Bewusstsein, das Objekt der Wahrnehmung des Erzählers, im zweiten Fall ist sie das Subjekt oder das Prisma der Wahrnehmung, durch die der Erzähler die erzählte Welt entwirft. (Schmid 2005: 123, 131–132) Die Unterscheidung zwischen einer personal ausgerichteten Innensicht (die die Eigenwahrnehmung der Figur wiedergibt) und einer nicht perso- nal ausgerichteten (die eher einer analytischen Betrachtung gleichkommt und Aspekte vermitteln kann, die sich dem Bewusstsein der Figur entzie- hen) ist wichtig. Ein summarischer Blick auf Formen der Innenweltdarstel- lung zeigt allerdings schnell, dass diese Unterscheidung im Spielfilm oft nicht so deutlich greift wie in der Literatur. Ein Einblick in die innerpsy- chische Sphäre, der sich explizit und ausschließlich als ein äußerer, von der Figurenwahrnehmung unabhängiger – oder gar in Kontrast zu ihr stehen- der – zu erkennen gibt, ist fast nur durch verbale Beschreibungen möglich, etwa wenn uns der Erzähler seelische Ursachen eines Gemütszustands erläutert, die der Figur selber gar nicht bewusst sind. Im Film sind solche Gedankenberichte durch Erzählstimmen oder Zwischentitel zwar, wie wir 4.3 Erzählperspektive 279 bereits gesehen haben, genauso möglich wie in der Literatur; sie werden jedoch seltener eingesetzt. Filmische Erzählungen inszenieren viel eher die Traum- oder Fantasiewelt der Figuren oder lassen Gedanken direkt als in- nere Stimmen erklingen. Bei dieser Art von «szenischer» Innenweltdarstel- lung ist ein grundsätzlicher Einklang mit der Figur automatisch gegeben, denn wir gehen davon aus, dass uns konkrete Vorstellungen oder Gedan- ken nur vermittelt werden, wenn sie gleichzeitig Bewusstseinsinhalte der Figur darstellen. Zudem nehmen wir – durchaus im Wissen, dass es sich hierbei um eine Konvention handelt – an, dass uns die entsprechenden Vorstellungsinhalte ungefähr so dargeboten werden, wie sie auch die Figur wahrnimmt. Diskrepanzen zwischen Erzähl- und Figurenperspektive stel- len sich in filmischen Formen der Innenweltdarstellung somit meist erst ein, wenn es um die Interpretation der Bewusstseinsinhalte geht, also nicht schon auf der perzeptiven, sondern erst auf einer moralisch-ideologischen Ebene. Dass in diesem Bereich deutliche Verschiebungen zwischen Erzähl- und Figurenperspektive möglich sind, zeigt etwa ein Werk wie Billy Liar (GB 1963), das den Protagonisten in einer heroischen Traum- und Fantasie- welt schwelgen lässt, die der Zuschauer mühelos als Selbstbetrug entlarvt. Für die filmische Narration ist jedoch vor allem die Unterscheidung zwischen den Perspektivkonstellationen relevant, die in obiger Tabelle an dritter und vierter Stelle aufgelistet sind. Wie wir bereits gesehen haben – und wie aus folgender Darstellung nochmals ersichtlich wird –, nimmt das dreiteilige Fokalisierungsmodell (sowie etliche davon abgeleitete filmwis- senschaftliche Konzepte) diese Differenzierung nicht vor: Standpunkt Wahrneh- Fokalisierungs- filmische Narration mungsobjekt modell 1 außerhalb Außenwelt focalisation «Objektive» Einstellungen Figur externe äußerer Handlungen 2 außerhalb Innenwelt (focalisation Erzählstimme / Zwischentitel Figur zéro) geben Einblick in Aspekte des Figureninneren, die nicht Bewusstseinsinhalt der Figur sein müssen. 3 innerhalb Außenwelt focalisation POV-Einstellungen äußerer Figur interne Handlung 4 innerhalb Innenwelt focalisation Traumsequenzen, mentale Figur interne Bilder usw. Die mangelnde Unterscheidung zwischen einer von innen nach außen und einer von innen nach innen gerichteten Perspektive wird etwa auch in Schmids oben zitierten Äußerungen offenkundig. Im Bezug auf die innere perzeptive Perspektive spricht er unterschiedslos einerseits von der Sicht 280 4 Träume erzählen der Figur auf «die Welt», andererseits von ihrer Wahrnehmung des eigenen «Bewusstseins» und «innerste[r] Seelenregungen». Zwar ist sowohl die Art und Weise, wie eine Figur die Welt wahrnimmt und mit ihr interagiert, als auch das, was in ihrem Inneren vorgeht – wie sie den Kontakt mit der Au- ßenwelt verarbeitet und reflektiert – relevant fürs Etablieren einer subjek- tiven Perspektive; trotzdem handelt es sich um unterschiedliche Aspekte subjektiven Erlebens mit je eigener Charakteristik und narrativer Wirkung. Dies will nicht heißen, dass die beiden Facetten der Figurensubjekti- vität, unserer realen Erfahrung entsprechend, nicht aufs Engste miteinan- der verknüpft werden können, indem zum Beispiel die äußere Wahrneh- mung einer Figur nahtlos mit ihrer inneren Reflexion verbunden wird. Die filmische Erzählung ist gar zur gleichzeitigen Vermittlung beider Ebenen fähig, etwa wenn mentale Bilder mit akustischen Außenwahrnehmungen oder innere Gedanken mit äußeren visuellen Eindrücken verbunden wer- den. Auch in solchen Fällen gilt es jedoch, das je eigene Gewicht der bei- den Ebenen sowie ihr Zusammenspiel zu erörtern. Dass der Innenweltdarstellung besondere Relevanz zukommt, liegt schon aufgrund der bereits erwähnten Tatsache auf der Hand, dass direkte Ein- sichtnahmen in innerpsychische Belange in der Realität – und meist auch innerhalb der Diegese – nicht möglich sind, uns als Rezipienten fiktionaler Erzählungen deshalb in eine außergewöhnliche und gleichzeitig privile- gierte Position versetzen. Welche Rolle für die Perspektivierung filmischer Erzählungen kann der Innenweltdarstellung zugesprochen werden, wenn wir neben dieser grundlegenden Eigenart weitere qualitative wie auch quantitative Aspekte ihres Einsatzes berücksichtigen? Als Erstes können wir festhalten, dass in vielen Filmen gar kein di- rekter Einblick ins Figureninnere gewährt wird. Träume, Halluzinationen oder Gedanken werden uns weit seltener vermittelt als indirekte Einsich- ten oder die äußere Wahrnehmung der Figuren, die fast immer auf die eine oder andere Art – zumindest kurzzeitig – zur Darstellung kommt. In den Fällen, in denen sich das Tor zur innerpsychischen Sphäre öffnet, ist der Einblick im Gegensatz zu dem in die äußere Wahrnehmung hingegen meist nicht nur punktuell. Träume, Fantasien oder Visionen werden oft in ausgewachsenen Sequenzen, nicht nur in einzelnen kurzen Einstellungen wiedergegeben; und auch die Vermittlung von Gedanken via inneren Mo- nolog geschieht in der Regel über längere Passagen hinweg. Gemessen an der beanspruchten Erzählzeit liegt ihr Gewicht meist weit über demjenigen von Point-of-View-Einstellungen. Trotzdem nimmt die Innen- gegenüber der Außenwelt nur selten überhand. Da das Offenbaren von Wunschträu- men, Wahnvorstellungen oder Zukunftsvisionen, wie wir im fünften Kapi- 4.3 Erzählperspektive 281 tel noch sehen werden, meist kein Selbstzweck ist, sondern unter anderem dazu dient, die Figur im Verhältnis zu ihrem Umfeld und in ihrer Interak- tion mit andern Figuren verständlicher zu machen, werden Einsichten in die Innenwelt in der Regel nur in dosierter Form, als Einschübe zwischen der Inszenierung äußerer Handlungen und realweltlicher Zusammenhän- ge, gewährt. Dies erklärt, weshalb ihr Anteil an der Erzählzeit selbst in Fil- men, in denen Träume und innere Vorstellungen eine wichtige Rolle spie- len, eher gering ist. Vereinzelt kommt es dennoch vor, dass ein großer Teil oder fast die ganze Erzählung aus einem einzigen langen Traum besteht. Interessanterweise handelt es sich in diesen Fällen, wie wir in Kapitel 3.2 gesehen haben, häufig um Darstellungen innerer Fantasiewelten, die erst im Verlauf oder gar erst im Nachhinein als solche kenntlich werden. Dem im Normalfall nicht übermäßigen quantitativen Gewicht steht die Tatsache gegenüber, dass sich Innenweltdarstellungen meist auf den Protagonisten konzentrieren. Zwar gibt es verschiedene Beispiele breiter gestreuter Einsichtnahme, in der Regel werden innerpsychische Inhalte je- doch dazu benützt, die Lage und Befindlichkeit einer einzigen zentralen Figur hervorzuheben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Subjektivie- rungsformen ist die Innenweltdarstellung somit nicht nur ein qualitativ außergewöhnliches, sondern auch ein exklusiv eingesetztes Mittel, das die Konzentration auf die Hauptfigur verstärkt und um eine zusätzliche Dimension erweitert. Ihre Bedeutung für die Perspektivierung von Erzäh- lungen sollte auch deshalb nicht unterschätzt werden, weil sie, wie schon Stanzel für den Roman festgestellt hat, oft maßgeblichen Anteil an der Sympathiesteuerung nimmt: Innenweltdarstellung ist ein äußerst wirksames Mittel zur Sympathiesteue- rung, weil dabei die Beeinflussung des Lesers zugunsten einer Gestalt der Er- zählung unterschwellig erfolgt. Je mehr ein Leser über die innersten Beweg- gründe für das Verhalten eines Charakters erfährt, desto größer wird seine Bereitschaft sein, für das jeweilige Verhalten dieses Charakters Verständnis, Nachsicht, Toleranz usw. zu hegen. […] Treten in einem Roman mehrere Cha- raktere auf, die auf Grund der ungefähren Gleichgewichtung ihrer Rollen dem Leser zunächst in Äquidistanz erscheinen, wie etwa Gudrun und Ursu- la, Birkin und Gerald in Women in Love [1920], dann kommt ein weiteres Prob- lem dazu: durch die Verteilung der Innensicht-Darstellung auf die einzelnen Charaktere und ihre relative Häufigkeit bei einer bestimmten Figur kann sich eine deutliche Verlagerung der Lesersympathien zu der durch Innenweltdar- stellung bevorzugten Figur ergeben. (Stanzel 1995 [1979]: 173–174)37 37 Vgl. auch Bal 1999 [1985]: 153–154. 282 4 Träume erzählen Als weiterer Faktor, der die Wirkung des Sprungs in die innere Vorstel- lungswelt verstärkt, kommt hinzu, dass er meist durch andere Subjektivie- rungsmittel vorbereitet oder flankiert wird. Im aktuellen Zusammenhang noch nicht erwähnt habe ich die Erinnerung, eine Imaginationsform, die der Innenwelt oft pauschal und diskussionslos zugeordnet wird. Verschiedene Autoren haben jedoch zu Recht darauf hin- gewiesen, dass sie einen Sonderfall darstellt, da ihr Gegenstand als zurück- liegendes reales Ereignis neben seiner Existenz im subjektiven Bewusstsein auch eine konkrete außenweltliche Verankerung aufweist: «[L]e souvenir est en effet la seule visée de conscience (au sens de Sartre) qui pose son objet comme réel et imaginaire à la fois, réel dans le passé et imaginaire dans le présent» (Metz 1995 [1991]: 121, Herv. i. O.). Der subjektive Grad filmischer Rückblenden variiert entsprechend stark, je nachdem, ob der innen- oder der außenweltliche Aspekt stärker im Vordergrund steht. Die Tatsache, dass Erinnerungs- im Verhältnis zu Traum- oder Fantasiedarstellungen weniger zwingend persönlich oder gar intim erscheinen, erhöht ihre Verwendungs- möglichkeiten, die neben der Offenbarung der Figurensubjektivität oft nur darin liegen, einen Zeitwechsel zu motivieren oder ein Element der Backsto- ry nachzutragen. Interessanterweise sind es gerade die kurzen Erinnerungs- fetzen oder memory flashes – wie sie etwa in The Pawnbroker (USA 1964) oder Hide and Seek (USA 2005) vorkommen –, die eine stärkere subjektive Wirkung zu entfalten vermögen, während sich der innerpsychische Cha- rakter längerer Erinnerungssequenzen aufgrund des realweltlichen Bezugs der vergangenen Ereignisse oft schnell verliert oder gar nicht erst einstellt.38 Die Verknüpfung der Aspekte raumzeitliche Fokussierung und subjektiver Zu- gang hat gezeigt, dass sich Subjektivierungen und Innenweltdarstellungen, mit Ausnahme einiger indirekter Formen, normalerweise auf Szenen konzen- trieren, an denen die Figur direkt beteiligt ist – ein Befund, der nicht weiter überrascht, da die Figur, wenn die Wirkung nicht ohnehin von ihrer Erschei- nung ausgeht, zumindest als Ausgangs- oder Bezugspunkt fungiert. Unter- sucht man Filme mit ausgeprägten Subjektivierungseffekten genauer, so lässt sich zusätzlich feststellen, dass von den Szenen im Umfeld der Figur solche, in denen sie allein agiert oder ganz für sich ist, in denen also private Momente ohne Interaktion mit anderen Figuren dargestellt werden, oft eine besonders wichtige Rolle spielen. Dies hängt mit der Vorstellung zusammen, dass man seine wahren Gefühle und persönlichen Ansichten in der Öffentlichkeit nur 38 Für eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rückblende sei auf Maureen Turims Flashbacks in Film (1989) verwiesen. 4.3 Erzählperspektive 283 zurückhaltend zum Ausdruck bringt und sich in der Gegenwart anderer ver- anlasst sieht, eine bestimmte «Rolle» zu spielen oder einen Schein zu wahren. Erst wenn man sich unbeobachtet fühlt und sich somit «unkontrolliert» ver- halten kann, ist man bereit, sein Inneres stärker nach außen zu kehren.39 Ein weiteres Mittel zur – mitunter ungeschminkten – Offenbarung inne- rer Stimmungen und Gedanken, das ebenfalls fast nur in Szenen verwendet wird, in denen die Figur für sich ist, ist das Selbstgespräch. Hinzu kommt, dass dieses oft in Kombination mit dem inneren Monolog in Erscheinung tritt (z. B. Stranger on the Third Floor, USA 1940; Shadows and Fog, USA 1992) oder gar fließend mit ihm wechselt (z. B. Chapter 27, USA/CA 2007). Die Inszenierung von Selbstgesprächen – wie auch von inneren Mono- logen – ist ein weiteres Beispiel dafür, dass in Szenen, die für die Vermittlung von subjektiven Inhalten wichtig sind, oft gerade nicht die optische Perspek- tive der Figur vorherrscht. In beiden Fällen vermag die gedankliche oder geäußerte Stimme in Verbindung mit der Mimik und Gestik der Figur in der Regel mehr zum Ausdruck zu bringen als in ausschließlicher Kombination mit ihrem Sehfeld. Allgemein bedarf die Darstellung privater Momente noch zwingender der visuellen Präsenz der Figur als Action- und interaktionsbe- tonte Szenen. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Point-of-View-Filme wie Lady in the Lake es nicht fertig bringen, eine stark subjektive Atmosphäre entstehen zu lassen, denn um etwas Interessantes vor der Linse zu haben, sind sie stärker als Filme mit konventioneller Découpage darauf angewie- sen, dass die Hauptfigur in ständigem Austausch mit anderen Figuren steht. Szenen, in denen die Figur allein ist, sind für die Analyse der Erzählpers- pektive neben dem erhöhten Grad an Innerlichkeit, der dort häufig zum Aus- druck kommt, aus einem weiteren Grund von Interesse: Sie fungieren oft als Ausgangspunkt für ein vollständiges Eintauchen in innere Traum- oder Fan- tasiewelten. Und genau wie Innenweltdarstellungen sind private Momente und Selbstgespräche ein weitgehend exklusives Privileg der Hauptfigur. 4.3.2.6 Orientierung am Erleben der Figur In der folgenden Tabelle habe ich die verschiedenen Aspekte, die für die Erzählperspektive von Belang sind, in fünf Ebenen aufgegliedert (A bis E) und gleichzeitig in sechs unterschiedliche Grade der Orientierung am Er- leben der Figur eingeteilt (1 bis 6). Mit Hilfe dieser Tabelle lässt sich die Dynamik der filmischen Erzählperspektive differenzierter erfassen als mit dem starren Fokalisierungsmodell. Gleichzeitig veranschaulicht sie die Rol- le von Träumen, Tagträumen und anderen inneren Vorstellungen besser. Diese sind ein starkes Mittel, um uns am persönlichen Erleben der Figur 39 Vgl. Dyer 1986 [1979]: 137–139. 284 4 Träume erzählen teilhaben zu lassen, stärker etwa als Blickpunkt-Einstellungen oder indi- rekte Formen der Subjektivierung. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Fra- ge der Orientierung an der inneren und äußeren Wahrnehmung lediglich ein Aspekt neben anderen darstellt, eine Einengung auf das subjektive Er- leben der Hauptfigur also auch mit anderen Mitteln bewerkstelligt werden kann, etwa der räumlichen Konzentration auf ihr Umfeld, der Inszenierung von Selbstgesprächen und inneren Monologen, der Vermittlung verzerrter Wahrnehmungen oder der strikten Orientierung an ihrem Wissensstand. Die wichtigste Erkenntnis scheint mir jedoch, dass die filmische Er- zählperspektive im Spannungsfeld zwischen unlimitierter Allwissenheit, «neutraler» Objektivität und persönlicher Innnensicht viel mehr Abstu- fungen und Variationen zulässt als das dreiteilige Fokalisierungsmodell suggeriert, denn die fünf Ebenen, die zwar verknüpft, aber nicht zwin- gend gleichgeschaltet sind, bilden in der Regel dynamische Konstellatio- nen, die sich im Verlauf der Erzählung verändern können. Modell zur Analyse der filmischen Erzählperspektive schwach ← Orientierung am Erleben der Figur → stark 1 2 3 4 5 6 A raum- außerhalb Nähe Umfeld Umfeld (Innenwelt) zeitliche Umfeld Umfeld «Öffent- allein / Ausrichtung lichkeit», in privat / Interaktion intim mit ande- ren Figuren B äußere «objekti- semisub- Point-of- Erinnerung Wahrneh- Träume, Wahrneh- ve» Einstel- jektive View-Ein- mungsein- Tagträume, mung / lungen Einstellun- stellungen stellungen; Halluzi- innere Vor- gen stark nationen, stellung subjektive Zukunfts- Erinnerung visionen C Offenbarung Dialog Selbstge- Verbale von Inne- spräche Gedanken / rem durch innerer Sprache / Monolog Verbales D Andere atmosphä- mimische / indirekte rische / gestische Formen der situative / Formen der Subjekti- drama- Subjekti- vierung tische / vierung formale / expressive / musikali- sche S. E narratives Ständige Diskrepan- in längeren Weitge- Strikte Wissen Diskrepanz zen (Vor- Phasen Ori- hende Orientie- zum Wis- sprünge entierung Orientie- rung am sensstand und/oder an Figur, rung an Wissens- der Figur Rückstän- in anderen Figur mit stand der de) über- Diskrepan- einzelnen Figur wiegen zen Ausnah- men 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 285 Zum Schluss noch eine Einschränkung respektive Präzisierung: Gerade weil Träume gänzlich im Inneren spielen, können sie, wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, auch nur geringfügig «subjektiviert» erscheinen, insbesondere wenn lediglich die Übergänge markiert sind. Andererseits operieren Traumsequenzen oft mit auffälligen Verfremdungeffekten, die nicht selten eher als «Traumlabel» denn als Subjektivierungsmittel fungie- ren. Und auch bezüglich narrativer Funktion steht bei Filmträumen, wie wir im fünften Kapitel sehen werden, oft eher die Charakterisierung als die Subjektivierung der Figuren im Zentrum – oder (etwa in der parodistischen, selbstreflexiven oder prophetischen Verwendung) keines von beidem. Das in der Tabelle dargestellte Kontinuum von schwacher bis starker Orientierung am Erleben der Figur stellt somit eine Vereinfachung dar, die sich auf «Durchschnittswerte» stützt. Erzählabschnitte mit Traumdarstel- lungen orientieren sich in der Regel stärker am Erleben der Figur als solche mit nur indirekten Subjektivierungsformen. In Ausnahmefällen kann je- doch auch das Umgekehrte der Fall sein. 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit Neben den Instanzen, Ebenen und Perspektiven der Erzählung, um die es bis anhin ging, stellt ihre zeitliche Organisation ein weiteres wichtiges Untersuchungsfeld der Narratologie dar, das im Bezug auf die Darstellung von Träumen und anderen inneren Vorstellungen interessante Fragen auf- wirft. Nach Günther Müllers (1968a [1947], 1968b [1948]) und Eberhard Lämmerts (1993 [1955]) frühen Publikationen, die bereits Grundlegendes etabliert haben – etwa die konzeptionelle Trennung der Erzähl- von der erzählten Zeit –, war es wiederum Genette (1972), der die systematischste «Auslegeordnung» präsentierte, die in der Folge den meisten literatur- wie filmwissenschaftlichen Autoren als Referenz diente. Genettes Analyse ver- sucht, das Verhältnis zwischen temps du récit und temps de l’histoire in all seinen Varianten möglichst genau zu bestimmen. Er unterscheidet dabei die Aspekte ordre, fréquence und durée, fragt also danach, wie die Erzählung die Ereignisse zeitlich anordnet, wie oft sie diese wiedergibt und welchen Raum sie im Verhältnis zur deren Dauer in Anspruch nimmt (1972: 77–182). Aufs Wesentliche reduziert, lassen sich Genettes Ausführungen wie folgt zusammenfassen: Die Abfolge, in der die Ereignisse vermittelt wer- den, kann von der Chronologie der Geschichte abweichen. Solche Dis- krepanzen (anachronies) bestehen primär aus Rückwendungen (analepses) oder Vorgriffen (prolepses) von unterschiedlicher Reichweite (portée) und unterschiedlichem Umfang (amplitude). In der narrativen Syntax stellen 286 4 Träume erzählen Anachronien gegenüber dem chronologischen Hauptstrang (récit premier) untergeordnete oder sekundäre Erzählsegmente dar (récits temporellement seconds) und können mitunter komplexe, ineinander verschachtelte For- men annehmen (z. B. prolepse sur analepse). Neben den auf der Zeitachse situierbaren Ereignissen erwähnt Genette auch solche ohne zeitliche Re- ferenz, die er als Achronien bezeichnet. Das Erzähltempo ergibt sich aus der Spanne der Erzählzeit im Verhältnis zur Spanne der erzählten Zeit. Genet- te führt folgende vier vitesses narratives auf: deskriptive Pause (Erzählzeit > 0, erzählte Zeit = 0), Szene (Erzählzeit ≈ erzählte Zeit), Zusammenfassung (Erzählzeit < erzählte Zeit) und Ellipse (Erzählzeit = 0, nicht erzählte Zeit / Zeit der Geschichte > 0).40 Im Bereich der Frequenz unterscheidet er schließ- lich zwischen singulativer (Ereignisse werden so oft erzählt, wie sie vor- kommen), repetitiver (mehrmaliges Erzählen einmaliger Ereignisse) und iterativer Erzählweise (einmaliges Erzählen wiederholter Ereignisse). Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit stellt sich nun die Frage, inwiefern bei der Analyse der Zeitstruktur zu berücksichtigen ist, dass Er- zählungen nicht nur außenweltliche, objektive, sondern auch innenwelt- liche, subjektive Inhalte wie Träume oder Erinnerungen zu vermitteln im- stande sind. Genette bespricht als Beispiel narrativer Anachronien neben dem Beginn von Homers Ilias, in der Achills Zorn sowie seine Ursachen und Folgen in achronologischer Folge präsentiert werden, eine Passage aus Prousts unvollendetem Romanfragment Jean Santeuil (1886–1905), in der der Titelheld nach etlichen Jahren endlich das Gasthaus der Frau aufsucht, die er einst geliebt hat. Dies veranlasst ihn dazu, seine damalige Vorstel- lung darüber, wie er sich in diesem Moment fühlen würde, mit seinen mo- mentanen Emotionen zu vergleichen. Im Gegensatz zum ersten Beispiel handelt es sich beim zweiten, wie Genette selber anmerkt, größtenteils um eine «retrospection […] subjective, en ce sens qu’elle est assumée par le personnage lui-même, dont le récit ne fait que rapporter les pensées pré- sentes (‹il se rappelait …›)» (1972: 81–82). Kaum hat er diesen Unterschied hervorgehoben, stellt sich Genette jedoch auf den Standpunkt, er betreffe nicht die Zeitstruktur, sondern nur die Perspektive der Erzählung: Comme la distinction entre anachronies subjectives et objectives n’est pas d’ordre temporel, mais relève d’autres catégories que l’on retrouvera au cha- pitre du mode, nous allons pour l’instant la neutraliser; d’autre part, pour éviter les connotations psychologiques attachées à l’emploi de termes comme 40 Bei der Verwendung der deutschen Bezeichnungen Erzählzeit/erzählte Zeit für temps du récit/temps de l’histoire stellt sich hinsichtlich der Definition der Ellipse das Problem, dass die von der Erzählung übersprungene Zeitspanne genau nicht erzählt wird, wes- halb hier erzählte Zeit mit (übersprungene oder nicht erzählte) Zeit der Geschichte ersetzt werden muss. 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 287 «anticipation» ou «retrospection», qui évoquent spontanément des phéno- mènes subjectives, nous les éliminerons le plus souvent au profit de deux termes plus neutres: […] prolepse […] et […] analepse. (Genette 1972: 82) Mir geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, dass der Unterschied zwi- schen objektiven und subjektiven Erzählinhalten sehr wohl auch die zeit- liche Organisation betrifft, und zwar nicht nur im Bezug auf die Kategorie der Ordnung, sondern genauso auf diejenigen der Dauer und der Frequenz. 4.4.1 Ordnung Knüpfen wir gleich bei Genettes Bemerkung an, dass in subjektiven Rück- wendungen die gegenwärtigen Gedanken der Figur vermittelt werden. Dies heißt ja nichts anderes, als dass gar kein Abweichen von der chro- nologischen Ereignisfolge stattfindet, sofern man lediglich den psychisch- mentalen Vorgang im Innern der Figur betrachtet. Der Akt des Erinnerns ist Teil der Gegenwartshandlung, eine Rückwendung findet lediglich auf der Ebene der Vorstellungsinhalte statt, die sich mehr oder weniger direkt auf vergangene Ereignisse beziehen.41 Die Erinnerung weist also nicht nur, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, einen doppelten Status im Be- zug auf ihren Realitätscharakter auf (imaginärer Bewusstseinsinhalt, der auf ein reales Geschehen zurückgeht), sondern auch im Bezug auf ihre zeitliche Verankerung (gegenwärtige Evokation eines vergangenen Ereig- nisses). Die beiden Aspekte sind zudem eng miteinander verknüpft: Eine Akzentuierung des subjektiv-imaginären Charakters betont automatisch die Gegenwärtigkeit des Erinnerungsakts und die Bedeutung der vergan- genen Ereignisse für die aktuelle Situation der Figur, während eine stär- kere Objektivierung das Gewicht zu den zurückliegenden Geschehnissen hin verlagert. Innere Vorstellungen können nicht nur in die Vergangenheit, sondern – in Form von Vorahnungen, Befürchtungen, Visionen oder prophetischen Träumen – auch in die Zukunft weisen.42 Beim narrativen Vorgriff ist der Unterschied zwischen Prolepsen, die der Erzähler unabhängig von der Figur vornimmt, und solchen, die via ihre Innenwelt zustandekommen, noch größer, denn während der Realitätsbezug in Erinnerungssequen- zen klar etabliert ist und gegenüber dem imaginären Charakter leicht die Überhand gewinnt, ist er bei Vorahnungen oder Zukunftsvisionen – zu- mindest in realistischen Genres – immer nur ein hypothetischer. Da nur die (allwissende) Erzählinstanz imstande ist, künftige Ereignisse vorweg- 41 Vgl. Chatman 1993 [1978]: 77 und Lohmeier 1996: 155–156. 42 Vgl. Kapitel 5.1.5. 288 4 Träume erzählen zunehmen, können Gedanken-, Traum- oder Vorstellungsinhalte der Figur lediglich in eine mögliche – ersehnte, befürchtete oder einfach erwartete – Zukunft weisen.43 Ihr Status als gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt lässt sich somit – anders als im Fall der Erinnerung – nur schwerlich unterdrü- cken. Lämmert hat bereits 1955 auf diese Zusammenhänge hingewiesen: Seine Unterscheidung zwischen «zukunftsgewissen» und «zukunftsunge- wissen» Vorausdeutungen (1993 [1955]: 139–189) deckt sich weitgehend mit der Differenz zwischen objektiven Vorwegnahmen durch den Erzähler und subjektiven Antizipationen durch die Figuren.44 Der wesentliche Unterschied zwischen Zeitwechseln via Innenwelt und solchen, die unabhängig von der Figur stattfinden, ist also, dass in Ersteren aufgrund des erwähnten doppelten Zeitbezugs die Gegenwart stärker präsent bleibt als in Letzteren – ein Befund, der zweifellos nicht nur die perspektivische Ausrichtung, sondern auch die zeitliche Struktur der Erzählung betrifft. Bisher habe ich so getan, als gäbe es im Bezug auf die zeitliche Organi- sation keine wesentlichen Unterschiede zwischen der filmischen und der literarischen Narration. Gerade im Bereich der Ordnung gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass das übliche Tempus literarischer Erzählungen die Vergangenheitsform ist, zwischen Erzählakt und erzählter Gegenwart also ein zeitlicher Abstand und ein Verhältnis der Nachzeitigkeit herrscht, während die audiovisuelle Vermittlungsart einen präsentischen Erzählmo- dus darstellt. Zwar kann man mit Käte Hamburger (1994 [1957]: 59–84) die Auffassung vertreten, auch literarische Fiktionen, obwohl im Imper- fekt gehalten, würden vom Leser vergegenwärtigt, verwendeten also kei- ne echte Vergangenheitsform, sondern ein «episches Präteritum», eine Art zeitloses «Hier und Jetzt» der fiktionalen Figuren. Für Hamburger selber gilt diese Einschränkung jedoch nur bei der heterodiegetischen Erzäh- lung (der «epischen Fiktion» oder «Er-Erzählung»), und selbst in dieser geschieht es nicht selten, dass sich Erzählinstanz und Erzählakt explizit als nachträglich bemerkbar machen, etwa durch einen im Präsens gehaltenen Erzählrahmen oder einen auktorialen Vorgriff (der ja nur aus einer Pers- pektive der Nachzeitigkeit möglich ist).45 Im Spielfilm hingegen ist, wie Lohmeier festhält, «die Erzählge- genwart immer auch die Gegenwart der erzählten Geschichte, kann die 43 Vgl. Wulff 1998: 60. 44 Einzig in unzuverlässigen Erzählungen kann sich auch die scheinbar objektive, direkt vom Erzähler stammende Vorwegnahme im Nachhinein als zukunftsunsicher heraus- stellen. 45 Vgl. Genette 1983: 52–55. 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 289 Montage [folglich] auch immer nur beide gemeinsam auf der Zeitachse vor- oder rückwärts versetzen. Erzählte und Erzählgegenwart können nicht auseinandergelegt werden» (1996: 155).46 Hinzu kommt, dass die au- diovisuelle im Gegensatz zur sprachlichen Präsentationsweise nicht über explizite Zeitformen verfügt, mit der die Vor-, Gleich- oder Nachzeitigkeit der erzählten Ereignisse untereinander oder im Bezug zum Akt des Erzäh- lens bestimmt werden können. Ohne gegenteilige Hinweise wird somit automatisch eine chronologische Sukzession suggeriert. Es bedarf deshalb spezieller formaler wie inhaltlicher Signale, um Ereignisse im Verhältnis zum linearen Hauptstrang als vergangen oder zukünftig zu markieren. Während der literarische Erzähler aus seiner rückblickenden Positi- on und mit sprachlichen Mitteln die Zeitebenen relativ einfach und kaum merklich wechseln kann, wirken Zeitsprünge im Spielfilm oft auffällig und verweisen stärker auf die Erzählinstanz, deren zeitliche Position genauso sprunghaft erscheint wie die Abfolge der Ereignisse selbst. Filmische Er- zählungen mit häufigen Wechseln der Zeitebene wirken somit schneller fragmentarisch oder inkohärent als literarische.47 Werden die Zeitsprünge jedoch via Innenwelt einer Figur vollzogen, so stellt sich dieser Effekt viel weniger ein, denn der psychisch-mentale Vorgang, der sich in der Gegen- wart vollzieht, wirkt als Bindeglied, das die zeitlich disparaten Sequenzen zusammenhält. Und die Figur, die mit ihren Gedanken und Träumen in die Vergangenheit oder Zukunft abschweift, bildet einen fixen Referenzpunkt, auf den wir die Bedeutung der erinnerten oder vorweggenommenen Er- eignisse beziehen können.48 Die komplexe Ausgestaltung der Zeitstruktur ist in diesen Fällen direkt aus der Geschichte heraus motiviert und plausi- 46 Auch hier lässt sich mit Roland Barthes (La chambre claire, 1980) einwenden, dass dem fotografischen Bild, das die Grundlage für das filmische bildet, die Spur des Vergange- nen anhaftet. Bei der hier getroffenen Unterscheidung zwischen literarischer und fil- mischer Narration geht es mir weniger um den Vergangenheits- oder Gegenwartscha- rakter, den die fiktionalen Ereignisse für die Leser respektive Zuschauer annehmen, als vielmehr um das zeitliche Verhältnis des Erzählakts zu den erzählten Ereignissen, das – so meine These – in der filmischen stärker und häufiger als «deckungsgleich» wahrgenommen wird als in der literarischen. 47 Es sei hier nochmals betont, dass meine Überlegungen zu Differenzen zwischen der filmischen und literarischen Narration nie wertend gemeint sind. Der Effekt des Bruch- stückhaften, der sich in filmischen Erzählungen leichter einstellt als in literarischen, kann ja eine erwünschte Wirkung sein. 48 Lohmeiers Behauptung, aufgrund des Zusammenfallens von Erzähl- und erzählter Gegenwart sowie fehlender bildsprachlicher Zeichen für Vergangenheit und Zukunft ließen sich Rückwendungen und Vorgriffe mit bildlichen Mitteln überhaupt nur via mentalen Akt der Figur vollziehen (1996: 155), ist jedoch nachweislich falsch (und widerspricht ihren eigenen Ausführungen an anderen Stellen), denn es gibt etliche Beispiele filmischer Voraus- oder Rückblenden, die weder die Erinnerung oder Vor- ahnung einer Figur darstellen noch mit Hilfe einer Voice-over oder anderer verbaler Mittel zu Wege gebracht sind. 290 4 Träume erzählen bilisiert, denn das zeitliche Hin und Her findet dort – zumindest im Innern einer der Figuren – tatsächlich statt. Es erstaunt deshalb nicht, dass kom- plexe Strukturen mit außergewöhnlich häufigen Wechseln der Zeitebene – wie in Je t’aime, je t’aime (F 1968), Johnny Got His Gun (USA 1971), Je vous aime (F 1980) oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind (USA 2004) – fast immer figurenpsychologisch begründet sind. Überdies gilt es zu berücksichtigen, dass der Film kraft seiner diversen Ausdrucksebenen im Gegensatz zur Literatur ein multitemporales Medium darstellt. Der Bezug zur Gegenwart kann in rück- oder vorwärtsgewand- ten Passagen somit auch dadurch gewahrt bleiben, dass die Zeite bene nur auf einzelnen und nicht auf sämtlichen «Kanälen» wechselt. Auch dies ist eine Konstellation, die vorwiegend in subjektiv motivierten Vor- oder Rückblenden zum Zug kommt, etwa wenn eine Erinnerung oder ein zu- kunftsgerichteter Tagtraum visualisiert, auf der akustischen Ebene jedoch Dialoge und Geräusche aus der Gegenwart beibehalten werden; oder um- gekehrt, wenn das gegenwärtige Bild einer Figur mit einer inneren Stimme aus der Vergangenheit kombiniert ist. Der Gegenwartsbezug bleibt in die- sen Fällen manifest, während er in Sequenzen, die komplett auf die Traum- oder Erinnerungsebene wechseln, nur noch implizit vorhanden ist. Die bisher betrachteten Zeitkonfigurationen stehen noch in einem weiteren Punkt in direktem Zusammenhang mit Aspekten, die Genette unter der Rubrik des Erzählmodus behandelt: Der für den modernen Bewusstseins- roman kennzeichnende Eindruck einer unmittelbaren Darstellung von In- nenwelt konnte, literaturgeschichtlich betrachtet, nur durch einen Wechsel von der nachträglichen zur zeitgleichen Erzählform erreicht werden. Ne- ben dem deutlich vernehmbaren persönlichen Erzähler musste im Roman auch «ein sehr wesentliches episches Merkmal aufgehoben [werden], die zeitliche Distanz zwischen Erlebnis und Erzählakt» (Stanzel 1962: 278). In der filmischen Narration stellen die Unmerklichkeit der Erzählinstanz und die Gegenwärtigkeit des Erzählakts den Normalfall dar – ein weiterer Hin- weis darauf, dass sich das filmische Medium kaum so schwer tun kann mit der Vermittlung von Innenwelt, wie etliche Autoren behaupten. 4.4.2 Dauer Noch deutlicher wird die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen subjektiver und objektiver Zeit, wenn man die Dauer der Ereignisse und Fragen des Erzähltempos erörtert. Torben Grodal wirft den Autoren der «klassischen Erzähltheorie», insbesondere Genette, nicht ganz zu Unrecht vor, sie behandelten die Zeit als ein allzu eindimensionales Phänomen: 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 291 Classical narrative theory presupposes that time is a single phenomenon: that of clock time. The prevailing opinion of laymen, poets, film-makers, and ex- perimental psychologists is, however, that time is not just one but several related phenomena, of which one phenomenon is clock time, whereas the different types of experience of time constitute other phenomena […]. When we say, for example, that we «feel» time to be short or long, we are not just using a metaphor but also a concrete description of an aspect of the way in which we construct and evaluate perceptual phenomena. The aesthetic expe- rience of time in visual fiction is not directly linked to the clock-time speed of projection, but to time as constructed during perception and cognition. […] Genette cannot presuppose a «background» of objective temporal duration as a backdrop in relation to which we can feel the speed of the discourse […]. (Grodal 1999 [1997]: 139, Herv. i. O.) Um seine Überlegungen zu untermauern, führt Grodal verschiedene ex- perimentalpsychologische Untersuchungen an, die aufzeigen, dass unsere Zeitempfindung maßgeblich beeinflusst wird durch die Art und Intensität unserer Wahrnehmungen, Aktivitäten und Gefühlsempfindungen.49 Auch wenn Grodals Kritik etwas pauschal formuliert ist, kann man Genette und etlichen Narratologen, die sich auf dessen Analysesystem stützen, tatsäch- lich vorwerfen, dass sie die Beziehungen zwischen erzählter und Erzähl- zeit zwar in allen Kombinationen bis ins kleinste Detail erörtern, dabei jedoch oft außer Acht lassen, dass Zeit auf beiden Ebenen nicht immer einen physikalisch messbaren, objektiven Wert darstellt. Grodal geht es vorwiegend darum aufzuzeigen, dass die Erzählzeit – sofern man nicht nur ihre objektive Dauer, sondern auch perzeptive, ko- gnitive und psychologische Aspekte der Zuschauerwahrnehmung mitein- bezieht – keine einfach fassbare Größe darstellt. In unserem Zusammen- hang erscheint jedoch vor allem die Erkenntnis von Belang, dass auch die erzählte Zeit keine simple Maßeinheit ist, sobald man berücksichtigt, dass uns die Ereignisse in der Diegese aus der Wahrnehmungsperspektive meh- rerer Figuren vermittelt werden können. Besonders deutlich wird die Tat- sache, dass mehr als nur eine temps de l’histoire veranschlagt werden muss, wenn man die Darstellung innerpsychischer Prozesse betrachtet, die eine ganz eigene Zeitlichkeit besitzen. Müller hat mit Hinweis auf den Roman Mrs. Dalloway (Virginia Woolf, 1925) bereits 1948 darauf hingewiesen, dass es aufschlussreich sein kann, «das Verhältnis der erzählten psychischen 49 So verringern häufige Sinnesreize, interessante Aufgaben oder körperlich anspruchs- volle Tätigkeiten die empfundene Zeitdauer, während sie durch eine Reduktion des Wahrnehmungsangebots, monotone Aufgaben oder Angst einflößende Situationen er- höht wird (Grodal 1999 [1997]: 139–141). 292 4 Träume erzählen Zeit zur [erzählten] physikalischen Zeit» zu beachten (1968b [1948]: 273), ein Unterschied, der später vereinzelt auch von Filmwissenschaftlern auf- genommen wurde, etwa von Vanoye, der im Bezug auf Alain Resnais’ Hi­ roshima mon amour (F/JP 1959) von einer «temporalité mentale propre au personnage central» spricht (1989 [1979]: 185), oder von Branigan, der der «objective time» eine «character time» gegenüberstellt (1984: 89). Dass innere Vorstellungen im Verhältnis zur linear und regelmäßig voranschreitenden Zeit der diegetischen Außenwelt die Richtung ändern und Sprünge vollziehen können, haben wir bereits gesehen. Noch ein- drücklicher erscheint ihre Eigenzeitlichkeit, wenn auffällige Diskrepanzen zwischen der innerlich wahrgenommenen und der tatsächlich verstriche- nen Zeitdauer inszeniert werden.50 Ein in dieser Hinsicht besonders frap- pantes Beispiel stellt Ambrose Bierces Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge respektive ihre filmische Adaption von Robert Enrico (La rivière du hibou, F 1962) dar, auf die ich im Zusammenhang mit dem retroaktiven Traummodus in Kapitel 3.2 bereits eingegangen bin. Zur Er- innerung: Die Geschichte handelt vom Plantagenbesitzer Fahrquhar, der erhängt werden soll, dem jedoch scheinbar die Flucht zurück zu Heim und Frau gelingt, was sich am Schluss als im Todesmoment halluzinierter Wunschtraum entpuppt. Das auffälligste Merkmal der Zeitstruktur von An Occurrence at Owl Creek Bridge ist zweifelsohne die Tatsache, dass imaginäre Ereignisse von beträchtlicher Dauer (in Bierces Version ein Tag und eine ganze Nacht), die auch eine ansehnliche Spanne Erzählzeit in Anspruch nehmen (sechs von zehn Buchseiten respektive, in La rivière du hibou, 16 von 24 Minu- ten Projektionszeit), lediglich wenigen Sekunden oder gar nur Sekunden- bruchteilen diegetischer Zeit entsprechen. Der Film von Robert Enrico und seine literarische Vorlage werden von Narratologen immer wieder als offensichtliche Beispiele für die Ka- tegorie des narrativen stretch (Chatman 1993 [1978]: 72–73), der expansi- on (Bordwell 1993 [1985]: 81), Dehnung (Martinez/Scheffel 2002 [1999]: 43–44), oder dilatation (Gardies 1993: 92) erwähnt, der Möglichkeit also, Ereignisse langsamer zu erzählen, als sie in der Geschichte stattfinden. In einem gewissen Sinn ist dies tatsächlich einer der Effekte, wenn Gedan- ken, Träume oder innere Vorstellungen wiedergegeben werden, die einer Figur viel schneller durch den Kopf schießen, als die Erzählung sie zu ver- 50 Das Geräusch einer regelmäßig tickenden Uhr wird bei einem Wechsel in die Innen- welt oft als akustisches Motiv eingesetzt, um dem innerpsychischen Zeitempfinden die strenge Ordnung der objektiven Zeit entgegenzusetzen, so etwa in Rosemary’s Baby (USA 1967), Possessed oder Wilde Erdbeeren (SE 1957). 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 293 mitteln imstande ist.51 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die entsprechenden Erzählabschnitte komplexer sind als die einfache For- mel Erzählzeit > erzählte Zeit glauben macht. Die Gegenüberstellung der im Fall von An Occurrence at Owl Creek Bridge relevanten Zeitspannen sieht in schematischer Darstellung nämlich folgendermaßen aus: Erzählzeit (Dauer der Filmprojektion respektive des Lesevorgangs): 15 Min. Erzählte Zeit Innenwelt (im Todesmoment vorgestellte / halluzinierte Ereignisse): ca. 15 Std. Erzählte Zeit Außenwelt (Todesmoment): wenige Sekunden Nehmen wir auf der Ebene der Diegese die subjektiv vorgestellte und erlebte Zeit als Maßstab, so wird, zumindest was den gesamten Erzählabschnitt betrifft, nicht etwa zeitdehnend, sondern im Gegenteil zeitraffend erzählt, und zwar in einem Tempo, das – abgesehen von einzelnen speziellen Passa- gen – relativ normal erscheint. Eine Dehnung besteht lediglich im Verhält- nis zur objektiven Zeit, die der subjektiv imaginierten zugrunde liegt, von der wir vorerst aber gar nichts wissen. Beschreibungen des Erzählvorgangs wie die folgenden sind deshalb ungenau oder zumindest unvollständig: «[T]he narration presents in several minutes events which occur in a few (subjective) seconds in the fabula» (Bordwell 1993 [1985]: 81). «A fantasy of several hundred words has depicted a split second of consciousness» (Chatman 1993 [1978]: 73). Die Spanne der few oder split seconds ist ja gerade nicht die vom Bewusstsein der Figur subjektiv erlebte Zeit, an der bis kurz vor Schluss auch unsere Wahrnehmung ausgerichtet ist, sondern die erst nachträglich offenbarte, objektive Dauer der Ereignisse. Die größte zeitliche Diskrepanz besteht nicht zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, wo zwar auch ein Verhältnis von etwa 1000:1 anzunehmen ist, sondern zwischen subjektiver und objektiver erzählter Zeit, wo der Unterschied nochmals viel höher ausfällt. Unser Schock am Ende rührt denn auch daher, dass die ganze ereignisreiche und langwierige Flucht – von der wir, auch wenn sie uns in nur 15 Minuten vermittelt wurde, annahmen, sie habe sich in voller Län- ge zugetragen – sich durch den zeitlichen Kollaps beinahe im Nichts auf- löst, sodass lediglich die Sekundenvision eines Todgeweihten übrig bleibt. 51 Dass die Konfiguration Erzählzeit > erzählte Zeit vorwiegend auf diese Art und Weise zustande kommt, erklärt, weshalb Genette sie nicht in die Liste seiner «formes fonda- mentales du mouvement narratif» aufgenommen hat. Denn er vertritt, wie wir gesehen haben, die Auffassung, die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Er- zählinhalten lasse sich für die Analyse der Zeitstruktur neutralisieren (1972: 129–130). 294 4 Träume erzählen Ein schöner Beweis für die Notwendigkeit, den doppelten – subjekti- ven wie objektiven – Charakter der erzählten Zeit zu berücksichtigen, liefert der folgende Versuch, An Occurrence at Owl Creek Bridge mit Genettes Ka- tegorien zu beschreiben, denen diese Differenzierung fremd ist: Martinez und Scheffel bezeichnen den entsprechenden Erzählabschnitt der Kurzge- schichte als «interne, komplette Prolepse mit einem mittleren Maß an Reich- weite und Umfang» (2002 [1999]: 38). Mit «mittlerem Maß an Reichweite und Umfang» kann nur die Zeitspanne der imaginierten Flucht (mehrere Stunden) gemeint sein, als «intern» könnte man die Prolepse hingegen nur bezeichnen, wenn für sie die während der subjektiven Vision tatsächlich verstrichene, objektive Zeit (wenige Sekunden) relevant wäre, denn die Er- zählung endet unmittelbar nach dem spektakulären Wendepunkt, der uns Fahrquhars tatsächliches Schicksal offenbart, während der Protagonist in seiner Vision bereits die Heimkehr am Morgen nach der missglückten Exe- kution imaginiert hatte. Auf der subjektiven Zeitebene kann man also tat- sächlich von einer Prolepse mittleren Ausmaßes ausgehen, muss sie, da sie über das Ende des primären Zeitstrangs hinausgeht, nach Genette jedoch als extern oder zumindest als gemischt bezeichnen. Auf der objektiven Zeit- ebene findet hingegen gar kein narrativer Vorgriff statt, denn der sekun- denschnelle innerpsychische Vorgang reiht sich nahtlos in den Ablauf der Hinrichtung ein, auch wenn uns dies bis kurz vor Schluss verborgen bleibt. Die zeitliche Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt hat wesent- lichen Anteil am Schlusseffekt von An Occurrence at Owl Creek Bridge, denn der Aufprall auf dem Boden der Realität erscheint nicht zuletzt deshalb so hart, weil er, wie die folgende Darstellung zeigt, einem Zeitsprung zurück in eine sehr ungemütliche Gegenwart entspricht, von der wir – genau wie die Figur – annahmen, wir hätten sie längst hinter uns gelassen: Innenwelt → → imaginäre Dauer, vorgestellte Zukunft ↑ nicht markierter Übergang ← markierter Übergang ← zurück zur realen Gegenwart Außenwelt → Gegenwart, reale Dauer An Occurrence at Owl Creek Bridge ist ein außergewöhnliches, aber keines- falls singuläres Beispiel. Todesmomente stellen physische wie psychische Extremsituationen dar, ihre Inszenierung verlangt deshalb eine spezielle erzählerische Behandlung. Ein Wechsel in die mentale Innenwelt, der eine zeitliche Dehnung im Verhältnis zum äußeren Geschehen erlaubt, bietet 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 295 sich dabei nur schon deshalb an, weil er den kurzen Augenblick des Ster- bens für die präsentische Erzählform überhaupt erst zugänglich macht.52 Neben der Inszenierung unerfüllt gebliebener Zukunftshoffnungen kommt es häufig zu einer Rückschau auf das vergangene Leben. So erzählt Two Seconds von Mervyn LeRoy (USA 1932)53 die Geschichte eines zum Tod durch den elektrischen Stuhl verurteilten Mörders fast ausschließlich mittels subjektiver Rückblende im Todesmoment. Die titelgebenden zwei Sekunden stellen die Zeitspanne zwischen Stromstoß und Erlöschen des Be- wusstseins dar, während der der sprichwörtliche «Lebensfilm» vor dem in- neren Auge des Protagonisten abrollt und die Hintergründe der Tat erklärt. Manchmal werden zeitliche Rück- und Vorwärtsbewegung kom- biniert: In Wenn die Kraniche ziehen (Letjat Schurawli, SU 1957), knüpft die innere Bilderflut des tödlich getroffenen Soldaten Boris an eine vergangenen Begegnung mit der Verlobten an, um uns anschließend in die erträumte Zukunft einer glücklichen Hochzeit zu führen, von der nun klar ist, dass sie nie stattfinden wird. Die Diskrepanz zwischen der Dauer innerpsychischer und äußerer Abläu- fe, auf der die erwähnten Beispiele aufbauen, ist nicht ganz ohne realwelt- liches Fundament. Die meisten Menschen kennen das Gefühl, nach nur kurzem Schlaf mit dem Eindruck zu erwachen, einen langen und ereignis- reichen Traum durchlebt zu haben. Auch in der Traumforschung wurde lange Zeit die Auffassung vertreten, bei Träumen handle es sich um ein Sekundenphänomen. Alfred Maurys Guillotine-Traum, der dies eindrück- lich zu beweisen schien, wurde in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert.54 Maury, ein Pionier der frühen Traumforschung, berichtete von ei- nem eigenen Traum (1861: 133–134), der in der Epoche der französischen Revolution spielte und nach zahlreichen dramatischen Verwicklungen in seiner Hinrichtung durch die Guillotine gipfelte, was ihn aus dem Schlaf riss. Beim Erwachen stellte er fest, dass ihn, auf dem Bauch liegend, ein herabfallender Bettpfosten im Genick getroffen hatte. Daraus schloss er, dass das gesamte Traumgeschehen im Augenblick zwischen Schlag auf den Nacken und Erwachen evoziert und erlebt sein musste. Heute geht man in der Traumforschung davon aus, dass sich Träume eher über mehrere oder gar Dutzende von Minuten hinziehen. Diskrepan- 52 Der Effekt der Zeitdehnung wird in Todesvisionen häufig durch den Einsatz von Zeit- lupe verstärkt. 53 Der Film basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Elliot Lester (1931). Eine zeitgenössische Besprechung (Hall 1932) weist auf einen wenige Jahre älteren Film mit analoger Erzählstruktur hin, Pál Fejös’ The Last Moment (USA 1928), der jedoch als verschollen gilt. 54 Vgl. Strauch/Meier 1992: 18–19 und Schredl 1999: 70. 296 4 Träume erzählen zen zwischen innerpsychischer und objektiver Zeit bleiben jedoch auch nach neuesten experimentalpsychologischen Erkenntnissen bestehen. Im Bereich der Nahtod-Erlebnisse gibt es zudem Berichte, die tatsächlich auf ganz au- ßergewöhnliche Wahrnehmungen schließen lassen (vgl. Moody 1989 [1988]), die von den erwähnten fiktionalen Beispielen nicht weit entfernt sind. Fragen der Zeitdauer und des Erzähltempos sind noch in einem weite- ren Punkt mit Fragen der Erzählperspektive verknüpft. Sowohl Müller als auch Stanzel haben darauf hingewiesen, dass in der Literatur ein Zusam- menhang zwischen Innenweltdarstellung und der Spanne erzählter (ob- jektiver) Zeit besteht: [I]m Roman des Bewusstseinsflusses [geht es] um die möglichst ununterbro- chene Vergegenwärtigung des [inneren] Ablaufs. Diese verlangt eine enge Annäherung der Erzählzeit an die erzählte Zeit, und das ist praktisch für langdauernde erzählte Zeiten nicht durchzuführen. Es ist aber auch nicht nö- tig, weil sich im Fluss des Bewusstseins durch einige Stunden hindurch viel Vergangenheit vergegenwärtigen kann. (Müller 1968b [1948]: 273) [Das] Ritardando des Erzähltempos ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die literarische Darstellung von Innenwelt. […] In dem Maße, in welchem der Roman sich mehr und mehr von der ausschließlichen Schilderung der Außenwelt löst und Bezirke der Innenwelt mit einzuschließen beginnt, ver- langsamt sich auch das Erzähltempo. James Joyce setzt also nur eine beste- hende Tendenz konsequent fort, wenn er in seinem Roman Ulysses auf mehr als 800 Seiten die Handlungszeit von nur knapp einem Tag und einer Nacht zur Darstellung bringt. […] Die individuelle Kontur einer Gestalt wird nicht an der Ausfaltung ihres Schicksals in der Längsdimension der Zeit, sondern an der Dichte und an der Art der Bezüge, deren sie sich während weniger Stunden bewusst wird, sichtbar. (Stanzel 1962: 277, 285) Für filmische Erzählungen lässt sich, zumindest der Tendenz nach, ein analoger Zusammenhang feststellen: Filme, die sich lediglich auf einige Stunden oder Tage aus dem Leben der Hauptfigur konzentrieren, vermit- teln eher auch Träume und andere innerpsychische Erlebnisse als Filme, die, stark raffend, ganze Jahrzehnte umspannen und sich dabei in der Re- gel stärker an der Dramatik äußerer Ereignisse orientieren. 4.4.3 Frequenz Der Unterschied zwischen objektiven und subjektiven Erzählinhalten hat sich sowohl im Bezug auf Fragen der Chronologie als auch des Erzähl- tempos als äußerst wichtig erwiesen. Im Bereich der Frequenz, der primär 4.4 Zeitstrukturen: Objektive versus subjektive Zeit 297 Formen der Wiederholung betrifft, verhält es sich nicht anders. Zwar ist es durchaus üblich, dass im Dialog mehrmals auf dieselben Geschehnisse Bezug genommen wird, zu einer wiederholten Inszenierung kommt es je- doch fast nur, wenn ein Ereignis für eine der Figuren so starke Bedeutung hat, dass sie es innerlich mehrmals evoziert oder dass es, neben der Ver- mittlung als außenweltliche Begebenheit, zusätzlich noch als subjektiver Bewusstseinsinhalt wiedergegeben wird.55 Zur Wiederaufnahme äußerer Vorgänge im Figureninnern kommt es vorwiegend in Träumen oder Tag- träumen, die nicht selten ein Ereignis unter neuen, verfremdeten Vorzei- chen nochmals inszenieren, zum Beispiel das Tragen des schweren Koffers in Der letzte Mann (D 1924), zu dem der alte Hotelportier im realen Le- ben nicht mehr fähig ist – was zu seiner demütigenden Entlassung führt –, das er beim erneuten Versuch im Traum jedoch spielend schafft. In Dream Lover (USA 1986) durchlebt die Protagonistin eine Messerattacke in Varia- tionen immer wieder aufs Neue. Und in Abre los ojos (ES/F/I 1997) sind es verschiedene Handlungselemente und Dialogpartien, die sich nach der wundersamen Wendung in Césars Leben plötzlich wiederholen und be- reits früh andeuten, dass sich das gesamte Geschehen ab diesem Moment lediglich als Traum ohne Ende in seinem Kopf abspielt. Die wiederholte innere Evokation eines Ereignisses, das nie objektiv dargestellt wurde, bietet sich für die Inszenierung traumatischer Erinne- rungen besonders an. Die Darstellung folgt dabei oft dem Muster, dass sich einzelne, bruchstückhafte Erinnerungsbilder erst durch mehrmaliges Hervorrufen zu einem Ganzen zusammensetzen, das die Art und das Aus- maß des Traumas schließlich offenbart. Der Tod des deutschen Soldaten in Hiroshima mon amour, die Verhaftung der Familie durch die Nazis in The Pawnbroker, die Ermordung des Bruders durch Franks Gang in C’era una volta il West (I/USA 1968) oder der Ehebruch der Frau in Hide and Seek sind alles vergangene – und mehr oder weniger stark ver- drängte – Erlebnisse, die sich dem Bewusstsein der jeweiligen Protagonis- 55 Bordwell stellt für das Mainstream-Kino diesbezüglich folgende Regel auf: «An event may be recounted any number of times, but it will typically be enacted only once […]. This is to say that repetition chiefly occurs as a repetition in the fabula world that is re- layed by the syuzhet [Erzählung] (characters repeatedly discuss or mention the event). If the event does get ‹replayed›, the repetition is subject to stringent narrational rules. It must be motivated realistically – typically through character subjectivity, as a me- mory» (Bordwell 1993 [1985]: 80). Nicht figurenpsychologisch motivierte Wiederho- lungen findet man am ehesten im frühen Kino, da Einstellungen vor der Verbreitung der Kontinuitätsmontage bisweilen «überlappend» montiert wurden, im sowjetischen Montagekino, in dem es vorkommt, dass die ideologische Bedeutung eines Ereignisses durch die Vervielfachung ihrer Darstellung unterstrichen wird, und natürlich im Expe- rimentalfilm, wo sie nicht selten – in den Filmen Martin Arnolds etwa – das eigentliche Konstruktionsprinzip darstellen. 298 4 Träume erzählen ten in mehreren Schüben aufzwingen, jedoch erst gegen Schluss in ihrer ganzen Dimension oder vollen Länge sichtbar werden. Auch in diesem Punkt bestehen durchaus Verbindungen zwischen filmischer Inszenierung und realen psychologischen Phänomenen. So sind traumatische Wieder- holungen vergangener Ereignisse in der Wachvorstellung (in der Psycho- logie Flashbacks genannt) oder im Traum typische Symptome posttrauma- tischer Belastungsstörungen (vgl. Schredl: 1999: 14). Eine weitere Form der Wiederholung, die nur via Innenwelt der Fi- guren zustande kommt, liegt vor, wenn mehrere subjektive Versionen ein und desselben Ereignisses vermittelt werden – eine Erzählkonstellation, die Genettes focalisation interne multiple entspricht (auch hier zeigt sich, dass Fragen der Perspektive und der Zeitstruktur eng verknüpft sind) und die vor allem im Briefroman und im Genre des Gerichtsfilms Verbreitung gefunden hat.56 Bisher war nur von subjektiv vorgestellten Ereignissen die Rede, die in mehr oder weniger direktem, zeitlich situierbarem Zusammenhang mit dem diegetischen Geschehen stehen. Die menschliche Imagination ist je- doch in der Lage, Szenen oder ganze Fantasiewelten zu entwerfen, denen dieser konkrete Zeitbezug fehlt oder die überhaupt für sich stehen und nur sehr lose und assoziativ mit dem eigenen Lebensbereich und der ei- genen Biografie verbunden sind. Handlungen in Traum- oder Tagtraum- sequenzen müssen deshalb nicht zwingend deutlich erkennbare Verbin- dungen zur aktuellen Situation, zu vergangenen oder in der Zukunft zu erwartenden Erlebnissen der Figur aufweisen und lassen sich oft weniger klar ins Zeitgefüge der Geschichte einordnen als außenweltliches Gesche- hen. Die figurale Innenwelt stellt somit, um es mit Genettes Kategorien zu formulieren, nicht nur ein privilegiertes Terrain für Anachronien (Vor- und Rückwendungen), sondern auch für Achronien (die Darstellung «azeitli- cher» Ereignisse) dar. Eine Häufung von Traumsequenzen ohne klare Zeit- bezüge kann mitunter dazu führen, dass sich die Klarheit und Eindeutig- keit der Zeitstruktur abschwächt. 56 Rashomon ist bis heute wohl das bekannteste Filmbeispiel. 5 Narrative Funktionen des Filmtraums in unterschiedlichen Genres 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung In der Einleitung bin ich bereits auf die Frage nach der Funktion und Bedeutung von Träumen eingegangen, die seit Jahrhunderten so unter- schiedliche Disziplinen wie die Philosophie, Theologie, Psychologie oder Neurophysiologie beschäftigt. Dabei hat sich gezeigt, dass die These der nachvollziehbaren Funktion und Sinnhaftigkeit des Träumens bis heu- te kontrovers diskutiert wird. Da in dieser Studie jedoch nicht der reale, sondern der fiktionale Traum im Zentrum steht, stellt sich die Frage nach der Funktion und Bedeutung neu. Als Elemente einer Erzählung, die ab- sichtsvoll gestaltet wurde, um bestimmte Wirkungen zu erzielen, erfüllen filmische – wie auch literarische – Träume in der Regel ganz spezifische narrative Funktionen, die der Analyse im Gegensatz zu allfälligen Funkti- onen realer Träume auch direkt zugänglich sind. Dass die Annahme einer grundlegenden Sinnhaftigkeit mehrdeutige oder gar «bedeutungslose» Träume nicht ausschließt, macht Christine Walde klar: Eine gewisse Spannung entwickelt sich in den Werken der Dichtung da- durch, dass immer auch die Möglichkeit der Bedeutungslosigkeit oder Mehr- deutigkeit eines Traumbildes besteht. Innerhalb der Dichtung rangiert aber die prinzipielle Sinnhaftigkeit vor der (auch nur relativ zu verstehenden) Bedeutungslosigkeit, die in einem Kunstwerk ebenfalls thematisiert werden kann und damit eben doch Sinn erzeugt. (Walde 2001: 418) Ebenfalls in der Einleitung bereits angesprochen habe ich das Spannungs- verhältnis zwischen der Traumkonzeption einer bestimmen Epoche und der filmischen oder literarischen Verwendung des Traummotivs. Bei der Analyse der unterschiedlichen Funktionen wird sich zeigen, dass die Fik- tion – nicht zuletzt aus dramaturgischen Gründen – bisweilen auf Traum- auffassungen zurückgreift, die nicht mehr dominant sind (z. B. die der göttlichen Prophezeihung) oder die über das momentan wissenschaftlich Realisierbare hinausgehen (z. B. in der Traumentgrenzung). 300 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Im Vergleich zur Ästhetik und Markierung sind Fragen der narrativen und dramaturgischen Funktion der Traumdarstellung in der Filmtheorie – im Gegensatz zur Literaturwissenschaft – bisher nur selten behandelt worden. Der in der Einleitung festgestellte Mangel an Kohärenz der we- nigen Systematisierungsversuche soll im Folgenden kurz erörtert werden. Robert Eberwein (1984: 53–90) berücksichtigt in seiner «taxonomy of dreams» zwar die Funktion der narrativen Vorwegnahme («prolep- tic dreams»), stellt sie jedoch Kategorien gegenüber, die nicht die Funk- tion, sondern die Form und Ursache («mind/body isomorphism»), den Inhalt («dreams of traumatic events»), die emotionale Qualität («anxiety dreams» / «dreams of desire») oder das subjektive Erlebnis des Traums («dream states») betreffen. Brooks Robards’ Aufstellung der «four primary functions served by movie dream sequences» (1991: 115) ist ebenso un- systematisch: «prophetic dreams [that] advance the plot by foretelling the outcome of events», «nightmares», «wish fulfillment» und die «category of dream sequence […] in which the character’s dream transports the movie entirely into the realm of fantasy». Auch hier kann nur bei der ersten und letzten Kategorie wirklich von einer narrativen Funktion gesprochen wer- den, welche die anderen erwähnten Traumarten (Alb- und Wunschtraum) jedoch genauso erfüllen können. Für Antonio Costa (1991: 11–12) gilt es zu unterscheiden zwischen Funktionen, die eine Traumsequenz als Erzählung («in quanto racconto»), als Ereignis («in quanto evento») und als rhetorisches Artefakt («in quan- to artificio retorico») ausüben kann. Die Unterscheidung zwischen dem Traum als Erzählelement und als Erfahrungsgegenstand erscheint mir, wie oben angedeutet, wichtig. Allerdings ist Costa wie Latacz zu einschrän- kend, wenn er schreibt, dass der Traum als Ereignis lediglich Funktionen erfüllen könne, die dem kulturellen Status des Traums entsprechen («fun- zioni previste dallo statuto culturale del sogno attivato dalla narrazione»). In der Fiktion ist es auch möglich, dem Traum eine Funktion und einen Status anzudichten, die er in der Kultur (noch) gar nicht innehat. Was die narrativen Funktionen betrifft, so erwähnt Costa lediglich die vorausdeu- tende explizit («funzione prolettica / predittiva») und verweist des Wei- teren pauschal auf die Funktionen, die Genette dem récit métadiégétique zuschreibt. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als Traumsequenzen, wie wir in Kapitel 4.2 gesehen haben, nicht einfach mit Genettes récits mé- tadiégétiques gleichzusetzen sind. So können sie zwar dessen erste («fonc- tion explicative») und zweite Funktion («relation purement thématique […] de contraste […] ou d’analogie») erfüllen, nicht aber die dritte der Hand- lungsbeeinflussung durch einen Erzählakt in der Diegese («c’est l’acte de narration lui-même qui remplit une fonction dans la diégèse […], fonction 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 301 de distraction, par exemple, et/ou d’obstruction» 1972: 242–243), es sei denn, der Traum wird von der träumenden Figur weitererzählt und nicht – wie üblicherweise der Fall – lediglich erlebt. Laure Borgomano (1997: 28) verwechselt Funktion und Thema, wenn sie «la mort», «la sexualité», «l’enfance» und «l’art» als «quatre grandes fonctions assignées au rêve dans les films de Delvaux» bezeichnet. Stefan Gross (1998: 141) listet in der stichwortartigen Zusammenfassung seiner Analyse von Buñuels Filmen folgende Funktionen auf: «a) psychologisie- rend, analytisch bzw. didaktisch, abymisierend, b) ästhetisch, abstrakt c) in struktureller, narrativer Absicht.» Leider kommentiert er die Auflistung nicht weiter und stellt auch keine expliziten Bezüge zu den vorgängigen Ausführungen her, sodass unklar bleibt, was mit «abstrakter» Funktion gemeint ist und inwiefern sich a) von c) unterscheidet (die psychologisie- rende Funktion entspringt ja auch einer narrativen und die abymisierende einer strukturellen Absicht). Ich schlage im Folgenden eine Systematisierung vor, die acht narrative Funktionen umfasst: 1) Charakterisierung der träumenden Figur 2) Symbolische Konfliktdarstellung 3) Verrätselung und Enthüllung 4) Verunsicherung 5) Antizipation und Prophezeiung 6) Entrückung in eine andere Welt 7) Evokation von Atmosphäre 8) Parodie und Selbstreflexion. Bevor ich auf die einzelnen Funktionen eingehe, möchte ich betonen, dass sie nicht als trennscharfe Entweder-oder-Kategorien zu verstehen, son- dern im Gegenteil häufig im Verbund wirksam sind. Am besten stellt man sich ihre Interaktion mit Hilfe des Kreismodells der Mengenlehre vor. Je häufiger eine Funktion zu beobachten ist, desto größer der Kreis, und je öf- ter zwei Funktionen gleichzeitig auftreten, desto größer ihre Überlappung respektive Schnittmenge. 5.1.1 Charakterisierung der träumenden Figur Bei fiktionalen Träumen können wir im Normalfall davon ausgehen, dass sie etwas über die träumende Figur, ihren Charakter, ihre Situation und innere Befindlichkeit aussagen. 302 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Es ist die intentionale Einheit des «Ich träume», die das Traumgeschehen bündelt und als Sinnhorizont erschließt. «Subjektivisierung» [sic] ist demzu- folge eine absolut wesentliche Charakteristik jeder Traumdarstellung. Und weiter: «Intentionalität» schließt den Traum an den Charakter, an die Erfah- rungswelt des Träumenden, an Dilemmata, Wünsche und Ängste an. (Wulff 1998: 55) Wie die folgenden Beispiele zeigen, reicht die Bandbreite der Charakteri- sierungsfunktion – je nach Tiefe des Einblicks und Bedeutung der subjekti- ven Inhalte – von der einfachen Figurenzeichnung bis hin zur Offenbarung komplexer seelischer Zustände, die das Verhalten einer Figur maßgeblich bestimmen. In François Truffauts La nuit américaine (F/I 1973) träumt Ferrand, der Regisseur des Films im Film, wiederholt, dass er sich als Kind nachts zum lokalen Kinoaushang schleicht, um Plakate von Citizen Kane zu ent- wenden. In den ersten beiden Nächten bricht der in Schwarzweiß gehalte- ne Traum vor dem Diebstahl ab, sodass seine Bedeutung zunächst myste- riös bleibt. Erst die Auflösung in der dritten Nacht macht deutlich, dass es sich nicht um ein traumatisches Erlebnis handelt, dessen psychologische Implikationen für das Verständnis der Figur notwendig sind. Vielmehr reiht sich die Traumerinnerung in die Serie von Anekdoten ein, mit denen der Regisseur als Figur gezeichnet wird, die das Kino schon immer über alles geliebt hat. In Tim Burtons Pee Wee’s Big Adventure (USA 1985) dient die Traumsequenz zu Beginn des Films – neben der Erheiterung der Zuschauer – ebenfalls primär der Figurenzeichnung. Pee Wee träumt, dass er auf seinem feuerroten Spezialbike die Tour-de-France-Fahrer spielend überholt und als strahlender Sieger im Ziel einfährt. Dieser Wunschtraum weist die Hauptfigur als Fahrradnarr aus und macht so nachvollziehbar, dass er einen Nervenzusammenbruch erleidet, als seine wertvolle Spezi- alanfertigung gestohlen wird. In Fast Times at Ridgemont High (USA 1982) steht das komische Element noch stärker im Vordergrund. Die Nebenfigur des dauerbekiff- ten Jeff erscheint in der Traumsequenz als Surfstar mit Siegertrophäe, umrahmt von zwei leicht bekleideten Schönheiten, und versorgt einen Fernsehreporter mit coolen Sprüchen. Gleichzeitig wird auch hier die Fi- gur durch den Traum indirekt charakterisiert. Jeffs Wunschbild sagt etwas über ihn aus, und unser Eindruck, dass er die Diskrepanz zwischen Ideal- vorstellung und Realität unterschätzt, lässt ihn als Figur erscheinen, der es an Bodenhaftung mangelt. Nicht selten kommt es vor, dass eine Traumsequenz mit Charakte- risierungsfunktion die Rolle der Figureneinführung übernimmt, also für 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 303 den ersten Eindruck verantwortlich zeichnet, den wir von einer Figur er- halten. Bei einem Traum am Filmanfang ist dies naturgemäß besonders häufig der Fall. Neben Pee Wee’s Big Adventure stellt Rushmore (USA 1998) ein schönes Beispiel dar. Der Schüler Max, Protagonist des Films, löst in der Anfangssequenz eine Geometrieaufgabe problemlos, die der Lehrer als beinahe unlösbar bezeichnet hat, worauf seine Mitschüler ihn begeistert feiern. Wie Jeffs Wunschtraum in Fast Times at Ridgemont High stattet zwar auch derjenige von Max das Traum-Ich mit Fähigkeiten aus, die die reale Figur nicht besitzt – Max wird sich als einer der schlechtesten Schü- ler erweisen. Die Art, wie er in der Sequenz auftritt – er trägt Anzug, liest im Unterricht die Börsenkurse, trinkt vor Lösen der Aufgabe genießerisch aus seiner edlen Kaffeetasse –, charakterisiert ihn jedoch bereits treffend als sympathischen Sonderling mit Geschmack und Sinn für Humor, der sich erwachsener fühlt, als er ist. Einer Figur, die sich im Wunschtraum so raffiniert selbst inszeniert, traut man überdies für den weiteren Verlauf der Geschichte einiges an Fantasie zu. Und der überschwängliche Applaus der Mitschüler deutet bereits an, dass Anerkennung für Max wichtiger Motor seines Handelns sein wird. Ein typisches Beispiel für die Funktion der Figureneinführung stellt auch der erste Traum in Terry Gilliams Brazil (GB 1984) dar, der nicht am Filmanfang, sondern nach zehn Minuten Erzählzeit einsetzt. Zuvor wurden bereits das diegetische Universum (eine Retro-Zukunfts-Welt, in der ein bürokratisches Willkürregime herrscht) und einige Nebenfiguren vorgestellt. Im Großraumbüro des Informationsministeriums fehlt jedoch eine wichtige Person, denn die Erkundigungen des Chefs nach Sam Lowry bleiben unbeantwortet. Die darauf folgende Sequenz offenbart, wo dieser steckt: Er fliegt hoch über den Wolken durch den rötlichen Abendhimmel, getragen von einer vogelartigen Gleitschirmkonstruktion, und schwebt zu einer Blondine hin, die zärtlich seinen Namen ruft – bis das mechani- sche Geräusch des Telefons ihn auf den Boden der Realität zurückholt und er realisiert, dass er verschlafen hat. Bevor wir den Protagonisten in der Wachwelt kennen lernen, wird so bereits der Eindruck vermittelt, dass wir es mit einem romantischen und freiheitsliebenden Träumer zu tun haben, der überdies von einer Frau fasziniert ist, die zu Beginn des Films bereits ihren Auftritt hatte. Es ist kein Zufall, dass die erwähnten Einführungssequenzen alle- samt erst nachträglich explizit als (Tag-)Träume markiert sind, denn der erste Eindruck von der Figur dürfte stärker wirken und ernster genommen werden, wenn er sich vorerst nicht als Fantasiegebilde zu erkennen gibt. Eine weitere Besonderheit solcher Figurenzeichnung, die sich ebenfalls an den bisherigen Beispielen ablesen lässt, ist die Verwendung von Wunsch- 304 5 Narrative Funktionen des Filmtraums träumen, die ein bedeutsames Kontrastverhältnis zur Realität etablieren. Die Spannung zwischen idealisiertem Selbstbild und realer Situation sagt in der Regel einiges aus über den Charakter und die psychische Befind- lichkeit der Figur. Die bisher erwähnten Traumbeispiele sind eher kurz, nicht sehr drama- tisch und wirken als einfaches Element der Figurenzeichnung, das einen bestimmten Charakterzug hervorhebt, der auch in den Wachszenen zum Tragen kommt. Oft entfaltet die psychologische Charakterisierung jedoch mehr Tiefgang, vor allem bei längeren Traumsequenzen oder in Erzählun- gen, die sich auf äußere Handlungen konzentrieren, sodass der direkte Einblick ins Figureninnere eine Ausnahme darstellt. In Stranger on the Third Floor (USA 1940) geht es um einen gewichtigen moralischen Kon- flikt, den der Protagonist, obwohl er sich gelassen gibt, mit sich austrägt. Als aufstrebender Reporter ist er Hauptzeuge in einem Mordprozess. Im Verlauf des Gerichtsverfahrens kommen ihm jedoch Zweifel an der Schuld des Angeklagten, die ihn umso mehr befallen, als er sich ausmalt, wie leicht auch er Opfer eines Justizirrtums werden könnte, etwa wenn seinem nörgelnden Nachbarn, dem er verbal schon oft den Tod gewünscht hat, et- was zustoßen würde. Höhepunkt seines Gewissenskonflikts ist ein drama- tischer, expressiv gestalteter Traum, in dem er tatsächlich für den Mord an seinem Nachbarn verantwortlich gemacht und zum Tode verurteilt wird. Der Traum bringt somit eine innere Auseinandersetzung anschaulich zum Ausdruck und zeigt auf, welche Ängste die Figur plagen. Ganz ähnlich gelagert ist die Konstellation in Francesco Rosis Tre fratelli (I/F 1980). Auch hier offenbaren sich die Befürchtungen einer Figur, die in Dialog und Mimik angedeutet waren – in diesem Fall die Angst des Richters, Opfer eines Terroranschlags zu werden –, erst im Traum auf deutliche Weise. Eine ebenso tiefgreifende Wirkung vermag die Traumsequenz in Pa­ pillon (USA 1973) zu entfalten, obwohl sie mit nur einer Minute Dauer wesentlich kürzer ist als die Sequenzen in Stranger on the Third Floor und Tre fratelli. Papillon erzählt die Geschichte eines Kleinkriminellen, der wegen eines angeblich verübten Mordes eine lange Haftstrafe absitzt. Der Film konzentriert sich auf die Inszenierung der schwierigen Haftbe- dingungen, auf Ausbruchsversuche und die Freundschaft zwischen Pa- pillon und seinem Mithäftling Dega. Über die Hintergründe erfahren wir lediglich, dass er für den Mord an einem Zuhälter verantwortlich gemacht wird, eine Tat, die er jedoch bestreitet. Ansonsten bleiben sein Vorleben wie auch seine Gedanken und innere Verfassung, abgesehen vom unbän- digen Freiheitswillen, der sich an den Fluchtversuchen ablesen lässt, im Dunkeln. Der einzige Moment, der einen schlaglichtartigen Blick in Pa- 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 305 pillons Psyche eröffnet, ist ein kurzer Traum während seiner ersten Isola- tionshaft, in dem er auf offenem Wüstenfeld vor ein Tribunal tritt, das ihn des «schlimmstmöglichen Verbrechens, das ein Mensch begehen kann» anklagt, eines «verschwendeten Lebens». «Schuldig!» ist Papillons Reak- tion, die er dreimal wiederholt. Hier blitzt eine innere Verzweiflung auf, die über das Leiden unter den unmenschlichen Haftbedingungen hinaus- geht und die Schuld an der ausweglosen Situation auch bei sich selber, im selbstbestimmten Leben vor der Gefangenschaft sucht. Großaufnahmen seiner in Verzweiflung aufgerissenen Augen, die auf die letzten Traumbil- der folgen, lassen keinen Zweifel daran, dass er vom Traumerlebnis und der dadurch ausgelösten Erkenntnis tief getroffen ist. Dass die Konstellation des Wunschtraums, der ein bedeutsames Kon- trastverhältnis zur Realität etabliert, nicht nur als oberflächliches Mittel zur Charakterisierung einer Nebenfigur, wie in Fast Times at Ridgemont High, sondern auch zur Inszenierung des zentralen inneren Dramas der Hauptfigur dienen kann, macht Der letzte Mann von Friedrich Wilhelm Murnau (D 1924) deutlich. Am Hochzeitstag seiner Tochter zum Toiletten- mann degradiert, kompensiert der Hotelportier die Demütigung durch ei- nen Traum, in dem er seine angestammte Aufgabe bravourös erledigt und dafür Applaus von Gästen und Belegschaft erntet. Das Leiden der Figur kommt nicht nur durch die Diskrepanz zur realen Stellung, sondern auch durch die übersteigerte Inszenierung, verzerrte Darstellung und expressi- ve Ästhetik zum Ausdruck, die die Traumvision mit psychologischer Be- deutung aufladen. Durch Aufzeigen innerer Befindlichkeiten liefern Träume oft auch Erklä- rungen und Motive für das Handeln der Figuren. In Le grand bleu von Luc Besson (F/USA/I 1988) wird die Tauchbesessenheit von Jacques kurz vor Schluss durch einen Unterwassertraum bestätigt, der ihn dazu moti- viert, mitten in der Nacht einen riskanten Tauchgang zu wagen, obwohl seine schwangere Freundin mit allen Mitteln versucht, ihn davon abzuhal- ten. Wie in Papillon wird die starke psychische Wirkung des Traums auch hier durch den Zustand nach dem Aufwachen verdeutlicht: Jacques liegt, bevor er zum Meer hastet, benommen im Bett und starrt an die Zimmerde- cke, durch die die Wasserfluten im Traum über ihn hereingebrochen waren (Abb. 38a–c). Noch expliziter wird ein Traum in The Touch of Her Flesh (USA 1967) zur Erklärung des Verhaltens der Hauptfigur eingesetzt. Als der zu einer Geschäftsreise aufgebrochene Richard wegen vergessener Unterla- gen nochmals zu Hause aufkreuzt, liegt seine Ehefrau mit einem Liebha- ber im Bett. Der Anblick schockiert ihn so, dass er das Haus überstürzt 306 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 38a–c Traumbilder, die zur Handlung anstacheln: Jacques in Le grand bleu kurz vor dem verhängnis- vollen, letzten Tauchgang verlässt und von einem Auto erfasst wird. Durch den Unfall verliert er ein Auge, und seine Beine sind vorübergehend gelähmt. In der Nacht nach der Entlassung aus dem Spital hat er einen längeren Traum, der von nack- ten, lasziv posierenden Frauenkörpern dominiert wird, die mit Bildern des Ehebruchs und des Unfalls kombiniert sind. Zusammen mit seiner inneren Stimme, die sich durch den ganzen Traum zieht, offenbart die Sequenz, dass Richard nicht nur seine Frau, sondern Frauen an sich für seine Verlet- zung, die einer Entmannung gleichkommt, verantwortlich macht. In der Folge bricht er zu einem Rachefeldzug auf und bringt mehrere Striptänze- rinnen und schließlich seine Frau um. Die äußeren Ereignisse allein – Ehe- bruch und Unfall – hätten seine Wandlung zum Serienmörder kaum nach- vollziehbar gemacht; erst der Traum, der das Ausmaß der Demütigung und sein krankhaft verzerrtes Frauenbild zum Vorschein bringt, vermag die Motivation für die Tat zu erhellen.1 1 Dass The Touch of Her Flesh mit seiner extrem frauenfeindlichen, sadistischen Haupt- figur ideologisch fragwürdig erscheint und sowohl der Plot als auch die psychologische Motivierung der Handlung sehr holzschnittartig wirken, sei nur nebenbei erwähnt. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 307 In den bisherigen Beispielen standen im Traum offenbarte Charakterzü- ge, Wünsche oder Befürchtungen im Vordergrund, deren sich die Figuren weitgehend bewusst oder die gar öffentlich bekannt sind. Ferrands Liebe zum Kino, Picolis überdrehte Surfambitionen, Pee Wees Vernarrtheit in sein Fahrrad oder Jacques’ Tauchbesessenheit stellen weder für sie selber noch für ihr Umfeld ein Geheimnis dar. In Der letzte Mann, Stranger on the Third Floor und Tre fratelli handelt es sich um innere Kon- flikte, die die Figuren vorerst zwar verschweigen, mit denen sie sich aber auseinandersetzen. Doch mit Freuds Konzept des Unbewussten und den damit verknüpften Mechanismen der Verdrängung und Verleugnung hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorstellung verbreitet, dass wichtige psychische Inhalte dem Bewusstsein nicht immer frei zu- gänglich sind – wobei dem Traum als «Königsweg zum Unbewussten» von Freud eine privilegierte Rolle bei ihrer Erkundung zugesprochen wurde. Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass fiktionale Träume nicht nur zur Verdeutlichung bewusster Seelenzustände, sondern auch als Mittel eingesetzt werden, um Uneingestandenes oder Verdrängtes an die Oberfläche zu holen. In Ingmar Bergmans Wilde Erdbeeren (SE 1957) wird die Hauptfigur Isak Borg als etwas pedantischer, aber sympathischer älterer Herr einge- führt, der sich, wie er selber mittels Erzählstimme verkündet, aus sozialen Beziehungen weitgehend zurückgezogen hat, da es in den meisten Diskus- sionen ohnehin nur um das Kritisieren anderer Menschen gehe. Nicht ohne Stolz stellt er seine Familienangehörigen vor, von denen Fotos auf dem Schreibtisch stehen, zeigt sich zufrieden mit seiner Haushälterin, die gut für ihn sorge, und verweist auf die anstehende Verleihung eines Ehrendoktorti- tels, der seine wissenschaftliche Karriere krönen wird. Gleich im Anschluss an diese einführende Sequenz folgt ein längerer Traum, in dem Borg durch eine leere Straße mit verfallenen Häusern irrt. Die einzige Person, der er be- gegnet, ist eine anonyme Gestalt ohne Gesicht, die bei der kleinsten Berüh- rung in sich zusammensackt und am Boden liegen bleibt. Kurz darauf biegt eine herrenlose, schwarze Kutsche, die einen Sarg transportiert, ums Eck. Ein Rad löst sich, die Kutsche gerät in Schieflage und verliert ihre Ladung. Borg beugt sich erstaunt über den heruntergefallenen, halb geöffneten Sarg und wird von der Leiche am Handgelenk gepackt und hinuntergezogen. Als er erkennt, dass sie sein Antlitz trägt, schreckt er aus dem Schlaf. Die Traumszene, in gleißendes Sonnenlicht getaucht, durch harte Licht- kontraste und einzelne durchdringende Geräusche akzentuiert, sprunghaft inszeniert und gegen Ende schnell geschnitten, steht in deutlichem Kontrast zur ruhigen Atmosphäre der Anfangs- wie auch der nachfolgenden Szenen, die in Borgs gemütlich eingerichteter Wohnung spielen. Aber nicht nur die 308 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Gestaltung, auch der Inhalt der Traumsequenz widerspricht dem Bild des alten Herrn, das Wachszenen und Erzählstimme vermitteln: Von bedrücken- der Einsamkeit und Leere, unaufhaltsamem Zerfall und drohendem Tod ist da (noch) nichts zu spüren. Mit Voranschreiten der Erzählung wird jedoch deutlich, dass wir durch den Traum Einblick in seelische Abgründe erhalten haben, deren sich der Protagonist noch bewusst werden muss. Nach ver- schiedenen aufschlussreichen Erlebnissen, Erinnerungen und einem weite- ren bedrückenden Traum gesteht Borg schließlich seiner Schwiegertochter: «Es ist, als ob ich in diesen Träumen mir selber etwas sagen wollte, was ich im Wachzustand nicht hören will: Dass ich tot bin, obwohl ich lebe.» In Giulietta degli spiriti (I/F 1965) und Belle de jour (I/F 1966) stehen ebenfalls Figuren im Zentrum, die in gutbürgerlichen Kreisen ein nach dem äußeren Schein sorgenfreies Leben führen. Und in beiden Fil- men sind es wiederum Träume, die schon früh einen Blick in psychische Tiefen erlauben, in die die Figuren im Verlauf der Erzählung erst noch vorzudringen haben. Die verdrängten Inhalte, oft traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit oder unbefriedigte Wünsche der Gegenwart, die im Traum zu Bewusstsein gelangen, können ins Zentrum der Erzählung rü- cken und die Figur zu einer intensiven Auseinandersetzung zwingen, wie dies etwa in Wilde Erdbeeren oder Giulietta degli spiriti der Fall ist. Sie können aber auch im Stadium der Andeutung verbleiben, sodass nicht geklärt wird, wie weit sich die Figur einer bewussten Auseinandersetzung stellt. Neben Belle de jour ist Midnight Cowboy (USA 1969) diesbezüg- lich ein interessantes Beispiel. Joe Bucks Kindheits- und Jugenderinne- rungen, die in seinen Tag- und Nachtträumen immer wieder aufblitzen, weisen auf traumatische emotionale und sexuelle Erlebnisse hin, die als Erklärung für seine seltsamen Vorstellungen und Verhaltensweisen die- nen könnten. Im Gegensatz zur gleichnamigen Romanvorlage von James Leo Herlihy (1965) lässt der Film jedoch vieles in der Schwebe. Midnight Cowboy ist ein Beispiel dafür, dass auch ein wiederholter, direkter Blick ins Figureninnere nicht zu subjektiver Transparenz führen muss. Da es sich bei den verdrängten Inhalten oft um weit zurückliegen- de Erlebnisse handelt, informiert uns die Bewusstwerdung in Traum oder Erinnerung über die Vorgeschichte der Figur. Die psychologische Charak- terisierung ist somit oft mit der Vermittlung der backstory verknüpft, wie etwa Sleepy Hollow von Tim Burton (USA 2000) vor Augen führt, der durch eine Reihe kurzer Träume das Kindheitstrauma des Protagonisten vermittelt und dadurch dessen aktuelle Haltung erklärt. Die «prinzipielle Rückbezüglichkeit des Traumbildes auf den Träu- mer und die Situation, in der er sich befindet» (Walde 2001: 424), ist in fiktionalen Erzählungen so selbstverständlich, dass sie erst ins Bewusst- 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 309 sein rückt, wenn sie gezielt unterlaufen wird, wie dies etwa in Le charme discret de la bourgeoisie (F 1972) der Fall ist. Der Traum, den der Un- teroffizier in Buñuels Film erzählt, wirkt aufgrund der Handlung (er trifft einen toten Freund und sucht verzweifelt nach seiner Mutter) und At- mosphäre (eine düstere, leere Straße, permanenter Glockenschlag) zwar psychologisch und emotional enorm aufgeladen, lässt sich jedoch nicht an die träumende Figur rückbinden, denn diese spielt – abgesehen von der Traumerzählung – lediglich eine Statistenrolle, und die handlungslogische Motivation für den Oberst, dem Unteroffizier vor versammelter Gesell- schaft überhaupt Gelegenheit zu geben, sein Traumerlebnis mitzuteilen, erscheint genauso willkürlich, ja absurd wie der erzählerische Gestus, an dieser Stelle den Traum einer unbedeutenden Nebenfigur einzufügen. Die Funktion der psychologischen Charakterisierung kann somit – im erwähnten Bild der Mengenlehre gesprochen – als Kreis aufgefasst wer- den, der nur ganz wenige Beispiele nicht abdeckt und sich mit fast allen anderen Funktionskreisen großflächig überschneidet. Die einzige Funkti- on, mit der sie sich nicht (oder nur am Rande) deckt, ist die der übernatür- lichen Prophezeiung, die, wie wir sehen werden, den Traum nicht – oder zumindest nicht direkt – an die Psyche der Figur bindet. 5.1.2 Symbolische Konfliktdarstellung In Filmen, die sich nicht auf die Vermittlung äußerer Ereignisse beschrän- ken, sondern direkten Einblick ins Figureninnere gewähren, steht oft ein psychologischer Konflikt im Zentrum, den die Hauptfigur mit sich selbst oder anderen austrägt. Durch die symbolische Inszenierung dieser Aus- einandersetzung kann eine Traumdarstellung somit – über die Figuren- zeichnung hinaus – gleich das Hauptthema des Films etablieren. Dies ist etwa in Wilde Erdbeeren der Fall, dem wir im vorangehenden Kapitel bereits begegnet sind: Der Sargtraum vermittelt nicht nur Einblick in die psychischen Abgründe der Figur, er setzt zugleich die Themen Einsamkeit, Gefühlskälte und Todesangst, die im Zentrum der weiteren Erzählung ste- hen werden. Die Traumsequenz zu Beginn von Federico Fellinis Otto e mezzo (I/F 1962) erfüllt dieselbe Doppelfunktion. Sie zeigt den Protago- nisten Guido im Tunnel in einem Verkehrsstau. Er wird von allen Seiten angestarrt, als plötzlich Rauch in sein Auto dringt, vor dem er sich we- gen verklemmter Türen nur mit Mühe durchs Fenster retten kann. In der Folge entschwebt er dem Stau über Autodächer, fliegt durch Wolken, bis er von zwei Männern mit einem Seil wieder auf den Boden zurückgeholt wird. Neben einer ersten Charakterisierung von Guido als Figur, die nach Freiheit strebt, sich jedoch von allen Seiten bedrängt und zurückgebunden 310 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 39a–e Symbolische Vorwegnahme des Hauptkonflikts durch Guidos Tunnnel- traum in Otto e mezzo fühlt, wird auch hier das Kernthema des Films – künstlerische Freiheit und Kreativität versus Zwang und Vereinnahmung – auf emblematische Weise vorweggenommen (Abb. 39a–e). Ein weiteres schönes Beispiel findet sich in Abre los ojos (ES/F/I 1997), ebenfalls ganz zu Beginn: César erwacht am späteren Morgen in sei- ner Wohnung in Madrid, zieht sich an, holt sein Auto aus der Garage und fährt los. Dass die Straßen nicht wie üblich belebt und verstopft sind, irri- tiert ihn von Anfang an. Als sich jedoch die Hauptverkehrsachse ebenfalls menschenleer präsentiert, versteht er die Welt nicht mehr, steigt aus und sucht verwirrt nach einer Menschenseele – bis sein Wecker erneut läutet, was die Szene rückwirkend als Traum ausweist. Gegen Ende des Films realisieren wir, dass dieser Traum als Sinnbild seiner Situation angelegt ist: César lebt, ohne es zu wissen, schon lange nicht mehr real, sondern nur noch in einer Scheinwelt, die einzig von seiner Vorstellung abhängt, in der also tatsächlich niemand außer ihm existiert (Abb. 40a–c). Traumsequenzen, die den Hauptkonflikt symbolisch inszenieren, ver- mitteln oft gleichzeitig ein aussagekräftiges Bild der zentralen Figurenkon- stellation. So führt uns die Traumsequenz in Los olvidados (Mexiko 1950) 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 311 40a–c Anspielung auf Cé- sars virtuelle Isolation im Eröffnungstraum von Abre los ojos Pedros emotionale Bindung zur Mutter vor Augen und zeigt gleichzeitig, dass sich sein Jugendfreund wie ein Keil dazwischen drängt (Abb. 41a–b). Und in Die kleine und die grosse Liebe (D 1938), You’ll Never Get Rich (USA 1941) oder Girl on a Motorcycle (F/GB 1968) wird die zent- rale Dreieckskonstellation ebenso anschaulich zum Ausdruck gebracht. Das Wiederaufnehmen und Veranschaulichen eines Konflikts auf ei- ner zweiten, symbolischen Eene ist insbesondere im Musical häufig zu be- obachten, was angesichts von dessen dualer Struktur, die zwischen Hand- lungssequenzen und Tanznummern alterniert, nicht weiter erstaunt.2 Im 2 Vgl. Feuer 1993 [1982]: 67–86. 312 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 41a–b Sinnbildhafte Inszenierung der zentralen Figurenkonstellation in Los olvidados Musical wird der zentrale Konflikt meist ausführlich inszeniert. So etwa in Yolanda and the Thief (USA 1945), wo Johnnys Hin-und-her-gerissen- Sein zwischen Betrugsabsicht und Liebe in einer fünfzehnminütigen, auf- wändig choreografierten Traum-Tanznummer sinnfällig wird. Neben der symbolisch überhöhten Darstellung in ausgewachsenen Sequenzen können Hauptkonflikt und zentrale Figurenkonstellation auch mittels kurzer Traumszenen vermittelt werden, die wie einzelne Sinnbil- der haften bleiben. In Fräulein Julie (Fröken Julie, SE 1951) steht die Unmöglichkeit der Liebe zwischen einer Adligen und ihrem Diener im Mittelpunkt. Das Begehren trotz Klassenunterschied wird in zwei kurzen Träumen visualisiert, die einander spiegelbildlich gegenüber stehen. Julie erzählt ihrem Diener, sie träume oft davon, dass sie sich irgendwo hoch oben befinde und sich danach sehne hinunterzufallen. Schließlich unten angekommen, wolle sie nur noch tiefer hinab. Julies Erzählung ist mit leicht verschwommenen Bildern hinterlegt, die sie in weißem Nachthemd zuerst hoch über den Wolken und dann in freiem Fall zeigen. Zum Schluss erscheint ein Schwan, der seinen Kopf tief ins Wasser steckt. Der Diener erzählt nun seinerseits einen wiederkehrenden Traum: Er träume oft, dass er sich unter einem Baum befinde, den er bis zum Wipfel erklettern wolle, um goldene Eier aus dem Vogelnest zu stehlen. Auch seine Erzählung ist mit Traumbildern hinterlegt, die zeigen, wie er sich an einem Baumstamm hocharbeitet. Die beiden Träume inszenieren den Klassenunterschied sehr anschaulich durch den Oben/unten-Gegensatz, der trotz beidseitigem Be- gehren nicht aufgehoben werden kann: Der weiße Schwan in Julies Traum macht im dunklen Wasser genauso wenig Beute wie das Traum-Ich des Dieners, das unter dem Vogelnest ins Leere greift (Abb. 42a–d). Noch emblematischer erscheint ein kurzer Traum in Dead Ringers von David Cronenberg (USA 1988). Der Film handelt von Eliot und Bever- ly, eineiigen Zwillingen, die in einem symbiotischen Verhältnis stehen, das für Beverly zur psychischen Belastung wird. Eines Nachts liegt er neben 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 313 42a–d Symbolische Darstellung der unerfüllten Sehnsucht in Fräulein Julie seinem Zwillingsbruder und entdeckt, dass sie in der Bauchgegend zu- sammengewachsen sind. Seine Freundin schlägt vor, die beiden zu tren- nen, beißt in die zusammengewachsene Körperpartie und holt mit den Zähnen ein blutiges Organ heraus. Eliot verzieht lustvoll das Gesicht, Be- verly hingegen schreit auf und realisiert kurz darauf, dass er mit seiner Freundin allein im Bett liegt, die Szene also nur geträumt hat. Während die beiden Träume in Fräulein Julie ein soziales Verhältnis räumlich in- szenieren, wird hier eine psychologische Beziehung physiologisch darge- stellt. Und während die Versinnbildlichung dort auf zwei kurze Szenen beschränkt ist, reduziert sie sich hier auf einzelne Einstellungen, die sich schockartig einprägen (Abb. 43a–b). Etliche der in diesem Kapitel besprochenen Traumsequenzen sind am Filmanfang situiert, nehmen das Hauptthema also gleich zu Beginn impli- zit vorweg. Andere, so in Los olvidados, Fräulein Julie oder Dead Rin­ gers, liegen ungefähr in der Mitte und dienen eher der Bestätigung oder Verdeutlichung von Zusammenhängen, in die bereits eingeführt wurde. Im Musical kommt es hingegen oft vor, dass der zentrale Konflikt kurz vor der Klimax rekapituliert wird. Sowohl in On the Town (USA 1949) als auch in An American in Paris (USA 1951) scheint der Protago- nist seine Geliebte kurz vor Schluss zu verlieren. In beiden Filmen versinkt 314 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 43a–b Psychische Symbiose als anatomische Verschmelzung in Dead Ringers er an dieser Stelle in einen längeren Tagtraum, in dem er die bisherigen Erlebnisse, sein Verlangen nach der Angebeteten und ihre scheinbare Un- erreichbarkeit tanzend nochmals durchlebt. Durch diese dramaturgische Konstellation wird einerseits unsere Empathie für den Protagonisten ver- stärkt, andererseits erhöht das Aufschieben der Lösung, die erst nach der Tanznummer erfolgen kann, die Spannung. 5.1.3 Verrätselung und Enthüllung «Your dream is just a masquerade party. Every thought wears a false face.» (Dr. Shelby in Blind Alley, USA 1939) «Dreams tell you what you’re trying to hide, but they tell it to you all mixed up, like pieces of a puzzle that don’t fit.» (Dr. Brulov in SpellBound, USA 1945) Am Beispiel von Wilde Erdbeeren haben wir gesehen, dass Träume ver- drängte Inhalte zum Vorschein bringen können, deren sich die Figur noch gar nicht oder erst vage bewusst ist. Für Isak Borg stellt sich indes nicht das Problem, dass die Botschaften seiner Träume stark verklausuliert und erst durch sachkundige Interpretation zu entschlüsseln sind. Im Gegenteil, die Themen «Einsamkeit», «soziale Isolation» und «nahender Tod» werden zwar symbolisch, aber doch sehr direkt und augenfällig zum Ausdruck gebracht. Borgs Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die schmerzlichen Erkenntnisse zu akzeptieren, die die Traumerlebnisse nahelegen. Die Psychoanalyse hat jedoch, wie wir in Kapitel 1.4 gesehen haben, nicht nur das Konzept des Unbewussten entwickelt, sondern gleichzeitig beobachtet, dass eine innere Zensurinstanz das Bewusstwerden verdräng- ter Inhalte durch Mechanismen der Entstellung zu erschweren sucht. Gera- de im Traum, der ein Tor zum Unbewussten darstellt, kommen nach Freuds Theorie verschiedene Formen der Entstellung – Traumarbeit genannt – zum 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 315 44a–b Der Psychoanalytiker und sein Patient in Geheimnisse einer Seele Einsatz, etwa die Verdichtung, Verschiebung, Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder oder Formen der Umkehrung (Freud 1994 [1915–1917/1932]: 178–189). Die manifesten Trauminhalte erscheinen so oft als eine Art Rebus, der durch Deutung, also Rückgängigmachen der Entstellung, entschlüsselt werden kann. Der latente Trauminhalt – der eigentliche, verborgene Sinn – muss vom Psychoanalytiker unter Zuhilfenahme von Assoziationen und spontanen Gedanken des Patienten aufgedeckt werden. Georg Wilhelm Pabsts Film mit dem bezeichnenden Titel Geheimnisse einer Seele (D 1926) stellt den ersten filmischen Versuch dar, einen Traum zum Schlüssel des zentralen psychischen Problems der Hauptfigur zu ma- chen, der jedoch richtig gedeutet werden muss, um Heilung zu ermöglichen. Der Film erzählt die Geschichte Martin Fellmans, eines scheinbar glücklich verheirateten Mannes, der – ausgelöst durch einen Mord im Nachbarhaus und die Rückkehr seines Jugendfreundes – plötzlich den Drang verspürt, seine Frau zu erdolchen, durch eine gleichzeitig entstandene Messerphobie jedoch daran gehindert wird. Dr. Orth, den er um Hilfe ersucht, gelingt es in mehreren Therapiesitzungen, der Ursache für das krankhafte Verhalten auf die Spur zu kommen. Dabei spielt die Deutung eines längeren Traums die entscheidende Rolle, den Fellman kurz nach den ersten Krankheitssympto- men in einer stürmischen Nacht erlebt und der anlässlich seines Traumbe- richts in den Therapiesitzungen – in leicht veränderter Form und aufgeteilt in einzelne Szenen – nochmals präsentiert wird (Abb. 44a–b). Dank der Interpretation einer Gerichtsszene, in der Fellman als An- geklagter erscheint, gelingt es Dr. Orth, die Messerphobie aufzuklären: «Die kleine Verletzung am Nacken Ihrer Frau ist in Ihrem Angsttraum mit dem Verbrechen im Nebenhaus zusammengeflossen – deshalb sahen Sie sich als Mörder angeklagt. Diese Traumfantasien veranlassten in Ihrem Bewusstsein die krankhafte Abneigung, ein Messer zu berühren.» Bei der Schilderung einer weiteren Traumszene – Fellmans Frau und der Jugend- freund (ihr Vetter) sitzen in einem Boot, sie reicht ihm eine Puppe – deutet 316 5 Narrative Funktionen des Filmtraums a b 45a–c Augenfällige Sexualsymbolik der Traumbilder in Geheimnisse einer Seele c Dr. Orth das Wasser als Symbol für eine bevorstehende oder erwünschte Geburt und fragt seinen Patienten, ob er in seiner Kindheit etwas Ähnli- ches erlebt habe. Nun steigt die entscheidende Kindheitserinnerung hoch: Fellman, seine spätere Frau und ihr Vetter, die zusammen aufgewachsen sind, spielen unter dem Weihnachtsbaum mit Geschenken. Als ein Neu- geborenes hereingebracht wird, wendet sich das Mädchen von Fellman ab, gibt ihre Puppe dem Vetter und spielt mit ihm Vater und Mutter. «Der Schmerz, dass Ihre Frau als Kind ‹Ihre Puppe› dem Vetter schenkte – ist in Ihrer ‹kinderlosen› Ehe wachgeblieben!!», folgert Dr. Orth. Vor diesem Hintergrund kann nun auch die Sexualsymbolik gedeu- tet werden – was Dr. Orth interessanterweise nicht explizit tut. So stellt die Anfangsszene des Traums, in der der Vetter den fliegenden Fellman mit einem Gewehr abschießt, eine Verschiebung und Umwandlung von Worten in Bilder dar. Das Gewehr kann nach Freuds Traumsymbolik als Phallus, Fellmans Flug als Sexualhandlung und sein jäher Abbruch als Impotenz gelesen werden. Oder die Szene mit dem aus dem Boden auf- schießenden Glockenturm, den Fellman keuchend hochsteigt, während oben drei Frauenköpfe lachen (Abb. 45a). In seiner Erinnerung war der Schatten des Vetters, als er nach der Hochzeit die Treppe hochkam, in ganz ähnlicher Form aufgestiegen und bedeckte den Körper der jungen Braut, 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 317 46a–b Der Psychoanalytiker in Geheimnisse einer Seele als «Schlüsselfigur» zur Entzifferung des Traums und Lösung des psychischen Problems als ob er in sie eindringen würde. Zusammen mit der Tatsache, dass das Ehepaar in getrennten Zimmern schläft und bisher kinderlos geblieben ist, legen diese Szenen den Schluss nahe, dass das unüberwundene Trauma der Demütigung und Eifersucht Impotenz und die Rückkehr des Vetters in Kombination mit dem Mord im Nachbarhaus Aggressionsfantasien gegen die Ehefrau ausgelöst haben. Die Entschlüsselung des Traums führt zur Erinnerung an die Erleb- nisse und die damit einhergehende Bewusstwerdung des Traumas zur Heilung der psychischen Störung. Der an die letzte Therapiesitzung an- schließende Epilog, der Fellman und seine Frau in gesunder Natur mit dem lang ersehnten Kind zeigt, macht deutlich, dass auch seine Impotenz geheilt wurde. Geheimnisse einer Seele gibt seinen didaktischen, wissenschaftlichen und gleichzeitig realistischen Anspruch gleich im Vorspann zu erkennen. Auf den Untertitel «ein psychoanalytischer Film» folgen die Angabe der fachwissenschaftlichen Beratung durch Dr. Karl Abraham und Dr. Hanns Sachs3 sowie zwei Schrifttafeln, die einerseits die psychoanalytische Kon- zeption der menschlichen Psyche kurz erläutern und andererseits darauf insistieren, dass die Vorgänge auf einer realen Krankheitsgeschichte basie- ren, also direkt «dem Leben entnommen» seien. Die Erzählung konzent- riert sich denn auch voll auf die Symptome und ihre Heilung in der The- rapie. Fellman wird vom Arzt in Obhut genommen und verlässt für die 3 Freud hat seine Mitarbeit bekannterweise verweigert. In einem Brief an Sándor Feren- czi äußert er sich dazu folgendermaßen: «In Filmsachen gehen dumme Dinge vor. Die Gesellschaft, die Sachs und Abraham betörte, hat es natürlich doch nicht unterlassen können, meine ‹Zustimmung› vor der Welt zu proklamieren. […] Ich werde sie nicht zurückhalten, denn die Verfilmung lässt sich so wenig vermeiden wie, scheint es, der Bubikopf, aber ich lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit keinem Film in persönliche Verbindung gebracht werden.» In: Freud/Ferenczi 2004 [1925–1933]: 49. 318 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Dauer der Behandlung Frau und Vetter, um erst nach erfolgter Heilung zurückzukehren. Der Vetter, dessen Beziehung zur Cousine rein freund- schaftlich ist, nimmt sich sogleich ein Hotelzimmer, um keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen. Dem Film geht es offensichtlich nicht um eine zusätzliche Dramatisierung der Krankheitsgeschichte in der Gegen- wartshandlung, obwohl sich die Dreieckskonstellation dafür geeignet hät- te. Der psychoanalytische Fall wird vielmehr frei von zusätzlichen Ver- wicklungen, sozusagen in Reinkultur, gelöst.4 5.1.3.1 Traumentschlüsselung im Kriminalfilm Mit der Übernahme psychoanalytischer Konzepte durch Hollywoods Drehbuchautoren gegen Ende der 1930er- und in den 1940er-Jahren kam zum didaktischen schnell das dramaturgische Element hinzu. Exempla- risch zeigt sich dies bereits 1939 im Geiseldrama Blind Alley von Charles Vidor,5 das auf dem gleichnamigen Theaterstück von James Warwick (1935) beruht und von dem mit The Dark Past (USA 1948) nur neun Jahre später ein Remake entstand. Der Film handelt vom aus dem Gefängnis ausgebrochenen Verbrecher Wilson, der auf der Flucht mit seinen Kom- plizen mehrere Geiseln nimmt. Unter den Festgehaltenen befindet sich der psychoanalytisch geschulte Psychiater Dr. Shelby, der schnell erkennt, dass der äußerlich skrupellose Gangleader in Wahrheit psychisch krank ist und unter einem wiederkehrenden Albtraum leidet. Trotz der knappen Zeit versucht er, dessen Vertrauen zu gewinnen, um ihm zu helfen und die bedrohliche Situation zu entschärfen. Nach anfänglichen Widerständen gelingt es ihm, Wilsen zum Erzählen seines Traums zu überreden und ihn in ein therapeutisches Gespräch zu verwickeln, im Verlaufe dessen sich die Bedeutung der Traumelemente mittels Assoziationen aufklären lässt. Die Entschlüsselung des Albtraums und Aufdeckung des traumatischen Erlebnisses, das am Ursprung seiner kriminellen Karriere stand, gelingt schließlich in letzter Minute und vermag die drohende Schießerei mit der angerückten Polizei gerade noch zu verhindern. Blind Alley und sein Remake muten phasenweise nicht weniger didaktisch an als Geheimnisse einer Seele: Protagonist ist in beiden Fil- men ein Psychologieprofessor, der durch eine Vorlesung (Blind Alley) respektive das Gespräch mit einem Arbeitskollegen (The Dark Past) den Zuschauern bereits in den Eingangssequenzen Einblick ins psychoanalyti- sche Menschenbild vermittelt. Später, in der Auseinandersetzung mit dem 4 In einer frühen Drehbuchfassung war Geheimnisse einer Seele als eigentlicher Lehr- film angelegt, der in wechselnden Episoden psychoanalytische Deutungen zum Bei- spiel von Fehl- und Symptomhandlungen illustrieren sollte. Vgl. Jaspers 2009: 129. 5 In Frankreich kam der Film 1945 unter dem Titel L’étrange rêve in die Kinos. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 319 47a–c Patient mit Gefährdungspotenzial und Psychiater mit didaktischem Ge- schick in The Dark Past Geiselnehmer, versucht der Psychiater dem Verbrecher die Mechanismen der Verdrängung, des Unbewussten und der inneren Zensur mittels ei- ner Zeichnung zu erläutern (Abb. 47a–c). In The Dark Past kommt hinzu, dass die Erzählstruktur insgesamt didaktisch angelegt ist: Die Ereignisse rund um die Geiselnahme sind als Rückblende in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der Dr. Collins den Fall des geheilten Verbrechers seinem Kollegen gegenüber als Beispiel für die These ins Feld führt, dass kriminel- le Handlungen oft auf psychische Störungen zurückzuführen sind, deren Wurzeln bis in die Kindheit zurückreichen. Anders als in Geheimnisse einer Seele kommt es in den beiden Hollywood-Produktionen zu einer starken Dramatisierung der Krank- heitsgeschichte. Der Psychoanalytiker (samt Frau, Kind und Wochenend- gästen) schwebt in Lebensgefahr, die nur abgewendet werden kann, wenn es ihm gelingt, den Geiselnehmer rechtzeitig zu heilen. Das Herauslocken des Traumberichts und die Entschlüsselung der Traumsymbole geschehen in einem Wettlauf gegen die Zeit, wobei verschiedene Konflikte zwischen Geiselnehmern und Geiseln den therapeutischen Prozess verzögern oder auch unverhofft voranbringen. Blind Alley war eine wichtige Inspirationsquelle für Alfred Hitchcocks Spellbound (USA 1945), bis heute der wohl bekannteste Film, in dessen 320 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Zentrum eine Traumentschlüsselung steht.6 Neben der für psychoanalyti- sche Filme der 1940er-Jahre üblichen Dosis didaktischer Aufklärung ver- webt Hitchcocks Werk wie Blind Alley die Therapie einer psychischen Störung, die durch eine Trauminterpretation möglich wird, mit einer Kri- minalhandlung. In dramaturgischer Hinsicht kommt jedoch eine wichtige Komponente hinzu, wie die folgende Inhaltszusammenfassung zeigt: In einer psychiatrischen Anstalt wartet die junge Ärztin Constance auf die Ankunft des neuen Leiters Dr. Edwardes, der den gesundheitlich angeschlagenen Dr. Murchinson ersetzen soll. Constance verliebt sich in den attraktiven Arzt, bemerkt aber bald, dass mit ihm etwas nicht stimmt (beim Anblick dunkler Linien auf weißem Grund wird ihm schwindlig) und er gar nicht Dr. Edwardes sein kann. Mit dem Verdacht konfrontiert, vertraut dieser Constance an, dass er Dr. Edwardes umgebracht und seinen Platz eingenommen habe. Die Erinnerung an seine tatsächliche Identität habe er jedoch verloren. Um Constance, in die er sich ebenfalls verliebt hat, nicht zu kompromittieren, reist der neue Leiter (der, wie sich herausstellen wird, John Ballentine heißt) Hals über Kopf ab. Kurz darauf kommt nicht nur sein Betrug, sondern auch das Verschwinden des echten Dr. Edwardes ans Tageslicht, wobei der Verdacht der Polizei sofort auf John fällt. Cons- tance glaubt jedoch an seine Unschuld, macht ihn ausfindig und bringt ihn vorübergehend im Haus ihres ehemaligen Psychologieprofessors Dr. Bru- lov in Sicherheit. Dort versetzen ihn die weiße Bettwäsche und das weiß gekachelte Badezimmer erneut in innere Aufruhr, und schließlich erlebt er einen seltsamen Traum. Constance und der Professor insistieren am nächs- ten Morgen darauf, dass er den Traum erzählt, um Hinweise auf seine Ver- gangenheit und den Grund für seine Amnesie zu erhalten. Im Traum befindet sich John zuerst in einer Spielhölle, an deren Wän- den große Augen prangen und wo ein hübsches Mädchen, das die Züge von Constance trägt, alle Anwesenden küsst. John spielt mit einem bärti- gen Mann Black Jack. Der Besitzer des Lokals beschuldigt diesen jedoch, er betrüge und nehme ihm seinen Platz weg. In der folgenden Szene muss John mit ansehen, wie der bärtige Mann von einem Hausdach in die Tiefe stürzt, während sich der Spielhöllenbesitzer hinter einem Kamin versteckt hält, ein kleines Rad in der Hand, das er alsbald fallen lässt. Plötzlich be- findet sich John auf der Flucht, verfolgt von zwei großen Flügeln, die ihm bis ans Ende eines Abhangs nachjagen. Als sich John nach dem Traumbericht dem Fenster zuwendet, wird ihm wieder unwohl. Draußen ist unterdessen Schnee gefallen, und Kinder 6 Einige gestalterische Aspekte der berühmten Traumsquenz in Spellbound sind in der Erinnerungssequenz von Blind Alley vorweggenommen. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 321 vergnügen sich mit Schlitten. Constance realisiert nun, dass die schwarzen Linien auf weißem Grund, die John irritieren, für Skispuren im Schnee ste- hen. Aus Dr. Edwardes’ Büchern weiß sie, dass er mit seinen Patienten oft Ski fahren ging. Somit ist für sie klar, dass John bei Dr. Edwardes in The- rapie und mit ihm im Winterurlaub war. Nun gilt es herauszufinden, wo das war. Für den Professor gibt es keinen Zweifel, dass diese Information im Traum enthalten ist. Durch eine Reihe von Substitutionen und assozia- tiven Verkettungen kommt er schließlich auf Gabriel Valley. Constance und John brechen sofort auf, um an diesem Ort erneut eine Skifahrt zu unternehmen, in der Hoffnung, seine Erinnerung wachzuru- fen. Dies gelingt: Nahe am Abgrund einer tiefen Schlucht erinnert sich John nicht nur an den verhängnisvollen Skiurlaub, sondern auch an ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit, bei dem sein Bruder ums Leben kam. Nun wird er sich bewusst, dass es in beiden Fällen ein Unfall war, ihn also keine Schuld trifft. An diesem Punkt scheinen sowohl Johns psy- chische Probleme (Schuldkomplex und Amnesie) als auch der Kriminalfall (das Verschwinden von Dr. Edwardes) gelöst, wobei die Entschlüsselung der zweiten Traumhälfte einen wichtigen Beitrag geleistet hat, während der Traumanfang mit der küssenden Constance von Dr. Brulov frühzeitig als «plain ordinary wishful thinking» abgehakt wurde. Das Raffinierte an Spellbound ist nun, dass die Handlung kurz nach der scheinbaren Lösung eine dramatische Wende nimmt – Dr. Edwardes’ Leiche wird tatsächlich in der Schlucht gefunden, allerdings mit einer Kugel im Rücken, was Johns Unschuld erneut in Frage stellt – und dass für die wirkliche Lösung nun diejenigen Traumteile zum Zug kommen, die bei der ersten Interpretation übergangen worden waren. Nachdem Constance ihren Kampf um John schon fast aufgegeben hat, wird sie nämlich durch die un- bedachte Äußerung von Dr. Murchinson, er habe Dr. Edwardes nur flüchtig gekannt, dazu veranlasst, ihre Traumnotizen nochmals hervorzunehmen. Wenn Dr. Murchinson seinen Nachfolger gekannt hat, dann hätte er den fal- schen Dr. Edwardes sofort durchschauen müssen. Durch Entschlüsselung weiterer Traumelemente versucht Constance, ihren Verdacht zu erhärten. Die Spannung wird dabei durch den Umstand gesteigert, dass sie ausge- rechnet Dr. Murchinson um Hilfe bei der Trauminterpretation bittet. Gemeinsam finden sie heraus, dass die Personen in der Spielhölle In- sassen und die Augen an den Wänden Wächter der psychiatrischen Klinik darstellen. Wenn die Spielhölle für die Klinik steht, dann muss ihr Besitzer Dr. Murchinson sein. Der Ort scheint jedoch eine doppelte Identität zu besit- zen: Die Kreuz Sieben («club of seven»), die John im Traum zieht, verweist auf einen Club, das Kartentotal von 21 auf den «Club 21» in New York. Weiter kann das Rad, das der Besitzer (Dr. Murchinson) beim Sturz des bär- 322 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 48a–b Traumbilder als kriminalistisches Rätsel in Spellbound tigen Mannes (Dr. Edwardes) in der Hand hält und fallen lässt, als Revolver entschlüsselt werden («to revolve» heißt «sich drehen») (Abb. 48a–b). Somit fügen sich alle Puzzleteile des Kriminalfalls zusammen: Aus Frust über seine forcierte Absetzung suchte Dr. Murchinson seinen desi- gnierten Nachfolger im «Club 21» auf (wo sich dieser mit John aufhielt) und beschuldigte ihn, ihm seinen Posten wegzunehmen. Danach folgte er den beiden in den Skiurlaub und erschoss Dr. Edwardes hinterrücks. Des- sen Sturz in die Schlucht reaktivierte Johns Kindheitstrauma und löste den alten Schuldkomplex kombiniert mit einer Amnesie aus. Dr. Murchinson realisierte, dass John in seinem Wahn nicht nur die Schuld am Tod, sondern auch die Identität von Dr. Edwardes annehmen würde, und konnte, zurück in der Klinik, nun ruhig auf die Ankunft des falschen Nachfolgers warten, denn dieser würde nicht in der Lage sein, seine Identität lange aufrechtzu- erhalten und bei seiner Entlarvung erst noch den Mord auf sich nehmen. Diese längere Inhaltszusammenfassung war nötig, um die dramaturgi- sche Funktion der Traumentschlüsselung deutlich zu machen. Im Gegensatz zu Blind Alley und The Dark Past, wo die Identität des Verbrechers von Anfang an feststeht und es nur darum geht, seine unbewusste Motivation auf- zudecken, dient die Trauminterpretation in Spellbound zusätzlich zur psy- chologischen direkt der kriminologischen Klärung. Die Vorstellung psychi- scher Prozesse als (Selbst-)Täuschungsmanöver und der psychoanalytischen Therapie als eine Art Indizienprozess zur Aufdeckung versteckter Wahrhei- ten hat den Traum und seine Interpretation zu einem ergiebigen Baustein des Kriminalfilms, insbesondere des Whodunit, werden lassen. Hitchcock bedient sich dessen, um einerseits dem Motiv des unschuldig Beschuldigten eine neue Wendung zu geben (ein Schuldkomplex führt zur ungerechtfertigten Selbstbezichtigung) und andererseits den tatsächlichen Mörder mittels einer mehrstufig angelegten Traumentschlüsselung zu entlarven. Kirsten Moana Thompson schreibt in Crime Films: Investigating the Scene (2007: 31) zum Zusammenhang von Psychoanalyse und Detektivar- 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 323 beit: «The detective is also like a psychoanalyst, in that s/he begins with effects (clues/symptoms) and works backwards to figure out their ori- gins.» Dem muss hinzugefügt werden, dass die Figur des Detektivs im Film nicht nur oft ähnlich vorgeht wie ein Psychoanalytiker, sondern seit Spellbound nicht selten tatsächlich einer ist – eine Variante, die Thomp- son trotz ihrer expliziten Parallele nicht erwähnt. Dass der Plot von Spell­ bound wie auch diejenigen von Geheimnisse einer Seele, Blind Alley und The Dark Past reichlich konstruiert und die Krankheitsgeschichten holzschnittartig wirken, muss nicht weiter hervorgehoben werden. Die psychischen Störungen werden auf ein singuläres Kindheitstrauma zu- rückgeführt, dessen Aufdeckung zur sofortigen Heilung führt. Die Träu- me enthalten wenige auffällige Symbole, die alle von Relevanz für den Krankheitsfall sind und entschlüsselt werden können. Man kann diese «verkürzt deterministische Lesart der Psychoanaly- se, [die] sich ins Erzählkorsett des klassischen Kriminalfilms ein[passt]» (Koch 1989: 118) bemängeln, darf dabei aber nicht vergessen, dass die er- wähnten Filme einerseits für ein Publikum konzipiert waren, das mit psy- choanalytischen Konzepten noch wenig vertraut war, und dass anderer- seits ihr primäres Anliegen – mit Ausnahme von Geheimnisse einer Seele – nicht in der Erläuterung psychischer Prozesse, sondern im kommerziell erfolgreichen Erzählen einer Kriminalgeschichte bestand. Für Hitchcock war Spellbound nach eigener Aussage jedenfalls «just another manhunt story wrapped up in pseudo-psychoanalysis» (Truffaut 1966: 120).7 Zu- dem finden sich in Spellbound mehrere selbstironische Kommentare zur Konstruktion des «dream detective» (wie Constance von Dr. Murchinson abschätzig genannt wird), etwa der folgende Dialog zwischen John und Constance, nach der ersten, vermeintlichen Lösung des Falls. John: «How does it feel to be a great analyst?» – Constance: «Not so bad.» – John: «And a great detective?» – Constance: «Wonderful!» In Marnie (USA 1964) ge- ben sich Hitchcock und sein Drehbuchautor Jay Presson Allan noch selbst- ironischer, wenn sie die Titelheldin zu ihrem Ehemann, der zu einer Trau- manalyse ansetzt, sagen lassen: «You Freud, me Jane?» Die erwähnten Filme, insbesondere Spellbound, haben dem Kriminalfilm ein Feld eröffnet, auf dem das Spiel um Indizien, Motive, unschuldig Be- schuldigte und falsche Fährten neu gespielt werden konnte, wobei dem Traum und seiner Interpretation eine wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle zukam. 7 Zu Dr. May E. Romm, David Selznicks Psychoanalytikerin, die dieser als Beraterin an- geheuert hatte, soll Hitchcock bei einer Auseinandersetzung gesagt haben: «My dear, it’s only a movie.» (Packer 2007: 93). 324 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Wo bisher handfeste Beweise auf dem Tisch lagen oder wo aus ihnen ein Tä- ter erschlossen werden musste, nehmen plötzlich Kindheitserlebnisse deren Platz ein und müssen bei allem Nachdenken über den Zusammenhang der Spuren berücksichtigt werden. Ohne dass sich das Gesamtgefüge des Gen- res geändert hätte, sind doch einige Ersetzungsprozesse erwähnenswert: Das Kriminelle wird durch das Pathologische ersetzt, manchmal ergänzt, manch- mal damit verschmolzen. Genauso, wie der Psychiater zum Detektiv wird, kann auch der Detektiv zum Psychiater werden. (Wulff 1995 [1985]: 125) Im vorliegenden Kapitel, das eine systematische Analyse unterschiedlicher Traumfunktionen anstrebt, ist kein Platz, die historische Entwicklung der Verschmelzung von Psychoanalyse und Kriminalfilm nachzuzeichnen. Es geht mir im Folgenden lediglich darum, weitere Spielformen der krimina- listischen Traumentschlüsselung darzulegen, die in den meisten Fällen auf mehr oder weniger explizite Art psychoanalytisch begründet ist. Die Konstellation in Still of the Night von Robert Benton (USA 1982) ist insofern speziell, als der Traum eines Toten im Zentrum steht. Der Psychia- ter Sam erfährt von der Ermordung seines Patienten George und wird kurz darauf von dessen Assistentin und Geliebter Brooke aufgesucht, die ihn fasziniert, jedoch etwas zu verbergen scheint. Dem Kommissar vom Mord- dezernat erzählt er unter Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht nichts über den Ermordeten und beginnt stattdessen, dem Fall selber nachzuge- hen. Von der Geliebten erfährt er, dass sie nur kurze Zeit mit George zu- sammen war und er sie zwingen wollte, bei ihm zu bleiben. Der Kommissar verrät Sam, dass die Polizei von einer Täterin mit hohem Gewaltpotenzial ausgeht, Georges Ehefrau jedoch ein Alibi habe. Aus Sams Aufzeichnun- gen der Therapiesitzungen wird ersichtlich, dass George vor Brooke eine andere Affäre am Arbeitsplatz hatte, die er vermutlich ihretwegen beende- te. Somit haben zwei Frauen (die Geliebte und die Ex-Geliebte) ein Motiv für die Tat, wobei die Identität der Ex-Geliebten nicht bekannt ist. An diesem Punkt kommt ein Traum ins Spiel, den George Sam kurz vor seinem Tod erzählt hat. Im Traum (der uns während Sams Lektüre der Notizen audiovisuell vermittelt wird) betritt George ein Haus und begibt sich zu einem Regal, auf dem eine grüne Schachtel liegt. Als er diese an- fassen will, wird er von einem Raubvogel attackiert, der jedoch bald von ihm ablässt, sodass er die Schachtel, die nun geschrumpft ist, in seine Ja- ckentasche stecken kann. Darauf schaut er sich im Haus um und entdeckt ein kleines Mädchen, das eine unschuldige Miene macht, jedoch in aufrei- zender Pose im Sessel sitzt und ihrem Teddybär ein Auge ausreißt. George schreckt zurück, will vor dem Mädchen fliehen, das ihn verfolgt, bis ihm die Schachtel, die er nun wieder in der Hand hält, entgleitet. Die Atmo- 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 325 sphäre der Traumsequenz erinnert an übersinnliche Horrorfilme, und Be- leuchtung wie Farbdramaturgie heben neben der blutroten Augenhöhle des Teddys vor allem die grüne Schachtel hervor. Sam erkennt rasch die wichtigsten Traumsymbole: Die Schachtel steht für eine Frau und das Grün für Eifersucht, das Mitnehmen der Schach- tel für Kontrollfähigkeit; also handelt der Traum von einer eifersüchtigen Frau, die George zu kontrollieren glaubt, die ihm schließlich jedoch ent- gleitet. Im Bezug auf das bedrohliche Mädchen vermutet Sam, dass es sich um eine Verschiebung handelt, das Mädchen also Georges Mutter oder Schwester symbolisieren könnte. Während man bis anhin Brooke auf- grund ihres nervösen Auftretens und verschiedener Ungereimtheiten als Hauptverdächtige anschauen musste, lenkt die Interpretation des Traum- berichts den Verdacht auf die eifersüchtige Ex-Geliebte, was Sam entge- genkommt, denn er hat sich in der Zwischenzeit in Brooke verliebt und glaubt an ihre Unschuld. Nun gilt es jedoch noch, die Identität der Un- bekannten aufzudecken. Auch diese Information steckt im Traum, aller- dings nicht wie in Spellbound in einem bisher vernachlässigten Element, sondern im zentralen Symbol der grünen Schachtel, das im ersten Anlauf zwar richtig, aber noch nicht vollständig entschlüsselt wurde. Sam kommt jedoch vorerst nicht weiter, ihm fehlen die Assoziationen und Bemerkun- gen des Träumers, der nicht mehr befragt werden kann. Die Situation wird nun immer bedrohlicher, denn die Mörderin scheint gemerkt zu haben, dass Sam ihr auf die Schliche kommt. Schließlich ist es Brooke, die das entscheidende letzte Puzzleteil gerade noch rechtzei- tig vor dem Angriff der Mörderin liefert, als Sam ihr den Traum erzählt. Als ehemalige Assistentin von George weiß sie, dass eine seiner Mitarbei- terinnen Greenbacks (englisch für Dollarscheine) genannt wird, da sie ihr Geld immer bar auf sich trägt. Sam hatte also Recht, dass der Traum eine Verschiebung enthält, die sich jedoch nicht auf die Symbolik des kleinen Mädchens bezieht, sondern auf die grüne Schachtel (greenbacks à green box), die über die allgemeine Bedeutung «eifersüchtige Frau» hinaus die entsprechende Person (eine Figur, die wir als sympathisch und harmlos kennengelernt hatten) entlarvt. Spellbound und Still of the Night machen deutlich, dass ziemlich ausgefallene Konstruktionen nötig sind, um eine Trauminterpretation zu ei- nem funktionstüchtigen Element bei der Lösung eines Kriminalfalls zu ma- chen. Hinweise auf den Schuldigen können im Traum ja nur enthalten sein, wenn der Träumer die Tat miterlebt oder – wie im Fall von Still of the Night – zumindest das Bedrohungspotenzial einer Figur erkannt hat. Damit das Verbrechen trotzdem lange genug ein Rätsel bleibt, muss dieses Wissen vorübergehend neutralisiert werden. In Spellbound geschieht dies durch 326 5 Narrative Funktionen des Filmtraums eine Amnesie und in Still of the Night durch den Tod des Träumers, wobei die verschlüsselte Information durch die Traumaufzeichnung erhalten bleibt. Einer der Gründe, weshalb die Traumentschlüsselung für den Krimi- nalfilm trotz der notwendigen Plot-Akrobatik attraktiv ist, lässt sich eben- falls an den beiden genannten Filmen ablesen: Sie passt hervorragend zur im Genre beliebten Konstellation des auf eigene Faust ermittelnden Ama- teurs, der den Fall schneller löst als die Polizei. Wenn die Ursachen für Ver- brechen im psychischen Bereich zu suchen sind und Zeugnisse lediglich in Form verschlüsselter Traumberichte vorliegen, so erscheint es plausibel, dass der Psychoanalytiker den Polizisten bei der Lösung des Falls aussticht. In Dementia 13 (USA 1964), einem Low-Budget-Frühwerk von Francis Ford Coppola, ist die Konstellation nochmals anders und kommt bei der Dynamik der Traumentschlüsselung ein weiterer Aspekt hinzu. Auch hier geht es um die Aufklärung von Mordfällen, wobei sich der Kreis der Ver- dächtigen bald auf die Mitglieder der Familie Haloran reduziert, auf deren Schloss sich der Großteil der Handlung abspielt. Und wiederum spielt ein Traum, den einer der Söhne einer außenstehenden Figur erzählt, die ent- scheidende Rolle. Interessant ist jedoch, dass dieser Traumbericht – im Ge- gensatz zu den bisher erwähnten Beispielen – in der Diegese von nieman- dem explizit entschlüsselt wird, obwohl auch er in verklausulierter Form die Lösung des Rätsels enthält. Zwar nimmt erneut eine Psychiaterfigur – der Familienarzt – die Rolle des Detektivs ein. Beim Versuch, den Traum zur Klärung des Mordfalls beizuziehen, scheitert dieser jedoch, denn der Sohn ist nicht bereit, mit ihm darüber zu reden. Er muss den Fall deshalb auf andere Weise lösen, was ihm schließlich auch gelingt. Die prominente Stellung des Traumberichts wie der gescheiterte Ver- such einer Auflösung durch den Familienarzt lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass er den Schlüssel zur Lösung des Falls enthält. Für die aufmerksa- men Zuschauer bietet sich somit die Gelegenheit, durch eigene Trauminter- pretation den Fall vorzeitig zu lösen, der diegetischen Detektivfigur also ei- nen Schritt voraus zu sein. Die richtige Kombination der Traumelemente mit Ereignissen aus der Wachwelt und die Umkehrung der expliziten Traum- aussage führen zum Schluss, dass der Träumer selbst der Täter sein muss. Neben dem Fehlen einer expliziten Traumentschlüsselung (und der damit verbundenen Einladung an die Zuschauer, den Fall schneller als der Detektiv zu lösen), unterscheidet sich Dementia 13 also auch insofern von Spellbound und Still of the Night, als es hier nicht ein unschuldig Beschuldigter oder das Opfer, sondern der Täter ist, der träumt und sich durch seinen Traumbericht (zumindest bei den aufmerksamen Zuschau- ern) verrät. Dies jedoch nur, weil ihm aufgrund der Bedeutungsumkeh- 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 327 rung und eines noch fehlenden Elements gar nicht bewusst ist, dass der Traum ihn preisgibt. Allen drei Filmen gemeinsam ist hingegen, dass die träumenden Fi- guren ihre nächtlichen Erlebnisse nicht für sich behalten. Der Detektiv ist im Normalfall ja eine außenstehende Figur, die sich die relevanten Infor- mationen erst erarbeiten muss, während der Träumer, wie wir gesehen ha- ben, als Opfer, Zeuge oder Täter in das Verbrechen verwickelt ist und über wichtige Informationen verfügt, sie aber nicht abrufen kann oder preisge- ben will. Nur schon aus diesem Grund können Träumer und Traumdetek- tiv nicht dieselbe Figur sein, ist ein Traumbericht also Voraussetzung für Letzteren, überhaupt an die relevanten Informationen zu kommen.8 Dass die dramaturgische Funktion des Traumberichts im Kriminalfilm nicht auf die Fallaufklärung beschränkt ist, sondern ebenso seiner Vertuschung dienen kann, zeigt mit Manhandled von Lewis R. Foster (USA 1949) ein Werk, das lediglich vier Jahre nach Spellbound entstanden ist.9 Der Film beginnt mit einer Eifersuchtsszene, im Verlaufe derer ein Mann seine reiche Ehefrau mit einer Parfümflasche erschlägt. Die folgende Szene offenbart jedoch, dass es sich nicht um ein reales Ereignis, sondern um einen wie- derkehrenden Albtraum handelt, den der Mann seinem Psychiater erzählt, während dessen Assistentin mitschreibt. Kurz darauf wird seine Frau tat- sächlich in ihrem Schlafzimmer tot aufgefunden, erschlagen mit exakt der- selben Parfümflasche wie im Traum, und sämtlicher Juwelen beraubt. Hauptverdächtiger für die Polizei, die schon bald von der Therapie- sitzung und dem Traumbericht erfährt, ist natürlich der Ehemann. Dass dieser seine Mordfantasie weitererzählt und dabei auch den Schmuck er- wähnt hat, erweitert den Kreis der möglichen Täter jedoch, denn es ist denkbar, dass jemand die Lage ausnützen und ihm den Mord in die Schu- he schieben wollte. Neben dem Psychiater und seiner Assistentin kommt dafür auch deren Nachbar in Frage, den sie in die vertraulichen Informa- tionen eingeweiht hat. Gegen Schluss stellt sich heraus, dass der Nachbar und der Psychiater unabhängig voneinander die Idee hatten, die reiche Ehefrau nach dem im Traum vorgezeichneten Szenario umzubringen, um den Verdacht auf den Ehemann zu lenken. Da der eine von der Absicht des anderen wusste, ließ er ihn gewähren, um ihm die Beute später ab- 8 Als Figur mit psychologischem Tiefgang und eigenen, für die Handlung relevanten Problemen kann freilich auch die Detektivfigur von Träumen heimgesucht werden, wie dies in diversen Films noirs oder etwa in Cette femme­là von Guillaume Nicloux (F 2003) zu beobachten ist. In diesen Fällen dienen die Traumsequenzen jedoch nicht der Fallaufklärung, sondern der psychologischen Charakterisierung der Figur. 9 Manhandled basiert auf einem Roman von L. S. Goldsmith mit dem bezeichnenden Titel The Man Who Stole a Dream (1945). 328 5 Narrative Funktionen des Filmtraums zunehmen.10 Der Missbrauch eines Traumberichts stellt somit eine weitere Variante dar, das Traummotiv für den Kriminalfilm nutzbar zu machen. Ein Täuschungsmanöver steht auch in Final Analysis von Phil Joanou (USA 1992) im Vordergrund, allerdings ein etwas raffinierteres, das zudem einen weiteren Aspekt ins Spiel bringt, der beim Traumbericht im Kriminal- film zu beachten ist. Der Psychoanalytiker Isaac behandelt eine Patientin, die ihm in mehreren Sitzungen von einem wiederkehrenden Traum erzählt, in dem sie Blumen arrangiert. Die Vase kleidet sie mit weichem Papier aus, das sich wie Samt anfühlt. Bei der Frage, um welche Sorte Blumen es sich handelt, nennt sie Lilien, nach einigem Zögern Nelken («carnations») und schließlich Veilchen, wobei sie zuerst «violence» statt «violets» sagt. Von Isaac auf den Versprecher angesprochen, streitet sie energisch ab und fragt, wieso immer alles mit Sex zu tun haben müsse. Die Interpretation scheint einfach: Das samtene Papier, «carnation», «violence» und die Assoziation mit dem Thema Sex legen nahe, dass der Traum auf verschlüsselte Weise ein traumatisches Erlebnis mit sexueller Gewalt zum Ausdruck bringt. Und tatsächlich, als Isaac auf Drängen der Patientin mit ihrer Schwester spricht, stellt sich heraus, dass sie als Kind von ihrem Vater vergewaltigt wurde. Die Handlung nimmt in der Folge mehrere dramatische Wendungen: Isaac ver- liebt sich in die Schwester, diese bringt ihren tyrannischen Ehemann um, jedoch, wie es scheint, im unzurechnungsfähigen Zustand einer durch Al- kohol ausgelösten «pathological intoxication». Mit Hilfe von Isaacs psychi- atrischer Expertise gelingt es ihr, vor Gericht einen Freispruch zu erlangen. Nach der Gerichtsverhandlung kommen Ungereimtheiten ans Ta- geslicht, insbesondere der Umstand, dass die Schwester, entgegen ihren Aussagen, von der Lebensversicherung ihres Ehemanns profitieren wird. An diesem Punkt besucht Isaac einen Vortrag über Freud und dessen Frau- enbild, in dem die Referentin einen Traum aus Die Traumdeutung erwähnt, der sich mit dem Traum seiner Patientin deckt.11 Isaac merkt nun, dass ihr Traum erfunden war und ihre psychischen Probleme lediglich als Vor- wand dienten, um seine Hilfe beim Vertuschen eines Mordes zu erlangen. 10 Mit vier Verdächtigen und je zwei sich konkurrierenden Tätern und Detektiven ver- fügt Manhandled über eine vielversprechende Anlage, deren Potenzial aufgrund ungeschickter Dosierung der Anteilnahme und des narrativen Wissens jedoch nicht ausgeschöpft wird. Die Zuschauer erkennen nämlich schon früh, dass sowohl der Ehemann als auch die Assistentin unschuldig sind. Die einzige Überraschung ist, dass nicht nur der Nachbar, sondern auch der Psychiater an der Tat beteiligt war. Doch selbst dies wird lange vor der Schlussszene geklärt, und zudem handelt es sich beim Psychiater ausgerechnet um diejenige Figur, die mit nur wenigen Auftritten äußerst blass bleibt und keine Empathie zu erwecken vermag. 11 Der Traum und seine Symbolik ist – in leicht abgewandelter Form – tatsächlich Freuds Traumdeutung entnommen: 1996 [1900]: 367–370. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 329 In Kapitel 4.2 haben wir gesehen, dass Träume grundsätzlich nicht zur Lüge fähig sind, da beim Traumerlebnis der Aspekt der bewussten Vermitt- lung fehlt. Beim Traumbericht stellt sich demgegenüber die Frage nach dem Wahrheitsgehalt sehr wohl, denn als Kommunikationsakt kann er in täu- schender Absicht vorgenommen werden. Der zur Täuschung erfundene Traum ist eine Spielform des Traummotivs, die im Kriminalfilm besondere Verwendung findet, einem Genre, in dem es üblich ist, dass sich die Wahr- heit über den Tathergang hinter elaborierten Lügengebäuden versteckt. Final Analysis enthält verschiedene Anhaltspunkte, die unterschwellig an- deuten, dass am Traumbericht etwas faul sein könnte. Die Patientin erzählt ihren Traum auf mechanische Weise, als habe sie ihn auswendig gelernt, und liefert nach kurzem Zögern jeweils eine passende Assoziation. Zusam- men mit der Zusatzinformation der Schwester löst sich das Rätsel so einfach und früh, dass man als aufmerksamer Zuschauer eigentlich Verdacht schöp- fen müsste.12 In Una lucertola con la pelle di donne (A Lizard in a Woman’s Skin, ES/I/F 1971) hat der Zuschauer hingegen keine Chance, die Täu- schung frühzeitig zu erkennen, denn Carols erlogener Traum vom Mord an ihrer Nachbarin geht einem wahren Mord voraus und wird vor allem nicht als verbale Nacherzählung, sondern als audiovisuelle Sequenz präsentiert, die vom Wegfall diegetischer Geräusche über Zeitlupe, visuelle Verzerrun- gen, sprunghafte Montage bis hin zur dissonanten Tonspur alle Register der Traummarkierung zieht, sodass die Möglichkeit, dass es sich nicht um ein tatsächliches Traumerlebnis handeln könnte, gar nicht in Betracht kommt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass unmittelbar anschließend eine Analyse durch Carols Psychoanalytiker folgt. Wir schließen daraus ledig- lich, dass sie das Traumerlebnis in der Zwischenzeit ihrem Therapeuten berichtet hat, was aus Gründen der Erzählökonomie übersprungen wurde. Hinzu kommt, dass die Ermittlungen zum Mord an der Nachbarin zwei Varianten plausibel erscheinen lassen, die beide die Authentizität des Traums nicht in Frage stellen: Entweder hat Carol in einem Schub von Schizophre- nie ihre Mordfantasie wahr gemacht, oder jemand hat ihren in der Therapie aufgezeichneten Traumbericht missbraucht. Erst ganz zum Schluss stellt sich heraus, dass Carol die Nachbarin nicht in unkontrolliertem Wahn, sondern absichtsvoll umgebracht hat und dass die Traumerfindung Teil ihrer Bestre- bungen war, als psychisch unzurechnungsfähig freigesprochen zu werden. 12 Ähnlich wie bei den Traumverschleierungen, die wir in Kapitel 3.2 behandelt haben, fallen diese versteckten Hinweise den meisten Zuschauern erst im Moment der Offen- legung der Täuschung auf, dienen also ebenfalls eher der nachträglichen Plausibilisie- rung als der frühzeitigen Warnung. 330 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Erfundene Träume dienen im Kriminalfilm, wie Final Analysis und Una lucertola con la pelle di donne vor Augen führen, in der Regel der Verschleierung der Tat oder sind Teil eines Mordkomplotts. Dass sie auch die umgekehrte Funktion haben können, zeigt I, Robot von Alex Proyas (USA/D 2004). In diesem Science-Fiction-Thriller, der in vielerlei Hinsicht dem Kriminalgenre verpflichtet ist, befindet sich ein Ingenieur in einer ausweglosen Situation, da er dem Komplott einer neuen Generation Robo- ter auf der Spur ist, seine Erkenntnisse wegen der strikten Überwachung jedoch niemandem mitteilen kann. Als Ausweg dient ihm folgende Strate- gie: Er pflanzt einem der Roboter einen Traum ein, der auf verschlüsselte Weise auf die Verschwörung hinweist, befiehlt ihm, ihn umzubringen, da er damit rechnet, dass der roboterskeptische Detektiv Spooner den Fall übernehmen und bei seinen Ermittlungen auf den Traum stoßen wird. Die Spannung wird dadurch aufrechterhalten, dass sich die Erzählperspektive an Spooner und dessen Wissensstand orientiert, sodass wir vom Komplott erst durch seine erfolgreiche Traumentschlüsselung erfahren. Der erfundene Traum ist an sich schon eine Ausnahmeerscheinung, mit Una lucertola con la pelle di donne und I, Robot haben wir zu- dem auch punkto Zuschauertäuschung und Plotakrobatik einen Extrem- punkt erreicht, der unseren kleinen Parcours möglicher Verwendungen des Traumrätsels im Detektivfilm abschließt. Die folgende Übersicht zeigt auf schematische Weise die unterschiedlichen Konstellationen, wobei an- zufügen ist, dass das Rätsel in zwei Fällen (Manhandled und Una lu­ certola con la pelle di donne) nicht den Trauminhalt selbst betrifft (der unverschlüsselt ist), sondern die Frage, ob der Traum echt ist oder nicht und ob seine Aufzeichnung von einer Drittperson missbraucht wurde.13 Traumrätsel im Kriminalfilm: eine Übersicht Traum à ver- erfun- Wer träumt / Wer löst das Effekt Missbrauch schlüs- den hat Traum Traumrätsel? Traument- Traumbericht Filmtitel selt erfunden? schlüsselung â Geheimnisse einer x Patient Psychoanaly- Heilung Pa- seele (1926)13 tiker tient Blind Alley x Täter Psychologie- Heilung Kri- (1939) professor, mineller + Geisel des Entschärfung Träumers gefährliche Situation spellBound (1945) x Unschuldig Psychoana- Heilung Beschuldig- lytikerin, Patient und ter verliebt in Lösung Krimi- Träumer nalfall 13 Geheimnisse einer Seele ist kein Kriminalfilm im engeren Sinn und figuriert auf der Lis- te lediglich als Vorläufer der späteren kriminalistischen Verwendung des Traumrätsels. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 331 Traum à ver- erfun- Wer träumt / Wer löst das Effekt Missbrauch schlüs- den hat Traum Traumrätsel? Traument- Traumbericht Filmtitel selt erfunden? schlüsselung â The dArk pAsT x Täter Psychologie- Heilung Kri- (1948) professor + mineller + Polizeipsy- Entschärfung chiater, Geisel gefährliche des Träumers Situation mAnhAndled Unschuldig Polizei- + durch zwei (1949) Beschuldig- Versiche- Figuren ter rungsde- tektiv demenTiA 13 x Täter Zuschauer Lösung Krimi- (1962) (Hausarzt nalfall (Ent- des Träumers schlüsselung löst Fall nur durch auf andere Zuschauer) Weise) unA lucerTolA con zur Ver- Täterin Polizeide- Option, die lA pelle di donne schleie- tektiv sich als fal- (1971) rung sche Fährte erweist sTill of The niGhT x Opfer Psychoana- Lösung Krimi- (1982) lytiker, The- nalfall rapeut des Träumers finAl AnAlysis x zur Ver- Täterinnen Psychoanaly- Entschlüsse- (1992) schleie- tiker, verliebt lung Traumin- rung in eine der halt führt Erfinde- auf falsche rinnen des Fährte. Erst Traums Entdeckung, dass «Archiv- traum», führt zu Aufdecken Mordkom- plott. i, roBoT (2004) x zur Auf- Opfer Polizeidetek- Aufdecken deckung pflanzt tiv, Freund Komplott Kom- Traum in des Erfinders plott Roboter, des Traums um Detektiv Aufklärung zu ermögli- chen 5.1.3.2 Der Traum als Gegengift zur Gehirnwäsche im Verschwörungsthriller Im Kriminalfilm steht meist ein Verbrechen am Anfang, und in der Fol- ge geht es darum, den Hergang, die Täterschaft und/oder das Motiv zu klären. Wie wir gesehen haben, ermöglichen dabei spezielle Plotkon- struktionen, dass der Traumbericht einer beteiligten Figur (Täter, Opfer oder Zeuge) zu dieser Klärung beiträgt. Eine weitere Konstellation, in der die Traumfunktion der Enthüllung und Wahrheitsfindung zum Tragen kommt, ist ein Komplott, das vorerst unbemerkt bleibt, sodass verstörende 332 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Traumerlebnisse einem normalen Alltag gegenüberstehen, in dem zu Be- ginn alles in Ordnung scheint. Wie die folgenden Beispiele zeigen, setzen vor allem Psycho- und Verschwörungsthriller, in denen Hypnose, Gehirn- wäsche und virtuelle Realitäten eine wichtige Rolle spielen, den Traum als Instrument der Enthüllung ein. Fear in the Night von Maxwell Shane (USA 1947) beginnt, wie das wenige Jahre später unter gleicher Regie entstandene Remake (Nightma­ re, USA 1956), mit einem Albtraum der Hauptfigur. Cliff gerät in einem engen, von Spiegeln umgebenen Raum in handgreifliche Auseinanderset- zung mit einem Fremden, sticht ihn nieder und schließt die Leiche in einen Schrank. Als er schweißgebadet aufwacht, ist er zunächst froh, dass alles nur ein Traum war. Bald macht er jedoch seltsame Entdeckungen: Wunde Stellen am Hals, ein Blutfleck auf dem Handgelenk und ein Schlüssel in seiner Jackentasche, der exakt die Form des geträumten Schrankschlüssels aufweist, werfen die Frage auf, ob der Vorfall wirklich nur ein Traum war. Sein Schwager, ein Polizeidetektiv, hält solche Gedankenspiele allerdings für Unfug: «Either you dream a thing, or it really happened.» Zur Zer- streuung organisiert er einen Sonntagsausflug. Als es um das Ausflugsziel geht, schlägt Cliff spontan Solanda Canyon vor und wundert sich sogleich, weshalb ihm gerade dieser Ort in den Sinn kam. Als sie in der einsamen Gegend von einem Gewitter überrascht werden, kennt Cliff zum eigenen Erstaunen den Weg zum nächstgelegenen Haus, in dem sich, wie wir un- terdessen ahnen, der Raum mit den Spiegeln befindet. Im Schrank sind tatsächlich Blutspuren vorhanden, und ein Polizist bestätigt kurz darauf, dass hier vor wenigen Tagen ein Mord geschah. Für den Schwager scheint nun klar, dass die Traumgeschichte gelogen ist. Erst als er die Umstände rund um die Tat genauer untersucht, gelingt es ihm, den wahren Drahtzie- her zu überführen, der Cliff hypnotisiert und ihm den Mord befohlen hat. Der Traum fungiert hier als Schutzmechanismus gegen psychische Manipulation, indem er Erlebnisse zu Bewusstsein bringt, die nach dem Plan des Verbrechers durch die aufgezwungene Hypnose unbewusst hät- ten bleiben sollen. Da der Traum – wie von Cliffs Schwager – jedoch oft als Gegenpol zur Realität gesehen wird, reicht er alleine nicht aus, um die Ma- nipulation aufzudecken. Es müssen zusätzliche Ungereimtheiten auftau- chen (die Spuren des Kampfs am Körper von Cliff, der Schlüssel, die uner- klärlichen Ortskenntnisse), die nahelegen, dass der Trauminhalt direkten Bezug zur Realität hat. Während in den oben erwähnten Kriminalfilmen Relevanz und Realitätsbezug des Traums schnell etabliert waren und Ver- zögerungen in der Wahrheitsfindung durch Entschlüsselungsprobleme entstanden, liegt die Spannung in Fear in the Night zuerst in der Frage, ob sich der Trauminhalt überhaupt auf ein reales Verbrechen bezieht, und 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 333 anschließend darin, ob es dem Träumer gelingt, sein Umfeld von dieser Verbindung zu überzeugen. In The Manchurian Candidate (USA 1962) von John Franken- heimer (wie im gleichnamigen Remake von Jonathan Demme aus dem Jahr 2004) bestehen die durch Hypnose und Gehirnwäsche vertuschten Ereignisse nicht aus einem einfachen Verbrechen, sondern aus einer breit angelegten Verschwörung mittels Manipulation der amerikanischen Prä- sidentschaftswahl. Kriegsheimkehrer Marco hat einen wiederkehrenden Albtraum, in dem Kommunisten des Ostblocks seine Einheit einer Gehirn- wäsche unterziehen und den damaligen Kommandanten Shaw so mani- pulieren, dass er zwei seiner eigenen Soldaten umbringt. Als Marco seine militärischen Vorgesetzten über den Traum informiert und sich irritiert darüber zeigt, dass es sich bei den beiden Soldaten just um diejenigen han- delt, die im Kampf gefallen sein sollen, steht für diese fest, dass er noch an den Folgen der Kriegserlebnisse leidet. Dass es sich beim Traumerlebnis nicht bloß um das Hirngespinst eines psychisch angeschlagenen Kriegsveteranen handelt, wird für uns Zuschauer jedoch bereits deutlich, als ein zweites Mitglied der Einheit eingeführt wird, das unter demselben Albtraum leidet. Auch hier reicht der Inhalt eines einzelnen Traums nicht aus, um einen zwingenden Reali- tätsbezug herzustellen. Erst eine nach realistischen Normen «unmögliche» Grenzüberschreitung des Traumphänomens vermag diese Verbindung na- hezulegen. In Fear in the Night ist es die physische Transgression der Traumereignisse und -objekte in die reale Sphäre, in The Manchurian Candidate ihr überindividueller Charakter. Im Kapitel zur Entgrenzung des Traums im Science-Fiction- und Horrorfilm werden wir sehen, dass in fantastischen Universen «unmög- liche» Traumeigenschaften keine Seltenheit sind. In Filmen wie Fear in the Night und The Manchurian Candidate, die grundsätzlich einem realistischen Weltentwurf verpflichtet sind, scheinen Grenzüberschreitun- gen der erwähnten Art jedoch fehl am Platz. Als Naturalisierungsstrate- gie bieten sich somit zwei Varianten an: Entweder leidet die träumende Figur – wie von ihrem Umfeld vermutet – an Wahnvorstellungen, oder das Traumerlebnis verweist tatsächlich auf ein reales Ereignis. Die Cha- rakterisierung der Figur als psychisch labil und Wahrnehmungen, die sich tatsächlich als rein subjektiv erweisen, sprechen zu Beginn oft für die erste Variante, bis sich die Hinweise auf ein Komplott verdichten und die ent- larvende Funktion des Traums zum Tragen kommt. Das Löschen und Verändern von Gedächtnisinhalten geschieht in der Regel gegen den Willen der betroffenen Figuren und wird durch Verbre- 334 5 Narrative Funktionen des Filmtraums cher (Fear in the Night), Verschwörer (The Manchurian Candidate) oder einen totalitären Staat (Code 46, GB 2003) bewerkstelligt. In Abre los ojos hingegen stellt sich zum Schluss heraus, dass die in einer Schein- welt gefangene Hauptfigur in einem Krisenmoment der Manipulation des eigenen Gedächtnisses selber zugestimmt hatte. Auch hier ist es ein wie- derkehrender Traum, der diese aus dem Bewusstsein gelöschte Tatsache allmählich wieder ans Tageslicht bringt. Dank seiner Unkontrollierbarkeit und seines direkten Zugangs zum Unbewussten ist der Traum in Verschwörungsfilmen oft das einzige Mit- tel, einer mentalen Manipulation auf die Schliche zu kommen. Dass die Wahrheitsfindung auch mit Hilfe des Traums kein einfaches Unterfangen ist und oft nur schrittweise gelingt, zeigt sich unter anderem an der Form der Traumsequenzen: Meist arbeiten sie stark mit Verzerrungen oder wer- den nur bruchstückweise dargeboten, sodass sich ein zusammenhängen- der Sinn erst allmählich herausschält. Diese Gestaltungsform unterstreicht nicht nur den Traumcharakter, sie deutet auch schon früh darauf hin, dass hinter dem Schleier der Verfremdung eine verborgene Wahrheit liegt. Noël Carroll hat in The Philosophy of Horror (1990: 97–128) aufgezeigt, dass der Erzählstruktur von Horrorfilmen oft folgendes Schema zugrunde liegt, das er complex discovery plot nennt: onset (erste mysteriöse Vorfälle geschehen, deren Ursache noch unerklärlich ist); discovery (die Hauptfigur entdeckt, dass ein Monster für die Attacken verantwortlich ist); confirmati- on (nach mehreren vergeblichen Versuchen gelingt es der Hauptfigur, die Autoritäten – Behörden, Polizei, Armee – von der Existenz des Monsters zu überzeugen); und confrontation (mit vereinten Kräften kann das Mons- ter in letzter Minute erledigt werden). Ersetzt man das Monster durch ein Komplott, so wird ersichtlich, dass etliche Verschwörungsthriller dieselbe Plotstruktur aufweisen, anhand derer sich die Funktion des Traums gut erläutern lässt: Er spielt bei allen Phasen außer der Konfrontation eine wichtige Rolle. Da die Verschwörer ihre Taten durch Hypnose und ande- re Manöver geschickt vertuschen, kommt es nur dank seltsamer Träume überhaupt zum Anfangsverdacht (onset). Dieser erhärtet sich, wenn «un- mögliche» Transgressionen des Traumgeschehens oder andere Ungereimt- heiten hinzukommen (discovery). Da Träume als Beweismittel jedoch nicht ernst genommen werden und der Protagonist aufgrund der mentalen Ma- nipulation psychisch angeschlagen wirkt, stellt sich für ihn das Problem, die relevanten Autoritäten vom Komplott zu überzeugen. In der Phase der Bestätigung dient der Traum also vorwiegend der spannungssteigernden Verzögerung. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 335 5.1.4 Verunsicherung In Verschwörungsthrillern wie Fear in the Night oder The Manchuri­ an Candidate geht dem Moment der Bestätigung des Komplotts meist eine Phase des bloßen Verdachts voraus. Da verstörende Traumerlebnisse maßgeblich daran beteiligt sind, in einer harmlos scheinenden Alltagssi- tuation einen Anfangsverdacht zu etablieren, fungiert das Traummotiv im genannten Genrekontext auch als Element der Verunsicherung. Um über- haupt einen Antrieb zu geben, nach einer verborgenen Wahrheit zu su- chen, muss das vertrauenswürdig wirkende Umfeld erst einmal destabili- siert werden. In den meisten Fällen weicht diese Unsicherheit jedoch bald – oder spätestens im letzten Drittel des Films – der Gewissheit, dass es eine Verschwörung zu bekämpfen gilt. Hinzu kommt, dass Erzählperspektive und Wissensverteilung meist eine gestaffelte Aufdeckung bewirken, die uns Zuschauer gegenüber der Hauptfigur und diese wiederum gegenüber den übrigen Figuren privilegiert. So etwa in der Originalversion von The Manchurian Candidate, wo das identische Traumerlebnis eines zweiten Kriegsheimkehrers unsere Zweifel an der Existenz eines Komplotts bereits früh ausräumen. Die durch einen ersten Traum ausgelöste Phase der Unsi- cherheit wird für uns Zuschauer durch einen zweiten Traum bald wieder aufgehoben, dauert also nur relativ kurz. Im Kapitel 3.2.1 haben wir jedoch gesehen, dass es Strategien der Ver- unklarung des Wirklichkeitsstatus gibt, die über längere Phasen oder gar bis zum Ende eines Films wirksam sind. Da ich mit Die Stunde des Wolfs (SE 1966), Barton Fink, Laura (USA 1944), Harry, un ami qui vous veut du bien (F 2000) und Audition (Ôdishon, JP/Südkorea 1999) in diesem Zusammenhang bereits verschiedene Beispiele besprochen habe, möchte ich mich im Folgenden auf die Analyse von Roman Polanskis Rosemary’s Baby (USA 1967) beschränken, ein Werk, das bezüglich Verunsicherung und Ambivalenz weitere wichtige Aspekte ins Spiel bringt. Polanskis Film ist im Grenzbereich von Psychothriller und Horror- film angesiedelt, kann jedoch genauso als Verschwörungsthriller betrach- tet werden, steht doch auch hier die Frage nach den Machenschaften einer geheimen – in diesem Fall satanistischen – Verbindung im Zentrum, die nach Macht strebt und die Hauptfigur für ihre Zwecke zu missbrauchen scheint.14 Der Film beginnt wie folgt: Ein junges Ehepaar mit Kinder- wunsch, Guy und Rosemary Woodhaus, ziehen in ein Apartmenthaus in Manhattan und machen Bekanntschaft mit ihren Nachbarn Roman und Minnie Castevet, einem sonderbaren älteren Paar, das sich als etwas auf- 14 Je nach Betrachtungsweise kann man den Verschwörungsthriller ohnehin als Unterka- tegorie des Psychothrillers auffassen. 336 5 Narrative Funktionen des Filmtraums dringlich, aber äußerst freundlich erweist. Insbesondere Guy scheint ei- nen guten Draht zu den Castavets gefunden zu haben, verbringt er doch immer mehr Zeit bei ihnen, nicht zuletzt deshalb, weil Roman Interesse an seiner Schauspielerei zeigt und ihm eine große Karriere prophezeit. In den vorerst unspektakulären Handlungsverlauf des Einzugs und der Annäherung an die Nachbarn sind jedoch bereits Irritationsmomente verpackt: Bei der Wohnungsbesichtigung ist der Verwalter erstaunt, dass die Vormieterin, kurz bevor sie in ein Koma fiel, einen massiven Schrank verschoben hatte, um einen Abstellraum zu verbarrikadieren, in dem sich lediglich ein Staubsauger befindet. Hutch, ein Freund von Rosemary und Guy, erzählt den beiden, dass ihr neues Zuhause bekannt für seine dunk- le Vergangenheit voll Hexerei, Kannibalismus und mysteriöser Todesfälle sei. Kurz nach dem Einzug stürzt sich eine junge Frau aus dem Fenster, die bei den Castevets wohnte und sich gegenüber Rosemary eben noch dankbar darüber gezeigt hatte, von ihnen aufgenommen worden zu sein. Und einige Tage später erblindet ein Kollege von Guy, der ihm bei der Be- setzung einer viel versprechenden Rolle vorgezogen wurde, sodass Guy sie nun doch erhält. An diesem Punkt der Erzählung folgt diejenige Sequenz, die sich im Nachhinein als Angelpunkt erweist und bei der ein längerer Traum die zentrale Rolle spielt. Guy und Rosemary verbringen bei Kerzenlicht einen schönen Abend in ihrer Wohnung. Die Ruhe scheint gestört, als Minnie klingelt; sie bringt jedoch nur ein Schokolade-Mousse und will gar nicht hereinkommen. Als Rosemary bei ihrem Mousse einen seltsamen Beige- schmack feststellt, kommt es zu einem kleinen Streit mit Guy, der sie der Undankbarkeit bezichtigt und auffordert, den von der Nachbarin liebe- voll zubereiteten Nachtisch aufzuessen. Rosemary isst widerwillig wei- ter, wirft hinter Guys Rücken den Rest jedoch weg. Etwas später wird ihr schwindlig, sodass Guy sie beim Gang ins Schlafzimmer stützen und ihr beim Ausziehen helfen muss. Alsbald wird sie vom Schlaf übermannt und erlebt einen ungeheuerlichen Traum, der in einer satanistischen Zeremonie gipfelt, in der sie, umringt von einer Schar singender Männer und Frauen (darunter Guy, Minnie und Roman) von den Pranken einer Teufelsgestalt gepackt und vergewaltigt wird (Abb. 49a–d).15 Zwei Details des Trauminhalts sind in unserem Zusammenhang wichtig. Während der Zeremonie kommt es zwischen Guy und Minnie zu folgendem Wortwechsel: Guy: «She’s awake, she sees.» – Minnie: «She don’t see, as long as she ate the mousse, she can’t see nor hear, she’s like 15 Der Übergang von der Wach- in die Traumwelt ist fließend gestaltet, wie die Analyse im Kapitel zur Traummarkierung (3.1.1.1) gezeigt hat. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 337 49a–d Albtraum oder Realität? Vergewaltigung durch die Teufelsgestalt in Rosemary’s Baby dead, now sing!» Und auf dem Höhepunkt der Vergewaltigungsszene verändert sich Rosemarys Gesichtsausdruck: Während sie zuvor stark be- nommen wirkte, sperrt sie unvermittelt die Augen auf, starrt direkt in die roten Schlitzaugen des Teufels – ein Moment, der durch frontale Großauf- nahmen und Schuss/Gegenschuss-Montage hervorgehoben wird – und schreit entsetzt: «This is no dream, this is really happening!», worauf je- mand ein Kissen auf ihr Gesicht drückt und die Leinwand schwarz wird. Auf den Traum folgt das Erwachen: Rosemary liegt mit schwerem Kopf im Bett. Als sie sich aufrichtet, stellt sie bestürzt fest, dass ihr Ober- körper voll roter Schrammen ist. Guy entschuldigt sich sofort: Seine Fin- gernägel seien rau gewesen, er habe sie bereits abgefeilt. Auf Rosemarys ungläubige Frage, ob er in der Nacht mit ihr geschlafen habe, erwidert Guy mit verlegenem Grinsen, er sei selber etwas betrunken gewesen und habe ihre fruchtbaren Tage nicht ungenutzt verstreichen lassen wollen. Welche Rolle spielt die beschriebene Sequenz in der Erzählstruktur von Rosemary’s Baby? In Kombination mit den vor- und nachgelagerten Wachszenen führt der Teufelstraum zu einer Akzentuierung und Konkre- tisierung des Verdachts, dass Rosemary Opfer einer satanistischen Ver- schwörung wurde, in die auch Guy verwickelt ist. In dieser Interpretation war im Mousse tatsächlich ein Betäubungsmittel und hat Guy die bewusst- lose Rosemary zu den Castevets gebracht, um sie Satan zur Zeugung des Antichristen auszuliefern. Da Rosemary das Mousse jedoch nur zur Hälfte verzehrt hat, droht sie während der Zeremonie wieder zu sich zu kommen 338 5 Narrative Funktionen des Filmtraums und muss nochmals betäubt werden. Diese nur unterschwellig wahrge- nommenen Ereignisse vermischen sich für sie mit Traumbildern, von de- nen sie nach dem Erwachen nicht mehr unterscheidbar sind. Ihre Verlet- zungen sind Spuren der teuflischen Vergewaltigung, Guys Erklärung, sie stammten von seinen Fingernägeln, ist ein Vertuschungsmanöver. Diese Interpretation der Ereignisse wird in der Folge durch immer neue Ungereimtheiten gestützt: Die Castevets drängen Rosemary einen neuen Frauenarzt, Dr. Saphirstein, auf, mit dem sie eng befreundet sind. Statt Vitaminpillen zu verschreiben, hält dieser sie dazu an, täglich ein von Minnie zubereitetes Kräutergetränk zu sich zu nehmen; und als Rosemary Schmerzen im Bauch verspürt, abmagert und zusehends bleicher wird, be- schwichtigt er nur und unternimmt nichts. Als Hutch sich mit Rosemary verabredet, um ihr wichtige Erkenntnisse über die Castevets mitzuteilen, fällt er kurz vor dem Treffen (von dem Guy Kenntnis hatte) ins Koma und stirbt später. Im Buch über Hexerei, das er Rosemary hinterlässt, entdeckt diese schließlich, dass Roman Castevet der Sohn von Adrian Marcato ist, ei- nem Hexenmeister, der vor Jahrzehnten im selben Haus sein Unwesen trieb. Rosemary ist nun überzeugt, durch Satanisten bedroht zu sein, flüchtet aus der Wohnung und sucht Zuflucht bei ihrem ursprünglichen Frauenarzt, Dr. Hill. Dieser scheint zuerst Verständnis für sie aufzubringen, ruft dann je- doch ohne ihr Wissen Guy und Dr. Saphirstein in seine Praxis, die Rosemary wieder nach Hause bringen, nach einem weiteren Fluchtversuch schließlich überwältigen und mit einer Spritze ruhigstellen. Als sie wieder erwacht, ist sie bereits entbunden, und Guy und Dr. Saphirstein teilen ihr mit, das Baby habe die Geburt nicht überlebt. Doch auch diese Erklärung wird sogleich in Frage gestellt, denn durch die Mauern der Wohnung ist Babygeschrei zu hören, und das Verhalten von Rosemarys Betreuerin legt den Verdacht nahe, dass ihre abgepumpte Milch nicht ausgeleert, sondern weggebracht wird. Nun folgt die Schlussszene, die den Bogen zurück zum Teufelstraum schlägt und in sämtlichen mir bekannten Rezensionen als finale Bestäti- gung der satanistischen Verschwörung interpretiert wird. Rosemary steht nachts auf, entdeckt den geheimen Durchgang zur Wohnung der Caste- vets und steht plötzlich mitten in der satanistischen Gesellschaft, die sich um eine mit schwarzen Tüchern drapierte Wiege versammelt hat, in der Rosemarys Sohn liegt. Er weist die gleichen stechenden Augen auf wie die Teufelsgestalt aus dem Traum. Sofern der Wirklichkeitsgehalt dieser Szene nicht in Zweifel gezo- gen wird, liefert sie den Beweis dafür, dass Rosemary Opfer teuflischer Machenschaften wurde und ihr Traum vom Geschlechtsakt mit Satan auf realem Geschehen beruhte. In dieser Interpretation führt der Traum zu einer Verunsicherung, die durch weitere verdächtige Umstände genährt 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 339 wird und schließlich in Gewissheit darüber mündet, dass das Komplott tatsächlich existiert. Die Hauptfunktion des Traums wäre demnach – wie in den oben analysierten Verschwörungsthrillern – die der Aufdeckung einer verborgenen Wahrheit, auch wenn die ultimative Gewissheit bis zur Schlussszene auf sich warten lässt. Ich möchte im Folgenden jedoch eine andere Lesart vorschlagen, die die ambivalente Struktur intakt hält. Zieht man nämlich die der Schluss- szene vorgelagerten Ereignisse in Betracht, so wird eine Entwicklung sichtbar, die deren Realitätsbezug zumindest offen lässt. Auch hier spielen zwei Träume die entscheidende Rolle. Als Rosemary bei Dr. Hill Schutz sucht und zur Überzeugung gelangt, er nehme ihre Bedrohung ernst, ist sie erleichtert und ruht sich in seiner Praxis aus. Dann folgt übergangslos eine Einstellung, in der sie ein gesundes Baby in den Armen hält, fröhlich lächelt und von allen Seiten mit Gratulationen überhäuft wird. Die Absenz diegetischer Geräusche und Stimmen wie auch der baldige Umschnitt zu- rück in die Arztpraxis machen zwar schnell deutlich, dass es sich um einen Traum handelt. Trotzdem kann der Szenenwechsel im ersten Moment als Zeit- statt als Realitätssprung interpretiert werden. Während dieser kurze Traum wohl nur einzelne Zuschauer zu einer Fehlinterpretation verleitet, ist die etwas später situierte Aufwachszene nach Rosemarys Bewusstlosigkeit so angelegt, dass die Täuschung über den Realitätsstatus schwerer zu durchschauen ist und erst im Nachhinein offensichtlich wird: Rosemary erwacht bleich und erschöpft und fragt Guy, der an ihrem Bett sitzt, ob das Kind wohlbehalten sei. «Ja» antwortet die- ser, es sei gesund. Auf die Frage nach dem Geschlecht sagt er stolz, es sei ein Junge. Rosemarys Gesichtszüge entspannen sich und sie wendet den Blick zum Fenster. Die nächste Einstellung folgt ihrem Blick; dann kommt der Rückschnitt auf sie, die nun in anderer Position und mit geschlossenen Augen im Bett liegt. Es erfolgt ein zweites – das echte – Erwachen, das die erschütternde Mitteilung von Dr. Saphirstein bringt, das Kind habe die Geburt nicht überlebt. Die einzigen indirekten Hinweise auf den Traum- status vor dem zweiten Erwachen sind Elemente der Bild- und Tongestal- tung, die bereits vorherige Traumsequenzen begleitet haben: eine langsa- me, auffällige Kamerafahrt und das Ticken einer Uhr. Betrachten wir vor diesem Hintergrund zunehmender Verunklarung des Realitätsstatus nun die Schlusssequenz, so können wir Folgendes fest- stellen: Auch sie beginnt mit einer Szene, die ein vorgängiges Aufwachen zumindest impliziert. Rosemary steigt nachts aus dem Bett und zieht sich den Morgenrock über. Diese Handlung ist vom selben Tickgeräusch be- gleitet, durch das mit einer Ausnahme alle bisherigen Traumsequenzen eingeleitet wurden. Das Erwachen und Aufstehen könnte also auch hier 340 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 50a–e Surreale Szenen in der Schlussse- quenz von Rosemary’s Baby ein «falsches», lediglich im Traum erlebtes sein. Rosemary geht gerade- wegs zum Wandschrank und räumt den Durchgang zur Nachbarwoh- nung frei. Bei dieser Aktion irritiert, wie zielstrebig sie vorgeht, obwohl es bisher lediglich zwei Verdachtsmomente dafür gab, dass eine geheime Passage existieren könnte, und keinen expliziten Hinweis, dass Rosemary davon weiß. Die satanistische Gesellschaft in der Nachbarwohnung mit all den schrillen, geschmacklos gekleideten Gestalten und dem fotogra- fierenden Japaner schließlich wirkt so absurd, dass eine Traumauflösung keinesfalls überraschen würde. Dazu kommt es freilich nicht, obwohl Ro- semarys erwachende Liebe zum Satanskind die Surrealität der Szene bis zum Abspann weiter auf die Spitze treibt (Abb. 50a–e).16 16 Im gleichnamigen Roman von Ira Levin (1967), der dem Film zugrunde liegt, sind die Traumsequenzen ähnlich ambivalent gestaltet. Der Abschnitt, der auf die Unterredung mit Dr. Hill folgt, beginnt folgendermaßen: «She was living with Brian and Dodie in a large contemporary house in Los Angeles, and Andy had just started talking (though only four months old) when Dr. Hill looked in and she was in his examining room again, lying on the day bed in the coolness of the air conditioner (Levin 1967: 211).» Bis zur Klammerbemerkung, die den Traumstatus verrät, erscheint auch diese Passage im ersten Moment wie ein Zeitsprung. Und im Schlussteil, der Rosemarys Eindringen in die Wohnung der Satanisten beschreibt, findet sich folgende aufschlussreiche Textstelle (ich hebe hervor): «She […] found a fresh grip on the knife’s thick handle, and stepped 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 341 Aufgrund der fehlenden expliziten Markierung bleibt die Traumhy- pothese in Bezug auf die Schlusssequenz eine Spekulation, die zudem, wie die Rezensionen des Films zeigen, nicht auf der Hand liegt. Es geht mir auch keineswegs darum, sie als einzig richtige Lesart zu propagieren. Viel- mehr möchte ich die These aufstellen, dass die Traumvariante als Option bewusst angelegt ist und dem Film eine zusätzliche Dimension verleiht. Sämtliche Verdachtsmomente, die auf die satanistische Verschwörung hinweisen, sind nämlich so konzipiert und inszeniert, dass sie auch «re- alistisch», ohne übernatürlichen Komplott, erklärt werden können. Nach dieser Interpretation wird Rosemary, die aufgrund der Komplikationen in ihrer Schwangerschaft und der problembehafteten Beziehung zu Guy eine schwierige Phase durchmacht, psychisch immer labiler, bis sie sich schließlich in einen absurden Verfolgungswahn hineinsteigert, der sich aufgrund ihrer katholischen Erziehung und den Hexerei-Gerüchten rund um das neue Zuhause aus dämonisch-religiösen Motiven nährt. Etliche Szenen in der zweiten Hälfte des Films, in denen Rosemarys Paranoia im- mer krassere Züge annimmt, unterstützen diese Lesart. Durch die Verunsicherung des Realitätsstatus in der Schlusssequenz bleiben beide Auslegungen über das Ende hinaus bestehen, was die Gen- reverortung wie auch die Wirkung des Films maßgeblich beeinflusst. Denn ohne Traumhypothese erweist sich Rosemary’s Baby «lediglich» als über- sinnlicher Verschwörungsthriller oder Horrorfilm, der mit der Möglich- keit einer figurenpsychologischen Erklärung nur spielt, um die Spannung bis zum Finale hochzuhalten. Die Traumoption hingegen wertet diesen Aspekt auf, sodass das in Handlung und Figurenkonstellation angelegte Psychodrama um eine junge Ehefrau, die einem wachsenden Verfolgungs- wahn anheimfällt, neben dem Horrorplot einen gleichberechtigten Platz erhält. Die besondere Qualität von Polanskis Werk besteht genau darin, dass es unter beiden Vorzeichen restlos überzeugt. Tzvetan Todorov hat in Introduction à la littérature fantastique (1970) das Schwanken des Lesers zwischen einer natürlichen und einer übernatürli- chen Erklärung angesichts von Ereignissen, die den Gesetzen unserer Welt widersprechen, als Wesensmerkmal des Fantastischen bezeichnet: Dans un monde qui est bien le nôtre, celui que nous connaissons, sans diab- les, sylphides, ni vampires, se produit un événement qui ne peut s’expliquer par les lois de ce même monde familier. Celui qui perçoit l’événement doit opter pour l’une des deux solutions possibles: ou bien il s’agit d’une illusion out where they could every one of them see her and know she had come. Insanely, they didn’t. They went right on talking, listening, sipping, pleasantly partying, as if she were a ghost, or back in her bed dreaming» (ebenda: 234). 342 5 Narrative Funktionen des Filmtraums des sens, d’un produit de l’imagination et les lois du monde restent alors ce qu’elles sont; ou bien l’événement a véritablement eu lieu, il est partie inté- grante de la réalité, mais alors cette réalité est régie par des lois inconnues de nous. (Todorov 1970: 29) Der Effekt des Fantastischen sei jedoch zu Ende, sobald eine Entscheidung für die eine oder andere Interpretation der Ereignisse gefallen sei: Le fantastique […] ne dure que le temps d’une hésitation: hésitation com- mune au lecteur et au personnage, qui doivent décider si ce qu’ils perçoivent relève ou non de la «realité», telle qu’elle existe pour l’opinion commune. A la fin de l’histoire, le lecteur, sinon le personnage, prend toutefois une décision, il opte pour l’une ou l’autre solution, et par là même sort du fantastique. S’il décide que les lois de la réalité demeurent intactes et permettent d’expliquer les phénomènes décrits, nous disons que l’oeuvre relève d’un autre genre: l’étrange. Si, au contraire, il décide qu’on doit admettre de nouvelles lois de la nature, par lesquelles le phénomène peut être expliqué, nous entrons dans le genre du merveilleux. (Todorov 1970: 46) Rosemary’s Baby entspricht genau der von Todorov beschriebenen ambi- valenten Struktur. Ohne Hinterfragen des Wirklichkeitsgehalts der Schluss- sequenz löst sich das Fantastische am Ende jedoch zu Gunsten des Wun- derbaren auf. Mit Traumoption hingegen erweist sich Polanskis Werk als seltener Fall einer Erzählung, die die Unschlüssigkeit bis zuletzt aufrecht- erhält, den Effekt des Fantastischen also über das Ende hinaus wirken lässt. Im Bezug auf die Traumfunktion, um die es in diesem Kapitel geht, können wir festhalten: In ambivalent angelegten Erzählungen wie Rosemary’s Baby stellt die Traumzuschreibung – neben der Anpassung von Weltentwurf und Genre-Erwartung – eine der Strategien dar, mit de- nen sich der unschlüssige Rezipient übernatürliche Ereignisse zu erklären versucht. Oder anders herum formuliert: Das Traummotiv eignet sich vor- züglich, um das Publikum zu verunsichern und Ambiguität zu etablieren. Denn zum einen besteht bei übernatürlichen Erscheinungen in «realis- tisch» angelegten Welten fast immer die Möglichkeit einer nachträglichen Traumauflösung; zum anderen ist auch bei offensichtlichen Traumerleb- nissen wie Rosemarys Satanstraum nicht ausgeschlossen, dass die inneren Bilder auf reale Ereignisse verweisen. Todorov hebt in seinen Ausführungen hervor, dass die Unschlüssig- keit des Lesers angesichts übernatürlicher Ereignisse das relevante Merk- mal des Fantastischen sei, während die analoge Haltung einer Figur in- nerhalb der Diegese zwar oft gegeben, jedoch nicht zwingend sei. Auch bezüglich Differenz oder Gleichschaltung von Rezipient und Hauptfigur weist Rosemary’s Baby eine interessante Dynamik auf, bei der es eine Rol- 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 343 le spielt, wie die Schlusssequenz interpretiert wird. Unsere Zweifel an der Harmlosigkeit der Castevets werden sicherlich früher geweckt und vor- erst etwas stärker genährt als diejenigen Rosemarys. Spätestens im letzten Drittel der Erzählung weicht ihre Unsicherheit jedoch der Gewissheit, dass die Verschwörung existiert, während die meisten Zuschauer wohl, gerade aufgrund von Rosemarys immer paranoider wirkendem Verhalten, gewis- se Zweifel behalten. In der Schlusssequenz findet entweder eine Gleich- schaltung statt (Interpretation ohne Traumhypothese) oder die Differenz bleibt bestehen (mit Traumhypothese).17 Abschließend sei vermerkt, dass sich diese asynchrone Dynamik trotz strenger Ausrichtung am Aktionsradius und Erlebnishorizont der Haupt- figur etabliert. Unser Wissen über Ereignisse außerhalb Rosemarys Umfeld und jenseits ihrer bewussten Wahrnehmung (etwa Guys Besuche bei den Castevets oder die Geschehnisse während der Nacht des Teufelstraums) ist genauso limitiert wie dasjenige von Rosemary. Diese erzählperspektivi- sche Ausrichtung bildet die Grundlage für die ambivalente Gesamtstruk- tur. Dass trotzdem Abweichungen in der Sichtweise zwischen Hauptfigur und Rezipienten möglich sind, liegt an der unterschiedlichen Interpretation der vorhandenen Informationen, die sich, wie wir gesehen haben, auch um die Frage drehen kann, ob ein Ereignis real oder nur erträumt ist. 5.1.5 Antizipation und Prophezeiung Die meisten Traumsequenzen, die wir im Kapitel zur Traumentschlüsse- lung und Wahrheitsfindung (5.1.3) behandelt haben, weisen einen starken Bezug zu vergangenen Geschehnissen auf, sind hinsichtlich der Chronolo- gie der erzählten Ereignisse also rückwärtsgerichtet.18 Wie wir in Kapitel 4.4 gesehen haben, kommt Träumen und anderen Formen der Innenweltdar- stellung jedoch ebenso häufig die Funktion zu, Zukünftiges vorwegzuneh- men. Die Bandbreite an Möglichkeiten ist auch hier beträchtlich. Zum einen bringen psychologisch motivierte Träume oft Befürchtungen oder Hoffnun- gen der Figuren zum Ausdruck, verweisen also auf eine subjektiv vorge- stellte Zukunft: In Kindergarten Cop (USA 1990) etwa durchlebt Detektiv Kimble den befürchteten Angriff des kriminellen Vaters auf den Kindergar- ten im Traum, bevor dieser sich dann tatsächlich ereignet. Und in Yolan­ 17 The Ghost and Mrs. Muir (USA 1947) ist ein weiteres Beispiel, das Todorovs Struktur entpricht und die Sichtweise der Zuschauer und der Protagonistin nur phasenweise in Übereinstimmung bringt. 18 Auf der Ebene der Erzählung ist ihre Dynamik zugleich vorwärtsgerichtet, denn das Entschlüsseln des in der Vergangenheit liegenden Rätsels treibt die Handlung voran und führt sie ihrer Lösung zu. 344 5 Narrative Funktionen des Filmtraums da and the Thief bringt die längere Traumsequenz nicht nur – wie wir in Kapitel 5.1.2 gesehen haben – den zentralen Konflikt zum Ausdruck, sie nimmt mit der als Traumtanz inszenierten Hochzeit gleichzeitig das Ende der Geschichte vorweg, das sich Johnny je länger je bewusster herbeisehnt. Zum anderen enthalten Traumsequenzen häufig zukunftsweisende Elemente, die nicht auf Ahnungen oder Befürchtungen der träumenden Figur zurückgeführt werden können, also nicht figurenpsychologisch mo- tiviert sind. Hier öffnet sich der weite Bereich der prophetischen Träume, denen in unserem Zusammenhang schon deshalb besonderes Augenmerk gebührt, weil sie das Resultat der Vermählung einer modernen Erzählform mit einer vormodernen Traumkonzeption darstellen. Der Betrachtung un- terschiedlicher Spielarten visionärer Trauminhalte seien deshalb einige grundlegende Gedanken vorangestellt. In der Einleitung dieses Kapitels habe ich bereits die Auffassung ver- treten, dass die fiktionale Verwendung des Traummotivs nicht dem domi- nanten Traumverständnis der jeweiligen Epoche entsprechen muss. Film- schaffende stehen natürlich in einem Spannungsverhältnis zu gesellschaft- lich verbreiteten und wissenschaftlich sanktionierten Vorstellungen, müssen sich durch diese jedoch nicht zwingend einengen lassen. Ihrer Fabulierkunst steht der gesamte Fundus an aktuellen und vergangenen Denkweisen zur Verfügung, ja mehr noch, sie sind frei, einem Motiv neue Seiten abzugewin- nen, die weder wissenschaftlich fundiert noch gesellschaftlich akzeptiert sind. Angesichts der großen Zahl an prophetischen Träumen – man kommt bei entsprechender Recherche schnell auf fünfzig Beispiele – ist es trotzdem legitim, danach zu fragen, wieso eine – ideengeschichtlich betrachtet – «un- zeitgemäße» Traumfunktion im Film so häufig Verwendung findet. Als Erstes lässt sich ins Feld führen, dass die Vorstellung der Vorbe- stimmtheit unseres Schicksals wie auch die Möglichkeit entsprechender Zeichen in unseren Träumen selbst in westlichen Gesellschaften keines- wegs verschwunden ist, wie etwa der nachhaltige Esoterikboom belegt. Als Minderheitsmeinung, die sich bewusst gegen wissenschaftlich etab- lierte Ansichten richtet, ist der Glaube an hellsichtige Träume durchaus noch virulent. Zweitens ist die Inszenierung von Traumprophezeiungen in vielen Fällen genau darauf angelegt, althergebrachte Vorstellungen jen- seits aufklärerisch-rationaler Logik zu mobilisieren und somit zu einem Weltentwurf unter übernatürlichen Vorzeichen beizutragen. Dies ist ins- besondere im Horror-,19 Fantasy-20 und Science-Fiction-Genre21 der Fall, in 19 Zum Beispiel Final Destination, USA 2000; Seven Days to Live, D/CZ/USA 2000; Jeepers Creepers, USA 2001. 20 Lara Croft: Tomb Raider, USA 2001. 21 Total Recall, USA 1990; The Time Machine, USA 2002; Code 46, GB 2003. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 345 Filmen, die in einer weit zurückliegenden Epoche spielen,22 deren Hand- lung im Umfeld einer – aus westlicher Sicht – fremden Kultur angesiedelt ist23 oder bei denen religiöse Themen im Vordergrund stehen.24 Wichtiger noch als die beiden genannten Gründe erscheint mir jedoch ein dritter: Der antizipierende Charakter prophetischer Träume lässt sich hervorragend für dramaturgische Zwecke nutzen. Traumbilder, die als Drohung, Warnung oder Verheißung von kommendem Glück oder Unheil künden, erzeugen Spannung, indem sie verschiedene Fragen aufwerfen: Wird sich die Prophezeiung tatsächlich erfüllen und mit welchen Konse- quenzen? Wer schickt die prophetische Traumbotschaft und mit welcher Absicht? Welche Rolle spielt die hellsichtige Figur? Die Filmdramaturgie lebt von Andeutungen und Vorwegnahmen, die die Zuschauer zur Hy- pothesenbildung animieren. Prophetische Träume passen als Erzählbau- steine deshalb oft besser ins filmdramaturgische Gerüst als solche, deren Bedeutung lediglich gegenwarts- oder vergangenheitsbezogen ist. Die besondere Spannung, die von prophetischen Träumen ausgeht, lässt sich auch narrationstheoretisch fassen: Im Gegensatz zu Vorwegnahmen durch die unpersönliche Erzählinstanz, etwa mittels Vorgreifen in der Chronologie der Ereignisse, können prophetische Träume als Erzeugnisse diegetischer Figuren eigentlich keinen Anspruch auf Zukunftsgewissheit erheben. Eberhart Lämmert hat in Bauformen des Erzählens jedoch bereits 1955 darauf hingewiesen, dass diese theoretisch fundierte Differenz ange- sichts der Wirkung zahlreicher Träume relativiert werden muss: Wo Träume, Ahnungen, Prophezeiungen im Laufe des erzählten Geschehens kundgetan werden, da steuern sie merkwürdigerweise trotz ihrer theoreti- schen Unverbindlichkeit den Leser in einer ähnlichen Weise wie es durch die gewissen Vorausdeutungen des Erzählers geschieht. Und das nicht nur, wenn die handelnde Person die Prophetie selbst ernst nimmt! Hier deutet sich ein höchst eigentümliches und wichtiges Gesetz des Erzählens an: Denn mag der junge Helmbrecht [in der Versnovelle Meier Helmbrecht von Wernher der Gartenaere] die Träume seines Vaters auch hoffärtig abtun, dem Zuhörer 22 Herr Arnes Schatz / Herr Arnes Pengar, SE 1919 (16. Jh.); Die Nibelungen, D 1924 (Spätantike); oder The Navigator: A Medieval Odyssey, AU/NZ 1988 (14. Jh.). 23 The Hurricane, USA 1938 (südpazifisches Inselvolk); The Last Wave, AU 1977 (Kul- tur der australischen Aborigines); Seven Years in Tibet, USA 1997 (tibetischer Bud- dhismus). 24 The Seventh Sign, USA 1988; End of Days, USA 1999. In realistischen Genres sind hellsichtige Träume hingegen eher selten. Kommen sie dennoch vor, wie etwa im Film Noir Strange Illusion (USA 1945) oder in den Gesellschaftsdramen Accatone (I 1961) und Violette Nozière (F 1978), so bezwecken sie auf dramaturgischer Ebene – neben dem Irritationsmoment – meist das Etablieren einer Atmosphäre des Unaus- weichlichen. 346 5 Narrative Funktionen des Filmtraums malen sie an Ort und Stelle bereits in dunklem Umriss das schmähliche Ende des Helden aus. […] Diesem Erzählphänomen, das man aus der Erfahrung leicht bestätigen wird und das erst auf den zweiten Blick eigentümlich er- scheint, muss unsere weitere Aufmerksamkeit gelten. Denn der Umstand, dass auch «ungewisse» Vorausdeutungen dem Leser einen Blick in die Zu- kunft der Erzählung gewähren und ihn «vorwissend» an der weiteren Ge- schehensfolge teilhaben lassen, ist geeignet, die besondere und dem realen Leben nicht gleichermaßen innewohnende Schlüssigkeit dichterischer Gefüge von unerwarteter Seite zu beleuchten. (Lämmert 1993 [1955]: 178–179, Herv. i. O.) Vom Status her eigentlich Erzählelemente ohne privilegierte Vorausdeu- tungsmacht, erscheinen Träume dennoch oft wie aufgeladen mit narrativer Autorität. Dieser Effekt ist allerdings nicht automatisch gegeben, sondern gründet in unterschiedlichen Formen der Beglaubigung der Traumvision. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Herkunft der Traumbilder. Sind sie als Botschaft einer Instanz außerhalb der träumenden Figur gekennzeichnet, so ist die Relevanz der Mitteilung unbestreitbar, insbesondere wenn es sich beim Absender um eine verstorbene Person (Herr Arnes Schatz; Stir of Echoes, USA 1999; Lara Croft: Tomb Raider) oder eine übernatürliche Macht wie den Teufel (End of Days), einen Gesandten Gottes (The Seventh Sign) oder den Dalai Lama (Seven Years in Tibet) handelt. Erscheint der- selbe Traum nicht nur einer, sondern mehreren Figuren (wie in The Time Machine, USA 2002), so kann ebenfalls auf einen Ursprung außerhalb des Individuums und somit erhöhte Aussagekraft geschlossen werden. Die träumende Figur ist ein weiterer Faktor bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer Traumprophezeiung. Handelt es sich um eine Per- son, die ihre übersinnlichen Fähigkeiten bereits bewiesen hat (wie Jezelle in Jeepers Creepers), so besteht kein Anlass, an der Hellsichtigkeit ihres Traums zu zweifeln. Ein ähnlicher Effekt entsteht, wenn die Figur nach dem Aufwachen durch Mimik, Gestik und Worte ihrem Gefühl Ausdruck ver- leiht, dass das Traumerlebnis als Vorbote künftiger Ereignisse zu verstehen ist. So stammelt Christine in End of Days nach dem Aufschrecken aus einem Albtraum, in dem der Teufel sie vergewaltigt: «He came to me again, it felt closer.» Und in The Hurricane drängt ein Traumerlebnis Marama dazu, ihren Mann davon abzuhalten, aufs Meer hinauszufahren – ein Wunsch, dessen Berechtigung durch unheilschwangere Musik unterstrichen wird. Wird eine Figur mehrfach von denselben oder ähnlichen Träumen heimgesucht (Die Nibelungen; Fog Closing In, USA 1956; The Naviga­ tor; The Seventh Sign; End of Days; Code 46; The Last Wave), so betont dies ebenfalls ihre Relevanz. Und schließlich kann die Zukunftsgewissheit 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 347 a b c d 51a–d Unheil verheißende Traumbilder in Dreamscape (a), Total Recall (b), The Terminator II (c) und Final Destination (d) von Traumereignissen auch dadurch beglaubigt werden, dass sich ein eher unbedeutendes Element sofort nach dem Aufwachen verwirklicht. In Stir of Echoes etwa geht Tom im Traum ins Nebenhaus und wird dort Zeu- ge davon, wie sich der Nachbarssohn erschießt. Vor Verlassen des Hauses hatte er seinen linken Schuh gesucht und schließlich unter dem Sofa ge- funden; und im Badezimmer hing ein Zettel von seiner Frau mit der Nach- richt, sie sei mit dem Sohn im Park. Als er nach dem Erwachen feststellt, dass sein Schuh tatsächlich unter dem Sofa liegt und im Badezimmer exakt dieselbe Nachricht vorliegt, ahnt er Schreckliches und eilt nach nebenan. Dass er dort den Nachbarssohn in einer Blutlache vorfindet, stellt an die- sem Punkt weder für ihn noch für uns eine Überraschung dar. Was kündigen prophetische Träume an, und wie direkt tun sie es? In den meisten Fällen wird Unheil prophezeit: der Tod einer Person (Die Nibe­ lungen; Der vierte Mann / De vierde man, NL 1983; Stir of Echoes; Jeepers Creepers; Le cerf volant, Libanon/F 2003), oft der träumenden Figur selbst (Dead of Night, GB 1945; Accattone, I 1961; Flesh and Fan­ tasy, USA 1943; The Navigator; The Seventh Sign; Total Recall), ein Flugzeugabsturz (The Night My Number Came Up, GB 1955; Final Des­ tination), eine Naturkatastrophe (The Last Wave, The Hurricane), ein Atomkrieg (Dreamscape, USA 1984; The Terminator II: Judgment Day, USA 1991) oder sozialer Niedergang (The Warning, USA 1914) (Abb. 51a– d). So direkt wie im erwähnten Beispiel von Stir of Echoes, wo ein eindeu- 348 5 Narrative Funktionen des Filmtraums tig identifizierbares Traumereignis unmittelbar in Erfüllung geht, verläuft die Ankündigung und ihre Verwirklichung allerdings nicht immer. Oft er- scheinen prophetische Träume verklausuliert, als Botschaften, deren Sinn erst enträtselt werden muss. So träumt Claire in In Dreams (USA 1999) wiederholt von einem kleinen Mädchen, das von einem Fremden durch ei- nen Obstgarten geführt wird. Da seit einigen Tagen ein Mädchen vermisst wird, nimmt sie an, dass der Traum ihr etwas darüber mitteilen will. Erst mit der Zeit realisiert sie, dass sich die übersinnliche Botschaft nicht auf eine bereits erfolgte, sondern eine bevorstehende Entführung bezieht, und der Obstgarten ein verkappter Hinweis auf das Versteck des Psychopathen ist, der sich in einer stillgelegten Mostfabrik verbarrikadiert hat. Ähnlich indirekt ist die Ankündigung in Die Nibelungen, wo Kriem- hild von einer weißen Taube träumt, die von zwei schwarzen Raubvögeln attackiert wird. Aufgrund der Hell-dunkel-Symbolik können wir die Tau- be mit dem blonden, stets weiß gewandeten Siegfried und die Raubvögel mit der dunkelhaarigen Brunhild und der zwielichtigen Gestalt des Ha- gen assoziieren, der in schwarzer Rüstung auftritt. Die beiden führen denn auch ein Komplott aus, das in der Ermordung Siegfrieds gipfelt. Hellsichtige Träume können auch Handlungsanweisungen enthalten, deren Befolgen die Übermittlung der relevanten Information erst ermög- licht. Träume als Botschaften Verstorbener funktionieren oft auf diese Wei- se. So führt in Herr Arnes Schatz die ermordete Berghild ihre Schwester Elsalill im Traum in die Küche eines Gasthauses. Nach dem Aufwachen verspürt Elsalill den Drang, sich dort als Küchenhilfe anzudienen. Durch diese Tätigkeit, die es ihr ermöglicht, die Gespräche in der Gaststube zu be- lauschen, erfährt sie, dass ihr Liebhaber die Schuld am Tod ihrer Schwester trägt. Und in Lara Croft: Tomb Raider wird die Titelheldin von ihrem verstorbenen Vater ebenfalls im Traum an einen relevanten Ort gelotst, das Versteck des «magischen Auges», mit dessen Hilfe sie gegen das Komplott des Bundes der Erleuchteten vorgehen kann. Gehen prophetische Träume immer in Erfüllung? An diesem Punkt muss die Zukunftsgewissheit, von der oben die Rede war, zumindest präzisiert werden. Die unterschiedlichen Strategien der Beglaubigung geben keine Garantie für die Erfüllung der Prophezeiung. Sie bewirken lediglich, dass die Unheilsverkündung ernst genommen wird und die von ihr ausgehen- de Bedrohung als tatsächlich gegeben erscheint. Die Möglichkeit, dass es einzelnen Figuren gelingt, ihr vorausbedeutetes Schicksal doch noch abzu- wenden, bleibt bestehen. Ja, der Reiz dieser Konstellation besteht mitunter genau darin, eine Katastrophe heraufzubeschwören, die durch den Hel- den oder die Heldin – oft erst in letzter Minute – verhindert werden kann. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 349 Dies ist etwa in End of Days oder Total Recall der Fall. Der entschei- dende Hinweis, wie das Unheil abzuwenden sei, findet sich manchmal in den prophetischen Träumen selbst. So stellt sich vor dem Finale von The Seventh Sign heraus, dass der im Traum wiederholt ausgesprochene Satz «Will you die for him?» an die Protagonistin gerichtet war, sie sich also opfern muss, um die Welt zu retten. Und in Murders in the Rue Morgue (USA 1971) gelingt es Madeleine am Schluss, den Serienmörder unschäd- lich zu machen, weil sie dank ihres hellsichtigen Traums bereits weiß, wie er sie angreifen wird. Das Unheil kann unter Umständen also vereitelt werden. Oder es trifft anders ein als erwartet. So in Fog Closing In, wo wir aufgrund des pro- phetischen Traums zwar darauf vorbereitet sind, dass in Marys Schlafzim- mer etwas Schlimmes geschehen wird, jedoch keinesfalls damit rechnen, dass sie ihren Ehemann umbringt; oder in The Navigator, wo sich der in mehreren Traumvisionen angekündigte Sturz vom Kirchturm zwar nicht verwirklicht, Griffin und sein Bruder aufgrund ihrer Pesterkrankung aber dennoch dem Tod geweiht sind. Die Vorwegnahme künftiger Ereignisse ist in prophetischen Träumen also mit gewissen Unsicherheiten behaftet, was für die Aufrechterhaltung der Spannung von zentraler Bedeutung ist. Um unseren kleinen Parcours abzurunden, bietet sich zum Schluss ein Blick auf einige Sonderfälle an: erfundene, erst im Sequel verwirklichte und nur scheinbare Traumprophezeiungen. Der erste Fall begegnet im Musical Fiddler on the Roof (USA 1971), wo der Protagonist einen Un- heil prophezeienden Traum erzählt, der allerdings frei erfunden ist und einzig dazu dient, seine abergläubische Frau davon abzubringen, die ge- meinsame Tochter mit dem reichen, aber ungeliebten Metzger zu vermäh- len. In The Fly (USA 1986) wird die schwangere Veronika notfallmäßig ins Spital eingeliefert und bringt eine scheußliche Fliegenlarve zur Welt. Kurz darauf erwacht sie und ist erleichtert, dass das Erlebnis nur ein Alb- traum war. In The Fly II (USA 1989) stellt sich jedoch heraus, dass ihr Sohn tatsächlich Insektengene besitzt, die wie bei seinem Vater eine Mutation zur Fliege herbeiführen. Und in den Kriminalfilmen Manhandled und Murder Rock (I 1984) scheinen die Mordtaten durch Traumvisionen an- gekündigt, bis sich herausstellt, dass der Psychiater einen Traumbericht missbraucht hat (Manhandled) respektive die träumende Figur ihre eige- ne Schuld unbewusst auf jemand anderen projiziert (Murder Rock). Die prophetische Traumfunktion kann im Sinn einer falschen Fährte also auch dort mobilisiert werden, wo sie gar nicht gegeben ist. 350 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 5.1.6 Entrückung in eine andere Welt In gewisser Weise bringt jede Traumsequenz einen Wechsel des fiktiona- len Universums mit sich – vom objektiv-realen der diegetischen Wachwelt zum subjektiv-irrealen der figurengebundenen Traumwelt (vgl. Kapitel 3.1.2.1). Nicht in jedem Fall erscheint die Traumsphäre jedoch als ausge- wachsener Kosmos, der eine gewisse Kontinuität und «Ganzheit» auf- weist. Charakteristisch für Traumsequenzen ist vielmehr, dass sie nur aus einzelnen einprägsamen Szenen oder Bildern und Tönen bestehen, die bruchstückhaft wirken und lediglich im Verhältnis zum Kontext der Wach- welt Sinn ergeben. Filme, in denen die Traumwelt genauso große oder gar deutlich größere Konsistenz und Kontinuität aufweist als die Wachwelt, gibt es dennoch. Sie sollen in diesem Kapitel im Vordergrund stehen.25 Vereinzelt kommt es vor, dass die Traumwelt fast die ganze filmische Erzählung umfasst und lediglich zu Beginn und am Ende durch diegetisch reale Szenen gerahmt ist. Bekannte Beispiele dieser Konstellation sind The Wizard of Oz (USA 1939), The Woman in the Window (USA 1944) oder La città delle donne (I 1981). Es kann sogar vorkommen, wie etwa in His Prehistoric Past (USA 1914), dass lediglich eine kurze Aufwachszene am Schluss die gesamte Handlung ins Traumreich verweist. Im Kapitel zum retroaktiven Modus (3.2) haben wir bereits gesehen, dass erst im Nachhin- ein gekennzeichnete Träume oft beträchtlichen Raum einnehmen. Von Be- ginn an markierte Träume können sich jedoch genauso über den Großteil eines Films erstrecken wie der bereits erwähnte The Wizard of Oz, aber auch Alice in Wonderland (USA 1915), Sherlock Jr. (USA 1924) oder Juliette ou la clef des songes (F 1950) zeigen. In diesen Fällen wird die Tatsache, dass die Traumsphäre ein eigenständiges Universum darstellt, meist bereits beim Übertritt signalisiert, der häufig explizit und auffällig als Grenzüberschreitung inszeniert ist (Abb. 52a–d). Ist die diegetisch reale Ebene auf die Rolle beschränkt, einen Rahmen oder eine Folie zu bilden, vor deren Hintergrund sich die Traumwelt ent- falten kann, so versteht es sich von selbst, dass nicht die Wach-, sondern die Traumwelt als vollwertiges Universum erscheint, handelt es sich bei ihr doch um die einzige Welt, die der Film – über das bloße Andeuten einer Referenz hinaus – im Detail konstituiert. Vollwertigkeit, Konsistenz und Kontinuität dürfen jedoch nicht mit Kohärenz und (realweltlicher) Logik 25 Für Fiktionen, die mehr als eine Welt etablieren, wurde in der Erzähltheorie der Begriff der «multiplen Diegese» geprägt. Jeden Film, der eine Traumsequenz aufweist, so zu bezeichnen, scheint mir allerdings nicht gerechtfertigt, da die figurale Innenwelt, wie erwähnt, nur selten als ausgewachsener Kosmos mit ausgeprägtem «Eigenleben» er- scheint. Ist dies – wie in den Beispielen dieses Kapitels – der Fall, so scheint mir die Bezeichnung hingegen, zumindest bei weiter Auslegung, angebracht. Zum Sonderfall multipler Diegesen mit physischer Interaktion vgl. Brütsch 2008. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 351 52a–d Einstieg in die Traumwelt als augenfällige Grenzüberschreitung in Juliette ou la clef des songes verwechselt werden. Die Traumwelten der meisten genannten Filme sind räumlich inkohärent und folgen einer absurden Logik; dennoch erschei- nen sie uns als ausgewachsene Universen, die ein Ganzes bilden und ihre mitunter disparaten Elemente zusammenzuhalten vermögen. Kürzere Traumsequenzen erreichen in einzelnen Fällen einen ähnli- chen Effekt, aufgrund ihrer detailärmeren Ausgestaltung allerdings nur, wenn sie bei den Zuschauern bereits vorhandene Weltvorstellungen mobi- lisieren. Diese können dem intertextuellen Genrewissen entstammen wie in der Gesellschaftskomödie Heinz im Mond (D 1934), die im Deutsch- land der (damaligen) Gegenwart spielt, in der einleitenden Traumsequenz in einer Art Genrezitat jedoch auf ein historisches Westernuniversum ver- weist. Oder sie beruhen auf allgemeineren kulturellen Vorstellungen wie der Paradiestraum in Chaplins The Kid (USA 1921).26 Ein zusammenhängendes Universum entsteht auch dann, wenn uns eine Reihe von Traumepisoden immer wieder in dieselbe Fantasiewelt ent- führen und dort parallel zur Wachwelt einen zweiten Handlungsstrang 26 Vgl. hierzu Wulff 1998: 63–68. Betrachtet man die Bibel nicht als heilige Schrift, sondern als literarisches Erzeugnis, so kann man auch hier von intertexuellen Genrekonventio- nen sprechen. 352 5 Narrative Funktionen des Filmtraums a b c 53a–i Kontrast zwischen Wach- und Traumwelt: von der modernen Metropole ins ländliche Mittelalter (Brigadoon, a–c) … etablieren. Neben Träumen im eigentlichen Sinn (Les belles de nuit, F/I 1952; La nuit fantastique, F 1942; The 5000 Fingers of Dr. T, USA 1953) sind es oft Tagträume (Billy Liar, GB 1963; Heavenly Creatures, NZ 1994; The Secret Life of Walter Mitty, USA 1947) oder eine Mischung aus beiden (Morgan – A Suitable Case for Treatment, GB 1966; Up the Sandbox, USA 1972), die eine fortlaufende Serie konstituieren. In welchem Verhältnis stehen diese Traumuniversen zur diegetisch realen Welt? Wie unterscheiden sie sich – abgesehen vom subjektiv-irrealen Status, dessen Markierungsformen wir in Kapitel 3.1.2.1 bereits behandelt haben – von ihr? Die Traumhandlung ist nicht selten in einer anderen Epo- che (His Prehistoric Past; Brigadoon, USA 1954; Les belles de nuit; Heinz im Mond; Due occhi diabolici, I/USA 1990) und/oder einer ande- ren geografischen Region angesiedelt (Brigadoon, Abb. 53a–c; Les belles de nuit; Heinz im Mond; Der Kongress der Pinguine, CH 1993; Passion of Mind, USA 2000). Häufig ist mit dem Übertritt in die Traumwelt zu- dem ein Genrewechsel verbunden (The Wizard of Oz; The Secret Life of Walter Mitty; Heinz im Mond; The 5000 Fingers of Dr. T.; Alice in Wonderland), wobei Musicalelemente besonders häufig zu beobachten sind. Reales Geschehen versus Fiktion ist ein weiterer Gegensatz, mit dem 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 353 d e f … vom kleinbürgerlichen Elternhaus in die High So- ciety (Billy Liar, d–f) … bisweilen gearbeitet wird, so etwa in Sherlock Jr., wenn sich der Protago- nist in den Spielfilm hineinträumt, den er im Kino gerade vorführt. Die fremde Region oder Epoche und das andersartige Genre gehen oft einher mit weiteren Eigenarten des Traumuniversums, dessen Bewohner ihre Erinnerung verloren haben (Juliette ou la clef des songes), nur alle hundert Jahre zum Leben erwachen (Brigadoon) oder Tiere mit menschli- chen Eigenschaften darstellen (Alice in Wonderland; The Wizard of Oz; Der Kongress der Pinguine). Ein auffälliger Kontrast zur Wachwelt wird häufig auch dadurch etabliert, dass die Hauptfigur im Traum eine ganz andere – meist viel angesehenere – soziale Stellung einnimmt (Les belles de nuit; Billy Liar; The Secret Life of Walter Mitty; Passion of Mind; Heavenly Creatures; Abb. 53d–i). Bei aller Differenz gibt es jedoch immer bedeutungsvolle Korrespondenzen zwischen den beiden Welten, wobei die häufigste darin besteht, dass nicht nur das Traum-Ich, sondern auch andere Figuren aus der realen Welt unter anderen Vorzeichen wieder aufkreuzen. Wie wird das Nebeneinander zweier alternativer Universen dramatur- gisch genutzt? Welche Dynamik entwickelt sich im Hin und Her zwischen 354 5 Narrative Funktionen des Filmtraums g h i … und vom beengenden Alltag ins feudale «Borovnia» (Heavenly Creatures, g–i) rahmender und gerahmter Welt? In The Secret Life of Walter Mitty besteht zu Beginn eine große Kluft zwischen Mittys banalem Dasein als schüchternes Muttersöhnchen und Autor billiger Bahnhofsromane und seiner Fantasiewelt, in der er hoch zu Ross, im Kampfjet, am Operations- tisch oder auf stürmischer See eine Heldentat nach der anderen verübt. Als er jedoch unverhofft in die kriminellen Machenschaften eines Verbre- cherrings verwickelt wird, nimmt die reale Welt zusehends Züge seiner Träumereien an. Gleichzeitig wird Mitty durch jede überstandene Gefahr selbstbewusster und nähert sich so den Helden seiner (Tag-)Träume an, bis es ihm am Schluss gelingt, die Verbrecher zu überführen und sich der Vereinnahmung durch seine Mutter zu entziehen.27 Auch Claude in Les belles de nuit zieht sein nächtliches Traumda- sein als angesehener Musiker, Freiheitskämpfer und Frauenheld in fernen Kontinenten und Epochen seiner realen Existenz als erfolgloser und ein- samer Komponist vor, bis er gegen Ende des Films merkt, dass das wahre 27 Sherlock Jr. funktioniert nach einem ähnlichen Muster. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 355 Glück in Form von Suzanne im wirklichen Leben die längste Zeit zum Greifen nah war. Dass darauf gleich der musikalische Durchbruch folgt, stellt eine Art Belohnung für diese Einsicht dar und nähert die beiden Wel- ten wie in The Secret Life of Walter Mitty im Finale einander an. In Billy Liar ist der Kontrast zwischen realem Verhalten und ima- giniertem Selbstbild nicht minder groß. Billy sieht sich in Tagträumen abwechselnd als Heeresführer, Casanova und erfolgreicher Schriftsteller, während er in Tat und Wahrheit ein kümmerliches Dasein als Angestellter eines Bestattungsunternehmens fristet. Dank seiner überbordenden Fanta- sie und der Neigung, seinen Mitmenschen Lügen aufzutischen, gerät er im- mer mehr in Konflikt mit seinem Umfeld. Im Gegensatz zu den Protagonis- ten in The Secret Life of Walter Mitty und Les belles de nuit gelingt es ihm bis zum Schluss jedoch nicht, sich von seiner Ersatzwelt zu lösen und im realen Leben Verantwortung zu übernehmen. Als Zeichen der Unreife bleibt die Diskrepanz zwischen den beiden Welten unvermindert bestehen. Nicht der Flucht vor der Realität, sondern im Gegenteil der Ausei- nandersetzung mit ihr dienen die Tag- und Nachtträume, die in Up the Sandbox die Handlung immer wieder unterbrechen. Margaret steckt als zweifache Mutter und Hausfrau an der Seite eines erfolgreichen Akade- mikers tief in einer Sinnkrise. Die überdrehten und teilweise absurden Traumszenen, die sich um das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und das Muttersein drehen, geben nicht nur Einblick in die Psyche der Haupt- figur, sie fungieren auch als ironischer Kommentar zu den gesellschaftli- chen Verhältnissen, in denen sie lebt. Dass die Situationen in der Fantasie immer wieder aus dem Ruder laufen, während die Protagonistin in der Wachwelt ihren Frust in sich hineinfrisst, lässt auch hier eine Spannung zwischen den beiden Ebenen entstehen, die sich in Margarets Zusammen- bruch schließlich entlädt. Eine noch größere Spannung zwischen Alltag und Fantasiewelt entsteht in Heavenly Creatures, einem Film, der die verhängnisvolle Freundschaft der Teenager Pauline und Juliet nachzeichnet, die sich von ihren Eltern zunehmend unverstanden fühlen und sich einbilden, nur zu- sammenbleiben zu können, wenn sie Paulines Mutter umbringen. Dem als einengend empfundenen Leben in der neuseeländischen Provinz der 1950er-Jahre setzen die beiden «Borovnia» entgegen, eine Traumwelt voll von Naturschönheit und aristokratischen Edelleuten. In die imaginierte Idylle mischen sich jedoch immer mehr gewalttätige Elemente, sodass die gemeinsame Vorstellungswelt der Mädchen ihre schreckliche Tat schon früh ankündigt. Die Fantasiewelt dient hier vorerst, wie in Billy Liar, der Flucht vor der Realität, wird dann aber zur Obsession, die mit dramati- schen Folgen auf das reale Handeln übergreift. 356 5 Narrative Funktionen des Filmtraums Die Diskrepanz zwischen Wach- und Traumwelt kann auch für ideo- logisch-politische Zwecke genutzt werden. Im didaktischen Kurzfilm De­ mokratie in Gefahr von Kurt Früh (CH 1949) wird Jakob Rüeggs Alb- traum von einem totalitären Staat der Schweizer Demokratie gegenüber- gestellt. Und im Dialektschwank Wenn d’Fraue wähle (CH 1958) träumt der ehemalige Wurstfabrikant Schwarteler, in seiner Gemeinde Frauwil sei das Frauenstimmrecht eingeführt worden – mit verhängnisvollen Folgen: Die Frauen vernachlässigen ihren Haushalt, Ehepaare verkrachen sich, weil sie für unterschiedliche Parteien kandidieren, Scheidungen drohen und so weiter. In seiner Präambel behauptet der Film zwar, er nehme in der Frage des Frauenstimmrechts eine neutrale Haltung ein, die chaoti- schen Zustände, die in Schwartelers Albtraum mit der politischen Gleich- berechtigung verbunden sind, lassen jedoch keine Zweifel über seine reak- tionäre, frauenfeindliche Position.28 In allen bisher besprochenen Filmen steht außer Zweifel, welche Welt die reale und welche die erträumte ist. Dass dies nicht zwingend so sein muss, zeigt Passion of Mind (USA 2000), in dem die Protagonistin Marty zwei unterschiedliche Leben führt, die ihr gleichermaßen real vorkommen (das eine als unabhängige Karrierefrau in New York, das andere als allein- erziehende Mutter in Südfrankreich). Der Wechsel zwischen den beiden Existenzen geschieht jeweils im Schlaf, sodass beim Erwachen die andere Welt als Traum erscheint. Erst am Schluss stellt sich heraus, dass Marty als Kind in Südfrankreich gelebt und dort auf tragische Weise ihre Mutter verloren hat, sodass der französische Handlungsstrang rückwirkend als innere Projektion gelesen werden muss, in der sie die Rolle ihrer verstor- benen Mutter übernimmt, um den traumatischen Verlust zu verdrängen. Das Abhängigkeits- und Einbettungsverhältnis der beiden gleichwertig erscheinenden Welten wird in diesem Spezialfall erst am Ende geklärt. 5.1.7 Evokation von Atmosphäre In Kapitel 3.1.2.4 haben wir gesehen, dass sich Traumsequenzen aufgrund ihrer Gestaltung oft deutlich vom diegetisch-realen Kontext abheben. Die formalen Eigenheiten (Zeitlupe, Verzerrungen, spezielle Licht-, Farb- und Toneffekte) dienen einerseits der Traummarkierung, bewirken anderer- seits häufig, dass eine besondere Atmosphäre entsteht. Hinzu kommt, 28 Am 1. Februar 1959 wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz in einer Volksab- stimmung mit 67% Neinstimmen abgelehnt. Wenn d’Fraue wähle war als Beitrag zur Abstimmungsdebatte geplant, konnte aus verschiedenen Gründen jedoch erst ein Jahr später fertiggestellt werden (vgl. Dumont 1987: 504). Zu einer Abstimmung mit positivem Ausgang kam es erst 1971. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 357 dass sich auch in Sequenzen mit «schleichender» oder retroaktiver Irrea- lisierung aufgrund der unterschwellig gesetzten Irritationsmomente eine spezifische Stimmung entfaltet. Die atmosphärische Funktion ist wohl fast so verbreitet wie die der psy- chologischen Charakterisierung, verträgt sie sich doch gut mit den meisten anderen Funktionstypen. Insbesondere bei Traumsequenzen, die aufgrund ihrer Rätselstruktur, ihres prophetischen oder ambivalenten Charakters vor- erst geheimnisvoll-andeutend erscheinen sollen, wird oft mit Stimmungsef- fekten gearbeitet. Aber auch die sinnbildliche Darstellung des Hauptkonflikts kann durch eine entsprechende atmosphärische Komponente unterstützt werden. Und die psychologische Charakterisierung, bei der die Gefühlslage der träumenden Figur eine wichtige Rolle spielt, ist ebenfalls prädestiniert für Gestaltungsformen, die eine passende Stimmung generieren. Aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit soll die Evokation von Atmo- sphäre im Folgenden lediglich anhand von vier besonders markanten Beispielen veranschaulicht werden. Iwans Kindheit von Andrej Tarkow- ski (Iwanowo Deztwo, SU 1962) beginnt in sonnenüberfluteter Sommer- landschaft. Ein Junge betrachtet fasziniert ein Spinnennetz, rennt einem Schmetterling nach und schwebt zu seiner Überraschung und Freude plötzlich selbst durch die Luft bis hoch über die Baumwipfel. Wieder auf dem Boden sieht er seine Mutter, die gerade vom Brunnen kommt, läuft zu ihr und trinkt aus ihrem Wassereimer. Gerade als er ihr erzählen will, dass er einen Kuckuck gesehen hat, wird er durch einen lauten Knall aus dem Schlaf gerissen. Die Traumszene ist in helles, weiches Licht getaucht; auf der Tonspur dominieren Tiergeräusche, das Lachen des Jungen sowie har- monische Musik; und die Kamera, die dem Jungen leichtfüßig folgt, wirkt beschwingt und schwerelos. Im Vordergrund stehen hier nicht einzelne Handlungen oder Symbole, sondern die Atmosphäre eines unbeschwer- ten Sommertags oder, noch weiter gefasst, einer glücklichen Kindheit. Die anschließende Wachszene offenbart eine Realität, die der unbe- kümmerten Sommeridylle diametral entgegensteht: Iwan springt von sei- nem Lager in einer verlassenen Windmühle auf, späht nach draußen und hastet durch ein von Leichen und Wrackteilen übersätes Feld. Die Stimmung ist kalt, düster und bedrohlich: Rauchschwaden hängen in der Luft, nervöse Basstöne begleiten die Szene und visuell dominieren harte Hell/dunkel- Kontraste sowie markante Untersichten, die die Diagonalen betonen. Auch hier geht es um eine allgemeine Atmosphäre von Krieg und Zerstörung und noch nicht um die Vermittlung spezifischer Informationen über den bewaffneten Konflikt. Noch vor dem Vorspann werden wir in Iwans Kind­ heit mit einer Traum- und einer Wachszene konfrontiert, die stimmungs- geladen und atmosphärisch dicht wirken und in ihrer Gegenüberstellung 358 5 Narrative Funktionen des Filmtraums a b c d 54a–e Kontrast der Stimmungen bei der Traumeröffnung (a–c) und anschließen- den Wachszene (d–e) in Iwans Kindheit e ein Hauptthema des Films – die Zerstörung kindlicher Unschuld durch den Krieg – auf emblematische Weise vorwegnehmen (Abb. 54a–e). Ganz ähnlich gelagert ist der Traum in Kurt Frühs Demokratie in Gefahr, der die Horrorvision einer Diktatur mitten im demokratischen «Musterland» Schweiz inszeniert. Auch hier geht es darum, mittels Ver- zerrungen, Hell/dunkel-Kontrasten, «schiefen» Cadragen und bedrohli- cher Musik eine bestimmte, universell verständliche Atmosphäre zu eta- blieren (die des orwellschen Überwachungsstaates) und in der Folge mit ihrem Gegenteil (der direkten Demokratie) zu kontrastieren. 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 359 Im Gegensatz zu den ersten beiden Beispielen kommen in den Traum- und Erinnerungssequenzen von Midnight Cowboy, den ich im Zusammenhang mit der Funktion der psychologischen Charakterisierung bereits erwähnt habe, eine Reihe konkreter Ereignisse aus Joes Vergangen- heit zur Darstellung. Trotzdem steht auch hier die vermittelte Stimmung – eine Mischung aus Wehmut und Schmerz ob erlittener Demütigungen – im Vordergrund, denn die Handlungen und Dialogbruchstücke sind zu fragmentarisch, als dass genau nachvollzogen werden könnte, was sie zu bedeuten haben. Wichtig ist einzig die Erkenntnis, dass Joes Aufbruch nach New York auch eine Flucht vor einer schwierigen Vergangenheit ist, die ihn immer wieder einzuholen droht. In Robert Altmans Three Women (USA 1976), um ein viertes Beispiel zu erwähnen, in dem die atmosphärische Funktion dominiert, speist sich die längere Traumsequenz maßgeblich aus Bildern des realen Handlungs- verlaufs, die stark verfremdet und so gestaltet sind, dass sie sich überlagern und ineinander fließen. Die psychologische, subjektivierende Dimension, die bei direkten Verweisen auf Erlebnisse in der Wachrealität normalerweise im Vordergrund steht, wird jedoch insofern unterlaufen, als die Figurenan- bindung vorerst unklar bleibt und auch Impressionen von Geschehnissen Eingang in den Traum finden, die sich erst später ereignen werden. Trotz dieses Geflechts von Bezügen wirkt die Sequenz dank ihrer atmosphärisch dichten Gestaltung nicht primär auf einer kognitiven, sondern vielmehr auf einer sinnlich-emotionalen Ebene, sodass man als Zuschauer eher in eine kontemplative Haltung verfällt. Begünstigt wird dies durch die Rolle des Traums in der übergeordneten Erzählstruktur von Three Women. Diese weist drei klare «Bruchstellen» auf, die eine plötzliche Charakterwandlung der beiden Hauptfiguren mit sich bringen. Etwa in der Mitte des Films un- ternimmt Pinky einen Selbstmordversuch und liegt danach einige Zeit im Koma. Als sie wieder erwacht, hat sie sich vom kindlich-braven Mädchen in eine selbstbewusste, teils arrogante junge Frau verwandelt. Ihre Mitbe- wohnerin Mildred, die zuvor die dominante Person war, ordnet sich ihr nun unter, sodass die Rollen der beiden vertauscht erscheinen. Nach der zweiten Zäsur, die durch den Traum markiert wird, kehrt sich das Verhält- nis wieder um, wobei Pinky nun nicht nur kindlich und verletzlich, son- dern zunehmend auch verstört wirkt. Die dritte und letzte Wendung folgt auf eine Ellipse, nach der sie wieder normal erscheint, sich jedoch plötzlich als Tochter von Mildred ausgibt und von ihr auch so behandelt wird. Das Spezielle an Three Women ist, dass der Film die plötzlichen Wand- lungen der Identitäten nicht nur nicht erklärt, sondern so gestaltet und insze- niert ist, dass er – im Gegensatz zu einem Film wie Lost Highway (F/USA 1996) – die Zuschauer nicht besonders dazu anregt, nach Erklärungen zu su- 360 5 Narrative Funktionen des Filmtraums chen. Deshalb kann die Traumsequenz, obwohl sie an neuralgischer Stelle platziert ist und zwei Erzählphasen verbindet, die nach realistischen Normen nicht kompatibel erscheinen, als atmosphärisches Intermezzo fungieren, das zur lyrisch-traumhaften Grundstimmung der Gesamterzählung beiträgt. Die atmosphärische Wirkung ist oft ein eher sekundärer Effekt, der die Hauptfunktion der psychologischen Charakterisierung, Versinnbild- lichung, Prophezeiung oder Verrätselung unterstützt. Die vier erwähnten Beispiele zeigen jedoch, dass sie – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Rezeptionshaltung – durchaus auch im Vordergrund stehen kann. 5.1.8 Parodie und Selbstreflexion Die bisher besprochenen Funktionen haben gezeigt, dass Traumsequenzen in der Regel nicht für sich alleine stehen, sondern mit anderen Erzählseg- menten eng verflochten sind: mit der Hauptfigur und ihrem Handeln ganz allgemein (psychologische Charakterisierung), mit einem vergangenen oder zukünftigen Ereignis (Verrätselung, Aufdeckung und Antizipation) oder mit dem zentralen Thema des Films (symbolische Konfliktdarstel- lung). Selbst die Entrückung in eine andere Welt isoliert das Traumgesche- hen nicht vollständig, da meist Verbindungen zur Wachwelt bestehen. Bezüge und Referenzen spielen auch in der letzten meiner acht Funk- tionskategorien eine wichtige Rolle. Allerdings geht es bei Parodie und Selbstreflexion nicht mehr nur um werkimmanente «Querverbindungen», sondern um autoreferentielle und intertextuelle Verweise, die durch das Offenlegen von Erzähl- und Darstellungskonventionen auf eine überge- ordnete Metaebene verweisen. Die diesbezüglichen Möglichkeiten sind zahlreich, weshalb es im Folgenden lediglich darum gehen kann, einige Varianten zu benennen. Eine Erste stellt das Zitat oder die Parodie einer Traumsequenz dar. Dieser Fall begegnet etwa in Mel Brooks’ High Anxiety (USA 1977), einer Persiflage verschiedener Hitchcock-Klassiker, die sich neben zahlreichen anderen bekannten Szenen auch Scotties Albtraum aus Hitchcocks Vertigo (USA 1958) vornimmt; oder in Stardust Memories von Woody Allen (USA 1980), der mit einer Travestie von Guidos Tunneltraum aus Otto e mezzo beginnt und die Autokolonnen durch Zugwaggons, den Mittelmeerstrand durch eine Müllhalde und Marcello Mastroianni durch Woody Allen ersetzt. Eine Traumsequenz kann nicht nur eine andere Traumsequenz, son- dern auch ein Genre oder die Ästhetik einer bestimmten Epoche zitieren. Die bereits erwähnte Anfangssequenz von Heinz im Mond, die sowohl das Westerngenre als auch die Stummfilmästhetik imitiert, stellt ein schö- nes Beispiel dar, genauso wie Raising Arizona (USA 1987), wo mit dem 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 361 a b c d e f g h 55a–h Traumszenen als Genrezitate: Westernheld in Heinz im Mond (a–b); Mad Max-Figur in Raising Arizona (c–d); Zombies (e), Werwölfe (f), Freddy-Krüger-Klin- gen (g) und Star Wars-Outfit (h) in Dreamscape lone biker of the Apocalypse eine Gestalt dem Traum des Protagonisten ent- steigt, die direkt aus George Millers Mad Max-Trilogie29 stammen könnte (Abb. 55a–d). Und Dreamscape bringt es fertig, in einer einzigen Traum- 29 Mad Max (AU 1979); Mad Max II (AU 1981); Mad Max III: Beyond Thunderdome (AU 1985). 362 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 56 Parodie der Eingangs- markierung in Bananas: Die traumeinleitenden Harfenklänge entpuppen sich als Fingerübung eines Hotelangestellten. sequenz gleich auf vier populäre Horror- und Science-Fiction-Subgenres anzuspielen: Zombie-, Werewolf-, Nightmare on Elm Street- und Star Wars-Filme (Abb. 55e–h). Neben bestimmten Szenen, Figuren oder Genres können auch ein- zelne Techniken der Traumdarstellung parodiert und somit als Konven- tionen entlarvt werden. In Woody Allens Bananas (USA 1971) erhält Möchtegern-Revoluzzer Fielding Besuch von einem Boten, der ihm eine Einladung zum Abendessen beim Präsidenten überbringt. Sobald sich der Bote entfernt hat, sinkt Fielding beeindruckt und gleichzeitig verwirrt auf sein Hotelbett und murmelt verträumt: «Dinner with the President!» Dabei nähert sich die Kamera langsam seinem Gesicht, das einen zuneh- mend entrückten Eindruck macht, und auf der Tonspur setzen harmoni- sche Harfenklänge ein. Dann folgt ein Sprung zurück in die Halbtotale, Fielding schaut sich fragend im Zimmer um und begibt sich, während die Harfenläufe immer virtuoser werden, zum Schrank, reißt die Tür auf und bringt einen Hotelangestellten an der Harfe zum Vorschein, der sich ent- schuldigt und erklärt, er habe sonst keinen Ort zum Üben. Die Konventi- on der Akzentuierung des Traumeinstiegs durch extradiegetische – und vorzugsweise harfen-, glocken- oder streicherbestückte – Musik wird hier zum Anlass für einen Gag, der auf ihrer überraschenden Diegetisierung und der unplausiblen Motivierung der Situation beruht (Abb. 56). In Sherlock Jr. wird, wie in Kapitel 3.1.1 bereits beschrieben, die im Stummfilm verbreitete Konvention des Herauslösens der träumenden aus der schlafenden Figur insofern subtil parodiert, als sich nicht nur die Figur, sondern auch ihr Hut verdoppelt und das Traum-Ich beim Versuch, die schlafende Figur zu wecken, aufgrund seiner doppelbelichtungsbe- dingten Körperlosigkeit durch sie hindurchgreift. Zudem führt Keatons Komödie die in Traumsequenzen häufigen Effekte räumlicher Inkohärenz ad absurdum. Sobald der traumwandelnde Titelheld in den Film eingestie- gen ist, den er gerade vorführt, wechselt die Szenerie mit jeder Bewegung, die er macht, sodass er übergangslos von einem beschaulichen Garten auf 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 363 eine befahrene Straße, einen steilen Berghang, in einen Löwenkäfig und auf einen Fels in offener Meeresbrandung versetzt wird – wobei neben der traumtypischen Destabilisierung der Raumkohärenz auch das Montage- verfahren des match-on-action aufs Korn genommen wird.30 Aufschlussreich bezüglich der Offenlegung filmischer Traumkonventi- onen sind auch zwei Szenen in Les belles de nuit. Claude, der zwischen trister Wach- und exaltierter Traumwelt hin und her pendelt, ist sich nicht si- cher, ob er tatsächlich wach ist, als er zu nächtlicher Stunde die schöne Nach- barstochter Suzanne küsst. Erst als er auf einen Bezintank haut, der ein lautes Geräusch macht, ist er davon überzeugt, dass er nicht träumt. Umgekehrt ist es etwas später, als sich die Ereignisse in der Traumwelt plötzlich gegen ihn wenden, die Lautlosigkeit seines Polterns gegen denselben Tank, die ihn rea- lisieren lässt, dass er träumt und seinem Unglück durch Erwachen entfliehen kann. In unserem Zusammenhang sind die beiden Szenen vor allem deshalb interessant, weil es sich bei der Lautlosigkeit geräuschhafter Aktionen weni- ger um eine verbürgte Eigenschaft von Träumen als vielmehr um eine filmi- sche Darstellungskonvention handelt, die hier selbstironisch vorgeführt wird. Nebel, dicke Rauchschwaden und verschwommene Bilder sind wei- tere Gestaltungsmittel, die als Traumklischees gerne persifliert werden. In Train Ride to Hollywood (USA 1975) bekommt Harry zu Beginn einen Schlag auf den Kopf, worauf das Bild durch Rotation verschwimmt, bis es den Blick auf Harry wieder freigibt, der nun in anderer Kleidung am Boden liegt und in dichten Nebel gehüllt ist. «Wait a minute! What is all that stuff doing around me?», fragt er seinen Freund, der neben ihm kniet. «This is the fog. You can’t have a dream sequence without fog. It’s a dream rule», antwortet dieser lapidar. Dieser «Traumregel» zu gehorchen versucht auch Nick, Protagonist und Filmemacher in Tom di Cillos Living in Oblivion (USA 1995), einer augenzwinkernden Hommage ans unabhängige Low-Budget-Filmschaf- fen. Für den Dreh der Traumsequenz, die ansteht, haben seine Techniker ein Ungetüm von Rauchmaschine organisiert. Wegen diverser Fehlmanipula- tionen sondert es zuerst viel zu wenig, dann plötzlich viel zu viel Rauch ab, bis es schließlich explodiert, sodass die Sequenz ohne Nebel gedreht werden muss. Nick beruhigt sich mit der Tatsache, dass sie ja noch Tito, den Kleinwüchsigen, als Traumingredienz haben. Als dieser jedoch nach mehreren missglückten Takes den Bettel mit der Frage hinschmeißt, ob das Casten eines Zwergs das einzige Mittel sei, um einer Szene Traumcharakter zu verleihen, ist Nick kurz davor, den Dreh abzubrechen (Abb. 57a–c). 30 Ähnliche Sequenzen, allerdings nicht mit komischer, sondern eher poetischer Wirkung, finden sich in Maya Derens Experimentalfilmen At Land (USA 1944) und Meshes of the Afternoon (USA 1943). 364 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 57a–c Traumparodie in Living in Obli­ vion mit «expressionistisch» geformter Tür, Zwerg und künstlichem Nebel Neben der expliziten Thematisierung kann ein Traumeffekt auch durch unübliche Häufung ins Bewusstsein gerückt werden. So etwa die nach- trägliche Traummarkierung, die in An American Werewolf in London (USA/GB 1981), Abre los ojos, Living in Oblivion, Absolut (CH 2004) oder – besonders ausgeprägt – in Le charme discret de la bourgeoisie verdoppelt oder gar vervielfacht wird. Im letztgenannten Beispiel wird auf die verwirrende Verschachtelung selbstreflexiv hingewiesen, wenn Thévé- not nach dem Erwachen seiner Frau mitteilt: «J’ai rêvé que moi …, non, j’ai rêvé d’abord que Sénéchal révait que nous allions dans un théâtre, ensuite, que nous étions invité chez le Colonel et qu’il se disputait avec Raffael.» Manchmal sind es nicht nur Konventionen der Traumform, sondern auch des Inhalts und der Symbolik, die offengelegt werden. So stellt Hans J. Wulff bezüglich Chaplins The Kid fest, dass der Traum nicht allein zeigt, was der Tramp träumt, sondern auch, wie er das tut – in den Kategorien einer äußerst naiven, aus einer kindlich-christlichen Ikonographie gespeisten Weise. Die Engelsdarstellung verweist deutlich auf die Kultur von Kitschpostkarten und Buchillustrationen, auf einen besonde- ren Typus der Paradiesdarstellung. (Wulff 1998: 66) Die soziokulturelle Verortung der träumenden Figur wird hier also ge- schickt mit der Parodie einer «bürgerlich-christlichen Symbolwelt» (ebd.) verbunden. Um religiöse Ikonografie geht es auch in Bananas. Woody Allen be- zieht seinen Humor jedoch nicht aus der Übersteigerung, sondern dem Zu- sammenprall bedeutungsschwerer Symbolik mit einem banalen Alltags- konflikt. Fielding liegt bei seiner Psychoanalytikerin auf der Couch und 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 365 58a–e Bananas: Traum-Pathos ins Lä- cherliche gezogen erzählt ihr einen Traum, der ihn seit seiner Kindheit immer wieder heim- sucht. Er ist ans Kreuz genagelt und wird von sechs Gestalten in schwarzen Mönchskutten eine Straße hinuntergetragen. Plötzlich halten sie auf der Höhe eines geparkten Autos an, gehen ein Stück rückwärts und biegen in ein freies Parkfeld ein. In diesem Moment kommt ihnen jedoch eine zwei- te Kreuzigungsprozession zuvor und schnappt den Parkplatz weg, wor- auf die Träger ihre Kreuze mit den beiden «Märtyrern» ablegen und einen handgreiflichen Streit beginnen (Abb. 58a–e). Neben Form, Inhalt und Symbolik kann auch die Funktion des Traums Gegenstand der Reflexion oder Anlass für eine Parodie sein. In Flesh and Fantasy, Ich hab’ von dir geträumt (D 1943), Dead of Night oder Strange Illusion wird die Möglichkeit der Traumprophezeiung ex- plizit und teilweise kontrovers diskutiert. Besonders gewieft geht das erst- genannte Beispiel vor: Zu Beginn der Rahmenhandlung erklärt Doakes seinem Freund den Grund für seine Nervosität: Eine Wahrsagerin habe ihm eine bestimmte Tat prophezeit, und in der Nacht habe er geträumt, dass er genau diese Tat nicht ausführen werde. Nun sei er, der doch alles andere als abergläubisch sei, gezwungen, entweder an die Erfüllung von Wahrsagungen oder von Träumen zu glauben. Zwei der Geschichten, die 366 5 Narrative Funktionen des Filmtraums sein Freund ihm anschließend erzählt, treiben das ironische Spiel mit der Erfüllung von Prophezeiungen weiter auf die Spitze. Die bisher erwähnten Formen der Parodie und Selbstreflexion betreffen nur einzelne Aspekte des Filmtraums, sind also eher punktueller Natur. Grö- ßere Tragweite erreicht die generelle Verquickung von Film im Film und Traum im Film, insbesondere wenn sie ein Erzählsegment betrifft, das sich über fast die ganze Handlung erstreckt. Der bereits erwähnte Sherlock Jr. ist das wohl bekannteste Beispiel dieser Konstellation. Als nicht minder interessant und zugleich komplexer erweist sich Body Double von Brian De Palma (USA 1984). Der Film handelt von Jake, einem mäßig erfolgrei- chen Schauspieler, der in einem B-Movie als Vampir-Darsteller engagiert ist. Beim Dreh der Grabszene erleidet er aufgrund seiner Klaustrophobie einen Zusammenbruch und wird nach Hause geschickt. Dort überrascht er seine Freundin mit einem anderen Mann im Bett, sodass er nach dem Rückschlag im Beruf auch privat in eine Krise gerät. Das Unglück währt jedoch nicht lange, denn bald kommt er nicht nur zu einer luxuriösen neuen Bleibe, son- dern verliebt sich auch in die neue Nachbarin, die sich seinem Blick durchs Fernrohr in aufreizender Pose darbietet. In der Folge überstürzen sich die Ereignisse, die Nachbarin wird ermordet, Jake von der Polizei verdächtigt, dann aber dank entlastender Zeugenaussagen wieder entlassen. Schließlich macht er sich selber daran, den Mörder zu suchen, kommt ihm nach zahlrei- chen Wendungen auf die Schliche, wird beim Showdown jedoch in ein aus- gehobenes Grab gestoßen, wo er erneut einen klaustrophobischen Anfall erleidet. «Cut! Get him out of there!» ertönt nun plötzlich wieder die Stim- me des Regisseurs und die Lichter des Studios gehen an. Wie zu Beginn will der Regisseur Jake nach Hause schicken, dieser reißt sich jedoch zusammen, steigt wieder in die Studio-Nachbildung des Grabs und befindet sich erneut im Kampf mit dem Mörder, der schließlich in den Fluten eines reißenden Flusses landet. Nach einer Schwarzblende sind wir zurück im Studio, nun jedoch wieder beim Dreh des Vampirfilms, wobei verschiedene Figuren aus der vorgängigen Handlung jetzt als Mitdarsteller ins Bild kommen. Hat Jake die ganze Mordgeschichte im Moment seines klaustrophobi- schen Anfalls nur geträumt und dabei seine Schauspielkolleginnen in die Traumhandlung eingeflochten? Dann hätte er allerdings im Vampiroutfit und nicht in Jeans und Lederjacke – der Kleidung während des Show- downs – erwachen müssen, als die Studiolichter angingen. Ist er gar nicht Darsteller des Vampir-, sondern des Kriminalfilms, der zunächst als reale Handlung ausgegeben wurde? Dann stellt sich die Frage, was wir mit dem Dreh des Vampirfilms machen, mit dem die Handlung beginnt und endet. Spielen sich diese Szenen nur in Jakes Vorstellungswelt ab? Oder sind sie 5.1 Sinnhaftigkeit und Funktionalität der Traumdarstellung 367 Teil des Kriminalfilms im Film? Body Double ist bewusst so gestaltet, dass sich seine Doppelbödigkeit nicht auflösen lässt. Für unseren Zusammen- hang ist De Palmas Film vor allem deshalb interessant, weil beim selbst- reflexiven Spiel mit den Erzählebenen die Traumoption mit der Film-im- Film-Option konkurriert, ohne dass eine definitive Klärung möglich wäre.31 Filmbusiness und Traum werden auch in Alice in Movieland von Jean Negulesco (USA 1940) miteinander verquickt. Alice, Siegerin eines Schönheitswettbewerbs, reist nach Hollywood in der Hoffnung, Filmstar zu werden. Nach zahlreichen Rückschlägen scheint sie dank einer glück- lichen Fügung tatsächlich zu reüssieren. Im Moment ihres Durchbruchs wird sie allerdings vom Schaffner geweckt, der die Destination Hollywood ankündigt und ihr viel Glück wünscht. Auch Alice in Movieland macht sich den Traum zunutze, um eine vieldeutige Aussage über Hollywood und das Wunschbild Filmstar zu machen: Zuerst erscheint dieses für Alice unerreichbar, dann plötzlich zum Greifen nah, schließlich, nach dem Erwa- chen, wieder in weiter Ferne – wobei für uns Zuschauer hinzukommt, dass die hoffnungsfrohe Alice von Joan Leslie verkörpert wird, einer Schauspie- lerin, die den Durchbruch in Hollywood tatsächlich geschafft hat. Weshalb wird das Traummotiv so häufig zum Anlass für Parodie und Selbstreflexion? Zum einen hängt dies mit der starken Konventionalisie- rung der Traumästhetik zusammen, die leicht bloßgestellt und veralbert werden kann. Etlichen Traumsequenzen haftet etwas herausfordernd Übertriebenes, Artifizielles an, das lächerlich gemacht werden kann. Zum anderen stellen Träume – selbst die konventionell gestalteten – komplexe Erzählsegmente dar, die sich (wie wir im vierten Kapitel gesehen haben) bezüglich Erzähl- und Zeitebene nicht so leicht einordnen lassen. Aus die- sem Grund eignen sie sich auch dazu, Mechanismen des filmischen Dis- kurses ins Blickfeld zu rücken. Was die Genreverortung betrifft, so ist es natürlich kein Zufall, dass die meisten Beispiele selbstreflexiver oder parodistischer Traumverwen- dung, die ich erwähnt habe, Komödien entstammen, die zudem oft mehr oder weniger explizite Parodien gewisser Filme oder Filmgenres darstel- len. Die tiefgründige Bedeutung und wichtige Rolle, die das Traummotiv in verschiedenen Genres spielt, bietet sich an als Zielscheibe für selbstiro- nische Einlagen und satirische Nachahmungen. Mit den acht vorgeschlagenen Funktionen – psychologische Charakterisie- rung, symbolische Darstellung des Konflikts, Verrätselung und Wahrheits- 31 Hinzu kommt, dass der Kriminalplot sowohl Reminiszenzen an Hitchcock-Klassiker – insbesondere Vertigo und Rear Window (USA 1954) – als auch eine Parodie des Soft-Porno-Genres enthält. 368 5 Narrative Funktionen des Filmtraums findung, Verunsicherung, Prophezeiung, Entrückung in eine andere Welt, Evokation von Atmosphäre sowie Parodie und Selbstreflexion dürften die häufigsten Verwendungszwecke filmischer Traumsequenzen abgedeckt sein. Ich möchte jedoch anfügen, dass die Liste keinen Anspruch auf Voll- ständigkeit erhebt. Der Filmtraum ist ein zu schillerndes Phänomen, als dass sich sein erzählerischer Einsatz mit einer Handvoll Kategorien restlos fassen ließe. Die acht Funktionen sollen lediglich als Orientierungshilfe dienen, wobei, wie eingangs erläutert, zu beachten ist, dass sie sich we- der ausschließen noch immer klar abgrenzen lassen. In den meisten Fällen muss von einer subtilen Orchestrierung ganz unterschiedlicher Funktio- nen ausgegangen werden, die sich wechselseitig beeinflussen. 5.2 Filmtraum und Genre 5.2.1 Traumhafte versus traumlose Genres In Kapitel 5.1 hat sich gezeigt, dass bestimmte Traumfunktionen für be- stimmte Genres besonders geeignet sind: die Verrätselung für den Krimi- nalfilm, das Aufdecken verborgener Wahrheiten für den Verschwörungs- thriller, das Etablieren einer ambivalenten Struktur für den Psychothriller, die Entrückung in eine andere Welt fürs Musical, die Antizipation und Prophezeiung für den Horror-, Fantasy- oder Science-Fiction-Film und die Parodie und Selbstreflexion für die Komödie. Es gilt jedoch festzuhalten, dass die entsprechenden Funktionen auch in anderen als den genannten Genres anzutreffen sind und dass es zudem Funktionen gibt – etwa die der psychologischen Charakterisierung oder der Stimmungserzeugung –, die so verbreitet sind, dass es schwierig wird, eine Konzentration in bestimm- ten Genres auszumachen. Neben der Frage, welche Traumfunktionen in welchen Genres beson- ders prominent in Erscheinung treten, kann man die noch grundsätzlichere Frage stellen, in welchen Genres überhaupt geträumt wird. Es ist nämlich keineswegs so, dass sich die Filmgenres nur bezüglich ihrer Traumverwen- dung unterscheiden, sie sind auch in ihrer «Traumdichte» sehr ungleich. So erweisen sich Western-, Abenteuer-, Gangster- oder Katastrophenfilme, deren Handlung primär auf Action und äußeren Konflikten aufbaut, als weitgehend traumlos. Im Melodrama, Film Noir, Psychothriller, Horror- und erotischen Film, in denen die äußere Spannung in direkter Verbin- dung zur inneren Disposition der Hauptfiguren steht, sind Träume und andere Formen der Subjektivierung hingegen fester Bestandteil des Genre- Repertoires. Diese einseitige Verteilung der Innensicht nach Ausrichtung des Genres lässt sich anhand des Kriegsfilms beispielhaft aufzeigen. Im 5.2 Filmtraum und Genre 369 affirmativen, propagandistischen Kriegsfilm, der die Notwendigkeit der Schlacht und die Heldentaten der Soldaten betont, ist meist kein Platz für Träume. Im pazifistischen Antikriegsfilm indes, der die schrecklichen Fol- gen des Kriegsgeschehens für Verletzte und psychisch Geschädigte auf- zeigt, spielen Träume, subjektive Erinnerungen und Visionen eine wich- tige Rolle, wie Catch 22 (USA 1970), Johnny Got His Gun (USA 1971), Birdy (USA 1984) oder Jacob’s Ladder (USA 1990) belegen. Eine genaue Analyse von Form, Funktion und Ästhetik der Traum- darstellung in allen «traumreichen» Genres würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.32 Ich möchte mich im Folgenden deshalb auf den Hor- ror- und den Science-Fiction-Film konzentrieren und meine Untersuchung zudem auf Formen der Entgrenzung und Transgression beschränken, eine besondere Variante des Traumphänomens, die sich fast ausschließlich in den beiden eng verwandten Genres ausgebreitet hat. 5.2.2 Entgrenzung des Traums im Science-Fiction- und Horrorfilm Wie wir bereits gesehen haben wurden Träume in der westlichen Kultur lan- ge Zeit als überindividuelles Phänomen betrachtet. Während Jahrhunderten verortete man die Quelle der Traumbilder – zumindest der als bedeutsam erachteten – außerhalb des Individuums, in Botschaften überirdischer Mäch- te. Erst Freuds damals revolutionäre Neukonzeption hat die Träume fest in der Psyche des Individuums verankert. Die Traumbilder stehen zwar auch nach psychoanalytischer Sichtweise in vielfältiger Beziehung zu realen Er- eignissen und Personen «außerhalb» des Träumers, ihre Form, ihr Inhalt und auch ihre Bedeutung sind jedoch direkt an sein Innenleben gebunden. Der Träumer ist Quelle, Absender und Adressat des Traums in einem. Au- ßenstehende können allenfalls bei der Entschlüsselung der verklausulierten Botschaft helfen, haben aber nur indirekten Zugang via Traumbericht. Die Diskussion der verschiedenen Traumfunktionen hat gezeigt, dass im Film sowohl auf die vormoderne als auch die freudsche Konzeption zu- rückgegriffen wird, wobei die häufige Verwendung des Traums als Mittel zur psychologischen Charakterisierung und Problemlösung darauf hin- deutet, dass Letztere klar dominiert. Das Traumphänomen ist in der Mehr- zahl der Fälle also auf das Individuum und seine Psyche bezogen. Hinzu kommt eine weitere Begrenzung, die noch fundamentaler ist und auch für die meisten überindividuellen Träume gilt: Traumerlebnisse mögen zwar 32 Für einzelne Genres ist diese Arbeit zumindest teilweise bereits geleistet. So fürs Musi- cal (Feuer 1993 [1982]: 67–86) oder den Film Noir (Boschi 1991). 370 5 Narrative Funktionen des Filmtraums direkte Verbindungen zu realen Ereignissen aufweisen (zu vergangenen in der psychoanalytischen und zu zukünftigen in der religiös-propheti- schen Konzeption), die Verknüpfung ist in der Regel jedoch lediglich se- mantisch-symbolischer und nicht physisch-materieller Natur. Der Traum kann reales Geschehen entziffern, beleuchten oder ankündigen, tut dies im Normalfall jedoch durch die Inszenierung irrealer, lediglich imaginierter Ereignisse, die in der Wachrealität keine physische Existenz haben. Diese ontologische Grenze zwischen Traum und Realität ist in un- serem außerfiktionalen Dasein unüberwindbar. In der Fiktion hingegen kann sie durchbrochen werden, denn im Spielfilm ist sie, wie wir verschie- dentlich gesehen haben, nicht per se gegeben, sondern muss fiktional und narrativ konstruiert werden, kann also auch wieder aufgehoben werden. Interessant ist nun, dass genau dies in etlichen Science-Fiction- und Horror-Filmen ab Ende der 1970er-Jahre geschieht. Zwei entsprechen- de Szenen seien zur Veranschaulichung kurz beschrieben: Wir befinden uns im Forschungstrakt des Thornhill College, in der Abteilung Schlaf- forschung. Zwei Männer in grünen Gewändern ruhen auf elektronisch verstellbaren Liegebetten, zwischen ihnen imposante Apparaturen, mit denen ihr Kopf verkabelt ist. Das schwach beleuchtete Zimmer grenzt an einen Kontrollraum mit Monitoren und Schaltknöpfen, von dem aus das Schlaflabor überwacht wird. Professor Novotny erinnert Alex daran, dass er beim ersten Versuch mit Bill nur Kontakt aufnehmen und dessen Traum lediglich beobachten soll. Als der Gehirnscanner bei Bill die REM-Phase anzeigt, fordert Novotny Alex auf, mit der «Projektion» zu beginnen. Die Kamera nähert sich seinem Gesicht, das langsam verschwimmt und von einer Serie psychedelischer Licht- und Farbeffekte überdeckt wird, die schließlich die Sicht freigeben auf das Dach eines Wolkenkratzers, auf dem sich sowohl Alex als auch Bill befinden (Abb. 59a–i). Zweite Szene: Die Teenager Tina und Rod schlafen nach intensivem Sex erschöpft ein. Im Zimmer nebenan fällt ein Kruzifix zu Boden, die Kamera wechselt nach draußen und schwebt unter ominösen Klängen langsam aufs Schlafzimmerfenster zu. Tina wird durch ein Geräusch geweckt; offenbar wirft jemand Kieselsteine ans Fenster. Als sie niemanden erblicken kann, tritt sie in den Garten und schließlich auf die Straße hinaus, wo eine Gestalt mit entstelltem Gesicht und einem präparierten Handschuh, aus dem vier messerscharfe Klingen ragen, auf sie wartet. Tina versucht, zurück ins Haus zu fliehen, der hämisch grinsenden Missgestalt gelingt es jedoch, sie auf der Türschwelle zu überwältigen. Nun wechselt die Szene zurück ins Schlaf- zimmer, Rod erwacht ob dem Geschrei von Tina, die unter der Bettdecke wilde Bewegungen macht, also offenbar gar nicht erwacht ist, sondern die Ereignisse in einem Albtraum erlebt. Als Rod die Bettdecke wegzieht, muss 5.2 Filmtraum und Genre 371 59a–i Dreamscape: «Traumprojektion» im Schlaflabor 372 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 60a–f Traum-Attacke mit fatalen Folgen für die schlafende Figur in A Nightmare on Elm Street er (und wir mit ihm) jedoch mit ansehen, wie Tinas Körper wie durch Geis- terhand aufgeschlitzt, durch die Luft gewirbelt und schließlich zu Boden ge- schmettert wird, um reglos in einer Blutlache liegen zu bleiben (Abb. 60a–f). Die erste beschriebene Szene, in der es einer Figur mit technischer Unterstützung gelingt, sich in den Traum einer anderen einzuklinken, ist Dreamscape (USA 1984) entnommen, einem Science-Fiction-Thriller. Die zweite Szene, in der eine im Traum erlebte Attacke zum Tod in der Wach- welt führt, entstammt Wes Cravens A Nightmare on Elm Street (USA 1984), dem Auftakt zur wohl bekanntesten Slasher-Serie der 1980er-Jahre. Die beiden Szenen zeigen nicht nur die Bandbreite der Transgressionsfor- men auf, sie verweisen gleichzeitig auf die typischen Settings, in denen sie zu beobachten sind: ein wissenschaftlich-technisches im Science-Fiction- und ein dämonisch-übersinnliches im Horrorfilm. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, weshalb sich die Traumentgrenzung gerade in diesen beiden Genres33 und in den 1980er- 33 Vereinzelt können transgressive Traumformen auch in anderen Genres beobachtet 5.2 Filmtraum und Genre 373 Jahren ausgebreitet hat. Zudem möchte ich untersuchen, welche Themen dabei verhandelt werden, welche Varianten der Transgression zu beobach- ten sind und wie sie dramaturgisch genutzt werden. Ein Blick auf die konstitutiven Elemente des Horror- und Science-Fiction- Genres zeigt, dass sich Formen der Transgression zwischen Traum und Realität wunderbar in ihr Repertoire integrieren lassen, ja es auf originelle Art und Weise zu erweitern vermögen. Noël Carroll, der mit The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart (1990) die bislang systematischste Theorie des Horrorfilms vorgelegt hat, definiert das Genre wie folgt: Seine Wir- kung basiert auf der durch ein Monster ausgelösten emotionalen Reaktion der Zuschauer. Diese besteht zum einen aus Angst und Schrecken, zum an- deren aus Abscheu und Ekel. Das Gefühl der Angst wird dadurch ausge- löst, dass das Monster für die (positiven) diegetischen Figuren eine Bedro- hung darstellt, die man in einem Gedankenspiel auf sich selber überträgt. Ekel und Abscheu provoziert das Monster durch seine Unreinheit und Unnatürlichkeit, auf die in literarischen Horrorgeschichten immer wieder explizit hingewiesen und die in Filmversionen audiovisuell beschworen wird. Bei diesem zweiten Aspekt stützt sich Carroll auf die Theorie der Sozialanthropologin Mary Douglas, die in ihrer Studie Purity and Danger (1966) die Auffassung vertritt, Empfindungen von Unreinheit basierten auf der Verletzung relationaler Ordnungssysteme, die in einer Kultur fest verankert sind. So sei der Grund dafür, dass geflügelte Tiere mit vier Bei- nen (z. B. Fliegen) oder Tiere, die unter Wasser kriechen (z. B. Hummer), in etlichen Völkern als unrein betrachtet werden, darin zu suchen, dass sie die Kategorisierung in Wasser-, Land- und Lufttiere verletzen. Und Spei- chel, Schweiß oder Exkremente würden vor allem deshalb als unrein an- gesehen, weil die Zuordnung «ich/nicht ich», «innen/außen» unklar sei. Nach Carroll lassen sich Douglas’ Beobachtungen insofern auf den Horrorfilm übertragen, als die für das Genre typischen Monster sich auf ähnliche Weise einer Kategorisierung entziehen und deshalb unnatürlich und unrein erscheinen. Zombies, Vampire, zum Leben erweckte Mumien und andere Wiedergänger verletzen die Grenze tot/lebendig; Werwölfe und menschliche Insekten verwischen diejenige zwischen Mensch und Tier; spukende Häuser oder außer Kontrolle geratene Roboter bringen die Kategorien Objekt/Lebewesen und Mensch/Maschine durcheinander. Die Verletzung kategorialer Schranken kann sowohl durch Fusionen (z. B. werden, etwa in Komödien und Satiren (La nuit fantastique; La voie lactée, F/I 1969) oder im Musical (The 5000 Fingers of Dr. T), allerdings werden sie dort meist nur als Gag oder punktueller Irritationsmoment inszeniert. Größeres Gewicht erhalten sie fast nur in den beiden eng verwandten Genres Horror und Science-Fiction. 374 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 61a–b Sinnbilder der Durchlässigkeit zwischen Traum und Realität in A Nightmare on Elm Street I (a) und IV (b) die Verschmelzung von Mensch und Fliege in The Fly) als auch durch Spaltung (z. B. die Aufteilung in Mensch und Raubkatze je nach Tageszeit und sexueller Erregung in Cat People, USA 1982) zustandekommen. Monster stellen demnach nicht nur eine physische, sondern auch eine kognitive Bedrohung dar: The monsters of horror breach the norms of ontological propriety presumed by the positive human characters in the story. […] They are un-natural rela- tive to a culture’s conceptual scheme of nature. They do not fit the scheme; they violate it. Thus, monsters are not only physically threatening; they are cognitively threatening. They are threats to common knowledge [and] in a certain sense challenges to the foundations of a culture’s way of thinking. (Carroll 1990: 16, 34) Vor diesem Hintergrund dürfte offensichtlich sein, inwiefern die Trans- gression vom Traum in die Wachwelt zum Grundmuster des Horrorfilms passt. Auch sie stellt die Verletzung einer ontologischen Grenze dar, die in unserer kognitiven Ordnung fest verankert ist. Die verstörende Wirkung, die von Freddy Krueger ausgeht, beruht demnach weniger auf seiner häss- lichen Fratze oder seinem Messerhandschuh als vielmehr auf der Tatsache, dass er in der Lage ist, die Trennwand zwischen Traum und Realität auf- zuschlitzen.34 Weshalb Science-Fiction für Traumentgrenzungen ebenso «empfänglich» ist wie der Horrorfilm, kann ebenfalls an ihren konstitutiven Elementen abgelesen werden. Simon Spiegel, der 2007 eine «Poetik des Science-Fic- tion-Films» vorgelegt hat, definiert das Genre folgendermaßen: 34 Die Backstory von A Nightmare on Elm Street klärt uns darüber auf, dass Freddy Krueger als diegetische Figur tatsächlich existiert hat. Er war ein berüchtigter Kinder- schänder, der von aufgebrachten Eltern bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Durch seine Auferstehung im Traum, die direkte physische Konsequenzen in der Wachwelt zeitigt, durchbricht er nicht nur die Grenze zwischen irreal und real, sondern gleichzei- tig auch diejenige zwischen tot und lebendig. 5.2 Filmtraum und Genre 375 Der Modus der SF wird durch ein wunderbares Element, das Novum, be- stimmt. Sie unterscheidet sich von anderen wunderbaren Erscheinungen wie Fantasy oder Märchen dadurch, dass sie ihre Wunder pseudowissenschaftlich legitimiert, dass sie ihre Nova naturalisiert, so dass sie den Anschein wissen- schaftlich-technischer Machbarkeit aufweisen. Science Fiction ist folglich jener Teil des Wunderbaren, der sich in seiner Bild- und Wortsprache an aktuellen Vor- stellungen von Wissenschaft und Technik orientiert, um die bestehenden technologi- schen Verhältnisse in einen weiter fortgeschrittenen Zustand zu projizieren. (Spiegel 2007: 51, Herv. i. O.) Gleichzeitig verweist Spiegel darauf, dass mit der nüchternen Wissen- schaftlichkeit meist «der ganz und gar irrationale Wunsch nach Erlösung durch den technischen Fortschritt» verbunden sei: Das Heilsversprechen der Wissenschaft, die Hoffnung, mittels neuer tech- nischer Mittel auf die andere Seite durchzubrechen, die Beschränktheit des Menschen – sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht – zu über- winden, sich als kompletteres Wesen neu zu erschaffen, die Idee des «Con- ceptual Breakthrough», ist tief in der SF verankert. (Spiegel 2007: 105) Während die Transgression in A Nightmare on Elm Street als widerna- türliche Grenzüberschreitung inszeniert ist, die völlig überraschend auf- tritt und unerklärt bleibt, verwendet Dreamscape Zeit und Energie dar- auf, Alex’ «dream-linking» pseudowissenschaftlich zu erklären und durch imposante technische Apparaturen zu plausibilisieren. Das Überschreiten der Grenze zwischen Realität und Traum oder – wie in der beschriebenen Szene von Dreamscape – zwischen der Traumerfahrung zweier Individu- en ist ein Vorgang, der nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis nicht möglich ist, sich jedoch durch die Potenzierung gewisser Fortschritte in der Schlaf- und Traumforschung mit genügend Fantasie imaginieren lässt. Somit handelt es sich um ein Novum im oben genannten Sinn, wie es für den Science-Fiction-Film konstitutiv ist. Gehen wir der Frage nach, welche wissenschaftlichen Fortschritte als Ausgangspunkt für die fiktionale Übersteigerung dienen, so wird klar, weshalb sich das Phänomen der Traumentgrenzung gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren im Kino ausbreitet. Wie in Kapitel 1.5 bereits erwähnt, wurde 1953 mit den Rapid Eye Movements (REM) erstmals ein Anzeichen für den Traumprozess entdeckt, das von außen beobachtet und somit ob- jektiviert werden konnte.35 Dies war Auslöser für eine Reihe von Traumex- perimenten, die sich verschiedene Erkenntnisse und Messmethoden (z. B. das Elektroenzephalogramm) der Schlafforschung zunutze machten. Die 35 Vgl. Strauch/Meier 1992: 16–21. 376 5 Narrative Funktionen des Filmtraums b a c d 62a–d Traumüberwachung im Laborsetting in Futureworld (a), Dream Lover (b), The Cell (c) und Bis ans Ende der Welt (d) experimentell ausgerichtete, psychophysiologische Traumforschung er- lebte so einen markanten Aufschwung, der im Verlauf der 1970er-Jahre auch öffentlich wahrgenommen wurde. Trotz entscheidender neuer Erkenntnisse muss jedoch festgehalten werden, dass der Zugriff auf den Traum auch mit den neuen Methoden auf einige wenige, eher «äußerliche» Merkmale beschränkt blieb. Es konn- ten nun Häufigkeit, Zeitpunkt und Dauer des Traumvorgangs in etwa be- stimmt, gewisse rudimentäre Erlebnisqualitäten (Intensität der Erfahrung, Aktivierung des Bewegungsapparates) ermittelt, nicht aber sein genauer Inhalt und seine Gestalt objektiviert werden. Dies war nach wie vor nur nachträglich und indirekt, über den Bericht des Träumers, möglich. Aufgrund seiner Stoßrichtung war die psychophysiologische Traum- forschung dennoch prädestiniert, Spekulationen über einen weitergehen- den Zugriff zu nähren und die Fantasie von Journalisten und Drehbuchau- toren anzuregen. In der Fiktion wird der limitierte Zugriff der Traumfor- scher denn auch schrittweise erweitert, indem der Traum durch Interpreta- tion der Gehirnströme und Projektion auf Bildschirme veräußerlicht (Futu­ reworld, USA 1976; Dream Lover, USA 1986),36 sein Erlebnis entindividu- alisiert (Dreamscape) und die Möglichkeit geschaffen wird, den Träumer durch Eindringen in seinen Traum physisch zu schädigen (Dreamscape 36 Dream Lover überschreitet das wissenschaftlich Machbare nur minim, ist also näher beim Thriller- als beim Science-Fiction-Genre. 5.2 Filmtraum und Genre 377 d a e b f 63a–f Verfremdete Traumbilder in Bis ans Ende der Welt (a–c) und The Cell (d–f) c und A Nightmare on Elm Street) oder so zu manipulieren, dass er nach dem Erwachen sein Verhalten ändert (Inception, USA/GB 2010). Die expe- rimentelle Traumforschung gab nicht nur Denkanstöße, sie stellte auch ein Laborsetting und Fachausdrücke zur Verfügung, die durch Berichte über Forschungserfolge in der Öffentlichkeit bekannt wurden und sich für die Inszenierung und Dialoggestaltung einsetzen ließen (Abb. 62a–d). Wie wurde der Zugriff auf die Traumsphäre, der nun pseudowissenschaft- lich erklärt werden konnte, ästhetisch und dramaturgisch genutzt? Mit der Entgrenzung des Traums wird etwas sehr Subjektives und Privates plötz- lich für Dritte einsichtig, und zwar nicht nur für uns extradiegetische Zu- schauer (unser direkter Einblick gehört, wie wir im vierten Kapitel gesehen haben, zu den Grundmerkmalen fiktionalen Erzählens), sondern auch für Drittpersonen in der Diegese. Um den Prozess der Veräußerlichung der Traumsignale, der im Science-Fiction-Kontext verbal erläutert und durch Apparaturen veranschaulicht wird, spürbar zu machen, sind die auf Mo- nitore projizierten oder durch Traumeindringlinge wahrgenommenen Bil- 378 5 Narrative Funktionen des Filmtraums der und Töne oft künstlich verfremdet – wenn nicht durchgehend (Bis ans Ende der Welt, D/F/AU 1991), so zumindest eingangs (Futureworld; Dreamscape; The Cell, USA 2000). Zum ästhetischen Reiz der «techno- iden» Traumgestaltung kommen die mit der Traumeinsicht verbundenen dramaturgischen Implikationen, insbesondere hinsichtlich der Wissens- verteilung. Denn der Zugriff auf die Innenwelt kann zu Informationen ver- helfen, die der Träumer für sich behalten wollte. The Cell versucht diese Konstellation besonders effektvoll zu nutzen: Ein Serienmörder, der seine Opfer in einem Wassertank langsam ertrinken lässt, wird vom FBI aufge- spürt, liegt bei der Festnahme aufgrund eines Schizophrenieanfalls jedoch bereits im Koma, aus dem er laut Ärzten in absehbarer Zeit nicht erwachen wird. Sein letztes Opfer lebt noch, die Polizei weiß jedoch nicht, wo sich der Wassertank befindet, in dem es gefangen ist und der sich langsam füllt. Parallel zum Handlungsstrang der Serienmorde wurde ein Schlaflabor eingeführt, in dem Wissenschaftler einen jungen Komapatienten aufzuwe- cken versuchen, indem sie im Traum Kontakt mit ihm aufnehmen. Als das FBI von diesen Versuchen erfährt, bringt es den Serienmörder dorthin, um auf demselben Weg Informationen über das Versteck zu erlangen. Dies gelingt in letzter Minute, wobei der Hinweis indirekt erfolgt: Ein Element der Traumszenerie entpuppt sich als Logo der Firma, auf deren Gelände der Wassertank versteckt ist. Es handelt sich also um eine Form des detek- tivischen Traumrätsels (vgl. Kapitel 5.1.3.1), mit der Besonderheit, dass der verschlüsselte Inhalt nicht im therapeutischen Gespräch, sondern durch direkten Zugriff im Labor aufgespürt wird. Noch einschneidender als die Entindividualisierung des Traumerleb- nisses ist die Aufhebung seiner Folgenlosigkeit. Wenn Traumhandlungen in die Wachwelt hinauswirken, so stellt sich nicht mehr nur die Frage, was sie für die Figur (oder den weiteren Verlauf der Handlung) auf einer psychologischen oder symbolischen Ebene bedeuten könnten, sondern – viel unmittelbarer – ob der oder die Träumende am Ende des Traums überhaupt noch lebt. Während herkömmliche Traumsequenzen im Hand- lungsverlauf meist eine Art Enklave bilden, in der die kausale Verkettung der diegetisch realen Ereignisse weitgehend suspendiert bleibt, so reihen sich die transgressiven Formen nicht nur nahtlos in sie ein, sie stellen dies- bezüglich gar markante Momente dar, da die geträumte Ursache eigent- lich harmlos sein müsste, die realen Auswirkungen sich jedoch als verhee- rend erweisen.37 37 Paperhouse (GB 1988) stellt einen interessanten Sonderfall dar, da der Horrorfilm die Kausalität genau umkehrt: Die Protagonistin kann den Inhalt ihrer Träume durch Zeichnungen beeinflussen, die sie vor dem Einschlafen macht. Und als ihr Vater sie im Traum plötzlich bedroht, gelingt es ihr, den Teil der Zeichnung auf dem Nachttisch zu 5.2 Filmtraum und Genre 379 Physische Schädigungen der träumenden Figur werden sowohl im Science-Fiction- als auch im Horror-Genre als Überraschungs- und Schock- momente eingeführt.38 Dies umso mehr, als die Handlung nicht in ferner Zukunft, auf fremden Planeten oder spukenden Schlössern, sondern in einer vermeintlich alltäglichen Gegenwart angesiedelt ist, in der wissen- schaftliche Traumexperimente für bösartige Zwecke missbraucht werden oder normale Albträume außer Kontrolle geraten. Zum Überraschungs- effekt trägt bei, dass die Träume oft keine Anfangsmarkierung aufweisen und mit falschem Erwachen im trauten Umfeld beginnen – eine Konstella- tion, die auch insofern Sinn macht, als sie die enge Verbindung der Traum- handlung zur Wachwelt bereits suggeriert. Die dramatischen Verwicklungen, die auf den überraschenden Tod folgen, lassen sich wiederum gut mit Carrolls complex discovery plot erfassen:39 Meist wird der Umstand, dass eine Transgression aus der Traumsphäre die Todesursache darstellt, vorerst nur durch einzelne Figu- ren entdeckt, denen niemand Glauben schenken will, sodass sie bei der Bekämpfung des Traummonsters oder des bösartigen Traumforschers auf sich gestellt sind. Der besondere Reiz der Konfrontationsphase ist sodann, dass die Verankerung der Gefahrenquelle im Traum besondere Maßnah- men erfordert. Koffein, Wachbleib- und Traumentzugs-Pillen schützen da- vor, überhaupt in die Gefahrenzone zu geraten, während Figuren, denen Schlaf- oder Betäubungsmittel verabreicht wurden, besonders schutzlos sind. Zudem gilt es, die Aufteilung in Traum- und Wachwelt, in schlafende Figur und Traumakteur zu beachten. Erstere zu bewachen oder abzuschot- ten ist nutzlos, und Letzterem beizustehen ist nur möglich, wenn es den Protagonisten gelingt, ihrerseits die Grenze zum Traum zu überschreiten.40 Zur Veranschaulichung des dramaturgischen Potenzials wie auch der the- matischen Einbettung der Traumentgrenzung seien im Folgenden zwei Bei- zerstören, auf dem er abgebildet ist, was zur Folge hat, dass die Vaterfigur im Traum zugrunde geht. 38 Inception stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, denn die Gefahr für die Schla- fenden wird im Dialog explizit angekündigt und aufwändig erklärt. Der Film orien- tiert sich auch nur teilweise am Science-Fiction-Genre und erscheint über weite Stre- cken eher als Actionthriller im Stil der James-Bond-Serie. 39 Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Traumentgrenzung das Grundmuster des Horror- films nicht verändert, sondern lediglich um eine Variante bereichert. Und in Filmen wie Dreamscape oder Futureworld ist die Traum-Transgression in einen Verschwö- rungsplot eingebettet, für dessen Analyse sich Carrolls Schema, wie wir in Kapitel 5.1.3.2 gesehen haben, ebenfalls eignet. 40 In Freddy vs. Jason (CA/USA/I 2003), wo ein Traummonster und ein diegetisch re- aler Killer gegeneinander antreten, wird wiederholt mit dieser Zweiteilung gespielt, etwa wenn Freddy ein Opfer im Traum verfolgt, Jason ihm in der Wachwelt jedoch zuvorkommt und sich über die schlafende Figur hermacht. 380 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 64a–d Dreamscape: Showdown zwischen den beiden Traumspringern im Traum des Präsidenten spiele kurz beschrieben. In Dreamscape wird der mit telepathischen Fähig- keiten ausgestattete Alex von seinem ehemaligen Professor in ein geheimes Schlaflabor geholt, um an Experimenten im Bereich des dream-linking – des Eindringens in fremde Träume – teilzunehmen. Nachdem vorerst alles nach Plan verläuft, stirbt bei einem Experiment, an dem Alex nicht beteiligt ist, die Probandin unerwartet. Alex findet heraus, dass das Schlaflabor vom Ge- heimdienst finanziert ist und der beim «Unfall» eingesetzte «Traumsprin- ger» eine kriminelle Vergangenheit aufweist und den Tod der Probandin ab- sichtlich herbeigeführt hat. In einem parallelen Handlungsstrang wird der Präsident der Vereinigten Staaten eingeführt, der aufgrund des atomaren Wettrüstens an Albträumen leidet und zur Erkenntnis gelangt, dass abge- rüstet werden muss – worauf ihm sein Geheimdienstchef eine Auszeit emp- fiehlt, in der er seine Schlafstörungen behandeln lassen soll. Als der Präsident ins Schlaflabor gebracht wird, ist für Alex klar, dass dieser im Traum umge- bracht und sein Tod als Kreislaufkollaps getarnt werden soll. Da es aufgrund der Abschirmung durch den Geheimdienst nicht möglich ist, Zugang zum Präsidenten zu erlangen und das tödliche dream-linking zu stoppen, muss Alex versuchen, seinerseits in dessen Traum einzudringen, und zwar von einem Nebenzimmer aus und ohne apparative Hilfe. Nachdem diese Hürde genommen ist, kommt es im Traum des Präsidenten zum Zweikampf zwi- schen Alex und dem anderen Traumspringer, den Alex gewinnt, wodurch der Präsident und seine Friedensmission gerettet sind (Abb. 64a–d). In A Nightmare on Elm Street III: Dream Warriors (USA 1987) werden verschiedene Teenager in ihren Träumen von Freddy Krueger 5.2 Filmtraum und Genre 381 heimgesucht – mitunter mit tödlichen Konsequenzen –, was die zuständi- gen Behörden und Psychiater, die sich die Vorfälle als Gruppenpsychose und Selbstmordserie erklären, jedoch nicht wahrhaben wollen. Erst eine junge Psychologin, die selber einschlägige Erfahrungen mit Freddy ge- macht hat (Nancy aus Teil 1 der Serie), schenkt den Jugendlichen Glauben und spornt sie an, das Traummonster gemeinsam zu bekämpfen. Dabei hilft ihnen, dass eine aus der Gruppe die Fähigkeit besitzt, andere in ihre Träume hineinzuziehen, sodass sie Freddy schließlich mit vereinten Kräf- ten zu besiegen vermögen. Die beiden Beispiele zeigen, dass sich die Traumentgrenzung auch auf thematischer Ebene gut in den Science-Fiction- und Horror-Film ein- fügt. In Ersterem geht es oft um die Zwiespältigkeit wissenschaftlicher Fortschritte, die faszinierend und verheißungsvoll erscheinen, jedoch auch großes Missbrauchspotenzial in sich bergen. Und im Zweiten steht meist eine rationale Weltsicht einer Haltung gegenüber, die offen für Übersinn- liches ist, wobei es nur dank dieser Offenheit gelingt, die wissenschaftlich nicht erklärbare Bedrohung abzuwenden. Die Transgression der Traumgrenze stellt im Science-Fiction-Genre einen wissenschaftlichen Fortschritt mit erheblichen Konsequenzen im Bereich der Überwachung und Privatsphäre dar, der vom Staatsapparat zum Guten (The Cell) wie auch zum Schlechten (Dreamscape) genutzt werden kann. Und im Horror-Genre ist sie Teil der übernatürlichen Zu- sammenhänge, die es zu erkennen und zu akzeptieren gilt, um gegen das Böse bestehen zu können. In beiden Kontexten spielt die Wissenschaft und ihre Erkenntnis- macht eine wichtige Rolle, wobei jeweils eine geheime, weit fortgeschritte- ne (Science-Fiction) oder eine unkonventionelle, jung-alternative Organisa- tion (Horror) dem «normalen» Wissenschaftsbetrieb implizit oder explizit gegenübergestellt wird. In der Nightmare on Elm Street-Serie deckt sich der Gegensatz zwischen strengem Glauben an herkömmliche wissenschaft- liche Methoden und Offenheit für Irrationales zudem mit dem Alters- und Machtgefälle zwischen Eltern/älteren Autoritätspersonen und Teenagern/ jungen Erwachsenen in untergeordneten Positionen, was maßgeblich für den Erfolg der Serie bei Jugendlichen verantwortlich gewesen sein dürfte. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Traumentgrenzung – ähnlich wie das Traummotiv insgesamt – in einem Spannungsverhältnis von In- novation und Konvention steht. Als Sonderform, die die üblichen Gesetz- mäßigkeiten der Traumdarstellung sprengt und dadurch neue dramatur- gische Konstellationen ermöglicht, stellt sie ein innovatives Erzählelement dar. Die Tatsache, dass dieses vorwiegend in bestehende Genremuster 382 5 Narrative Funktionen des Filmtraums integriert wird, macht jedoch deutlich, dass sich seine Verwendung trotz- dem stark an etablierten Konventionen orientiert. 5.3 Der Traum als Element der dramatischen Struktur 5.3.1 Loser Zusatz oder systemischer Bestandteil? Kapitel 3 und 5.1 haben aufgezeigt, dass Traumsequenzen je nach Inhalt, Länge, Markierung und narrativer Funktion ganz unterschiedliche For- men annehmen können. Fragt man sich, wie stark das Traummotiv in die dramatische Struktur eines Films eingewoben ist, wie sehr es die Gesamt- komposition mitbestimmt, so ist eine ähnlich große Bandbreite festzustel- len. Am einfachsten lässt sich die Frage beantworten, indem man überlegt, was von einem Film übrig bliebe, wenn sämtliche Traumsequenzen eli- miniert würden. Meines Erachtens lassen sich diesbezüglich drei Grup- pen bilden: Erstens Filme, bei denen es lediglich zu einer kleinen, kaum wahrnehmbaren Einbuße käme; zweitens Filme, die um ein wesentliches Element ärmer wären, aber mit Abstrichen immer noch «funktionieren» würden; und schließlich Filme, deren Struktur ohne Traumsequenzen re- gelrecht in sich zusammenfiele. Der erste Fall scheint mir gegeben, wenn Filme lediglich ein bis zwei kürzere Traumsequenzen aufweisen, die mit der Wachhandlung nicht weiter verwoben sind, lediglich eine untergeordnete narrative Funktion erfüllen oder nur eine Nebenfigur betreffen (was jedoch eher selten ist). Von den in Kapitel 5.1 besprochenen Beispielen könnte man etwa Fast Times at Ridgemont High oder La nuit américaine zu dieser Kategorie zählen. Der zweite Fall trifft auf Filme zu, in denen maximal zwei bis drei kürzere bis mittellange Traumsequenzen vorkommen, die zwar zum Ver- ständnis von Figur und Handlung, zur Atmosphäre oder Symbolik beitra- gen, jedoch nicht in einem Ausmaß oder einer Spezifik, die unverzichtbar ist. Der letzte Mann, The Kid, Los olvidados, Tre fratelli, Le grand bleu oder Dead Ringers sind einige Beispiele – wobei ich, um Missver- ständnissen vorzubeugen, gleich anfügen möchte, dass die Traumsequen- zen in diesen Filmen weder nebensächlich noch unwichtig sind. Im Gegen- teil, sie erfüllen, wie bereits dargelegt, wichtige ästhetische und narrative Funktionen. Im Unterschied zur dritten Kategorie hätte das dramatische Gerüst jedoch, zumindest in seinen Grundzügen, auch ohne sie Bestand, wenngleich Qualität und Wirkung deutlich beeinträchtigt wären. 5.3 Der Traum als Element der dramatischen Struktur 383 In der dritten Gruppe schließlich ist das Traummotiv so eng mit der dramatischen Struktur verwoben, dass ein Herauslösen der entsprechen- den Passagen den Film nicht nur beeinträchtigen, sondern verunmöglichen würde. Dies ist natürlich einerseits dort gegeben, wo Traumsequenzen auf- grund ihrer Zahl oder Länge rein quantitativ großes Gewicht haben. Sher­ lock Jr., The Wizard of Oz, The Woman in the Window oder La cit­ tà delle donne bestehen fast nur aus einem langen Traum, während die rahmende Realhandlung lediglich dem Zweck dient, ein Spannungs- und Kontrastverhältnis dazu zu etablieren. Und Filme wie Les belles de nuit, The Secret Life of Walter Mitty, Otto e mezzo oder Billy Liar, die zwischen Wach- und Traumwelt hin und her springen, ihren Protagonisten also mehr durch imaginierte als durch reale Erlebnisse Konturen verleihen, würden ohne Innenweltdarstellungen ebenfalls nicht funktionieren. Andererseits können Traumsequenzen auch ohne großes quantita- tives Gewicht «systemrelevant» werden. Dies sind meines Erachtens die besonders interessanten Fälle, denen in den vergangenen Kapiteln auch meine spezielle Aufmerksamkeit galt. Die Handlung und der Dialog eines Kriminalfilms kann sich über weite Strecken um ein Traumrätsel drehen, auch wenn dieses wie in Spellbound oder Still of the Night lediglich in einer kurzen Sequenz präsentiert wurde. Bei der Wahrheitssuche im Ver- schwörungsthriller (z. B. The Manchurian Candidate) spielen oft Traum- bilder die Hauptrolle, die vorerst unscheinbar wirken, mit Fortschreiten der Handlung jedoch immer größeres Gewicht erlangen. Und Filme wie Laura oder Rosemary’s Baby bringen es fertig, durch relativ kurze Sequenzen an zentralen Stellen große Verunsicherung bezüglich des Realitätsstatus gan- zer Handlungsstränge zu säen. Der Teufelstraum im zweitgenannten Film, der nicht einmal fünf Minuten dauert, funktioniert zum Beispiel als eine Art Scharnier, von dem die ambivalente Struktur des gesamten Films abhängt. 5.3.2 Einsatz an neuralgischen Stellen Welches Gewicht einer Traumsequenz zukommt, hängt nicht unwesent- lich von der Stelle ab, an der sie platziert ist, und der Wirkung, die sie dort zu entfalten vermag. Besonders «exponiert» sind diesbezüglich Anfang und Schluss sowie Wendepunkte im Erzählverlauf. In Theorien zum Filmanfang wird immer wieder darauf hingewie- sen, dass die Funktion der Initialphase im Wesentlichen darin besteht, in die fiktionale Welt einzuführen, auf der Handlungsebene eine Ausgangs- situation zu etablieren, die Protagonisten vorzustellen und eine Genrever- ortung zu ermöglichen. Filme, die mit Traumsequenzen beginnen, führen vor Augen, dass der Anfang eine weitere wichtige Rolle zu erfüllen hat, die 384 5 Narrative Funktionen des Filmtraums nur selten erwähnt wird: Neben der Einführung in Fiktion, Handlungssi- tuation und Genre muss der Filmanfang die Rezipienten auch mit dem Modus der Erzählung vertraut machen, wozu unter anderem die gewählte Perspektive auf Ereignisse und Figuren gehört.41 Erhalten wir gleich zu Beginn oder kurz danach direkten Einblick ins Figureninnere – wie dies in Wilde Erdbeeren, Otto e mezzo, Billy Liar oder Abre los ojos der Fall ist –, so können wir uns darauf einstellen, dass wir auch im weiteren Verlauf nicht bloß externe Beobachter sein werden, sondern ins subjektive Erleben zumindest dieser einen Figur einbezogen werden, was entspre- chende Erwartungen auch bezüglich raumzeitlicher Anbindung und Dis- tribution des narrativen Wissens weckt. Interessant ist auch die Frage, ob der Traumanfang eher als «klassi- scher» Auftakt oder als Beginn in medias res zu werten ist.42 Auf den ersten Blick scheint klar, dass eher Letzteres zutrifft, da uns unvermittelt innere Wahrnehmungen einer Figur präsentiert werden, die wir noch gar nicht oder erst ansatzweise kennen. Hinzu kommt, dass sich die Traumereig- nisse – die überdies erst im Nachhinein markiert sein können – oft in ei- ner Weise zuspitzen, wie es für den klassischen Filmanfang unüblich ist. Spätestens mit dem Erwachen der träumenden Figur verschiebt sich die Bedeutung dieser Dramatik jedoch von der Handlungs- auf eine psycho- logische oder symbolische Ebene, und gleichzeitig wird deutlich, dass der Traum in Kombination mit der anschließenden Aufwachszene auch klas- sische Initialisierungsfunktionen erfüllen kann: Er stellt in der Regel die Hauptfigur vor und trägt bereits zu ihrer Charakterisierung bei. Mit der symbolischen Inszenierung des zentralen Konflikts kann er – zumindest ansatzweise – Ziele und Hindernisse aufzeigen, die dabei helfen, «drama- tische Fragen» zu etablieren. Träume am Schluss sind viel seltener zu beobachten als am Filmanfang. Dies hängt direkt mit der Funktion des Endes zusammen. In der Regel soll es – zumindest in der klassischen Narration – offene Fragen klären, einen Zustand der Ruhe und des Gleichgewichts wiederherstellen sowie den Ausstieg aus der Fiktion erleichtern.43 Träume sind aufgrund ihrer verrät- selten, oft verstörenden Inhalte hingegen eher dazu angelegt, Fragen auf- zuwerfen, Situationen zu destabilisieren und die Zuschauer in die Fiktion hineinzuziehen. Christen spricht vom Filmende als «Punkt, an dem die prospektiven Kräfte versiegen, die retrospektiven dagegen ihre stärkste 41 Britta Hartmann ist eine der wenigen, die explizit auf diese Funktion hinweist (1995: 115 und 2009: 231–245). 42 Zu dieser Unterscheidung vgl. Christen 1990. 43 Vgl. Christen 2002a: 15–58. 5.3 Der Traum als Element der dramatischen Struktur 385 Ausprägung erfahren» (2002a: 18). Auch wenn der Traum auf der Ebene der erzählten Geschichte oft rückwärtsgerichtet ist – etwa wenn er ver- drängte Erlebnisse aus der Vergangenheit ans Licht bringt –, hinsichtlich der Dynamik der Erzählung, um die es hier geht, ist er fast ausnahmslos vorwärtsgerichtet, stellt also eine prospektive Kraft par excellence dar.44 Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Träume können zwar, wie wir in Kapitel 3.1 gesehen haben, an ihrem Anfang oder auch sequenzimmanent markiert werden, das stärkste und eindeutigste Signal ist jedoch das an- schließende Erwachen der träumenden Figur. Endet der Film mit einer traumartigen Sequenz, ohne nochmals explizit auf die Realitätsebene zu- rückzukehren, so fehlt die Endrahmung, was zu einer Verunsicherung bezüglich des Realitätsstatus führen kann – eine Situation, die dem klas- sischen Ideal der finalen Eindeutigkeit und Klarheit zuwiderläuft. Dies er- klärt, weshalb Träume statt ganz am Schluss eher kurz davor positioniert sind, wie etwa in The Last Temptation of Christ (USA 1988), wo auf die längere Traumsequenz in der Schlussphase eine letzte Szene folgt, in der sich Christus gewahr wird, dass das erträumte Leben als normaler Mensch eine letzte Versuchung des Teufels war, um ihn von seinem Weg abzubrin- gen.45 Ist hingegen ein offenes oder gar verstörendes Ende intendiert, so bietet sich der ambivalente Traumschluss ohne finales Aufwachen an, wie die Analysen von Laura, Audition und Rosemary’s Baby gezeigt haben. In bestimmten Konstellationen können Träume am Filmende auch zu einem klassischen Abschluss führen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Traum erst in dem Moment einsetzt, wo die Konflikte gelöst und alle relevanten Fragen beantwortet sind, er also die Rolle eines Epilogs übernimmt. Unklarheiten, die durch die fehlende Endrahmung entstehen könnten, werden dabei meist durch verbale Bestätigungen des Traumsta- tus aus dem Weg geräumt, sei es durch eine Erzählstimme (Strange Illu­ sion, Raising Arizona) oder den Liedtext der Abspannmusik (Titanic, USA 1997).46 Und formale Mittel der Endsetzung (räumliche Distanzie- 44 Im Gegensatz zum Traum selbst sind mit ihm verknüpfte Elemente (etwa die Ent- schlüsselung seines rätselhaften Inhalts oder die Erfüllung seiner Prophezeihung) häu- fig am Filmende angesiedelt, wobei es – wie z. B. in The Seventh Sign – vorkommen kann, dass einzelne Traumbilder an diesem Punkt nochmals evoziert werden. 45 Retroaktive Traumsequenzen am Schluss können trotz nachgeschobener Aufwachsze- ne jedoch auch zwiespältig wirken. Dies ist insbesondere im Horrorfilm und Psycho- thriller der Fall (z. B. in Carrie, USA 1976; Dressed to Kill, USA 1980; Mr. Brooks, USA 2007), wenn ein Traum das bereits besiegte Monster wieder auferstehen lässt und die träumende Figur beim Erwachen so überwältigt und verstört wirkt, dass wir an- nehmen, sie werde auch in Zukunft mit der Bedrohung leben müssen, auch wenn diese nur noch einer paranoiden Vorstellung entspringt. 46 In No Country for Old Men (USA 2007) besteht die Coda ebenfalls aus einem Traum, der jedoch nicht audiovisuell dargestellt, sondern von einer Figur erzählt wird. 386 5 Narrative Funktionen des Filmtraums rungen und Vogelperspektiven in Raising Arizona, ein Wegschwenken kombiniert mit einer Weißblende in Titanic oder eine Rahmung durch Wiederaufnahme der Anfangssequenz in Iwans Kindheit oder Strange Illusion)47 machen deutlich, dass nach der Traumsequenz nichts mehr zu erwarten ist. Als Sonderfall sei noch Dead of Night erwähnt, der das Kunststück fertigbringt, einem formal geschlossenen Ende (die letzte Sequenz führt durch die exakte Wiederholung der ersten zirkulär an den Anfang zurück) eine inhaltlich total offene und ambivalente Wirkung zu verleihen: Es ist am Schluss unklarer denn je, ob die Sequenz geträumt oder real ist. Stellt man sich die Frage, an welchen Stellen Träume vorkommen, so sind neben dem Anfang und dem Ende Phasen mit unerwarteten Wendungen besonders zu beachten. Dramaturgisch relevante Träume sind meist direkt mit einem oder mehreren solchen plot points verknüpft. Im Folgenden geht es nicht um eine systematische Darstellung aller möglicher Konstellatio- nen, sondern lediglich darum, einige Varianten zu erwähnen, die häufig zu beobachten sind. In Filmen, die zum Großteil aus einem langen Traum bestehen, der erst nachträglich markiert ist, findet die erste dramatische Wendung meist kurz nach dem (vorerst verdeckten) Traumbeginn statt. So etwa in The Avenging Conscience (USA 1914) und The Woman in the Window (die Protagonisten begehen einen Mord), Dans la nuit (F 1929) und Strange Impersonation, USA 1946 (die Protagonisten werden verunstaltet) oder La rivière du Hibou, F 1962 (der Strick, mit dem die Hauptfigur erhängt werden soll, reißt). Gleichzeitig stellt das Traumende, das die dramati- schen Ereignisse rückwirkend irrealisiert, die finale Überraschung dar, fällt also mit der Klimax zusammen. Transgressive Traumformen setzen meist an einem Punkt der dra- matischen Struktur ein, der in Drehbuchtheorien als «Anstoß» (Schüt- te 1999), «Aufbruch» (Hant 1992) oder «onset» (Carroll 1990) bezeichnet wird. Wichtige Wendepunkte sind in der Folge ebenfalls mit Transgressi- onen verknüpft, während der finale Konflikt im Traum selbst ausgetragen wird, zu dem sich verschiedene Figuren Zugang verschafft haben. So etwa in Dreamscape, wo Alex’ geglücktes erstes dream-linking die Handlung anstößt, der Todesfall beim zweiten dream-linking die erste dramatische Wendung darstellt und der Zweikampf zwischen Alex und seinem Wider- 47 Iwans Kindheit und Strange Illusion beginnen und enden mit Träumen, die analog gestaltet und inszeniert sind. Der Klappentext der DVD von Letzterem (Alpha Video, Narberth 2004) behauptet diesbezüglich keck: «It is the only movie ever made that begins and ends in a dream sequence!» 5.3 Der Traum als Element der dramatischen Struktur 387 sacher im Traum des Präsidenten den Höhepunkt der Spannungskurve markiert. Manchmal folgen Wendepunkte unmittelbar auf eine Traumsequenz. Die im Traum oder Tagtraum vorgenommene Rekapitulation der Hand- lung vor der Auflösung des zentralen Konflikts stellt eine solche Konstel- lation dar, der wir im Musical bereits begegnet sind (On the Town und An American in Paris). Eine andere Variante liegt vor, wenn auf der diegetisch realen Ebene während des Traums etwas geschieht, das der Handlung nach dem Aufwachen eine neue Richtung gibt. So wird der Kriminalplot von Emil und die Detektive (D 1931) erst lanciert, als der Titelheld erwacht und feststellt, dass ihn sein Gegenüber im Zugabteil be- stohlen hat, während er in traumerfülltem Schlaf versunken war. In La petite marchande d’allumettes (F 1928) ist es gar so, dass die Protago- nistin im Schlaf erfriert, was in ihrem Traum auf symbolische Weise zwar angedeutet, aber dennoch erst bei der Rückkehr in die Wachwelt offen- sichtlich wird. Ein Traum kann auch durch Einsichten, die er vermittelt, dem Fortgang der Realhandlung eine neue Wendung geben. Dieser Fall begegnet in Liebe 47 (D 1948), wo Kriegsheimkehrer Beckheim erst nach aufwühlendem Traum zur Einsicht gelangt, dass ein Neuanfang mit Anna möglich ist. Träume, in denen wichtige Ereignisse verarbeitet werden, sind oft im Nachgang eines Wendepunkts angesiedelt. So in Los olvidados, wo Pe- dros bedrückender Traum unmittelbar auf die Szene folgt, in der er vom Tod des Jungen erfährt, der in seinem Beisein geschlagen wurde. Auch Se- quenzen, die zwischen Traum und Realität oszillieren, sind meist an dra- maturgisch neuralgischen Stellen platziert. Lauras plötzliche Wiederaufer- stehung (Laura), Rosemarys Vergewaltigung (Rosemary’s Baby), Harrys Morde (Harry, un ami qui vous veut du bien) sind allesamt Ereignisse, die der Handlung eine dramatische Wende geben, deren Realitätsstatus jedoch – zumindest vorübergehend – unklar ist. Ziel meiner Ausführungen zur dramaturgischen Funktion des Traums war einerseits, die Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten aufzuzeigen, anderer- seits das Vorurteil zu widerlegen, dass Träume meist nur ein mehr oder weniger gelungenes Surplus darstellen, auf das ohne große Einbuße ver- zichtet werden könnte. Auch wenn dies im Einzelfall zutreffen mag, die «systemrelevanten» Beispiele machen deutlich, dass eine solche Einschät- zung dem dramatischen Potenzial des Filmtraums keineswegs gerecht wird. 388 5 Narrative Funktionen des Filmtraums 5.3.3 Dramaturgie der Traumsequenz selbst Neben der Frage, wie sich Träume in die dramaturgische Struktur des ge- samten Films einfügen, kann man analysieren, wie sie selbst aufgebaut sind. Welche Dramaturgien und Spannungskurven entstehen innerhalb ei- ner Traumsequenz? Die Möglichkeiten sind zahlreich, sodass es auch hier nur darum gehen kann, einige verbreitete Muster aufzuzeigen. Ein solches Muster, dem wir im Kapitel 3.1.1 bereits begegnet sind, ist ein fortschreitendes Ansteigen der Spannungskurve mit deutlicher Zuspitzung zum Traumende hin. Das Erwachen, das oft durch abruptes Hochfahren und direkten Blick in die Kamera akzentuiert ist, gehört mit zum Höhepunkt, ist aber auch bereits Beginn einer raschen Entspannung. Dieser Ablauf, eine Art Crescendo mit eindringlichem Schlussakkord, ist sowohl bei vorgängig markierten Traumsequenzen (z. B. Vertigo, Wilde Erdbeeren) als auch in der retroaktiven Variante (z. B. La rivière du Hi­ bou, Cauchemar blanc, F 1991) häufig zu beobachten. Die Zuspitzung findet in der Regel sowohl auf der Ebene der Handlung (die Bedrohung oder Verwirrung wächst, Ereignisse überstürzen sich, eine zum Greifen nahe Erlösung will sich nicht einstellen) als auch der Ästhetik statt (die formalen Mittel multiplizieren sich, Traumsignale schwellen an). 48 Ein anderes Muster könnte man als «Thema mit Variationen» be- zeichnen. Es etabliert ein bestimmtes Thema und variiert es in einer Rei- he von Traumepisoden, die durch kleine formale Zäsuren abgetrennt sein können. Ein Beispiel hierfür wäre die Traumsequenz in Stranger on the Third Floor, die das Motiv «unschuldig beschuldigt» (das den Protago- nisten plagt) in neun verschiedenen Szenen durchspielt, welche durch Unschärfen, geometrische Muster oder rotierende Bilder unterbrochen werden (Abb. 65a–f). Rüeggs Albtraum in Demokratie in Gefahr, der in verschiedenen Alltagssituationen vor Augen führt, wie die Schweiz als Diktatur aussähe, weist eine analoge Struktur auf. Ebenfalls in Episoden aufgeteilt sind Traumsequenzen, die verschie- dene Stationen oder Begegnungen der Hauptfigur in Szene setzen oder rekapitulieren. Im Gegensatz zur Variation desselben Themas bauen diese «Traumkapitel» jedoch aufeinander auf oder stellen eine Art Parcours dar. Die bereits analysierten Sequenzen aus Geheimnisse einer Seele und Die Stunde des Wolfs funktionieren nach diesem Muster genauso wie der längere Traum in der Schlussphase von Liebe 47, der Beckmann nochmals mit einem untergebenen Soldaten, Gott, dem Tod, seiner Frau, der Elbe 48 In der retroaktiven Konstellation ist dies der Moment, wo sich die impliziten Hinweise häufen, sodass ein vorzeitiges Erraten des Traumstatus im Prinzip möglich ist, auch wenn die definitive Bestätigung meist erst durch das nachträgliche Erwachen erfolgt. 5.3 Der Traum als Element der dramatischen Struktur 389 65a–f Formale Zäsuren zwischen den Traumepisoden in Stranger on the Third Floor und schließlich Anna konfrontiert. Im Musical ist diese Struktur ebenfalls beliebt (z. B. Daddy Long Legs, USA 1955; On the Town; An American in Paris) – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich dazu anbietet, den Werde- gang und die Konflikte des Helden in einer Sing- und Tanznummer sym- bolisch darzustellen. Eher als Einheit mit flacher Spannungskurve erscheinen demgegen- über Traumsequenzen, deren Hauptziel es ist, eine bestimmte Atmosphä- re zu erzeugen. Statt einzelner Handlungen und ihrer Bedeutung stehen Sinneseindrücke und Stimmungen im Vordergrund, die sich im Prinzip 390 5 Narrative Funktionen des Filmtraums beliebig fortsetzen könnten und irgendwann ausgeblendet oder abrupt be- endet werden. Sunnyside (USA 1919), The Innocents (GB 1961), Iwans Kindheit oder Three Women sind entsprechende Beispiele. Die erwähnten Traumstrukturen, denen sich weitere anfügen ließen,49 ma- chen deutlich, dass eine dramaturgische Betrachtungsweise des Traum- motivs neben dem Aufbau des gesamten Films auch die sequenzimma- nente Dynamik zu berücksichtigen hat. 49 Einschränkend muss gesagt werden, dass ganz kurze Sequenzen (die nicht losgelöst vom Rest des Films betrachtet werden können) wie auch ganz lange (die fast mit dem ganzen Film deckungsgleich sind) nach anderen Mustern funktionieren. Schlusswort und Ausblick: Das Traummotiv im filmhistorischen Wandel Die vorliegende Arbeit weist verschiedene Schwerpunkte auf: Im ersten Kapitel standen Analyse und theoriegeschichtliche Verortung der Film/ Traum-Analogie im Zentrum. Dabei hat sich gezeigt, dass der Vergleich von Film und Traum zwar von diskursanalytischem und ideengeschicht- lichem Interesse ist, jedoch nur bedingt zu einem besseren Verständnis der beiden Phänomene beizutragen vermag. Der Erforschung konkreter Traumdarstellungen ist die Analogie gar eher abträglich gewesen, einer- seits weil sie lange Zeit fast die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, andererseits weil sie etliche Autoren dazu veranlasst hat, die Beur- teilung von Traumsequenzen auf die Frage nach Entsprechungen mit tat- sächlichen Träumen zu reduzieren. Die theoriegeschichtliche Dimension stand auch im zweiten Kapitel im Vordergrund, in dem wichtige Schriften der klassischen Epoche (Müns- terberg, Balázs, Bazin, Kracauer und Mitry) auf die Frage hin untersucht wurden, wie sie Traumdarstellungen – und allgemein Formen der Subjek- tivierung – beurteilen. Dass ein «Formalist» wie Balázs sie vorbehaltlos begrüßt und ein Realismustheoretiker wie Bazin sie – zumindest implizit – eher ablehnt, entspricht den Erwartungen. Eher zu überraschen vermögen Kracauer und Mitry: Der Erste, weil er Filmträume trotz explizit realisti- scher Grundhaltung in bestimmten Konstellationen durchaus für ästhe- tisch legitim hält; und der Zweite, weil er trotz einer Theorie, die in vieler- lei Hinsicht bereits als «modern» bezeichnet werden kann, grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der Darstellbarkeit innerer Bilder anmeldet. Das dritte Kapitel widmete sich der Beschreibung dominanter Markie- rungs- und Gestaltungsformen und ihrer Wirkung. Dabei hat sich gezeigt, dass Träume sowohl «an den Rändern» als auch sequenzimmanent und sowohl eindeutig als auch ambivalent markiert sein können. Als drama- turgisch besonders ergiebig hat sich die retroaktive Konstellation erwie- sen, die den Traumstatus erst im Nachhinein preisgibt, was oft dazu ge- nutzt wird, die Konsequenzen einer moralischen Fehlentscheidung bis an den Rand der Katastrophe durchzuspielen – oder umgekehrt eine glückli- che Wendung zum Schluss als halluzinierten Wunschtraum zu entlarven. 392 Schlusswort und Ausblick Bezüglich der oft gestellten Frage, ob die filmische Traumästhetik Formen des Realtraums nachahmt oder im Gegenteil auf arbiträren Dar- stellungskonventionen beruht, habe ich die These vertreten, dass keine der beiden Positionen zu überzeugen vermag, da die dominanten Gestal- tungsformen weder auf die eine noch auf die andere Art restlos erklärt werden können. Vielmehr gilt es, die Wirkung der entsprechenden Ge- staltungsmittel auf den filmischen Darstellungsprozess zu beachten. Für Träume werden in der Regel nämlich diejenigen Mittel bevorzugt – ins- besondere Zeitlupe, Überbelichtung, visuelle Verzerrung, Doppelbelich- tungen, Hall im Ton und Inkongruenzen zwischen Bild- und Tonspur –, die den Realitätseindruck abschwächen oder gar nicht in vollem Ausmaß aufkommen lassen. Die sequenzimmanente Traumzuschreibung geschieht also weniger durch die Macht der Konvention oder die Mobilisierung von Vorstellungen über den Realtraum als vielmehr durch eine Abschwächung des filmischen Realitätseindrucks und die damit verbundene Irrealisie- rung der dargestellten Ereignisse. Zum Schluss des dritten Kapitels hat sich gezeigt, dass Formen der Traumgestaltung im Spannungsfeld der folgenden beiden Pole situiert werden können: einer Ästhetik der Überfrachtung und Stilisierung, die die Differenz zum diegetischen Kontext betont, auf offenes Spektakel setzt und «Artefakt-Emotionen» (Tan 1996) in den Vordergrund rückt; und Er- zählkonstellationen, die sich im Gegenteil den filmischen Realitätseffekt zunutze machen, um eindringliche dramaturgische Verwicklungen zu in- szenieren, die uns in die Fiktion hineinziehen und ihren Traumcharakter oft erst im Nachhinein offenbaren. Im vierten Kapitel ging es darum, narratologische Modelle so zu differen- zieren und weiterzuentwickeln, dass sie dem Sonderfall «Traum- und In- nenweltdarstellung» besser gerecht werden. Die wichtigsten Erkenntnisse in diesem Bereich lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der erzählerische Zugriff aufs Innere der Figuren funktioniert im Film zwar anders als in der Literatur; der Ansicht etlicher Narratologen, der Film sei hier grund- sätzlich im Nachteil gegenüber dem Sprachmedium Literatur, das Inner- psychisches mittels Gedankenbericht oder stream-of-consciousness-Technik viel einfacher und direkter vermitteln könne, muss jedoch widersprochen werden, denn der Film verfügt ebenfalls über das Erzählmittel Sprache, und das Figureninnere besteht – wie gerade der Traum vor Augen führt – neben Verbalem ganz wesentlich aus visuellen und auditiven Elementen, für die der Film wiederum größere Affinität besitzt. Bezüglich der narrativen Instanz, die den Traum vermittelt, und der Ebene, auf der er anzusiedeln ist, habe ich die Position vertreten, dass es Schlusswort und Ausblick 393 widersinnig ist, von der träumenden Figur als Erzählinstanz zu sprechen. Auch die Bezeichnung als «Fokalisierungs-» oder «Fokalinstanz» beruht auf einer falschen Konzeption des genetteschen Modells; und Traumsequenzen bringen in der Regel nicht einen Wechsel der Erzähl-, sondern lediglich der Realitäts-Ebene mit sich. Gerade im Bezug auf den Traum gilt es, Erlebnis und Erzählung dieses Erlebnisses, Wahrnehmung, Erfahrung und Vermitt- lung dieser Wahrnehmung und Erfahrung auseinanderzuhalten. Am größten war der Revisionsbedarf im Bereich der Erzählperspek- tive, der seit Genettes Figures III (1972) in der Literatur- wie Filmwissen- schaft durch das dreiteilige Fokalisierungsmodell – oder davon abgeleitete Konzepte – dominiert wird. Eine Analyse des Modells und seiner filmwis- senschaftlichen Weiterentwicklungen hat ergeben, dass es neben verschie- denen grundsätzlichen Problemen vor allem deshalb für unsere Zwecke nicht geeignet ist, da sich mit seiner Hilfe die Rolle der Traumdarstellung – und generell des direkten Einblicks ins Figureninnere – für die perspek- tivische Ausrichtung konkreter Erzählungen nicht adäquat erfassen lässt. Aus diesem Grund habe ich ein eigenes Modell entwickelt und vorgestellt, das die Orientierung am Erleben der (Haupt-)Figur in fünf verschiedene Ebenen und sechs Intensitätsstufen unterteilt und dabei der Traumdarstel- lung – neben anderen direkten und indirekten Formen der Subjektivie- rung – den ihr gebührenden Platz einräumt. Abgerundet wurde das vierte Kapitel durch eine Reihe von Überle- gungen, die sich mit der Frage befassten, wie sich der Sprung in subjektive Traumwelten auf die Zeitstruktur auswirkt, namentlich im Bezug auf die Chronologie, Dauer und Frequenz der Ereignisse. Dabei hat sich gezeigt, dass der Traum in allen drei Bereichen einen großen Gestaltungsspielraum eröffnet, denn seine Zeitspanne erscheint mal gedehnt, mal komprimiert, sein Bezug zur Wachwelt kann vergangenheits-, gegenwarts- wie auch zu- kunftsgerichtet sein, und die Ereignisse, die er inszeniert, sind oft Wieder- holungen realer Geschehnisse unter neuen Vorzeichen. Das fünfte Kapitel ging schließlich Fragen der narrativen Funktion, Dra- maturgie und Genrespezifität nach. Ausgehend von der Annahme einer grundsätzlichen Sinnhaftigkeit fiktionaler Träume habe ich ein Analyse- modell mit acht unterschiedlichen Funktionen vorgeschlagen, von denen mehrere gleichzeitig wirksam sein können: psychologische Charakterisie- rung, symbolische Darstellung des Konflikts, Verrätselung und Wahrheits- findung, Verunsicherung, Prophezeiung, Entrückung in eine andere Welt, Evokation von Atmosphäre sowie Parodie und Selbstreflexion. Die Frage nach der Funktionalität ließ sich nicht losgelöst von der Genrefrage beantworten. So hat sich gezeigt, dass bestimmte Traumfunk- 394 Schlusswort und Ausblick tionen in bestimmten Genres besonders häufig anzutreffen sind: die Ver- rätselung im Kriminalfilm, das Aufdecken verborgener Wahrheiten im Verschwörungsthriller, das Etablieren einer ambivalenten Struktur im Psychothriller, die Entrückung in eine andere Welt im Musical, die An- tizipation und Prophezeiung im Horror-, Fantasy- und Science-Fiction- Film und die Parodie und Selbstreflexion in der Komödie. Die Sonderform der Traum-Entgrenzung ließ sich noch genauer lokalisieren: Sie ist erst ab Ende der 1970er-Jahre gehäuft zu beobachten, jedoch fast ausschließlich in den beiden verwandten Genres Horror und Science-Fiction, die aus je eigenen Gründen dafür besonders empfänglich sind. Wie sehr vermögen Traumsequenzen die dramaturgische Struktur eines Films zu prägen? Und an welchen Stellen entfalten sie besonders große Wirkungen? Kapitel 5.3 hat aufgezeigt, dass Traumsequenzen – auch solche von nur kurzer Dauer – durchaus «systemrelevant» werden können, insbesondere wenn sie an neuralgischen Stellen wie dem Beginn und Ende oder Wendepunkten im Erzählverlauf platziert sind und dort wichtige Scharnierfunktionen übernehmen. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit lag also auf ästhetischen, nar- ratologischen, fiktions- und genretheoretischen Fragestellungen. Eine wei- tergehende Untersuchung müsste auf dieser Grundlage nun eine Diffe- renzierung nach Epoche und kulturellem Kontext vornehmen, die in den eher systematisch angelegten Kapiteln erst ansatzweise geleistet werden konnte. Im Sinne einer vorläufigen Skizze möchte ich zum Abschluss ei- nige punktuelle Überlegungen zur historischen Entwicklung filmischer Traum- und Subjektivierungsformen anstellen. Mit der Gegenüberstellung von Traumformen, die das audiovisuel- le Spektakel betonen, und solchen, die darauf angelegt sind, uns in die Fiktion hineinzuziehen und die Handlung dramaturgisch voranzutrei- ben, habe ich eine Unterscheidung getroffen, die für eine Historisierung direkt relevant ist. Tom Gunning hat in seinem viel beachteten Aufsatz von 1986 die These aufgestellt, dass die Entwicklung des Films insgesamt im Spannungsfeld von Attraktion und Narration gesehen werden kann. Das frühe Kino bis 1906 stellt für ihn ein cinema of attractions dar, dem es weniger darum ging, Geschichten zu erzählen und die Zuschauer in eine geschlossene fiktionale Welt zu entführen, als vielmehr darum, ein auf- regendes visuelles Spektakel zu inszenieren, das seinen Darbietungscha- rakter durch häufige Gesten und Blicke zur Kamera offen zelebriert. Die eigentliche Narrativisierung des Kinos habe erst in der Periode von 1907 bis 1913 stattgefunden, in der auch erste längere Filme entstanden sind. Das Attraktionselement sei jedoch nicht vollständig verdrängt worden, Schlusswort und Ausblick 395 sondern mache sich – an besonderen Stellen und in bestimmten Genres, etwa dem Musical – auch in Spielfilmen immer wieder bemerkbar.1 Die Tatsache, dass sich Träume vorzüglich zur Inszenierung visueller Spektakel eignen, ist wohl mit ein Grund, weshalb sie schon vor dem von Gunning beschriebenen Wandel des Films immer wieder zur Darstellung kamen. Doppelbelichtungen, Maskenverfahren und andere Tricktechni- ken, mit denen Traum und Träumer im selben Bild kombiniert und Traum- objekte herbeigezaubert, animiert und verwandelt werden konnten, boten eine willkommene Gelegenheit, die Möglichkeiten des Mediums auszu- stellen und die Zuschauer mit visuellen Attraktionen zu verblüffen. Selbst die konsekutive Darstellung von Traum und Träumer im retroaktiven Modus, die in späteren Epochen primär narrativen und dramaturgischen Zwecken diente, war in der frühen Stummfilmzeit aufgrund ihrer Kürze, der Konzentration auf den abrupten, mit einem Gag verbundenen Um- schlag und der zur Kamera gewandten Mimik und Gestik des erwachen- den Träumers primär als offenes Spektakel inszeniert. Mit dem Aufkommen längerer Filme und der Verlagerung zum nar- rativen Modus diente der Traum nicht mehr nur als Anlass für visuelle Attraktionen, sondern auch als Erzählmotiv und Mittel für die dramatur- gische Gestaltung, wie wir anhand von The Avenging Conscience (USA 1914) oder Dans la nuit (F 1929) gesehen haben. Das Zurschaustellen spektakulärer Gestaltungsformen spielte jedoch auch in Filmen noch eine Rolle, in denen der Traum primär die Funktion übernahm, der Figur psy- chologische Tiefe zu verleihen, etwa in Der letzte Mann (D 1924) oder Geheimnisse einer Seele (D 1926). In Genres wie der Slapstick-Komödie oder dem Musical, in denen das Schau- und Attraktionselement gleich- berechtigt neben dem narrativen Aspekt bestehen blieb, konnte das spek- täkuläre Potenzial der Trauminszenierung ohnehin weiter ausgeschöpft werden. Und auch in jüngster Zeit, wo eine – nun primär durch digitale Effekte generierte – Ästhetik der Überwältigung wieder Hochkonjunktur hat, ist der Traum neben seiner narrativen Funktion nicht selten willkom- mener Anlass für gestalterische Exzesse, wie etwa The Cell von Tarsem Singh (USA 2000) zeigt. Eine Analyse der Entwicklung filmischer Traumformen muss auch be- rücksichtigen, welche Figurenkonzeption in der jeweiligen Epoche, dem jeweiligen Genre oder dem einzelnen Film vorherrscht. Ein Blick auf die Stummfilmepoche zeigt, dass diese Frage mit dem Wandel des Attrak- tions- zum Erzählkino direkt verknüpft ist. In den ersten Jahren war die 1 Vgl. dazu auch Casetti 2005. 396 Schlusswort und Ausblick Figurenzeichnung meist noch typisiert und auf einzelne auffällige Merk- male beschränkt. Und die Handlung, sofern vorhanden, wurde oft eher durch äußere Umstände und unvorhergesehene Zwischenfälle vorange- trieben als durch psychologisch motivierte Absichten. Mit der stärkeren Individualisierung und Psychologisierung der Filmfiguren zu Beginn der 1910er-Jahre boten sich Traumdarstellungen vermehrt als Mittel zur Figu- renzeichnung und Plausibilisierung von Handlungsabsichten an. Zumin- dest die Hauptfiguren verfügten nun mehrheitlich über psychologischen «Tiefgang», sodass die Trauminszenierung wirklich einen Blick ins Innere eröffnete. Auch nach der «narrativen Wende» bauten jedoch nicht alle Genres gleichermaßen auf eine Psychologisierung der Hauptfiguren. Bestimmte modernistische Erzählstile sind gar bewusst darauf angelegt, die Figuren ihrer subjektiven Innerlichkeit wieder zu berauben, um sie nicht als Analo- ga realer Personen, sondern vielmehr als Chiffren oder Schachbrettfiguren zu inszenieren, die frei manipulierbare Elemente der Spielhandlung dar- stellen. Die Traumebene dient in solchen Filmen, wie L’année dernière à Marienbad (F/I 1960) oder Le charme discret de la bourgeoisie (F 1972) zeigen, weniger der Figurenzeichnung als einer komplexen Struktu- rierung der erzählerischen Anordnung. Und in Werken der Postmoderne entpuppt sich das Figureninnere nicht selten als Reservoir an Genrever- satzstücken, mit deren Hilfe die Hybridisierung der Erzählung ohne Rück- sicht auf psychologischen «Realismus» vorangetrieben wird.2 Neben der Analyse filmischer Traumformen entlang der Achsen Narration versus Attraktion und psychologische versus apsychologische Figurenkonzep- tion, deren historische Wandlungen ich hier nur andeuten konnte, drängt sich auch eine Untersuchung auf, die die Gestaltung und Funktion von Traumsequenzen in spezifischen Epochen, Erzähltraditionen und Stil- richtungen untersucht. So lassen sich im Bezug auf die im dritten Kapitel betrachteten Parameter zum Beispiel markante Unterschiede feststellen zwischen der klassischen Narration hollywoodscher Prägung und dem Erzählstil, der sich im europäischen Autorenkino Ende der 1950er- und in den 1960er-Jahren herausgebildet hat. Während in der klassischen Traditi- on – zumindest am Ende des Films – Klarheit und Eindeutigkeit angestrebt wird, generiert das Autorenkino durch den Traummodus viel häufiger Mehrdeutigkeit und Ambiguität. Die Übergänge erscheinen sprunghaf- ter, die Grenzen fließender, und die Bedeutung der Traumbilder und ihre Relevanz für den Fortgang der Erzählung erschließt sich meist weniger 2 Vgl. McHale 2003. Schlusswort und Ausblick 397 leicht und eindeutig als im klassischen Hollywood. Und während ein Film wie Laura (USA 1944), in dem der Realitätsstatus ganzer Sequenzen bis zuletzt offen bleibt, dort die Ausnahme darstellt, gehören Strategien der Verunklarung zum festen Bestandteil der art-cinema narration. Auch im «magischen Realismus» südamerikanischer Prägung unter- scheidet sich die Verwendung des Traummotivs vom klassischen Holly- wood (und in verschiedener Hinsicht vom europäischen Autorenkino). Das Traumhafte bricht hier durch einzelne absurde oder surreale Hand- lungselemente immer wieder unverhofft in die Alltagsrealität ein und verleiht ihr so – ohne Rückgriff auf auffällige Inszenierungs- oder Gestal- tungsformen – eine poetische Dimension. Ausgangspunkt und Motivation für diese Studie war die Feststellung einer großen Diskrepanz: Zum einen wurde bei Recherchen zum Forschungs- stand schnell klar, dass das Traummotiv in Filmpublizistik und -theorie bereits Unmengen an Publikationen ausgelöst hat. Zum anderen verfestig- te sich bei der Lektüre der Eindruck, dass es zu denjenigen Aspekten, die ich für zentral halte – neben der Ästhetik des Traums insbesondere seine narrative und dramaturgische Funktion –, nach wie vor keine überzeugen- den theoretischen Konzepte und Analysemodelle gibt. Den Versuch, die- ser Diskrepanz mit einer doppelten Strategie zu begegnen – Aufarbeitung und theoriegeschichtliche Verortung der großen Fülle an bestehender Lite- ratur einerseits, Etablieren grundlegender Analysekonzepte andererseits – kann man getrost als Spagat bezeichnen. Ob er gelungen ist, überlasse ich gern dem Urteil der interessierten Leserinnen und Leser. Bibliografie Abel, Richard (1988). French Film Theory and Criticism: A History / Anthology, 1907– 1939. Bd. I. Princeton: Princeton University Press. Aitken, Ian (2001). European Film Theory and Cinema: A Critical Introduction. Bloo- mington: Indiana University Press. Alexandrian, Sarane (1974). Le surréalisme et le rêve. Paris: Gallimard. Allen, Richard (1995). Projecting Illusion: Film Spectatorship and the Impression of Rea- lity. Cambridge: Cambridge University Press. Allen, Richard (1999). «Psychoanalytic Film Theory». In: Miller, Toby / Stam, Ro- bert (Hg.). A Companion to Film Theory. 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Filmindex A Aus dem Leben der Marionetten (Ing- Abend der Gaukler (Gycklarnas mar Bergman, BRD 1980) 179, 233, 234 Afton, Ingmar Bergman, SE 1953) Avenging Conscience or «Thou 172,173 Shalt Not Kill», The (David Abre los ojos (Alejandro Amenábar, Wark Griffith, USA 1914) 183, 184, ES/F/I 1997) 186, 195, 201, 221, 186, 197, 208, 210, 386, 395 297, 310, 311, 334, 364, 384 Aventures du Baron de Munchhausen, Absolut (Romed Wyder, CH 2004) Les (Georges Méliès, F 1911) 149, 150 222, 364 Accattone (Pier Paolo Pasolini, I 1961) B 347 Back to the Future (Robert Zemeckis, Âge d’or, L’ (Luis Buñuel, F 1930) 39, 252 USA 1985) 168, 169 Aladin ou la lampe merveilleuse Bananas (Woody Allen, USA 1971) (Albert Capellani, F 1906) 134, 148, 362, 364, 365 149, 150, 151 Barton Fink (Joel Coen & Ethan Coen, Alchimiste Parafaragamus ou la USA/GB 1991) 213, 216, 335 cornue infernale (Georges Méli- Beautiful Mind, A (Ron Howard, USA ès, F 1906) 150 2001) 201, 209 Alice in Movieland (Jean Negulesco, Belle de jour (Luis Buñuel, I/F 1966) USA 1940) 367 160, 191, 192, 308 Alice in Wonderland (W. W. Young, Belles de nuit, Les (René Clair, F/I USA 1915) 141, 154, 155, 350, 352, 1952) 352, 353, 354, 355, 383, 384 353 Billy Liar (John Schlesinger, GB 1963) All that Jazz (Bob Fosse, USA 1979) 151, 279, 353, 355, 383, 384 230 Birdy (Alan Parker, USA 1984) 369 Amants criminels, Les (François Bis ans Ende der Welt (Wim Wenders, Ozon, F 1999) 136 D/F/AU 1991) 376, 377, 378 American in Paris, An (Vincente Min- Black Angel, The (Roy William Neill, nelli, USA 1951) 134, 158, 230, 313, USA 1946) 134, 233 387, 389 Blind Alley (Charles Vidor, USA 1939) American Werewolf in London, An 314, 318, 319, 320, 322, 323, 330 (John Landis, USA/GB 1981) 364 Body and Soul (Oscar Michaux, USA André und Ursula (Werner Jacobs, D 1925) 203, 204, 403 1955) 137, 171, 172, 224 Body Double (Brian De Palma, USA Année dernière à Marienbad, L’ 1984) 366, 367 (Alain Resnais, F/I 1960) 222, 396 Brazil (Terry Gilliam, GB 1984) 155, Another Woman (Woody Allen, USA 167, 199, 200, 208, 303 1988) 233 Bridge, The (Charles Vidor, USA 1931) At Land (Maya Deren, USA 1944) 363 149, 150, 190 Audition (Ôdishon, Takashi Miike, JP/ Brigadoon (Vincente Minnelli, USA Südkorea 1999) 218, 220, 335, 385 1954) 352, 353 Filmindex 415 C D C’era una volta il West (Sergio Leo- Daddy Long Legs (Jean Negulesco, ne, I/USA 1968) 297 USA 1955) 389 Cabin in the Sky (Vincente Minnelli, Dans la nuit (Charles Vanel, F 1929) USA 1943) 115 183, 184, 197, 208, 209, 386, 395 Cabinett des Dr. Caligari, Das (Ro- Dark Passage (Delmer Daves, USA bert Wiene, D 1920) 115 1947) 132, 133, 181, 223, 227, 269 Cabiria (Giovanni Pastrone, I 1914) Dark Past, The (Rudolph Maté, USA 134, 150 1948) 318, 319, 322, 232 Carrie (Brian De Palma, USA 1976) Das Schweigen (Tystnaden, Ingmar 385 Bergman, SE 1963) 125 Cat People (Paul Schrader, USA 1982) David and Lisa (Frank Perry, USA 374 1962) 135, 136 Catch 22 (Mike Nichols, USA 1970) Dead of Night (Alberto Cavalcanti, 369 Charles Crichton, Basil Dearden & Cauchemar blanc (Mathieu Kasso- Robert Hamer, GB 1945) 118, 347, vitz, F 1991) 132, 195, 197, 198, 388 365, 386 Cell, The (Tarsem Singh, USA 2000) Dead Ringers (David Cronenberg, 376, 377, 378, 381, 395 USA 1988) 312, 313, 314, 382 Cerf volant, Le (Randa Chahal Sab- Dementia 13 (Francis Ford Coppola, bag, Libanon/F 2003) 399, 347 USA 1964) 326 Cette femme­là (Guillaume Nicloux, F Demokratie in Gefahr (Kurt Früh, 2003) 327 CH 1949) 223, 356, 358, 388 Chapter 27 (J. P. Schaefer, USA/CA Deserto rosso, Il (Michelangelo Anto- 2007) 283 nioni, I/F 1964) 126, 269 Charme discret de la bourgeoisie, Die Stunde des Wolfs (Vargtimmen, Le (Luis Buñuel, F 1972) 221, 222, Ingmar Bergman, SE 1966) 152, 309, 364, 396 155, 159, 172, 212, 216, 335, 388 Chien andalou, Un (Luis Buñuel & Dream Lover (Alain J. Pakula, USA Salvador Dalí, F 1929) 38, 39 1986) 297, 376 Choses de la vie, Les (Claude Sautet, Dream of a Rarebit Fiend, The (Ed- F 1969) 159 win S. Porter, USA 1906) 28, 132, Christmas Carol, A (Edwin L. Marin, 150, 224, 225 USA 1938) 149 Dreamscape (Joseph Ruben, USA Citizen Kane (Orson Welles, USA 1984) 172, 175, 224, 347, 361, 371, 1941) 122, 302 372, 375, 376, 377, 378, 379, 380, 381, Città delle donne, La (Federico Felli- 386 ni, I/F 1981) 155, 167, 350, 383 Drei D (Sönke Wortmann, D 1988) 172 Code 46 (Michael Winterbottom, GB Dressed to Kill (Brian De Palma, USA 2003) 334, 344, 346 1980) 385 Coquille et le clergyman, La (Ger- Due occhi diabolici (George A. Rome- maine Dulac, F 1927) 34, 38, 39, ro, Dario Argento, I/USA 1990) 352 398 Corsican Brothers, The (Georges Al- E bert Smith, GB 1898) 150 Eiffel Tower, The (Eiffeltornet, Nik- Crainquebille (Jacques Feyder, F las Rådström, SE 2004) 158 1923) 170 Emil und die Detektive (Gerhard Lamprecht, D 1931) 157, 387 416 Filmindex End of Days (Peter Hyams, USA 1999) Ghost and Mrs. Muir, The (Joseph L. 345, 346, 349 Mankiewicz, USA 1947) 343 Eternal Sunshine of the Spotless Mind Girl on a Motorcycle (aka: Naked (Michel Gondry, USA 2004) 290 Under Leather, Jack Cardiff, F/ ExistenZ (David Cronenberg, GB/CA GB 1968) 225, 334, 311 1999) 201 Giulietta degli spiriti (Federico Felli- ni, I/F 1965) 308 F Grand bleu, Le (Luc Besson, F/USA/I Fast Times at Ridgemont High (Amy 1988) 305, 306 Heckerling, USA 1982) 302, 303, 305, 382 H Fear in the Night (Maxwell Shane, Harry, un ami qui vous veut du bien USA 1947) 234, 332, 333, 334, 335 (Dominik Moll, F 2000) 213, 215, Fête à Henriette, La (Holiday for 216, 335, 387 Henrietta, Julien Duvivier, F Heavenly Creatures (Peter Jackson, 1952) 239 NZ 1994) 352, 253, 354, 355 Fiddler on the Roof (Norman Je- Heinz im Mond (Robert A. Stemmle, D wison, USA 1971) 234, 249, 349 1934) 191, 192, 351, 352, 360, 361 Fight Club (David Fincher, USA 1999) Herr Arnes Schatz (Herr Arnes Pen­ 201, 209 gar, Mauritz Stiller, SE 1919) 149, Final Analysis (Phil Joanou, USA 150, 345, 346, 348 1992) 328, 329, 330 Hide and Seek (John Polson, USA 2005) Final Destination (James Wong, USA 282, 297 2000) 344, 347 High Anxiety (Mel Brooks, USA 1977) 5000 Fingers of Dr. T, The (Roy Row- 360 land, USA 1953) 230, 232, 357, 373 Hiroshima mon amour (Alain Res- Flesh and Fantasy (Julien Duvivier, nais, F/JP 1959) 292, 297 USA 1943) 347, 365 His Prehistoric Past (Charles Chap- Fly II, The (Chris Walas, USA 1989) 349 lin, USA 1914) 350, 352 Fly, The (David Cronenberg, USA 1986) Histoire d’un crime (Ferdinand Zec- 349, 374 ca, F 1901) 148, 150 Fog Closing In (Alfred Hitchcock, House of Usher (Roger Corman, USA USA 1956) 346, 349 1960) 135, 136, 172, 175, 223, 224 Fountainhead, The (King Vidor, USA Hurricane, The (John Ford, USA 1938) 1948) 151 345, 346, 347 Fräulein Julie (Fröken Julie, Alf Sjö- berg, SE 1951) 312, 313 I Freddy vs. Jason (Ronny Yu, CA/ I, Robot (Alex Proyas, USA/D 2004) 330 USA/I, 2003) 379 Ich hab’ von dir geträumt (Wolfgang Futureworld (Richard T. Heffron, Staudte, D 1943) 146, 147, 148, 223, USA 1976) 376, 378, 379 365 Identity (James Mangold, USA 2003) G 201, 407 Geheimnisse einer Seele (Georg Wil- In Dreams (Neil Jordan, USA 1999) 348 helm Pabst, D 1926) 134, 135, 136, Inception (Christopher Nolan, USA/ 137, 158, 226, 228, 230, 231, 233, 234, GB 2010) 377, 379 315, 316, 317, 318, 319, 323, 330, 388, Innocents, The (Jack Clayton, GB 1961) 395 146, 147, 148, 181, 223, 229, 290 Filmindex 417 Iwans Kindheit (Iwanowo Deztwo, Liebe 47 (Wolfgang Liebeneiner, D Andrej Tarkowski, SU 1962) 138, 1948) 132, 157, 225, 234, 387, 388 158, 357, 358, 386, 390 Life of an American Fireman (Edwin S. Porter, USA 1903) 134, 148, 149, J 150, 411 Jacob’s Ladder (Adrian Lyne, USA Living in Oblivion (Tom DiCillo, USA 1990) 369 1995) 172, 220, 363, 364 Je t’aime, je t’aime (Alain Resnais, F Locket, The (John Brahm, USA 1947) 1968) 290 132 Je vous aime (Claude Berry, F 1980) 290 Lost Highway (David Lynch, F/USA Jeepers Creepers (Victor Salva, D/USA 1996) 166, 167, 222, 359 2001) 344, 346, 347 Lucertola con la pelle di donne, Johnny Got His Gun (Dalton Trumbo, Una (aka: A Lizard in a Woman’s USA 1971) 172, 290, 369 Skin, Lucio Fulci, ES/I/F 1971) Juliette ou la clef des songes (Marcel 170, 329, 330 Carné, F 1950) 350, 351, 353 M K Mad Max (George Miller, AU/USA Kid, The (Charles Chaplin, USA 1921) 1978) 361 116, 134, 138, 140, 145, 146, 351, 364, Mad Max II: The Road Warrior (Geor- 382 ge Miller, AU/USA 1981) 361 Kindergarten Cop (Ivan Reitman, Mad Max III: Beyond Thunderdome USA 1990) 343 (George Miller, AU 1985) 361 Kleine und die grosse Liebe, Die (Jo- Man Who Knew Too Much, The (Alf- sef von Baky, D 1938) 132, 223, 311 red Hitchcock, USA 1956) 268 Kongress der Pinguine, Der (Hans- Manchurian Candidate, The (John Ulrich Schlumpf, CH 1993) 352, Frankenheimer, USA 1962) 131, 353 135, 136, 333, 334, 335, 383 Manchurian Candidate, The (Jona- L than Demme, USA 2004) 333 Lady in the Lake (Robert Montgome- Manhandled (Lewis R. Foster, USA ry, USA 1947) 107, 256, 264, 269, 1949) 327, 328, 330, 349 270, 283 Maquinista, El (Brad Anderson, ES Lara Croft: Tomb Raider (Simon 2004) 201 West, USA 2001) 344, 346, 348 Marnie (Alfred Hitchcock, USA 1964) Last Moment, The (Pál Fejös, USA 323 1928) 295 Matrix, The (Andy Wachowski & Lar- Last Temptation of Christ, The (Mar- ry Wachowski, USA 1999) 201 tin Scorsese, USA 1988) 385 Matrix Reloaded, The (Andy Wa- Last Wave, The (Peter Weir, AU 1977) chowski & Larry Wachowski, USA 345, 346, 347 2003) 201 Laura (Otto Preminger, USA 1944) 216– Meshes of the Afternoon (Maya De- 218, 335, 383, 385, 387, 397, 410, 412 ren, USA 1943) 363 Let Me Dream Again (George Albert Midnight Cowboy (John Schlesinger, Smith, GB 1900) 192, 193 USA 1969) 132, 172, 223, 224, 308, Letzte Mann, Der (Friedrich Wilhelm 359 Murnau, D 1924) 137, 139, 170, 171, Morgan – A Suitable Case for Treat­ 226, 228, 230, 297, 305, 307, 382, 395 ment (Karel Reisz, GB 1966) 352 418 Filmindex Moulin Rouge (John Huston, USA O 1952) 117 Of Human Bondage (John Cromwell, Mr. Brooks (Bruce A. Evans, USA 2007) USA 1934) 151 385 Oklahoma! (Fred Zinnemann, USA Müde Tod, Der (Fritz Lang, D 1921) 1955) 230 141 Olvidados, Los (Luis Buñuel, Mexiko Mulholland Dr. (David Lynch, 1950) 141, 171, 310, 312, 313, 382, 387 USA/F 2002) 222 On the Town (Gene Kelly, Stanley Do- Murder Rock (Lucio Fulci, I 1984) 349 nen, USA 1949) 313, 387, 389 Murder, My Sweet (Edward Dmytryk, Others, The (Alejandro Amenábar, USA 1944) 134, 223, 224, 234, 349 ES/F/USA 2001) 201 Murders in the Rue Morgue (Gordon Otto e mezzo (Federico Fellini, I/F 1962) Hessler, USA 1971) 349 165, 220, 309, 310, 360, 383, 384 Our Town (Sam Wood, USA 1940) 110 N Navigator, The: A Medieval Odyssey P (Vincent Ward, AU/NZ 1988) 345, Païsa (Roberto Rossellini, I 1946) 107 346, 347, 349 Panzerkreuzer Potemkin (Broneno­ Nerone (Luigi Maggi, I 1909) 149, 150 sez Potjomkin, Sergej M. Eisen- Nibelungen, Die (Fritz Lang, D 1924) stein, SU 1925) 121 345, 346, 347, 348 Papillon (Franklin Schaffner, USA Night My Number Came Up, The (Les- 1973) 304, 305 lie Norman, GB 1955) 347 Passion of Mind (Alain Berliner, USA Nightmare (Maxwell Shane, USA 2000) 352, 353, 356 1956) 332 Pawnbroker, The (Sidney Lumet, USA Nightmare on Elm Street II, A: 1964) 282, 297 Freddy’s Revenge (Jack Sholder, Pee Wee’s Big Adventure (Tim Burton, USA 1985) 135, 136 USA 1985) 302, 303 Nightmare on Elm Street III, A: Persona (Ingmar Bergman, SE 1966) Dream Warriors (Chuck Russell, 64, 65 USA 1987) 380 Petite marchande d’allumettes, La Nightmare on Elm Street V, A: The (Jean Renoir, F 1928) 234, 387 Dream Child (Stephen Hopkins, Phantom (Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1989) 156 D 1922) 102, 141 Nightmare on Elm Street, A (Wes Possessed (Curtis Bernhardt, USA Craven, USA 1984) 362, 372, 374, 1947) 248, 292 375, 377, 381 Premature Burial, The (Roger Cor- No Country for Old Men (Joel Coen man, USA 1961) 172, 175, 223 & Ethan Coen, USA 2007) 385 Nosferatu (F. W. Murnau, D 1922) 116 R Nothing Lasts Forever (Tom Schiller, Raising Arizona (Joel Coen, USA 1987) USA 1983) 134 135, 136, 360, 361, 385, 386 Notorious (Alfred Hitchcock, USA Rashomon (Akira Kurosawa, JP 1950) 1946) 106, 108, 109, 275 239, 246, 298 Nuit américaine, La (François Truf- Rear Window (Alfred Hitchcock, USA faut, F/I 1973) 302, 382 1954) 367 Nuit fantastique, La (Marcel L’Her- Red Shoes, The (Michael Powell & bier, F 1942) 141, 352, 373 Emeric Pressburger, GB 1948) 115 Filmindex 419 REM (Jann Jenatsch & Paul Avondet, Sleepy Hollow (Tim Burton, USA CH 1991) 171, 400 2000) 308 Rêve et réalité (Ferdinand Zecca, F Somnambulist, The (Alf Collins, GB 1901) 192, 194 1903) 201 Rivière du hibou, La (aka: An Oc­ Spellbound (Alfred Hitchcock, USA currence at Owl Creek Bridge, 1945) 230, 231, 234, 319, 320, 321, Robert Enrico, F 1962) 190, 199, 322, 323, 325, 326, 327, 383, 406 204–206, 208, 292–294, 386 Stardust Memories (Woody Allen, Rosemary’s Baby (Roman Polanski, USA 1980) 360 USA 1967) 143, 144, 145, 165, 223, Still of the Night (Robert Benton, 335, 337, 340, 341, 342, 383, 385, 387, USA 1982) 324, 325, 326, 383 407 Stir of Echoes (David Koepp, USA Rushmore (Wes Anderson, USA 1998) 1999) 346, 347 303 Strange Affair of Uncle Harry, The (Robert Siodmak, USA 1945) 183, S 184, 185, 186, 197, 198, 203, 208, 210, Santa Claus (Georges Albert Smith, 221, 402 GB 1898) 149 Strange Illusion (Edgar G. Ulmer, Secret Beyond the Door (Fritz Lang, USA 1945) 234, 345, 365, 385, 386 USA 1948) 232 Strange Impersonation (Anthony Secret Life of Walter Mitty, The Mann, USA 1946) 181, 187, 188, (Norman Z. McLeod, USA 1947) 197, 207, 208, 218, 286 352, 353, 354, 355, 383 Stranger on the Third Floor (Boris Sentinel, The (Michael Winner, USA Ingster, USA 1940) 230, 231, 234, 1977) 172 283, 304, 307, 388, 389 Seven Days to Live (Sebastian Nie- Streik (Stachka, Sergej M. Eisenstein, mann, D/CZ/USA 2000) 180, 344 SU 1924) 121 Seven Years in Tibet (Jean-Jacques An- Sunnyside (Charles Chaplin, USA naud, USA 1997) 345, 346 1919) 116, 141, 146, 183, 184, 390 Seventh Sign, The (Carl Schultz, USA 1988) 345, 346, 347, 349, 385 T Sh! The Octopus (William C. McGann, Terminator II, The: Judgment Day USA 1936) 202 (James Cameron, USA 1991) 347 Shadow of a Doubt (Alfred Hitchcock, Three Women (Robert Altman, USA USA 1943) 108 1976) 223, 229, 359, 390 Shadows and Fog (Woody Allen, USA Tigris (Vincenzo Denizot, I 1913) 227 1992) 283 Time Machine, The (Simon Wells, USA Sherlock Jr. (Buster Keaton, USA 1924) 2002) 344, 346 141, 142, 156, 350, 354, 362, 366 Titanic (James Cameron, USA 1997) Shock (Alfred L. Werker, USA 1946) 157 385, 386 Shock Corridor (Samuel Fuller, USA Total Recall (Paul Verhoeven, USA 1963) 136, 149, 172, 181, 229 1990) 201, 344, 347, 349 Show, The (Larry Semon, USA 1922) Touch of Her Flesh, The (Michael 187 Findlay, USA 1967) 305, 306 Shutter Island (Martin Scorsese, USA Track 29 (Nicolas Roeg, GB/USA 1988) 2010) 201 201 Sixth Sense, The (M. Night Shyamalan, Train Ride to Hollywood (Charles R. USA 1999) 201, 202, 209 Rondeau, USA 1975) 363 420 Filmindex Tre fratelli (Francesco Rosi, I/F 1980) Weihnachtsgedanken (Regie unbe- 304, 307, 382 kannt, D ca. 1911) 149 Trigger, Jr. (William Witney, USA 1950) Wenn d’Fraue wähle (Umberto Bolzi 134, 137 & Ludy Kessler, CH 1958) 183, 184, Two Seconds (Mervyn LeRoy, USA 356 1932) 152, 295 Wenn die Kraniche ziehen (Letjat Schurawli, Michail Kalatosow, SU U 1957) 295 Up the Sandbox (Irvin Kershner, USA Wilde Erdbeeren (Smultronstället, 1972) 352, 355 Ingmar Bergman, SE 1957) 86, 87, 134, 135, 136, 157, 172, 173, 224, 292, V 307, 308, 309, 314, 384, 388 Vampyr (Carl Theodor Dreyer, F/D Wizard of Oz, The (Victor Fleming, 1931) 157 USA 1939) 172, 174, 230, 350, 352, Vanilla Sky (Cameron Crowe, USA 353, 383 2001) 195, 201 Woman in the Window, The (Fritz Vertigo (Alfred Hitchcock, USA 1958) Lang, USA 1944) 183, 184, 186, 196, 135, 136, 172, 175, 223, 360, 388 197, 202, 203, 207, 208, 221, 350, 383, Vierte Mann, Der (De vierde man, 386 Paul Verhoeven, NL 1983) 347 Violette Nozière (Claude Chabrol, F Y 1978) 345 Yolanda and the Thief (Vincente Voie lactée, La (Luis Buñuel, F/I 1969) Minnelli, USA 1945) 230, 232, 312 373 You’ll Never Get Rich (Sidney Lan- Von Angesicht zu Angesicht (Ansik­ field, USA 1941) 151, 311 te mot ansikte, Ingmar Bergman, SE 1976) 157 Z Zigomar contre Nick Carter (Victo- W rin-Hyppolyte Jasset, F 1912) 226, Warning, The (Donald Crisp, USA 227 1914) 347