zeitschrift für medienwissenschaft 2/2023 gesellschaft für medienwissenschaft (hg.) zeitschrift für medienwissenschaft 2 9 TESTONLINE 2/2023 — EDITORIAL Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epis- temischen Konstellationen zu fragen. Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler*innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibstile und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion k onzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaft- lichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT. Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunkt- themas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezen- sionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, Blog-Beiträge sowie genauere Hinweise zu Einreichungen. — MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, KATRIN KÖPPERT, FLORIAN KRAUTKRÄMER, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, GLORIA MEYNEN, MAJA-LISA MÜLLER, BIRGIT SCHNEIDER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ — INHALT Editorial TEST 10 S E B A S T I A N G I E ß M A N N / CA R O L I N G E R L I T Z Test Einleitung in den Schwerpunkt 20 DAV I D B U C H E L I Bilder geben Eine Objektgeschichte des Rorschachtests 35 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER Tests als Medien der Gewöhnung Pilotversuche am Bahnhof 51 S T E FA N R I E G E R Virtuelles Testen 60 DA N I E L A H O L Z E R «Survival engineering» Die Survival-Show «7 vs. Wild» als exemplarische T estsituation einer bedrohlichen Gegenwart 73 C H R I S TO P H B O R B AC H Medien- als Testgeschichte Radarentwicklung in den Bell Labs und bei Western Electric 86 Ein Gespräch zwischen N O O RT J E M A R R E S und P H I L I P P E S O R M A N I KI testen «Do we have a situation?» BILDSTRECKE 104 DA P H N É N A N L E S E R G E N T vorgestellt von NOAM GRAMLICH Das extraktive Bild LABORGESPRÄCH 114 S U S A N N E N I KO LT C H E V und M A RT I N K A N Z L E R im Gespräch mit J U D I T H K E I L B AC H und F L O R I A N K R AU T K R Ä M E R Simple Zahlen und neutrale Informationen Produktionsforschung durch Studien des European Audiovisual Observatory EXTRA 124 C H R I S TO P H E R A . N I X O N «Working to Transform the Image» Postkoloniale Bildkritik, Bildpolitik und die zeitgenössische Queer-of-Color-Fotografie DEBATTE Medienwissenschaft und Bildung 137 H A R U N M AY E Ist Medienkompetenz Bullshit? Medienpraxis und Lehre 1 4 4 J O H A N N E S PA ß M A N N / F L O R I A N S P R E N G E R Gepflegte Medienpraxis 149 PAU L H E I N I C K E R / A R M I N B E V E R U N G E N / PAU L H O F F S T I E P E L / M AC E O JA L A / A N TO N I A W U L F F Medienpraxislehre in der Medienwissenschaft. Empirie und Exploration WERKZEUGE 160 W I N F R I E D G E R L I N G / S E B A S T I A N M Ö R I N G Bildschirmbilder. Screenshots als Werkzeuge der Wissenschaft BESPRECHUNGEN 167 N OA M G R A M L I C H Mechanical Bro, HotMessAge und MsUnderstand Media. «Weiße» Flecken der Medienwissenschaft 173 F E D O R A H A RT M A N N / CA R O LY N A M A N N «Cutting together-apart?» Feministische Doppelspaltexperimente, t rans-b aradianische Apparate und gouvernementale Materialitäten 179 AU TO R * I N N E N 183 B I L D N AC H W E I S E 184 I M P R E S S U M — TEST Teststation in Rüttenscheid (Essen), Oliver Heise: symptom, Folkwang Universität der Künste, September 2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150203. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. TEST —– Einleitung in den Schwerpunkt Als Open AI am 30. November 2022 die Version 3.5 seines Sprachmodells ChatGPT freischaltet, beginnt ein nahezu beispielloser Test der neuen Künst- lichen Intelligenz (KI) durch die Öffentlichkeit. Innerhalb von fünf Tagen ge- winnt ChatGPT eine Million neue Nutzer*innen. Im Januar 2023 greifen bereits über 100 Millionen User*innen auf die KI-Anwendung zurück. Flankiert wird diese rasante Entwicklung von zahlreichen journalistischen Artikeln und Social- Media-Postings, die den generativen Charakter des Sprachmodells und seine repräsentationalen Möglichkeiten ausgiebig testen. Vergleichbar dynamische Nutzungspraktiken waren zwar schon typisch für Bildgeneratoren wie Dall-E und Stable Diffusion. Dennoch hat der öffentliche Test von ChatGPT eine neue Qualität. Zum einen kommt es zu Beschleunigungseffekten bei der Implemen- tierung maschinellen Lernens, deren öffentliche und kritische Diskussion noch aussteht. Zum anderen bestätigen diese Beschleunigungseffekte soziologische 1 Vgl. Noortje Marres, David Diagnosen zum Aufstieg der Testgesellschaft, in der datenintensive Praktiken Stark: Put to the Test: For a New Sociology of Testing, in: The British und Infrastrukturen des Testens zeitlich und räumlich ubiquitär werden.1 Journal of S ociology, Bd. 71, Nr. 3, Im selben Zug führt die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Open AI, einem 2020, 423 – 443, doi.org/10.1111/1468- 4446.12746. maßgeblich von Microsoft finanzierten Unternehmen, und Alphabet / Google zu 2 Vgl. Billy Perrigo: The $2 Per einer Dynamik, in der ständig neue KIs veröffentlicht werden. Dabei werden Hour Workers Who Made ChatGPT Less Toxic, in: Time, 18.1.2023, neue Interaktionsmöglichkeiten und das Management von Bias im maschinellen time.com/6247678/openai-chatgpt- Lernen nicht mehr vorsichtig ausgetestet. Wurde ChatGPT noch vorab durch kenya-workers (18.5.2023). 3 Vgl. Sung Kim: List of Open menschliche Arbeit in Kenia gegen Diskriminierungseffekte trainiert,2 gibt es Sourced Fine-Tuned Large Language mittlerweile eine Fülle neuer, auch Open-Source-basierter Sprachmodelle, bei Models (LLM), Beitrag im Blog Geek Culture, 30.3.2023, medium.com/ denen die kommerziell motivierte Delegation von Arbeit vorab gleich durch öf- geekculture/list-of-open-sourced-fine- fentliches, verteiltes Testen ersetzt wird.3 Teils reicht für deren Nutzung wie bei tuned-large-language-models-llm- 8d95a2e0dc76 (18.5.2023). Metas KI-Modell namens LLaMA ein lokaler Rechner aus. 10 ZfM 29, 2/2023 Digitale Medientechnologien wie large language models stellen damit den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung des Testens dar, auf die die Medienw issenschaft bislang nur punktuell geantwortet hat.4 Zwar hat Walter Benjamin den Zusammenhang von industrialisierten Testregimen, Sport und filmischer Medienkultur bereits 1936 in einer wenig rezipierten Passage seines «Kunstwerk»-Aufsatzes brillant beschrieben. Doch seine These – «Der Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht» – ist kaum erschlossen worden.5 Vor der filmischen Apparatur, so Benjamin, wird die Praxis des Schauspielens zu einer Testleistung ersten Ran- ges. Sie testiert und ist mit der sportlichen Leistung verwandt. Die arbeitenden städtischen Massen suchen abends die Kinos auf und würdigen dort die Leistung der Filmdarsteller*innen,6 die für sie Revanche am täglichen bürokratisierten Test ihrer Körper und Sinne nehmen. Benjamins Sensibilität für die industrielle, sportliche und administrative Formierung menschlicher Wahrnehmungsweisen diagnostizierte bereits eine Alltäglichkeit des Testens, für die die Medienästhetik des Films eine verwandte, aber nicht identische Respondenz bedeutete. Für die Wahlverwandtschaft von körpertechnischen Medien, medizinischen, gesellschaftlichen und industriellen Testregimen interessiert sich die rezente 4 Vgl. den grundlegenden Medienforschung erneut. Sie schließt hierfür an Medienanthropologie, Wissen- Entwurf von Avital Ronell: The Test schaftsgeschichte 7 und Science and Technology Studies an. So sind insbesondere Drive, Chicago 2005. 5 Walter Benjamin: Das Kunst- in den Sound Studies wegweisende Fallstudien entstanden, darunter Jonathan werk im Zeitalter seiner technischen Sternes Rekonstruktion der laboratorischen, teilöffentlichen Entwicklung des Reproduzierbarkeit (zweite Fas- sung), in: ders.: Gesammelte Schriften, MP3-Formats. Bei Sterne wird das Testen von S ound-codierenden Algorith- Bd. VII.1, hg. v. Rolf Tiedemann, men durch die Expertise geschulter Hörer*innen zu einer technologischen Per- Hermann Schweppenhäuser, Frank- furt / M. 1991, 350 – 384, hier 365. formance, die in einer Testumgebung zu präzisen, theatralen Repräsentationen Herv. i. Orig. führt.8 Ausgehend von der wissenshistorischen Genealogie von Hör- und 6 Benjamin schreibt «Filmdar- steller» im Maskulinum. Klangtests in der Moderne halten Alexandra Hui, Mara Mills und Viktoria 7 Vgl. Ehler Voss (Hg.): Mediality Tkaczyk fest, dass es sich bei modernen Tests um materialisierte Netzwerke on Trial. Testing and Contesting Trance and other Media Techniques, Berlin, handelt, die Praktiken, Ideen, Werte und Institutionen umfassen.9 Das Testen Boston 2020; David Keller: Person und hat sich auf diese Art und Weise zu einer Kulturtechnik entwickelt, die in Her- Form. Eine Medien- und Wissensge- schichte der Persönlichkeitsdiagnostik, stellung, Marketing, Erhaltung, Reparatur, Sicherheit, Qualitätskontrolle und Tübingen 2021. forensischer Analyse zur Geltung kommt.10 8 Vgl. Jonathan Sterne: MP3. The Meaning of a Format, Durham, Mit dem vorliegenden Heft der Zeitschrift für Medienwissenschaft folgen wir London 2012, 150. dieser Diagnose und fragen, wie – und durch welche Mediatoren – sich Medien 9 Vgl. Alexandra Hui, Mara Mills, Victoria Tkaczyk: Testing Hearing. und Tests wechselseitig konstituieren. Besondere Aufmerksamkeit sollen dabei An Introduction, in: Victoria Tkaczyk, Politiken des Testens erfahren. Wir schlagen vor, Tests als offene Situationen Mara Mills, Alexandra Hui (Hg.): Testing Hearing. The Making of Modern zu verstehen,11 in denen mit teils etablierten, teils sich erst während des Testens Aurality, Oxford, New York 2020, etablierenden Maßstäben soziotechnisch Entscheidungen getroffen werden. 1 – 19, hier 5. 10 Vgl. ebd., 3 f. Mittels Tests wird das Neue und Unerwartbare adressiert. Manche Tests wollen 11 Vgl. Ulrike Bergermann: es identifizieren, klassifizieren und kontrollieren. Andere wollen Möglichkeits- Test und Testosteron. Medien des Selbstversuchs, in: Julia Bee, Nicole räume schaffen, in denen sich das Neue entfalten kann. Vorher nicht Vergleich- Kandioler (Hg.): Differenzen und bares oder Inkommensurables wird im Test vergleichbar oder kommensurabel Affirmationen. queer / feministische Positionen zur Medialität, Berlin 2020, gemacht. Für einen medienkulturwissenschaftlichen Begriff des Tests gilt: In 63 – 89, hier 63. SCHWERPUNKT 11 SEBASTIAN GIEßMANN / CAROLIN GERLITZ den Mikroentscheidungen des verteilten und verteilenden Testens steht das Soziale selbst auf der Probe. Die wissensgenerierende Kraft des Tests beruht auf heterogenen Assemblagen von prüfenden und bewertenden Medien,12 deren Eigensinn produktiv gemacht wird. Die in diesem Heft versammelten Beiträge verdeutlichen: Kein Test ohne Medien – kein Medium ohne Test. Wer verfügt einen Test, wer hat Mitsprache beim Formulieren von Kriterien und Bedingungen? Ist eine Testsituation für alle Beteiligten überhaupt als sol- che erkennbar? Gerade im Kontext digitaler Plattformmedien ist dies meist nicht der Fall. Verfahren des datenbasierten Testens kennzeichnen technisierte und digitalisierte Lebenswelten – von spielerischen und situierten Praktiken, mit denen opake Medientechnologien angeeignet werden (unboxing, YouTube as Test Society 13), bis hin zu großflächigen Tests, die ihrerseits vom Stresstest des Finanzsystems über die datenintensiven Sozialforschungen großer Plattformen, agile Entwicklungsstrategien (ehemals Perpetual Beta) bis zur Universalisie- rung von Technologien maschinellen Lernens wie ChatGPT reichen. David Stark und Noortje Marres haben bereits vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie die fortwährende Ausweitung von Testverfahren als eine Signatur von rechen- und datenintensiven test societies ins Auge gefasst und sich dabei aus der Perspektive der Science and Technology Studies auf das wechsel- 12 Vgl. zur Relation von seitige Verhältnis von Test und Gesellschaft(en) konzentriert. Denn Tests fin- Rechtfertigung, Prüfen und Testen Jörg P otthast: The Sociology of den im 21. Jahrhundert nicht mehr allein in Labor und Werkstatt, Büro oder Conventions and Testing, in: Claudio Studio statt, sondern in sämtlichen Lebens- und Arbeitsbereichen.14 Sie sind E. Benzecry, Monika Krause, Isaac Ariail Reed (Hg.): Social Theory Now, generativ, datenintensiv und verteilt. Sie schaffen neue Umgebungen, in de- Chicago 2017, 337 – 360. nen sich Gesellschaften durch Test- und Sensorpraktiken konstituieren und auf 13 Vgl. die beiden Workshops zu YouTube as Test Society an der permanentes Testen ausgerichtet werden. Testgesellschaften können kontroll- Uni versität Siegen: www.mediacoop. gesellschaftliche Elemente enthalten, zeichnen sich aber gerade in der digitalen uni-siegen.de/de/veranstaltungen/ workshop-youtube-as-test-society, Gegenwart durch einen offeneren Umgang mit Testsituationen aus. Anstelle 11.– 12.12.2017 und www. mediacoop. direkter Überwachung dominiert in ihnen das permanente datenintensive Mo- uni-siegen.de/en/events/workshop- youtube-as-a-test-society-ii, nitoring. Neben der Frage, wie Tests Entscheidungen treffen und Zukünfte 19.– 20.4.2018 (19.5.2023). möglich oder unmöglich machen, problematisieren die Beiträge dieses Heftes 14 Vgl. Marres, Stark: Put to the Test. Vgl. zur historischen Genealo- auch die beteiligten Akteur*innen und ihre Handlungsmacht. gie und zur Rolle des Testens für die Entstehung des modernen (Hör-) Subjekts: Hui u. a. (Hg.): Testing Hearing, 4 f. Ausweitung der Testsituation 15 Vgl. zum Situationsbegriff Sebastian Gießmann u. a. (Hg.): Der Test stellt eine Situation der Überprüfung, Bewertung oder Entscheidung Materiality of Cooperation, Wiesbaden dar und fordert zugleich das Verständnis von Situationen heraus.15 Die hier 2023. 16 Vgl. auch die klassische versammelten Beiträge zum Testen adressieren heterogene Testsituationen, in Unterscheidung zwischen «pro- denen Medien, Akteur*innen, Umwelten, Praktiken, aber auch unterschiedli- spective, current, and retrospec- tive testing of technologies» bei che Temporalitäten zusammenwirken.16 In ihrer Zusammenschau zeigen sie ein Trevor Pinch: «Testing – One, breites Spektrum, in dem der Test mal mehr, mal weniger klar konturiert als Two, Three ... Testing!»: Toward a Sociology of Testing, in: Science, Situation erkennbar wird – und dadurch seine politische Brisanz entfaltet. Technology and Human Values, Bd. 18, In der Objektgeschichte des Rorschachtests scheint die Testsituation zunächst Nr. 1, 1993, 25 – 41, hier 27 f., doi.org/10.1177/01622439930180010. begrenzt und begrenzbar zu sein: DAVID BUCHELIs Beitrag zeichnet nach, 12 ZfM 29, 2/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT wie Rorschachtests als Mittel der Psychodiagnostik entwickelt und als ein eta- Abb. 1 Testzentrum am bliertes Testverfahren stabilisiert wurden, das sich durch Standards und rigorose Barmer Bahnhof (Wuppertal), Oliver Heise: symptom, Testbedingungen auszeichnet. Ihr Ziel ist es, ein ‹verräterisches Sprechen› zu Folkwang Universität der Künste, generieren, durch das sich das zu testende Subjekt offenbart und klassifizierbar S eptember 2022 wird. Bucheli schildert den langen Prozess des Experimentierens und Stabilisie- rens ebenjener Standards und erläutert, dass der Rorschachtest in seinen proto- typischen Stadien selbst Gegenstand zahlreicher Tests war. Zugleich erkundet er die massenmedialen und paratextuellen Nutzungen des Rorschachtests, in denen nicht nur die Bedingungen, sondern auch die Grenzen der Testsituation neu verhandelt werden. Die Bilder von OLIVER HEISE, die die rezente Geschichte der pandemi- schen Testinfrastruktur dokumentieren, zeigen ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen diskreten Testsituationen, ihren Infrastrukturen und ihrer raumzeitli- chen Ausweitung. Offizielle Covid-19-Tests haben einerseits streng standardi- siert abzulaufen. Andererseits fügen sie sich in Orte des Alltags wie Tankstellen, Baumärkte, Bahnhöfe oder Shoppingcenter ein (Abb. 1). Diese infrastrukturelle SCHWERPUNKT 13 SEBASTIAN GIEßMANN / CAROLIN GERLITZ Verschränkung zeigt, wie das Fortbestehen des Alltags in der Pandemie an ein Fortbestehen dauerhafter Testsituationen gekoppelt wurde, die möglichst niedrig schwellig gestaltet sein sollten. So ist die Testsituation zwar einerseits klar begrenzt, kann jedoch niemals abgeschlossen werden, da das Testergebnis lediglich als Momentaufnahme stabilisiert ist und zur weiteren Teilnahme am Alltag regelmäßig wiederholt und zertifiziert werden muss.17 In seinem Beitrag zum Radar erzählt CHRISTOPH BORBACH eine andere Geschichte der Ausweitung der Testsituation. Er zeigt, wie die Entwicklung und Nutzung dieser Technologie durch Kaskaden ineinandergreifender industrieller Tests gekennzeichnet ist. Diese zentrale medienhistorische Rolle des Tests er- gibt sich, so Borbach, aus der Tatsache, dass menschliche Sinne die Funktionali- tät der Technologie nicht direkt überprüfen können. Da Störungen der Techno- logie sich anders als bei anderen Medien nicht direkt zeigen, wurden heterogene Tests und Simulationen notwendig, um das Funktionieren des Radars zu über- prüfen und seine Nutzbarkeit zu stabilisieren. Zudem entstanden im Kontext der Radarproduktion Hochsee-Testsimulatoren, die realweltliche Bedingungen nachbauten und als Vorläufer virtueller Tests zu verstehen sind. Die von Marres und Stark diagnostizierte Migration der Tests aus dem L abor in den Alltag demonstriert der Beitrag von GABRIELE SCHABACHER und S OPHIE SPALLINGER zu den sogenannten Zukunftsbahnhöfen der Deutschen Bahn, in denen in ausgewählten realen Bahnhöfen neue Technologien, Mate- rialitäten und Praktiken öffentlich getestet werden. Angesiedelt an der Grenze zwischen Marketingmaßnahme und Innovationslabor in the wild dienen diese Testräume dazu, materielle und datenbasierte Gestaltungsoptionen von Mobili- tät zu explorieren, die sonst rechtlich nicht möglich sind, wie z. B. automatisierte Gesichtserkennung oder KI-basierte Gefahrenwarnung in Echtzeit. Sie tragen so dazu bei, diese Technologien zu normalisieren. Die Testsituation wird dabei nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar. Was eigentlich getestet wird, steht im Vorfeld nicht immer fest – sind es Technologien der Gesichtserken- nung, ihre soziale Akzeptanz, ihre eigene Testbarkeit? Im Zukunftsbahnhof tre- ten zudem die umgebenden und umweltlichen Qualitäten 18 von Tests sowie ihre körperlich-affektiven Dimensionen zu Tage, die zugleich Grundlage des perma- nenten Testens sind. Eine andere Entgrenzung des Tests erörtert DANIELA HOLZER in ihrem Beitrag zu den Survival-Tests der YouTube-Realityshow 7 vs. Wild. Auch hier hat der Test das Labor verlassen. Die Serie testet die Fähigkeit der Kandidat*innen, 17 Vgl. zur Zertifizierung Lawrence in der Wildnis zurechtzukommen und ohne die Infrastrukturen der Zivilisa- Busch: Standards. Recipes for Reality, tion zu überleben. Zugleich versteht Holzer die Serie als soziales Experiment Cambridge (MA), London 2011, doi.org/10.7551/mitpress/8962.001.0001. neoliberaler Zukunftsszenarien, das die gesellschaftlichen Fähigkeiten zur 18 Zu umgebenden Medien Selbst optimierung und Selbstkontrolle auf die Probe stellt. Im Kontext der vgl. Florian Sprenger: Epistemo - logien des Umgebens. Zur Geschichte, Plattform YouTube ist die Serie zudem selbst der permanenten Testung ihrer Ökologie und Biopolitik künstlicher Popularität durch plattformisierte Interaktionsformen wie Likes, Kommentare environments, Bielefeld 2019, doi.org/10.1515/9783839448397. und Views ausgesetzt. 14 ZfM 29, 2/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Dieselbe Entgrenzung entfaltet mit datenintensiven Tests in virtuellen und auf KI basierenden Umgebungen eine weitere Dimension, die es zu erkun- den gilt. Durch Virtualisierung können Objekte und Umgebungen an immer neuen Testsituationen teilhaben. Zugleich sinken die Testbedingungen und damit ihre Aushandlung zunehmend in Infrastrukturen hinab, die von wenigen Akteur*innen kontrolliert werden. STEFAN RIEGER legt dar, wie virtuelle und auf Simulationen basierende Tests als Öffnung von Möglichkeitsräumen, z. B. für die ressourcenschonende Entwicklung neuer Technologien, genutzt werden können. Virtuelles Testen dient dadurch weniger einer Vergewisserung, sondern erprobt noch nicht stabilisierte Technologien und Szenarien. Derart offene vir- tuelle Tests stellen jedoch stets ihre eigene Virtualität zur Disposition, wenn die Leistungen des virtuellen testbed mit realen Umgebungen verglichen werden. In ihrem Gespräch zu KI-Tests widmen sich NOORTJE MARRES und P HILIPPE SORMANI der feministischen Frage der «Blindheit der Maschinen gegenüber der Welt»19 und erörtern, inwiefern Künstliche Intelligenz gegen- wärtig zunehmend in der Lage ist, durch konstante Datenerfassung, u. a. mit Sensoren, kontext- und situationssensibel zu operieren. Sie problematisieren, dass fehlgeschlagene KI-Anwendungen – wie z. B. Microsofts Twitter-Chatbot Tay, dem von Nutzer*innen binnen 24 Stunden durch Interaktion eine rassis- tisch-sexistische Sprache antrainiert wurde – als ethisches Problem mangelnder Werte gerahmt werden statt als Ergebnis fehlender Kontextsensibilität. Ihrer These nach muss KI permanent beweisen, inwiefern der Kontextbezug glückt oder nicht. Gelingt der Situationsbezug, so verbleibt die Arbeit der KI unsicht- bar in der computerisierten Infrastruktur – gelingt er nicht, wird die KI Gegen- stand öffentlicher Kontroversen. So verschiebt sich der Fokus innerhalb der Beiträge von der Analyse der M edien des Testens hin zum Testen der Medien selbst, insofern Medien samt ihrer Vermittlungsleistungen kritisch zur Disposition gestellt werden. Tests erscheinen so als grundlegender Bestandteil der kooperativen Verfasstheit digi- taler, lernender Medien. Datengesellschaft: eine potenziell permanente Testsituation Quer durch alle Beiträge tritt die zentrale Rolle von Daten in Testpraktiken und 19 Vgl. den Beitrag von Marres und Sormani in dieser Ausgabe. -situationen hervor, die zugleich eine politische Dimension des Testens mar- 20 Vgl. Kate Crawford: Atlas of AI. kiert. Tests basieren auf Daten und stellen selbst Daten her, die Teil w eiterer Power, Politics, and the Planetary Costs of Artificial Intelligence, New Haven, Bewertungs- und Entscheidungspraktiken werden. Dies können Daten sein, London 2021, doi.org/10.2307/j. die gezielt für die Testsituation erhoben werden, wie z. B. die Kameradaten zur ctv1ghv45t; Jenna Burrell: How the Machine «Thinks»: Understanding Gesichts- und Gefahrenerkennung in Testbahnhöfen, die verschiedenen Mes- Opacity in Machine Learning sungen bei der Testung von Radartechnologien oder die sensorische Erfassung Algorithms, in: Big Data & Society, Bd. 3, Nr. 1, 2016, 1 – 12. von Umgebungen durch autonom fahrende Autos. Doch es können auch sol- doi.org/10.1177/2053951715622512; che Daten sein, auf die digitale Medien zugreifen können und mittels derer sie Massimo Airoldi: Machine Habitus. Toward a Sociology of Algorithms, trainiert werden.20 Cambridge 2022. SCHWERPUNKT 15 SEBASTIAN GIEßMANN / CAROLIN GERLITZ Die Daten- und Rechenintensität digitaler Medien schafft auf der einen Seite die Grundlage für permanentes Testen, auf der anderen Seite macht sie dieses aber auch unabdingbar, muss die Art und Weise, wie Daten verarbeitet werden, doch selbst immer wieder überprüft und angepasst werden. Daher ist das Testen 21 Vgl. zur Rolle der Hochge- schwindigkeitskamera und und Kalibrieren der Medien des Testens ein wesentliches Element ihrer Ge- elektrischer Sensoren im Falle des schichte.21 Tests bilden ein Grundprinzip der Gestaltung analoger wie digitaler Crashtests Greg Siegel: Forensic Media. Reconstructing Accidents Medien, wurden als Methode zur Softwareentwicklung zentral 22 und prägten die in Accelerated Modernity, Durham, Idee des Perpetual Beta im frühen Web 2.0. Sie entfalten ihre sozio-technischen London 2014, 143 f. 22 Vgl. David Gelperin, Bill Implikationen heute in verbreiteten Praktiken des A / B-Testing durch und auf Hetzel: The Growth of Software digitalen Plattformen und sind charakteristisch für agile Entwicklungsprakti- Testing, in: Communications of the ACM, Bd. 31, Nr. 6, 1988, 687 – 695, ken.23 Digital vernetzte Medien sind nicht darauf ausgerichtet, abgeschlossen doi.org/10.1145/62959.62965; zu werden, sondern werden anhand zunehmend entgrenzter Testreihen weiter- G lenford J. Myers, Corey Sandler, Tom Badgett: The Art of Software entwickelt, ob als öffentliche Demonstration autonomen Fahrens,24 als Tests ge- Testing, Hoboken, New Jersey 2012 nerativer Sprachmodelle, in der Entwicklung neuer Apps oder dem häuslichen [1979]. 23 Vgl. David Stark: Testing and Testen neuer Technologien.25 Dies beinhaltet Praktiken des öffentlichen Testens Being Tested in Pandemic Times, in und mit heterogenen Datenöffentlichkeiten, die sich bis zur kontroversen in: Sociologica, Bd. 14, Nr. 1, 2020 = Sonderband: Society after COVID-19, Aushandlung neuer Technologien maschinellen Lernens und der sensorischen hg. von dems., Elena Esposito, Aufrüstung medialer Räume erstrecken. Flaminio Squazzoni, 67 – 94, doi.org/10.6092/issn.1971-8853/10931. Während die Bewertungs-, Valorisierungs- und Entscheidungspraktiken 24 Vgl. Noortje Marres: Co- datenb asierter Medien zunehmend in den Fokus kritischer Medien- und Sozial- existence or Displacement: Do Street Trials of Intelligent Vehicles Test forschung gerückt sind,26 ist ihre Verschränkung mit testenden Praktiken noch Society?, in: The British Journal of Soci- nicht umfassend diskutiert. Tests, so unsere These, sind zentraler Bestandteil ology, Bd. 71, Nr. 3, 2020, 537 – 555, doi.org/10.1111/1468-4446.12730. unserer Datengesellschaft. Sie multiplizieren die Situationen, an denen Daten 25 Vgl. Digital Culture & Society, teilnehmen,27 und verlangen daher nach trans- und postsituativen Zugängen.28 Bd. 9, Nr. 1, 2023: Taming Digital Practices: On the Domestication of Die Analyse von Testgesellschaften fordert das Feld der Datenkritik 29 he- Data-Driven Technologies, hg. v. Tim raus, sich noch stärker der Verschränkung von online und offline, digitalen Hector, David Waldecker, Niklas Strüver, Tanja Aal. und physisch-materiellen Umgebungen, menschlichen und technischen Sen- 26 Vgl. Jonathan Kropf, Stefan sorien zuzuwenden. Je mehr Tests in die computerisierte Infrastruktur absin- Laser (Hg.): Digitale Bewertungs- praktiken. Für eine Bewertungssoziologie ken, umso mehr operieren sie dabei zwischen den Modi in the wild und in the des Digitalen, Wiesbaden 2019. lab. Im Einsatz digitaler Zwillinge und Simulationen in der Echtzeittestung, 27 Vgl. Carolin Gerlitz: What Counts? Reflections on the Multi- z. B. bei der Optimierung von Fabriken, in der autonomen Mobilität oder in valence of Social Media Data, in: generativen KI-Modellen verschränkt sich das Labor in neuer Form mit der Digital Culture & Society, Bd. 2, Nr. 2, 2016, S. 19 – 38, doi.org/10.25969/ Gesellschaft. Damit bringen daten- und rechenintensive Testsituationen so- mediarep/941. wohl menschliche als auch technische Sensorien zusammen und verknüpfen 28 Vgl. zur multiplen Situiertheit Erhard Schüttpelz: Vom Werkzeug sie auf neue Weise. In der Forschung hat dies zurück zu einer grundlegenden zum Behälter, vom Behälter zum Frage 30 der Medienwissenschaft geführt: Wie erweitern, verschränken und ko- Medium: Die Ausweitungen des Körpers, in: Nina Engelhardt, konstituieren 31 sich menschliche Sinne durch Medien und – wie wir ergänzen Johannes F. M. Schick (Hg.): Erfinden, wollen – durch ihre Tests? Im Gegensatz zu Instrumenten tragen Medien zu Schöpfen, Machen. Körper- und Imagina- tionstechniken, Bielefeld 2021, 25 – 72, einer Denaturierung der Sinne bei und ko-konstituieren in konkreten Situati- doi.org/10.14361/9783839448373- onen, was Sinneswahrnehmung bedeutet. Dementsprechend trägt die Einbet- 002; Michael Dieter u. a.: Multi- Situated App Studies: Methods and tung von Sensoren in Medien und Umgebungen zu einer Rekonfiguration der Propositions, in: Social Media + Soci- menschlichen Sinne bei. Der Einsatz sensorischer Medien, die Daten zu Bewe- ety, Bd. 5, Nr. 2, 2019, 1 – 15, dx.doi. org/10.1177/2056305119846486. gung im Raum, Temperatur, Position, Vitalfunktionen, Puls, Hautwiderstand, 16 ZfM 29, 2/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Mimik oder Gestik erfassen und z. B. in der YouTube-Serie 7 vs. Wild oder in den ‹Proxys› der Testung von Radartechnologie zum Einsatz kommen, bringt menschliche und technische Sensorien in Austausch. Tests sind in einem solchen sozio-technischen Verständnis dieses neuen «sozialen Sensoriums»32 eingebettet und gestalten somit die Politiken des Sinnlichen.33 Die Frage lautet also nicht nur, i nwiefern ubiquitäre Tests als solche wahrnehmbar sind, sondern – im Sinne der bei B enjamin angelegten Frage – wie Tests und ihre Medien selbst unsere Wahrnehmung und Sinneskonstitution prägen. Vermengt werden in diesem Kontext präzis-geschlossene Testergebnisse (richtig / falsch, ja / nein) mit offenen Tests, deren Ziel die Erkundung von Mög- lichkeitsräumen darstellt. In den Zukunftsbahnhöfen tritt diese Verschränkung besonders zu Tage – so zielen die Tests zur Gesichtserkennung einerseits auf die Präzisierung der Erkennung unter realweltlichen Bedingungen ab. Anderer- seits werden sie auch dann als erfolgreich angesehen, wenn sie scheitern, da sie die soziale Akzeptanz und Gewöhnung der Technologien selbst testen. Sie tra- gen damit im Sinne von David Stark nicht zu einer geschlossenen predictability zukünftiger Szenarien, sondern zu einem Klima der preparedness bei.34 Oder sie stellen, wie im Beitrag von Stefan Rieger analysiert, das Verhältnis zwischen 29 Vgl. Andrew Iliadis, Federica dem Realen und dem Imaginativ-Virtuellen per se in Frage. Russo: Critical Data Studies: Digitale Medien werden potenziell zu einer permanenten, multiplen Test- An Introduction, in: Big Data & Society, Bd. 3, Nr. 2, 2016, doi. situation, die es im Sinne einer kritischen Medienforschung sichtbar zu machen org/10.1177/2053951716674238. gilt. Während Marres und Stark argumentieren, dass Tests die Labore verlassen 30 Vgl. Chris Salter: Sensing M achines: How Sensors Shape our haben und nun mitten in der Gesellschaft stattfinden und diese testen, ergibt E veryday Life, Cambridge (MA) 2022. sich aus Sicht der Medienforschung ein weiterer Befund: Tests sind funda- 31 Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of mentaler Bestandteil digitaler, datenbasierter und lernender Medien. Lernen- Man. Critical Edition, hg. v. Terrence de Medien sind im Dauertestbetrieb und verschränken dabei die involvierten W. Gordon, Berkeley 2011 [1964].; Sebastian Scholz: Sensing the Akteur*innen, Umgebungen und Artefakte auf neue Weise. Ihr Ubiquitär-Wer- «Contemporary Condition»: The den und ihre Entgrenzung erfolgen jedoch weder naht- noch bruchlos, sondern Chronopolitics of Sensor-Media, in: Krisis | Journal for Contemporary Philos- werden zunehmend kontrovers. ophy, Bd. 41, Nr. 1, 2021, 135 – 156, doi.org/10.21827/krisis.41.1.36967; Joseph Vogl: Becoming-Media: Galileo’s Telescope, in: Grey Room, Politiken des Testens Nr. 29, Herbst 2007, 14 – 25, doi.org/10.1162/grey.2007.1.29.14. So hat insbesondere der Verlauf der Covid-19-Pandemie gezeigt, wie ältere 32 Adam Yuet Chau: The Sensorial biopolitische Testregime wieder aufgenommen und aktualisiert werden kön- Production of the Social, in: Ethnos, Bd. 73, Nr. 4, 2008, 485 – 504, nen. Zugleich wurden Test- (Abb. 2) und Impfzentren, PCR- und Schnelltests doi.org/10.1080/00141840802563931. von neuen Apps zum Tracing und Tracking, Registrieren und Identifizie- 33 Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik ren 35 flankiert, die wiederum alte biosoziale Kontrolltechniken remediatisiert der Kunst und ihre Paradoxien, hg. v. haben. Nahezu jedes Detail pandemischer (Test-)Infrastrukturen unterlag Maria Muhle, Berlin 2008. 34 Vgl. Stark: Testing and Being in demokratischen Gesellschaften fortwährender öffentlicher Prüfung und Tested in Pandemic Times. k ontroversen Aushandlungsprozessen. Diese wurden insbesondere durch 35 Vgl. Sebastian Gießmann: Identifizieren, in: Heiko Christians, divergierende Interpretationen der pandemischen Statistik noch befeuert. In Nikolaus Wegmann, Matthias diesem Sinne lässt sich die Pandemie als fortwährende Lektion hinsichtlich der Bickenbach (Hg.): Historisches Wörter- buch des Mediengebrauchs, Bd. 3, S ituationsbezogenheit und existenziell notwendigen Kollektivität des Testens Köln 2022, 134 – 162. SCHWERPUNKT 17 SEBASTIAN GIEßMANN / CAROLIN GERLITZ Abb. 2 Testzentrum am Bahnhof auffassen. Dies umfasste die Orientierung an grafischen Verläufen («flatten Steinbeck (Wuppertal), the curve») und numerischen Repräsentationen (Ansteckungszahlen, R-Wert, Oliver Heise: symptom, Folkwang Universität der Künste, prozentualer Anteil von Geimpften an der Bevölkerung), aber auch den Über- September 2022, Orig. i. Farbe gang der Testpraxis vom offiziellen Getestet-Werden zum eigenverantwortlich durchzuführenden Selbsttest. Keine Ausweitung der Testzone kann Absolutheit beanspruchen. Selbst wenn Tests ubiquitär und sozial verpflichtend oder zu einem Teil von daten- und rechenintensiver Hintergrundkooperation werden, bleiben auf Basis von Tests getroffene Entscheidungen situationsbezogene Mikroentscheidungen. Diese irreduzible Verteiltheit des Testens – das selbst verteilenden Charakter hat – macht es zu einem fundamentalen Bestandteil von Gesellschaften, die biosoziales Testen kaum ohne die kontroverse Kombination von Datenpraxis und Sozialstatistik vollziehen können. Kaskadierendes Testen schafft Kontroll- und Normalisierungsinstanzen, in denen gegen einen bestehenden oder sich gerade etablierenden Standard getestet wird. Auch in miteinander verbundenen Tests wird ein Ergebnis anhand von Skalen und / oder auf wenige Elemente re- duzierten Displays bewertet, um daraufhin – mittels einer Klassifikation oder Selbstklassifikation – entscheiden zu können. Diese biopolitische Dimension des Testens kreiert durch ihre verteilte Situiertheit regulative Umgebungen, mit denen die Offenheit von Testsituationen eingehegt wird. 18 ZfM 29, 2/2023 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Demgegenüber verfügen Testgesellschaften aber auch über die politische Möglichkeit, durch exploratives, erprobendes Testen neue Möglichkeitsräume entstehen zu lassen. Die Konjunktur von Simulationen, living labs, virtuellen und realen testbeds lässt sich als ein Indiz hierfür auffassen, ebenso wie die Mo- difikationen menschlicher Körper im Selbstversuch,36 aber auch das spielerische Gegen-Testen und die Analyse opaker Medientechnologien.37 Unser Umgang mit der Allgegenwart von Testsituationen, die Daten- und Rechenintensität, Sensorik und maschinelles Lernen kombinieren, erfordert nicht nur in den Wissenschaften soziale Imagination, neue Fertigkeiten und Fähigkeiten, kre- ative Skills und kritische data literacies. Mit einem kurzen Ausprobieren von ChatGPT ist es jedenfalls nicht getan. Dies ist kein Test. Danksagung Wir möchten der Redaktion der ZfM für die organisatorische Unterstützung 36 «Der Test ist Medium neuer und den engagierten Austausch über das Schwerpunkt-Thema sehr herzlich Körper und Subjektivierungen», danken. Den Gutachter*innen des Peer-Review-Verfahrens verdankt dieses so Ulrike Bergermann (Test und Testosteron, hier 88). Heft eine Vielzahl produktiver Vorschläge zur Verbesserung, die wir besonders 37 Vgl. Maria Eriksson u. a.: würdigen wollen. Ausdrücklicher Dank gilt Inga Schuppener für die interne or- Spotify Teardown. Inside the Black Box of Streaming Music, Cambridge ganisatorische und redaktionelle Unterstützung. Die Arbeit an dieser Einleitung (MA), London 2019, insb. die wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projekt- Kapitel zu Interventionen, 19 – 20, 69 – 70, 105 – 106, 139 – 140, 173 – 174, nummer 262513311 – SFB 1187 «Medien der Kooperation». 193 – 194. — SEBASTIAN GIEßMANN, CAROLIN GERLITZ SCHWERPUNKT 19 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150204. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. D AV I D B U C H E L I BILDER GEBEN — Eine Objektgeschichte des Rorschachtests Testaufnahme Auf zehn Tafeln kommen Bilder von Tintenklecksen, erschienen 1921 im Verlag Ernst Bircher in Bern. «Die Herstellung solcher Zufallsformen ist sehr ein- fach».1 Das Verfahren, der Algorithmus, ist ein Kinderspiel. «These are pictures of inkblots. Actually, the kind you probably made yourself when you were a child. Just blots of ink in the paper folded over.» Der Filmpsychiater nimmt den Stapel mit den Tafeln beiläufig aus der Schublade 1 Hermann Rorschach: Psycho- und legt ihn vor sich auf den Schreibtisch. diagnostik. Methode und Ergebnisse «What’s it for?», will die Frau auf dem Divan im Schein der Schreib- eines wahrnehmungsdiagnostischen Experiments (Deutenlassen von Zufalls- tischlampe wissen. formen), Bern, Leipzig 1947 [1921], «It’s another way of examining personality. I’m going to hand them to you 15. Wo nicht anders vermerkt, wird aus dieser 5., erweiterten one by one. And all you have to do is telling me what you see there.»2 Auflage zitiert. Robert Siodmaks The Dark Mirror von 1946 ist ein Noir-Melodrama im 2 The Dark Mirror, Regie: Robert Siodmak, USA 1946 Verleih von Universal Pictures und gilt gemeinhin als erster Film, in dem der (TC 00:35:16 – 00:35:35). Rorschachtest zu sehen ist.3 Die Szene, in der die – des Mordes verdächtig- 3 Vgl. Franklin Fearing: Psycho- logy and the Films, in: Hollywood te – Terry Collins (Olivia de Havilland) von dem Psychologen Dr. Elliot (Lew Quarterly, Bd. 2, Nr. 2, 1947, 118 – 121, Ayres) getestet wird, hält sich akkurat an die Standards aus der Fachliteratur. hier 118. Der ebenfalls 1946 pro- duzierte Dokumentarfilm Let There Der Versuchsleiter und die Versuchsperson befinden sich in einem ruhigen Be Light von John Huston, der US- Zimmer, die zehn Testtafeln liegen verdeckt auf einem Stapel vor dem Ver- amerikanische Kriegsveteranen mit posttraumatischen Belastungs- suchsleiter. Durch «einige einleitende Sätze, die genau abgewogen sein und der störungen bei der Durchführung von ganzen Situation entsprechen müssen, die aber nicht schematisch sein dürfen», Rorschachtests zeigt, wurde vom US-Militär konfisziert und erst 1980 wird die Versuchsperson vorbereitet.4 «Misstrauischen Versuchspersonen muss veröffentlicht. man gelegentlich die Art der Herstellung derartiger Bilder ad oculus demons- 4 Walter Morgenthaler: Einfüh- rung in die Technik von Rorschachs trieren. Im ganzen wird aber das Experiment sogar von misstrauischen und ge- Psychodiagnostik, in: Rorschach: sperrten Geisteskranken nur relativ selten abgelehnt.»5 Hatte Walter Be njamin Psychodiagnostik, 217 – 234, hier 223. 5 Rorschach: Psychodiagnostik, 16. in seinem «Kunstwerk»-Aufsatz schon auf die strukturelle Ähnlichkeit von 20 ZfM 29, 2/2023 Testsituationen und der Aufnahmesituation im Filmstudio hingewiesen, wird Abb. 1 / 2 The Dark Mirror hier das Testdispositiv vollends kenntlich als filmische mise-en-scène.6 Sogar die (Regie: Robert Siodmak, USA 1946), Screenshots Ausleuchtung der Szene orientiert sich an einschlägigen Regularien: «Wichtig ist die Beleuchtung. Das Licht soll von links oder schräg hinten auf die in der Hand gehaltene Tafel fallen.»7 Es ist auf mittlere, gleichbleibende Lichtbedin- gungen zu achten. Die «Hauptsache» sei – schreibt Hermann Rorschach 1921 in seiner Hauptpublikation Psychodiagnostik –, «dass das Experiment möglichst frei von allem Zwange durchgeführt werde.»8 Sind die materiellen und psychologischen Vorbedingungen erfüllt, kann das Testen beginnen. Die Tintenkleckse kommen mit einer Frage, die eigent- lich eine Sehanweisung ist. Die Versuchsperson ist aufgefordert, sich ein Bild zu machen. Die Versuchsperson erhält eine Tafel um die andere in die Hand und wird gefragt: «Was könnte dies sein?» Sie darf die Tafel nach Belieben drehen und wenden. Auch die Entfernung der Tafeln von den Augen ist dem Belieben der Versuchsperson überlassen, nur sollten die Bilder nicht aus der Ferne betrachtet werden. […] Es wird nach Möglichkeit, aber selbstverständlich unter Vermeidung aller suggesti- 6 Vgl. Walter Benjamin: Das ven Momente, darauf gedrängt, dass zu jeder Tafel wenigstens eine Antwort gegeben Kunstwerk im Zeitalter seiner tech- wird. Im übrigen wird solange weiterprotokolliert, als eben die Antworten fliessen.9 nischen Reproduzierbarkeit (zweite Fassung), in: ders.: Gesammelte Schrif- ten, Bd. VII.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Wir haben es mit einer streng geregelten Prozedur zu tun. Ein Spiel des Hermann Schweppenhäuser, Frank- furt / M. 1989, 350 – 384, hier 365. Zeigens und Verbergens, des Beschreibens und Beschriebenwerdens. Durch 7 Morgenthaler: Einführung, 220. ebenjenen Akt, in dem Terry die Tafeln beschreibt, wird zugleich sie selbst 8 Rorschach: Psychodiagnostik, 16. 9 Ebd. beschrieben und klassifiziert. Wie sie die Tafeln in den Händen zu halten und 10 Vgl. Martina Wernli: Fleder- zu betrachten hat, folgt präzisen Instruktionen. Denn nur unter r igoroser Ein- mäuse, tadellose Rindviehbären und allerlei Konfabulatorisches. Test, haltung der Testbedingungen bringen die Tafeln ein ‹verräterisches S prechen› Experiment und Sprache im Umfeld hervor.10 Zur Sprache gebracht wird ein prozedurales Subjekt, das in der Ex- von Hermann Rorschachs Psycho- diagnostik, in: Michael Bies, Michael position der Tafeln eingefangen und psychometrisch erfassbar wird. Die Gamper: «Es ist ein Laboratorium, s ogenannten ‹Zufallsformen› sind mehr als Unfälle an der Grenze zur Figura- ein Laboratorium für Worte». Experiment und Literatur III, Göttingen 2011, tion. Sie sind Testbilder im medientechnischen Sinn: ein standardisiertes Set 112 – 136. SCHWERPUNKT 21 DAVID BUCHELI visueller Information, das von einem Medium (hier: Terry) prozessiert wird und dabei einem normierenden Blick, einer qualifizierenden, klassifizierenden und sanktionierenden Überwachung ausgesetzt ist. Der Blick auf die Tafeln lässt nichts sehen, was nicht auf besondere Weise auch die Sehende selbst sicht- bar werden lässt. Was Versuchspersonen aus den Bildern machen, ihre Inter- pretation und Beschreibung, reflektiert in den Worten des Versuchsleiters im Film «the true secret patterns of their own minds and personalities».11 Später, als Terry das Sprechzimmer verlassen hat, werden die qualitativen Antworten ausgewertet, in numerische Daten übersetzt und zum s ogenannten Psycho- gramm verrechnet. Die Anzahl der Antworten, ihre D etermination durch Form, Farben und Bewegungsempfindungen, die Lokalisation der Antworten auf den Tafeln und ihre Originalität stellen bei den B erechnungen entschei- dende Faktoren dar. Das Ergebnis ist Persönlichkeitsdiagnose, psychopatho- logische Klassifikation und Intelligenzprüfung in einem. Und es indiziert schließlich, was im Film Noir unvermeidlich ist: Terry erweist sich als Femme fatale, «very clever, very intelligent, but insane», und ist wegen dringenden Mordverdachts zu verhaften.12 The Dark Mirror markiert in der Geschichte des Rorschachtests jenen Moment, in dem der Tintenklecks vom spezialisierten psychodiagnostischen Instrument zu einer populären Chiffre für das Ambige und Verborgene der Persönlichkeit wird. ‹Persönlichkeit› meint in diesem Zusammenhang jene « affective or nonintellectual aspects of behavior», die ab den 1930er Jahren von Psycholog*innen zunehmend durch projektive Testverfahren untersucht wer- den.13 Der Rorschachtest kann als früher Vertreter solcher Persönlichkeitstests gelten. Doch entfaltet er seine Wirkung nicht unmittelbar nach seiner Publika- tion 1921 durch den Schweizer Psychiater Hermann Rorschach, sondern erst nachdem er ab 1930 im Gepäck deutscher Emigrant*innen an US-amerikani- schen Universitäten Einzug hielt. Ein psychologischer Test ist, gemäß einer klassisch gewordenen D efinition von Anne Anastasi, «essentially an objective and standardized measure of a 11 The Dark Mirror sample of behavior».14 Rorschachs Testbegriff unterscheidet sich signifikant von (TC 00:42:16 – 00:42:20). dieser Begriffsbestimmung. ‹Test› bezeichnet für ihn kein Verfahren, sondern 12 Ebd. (TC 00:42:32 – 00:42:36). 13 Anne Anastasi: Psychological ein Objekt. Als die Psychodiagnostik im Verlag Ernst Bircher in Bern erscheint, Testing, 6. Aufl., New York 1990 umfasst die Publikation zwei sehr verschiedene Teile: einerseits einen Textband, [1954], 17. 14 Ebd., 23. andererseits einen «zugehörigen Test, bestehend aus zehn teils farbigen Ta- 15 Hermann Rorschach: Psycho- feln».15 Mit ‹Test›, ‹Tests› oder auch ‹Testapparat› bezeichnet Rorschach die diagnostik. Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungsdiagnostischen Tafeln selbst als tangible Bildträger und Instrumente der Wissensproduktion. Experiments (Deutenlassen von Test meint hier zunächst keine Prozedur des Examinierens und Bewertens, son- Zufallsformen), Bern, Leipzig 1921, Titelblatt. dern schlicht die Hardware des Testens. 16 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Ich möchte diesen Hinweis auf die materielle Verfasstheit des Rorschach- Experimentalsysteme, Epistemische Dinge, Experimentalkulturen. Zu tests aufnehmen und im Folgenden aufzeigen, wie Bilder von Tintenklecksen einer Epistemologie des Experiments, zu technischen Objekten im Sinne Hans-Jörg Rheinbergers werden16 – und damit in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 42, Nr. 3, 1994, 405 – 417. zur materiellen Grundlage einer klassifizierenden Testanordnung, die von der 22 ZfM 29, 2/2023 BILDER GEBEN explorativen Struktur des Experiments in den empirischen Wissenschaften ab- gegrenzt werden kann. Die Überführung der Klecksbilder von Kontingenz in Normativität wird als medientechnisches Problem verhandelt, das die filmische Inszenierung mit Rücksicht auf (Un-)Darstellbarkeit zu ihrem eigentlichen Thema macht. Kontrollierte Sichtbarkeit Als The Dark Mirror im Oktober 1946 in die US-Kinos kommt, dürfen die Studiov erantwortlichen den inkblot test beim Publikum als bekannt voraussetzen. «By the midforties practically every American had a son, brother, or other loved one who had been given psychological testing in the draft; an increasing number had taken such tests themselves.»17 Wer dem Test nicht selbst beim Mi- litär, bei der Stellensuche, beim Behördengang oder in der Klinik begegnet ist, kann wenige Wochen vor dem Filmstart in der Illustrierten Life nachlesen, wie Tintenkleckse für Persönlichkeitstests genutzt werden. Wie im Film wird auch in der Illustrierten auf ein spielförmiges Wissen referiert, das das bürgerliche Subjekt schon als Kind für sich entdeckt hat: Children play a fascinating game with paper and ink. They fold the paper over a drop of ink and try to see shapes like witches and bats and castles in the blot. Thirty-five years ago a Swiss psychiatrist named Herman [sic] Rorschach got the idea that the different things people see in ink blots might be a good index to their various per- sonalities. Since then the Rorschach test has been increasingly used by psychologists, educators and even employers to help determine the structure of personalities.18 Was Terry im Film einmal als «kindergarten games» bezeichnet,19 hat sich in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit zu einem weit verbreiteten Test- instrument in der militärischen, industriellen und klinischen Persönlichkeits- prüfung entwickelt. Die Hollywood-Inszenierung ist instruktiv. Sie folgt dem psychodiagnostischen Testverfahren in all seinen akribisch recherchierten Details. Warum Dr. Elliot vor Versuchsbeginn das Ticken seiner Uhr kon- trolliert und sie unauffällig vor sich auf dem Schreibtisch platziert, wird im Film nicht kommentiert. Tatsächlich stellt die Reaktionszeit einen zentralen Versuchsfaktor dar und muss neben allen Antworten oder Ausflüchten proto- kolliert werden, «ohne dass die Vp. [Versuchsperson] dies wahrnimmt».20 Dass 17 Damion Searls: The Inkblots. Terry während der Befragung auf einer Couch liegt – dem psychoanalytischen Hermann Rorschach, His Iconic Test, and the Power of Seeing, New York Möbel schlechthin –, ist eher ungewöhnlich, aber durchaus vereinbar mit den 2017, 208. Handbuchinstruktionen. Nach Walter Morgenthalers Einführung in die Technik 18 O. A.: Personality Tests. Ink blots are used to learn how people’s von Rorschachs Psychodiagnostik von 1940 sitzt der Versuchsleiter «entweder im minds work, in: Life, Bd. 21, Nr. 15, rechten Winkel zu ihr mit dem Rücken gegen das Licht, oder aber rechts oder 7.10.1946, 55 – 60, hier 55. 19 The Dark Mirror links neben ihr, etwas zurück, jedenfalls so, dass er in unauffälliger Weise so- (TC 00:45:01 – 00:45:02). wohl Mimik und Motorik der Vp. wie die in der Hand gehaltene Tafel über- 20 Morgenthaler: Einführung, 222. blickt, ohne dass die Vp. seine Aufzeichnungen selber kontrollieren kann».21 21 Ebd., 221 f. SCHWERPUNKT 23 DAVID BUCHELI Die Inszenierung in The Dark Mirror befolgt so pe- dantisch jeden Standard des Rorschachverfahrens, dass eine zentrale Unstimmigkeit fast übersehen werden könnte: Die Bilder, die Terry nacheinander studiert und interpretiert, sehen nur auf den ersten Blick nach Rorschach aus. Hat das erste Testbild, abgesehen von einigen Klecksen um die Mittelach- se, noch täuschende Ähnlichkeit mit Tafel III der originalen Rorschachserie, ist die zweite Tafel be- reits offensichtlich frei erfunden. Auch die verklei- nerten Abbildungen auf Dr. Elliots Verrechnungs- schema haben höchstens entfernte Ähnlichkeit mit Rorschachs Klecksbildern. Und selbst Life, diese Abb. 3 The Dark Mirror Bilddatenbank US-amerikanischer Lebensart schlechthin, verzichtet in ihrer (Regie: Robert Siodmak, USA Ausgabe vom 7. Oktober 1946 auf die Wiedergabe der Originalserie und setzt 1946), Screenshot stattdessen eigens angefertigte Kleckse ein: «Because much of the effectiveness of the standard Rorschach blots depends upon their novelty, special new blots were used in this LIFE test.»22 Film und Illustrierte müssen sich also mit Platzhaltern anstelle von Testbil- dern behelfen. Das ist zunächst einmal nicht überraschend: Testbilder stehen im- mer schon anstelle anderer Bilder. Als proxies repräsentieren sie nichts, sondern stehen für Bildlichkeit an sich.23 «[D]eprived of any semantic dimension», pro- ben sie die Bedingungen ihrer eigenen Übertragung, Prozessierung, Darstellung oder Speicherung.24 Im Falle des Rorschachtests geht es um die Beob achtung von individuellen Wahrnehmungsmustern, die mit den Koordinaten einer psycho- grammatischen Landkarte korrespondieren: Nicht nur, was die V ersuchsperson in den Tafeln sieht, sondern auch wie sie die angeblichen Zufallsbilder zu sinn- vollen (d. h. bei Rorschach: konkret-figürlichen) Strukturen zusammenfasst, wie plausibel sie dabei Formen und Farben integriert und wie lange sie dafür benötigt, fließt in die Berechnungen ein, die sie am Ende als normal, neurotisch, p edantisch, depressiv, schwachsinnig, schizophren, melancholisch, dement, im- bezil, weltfremd oder Künstler*in klassifizieren werden. Zu den Vorbedingungen des Versuchs gehört, dass die Bilder das Testregime nicht verlassen dürfen. Rorschachs Methode beruht darauf, dass die Versuchs- person ebenso unvermittelt wie unvoreingenommen auf die – bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten – Tafeln blickt. Daher dürfen die Tafeln auch nicht außerhalb der standardisierten Prozedur gezeigt werden. Selbst bei flüchtiger 22 O. A.: Personality Tests, 55. Vorkenntnis der Kleckse «verfälschen bewusste und unbewusste Gedächtnis- 23 Vgl. Dylan Mulvin: Proxies. The Cultural Work of Standing In, leistungen das Resultat».25 Die Zirkulation der Testbilder unterliegt also einer Cambridge (MA) 2021, 83 ff. strengen Kontrolle. Die Tafeln können nur von ausgebildetem Fachpersonal 24 Mary Ann Doane: Bigger Than Life. The Close-Up and Scale in Cinema, bezogen werden, ihre unrechtmäßige Reproduktion und Verbreitung wird vom Durham, London 2021, 139. Rechteinhaber mit allen Rechtsmitteln bekämpft. Dieses faktische Bilderver- 25 Rorschach: Psychodiagnostik, 48. bot erlangt 2009 besondere mediale Aufmerksamkeit, als die Tafeln gegen den 24 ZfM 29, 2/2023 BILDER GEBEN Protest praktizierender Psychodiagnostiker*innen als JPG-Dateien in den Wikipedia-Artikel zum Rorschachtest eingepflegt werden. Die Hogrefe- Verlagsgruppe, die mittlerweile die Rechte an der Psychodiagnostik verwaltet und Rorschach als einge- tragenes Warenzeichen konsequent mit ® schreibt, prüft in dieser Sache rechtliche Schritte gegen Wikimedia.26 Tatsächlich ist die kontrollierte Sicht- barmachung der Tafeln schon in Rorschachs Text angelegt. Nicht nur sollen die Tafeln die Testan- ordnung nicht verlassen, auch die Maximaldistanz, aus der sie während des Versuchs betrachtet werden dürfen, ist vorgegeben: Abb. 4 Gobolinks or Shadow- Pictures for Young and Old, Die Versuchsperson soll die Tafel in der Hand behalten und die Länge des ausge- 1896, Umschlagrückseite (Orig. streckten Armes soll die höchstzulässige Entfernung sein. Es ist darauf zu achten, i. Farbe) dass die Versuchspersonen die Tafeln nicht vorzeitig aus der Ferne erblicken, da dies die Vorbedingungen des Versuchs verfälscht. Tafel I z. B. wird aus einigen Me- tern Entfernung oft als «Fuchskopf» gedeutet, aus der Nähe so gut wie nie. Hat aber eine Versuchsperson einmal aus der Ferne den «Fuchskopf» erblickt, so wird es ihr auch aus der Nähe schwer, in dem Bilde etwas anderes als eben diesen Fuchs- kopf zu sehen.27 Die Tafeln stellen eine Serie dar. Ihre Abfolge ist genau festgelegt, denn die «Reihenfolge der Bilder innerhalb der Serie ruht auf empirischen Ergebnis- sen».28 Für Rorschach kann jede unsachgemäße Anwendung und jeder unau- torisierte Blick auf die Bilder ihre Wirkungsmacht als Wahrheitstechnologie gefährden. Die zehn Originaltafeln, möglicherweise die meistinterpretierten Bilder des 20. Jahrhunderts,29 sind zugleich unter Verschluss und weltberühmt. Die Kleckse zirkulieren als Abwandlungen und Nachahmungen, als Klischee und Ornament. Wer sie zu kennen glaubt, hat vielleicht nie etwas anderes als Annäherungen gesehen. Auch zu Filmstoff und Freizeitlektüre werden sie nur als verfremdeter Abklatsch, als strategisch entstelltes Zitat. Ihre Herstellung soll ‹sehr einfach› sein, ihre Form zufällig. Und trotzdem dürfen die zehn Bil- der auf Rorschachs Tafeln – wie manche religiösen Ikonen oder kultische Arte- fakte – nur unter ganz bestimmten Bedingungen sichtbar werden. Es ist darum wichtig, die abgewandelten Tafeln in Film und Zeitschrift 26 Vgl. Noam Cohen: A Rorschach Cheat Sheet on Wikipedia?, in: nicht für einen Fehler zu halten. Sie probieren Varianten von Invarianz aus New York Times, 28.7.2009, nytimes. und reflektieren den normativen Status einer Wahrheitstechnologie als Er- com/2009/07/29/technology/internet/ 29inkblot.html (18.1.2023). gebnis von Aushandlungsprozessen, die immer auch anders aussehen könnten. 27 Rorschach: Psychodiagnostik, 16. Beide medialen Iterationen schaffen Bilder herbei, wo keine sein können, und 28 Ebd. 29 Vgl. Peter Galison: Image of gehen Wetten auf neue Konfigurationen ein. Die Frage, die Film und Illus- Self, in: Lorraine Daston (Hg.): Things trierte stellen, liegt auf der Hand: Warum sollen wir uns nicht eigene Kleckse That Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004, 257 – 294, ins Heft machen? hier 257. SCHWERPUNKT 25 DAVID BUCHELI Kinderspiele «Drop a little ink on a sheet of paper. Fold the sheet in the center and press the ink-spots together with the fingers. All of the pictures in this book were made in this manner – none of them having been touched with pen or brush.»30 Be- reits 1896 beflügeln Kleckse in den USA die Fantasie von Heranwachsenden. Ein populäres Bilderbuch von Ruth McEnery Stuart und Albert Bigelow Paine macht Leser*innen erstmals mit dem «Gobolink» bekannt; jenem «veritable goblin of the ink-bottle»,31 dessen Beschwörung ganz analog zur Herstellung von Rorschachs ‹Zufallsformen› funktioniert: «Einige grosse Kleckse werden auf ein Blatt Papier geworfen, dieses wird einmal gefaltet und der Klecks zwi- schen den Blättern verstrichen.»32 Ohne den Einsatz von Stift oder Pinsel l assen sich so die eigentümlichsten Erscheinungen heraufbeschwören: fantas- tische Tiere, Gesichter oder ganze Landschaften. «In fact the most unexpected and startling results will often occur – results grotesquely and strangely beau- tiful, well worthy of preservation.»33 Auf 100 Seiten versammelt Gobolinks or Shadow-Pictures for Young and Old solche spielerischen Klecksbilder und macht sich einen Reim auf sie. Dieselbe Praxis hat im deutschsprachigen Raum ein halbes Jahrhundert zu- vor schon der schwäbische Arzt und Okkultist Justinus Kerner erprobt, von dem Rorschach den Begriff der ‹Kleksographie› (teilweise auch ‹Klecksogra- phie› oder ‹Klexographie›) zeitweilig übernehmen wird. Kerner produziert un- 30 Ruth McEnery Stuart, Albert ter diesem Neologismus bereits ab den 1840er Jahren systematisch Klecksbil- Bigelow Paine: Gobolinks or Shadow- der in gefaltetem Papier und charakterisiert sie «kraft ihrer Doppelbildung» Pictures for Young and Old, New York 1896, ix. als «der Phantasie Spielraum lassende Gebilde der verschiedensten Art»,34 von 31 Ebd. denen er sich zu Gedichten inspirieren lässt. Kerner hebt die Symmetrie der 32 Rorschach: Psychodiagnostik, 15. 33 McEnery Stuart, Bigelow Paine: gefalteten Kleckse als besonders förderlich für die Herstellung figürlicher Ge- Gobolinks, ix. bilde hervor. Der Kontrollverlust und das Moment der Überraschung stellen 34 Justinus Kerner: Kleksographien. Mit Illustrationen nach den Vorlagen des dabei einen zentralen Reiz dieses autogenerativen Verfahrens dar. «Bemerkt Verfassers, Stuttgart 1890, vi. muß werden, dass man nie das, was man gern möchte, hervorbringen kann 35 Ebd., vii. 36 Friedrich Weltzien: Von Cozens und oft das Gegenteil von dem entsteht, was man erwartete.»35 Wie Friedrich bis Kerner. Der Fleck als Transfor- Weltzien festgestellt hat, rückte Kerner die Kleksographie sprachlich in die mator ästhetischer Erfahrung, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Nähe der Fotografie, wenn er in einem Gedicht die Figur eines Totenkopfs Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, als «klexografisch aufgenommen» beschreibt.36 Auch die frühe Fotografiethe- Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006, 1 – 15, hier 13. orie umrankt nach Peter Geimer «eine Rhetorik der ‹Selbsttätigkeit›».37 Ex- 37 Peter Geimer: Das Unvorher- emplarisch dafür steht Henry Fox Talbots Begriffsprägung der F otografie als gesehene, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im pencil of nature – als Bildproduktionsverfahren also, das die Natur zur Selbstein- Aufbruch, München 2007, 101 – 117, schreibung bringt und dem Kontingenten gegenüber offen ist.38 Die Klekso- hier 114. 38 Vgl. Henry Fox Talbot: The graphien als Kombination von Klecksbild und Beschreibung sind immer auch Pencil of Nature, London 1844. S chnappschüsse aufblitzender Bildhaftigkeit in einer Anordnung, die nur 39 Henri Ellenberger: Leben und Werk Hermann Rorschachs Rauschen kennt. «Tausende von Schweizer Kindern, darunter auch Hermann (1884 – 1922), in: Kenowa W. Bash Rorschach, hatten ‹Klecksographie› gespielt», wenn man dem Medizinhisto- (Hg.): Hermann Rorschach. Gesammelte Aufsätze, Bern 1965, 19 – 69, hier 47. riker Henri E llenberger glauben darf.39 Doch wie wird aus dem Kinderspiel 26 ZfM 29, 2/2023 BILDER GEBEN ein psychometrisches Messinstrument? Wie wird Kontingenz in Normativität überführt? Und welche medialen Operationen sind an der Dienstbarmachung amorpher Klecksbilder als Wahrheitstechnologie beteiligt? Test und Experiment Tests wie derjenige in The Dark Mirror sind Entscheidungsmaschinen. Es geht darum, klare Unterscheidungen zu produzieren zwischen normal und deviant, gesund und wahnsinnig, schuldig und unschuldig. Solche Tests stehen mit Rheinberger gesprochen nicht am Anfang, sondern am Ende eines ganzen Ex- perimentalsystems. Sie sind das Ergebnis von Stabilisierungsprozessen, die auf Bestimmtheit statt auf Mannigfaltigkeit abheben: Ein Einzelexperiment als der alles entscheidende Test einer deutlich umrissenen Vorstellung ist nicht die einfache, elementare Einheit der experimentierenden Wis- senschaften. Das Gegenteil muß angenommen werden. Jeder einfache Fall ist die ‹Degeneration› einer grundsätzlich komplexen Situation.40 Rheinberger hat in diesem Zusammenhang auch von einer « Reinigungsprozedur» gesprochen, die das differierende Rauschen in Experimentalsystemen beseitigen muss, um zu stabilen technischen Anordnungen zu gelangen.41 Im Gegensatz zu den epistemischen Dingen des Experimentalsystems sind technische Objek- te «im Rahmen der Reinheits- und Präzisionsstandards einer Zeit und einer Disziplin von charakteristischer Bestimmtheit».42 Experimentalsysteme sind «gebastelte Anordnungen» und ausgerichtet auf das kontinuierliche Auftreten neuer, unerwarteter Ereignisse.43 ‹Gebastelt› meint bei Rheinberger ein spezi- fisches Verhältnis zwischen epistemischen Dingen und technischen Objekten, das noch keine Standardroutinen kennt und gerade dadurch unvorwegnehmba- re Ereignisse hervorbringt: eine Wechselwirkung, «die ihrem Charakter nach nicht-technisch ist».44 Unter Tests hingegen versteht Rheinberger technische Anordnungen («Technik beruht auf Identität in der Ausführung»45), sie sind auf die Repetition vertrauter Kategorien ausgelegt und machen genau das sichtbar, was innerhalb der endlichen Genauigkeit eines Testregimes und seines Klassifi- 40 Rheinberger: Experimental- systeme, 408. zierungssystems darstellbar ist. In diesem strengen Sinn produzieren Tests keine 41 Ebd. radikalen Diskontinuitäten mehr, sondern forcieren die bestehenden symboli- 42 Ebd., 409. 43 Ebd., 410. schen Ordnungen. Daher eignen sie sich auch so gut als Machtinstrument, wie 44 Ebd., 409. Michel Foucault am Beispiel der Prüfung gezeigt hat. In Tests «verknüpfen sich 45 Hans-Jörg Rheinberger: Experi- ment – Differenz – Schrift. Anmerkungen das Zeremoniell der Macht und die Formalität des Experiments, die Entfaltung zur Geschichte epistemischer Dinge, der Stärke und die Ermittlung der Wahrheit».46 Marburg 1992, 71. 46 Michel Foucault: Überwachen Zum Test wird ein Experimentalsystem nach Rheinberger dann, wenn es und Strafen. Die Geburt des Gefängnis- seine Ermöglichungsfunktion als «Generator von Überraschungen» aufge- ses, Frankfurt / M. 1977 [1975], 238. 47 Rheinberger: Experimental- geben hat.47 «Sobald ein solches System sich auf sich selbst einschwingt, ist systeme, 410. es nur noch zur Demonstration seiner selbst – als Test – fähig und hat seine 48 Hans-Jörg Rheinberger: Spalt und Fuge. Eine Phänomenologie Forschungsfunktion verloren.»48 Als technisches Instrument ist ein Test dann des Experiments, Berlin 2021, 105. SCHWERPUNKT 27 DAVID BUCHELI in der Lage, Zuordnungen zwischen den detektierten Phänomenen einerseits und den etablierten Kategorien einer bestimmten Zeit und Disziplin anderer- seits vorzunehmen. Der Rorschachtest produziert Aufzeichnungen bestimmter Wahrnehmungs- und Auffassungsfunktionen und ordnet diese psychopatholo- gischen Kategorien zu. Doch in seiner Einleitung zur Psychodiagnostik schickt Rorschach vorweg, dass sich die Tafeln gleichermaßen «als Forschungs-, wie als Prüfungstest» eignen: 49 Sie sollen also nicht nur der Repetition und Forcierung bestehender Kategorien dienen, sondern die Exploration neuer Zusammenhänge zwischen visueller Wahrnehmung und Psychopathologie er- möglichen. Rorschach nimmt damit eine erweiterte Differenzierung zwischen Experiment und Test vorweg, wie sie auch Rheinberger im Begriff des «ex- ploratory testing» vorgeschlagen hat.50 Test und Experiment, Demonstration und Exploration stellen demnach nur die Pole eines Spektrums voller Misch- verhältnisse dar: «There is a point where experimenting and testing meet on the line between the poles.»51 Wenn ich nun aufzuzeigen versuche, wie aus Rorschachs Klecksen t echnische Objekte werden, ist dies auch eine Geschichte ihrer Verschiebung weg vom ex- plorativen Forschungstest hin zum klassifizierenden Prüfungstest – und damit zu jener Entscheidungsmaschine, als die die Tafeln 25 Jahre nach ihrer Erstver- öffentlichung in The Dark Mirror erscheinen. Die zunehmende Technisierung des Testapparats bedeutet jedoch kein Einrasten in der endlosen Wiederholung des Immergleichen. Sie erlaubt vielmehr die Integration des technischen Ob- jekts in ganz neue, unvorhergesehene Prozeduren, die andere Differenzen und andere Subjektivierungsformen produzieren. Testbilder von Testbildern Hermann Rorschach, ab 1915 als Oberarzt in der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Herisau tätig, stößt ganz im Sinne eines Experimentalsystems «ungesucht, rein empirisch» auf die diagnostische Verwendung von Tinten- klecksen.52 Zwar hat er, offenbar von Kerner inspiriert, schon 1911 Versuche 49 Rorschach: Psychodiagnostik, 13. mit Tintenklecksen zur Fantasieprüfung bei Schulkindern angestellt. Doch 50 Hans-Jörg Rheinberger: On Testing, in: Viktoria Tkacyk, erst in den Jahren 1917 / 18 laboriert er an jenen Klecksbildern, von denen Mara Mills, Alexandra Hui (Hg.): schließlich eine Auswahl zur dauerhaften Versuchsgrundlage wird. D utzende Testing Hearing. The Making of Modern Aurality, New York 2020, 341 – 357, erhaltene Entwürfe auf unterschiedlichen Papierarten zeugen von der all- hier 352. mählichen Annäherung an die späteren Versionen.53 Viele dieser ungenutzten 51 Ebd. 52 Rorschach: Psychodiagnostik, Entwürfe sehen sich zum Verwechseln ähnlich und weisen nur geringfügige 115. Unterschiede auf. Welche Kriterien oder Fragen Rorschachs Arbeit in dieser 53 Vgl. Hermann Rorschach: Inkblots for possible use, Universitäts- frühen Phase genau antreiben, ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass er die bibliothek Bern, Archiv Hermann 1917 an der Universität Zürich vorgelegte Dissertation von Szymon Hens zur Rorschach, Rorsch HR 3:3:1. 54 Szymon Hens: Phantasieprüfung Kenntnis genommen hat, die bereits über Klecksdeutungen als Hilfsmittel mit formlosen Klecksen bei Schulkindern, zur «Feststellung einer schwierigen Diagnose» spekuliert.54 Für Rorschach normalen Erwachsenen und Geistes- kranken, Zürich 1917, 64. steht fest, dass sich die vermeintlichen Zufallsformen gerade aufgrund ihrer 28 ZfM 29, 2/2023 BILDER GEBEN strukturellen Bedeutungsoffenheit für die Anwendung in der Psychiatrie eignen. Versuche mit eigenen Patient*innen zeigen, dass auch misstrauische Versuchspersonen auf die Tafeln ansprechen und die Deutung nur selten ver- weigert wird. Mehr noch: Als scheinbar «kulturfreie Bilder»55 versprechen die Kleckse eine universelle Anwendbarkeit unabhängig von Bildung, Repräsen- tationskenntnissen, kultureller Erfahrung oder Gedächtnisleistung der Ver- suchsperson. Die Tafeln testen keine angelernten Fertigkeiten, sondern spon- tane Wahrnehmungsmodi und erlauben so gleichsam einen Schnappschuss subjektiver Sinnstiftungsprozesse als Index verborgener Persönlichkeits- strukturen. Nach Monaten der Datenerhebung ist sich Rorschach sicher, ein Problem gelöst zu haben, das zu dieser «testhungrige[n] Zeit»56 seine ganze Zunft beschäftigt: Die ganze Literatur ist voll von Wünschen und Tendenzen, wie man solche Unter- suchungen gestalten könnte. […] In Deutschland u. England u. Amerika macht man mit psychotechnischen Prüfungen viel Wesens, u. man stellt bald keinen Strassen- bahner mehr an, ehe man mit ihm derlei Versuche gemacht hat. Alle aber klagen darüber, dass man bei solchen Prüfungen immer dadurch irregeleitet werde, dass der Prüfling mit Hilfe seines Gedächtnisses oder gewissen Vorübungen ein ganz gu- tes Examen macht u. dann in Wirklichkeit doch nur seine Uebungsfähigkeit u. sein Gedächtnis geprüft worden sei, nicht aber seine eigentliche organische Begabung, die eigentliche Natur seines Könnens. Hier sollte mein Versuch neue Wege auftun.57 Entscheidend für den diagnostischen Erfolg der Kleckse ist die Konstruktion von Kontingenz als Voraussetzung ästhetischer Voraussetzungslosigkeit. Die simulierten Tintenkleckse müssen eine Reihe empirisch ermittelter Anforde- rungen erfüllen, um signifikante Ergebnisse zu produzieren, dürfen die Ver- suchsfaktoren aber auch nicht unnötig verkomplizieren. Ihrer Formfindung gehen unzählige Versuche mit experimentellen Testapparaten voraus, die 55 Den Begriff verdanke ich immer wieder modifiziert und aktualisiert werden. Rorschach experimentiert dem Titel eines angekündigten Sammelbandes von Claus Pias mit verschiedenen Zusammensetzungen von Tinte und Papier, um eine spe- (Hg.): Kulturfreie Bilder. Erfindungen zifische «Struktur der Zerfliessung» zu erreichen.58 Diese Struktur darf weder der Voraussetzungslosigkeit, Berlin (im Erscheinen). zu einfach noch zu ‹zerrissen›59 sein, weder zu eindeutig noch zu verrauscht. 56 Brief von Hermann Rorschach Mit Richard Wollheim könnte man sagen, die Bilder besetzen «a half-way an Georg A. Roemer, 23.5.1921, in: ders.: Briefwechsel, ausgew. u. house to representation»: 60 Sie sollen zwar nicht nichts, zugleich aber nichts hg. v. Christian Müller, Rita Signer, Bestimmtes darstellen: Bern 2004, 336. 57 Brief von Hermann Rorschach an seinen Bruder Paul, 27.9.1920, The efficacy of these simulated ink-blots as diagnostic tests depends upon the sat- Universitätsbibliothek Bern, Rorsch isfaction of two conditions: that it is possible to see something in them, but that HR 2:1:17. nothing, no one thing, has a stronger claim to be seen there than anything else.61 58 Vgl. Rorschach in einem Brief an den Julius-Springer-Verlag vom 9.3.1920, Universitätsbibliothek Für dieses Oszillieren zwischen Konkretion und Unbestimmtheit erweist sich Bern, Rorsch HR 2:1:19:6. laut Rorschach die symmetrische Gestaltung («mit ganz geringen Abweichun- 59 Vgl. Rorschach: Psychodia- gnostik, 48. gen zwischen den beiden Hälften») als förderlich, verleiht sie den Figuren doch 60 Richard Wollheim: Painting as «einen Teil der notwendigen Rhythmik».62 Asymmetrische Bilder hingegen an Art, London 1987, 50. 61 Ebd. werden von einem großen Teil der Versuchspersonen als «einfache Kleckse» 62 Rorschach: Psychodiagnostik, 15. SCHWERPUNKT 29 DAVID BUCHELI abgelehnt.63 Die vertikale Spiegelung schafft außerdem gleiche Bedingungen für Rechts- wie für Linkshänder*innen, wie Rorschach mit Bezug auf das He- misphärenmodell betont. «[D]urch sie scheint ferner manchen Gehemmten und Gesperrten die Reaktion erleichtert zu werden. Schließlich befördert die Symmetrie das Deuten ganzer Szenen.»64 Der auf diese Weise ermittelte Testapparat liegt spätestens im Sommer 1918 als Prototyp vor und wird später zur Vorlage für die technische Reproduktion. Bis der Test 1921 in Serie geht, existieren die Tafeln jedoch nur in einer einzigen Ausführung: als Set von Originalen. Dieser Umstand beschränkt einerseits die Möglichkeit der Datenerhebung für die weitere Verfeinerung der Methode: Was die Gesamtzahl [der Versuchsbefunde] betrifft, so musste, bevor die Tafeln ge- druckt waren, die Zahl der Versuche schon dadurch begrenzt sein, dass das Aussehen der Tafeln nach ihrem Weg durch die Hunderte von Händen zu leiden anfängt.65 Andererseits gestaltet sich auch die Suche nach einem Verlagshaus für die Reproduktion schwierig: Als etwa der Julius-Springer-Verlag die Tafeln für eine unverbindliche Druckkostenofferte zur Begutachtung anfordert, teilt R orschach in seinem Antwortschreiben mit: «Ich habe Bedenken, meine Originaltafeln der Post anzuvertrauen» – und schickt stattdessen zehn Nach- ahmungen, die in Form und Farbigkeit ungefähr den Originalen entsprechen.66 Bereits vor ihrer seriellen Reproduktion zirkulieren also Platzhalter anstelle der Originale gleichsam als Testbilder von Testbildern: Als repräsentative Samples testen sie die Möglichkeiten der Übertragung und Vervielfältigung von T afeln, die wiederum die «Funktion der Wahrnehmung und Auffassung» ihrer Betrachter*innen testen.67 Die Gestaltung der Gestaltlosigkeit Mehrere Versuche, das Testverfahren mit ersten empirischen Befunden zu sei- ner Anwendung in internationalen Fachzeitschriften unterzubringen, scheitern an der adäquaten Reproduktion der Tafeln. Schließlich erhält Rorschach das Angebot, die Arbeit inklusive Testapparat als Monografie in der Reihe Arbeiten zur angewandten Psychiatrie im Verlag Ernst Bircher zu publizieren. Schon beim Vertragsabschluss zeichnet sich ab, mit welcher Rigorosität Rorschach die Reproduktion seiner Tafeln überwachen wird. Damit sich die gedruckten 63 Ebd. T estbilder zur praktischen Anwendung eignen, fordert er die vertragliche Be- 64 Ebd. 65 Ebd., 20. schränkung des Skalierungsmaßstabs: 66 Rorschach in einem Brief an den Julius Springer Verlag vom Die Verkleinerung darf auf keinen Fall mehr als einen Sechstel betragen, sonst wird 9.3.1920, Universitätsbibliothek Bern, Rorsch HR 2:1:19:6. nicht nur eine regelrechte Nachprüfung verhindert, sondern der ganze Apparat wird 67 Rorschach: Psychodiagnostik, 19. in seiner Brauchbarkeit fraglich. Es handelt sich ja nicht darum, die Arbeit zu il- 68 Brief von Hermann Rorschach lustrieren, sondern darum, dass jeder, der die Arbeit überhaupt versteht, mit diesen an Ernst Bircher, 19.5.1920, Tafeln Versuche machen kann.68 Univ ersitätsbibliothek Bern, Rorsch HR 2:1:18:11. 30 ZfM 29, 2/2023 BILDER GEBEN Hier bestätigt sich, was schon die Festlegung der maximalen Betrachtungsdis- Abb. 5 Fahnenabzug der tanz gezeigt hat: Die körperlich erfahrene Größe der Tafeln im Verhältnis zur Tafel I V des Rorschachtests mit handschriftlichen Korrekturen Betrachter*in ist laut Rorschach für den Versuchsverlauf entscheidend. Die Ta- von Hermann Rorschach, 1920 feln sind als immutable mobiles im Sinne Bruno Latours zwar hoch mobil, aber nur begrenzt skalierbar und erfordern ein «thinking with eyes and hands».69 Neben der Skalierung werden auch alle anderen Aspekte der Reprodukti- on genau überwacht. Im Laufe der Jahre 1920 / 21 prüft Rorschach wiederholt Probedrucke und gibt genaue Anweisungen zur Kräftigkeit der Farben, zur Po- sitionierung der Kleckse auf den Tafeln, zur Ausrichtung der Symmetrieachsen und zur Detailtreue in der Wiedergabe. Dabei muss er gelegentlich präzisieren, welche Elemente als bildhafte überhaupt zu reproduzieren sind: «Auch die klei- nen Farb- und Tintenspritzer, z. B. seitlich von der Figur der Tafel I […] dür- fen nicht fehlen. Es gibt Versuchspersonen, die mit Vorliebe gerade diese win- 69 Bruno Latour: Visualisation and Cognition: Drawing Things zigsten Bildteile deuten, eine Eigenschaft, die diagnostisch recht wichtig ist.»70 Together, in: Henrika Kuklick (Hg.): Außerdem bemängelt er in handschriftlichen Anmerkungen auf den Testdru- Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present, cken kleinste Unebenheiten im Farbauftrag und beschwert sich über «weisse Bd. 6, 1986, 1 – 40, bruno-latour.fr/sites/ Stippeln, die die Silhouette zu stark beeinflussen».71 Als mikroskopische Spuren default/files/21-DRAWING-THINGS- TOGETHER-GB.pdf (12.7.2023). des Druckverfahrens gefährden diese Artefakte die Lesbarkeit der Kleckse als 70 Brief von Hermann Rorschach Zufallsformen. Die echte Kontingenz technischer Fehlleistungen bedroht die an Ernst Bircher vom 29.5.1920, in: ders.: Briefwechsel, 229. simulierte Kontingenz der Klecksbilder. 71 Galley proofs of plates I to VII Rorschach überlässt nichts dem Zufall, um die massenhaft reproduzierten and X with handwritten corrections by H. Rorschach, Universitätsbiblio- Tafeln so zufällig wie möglich aussehen zu lassen. Die Unterdrückung jeder thek Bern, Rorsch HR 3: 3:7. SCHWERPUNKT 31 DAVID BUCHELI Spur von Autorschaft oder Intentionalität macht selbst vor den äußersten Rändern der Tafeln nicht halt. So lehnt Rorschach einen gedruckten Rahmen für die Tafelblätter strikt ab, der in der Weiterver- arbeitung den Zuschnitt erleichtern sollte: Schliesslich brauchte nur auf einzelnen Tafeln das gedruckte Rändchen nicht ganz haargenau zu sein (infolge des Schneidens der Blätter) oder beim Ein- fassen noch da und dort sichtbar bleiben, so wäre da- mit auf der Tafel schon wieder ein kleines Stücklein Absicht lichkeit zu sehen, und es gibt Schizophrene, die auf das kleinste Stücklein Absichtlichkeit schon negativ reagieren.72 Abb. 6 Darstellung eines Gruppen-Rorschachtests aus dem Die Gestaltung der Gestaltlosigkeit informiert jeden Aspekt der Testbilder: Life-Artikel «Personality Tests. Ink blots are used to learn how von ihrer manuellen Ermittlung bis hin zu ihrer massenhaften Reprodukti- people’s minds work», 7.10.1946 on, von der experimentellen Formfindung bis zur drucktechnischen Standar- disierung und Vervielfältigung. Aus Rorschachs Korrespondenz im Vorfeld der Publikation wird ersichtlich, wie die Kleckse ihre endgültige Form erst im Zuge ihrer technischen Reproduktion erhalten. Die Tafeln, wie sie bis heute «under strict quality controls» vertrieben werden, «ensuring that they have precisely the same appearance as when Hermann Rorschach himself oversaw their printing»,73 haben vor ihrer massenhaften Vervielfältigung gar nie e xistiert. An der mehrmonatigen Redaktion der Probedrucke zeigt sich v ielmehr, was unter medientechnischen Bedingungen immer schon Sache ist: «Nicht einmal Kontingenz ist einfach da, sondern muss erst produziert werden».74 Veränderliche Testregimes Rorschachs Redaktion der Probedrucke lässt sich als ‹Reinigungsprozedur› bezeichnen, wie sie nach Rheinberger für technische Objekte in Testanord- nungen typisch ist.75 Ein Objekt ist dann als technisches stabilisiert, wenn es von den Zufällen und Willkürlichkeiten seiner Konstruktionsarbeit bereinigt 72 Brief von Hermann Rorschach an Walter Morgenthaler, 18.4.1921, ist und völlig in seiner Funktionalität aufzugehen scheint. Je gründlicher diese in: ders.: Briefwechsel, 323. Reinigung von seiner eigenen unentrinnbaren Historizität, je technischer also 73 Ankündigung der Rorschach® Test Centenary Edition auf der Website dieses Objekt, desto eher wird es paradoxerweise naturalisiert: Es erscheint in des Verlags: www.hogrefe.com/de/ seiner Konstrukt ionsweise ebenso voraussetzungs- wie alternativlos und da- shop/rorschach-centenary-edition.html (15.2.2023). mit auch entpolitisiert. Das ‹reine› technische Objekt erscheint frei von einer 74 Ute Holl: Medientheorie Autor*innenschaft, die auf kontingente Entwürfe und ihre kulturellen Voraus- [oder, und, trotz] Kulturtechnikfor- schung, in: Texte zur Kunst. Media, setzungen verweist. Nr. 98, Juni 2015, 81 – 88, hier 83. Rorschachs Tafeln sollen Bilder ohne Gedächtnis und Geschichte sein. 75 Vgl. Rheinberger: Experimental- systeme, 408. Ohne Gedächtnis, weil sie über keine stabilen Referenten verfügen, sondern 32 ZfM 29, 2/2023 BILDER GEBEN immer neue Konfigurationen eingehen; ohne Geschichte, weil sie in ihrer dynamischen Unbe- stimmtheit einen ahistorischen Blick adressieren und utopische Voraussetzungslosigkeit behaupten. Gleichwohl haben sie eine Geschichte und sind mit einem spezifischen Wissen ihres Gebrauchs ver- bunden, das im Gegensatz zur visuellen Struktur der Tafeln immer schon historischen Diskontinui- täten unterworfen ist. The Dark Mirror hat das veränderliche Testre- gime auf dem Schirm, wenn er die Tintenkleckse nicht nur als Testanordnung in der Filmhandlung inszeniert. Variationen von Rorschachtafeln umrah- men die Diegese auch paratextuell: Vor- und Nachspann sind hinterlegt mit Abb. 7 The Dark Mirror leinwandfüllenden Klecksbildern, die wir zur Musik von Dimitri Tiomkin im (Regie: Robert Siodmak, USA 1946), Screenshot Einzelnen durchgehen können. Durch weiche Überblendung gehen diese Test- bilder ineinander über, zerfließen mit jedem Titelwechsel und formieren sich neu. 1946 ist das in US-amerikanischen Kinos mehr als eine grafische Spielerei. Ein Jahr nach Kriegsende wecken symmetrische Tintenkleckse auf Großlein- wand Erinnerungen. Das US-Publikum hat damit schon bei der großen Mobil- machung seine Erfahrungen gemacht: As is now common knowledge, the Group Rorschach Technique involves presenta- tion on the Rorschach blots in the form of slides in a semidarkened room, which may accommodate, provided all seats are centrally located, as many as several hundred persons. A three-minute time interval is allotted for presentation of each slide, and the subjects write down a full description of the things they see in the blot. Fol- lowing the initial presentation the slides are repeated to allow for various types of inquiries, depending on the preferences of the examiner.76 Die Titelgestaltung reinszeniert präzise jene mass screenings, die 1940 erstmals im Rekrutierungsverfahren der US Army administriert werden und unter dem Selective Training and Service Act bald zur Standardprozedur gehören. Die Rorschachtafeln werden den Wehrpflichtigen nicht mehr zur individuellen Betrachtung in die Hand gegeben, sondern als Lichtdias vor mehreren hun- dert Personen projiziert. Die schriftlichen Antworten müssen anfangs noch von erfahrenen Spezialist*innen verrechnet und ausgewertet werden, bis die Blanko-Antwortbögen schließlich maschinell verarbeitbaren Multiple-Choice- Formularen weichen. Abgesehen von den zehn Testbildern, die nun fotogra- fisch reproduziert und hochskaliert an die Wand geworfen werden, ist vom ursprünglichen Formdeutversuch nicht mehr viel übrig. Aus den soliden, mit 76 M. R. Harrower: Group Techniques for the Rorschach Test, Händen zu greifenden Tafeln sind entmaterialisierte Projektionen geworden. in: Lawrence E. Abt, Leopold Bellak Die Routinen des Deutens und Beschreibens weichen der Selektion vorpro- (Hg.): Projective psychology. Clinical approaches to the total personality, grammierter Optionen. New York 1950, 146 – 184, hier 146 f. SCHWERPUNKT 33 DAVID BUCHELI In this new multiple-choice test we have, in a sense, departed so far from the es- sence of what Rorschach intended in the spontaneous description of responses that it is probably fairest to both parties to consider it as an entirely different procedure, rather than a further modification of Rorschach’s method.77 Die Kleckse sind in eine völlig neue Prozedur eingegangen. Als Remediati- sierung einer Invarianz sind sie wieder zu technischen Objekten in einer An- ordnung geworden, die auf die Produktion neuer Unterscheidungen zielt: Es 77 M. R. Harrower-Erickson: A Multiple Choice Test for Screen- geht nicht mehr um die Beurteilung komplexer Persönlichkeitsstrukturen, ing Purposes (For Use with the sondern schlicht um die Differenz tauglich / untauglich. Die Testbilder mögen Rorschach Cards or Slides), in: Psychosomatic Medicine, Bd. 5, Nr. 4, stabil geblieben sein, die Koordinaten ihrer Verwendung hingegen haben sich 1943, 331 – 341, hier 331. fortwährend verschoben und auf neue Anforderungen eingestellt. «Tests are 78 Noortje Marres, David Stark: Put to the test: For a new sociology generative, they stimulate further testing, not only as experimental or test regress of testing, in: The British Journal in the same modality, but involving diverse modalities of knowing, valuing, and of Sociology, Bd. 71, 423 – 443, hier 425. acting.»78 Vom Ende des Testens wagt nur das Kino zu träumen. — 34 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150205. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. G A B R I E L E S C H A B A C H E R / S O P H I E S PA L L I N G E R TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG — Pilotversuche am Bahnhof Bahnhöfe sind öffentliche Orte der Zirkulation und Vermischung. In den gro- ßen Personenbahnhöfen der Metropolen treffen verschiedene Verkehrsströ- me und Mobilitätssysteme, Menschen und Medien aufeinander. Hier werden nationale und internationale, regionale und innerstädtische Transfers organi- siert, Umstiege zwischen verschiedenen Transportsystemen (Bahn, Bus, Tram, U-Bahn, Fahrrad, E-Scooter, Taxi) vermittelt, aber auch der Aufenthalt eines hinsichtlich Geschlecht, Ethnie, Schicht, Alter etc. diversen Personenensem- bles ermöglicht. Als derartig frequentierte Knoten- und Kreuzungspunkte er- fordern Bahnhöfe Regulierungsmaßnahmen, die Praktiken der Ordnung und Kontrolle etablieren, um den reibungslosen Betrieb zu gewährleisten. «Die Verkehrsfunktion findet im Bahnhof […] auf eine weit unmittelbarere Weise ihren architektonischen Ausdruck als in den übrigen Bautypen der Eisenarchi- tektur», betont bereits Wolfgang Schivelbusch mit Blick auf die urbane Spezifik des historischen Bahnhofs, denn «während in Markthallen, Ausstellungshallen, Passagen, Kaufhäusern etc. der Warenverkehr sich sozusagen im Stillstand der Lagerung bzw. Präsentation befindet, findet im, nein durch den Bahnhof der Verkehr in actu statt, als Strom der Reisenden von und zu den Zügen».1 Zustände der Unreguliertheit, also der Unordnung und Unübersicht- lichkeit, werden dabei als potenzielle Gefahr für den bahnbetrieblichen Funktions zusammenhang begriffen, der es in Form von Sicherheitsbemü- hungen zu begegnen gilt. Insofern ist es kein Zufall, wenn Bahnhöfe (neben anderen öffentlichen Orten) seit den 1990er Jahren vermehrt mit Videoüber- wachung ausgestattet werden und dabei in den letzten zehn Jahren auch KI- basierte Systeme in den Fokus rücken. Da derartige Systeme aufgrund der in Deutschland geltenden Datenschutzbestimmungen im Regelbetrieb nicht ein- 1 Wolfgang Schivelbusch: gesetzt werden dürfen, muss ihr Mehrwert für eine Regulierung und Kontrolle Geschichte der Eisenbahnreise. Zur öffentlicher Orte in Testsituationen nachgewiesen werden. Vor diesem Hinter- Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 2004 grund befragt der folgende Beitrag realweltliche Testsettings am Bahnhof auf [1977], 153, Herv. i. Orig. SCHWERPUNKT 35 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER die hier zum Ausdruck kommende Relation zwischen der lokalen Örtlichkeit, der Infrastrukturierung von Tests sowie den damit verbundenen Versprechen und Gewöhnungsprozessen. Dabei gehen wir in fünf Schritten vor: Zunächst skizzieren wir leitende Konzepte, die für unser Testverständnis maßgeblich sind (real-world testing, testing the user, problem-making prototypes), um dann das Test-Projekt Zukunftsbahnhof vorzustellen, das die Deutsche Bahn seit 2013 an v erschiedenen Standorten betreibt. In den nächsten beiden Schritten ste- hen konkrete Tests im Vordergrund, die sich einerseits mit Marktforschungs- und Werbeinteressen verbinden (Umgebungsverschönerung am S-Bahnhof Offenbach Marktplatz und digitaler ‹Mitmach-Sommer› am Hauptbahnhof Münster) und andererseits auf Sicherheitsfragen zielen (Berlin Südkreuz). Das abschließende Fazit skizziert drei medienwissenschaftlich relevante Hinsich- ten auf real-world testings am Bahnhof: erstens die Dimension infrastrukturell- environmentaler Gewöhnung an bestimmte Produkte und Services durch de- ren Bewerbung und probeweise Implementierung im Sinne eines umfassenden Test-Regimes, zweitens die temporale Dimension einer stetigen Anlagerung von Test-Geschichten, was in Realwelt-Settings zu einem Nebeneinander von alten und neuen Tests führt, und drittens die atmosphärisch-emotionale Ebene des Testens, die jene Versprechen generiert (etwa das erhöhte ‹Sicherheitsge- fühl›), welche die Tests in der Folge wiederum einlösen sollen. Tests erweisen sich damit gleichermaßen als Materialisierungen von Versprechen und als Medien der Gewöhnung. I. Was testen Tests? Realwelt-Setting, Nutzer*innen und Prototypen Um zu verstehen, wie realweltliche Testsettings funktionieren, wollen wir zunächst ganz basal danach fragen, was ein Test tut. Bereits die Etymologie gibt erste Hinweise auf eine mögliche Differenzierung. Das Oxford English Dictionary gibt für das Verb to test folgende Bedeutungen an: «To subject to a test of any kind; to try, put to the proof; to ascertain the existence, g enuineness, or quality of».2 Dabei sind Prüfen, Versuchen bzw. Unter-Beweis-Stellen so- wie Feststellen sehr unterschiedliche Tätigkeiten. Während beim Prüfen eine Sache oder eine Person einem Test unterzogen wird, also die Sache oder Person auf etwas Drittes hin überprüft werden, das standardisiert vorgege- ben wird, geht es beim Versuchen um eine offenere Form des Ausprobierens; das Feststellen von Eigenschaften und Qualitäten wiederum hat stärker den Charakter e ines Beweises. Entsprechend gibt das Oxford English Dictionary für das zugehörige Nomen test die Bedeutung «examination, trial, proof» an,3 also 2 Test, v.2, in: OED Online, Online- Eintrag zuletzt bearbeitet September Prüfung, Versuch und Beweis. 2022, oed.com/view/Entry/199681 Systematisch lassen sich hier drei Formen des Testens im Hinblick darauf (6.3.2023). 3 Test, n.1., in: OED Online, unterscheiden, als wie stabil der Gegenstand bzw. das Verfahren des Tests jeweils Online-Eintrag zuletzt bearbeitet vorausgesetzt wird: Während beim Prüfen ein mehr oder minder stabiles Dezember 2022, oed.com/view/ Entry/199677 (6.3.2023). Objekt (Sache oder Person) zum Gegenstand eines mehr oder minder stabilen 36 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG Verfahrens wird (Leistungstest, Crashtest), wird beim Feststellen bzw. Bewei- sen durch ein definiertes Verfahren ein noch unklarer Gegenstand in eine stabile Form überführt (Forensik); beim Ausprobieren handelt es sich um einen mit Blick sowohl auf den Gegenstand wie auch das Verfahren offeneren Prozess (oft in realweltlichen Testsituationen). In allen drei Fällen geht es damit um Pro- zesse der Stabilisierung (von Entitäten): Während das Prüfen ein stabilisiertes Objekt auf die Probe stellt und das Beweisen bzw. Feststellen Objektreferenzen generiert, ist das Testen im Sinne des Ausprobierens damit beschäftigt, das Ob- jekt des Tests zuallererst herzustellen. Doch nicht nur systematisch lassen sich verschiedene Formen des Testens unterscheiden. Noortje Marres und David Stark markieren auch historische Unterschiede, wenn sie betonen, wir seien gegenwärtig mit dem Phänomen ei- nes «continuous, ubiquitous testing» konfrontiert; 4 getestet werde nicht mehr in bestimmten gesellschaftlichen Settings, sondern «real-world testings» würden Gesellschaft selbst zum Testobjekt machen: «[T]ests are not just in society but are tests of society.»5 Vor diesem Hintergrund fordern Marres und Stark eine «new sociology of testing».6 Diese soll das technologische Testen und das sozio- logische Experimentieren in einen wechselseitigen Austausch bringen und ins- besondere der Datafizierung dieser Prozesse Rechnung tragen.7 Mit Blick auf die zu analysierenden Bahnhofstests scheint es uns darüber hinaus sinnvoll, auf einige Überlegungen von Trevor Pinch zurückzukommen. Pinch unterschei- det zeitliche Vektoren des Testens – retrospektives Testen zur Fehlersuche bei Unfällen und Fehlfunktionen, gegenwärtiges Testen, um die Einsatzbereitschaft von Komponenten zu überprüfen (etwa ein Soundcheck beim Konzert), sowie prospektives Testen im Vorfeld der Einführung eines Produkts – und behauptet, Testverfahren würden durch Projektion Ähnlichkeitsbeziehungen herstellen: zwischen Gegenwärtigem und Zukünftigem bzw. Vergangenem, zwischen Be- sonderem und Allgemeinem, zwischen Kleinem und Großem.8 Ob zwischen Testfall und tatsächlicher Anwendung allerdings wirklich eine Ähnlichkeit 4 Noortje Marres, David Stark: besteht, ist Pinch zufolge strittig, weshalb ein und dasselbe Testergebnis als Put to the Test: For a New Sociology of Testing, in: The British Journal Beleg sowohl für den Erfolg eines Tests wie auch für seinen Misserfolg ange- of Sociology, Jg. 71, 2020, 423 – 443, sehen werden kann, was zeige, «how the outcome of tests can be treated as a hier 432. 5 Ebd., 425. Eine ähnliche matter of politics and social negotiation».9 Eine derart politische Dimension Position beziehen Franziska Engels ist auch für die in diesem Beitrag untersuchten Bahnhofstests von Bedeutung, u. a.: Testing Future Societies? D eveloping a Framework for Test da ihr Erfolg ebenfalls umstritten ist. Zwar bezeichnet die Deutsche Bahn ihre Beds and Living Labs as Instruments Tests regelmäßig als erfolgreich, die erzielten Ergebnisse bestätigen das jedoch of Innovation Governance, in: Research Policy, Bd. 48, Nr. 9, 2019, 3, eigentlich nicht. Als Erfolg gewertet wird hier vielmehr schon, dass der Test doi.org/10.1016/j.respol.2019.103826. überhaupt durchgeführt wurde. Aber noch auf einen weiteren Punkt macht 6 Ebd., 428. 7 Vgl. ebd., 436. Pinch aufmerksam, der für die Bahnhofskonstellationen wichtig werden wird. 8 Vgl. Trevor Pinch: «Testing- Ein Technologietest testet nie allein Maschinen, Techniken, Systeme oder One, Two, Three ... Testing»!: Toward a Sociology of Testing, in: Science, Software, sondern immer auch die potenziellen Nutzer*innen. Je wichtiger Technology, & Human Values, Bd. 18, die Kooperation der Nutzer*innen für das korrekte Funktionieren einer Tech- Nr. 1, 1993, 25 – 41, hier 28 f., doi.org/10.1177/016224399301800103. nologie sei, desto mehr muss sie in Realwelt-Settings – «in vivo» – getestet 9 Ebd., 33. SCHWERPUNKT 37 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER werden.10 Anders als beim Testen von Materialkom- ponenten werden etwa bei Computerprogrammen Erfolg oder Misserfolg aber nicht ausgehandelt, vielmehr bleibt das Verhalten von Nutzer*innen in den Programmierungen von Software implizit (wie die darin eingehenden kulturellen Vorannahmen), also geblackboxt.11 Diese Überlegungen können bezogen auf die zu diskutierenden Bahnhofstests in mehrfacher Hin- sicht weiterhelfen: Erstens lässt sich mit Marres und Stark festhalten, dass es sich um real-world t estings handelt, die einer gouvernementalen Logik folgen. Zweitens ist mit Pinch zu betonen, dass das Testen von Technologien immer auch ein testing the user impliziert, also dass das Aufgreifen von in bestimmten Settings, Technologien oder Softwares geblackboxten Vorannahmen dazu beiträgt, was als richtiges Verhalten zu gelten hat. Und noch ein Drittes lässt sich hinzufügen, wenn man Forschun- gen der Critical Security Studies einbezieht. Das Politische der von Pinch beschriebenen Aushand- Abb. 1 Grafik der DB-Pressemel- lung, ob ein Test als Erfolg oder Misserfolg zu gelten hat, lässt sich im Fall dung Projekt Zukunftsbahnhof, des urban proto typing, also der testweisen Materialisierung einer Idee oder eines 2020 (nachgebaut) Konzepts, auch darauf beziehen, dass bereits «design, dramaturgy and mise en scène» als Resultate des Tests und insofern als Erfolge zählen 12 – wie im Fall der Deutschen Bahn –, weshalb zwischen «problem-validating proto types» und «problem-making prototypes» zu unterscheiden sei.13 Dabei werden insbeson- dere digitale Technologien stets als ultimative Problemlösungen eingeführt,14 10 Ebd., 35 f. Herv. i. Orig. die bestehende Sicherheitsprobleme beheben sollen, de facto allerdings zumeist 11 Vgl. ebd., 37. scheitern und bestenfalls «learning opportunities» darstellen.15 12 Martín Tironi: Prototyping Public Friction: Exploring the Vor diesem Hintergrund sieht der vorliegende Beitrag die Einführung Political Effects of Design Testing in neuer (Digital-)Technologien am Bahnhof stets als Komplexitätszuwachs, der Urban Space, in: The British Journal of Socio logy, Jg. 71, 2020, 503 – 519, hier das entanglement der ohnehin schon beteiligten Entitäten (Personen, Geräte, 504, doi.org/10.1111/1468-4446.12718. Organisationsvorschriften, Technologien, Umgebungsvariablen) weiter ver- 13 Ebd., 516. 14 Vgl. Evgeny Morozov: To Save dichtet. Da die entsprechenden Tests trotz ihrer zum Teil schlechten Perfor- Everything, Click Here. The Folly of Tech- mance nicht als Misserfolge verstanden werden, möchten wir der Frage ge- nological Solutionism, New York 2013. 15 Rivke Jaffe, Francesca Pilo’: nauer nachgehen, was bei solchen Tests eigentlich getestet wird, mit welchen Security Technology, Urban Diskursen und Bildern sie verbunden werden und welche Effekte dies auf die Prototyping, and the Politics of Failure, in: Security Dialogue, Bd. 54, Umgebung und die Nutzer*innen hat. Im Sinne einer kulturwissenschaftli- Nr. 1, 2023, 76 – 93, hier 88, chen Infrastrukturanalyse verstehen wir Testsettings als «sozio-technisch- doi.org/10.1177/09670106221139770. 16 Gabriele Schabacher: diskursive» Netzwerke von Entitäten.16 Dies bedeutet, die Materialität und Infrastruktur-Arbeit. Kulturtechniken Operativität von Bahnhöfen sind ebenso zu berücksichtigen wie die begleiten- und Zeitlichkeit der Erhaltung, Berlin 2022, 21, Herv. d. Verf. den Diskurse in der Presse und auf den Websites der beteiligten Unternehmen. 38 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG Wenn also Tests in Bahnhöfen statt- finden, dann machen sie sich stets auch eine Infrastruktur zunutze, die auf embeddedness und transpar- ency sowie die selbstverständliche Nutzung durch Bahnreisende im Horizont alltäglicher Mobilitäts- zwecke ausgelegt ist. Deshalb geht es, wie wir zeigen wollen, weniger um den Beweis funktionierender Technik, auch wenn das immer wieder behauptet wird, sondern um ein Moment der Gewöhnung bzw. der Gewöhnbarkeit. Abb. 2 Willkommen-Kampagne Wir verstehen darunter einen Effekt der Naturalisierung von Infrastruk- der DB, Berlin Südkreuz, 2022 (Foto: Sophie Spallinger) turen, der sie durch die Selbstverständlichkeit ihrer Nutzung in den Hinter- grund treten und so ihre Situiertheit in einer Art kollektivem Vergessen ver- schwinden lässt.17 Bei den von uns untersuchten realweltlichen T estsettings handelt es sich um Umgebungen, die im Rahmen von Alltagspraktiken regelmäßig genutzt werden: Man sucht den Bahnhof auf, um von A nach 17 Vgl. Geoffrey C. Bowker, Susan Leigh Star: Sorting Things Out. B zu gelangen, zur Arbeit zu pendeln etc. Unsere These ist, dass die Tests Classification and its Consequences, dieses Moment aufgreifen und de facto prüfen, ob sich die Nutzer*innen Cambridge (MA), London 1999, 298 f. 18 Vilém Flusser: Wohnung an das Testsetting gewöhnen, ohne dass sich alltagspraktischer Widerstand beziehen in der Heimatlosigkeit. regt. Die Tests vertrauen also der Anpassungswirkung von Gewöhnungspro- (Heimat und Geheimnis – Wohnung und Gewohnheit), in: ders., Bodenlos. zessen: «Die Gewohnheit deckt alle Phänomene wie eine Wattedecke zu, sie Eine philosophische Autobiographie, rundet alle Ecken der unter ihr gelagerten Phänomene ab, so daß ich mich Düsseldorf, Bensheim 1992, 247 – 272, hier 262. nicht mehr an ihnen stoße, sondern mich ihrer blindlings bediene.»18 Nicht 19 Wir gehen hier von einem ob eine bestimmte App, Videotechnik oder Baumaßnahme funktioniert, ist Verständnis von Gewohnheit aus, das sich weniger am Habitus-Begriff dann der entscheidende Punkt, sondern dass sie als Teil der Bahnhofsinfra- orientiert, sondern Materialität struktur akzeptiert wird.19 So gesehen lassen sich realweltliche Testsettings als und umweltliche Eingebettetheit betont, vgl. James Dewey: Human gouvernementale Machttechniken verstehen, als «a new form of administra- Nature and Conduct [1922], in: The tion and a redistricting of bodies and information into new global configura- Collected Works of John Dewey, Bd. 14, Carbondale 2008. Zur Frage der tions»,20 die mit «Strategien subtiler Verhaltenslenkung»21 einhergehen und Gewöhnung vgl. Gerhard Funke: so Individuen zu einer Form habitueller Zustimmung bewegen, ohne eine Gewöhnung, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch Frage auszusprechen. der Philosophie, Bd. 3, Basel 2007, 9192 – 9200; Tony Bennett u. a.: Habit and Habituation: Governance and the Social, in: Body & Society, II. Zukunftsbahnhof Bd. 19, Nr. 2 / 3, 2013, 3 – 29, doi.org/10.1177/1357034X13485881. Für den Betrieb der rund 5.400 bundesdeutschen Bahnhöfe ist seit 1999 die DB 20 Orit Halpern u. a.: Test-Bed Station & Service AG zuständig, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn. Urbanism, in: Public Culture, Bd. 25, Nr. 2, 2013, 273 – 306, hier 275, Da Fragen der Kundenzufriedenheit seit den 2010er Jahren auch für Bahnhöfe doi.org/10.1215/08992363-2020602. zunehmend in den Blick rückten und der erwirtschaftete Umsatz maßgeblich 21 Ulrich Bröckling: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungs- von der Zahl der Stationshalte sowie den Einnahmen aus der Vermietung von künste, Frankfurt / M. 2017, 8. SCHWERPUNKT 39 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER Flächen an Gewerbetreibende abhing,22 lag es nahe, zur Umsatzsteigerung auf eine Erhöhung der Verweildauer in Bahnhöfen zu setzen.23 Bereits in der 22 Vgl. DB AG: Integrierter Bericht 2021, 30.3.2022, hier 127 und 131, Einführung der sogenannten «Zuglabore»24 ab 2013, die eine Art mobiler ibir.deutschebahn.com/2021/fileadmin/ Kundenbefragung darstellten, zeigte sich die Bedeutung, die man der Rolle pdf/DB_IB21_web_01.pdf (27.5.2023). 23 Vgl. DB AG: Geschäfts- der Nutzer*innen beimaß. Vor diesem Hintergrund ist auch das Projekt «Zu- bericht 2012, 21.3.2013, hier kunftsbahnhof» zu sehen, das 2011 zunächst unter dem schlichteren Namen 7, ir.deutschebahn.com/fileadmin/ Deutsch/2012/Berichte/2012_gb_db «Next Station»25 eingeführt wurde und Bahnhöfe bis 2020, wie es hieß, öko- konzern_de-data.pdf (27.5.2023). logischer, multimodaler und digital vernetzt gestalten sollte.26 Bahnhöfe soll- 24 DB AG: Geschäftsbericht 2013, 27.3.2014, hier 49, ir.deutschebahn. ten zu «Erlebnisorte[n]»27 werden, die zum Verweilen und Bummeln einladen. com/fileadmin/Deutsch/2013/Berichte/ Ein solcher Zukunftsbahnhof war ab 2014 zunächst Berlin Südkreuz, der dritt- 2013_dbkonzern_de.pdf (30.5.2023). 25 DB Station & Service AG: größte Berliner Bahnhof mit rund 100.000 Reisenden täglich; 28 2019 wurde das Geschäftsbericht 2011, 4.2012, hier Programm dann als «Innovationsprojekt» an 15 weiteren Bahnhöfen unter- 14, ir.deutschebahn.com/fileadmin/ Deutsch/2011/Berichte/2011_gb_db schiedlicher Größe und unterschiedlichen Typs fortgeführt (Abb. 1),29 wodurch station_de.pdf (30.5.2023). insbesondere Start-ups die Möglichkeit erhielten, Produktideen direkt vor Ort 26 Vgl. DB Station & Service AG: Geschäftsbericht 2013, 3.2013, zu testen. hier 12, ir.deutschebahn.com/fileadmin/ Was wurde nun getestet? Am Zukunftsbahnhof Berlin Südkreuz, so hieß Deutsch/2013/Berichte/2013_gb_db station_de-data.pdf (30.5.2023). es 2015 in einer Veröffentlichung der DB, wolle man ein «neues Verständ- 27 DB Station & Service AG: nis des Bahnhofs» erproben, das sich auf seine Rolle als Verkehrsknotenpunkt, Geschäftsbericht 2014, 3.2015, hier 3, ir.deutschebahn.com/fileadmin/ seine Orientierungsfunktion (Informationssysteme) sowie seine Vorbildrolle Deutsch/2014/Berichte/2014_gb_db in Sachen nachhaltiger Energieproduktion beziehe.30 Mit der Fortführung station_de.pdf (30.5.2023). 28 Vgl. DB Mobility Logistics 2019 rückten neben funktionalen Aspekten (Mobilität, Nachhaltigkeit) zuneh- AG: Themendienst. Zukunfts- mend atmosphärisch-affektive Qualitäten hinsichtlich der Kundenzufrieden- bahnhof Berlin Südkreuz, Nr. 5, 2015, 1, deutschebahn.com/resource/ heit in den Vordergrund, der Bahnhof müsse sich als «Gastgeber» verstehen, blob/266686/a4693bf730ca3c- der jeden Gast «immer und überall» willkommen heiße (Abb. 2).31 Bahnhöfe 84c53b015e2d828927/td-zukunfts- bahnhof-data.pdf (30.5.2023). dienten dabei auch der Entwicklung des Quartiers, wenn sie für die umlie- 29 Vgl. DB-Website Zukunftsbahn- genden Bewohner*innen zum Ort für Alltagsbesorgungen würden.32 Das Pro- höfe, nachhaltigkeit.deutschebahn. com/de/massnahmen/zukunftsbahnhof jekt Zukunftsbahnhof sollte also testen, so die Deutsche Bahn, was Reisenden (30.5.2023). und Besucher*innen «das Leben erleichtert und die Zeit am Bahnhof ange- 30 DB Mobility Logistics AG: Themendienst, 1. nehmer macht».33 Um ein solches «Wohlfühlen am Bahnhof»34 zu stärken, 31 DB Station & Service AG: Unter- wurden insbesondere ästhetische Veränderungen vorgenommen (farbliche nehmenspräsentation: Unternehmen und strategische Ausrichtung, Gestaltung, Beleuchtung, Mobiliar), neue Wegeleitsysteme, aber etwa auch ohne Datum, hier Folie 10, bahnhof. smartes Fahrradparken oder ein digitaler 24 / 7-Lebensmittelmarkt installiert.35 de/cms/downloads/unternehmens- praesentation.pdf (6.3.2023). Als entscheidend für die Tests wurde das Kundenfeedback gesehen; neben 32 DB Station & Service AG: Zufriedenheitsstudien setzte die Deutsche Bahn deshalb auf aktive Beteiligung StationsAnzeiger, Nr. 27, 12.2019, hier 4 und 6. der Nutzer*innen, um deren Ad-hoc-Rückmeldungen sie mit Plakaten, Um- 33 DB AG: Integrierter Bericht fragen und Q R-Codes warb. 2021, 130. 34 DB Station & Service AG: Auch wenn die Deutsche Bahn ihren Zukunftsbahnhof mit den Begriffen S tationsAnzeiger, 2019, 4. «Wohlfühlatmosphäre» und «Mobilitätserleichterung» bewarb, wurde in der 35 Vgl. DB Station & Service AG: StationsAnzeiger, Nr. 32, 3.2021, hier 4. öffentlichen Diskussion die Diskrepanz zwischen den kostenintensiven Testpro- 36 Fabian Scheuermann: Offen- jekten und dem generell maroden Infrastruktur-Zustand klar adressiert. «Alle bach. Sesamringe machen Platz für Brezeln, in: Frankfurter Rundschau, wären ja schon zufrieden gewesen», kolportierte die Frankfurter Rundschau 17.3.2020, fr.de/rhein-main/offenbach/ einen Tweet zum Offenbacher Projekt, «wenn die Rolltreppen nach zwei Wo- offenbach-sesamringe-machen-platz- brezeln-13603321.html (14.5.2023). chen instand gesetzt werden.»36 Doch genau diese Erfordernisse werden in der 40 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG Regel durch die Deutsche Bahn wenig thematisiert und rücken erst bei größe- ren Ausfällen in den Blick.37 Dass die Bahnhofstests trotzdem stattfanden, hat damit zu tun, dass sich die Zukunft des Bahnhofs deutlich einfacher in Test- settings inszenieren lässt, d. h. vor allem im Modus der Beschreibung dieser Zukünfte als angenehm, sicher und störungsfrei, als durch eine langwierige Instandsetzung der Gesamtstruktur. Ironischerweise bedeutete die Teilnahme am Programm für die jeweiligen Zukunftsbahnhöfe (und Kommunen), dass im Rahmen der Herstellung der Testkonstellation finanzielle Mittel bereitgestellt 37 Zur Unsichtbarkeit von Repair wurden (im Fall von Offenbach etwa 800.000 Euro),38 sodass wenigstens ein und Maintenance vgl. Stephen gewisses Maß an Sanierung stattfinden kann. Graham, Nigel Thrift: Out of Order: Understanding Repair and Maintenance, in: Theory, Culture and Society, Jg. 24, Nr. 3, 2007, 1−25, doi.org/10.1177/0263276407075954; III. Marktforschung mit Prototypen: Steven J. Jackson: Speed, Time, S-Bahnhof Offenbach Marktplatz und Münster Hauptbahnhof Infrastructure. Temporalities of Breakdown, Maintenance, and Re- Am Beispiel der unterirdischen S-Bahn-Station Offenbach Marktplatz lässt sich pair, in: Judy Wajcman, Nigel Dodd illustrieren, welche Facetten das ‹Angenehmer-Machen› (im Sinne der emotio- (Hg.): The Sociology of Speed. Digital, Organizational, and Social Temporali- nal-atmosphärischen Komponente von Design) und die Mobilitätsverbesserung ties, Oxford 2017, 169−205. (im Sinne der funktional-pragmatischen Komponente) beinhalteten und welche 38 Agnes Schönberg: Bahn investiert 800 000 Euro in die Phasen das betreffende Projekt durchlief. Das von der Offenbacher Hochschule S-Bahn-Station Marktplatz, in: Frank- für Gestaltung (HfG) für diese Transitsituation entworfene Mobilitätsdesign furter Rundschau, 22.6.2020, fr.de/ rhein-main/offenbach/offenbach-bahn- hatte die «Vermeidung von physischen und kognitiven Hindernissen» für den investiert-euro-s-bahn-station-markt Flow der Fortbewegung sowie die Schaffung eines Raums zum Ziel, der die platz-13807324.html (14.5.2023). 39 Anna-Lena Moeckl u. a.: oberirdische mit der unterirdischen Ebene erkennbar verbindet.39 Praxisgeleitete Designforschung I. In einem praxisgeleiteten Designansatz unter Einbeziehung von Kunden- Gestaltung von Transitsituationen im öffentlichen Verkehr, in: Kai Vöckler befragungen und einer Vor-Ort-Begehung wurden zunächst verschiedene u. a. (Hg.): Mobility-Design. Die Aspekte (Bereiche und Elemente des Bahnsteigs, Beleuchtung, Materialien, Zukunft der Mobilität gestalten, Bd. 2, Berlin 2023, 108 – 119, hier 110. Oberflächen, Farben) darauf hin analysiert, wo Personen sich aufhalten und 40 Project-mo: Zukunftsbahnhof entlanggehen, welche Bereiche sie meiden und welche Umgebungselemente Offenbach Marktplatz. Analyse und Konzepte der Hochschule für entfernt bzw. überarbeitet werden könnten. Im Anschluss wurde eine konzep- Gestaltung Offenbach am Main tuelle Matrix entwickelt, die vier Dimensionen («Information», «Atmosphäre», [Präsentation], 18.6.2020, hier Folien 26 – 30, oimd.de/wp-content/ «Aufenthalt» und «Sicherheit») jeweils nach ihrer funktionalen und emotiona- uploads/2023/01/20200618_Analyse- len Bedeutung für die Nutzer*innen differenzierte und auf dieser Basis konkrete und-Konzepte_Zukunftsbahnhof_Markt platz_Offenbach_hfg_klein_3.pdf Umsetzungen vorschlug (etwa eine übersichtlichere Wegführung, eine Zonie- (14.5.2023). rung des Bahnsteigs, aber auch Begrünungsmaßnahmen zur Verbesserung der 41 Vgl. Julia Katzenbach-Trosch: #zukunftsbahnhöfe. Pressege- Luftqualität).40 Nach zwei Jahren Umbau begann dann die Testphase für zwei spräch zum Zukunftsbahnhof Neuerungen: einen würfelartigen Monitor, der über Anschlussverbindungen Offenbach Marktplatz [Präsentati- on], 17.6.2020, hier Folien 18 – 20, informierte (Abb. 3) sowie die Gliederung des Bahnsteigs in Transit-, Infor- deutschebahn.com/resource/blob/530 mations- und Wartebereiche mittels verschiedener Typen von Holz-Mobiliar 2460/4f88ef869f8f021632ff3ededd 0e8507/Pressetermin-Zukunftsbahnhof- (Steharbeitsplätze, Mobiliar zum Anlehnen sowie Sitzgelegenheiten mit flä- Offenbach-Marktplatz-data.pdf chendeckendem WLAN).41 Neben dem als Material eingesetzten Holz sollten (30.5.2023). 42 DB AG: Integrierter Bericht 2014, auch die Beleuchtung, neue Anstriche und Deckenspiegel die Atmosphäre auf- 19.3.2015, hier 158, deutschebahn.com/ werten. Wenn, wie die Deutsche Bahn formuliert, die «Akzeptanz» des Ange- resource/blob/6845526/82d6c5e62d52 049f64a132aade9a89d0/IB2014-data. bots geprüft wird,42 dann testen Zukunftsbahnhöfe also nicht nur die Nutzung pdf (30.5.2023). SCHWERPUNKT 41 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER einer bestimmten Maßnahme, sondern de facto die Implementierbarkeit umgebungsbezogener Kom- ponenten. Kritische Stimmen monieren dabei die mit der Maßnahme verbundene Gentrifizierung, die Geschäftsinhaber*innen mit Migrationshinter- grund zugunsten von DB-Store und Bäckerei-Kette aus dem Bahnhof vertrieben hat, und verweisen auf die mit dem gewählten Mobiliar implementierte Diskriminierung, die den öffentlichen Raum für be- stimmte Bevölkerungsgruppen (etwa Obdachlose, aber auch Senior*innen, Menschen mit Behinde- rung, Schwangere etc.) weniger zugänglich mache oder gar feindselig erscheinen lasse.43 Optimiert wird der Bahnhof also für ein mobiles neolibera- Abb. 3 Foto aus Tweet von les Subjekt, das stets online vernetzt ist und auch Wartephasen optimal nut- project-mo.de, Mobilitätsmonitor, zen will, wobei es steht, sich anlehnt oder höchstens sitzt – Liegen dagegen 15.6.2021 (© Julian Schwarze) ist nicht vorgesehen. Da kritisches Feedback allerdings bislang nicht zu einem Rückbau der für den Test etablierten Strukturen geführt hat, sondern lediglich das weitere Ausrollen der betreffenden Maßnahme an weiteren Orten aussetzt, kommt es in solchen real-world settings zu palimpsestartigen Überlagerungen. Die Zukunftsbahnhöfe reichern über die Jahre zunehmend Schichten bzw. Ab- lagerungen ihrer eigenen Test-Geschichte an und werden damit selbst zu Spu- ren von jeweils als zukünftig gedachten Entwicklungen, stellen also eine Art 43 Vgl. Timur Tinç: Heller und ein- ‹Archiv nicht realisierter Zukunft› dar. So sollte in Offenbach etwa auch ein ladender, in: Frankfurter Rundschau, 8.4.2021, fr.de/rhein-main/offenbach/ Bekleidungs-Pop-up-Store für eine atmosphärische Note sorgen. Jedoch eben heller-und-einladender-90357775.html nur probeweise, was dazu führte, dass nach der sechswöchigen Testphase dau- (14.5.2023); Erik Wenk: «Anti-Ob- dachlosen-Bänke» in Potsdam, in: erhaft nur die Wandgestaltung übrig blieb.44 Tagesspiegel, 29.3.2022, tagesspiegel. «An unseren Pilotbahnhöfen wollen wir möglichst schnell etwas testen und de/potsdam/landeshauptstadt/kritik- an-der-deutschen-bahn-7992457.html herausfinden, was unsere Reisenden und Pendler zufriedener macht und was (14.5.2023). Zu hostile architecture nicht»,45 betonte der Vorstandsvorsitzende der DB Station & Service AG Bernd vgl. Christoph Eggersglüß: Soziale Härten. Ontographien des Platzie- Koch in einem Interview 2019. Im Vordergrund stand offensichtlich weniger rens, in: Christina Lechtermann, die Erprobung eines bestimmten Produkts als vielmehr das Ziel, möglichst Stefan Rieger (Hg.): Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizon- schnell überhaupt etwas testen zu können. Im Unterschied zur gründlichen Ana- talen und Strategien der Benachbarung, lyse des Ist-Zustandes durch die HfG-Studie in Offenbach war deshalb der am Zürich, Berlin 2015, 211 – 232. 44 Vgl. Feldbeobachtung Sophie Hauptbahnhof Münster 2020 veranstaltete «Testsommer»46 in erster Linie eine Spallinger, 23.2.2023. Werbemaßnahme. Ausgerichtet vom B ahnhofsmanagement und den Plattfor- 45 Interview mit Bernd Koch, in: Deine Bahn, Nr. 6, 2019, hier 7, men DB mindbox sowie DB GoBeta, die beide Start-ups und deren ‹ digitale› system-bahn.net/wp-content/themes/ Ideen an den Bahnhof bringen wollten, fanden über den Zeitraum von drei systembahn/includes/readpdf.php? file=26311 (6.3.2023). Monaten verschiedene Veranstaltungen statt, bei denen Besucher*innen 46 O. A.: Testsommer im Apps mit Mobilitätsbezug vor Ort ausprobieren und bewerten konnten. Die #MünsterHbf [Newsmeldung], 2020, GoBeta.de, gobeta.de/projekte/ DB rief mit großformatigen Werbebannern, Displays und direkter Anspra- testsommer-im-hauptbahnhof-muenster- che zum Testen und Mitgestalten auf: «Ja, Du! Hast Du Lust in die Zukunft veranstaltungstipps-in-der-stadt-direkt- im-bahnhof (6.3.2023). zu sehen?» (Abb. 4) Dabei sollten die Besucher*innen auch Daten sammeln, 42 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG bestehendes Wissen ergänzen und an der Weiter- entwicklung von Produkten mitwirken; etwa bei der Erstellung eines Open-Data-Datensatzes zur lokalen Fahrradparksituation.47 Im Unterschied zu Offenbach, wo man die Umgebungsveränderung (Informationsanzeige, Mobiliar etc.) mittels einer Top-down-Methode etablierte, waren Projekte wie das Fahrradparken auf die direkte Mitwirkung von Nutzer*innen angewiesen, um überhaupt zu funk- tionieren. Andere als innovativ beworbene Produk- te des Testsommers waren unausgereift (etwa eine Augmented-Reality-App für Zug-Informationen) oder bereits bekannt (wie etwa der Mobilitätsmo- nitor, der schon 2014 am Berliner Südkreuz und 2019 in Halle getestet worden war), sodass sich der Eindruck aufdrängt, dass Abb. 4 Anrufung durch DB- keine Innovationen getestet, sondern vielmehr proprietäre Abwandlungen Werbebanner, Fotografie Bahnhof Münster, aus Newsmeldung auf a usgelotet wurden. Kritisiert wurde insbesondere die kostspielige Zusammen- GoBeta.de, 24.9.2020 arbeit der Deutschen Bahn mit Start-ups. Dies betraf nicht nur den Testsom- mer, sondern generell die Ausgaben für die sogenannten «Neuen Mobilitätsan- gebote».48 Der Bundesrechnungshof zeichnet dabei das düstere Bild einer sich kontinuierlich verschärfenden Dauerkrise der Deutschen Bahn (Abb. 5), die in starkem Kontrast zu dem vom Marketing geprägten optimistisch-digitalen Bild 47 Vgl. o. A.: Radparken der Zu- kunft [Newsmeldung], 2020, GoBeta. des Zukunftsbahnhofs steht. de, gobeta.de/projekte/radparken- Insgesamt zeigen die Maßnahmen in Offenbach und Münster, dass die der-zukunft-gemeinsam-mobile-perspek tiven-schaffen (3.3.2023). Tests ein Instrument der Marktforschung darstellen, das sich im Unterschied 48 Bundesrechnungshof: Bericht zu einer situationsunabhängigen Befragung von Nutzer*innen auf deren Um- nach § 99 BHO zur Dauerkrise der Deutschen Bahn AG. Hinweise für gang mit konkreten Prototypen bezieht, die in ein real-world setting hinein- eine strukturelle Weiterentwicklung, gegeben werden. Die Aufmerksamkeit für atmosphärische Aspekte lässt sich 15.3.2023, hier 13, bundesrechnungshof. de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/ dabei als eine Form der Environmentalisierung 49 verstehen, die Zufriedenheit 2023/db-dauerkrise-volltext.pdf?__ nicht allein auf funktionaler Ebene verortet, sondern – wie es in der Offen- blob=publicationFile&v=5 (13.5.2023). 49 Vgl. Florian Sprenger: Episte- bacher Design-Studie heißt – (auch) emotional zu erreichen sucht. Ganz im mologien des Umgebens. Zur Geschichte, Sinne Marshall McLuhans werden Atmosphäre und Umgebung hier also als Ökologie und Biopolitik künstlicher environments, Bielefeld 2019. Medien verstanden,50 die auf die Subjekte vor Ort einzuwirken vermögen. In 50 Vgl. Marshall McLuhan, Quentin dieser «Verschränkung von technologischen und ästhetischen Programmen» Fiore: The Medium is the Massage, London u. a. 1996 [1967], 26. öffnet sich der Bahnhof Fragen des Verhaltensdesigns, das durch die Ge- 51 Jeannie Moser, Christina Vagt: staltung von Umgebungen auf Subjekte Einfluss zu nehmen versucht.51 Dies Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der betrifft allerdings nicht nur das Mobilitätsdesign im engeren Sinne, insofern 1960er und 1970er Jahre, in: dies. die indirekte Form der Regierung, die hier durch atmosphärische und umge- (Hg.): Verhaltensdesign. Technologische und ästhetische Programme der 1960er bungsbezogene Aspekte erreicht werden soll, als Zeichen eines weniger diszi- und 1970er Jahre, Bielefeld 2018, plinarischen als vielmehr kontrollorientierten Umgangs mit Regulierung am 7 – 21, hier 18. 52 Gilles Deleuze: Postskriptum Bahnhof verstanden werden muss. Dies zeigt sich in der stetigen Stärkung des über die Kontrollgesellschaften, in: «Unternehmens-Regime[s]»52, für das Gilles Deleuze bündig festgehalten hat: ders.: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt / M. 1993, 262. «Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle».53 Exakt diese 53 Ebd., 260. SCHWERPUNKT 43 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER Abb. 5 Grafik zu Problemen der Marketing-Dimension realisiert sich in Offenbach und Münster in der Bewer- Deutschen Bahn, aus dem Bericht bung eines Zukunftsbahnhofs zum Wohlfühlen, der angesichts der gegenwärti- des Bundesrechnungshofs vom 15.3.2023 (nachgebaut) gen Strukturprobleme der Deutschen Bahn, so möchte man sagen, nicht zufällig in der Zukunft liegt. 54 Vgl. Deutscher Bundestag: IV. «Sicherheitslabor»: Berlin Südkreuz Drucksache 17/14721, 6.9.2013, hier 1, dserver.bundestag.de/btd/17/ Neben der indirekten Form der Regulierung im ökonomischen Register 147/1714721.pdf (30.5.2023). kommen beim Zukunftsbahnhof jedoch noch weitere Agenden ins Spiel. 55 Die Pressemeldung ist nicht mehr abrufbar, sie findet sich aber Am Bahnhof Berlin Südkreuz fanden ebenso Tests statt, in deren Zentrum im originalen Wortlaut auf Tages- Fragen der S icherheit standen. 2013 wurde zwischen Deutscher Bahn und anzeiger Kommunalwirtschaft.eu: Projekt Sicherheitsbahnhof Berlin Bundesinnenministerium ein grundsätzlicher Ausbau der Videotechnik an Südkreuz geht an den Start [Presse- Bahnhöfen beschlossen; 54 ab 2017 wurde Berlin Südkreuz offiziell zum «Si- mitteilung], kommunalwirtschaft. eu/tagesanzeiger/detail/i19854/c000 cherheitsbahnhof»,55 da er mit Blick auf Größe, örtliche Gegebenheiten (u. a. (30.5.2023). die Ausstattung mit HD-Kameras) und Anzahl der Reisenden als «geeigne- 56 Deutscher Bundestag: Drucksache 18/13350, 18.8.2017, tes Testumfeld» galt,56 um KI-basierte Videoanalysesysteme zu erproben. In hier 7, dserver.bundestag.de/ zwei Tests 2017 / 2018 sowie 2019 wurden entsprechende Systeme erprobt, die btd/18/133/1813350.pdf (6.3.2023). 57 Vgl. Koalitionsvertrag von einer kritischen Berichterstattung begleitet wurden. Da automatisierte 2021 – 2025 zwischen SPD, Bündnis Überwachung im öffentlichen Raum in der BRD aus datenschutzrechtlichen 90 / Die Grünen und FDP, 10.12.2021, hier 109, bundesregierung.de/breg-de/ Gründen grundsätzlich verboten ist,57 kann sie nur unter Testbedingungen service/gesetzesvorhaben/koalitions stattfinden. Wie der ehemalige Präsident der Bundespolizeidirektion Berlin, vertrag-2021-1990800 (8.3.2023). 58 Brinkmann & König: tv Berlin zu Thomas Striethörster, formulierte: «Südkreuz ist ein Test. Also wir haben kei- Gast bei der Bundespolizei, Reportage ne Rechtsgrundlage für das, was wir dort zurzeit testen».58 Dies rückt Über- von TV Berlin – Der Hauptstadt- sender, Erstausstrahlung und wachungstests noch einmal in ein anderes Licht. Wenn solche Technologien YouTube-Upload 26.7.2018, normalerweise nicht zum Einsatz kommen könnten, geht es hier nicht um youtu.be/v0TLw-DWCoY, hier TC 00:10:11 – 00:10:18 (8.3.2023). ein prospektives Testen im Vorfeld der späteren Einführung, die Tests haben 44 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG vielmehr den Status einer probeweisen Implementierung, womit erneut Fragen der Akzeptanz entscheidend sind. Beim ersten Südkreuz-Test 2017 / 18 – der auch offiziell als erstes Teilpro- jekt bezeichnet wurde – standen proprietäre Softwaresysteme zur biometri- 59 Vgl. Bundespolizei: Teilprojekt 1 schen Gesichtserkennung im Mittelpunkt, wobei das Ziel war, die Performance «Biometrische Gesichtserkennung» unter Realbedingungen zu erproben, weshalb man auf eine Verbesserung […] am Bahnhof Berlin Südkreuz im Zeitraum vom 1.8.2017 – 31.7.2018 von Beleuchtungsverhältnissen verzichtete.59 Einen vergleichbaren Test (For- [Abschlussbericht], 18.9.2018, schungsprojekt «Foto-Fahndung») hatte man bereits am Mainzer Hauptbahn- bundespolizei.de/Web/DE/04Aktuelles/01 Meldungen/2018/10/181011_abschluss hof 2006 / 07 durchgeführt, allerdings mit nur sehr geringen Trefferraten.60 Der bericht_gesichtserkennung_down.pdf?__ erneut als «Pilotprojekt»61 bezeichnete Test in Berlin Südkreuz ist nun vor dem blob=publicationFile (4.3.2023). 60 Vgl. BKA: Forschungsprojekt Hintergrund des Mainzer Misserfolgs zu sehen, der ihn einem gewissen Er- «Gesichtserkennung als Fahn- folgsdruck aussetzte. Erneut arbeitete man mit drei proprietären Systemen, die dungshilfsmittel. Foto-Fahndung» [Abschlussbericht], Februar 2007, Testpersonen nahmen freiwillig teil und trugen Transponder zur Referenzie- bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/ rung bei sich. Ihre Bilder waren in einer Datenbank gespeichert; während die UnsereAufgaben/Ermittlungsunter stuetzung/Forschung/FotoFahndung/ hinterlegten Gesichtsbilder in einer ersten Phase Biometriestandards entspra- fotofahndungAbschlussbericht.pdf?__ chen und hochwertig aufgenommen worden waren, wurden in einer zweiten blob=publicationFile&v=2 (4.3.2023). 61 Tagesanzeiger Kommunal- Phase mehrere Bilder derselben Person in geringerer Qualität zum Abgleich wirtschaft.eu: Projekt Sicherheits- genutzt. Der Erkennungsbereich war als solcher gekennzeichnet, gleichwohl bahnhof Berlin Südkreuz geht an den Start [Pressemitteilung]. betont etwa Constanze Kurz von netzpolitik.org, dass allein der Umstand, dass 62 Constanze Kurz: Automatische Menschen sich nicht explizit gegen die Maßnahmen wehrten, nicht mit ih- Gesichtsscanner am Südkreuz: Pilot- betrieb rechtlich so nicht zulässig, rem Einverständnis gleichzusetzen sei.62 Auch wenn die Erkennungsraten sich netzpolitik.org, 2.8.2017, netzpolitik. gegenüber denen von Mainz verbesserten, gab es auch in Berlin noch viele org/2017/automatische-gesichtsscanner- am-suedkreuz-pilotbetrieb-rechtlich- Falscherkennungen, sodass der Test vonseiten des Chaos Computer Clubs so-nicht-zulaessig/ (13.5.2023). Vgl. ebenfalls als Misserfolg angesehen wurde.63 Der Abschlussbericht des Bundes- auch die Kampagne des Bündnisses ‹Gesichtserkennung stoppen›, polizeipräsidiums dagegen spricht von «ausgezeichnete[n] Ergebnisse[n]» und digitale-freiheit.jetzt/pressemittilung- hält fest, derartige Systeme seien ein wertvolles «Unterstützungsinstrument» des-bundnisses-gesichtserkennung- stoppen (13.5.2023). der polizeilichen Fahndungsarbeit.64 Wie von Pinch generell beobachtet, wer- 63 Vgl. Chaos Computer Club: den hier also offenbar die Testergebnisse von verschiedenen Parteien unter- Biometrische Videoüberwachung: Der Südkreuz-Versuch war kein schiedlich bewertet. Während die kritische Öffentlichkeit betonte, dass die Erfolg, 13.10.2018, ccc.de/en/ Falscherkennungsraten viel zu hoch seien, konstatierte die Bundesregierung updates/2018/debakel-am-suedkreuz (9.3.2023). in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage: «Ein erfolgreiches Erpro- 64 Bundespolizei: Abschluss- bungsergebnis ist nicht abhängig von konkreten Erkennungsraten.»65 Das heißt bericht 2018, hier 8, 7. 65 Deutscher Bundestag, Druck- letztlich, dass der Test anderes erproben sollte als die technische Funktionalität sache 18/13350, 8. der Systeme. 66 Zum Verfahren der Bewegungs- erkennung vgl. Thomas Golda u. a.: Noch deutlicher wird dies 2019 im Fall eines zweiten Südkreuz-Tests, bei Intelligente Bild- und Videoaus- dem es nicht mehr um Gesichtserkennungssoftware ging, sondern vielmehr wertung für die Sicherheit, in: Dieter Wehe, Helmut Siller (Hg.): Handbuch um ‹intelligente› Systeme zur Verhaltens- und Situationserkennung.66 Getes- Polizeimanagement, Wiesbaden 2022. tet wurden die automatisierte Erkennung von Gefahrensituationen (liegende 67 Die Pressemeldung ist nicht mehr abrufbar, sie findet sich Personen, Betreten von definierten Bereichen, Personenströme und -an- aber im originalen Wortlaut in der sammlungen, abgestellte Gegenstände), Möglichkeiten der Personenzählung Tempelhof-Schöneberg Zeitung: Bahnhof Südkreuz wird Testfeld, sowie zwei als polizeilich ausgewiesene Funktionalitäten, nämlich das Track- 9.6.2019, tempelhof-schoeneberg- ing von Personen bzw. Gegenständen sowie die nachträgliche Auswertung zeitung.de/bahnhof-suedkreuz-wird- testfeld-fuer-videoanalyse-technik/ von Videomaterial.67 Bereits die Frage, was überhaupt als Muster von Gefahr (8.3.2023). SCHWERPUNKT 45 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER zu gelten hat, ist keineswegs einfach zu beantwor- ten, sondern hochgradig kulturell geprägt. Ähn- lich wie beim ersten Test waren erneut sehr viel «Konstruktionsarbeit»68 und Aushandlung nötig, um die Testsituation herzustellen und zu stabili- sieren. Das ist insofern von besonderem Interesse, als die betreffenden Videoüberwachungssysteme den Umgang mit kritischen Situationen durch die Automatisierung von Erkennungs- und Entschei- dungsprozessen erleichtern sollen, de facto aber stets zu einem komplexeren entanglement der be- teiligten infrastrukturellen Entitäten führen. Dies zeigt sich etwa, wenn das Datenmaterial für die zu testenden Szenarien erst aufwendig erzeugt Abb. 6 SafeNow-App, Berlin werden muss, damit die den Systemen zugrunde liegenden KIs mit ihnen in- Südkreuz 2022 (Foto: Sophie struiert werden können. Schließlich müssen die Algorithmen darauf trainiert Spallinger) werden, zu erkennen, was eine gefährliche Situation am Bahnhof ist. Aus die- sem Grund wurden am Südkreuz die verschiedenen Gefahrenszenarien im Sinne von cases (Testfällen) mit einer Gruppe von Darsteller*innen performt und aufgezeichnet – das «Drehbuch» umfasste insgesamt 1.600 Situationen 68 Gabriele Schabacher: Infrastrukturen und Verfahren der einschließlich der «Abgrenzung der relevanten von nicht relevanten Situa- Humandifferenzierung, in: Dilek tionen».69 An zwei Tagen pro Woche wurden zu verschiedenen Tageszeiten Dizdar u. a. (Hg.): Humandifferen- zierung. Disziplinäre Perspektiven und eine Reihe von Szenen wiederholt aufgezeichnet, um die Leistungsfähigkeit empirische Sondierungen, Weilerswist der drei Mustererkennungssysteme zu testen. Allein die Kalibrierung der 2021, 287 – 313, hier 304. 69 Bundespolizei: FAQs zur Systeme erwies sich jedoch als sehr kompliziert; erneut verursachten dabei intelligenten Videoanalyse-Technik die Lichtverhältnisse große Schwierigkeiten. Die technische Auswertung des [Website-Eintrag], bundespolizei.de/ Web/DE/04Aktuelles/01Meldungen/ Tests fand nicht vor Ort statt, sondern an der Universität der Bundeswehr Nohomepage/190607_videoanalyse-faq. München, wobei eine offizielle Bekanntgabe bislang nicht erfolgt ist. Aller- html (7.3.2023). 70 BfDI: Tätigkeitsbericht dings wird im Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten, dem der Test- 2021, 2022, hier 74, bfdi.bund. bericht vorlag, von einem schlechten Ergebnis gesprochen, das nicht die de/SharedDocs/Downloads/DE/ Taetigkeitsberichte/30TB_21.pdf?__ «Grundlage weiterer, ähnlich aufwendiger Tests» sein könne; Sicherheit an blob=publicationFile&v=13 (9.3.2023). Bahnhöfen müsse durch «andere Maßnahmen» gesteigert werden.70 71 BMI, DB: Bundesregierung und Deutsche Bahn beschließen weitere Als 2020 Bundesinnenministerium und Deutsche Bahn in einer gemeinsa- Maßnahmen für mehr Sicherheit men Presseerklärung ankündigten, Berlin Südkreuz werde für weitere drei Jah- an Bahnhöfen [Pressemitteilung], 13.12.2020, www.bmi.bund.de/Shared re als «Sicherheitsbahnhof» eingerichtet,71 und im Juli 2022 (verzögert durch Docs/pressemitteilungen/DE/2020/12/ die Corona-Pandemie) die Verlängerung ihrer Kooperation und die Einrich- sicherheit-bahnhoefe.html (7.3.2023). 72 DB, BMI, BMVD: DB und Bun- tung eines «Sicherheitslabor[s]» im Bahnhof bekanntgaben,72 lag der Zusam- despolizei entwickeln Innovationen menhang mit dem Test von 2019 nahe: Statt eines Testergebnisses folgt ein für mehr Sicherheit im Bahnhof. [Pressemitteilung], 21.7.2022, weiterer Test; er soll erneut erproben, welche Innovationen Bahnhöfe sicherer hier 2, deutschebahn.com/resource/blob/ machen können. Wurden für die früheren Südkreuz-Tests zusätzliche Video- 8199756/04e4a356c74ed0c905f7a34f 52326a75/20220721_PI_Sicherheits arbeitsplätze in den Räumen des Bundespolizeireviers eingerichtet,73 wird nun bahnhof-data.pdf (7.3.2023). ein eigener Kontrollraum geschaffen, von dem aus die Tests koordiniert werden 73 Bundespolizei: Abschlussbe- richt 2018, 16. und in dem die Ergebnisse zusammenlaufen. 46 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG Die Pressekonferenz im Juli 2022 kündigte dann drei Sicherheitsprojekte öffentlichkeitswirksam an: die «leuchtende Bahnsteigkante», die «App Safe- Now» sowie den «Ausbau der Videotechnik».74 Die Projekte nehmen damit die drei Achsen wieder auf, die aus den dargestellten Bahnhofstests in Offen- 74 DB, BMI, BMDV: DB und bach, Münster und Berlin bekannt sind, nämlich die Modifikation von en- Bundespolizei entwickeln Innova- vironmentalen Elementen, die Einführung neuer Produkte (Apps) sowie die tionen, 2. 75 DB: Leuchtende Bahnsteig- Frage der Überwachung. Bei der leuchtenden Bahnsteigkante wurden Licht- kante [Website-Eintrag], ohne faserbetonplatten am Bahnsteig eingebaut, um zu testen, ob deren LED-Farb- Datum, sicherheitsbahnhof.bahnhof.de/ suedkreuz/Leuchtende-Bahnsteigkante/ signale die Sicherheit erhöhen bzw. ob sie der Lenkung von Personenströmen Leuchtende-Bahnsteigkante-9642190 dienen können, um ein rascheres Einsteigen und pünktlichere Züge zu er- (5.3.2023); SIUT: Leuchtende Bahnsteigkante [Broschüre], siut.eu/ möglichen: Rotes Blinken steht für ein- bzw. abfahrende Züge, weißes Licht wp-content/uploads/2023/03/Broschuere soll Haltebereiche markieren, verschiedene Farben sollen der Anzeige der _DE_DIGITAL-1.pdf (7.3.2023). 76 Vgl. Edgar Rehberger: Der Zugauslastung dienen (dieser Test steht noch aus).75 Auch in diesem Fall hatte leuchtende Bahnsteig, in: Cannstatter bereits 2018 – 2020 in Stuttgart-Bad Cannstatt ein ähnlicher Test mit wenig Zeitung, 7.7.2019, cannstatter-zeitung. de/inhalt.erkenntnisse-zur-dynamischen- befriedigendem Ergebnis stattgefunden.76 Die dem Test zugrunde liegenden wegeleitung-am-cannstatter-bahnhof- Annahmen erwiesen sich als unzutreffend: Weder ist die Bedeutung von Far- der-leuchtende-bahnsteig.69ced5cb- 3946-4ff8-9f3d-6537794bf6bd.html ben so intuitiv und international wie angenommen,77 noch ergibt die Anzeige (7.3.2023). von Türpositionen bei den kleinen Türabständen von S-Bahnen Sinn, wie 77 Vgl. Peter Neumann: Was steckt hinter der leuchtenden Bahn- man bereits in Bad Cannstatt festgestellt hatte.78 Auch die Tatsache, dass die steigkante im Bahnhof Südkreuz?, Deutsche Bahn mit der Maßnahme letztlich unterstellt, dass die Fahrgäste in: Berliner Zeitung, 21.7.2022, berliner-zeitung.de/mensch-metropole/ selbst durch ihr zu zögerliches Einsteigen für Verspätungen verantwortlich was-steckt-hinter-der-leuchtenden- seien, sorgte für Unmut, denn «[w]enn erst gar kein Zug in den Bahnhof ein- bahnsteigkante-im-bahnhof-suedkreuz- li.248980 (14.5.2023). fährt, dann helfen auch die schönsten Lämpchen an der Kante nicht».79 Und 78 Vgl. Rehberger: Der leuchtende schließlich verkehren die blinkenden Lichter den intendierten Sicherheitsef- Bahnsteig. 79 Vanessa Fonth: Bahn testet fekt in sein Gegenteil: Insbesondere Kinder fühlen sich zum Spielen an der LED-Lampen an der Bahnsteigkante, Bahnsteigkante angeregt.80 in: Münchner Merkur, merkur.de/lokales/ muenchen/bahn-testet-led-lampen-an- Der dreimonatige Test der Bluetooth-basierten SafeNow-App wiederum bahnsteigkante-auch-fuer-muenchner-s- zielte auf die Erhöhung des subjektiven Sicherheitsempfindens von Perso- bahn-zr-9653946.html (13.5.2023). 80 Vgl. Feldbeobachtung Sophie nen, die im Bahnhof Hilfe herbeirufen wollen (Abb. 6). Damit überhaupt Spallinger, 14.9.2022. die notwendige Zahl an App-Nutzer*innen erreicht werden konnte, muss- 81 Vgl. Moritz Konradi u. a. ( Camino GmbH): Evaluation der ten neben Bahnreisenden auch Mitarbeitende der DB und Gewerbetreiben- Maßnahme «Hilferuf-App» im Rah- de für eine Teilnahme am Test gewonnen werden, die dann auch die Mehr- men des Projekts «Sicherheitsbahn- hof» [Abschlussbericht], Dezember zahl der Alarme auslösten.81 Dies ist erstaunlich, da es angeblich um die 2022, hier 4, sicherheitsbahnhof. Sicherheit der Bahnkund*innen geht. Entsprechend betont der Abschluss- bahnhof.de/resource/blob/10404272/3 2c06889294b785fd61f5978b38464 bericht des Forschungsinstituts Camino GmbH, die positiven Bewertungen af/SafeNow_Abschlussbericht-data.pdf ( insbesondere durch die Sicherheitskräfte selbst) könnten nicht direkt der (7.3.2023). 82 Ebd., 5. getesteten App zugeschrieben werden, sondern gingen auf die «Rahmenbe- 83 Vgl. Thomas Rautenberg: Bund dingungen zurück, die die Sicherheitspartner Deutsche Bahn und Bundes- und Bahn testen neue Hilferuf-App am Südkreuz, in: RBB24, 21.7.2022, polizei vor Ort geschaffen haben, um den Test zu ermöglichen».82 Ganz im rbb24.de/panorama/beitrag/2022/07/ Sinne von Marres und Stark wird hier also das realweltliche Setting den Not- bahn-sicherheit-hifleruf-app-suedkreuz- bahnhof-konzept.html (8.3.2023). wendigkeiten der Testung angepasst, in diesem Fall durch die Schaffung von 84 DB: SafeNow-App [Website- 22 (!) zusätzlichen Stellen für den Testzeitraum.83 Wenn die Deutsche Bahn Eintrag], sicherheitsbahnhof.bahnhof. de/suedkreuz/SafeNow-App/SafeNow- den Test als «erfolgreich» verbucht,84 so interpretiert sie die infrastrukturelle App-9643062 (7.3.2023). SCHWERPUNKT 47 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER Verdichtung des Sicherheitsgefüges am Bahnhof durch das zusätzlich einge- stellte Personal als Leistung der betreffenden Hilferuf-App. Kritisiert wurde die App insbesondere mit Blick auf den Datenschutz. Denn das Münchener Start-up hatte die App ursprünglich dazu entwickelt, Menschen aus dem eige- nen Umfeld in Gruppen zusammenzufügen, um sie im Notfall benachrichti- gen und den eigenen Standort teilen zu können. Den eingestellten Gruppen fügte der Test am Südkreuz schlicht die Gruppe Sicherheitspersonal hinzu, wobei die Standortdaten unabhängig von Notsituationen permanent nach München übermittelt wurden.85 Obwohl die Bundespolizei die App massiv bewarb, zeigen wissenschaftliche Studien, dass die Wirksamkeit von Smart- phones zur Erhöhung des subjektiven Sicherheitsempfindens eher gering ist; 86 hinzu kommt, dass grundsätzlich in Frage steht, «ob das Konzept der gefühlten Sicherheit überhaupt eine Grundlage für sicherheitspolitische Ent- scheidungen sein sollte».87 Erst an dritter Stelle, und auch nur dezent, wird bei der Pressekonfe- renz 2022 genannt, wofür Berlin Südkreuz in den Jahren zuvor gestanden hatte, nämlich die Erprobung von Mustererkennungssystemen auf der Ba- sis künstlicher Intelligenz. Auf der Website des Sicherheitsbahnhofs findet sich nur der schlichte Reiter «Videotechnik», erst die Unterseite spricht von «polizeiliche[n] KI-Strategien» und verweist auf theoretische Bemühungen unter Laborbedingungen, durch die man erforschen wolle, «auf welche Weise eine KI-unterstützte Software bei der Analyse von Videobildern zum Einsatz kommen könnte».88 Anstelle eines konkreten Tests wird nur unspezifisch auf die Zusammenarbeit mit dem KI-Campus verwiesen, eine vom BMI geför- derte Initiative im Rahmen der KI-Strategie der Bundesregierung, in der u. a. Deutsche Bahn und Polizeibehörden mögliche KI-Anwendungsfälle im Perso- nennahverkehr prüfen.89 85 Vgl. Lilith Wittmann: Safe Now: Gegenüber Offenbach und Münster steht in Berlin zwar Sicherheit mehr Mit Überwachungsapps zu mehr «gefühlter» Sicherheit, Medium.com, im Fokus, über die damit verbundenen Systeme der Überwachung, Automati- 26.7.2022, lilithwittmann.medium.com/ sierung und KI wird aber kaum gesprochen. Dies lässt sich zum einen auf den safenow-mit-überwachungsapps-zu- mehr-gefühlter-sicherheit-cc9726e1a9f1 geringen Erfolg der bisherigen Tests zurückführen, zum anderen aber auf die in (13.5.2023). Offenbach oder Münster deutlich ‹erfolgreicher› erprobte Verbesserung atmo- 86 Vgl. Dennis Reichow, Thomas N. Friemel: Sicherheitskommunika- sphärischer Qualitäten bzw. des Sicherheitsgefühls. tion im öffentlichen Personen- verkehr, in: Lars Gerhold (Hg.): Sicherheitsempfinden, Sicherheitskom- munikation und Sicherheitsmaßnahmen. V. Fazit Ergebnisse aus dem Forschungsverbund WiSima, Berlin 2020, 59 – 86, hier 69. Der Einsatz von KI-basierten Mustererkennungssystemen für die Gesichts- 87 Wittmann: Safe Now. oder Situationserkennung ist in Deutschland aufgrund der geltenden Daten- 88 Website Sicherheitsbahnhof, sicherheitsbahnhof.bahnhof.de/ schutzbestimmungen im öffentlichen Raum nur als Test möglich. Eingebettet suedkreuz/Videotechnik/Ausbau-der- in ein solches Test-Regime, wie man im Anschluss an Deleuze sagen könn- Videotechnik-9642248 (5.3.2023). 89 Ebd. Vgl. ferner die KI- te, wird es allerdings möglich, nicht nur die Funktionalität von Programmen, Strategie der Bundesregierung, sondern vielmehr auch ihre Implementierung zu testen, d. h. die Gewöhnbar- www.ki-strategie-deutschland.de/home. html (9.3.2023). keit von Subjekten. Wenn in Umgebungen, an die wir gewöhnt sind – und 48 ZfM 29, 2/2023 TESTS ALS MEDIEN DER GEWÖHNUNG man darf öffentliche Orte wie Bahnhöfe sicher zu solchen Umgebungen zäh- len –, Tests stattfinden, mag dies zunächst eine Irritation darstellen. Durch die Dauer solcher Tests erfolgt allerdings gleichzeitig eine Infrastrukturierung, die das zunächst Irritierende langsam wieder in den Hintergrund treten lässt: Wir nutzen bereitgestellte Möbel, Hotspots und Apps und sehen (auch des- halb) die Überwachungskameras und Bodenmarkierungen nicht mehr. Auch wenn bestimmte Überwachungskonstellationen aus Datenschutzgründen im Normalbetrieb verboten sind, führt ihr Einsatz unter Testbedingungen eine Normalisierung herbei.90 Getestet wird hier nie allein, ob Technik funktioniert oder Nutzer*innen deren Handling verstehen, sondern auch und gerade die Akzeptanz des Testsettings insgesamt. Vor diesem Hintergrund lassen sich abschließend drei Aspekte hervorhe- ben, die für eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive auf Testszenarien an Bahnhöfen interessant sind: Erstens folgen die betreffenden Pilotversuche der Logik eines Test-Regimes, das Regulierungen durch die probeweise Imple- mentierung von Komponenten infrastruktureller Wirkzusammenhänge her- beiführt. In diesen Test-Regimes kommt es gleichermaßen zu Werbung und Marketing wie zu Gewöhnung und Einübung, denn das angestrebte ‹Ange- nehmer-Machen› der jeweiligen Settings zielt auf die Invisibilisierung von Re- gulierungsbemühungen. Dabei werden Umgebungen für die Tests gezielt so abgeändert, dass die Testergebnisse positiv ausfallen. Indem Tests derart in den Bahnhofsalltag integriert und durch bestimmte Diskurse und Dokumente offi- ziell begleitet werden, entsteht eine Form der Infrastrukturierung, die auf die embeddedness, transparency und selbstverständliche Nutzung durch die Mitglie- der einer Praxisgemeinschaft – das Bahnhofsklientel – setzt. Zweitens zeigt insbesondere der Fall des Bahnhofs Berlin Südkreuz, dass Testen in realweltlichen Zusammenhängen auch eine historische Dimension impliziert. Denn indem hier wiederholt Tests durchgeführt werden, lagern die jeweiligen Umgebungen zunehmend Spuren dieser Test-Geschichten an. Dies be- trifft einerseits konkrete praktisch-materielle Elemente wie die Nutzung von Räumlichkeiten, andererseits aber auch die diskursive Begleitung und ima- ginative Inszenierung der Tests. Die (zum Teil wiederholte) Benennung als « Pilotprojekt», «Zukunftsbahnhof» oder «Reallabor» zeigt die Notwendigkeit, die Tests vor dem Hintergrund einer problematischen Gegenwart – in der sich die Infrastruktur der Deutschen Bahn als marode erweist – vor allem diskursiv als innovativ auszuflaggen. Drittens kann eine medienwissenschaftliche Analyse durch ihre Aufmerk- samkeit auf die infrastrukturelle Formation von realweltlichen Testsettings deren environmentale und affektive Dimensionen in den Blick nehmen. Dabei 90 Vgl. Jürgen Link: Versuch über spielen Bilder und Narrative und dadurch erzeugte atmosphärische und emo- den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., erg., überarb. u. tionale Qualitäten eine entscheidende Rolle, denn sie inszenieren die Verspre- neu gestaltete Aufl., Göttingen 2006; chen, die dann durch die Tests ‹bewiesen› oder besser: herbeigeführt werden Christiana Bartz, Marcus Krause (Hg.): Spektakel der Normalisierung, sollen. Nicht zufällig ist in den untersuchten Fällen häufig vom subjektiven München 2007. SCHWERPUNKT 49 GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER Sicherheitsgefühl und einer Wohlfühlatmosphäre die Rede. Denn getestet wird weniger die (häufig fehleranfällige) Technik als allgemeine Behauptungen wie etwa, dass Sicherheit besser sei als Gefahr. An derartige ‹Ergebnisse› kön- nen jederzeit weitere Tests anschließen. Selbst wenn wie im Fall der SafeNow- App der Erfolg explizit nicht auf die App, sondern eine infrastrukturell verbes- serte lokale Vernetzung der Akteur*innen zurückgeführt wird, legen Verweise auf den KI-Campus oder auch den Testsommer in Münster nahe, dass man bei der Deutschen Bahn auf eine Digitalisierung hofft, die von Menschen weit- gehend entstörte Regulierungen leistet. Realweltliche Testsettings prüfen und erproben also nicht nur Dinge, sondern stellen vielmehr selbst Medien der Gewöhnung dar. — 50 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150206. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. S T E FA N R I E G E R VIRTUELLES TESTEN — Silber, wenn es auserleſen Und von allem Zuſatz rein, Jſt ein weiß metalliſch Weſen, Helle, wie des Mondes Schein. Das geziehg’ iſt, und doch klinget, Hart, doch wenn’s die Glut durchdringet, Schmilzt es: doch iſt es ſo feſt, Und ertraͤgt, wie Gold, den Teſt.1 Test m. ‹Funktionsprobe, Eignungsprüfung, Wertbestimmung›, Übernahme (Anfang 20. Jh.) von gleichbed. amerik.-engl. test, eigentlich (mengl. engl. test) ‹Schmelztiegel für (Edel)metalle, Probiertiegel›, aus afrz. test ‹irdener Topf, Scherbe, Schädel› (frz. têt, test ‹Schale›). Zugrunde liegt lat. testū (indeklinabel), testum ‹irdenes Geschirr, irdene Schüssel› (vgl. lat. testa ‹Platte, Deckel, Schale aus gebranntem Ton, Geschirr, Tonscherbe›). Aus dem Afrz. entlehnt mhd. test ‹Topf, Tiegel›, in der Bergmannssprache ‹Schmelztiegel für die Erprobung von Silber› (16. Jh.), ‹Prüfung im Schmelzverfahren› (18. Jh.).2 I. Tieglein, Tieglein an der Wand Mit seiner Wortgeschichte gerät der Test in Gefilde, die von den uns geläufigen 1 Barthold Hinrich Brockes: Das Verwendungen und sprachlichen Usancen weit entfernt sind. Das Grimm’sche Silber, in: ders.: Physikalische und Wörterbuch greift eine dieser Bedeutungen auf und verweist dazu auf hand- moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur, Bd. 9, Hamburg werkliche Praxen, die im weitesten Sinne mit dem Umgang sowie mit der u. a. 1748, 9. Verse in verkürzter Verarbeitung von Erzen und Metallen zu tun haben. Gediegenheit und Wert- Fassung zit. in Lemmata DESTtest, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: schöpfung werden dem Material durch die Testung attestiert, Metalle von ge- Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Leipzig ringerem Wert wie Blei und Zinn werden von höherwertigen wie Gold und Sil- 1860, Sp. 1031, woerterbuchnetz.de/ DWB?lemid=D01703 (12.3.2023). ber geschieden. Bei diesem Prozess gelangen topf- und schalen ähnliche Tiegel 2 TEST, in: Wolfgang Pfeifer zum Einsatz, und es ist hier von Interesse, dass der Begriff Tiegel mit seinen (Hg.): Wilhelm Braun: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 2, zahlreichen und sehr unterschiedlichen Wortbedeutungen (auch auf die ent- Berlin 1993, zit. n. der von Wolfgang sprechende Streuung weist das Wörterbuch hin) mit dem Test wortgeschicht- Pfeifer überarb. Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, lich verwandt ist und beide sogar synonym verwendet werden können. In den dwds.de/wb/Test (1.3.2023). SCHWERPUNKT 51 STEFAN RIEGER Schmelztiegeln der Alchemist*innen und Bergleute soll sich die Wahrhaftigkeit des Materiellen offenbaren, so wie in einem übertragenen Sinn im Test die Ge- diegenheit menschlicher Charaktere zutage treten soll. Auf diese Weise jeden- falls gelangt der Schweizer Mediziner und Naturforscher Albrecht von Haller (1708 – 1777) von der unmetaphorischen Eigentlichkeit der Metallbearbeitung zu seiner Version eines frühen Persönlichkeitstests, in dem er unter dem Titel Die Falschheit menschlicher Tugenden das Blei zum Lackmustest für Aufrichtig- keit erklärt: «wann falsche tugend wird, wie blei im test, vergehen.»3 Ähnlich verfuhr auch schon ein früherer Universalgelehrter, Daniel Georg Morhof, in seinem Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie aus dem Jahr 1682 bei der Detektierung frühneuzeitlicher Persönlichkeitsprofile. Die That thu ich euch nennen / That iſt der rechte Teſt / Darob ihr koͤnt erkennen / welch Leut ſein dicht und feſt Drumb laſſet euch nicht aͤffen / die Wort ſein heur wolfeil / Wanns aber kompt zum treffen / ſo find ſichs erſt weit fehl.4 Praxeologische und übertragene Beglaubigungsgesten begleiten den Test in eine Gegenwart, die sich ihm, wie die Rede von den test societies bei David Stark und Noortje Marres nahelegt,5 scheinbar vollumfänglich verschrieben hat. In welcher Realisierung und medialen Ausgestaltung auch immer, der Test dient als eine auf Dauer gestellte Form der Vergewisserung. Den Möglichkeitsräu- men eines schier universalen Testens steht daher eine Epistemologie des Un- 3 Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte, Berlin 2013 sicheren und das Begehren nach einer einfachen, schnellen und zielgerichteten [1730], 108. Selbst- und Rückversicherung gegenüber.6 Der Test soll ein Versprechen nach 4 Daniel Georg Morhof: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Objektivität einlösen, er folgt Standards und lässt in seiner wiederholbaren Ein- Poesie / deren Uhrsprung / Fortgang deutigkeit nur wenig Ermessens- und Interpretationsspielräume zu. Das präde- und Lehrsätzen, Kiel 1682, 385. 5 Vgl. Noortje Marres, David stiniert seine Verwendung dort, wo bestimmte Rationalisierungsschübe zu ver- Stark: Put to the Test: For a New zeichnen sind, wie in den Subjekt- und Objektpsychotechniken der klassischen Sociology of Testing, in: The British Journal of Sociology, Bd. 71, Nr. 3, Moderne; also dort, wo wie etwa im Taylorismus zu Beginn des 20. Jahrhun- 2020, 423 – 443. derts Leistungen in Teileinheiten zerlegt, sequenzialisiert und diese Subrou- 6 In Frage gestellt wird diese Ein- fachheit bei Ludwik Fleck; vgl. Nicole tinen nicht mehr an eine Vorstellung vom ganzen Menschen, sondern an ein Zillien: Digitaler Alltag als Experiment. Set hochgradig ausdifferenzierter Spezialbefähigungen adressiert werden. Über Empirie und Epistemologie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung, Bielefeld die Eignung für einen bestimmten Beruf entscheiden standardisierte Tests und 2020, insb. 15 – 37. Mit der Zielge- nicht länger Selbsteinschätzungen und Lebensentwürfe von Betroffenen. richtetheit ist eine Grundunterschei- dung zum Experiment gegeben, vgl. Unängstliche Autor*innen der Moderne haben diese formierende Kraft des dazu Hans-Jörg Rheinberger: Spalt Testens erkannt und zeitdiagnostisch gewertet: Walter Benjamin etwa hat die- und Fuge. Eine Phänomenologie des Experiments, Berlin 2021. sem Phänomen im Karussell der Berufe nachgespürt und Robert Musil, ein 7 Vgl. Walter Benjamin: Karussell nicht nur literarisch ausgewiesener Spezialist für Eigenschaftszuschreibun- der Berufe, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt / M. gen aller Art, hat in einer Arbeit über die Anwendung der Psychotechnik diese 1980, 667 – 676; Robert Musil: Psy- Logik der Eigenschaftserhebung für militärische Belange nachgezeichnet.7 Ob chotechnik und ihre Anwendungs- möglichkeit im Bundesheere, in: Effizienz oder Einbildungskraft, ob kindliche Phantasietätigkeit oder Hand- Militärwissenschaftliche und technische geschicklichkeit, ob menschliche oder auf Maschinen übertragene Rorschach- Mitteilungen, Jg. 53, Nr. 6, 1922, 244 – 265. tests, ob Disposition zu Kreativität oder Risikobereitschaft, ob Befähigung zum 52 ZfM 29, 2/2023 VIRTUELLES TESTEN Haarefrisieren, Funken oder Fliegen – alles untersteht dem Test.8 Im Zuge des- sen werden eigene Gerätschaften und Apparaturen ersonnen – etwa solche, die bestimmte Geschicklichkeiten nachahmen und deren vorrangiger Seinsgrund das Testen selbst ist. Der Test schafft sich, wie im Umfeld der Intelligenztests immer hervorgehoben wurde, seine eigene Umgebung und seine eigenen Ap- parate, kurz seine eigene Umwelt, seine eigene Realität und seine eigene Rati- onalität.9 Der Test formiert eine Welt nach Maßgabe von Eigenschaften: Diese können binär als bloßes Faktum (schwanger / nicht schwanger) oder als skalier- ter Wert (2,4 Promille Blutalkoholkonzentration) in Erscheinung treten. Ob Materialien oder Waren, Produkte oder Dienstleistungen, Persönlichkeitspro- file oder charakterliche Dispositionen, natürliche Eignungen oder erworbene Fähigkeiten, Wahrnehmungsschärfen oder Reaktionszeiten, Intelligenz- oder Kreativitätsprofile: Sie alle folgen einer Epistemologie des Eindeutigen und des Vereindeutigbaren. Sie alle erzeugen Daten, die, von den handelsüblichen Que- rulanzen einmal abgesehen, mit der Anmutung versehen sind, nicht weiter ver- handelbar zu sein. Im Fall von menschlichen Akteur*innen bewähren sich dabei 8 Zu dieser Reihe vgl. Wilhelm besonders solche Verfahren, die gar nicht erst fragen und damit die Möglichkeit Stern: Ein Test zur Prüfung der von Täuschung und Lüge zulassen, sondern die auf eine Weise vorgehen, die kindlichen Phantasietätigkeit (‹Wolkenbilder›-Test), in: Zeitschrift der*dem Getesteten verschlossen und unzugänglich bleibt. Im besten, weil jegli- für Kinderpsychiatrie, Nr. 5, 1938, che Intentionalität ausschließenden Fall wissen die Getesteten überhaupt nicht, 5 – 11; Gustav A. Lienert: Die Draht- biegeprobe als standardisierter Test, dass sie Gegenstand (oder gar Subjekt) einer Testung sind.10 Göttingen 1961; E. Paul Torrance: Ex- Dabei eignet dem Test ein Moment der Egalisierung: Die Testgesellschaft amples and Rationales of Test Tasks for Assessing Creative Abilities, zieht sämtliche Mitglieder als potenzielle Beiträger*innen in Betracht. Aller Aus- in: The Journal of Creative Behavior, differenzierung und Spezialisierung zum Trotz darf und soll der Test damit gera- Jg. 2, Nr. 3, 1968, 165 – 178; Adam S. Charles: Interpreting Deep Learning: de auch in die Hände derjenigen gelangen, die nicht über ausgewiesene Expertise The Machine Learning Rorschach und vermitteltes Fachwissen verfügen, sondern die in Form des Selbsttests das Test?, in: arXiv.org, Juni 2018, doi.org/10.48550/arXiv.1806.00148. szientifische Sensorium um bestimmte Phänomene erweitern. Im Selbsttest, wie 9 Vgl. zum Apparatepark stellver- er für die Detektierung von Schwangerschaften oder Coronainfektionen massen- tretend Emmy Lang: Psychologische Massenprüfungen für Zwecke der weise Verwendung findet, manifestiert sich ein grundlegendes Vertrauen in eine Berufsberatung (Methodik), in: Fritz Wissensförmigkeit, die im Test eine ubiquitäre und phänomenal vielgestaltige Giese (Hg.): Deutsche Psychologie, Bd. 4, Nr. 1, Halle a. d. Saale 1925, Materialisierung angenommen hat. In dieser Umsetzung ist die Selbstanwen- 3 – 52. dung zu einer Selbstverständlichkeit geworden – Nasenabstriche in Teströhrchen 10 Zu einem solchen Verfahren zur Entlarvung einer simulierten und Urin auf Teststreifen geben, das sollte schließlich jede*r können. Taubheit und damit zur strategi- schen Nicht-Erkennbarkeit der Testsituation vgl. Stefan Rieger: Tautologisches Telefonieren. Wie II. Realitätscheck oder über die Gediegenheit des Seins man am Apparat mit sich selbst kommuniziert, in: Aleida Assmann, Unter den Bedingungen der Virtualität erhält der Test eine neue Dimension und Ulrich Gaier, Gisela Trommsdorff eine Fülle neuer Anwendungsfelder. Dabei befördert eine sehr probate Eigen- (Hg.): Zwischen Literatur und Anthropo- logie. Diskurse, Medien, Performanzen, tümlichkeit des Virtuellen derartige Anwendungen, nämlich das, was man seine Tübingen 2005, 267 – 283. ökonomische und ethische Niederschwelligkeit nennen könnte. In den konse- 11 Das rückt sie in eine Nähe zur Computersimulation. Vgl. dazu quenzreduzierten oder -verminderten Szenarien virtueller Realitäten können Claus Pias: Simulation, in: ders., und dürfen Dinge auf den Prüfstand geraten, deren Testung unter realen Be- Timon Beyer, Jörg Metelmann (Hg.): Nach der Revolution. Ein Brevier digita- dingungen nur bedingt möglich oder ethisch nicht verantwortbar wäre.11 Dafür ler Kulturen, Berlin 2017, 90 – 101. SCHWERPUNKT 53 STEFAN RIEGER 12 Vgl. Azin Semsar u. a.: A Virtual einschlägig sind virtuelle Testumgebungen (virtual testbeds), die eine schwer Testbed for Studying Trust in Ambi- zu überschauende Konjunktur verzeichnen. Vom Vertrauen in Umgebungen ent Intelligence Environments (Con- ference Paper), in: Jia Zhou, Gavriel über die Mensch-Roboter-Interaktion, Belange künstlicher Intelligenzen oder Salvendy (Hg.): Human Aspects of IT Schuhdesign bis zur Gestaltung eines taktilen Internets der Dinge – alles gerät for the Aged Population. Healthy and Active Aging. ITAP 2016, Wiesbaden, auf den virtuellen Prüfstand.12 Szenarien mit selbstfahrenden Fahrzeugen sind 2018, 101 – 111, doi.org/10.1007/978-3- wegen ihrer lebenstechnischen Brisanz und der ihnen zukommenden allgemei- 319-39949-2_10; Jürgen Rossmann u. a.: A Virtual Testbed for Human- nen Aufmerksamkeit dafür besonders einschlägig: Zum einen spielen sie die Robot Interaction, in: 2013 UKSim 15. enorme Zahl möglicher und komplexer Alternativen mit geringsten Zeitverzö- International Conference on Computer Modelling and Simulation, Cambridge gerungen durch und zum anderen sind sie in der Lage, ethisch bedenkliche Ent- (UK) 2013, 277 – 282, doi.org/10.1109/ scheidungsfindungen wie das trolley problem in die Fülle ihrer potenziellen Sze- UKSim.2013.87; Philip Azariadis u. a.: Virtual Shoe Test Bed. A Computer- narien zu integrieren.13 Sie nehmen die Möglichkeit ihrer errechneten Welten Aided Engineering Tool for Support- beim Wort, um die geeignetste Lösung vor dem Hintergrund der Fülle weniger ing Shoe Design, in: Computer-Aided Design and Applications, Jg. 4, Nr. 6, geeigneter Lösungen zu isolieren und sie dann Wirklichkeit werden zu lassen. 2007, 741 – 750, doi.org/10.1080/16864 Dabei kommt es zu Verdopplungen klassischer Testszenarien, die im Virtuellen 360.2007.10738507. 13 Vgl. Riccardo Donà, Biagio nachstellen, was sonst unter realen Bedingungen getestet wurde: Das gilt etwa Ciuffo: Virtual Testing of Automated für die grundsätzliche Frage, ob man Menschen von Nicht-Menschen unter- Driving Systems. A Survey on Validation Methods, in: IEEE Access, scheiden kann, wie im inzwischen klassisch gewordenen Turing-Test.14 Dies gilt Bd. 10, 2022, 24349 – 24367, doi. auch für sehr spezifische Belange, etwa für die Frage, ob Menschen in der Lage org/10.1109/ACCESS.2022.3153722; Florian Sprenger (Hg.): Autonome sind, sich bestimmte Bewegungsabläufe vorzustellen; eine Frage des Einbil- Autos. Medien- und kulturwissenschaft- dungswissens, die an einem privilegierten Gegenstand, der Rotation, Testungen liche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität, Bielefeld 2021. in unterschiedlichen Settings erlaubt und die im Rahmen des Mental Rotation 14 Vgl. Richard L. Gilbert, Andrew Test (MRT) zum handelsüblichen Testarsenal psychologischer Untersuchungen Forney: Can avatars pass the Turing test? Intelligent agent perception gehört.15 Im VRSR (Virtual Reality Spatial Rotation Test) und im IMRT (Immersive in a 3D virtual environment, in: Inter- Mental Rotation Test) erfährt der MRT seine Übertragung ins Virtuelle. national Journal of Human-Computer Studies, Nr. 73, 2015, 30 – 36, Eine ganz besondere Rolle spielt das virtuelle Testen allerdings dort, wo doi.org/10.1016/j.ijhcs.2014.08.001. Aspekte der usability und damit die Möglichkeit einer Weltgestaltung etwa auf 15 Zum Mental Rotation Test vgl. Zenon W. Pylyshyn: The Rate of der Ebene des Produktdesigns zur Disposition stehen.16 In virtuellen Realitäten ‹Mental Rotation› of Images. A Test wird erprobt, wie die Dinge der Welt künftig zu gestalten sind, um potenziellen of a Holistic Analogue Hypothesis, in: Memory and Cognition, Jg. 7, Benutzer*innen einen optimalen Umgang mit ihnen zu ermöglichen.17 Auf die- Nr. 1, 1979, 19 – 28, doi.org/10.3758/ se Weise gelangen Prototypen und Testkörper zum Einsatz, ohne je im Realen BF03196930. 16 Vgl. Fábio Freitas u. a.: Virtual materialisiert werden zu müssen und ohne die damit verbundenen Ressourcen Reality on Product Usability Testing. aufzuzehren. Die virtuellen Objekte sind Teil einer eigenen Ökonomie, ver- A Systematic Literature Review (Conference Paper), 22. Symposium brauchen sie doch, sieht man von den gern übersehenen Infrastrukturen und on Virtual and Augmented Reality energetischen Ressourcen virtueller Realitäten einmal ab, selbst keine weiteren (SVR), Porto Alegre, 2020, 67 – 73, doi. org/10.1109/SVR51698.2020.00025. Materialien.18 Getestet wird in virtuellen Umgebungen fast alles: medizinische 17 Vgl. dazu stellvertretend Carol Ausrüstung und Haushaltsgeräte, Fahrerkabinen und Gangschaltungen, Ava- M. Barnum: Usability Testing Essen- tials. Ready, Set … Test!, Cambridge tare und Bots, Produktionsstraßen und Dienstleistungsszenarien, Roboter und (MA) 2021. Werkzeuge, technisches Equipment für die Unterhaltung oder die Pflege im 18 Vgl. zu diesem Aspekt sowie zu einem kulturgeschichtlich eingängi- Rahmen des AAL (Ambient Assisted Living), Interfaces und Bedienhilfen, aber gen Material Qi Bin, Sun-Xiao Ming, auch höchst detailreiche Formungen von Werkzeuggriffen und Trinkgefäßen. Pei Eujin: Virtual Clay Prototyping System – A Framework for Real-Time Getestet wird, in welcher Weise die Produkte einer künftigen Welt einen un- Modeling, in: iJoe. International komplizierten, niederschwelligen und im Idealfall vermittlungsfreien, mög- Journal of Online and Biomedical Engi- neering, Jg. 11, Nr. 5, 2015, 24 – 30. lichst intuitiven Umgang mit ihnen erlauben, welche Affordanzen mit ihnen 54 ZfM 29, 2/2023 VIRTUELLES TESTEN verbunden sind und auf welche Weise sie den Nutzer*innen in die Hände (und 19 Vgl. Michael Salwasser u. a.: im Fall von Schuhen in die Füße) spielen oder sich ihnen gegenüber als sperrig Virtuelle Technologien für das User-Centered-Design (VR for UCD). erweisen.19 Benutzung und Akzeptanz, Widerständigkeit oder Dysfunktionalität Einsatzmöglichkeiten von Virtual sollen im Test sichtbar werden und den Weg für unterschiedliche Formen der Reality bei der nutzerzentrierten Entwicklung, in: Holger Fischer, Interaktion und Kollaboration bahnen.20 Steffen Hess (Hg.): Mensch und Com- Doch es gibt darüber hinaus noch einen weiteren, sehr viel grundsätzliche- puter 2019 – Usability Professionals, 263 – 269, doi.org/10.18420/muc2019- ren Einsatz, der das Testen und die Virtualität über kasuistische Anlässe hin- up-0277. aus systematisch miteinander verspannt. In einer eigentümlichen Form der 20 Alistair Sutcliffe, Brian Gault, Neil Maiden: ISRE: Immersive Selbstanwendung, in der Figur des re-entry, bildet gerade und ausgerechnet Scenario-based Requirements die Virtualität selbst einen neuen, eigenen und dem Test zugänglichen Phäno- Engineering with Virtual Prototypes, in: Requirements Engineering, Bd. 10, menbereich.21 Der Test wird dabei zu einer Instanz, um über nicht weniger als Nr. 2, 2005, 95 – 111, doi.org/10.1007/ über die Gediegenheit und den Wert von Seinsformen zu befinden (und damit s00766-004-0198-0. 21 Xiaoyin Wang: VRTest. An zugleich über die Tauglichkeit von Ontologien).22 In derartigen Anwendungen Extensible Framework for Automatic soll der Test darüber entscheiden, wie es um die Verhältnisse von real und vir- Testing of Virtual Reality Scenes, in: ICSE ’22 Companion, 2022, 232 – 236, tuell steht.23 Gefragt wird unter anderem danach, ob sie sich ebenbürtig und auf doi.org/10.1145/3510454.3516870. Augenhöhe begegnen oder ob das Virtuelle gegenüber dem Realen in eine Art 22 Vgl. Rita Lauria: Virtual Reality. An Empirical-Metaphysical Testbed, Hintertreffen gerät und ihm der Status einer minderen Seinsform zugewiesen in: Journal of Computer-Mediated wird – ein Vorgang, der für die Frühphase der kurzen Historiografie der tech- Communication, Bd. 3, Nr. 2, 1997, doi. org/10.1111/j.1083-6101.1997.tb00071.x. nischen Virtualität durchaus zu konstatieren ist. Realität und Virtualität werden 23 Vgl. Marie Muhr u. a.: Neuland im Zuge dessen zu testbaren Variablen, sie werden einem regelrechten monito- adé. Wie können wir virtuelle Realitäten evaluieren?, in: Holger ring unterzogen, an dessen Ende eine doch sehr grundsätzliche Auslotung von Fischer, Steffen Hess (Hg.): Mensch Seinsverhältnissen steht. Verhandelt wird das etwa unter der Formel des reality und Computer 2019 – Usability Profes- sionals, 219 – 227, doi.org/10.18420/ monitoring, die auf die Medien im Allgemeinen Anwendung findet und im Be- muc2019-up-0276. sonderen unter der Formel des virtual reality monitoring den Gegebenheiten des 24 Hunter G. Hoffman u. a.: Virtual Reality Monitoring. Virtuellen angepasst wird.24 Mittels Eigenschaften werden auf diese Weise Wel- Phenomenal Characteristics of ten modelliert und evaluiert. Real, Virtual, and False Memories, in: CyberPsychology & Behavior, Präsenz als eines der Basiskonzepte für die Erfahrung des Stimmigen, Kohä- Bd. 4, Nr. 5, 2001, 565 – 572, doi. renten, Stichhaltigen und Plausiblen wird im Zuge dessen entlang einer Liste org/10.1089/109493101753235151. 25 Vgl. z. B. Bob G. Witmer, von Eindrücken abfragbar.25 Einmal mehr hat in einer Welt, die ob ihrer als ein- Michael J. Singer: Measuring geschränkt veranlagten Welthaftigkeit oft auch als nur bedingt eigenschaftsfä- Presence in Virtual Environments. A Presence Questionnaire, in: Presence. hig gilt, die Stunde der Adjektive geschlagen. Im Zuge der Evaluierung spielen Teleoperators & Virtual Environments, materiell-physische Eindrücke und damit Eigenschaftswörter eine ausgewiesene Bd. 7, Nr. 3, 1999, 225 – 240, doi.org/10.1162/105474698565686. Rolle. Das gilt für die Anwendungen selbst, die sich der Welt durch eine appro- 26 Ge- und erfasst werden solche ximative Annäherung an deren Qualitäten zu versichern suchen, die das Körnige Eindrücke im Genre einer veritablen library. Zu einer solchen Erfassung, als körnig, das Griffige als griffig, das Nachgiebige als nachgiebig, das Handhab- bei der die Frequenz, mit der bare als handhabbar und das Begehbare als begehbar umzusetzen suchen. Wie Versuchspersonen auf unterschied- liche materiale oder genauer gesagt ausdifferenziert der Umgang mit den Eigenschaften ist, zeigen Arbeiten, die simulierte Oberflächen klopfen, sich der Umsetzung aisthetischer Eindrücke, etwa des Weichen und Nachgie- zu einem messbaren Indikator für deren Beschaffenheit und Härte bigen, widmen, oder solche, die sich dem Eindruck und der haptischen Plausibi- wird, vgl. Allison M. Okamura, Jack lität etwa des Rauen oder den Besonderheiten textiler Oberflächen verschrieben T. Dennerlein, Robert D. Howe: Vibration feedback models for virtual haben – Adjektive, die sich an materiellen Qualitäten ebenso abarbeiten wie an environments, in: Proceedings of the möglichen Umgangsweisen mit den derart qualifizierten Dingen und Objekten.26 1998 IEEE Conference on Robotics & Automation, Leuven 1998, 674 – 679, Entlang solcher Listen werden die künstlichen Welten modelliert, finden in deren doi.org/10.1109/ROBOT.1998.677050. SCHWERPUNKT 55 STEFAN RIEGER Umsetzung ihr approximatives Ziel und schlussendlich auch ihre Bestätigung. Um den Eindruck des Stimmigen zu gewährleisten, müssen sich die Phänome- 27 Vgl. Marco Vicentini, Debora Botturi: Human Factors in Haptic ne als warm oder kalt, als schwer oder leicht, als widerständig oder nachgiebig, Contact of Pliable Surfaces, in: Pres- als hart oder weich, als sperrig oder anschmiegsam, als starr oder elastisch, als ence. Teleoperators & Virtual Environ- ments, Bd. 18, Nr. 6, 2009, 478 – 494, dehn- oder stauchbar, als geschmeidig oder borstig, als gediegen oder flüchtig, doi.org/10.1162/pres.18.6.478. als falt- oder stapelbar erweisen.27 Hochgradig materialspezifische Eigenschaften 28 Vgl. Giuseppe Mantovani, G iuseppe Riva: ‹Real› Presence. adressieren auf diese Weise körpernah einen wahrnehmenden Organismus: Aus How Different Ontologies Generate der Welt ohne Eigenschaften sind Eigenschaften ohne Welt geworden. Different Criteria for Presence, Telepresence, and Virtual Presence, Aber auch hier, und das ist ein Aspekt, der über kasuistische Qualifizierun- in: Presence. Teleoperators & Virtual Envi- gen hinausgeht, taugen die Adjektive in einer Art Selbstbezugnahme zur Qua- ronments, Bd. 8, Nr. 5, 1999, 540 – 550, doi.org/10.1162/105474699566459. lifizierung der Seinsarten selbst. Symptomatisch für diesen Prozess ist, wie sich 29 Christoph Hubig: ‹Wirkliche dieser terminologisch in den Versuchen der konzeptuellen Selbstfindung nie- Virtualität›. Medialitätsverän- derung der Technik und der derschlägt. Zu beobachten sind vermehrt Vorgänge, bei denen eine bestimmte Verlust der Spuren, in: Gerhard Vorstellung von Realität und Präsenz mittels typografischer Markierung durch Gamm, Andreas Hetzel (Hg.): Unbestimmtheits signaturen der Technik. Gänsefüßchen als uneigentlich qualifiziert und damit von anderen Präsenzen Eine neue Deutung der technisierten unterscheidbar werden soll.28 Und auch die Virtualität wird zunehmend mit Welt, Bielefeld 2005, 39 – 62, doi. org/10.1515/9783839403518-004. Adjektiven versehen, die sie nach ihrem Realitätsgehalt bemisst, ähnlich wie Zu solchen Verstärkungen durch im Fall der realen Präsenz mit dem Gestus typografischer Markierung verse- Beifügung von Adverbien vgl. Frank Steinicke: Being Really Virtual. Immer- hen (‹wirkliche Virtualität›).29 Auffallend ist auch ein Ansatz, bei dem sich die sive Natives and The Future of Virtual Realität durch Hinzufügung eines Adjektivs nachgerade tautologisch ihrer ei- Reality, Cham 2016. 30 Vgl. Wilhelm Bruns, Volker genen Sachhaltigkeit und Seinshaftigkeit zu versichern scheint wie in einem Brauer: Bridging the Gap between Real real- reality-Ansatz von Wilhelm Bruns.30 Während hier Versuche vorliegen, and Virtual Modeling. A New Approach to Human-Computer Interaction, die Realität ihrer Realitätshaftigkeit und die Virtualität ihrer Wirklichkeit oder Bremen 1996 (artec Paper Nr. 46); Wirkmächtigkeit zu versichern, erklären andere Ansätze die Virtualität kurzer- Wilhelm Bruns: Hyper-bonds. Distributed Collaboration in Mixed hand zur ultimativen Fassung einer schier einschränkungslos geltenden Mög- Reality, in: Annual Reviews in Control, lichkeitsbehauptung – oder anders gesagt: Im Virtuellen und damit in Umge- Bd. 29, Nr. 1, 2005, 117 – 123, doi. org/10.1016/j.arcontrol.2004.11.001. bungen, die aus einer Vielzahl von Gründen als konsequenzvermindert gelten, 31 Hans-Christian Jetter u. a.: soll nichts unmöglich sein («In VR, everything is possible!»).31 «In VR, everything is possible!». Sketching and Simulating Spatially- Aware Interactive Spaces in Virtual Reality, in: CHI ’20: Proceedings of the 2020 CHI Conference on Human Factors III. Schaufenster der Seinsarten: «imaginary» vs. «immersive loci» in Computing Systems, 2020, 1 – 16, Derartige Operationen und die damit verbundenen Distinktionsbemühungen doi.org/10.1145/3313831.3376652. 32 Dafür einschlägig ist und treffen auf einen konzeptionell schwer zu fassenden Phänomenbereich. Bei den war das Schema von Paul Milgram Versuchen, den Seinsstatus zwischen real, virtuell oder augmentiert in sämtli- u. a.: Augmented reality. A class of displays on the reality-virtuality chen Graden der Übergängigkeit und Vermischung zu beschreiben, tritt immer continuum (Vortrag), in: Proceedings wieder ein Ungenügen zutage.32 Sowohl einfache Konzepte des Realen als auch SPIE, Bd. 2351: Telemanipulator and Telepresence Technologies, 1995, solche des Imaginären und des Fiktiven scheinen für die terminologische Erfas- doi.org/10.1117/12.197321. sung der durch die Virtualität erzeugten Lage unzureichend oder jedenfalls nur 33 Aus systemtheoretischer Sicht sticht dabei Niklas Luhmanns Rede bedingt tauglich – Versuche, das Virtuelle etwa als defizitäre und nur appro- von der De-Ontologisierung der ximativ erreichbare Form gegenüber dem Realen zu positionieren, vermögen Realität ins Auge. Vgl. dazu das Buch über virtuelle Musik von Arne Till theoretisch ebenso wenig zu überzeugen wie die Beharrlichkeit, das Virtuelle Bense: Musik und Virtualität. Digitale über ein Konzept der Repräsentation oder der Imitation an das Reale zu binden Virtualität im Kontext computerbasierter Musikproduktion, Osnabrück 2014. und damit auf Momente der Doppelung und Reproduktion zu reduzieren.33 Sie 56 ZfM 29, 2/2023 VIRTUELLES TESTEN sind ungenügend, weil sie in ihrer Fixierung auf stabile Dichotomien den Mi- schungsverhältnissen und damit den technisch-phänomenalen Ausgestaltungen in ihren Übergängigkeiten nicht zu entsprechen vermögen. Auch Versuche, das Digitale mit dem Virtuellen gleichzusetzen (oder gar als dritte Option noch die Imagination mit ins Spiel zu bringen), greifen zu kurz.34 Stattdessen wird die Virtualität zum Anlass, mögliche Räume und Welten, mögliche Körper und Dinge, mögliche Wahrnehmungen und Erfahrungen, mögliche Hantierungen und Verrichtungen und nicht zuletzt auch mögliche Kommunikationen und Interaktionen auszuloten – und dabei einer allerorten zu beobachtenden und theoretisch (etwa von den Science and Technology Studies oder der Akteur- Netzwerk-Theorie) auch gewürdigten Ausdifferenzierung von Handlungsträ- gerschaften Rechnung zu tragen.35 Dabei gilt ein Befund, den Elena Esposito bezüglich des Verhältnisses von Fiktion und Virtualität erhoben hat. In einer Welt des dichotomischen Ungenügens gibt es «keine falschen realen Objekte, sondern wahre virtuelle Objekte, für welche die Frage der realen Realität ganz und gar gleichgültig ist».36 Unterschiede, die auf der Ebene von Theoriebildung keinen Unterschied zu machen brauchen, lassen allerdings nicht alle gleichermaßen gleichgültig. Vielerorts ist ein Bedürfnis nach Beschreibungsalternativen zu beobachten, bei 34 Zu den Möglichkeiten, die denen mit der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Modalitäten zugleich ein kom- Unterscheidung fruchtbar zu machen und an Theorievorgaben petitives Moment verbunden ist. Immer wieder taucht mit der Unterscheid- (Karen Barad) anzubringen, vgl. Risa barkeit der Welten die Möglichkeit ihrer Wertung auf – direkt, aber auch in Kimura, Tatsuo Nakajima: Modeling a Digitally Enhanced Real World Vermittlungsschleifen wird gefragt, wie sich das, was im Virtuellen der Fall ist, Inspired by Agential Realism – Explor- zu den Gepflogenheiten im Realen verhält. Bei dieser wechselseitigen Evalu- ing Opportunities and Challenges, in: Smart Cities, Bd. 6, Nr. 1, 2023, ierung spielen Eigenschaften und Eigenschaftszuweisungen eine bedeutende 319 – 338, doi.org/10.3390/smartc ities Rolle. Sie werden zur Maßgabe, sie sollen qualifizieren (und damit auch ein 6010016. 35 Vgl. Stefan Rieger: Reduktion Ranking befördern). und Teilhabe. Kollaborationen in Mixed Ein Beispiel, bei dem es um nicht weniger als um die Virtualisierung einer Societies, Berlin 2022. 36 Elena Esposito: Fiktion und sehr alten und sehr wirkmächtigen Kulturtechnik, der Gedächtniskunst, geht, Virtualität, in: Sybille Krämer (Hg.): vermag das besonders eindrücklich verdeutlichen. Geschildert wird die An- Medien, Computer, Realität. Wirklich- keitsvorstellungen und neue Medien, ordnung unter einem Titel, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglässt, Frankfurt / M. 1998, 269 – 296, 270. nennt er doch die Gedächtnispaläste der Tradition ebenso beim Namen Vgl. dazu auch Dirk Vaihinger: Virtualität und Realität. Die wie die Strategie der Lozierung: Imaginary Versus Virtual Loci: Evaluating the Fiktionalisierung der Wirklichkeit Memorization Accuracy in a Virtual Memory Palace.37 Derartige Texte und ihre An- und die unendliche Information, in: Holger Krapp, Thomas Wägenbaur liegen folgen einem Schema: Sie verschränken eine tradierte Kulturtechnik mit (Hg.): Künstliche Paradiese, Virtuelle den Gegebenheiten eines technischen Settings (ohne dabei auch nur ansatz- Realitäten. Künstliche Räume in Litera- tur-, Sozial- und Naturwissenschaften, weise auszureizen, was an technischen Möglichkeiten virtueller Welterzeugung München 1997, 19 – 43. umsetzbar wäre). Das ist so weit nicht sonderlich spektakulär. Auch die Durch- 37 Jan-Paul Huttner, David Pfeiffer, Susanne Robra-Bissantz: führung folgt einem Schema und ist schnell erzählt: Mittels Untersuchungen Imaginary Versus Virtual Loci: Evalu- an Proband*innen, die sich jeweils mit und ohne Verwendung des virtuellen ating the Memorization Accuracy in a Virtual Memory Palace (Conference Palastes an bestimmte Merkaufgaben machten, konnte der Nutzen der Technik Paper), in: Hawaii 51st International gegenüber einem unangeleiteten Auswendiglernen zahlenmäßig unter Beweis Conference on System Sciences, 2018, 274 – 282, doi.org/10.24251/ gestellt werden – um vom damit verbundenen Spaß gar nicht erst zu reden, HICSS.2018.037. SCHWERPUNKT 57 STEFAN RIEGER den die Benutzung der virtuellen Infrastrukturen den Proband*innen angeblich bereitete. Die Immersion, also das Eintauchen als technischer Vollzugsmodus virtueller Realitäten, scheint der Imagination haushoch überlegen. Das Merken ist allerdings an diesem Setting gar nicht das Merkwürdigste. Vielmehr werden aus Anlass einer virtuellen Gedächtniskunst-Konjunktur Fra- gen aufgeworfen, die der doch sehr grundsätzlichen Frage nach dem Verhält- nis der unterschiedlichen Realisierungen von Virtualität gelten, also danach, in welchem Verhältnis virtuelle, augmentierte und eingebildete Orte zueinander stehen.38 Mit diesem Punkt wird über das bloße Auswendiglernen hinaus die epistemologische Bedeutung sichtbar, die der Neuauflage der Gedächtniskunst jenseits der Kautelen persönlicher Gedächtnissteigerung und der spezifischen Historiografie dieser Kunst zukommen könnte: Virtuelles und Imaginäres werden als eigenständige Formen eines Wirkmächtigen, aber zugleich Nicht- Realen in ein Verhältnis zueinander gesetzt, als Kategorien einer Seinsbeschrei- bung, die bei aller philosophisch verordneten Grundsätzlichkeit Kulturtechni- ken und Medientechniken mit ihren sehr eigenen Zeit- und Raumstrukturen sichtbar und verhandelbar machen.39 Damit stellt sich die Frage nach dem Ver- hältnis der beiden Raumtypen oder genauer nach ihrer unmittelbaren und kon- frontativen Gegenüberstellung – Imaginary Versus Virtual Loci lautet dann auch der Titel einer der damit befassten Arbeiten. Die Loci der Gedächtniskunst werden im wörtlichen Sinne zur Stellvertretung von Raumkonzepten in ihrer unterschiedlichen ontologischen Verbürgtheit, um an dieser Stelle die Rede 38 Der Nachweis für diese Kon- junktur muss hier schuldig bleiben, von der Gediegenheit nicht zu strapazieren.40 Dabei wird zugleich das jeweilige vgl. dazu Stefan Rieger: Lesen, Potenzial der unterschiedlich veranlagten Orte ausgelotet und damit zumindest Merken, Wohnen, Träumen. Topologien des Virtuellen (in Vorbereitung). unterschwellig eine Art Wettbewerb eröffnet, der die beiden Modalitäten nach 39 Vgl. zu einer solchen Bestim- ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit skaliert. Das erinnert an ein Szenario im mung bei gleichzeitiger Hervorhe- bung der zunehmenden Alltagstaug- Fall des Träumens, genauer noch des Wachträumens (lucid dreaming), bei dem lichkeit Mizuki Sakamoto, Tatsuo die Frage virulent wird, ob das Virtuelle denn nicht als das bessere Imaginäre Nakajima, Todorka Alexandrova: Enhancing values through virtuality zu veranschlagen wäre. Die Modalitäten von Seinsbezügen und Existenzweisen for intelligent artifacts that influence müssen sich im Zuge dessen einem Vergleich stellen – der Ausgang ist dabei human attitude and behavior, in: Multimedia Tools and Applications, ungewiss und ergebnisoffen. Bd. 74, Nr. 24, 2015, 1537 – 1568, Der Test wird zum Schmelztiegel für den Realitätsgehalt. Hinter der Testung hier 1537, doi.org/10.1007/s11042- 014-2250-5. und ungeachtet der jeweiligen und durchaus vielfältigen Anwendungsbereiche 40 Vgl. Huttner u. a.: Imaginary steht die sehr grundsätzliche Frage nach dem Kompetitiven, also danach, ob Versus Virtual Loci. Zum sprachlich markierten Modus der Gegenüber- Phänomene, Leistungen im Realen gegenüber denen im Virtuellen als eben- stellung vgl. auch Sara Ventura u. a.: bürtig, als unter- oder überlegen oder als alteritär und damit im Vergleich Immersive Versus Non-immersive Experience. Exploring the Feasibility nicht belangbar gelten. Darüber, ob im Rahmen der Gedächtniskunst virtuelle of Memory Assessment Through Loci den imaginären gleich sind oder es Unterschiede in der Leistungsbilanz 360° Technology, in: Frontiers in Psychology, Bd. 10, 2019, o. S., gibt, darüber, wie sich das luzide Träumen zu den Immersionsszenarien der VR doi.org/10.3389/fpsyg.2019.02509. positioniert, über all diese Fragen entscheiden Tests. In einer w undersamen 41 Jonathan Crussell u. a.: Virtually the Same: Comparing Physical Selbstbezüglichkeit wird der Test selbst von diesem Prozess erfasst und muss and Virtual Testbeds, in: arXiv.org, sich danach bemessen lassen: Virtually the Same: Comparing Physical and 21.1.2019, 847 – 853, doi.org/10.48550/ arXiv.1902.01937. Virtual Testbeds.41 58 ZfM 29, 2/2023 VIRTUELLES TESTEN Am Ende eines Beitrags, der sich dem virtuellen Testen verschrieben hat, soll ein letzter Test zur Sprache kommen, der nach der Provenienz fragt, also danach, ob sich der Eindruck des Umgangs mit einem virtuellen Objekt von dem mit einem realen Objekt unterscheiden lässt und ob diese Unterscheidung, so sie denn gelingen sollte, einen Unterschied macht. Es ist dieser Aspekt, der in der Figur des digital twin eine eigene Form der Verkörperung angenommen hat. Was zur Disposition steht, ist das Sich-Vertun im Realitätsgehalt erinner- ter Objekte, also die Frage, wie es um den ontologischen Status der Quelle von erinnerten Gegenständen bestellt ist oder war.42 Oder anders gesagt, ob es im Virtuellen so etwas wie falsche falsche Erinnerungen gibt. Die Frage nach einer Falschheit zweiter Ordnung wird, man ahnt es, selbst wieder durch einen Test gelöst, genauer durch einen source identification test. Subjects physically touched some real objects with their real finger and with eyes open, and touched other virtual objects with their cyberfinger in immersive virtu- al reality (visual only, no tactile feedback for virtual objects). One week later, they took a source identification test. After the source identification test, subjects rated phenomenal qualities associated with each memory, using a Virtual-Real Memory Characteristics Questionnaire (VRMCQ). For old items, results from the VRMCQ are consistent with the idea that VR monitoring draws on differences in qualitative characteristics of memories for perceived and virtual events / objects (consistent with Johnson and Raye). […] Furthermore, VR monitoring might prove useful as a sort 42 Vgl. Ajoy S. Fernandes, of Turing test of how convincing the virtual world is, and the VRMCQ can identify Ranxiao Frances Wangy, Daniel J. Simons: Remembering the Physical which qualities of the virtual experience (e.g., color) require improvement.43 As Virtual. Source Confusion and Physical Interaction in Augmented Damit kommt der Überlegenheitskampf von Seinsbezügen und Existenzweisen Reality, in: Stephen N. Spencer: ACM SIGGRAPH Symposium on mit Blick auf virtuelle Testverfahren zu einem vorläufigen Ende. Getestet wer- Applied Perception 2015, 127 – 130, doi. den soll in einem an den Turing-Test angelehnten Verfahren nicht weniger als org/10.1145/2804408.2804423. 43 Hoffman u. a.: Virtual Reality die Plausibilität und damit die Gediegenheit virtueller Welten. Monitoring, 566. — SCHWERPUNKT 59 Survivalist Mattin bricht in Tränen aus, Screenshot aus 7 vs. Wild, S1 E8 (Orig. i. Farbe) 60 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150207. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. D A N I E L A H O L Z E R «SURVIVAL ENGINEERING» — Die Survival-Show «7 vs. Wild» als exemplarische Testsituation einer bedrohlichen Gegenwart Kaum Nahrung, wenig Kleidung am Körper und nur ein paar Hilfsmittel in Händen: Es hat den Anschein, als wäre die Apokalypse hereingebrochen und die Welt dabei, unterzugehen. Insbesondere dürfte sich gerade die Welt von YouTuber «SurvivalMattin» auflösen: In der achten Folge der ersten Staffel der Survival-Show 7 vs. Wild, zu sehen seit Dezember 2021 auf YouTube, beichtet der Kandidat unter Tränen in die Actioncam: «Schön ist die Natur, keine Frage, aber sie ist fucking einsam».1 Die ‹apokalyptische Einsamkeit› zählt jedoch nur zu ei- nem von vielen unbekannten Szenarien – beim ‹Überlebensfernsehen› haben sich Protagonist*innen sowie Publikum einer Vielzahl an Tests zu stellen. Das spezifische Format fügt sich in ein größeres Bild ein: Unsere «Zukunft als Katastrophe», um mit Eva Horn zu sprechen, findet in den Medien ihren 1 Rettung in der Nacht, Regie: Ausdruck sowie ihre Verarbeitung.2 So rekonstruiert die Kulturwissenschaftlerin, Fritz Meinecke, Erstausstrahlung 3.12.2021, S1 E8 von 7 vs. Wild, 2 wie sich survivalism ab den 1980er Jahren von einem populären Outdoorsport Staffeln, 32 Episoden, Idee: Fritz hin zu einer permanenten Katastrophenübung wandelt – stets im Trainings- und Meinecke, DE/SE/PA 2021 – 2022. Hier zitiert nach YouTube-Upload Testmodus: fit to survive.3 Demgegenüber scheint es, als hätten wir es aktuell der Episode, dort TC 00:41:17, hoch- angesichts der Pandemie, des Krieges in der Ukraine und anderer Ausnahme- geladen von Account Fritz Meinecke, 3.12.2021, youtu.be/HzZfH4UNr6I situationen mit einer noch radikaleren Form der Biopolitik zu tun. Denn wie (16.5.2023). die Protagonist*innen der Survival-Realityshow 7 vs. Wild inszeniert vorführen, 2 Vgl. Eva Horn: Zukunft als Kata- strophe, Frankfurt / M. 2014, 181 – 241. geht es augenscheinlich ums ‹einsame› und ‹nackte› Überleben. Konkreter for- 3 Vgl. Jürgen Martschukat: The mulieren es Noortje Marres und David Stark – sie sprechen von einer «neuen Age of Fitness. The Power of Ability in Recent American History, in: Soziologie des Testens».4 Den Soziolog*innen zufolge sind Prüfungen und Tests Rethinking History: The Journal of Theory in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft allgegenwärtig geworden. Sie werden and Practice, Bd. 23, Nr. 2, 2019, 157 – 174, doi.org/10.1080/13642529.2 routinemäßig als Form staatlicher Governance, im Zuge von Marketingmaß- 019.1607473. nahmen oder als Instrument für politische Interventionen eingesetzt, genauso, 4 Noortje Marres, David Stark: Put to the Test: For a New Sociology wie sie zur Selbstevaluation als alltägliche Praxis gehören.5 of Testing, in: The British Journal Unter Rückgriff auf Andrea Seiers mikropolitische Perspektive lässt sich in of Sociology, Bd. 71, Nr. 3, 2020, 423 – 443. Bezug auf eine «Praxis der Übung» formulieren: Übungen und Tests, verstan- 5 Vgl. Marres, Stark: Put to the den als beispielsweise Körper-, Wissens- oder Psychotechniken, stellen «Praxis- Test, 423. 6 Andrea Seier: Mikropolitik der formen dar, die zielgerichtet sind und eine Veränderung bewirken sollen».6 Wie Medien, Berlin 2019, 42, 40. SCHWERPUNKT 61 DANIELA HOLZER Horn anhand von Eignungstests im Rahmen von Assessment-Centern ausführt, gehören «Test und Theater» – Survival-Shows ebenso als Überlebens- und Eig- nungstheater lesbar – zu zwei Machttechnologien, «die spezifische Verfahren der Wissenskonstitution am Menschen entfalten».7 Der (Eignungs-)Test zielt auf die passgenaue Verortung des Menschen im System der Arbeit («the right man in the right place»), während das (Eignungs-)Theater an der «Virtualisie- rung von Identitäten», sprich an deren «endlose[r] Flexibilisierung» arbeitet.8 Marres und Stark schlagen noch eine andere Richtung ein: Sie erkennen die Herausforderung darin, dass das allgegenwärtige Testen die Beziehungen zwi- schen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft verändert: «Engineering is today in the very stuff of where society happens.»9 Demzufolge besteht das Anliegen des vorliegenden Beitrags darin, unter Be- zugnahme auf Überlebensshows die «new sociology of testing»10 um das aktuelle mediale Katastrophenbewusstsein zu erweitern und die neuen soziologischen Im- plikationen zu Testgesellschaften mit einer medienwissenschaftlichen P erspektive anzureichern. Indes richtet sich mein Blick, wie dies auch Marres und Stark vorschlagen, nicht darauf, was aus den Survival-Experimenten resultiert, son- dern was Überlebenstests (als «ecology of testing») erzeugen.11 Denn survivalists oder Vertreter*innen verwandter Bewegungen wie die prepper-, hunter- oder die bushcraft-Community stellen nicht nur sich selbst permanent auf die Probe oder testen in kleinen Gruppen, wie sie in herausfordernden Umgebungen ihre Fähig- keiten und Fertigkeiten verbessern können. Der Fokus meiner Forschungsper- spektive richtet sich darauf, dass ich Survival-Shows als eine Art exemplarischen 7 Eva Horn: Test und Theater. ‹Stresstest› betrachte, der für das reale soziale Leben vieler Menschen steht – das Zur Anthropologie der Eignung im 20. Jahrhundert, in: Ulrich Bröckling, Soziale, so drücken es Marres und Stark aus, «is being put to the test».12 Insbeson- Eva Horn (Hg.): Anthropologie der dere lässt sich das ‹Survival-Experiment› mit dem ständigen Wandel der Umstän- Arbeit, Tübingen 2002, 109 – 126, 124. 8 Ebd., 125. de und ihrer Protagonist*innen als «Einübung in die Mentalität der Prekarität»13 9 Marres, Stark: Put to the Test, lesen. Zugleich verändert das Survival-Test-Dispositiv die Rahmenbedingungen 425. 10 Ebd. der Survival-Simulationen unaufhörlich, wie ich nachfolgend zeigen werde. 11 Ebd. Weiter schreiben Marres Vorausgeschickt werden kann jedoch, dass reichweitenstarke survivalists wie und Stark: «[T]hat is, when one examines consequences less as der oben erwähnte «SurvivalMattin» für die Verwischung der Grenzen zwi- what is resolved than by what is schen der Testsituation und der Welt sorgen, auf die sich der Test beziehen soll.14 further generated – then research on testing cannot remain focused Was sich anschließen lässt, ist eine ambivalente These: Auf der einen Seite er- on a particular testing moment but fahren Gruppen wie preppers und survivalists bzw. die von ihnen propagierten must study whether and how any given test operates in an ecology of Szenarien zunehmend gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Auf der anderen Sei- testing», ebd. te bleibt su rvivalism als periphere Disziplin des Neoliberalismus zu verorten, 12 Ebd. 13 Paolo Virno: Grammatik der da diese soziale Bewegung als radikale Abkehr von hochtechnisierten Wohl- Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und standsgesellschaften verstanden werden muss und programmatisch außerhalb Arbeit als Lebensformen. Die Engel und der General Intellect, Wien 2005, 118 f.; eines funktionierenden gesellschaftlichen Gefüges an deren Rändern situiert Oliver Marchart: Die Prekarisierungs- ist. Doch auch wenn sich diese Bewegungen v. a. als ambivalent beschreiben las- gesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisie- sen, sind preppers, hunters oder die bushcraft-Community und ihre «Praxis der rung, Bielefeld 2013, 54. Übung» eine aufschlussreiche Quelle, insofern sie die Janusköpfigkeit einer ak- 14 Vgl. Marres, Stark: Put to the Test, 434. tuellen Kunst des (Über-)Lebens verdeutlichen. Medien spielen dabei – etwa als 62 ZfM 29, 2/2023 «SURVIVAL ENGINEERING» perspektivenreicher und zugleich prekärer Intimus in 7 vs. Wild – eine bedeuten- de Rolle. Folglich untersucht dieser Beitrag, wie mit und in den Medien soziale Strukturen für ein prekäres Stadium getestet, propagiert und produziert werden. Zugleich haben wir es aber mit einer Verzerrung zu tun: Die Protagonist*innen richten die Actioncam nicht nur ständig auf sich selbst – für die Informations- technologie gerät v. a. das Publikum in den Fokus. Nicht nur angesichts dessen schreibe ich dem portablen Kameraauge besondere Bedeutung zu, wie ich im Folgenden demonstrieren werde. Es ist bekannt, dass die Plattform Y ouTube soziale Interaktionen mittels Likes, Klicks, Kommentaren, Belohnungen etc. fördert und damit den Rahmen für die Einbindung sozialer Praktiken in die kapitalistische Logik schafft. Allerdings haben Google bzw. Alphabet oder F acebook bzw. Meta, wie Shoshana Zuboff in Das Zeitalter des Überwachungska- pitalismus verdeutlicht,15 wenig Interesse an den Individuen an sich (was jedoch nicht bedeutet, dass die Methoden der Tech-Giganten nicht individualisierend sind). Vielmehr liegt nach Zuboff die Strategie ‹sozialer› Netzwerke darin, mit- tels großer gebündelter Datenmengen das Verhalten von Menschen zu modi- fizieren, als dass sie sich für die Verfolgung individueller Spuren interessieren. Marres und Stark verfolgen eine ähnliche Überlegung, wenn sie erklären, dass Google, Microsoft, Airbnb etc. ihre Tests nicht im sozialen Umfeld durchfüh- ren, sondern das soziale Umfeld selbst das Testobjekt darstellt.16 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Survival-Realityshow 7 vs. Wild somit als Gegenstand dient, um das survivalism- bzw. Test-Dispositiv nä- her auszuleuchten, da diese reichweitenstarke YouTube-Show zeigt, dass es sich bei solchen Belastungsproben nicht nur um spielerische Challenges einzelner Menschen handelt, die trainieren, wie sie sich am besten in der Natur fit halten, sondern das Experiment umfasst auch das Publikum, das im sensorischen Erfas- sen und im Modellieren von Verhaltensmodifikationen erforscht wird. Der vor- liegende Beitrag beschäftigt sich vorrangig mit den allgemein-gesellschaftlichen Implikationen der survivalism-Formate. Allerdings wird die bereits intensiv getes- tete Informationstechnologie in Bezug auf Publikumsanalysen meiner Auffassung nach zukünftig einen großen Einfluss auf YouTube- und andere Streaming-For- mate ausüben und vice versa, worauf ich später noch einmal zu sprechen komme. Festzuhalten bleibt aber, dass sich daraus weitere spannende zu untersuchende Aspekte ergeben, die über die vorgenommene Untersuchung hinausweisen. Vom «camera hunting» zur Actioncam Bei 7 vs. Wild handelt es ich um eine Realityshow des Webvideoproduzenten 15 Shoshana Zuboff: Das Zeit- Fritz Meinecke für seinen Kanal auf dem Videoportal YouTube. Das Testpro- alter des Überwachungskapitalismus, gramm: sieben Teilnehmer*innen, sieben Kleidungs- und Ausrüstungsgegen- F rankfurt / M., New York 2018. 16 Vgl. Marres, Stark: Put to stände, sieben Tage allein in der Wildnis. Als ‹Dokumentationstool›, sprich als the Test, 423. Tool für die Inszenierung der Nicht-Inszenierung, wird die Actioncam, genau- 17 Markenname eines US- amerikanischen Herstellers von er die GoPro 17 verwendet, weil sie unkompliziert durch die survivalists selbst Action-Camcordern. SCHWERPUNKT 63 DANIELA HOLZER bedient werden kann. Außerdem erlaubt die besondere Perspektive der Action- cam dem YouTube-Publikum ein «Verdammt-nah-dran-Sein» bzw. ein Gefühl des «Dort-Seins (being there)» und durch die mediale Übertragung ein «Mit-da- bei-Sein (being with)».18 Die Beschaffenheit der GoPro ermöglicht noch weitere 18 Winfried Gerling: «Verdammt Betrachtungswinkel und Inszenierungskniffe wie etwa, den Blick der Nutzer*in nah dran». Die GoPro als Companion zu simulieren (POV), eine first-person- oder third-person-Perspektive herzustellen Technology, in: AugenBlick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, Bd. 85: oder am Stick als Selfie-Kamera zu fungieren.19 Im Mittelpunkt steht dabei nicht Automatisierte Zuwendung. Affektive die Produktion eines penibel arrangierten, ‹reichen› Bildes wie bei der her- Medien – Sensible Medien – Fürsorgende Medien, Marburg 2022, 37 – 44, hier kömmlichen Filmkamera. Stattdessen wird v. a. eine Situation präsentiert, die 41 f, alle Herv. i. Orig. eine gegenteilige Ästhetik erfordert, die als «armes Bild»20 von Prekarität zeugt 19 Vgl. ebd. 20 In Anlehnung an: Hito Steyerl: und diese durch beschlagene, matte oder getrübte Kameralinsen verdeutlicht. Jenseits der Repräsentation / Beyond Demzufolge bringen die Risiken, denen sich die survivalists stellen, für sie keine Representation, Köln 2016, 17. 21 Vgl. Joe P. L. Davidson: Life Can große Belohnung in Form eines ‹reichen› ästhetischen Bildes. Die Trophäe, die Be a Little Bit Fluffy: Survival Televi- sie erringen, liegt vielmehr in der Erfahrung ihres (Über-)Lebens. sion, Neoliberalism, and the Ambig- uous Utopia of Self-preservation, Medienhistorisch nimmt das Sammeln visueller Trophäen als Praxis – oder in: Television & New Media, Bd. 21, die Verflechtung des visuellen Bildes mit dem überlebensorientierten Sub- Nr. 5, 2019, 475 – 492, hier 480. 22 Vgl. etwa die Studien von jekt – als camera hunting ihren Ausgangspunkt bereits im späten 19. Jahrhun- Gregg Mitman: Reel Nature: America’s dert, wie der Soziologe Joe P. L. Davidson wissen lässt. Im damaligen Interesse Romance with Wildlife on Film, Cam- bridge (MA) 1999; Cynthia Chris: stand die Praxis, Tiere mit einer Kamera und mit einem Gewehr zu ‹erlegen›. Watching W ildlife, Minneapolis 2006. Die fotografischen Bilder dienten als Nachweis der Sportlichkeit, des Könnens 23 Ebd. 24 Tatsächlich gelingt Steve Irwin und der Macht.21 Diese damals gefährliche Praxis prägte auch die Naturkine- diese Übung nicht, denn er stirbt bei matografie: Filmemacher*innen als Held*innen in der Wildnis.22 Derartige sen- Unterwasseraufnahmen an dem Gift eines Stachelrochens. sationslüsterne Mediendarstellungen nahmen in den 1930er Jahren ab, selbst 25 Zuboff hält fest, dass Tech- wenn beispielsweise Jacques-Yves Cousteau in den 1960er Jahren mit seinen nologiekonzerne wie Google bzw. Alphabet bereits in der Vergangen- Tauchgängen auf der Suche nach einem bestimmten Tier ähnliche Inszenie- heit Datenschutzverletzungen rungen betrieb. In den 1990er Jahren gewann das Thema z. B. durch die Serie vorgenommen haben, indem sie z. B. Fähigkeiten des Webcrawlers The Crocodile Hunter (Animal Planet, AUS / US 1996 – 2004) erneut an Populari- (Programm zum Aufspüren von tät.23 Im Gegensatz zu herkömmlichen Tierdokumentationen begibt sich der Informationen im Web) mit neuen Life-Crawling-Operationen Dokumentarfilmer Steve Irwin in ständige Gefahr, um das Interesse des Publi- kombinierten, um das Verhalten kums zu wecken, wenn er demonstriert, wie ihm die Übung ‹Mensch gegen von Personen zu erfassen, zu antizipieren und auch zu verändern. wilde Natur› gelingt.24 Im Übrigen zeigt sich auch in 7 vs. Wild die Tradition Sie beschreibt dies folgendermaßen: der Naturdokumentationen bis heute – wenn auch der*die ‹Gejagte› menschli- «Verhaltensüberschuss, online wie offline, sei es der Inhalt Ihrer cher Natur ist und das Publikum vor den Screens zum ‹Freiwild› wird.25 E-Mails, Ihr Aufenthaltsort gestern Vor einigen Jahren hat sich die Technologiebranche auf das Beobachten von Nachmittag, was Sie gesagt oder ge- tan haben, Ihre Befindlichkeit – alles Menschen unter dem Schlagwort reality mining spezialisiert 26 – Daten, die der wird zu Vorhersageprodukten Wissenschaft zur Verfügung stehen und von ihr genützt werden, wie Marres kombiniert, in denen jeder Aspekt Ihrer Alltagsrealität zum Freiwild und Stark betonen.27 Ein Teilbereich der Forschung nutzt die Echtzeiterfas- wird.» Zuboff: Das Zeitalter des Über- sung von Routineverhalten zur Untersuchung zwischenmenschlicher Interak- wachungskapitalismus, 297. 26 Reality mining basiert auf den tionen wie emotion recognition 28, ein Gebiet der Machine-Learning-Systeme, bei Daten, die von Sensoren in Mobilte- dem allgemein von Künstlicher Intelligenz (KI) gesprochen wird. So hat u. a. lefonen, Sicherheitskameras, RFID- Lesegeräten etc. erfasst werden. Zoom mit der Entwicklung einer KI-Technologie (Zoom IQ) begonnen, die Sie alle ermöglichen die Messung Gesichter und Sprache von Nutzer*innen in Echtzeit scannen kann, um deren physischer und sozialer Aktivitäten der Gerätenutzer*innen. Emotionen zu ermitteln.29 Ebenso stellte der Konzern Disney Research im Juli 64 ZfM 29, 2/2023 «SURVIVAL ENGINEERING» 2017 auf einer Konferenz ein neues Verfahren namens Factorized Variational Autoencoders (FVAEs) vor. Dahinter verbirgt sich ein Deep-Learning-System, das darauf trainiert wird, komplexe Publikumsreaktionen zu erfassen und Ge- 27 Anonyme Echtzeit-Standort- sichtsausdrücke für modeling audience reactions to movies zu bewerten.30 Auch das daten von Smartphones werden für minutengenaue Verkehrsberichte Unternehmen Affectiva ist beim entertainment content testing behilflich: «Affec- genutzt, Marres, Stark: Put to the tiva Emotion AI gives you the ability to decode both audience reaction and the Test, 436. 28 Emotionale KI (affective characters within the content.»31 Wie Zuboff befürchtet, sieht Affectivas CEO computing) erkennt, interpretiert und Rana el Kaliouby «zum Beispiel YouTube die Gesichter seiner Nutzer scannen, simuliert menschliche Emotionen. Der Teilbereich Facial Emotion während sie sich dort Videos ansehen».32 Gekoppelt mit Likes, Klicks, dem ge- Recognition (FER) konzentriert sich liebten Smartphone – sprich GPS-Einwahlpunkten – und vielem mehr liefern auf die Erkennung von Emotionen mithilfe von Gesichtsausdrücken. diese Daten die Empirie: nämlich das emotionale Profil von Menschen. 29 Vgl. Theresa Larkin: Zoom IQ für den Vertrieb – Gesprächsanalyse für Vertriebsteams [Artikel auf Zoom Unternehmensblog], 13.4.2022, Survival-TV als Genre und «social experiment» blog.zoom.us/de/zoom-iq-for-sales/ (8.5.2023). Aufgrund der Vielfältigkeit von survivalism ist es schwierig, konkrete Defini- 30 Vgl. Zhiwei Deng u. a.: Factor- tionen vorzunehmen, wie bereits die vielen beteiligten Gruppen deutlich ma- ized Variational Autoencoders for Modeling Audience Reactions to chen – seien es survivalists, preppers, hunters, die bushcraft-Community, preppers Movies, in: 2017 IEEE Conference on für SHTF (shit hits the fan), Überlebende im sogenannten TEOTWAWKI (the Computer Vision and Pattern Recogni- tion (CVPR), 9.11.2017, 6014 – 6023, end of the world as we know it) usw. Historisch betrachtet kann der Kalte Krieg doi.org/10.1109/CVPR.2017.637. als dominierende Desasterübung und Hintergrund für die Entstehung der Be- 31 O. A.: Affectiva Media Analytics for Entertainment Content Testing wegungen gelten, doch wurde in den 1980er Jahren die lokale Katastrophe zu [Produktbeschreibung auf Firmen- einem globalen Szenario ausgeweitet: zum nuclear winter.33 Im Vergleich zu dem website Affectiva], ohne Datum, affectiva.com/product/affectiva-media- damals noch relativ kleinen Katalog an Verstrahlungs- und Vergiftungskatastro- analytics-for-entertainment-content- phen haben die heutigen Überlebens-Websites und Survival-Ratgeber ein fast testing (8.5.2023). 32 Zuboff: Das Zeitalter des Über- unüberschaubares Spektrum an Bedrohungen im Blick.34 Zugleich wurde der wachungskapitalismus, 331. Rückzug aus der Urbanität in die Natur propagiert. So gaben beispielsweise die 33 Vgl. Horn: Zukunft als Kata- strophe, 149 – 187. US-amerikanischen Survival-Pionier*innen Don und Barbie Stephens in ihrer 34 Ein satirisches Beispiel liefert 1976 veröffentlichten The Survivor’s Primer & Up-dated Retreater’s Bibliography an, die US-amerikanische Animations- serie South Park (1997–laufend). wie ein sicherer Rückzugsplatz außerhalb der Urbanität aussehen könne, da alle Die titelgebende Stadt wird fast im Katastrophenfall schleunigst aus der Stadt fliehen sollten, oder wie Horn an- täglich von vielfältigen Katastrophen heimgesucht. merkt: «Katastrophenschutz wird zum Lebensstil.»35 Als deutschsprachiges Pen- 35 Horn: Zukunft als Katastrophe, dant zu den Stephens gilt Survival-Experte Rüdiger Nehberg aka «Sir V ival», 185. 36 Rüdiger Nehberg verstarb der sich medienwirksam über mehrere Monate auf sich allein gestellt und ohne 2020. Ausrüstung durch Regenwald, Wüste und Dschungel kämpfte.36 37 Die preparedness-Hypothese (eine Modellvorstellung des Psycho- Die diffuse Lage heutiger Katastrophenszenarien macht die Formen der logen Martin E. Seligman) basiert Vorbereitung komplexer. Demnach sprechen survivalists nicht mehr ‹nur› von darauf, dass Menschen angeblich auf evolutionär prädisponierte preparedness (Vorbereitetsein),37 sondern von Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Reize, konkret auf Situationen und John Robb, Militär- und Unternehmensberater, geht noch weiter mit seinem Objekte, die potenzielle Gefahren darstellen, mit Angst reagieren, Motto: «Don’t just survive, thrive (Nicht bloß überleben, gedeihen!).»38 Grund- vgl. Martin E. Seligman: On the sätzlich verbinden survivalists mit ihrer Überzeugung hinsichtlich der Art und Generality of the Laws of Learning, in: Psychological Review, Bd. 77, Nr. 5, Weise der Katastrophe nicht selten entsprechende Praktiken.39 Grobe defini- 1970, 406 – 418. torische Unterscheidungen sind kurz skizziert folgende: Vertreter*innen der 38 Horn: Zukunft als Katastrophe, 187. bushcraft-Community wollen aus ihrem Alltag herauskommen und Abenteuer 39 Vgl. ebd., 181 f. SCHWERPUNKT 65 DANIELA HOLZER erleben, beim Survival werden Fertigkeiten eingeübt, um eine gewisse Zeit in der Natur zu überleben, aber auch wieder nach Hause zu kommen. Die Chal- lenge der prepper-boyscouts ist es, to be prepared – also vorbereitet und in ständi- ger Alarmbereitschaft zu sein.40 Die prepper-boyscout- bzw. Survival-Community räumt jedoch ein, dass klare Grenzen kaum gezogen werden können. Mit an- deren Worten: In der Vielfalt der Ausprägungen von survivalism und deren me- dialer Repräsentation variiert stark, was für preppers oder survivalists eine Krise darstellt, und zwar entlang eines Spektrums an Überzeugungen und P raktiken. Die Bandbreite reicht von kurzfristigen persönlichen Krisen bis hin zum län- gerfristigen Zusammenbruch der Gesellschaft.41 Gruppen wie die preppers, survivalists oder die bushcraft-Community reagieren darauf mit einer Reihe von Praktiken wie dem Überprüfen von Vorräten, der Beschaffung und vor allem Testung von Ausrüstungsgegenständen, dem Erlernen neuer Fähigkeiten oder der Steigerung von körperlicher Fitness.42 In diesen vielfältigen Praktiken of- fenbart sich in besonderer Art und Weise eine «ecology of testing».43 Im Übrigen gilt hinsichtlich der Kategorisierung dasselbe für Reality-TV oder Realityshows, die sich aufgrund ihrer ‹Hybridisierung› und als ‹Genrefa- milie› ebenso wenig leicht einteilen lassen – nonchalant ausgedrückt: Reality-TV ist womöglich ein einziges großes Sozialexperiment, das sich auf das Beobachten von microcosmic communities und Machtstrukturen in den Beziehungen zwischen den Individuen spezialisiert hat.44 Viel eindeutiger lässt sich festhalten, dass sich survivalism als ein Dispositiv darstellt, das mit seinen Praktiken der Visualisie- 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Kezia Barker: How to rung, Verbreitung, aber auch mit seinen Relationen zwischen Expert*innen S urvive the End of the Future: Prep- und Lai*innen unterschiedliche Wissensfelder sowie Ordnungsmuster, diver- pers, Pathology, and the Everyday Crisis of Insecurity, in: Transactions gierende Verhaltensoptionen u. v. m. in Gang setzt und eine Antwort auf eine of the Institute of British Geographers, bestimmte gesellschaftliche Problemlage ist.45 Die «Grundidee der späteren Bd. 45, Nr. 2, 2020, 483 – 496, hier 484, doi.org/10.1111/tran.12362. Survival-Bewegungen»46 verortet Horn bereits in den 1970er und 1980er Jah- 42 Vgl. ebd. ren: verpackt als Set von Tipps und Hinweisen, eine Problem- bzw. Experimen- 43 Vgl. Marres, Stark: Put to the Test, 437. tierlage, die mit ihrem Schlagwort ‹vom Netz gehen› (off the grid) aktueller nicht 44 Vgl. Elisabeth Klaus, Stephanie sein könnte. Konkret bedeutet das, nicht mehr von staatlichen Infrastrukturen Lücke: Reality TV – Definition und Merkmale einer erfolgreichen wie dem Stromnetz abhängig sein zu müssen. Schließlich ist für die Survival- Genrefamilie am Beispiel von Reality Bewegungen klar, dass im Katastrophenfall weder modernen Technologien noch Soap und Docu Soap, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Bd. 51, dem Staat oder der Wirtschaft vertraut werden kann. In Anbetracht der aktu- Nr. 2, 2003, 195 – 212, hier 196, doi. ellen Lage kann das nicht mehr nur als Fantasie eines ‹Einbruchs des Realen›47 org/10.5771/1615-634x-2003-2-195. 45 Zu einer mikropolitischen betrachtet werden: Zu befürchten ist, dass aufgrund von Energiekrise, Krieg, Perspektive auf die gouvernementa- Inflation etc. immer mehr auf eine ‹Massenverarmung› zugesteuert wird – was len Funktionen von Fernsehen und Reality-TV vgl. Seier: Mikropolitik der als existenzbedrohendes Szenario Wirkung zeigen dürfte. Medien, 53 – 54. 46 Horn: Zukunft als Katastrophe, 185. 47 Vgl. Slavoj Žižek: Welcome to Daseinsexperimente the Desert of the Real. Five Essays on September 11 and Related Dates, Die viel diskutierte Annahme, dass Survival-Fernsehen nur eine ‹primitive› London 2002, 12 – 14. Form der Männlichkeit ausstellt, ist in der Forschung umstritten.48 Im Fall von 48 Davidson: Life Can Be a Little Bit Fluffy, 477. 7 vs. Wild werden sicherlich ‹primitive› Männlichkeitsmotive wie ‹Rückkehr zur 66 ZfM 29, 2/2023 «SURVIVAL ENGINEERING» Natur› und ‹individuelle Unabhängigkeit› betont 49 – schon weil in der ersten Staf- fel ausschließlich weiße Männer als Kandidaten antraten. Indem sich survivalists in die ‹wilde› Natur begeben oder ‹zur Natur zurückkehren›, betreiben sie eine Art ‹Befreiungsübung›, die auch als symbolische Abkehr von der häuslichen Sphäre und einer vermeintlich ‹feminisierten› modernen ‹Zivilisation› erscheint. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts gab es ähnliche Lebensexperimente. Henry David Thoreau etwa, früher Klassiker des amerikanischen Nature Writing, ver- brachte zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in einer Hütte, die er selbst auf einem Grundstück am Ufer des Walden Pond gebaut hatte. 1854 erschien sein Buch Walden, das als direkter Ausdruck seines Lebensexperiments gilt. Anders als beim survivalism ging es weder beim Selbstexperiment noch beim Text «da- rum, in der Wildnis zu überleben, sondern das Wilde als eine geistige Haltung zu entdecken».50 Der Rückzug in die Wildnis war für Thoreau eine programma- tische Empfehlung, das Modellprogramm eines einfachen Lebens. Letztendlich 49 Vgl. Uta Fenske: Mannsbilder. wird Thoreau zur Kultfigur und seine Hütte zum Sehnsuchtsort, eine Trope, die Eine geschlechterhistorische Betrachtung heutzutage mit Schlagwörtern wie Achtsamkeit und Entschleunigung verbunden von Hollywoodfilmen 1946 – 1960, Bielefeld 2015, 313. wird.51 In der experimentell-prekären Lage, die allerdings 7 vs. Wild anvisiert, be- 50 Caroline Rosenthal: Modell inhaltet jede Szene Aktivität und steht damit dem «erschöpften Selbst» oder dem des einfachen Lebens. Henry David Thoreaus Walden, in: Stefan «Wellness-Wohlfühlprogramm» gegenüber.52 M atuschek, Sandra Kerschbaumer Besonders auffällig ist die Affinität zur Selbstkontrolle und -optimierung als (Hg.): Romantik erkennen – Modelle finden, Paderborn 2019, 169 – 186, neoliberales Prinzip. Die Körper der survivalists sind auf die effektivste Aus- hier 170. nutzung ihrer Kräfte getrimmt, wobei der Eindruck erweckt wird, nur ‹echte›, 51 Vgl. ebd., 186. 52 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte hart an sich selbst arbeitende Männer kämen mit den Entbehrungen, Gefah- Selbst. Depression und Gesellschaft ren, D emütigungen und Prüfungen zurecht. Dementsprechend lässt 7 vs. Wild in der Gegenwart, Frankfurt / M. 2015; Stefanie Duttweiler: ‹Stellen Sie durchaus Vergleiche mit Deutschland sucht den Superstar (RTL, DE 2002–lau- sich ihr persönliches Wohlfühl- fend), Popstars (ProSieben, DE 2006 – laufend) oder Germany’s Next Topmodel programm zusammen!› Wellness zwischen Ethik und Ästhetik, in: (Pro Sieben, DE 2006–laufend) zu – Sendungen, die sich im Sinne des life Jens Elberfeld, Marcus Otto (Hg.): improvement als Programm von Vorher- / Nachher-Verwandlungen sogenannter Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Makeover-Shows zur Selbstverbesserung und Selbsttransformation lesen las- Ästhetik, Bielefeld 2009, 401 – 420, sen.53 Es gibt jedoch einen großen Unterschied: Die Empowermentstrategien doi.org/10.1515/9783839411773-013, Prekarität verstehen Vassilis Tsianos richten sich bei 7 vs. Wild didaktisch weniger an die Teilnehmenden selbst, son- und Dimitris Papadopoulos als dern werden von Meinecke und den anderen Survival-Expert*innen, die als eine eine verkörperte Erfahrung, die sich z. B. durch Hyperaktivität – den Art Survival-Motivations-Mediator*innen fungieren, direkt den Zuschauenden Imperativ, sich ständig verfügbar vorgeführt. Durch Inszenierungen wie diese kristallisiert sich heraus, dass sich zu halten – oder auf Gleichzeitig- keit – die Fähigkeit, zur selben Zeit das Testen aus dem Survival-Labor in die Gesellschaft verlagert hat. verschiedene Geschwindigkeiten und Rhythmen multipler Aktivitäten zu bewältigen – auszeichnet, vgl. Vassilis Tsianos, Dimitris Aus der Feder des Survival-Königs Papadopoulos: Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Obwohl US-amerikanische, britische und deutsche TV-Sender zahlreiche Sen- Kapitalismus. Oder: wer hat Angst dungen zum Überlebensthema ausstrahlten – wie etwa Naked and Marooned with vor der immateriellen Arbeit?, in: transversal.at, 10.2006, transversal.at/ Ed Stafford (Discovery Channel, UK 2013), Called to the Wild (National Geo- transversal/1106/tsianos-papadopoulos/ graphic, USA 2020), 100 Days Wild (Discovery Channel, USA 2020), Naked de (8.5.2023). 53 Vgl. Seier: Mikropolitik der and Afraid: Alone (Discovery Channel, USA 2020), Jenke Über Leben (RTL, DE Medien, 53 – 54, 83 – 84. SCHWERPUNKT 67 DANIELA HOLZER 2018), SOS: How to Survive (The Weather Channel, USA 2019), Ruf der Wild- nis (Spiegel TV Wissen, DE 2019) und Wild Island – Das pure Überleben (Pro- Sieben, DE 2015) –, hat Fernsehen weder auf ‹soziale Experimente› noch auf ‹Endzeit› ein Monopol. Zudem sind Survival-Expert*innen wie Ed Stafford, Bear Grylls oder Rüdiger Nehberg nicht die Einzigen, die sich im Modus des Überlebensexperiments mit Subjektivierungsweisen wie Selbstkontrolle, -ratio- nalisierung und -ökonomisierung auseinandersetzen und diese propagieren. Auch am Beispiel haupt- oder nebenberuflicher YouTube-Vlogger*innen, die das Genre maßgeblich mit definieren und gestalten, lässt sich der gegenwärtige survivalism gut untersuchen. Generell ist unter den Schlagwörtern «survival», «bushcraft» etc. auf YouTube nicht weniger Bewegtbild-Content als im ‹klassi- schen› Fernsehen zu finden – eine Vielzahl an Videos zeigt dem Publikum, wie Überlebensexpert*innen mit wenigen Tools und unterschiedlichsten Fertigkeiten fast alle Herausforderungen meistern können. Doch im Vergleich zur Szene der 54 Vgl. Torben Lux: Survival-König US-amerikanischen Survival-, bushcraft- und prepper-Influencer*innen ist die Fritz Meinecke über 7 vs. Wild, Szene im deutschsprachigen Raum noch recht überschaubar; zumindest ein- TV-Jobs und das Geschäftsmodell Abenteurer, in: OMR, 12.1.2022, flussreiche Outdoor-Abenteurer*innen gibt es nur wenige. Zu diesen zählt der omr.com/de/daily/fritz-meinecke-7vs schon genannte Survival-König Fritz Meinecke.54 Bekannt wurde er durch seine wild-omr-podcast (23.7.2022). 55 Vgl. Fritz Meinecke: Der Urban-Survival-YouTube-Videos und im Speziellen durch auch im Fernsehen Abenteurer. Alles, was man über Outdoor übertragene spektakuläre Aktionen wie etwa eine Reise nach Tschernobyl zusam- wissen muss, Hamburg 2017, 18. 56 16 Folgen der 1. Staffel gene- men mit dem Komiker und Moderator Wigald Boning im Rahmen der Lost- rierten gesamt rund 12 Millionen Places-Dokumentation Wigald & Fritz – Die Geschichtsjäger im History Channel. Aufrufe, hier zitiert nach YouTube- Upload, hochgeladen von Fritz Meineckes Abenteuer sind dabei kein Selbstzweck, sondern werden von ihm sehr Meinecke, youtube.com/playlist?list=P professionell in verschiedenen Medien vermarktet, von Social Media über eigens LPyDkYYqNkPa364y3LyawL8jBTd2Ald 2G, 7 vs. Wild, zuletzt am 29.12.2021, ent wickelte Survival-Realityshow-Konzepte bis hin zu Ratgebern.55 (25.6.2023), vgl. Hendrik Busch: 7 vs. Wild stellte mit bis zu durchschnittlich 6,5 Millionen Views pro Folge 1000 Mal härter als das Dschungel- camp. Was ihr über 7 vs. Wild in der ersten Staffel einen Überraschungserfolg im Genre dar.56 Millionen Staffel 2 wissen müsst, in: Moviepilot, Menschen sahen also dabei zu, wie 7 vs. Wild das Experimentierfeld des bloßen 21.6.2022, moviepilot.de/news/1000- mal-haerter-als-das-dschungelcamp- Überlebens mit besonderer Schärfe ausleuchtete. Insgesamt generierte bereits was-ihr-ueber-7-vs-wild-staffel-2- die erste Staffel nicht nur auf privaten Blogs, Gaming-Seiten und innerhalb wissen-muesst-1137003 (23.7.2022). 57 Vgl. Philipp Laage: Outdoor- der Survival-Community eine hohe Aufmerksamkeit, sondern die Show war Trend: Zeltest du noch oder machst auch Thema in Magazinen und Zeitungen, etwa im Spiegel oder in der taz.57 du schon Bush Crafting?, in: Spiegel Reise, 20.4.2022, headtopics.com/de/ Anders als bei Unterhaltungssendungen wie etwa dem Dschungelcamp – Ich zeltest-du-noch-oder-machst-du-schon- bin ein Star – Holt mich hier raus! (RTL, DE 2004 – laufend) sind Meineckes bush-crafting-25775222 (23.7.2022); Anna Meyer-Oldenburg: Survival- Kandidat*innen völlig auf sich allein gestellt. Das heißt, dass keine Kamera- Show ‹7 vs. Wild› auf Youtube. Wild teams, Techniker*innen, Redakteur*innen, Sicherheitsmitarbeiter*innen etc. gewordene Männer, in: taz, 9.3.2022, taz.de/Survival-Show-7-vs-Wild-auf- die survivalists begleiten. Es gibt keine Regieanweisungen, die künstlich Span- Youtube/!5836647 (23.7.2022). nung erzeugen; das Spiel dreht sich um das blanke Überleben, verspricht 58 Vgl. o. A.: ‹7 vs. Wild› – alle In- fos zur zweiten Staffel der extremen Meinecke.58 Anders als etwa bei Scripted Reality oder Pseudo-Dokumentati- Survivalshow, in: rnd RedaktionsNetz- onen behauptet 7 vs. Wild, über eine echte Fallhöhe zu verfügen – unter ange- werk Deutschland, 19.7.2022, rnd.de/ medien/7-vs-wild-staffel-2-gewinner- messenen Sicherheitsbedingungen. Die Teilnehmenden gehen ein Risiko ein, und-aktueller-punktestand-alle-infos- das sich als ‹real-inszeniert› bezeichnen lässt. Entsprechend filmen sich die zur-show-EBUCLJRNDBFVNDSZYT 2U3MGLEY.html (23.7.2022). Survival-Profis während der gesamten Challenge ausnahmslos selbst, müssen 68 ZfM 29, 2/2023 «SURVIVAL ENGINEERING» sich ohne Hilfe in der Wildnis durchschlagen und bei Unfällen auch selbst zu helfen wissen. Nur ein Anruf mit dem GPS-fähigen Notfall-Smartphone z. B. aufgrund von Unterernährung, Unterkühlung, mentalen Schwierigkeiten oder einer schweren Verletzung beendet die Übung; dann tritt ein Hilfsteam auf den Plan, um den*die Teilnehmende*n ‹rauszuholen› und zu versorgen. Für die Erstversorgung steht den Kandidat*innen ein SOS-Kit zur Verfügung, das mit einer Plombe versehen ist, um den Gebrauch verifizieren zu können, allerdings gibt es bei Benutzung Punkteabzug. Die restliche Ausstattung ist minimal: Für 59 In Anlehnung an die Gouver- sieben Tage in der Wildnis dürfen die sieben Kandidat*innen abgesehen vom nementalitätsforschung bzw. an Kamera-Set – bestehend aus zwei Actioncams, Akkus, Befestigungsmöglich- eine Mikropolitik der Medien ist die Konstituierung des modernen keiten, Ladegeräten, Powerbanks, Speicherkarten und einer Stirnlampe – nur Selbst auf eine «Praxis der Übung» sieben Gegenstände mitbringen. Zur technischen Grundausstattung kommen angewiesen. Dieses einzuübende Selbstverhältnis ist von Medien- Beutel hinzu, die Tageschallenges sowie die Maßbänder, Stoppuhren, Stifte techniken abhängig. Technische oder ähnliche Tools enthalten, um die eigene Leistung zu messen – ganz im Apparaturen wie Self-Tracking-Apps, Maßbänder und Stoppuhren ermög- Sinne der bereits erwähnten gouvernementalen Tendenz zur Selbstvermes- lichen Praktiken der Selbstführung, sung.59 Diese Gegenstände dürfen aber keinesfalls zweckentfremdet werden die im starken Maße mit Messwerten und Statistiken koinzidiert. Vgl. und sind für andere Aktionen tabu – so die Regeln der Show. Die sieben Ob- Seier: Mikropolitik der Medien, 39 – 56, jekte, mit denen sich die Kandidat*innen zutrauen, eine Woche in Schweden Thorben Mämecke: Die Statistik des Selbst – Zur Gouvernementalität der zuzubringen, können vor Beginn der Show von einer Liste mit 50 Gegenstän- (Selbst)Verdatung, in Stefan Selke den ausgewählt werden.60 Es zeigt sich, dass fast alles von den survivalists ge- (Hg.): Lifelogging. Digitale Selbstver- messung und Lebensprotokollierung testet wird – seien es die persönlichen Fähigkeiten, das eigene Fachwissen, die zwischen disruptiver Technologie und physische oder psychische Verfasstheit, die Vegetation Schwedens, das Kamera- kulturellem Wandel, Wiesbaden 2016, 97 – 125, 102. Equipment oder andere persönliche Ausstattung, Schlafplätze und Behausun- 60 Bloß ein Kandidat der ersten gen, der Verzehr von Essbarem bzw. Ungenießbarem oder Notnahrung; sogar Staffel entschied sich für nur zwei Objekte: Messer und Feuerstahl. der eigene Stuhlgang wird genau geprüft und vor laufender Kamera und später Die restlichen sechs Survival-Profis mit den YouTube-Fans gemeinsam analysiert.61 wählten Schlafsack, Planen oder Kochgeschirr, Angel-Set, Messer, Indem die survivalists Gegenstände und Umgebungen testen sowie G renzen Paracords o. Ä. von Lebbarkeiten ausloten und als beteiligte Akteur*innen mit der Kamera 61 Die intimen Beziehungen in der Gesellschaft betreffend heben und ihrer Community beim gemeinsamen Analysegespräch ihre Praktiken, Marres und Stark die Auswirkungen ihre Werkzeuge, ihren Erfahrungsschatz und vieles mehr in und mithilfe der von Tests hervor: «Today, tests by scientists and engineers are Plattform YouTube monitoren, verändern und erweitern sie die Rahmenbin- purposefully designed to extract dungen des Survival-Experiments medial. Obendrein reichern sie die Testbe- and deploy intimate information to deliberately act on populations dingungen mit neuem Wissen, Versuchen, Testläufen, Wagnissen an und bin- and intervene in society.» Marres, den sie in Form von weiteren experimentellen Bestätigungen wie Super-Chat, Stark: Put to the Test, 433. 62 Super-Chat, Super-Sticker und Super-Sticker und Super Thanks an das Publikum.62 Kurzum: Die experimentie- Super Thanks sind Fan-Finanzierungs- renden, probierenden und übenden Vorgehensweisen sind ganz im Sinne der systeme, die es dem Publikum er- möglichen, z. B. während Livestreams Vorstellung von YouTube as Test Society 63 – einer performativen Praxis, die Oliver die YouTube-Creator*innen finanziell Marchart folgendermaßen beschreibt: «Prekarität ist also nicht einfach ein das zu unterstützen. 63 Vgl. die Beschreibung eines Subjekt von außen ereilendes Schicksal: Auch Prekarität will gelernt, erprobt Workshops mit dem Titel YouTube as und eingeübt sein.»64 Anzumerken ist, dass die von den survivalists gewählten Test Society an der Uni Siegen: www. mediacoop.uni-siegen.de/en/ Gegenstände nicht selten mit einem Werbedeal einhergehen, da ein Plot darin events/workshop-youtube-as-test- besteht, Werkzeuge auf ihre Verlässlichkeit, Flexibilität und Langlebigkeit zu society (16.5.2023). 64 Marchart: Die Prekarisierungs- testen. Im Praxistest stellt sich jedoch oft heraus, dass das Kit die Ansprüche gesellschaft, 54. SCHWERPUNKT 69 DANIELA HOLZER der Anwender*innen nicht erfüllt. Besonders erfahrene Survival- oder bushcraft- Fans wie Meinecke erweitern ihr Survival-Kit beliebig oder tauschen einzelne Bestandteile aus. Dabei ist die Veränderung von Testbedingungen immanent. Ferner kommen alle Protagonist*innen der Show aus dem Survival-Bereich und zählen in der Regel auch zu den Abenteurer-Freund*innen von M einecke, die beispielsweise beim urban exploring (kurz urbex) verlassene Gebäude und Gegen- den aufsuchen – ganz nach dem Motto «Take nothing but pictures, leave nothing but footprints». Dennoch sind die Teilnehmenden in ihren Praktiken und Selbst- zuschreibungen sehr unterschiedlich und reichen von Überlebenskünstler*innen bis zu Outdoor-Ausrüstungs-Junkies. Doch bei allen Unterschieden haben die Protagonist*innen eines gemeinsam: Sie sind nicht nur mit den Praktiken des ‹Überlebens› und mit den oben aufgezählten und als authentisch-essenziell ge- framten medialen Artefakten, sondern als reichweitenstarke Content-Profis auch mit den technisch-apparativen und ästhetisch-diskursiven Bedingungen, sprich mit der gesamten medialen Struktur von YouTube-Content, bestens ver- traut. Anders als vielleicht vermutet wurde das selbstproduzierte Filmmaterial in Meineckes Studio geschnitten, bearbeitet und zu einem von ihm ausgewählten Datum auf YouTube veröffentlicht.65 Es handelt sich demnach nicht um Live- Content; stattdessen hatte Meinecke das Experiment als test engineer oder ‹Mana- ger des Elends›66 in gewisser Weise selbst in der Hand. Im Sinne von Marres und Stark nehmen Meinecke und seine Crew eine privilegierte Position ein, da sie nicht nur das Experiment kontrollieren, sondern als YouTube-Content-Creators in ihren eigenen Kanälen genauso die digitale Testumgebung beeinflussen kön- 65 Vgl. das Behind the Scenes-Video: nen.67 Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Vielzahl gouvernemen- youtu.be/c13Wd-LIVNE, hochgeladen von Account DAVE, 30.10.2022, taler Technologien dabei nicht immer einem strikten Masterplan Folge leisten, 7 vs. Wild - Behind the Scenes, sondern von den survivalists und vom Publikum experimentell erprobt werden. (16.5.2023). 66 In Anlehnung an Nikolas Rose: Tod des Sozialen? Eine Neubestim- mung der Grenzen des Regierens, in: Thomas Lemke, Susanne Krasmann, «Survival test engineers» als neoliberale Indikatoren Ulrich Bröckling (Hg.): Gouvernemen- Wie gezeigt wurde, stehen die survivalists nicht nur selbst als ‹Testobjekte› vor talität der Gegenwart. Studien zur Öko- nomisierung des Sozialen, Frankfurt / M. der Kamera, wenn sie ihre Fähigkeiten und ihre Umgebung abtesten oder re- 2000, 72 – 109, hier 103. präsentieren. Als Testingenieur*innen verleihen sie dem Survival-Testszenario 67 Weil sie die Einstellungen verändern, z. B. indem sie Kom- mithilfe materieller, technischer, medialer Werkzeuge und ihres Wissens Au- mentare moderieren oder weitere thentizität. Zudem stellen sie die Rahmenbedingungen prekärer sozialer Phä- Moderator*innen ihres Channels be- stimmen und Kommentare sperren, nomene auf die Probe und verändern diese. Bei Marres und Stark heißt es: User*innen blockieren, Merchandise «Whereas we traditionally think about testing taking place within a setting, betreiben und damit Gegenstände und Werkzeuge in der ‹Wildnis› today’s engineers are testing the settings.»68 Mehr noch, sie testen den Sozial- testen, die ein Testbudget in Aus- staat auf seine Bruchstellen. Anhand des Gebots von preparedness, das angesichts sicht stellen. Doch haben sie keine Kontrolle über die systemischen von Energiekrise und Arbeitslosigkeit für immer mehr Menschen maßgeblich Einstellungen von YouTube und wird, bietet 7 vs. Wild die Gelegenheit, Gruppen wie survivalists und preppers wissen vermutlich nicht im Detail über Algorithmen o. Ä. Bescheid; vgl. sowohl in der Mitte als auch an den Rändern neoliberaler Sicherheitsgesell- Marres, Stark: Put to the Test, 434. schaften zu verorten und zu beobachten. Sie jagen nicht nur als autarke, selbst- 68 Marres, Stark: Put to the Test, 435. verantwortliche Subjekte mit Kameras durch den Wald und dokumentieren 70 ZfM 29, 2/2023 «SURVIVAL ENGINEERING» sich dabei, sondern verstecken sich gleichzeitig vor den (spöttischen) medialen Blicken einer Gesellschaft, in der preppers als Egoist*innen oder als ‹Klopapier- Hamster› gelten.69 Das utopisch Imaginäre von Survival-Shows deckt sich demnach in seiner Ambivalenz wiederum mit den schattenhaften Realitäten des N eoliberalismus, da der Wegfall sozialer Unterstützung zu einem verstärkten Kampf um die Aufrechterhaltung des gewohnten Lebensstandards führt.70 Survivalists und p reppers vermitteln ein Bild davon, wie eine zukünftige Welt aussehen könn- te, da sie Wohlstand in spielerisch-experimenteller Verachtung vermeintlich längst überwunden haben. Insofern sind Meinecke und seine Crew als «social engineers»71 nicht an den gesellschaftlichen Rand ausgelagert, sondern mitten im Zentrum angelangt – gerade weil sie Prekarisierungsprozesse in das ‹Kleid der Autonomie› stecken und somit ein prozessuales Phänomen des Experiments in die Normalisierung überführen. Gleichzeitig überprüfen sie damit die drin- gende Frage, nach welchen Fähigkeiten ein Arbeitsmarkt im digitalen Wandel verlangt. Speziell diejenigen, die integrierter Teil der Arbeitsgesellschaft sein bzw. ‹ reintegriert› werden wollen, gehören zum Adressat*innenkreis der experi- mentellen Vorbereitung, nämlich bestmöglich mit Veränderungen umzugehen, beispielsweise durch antrainierte Resilienz – erinnert sei an John Robbs Motto: «Don’t just survive, thrive». Paolo Virno beleuchtet, wie Unternehmen ebenjene von ihnen gewünschten Skills befördern: «Das postfordistische Unternehmen setzt diese Gewohnheit, keine Gewohnheiten zu haben, diese Einübung in die Prekarität und in die stän- dige Wandelbarkeit der Umstände gezielt für sich ein.»72 Immerhin müssen sich die Subjekte «an Mobilität gewöhnen, den Umgang mit permanenter Verände- rung eintrainieren, sich an umfassende Flexibilitätserfordernisse anpassen».73 Das zieht sich bei 7 vs. Wild von der narrativen Seite bis hin zur Produktionsseite, wie anhand der Story und auch der geringen Produktionsmittel der Show deutlich wird. Zwar fokussieren survivalists und preppers den apokalyptischen Zusammen- bruch, wie ihn Horn beschreibt, doch induzieren sie zugleich eine andere Vor- 69 Vgl. Barker: How to Survive the End of the Future, 484. stellung von Zukunft: Diese Gruppen wollen die Welt überleben und nicht nur 70 Beispielsweise versteht Stefan auf ihr Ende vorbereitet sein – wenn es sein muss, auch völlig allein. Mit Marres Trinkaus das Prekäre als relational, nämlich «sowohl als Gefahr und und Stark lässt sich anmerken, dass sich der Schwerpunkt vieler Tests auf soziale Potenzial für Gewalt als auch Relationen erstreckt bzw. diese reflektiert.74 Erzählt wird nicht etwa, dass z. B. so- als Offenheit und Chance eines Anderswerdens. Diese Öffnung des ziale Unterstützung und gegenseitige Sorge bei dieser Aufgabe von Nutzen sein Prekären kann nicht geschlossen könnte, stattdessen wird das überlebende, aber einsame Subjekt privilegiert. Die werden, doch kann sie gehalten wer- den.» Stefan Trinkaus: Ökologien des in 7 vs. Wild inszenierten Verflechtungen des ‹Überlebensaktes› enthalten immer Prekären. Zu einer Theorie des Haltens, auch etwas Schmerzhaftes, Unangenehmes oder Erniedrigendes, da z. B. ‹Bestra- Wien 2022, Klappentext. 71 Marres, Stark: Put to the fungen› in den zusätzlichen Tageschallenges Teil der Übung sind. Test, 433. Neben dem Bestraftwerden durch stets noch mehr Prüfungen ist jedoch die 72 Virno: Grammatik der Multitude, 118 f. Einsamkeit in der Isolation Schwedens für alle Teilnehmenden ein unnatürli- 73 Marchart: Die Prekarisierungs- cher und unerwünschter Zustand. So entsteht ein Kippbild zwischen freiwil- gesellschaft, 54. 74 Vgl. Marres, Stark: Put to the ligem Alleinsein als Ausdruck einer souveränen Bewegungsfreiheit und dem Test, 437. SCHWERPUNKT 71 DANIELA HOLZER Bedürfnis nach Nähe und Gesellschaft: Hierin entwickelt die Einsamkeit ihre Macht. Wer sich aufgrund der Covid-19-Pandemie selbst isoliert hat, weiß, dass mit Distanz in der Regel Berührungslosigkeit einhergeht. Die Kamera, die sich fast durchgehend am Körper der Teilnehmenden befindet, ist zweifellos ein Substitut für menschliche Beziehungen und Berührung. Wie bereits thema- tisiert, richtet sich die Actioncam wie im pseudodokumentarischen Film Blair Witch Project (Regie: Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, USA 1999) zum überwiegenden Teil auf die survivalists selbst. «Aus einem so einfachen wie auch komplizierten Grund: Weil Berührung auf Distanz auch berührt.»75 Aber das Format lagert nicht nur die Generalprobe des ‹gesamten Zusammenbruchs› an die survivalists aus und lässt dies die Kandidat*innen stellvertretend für die Zuschauer*innen auf der Couch erleben: Alle üben sich vor oder hinter der Ka- mera in moderner Distanzierungspraxis – liebevoll in der Hand gehalten wird allenfalls das Smartphone. Das Kameraauge am Smartphone oder auf der Go- Pro lässt uns aber noch mehr wahrnehmen: Erstens hilft es dabei, Authentizität zu konstruieren,76 und zweitens ist es Werkzeug für die immaterielle Arbeit der YouTuber*innen, die durch Kommunikation auf sprachlicher wie auch körper- licher, affektiver, sozialer etc. Ebene bestimmt wird. Verwischung der Grenzen Survival-Shows sind also wegweisend im Produktivmachen von mobilen, an- passungsfähigen Leben, und Plattformen wie YouTube sind ein ermächtigendes Werkzeug für ein Leben, das selbst zum Produkt wird. Ferner kann das Reali- ty-Format als ein Experiment betrachtet werden, das einen imaginären Hand- lungsspielraum eröffnet, der angesichts ökonomisch-technischer Logiken einen Teil der Bevölkerung in eine Richtung bewegt, die keine große Bandbreite an Lösungen erwarten lässt – bloß ein selbstbezogenes, trostloses und weltabge- schiedenes Dasein –, um sie womöglich daran zu hindern, sich in eine andere Richtung zu bewegen. Doch, wie eingangs erwähnt, steckt in der Auseinander- setzung mit survivalism potenziell auch die Reflexion über Gruppen, die sich an den Rändern befinden, und damit über Subjektivitäten, die nicht vollstän- dig vereinnahmt werden können. Besonders die Neigung der Survival-Formate zur Verwischung der Grenzen – zwischen Inszenierung und Realität, zwischen 75 Elisabeth von Thadden: Die Sendung und Publikum, zwischen Testenden und Testobjekten, zwischen Acht- berührungslose Gesellschaft, München 2018, 115. samkeitsübung und Überlebenstraining usw. – ist Indiz für eine ästhetische und 76 Vgl. zum Verhältnis von kulturelle Umbruchsituation, in der feste Zuschreibungen und Definitionen Authentizität und Test Marres, Stark: Put to the Test, 436. nicht mehr adäquat oder ausreichend erscheinen. — 72 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150208. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. C H R I S T O P H B O R B A C H MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE — Radarentwicklung in den Bell Labs und bei Western Electric Die Untersuchung der industriellen Fertigung technischer Apparaturen kann als Desiderat der Mediengeschichte gelten.1 Für diese wurde bisher eine Viel- zahl von Aspekten als wissenschaftlich relevant erachtet: u. a. Rohstoffe, Logis- tiken, Lieferketten, Bürokratien, Infrastrukturierungen, Ästhetiken oder The- orien der Medien, aber auch deren Organisation und Dokumentation anhand von Protokollen, Formularen, Standards oder Akten. Allerdings wurde die Pro- duktion sogenannter Massenmedien und das dabei stattgefundene Testen bis- lang vernachlässigt. Die zwischen der ‹Erfindung› von Medien bzw. der Kon- struktion erster Prototypen und der massenweisen Verbreitung standardisierter medialer Apparaturen notwendigerweise stattfindende Massenproduktion ist zwar in Bezug auf die Nachhaltigkeit von Smartphones in den medienwissen- schaftlichen Fokus geraten,2 wird aber in medienhistorischen Arbeiten und 1 Ich danke Patrick Vonderau selbst historisch orientierten Production Studies nicht weiter berücksichtigt. und Max Kanderske für Hinweise Ebenso unterreflektiert bleiben dementsprechend Techniken und Praktiken des und Kritik bei der Ausarbeitung dieses Beitrags. Testens während der industriellen Fertigung von Medien. Das erstaunt inso- 2 Vgl. Richard Maxwell, Toby fern, als es mitunter erst fortwährende Testungen waren, die Medienproduktio- Miller: How Green is Your Smartphone?, Cambridge (UK) 2020. nen in actu stabilisierten. 3 Das Unternehmen produzierte Wie sich eine medien- und wissenshistorische Produktionsstudie ausgestal- mehr als die Hälfte der US-amerika- nischen Radargeräte, vgl. Mervin ten kann, die ihren Fokus auf Tests legt, will ich im Folgenden an einer Fallstu- J. Kelly: Radar and Bell Laboratories, die zur industriellen Produktion US-amerikanischer Radare in der ersten Hälfte in: Bell Telephone Magazine, Bd. 24, 1945/46, 221 – 255, hier 223. Zur der 1940er Jahre durch Western Electric Inc.3 (WE) und die Bell Telephone Firmengeschichte von Western Elec- Laboratories 4 (kurz: Bell Labs) illustrieren. Dabei gilt der Grundsatz: kein Me- tric vgl. Stephen B. Adams, Orville R. Butler: Manufacturing the Future. A dium ohne seine Produktion, keine Produktion ohne Tests. Dementsprechend History of Western Electric, Cambridge wurde «the importance of testing»5 bereits von den historischen Akteur*innen (UK) 1999. 4 Zur Firmengeschichte der von WE und den Bell Labs betont. Denn Testen erwies sich in mehrfacher Bell Labs vgl. Jon Gertner: The Idea Weise als kritischer Faktor, etwa der Test der technischen Komponenten des Factory. Bell Labs and the Great Age of American Innovation, New York 2012. jeweiligen Radars während der Produktion; anschließend der Test der Funk- 5 Frederick R. Lack: Radar and tionalität des produzierten Objekts; im Feld das konsequente Testen der Be- Western Electric, in: Bell Telephone Magazine, Bd. 24, 1945/46, 283 – 294, triebsamkeit des Geräts; im infrastrukturellen Sinn die Testung geeigneter hier 292. SCHWERPUNKT 73 CHRISTOPH BORBACH Produktionsstätten; und nicht zuletzt der Test der Logistik der Produktion. Die medienhistorische Suchbewegung dieses Beitrags spürt den dabei ausgeprägten Testumgebungen in ihrer Sequenzialität nach, um die Kontinuität des Testens auch «beyond the laboratory»6 strukturell abzubilden: Dabei verläuft die Bewe- gung vom Test der Produktionsstätten über die Tests während der Produktion in den Fabriken hin zu Tests während des Mediengebrauchs und zuletzt (zu- rück) ins Labor. Die enorme Bedeutung von Apparaturen und Praktiken des Testens während der Radarproduktion – und darüber hinaus im Feld und wieder im Labor – ist bereits in den Quellen explizit. Warum gerade die Radarproduktion und -praxis derart für Tests sensibilisiert war, erschließt sich durch eine medienhistorisch- komparative Betrachtung: Bei sämtlichen anderen elektronischen Massenme- dien war es seinerzeit evident, wenn sie nicht störungsfrei funktionierten. Beim Radio oder Telefon der 1940er Jahre beispielsweise waren medientechnische Störungen als Rauschen hör-, beim Fernsehen sichtbar.7 Beim Radar hingegen waren menschliche Sinne allein nicht hinreichend, die Funktionalität des Me- diums oder seiner elektrotechnischen Komponenten zu prüfen. Wenn ein Ra- darbildschirm keine Ortungsergebnisse visualisierte, konnte dies bedeuten, dass tatsächlich keine ortbaren Objekte im Umfeld des Geräts waren oder dass die- se aufgrund eines Defekts nicht geortet wurden – womöglich mit fatalen Fol- gen. Notwendig wurden Sensoren und Räume, die die einwandfreie Funktio- nalität der Medientechnik überprüfbar machten, indem einerseits Radargeräte und -module, andererseits ihr Funktionieren in diversen Umgebungen getestet 6 Noortje Marres, David Stark: wurden. Erst eine Heterogenität von Testsituationen und -räumen stabilisierte Put to the Test: For a New Sociology of Testing, in: The British Journal die junge Medientechnik Radar. Von besonderem Interesse sind Radartests, in- of S ociology, Bd. 71, Nr. 3, 2020, sofern zwar bereits mehrfach von Seiten der Medienkultur- und Technikhisto- 423 – 443, hier 424. 7 Radio sei «self-testing in that riografie auf die Bedeutung von Radartechnik, insbesondere für die Entwicklung reception of intelligible speech or von Computergrafiken,8 -schnittstellen 9 und -programmen 10 hingewiesen wor- signals frequently constitutes a sufficient check of satisfactory per- den ist – nicht jedoch auf die Bedeutung vorgelagerter Tests, die den Erfolg des formance», hieß es im Unterschied Mediums in der Praxis bedingten. Bezeichnend ist auch, dass die allermeisten zum Radar von Ingenieuren der Bell Labs, E. I. Green, H. J. Fisher, J. G. internationalen historischen Arbeiten zum Radar seine Produktion und Testung Ferguson: Techniques and Facilities weitestgehend unberücksichtigt lassen. Diese Prozesse zu untersuchen, ist umso for Microwave Radar Testing, in: The Bell System Technical Journal, wichtiger, da in einer medienepistemologischen Lektüre die Radarproduktion Bd. 25, Nr. 3, 1946, 435 – 482, hier selbst als Test verstanden werden kann, nämlich als Testung der Produktion 435. 8 Vgl. Jacob Gaboury: Image elektrotechnischer Medienkulturen, wie ich abschließend zeigen will. Objects. An Archaeology of Computer Da die Arbeitsumgebungen der Radarproduktion von Seiten der beteiligten Graphics, Cambridge (MA) 2021. 9 Vgl. Bernard Dionysius menschlichen Akteur*innen keine umfassende schriftliche – beispielsweise au- G eoghegan: An Ecology of Opera- tobiografische – oder gar audiovisuelle Dokumentation erfuhren, dienen mir tions: Vigilance, Radar, and the Birth of the Computer Screen, in: Represen- als Grundlage für die historische Rekonstruktion firmeneigene Publikationen tations, Bd. 147, Nr. 1, 2019, 59 – 95. der Bell Labs und von WE. Bei einer solchen bereits institutionell vorgepräg- 10 Vgl. Herbert D. Benington: Production of Large Computer ten Materialgrundlage sollte grundsätzlich mit quellenkritischer Sensibilität Programs, in: Annals of the History agiert werden. Es ist davon auszugehen, dass die Publikationen nicht allein der of Computing, Bd. 5, Nr. 4, 1983, 350 – 361. Repräsentation, sondern auch der Konstruktion und Inszenierung möglichst 74 ZfM 29, 2/2023 MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE organisierter und strukturell funktionaler Produktions- und Testumgebungen dienten und mithin die potenzielle messiness jener Umgebungen strategisch ver- schwiegen wurde. Bezeichnend ist jedoch, dass es diese Quellengrundlage gibt. Denn Publikationen von Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, die sich detailliert den Komplikationen der Testung und Massenproduktion jeweils neu- er elektrotechnischer Module und Prototypen widmen, stellen eine Ausnahme dar – schließlich thematisieren sie gerade nicht die eigentlichen institutionellen Forschungs- und Entwicklungsleistungen, sondern ihre nachgelagerten Pro- duktionsarbeiten und -logistiken. Für den hier untersuchten Fall liegt das darin begründet, dass sich die Radarindustrie aufgrund der strategischen Vorteile, die das Medium im Feld bescherte, vor allem in den USA derart rapide entwickelte, dass binnen kürzester Zeit neue Produktions- und Teststrukturen implemen- tiert wurden. Deswegen ist über diese ausführlicher berichtet worden, als dies der Fall ist, wenn sich Neuerungen derart langsam realisieren, dass sie nicht mehr neu erscheinen. Testen I – Produktionsstätten & Subunternehmen Die sogenannte Tizard Mission, eine Delegation britischer Forscher, die im September 1940 die USA erreichte und in einer besonderen Form von Techno- logietransfer ein Magnetron zur Erzeugung leistungsstarker Zentimeterwellen mitführte, wirkte als Katalysator auf die US-amerikanische Radarentwicklung. Der ehemalige Forschungsleiter der Bell Labs Mervin Joe Kelly schrieb, es sei- en die «tests» dieses Magnetrons und die aus ihnen resultierenden Forschungs- programme und -institute gewesen, die bewirkten, dass die US-amerikanische Radar forschung und -entwicklung «at an unparalleled rate» expandierte.11 So wurde am Massachusetts Institute of Technology bereits im November 1940 das Radiation Laboratory (Rad Lab) gegründet, das mit seinen schließlich 4.000 Mitarbeitenden 12 vollumfängliche Radar-Grundlagenforschung institutio- nalisierte und forcierte. Forschungseinrichtungen sind jedoch in den seltensten Fällen zugleich industrielle Fertigungsbetriebe, weshalb die Grundlagenarbeit des Rad Lab andernorts zu Massenmedien werden sollte. Nur wenige Firmen bekamen das Privileg dieser Produktion zugesprochen. Im Falle des US-ameri- kanischen Radars war dies zum Großteil das mit den Bell Labs kooperierende und für sie produzierende Unternehmen WE. «The growth of radar industry, which scarcely existed before 1940», so ur- teilte der stellvertretende Direktor des Rad Lab Louis N. Ridenour in der Re- trospektive, lasse sich anhand von Zahlen belegen: Bis zum Juni 1945 wurden 11 Kelly: Radar and Bell Labora- Radargeräte im Wert von rund 2,7 Mrd. Dollar an die US Army und Navy tories, 234. ausgeliefert; zu diesem Zeitpunkt wurden in den USA monatlich Radarge- 12 Vgl. Louis N. Ridenour: Wartime Radar Development in the räte im Wert von über 100 Mio. Dollar (das entspräche heute etwa 1,7 Mrd. United States, in: ders. (Hg.): Radar US-D ollar) produziert.13 WE allein stellte nach eigenen Angaben im Kriegs- System Engineering, New York 1947, 15 – 17, hier 17. jahr 1943 Radare im Wert von 340 Mio. Dollar her, im Zweiten Weltkrieg 13 Ebd. SCHWERPUNKT 75 CHRISTOPH BORBACH insgesamt Radargeräte im Wert von annähernd 900 Mio. Dollar.14 «[T]he tech- nical achievement represented by the wartime development of radar», so führte Ridenour weiter aus, «seems very nearly unparalleled.»15 Die radarbezogenen Zahlen erscheinen noch enormer, wenn sie institutionshistorisch kontextuali- siert werden: Alle elektronischen Geräte, die für das Bell System zwischen 1915 und 1940 produziert wurden, hatten ein finanzielles Volumen von gerade ein- mal 50 Mio. Dollar.16 Damit hatte sich die Radarindustrie, die eine «new in- dustry» darstellte, insofern sie wenige Jahre zuvor schlichtweg nicht existierte, binnen weniger Jahre derart rapide entwickelt, dass sie 1945 die Autoindustrie quantitativ überholt hatte 17 – von der industriellen Fertigung anderer Medien wie Radios oder Fernseher ganz zu schweigen. Medien- und wissenshistorisch bedeutsam für eine Fokussierung auf Tests sind jene außerordentlichen Zahlen insbesondere vor dem Hintergrund, dass die neue Radarindustrie erst adäquate Strukturen etablieren musste, um derar- tige Mengen elektronischer Medien produzieren zu können. Besonders war das auch deshalb, weil die Radarproduktion mit Auflagen versehen wurde, wie sie die zivile Medienproduktion nicht betrafen. Die neue «billion-dollar industry» war «surrounded by a wall of secrecy»; 18 sie hatte im Geheimen stattzufinden und durfte nicht an ein Netzwerk privater Unternehmen mit eigenen Produk- tionsstätten ausgelagert werden. Um zu verstehen, warum die Massenproduk- tion dennoch gelingen konnte, ist ein Blick in die Prozesslogik der Produktion notwendig: Nachdem im Rad Lab eine neue Radargrundlage erforscht wor- den war, wurde in den Bell Labs für diese ein «development model» konstru- iert.19 Dabei wurde eine Vielzahl elektrotechnischer Komponenten – darunter Magnetrons, Oszillatoren, Impulsgeneratoren, Bildschirme und Verstärker- röhren – konstruiert, getestet, prototypisiert, verbessert, erneut getestet und schließlich standardisiert. Erst auf Basis eines solchen Models wurde an WE ein Produktionsauftrag erteilt. Für WE bedeutete diese Modularisierung der Produktion, dass die Herstel- lung einzelner Komponenten an Zulieferer ausgelagert werden konnte, um die Massen an Material überhaupt bereitstellen zu können. Trotz der kriegsbedingt 14 Vgl. Lack: Radar and Western geheimen Produktion von Radaren war dies erlaubt, betraf es doch nur ein- Electric, 284. 15 Ridenour: Wartime Radar zelne Module. WE begutachtete über 6.000 Hersteller technischer Geräte im Development, 17. Umkreis jeder größeren WE-Produktionsstätte, um festzustellen, was diese 16 Vgl. Kelly: Radar and Bell Laboratories, 247. produzierten, und die in Frage kommenden Produkte wurden wiederum auf 17 So urteilte L. A. DuBridge in ihre Tauglichkeit für etwaige Radareinsätze getestet. Aufgrund der starken Mo- einer Selbsthistorisierung der For- schung des Rad Lab, L. A. DuBridge: dularisierung von Radargeräten stellte sich heraus, dass scheinbar radarferne History and Activities of the Radia- Betriebe durchaus geeignete Radarmodule bauen konnten: Ein Hersteller von tion Laboratory of the Massachusetts Institute of Technology, in: Review Spielautomaten lieferte eine leichte Präzisionsantenne für Radare in Flugzeu- of Scientific Instruments, Bd. 17, Nr. 1, gen; ein Hersteller von Metallschränken fertigte Gehäuse für die Verwendung 1946, 1 – 5, hier 3. 18 James Phinney Baxter: Scientists von Radaren auf Schiffen; den Antrieb für eine Präzisionsantenne eines Boden- Against Time, Boston 1946, 142. radars lieferte der Hersteller von Waschmaschinen; und weiterhin, so berichtete 19 Kelly: Radar and Bell Labora- tories, 248. Frederick R. Lack, ein Vorsitzender von WE: 76 ZfM 29, 2/2023 MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE A producer of pots and pans made tail sections for the bomb-shaped radar carried beneath the wings of air fighters. The metal frame for this same radar came from the shop of a bicycle manufacturer in Chicago. Finely made mechanical parts came, surprisingly enough, from a nationally known cereal firm, which maintains a pre- cision machine shop for the peacetime production of packaging machinery.20 Die bloße Delegation an Subunternehmen durch WE reichte für die Massenproduktion von Radaren allerdings nicht aus. Der aufgrund der extensiven Radarproduktion während des Zweiten Weltkriegs enorm wachsende Bedarf an Spulen konnte so bei- spielsweise nicht gedeckt werden. WE richtete daher eine provisorische Spulen-Fabrik in einer ehemali- gen Schuh fabrik in Haverhill, Massachusetts, ein, die binnen kürzester Zeit eine Belegschaft von 2.000 An- gestellten aufwies. Insgesamt eröffnete WE 16 neue Fabriken, um die Produktion der gesteigerten Nach- frage an Radarmodulen anzupassen, was aufgrund des Zeitdrucks – wie im Falle der Schuhfabrik – mit- unter zur zweckentfremdenden Einrichtung von Produktionsstätten führte, wie Lack weiter darlegte: Ex-garages, warehouses, engine-parts plants – almost any building with a roof that did not leak, or which had one that could be repaired – quali- Abb. 1 Inszenierung der fied as a radar shop if the community could provide people enough to staff it Einzelteile eines Radargeräts with workers.21 «[R]adar work» basierte mithin auf einem «industry-wide team play».22 In der Praxis prägte dies für WE neue Formen von Arbeit aus: nämlich die infrastruk- turelle Organisation von verteilter Produktion, um vorgegebene Zeitpläne und Auslieferungen von Radargeräten exakt einzuhalten. Getestet wurden also zu- nächst die infrastrukturellen Möglichkeiten der Produktion selbst. Testen II – in den Fabriken Darüber hinaus galt es in den jeweiligen Fabriken von WE diverse Tests an einzel- nen Komponenten, verschalteten Modulen und schließlich am zusammengebau- ten Radargerät vorzunehmen. Evident wird die Komplexität der industriellen Ra- darproduktion, wenn man die modulare Ebene des Mediums fokussiert: Radare bestanden aus bis zu 7.000 Einzelteilen. Um dies zu verdeutlichen, wurde von den 20 Lack: Radar and Western Bell Labs eine Fotografie angefertigt, welche die technische Komplexität eines Electric, 290 f. 21 Ebd., 289. Radargeräts – und damit implizit die notwendige Fertigkeit der Mitarbeitenden, 22 Ebd., 291. SCHWERPUNKT 77 CHRISTOPH BORBACH mithin gezielt die eigene elektro- technische Expertise – illustrierte (vgl. Abb. 1). Von ihrer Produktion her besehen waren Radare zuvor- derst ein aus zahlreichen, oft kleinen zu verbauenden Bestandteilen be- stehendes Konglomerat, das in der Praxis als Black Box Funktionalität entfalten konnte. Insofern es nahe- zu jedes der 7.000 Einzelteile nicht nur zu verschalten, sondern zu tes- ten galt, bedeutete die Produktion von Radaren somit vornehmlich ei- nes: Handarbeit für eine Vielzahl an Mitarbeitenden. Ein Foto von WE- Abb. 2 Industrielle manuelle Mitarbeiterinnen, die an der Fertigung von Radaren beteiligt waren (vgl. Abb. 2), Fertigung von Radaren durch gab einen öffentlichen, dabei aber von den Bell Labs und WE gezielt stilisierten W E-Arbeiterinnen Einblick in diese exklusiven Arbeits-, Produktions- und Testumgebungen: Die Verwendung deutlicher Fluchtlinien verleihen dem fotografierten Produktions- raum den Eindruck von Ordnung. Es ist davon auszugehen, dass durch die deut- lichen Konturen in der Bildsprache auch die Produktionspraxis als wohlstruktu- riert konturiert werden sollte. Ob bzw. in welchem Ausmaß das Foto inszeniert wurde und ob die Mitarbeiterinnen mit ihrer Ablichtung einverstanden waren, ist nicht zu klären. Allein die verwendeten Röhren – pro Radargerät wurden zwischen 50 und 250 Röhren verbaut – wurden während der Produktion mehrfach getestet: So wurde jede gefertigte Röhre auf ihre Funktionalität geprüft. Stichproben ei- nes jeden Typs wurden zudem darauf getestet, ob die Qualitätsstandards der Produktionsreihe eingehalten wurden. Zusätzlich wurden einige Röhren e iner jeden Baureihe Schock- und Temperaturtests unterzogen. Denn bereits ein defektes Bauteil hätte mitunter ein ganzes Radargerät betriebsuntauglich gemacht, wie von Seiten der Bell Labs betont wurde: By all these tests the important electrical properties of the tube are under constant scrutiny and the danger of shipping defective tubes is minimized. The importance of adequate testing can hardly be over-emphasized, as a defective TR [transmit–receive] tube may render a whole radar system inoperative.23 23 Members of the Technical Staff of Bell Telephone Laboratories Bruno Latour bescheinigte bekanntermaßen dem Overheadprojektor nicht nur, (Hg.): RADAR Systems and Compo- nents, Toronto u. a. 1949, 352. erst im Moment seines Defekts sichtbar zu werden, sondern dabei seine Gestalt 24 Bruno Latour: Ein Kollektiv von zu wandeln, insofern sich das Gerät bei seiner Öffnung als Assemblage diverser Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Auf dem Weg durch Dädalus’ Einzelteile offenbare – als ein «Gewimmel von Einzelteilen».24 Aus der hier ein- Labyrinth, in: ders.: Die Hoffnung genommenen Perspektive einer historischen Produktionsstudie gilt es, neben der Pandora, Frankfurt / M. 2002, 211 – 264, hier 224. der Frage, wann Medien ihre phänomenologische Gestalt ändern – «Erst die 78 ZfM 29, 2/2023 MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE Krise macht uns die Existenz des Gerätes wieder bewußt», schrieb Latour 25 – ebenso danach zu fragen, für wen Medien wann wie erschei- nen. Radare waren aus Perspektive ihrer Produzent*innen fortwährend ein solches ‹Gewimmel›, das es zu testen, zu organisieren und zu ver- schalten galt, und zwar nicht erst in Krisensituationen, sondern als Teil des routinisierten Arbeitsalltags. Insofern schon eine defekte Kom- ponente das ganze Radargerät un- brauchbar machen konnte, bestand auf modularer Ebene der Elektro- technik die von der Akteur-Netzwerk-Theorie betonte Handlungsmacht der Abb. 3 Radar-Testraum von W E Dinge hier insbesondere in der Macht zu stören. Ihr konsequentes Testen er- nahe Chicago, Innenansicht wies sich als Eindämmung ihres Störungspotenzials. Der Faktor Zeit war dabei in mehrfacher Weise kritisch. Dies galt etwa im Hinblick auf Produktionszeiten, insofern sich die Radarforschung während der Kriegsjahre so rapide entwickelte, dass es nicht das eine ideale Radar gab, son- dern eine Vielzahl variierender Ausfertigungen, die sich jeweils nach dem aktu- ellen Stand der verwendeten Frequenzen und Wellenlängen zu richten hatte. Zwischen 1940 und 1945 wurden allein in den Bell Laboratories über 200 ver- schiedene Radar-Prototypen entwickelt und konstruiert. Dabei sah sich die Radarproduktion immer mit dem Problem konfrontiert, dass aufgrund des extremen Forschungstempos ein aktuell getesteter Prototyp schon während sei- ner Testphase aus technischem Blickwinkel wieder als veraltet erscheinen konn- te.26 In der Konsequenz wurden Prototypen und ihr Testgerät parallel entwickelt. Die Entwicklung neuen Testgeräts war daher essenziell, weil sie die industrielle Produktion neuer Radare in den Fabriken beschleunigte.27 Tests beschränkten sich in den Fabriken nicht auf einzelne Bauteile, sondern betrafen ebenso zusammengesetzte Module. Schließlich wurde das zusammen- gebaute Gerät wiederholt getestet, wie ein historisch-fotografischer Blick in den final test room des ASH-Radars von WE zeigt (Abb. 3). Dabei wurde das zu- sammengebaute technische Objekt auf seine Funktionalität hin überprüft: aus dem Testraum heraus (in der Abbildung rechts) wurde die Stadtlandschaft von Chicago per Radar detektiert (vgl. Abb. 4, Außenansicht des Testraums mit den 25 Ebd., 233. Radoms, d. h. den Radarkuppeln). Emblematisch zeigen die Fotografien das 26 Kelly: Radar and Bell Labora- Testen als professionalisierte Praxis menschlicher Akteur*innen, die fest in de- tories, 251. 27 Vgl. F. P. Wight: Production ren Arbeitsalltag verankert war. Wie im Falle der vorigen Abbildungen weisen of Airplane Radar Speeded by New die Fotografien bildsprachlich deutliche Fluchtlinien auf, die der Testumgebung Testing Technique, in: Bell Labo- ratories Record, Bd. 24, Nr. 9, 1946, wohl den Eindruck von Ordnung verleihen sollten. Darüber hinaus artikuliert 330 – 334. SCHWERPUNKT 79 CHRISTOPH BORBACH sich in ihnen der epistemische Ge- halt des Testens als Praxis: Erst in dieser Testumgebung wurde nach erfolgreicher Detektion von Refe- renzobjekten das technische Objekt zum funktionalen Radar erklärt. Der erfolgreiche Test transformier- te ein zusammengebautes ‹Gewim- mel› technischer Komponenten in ein Medium. Bereits im historischen Kontext wurde dieser epistemische Wert des fortwährenden Testens explizit. Denn ein Radar, so kom- mentierte der bereits zitierte Lack, «remains an inert mass of parts until Abb. 4 Außenansicht des its various circuits have been carefully combed by ingenious test sets and subject- Testraums ed to the scrutiny of the expert testers who operate them».28 Hier, am Ende der Ko-Operationskette der Fabrikation, hatte sich qua Test zu beweisen, ob über- haupt produziert worden war, was produziert werden sollte. Mit Lawrence Busch gesprochen galt die Maxime: «[T]ests and testing apparatus [...] determine ‹what counts›»29 – Tests bestimmten, was als Medium zählte. Um technische Radarkomponenten in der im Krieg erforderlichen Größen- ordnung verschalten und testen zu können, war bei WE eine enorme Vergrö- ßerung der Belegschaft notwendig. Da Produzieren und Testen seinerzeit an manuelle Fertigkeiten gekoppelt waren, bedeutete eine Steigerung der Produk- tion eine entsprechende Steigerung des Personals. 1940 verfügte WE über circa 43.500 Mitarbeitende. Im August 1944 waren es annähernd 97.500, von denen 60 Prozent Frauen waren – zum Vergleich: Im Jahr 1941 lag der Anteil von Mitarbeiterinnen bei WE bei 20 Prozent.30 Ohne eine massive Neueinstellung weiblicher Arbeitskräfte in der Radarproduktion und -testung wäre das Radar als US-amerikanisches Massenmedium nicht realisierbar gewesen. Testen III – im Feld Nach der Produktion war das Testen des Radargeräts keinesfalls abgeschlossen. Testen als Praxis gestaltete sich rekursiv oder zumindest iterativ aus; so wurde 28 Lack: Radar and Western das Medium auch im Einsatz fortwährend Testsituationen ausgesetzt. Wie be- Electric, 292. reits eingangs erwähnt, galt es beispielsweise wiederholt zu überprüfen, ob die 29 Lawrence Busch: Standards. Recipes for Reality, Cambridge (MA), Ortungsradien von Radaren etwaig eingeschränkt waren, wofür menschliche London 2011, 12. Sinne allein nicht ausreichend waren. Dieser Test war Angelegenheit einer elek- 30 Vgl. Lack: Radar and Western Electric, 290. trotechnisch verfassten Praxis mit der in den Bell Labs entwickelten echo box zur 31 Green u. a.: Techniques Testung des Zentimeterwellen-Radars. Derartige Echoboxen simulierten Radar- and Facilities for Microwave Radar Testing, 458. ortungen, womit die «performance» des gesamten Radars getestet wurde.31 80 ZfM 29, 2/2023 MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE Was die Echoboxen programmatisch illustrieren, ist die zugrunde liegende notwendige Formalisierung dessen, was ein Radartest eigentlich testet. Bereits Alfred Binets (1857 – 1911) und Théodore Simons (1873 – 1961) epistemische Leistung in der Begründung der modernen Psychometrie und Entwicklung originärer Intelligenztests lag zuvorderst in der Formalisierung dessen, was diese Tests eigentlich messen sollten, und was mithin als ‹intelligent› gelten durfte. Damit Intelligenz die «Form eines stabilen, zunehmend wichtigeren Referenzobjekts» annehmen konnte,32 entwickelten Binet und Simon media- les Testmaterial wie Lückentexte, zu erinnernde Bilder sowie Fragebögen, die psychische Leistungen ‹Minderbegabter› in vermeintlich objektivierbare Da- ten überführten, um diese zu klassifizieren.33 Ähnlich verhielt es sich bei den Echoboxen: Da die Funktionalität eines Radars im Feld nicht sinnlich geprüft werden konnte, mussten Beobachtungsmedien zweiter Ordnung technische Funktionalität erst quantifizieren, d. h. in eine messbare Größe überführen, die dann letztlich – wie das Ergebnis eines Intelligenztests – sichtbar war. Die Echoboxen illustrieren zudem eine größere Notwendigkeit: T estgeräte mussten ebenso schnell entwickelt und produziert werden, wie die Radar- forschung auf stetig kürzere Wellenlängen wechselte. Damit bedingten sich R adarentwicklung und die Entwicklung adäquater Tests gegenseitig, wie von Seiten der Bell Labs attestiert wurde: Radar test-set technology had to be kept in step with the rapidly moving radar sys- tems development. This could only be done by a most intimate association of test-set development with systems development. The pattern of the test-set work became substantially the same as that for the systems themselves.34 Test sets, obgleich selbst nicht Bauelemente des Mediums, wurden zur Notwen- digkeit, die Funktionalität des Mediums in der Praxis zu gewährleisten. Testge- räte wurden zu einem unverzichtbaren Teil der Infrastruktur des Mediums. Die Maxime in der Entwicklung von Testgeräten bei den Bell Labs lautete, dass diese dazu geeignet sein sollten, im Feld möglichst viele Radare unter verschiedenen Bedingungen zu testen. Als zentral definiert wurden broadbanding – die Entwick- lung von Testgerät für breite Frequenzbänder –, precision – das Testgerät zur Testung von Radarperformanz musste präziser arbeiten als die Radare selbst –, packaging-size and weight – die Transportabilität bei gleichzeitiger Robustheit 32 David Keller: Person und Form. musste gewährleistet sein –, environmental influences – größtmögliche Immunität Eine Medien- und Wissensgeschichte der gegen umweltliche Faktoren wie sehr hohe als auch sehr niedrige Temperaturen, Persönlichkeitsdiagnostik, Tübingen 2021, 285. starke Feuchtigkeit, Regen oder Sandstürme – und simplicity, reliability, accessibil- 33 Vgl. Alfred Binet, Théodore ity – bei aller erstrebten Exaktheit des Testgeräts sollte es mit einem Minimum Simon: Méthodes nouvelles pour le diagnostic du niveau intellectuel des an Spezialfertigkeiten bedient werden können und möglichst wartungsfrei sein.35 anormaux, in: L’Année Psychologique, Erschöpfend aufzuzählen, was beim Radar genau getestet wurde, würde an dieser Bd. 11, 1904, 191 – 244. 34 Kelly: Radar and Bell Labora- Stelle zu sehr in elektrotechnische Details führen. Wichtig festzuhalten ist, dass tories, 250 f. alles, was für Radargeräte galt, auch bei der Konstruktion und beim Bau seines 35 Vgl. Green u. a.: Techniques and Facilities for Microwave Radar Testgeräts berücksichtigt wurde – nur noch feinskalierter. Testing, 439 – 441. SCHWERPUNKT 81 CHRISTOPH BORBACH Bedeutsam an der Testung von Radargerät im Feld erscheinen mir zudem zwei Aspekte. Erstens folgten die Ingenieure der Bell Labs den Radargeräten ins Feld, um sie dort fortwährend zu testen und zu warten: «[They] went to the Tropics, to the Arctic, in planes to 20,000 feet altitude, to the sea in ships of many classes, and under its surface in submarines.»36 Denn obgleich die mög- lichst intuitive Bedienung von Testgerät eine Konstruktionsmaxime war, konnte diese nicht vollumfänglich realisiert werden, sodass professionalisierte Akteure diese vornehmen mussten. Zweitens wurden manche Radare ausschließlich ins Feld geschafft, um dort als Referenzobjekte zu dienen, da sie als Indikator der Auswirkung der verschiedenen Umwelten auf das technische Gerät fungierten. Es galt mithin zu prüfen, ob ein Radar «functions about the same in the tro- pics as it does in the States».37 Mit diesem Plädoyer für eine situierte Testpraxis wurde der Einsatz im Feld als erweitertes Labor interpretiert, da für die seiner- zeit neue Medientechnik keine Referenzdaten in Bezug auf Funktionalitäten in unterschiedlichen klimatischen Umgebungen vorlagen. Erst in der Praxis entschied sich demnach, ob sich im Radar eine neue Wahrnehmungstechnolo- gie materialisierte oder ob es ein Testgerät darstellte. Diese heterogenen Ope- rationsumgebungen der Medienpraxis transformierten die Testpraxis in einem rekursiven Prozess, da die heimischen Testlabore der Bell Labs auf die Umge- bungen der Praxis hin angepasst wurden – nach dem Praxistest. Testen IV – zurück ins Labor Es stellte sich heraus, dass die umweltlichen Einflüsse und die situierten Ver- wendungsweisen des technischen Geräts anfangs in den Testlaboren der Bell Labs nicht antizipiert wurden, oder wie der Forschungsleiter Kelly anmerkte: «It soon became evident that knowledge of user requirements was inadequa- te.»38 Das technische Gerät verhielt sich auf einer tropischen Pazifikinsel mit hoher Luftfeuchtigkeit anders als in der Kälte der Arktis oder beim niedrigen Luftdruck in einer Flughöhe von 20.000 Fuß. Waren die Labore der frühen Ra- darindustrie der Umwelt gegenüber tendenziell abgegrenzte, autarke Räume, galt es nunmehr, die Operationsumgebungen der Radarpraxis in die L abore zu holen, d. h. diese dort zu simulieren. So wurde in einem Labor der Bell Labs ein Raum zur Erzeugung unter- schiedlichster Temperaturen, «ranging from the bitter cold of polar nights to the humid swelter of the jungle», eingerichtet.39 In dieser weather box konnte 36 Kelly: Radar and Bell Labora- tories, 249. das Verhalten von Radargeräten in unterschiedlichen Klimazonen getestet wer- 37 O. A.: Blow Hot – Blow Cold. den – ohne diese Umgebungen tatsächlich besuchen zu müssen. Die Praxis- The M-9 never failed, in: Bell Laboratories Record, Bd. 24, Nr. 12, räume des Radars unterschieden sich allerdings nicht nur klimatisch, sondern 1946, 454 – 456, hier 455. auch hinsichtlich weiterer Umgebungsfaktoren. Waren stationäre Bodenradare 38 Kelly: Radar and Bell Labora- tories, 249. nur bedingt Erschütterungen ausgesetzt, erwies sich auf den Meeren das Ver- 39 O. A.: Radar: A Story in halten des Wassers als kritische ökologische Bedingung, da starker Wellengang Pictures, in: Bell Telephone Magazine, Bd. 24, 1945/46, 257 – 282, hier 262. Defekte in Schiffsradaren verursachen konnte. Folgerichtig wurden von den 82 ZfM 29, 2/2023 MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE Bell Labs Testapparaturen entwi- ckelt, die die Auswirkungen eines mitunter enorm schwankenden Bodens auf Radargeräte evaluier- ten – im trockenen Umfeld eines Labors (vgl. Abb. 5). In den Medienlaboren der US- amerikanischen Industrieforschung, so hält Nadine Taha fest, herrschte ein Arbeitsalltag «wie jeder ande- re»: Das Entstehen neuer techni- scher Mittel war nicht nur an fort- laufende Zweckentfremdungen und Adaptionen gekoppelt, sondern zeichnete sich durch konsequentes Improvisieren aus.40 Bezeichnend dabei ist, dass dementsprechend selbst improvisierte Innovationen von «firmen- Abb. 5 Eine testing machine internen PR-Abteilungen beharrlich als Pionierleistung vermarktet» wurden.41 simuliert den Hochsee-Einsatz eines Radars im trockenen Labor In höchstem Maße gilt dies etwa für die Fotografie der abenteuerlich anmuten- den Testumgebung zur Simulation des Radareinsatzes auf hoher See: Obgleich sperrig und wie ein Provisorium anmutend, wurde der Hochseetest im trocke- nen Labor im Bell Telephone Magazine als Novum stilisiert. Denn der Praxistest, der zuvor in der Arktis, in den Tropen, in der Luft, auf oder unter dem Wasser stattfand, konnte nunmehr in heimischen Laboren simuliert werden. Vor dem Hintergrund der hier rekonstruierten Rolle von Tests im Kon- text der Radarproduktion bei WE und in den Bell Labs in der ersten Hälfte der 1940er Jahre ist es mehr als eine medienhistorische Fußnote, dass ein frü- 40 Nadine Taha: Im Medienlabor her, wenn nicht der erste explizit so genannte digital computer als Testequip- der US-amerikanischen Industrie- forschung. Die gemeinsamen Wurzeln ment praktisch eingesetzt wurde. Denn bemerkenswert am von George Robert von Massenmedien und Bürokratie Stibitz entwickelten relay interpolator 42 war, dass das Testen genuiner Zweck des 1870 – 1950, Bielefeld 2022, 8. 41 Ebd., 9. Computers war.43 Der zuvor bei den Bell Labs angestellte Ingenieur Stibitz 42 Das Gerät stellte als Modell II wurde zum Beginn des Zweiten Weltkriegs an das National Defense Research eine Verbesserung seines bereits ab 1937 konstruierten complex number Committee (NDRC) verliehen. Dort wurde das – auf Vorschlag von u. a. Kelly calculator dar. von den Bell Labs realisierte – automatisierte Feuerleitsystem M-9 getestet. 43 Es mag daher kaum erstaunen, dass die Sensibilität gegenüber Zu prüfen war, ob das radargestützte M-9 tatsächlich automatisch so funktio- Testungen Stibitz dazu beweg- nierte, als ob ihm manuell Daten eingegeben würden. Hierfür gab es dynamic ten, ein eigenes Instrument zum Test der Relais des Computers testers, die allerdings auf eine Vielzahl von Daten angewiesen waren, die der einzureichen, vgl. George Robert Berechnung bedurften: Sie bestanden aus einer Serie von Punkten der Flugkur- Stibitz: Relay Testing System, US-Patent-Nr. 2.369.619, eingereicht ve eines fiktiven anfliegenden Objekts. Das Testgerät benötigte über 20 dieser am 7.5.1942, veröffentlicht am Punkte pro simulierter Sekunde, die es auf Papier zu codieren galt. Um ein 13.2.1945. 44 George Robert Stibitz: The neues M-9 hinreichend zu testen, waren rund 60 mehrminütige Flugbahnen Relay Computers at Bell Labs. Part notwendig, oder anders formuliert: «The testing of anti-aircraft equipment Two: Those were the Machines, in: Datamation, Mai 1967, 45 – 49, demanded enormous amounts of computation»,44 nämlich über 1.000.000 auf hier 47. SCHWERPUNKT 83 CHRISTOPH BORBACH Lochstreifen zu codierende Punkte.45 Hier wurde Stibitz’ im September 1943 in Betrieb genommener digital computer relevant: Wurden nur einige Punkte der simulierten Flugbahn kalkuliert, berechnete (bzw. interpolierte) der Com- puter die restlichen dazwischenliegenden Punkte.46 Durch eine Reihe von Memoranden über den relay interpolator popula- risierte Stibitz den Begriff des Digitalcomputers und die Opposition digi- tal / analog 1943 am NDRC. Nicht nur begriffsgeschichtlich besonders ist, dass Stibitz in diesem Kontext bereits in einem Memorandum von 1942 den digital computer – in Abgrenzung von der damals üblichen Bezeichnung pulse computer 47 – derart theoretisierte, dass er eine prototypische Medientheorie des Digitalen antizipierte, die ex negativo, in Abgrenzung vom Analogen, argu- mentierte. Stibitz formalisierte das Digitale bereits als binär und konzipierte als ‹digital› insbesondere die Art der Datenverarbeitung, basierend auf number trains.48 Mag es nicht erstaunen, dass das Testen im historischen Kontext dieses Beitrags neben der Verwendung elektrotechnischen Geräts genuin an händi- sche Fertigkeiten gekoppelt war, deutet sich hier eine tendenzielle Delegation des Testens an Agenten in silico an. Fazit – Test bestanden Mit Software-spezifischen Begriffen gesprochen fanden während der Radar- 45 Vgl. David A. Mindell: Between produktion ‹Modul-› bzw. ‹Komponententests› statt – die Testung der Einzel- Human and Machine. Feedback, Control, and Computing Before Cybernetics, teile – sowie anschließend ‹Systemtests› in den Operationsräumen der Radar- Baltimore, London 2002, 302. geräte, die als erweiterte Testumgebung interpretiert wurden. Anders als beim 46 Ausführlicher zur technischen Formalisierung des Rechnens des Testen von Software manifestierten sich die Ökologien der Praxis rekursiv in Computers vgl. O. Cesareo: The neuen Apparaturen der Testung: Die im Feld identifizierten Widerstände ver- R elay Interpolator, in: Bell Labora- tories Record, Bd. 24, Nr. 12, 1946, langten nach einer Anpassung von Labortests, um die Bedingungen des Feldes 457 – 460. zu simulieren. 47 Vgl. Paul E. Ceruzzi: Electronic Calculators, in: William Aspray Komponenten- und Gerätetests als Teil von Qualitätskontrollen kamen (Hg.): Computing Before Computers, nicht erst im Zweiten Weltkrieg auf, weder in den Bell Labs noch den USA Ames 1990, 223 – 249, hier 247. 48 Vgl. Robert Dennhardt: Die allgemein.49 Dass die Zeitgenoss*innen mit Blick auf das Radar «the importance Flipflop-Legende und das Digitale, of testing»50 deutlich konturierten, ist dennoch kein Zufall. Was der seinerzeit Berlin 2009, 152 – 158. Vertiefend zu Stibitz’ Arbeiten und seiner Termino- neuen Medientechnik erst institutionelle, technologische und produktionel- logie vgl. Ronald R. Kline: Inventing le Stabilität verlieh, waren konsequente Tests: Tests neuer Prototypen, immer an Analog Past and a Digital Future, in: Thomas Haigh (Hg.): Exploring the neuer Standards, neuer Module, neuer Wellenlängen, fortwährende Tests neu- Early Digital, Cham 2019, 19 – 39. er Radare während und nach ihrer Produktion und vor allem Tests der Labor- 49 Vgl. S. B. Littauer: The Develop- ment of Statistical Quality Control tests selbst. All dieses Testen erwies sich als notwendig, damit sich die noch in the United States, in: The American junge und daher im steten Wandel befindliche Massenproduktion von Radaren Statistician, Bd. 4, Nr. 5, 1950, 14 – 20; Paul J. Miranti: Corporate Learning konsolidieren konnte. and Quality Control at the Bell Interessant am Verhältnis von Umgebungen und Tests ist aus einer medien- System, 1877 – 1929, in: The Business History Review, Bd. 79, Nr. 1, 2005, epistemologischen Perspektive zudem, dass die Radarproduktion selbst eine 39 – 72. praktizierte, ko-operative Testumgebung darstellte: namentlich für die erfolg- 50 Lack: Radar and Western Electric, 292. reiche Stabilisierung originär provisorischer Ko-Operationen zur massenweisen 84 ZfM 29, 2/2023 MEDIEN- ALS TESTGESCHICHTE Produktion von technischem Gerät. Primäres Anliegen der Prozesslogiken der Testung war selbstredend die Verfertigung funktionaler Radare. Die damit ver- bundene Infrastruktur prägte darüber hinaus industrielle Arbeitsumgebungen mit den für diese notwendigen institutionellen Kooperationen, logistischen Liefer- und kapitalistischen Wertschöpfungsketten aus, die Anfang der 1940er Jahre einer Orchestrierung nahezu chaotischer Zustände geglichen haben muss – sich aber durch konsequentes, iteratives und rekursives Testen stabili- sieren konnte. Dadurch etablierte sich eine in ihrer Qualität und ihrem Um- fang so neuartige Medienproduktion, dass diese einen Paradigmenwechsel nach sich zog: Die Radarindustrie wurde zum Modell für strukturell erfolgreiche «coordination and cooperation»51 in der Herstellung ungeheurer Mengen an elektrotechnischem Gerät. Das Radar evozierte mithin nicht nur eine Elektro- technisierung der Kriegsführung, sondern zudem eine massive Steigerung der elektrotechnischen Produktion insgesamt – und stellt damit eine wesentliche strukturelle Grundlage für die Herstellung elektrotechnischer Geräte dar, die in den darauffolgenden Jahrzehnten auch für die Produktion anderer techni- scher Medien genutzt werden konnte. Institutionelles Umfeld waren schließlich die Bell Labs, d. h. dasjenige Unternehmen, das bereits in den 1940er Jahren Grundlagenforschung zur Pulse-Code-Modulation in der Telefonie oder zum Transistor betrieb. Die Radarproduktion hatte damit auch jenseits der konkre- ten Radartechnologien einen essenziellen Effekt auf spätere Medienkulturen. Damit sollte sich eine bereits 1945 geäußerte Vision realisieren: 51 Kelly: Radar and Bell Labora- The biggest influence radar will have after the war is indirect. […] [R]adar has made tories, 254. the electronic industry one of America’s major ones, now comparable in size to the 52 Joint Board on Scientific Information Policy (Hg.): Radar. A prewar automobile industry. This new industry, through its enormous laboratories, Report on Science at War, Washington can be expected to find innumerable applications in a wide variety of fields.52 1945, 50. — SCHWERPUNKT 85 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150209. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. Ein Gespräch zwischen N O O RT J E M A R R E S und P H I L I P P E S O R M A N I KI TESTEN — «Do we have a situation?» Dieses Gespräch basiert auf einem Austausch zwischen Noortje Marres (Univer- sity of Warwick) und Philippe Sormani (Universität Lausanne), der sich aktuellen 1 Vgl. Yann LeCun, Yoshua Bengio, Geoffrey Hinton: Deep learning, Fällen von realweltlichen KI-Tests und den Situationen widmet, die sich daraus in: Nature, Bd. 521, 2015, 436 – 444, ergeben haben – oder auch nicht. Es fand am 25. Mai 2022 online im Rahmen der doi.org/10.1038/nature14539; Rishi Bommasani u. a.: On the opportuni- S iegener Ringvorlesung «Testing Infrastructures» statt. Die ZfM publiziert hier ties and risks of foundation models eine gekürzte Fassung, die den in Soziologie und Science and Technology Stu- (Report), arXiv.org, 16.8.2021, doi.org/10.48550/arXiv.2108.07258; dies (STS) geführten Diskurs erstmals auf Deutsch dokumentiert. Eine englische Jonathan Roberge, Michael Castelle: Langfassung ist als Working Paper des Sonderforschungsbereichs «Medien der Toward an End-to-End Sociology of 21st-Century Machine Learning, Kooperation» erschienen. in: dies.: The Cultural Life of Machine Learning. An Incursion into Critical AI — Studies, Cham 2021, 1 – 29. 2 Vgl. Artificial Intelligence and the Future, Podcast, 55 Min., mit Demis Hassabis, Strachey Lecture Einleitung 26.2.2016, Computer Science Series, Befürworter*innen der ‹neuen› KI, sowohl in der Informatik als auch in den Oxford University, podcasts.ox.ac. uk/artificial-intelligence-and-future Sozial- und Geisteswissenschaften, haben behauptet, dass die heutigen, sehr (30.11.2022). großen Deep-Learning-Modelle radikal neue Fähigkeiten zum kontextbezo- 3 Vgl. Philippe Sormani: Logic-in- Action? AlphaGo, Surprise Move 37 genen Beurteilen und Treffen von Entscheidungen entwickelt haben sowie ein and Interaction Analysis, in: Jean- Situationsbewusstsein aufweisen (vgl. Abb. 1 für eine spielerische Reflexion Yves Beziau, Arthur Buchsbaum, Christophe Rey (Hg.): Handbook of dieser Behauptung). Dieses Argument wird in hochkarätigen Veröffentlichun- the 6th World Congress and School on gen, Konferenzberichten und arXiv-Papers angeführt,1 aber auch nahegelegt Universal Logic, Cham 2016, 355 – 357, 355; Michael Mair u. a.: Just what durch Tests und Demonstrationen wie der Präsentation von DeepMind im are we doing when we’re describing Radcliffe Observatory in Oxford,2 AlphaGos Sieg im Four Seasons Hotel in AI? Harvey Sacks, the commentator machine, and the descriptive politics Seoul (Südkorea) 3 und Testversuchen mit selbstfahrenden Fahrzeugen in städ- of the new artificial intelligence, tischen Zentren wie Phoenix (Arizona) und Coventry im Vereinigten König- in: Qualitative Research, Bd. 21, Nr. 3, 2021, 341 – 359. reich.4 Solche öffentlichen Demonstrationen haben nicht nur eine bemerkens- 4 Vgl. Noortje Marres: Co– werte Rolle bei der Verbreitung der Behauptung gespielt, dass die ‹neue› KI existence or displacement. Do street trials of intelligent vehicles über situative Intelligenz verfügt, sondern auch bei der Problematisierung test society?, in: The British Journal solcher Behauptungen. Im Folgenden zeigen wir auf, wie sozial- und medien- of Sociology, Bd. 71, Nr. 3, 2020, 537 – 555. theoretische Studien zu KI-Tests sich mit Annahmen hinsichtlich situativer 86 ZfM 29, 2/2023 Intelligenz der ‹neuen› KI auseinan- dersetzen können und sollten. Unsere Diskussion ist entlang fol- gender Fragen gegliedert: Zunächst kehren wir zu einer klassischen Kri- tik zurück, die Soziolog*innen und Anthropolog*innen an KI geäußert haben, nämlich zu der Behauptung, dass die der KI-Entwicklung zugrun- de liegende Ontologie und Episte- mologie rationalistisch und indivi- dualistisch ist – und als solche durch blinde Flecken bezüglich der sozia- len, situierten oder situativen Ein- bettung von KI gekennzeichnet ist.5 Wir fragen: Ist die Leistung und Bewertung maschineller Intelligenz in den Abb. 1 Tweet von Emily gegenwärtigen Fällen von KI-Tests in sogenannten realen Environments weiter- Bender: #A Ihype scavenger hunt, 13.9.2022, Screenshot hin durch ein solches ‹soziales Defizit› gekennzeichnet? Als Nächstes befassen wir uns mit der Frage, ob und wie Techniksoziologie und Medientheorie KI- Tests in realen Settings situativ erklären können. Hier knüpfen wir an die Arbei- ten des französischen Soziologen Louis Quéré an, indem wir uns mit der Frage beschäftigen: Was können wir aus den heutigen realen Tests von KI hinsichtlich der Verteilung von Kapazitäten (im Sinne handlungsermöglichender Ressour- 5 Lucy A. Suchman: Plans and cen und Affordanzen) zwischen Artefakten, Umgebungen und Kontext in re- Situated Actions. The Problem of Human-Machine Communication, chenintensiven Praktiken lernen? 6 Abschließend erörtern wir die Auswirkungen Cambridge (UK), 1987; Lucy A. auf unser methodologisches Engagement für die Situation in der soziotechni- Suchman: Human-Machine Reconfig- urations. Plans and Situated Actions, schen KI-Forschung: Ist es sinnvoll, sich bei der Respezifikation der maschinel- 2. Aufl., Cambridge u. a. (UK) 2007, len Intelligenz weiterhin auf die Beschreibung von Situationen zu verlassen? 7 doi.org/10.1017/CBO9780511808418; Susan Leigh Star: The Structure of Ill-Structured Problems. Boundary Objects and Heterogeneous Distrib- uted Problem Solving, in: Les Gasser, Frage 1 Michael H. Huhns (Hg.): Distributed Setzt die ‹neue› KI weiterhin auf die Ausklammerung von Situationen? Artificial Intelligence, London 1998, 37 – 54, doi.org/10.1016/B978-1-55860- Erfordert die Leistung und Bewertung der maschinellen Intelligenz 092-8.50006-X. w eiterhin das Übersehen von Situationen und die Ausklammerung von so- 6 Vgl. Louis Quéré: The still – ne- glected situation?, in: Réseaux. zialem Leben? Communication – Technologie – Société, Noortje Marres Um diese erste Frage zu erörtern, möchte ich mit einer beson- Bd. 6, Nr. 2, 1998, 223 – 253. 7 In dieses anfängliche Gespräch deren Herausforderung beginnen, die sich durch den Anstieg von lernbasierter, wurden Fragen und Kommentare datenintensiver KI stellt. Eine besondere Herausforderung aus der Perspektive aus dem Publikum eingestreut, die für die vorliegenden Zwecke der Wissenschafts- und Techniksoziologie sind meiner Meinung nach die rei- transkribiert wurden, einschließlich ßerischen Behauptungen, die in den letzten Jahren über die Fähigkeiten dieser einer abschließenden Reflexion über das Turn-Taking in (Online-) Systeme zu situativer Intelligenz und kontextuellem Lernen aufgestellt wurden. Kon versationen, und die sich in Hier ein Zitat des Informatikers Percy Liang aus seiner Einführung zu einem Gänze im vollständigen englischen Working Paper zu dieser Konversa- Workshop der Stanford University über sogenannte große foundation models: tion finden. SCHWERPUNKT 87 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI Foundation models […] are based on a decades old idea, self-supervised learning, meaning that, based on lots of raw data, you make up predictive exercises […] like weight training to develop the muscle for pattern recognition […]. Doing this at scale, results in the emergence of new capabilities, and one thing GPT can do is con- text learning, generalization to new tasks.8 In den 1980er und 1990er Jahren behaupteten die Science and Technology Studies (STS) sowie Forschungen über KI in diesem Bereich, dass Kontext und Situation genau das sind, was automatisierte Systeme nicht berücksichtigen können: Dies war die Kritik, die Lucy Suchman 9 und andere an älteren «expert systems» übten und die Suchman in Bezug auf die Robotik als «unreconstruct- ed form of realism in roboticists’ constitution of the ‹situation›» bezeichnete, selbst wenn «references to the situated nature of cognition and action have become ‹business as usual› within AI research».10 Heute hat es den Anschein, dass dieses Argument für KI aus mehreren Gründen nicht mehr ganz zutrifft. So wird die Idee, die ‹neue› KI sei zu situativer Intelligenz oder kontextuellem Lernen fähig, auch von STS-Wissenschaftler*innen aufgegriffen. Nehmen wir Harry Collins, der in seinem Buch Artifictional Intelligence argumentiert: The problem for AI is how it can develop social abilities, because this would require the full embedding of AI in language speaking social communities in society. The problem of AI is the problem of engagement with social context. AI engagement with the Internet has resolved this to some extent.11 Collins scheint wie Liang der Meinung zu sein, dass das Trainieren von C omputermodellen anhand großer Mengen von Daten aus dem Internet das Problem des sozialen Kontexts in der KI (zumindest teilweise) gelöst hat. Was ich jedoch in Bezug auf diese Art von Behauptungen hervorheben möchte, ist, wie unglaublich selektiv sowohl ein Soziologe wie Collins als 8 Videoaufzeichnung: Workshop auch ein Informatiker wie Liang in ihren Definitionen dessen sind, was als re- on Foundation Models: Welcome and Introduction, mit Percy Liang, levanter Kontext oder als relevante Situation für die KI gilt. Kontext scheint am Centre for Research on Founda- als das vorherige Auftreten einer bestimmten Äußerung oder Interaktion in tion Models (CRFM) der Stanford University, 23/24.08.2021, crfm.stan textlichen oder visuellen Daten definiert zu sein, wodurch die meisten der ford.edu/workshop.html (30.11.2022). Merkmale, die Soziolog*innen als entscheidende Attribute von Situationen an- 9 Vgl. Suchman: Plans and Situated Actions. sehen (Verkörperung, Materialität, Kopräsenz), ausgeschlossen werden. Dar- 10 Lucy A. Suchman: Feminist über hinaus scheint ihr Begriff des Kontexts diejenigen Arten von Situationen STS and the Sciences of the Artificial, in: Edward J. Hackett u. a. (Hg.): auszugrenzen, die durch die Einführung von KI in die Gesellschaft selbst her- The Handbook of Science and Technology vorgerufen werden. Dafür gibt es einige Beispiele, ebenso wie für das Fehl- Studies, 3. Aufl., Cambridge (MA) 2007, 139 – 164, hier 148f. schlagen von Prozessen des kontextuellen Lernens. Viele werden den Fall des 11 Harry Collins: Artifictional Intelli- rassistischen Online-Chatbots Tay kennen, der sich radikalisierte, nachdem er gence. Against Humanity’s Surrender to Computers, Cambridge 2018, 162. von der 4chan-Community trainiert wurde und uns das Schauspiel eines rassis- 12 Vgl. Sanjay Sharma, Phillip tischen Online-Chatkurses bescherte, woraufhin er umgelernt und schließlich Brooker: #notracist: Exploring rac- ism denial talk on Twitter, in: Jessie aufgelöst wurde.12 Daniels, Karen Gregory, Tressie Dieser Fall zeigt uns, dass es eine Menge Kontext gibt, der von der KI nicht McMillan Cottom (Hg.): Digital Soci- ologies, Bristol 2016, 463 – 485. berücksichtigt wird. Mehr noch, er deutet darauf hin, dass in der kontextuellen 88 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN Auseinandersetzung mit der KI eine Menge perverser Sozialisation stattfindet bzw. Sozialisation scheitert. Meines Erachtens ist die feministische Kritik an der Blindheit der Maschinen gegenüber der Welt so aktuell wie eh und je. In der Tat haben Soziolog*innen und die Sozialforschung im weiteren Sinne die Aufmerksamkeit auf diese Art von problematischen Wechselwirkungen zwi- schen Artefakt, Environment und Kontext gelenkt, wie etwa bei der perversen Sozialisation von Tay. Sie haben gezeigt, wie toxische Online-Umgebungen, die das akzeptierte soziale Umfeld für das Training großer Sprachmodelle zu sein scheinen,13 monströse Formen der KI mitproduzieren. Sie haben auch ge- zeigt, wie die Inszenierung einer öffentlichen Situation mit einem rassistischen Chatbot durch Microsoft zur Verwirklichung dieser Perversion beigetragen hat,14 eine ‹schlechte› Situation, die aus der kontextuellen Blindheit der KI- Entwickler*innen resultierte. Was sich aus diesen Studien jedoch leider noch nicht als Erkenntnis ergeben hat: Diese Fälle von perverser Sozialisation stellen eine Herausforderung für die akzeptierten Definitionen dessen dar, was in der Informatik als k ontextuelles Lernen von KI gilt. Statt eines kritischen Verständnisses der methodischen und konzeptionellen Herausforderungen, die sich ergeben, wenn Computersysteme im sozialen Leben und als soziales Leben operieren, sehen wir oft, dass diese Art von Fällen wie des rassistischen Chatbots als ethische Probleme gerahmt wer- den. Dies hat zur Folge, dass die gesamte situative Logik, wie ein Bot rassistisch wird, außerhalb des erkenntnistheoretischen Rahmens der KI-Entwicklung und -Forschung liegt. Situative KI, wie sie ein*e Soziolog*in verstehen wür- de, d. h. KI-Systeme, die in sozialen Situationen agieren, findet daher in der KI-Entwicklung und -Forschung immer noch relativ wenig Beachtung. Und deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften weiterhin darauf bestehen, dass situative Handlungen von KI methodische und konzeptionelle Probleme mit KI aufzeigen können. Ich möchte noch ein weiteres Zitat anführen, um zu zeigen, wie leicht die 13 Vgl. Emily M. Bender u. a.: ‹Löschung› der situativen Logik in der KI-Entwicklung und -Forschung ge- On the Dangers of Stochastic Parrots: Can Language Models schehen kann. Es stammt aus einem Experteninterview, das ich vor Kurzem mit Be Too Big?, in: FAccT ’21: Pro- einem Ingenieur für vernetzte autonome Fahrzeuge geführt habe. Ich fragte ceedings of the 2021 ACM conference on Fairness, Accountability, and ihn nach der Komplexität der Situationen, denen automatisierte Fahrzeuge auf Transparency, 1.3.2021, 610 – 623, der Straße begegnen. Seine Antwort war: doi.org/10.1145/3442188.3445922. 14 Vgl. Gina Neff, Peter Nagy: Talking to bots: Symbiotic agency We believe quite strongly that the complexity in driving on the roads, is not in ob- and the case of Tay, in: International serving where the road ends and the pedestrian crossing starts and where the traffic Journal of Communication, Bd. 10, 2016, 4915 – 4931. lights are, these static tasks of identification have been solved for a long, long time 15 Dieses Zitat stammt aus actually. The real challenge is modeling the behavior of other so called agents, be- einem Expert*inneninterview vom cause they’re not necessarily totally rational or perfect or identical.15 28. Mai 2022, einem von zwölf Inter- views mit britischen Expert*innen für vernetzte und automatisierte Es mag also den Anschein haben, dass die Art von Interaktionen, die in situ Fahrzeuge (Connected and Automat- auftreten, bei der Entwicklung von automatisierten Fahrzeugsystemen berück- ed Vehicles, CAV), die ich [Noortje Marres] zwischen 2022 und 2023 sichtigt werden. Der Ingenieur erklärte dann aber, dass diese Situationen durch geführt habe. SCHWERPUNKT 89 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI die Festlegung der statistischen Eigenschaften der Regelbefolgung vollzogen werden können (can be dealt with). Er fuhr fort: [T]hey still do follow rules, rules of the road, but probably more fundamentally sta- tistical properties, based on experience. And the way we learn these rules is through ... as children or as young adults … is observing the patterns of how vehicles move. And what we are implicitly learning is physics.16 Seiner Ansicht nach sind die statistischen Modelle in den Gehirnen von Indivi- duen der eigentliche Gegenstand dessen, was ein intelligentes System simulie- ren muss, um eine Situation auf der Straße erfolgreich zu navigieren. Dass eine Situation erst durch die Interaktion zwischen Akteur*innen vor Ort zustande kommt – diese Tatsache wird ausgeklammert. Ich denke also, dass wir weiter darauf bestehen müssen und in Erinnerung rufen sollten, dass Situationen in- teraktiv und kontextabhängig vollzogen werden; wofür meiner Meinung nach Kontingenzen da sind. Philippe wird dazu noch mehr sagen. Philippe Sormani Genau, aber um zunächst auf die erste Frage einzugehen, die wir uns für heute gestellt haben, möchte ich mit zwei konzeptionellen Bemer- kungen beginnen und dann einige empirische Beispiele vorstellen, an denen ich in den letzten Jahren gearbeitet habe. Zunächst einmal finde ich den Begriff maschinelle Intelligenz nach wie vor in- teressant, denn er erinnert einerseits an die gemeinsame Grundlage von dem, was oft als KI oder ‹gute altmodische KI› (good old-fashioned AI) diskutiert wird – also Top-down-Programmierung, regelbasiert –, und andererseits an aktuelle Formen des maschinellen Lernens und insbesondere des Deep Learnings, bei dem Mus- ter in großen Datensätzen erkannt und auf dieser Grundlage Vorhersagen und Wahrscheinlichkeiten berechnet werden. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit, und der Begriff maschinelle Intelligenz fasst dies recht gut zusammen – ein wirklicher Eisberg verborgener Grundannahmen, sodass man regelbasiertes Verhalten bei- spielsweise auf ‹Code› reduzieren kann (was auf Alan Turing zurückgeht, eben- so wie der Begriff der maschinellen Intelligenz). D ominique Cardon u. a. weisen darauf hin, dass aktuelle Formen des maschinellen Lernens oft in Begriffen der 16 Ebd. KI angepriesen und beworben werden, ungeachtet ihres forschungspolitischen 17 Vgl. Dominique Cardon, Zwecks Mitte der 1950er Jahre, und zwar um maschinelles Lernen als brauch- Jean-Philippe Cointet, Antoine Mazières: La revanche des neurones. baren Forschungszweig in diesem Bereich zurückzustufen.17 Die sich daraus er- L’invention des machines inductives gebende Kontroverse wirft jedoch die Frage nach den Gemeinsamkeiten – den et la controverse de l’intelligence artificielle, in: Réseaux. Communication, Gemeinsamkeiten zwischen sogenannter ‹symbolischer KI› und maschinellem Technologie, Société, Bd. 5, Nr. 211, Lernen – auf und danach, wie diese kunstvoll eingesetzt werden – z. B. in und als 2018, 173 – 220, doi.org/10.3917/ res.211.0173. Teil einer Demonstration von Technologie.18 18 Vgl. z. B. Philippe S ormani: Die Frage «Erfordert die Leistung und Bewertung der maschinellen Intel- R emaking Intelligence? Of M achines, Media, and Montage, in: ligenz weiterhin die ‹Löschung› von Situationen und die Ausklammerung von Tecnoscienza. Italian Journal of Science sozialem Leben?» würde ich dahingehend näher bestimmen, dass ich sie nicht and Technology Studies, Bd. 13, Nr. 2, 2022, 57 – 85. nur als Ja / Nein-Frage formuliere, sondern so umformuliere, dass sie die Frage 90 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN nach dem Wie und Warum der De- monstration und Bewertung von maschineller Intelligenz einschließt. Wie und warum klammern Techno- logiedemonstrationen und -bewer- tungen oftmals das, was in der Frage als Situationen und soziales Leben identifiziert wird, aus? 19 Was die empirischen Beispiele angeht, so konzentriere ich mich derzeit auf edtech in interaction und darauf, wie seit langem bestehende Vorstellungen von m aschineller Intelligenz in die Auseinandersetzung der Teilnehmer*innen mit edtech im Abb. 2 AlphaGo-Exhibition- Klassenzimmer einfließen (edtech steht für Bildungstechnologie, in der Regel Match, Aja Huang (links), gegenüber Lee Sedol (rechts), aus digital). Abgesehen davon war ich vor fünf Jahren nicht der Einzige, der die dem Dokumentarfilm AlphaGo Aufregung um die ‹neue› KI bemerkte, unter anderem weil sie deep (machine) (Regie: Greg Kohs, USA 2017), Orig. i. Farbe learning als KI anpries. Die Fälle, an denen ich zu arbeiten begann, waren zu- nächst öffentliche Demonstrationen von Technologien mit dem Etikett KI, wie z. B. das AlphaGo-Exhibition-Match im Jahr 2016, bevor ich Videomaterial von Testfahrten (mit SmartShuttles) und nun edtech in pädagogischen Experi- menten (mit verschiedenen Bildungsrobotern) untersuchte. Bevor ich in jedem Fall auf die Frage nach dem Warum zurückkomme, möchte ich kurz auf die Frage nach dem Wie eingehen: Als öffentliche Demonstration eines hochentwickelten KI-Systems wurde im März 2016 das AlphaGo-Exhibition-Match aus Seoul übertragen, bei dem das System gegen Lee Sedol, den damaligen südkoreanischen Go-Champion, antrat. Wie wurde das AlphaGo-Exhibition-Match zunächst als ‹Symmetrie- Spektakel› zwischen AlphaGo und Lee Sedol inszeniert (vgl. Abb. 2)? Zwei- tens interessierte ich mich für SmartShuttle-Testfahrten, ein I nteresse, das ich zusammen mit Jakub Mlynář weiterverfolgt habe. Auf der PostBus-Website wurde der SmartShuttle als «first intelligent bus in the world» vorgestellt.20 Da- her wieder die Frage: Wie wurden die Straßen – der Bus, andere Fahrzeuge, 19 Natürlich könnte unsere zweite Fußgänger*innen usw. – so installiert und inszeniert, dass der Bus als intelligent Frage auch ähnlich umformuliert werden: Wie und warum ist die reale erscheinen konnte? Und für die ‹Mars-Mission› als Klassenexperiment, mit der Welt heute so beschaffen, dass KI- ich mich kürzlich befasst habe: Wie wurde sie inszeniert, sodass Schüler*innen Tests in ihrem Rahmen stattfinden können, ohne dass eine ‹problemati- im Klassenzimmer die Möglichkeit hatten, jeden Roboter von der Erde aus sche› Situation – ein Notfall, ein Zwi- zu steuern? Ich werde später auf einige der technischen Einzelheiten zurück- schenfall oder ein Unfall – entsteht, sondern dass stattdessen ein Gefühl kommen. In der Zwischenzeit wollen wir uns damit befassen, inwiefern die er- der Normalität, eine alltägliche wähnten Demonstrationen von Technologie Situationen des sozialen Lebens Szene, erhalten bleibt? 20 Artikel auf dem Unternehmens- ausklammern oder sogar ‹löschen›. blog der PostBus Ltd.: Autonomous Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, genauer zu betrachten, wie Kon- driving, ohne Datum, postauto. ch/en/about-us-and-news/innovation/ tingenzen gehandhabt werden und wie, als Konsequenz dieser Handhabung, die autonomous-driving (16.5.2023). SCHWERPUNKT 91 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI eine oder andere Version von maschineller Intelligenz in Erscheinung tritt, ähn- lich wie bei der Spezifizierung von reflexiv-konstitutivem Experimentieren im Labor – also wie bei der «work of making an experiment work».21 Einen Aus- gangspunkt bietet eine Differenzierung, die Harold Garfinkel getroffen hat: die vorläufige Unterscheidung dessen, was er einerseits als «standing contingencies» und andererseits als «local contingencies» benennt.22 Wir könnten erstere als «manifestly standing contingencies» bezeichnen, die an eine bestimmte Praxis gebunden sind – sagen wir, ein Go-Exhibition-Match –, im Unterschied zu den lokal produzierten Kontingenzen,23 also Kontingenzen, die sich im Verlauf der Handlung ergeben, wo es immer diesen unerwarteten oder schwer zu erwar- tenden Verlauf gibt, zu dem die Teilnehmer*innen beitragen und mit dem sie konfrontiert werden (auch bekannt als Situationen des sozialen Lebens). In Bezug auf das AlphaGo-Exhibition-Match gibt es mehrere Merkmale, die als standing contingencies bezeichnet werden können und die mit dem Go- Spiel und seiner Inszenierung als ein solches Exhibition Match verbunden sind. Erstens werden die Spiel- und Kommentator*innenräume gezeigt, nicht aber der Kontrollraum, geschweige denn die Recheninfrastruktur, die für den Ablauf des Matchs erforderlich ist. Ein zweites Beispiel stammt aus dem Doku mentarfilm AlphaGo 24 und ist der Moment, in dem die PR-Verantwortli- che sagt: «We need somewhere to put AlphaGo under here» (TC 00:26:23). Gemeint ist der AlphaGo-Laptop, den sie dann unter dem Spieltisch plat- ziert, an dem der Profispieler Lee Sedol gegen das Programm antritt, wobei die Züge von Aja Huang, einem AlphaGo-Teammitglied, ausgeführt werden. Und ein drittes Beispiel wäre die Situation, als Demis Hassabis, der CEO des Unternehmens hinter dem AlphaGo-Programm (DeepMind), Sedol anruft, um ihn zum Exhibition-Match gegen das Programm einzuladen, was eben- falls im Dokumentarfilm gezeigt wird. Während dieses Anrufs erscheint hinter Hassabis das Whiteboard, auf dem notiert ist, wie die Veranstaltung ablaufen soll. Wie bei den ersten beiden Beobachtungen wird dies im Film jedoch auch nicht weiter ausgeführt. Zusammenfassend können diese Aspekte als ein En- semble von (manifestly) standing contingencies in Bezug auf diese Demonstration oder dieses Exhibition-Match gesehen werden, und ihre lokale Handhabung lässt die soziale Situation, auf die sich die Demonstration stützt, teilweise aus dem Blickfeld verschwinden. 21 Vgl. Harold Garfinkel: Ich möchte nun noch kurz auf die Frage des Warums eingehen. Und das ist Studies of Work in the Sciences, London auch eine Frage, die Phil Agre, ein kritischer Computerwissenschaftler, Garfinkel u. a. 2022. 22 Ebd. im Hinblick auf sein Interesse an lokalem Kontingenzmanagement und experi- 23 Vgl. Ebd., 90f., Anm. 34. menteller wissenschaftlicher Praxis stellte. «What are the contingencies for?»25 24 AlphaGo – The Movie, Regie: Greg Kohs, Moxie Pictures, USA Wozu soll man sie auflisten? Und Garfinkel würde diese Frage als weitere Kon- 2017. Der komplette Film wurde am tingenz in die Liste aufnehmen, denn die Warum-Frage wird mitunter auch für 13.3.2020 auf den YouTube-Account Google DeepMind hochgeladen: die Beteiligten, und last but not least auch für Soziolog*innen, relevant. Und in youtu.be/WXuK6gekU1Y (1.11.2022). dieser Hinsicht gibt es meines Erachtens drei Punkte, die zumindest angeführt 25 Garfinkel: Studies of Work in the Sciences, 24, vgl. weiter ebd., 39 – 55. werden sollten. Erstens die Frage der Zurechenbarkeit (accountability): Wie treten 92 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN die Dinge in Erscheinung? Wie werden sie gezeigt? Was sind die Konsequen- zen? Zweitens die Frage, wie der Kontext angesichts der Eigendynamik einer Situation gehandhabt wird. Dies steht in Zusammenhang mit Technologiede- monstrationen und dem Punkt, den Joseph Lampel vor 20 Jahren in einem Auf- satz mit dem Titel «Show-and-Tell: Product Demonstrations and Path Creation of Technological Change» dargelegt hat.26 Der Punkt ist folgender: Damit eine Technologie vertrauenswürdig erscheint, darf sie nicht zu detailliert dargestellt werden. Und natürlich ist das, was präsentiert wird, sorgfältig ausgearbeitet. Dies ist ein weiterer Aspekt – wie wird kritisches Nachforschen behindert oder abgelehnt, während «commitment evaluation routines»27 für die vorgestellte Technologie im Vordergrund stehen und gefördert werden. Und drittens – das ist ein weiteres klassisches Problem – die Gefahr der Verdinglichung: Wenn wir das lokale Kontingenzmanagement aus der Betrachtung ausklammern, ein- schließlich der dramaturgischen Verwendung der Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne, dann laufen wir Gefahr, die maschinelle Intelligenz ex nihilo zu verdinglichen. Umgekehrt erhält man einen klareren Sinn für die soziale Situation und ihren lebendigen Verlauf, die typischerweise bei Demon- strationen von Technologie vorausgesetzt und weitgehend ausgelassen werden. Zurück zu Noortje. Frage 2 Was lässt sich aus der Verteilung von Kapazitäten zwischen Artefakten, Environment und Kontext in gegenwärtigen realweltlichen KI-Testsitua- tionen lernen? 28 N.M. Lassen Sie uns eine sehr allgemeine Frage aufgreifen, nämlich die, wie Forscher*innen zwischen den Rollen von Artefakten, Environment und Kon- text bei der Untersuchung von computerbasierten Praktiken unterscheiden sollten, zu denen wir die rechenintensiven Arrangements von KI zählen kön- nen. Mit dieser Frage berufen wir uns auf die Arbeit des französischen Sozio- logen Louis Quéré, der in einem Artikel mit dem Titel «The still – neglected situation?» die Bedeutung dieser Unterscheidung – zwischen Artefakten, En- vironment und Kontext – hervorhob und sich gegen die Vermischung dieser Begriffe aussprach.29 Ich möchte zwei Gründe hervorheben, warum die Fragen «Was gehört zum Artefakt?», «Was gehört zum Environment?» und «Was gehört zum Kontext 26 Joseph Lampel: Show-and-Tell: oder zur Situation?» von besonderer Relevanz für die Untersuchung der zeit- Product Demonstrations and Path genössischen KI und des KI-Testens sind. Creation of Technological Change, in: Raghu Garud, Peter Karnøe Zum ersten ist oft darauf hingewiesen worden, dass bei Demonstrationen (Hg.): Path Dependence and Creation, von KI spektakuläre Fähigkeiten – Fähigkeiten, die auf Intelligenz hindeu- Mahwah 2001, 303 – 327, 304, doi.org/10.4324/9781410600370. ten – der Maschine selbst zugeschrieben werden, dass diese bei näherer Be- 27 Ebd. trachtung aber abhängig von aktiven Beiträgen aus der Umgebung der Maschi- 28 Vgl. Quéré: The still – neglect- ed situation? ne sind – einschließlich der Menschen, die ihr ordnungsgemäßes Funktionieren 29 Ebd. SCHWERPUNKT 93 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI Abb. 3 / 4 Coventry Autodrive – gewährleisten, wie Philippe gerade dargelegt hat.30 Die Untersuchung von KI- Versuch mit autonomen Fahrzeu- Demonstrationen und -Tests ist von dieser analytischen Verpflichtung geprägt: gen, Screenshots aus Live-Videos des Coventry Telegraph, 15.11.2017 Durch die Untersuchung von KI-Tests in sozialen Umgebungen, wie z. B. bei (29.5.2023) den Tests von selbstfahrenden Autos auf der Straße (vgl. Abb. 3 und Abb. 4), können wir feststellen, wie die der KI zugeschriebenen Urteils- und Entschei- dungsfähigkeiten in situ zustande kommen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die obige von Quéré aufgeworfene Frage von Bedeutung. Wenn wir De- monstrationen von KI untersuchen, können wir fragen: Welchen Beitrag leis- ten das Artefakt, das Environment und der Kontext jeweils in Bezug auf die Ausführungen der KI? Im Fall einer Testfahrt mit autonomen Fahrzeugen im Stadtzentrum von Coventry, die im November 2017 von einer Reporterin mit ihrer Handykamera aufgezeichnet wurde (vgl. Abb. 3 und Abb. 4), können wir also fragen: Welchen Beitrag leisten die Sicherheitspylonen, die wir neben dem Fahrzeug sehen? Welchen Beitrag leisten die Zäune? Was ist mit der Beschriftung des Fahr- zeugs? Und was ist mit dem Sicherheitspersonal, das im Hintergrund steht? Bei der Untersuchung von KI-Tests auf der Straße – und es gibt viele andere Fälle, wie etwa die Gesichtserkennungstechnologien, die in den letzten Jahren auf Bahnhöfen und von der Polizei im Vereinigten Königreich erprobt wur- den – können und sollten wir uns somit mehr auf teilnehmende Beobachtung verlassen und weniger auf die formalen Beschreibungen von KI-Technologien, 30 Vgl. Bruno Latour: Social The- die von der Informatik, dem Technologiesektor und der Industrie für den öf- ory and the Study of Computerized Work Sites, in: Wanda J. Orlikowski fentlichen Konsum produziert werden. Nehmen wir z. B. die öffentliche An- u. a.: Information Technology and kündigung der Coventry-Testfahrt: Changes in Organizational Work, Boston 1996, 295 – 307, doi.org/10. 1007/978-0-387-34872-8_18. The UK’s largest trial to date of connected and autonomous vehicles technology on 31 Ryan Tute: Driverless vehicle public roads explor[es] the benefits of having cars that can ‹talk› to each other and testing on public roads hailed as their surroundings – with connected traffic lights, emergency vehicle warnings and landmark moment, in: Infrastructure Intelligence, 24.11.2017, infrastructure- emergency braking alerts. The vehicles rely on sensors to detect traffic, pedestrians intelligence.com/article/nov-2017/ and signals but have a human on board to react to emergencies. The trials are testing driverless-vehicle-testing-public-roads- a number of features and most importantly seeking to investigate how self-driving vehicles hailed-landmark-moment (22.4.2023), interact with other road users.31 Herv. NM. 94 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN Die anderen Verkehrsteilnehmer*innen werden hier als Fußgänger*innen darge- stellt, ohne dass Zäune, Pylonen oder Sicherheitspersonal im Bild zu sehen sind. Es überrascht vielleicht nicht, dass ein intelligentes Navigationssystem von Grund auf nicht die Erwartungen erfüllt, die derartige Werbebeschrei- bungen wecken – etwa dass es in der Lage sei, sein Verhalten mit anderen Verkehrsteilnehmer*innen in situ zu koordinieren. Stattdessen ist dieser KI- Versuch von Verwirrung (confusion) geprägt und stützt sich auf alle mögli- chen Requisiten und Elemente im Raum, einen Zaun mitten auf der Straße, Passant*innen, die nicht ganz verstehen, was vor sich geht, und Wachpersonal, das den Verkehr regelt. Was sagt uns diese etwas konfuse Situation? Ich denke, sie sagt uns, dass wir bei der Betrachtung von KI-Versuchen, die sich als Teil des gesellschaftlichen Lebens entfalten, auf eine ganz andere Art von Situation stoßen, eine, die sich deutlich von stereotypischen Situationen unterscheidet, die in KI-Versuchsdemonstrationen inszeniert werden. In den Straßen von Coventry konnte ich keine Systeme ausfindig machen, die versuchten, als Menschen oder soziale Akteur*innen eingestuft zu werden. Stattdessen fand ich eine hochgradig künstliche Situation vor, eine, in der nicht klar ist, ob und wie die Technologie funktioniert, in der die Akteur*innen ziem- lich desorientiert wirken (und dies auch werden) und in der sehr stark auf Re- quisiten zurückgegriffen wird. Ich spreche hier also den oben erörterten Punkt der STS an, dass die Intelligenz, die der Maschine zugeschrieben wird, in Wirk- lichkeit durch ein ganzes Kollektiv von Akteur*innen während der Situation erreicht wird (Zaun, Sicherheitspersonal, Pylonen, Schilder usw.). Aber eine Testsituation wie diese wirft auch ein Licht auf einen vielleicht weniger offensichtlichen Punkt: Die Einführung von KI in die Gesellschaft bringt Modifikationen des gesellschaftlichen Environments mit sich, die mei- ner Meinung nach die Unterscheidung zwischen Artefakt und Environment, wie sie Quéré vornimmt, stören und bis zu einem gewissen Grad untergraben. Die Performance jenes selbstfahrenden Fahrzeugs als Artefakt wird durch Ein- griffe und Veränderungen des Settings erreicht. In Abbildung 3 gibt es auch andere, weniger sichtbare Veränderungen des Environments, die im Rahmen der Versuche in Coventry vorgenommen wurden: die Installation von Straßen- rand-Einheiten – roadside units –, die Sensoren enthielten und Kommunikation zwischen Fahrzeugen ermöglichten, sowie die Verbesserung der Beschilderung auf der Straße, damit diese maschinell erkannt werden konnte. Wenn wir also erstens über die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit von Ma- schinen nachgedacht haben, dann ist das hier nun mein zweiter Punkt: Die Un- tersuchung von KI-Tests in situ macht für mich deutlich, dass es zwischen diesen verschiedenen konstitutiven Elementen des sozialen Lebens – Artefakt, Environ- ment und Kontext – zu leakage kommen kann, mit anderen Worten: dass deren Beziehung von Durchlässigkeit gekennzeichnet ist. Quéré grenzt diese Elemente voneinander ab, indem er argumentiert, dass ein Environment scharf von dem Kontext unterschieden werden muss, in dem sich Alltagserfahrungen entfalten: SCHWERPUNKT 95 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI [A]n environment in itself has neither axes nor directions since we are the ones who set them in different ways; these settings give rise to an ‹environing experienced world›. […] It is the orientation of experience that gets one from the environment to the situation, because situations come under the register of the organization of experi- ence, which is not the case of environments. Someone who is disoriented is still in an environment.32 Meine These ist, dass diese Unterscheidung zwischen Environment und Kon- text, und vielleicht auch Artefakt, im Rahmen von realem Testen der heutigen KI sozio-materiell gesehen eine Rekonfiguration erfährt: Da die Einführung von KI in Gesellschaften die Einfügung von rechen- und datenintensiven Technologien (devices) in den Hintergrund des sozialen Lebens rückt und in der Tat die Modi- fikation infrastruktureller Environments in der Gesellschaft mit einbezieht, wird künstliche Intelligenz buchstäblich zur Verwirklichung dieser Modifikation von Environments. Das Artefakt kann ohne dieses modifizierte Environment nicht funktionieren, und es sind diese rechnerisch ausgestatteten Umgebungen, die die Navigation und die Kommunikation von Fahrzeug zu Fahrzeug ermögli- chen, die eine entscheidende Rolle bei der Orientierung spielen. Ich glaube, dass die Unterscheidung zwischen Artefakt und Environment bzw. Kontext in Gesellschaften mit KI zunehmend verwischt wird. Der Fall von KI-Tests in der Gesellschaft trägt dazu bei, dies zu verdeutlichen. Die Ausrichtung der Erfahrung, die Quéré unter dem Begriff der Situation zusam- menfasst, ist genau das, worum es bei der Gestaltung des Environments geht: Sensoren im Setting leiten die Fahrzeuge, damit sie navigieren können; Zäune lenken die Wahrnehmung des Tests. Die Situation, so könnte man sagen, ist das, was durch die Einbettung rechenintensiver Systeme in das sozio-materielle E nvironment entsteht. Diese Systeme verändern die Bedingungen für soziale Routinen in den Settings. Sie verändern die Art und Weise, wie sich soziales Leben in ihnen entfalten kann. Wir sollten jedoch beachten, dass die soziale Situation auf der Straße ge- stört, ja sogar desorientiert wird, wenn das Environment so modifiziert wird, dass es den Maschinen Orientierung bietet. Um auf die oben erwähnte Verwir- rung zurückzukommen und dies etwas dramatischer auszudrücken: Solange der analytische Fokus weiter darauf liegt, wie das KI-System die Situation in realen Tests wie dem in Coventry bewältigt – wie es sich orientiert und mit einem Zusammenbruch (bzw. einer ‹Störung›) umgeht –, sehen wir nicht wirklich, wie soziales Leben durch die Einführung ebendieses Systems aktiv desorientiert wird und in manchen Fällen vielleicht sogar zusammenbricht. In solchen Test- situationen kann die Koordinierung der Interaktionen zwischen Fahrzeugen und Fußgänger*innen nicht mehr wie gewohnt ablaufen. Die restriktiven Maß- nahmen, die die KI zum Funktionieren benötigt, machen eine normale Interak- tion auf der Straße unmöglich. Und dieses Schema, bei dem die Erleichterung der maschinellen Orientierung zu Desorientierung einer breiteren sozialen Si- 32 Quéré: The still – neglected situation?, 288, Herv. NM. tuation führt, wiederholt sich im größeren Maßstab. Ich denke dabei an die 96 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN zutiefst störenden und schädlichen Auswirkungen auf die Welt, die sich aus den fortgesetzten Investitionen in die Automobilität ergeben. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir unsere Darstellung von KI entnatu- ralisieren sollten, indem wir uns auf Situationen des Testens bzw. der Demons- tration konzentrieren. Dieser empirische Fokus ermöglicht es uns insbesondere, die naturalistische Fiktion und die daraus resultierende Täuschung abzulehnen, die mit der Frage einhergeht, wie KI mit Pannen umgeht. Methodisch wird bei Collins suggeriert, KI gelte als intelligent, wenn ihr der Umgang mit Zu- sammenbrüchen gelingt.33 Aber was ist eigentlich die Beziehung zwischen KI und Zusammenbruch? Ein naturalistischer Ansatz führt dazu, dass er die Ori- entierungslosigkeit, die Verwirrung, die Störung und den Zusammenbruch ver- schleiert, die als Folgen der Einführung von KI in das gesellschaftliche Leben entstehen. Die Sozialwissenschaft, die das Artefakt so behandelt, als ob es ein*e soziale*r Akteur*in wäre, nimmt die obigen Werbebeschreibungen als gegeben hin, anstatt die Situation zu analysieren und zu beobachten, was tatsächlich pas- siert, wenn KI in das soziale Leben eintritt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Testen von KI lädt dazu ein, die prä- genden Unterscheidungen zwischen Artefakt, Environment und Kontext neu zu untersuchen. In der Tat wird es bei der Analyse von Gesellschaften mit KI zu unserer Aufgabe, zu untersuchen, wie die Kapazitäten zwischen Artefakt, Envi- ronment und Kontext bei der Implementierung von KI und der daraus resultie- renden situativen Desorientierung umverteilt werden. P.S. Vielen Dank, Noortje. Aus ethnomethodologischer Sicht interessiere ich mich erst seit (relativ) kurzer Zeit für KI-Technologien oder Technologien mit KI-Etikett, einschließlich ihrer Nutzung und Entwicklung sowie der Forschung darüber – z. B. für KI im Bereich der Bildungstechnologie (edtech), wenn auch nicht ausschließlich. Und natürlich bin ich damit nicht allein.34 In Bezug auf unseren Diskussionspunkt, die Frage 2, schließe ich mich den von dir [Noortje Marres] und David Stark vorgebrachten Argumenten für Kontinuität an. In dem Aufsatz mit dem Titel «Put to the test» verbindet ihr «expert-led testing and social experimentation».35 Eine Trennung der beiden 33 Vgl. Collins: Artifictional Intelligence. hingegen, so schreibt ihr es auch, «risks rendering invisible the testing situa- 34 In Bezug auf edtech in Inter- tions that the sociology of testing should elucidate»,36 was aber auch jede zeit- aktion kann ich [Philippe Sormani] auf lehrreiche Gespräche mit genössische Ethnomethodologie des Experimentierens betrifft. meinem Kollegium (Lausanne) Allerdings habe ich auch hier zwei konzeptionelle Vorbehalte gegenüber der verweisen, insbesondere mit Marc Audétat, Julien Bugmann, Farinaz Formulierung dieser Frage aus ethnomethodologischer Sicht. Und ich möchte Fassa, Guillaume Guenat und Audrey einen dritten hinzufügen. Hostettler, da wir uns eingehend mit der Relokalisierung maschineller Erstens glaube ich nicht, dass die Verteilung von Kapazitäten und die Art und Intelligenz befasst haben. Weise, wie sie zugewiesen werden, ein guter Ausgangspunkt für eine Situati- 35 Noortje Marres, David Stark: Put to the Test: For a New Sociology onsbeschreibung sind. Wie bereits betont wäre es besser, damit zu beginnen, of Testing, in: The British Journal wie Kontingenzen in situ gehandhabt werden und wie sie offenkundig gehand- of Sociology, Bd. 71, Nr. 3, 2020, 423 – 443, hier 428, Herv. PS. habt werden, damit sie beschrieben werden können – und sei es nur, um einen 36 Ebd. SCHWERPUNKT 97 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI «distributed essentialism»37 im Sinne der Akteur*innenidentifikation zu vermei- den. Das heißt, eine ethnomethodologische Beschreibung – eine Beschreibung, die sich auf die alltäglichen Methoden praktischer Aktivitäten, ihre besondere Verständlichkeit und ihren situierten Vollzug konzentriert – endet dort, wo ein soziologisches Modell der Erklärung von Handlungen beginnt oder beginnen könnte. Ein solches Modell setzt insofern das voraus, was die Beschreibung lie- fert – eine erkennbare Situation, eine wahrnehmbare Konfiguration, eine sich entfaltende Interaktion (in Bezug auf Akteur*innen, die identifiziert werden, Kapazitäten, die verteilt werden, Hindernisse, die ausgemacht werden usw.). Mein zweiter Vorbehalt bezieht sich auf die Vorstellung von recheninten- siven Praktiken, die als konstitutiv für Computer-basierte Artefakte aufgefasst werden – seien es Programme, Programme mit Sensoren oder Programme mit Sensoren und Aktoren, um Johnsons und Verdicchios Unterscheidung zu fol- gen.38 Auch hier erscheinen weder rechenintensive Praktiken noch computer- basierte Artefakte als guter Ausgangspunkt für die Beschreibung, da sie (als Konzepte) zu eng gefasst sind. Man läuft Gefahr, die beteiligten kulturellen Artefakte zu übersehen, die Art und Weise, wie sie in situ produziert werden und welche Praktiken sie konstituieren, seien es nun ‹rechenintensive› oder an- dere Arten von Praktiken. In dem Bild, das Noortje vorhin gezeigt hat (vgl. Abb. 3 und Abb. 4), sehen wir zuerst ein Auto oder Fußgänger*innen, d. h., wir sehen sie als kulturelle Artefakte oder verkörperte Akteur*innen und nicht als Computer-basierte oder rechenintensive Akteur*innen. Wenn diese Artefakte und Akteur*innen umgekehrt als «sociotechnical assemblages»39 zu betrachten sind – embodied und entangled, never pure, never alone –, welche Art von Assem- blagen sind sie dann, wie werden sie eingesetzt und wie erfüllen sie ihre Funk- tionen in situ? Und wie sieht dann die situierte Praxeologie eines (wenn nicht des) «cultural life of machine learning» aus? 40 Ein möglicher dritter Vorbehalt ergibt sich aus Quérés wichtiger Unter- 37 Steve Woolgar: What Hap- pened to Provocation in Science scheidung zwischen «environment, context and situation».41 Ich stimme dir and Technology Studies?, in: History zu, Noortje, dass KI-Systeme, damit sie als Teil einer Testfahrt funktionieren and Technology, Bd. 20, Nr. 4, 2004, 339 – 349, hier 344, doi.org/10.1080/07 können, erfordern, dass das Environment modifiziert wird und dass diese ins- 34151042000304321. trumentelle Modifikation sich als problematisch, wenn nicht sogar störend für 38 Vgl. Deborah G. Johnson, Mario Verdicchio: Reframing AI Discourse, den regulären Verkehr erweisen kann. In diesem Sinne wird die soziale Situati- in: Minds and Machines, Bd. 27, 2017, on auf der Straße gestört. Aber auch eine gestörte Situation bleibt eine soziale 575 – 590. 39 Göde Both: Keeping Autonomous Situation. Quérés Unterscheidung ist also nützlich, um auf den Unterschied Driving Alive: An Ethnography of Visions, zwischen einem spezifischen Kontext oder einer selektiven Kontextualisierung Masculinity and Fragility, Opladen 2020. eines Straßenenvironments einerseits und der Art und Weise, wie sich eine 40 Roberge, Castelle: Toward alltägliche Verkehrssituation (unabhängig von ihren Teilnehmer*innen, ihrem an End-to-End Sociology of 21st- Century Machine Learning. Kontext oder ihrer Umgestaltung) in ihren vielfältigen Einzelheiten tatsächlich 41 Quéré: The still – neglected entfaltet, andererseits hinzuweisen. Eine Situation kann sich per se als irreduzi- situation?, 243, Herv. PS. 42 David Sudnow: Ways of the bel auf ein Environment oder einen Kontext erweisen, so wie es David Sudnow Hand. The Organization of Improvised beschreibt: «[A] lost newcomer finds himself suddenly in the midst of a Mexico Conduct, London u. a. 1978, 30, Herv. PS. City traffic circle.»42 98 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN Lassen Sie mich nun auf meine drei Beispiele zurückkommen: edtech in Interaktion bei der ‹Mars-Mission› im Klassenzimmer, ein SmartShuttle, der einen spontanen Zwischenstopp einlegt, und AlphaGo auf der Bühne. Wenn dies empirische Beispiele sind, wofür sind sie dann Beispiele? Ich habe zuvor das lokale Management praktischer Kontingenzen als ein Phänomen von ethnomethodologischem Interesse erwähnt. Wie richten die Teilnehmer*innen bestimmte Geräte, Systeme oder Infrastrukturen ein, nutzen sie und interagieren mit ihnen, sodass man sagen kann, ihr Betrieb weise KI-Fähigkeiten auf? Wie tun sie das, und zwar auf erkennbare Weise? Und was sind die Kontingenzen – die «locally lived constraints»43 –, auf die sie dabei stoßen, mit denen sie zu kämpfen haben und / oder die sie unterlau- fen? Jeder der drei genannten Fälle bietet eine empirische Antwort auf die aufgeworfenen Fragen, eine Antwort, die jedes Mal durch die angetroffenen Kontingenzen Quérés Unterscheidung zwischen Kontext und Situation zum Ausdruck bringt. Im zweiten Spiel des AlphaGo-Exhibition-Matchs im März 2016 kam es zu jenem 37. Zug, der als ein ganz besonderer Zug des KI-Systems bezeich- net wurde: «AlphaGo somehow taught the world completely new knowl- edge»44. Diese an die journalistischen Medien gerichtete Mitteilung, wie sie ursprünglich auf der DeepMind-Website veröffentlicht wurde, fasst auch den Überraschungsmoment der beiden englischsprachigen Spielkommentatoren zusammen, als sie die Besonderheit von AlphaGos Zug 37 während des Spiels zuerst bemerkten.45 Die Diskrepanz zwischen ihrem Kommentar, der be- stimmte Spielzüge antizipiert hatte, und dem tatsächlichen Spielzug zeigt, dass 43 Garfinkel: Studies of Work in die Spielkommentatoren Mühe hatten, sich einen Reim darauf zu machen. Die the Sciences, 23. Diskrepanz wurde also zu ihren locally lived constraints für ihre anschließende 44 Zitat ursprünglich veröffent- licht auf dem DeepMind-Blog der Analyse, ganz zu schweigen von Lee Sedols Antwortzug (wie er nach der Entwickler*innen als Eintrag «The Partie bestätigte). Im Sinne von Quéré markiert die angetroffene Kontingenz story of AlphaGo so far». Link nicht mehr gültig, Zitat aber noch einseh- den Unterschied zwischen einem erwarteten, wenn auch projizierten Kontext bar in diversen Newsartikeln, z. B. und der sich tatsächlich entfaltenden Situation. Cynthia Harvey: Deep Learning and Artificial Intelligence, in: Datamotion, Ein ähnlicher Fall konnte bei einer Testfahrt mit dem SmartShuttle beo b- 14.6.2018, datamation.com/applicat achtet werden, bei dem der Ausgangspunkt ebenfalls eine lokal angetroffene ions/deep-learning-and-artificial- intelligence (28.6.2013). Diskrepanz war, bei der etwas geschah, das die Teilnehmer*innen in diesem 45 Die Analyse des Spielzugs Setting nicht erwarten sollten oder konnten. In diesem Fall wurden die Kapazi- Nr. 37 von den beiden englischspra- chigen Kommentatoren Michael täten des Shuttles von einem Fahrgast kommentiert, der sagte: «It is very good Redmond und Chris Garlock kann how it does, going around things. I’m amazed that it goes through the narrow eingesehen werden im YouTube- Video: Move 37!! Lee Sedol vs. places so easily – yeah.»46 In diesem Moment hielt der Bus abrupt an, und der AlphaGo Match 2, hochgeladen Betreiber kommentierte diesen Halt als ein immer wiederkehrendes Problem: von Account Daniel Estrada am 12.3.2016, youtu.be/JNrXgpSEEIE «[A]nd here she [the van, la navette auf Französisch] does each time the same (28.6.2023). Für eine detaillierte [thing] to us.» Das heißt, der Shuttle blieb einfach ohne erkennbaren Grund Videoanalyse vgl. Philippe Sormani: Interfacing AlphaGo, in: Social Studies stehen, zumindest für den Betreiber. Auch hier scheint der Kontext, dieses Mal of Science (im Erscheinen). eine Testfahrt, anders zu sein als die Situation, die die Teilnehmer*innen vor- 46 Dieses und das folgende Zitat stammen aus der Videoaufzeich- finden und mit der sie umgehen müssen. nung der besprochenen Testfahrt. SCHWERPUNKT 99 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI Und ein dritter Fall, mein derzeitiger Schwerpunkt: ‹Mars-Missionen›. In meinem Wahlkanton findet dieses Projekt in der Schule statt, wo Schüler*innen eingeladen werden, kleine mobile Roboter zu programmieren, mit denen sie sich virtuell auf dem Mars bewegen und eine Mission erfüllen können, wo- bei die Marsoberfläche an einer technischen Hochschule inszeniert und den Schüler*innen über YouTube gezeigt wird. Im Klassenzimmer durchbrechen dann einige der Schüler*innen mit ihren Kommentaren die allgemeine Be- geisterung: «Aber Herr Lehrer, wir sind hier nicht auf dem Mars» (in Bezug auf den Videostream), «Wir werden den Wettbewerb verpassen» (in Bezug auf ihren Sporttag) und «Ich würde gerne filmen» (in Bezug auf die Kamera- ausrüstung).47 Die Liste der Kontingenzen in situ ließe sich noch erweitern. Auch hier wird deutlich, dass sich die jeweilige Situation nicht auf einen be- stimmten Kontext oder ein vorläufig kontrolliertes Environment reduzieren lässt (z. B. eine im Klassenzimmer inszenierte ‹Mars-Mission›).48 Es gibt also verschiedene Arten von Kontingenzen, die bewältigt werden müs- sen, wenn verschiedene Arten von maschineller Intelligenz bei verschiedenen Demonstrationen von Technologie, Testfahrten und / oder pädagogischen Experi- menten inszeniert werden. Natürlich sind diese Demonstrationen, Versuche und Experimente auch so konzipiert, dass die Kontingenzen als Teil ihres praktischen Managements verschwinden, eines Managements, das sie funktionieren lässt, damit maschinelle Intelligenz sich manifestiert, sei es als rhetorischer Effekt, als Navigationsanforderung oder als pädagogische Aufgabe. Diesem beabsichtigten Verschwinden der alltäglichen Praktikabilität sind jedoch Grenzen gesetzt. In einem meiner Lieblingszitate formuliert Lucy Suchman dies wie folgt: «Lived practice inevitably exceeds the enframing moves of its own procedures of order production».49 Okay, ich glaube, das war’s von mir zu dieser zweiten Frage, und ich denke, wir sind wieder bei Noortje. N.M. Das ist großartig, Philippe, ich werde zwei kurze Punkte ansprechen. Erstens den Umgang mit Kontingenz und vielleicht auch die Unmöglichkeit, 47 Zitate von Teilnehmer*innen kontingente Situationen zu bewältigen. Ich interessiere mich sehr für dieses der Mars-Mission, Feldnotizen PS. Thema, zum Teil auch, weil ich im Moment Agnes Hellers sozialtheoretisches 48 Diese lokalen Gegebenhei- ten bieten wiederum unzählige Werk Can Modernity Survive? lese.50 Diese Sozialtheoretikerin, die sich an Ge- pädagogische Möglichkeiten, wie org Lukács orientiert, legt großen Wert auf die Kontingenz des Alltagslebens ein Teammitglied an der örtlichen Universität für Lehrerbildung als das, was die Moderne in gewisser Weise auszeichnet: In der Moderne wird feststellte. Für das programmatische das Alltagsleben als kontingent erlebt, es ist eine Form des Lebens, in der Rou- Argument vgl. Michael E. Lynch: Garfinkel’s Studies of Work, in: tinen und Praktiken untersucht und in Frage gestellt, tatsächlich getestet und Douglas W. Maynard, John Heritage modifiziert werden können, weil sie als kontingent erkannt werden, und das ist (Hg.): The Ethnomethodology Program. Legacies and Prospects, Oxford, New ein Schlüsselaspekt von Hellers Verständnis der Moderne, und in der Tat auch York 2022, 114 – 138, doi.org/10.1093/ von ihrem Verständnis, warum wir wirklich daran arbeiten müssen, damit diese oso/9780190854409.003.0004. 49 Suchman: Feminist STS and the überleben kann. Also, ja. Sciences of the Artificial, 193. Aber ich denke auch, und das ist mein zweiter Punkt, dass diese Frage der 50 Agnes Heller: Can Modernity Survive?, Berkeley 1990. Kontingenz der Situation und die Verteilung der Kapazitäten innerhalb der 100 ZfM 29, 2/2023 KI TESTEN Situation wirklich eng miteinander verbunden sind. Einer der Gründe, warum ich immer auf der Frage nach der Verteilung oder Umverteilung von Kapazitä- ten innerhalb einer Situation bestehe, ist, dass die Art und Weise, in der Kapa- zitäten innerhalb des Artefakts konzentriert oder konsolidiert werden – neben der Aufwertung der Maschine durch die Spezifizierung ihrer Kapazitäten als unglaublich, hochentwickelt, außergewöhnlich … –, einer der Effekte davon ist, dass die Kontingenz verschwindet. Es lässt die Maschine als unentbehrlich erscheinen, als diejenige, die die anstehende Aufgabe notwendigerweise ausfüh- ren muss – außergewöhnlich und daher unersetzlich zu sein, dies ist eines der Risiken. Die Feststellung, dass die Kapazitäten verteilt sind, bedeutet hingegen: Jede Verteilung der Kapazitäten ist in der gegebenen Situation kontingent und kann sich ändern. Ich würde also sagen, dass das Beharren auf der Kontingenz und das Beharren auf der Verteilung der Kapazitäten vielleicht gar nicht so sehr im Widerspruch zueinander stehen, wie du, Philippe, vielleicht meinst. P.S. Vielen Dank, Noortje. Lass mich kurz antworten. Mir ist aufgefallen, dass du in der Tat damit beginnst, Quéré methodologisch zu lesen, und zwar in dem Sinne, dass du seine Frage dahingehend verstehst oder auffasst, wie Forscher*innen zwischen Artefakten, Environment und Kontext (wenn nicht sogar zwischen Kontext und Situation) unterscheiden sollten.51 Und das war auch sein Plädoyer, sein Argument, da er der Meinung war, dass sie zu sehr in einen Topf geworfen werden. Dies galt zumindest zu der Zeit, als er schrieb, und hin- sichtlich der Forschungssituation, die Quéré in den späten 1990er Jahren kom- mentierte, insbesondere in Bezug auf Arbeitsplatzstudien (in Human-c omputer interaction und Computer-supported cooperative work) und die objektorientierte Soziologie – die Akteur-Netzwerk-Theorie. In diesem Zusammenhang würde ich auch zustimmen, dass wir dies vielleicht nicht als methodologische Frage behandeln, sondern als Phänomen betrachten können: Wie wurde die obige Unters cheidung von Forscher*innen – Soziolog*innen, KI-Forscher*innen oder auch Teilnehmer*innen – in bestimmten Situationen getroffen? Wir soll- ten es als empirisches Phänomen betrachten, anstatt über Methodologie zu streiten, ganz zu schweigen von Ontologie. Damit sind wir wieder bei der Frage nach der Verteilung der Kapazitäten, und ich frage mich: Geht es in deiner Argumentation um multiple Kausalitä- ten, also darum, wie verschiedene Fähigkeiten zu, sagen wir, einer laufenden Handlung beitragen? Vielleicht ist das eine zu starke Formulierung, aber sie erlaubt mir, einen Kontrast zu dem zu setzen, was Quéré meiner Meinung nach anstrebte. Zumindest auf seiner phänomenologischen Seite scheint sein Hauptinteresse nicht darin gelegen zu haben, wie Kapazitäten verteilt und zu- geschrieben werden können, sondern vielmehr darin, wie eine Situation als ver- ständlich hergestellt wird – als ein Ganzes, als eine Gestalt einer bestimmten Art, die es nur unter dieser Voraussetzung erlaubt, bestimmte Akteur*innen zu 51 Vgl. Quéré: The still – neglected identifizieren, und zwar im Hinblick auf eine bestimmte Kontextualisierung. Es situation? SCHWERPUNKT 101 NOORTJE MARRES / PHILIPPE SORMANI ist also etwas, das vor der Verteilung von Kapazitäten und deren Zuschreibung an verschiedene Akteur*innen kommt. Aber das eine schließt das andere nicht aus – oder bedingt es typischerweise. Wie du sagtest, besteht die politische Gefahr darin, dass die Art und Weise, in der Kapazitäten verteilt werden, auf heikle Weise Kontingenzen verschwinden lässt, obwohl diese Gefahr vielleicht gerade der Zweck eines erfolgreichen Engineerings ist, zumindest in den typi- schen Begriffen der Ingenieur*innen! […] Offene Fragen und Forschungsperspektiven So, do we have a situation? Nein, insofern immer noch ein Situationsdefizit in der Art und Weise besteht, wie KI konzipiert, implementiert und diskutiert wird – entgegen der Behaup- tung, dass maschinengestützte Systeme zu kontextuellem Lernen fähig sind. Ja, insofern die Einführung von KI in das gesellschaftliche Leben kritische Momente, öffentliche und politische Situationen hervorruft, die im öffentli- chen Diskurs unterbestimmt bleiben. Wie geht es also weiter? 52 Vgl. z. B. Tanja Bogusz: Exper- Ein Ansatz besteht darin, die Testsituationen der KI wiederherzustellen und imentalism and Sociology: From Crisis to Experience, Cham 2022; Georgina schließlich neu zu definieren, wobei die Begriffe Experiment und Experimen- Born, Andrew Barry: Art-Science: tieren in den Prozess eingebettet und erweitert werden. Dieses Gespräch hat From Public Understanding to Public Experiment, in: dies. (Hg.): erste Ansätze in diese Richtung gebracht, andere sind schon seit einiger Zeit Interdisciplinarity: Reconfigurations im Gange 52 oder müssen noch artikuliert werden, insbesondere in Bezug auf KI of the Social and Natural Sciences, London u. a. 2013, 247 – 272; Noortje und die zeitgenössischen Varianten des maschinellen Lernens. In diesem Sinne Marres, Michael Guggenheim, Alex sind unser Gespräch und das längere Working Paper eine Einladung zu weite- Wilkie (Hg.): Inventing the Social, Manchester 2018. rer Ausarbeitung und kritischem Austausch, sowohl on- als auch offline. — Die englische Langfassung des Gesprächs ist im Mai 2023 erschienen: dx.doi.org/10.25819/ubsi/10332. Wir [Noortje Marres und Philippe Sormani] danken Johannes Schick für die Organisation und Carolin Gerlitz für die Moderation des Gesprächs sowie den Teilnehmer*innen für ihre Teilnahme und Beiträge. Das vorliegende Gespräch wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262.513.311 – SFB 1187 «Medien der Kooperation». Philippe Sormanis Überlegungen wurden zudem vom Projekt «Relocating Machine Intelligence» (SNF ProjektNr. 407740_1187541) inspiriert und werden dieses weiter inspirieren. Übersetzung und Redaktion: DeepL, Inga Schuppener, Sebastian Gießmann. 102 ZfM 29, 2/2023 — BILDSTRECKE Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150210. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. D A P H N É N A N L E S E R G E N T — Das extraktive Bild. Die Ursprünge der Fotografie Vorgestellt von NOAM GRAMLICH Die Fotografie hatte noch nie nur eine Ursprungsgeschichte. Was das Medium magisch macht,1 ist nicht nur Niépce oder Daguerre zu verdanken, sondern auch der Sonne und dem Silbernitrat. Unterhalb dieser natürlich-technologi- schen Genealogie der Fotografie liegt aber noch eine andere Geschichte, die seit einiger Zeit gehoben wird: die des Extraktivismus.2 Neben dem Papier, das aus auf Kolonialplantagen gepflückter Baumwolle hergestellt wurde, kam das Silber der Daguerreotypie vorwiegend aus südamerikanischen Minen wie Taxco und Potosí, welche von Spanien und Portugal ab dem 15. Jahrhundert enteig- net und industrialisiert wurden. In der Bildstrecke, deren Bilder aus Daphné Le Sergents Videoessay L’image extractive (2021) stammen, zoomt die Künstlerin in die Materialität der Fotoplatte und in die Narben der Erde hinein. Erkennbar werden schwindelerregende Beziehungen zwischen der Fotografie, dem Börsen- kurs und dem Abbau von Silber und Gold. Für Le Sergent ist die Fotografie Zeugin eines noch nie da gewesenen Ein- griffs in die Erde, von ökonomischen Umbrüchen zwischen Kolonialismus, Frühkapitalismus und digitalem Kapitalismus. Ab 1887 wird Silber durch Gold als Währungsindex ersetzt und wird zum bloßen Rohstoff. Zeitgleich mit der Verknappung des scheinbar unendlichen Silbers durch die formelle Dekoloni- sierung Mexikos und dem wachsenden Handelseinfluss von China greift der Goldrausch in Georgia, Australien, Alaska, Nevada, Kalifornien und Guyana um sich. Was wäre, so wird spekuliert, wenn wir Lichtbilder auf Gold- statt auf Silberplatten gebannt hätten? Die Gold-Fotografie, so die Antwort, hätte nicht passieren können, da der Überschuss an Silber in die Fotografie gesteckt wurde. Um 1975 beginnt eine zweite Zäsur, als die Reserven erneut knapp wer- den und Silber damit enorm teuer wird. Angesichts der drohenden Gefahr, dass die Fotografie aussterben könnte, investiert Kodak in die elektronische Ent- wicklung eines silberfreien Bilds. Begleitet sind diese Umbrüche und damit der 1 Vgl. William Henry Fox Talbot: doppelte Ursprung der analogen und digitalen Fotografie von einem Es ist so The Pencil of Nature, New York 1969 gewesen – und das im materiellen Sinne, wie es im Film heißt: «Die Fotografie [1844]. 2 Vgl. Kevin Coleman, Daniel ist ein Indiz von Verlust und Verschwendung […]. Es ist ein extraktives Bild, James (Hg.): Capitalism and the das dem Boden immer mehr Erz abzwingt. Das dem Wirklichen immer mehr Camera. Essays on Photography and Extraction, London 2021. Informationen abzwingt.» — 104 ZfM 29, 2/2023 In Europa, in Frankreich, wurden seit der Entdeckung Amerikas bis zum 19. Jahrhundert mehr als 150 Bücher, kleine Schriften und Abhandlungen herausgegeben, in denen man über Eldorado, „Das Goldene“, redete, jener letzte Inka-Schatz, der auf dem amerikanischen Erdteil der spanischen Gier entrann. Gleich wie der Goldsucher, erträumten sich die Conquistadores ihre Quelle. Die Sage von Eldorado ist jene einer Wunderstadt, der Stadt Manoa. Manoa. Es ist ein brennendes Bild, die Schutzmauern der Städte schillern unter der Sonne und für das gierige Auge besitzen sie den Glanz des weissen Metalls. Die weissen Schutzmauern Es ist eine vor der Zeit schillern unterm Licht entstandene Fotografie, und für das fieberhafte Auge erschienen mit dem Bergbau sind sie eine im Silbernetz von Potosi und Taxco gefangene Aufnahme. 1700 Silbertonnen. Eldorado ist ein Das Silber aus Pachuca, in der Schachtel des Schädels das Silber aus Zacatecas, umgekehrt liegendes Bild. das Silber aus Guanjuato. Die Frage, welche die Photographie dem Blick entgegenwirft, lautet nicht: „Was suchen?“, sondern: „Wo suchen?“ Sobald das Reich des Sehens sich auf einen geschlossenen Raum umfasst, ist des Blickes Bahn unweigerlich verdammt zu Spähen, zu Suchen, zu Wühlen. Die Frage, welche die Photographie dem Blick entgegenwirft, lautet nicht: „Was suchen?“, sondern: „Wo suchen?“ Sobald das Reich des Sehens sich auf einen geschlossenen Raum umfasst, ist des Blickes Bahn unweigerlich verdammt zu Spähen, zu Suchen, zu Wühlen. In Brasilien hat ein Maler ein Fotografisches Rezept mit Goldchlorid aufgearbeitet. Und als er von Daguerres’ Entdeckung in dem Jornal del commercio erfährt, so antwortet er mit dieser Mitteilung: „Nun arbeite ich bald schon sechs Jahre an meinen desenhos photographiados (fotografischen Zeichnungen). Ich klemme eigens präparierte Papiere in die Dunkelkammer und Goldsalze fixieren ein schönes, sehr düsteres Blau. Bis 1839 wusste ich nicht, dass in Europa ähnliche Versuche unternommen worden sind, folglich kann man sagen, dass auch ich Vom Währungsindex Erfinder ist Silber zum des Licht-Drucks bin.“ Wirklichkeitsindex geworden. In Brasilien hat ein Maler ein Fotografisches Rezept mit Goldchlorid aufgearbeitet. Und als er von Daguerres’ Entdeckung in dem Jornal del commercio erfährt, so antwortet er mit dieser Mitteilung: „Nun arbeite ich bald schon sechs Jahre an meinen desenhos photographiados (fotografischen Zeichnungen). Ich klemme eigens präparierte Papiere in die Dunkelkammer und Goldsalze fixieren ein schönes, sehr düsteres Blau. Bis 1839 wusste ich nicht, dass in Europa ähnliche Versuche unternommen worden sind, folglich kann man sagen, dass auch ich Vom Währungsindex Erfinder ist Silber zum des Licht-Drucks bin.“ Wirklichkeitsindex geworden. Als man 1971 1979, das Bretton-Woodsabkommen als die Unze Silber auflöste, von 11 auf 50 Dollar steigt, durch welches die Währungen verfasst Roland Barthes sich auf den Dollar banden, „Die helle Kammer“ dessen Wert sich in Gold sicherte, und spricht von der Fotografie spielten die Rohstoffe verrückt als einem „Es-ist-so-gewesen“. und verursachten einen heillosen Drang nach dem Preisaufstieg. Auf immer steigenden Gipfeln fliegen die Preiskurven in die Höhe, und ganz oben steht die Silberunze. Für Kodak bedeuten die Fabriken eine Ruine. Die Fabriken, da wo man Eisenbahnwagen mit Silberbarren befrachtete, die dann in die Säure geschüttet wurden. Das Silber in die Säure. Der Handel mit dem Silbergehalt ist zu einem Abgrund geworden. Kodak verringert die Kosten miniaturisiert seine Filme. Vergebens. Nichts vermag den Verlust einzudämmen. In einer letzten Anstrengung beruft sich die Firma auf Steven Sasson und einige Elektronikingenieure, damit sie ein silberfreies Bild herstellten. Als man 1971 1979, das Bretton-Woodsabkommen als die Unze Silber auflöste, von 11 auf 50 Dollar steigt, durch welches die Währungen verfasst Roland Barthes sich auf den Dollar banden, „Die helle Kammer“ dessen Wert sich in Gold sicherte, und spricht von der Fotografie spielten die Rohstoffe verrückt als einem „Es-ist-so-gewesen“. und verursachten einen heillosen Drang nach dem Preisaufstieg. Auf immer steigenden Gipfeln fliegen die Preiskurven in die Höhe, und ganz oben steht die Silberunze. Für Kodak bedeuten die Fabriken eine Ruine. Die Fabriken, da wo man Eisenbahnwagen mit Silberbarren befrachtete, die dann in die Säure geschüttet wurden. Das Silber in die Säure. Der Handel mit dem Silbergehalt ist zu einem Abgrund geworden. Kodak verringert die Kosten miniaturisiert seine Filme. Vergebens. Nichts vermag den Verlust einzudämmen. In einer letzten Anstrengung beruft sich die Firma auf Steven Sasson und einige Elektronikingenieure, damit sie ein silberfreies Bild herstellten. Der Aufstieg des Digitalen hatte also nicht einen, sondern einen doppelten Ursprung; der erste bestand im Aufstieg der Börsenkurse. Der zweite in der drohenden Erschöpfung des Silbers. — LABORGESPRÄCH Der Aufstieg des Digitalen hatte also nicht einen, sondern einen doppelten Ursprung; der erste bestand im Aufstieg der Börsenkurse. Der zweite in der drohenden Erschöpfung des Silbers. Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150211. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. S U S A N N E N I K O LT C H E V und M A RT I N K A N Z L E R im Gespräch mit J U D I T H K E I L B A C H und F L O R I A N K R A U T K R Ä M E R SIMPLE ZAHLEN UND NEUTRALE INFORMATIONEN — Produktionsforschung durch Studien des European Audiovisual Observatory Das European Audiovisual Observatory (EAO, dt. Europäische Audiovisuelle In- formationsstelle) befindet sich in Straßburg in unmittelbarer Nachbarschaft zum Europarat. In der Villa Schutzenberger sammelt ein Team von gegenwärtig 27 Mitarbeiter*innen Daten und juristische Informationen zum Europäischen Film- und TV-Markt, die regelmäßig in verschiedenen Studien veröffentlicht werden. Diese werden kostenfrei auf der Website des EAO veröffentlicht ( www.obs.coe.int) und zu besonderen Gelegenheiten wie den Filmfestspielen in Cannes auch der Öffentlich- keit vorgestellt. Neben Studien über die Verteilung von Marktanteilen in Kinos und bei VOD-Anbietern sowie den Zahlen der Filmproduktionen in Europa, in denen sich die Industrienähe des EAO manifestiert, werden auch zunehmend Studien veröf- fentlicht, die besondere Perspektiven einnehmen, z. B. Studien zur Zugänglichkeit audiovisueller Inhalte von TV-Sendern und Streaminganbietern für Personen mit Einschränkungen oder zu den Zahlen weiblicher Beschäftigter in Europäischen Film- und TV-Produktionen. Judith Keilbach und Florian Krautkrämer sprachen mit der geschäftsführenden Direktorin Dr. Susanne Nikoltchev und dem stellvertretenden Leiter der Abteilung für Marktinformationen Martin Kanzler. Nikoltchev ist Juristin in den Bereichen Medien, Telekommunikation, internationales Handelsrecht und EU-Wettbewerbs- recht und seit 1998 beim EAO tätig. Kanzler hat Internationale Betriebswirtschaft in Wien studiert und ist seit 2017 in Straßburg. Für die Film- und Medienwissen- schaft sind die Studien des EAO interessant, weil sie – trotz oder gerade wegen ihrer Industrienähe – oft die einzigen detaillierten und umfassenden Zahlen lie- fern, die für die Produktionsforschung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig steht die Arbeit des EAO auch in einem politischen Zusammenhang: So ist die Erhebung 114 ZfM 29, 2/2023 von Daten, die darüber Auskunft geben, aus welchen Ländern die Produktionen in den Katalogen der Streaming-Anbieter stammen, wichtig für die Quotenrege- lung der EU. Aber auch der Brexit und seine Auswirkungen auf die Märkte werden in der Datensammlung reflektiert. Die Zahlen zur Kinoauswertung sind darüber h inaus vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie auch für lokale Akteur*innen wichtig. Zudem publiziert das EAO jährlich Daten zur Geschlechtergerechtigkeit in der Branche und beginnt seine Aufmerksamkeit auch auf Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit in der Film- und Fernsehindustrie zu richten. Von Interesse war daher, etwas über die institutionellen Hintergründe des EAO sowie die von ihm zusammengestellten Daten zu erfahren. — Judith Keilbach / Florian Krautkrämer Wann und mit welchem Ziel wurde das EAO gegründet? Susanne Nikoltchev Das war Ende der 1980er Jahre mit dem grenzüberschrei- tenden Fernsehen. Damals stellte man fest, dass der Sektor durch mehr Trans- parenz gestärkt werden sollte, denn bis dato hatten Institutionen damit zu kämpfen, dass man lediglich Wissen über sein eigenes Land und möglicher- weise auch noch über ein Nachbarland hatte. Das machte es für Unternehmen schwierig, grenzüberschreitende Aktivitäten zu planen und nicht nur in einem Land zu agieren. Daher gab es ein Bedürfnis nach Informationen und nach Leuten, die den Status quo der Industrie im weiteren Europa und möglichst auch noch den rechtlichen Rahmen dazu erklären können. Man hat diese Informationsstelle dann zum erweiterten Teilabkommen des Europarats gemacht, wodurch sie den Status des Unparteiischen bekam. Sie können sich das Ganze als Aktivität des Europarats vorstellen. Unsere Mitglieder sind 39 Länder, die im Europarat vertreten sind, plus Marokko und die EU, wobei am Anfang, 1992, einige dieser Länder noch gar nicht Mitglied des Europarats waren. Denken Sie z. B. an die Balten oder Polen.1 Dort bestand ein großes Interesse an der Öffnung der Märkte. Die Zusammenarbeit war für diese Länder ungeheuer wichtig. Das EAO ist Teil des Europarates, allerdings mit einer besonders großen Un- abhängigkeit, insbesondere einer eigenen Budgethoheit, die uns von allen ande- ren Bereichen des Europarats unterscheidet. Unser Budget ist isoliert von dem des Europarats, und das ist auch bei der Gründung ganz klar so festgelegt worden. Die Informationsstelle war als eine Drehscheibe gedacht, um Informationen zu sammeln, die schon existieren, diese zu harmonisieren und eine gemeinsame 1 Dass hier nicht gegendert wird, Methodologie zu entwickeln, damit das alles vergleichbar wird. Damit sollte ist der Mündlichkeit des Gesprächs und der Wiedergabe der darin auch die bessere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Institutionen verwendeten Sprache geschuldet. ermöglicht werden. An diesem Grundgedanken halten wir nach wie vor fest. Eine gendersensible Schreibweise wurde hier nur an den Stellen Zwar gibt es von einigen Bereichen keine Daten, aber wo wir die Möglichkeit angepasst, an denen es für das Ver- haben, Daten zusammenzuführen, tun wir das. Inzwischen decken wir so viele ständnis oder den Diskurs zwingend notwendig war. Bereiche ab, dass wir 27 festangestellte Mitarbeiter*innen haben. LABORGESPRÄCH 115 SUSANNE NIKOLTCHEV / MARTIN KANZLER | JUDITH KEILBACH / FLORIAN KRAUTKRÄMER Unsere Kompetenz ist mittlerweile für das Analysieren von Daten gefragt und wir geben den politisch Verantwortlichen eine Orientierungshilfe, wobei ganz wichtig ist, dass wir deren Entscheidung nicht ersetzen. In unserem Statut ist fest verankert, dass wir uns nicht politisch engagieren und dass wir strikt zu Neutralität und Objektivität verpflichtet sind.2 Durch Informationen schaffen wir eine Verständnisgrundlage, auf der dann hoffentlich sinnvolle und vernünf- tige Entscheidungen getroffen werden können. J.K. / F.K. Gibt es ein Beispiel, bei dem die Analyse der Daten Orientierung geschaffen hat? S.N. Als der Krieg gegen die Ukraine begann, gab es große Besorgnis über die russische Einflussnahme durch diverse Fernsehsender. Dank unserer MAVISE- Datenbank (mavise.obs.coe.int) haben wir feststellen können, welche Sender von außerhalb nach Europa reinsenden und wer dafür die juristische Zustän- digkeit hat in Europa. Die Kommission hat sich dieser Information bedient für ihre Entscheidung, diese Sender zu verbieten. Und die Verordnung der Kom- mission haben wir dann wiederum den Leuten erklärt.3 2 Dazu heißt es in der Satzung konkret : «1.1 Ziel der Europäischen Audiovisuellen Informationsstel- J.K. / F.K. Zwischen den Daten und politischen Entscheidungen gibt es also le – im folgenden ‹die Informations- durchaus einen Zusammenhang? stelle› – ist es, den Informations- fluß innerhalb der audiovisuellen S.N. Häufig ist es so, dass jemand mit einem bestimmten politischen Ziel an uns Industrie zu verbessern und den herantritt, beispielsweise wenn es aufgrund von Marktverzerrung zu Regulie- Überblick über den Markt sowie dessen Transparenz zu fördern. rungen kommen soll. Wenn wir Daten haben, stellen wir diese zur Verfügung, Dabei soll die Informationsstelle sagen aber: Ob das eine Marktverzerrung ist, müsst ihr selbst feststellen. Haben besonderen Wert darauf legen, Verläßlichkeit, Kompatibilität und wir keine Daten dazu, erheben wir diese aber nicht extra. Vergleichbarkeit der Informatio- Martin Kanzler Ein anderes Beispiel wäre der Anteil europäischer Filme in den nen zu gewährleisten.» Council of Europe / Committee of Ministers: VOD-Katalogen. Wir haben diese als Status quo analysiert, bevor die Kommis- Entschließung CM / Res(2020)49 be- sion die Zahl der Quote festgelegt hat. Wir haben also keine Ratschläge gege- treffend Ergänzungen zur Satzung der Europäischen Audiovisuellen Infor- ben, sondern lediglich dokumentiert, wie viel Prozent die europäischen Filme m ationsstelle, 8.12.2020, hier 1, in den Katalogen ausmachen. rm.coe.int/0900001680a0c25e (9.6.2023). S.N. Das ist ein Dauerthema der Kommission: der Erfolg ihrer Unterstützung 3 Das Vorgehen war dabei auch von europäischen Werken. unter Jurist*innen nicht unumstrit- ten, vgl. z. B. die Analyse dazu von Prof. Dr. Wolfgang Schulz: Informa- J.K. / F.K. Das ist ein großer Anteil Ihrer Studien: Auswertung, Produktionen, tionsfreiheit im Ausnahmezustand, in: Legal Tribune Online, 23.4.2022, Marktwert. Mit den regelmäßig veröffentlichten Zahlen zu den Marktantei- lto.de/recht/hintergruende/h/russia- len verschiedener Anbieter lassen sich nicht nur Technikentwicklungen und today-verbot-der-eu-zulaessig-oder- nicht-kompetenzueberschreitung -einführungen nachverfolgen, z. B. im Bereich des Streaming, sondern auch, (28.6.2023). wie sich diese auch im Krisenjahr 2020 im Vergleich zum Zeitraum davor 4 Vgl. European Audovisual Observatory / Council of Europe: und danach entwickelt haben. Durch die Fokussierung auf ganz E uropa Yearbook 2022/2023: Key Trends. lässt sich zudem auch die unterschiedliche Entwicklung in den verschiede- Television, Cinema, Video and On- Demand Audiovisual Services. The nen Regionen nachzeichnen.4 Pan-European Picture, Straßburg M.K. Wir versuchen uns auf die Bereiche zu konzentrieren, zu denen wir als 2023, 36 f., rm.coe.int/yearbook-key- trends-2022-2023-en/1680aa9f02 Observatory Daten haben, die sonst niemand hat, sodass wir einen Mehrwert (31.5.2023). 116 ZfM 29, 2/2023 SIMPLE ZAHLEN UND NEUTRALE INFORMATIONEN schaffen können und nicht einfach wiederholen, was es ohnehin schon von an- derer Seite gibt. Mit dem Aspekt der paneuropäischen Auswertung, sowohl im Kino als auch im Bereich VOD, sind wir einzigartig. J.K. / F.K. Wie kam es dazu, dass Sie inzwischen auch andere Themen als nur Marktzahlen bei Film und Fernsehen bearbeiten? S.N. Der Markt hat sich schlichtweg weiterentwickelt. Zu Beginn ging es haupt- sächlich um Informationen zum Fernsehen und zum Film, Telekommunikation hat damals keine Rolle gespielt. Das ist heutzutage anders. Durch die Konver- genz und neue Distributionsformen wie on demand kamen weitere Bereiche hinzu, die wir dann angehängt haben. Es gibt natürlich auch Bereiche, die wir gerne bedienen würden, aber an denen wir uns die Zähne ausbeißen, wie z. B. steuerrechtliche Aspekte oder das Arbeitsrecht. Aktuell diskutieren wir, ob unsere Ressourcen für Videospiele ausreichen. Also: Es entwickelt sich pragmatisch. M.K. Games können wir aus Kapazitätsgründen nicht abdecken. Manchmal verhindert auch der erschwerte Zugang zu den Daten, dass wir mehr machen können. J.K. / F.K. Können Sie ein Beispiel für einen Bereich nennen, für den Sie keine Daten haben? M.K. Ein Beispiel für einen Bereich, zu dem es Daten gibt, aber zu prohibitiv ho- hen Preisen, waren die Verkaufszahlen von DVDs auf Titelbasis.5 Wir wollen nicht nur Kino, sondern eben auch den Videomarkt erfassen, damit wir den Marktan- teil europäischer Filme berechnen können. Wir hatten sogar ein Kaufkonsortium von interessierten Filminstituten gebildet, um gemeinsam einen Datensatz pro Jahr zu kaufen. Aber der Preis war so hoch, dass das unerschwinglich war. Ein anderes Beispiel sind die Zuschauerzahlen, also die Quoten der Fern- sehsender. Die gibt es, aber sie sind vertraulich. Wir könnten sie zwar zu einem entsprechenden Preis kaufen, aber wir dürfen sie nicht publizieren. Das ist für uns dann wenig sinnvoll. Wir folgen ja keinem Eigenzweck, sondern wir brau- chen Daten, die wir teilen können. Und in anderen Bereichen, wie sustainability, gibt es zurzeit noch keine ech- ten Daten. Es gibt einzelne Fallstudien, aber es gibt keine Organisationen, die landesweit bestimmte Indikatoren erheben und mit denen man ein Netzwerk aufbauen und kooperieren könnte. Es gibt also unterschiedliche Gründe, weshalb wir zu bestimmten Bereichen keine Daten haben. J.K. / F.K. Wo kommen die Daten her, die Sie haben? Werden alle Daten ge- kauft oder gibt es auch andere Wege? 5 Aufgrund von Vertraulichkeits- M.K. Das ist von Thema zu Thema unterschiedlich. Die meisten film- und kino- vereinbarungen kann das EAO keine Anbieter und Preise nennen. spezifischen Daten bekommen wir von EFARN (European Film Agency Research LABORGESPRÄCH 117 SUSANNE NIKOLTCHEV / MARTIN KANZLER | JUDITH KEILBACH / FLORIAN KRAUTKRÄMER Network), einem lange bestehenden und gut funktionierenden Netzwerk von den nationalen Filminstituten. Die Zahlen werden jeweils für den eigenen Markt erhoben. Wir arbeiten mit vier oder fünf Fragebögen pro Jahr, mit denen wir die Zahlen beziehen und dann aggregieren. Das ist auch die Basis für die Kino auswertung. Wir kaufen hier also keine Daten, sondern bekommen diese von den Filminstituten auf Titelbasis. Die VOD-Daten werden hingegen gekauft von ein, zwei, drei unterschiedli- chen Datenprovidern. Die Daten für die MAVISE-Datenbank werden in Koope- ration mit den nationalen Regulierungsbehörden ebenfalls kostenfrei bezogen. Grundsätzlich prüfen wir, ob es Möglichkeiten gibt, von Partnerschaften und Netzwerken verlässliche Daten kostenlos oder zu niedrigen Preisen zu be- ziehen. In vielen Bereichen ist das allerdings nicht möglich, und dann schauen wir, ob wir mit den verlässlichsten Datenprovidern eine Vereinbarung treffen können, die es erlaubt, die Daten zu nutzen und zu publizieren. J.K. / F.K. Machen Sie bei den Daten Stichproben, kontrollieren Sie? M.K. Ja, wo immer wir können. Wenn wir zu einem Thema zwei Datensätze haben, dann machen wir Plausibilitätschecks. Nicht immer, aber bei der Aus- wahl eines Datenproviders schauen wir uns das an. Wir vergleichen Daten und versuchen auf der Grundlage unseres Wissens und unserer Kenntnis aus ande- ren Bereichen einzuschätzen, wie verlässlich die Daten sind. Wir fragen auch immer nach der Marktabdeckung, d. h., wie viel Prozent des Marktes werden durch die Zahlen abgedeckt, und danach, wie die Daten zustande kommen. J.K. / F.K. Inwiefern haben Sie aufgrund Ihrer Stellung und Expertise Zugang zu Daten, die andere nicht bekommen können? M.K. Es bedarf bestimmter Vertraulichkeitsvereinbarungen, aber im Filmbereich z. B. bekommen wir seit fünf Jahren wirklich detaillierte Finanzierungpläne aus verschiedenen Ländern von bis zu fünf-, sechshundert Kinofilmen, die pro Jahr produziert werden. Wir sehen, wie viel von der öffentlichen Förde- rung kommt, wie viel von presales, was von den Produzenten eingebracht wird etc. Diese Daten sind strengstens vertraulich. Die bekommen erstens nur wir, zweitens bekommen wir sie auf anonymer Basis und drittens verpflichten wir uns, diese Daten wirklich nur in aggregierter Form zu publizieren. Durch d iese Kombination von Vertraulichkeitsvereinbarungen, Publikation und Ana- lyse nur auf aggregierter Basis bekommen wir Daten, zu denen wahrscheinlich sonst niemand Zugang hat. S.N. In diesem Zusammenhang sollten wir unseren Beratenden Ausschuss er- wähnen, zu dem europäisch organisierte Verbände gehören, die verschiedenste Gruppierungen der audiovisuellen Welt vertreten – von den Nutzer*innen über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die Privaten, die VOD-Betreiber, die Vertreiber von Kinowerken bis zu den nationalen Regulierungsbehörden. Der Beratende Ausschuss ist so eingerichtet, weil unsere Arbeit an den realen 118 ZfM 29, 2/2023 SIMPLE ZAHLEN UND NEUTRALE INFORMATIONEN Bedürfnissen des Marktes orientiert sein soll. Aber die Zusammensetzung ist auch der Einsicht geschuldet, dass wir unsere Arbeit nur machen können, wenn der Sektor mit uns zusammenarbeitet. Die Leute im Beratenden Ausschuss ha- ben entweder Daten oder spezifische Kenntnisse, die sie beisteuern können. Das ist eigentlich eine ganz gute Zusammenarbeit, auch wenn sie natürlich nicht unproblematisch ist, da wir objektiv bleiben müssen. Die einzelnen Mitglieder haben ja auch eigene Interessen und da müssen wir schon eine gewisse Distanz wahren. Insgesamt haben wir aber durch unseren Beratenden Ausschuss nicht nur eine hervorragende Zuarbeit, sondern auch ein gutes Einschätzungsvermö- gen, was machbar ist. J.K. / F.K. Können Sie auch Beispiele für Themen nennen, die auf Ablehnung stoßen? S.N. Es gibt immer wieder Nachfragen nach der Vergütung von Kreativkräften. Um hierzu solide Auskunft geben zu können, müsste man allerdings die Ver- träge einsehen – und wenn man das im Beratenden Ausschuss anspricht, wird relativ schnell deutlich, dass die Lust, diese offenzulegen, sehr gering ist. Und wenn wir’s nicht einmal von den Leuten in unserem Beratenden Ausschuss be- kommen, dann bekommen wir’s von niemandem. Es ist auch möglich, dass wir Institutionen ansprechen, ob sie Mitglied im Beratenden Ausschuss werden wollen, eine Entscheidung, die letztlich durch das Führungsgremium der EAO getroffen wird. Das ist natürlich da wichtig, wo ganz neue Bereiche in unserer Arbeit auftauchen. Wenn wir morgen Video- games machen würden, dann wäre es sinnvoll zu gucken, wo ist denn da ein europäisch organisierter Vertreter für die Branche? J.K. / F.K. Zu den Schwerpunkten des European Audiovisual Observatory ge- hört seit acht Jahren das Thema Gender, bei dem nicht nur die Zahlen der Beschäftigten in den Kreativberufen der Film- und TV-Branche untersucht werden, sondern auch, wie hoch die Beschäftigung von Frauen in den unter- schiedlichen Gewerken ist (neben Regie auch Komposition, Kamera, Schnitt etc.). Hat hier der Beratende Ausschuss auch ein Bedürfnis signalisiert, oder woher kam der Impuls? S.N. Grundsätzlich arbeiten wir mit einer Fünfjahresstrategie, d. h., wir legen mittelfristig fest, mit welchen Themenbereichen wir uns beschäftigen wollen. Hierfür konsultieren wir den Beratenden Ausschuss und den Exekutivrat,6 der die mittelfristige Strategie absegnen muss. Darüber hinaus arbeiten wir mit jährlichen Aktionsplänen. Neben dem Sammeln von Informationen, die wir ohnehin abfragen, um kohärente Daten zu haben und somit arbeitsfähig zu sein, enthält so ein Aktionsplan auch weitere Themen. Es kommt vor, dass die- 6 Dem Exekutivrat gehören se vom Beratenden Ausschuss vorgeschlagen werden, aber wir diskutieren auch 40 Länder sowie die EU an. Er ist viel mit unseren Netzwerken und machen dann einen Vorschlag, den wir dem das wichtigste Leitungsgremium der EAO. Exekutivrat vorlegen. LABORGESPRÄCH 119 SUSANNE NIKOLTCHEV / MARTIN KANZLER | JUDITH KEILBACH / FLORIAN KRAUTKRÄMER M.K. Letztendlich entscheidet der Exekutivrat, der aber in der Regel unseren Vorschlägen folgt. Unsere Vorschläge basieren einerseits auf dem, was funk- tioniert, was etabliert ist und wonach eine Nachfrage besteht, und anderer- seits auf der Diskussion mit dem Beratenden Ausschuss und dem gesamten Netzwerk. Wenn wir merken, dass bestimmte Themen virulent sind, dann suchen wir aktiv den Austausch, wodurch unsere Schwerpunkte relativ orga- nisch entstehen. J.K. / F.K. Und wie kam es zum Thema Gendergerechtigkeit, das ja politisch durchaus aufgeladen ist? In den Studien sieht man ja beispielsweise auch die Unterschiede zwischen Ländern mit einer aktiven Förderungspolitik wie Schweden im Vergleich zu anderen. M.K. Beim Thema Gender haben beispielsweise tatsächlich ein oder zwei Mit- glieder aus dem Beratenden Ausschuss Interesse bekundet und wir haben das dann aufgegriffen und dem Exekutivrat vorgeschlagen. Damals hatten wir die Regisseure in unserer Datenbank nicht mit Geschlecht erfasst, und es war eine sehr aufwändige Arbeit, den Regisseuren das – hoffentlich – korrekte Ge- schlecht zuzuordnen. S.N. Und um ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte zu nennen: Martin hatte vor drei, vier Jahren die Idee, dass wir uns langsam mal mit Umweltschutz beschäftigen sollten. Wir hatten das Thema also schon im Kopf, als 2021 von unserer – jährlich rotierenden und damals britischen – Präsidentschaft der Wunsch kam, sustainability zum Thema unserer Jahreskonferenz zu machen.7 Wir haben das dann weiterentwickelt, haben überlegt, was strukturell über- haupt vorstellbar ist, und in diesem Bereich dann auch für die Europäische Kommission gearbeitet. J.K. / F.K. Zum Thema sustainability ist es ja schwierig, Daten zu bekommen, weil diese nicht überall erhoben werden. In Großbritannien misst man schon länger den CO2-Fußabdruck von Filmproduktionen, in Deutschland wird das seit Kurzem auch gemacht, aber in anderen Ländern gibt es dazu noch keine Auflagen. Machen Sie Vorschläge, dass die nationalen Filminstitute systema- tisch Daten erheben? M.K. Nein, wir machen keine Vorschläge im Sinne von «Ihr solltet dies und je- nes machen». Aber wir fragen nach – im konkreten Fall z. B., ob die Filminsti- tute eine sustainability-Strategie haben; wenn ja, ob sie diese mit uns teilen kön- nen, und wenn nicht, ob sustainability ein Thema ist, an dem sie in den nächsten ein bis zwei Jahren zu arbeiten gedenken; welche Daten sie dazu erheben und zu welchem Zweck. Wir beschränken uns auf das Nachfragen und sehen uns nicht in der Rolle, anderen Organisationen zu sagen, mit welchen Themen sie 7 Vgl. European Audiovisual Observatory: Green cinema sich beschäftigen sollen. Beim Thema sustainability nahm das Interesse aber conference – Boosting sustainable rasch zu, und inzwischen steht es auf der Agenda jedes Filminstituts. Da bedarf film through international collabo- ration, YouTube, 17.6.2021, es unseres Ratschlags auch überhaupt nicht. Wir sind da – zumindest mit der youtu.be/_85iiw5Fts8 (31.5.2023). 120 ZfM 29, 2/2023 SIMPLE ZAHLEN UND NEUTRALE INFORMATIONEN Datensammlung – eher hintendran, denn vorher müssen diese ja durch jemand anderes erhoben werden. Wir haben nicht die Ressourcen, um eigene Daten auf Projektbasis zu sammeln. J.K. / F.K. Beim Thema sustainability wäre es aber doch sehr sinnvoll, wenn eine Organisation wie das EAO definieren würde, welche Daten erho- ben werden. So sind verschiedenen CO2-Rechner im Umlauf, die ganz unterschiedliche Daten liefern. Einige Länder wie Großbritannien oder D eutschland haben ihre eigenen Rechner entwickelt. M.K. Das liegt an den verschiedenen Stakeholdern und daran, was diese für sinn- voll erachten. Was die CO2-Rechner anbelangt, gibt es seitens der Kommission Bemühungen um eine Harmonisierung. Die Kommission hat ja viel größeres Gewicht als wir! Wir müssen aber noch abwarten, inwieweit diese Diskussio- nen zu einer Harmonisierung der Berechnungsmethodik führen und inwieweit dies mit den Geschäftsmodellen der einzelnen CO2-Rechner vereinbar ist.8 Wir haben eine feasibility study gemacht, um zu schauen, wer welche Da- ten mit welcher Methodologie sammelt, und durch dieses Nachfragen ein ge- wisses Bewusstsein geschaffen, welchen Wert es hätte, wenn Dinge frühzeitig harmonisiert würden. Außerdem machen wir dieses Jahr ein Pilotprojekt, in dem wir versuchen, die Daten von den CO2-Rechnern und von den green labels zu bekommen. Wir haben Fragebögen verschickt und werden sehen, was zu- rückkommt und ob man mit diesen Daten arbeiten kann. Es bewegt sich im Moment so viel bei den Filminstituten, in Deutschland ist die CO2-Kalkulati- on seit diesem Jahr obligatorisch, in Frankreich glaube ich ab nächstem Jahr. Damit gehen viele Reporting-Verpflichtungen einher, es werden Daten und Standards kommen. Das entwickelt sich gerade erst. Was dabei idealerweise sinnvoll wäre und was hingegen in der Praxis geschieht, ist aber nicht notwen- digerweise identisch. Wobei zu sagen ist, dass wir selbst keine Expertise in Sachen sustainability haben. Unsere Expertise liegt im Sammeln paneuropäischer Daten, in einer ge- wissen Harmonisierung, um die Vergleichbarkeit in einem pragmatischen Rah- men zu gewährleisten. Aber wir wissen nicht, wie die richtige carbon footprint calculation aussieht oder was die best practices sind. Das machen andere und wir versuchen nicht, uns zu diesem Thema als Daten-Hub zu positionieren. J.K. / F.K. Das Datensammeln ist ja nie neutral. Setzen Sie mit Ihrer Nachfrage 8 Mehrere Länder haben inzwi- schen ihre eigenen CO2-Rechner nicht doch auch Veränderungen in Gang? entwickelt, um den Fußabdruck S.N. Das kann schon passieren. Aber letztendlich erheben wir ja nur Daten, und der nationalen Filmproduktionen zu messen. Ein gemeinsamer euro- die Leute reagieren drauf, je nachdem ob ihnen die Informationen nützen oder päischer Rechner wird häufig mit nicht. Aufgrund unserer Objektivität muss uns das allerdings egal sein. Ob wir dem Argument abgelehnt, dass die Voraussetzungen in den einzelnen wirklich etwas in Gang setzen, das weiß ich nicht. Ländern sehr unterschiedlich seien M.K. Beim Thema der Gendergerechtigkeit habe ich tatsächlich den Eindruck, und sich dies in den Rechnern wider- spiegeln müsse. dass plötzlich etwas in Bewegung geraten ist. Wir haben nur ganz einfache LABORGESPRÄCH 121 SUSANNE NIKOLTCHEV / MARTIN KANZLER | JUDITH KEILBACH / FLORIAN KRAUTKRÄMER Zahlen recherchiert, nämlich welche Filme von weiblichen Regisseur*innen hergestellt worden sind. Ganz simple Zahlen, die eigentlich nichts erklären und deren Prozentsatz sich auch kaum verändert hat. Aber diese Zahl bietet die Möglichkeit, Bewusstsein zu schaffen. Das Thema ist dann explodiert, es hat politische Bedeutung bekommen und ist von vielen Agenturen aufgegrif- fen worden. Es gibt inzwischen viel detailliertere Studien, die auf die Gründe der Genderungleichheit im audiovisuellen Sektor abzielen und das Umfeld und weitere Faktoren miteinbeziehen, was wir gar nicht können. Ich kann es nicht beweisen, aber ich habe den Eindruck, dass das Thema Gender, das l ange nur marginal interessiert hat, aufgrund der Verfügbarkeit von – wenn auch nur wenigen – Zahlen auf einmal Dynamik entwickelt hat. Vielleicht war unsere Datensammlung tatsächlich ein Anstoß, der zu dieser Entwicklung mit beigetragen hat. — 122 ZfM 29, 2/2023 — EXTRA Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150212. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. C H R I S T O P H E R A . N I X O N «WORKING TO TRANSFORM THE IMAGE» — Postkoloniale Bildkritik, Bildpolitik und die zeitgenössische Queer-of-Color-Fotografie And it struck me that for black people, the pain of learning that we cannot control our images, how we see ourselves (if our vision is not decolonized), or how we are seen is so intense that it rends us. It rips and tears at the seams of our efforts to construct self and identify.1 I Am 17. März 2017 protestierte der Schwarze Künstler Parker Bright öffent- lich im Whitney Museum of American Art. Bright richtete seine Empörung damals live auf Facebook gegen das Ölgemälde Open Casket, das die weiße Künstlerin Dana Schutz anfertigte.2 Bei diesem Protest entstand ein ikonisches Foto. Es zeigt, wie Bright mit uns zugewandtem Rücken an dem ausgestell- ten Gemälde steht. Sein graues T-Shirt trägt den Schriftzug «BLACK DEATH SPECTACLE». Links und rechts sind zwei Personen angeschnitten, die diesen Protest mit ihren Mobiltelefonen aufnehmen. Diese Szene enthält somit be- reits ihre eigene mediale Kommentierung. Bright kritisierte, dass eine weiße Künstlerin den Mord an dem 14-jährigen Schwarzen Emmett Till in diesem Bild ökonomisch und ideologisch ausbeu- tete. Till hatten 1955 zwei weiße Männer entführt, gefoltert und gelyncht. Sie 1 bell hooks: Black Looks: Race and Representation, New York, London gestanden die Tat nach ihrem Prozess und Freispruch. Strafrechtlich wurden 2015 [1992], 3 f. sie jedoch niemals belangt. Mamie Elizabeth Till-Mobley entschied sich dazu, 2 Vgl. Antwaun Sargent: Un- packing the Firestorm around the den Leichnam ihres Sohnes in einem offenen Sarg aufzubahren. Zehntausen- Whitney Biennial’s «Black Death de, insbesondere Schwarze Menschen aus Chicago, betrachteten sein von den Spectacle», in: Artsy, 22.3.2017, artsy. net/article/artsy-editorial-unpacking- beiden Tätern entsetzlich entstelltes Gesicht. Eine mit Till-Mobleys Erlaubnis firestorm-whitney-biennials-black- im Schwarzen Jet Magazine publizierte Fotografie, die den Jungen im o ffenen death-spectacle (28.4.2023). 3 Ein großer Teil der weißen Sarg zeigte und auch Open Casket zugrunde lag, mobilisierte entscheidend Bevölkerung in den USA nahm die die afroamerikanische Bürger*innenrechtsbewegung.3 Diese gestaltete auch Fotografie überhaupt erst 1987 durch die PBS-Dokumentationsserie Till-Mobley nach dem Tod ihres Sohnes als politische Aktivistin mit. Eyes on the Prize des afroamerikani- Die fotografische Dokumentation von Gewalt an BIPoC kann somit auch schen Regisseurs Henry Hampton zur Kenntnis. zu einem subversiven Protestmoment werden. Zuletzt geschah dies durch ein 124 ZfM 29, 2/2023 Handy video, das die Ermordung George Floyds am 25. Mai 2020 bei seiner Festnahme durch die Polizei zeigte und weltweit Black-Lives-Matter-Demon s- trationen auslöste.4 Die 2021 begonnene Gerichtsverhandlung, die zunächst gegen den Polizisten Derek Chauvin in drei Anklagepunkten geführt wurde, hat bei Afroamerikaner*innen erneut Befürchtungen ausgelöst, dass sich wie im Fall Emmett Till die ‹Rassenpolitik› des Souveräns ein weiteres Mal darin zeigt, «welches Leben getötet werden kann, ohne dass ein Mord begangen wird».5 Die Videoaufnahmen, die Floyds Ermordung zeigen (und auf YouTube jederzeit abgerufen werden können), schreiben sich in das kollektive Bildge- dächtnis von weißen und Schwarzen Betrachter*innen ein, das übervoll ist mit Bildern von erniedrigten, gequälten und ermordeten Schwarzen Menschen. Es liegt offensichtlich in ihrem kontextabhängigen Gebrauch, ob sie als Protest gelesen werden oder ob sie am Ende selbst zu einem Black death spectacle beitra- gen, indem sie die rassistische Gewalt und die den Bildern inhärenten kolonia- len Bild regime reproduzieren.6 Mit Jacques Rancière denke ich nicht, dass durch die bloße Menge an sol- chen Gewaltbildern «das Grauen banalisiert wird».7 Es tragen dazu die Dar- 4 Die Bewertung der Tat als stellungsweisen von zu vielen namenlosen Körpern bei, die den verdinglichen- Mord ist hier eine politische und keine juristische Setzung. den, voyeuristischen und gewaltvollen Betrachter*innen-Blick nicht erwidern 5 Giorgio Agamben: Homo sacer. können.8 Diese Aufnahmen nämlich markieren visuell ein sprach- und hand- Die souveräne Macht und das nackte Leben, Berlin 2016 [1995], 151. lungsunfähiges Subjekt und sollen uns bildpolitisch «lehren, dass nicht [jede*r] 6 Vgl. Jalen Banks: Black Death as in der Lage ist zu sehen und zu sprechen».9 Sprachfähigkeit und Agency wer- Spectacle: An American Tradition, in: Berkeley Political Review, 23.11.2019, den zu einem Privileg von wenigen.10 Eine damit notwendige Bildkritik, wie sie bpr.berkeley.edu/2019/11/23/black-death- Stuart Hall in seinem Aufsatz «New Ethnicities» feststellt, soll die etablierten as-spectacle-an-american-tradition/ (28.4.2023). Repräsentationsverhältnisse kritisieren und somit Schwarze Künstler*innen als 7 Jacques Rancière: Das uner- Bildproduzent*innen stärken. Sie soll zudem die hegemonialen Repräsentations- trägliche Bild, in: ders.: Der emanzi- pierte Zuschauer, Wien 2009 [2008], regime durch neuartige Bildpolitiken herausfordern.11 101 – 123, hier 114. Das ‹Soziale› prägt ebenso die Bildwelten wie diese das ‹Soziale› und die le- 8 Vgl. ebd. 9 Ebd. bensweltlichen Begegnungen mit anderen mitgestalten.12 Die visuelle Sinngebung 10 Eine rein quantitative Kritik bestimmt die historisch-politische Handlungsfähigkeit von (marginalisierten) Sub- an Gewaltbildern verdeckt somit eine bestimmten Bildern zugrunde jekten.13 Ich analysiere im Folgenden an zwei fotohistorischen Beispielen zunächst liegende Bildpolitik, die Menschen bildkritisch die visuelle Rassifizierung und Stereotypisierung in den hegemonialen zu leidenden und sprach- und handlungsunfähigen ‹Objekten› Repräsentationsregimen. Die zwei Beispiele sind die Agassiz-Zealy-Daguerreoty- macht und die den Bildsubjekten an- pien und US-amerikanische Lynchfotografien. Anschließend diskutiere ich zwei getane dargestellte Gewalt dadurch potenziert. zeitgenössische Queer-of-Color-Fotoarbeiten. Sie zeigen paradigmatisch die 11 Vgl. Stuart Hall: New Ethnici- Möglichkeit von postkolonialen Bildpolitiken, Schwarze Menschen als geschicht- ties, in: James Donald, Ali Rattansi (Hg.): ‹Race›, Culture and Difference, liche und visuelle Subjekte in ihrer Pluralität sichtbar zu machen. London u. a. 1992, 252 – 259. Die Fotografie bietet sich dabei besonders als Medium an. Fotos prägen bis 12 Vgl. zu diesem Zusammenhang in den Visual Studies William J. T. heute die analoge wie digitale massenmediale Kommunikation. Zeitungen und Mitchell: Showing Seeing: A Critique Zeitschriften, auch (Werbe-)Plakate und Postkarten, distribuierten und institu- of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture, Bd. 1, Nr. 2, 2002, 165 – 181, tionalisierten mit den Fotografien, die in bzw. auf ihnen abgebildet werden, lange doi.org/10.1177/147041290200100202. schon eine koloniale Phantasmagorie des Schwarzseins. Die Fotografie teilte mit 13 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London, New York Kolonialismus und Rassismus im 19. und 20. Jahrhundert eine Geschichte. Ihre 2004 [1994], 18. EXTRA 125 CHRISTOPHER A. NIXON ‹Indexikalität› und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Zuschreibungen boten Fotografien als Mittel an, um ‹Rasse(n)› mutmaßlich objektiv darzustel- len.14 Das Foto wurde zum anthropologischen Hilfsmittel und Dokument, mit dem sich sozial konstruierte Rassenhierarchien begründen und naturalisieren ließen. Im Folgenden geht es somit auch darum, die Fotografie als «oppressive 14 Vgl. David Green: Veins of weapon» und, wo sie Verbrechen und marginalisierte ‹Lebensweisen› dokumen- Resemblance: Photography and Eugenics, in: The Oxford Art tiert, als «liberating device» in den Blick zu nehmen.15 Journal, Bd. 7, Nr. 2, 1984, 3 – 16, doi.org/10.1093/oxartj/7.2.3; Nicholas Mirzoeff: The Shadows and the Substance: Race, Photography, and II the Index, in: Coco Fusco, Brian Wallis (Hg.): Only Skin Deep: Changing Die Agassiz-Zealy-Daguerreotypien Visions of the American Self, New York Daguerreotypie und Fotografie begründeten mit ihren frühen Aufnahmen ein 2003, 111 – 127. 15 Mark Sealy: Decolonising the bis heute anwachsendes Bildarchiv, das Allan Sekula «shadow archive» nennt.16 Camera: Photography in Racial Time, Dieses «archive of images of the body»17 umfasst das gesamte soziale ‹Feld›, London 2019, 1. 16 Allan Sekula: The Body and the dessen Herrschaftsverhältnisse sich in den (an-)geordneten Körperabbildungen Archive, in: October, Bd. 39, 1986, widerspiegeln. Neben den gesellschaftlich ‹normalisierten› (weißen, männli- 3 – 64, hier 10, doi.org/10.2307/778312. 17 Ebd. chen, gesunden, bürgerlichen) Körpern beinhaltet das Schattenarchiv auch die 18 Ebd. Dazu zählen nicht- davon abweichenden «embodiments of the unworthy», wie Sekula schreibt.18 weiße, jüdische, weibliche, queere, erkrankte und kriminalisierte Sie wurden mittels Physiognomie und Phrenologie, die im 19. Jahrhundert Personen sowie Menschen mit ganz im Sinne des klassifikatorischen Zeitgeists arbeiteten, pseudowissen- Behinderungen. 19 Sekula: The Body and the schaftlich stigmatisiert. Mithilfe des fotografischen und mutmaßlich objektiven Archive, 7, Herv. i. Orig. Archivs konnte man diese Körper(-vorstellungen) einteilen, überwachen und 20 Vgl. Sealy: Decolonising the Camera, 107. disziplinieren. «Thus photography came to establish and delimit the terrain of 21 Vgl. zu diesem Begriff der the other, to define both the generalized look – the typology – and the contingent Alterisierung Gayatri Chakravorty Spivak: The Rani of Sirmur: An Essay instance of deviance and social pathology.»19 in Reading the Archives, in: History Eine kritische Archivarbeit kann, folgt man Mark Sealy in Decolonising and Theory, Bd. 24, Nr. 3, 1985, 247 – 272, doi.org/10.2307/2505169. the Camera,20 die diesen Bildern immanente Logik des Othering zutage för- 22 Vgl. zu den von Agassiz beauf- dern.21 Dies lässt sich an den 15 Daguerreotypien demonstrieren, die Joseph tragten Fotoarbeiten während eines ‹Forschungsaufenthalts› in Brasilien T. Zealy 1850 anfertigte.22 Auf ihnen sind in Afrika und den USA geborene 1865/66 Margrit Prussat: Bilder der versklavte Schwarze Menschen zu sehen, die Robert W. Gibbes in Columbia, Sklaverei. Fotografien der afrikanischen Diaspora in Brasilien 1860 – 1920, South Carolina, Jean Louis Rodolphe Agassiz in situ ‹vorführte›. Die Ober- Berlin 2008, 75 – 79. und Ganzkörperaufnahmen zeigen die versklavten Menschen nackt, frontal, 23 Vgl. Ilisa Barbash u. a. (Hg.): To Make Their Own Way in the World: The im Profil und in Rückansicht.23 Gibbes beauftragte Zealy und ließ die Auf- Enduring Legacy of the Zealy Daguerreo- nahmen zu Agassiz nach Cambridge schicken. Am 27. September 1850 prä- types, New York 2020, 26 – 55. 24 Danach zeigte Agassiz die sentierte A gassiz diese bei einem Treffen des Cambridge Scientific Club,24 um Daguerreotypien öffentlich kein durch den mutmaßlich objektiven Kamerablick seine polygenetische ‹Rassen- weiteres Mal. Vgl. zu den Gründen John Stauffer: «Not Suitable for theorie› zu bekräftigen.25 Die Daguerreotypien sollten folglich d okumentieren, Public Notice»: Agassiz’s Evidence, dass die unterschiedlichen ‹Menschenarten› keinen gemeinsamen Ursprung in: Barbash u. a. (Hg.): To Make Their Own Way in the World, 279 – 295. haben, um den weißen Überlegenheitsanspruch zu begründen. Es sind Typo- 25 Vgl. Brian Wallis: Black Bodies, logien eines rassistischen und kolonialen Repräsentationsregimes,26 die den White Science: Louis Agassiz’s Slave Daguerreotypes, in: Fusco, Wallis individuellen Menschen in einem verdinglichenden Körperbild zum Schwei- (Hg.): Only Skin Deep, 163 – 181, hier gen bringen. Während die Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts Adel und 165 – 172. 26 Vgl. ebd., 177. Bürgertum als selbstbewusste Individuen inszenierte, wird beispielsweise die 126 ZfM 29, 2/2023 «WORKING TO TRANSFORM THE IMAGE» auf einigen Agassiz-Zealy-Daguerreotypien abgebildete und im Kongo ge- borene Person Renty auf ein bloßes Objekt reduziert und kommodifiziert.27 Die Agassiz-Zealy-Daguerreotypien nämlich implizieren ein B esitzverhältnis. «Only the photograph could begin to claim the legal status of a visual document of ownership.»28 Als Schwarze Menschen in die frühe Fotogeschich- te lediglich als rechtlose Objekte eingingen (mit ihren Körpern, die sie de jure nicht besaßen), wiederholten die Aufnahmen ihre gewaltvolle I n besitznahme. Susan Sontag hat in einem anderen Kontext bereits auf die mörderische Objek- tivation und Gewaltrhetorik des Fotografiert-Werdens hingewiesen.29 27 Vgl. Barbash u. a. (Hg.): To Lynchfotografien als Postkarten Make Their Own Way, 34 – 37; zu den Eine kritische Fotogeschichte muss sich damit auseinandersetzen, dass die Foto- auf den Daguerreotypien abge- bildeten Personen vgl. darin Gregg grafie ein integrales Moment des ritualisierten Lynchens in den USA nach dem Se- H ecimovich: The Life and Times zessionskrieg gewesen ist.30 Wie die Kleidungsstücke, Haarbüschel und Knochen of Alfred, Delia, Drana, Fassena, Jack, Jem, and R enty, 71 – 117. von gelynchten Menschen wurden auch Fotografien des Lynchmords trophäen- 28 Sekula: The Body and the ähnlich gesammelt und zirkulierten als Postkarten in den USA.31 Sie zeigen den Archive, 6, Herv. i. Orig. 29 Vgl. Susan Sontag: In Plato’s misshandelten, mutilierten und nicht selten verbrannten Schwarzen Leib mit dem Cave, in: dies.: On Photography, lustvollen Blick von Mörder*innen, um dadurch die souveräne Macht zum Töten London 1979, 3 – 24, hier 14 f. Wie Sontag beschrieb auch Roland als ein weißes Privileg zu markieren. Diese Postkarten gehörten wie das Lynchen B arthes (Die helle Kammer. Bemer- selbst zu einem öffentlichen ‹Spektakel›, das weiße nationale Identität formte, ein kungen zur Photographie, Frank- furt / M. 2008 [1980], 18 – 24) das rassistisches Terrorregime aufrechterhielt und – nach der formalen Abschaffung Fotografiert-Werden als Objekt- der Versklavung durch den dreizehnten Verfassungszusatz – in käuflich erwerbba- werdung, ‹kleine› Todeserfahrung und Selbstbesitzverlust. ren Bildern die Kommodifizierung des Schwarzen Körpers fortführte.32 30 Vgl. Leigh Raiford: The Die Lynchfotografien wurden allerdings auch zu einem Moment des anti- Consumption of Lynching Images, in: Fusco, Wallis (Hg.): Only Skin rassistischen Widerstands. Die National Association for the Advancement of Deep, 267 – 273, hier 269; Mirzoeff: Colored People (NAACP) publizierte einige Postkarten und Fotografien in ih- The Shadow and the Substance, 120 – 123. rem Magazin The Crisis, das der Soziologe W. E. B. Du Bois herausgab. Zum 31 Vgl. Raiford: The Consumption ersten Mal geschah dies 1912, als die Zeitschrift eine an ein weißes NAACP-Mit- of Lynching Images, 268 f. 32 Auch die deutsche Kolonial- glied, Reverend John Haynes Holmes, gesendete Postkarte mit dem folgenden geschichte konstituierte ein um- Schreibmaschinentext abdruckte: «This is the way we do them down here. The fangreiches Bildarchiv, in dem sich ebenfalls zahlreiche Postkarten fin- last lynching has not been put on card yet. Will put you on our regular mailing den lassen, die, in Privatalben abge- list. Expect one a month on the average.»33 legt, zu kolonialpropagandistischen Zwecken rassifizierte, exotisierte Die Postkarte zeigt einen um einen gelynchten Schwarzen Mann gruppierten und getötete Schwarze Menschen weißen Mob. Der Leichnam wird dem Betrachter*innen-Blick wie eine Jagdtro- abbildeten, vgl. Felix Axster: Koloni- ales Spektakel in 9 x 14. Bildpostkarten phäe dargeboten. Die weißen Personen auf dem Foto blicken direkt in die Kame- im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld ra, ohne Angst, erkannt und bestraft zu werden. Durch eigene Recherchen und 2014, 81 – 120, doi.org/10.1515/ transcript.9783839422090. begleitende Berichte, die das Geschehen des abgebildeten Lynchings wiederga- 33 The Crisis, Bd. 3, Nr. 3, 1912, ben, strafte The Crisis die von weißen Presseleuten aufbereiteten konventionellen 110. 34 Vgl. Astrid Kusser Ferreira: Erzählungen Lügen, die das Lynchen etwa als Strafjustiz und die weiße Mehr- Die Bilder der Toten zum Sprechen heitsgesellschaft als eigentlich Leidtragende inszenierten.34 Fotografien wurden bringen. Lynching-Fotografien als Instrumente politischer Auseinan- zu Mitteln, die die alltägliche rassistische Gewalt dokumentierten und beleg- dersetzung um 1900, in: Mittelweg ten.35 Afroamerikaner*innen konnten sich im Widerstand gegen dieses Unrecht 36, Jg. 30, Nr. 2: Widerständigkeit, April/Mai 2021, 34 – 56, hier 40 f. zu einem historisch-politischen Subjekt des Protests formieren. 35 Vgl. ebd., 48 – 54. EXTRA 127 CHRISTOPHER A. NIXON Stereotypisierung und visuelle Rassifizierung Die zwei soeben erläuterten Beispiele, die sich im Übrigen auch im deutschen Kontext mühelos um weitere Kolonialfotografien, Minstrelfotos, Völkerschau- aufnahmen, historische wie aktuelle Pressefotos und rassistische Werbebilddar- stellungen ergänzen ließen – sie liegen zum Teil noch unerschlossen in A rchiven und ethnologischen Sammlungen –, haben alle die visuelle Verdingl ichung, Stereotypisierung und Fetischisierung des Schwarzen Körpers gemeinsam.36 In Anlehnung an Rancière nenne ich dieses Bildarchiv ein ‹ polizeiliches› Sicht- barkeitsregime, das Schwarze Menschen in fremdbestimmten Körperdarstel- lungen erscheinen lässt.37 Als eine hegemoniale ‹Aufteilung des Sinnlichen› distribuieren sie dadurch eine vom weißen / kolonialen Blick konstruierte und naturalisierte Vorstellung von ‹Rasse›. «[B]odies are inscriptive surfaces that are discursive texts», schreibt Ronald L. Jackson II.38 Sie werden in diesem Sinn auch durch die ästhetischen Stereo- 36 Vgl. Stuart Hall: The Spectacle typisierungen des fotografischen Archivs mit rassifizierten Bedeutungen über- of the «Other», in: ders., Jessica schrieben. «[B]ody politics is the lifeline for race and racism.»39 Evans, Sean Nixon (Hg.): Representa- tion, Los Angeles u. a. 2013 [1997], Im Fall von Rodney King 40 etwa sprachen die Geschworenen die angeklag- 215 – 271, hier 247 f.; Bhabha: The ten Polizisten trotz eines Amateurvideos, das deren unverhältnismäßige Bruta- Location of Culture, 97 – 120. 37 Vgl. Jacques Rancière: Die lität festhielt, frei. Dies bestätigt, wie schon Judith Butler in ihrem lesenswerten Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik Aufsatz «Endangered / Endangering: Schematic Racism and White Paranoia» und Politik, in: ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und feststellt,41 dass eine lange Geschichte von rassifizierten Bildregimen die Wahr- ihre Paradoxien, hg. v. Maria Muhle, nehmung vorbelastet, sodass Schwarze (‹männlich› gelesene) Menschen wie Berlin 2008, 21 – 73. 38 Ronald L. Jackson: Scripting King genuin gefährlich scheinen. Und dies kann tödliche Folgen haben.42 the Black Masculine Body: Identity, Dass die kolonisierten und versklavten Menschen als gewalttätig, unzivi- Discourse, and Racial Politics in Popular Media, Albany 2006, 5. lisiert und ausbeutbare ‹Werkzeuge› visuell markiert wurden, konsolidierte 39 Ebd. freilich die kolonialen Körpervorstellungen und Ordnungen, als man die Ver- 40 Der Afroamerikaner Rodney King wurde am 3. März 1991 von sklavten auf den Plantagen gewaltvoll in harte physische Arbeit zwang, die man Polizisten des Los Angeles Police ihnen als mutmaßlich naturgemäße Arbeitsform zuschrieb. Lynchfotografien Department (LAPD) brutal verhaftet. Ein Anwohner filmte dies mit seiner und die dokumentierte koloniale Lynchjustiz sollten am konsequenzlos tötba- Videokamera. Die Polizisten wurden ren Schwarzen Leib das weiße Schutzbedürfnis visuell befriedigen und zeigten im Strafverfahren freigesprochen, wobei die Jurymitglieder überwie- doch in Wahrheit das tremere des Terrors. gend weiß positioniert waren. Die Die rassifizierte Sinngebung des Schwarzen Körpers im fotografischen Bild, Empörung über das Urteil löste die Unruhen in Los Angeles 1992 aus. die ihm die historisch-politische Handlungsfähigkeit aberkennt, nennt Monique 41 Judith Butler: Endangered/ Roelofs «aesthetic racialization, a term that refers to the ways in which aesthetic Endangering: Schematic Racism and White Paranoia, in: Robert Gooding- elements support racializing processes».43 Die durch Stereotypisierung und äs- Williams (Hg.): Reading Rodney thetische Rassifizierung erzeugte visuelle Überdeterminierung im fotografischen King / Reading Urban Uprising, New York, London 1993, 15 – 22. Schattenarchiv macht Schwarze Menschen, insofern ihre ‹Präsenz› in kulturellen 42 Vgl. George Yancy: The Violent und sozialen Institutionen nicht ohnehin schon fehlt, e igentlich ‹unsichtbar›. Paul Weight of Whiteness: The Existential and Psychic Price Paid by Black Male C. Taylor beschreibt black invisibility als Nichtanerkennung bzw. Anerkennungs- Bodies, in: Naomi Zack (Hg.): The verweigerung in Hinsicht auf das Person-Sein, die Perspektiven und Pluralität von Oxford Handbook of Philosophy and Race, Oxford 2017, 587 – 597; konkret Schwarzen Menschen.44 Im Gegensatz dazu eröffnen die nun folgenden zwei Bei- zu Schwarzen männlichen Körper- spiele der Bildpolitik zeitgenössischer Queer-of-Color-Fotografie eine den, mit einschreibungen Jackson: Scripting the Black Masculine Body, 73 – 102. Du Bois gesprochen, ‹Schleier› ablegende Sichtbarkeit,45 die Schwarze Menschen 128 ZfM 29, 2/2023 «WORKING TO TRANSFORM THE IMAGE» als visuelle Subjekte darstellt und anerkennt. Es geht in diesen Bildpolitiken somit darum, das gesellschaftsverändernde Potenzial des Visuellen zu entfalten. 43 Monique Roelofs: Race-ing Aesthetic Theory, in: Paul Taylor, Linda Alcoff, Luvell Anderson (Hg.): The Routledge Companion to III the Philosophy of Race, New York Zwei Schwarze Menschen, Nana und Razak, liegen zusammen auf einem Sofa 2017, 365 – 379, hier 366, doi.org/ 10.4324/9781315884424, Herv. i. (Abb. 1). Helles Sonnenlicht scheint durch eine geöffnete Jalousie und fällt in Orig. Im Weiteren bestimmt Roelofs die intime Szene fast wie im Spiel weich hinein. Ein ärmelloses weißes Shirt « racialized aestheticization» als einen Begriff, «that denotes the contri- reflektiert leuchtend die wärmenden Lichtstrahlen. In dem abgebildeten Raum butions that racial constellations liegt eine fürsorgliche Atmosphäre. Wie im Traum liegen die Liebenden welt- make to aesthetic phenomena», ebd., Herv. i. Orig. Vgl. zu dem vergessen und zurückgezogen umschlungen, was durch die leichte Unschärfe Begriff auch dies.: Racialization as des Fotos unterstützt wird. an Aesthetic Production: What does the Aesthetic do for Whiteness and Ein anderes Bild des 1990 in Ghana geborenen Fotografen Eric Gyamfi Blackness and Vice Versa?, in: George zeigt Ama und Shana, die sich ebenso liebevoll wie Nana und Razak in die Au- Yancy (Hg.): White on White / Black on Black, Lanham 2005, 83 – 124, sowie gen blicken, beim Lunch (Abb. 2). Die Schwarz-Weiß-Fotos aus Gyamfis Serie die Diskussion bei Paul C. Taylor: Just Like Us (2016 – 2019) sind alle in dem Sinn unaufgeregt, dass sie das Le- Black is Beautiful: A Philosophy of Black Aesthetics, Hoboken 2016, 22. ben selbst festzuhalten suchen. Das Kameraauge fetischisiert die fotografierten 44 Ebd., 43 – 63. Menschen, mit denen Gyamfi teils befreundet ist, nicht. Eine Exotisierung und 45 Vgl. W. E. B. Du Bois: The Souls of Black Folk [1903], in: ders.: The Fetischisierung des Schwarzen Körpers bleibt selbst bei Kwasi und Annertey Souls of Black Folk with «The Talented (Abb. 3) aus, die Gyamfi in einem paradiesisch anmutenden Wasserfallszenario Tenth» and «The Souls of White Folk», New York 1989, 1 – 199. nackt und im Ganzkörperprofil fotografiert. 46 Vgl. Raymond A. Atuguba: In Ghana sind homosexuelle ‹Handlungen› zwischen Männern illegal und Homosexuality in Ghana: Morality, Law, Human Rights, in: Journal werden mit Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren bedroht. Diese Kriminalisierung of Politics and Law, Bd. 12, Nr. 4, hat ihren Ursprung in den britischen Kolonialgesetzen.46 Koloniale Vorstellun- 2019, 113 – 126, doi.org/10.5539/jpl. v12n4p113. gen von Heteronormativität wurden auch im antikolonialen und antirassistischen 47 Vgl. María do Mar Castro Varela, Widerstand ungebrochen fortgeführt und das koloniale / rassistische Machtver- Nikita Dhawan: Spiel mit dem «Feu- er» – Post/Kolonialismus und Hetero- hältnis selbst metaphorisch vergeschlechtlicht. Dies stärkte die nationalen Iden- normativität, in: Femina Politica, titätsdiskurse und internalisierte hypermaskuline (patriarchale) Geschlechter- Jg. 14, Nr. 1, 2005, 47 – 58, hier 48 – 50; Kobena Mercer: Welcome to the Jungle. vorstellungen. Nationaldiskurs und Patriarchat begriffen und inszenierten sich New Positions in Black Cultural Studies, als eine emanzipatorische Wiedergewinnung von Unabhängigkeit und Macht.47 New York, London 1994, 131 – 170; hooks: Black Looks, 87 – 113. Gyamfis Fotos gelingt es durch ein neues Sehen (das ein ‹Verlernen› ist) 48 mühe- 48 Vgl. Walter Mignolo: Decolonial los, «[postkoloniale und queerfeministische] Theoriestränge in eine produktive Aesthetics: Unlearning and Relear- ning the Museum Through Pedro Krise zu bringen»49 und damit hegemoniale koloniale Männlichkeit und Hetero- Lasch’s Black Mirror / Espejo Negro, in: normativität ‹intersektional› zu dekonstruieren, «ohne klassische Stereotype zu Pedro Lasch (Hg.): Black Mirror / Es- pejo Negro, Ausstellungskatalog bedienen und damit bestehende Machtkonfigurationen zu stabilisieren».50 des Nasher Museum of Art at Duke Die Fotos, auf denen LGBTQIA+-Menschen zu erkennen sind, dokumentie- University, Durham 2010, 86 – 103. 49 Castro Varela, Dhawan: ren und archivieren intersektionale Identitäten. Ihre Bildpolitik, die sich gegen Spiel mit dem «Feuer», 56. die vorherrschende Repräsentationsordnung richtet, hinterfragt und transfor- 50 Ebd. 51 Castro Varela und Dhawan miert den heteronormativen und weißen Blick. Sie sind Teile eines stetig anwach- weisen in diesem Zusammenhang senden dekolonialen / postkolonialen Bildarchivs, das selbstbestimmte Körper- auf die von Spivak «geforderte dekonstruktive Wachsamkeit» hin, darstellungen, Körpervorstellungen und Körperbeziehungen einführt, die den ebd., 57. kolonialen Diskurs auf ‹wachsame› Weise mehrdimensional dekonstruieren.51 Sie 52 Vgl. Gloria Anzaldúa: Border- lands / La Frontera: The New Mestiza, bewirken die visuelle Anerkennung eines postkolonialen queeren Subjekts.52 San Francisco 2012 [1987]. EXTRA 129 CHRISTOPHER A. NIXON Abb. 1 Eric Gyamfi: Nana and Razak, 2016 Abb. 2 Eric Gyamfi: Ama and Shana at lunch, 2016 130 ZfM 29, 2/2023 «WORKING TO TRANSFORM THE IMAGE» Abb. 3 Eric Gyamfi: Kwasi and Annertey, 2016 Gyamfi unterläuft die kolonialen Stereotype mit queeren Bildsubjekten und bezeugt mit seinen Fotos, dass queere Menschen in Ghana leben, arbeiten und lieben. Paul Mpagi Sepuya, geboren 1982 in den USA, verfolgt in seinen Arbei- ten eine andere Strategie, um das koloniale / rassifizierte Fotoarchiv mit gegen- hegemonialen Bildern zu dekonstruieren. Stuart Hall hat solche die rassifizierten Repräsentationsregime herausfordernden Gegenstrategien in seinem Aufsatz «The Spectacle of the ‹Other›» beschrieben. Ein Strategem, das S epuyas Foto- arbeiten gut fasst, charakterisiert Hall folgendermaßen:53 [This] counter-strategy locates itself within the complexities and ambivalences of re- presentation itself, and tries to contest it from within. It is more concerned with the forms of racial representation than with introducing a new content. It accepts and works with the shifting, unstable character of meaning, and enters, as it were, into a struggle over representation […]. Thus, instead of avoiding the black body […], this strategy positively takes the body as the principal site of its representational strate- gies, attempting to make the stereotypes work against themselves. Instead of avoi- ding the dangerous terrain opened up by the interweaving of ‹race›, gender and se- xuality, it deliberately contests the dominant gendered and sexual definitions of racial difference by working on black sexuality […]. However, this strategy makes elaborate play with ‹looking›, hoping by its very attention, to ‹make it strange› – that is, to de-familiarize it, and so make explicit what is often hidden – its erotic dimensions.54 53 Vgl. Hall: The Spectacle of In diesem Sinn thematisiert Sepuya in seinen Arbeiten Situation und Moment the «Other», 259 – 267; Paul Mpagi Sepuya, Ausstellungskatalog des des Fotografierens selbst und fragt grundsätzlich, wie Schwarze und queere Contemporary Art Museum St. Louis, (Selbst-)Repräsentation in seinen bildlich, räumlich und motivisch komplexen New York 2020. 54 Hall: The Spectacle of the Studioaufnahmen gelingen kann, die das überdeterminierte Schwarze Subjekt «Other», 263 f., Herv. i. Orig. EXTRA 131 CHRISTOPHER A. NIXON Abb. 4 Paul Mpagi Sepuya, Mirror Study (0X5A1317), 2017, Orig. i. Farbe 132 ZfM 29, 2/2023 «WORKING TO TRANSFORM THE IMAGE» mit Bedeutungsfragmenten und Interpretationsunsicherheiten lustvoll über- schreiben. Seine Arbeiten ‹verfremden› Sehen und Gesehenwerden. Wie in dem Foto Mirror Study (0X5A1317) (Abb. 4) richtet Sepuya das schwarze Kamera- objektiv in seinen ‹Spiegelstudien› nämlich nicht bloß auf die Betrachter*innen. Durch die aufgebauten Spiegelanordnungen fotografiert Sepuya in räumlich oft uneindeutigen Formationen zugleich sich selbst. Dadurch enthüllt sich die fotografische Situation und Sepuya dekonstruiert die im Bild durch seine Ge- schichte eingeschriebenen kolonialen Machtverhältnisse, indem er die Differenz zwischen dem begehrenden Subjekt und dem begehrten Objekt im abgebildeten nackten Schwarzen Leib des Fotografen plötzlich zusammenfallen lässt. Evan Moffitt schildert, wie Sepuya bei seinem Fotoshooting unzählige Aus- schnitte mit Körperfragmenten auf dem Studiofußboden ausbreitete und ein ausgewähltes Unterarmfragment neben seinem Gesicht an einem Spiegel be- festigte.55 Moffitt fragte sich, ob diese ‹Zerstückelung› am Ende auch seinem Bild widerfahren soll und sein Körper(-bild), als Teil dieses widerständigen fotografischen Community-Archivs,56 dadurch in neue bedeutungskonstituie- rende Beziehungen mit anderen gebracht wird. Sepuya behandelt den menschlichen Leib wie auch seine Fotografien wie Texte, deren in einem reichen Gewebe aus Bezügen verortete ‹Lektüre› Bedeutungsfragmente zusammenfügt und sogleich wiederum trennt. Dieses Bedeutungsspiel kann, im Gegensatz zum oben beschriebenen stereotypisierten und deshalb überdeterminierten Foto, prinzipiell nicht abgeschlossen werden. Fremde, zum Teil homoerotische Fotografien (auch in ihnen taucht mise en abyme das Kameraobjektivmotiv auf), Zeichnungen, Katalogseiten überlagern in Studio (05XA0173) noch Sepuya selbst sowie sein Kameraobjektiv und sind in Studio Wall (_1000021) und Studio (_2150762) komplett zu Wandcollagen ar- rangiert. Sepuya eröffnet dadurch einerseits konkrete inhaltliche Bezüge etwa zu den malerischen Arbeiten von Richard Bruce Nugent und Patrick Angus sowie dem schriftstellerischen Werk von Langston Hugh. Andererseits erin- nern seine Fotos formal an Félix González-Torres, insofern in dessen wie auch S epuyas (Selbst-)Porträts Identität in Fragmente eines interrelationalen Gewe- bes zerfällt und überdies beide das dialektische Spiel des Zu-sehen-Gebens (An- wesenheit) im simultanen Nicht-zu-sehen-Geben (Abwesenheit) beherrschen. Aus diesem Grund ist auch in beiden Werken das Spuren-Motiv so zentral. Die bei beiden offenkundige theoretische Nähe zu Roland Barthes macht die in der Forschung zu wenig beachtete Trennung zwischen jouissance (Wollust) und plaisir (Lust) als eine Dekonstruktion des hegemonialen heteronormativen gesellschaftlichen Lustbegriffs deutlich,57 die dadurch auch einem anderen (ho- 55 Vgl. Evan Moffitt: Grease on mosexuellen) Begehren einen Möglichkeitsraum eröffnet. Die Umwertung des Glass, in: Paul Mpagi Sepuya, 20 – 25, reproduzierten und reproduzierbaren sowie kontrollierten und kontrollierba- hier 21. 56 Vgl. Wassan Al-Khudhairi: ren intellektuellen Begehrens erfolgt durch die selbstreferentielle narzisstische I nterview with Paul Mpagi Sepuya, Wollust, die auch Betrachter*innen im begehrenden Spiel mit den Arbeiten in: Paul Mpagi Sepuya, 11 – 19, hier 17. 57 Vgl. Roland Barthes: Die Lust am von Gyamfi und S epuya erfahren können. Text, Frankfurt / M. 2016 [1973], 22. EXTRA 133 CHRISTOPHER A. NIXON In Sepuyas Dark-Room-Plates wird das homosexuelle Begehren, natürlich auch in Anspielung auf den Darkroom als sexuelle Heterotopie,58 nochmals thematisiert. Darkroom Mirror (_2070386) zeigt den sich im Spiegel fotografie- renden Sepuya mit dem Kameraobjektiv in seinen Händen, während ein Mann ihn mit seinen Armen umschlingt und selbst nach hinten in den schwarzen Hintergrund blickt. Auch in Darkroom Mirror (_2060999) ist kein Gesicht zu s ehen (die Anonymität des Darkrooms), was unseren Fokus auf die Hände lenkt (die Metonymie des Begehrens). Die Fotografien strahlen wie Sepuyas frühe Porträts eine Intimität aus, die auch an Gyamfi erinnert. Orifice (0X5A6982) zeigt ein Stofftuch, das oben links und rechts von den gerade noch im Bild- ausschnitt sichtbaren Fingerspitzen Sepuyas gehalten wird. Durch eine in den Stoff geschnittene Öffnung blickt die Kameralinse, die uns die auf dem Spiegel hinterlassenen Verschmierungen zu sehen gibt.59 Wie Narziss sich in seinem Spiegelbild, das ihm eine ruhige Seeoberfläche zurückwirft, selbst lieben lernt (so die Umdeutung des Mythos eines Schwarzen Narziss), können Sepuya und die Betrachter:innen diesen beschwerlichen und unabschließbaren Weg ge- meinsam beschreiten. «By destabilizing signs of race, gender and sexuality, […] artists draw critical attention to the cultural constructedness, the artifice, of the sexual roles and identities we inhabit.»60 Die präsentierten queeren Schwarzen Gegenarchive, die Gyamfi und Sepuya mit ihren Fotoarbeiten erzeugen, stören schließlich auch das tradierte koloniale Schattenarchiv. Sie schaffen Sichtbarkeit, indem sie Schwarze Anwesenheit in oft weiß dominierten Räumen ermöglichen, Schwarze Menschen als Personen und Persönlichkeiten, ohne ihre Stereotypisierung im Bild, zeigen und sowohl die Bilddiskurse durch marginalisierte Perspektiven als auch die Schwarzen Emanzipationsdiskurse durch eine intersektionale Pluralität erweitern. Diese Repräsentationspolitiken fordern eine umfassende Solidarität und rufen die Betrachter*innen aktiv zur Verantwortung.61 Gyamfi und Sepuya ändern mit ihren Bildern nachhaltig unsere Wahrnehmung und üben in eine bedingungs- lose Anerkennung ein, was einen unmittelbaren Einfluss auf die historisch- 58 Vgl. Michel Foucault: Die politische Handlungsfähigkeit von marginalisierten Menschen haben kann.62 Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Das Foto des toten Emmett Till im Jet Magazine, die Agassiz-Zealy- Radiovorträge, Frankfurt / M. 2013 [1966]. Daguerreotypien und Lynchfotografien, die Videoaufnahmen von Rodney 59 Vgl. Al-Khudhairi: Interview King und George Floyd bezeugen nicht allein den strukturellen Rassismus, with Paul Mpagi Sepuya, 19. 60 Mercer: Welcome to the Jungle, dem ausschließlich ein aktives Engagement etwas entgegensetzen kann. Sie 141, Herv. i. Orig. fordern – aus der Empörung über ihre eigene Existenz (das ‹Es-ist-so-gewe- 61 Vgl. Hall: New Ethnicities, 254 – 255. sen›63 trägt ein Es-darf-nicht-so-gewesen-Sein) – überdies eine postkoloniale 62 Vgl. Christopher A. Nixon: Bildwelt, die BIPoC als selbstbestimmte und polyphone Subjekte zeigt. Bright Den Blick erwidern. Epiphanie und Ästhetik postkolonial, Wien 2023. sandte mit seinem Protest im Whitney Museum of American Art diese Forde- 63 Vgl. Barthes: Die helle Kammer, rung in die Welt hinaus. «Working to transform the image», gibt bell hooks 86 – 90. 64 hooks: Black Looks, 2. den Bildmacher*innen und Bildtheoretiker*innen auf.64 — 134 ZfM 29, 2/2023 — DEBATTE Medienwissenschaft und Bildung — Christian Werner: Remote Control, 2023 136 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150213. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — IST MEDIENKOMPETENZ BULLSHIT? von HARUN MAYE In Debatten über den Zusammenhang von Das klingt alles mehr oder weniger ver- M edien und Bildung spielt der Begriff der nünftig. Dennoch ist diese Auffassung von Medienkompetenz seit den 1990er Jahren als Medienkompet enz unterbestimmt und einseitig, Schlagwort der Bildungspolitik sowie als denn sie etabliert implizit eine Trennung von Grundbegriff der Medienpädagogik eine zen- Technik und Kultur, Kompetenz und Bildung. trale Rolle. In der Regel versteht man darunter Der Begriff wird zumeist auf den Umgang mit die Fähigkeit, bewusst und verantwortlich Bildschirmmedien und ihren (potenziell schäd- mit Medien umzugehen, medienvermittelte lichen) Einfluss auf Heranwachsende verengt. Informationen zu kontextualisieren und sich Eine genuin medienkulturwissenschaftliche kritisch mit Medieninhalten auseinanderzuset- Perspektivierung steht noch aus. Die Unschärfe zen. Eine so verstandene Medienkompetenz, des Begriffs wird durch viele Synonyme und die angeblich nur unzureichend im alltäglichen alternative Konzepte nicht gerade vermindert: Medien umgang erworben werden kann und Zur Medienkompetenz gesellen sich auch noch daher pädagogisch angeleitet in Bildungsein- die Informationskompetenz, die kommunikative richtungen vermittelt werden soll, wird als Kompetenz, die digitale Kompetenz, die digitale notwendige Ergänzung zu einer rein technischen Mündigkeit, die digitale Souveränität usw. Die Kompetenz des Mediengebrauchs betrachtet. englischsprachige Diskussion, die unter den Be- Medienkompetenz, so der Tenor sehr vieler griffen media literacy, computer literacy oder digital A rbeiten zum Thema, bedeutet ausdrücklich literacy geführt wird, unterscheidet sich nicht nicht, einen Computer bedienen zu können oder wesentlich von der deutschsprachigen, ist aber sich im Internet zurechtzufinden.1 Vielmehr insgesamt pragmatischer und weniger besorgt.2 soll man lernen, unterschiedliche Medientech- Eine leicht erkennbare Schwäche von weit nologien und Medieninhalte vergleichen sowie gefassten Kompetenzen wie Medienkompetenz, ihre Wirkung auf psychische und soziale Systeme Sozialkompetenz oder auch Demokratiekom- kritisch beurteilen zu können. Medienrefl exion petenz ist ihre Allgemeinheit und ‹empirische soll Mediennutzung begleiten und kontrollie- Leere›.3 Um diese Leere zu füllen, hat Dieter ren – was das in konkreten Fällen bedeuten soll, Baacke Medienkompetenz in Anlehnung wird bewusst unscharf belassen. an Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, Jürgen DEBATTE 137 HARUN MAYE Habermas und Niklas Luhmann als Ausdiffe- sowohl durch Umbenennungen als auch durch renzierung einer allgemeinen kommunikativen die Addition von weiteren Dimensionen. Kaum Kompetenz bestimmt und sie in vier Dimen- überraschend führen Umbenennungen und sionen unterteilt: Medienkritik, Medienkunde, Hinzufügungen von weiteren Dimensionen eines Mediennutzung und Mediengestaltung.4 Begriffs nicht zu dessen Schärfung, das Gegenteil Trotz des heterogenen theoretischen Hin- ist vielmehr der Fall, wie Harald Gapski in seiner tergrunds – denn die Ansätze von Bourdieu, Analyse unterschiedlicher Definitionsversuche Chomsky, Habermas und Luhmann lassen sich von Medienkompetenz gezeigt hat.10 Der Call nicht überzeugend als Werkzeugkästen für ein for Papers für die 23. Ausgabe der Ludwigsburger einheitliches Konzept der Kompetenz plün- Beiträge zur Medienpädagogik lautet nicht um- dern – gelten die ersten Bestimmungsversuche sonst: «50 Jahre Medienkompetenz und kein von Baacke immer noch als Ausgangspunkt bisschen weiter?»11 Sowohl in der Ablehnung als der medienpädagogischen Diskussion, die man auch in der Arbeit an unterschiedlichen Fas- entweder kritisch hinterfragt oder fortschreibt sungen des Begriffs der Medienkompetenz zeigt und erweitert. In Beiträgen, die an Habermas’ sich die Fortsetzung einer medienpädagogischen Theorie des kommunikativen Handelns an- Theorietradition, die «in ihrer theoretischen schließen, gilt Medienkompetenz als «Reduktion» Reichweite und in ihrer praktischen Problem- der kommunikativen Kompetenz,5 als zu sehr lösungskompetenz» zu kurz greift, gerade weil «medieno rientiert» und zu wenig «menschen- sie subjekt- und sprachzentriert ist, technische dienlich».6 Die Orientierung am Menschen M edien nur als sekundäre oder tertiäre Werk- scheint für große Teile der M edienpädagogik zeuge zur Distribution von Kommunikation aus disziplinären Gründen Ausgang und Ende denkt und die Medienkompetenz von Instituti- aller Überl egungen zur Medienkompetenz zu onen, Organisationen und der Medien selbst sein, da immer «die Perspektive der Menschen» ausblendet, gerade weil sie menschendienlich eingenommen werden soll, «die mit Medien sein möchte.12 handeln».7 Ein Perspektivwechsel scheint ausge- Während Teile der Medienpädagogik in schlossen, «die Medien sollen sich den Menschen diesen disziplinbegründenden Fragestellungen anpassen», damit «zu ihrer Nutzung so wenig verblieben zu sein scheinen, herrscht in Medienkompetenz wie möglich notwendig» ist.8 der Medienkulturwissenschaft ein fröhliches Im Gegensatz zur M edienkompetenz, «die sich Desinteresse.13 Der Begriff der Kompetenz an einem technischen Phänomen, den Medien», gilt ent weder als intellektuell reizlos oder als ausrichtet, ist die kommunikative Kompetenz neoliberaler Bullshit, als eine Phrase der Bil- auf die «pädagogischen Subjekte» und deren dungspolitik, mit der man sich aus intellektuellen Face-to-Face-K ommunikation bezogen: «Die oder politischen Gründen nicht beschäftigen Zieldimension als eine auf den Menschen und möchte. Die Auffassung, dass vor allem Medien- seine Emanzipation gerichtete wird hier schon kompetenz Bullshit ist, erscheint zunächst im Begriff deutlich.»9 plausibel, wenn man unter Bullshit nicht bloß das Komplementär dazu findet eine Erweiterung Verbreiten von Lügen oder Unsinn versteht. In des Begriffs Medienkompetenz statt, mit dem einem berühmten Essay zum Thema hat Harry Ziel, dessen empirische Leere zu kompensieren Frankfurt argumentiert, dass Bullshit keine Frage und begriffliche Allgemeinheit besser zu von Wahrheit oder Lüge, sondern eine kom- definieren. Konkret handelt es sich dabei um munikative Strategie ist. Es handelt sich um eine Ergänzungen der vier Dimensionen von Baacke, Form des Marketings, die darauf zielt, andere 138 ZfM 29, 2/2023 IST MEDIENKOMPETENZ BULLSHIT? zu beeindrucken oder Meinungen ohne Wissen Subjekts, entweder im Zeichen einer ganzheit- zu verbreiten.14 Medienkompetenz erscheint aus lichen Persönlichkeitsbildung oder der ästhe- der Sicht der Medienkulturwissenschaft immer tischen Resonanz, die beide durch Kompetenzen dann als B ullshit, wenn es nicht darum geht, ein weder abgedeckt noch überhaupt erfasst werden bestehendes Problem zu lösen, sondern Medien- können. Die Unterscheidung von Bildung und kompetenz als Erlösungsvokabular zu etablieren, Kompetenz erlaubt zudem auch eine Verteilung dem man die Lösung fast aller medieninduzier- der Zuständigkeiten und Dimensionen, die sonst ten Probleme und Widersprüche der Informati- alle im Container-Begriff der Medienkompetenz onsgesellschaft zutraut.15 verstaut worden sind. Medienkompetenz ist aus Die Kompetenzorientierung im Bildungs- dieser Sicht dann nur noch auf den Medienge- wesen hatte Odo Marquard bereits 1973 mit der brauch im engeren Sinne bezogen, wohingegen Behauptung ironisiert, die Philosophie habe in Medienbildung alle Reflexionshorizonte meint, der Moderne leider nur eine einzige Kompetenz «die sich aus Forderungen für das Subjekt vorzuweisen: die «Inkompetenzkompensations- ergeben und nicht aus jenen, die das Medium kompetenz».16 Spätestens seit den 2000er Jahren auferlegt».20 Das trifft vor allem für pädago- ist es bei den Gegner*innen des Begriffs üblich gische Lieblingsvokabeln wie ‹Kritikfähigkeit› geworden, Bildung gegen Kompetenzen in Stel- oder ‹Orientierungswissen› zu, die exklusiv lung zu bringen und die Genealogie der Kom- für die Bildung reserviert sind, ja diese Bildung petenz als neoliberales Konstrukt zu entlarven.17 eigentlich erst ausmachen. Aber auch diese Als ein routiniertes, jederzeit «abrufbares Kön- Alternativen bleiben, wie die Medienkompetenz, nen», das es ermöglicht, «ohne langes Nachden- im Kern subjektzentriert sowie an Sprache und ken Entscheidungen zu treffen», gilt Komp etenz Alpha betisierungstechniken (oder im Fall von als Ausweis eines «vorrangig technizistisch- ästhetischer Erfahrung an Kunstwerke) gebun- instrumentellen Selbst- und Weltverhältnisses».18 den, auch wenn es um Bilder, Zahlen und Codes Wer von Kompetenzen redet oder gar schwärmt, geht. Überzeugen kann der Kategorienwechsel gerät leicht in Verdacht, Ressentiments gegen- zur ästhetischen Erfahrung oder zur medialen über historischem und theoretischem Wissen zu Erfahrung oder zur Medienbildung «als transfor- hegen und einen unmittelbaren Praxisbezug matorisches Prozessgeschehen» nicht wirklich, an deren Stelle setzen zu wollen. zu deutlich sind auch hier die altbekannten Diese Verlagerung von Wissen auf Können Aktualisierungsprobleme des Humboldt’schen orientiere sich am unternehmerischen Modell Bildungsbegriffs eingeschrieben.21 des sich selbst optimierenden Subjekts als Es scheint an der Zeit zu sein, kulturtechni- Führungskraft sowie am militärischen Modell sche Alternativen auszuprobieren.22 Interessant des Subjekts als Feldherrn: «Das Subjekt als an Baackes Klassifikation und Begriffsbestim- Feldherr seiner selbst transformiert fortwährend mung scheinen mir zwei Hinweise zu sein, die Wissen in Können und Lernen in Üben.»19 An es erlauben, von Seiten der Medienwissenschaft die Stelle des diskreditierten Begriffs der Medien- an den Begriff der Medienkompetenz anzu- kompetenz soll entweder die ästhetische Erfah- schließen: Erstens geht es um die Einsicht, dass rung mit und durch Medien (bevorzugt in den Habermas’ kommunikatives Handeln und das Kulturwissenschaften) oder eben Medienbildung davon abgeleitete pädagogische Konzept einer (bevorzugt in der Pädagogik) treten. Gemeinsam kommunika tiven Kompetenz immer an die beharren die Ansätze jedoch auf der Vorstellung Sprache als Leitmedium und die unmittelbare von einer Sonderstellung des menschlichen Lebenswelt als Erfahrungsraum gebunden DEBATTE 139 HARUN MAYE bleiben. Medienk ompetenz ist daher keine Kontrolle über persönliche Daten zu behalten verzichtbare R eduktion einer umfassenderen usw. Dabei kann man aber nicht stehen bleiben. kommunikativen Kompetenz, sondern ein Es muss daran erinnert werden, dass Medien- notwendiger Begriff, der die Veränderung der kompetenz ohne die Beherrschung von konkre- Kommunikationsstrukturen im medialen ten Kulturtechniken nicht zu haben ist. Sie sind Wandel explizit thematisiert: die Basis nicht nur für Kultur und Bildung, son- dern auch für die Begriffe, die wir uns von den Die über Medien beeinflusste und beschleunigte Medien und dem Umgang mit ihnen machen. Es ästhetische Wahrnehmung ist es, die heute auch geht darum, Medienkompetenz als ein Set von in die alltäglichen Lebenslagen zurückstrahlt und Kulturtechniken zu begreifen, die weit über die sie nicht mehr zum Grundmuster von Kom- munikations situationen erklärt. Insofern erlaubt geläufige Rede von elementaren Kulturtechniken der Begriff Medienkompetenz, die derzeitigen hinausgehen. Solche Kulturtechniken umfassen Kommunikationsveränderungen pointiert und auch Wissenstechniken, Repräsentationsverfah- fokussiert aufzugreifen.23 ren sowie politische, juristische, administrative, künstlerische und andere Techniken der Hervor- Zweitens weist Baacke explizit auf die «päda- bringung. Es geht grundsätzlich um die Analyse gogische Unspezifität» des Begriffs hin, der sich von Kommunikation, insofern sie als technisches nicht wie «Erziehung» oder «Bildung» «dem Verfahren beschrieben werden kann. Im Zentrum pädagogischen Diskurs» verdankt, sondern dieser Analyse steht nicht die Großsemantik der eine Schnittmenge unterschiedlicher Diskurse Aufklärung, es geht nicht um Emanzipation, Kri- ist.24 Die Lizenz für eine medienkulturwissen- tik, Orientierung oder Verantwortung, sondern schaftliche Aneignung ist also gegeben, denn um die vielen unterschiedlichen Tätigkeiten und die Erziehung ist nur ein Feld neben anderen Operationen, aus denen Medien- und Kultur- Feldern (Kunst, Politik, Recht, Wirtschaft), leistungen hervorgegangen sind. Erst in dieser in denen Medienkompetenz relevant ist und Neuorientierung werden Bildung, Kompetenz, diskutiert wird, der Medienpädagogik muss Medien und der sogenannte Mensch nicht mehr daher keine Vorrangstellung zukommen. als getrennte Einheiten, sondern als gleichbe- Die Kulturtechnikforschung bietet sich rechtigte Akteure in einem Verbund oder in einer als theoretische Neufassung des Begriffs schon Verkettung gedacht. deshalb an, weil es zu ihrer Grundlegung ge- — hört, keine Trennung von Technik und Kultur, Kompetenz und Bildung vorzunehmen. Obwohl der Begriff der Kompetenz üblicherweise als «ein Bündel von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten» gilt, «die in einem bestimmten Anwendungsfeld handlungsfähig machen»,25 sind mit Medienkompetenzen in der Regel keine konkreten Körper- oder Kulturtechniken gemeint, sondern eher so etwas wie die Fähig- keiten, reflektiert über Medien zu sprechen, verantwortungsbewusst und kritisch mit Me- dien umzugehen, die Qualität medialer Inhalte zu bewerten, Medienzeit einzuschränken, die 140 ZfM 29, 2/2023 IST MEDIENKOMPETENZ BULLSHIT? 1 Das lässt sich bereits an Kommunikationswissenschaft, Rahmenkonzept, Wiesbaden 2001; diversen Broschüren ablesen, die in: Christine Trültzsch-Wijnen ders.: Zu den Fragen, auf die Jugendliche und ihre Eltern (Hg.): Medienpädagogik. Eine Stand- «Medienkompetenz» eine Antwort über die Bedeutung von Medien- ortbestimmung, Baden-Baden 2017, ist, in: Heinz Bonfadelli u. a. (Hg.): kompetenz aufklären sollen, vgl. 143 – 161; ders.: Diskurspragmatik, Medienkompetenz und Medienleistun- z. B. das Informationsmaterial, Medienkompetenz, Emanzipation gen in der Informationsgesellschaft. das sich auf den Seiten der und Freiheit. Dieter Baackes «Kommu- Beiträge zu einer internationalen Landesanstalt für Medien NRW nikation und Kompetenz». Eine Tagung, Zürich 2004, 22 – 34; (medienanstalt-nrw.de/publikationen. diskursanalytische Tiefenanalyse, Tilmann Sutter, Michael Charlton: html) oder auf der Plattform Jugend Bielefeld 2019. Medienkompetenz – einige und Medien – Informationsportal für 5 Bernd Schorb: Medienkom- Anmerkungen zum Kompetenzbe- die Förderung von Medienkompetenz petenz, in: Jürgen Hüther, griff, in: Norbert Groeben, Bettina (jugendundmedien.ch) finden lassen. Bernd Schorb (Hg.): Grundbegriffe Hurrelmann (Hg.): Medienkom- 2 Vgl. Silke Grafe: ‹Media Medienpädagogik, München 2005, petenz. Voraussetzungen, Dimensionen, literacy› und ‹media (literacy) 257 – 262, hier 257. Funktionen, Weinheim, München education› in den USA: ein 6 Bernward Hoffmann: 2002, 129 – 147. Brückenschlag über den Atlantik, Medienkompetenz, in: ders.: 13 «Schaut man sich die Aus- in: Heinz Moser, Petra Grell, Horst Medienpädagogik. Eine Einführung einandersetzung mit bildungs- Nyesito (Hg.): Medienbildung in die Theorie und Praxis, Paderborn bezogenen Gegenständen in der und Medienkompetenz. Beiträge zu 2003, 31 – 36, hier 31. Zeitschrift für Medienwissenschaft Schlüsselbegriffen der Medienpädago- 7 Stefan Aufenanger: Medien- an, so bringt eine Suchanfrage zu gik, München 2011, 59 – 77. pädagogik und Medienkompetenz. ‹ Bildung› im Heftarchiv bei ins- 3 Die Unschärfe oder auch Eine Bestandsaufnahme, in: gesamt 634 Artikeln in der Daten- Leere des Konzepts, das sich an Medienkompetenz im Informations- bank zunächst 94 Treffer hervor, der Großsemantik der Aufklärung zeitalter, hg. v. der Enquete- von denen sich nach inhaltlicher orientiert, wurde bereits bei der Kommission Zukunft der Medien Durchsicht nur eine Handvoll Inthronisation der Medienkompe- in Wirtschaft und Gesellschaft. t atsächlich mit Bildung beschäf- tenz durch den Diskursbegründer Deutschlands Weg in die Infor- tigt. Gibt man als Suchbegriff ‹Me- bemerkt, vgl. Dieter Baacke: mationsgesellschaft, Bonn 1997, dienkompetenz› ein, erhält man Medienkompetenz als Netzwerk. 15 – 22, hier 19. fünf Treffer, bei ‹Medienbildung› Reichweite und Fokussierung 8 Ebd. sind es drei. In der Kanonkritischen eines Begriffs, der Konjunktur 9 Bernd Schorb: Medien oder Literatursammlung Medienwissen- hat, in: medien praktisch. Zeitschrift Kommunikation – wofür soll schaft (KLM) finden sich keine für Medienpädagogik, Jg. 22, Nr. 2, sich Kompetenz entfalten?, Treffer zu ‹Medienkompetenz›, 1996, 4 – 10, hier 8. in: Medien-Impulse. Beiträge zur ‹Medienbildung› oder ‹education› 4 Am Anfang steht Dieter M edienpädagogik, Jg. 36, Nr. 9, und zu ‹Bildung› lediglich drei, Baacke: Kommunikation und Kom- 2001, 12 – 16, hier 12. zu ‹pedagogy›/‹pedagogies› zwei petenz. Grundlegung einer Didaktik 10 Vgl. Harald Gapski: Treffer, die jedoch mehrheitlich der Kommunikation und ihrer Medien, Medienkompetenzen messen? von Autor*innen mit eher er- Weinheim, München 1973. Den Eine Annäherung über verwandte ziehungs- und sozialwissenschaft- Begriff der Medienkompetenz hat Kompetenzfelder, in: ders. (Hg.): lichen sowie fachdidaktischen Baacke dann später in einer Viel- Medienkompetenzen messen? Ver- Hintergründen verfasst wurden». zahl von Aufsätzen eingeführt und fahren und Reflexionen zur Erfassung Andreas Weich, Adrianna populär gemacht, vgl. nur ders.: von Schlüsselkompetenzen, Düssel- Hlukhovych: Bildungsauftrag. Medienkompetenz – Begrifflich- dorf, München 2006, 13 – 28. Was Medienwissenschaft im keit und sozialer Wandel, in: Antje 11 Call for Papers für die 23. Kontext von Medien und Bildung von Rein (Hg.): Medienkompetenz Ausgabe der Ludwigsburger Beiträge tut, tun könnte und tun sollte, als Schlüsselbegriff, Bad H eilbrunn zur Medienpädagogik: 50 Jahre in: Zeitschrift für Medienwissen- 1996, 112 – 124; ders.: Medien- Medienkompetenz und kein schaft, Jg. 15, Nr. 28 (1/2023): kompetenz: theoretisch erschlie- bisschen weiter? Von der Kommu- Protokolle, 138 – 148, hier 140, doi. ßend und praktisch folgen- nikativen Kompetenz zu DigComp, org/10.25969/mediarep/19403. reich, in: Medien und Erziehung, hg. v. Thomas Knaus, Olga 14 «It does seem that bullshit- Jg. 43, Nr. 1, 1999, 7 – 12. Zum Merz, T horsten Junge, 1.9.2022, ting involves a kind of bluff. It is theoretischen Wandel und der medienpaed-ludwigsburg.de/public/ closer to bluffing, surely, than to Ausd ifferenzierung des Konzepts journals/1/cfp/LBzM-Heft23_CfP- telling a lie.» Und weiter: «The von der kommunikativen 50_Jahre_Medienkompetenz.pdf realms of advertising and of public Kom petenz zur Medienkompe- (26.6.2023). Die Publikation ist für relations, and the nowadays closely tenz vgl. A lessandro Barberi: den Juni 2023 angekündigt. related realm of politics, are Von Kompetenz, Medien und 12 Aus dem Fach selbst wurde replete with instances of bullshit Medienkompetenz. Dieter diese Kritik bisher am eindrück- so unmitigated that they can serve Baackes interdisziplinäre Dis- lichsten formuliert von Harald among the most indisputable kursbegründung der Medienpä- Gapski: Medienkompetenz. Eine Be- and classic paradigms of the dagogik als Subdisziplin einer standsaufnahme und Vorüberlegungen concept.» Harry G. Frankfurt: On sozialwissenschaftlich orientierten zu einem systemtheoretischen Bullshit, Princeton, Oxford 2005, DEBATTE 141 HARUN MAYE hier 22, 46. Für einen anderen 21 Benjamin Jörissen: Medien- schillernden Begriff aus dem Be- bildung – Begriffsverständnisse reich der Medienwissenschaft und und Reichweiten, in: Medien- der Games Studies wurde dieser Pädagogik. Zeitschrift für Theorie und Bezug bereits durchdekliniert, Praxis der Medienbildung, Bd. 20, vgl. Ian Bogost: Why Gamification 2011, 211 – 235, hier 220. is Bullshit, in: Steffen P. Walz, 22 Erste Ansätze finden Sebastian Deterding (Hg.): The sich dazu in Heiko Christians: Gameful World. Approaches, Issues, Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Applications, Cambridge (MA) Bildungsidee und globale Digitali- 2015, 66 – 79. sierung. Eine Inventur, Wien u. a. 15 Pointiert dazu Konrad Paul 2020; Petra Missomelius: Bil- Liessmann: Und erlöse uns von dung – M edien – Mensch. Mündigkeit dem Übel. Bildung als säkulari- im Digitalen, Göttingen 2021; sierte Religion, in: ders.: Bildung Roberto Simanowski: Digitale als Provokation, Wien 2017, 36 – 43. Revolution und Bildung. Für eine 16 Odo Marquard: Inkompetenz- zukunftsfähige Medienkompetenz, kompensationskompetenz? Über Weinheim, Basel 2021. Kompetenz und Inkompetenz 23 Baacke: Medienkompetenz der Philosophie, in: Philosophisches als Netzwerk, hier 8. Jahrbuch, Jg. 81, Nr. 2, 1974, 24 Ebd. 341 – 349. Ob auch die Medien- 25 Hans Werner Heymann: pädagogik sich angesichts der Basiskompetenzen – gibt es die?, Digitalisierung, der freiwilligen in: Pädagogik, Jg. 53, Nr. 4, 2001, oder erzwungenen Aufgabe 6 – 9, hier 7. eines bewahrpädagogischen Selbstverständnisses sowie eines schwindenden gesellschaftlichen Einflusses in einer ‹Kompetenz- nostalgie› befindet, die durch die Erfindung des Begriffs der Medien- kompetenz kompensiert werden soll, wird diskutiert von Melanie Kretschmer-Elser: Kritische Reflexio- nen zur Medienkompetenz, Frank- furt / M. 2011, 42 – 52. Wie sich die Medienkompetenz-Diskussion zur ‹Herausforderung› des Web 2.0 verhält, lässt sich nachverfolgen anhand von Bardo Herzig u. a. (Hg.): Jahrbuch Medienpädagogik, Bd. 8: Medienkompetenz und Web 2.0, Wiesbaden 2010. 17 Vgl. Andreas Gelhard: Kritik der Kompetenz, Zürich 2011; Hans-Dieter Kübler: Kompetenz der Kompetenz der Kompetenz … Anmerkungen zur Lieblingsmeta- pher der Medienpädagogik, in: medien praktisch, Nr. 2, 1996, 11 – 15. 18 Jürgen Gunia: Kompetenz. Versuch einer genealogischen Ideologiekritik, in: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie, Bd. 4, Nr. 1, 2012, uni-muenster.de/ textpraxis/juergen-gunia-kompetenz (26.6.2023). 19 Ebd. 20 Manuela Pietraß: Mediale Erfahrungswelt und die Bildung Erwachsener, Bielefeld 2006, 36 – 40, 76 – 111. 142 ZfM 29, 2/2023 Medienpraxis und Lehre — © Paul Heinicker Medienpraktische Module und Praktika sind fester Bestandteil medienwissen- schaftlicher Studiengänge im deutschsprachigen Raum. Oft sind sie aber Aus- druck einer strikten Trennung von Theorie und Praxis, weil sie dem wissenschaft- lichen Teil des Studiums unverbunden gegenüberstehen. Mit dem Auftakttext von Johannes Paßmann und Florian Sprenger sowie der dazugehörigen Materialstudie von Paul Heinicker, Armin Beverungen, Paul Hoffstiepel, Mace Ojala und Antonia Wulff, die beide im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Medienpraxiswissen entstanden sind, möchten wir dazu einladen, Ideen für andere Praxisformate zu skizzieren und das Verhältnis von Theorie und Praxis für die Medienwissenschaft weiterzuentwickeln. — DEBATTE 143 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150214. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — GEPFLEGTE MEDIENPRAXIS von JOHANNES PAßMANN und FLORIAN SPRENGER Zum Curriculum fast aller deutschsprachigen medienwissenschaftliche Curricula aber kaum medienwissenschaftlichen Studiengänge gehören Schritt halten. Module, die ‹medienpraktische› Fähigkeiten Folglich ist das, was Studierende an prakti- vermitteln sollen – von Schnittkursen über schen Skills im universitären Studium lernen, Einführungen in das Programmieren bis hin zu zum Zeitpunkt ihres Abschlusses häufig schon Übungen in Öffentlichkeitsarbeit. Diese Ver- veraltet und meist nicht auf dem Niveau der anstaltungen sind bei den Studierenden zwar Lehre an angewandten Hochschulen oder in beliebt, werden von den Instituten aber häufig handwerklichen Medienausbildungen. Zu- als ein Addendum begriffen, eine Ergänzung dem – und vielleicht auch vor allem – ist dieses der wissenschaftlichen Inhalte um berufsqua- praktische Wissen, so unsere These, einem lifizierende ‹Skills› und ‹praktische› Fähig- e rweiterten Verständnis medienwissenschaftli- keiten. Entsprechend sind sie mit dem Studium cher Fragestellungen und Forschungspraktiken nur lose verschränkt und werden meist durch nicht zuträglich – und das, obwohl doch gerade Lehraufträge mit prekären Arbeitsbedingungen medienwissenschaftliche Forschung häufig abgedeckt. An Universitäten wird Praxis – anders auf einem Verständnis von Medientechnologien als an Fach-, Film- und Kunsthochschulen – als und -praktiken fußt. Unseren Beobachtun- etwas behandelt, das Studiengänge sich anzubie- gen zufolge ergibt sich daher eine zunehmend ten gezwungen sehen, um die Erwartung zu problematische Entkopplung von medienprak- erfüllen, auch ‹was mit Medien› zu machen. tischer und medienwissenschaftlicher Lehre. Die Anforderungen ändern sich aber zugleich Im Hintergrund dieser Entkopplung steht rapide: War bislang primär Praxiskompetenz in vermutlich die Dominanz einer dichotomen Schnitt, Kamera- oder Redaktionsarbeit ge- Gegenübersetzung von Theorie und Praxis, die fragt, so gibt es heute ein breiteres Spektrum an angesichts sowohl medienkultureller Entwick- Anforderungen. Diese spiegeln sich in neuen lungen als auch praxeologischer Erwägungen Berufsbildern, die data literacy sowie Kompe- obsolet erscheint. Diese Differenz hatte lange tenzen der Visualisierung und Verarbeitung von Zeit eine wichtige Funktion für das Selbstver- Daten oder Programmierung verlangen. Mit den ständnis der Geisteswissenschaften, ist aber Innovationszyklen medialer Berufswelten können nicht zuletzt von der Medienwissenschaft selbst 144 ZfM 29, 2/2023 in Frage gestellt worden. Dieses selbstreflexive nicht um Ausbildungen handelt. Der Versuch, Wissen spielt für die curriculare Umsetzung von durch einzelne Module eine Praxisausbildung medienpraktischen Modulen jedoch kaum eine zu ermöglichen und mit Fachhochschulen zu Rolle. Zudem haben unsere Recherchen und konkurrieren, führt zu einer Spannung im Fach, Interviews gezeigt (vgl. dazu den Text von Paul die bislang meist standortspezifisch im Dia- Heinicker, Armin Beverungen, Paul Hoffstie- log – nicht selten auch in Konfrontation – mit pel, Mace Ojala und Antonia Wulff), dass in der Studierenden ausgehandelt, als Problem des medienpraktischen Lehre vor Ort ein weitaus Fachs aber nicht diskutiert wird. differenzierteres Verhältnis vorherrscht, das der Der Versuch, sich mit beliebigen, mit dem wissenschaftspolitischen und forschungsstrate- Rest des Studiums nicht verbundenen Praxisver- gischen Vereinnahmung von Medienpraxis für anstaltungen aus der Verantwortung zu stehlen, wissenschaftliche Studiengänge – Stichwort ‹was führt nicht nur in eine Sackgasse. Er ist auch eine mit Medien› – eine Alternative entgegensetzt. vertane Chance für eine gute wissenschaftliche Unser Ziel ist es, ausgehend von diesen Beob- Lehre zu aktuellen Gegenständen. Aus unserer achtungen eine Diskussion über eine integrative, Sicht gibt es auch fachlich und nicht nur strate- der medienw issenschaftlichen Forschungspraxis gisch zunehmend dringliche Gründe, sich mit ebenso wie den Medientechnologien der Gegen- dem Status medienwissenschaftlicher Praxislehre wart angemessene Praxislehre zu initiieren. auseinanderzusetzen. Deshalb schlagen wir vor, Medienwissenschaftliche Studiengänge können eine Debatte über ein medienwissenschaftliches die nicht nur von Studierenden, sondern auch Verständnis von Medienpraxis in der Lehre zu von Evaluationskommissionen an die Standorte führen, das gegebenenfalls in neue Lehrformate herangetragene Praxis-Erwartung unserer Ein- und curriculare Weiterentwicklungen einfließen schätzung nach eher nur in Ausnahmefällen er- kann, zumindest aber zu einer Reflexion dieser füllen. Das ist erwartbar und nicht schlimm, weil Lehrbestandteile anregt. In diesem Text möchten es sich um Studiengänge und nicht um Ausbil- wir einige Fragen formulieren und Herausfor- dungen handelt. Evaluationen und Benchmarks derungen für eine solche Debatte identifizieren. sollten nicht unsere Maßstäbe sein. Schnittkurse Unsere Hoffnung ist, dass durch eine solche bleiben stets hinter einem Filmstudium, Design- Debatte auch das Verhältnis unserer Forschung kurse hinter einem Mediengestaltungsstudium zur Praxis profitiert könnte, um die Theorie / Pra- zurück, und beides bietet auch allzu oft keine xis-Dichotomie hinter uns zu lassen. besseren Zugänge zu medienwissenschaftlichen Im Rahmen des von der Stiftung Innovation Fragestellungen. Medienpraxis wird so zu einer in der Hochschullehre geförderten Projekts Zusatzqualifikation, zu etwas, das man neben «Medienpraxiswissen» haben wir uns mit neuen den theoretischen Inhalten zusätzlich anbietet, Lehrformaten für medienpraktische Inhalte, um diese Inhalte vermeintlich ‹anwendbar› zu aber auch mit dem Status quo dieser Lehre machen. Das funktioniert nicht immer, bindet beschäftigt. Interviews mit Verantwortlichen Ressourcen und sorgt mitunter für Verdruss. medienw issenschaftlicher Standorte sowie an Berichtet wird von enttäuschten Erwartun- Kunst- und Fachhochschulen und eine Daten- gen – und entsprechenden Gegenmaßnahmen analyse der Bochumer Vorlesungsverzeichnisse auf Homepages und in Studieneingangsinforma- seit 2002 (vgl. den Beitrag von Paul Heinicker, tionen, die betonen, dass es sich bei den BA- und Armin Beverungen, Paul Hoffstiepel, Mace MA-Programmen um wissenschaftliche Angebote, Ojala und Antonia Wulff) haben gezeigt, dass die durch Praxisangebote ergänzt werden, und die reduktive Gegenüberstellung von Theorie DEBATTE 145 JOHANNES PAßMANN / FLORIAN SPRENGER und Praxis zwar rhetorisch genutzt, vor Ort aber deren vermeintliche Quantifizierung in Form vielschichtige Positionen gepflegt, d. h. zugleich von Drittmitteln) und ‹gute Lehre› in aller differenziert und eingeübt werden. Diese fließen Regel eine untergeordnete Rolle spielt. Ein jedoch nur selten in die Curricula ein. Ausgehend organisatorischer Grund besteht darin, dass sich von der Beobachtung dieser (un-)gepflegten über Lehraufträge für Praxisveranstaltungen Differenz möchten wir mit diesem Text dafür ein nicht unerheblicher Teil des Lehraufwands plädieren, die Frage medienpraktischer Lehre ohne reguläre Deputatsbelastung abdecken lässt. nicht abzuschieben, sondern als strukturelles und Kreditierte Praktika und Lehraufträge für Ge- mitunter reflexives Fachproblem zu begreifen, biete, die im Lebenslauf nicht prämiert werden, die Differenz also besser zu pflegen. Anhand der sind daher eine naheliegende, aber problema- im Fach abgebildeten Praxis und Theorie der tische Lösung. Ein lokaler, für die universitäre Medienpraxis plädieren wir dafür, ein medien- Medienwissenschaft vielleicht sogar exklusiver wissenschaftliches Praxisverständnis zu (re-) Grund ist eine mangelnde Reflexion des Ver- konstruieren und in die Lehre sowie die hältnisses von Theorie und Praxis. In der Lehre C urricula einzuspeisen. selbst werden, wie unsere Interviews gezeigt Wir glauben, dass der bisherige Umgang haben, durchaus differenzierte Beschreibungen mit der zumeist von außen an das Fach heran- gegeben, die auf curricularer Ebene aber selten getragenen Praxiserwartung die Spannungen integriert werden. noch verschärft. Deshalb stellt sich uns die Wie auch in der Diskussion um den practice Frage, welche Funktion diese Praxiserwartung turn immer wieder angemahnt, gilt es dabei, im Fach, aber auch in anderen Disziplinen und nicht dem scholastischen Fehlschluss aufzusit- im Wissenschaftssystem allgemein spielt. Hinter zen, Theorie als einen der Praxis enthobenen dieser Erwartung steht oft die altbekannte und Bereich aufzufassen.1 Theoretisieren ist, so bekanntermaßen problematische Gegenüber- unsere erste, auch auf die Interviews zurück- stellung von Berufswelt und ‹Elfenbeinturm›. gehende Schlussfolgerung, selbst eine Praxis; Um dieser unproduktiven Differenz zu entgehen, ‹Theorie und Praxis› ist folglich «eine Distanz- möchten wir über die bereits geführten Inter- relation zweier sozialer Praktiken».2 Häufig views hinaus eine Diskussion der Verhältnisse ist damit die «epistemologische Differenz von von wissenschaftlicher und praxisorientierter Theorie und Empirie» gemeint.3 Wenn das Lehre anregen. Unser Anliegen für die Debatte für die Medienwissenschaft der Fall ist, müssten ist, vorhandene, aber oft implizite lokale Praxis- wir konsequenterweise davon ausgehen, dass begriffe aufzunehmen und zu differenzieren. es uns nicht um Praxisbereiche, sondern um Dabei plädieren wir, kurz gesagt, für einen in der Empiriebereiche geht, oder – terminologisch regulären Lehre verankerten Praxisbegriff, der näher – um Medienforschungspraxis. In der Tat nicht von der Handfestigkeit und Berufsbezogen- wäre dies eine Option, Medienpraxisbereiche heit der Praxis ausgeht, sondern von Anfang an in Medienforschungspraxisbereiche weiterzu- die differenzierten Fachtraditionen des Umgangs entwickeln; sicher nicht die einzige, aber eine mit Praxis berücksichtigt. gangbare, zumal damit auf der bestehenden Es lassen sich viele Gründe finden, die zu ‹Medienpraxis› aufgebaut werden kann. der angedeuteten Lage geführt haben. Ein Medienempirisch grundierte Lehre hat struktureller Grund ist fraglos, dass Karrieren auch ‹medienpraktische› Anteile im hergebrachten im deutschsprachigen Universitätssystem eher Sinne: Interviewformate, Videografien, über ‹gute Forschung› gemacht werden (oder digitale Methoden, Programmierübungen, 146 ZfM 29, 2/2023 GEPFLEGTE MEDIENPRAXIS Reverse Engineering, das Lesen von Quelltext theorierelevanter Praxis? Und ließe sich beides als und vieles mehr. Dies kann prinzipiell von Medienforschungspraxis zusammenfassen? wissenschaftlichem Personal gelehrt w erden, Eine dritte Schlussfolgerung wäre, die weil es unser Kerngeschäft betrifft, i nsofern Theorie-Praxis-Diskussion der Soziologie auf es sich um Forschungspraktiken von Medien- die Medienwissenschaft zu beziehen. Diese wissenschaftler*innen handelt. Wie können Diskussion lief unter dem Vorzeichen der «Ver- wir also medienpraktische und -empirische Be- wissenschaftlichung einer unwissenschaftlichen standteile besser in Veranstaltungen integrieren, Welt»; Ziele waren Popularisierung, Imple- die im Curriculum nicht als Praxislehre tituliert mentation und Transfer sozialwissenschaftlichen sind? Brauchen wir überhaupt Praxismodule, Wissens.4 Niklas Luhmann kommentierte in wenn wir Praxis auf diese Weise in die Lehre diesem Kontext, dass dabei ein Missverständnis einbauen? Wie könnten Open Educational Re- hinsichtlich dessen vorliege, was Wissenschaft sources aussehen, die solche Inhalte in Form von tue. Diese könne «Alltagsrelevanz gar nicht kleinen Übungen oder Lehrbausteinen bereit- riskieren», da ihre Probleme grundlegend andere stellen, die dann in anderen Lehrveranstaltungen seien als die von «Gesellschaft».5 Der soziolo- für eine andere Einbindung solcher Praxis ge- gische Lösungsvorschlag lief auf eine «gepflegte nutzt werden können? Differenz»6 oder «gepflegte Distanz»7 hinaus, Wenn das Problem immer wieder die Art und also auf ein Verhältnis zwischen Theorie und Weise der Unterscheidung zwischen Theorie Praxis, das Pflege verlangt, die ein Fach zu leisten und Praxis ist, lässt sich noch eine zweite Schluss- hat, d. h. differenzierende, aber auch einübende folgerung ziehen, die auch durch die Befragun- Aufmerksamkeit. gen im Rahmen unseres Projekts gestützt wird: Wir können unsere Problemdiagnose vor An Film-, Kunst- und Fachhochschulen wird diesem Hintergrund reformulieren: ‹Theorie und das diagnostizierte Problem nicht oder kaum Praxis› bezeichnet in deutschsprachigen univer- artikuliert. Die Bestimmung der begrifflichen sitären Studiengängen der Medienwissenschaft Differenz zwischen Theorie und Praxis hat dort eine ungepflegte Differenz. Es gibt gute Gründe einen konstitutiven, im institutionellen Rahmen für ungepflegte Differenzen, mitunter gibt es regulär praktizierten Status: Qualifizierend für auch gute Gründe, ungepflegte Differenzen nicht eine Professur an diesen Hochschulen ist in der zu thematisieren. Für die Lage der Medienpraxis Regel neben einer Promotion eine mehr oder an deutschsprachigen Universitäten ist das nicht weniger umfangreiche ‹Praxiserfahrung›. Theo- der Fall. Wie kann also die Medienwissenschaft rie steht an Film-, Kunst- und Fachhochschulen angesichts ihrer sehr unterschiedlichen tradierten deshalb allein schon personell grundsätzlich im Praxisbegriffe diese Differenz pflegen? Was Kontext von ‹Praxis›. Wenn an den Hochschulen ist die Lehre, die wir aus unserer Praxis ziehen? für angewandte Wissenschaften das Theorie- — Praxis-Problem dadurch gelöst wird, dass sie praxisrelevante Theorie anbieten – müssten dann nicht die Universitäten theorierelevante Praxis lehren? Wie könnte solche Lehre aussehen und wie verhält sie sich zu den Erwartungen, die an sie gestellt werden? Was muss Theorie leisten, um selbst praxisförmig gelehrt zu werden? Was sind Unterschiede zwischen Medienempirie und DEBATTE 147 JOHANNES PAßMANN / FLORIAN SPRENGER 1 Vgl. Gregor Bongaerts: Soziale Praxis und Verhalten – Überle g un- gen zum Practice Turn in Social Theory, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 36, Nr. 4, 2007, 246 – 260, hier 254 f., doi.org/10.1515/zfsoz- 2007-0401. 2 Ebd., 254. 3 Jörg Volbers: Theorie und Praxis im Pragmatismus und in Praxistheorie, in: Thomas Alkemeyer, Volker Schürmann, Jörg Volbers: Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden 2015, 193 – 214, hier 196, doi. org/10.1007/978-3-658-08744-9_9. 4 Stephan Wolff: Wie kommt die Praxis zu ihrer Theorie? Über einige Merkmale praxissensibler Sozialforschung, in: Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer, Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt / M. 2008, 234 – 259, hier 234 f. 5 Niklas Luhmann: Die Wissen- schaft der Gesellschaft, Frankfurt / M. 1990, 325 f. 6 Wolff: Wie kommt die Praxis zu ihrer Theorie, 237. 7 Ebd., 255. 148 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150215. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — MEDIENPRAXISLEHRE IN DER MEDIENWISSENSCHAFT Empirie und Exploration von PAUL HEINICKER, ARMIN BEVERUNGEN, PAUL HOFFSTIEPEL, MACE OJALA und ANTONIA WULFF Wer denkt Medienpraxis? Wann ist Medien- der Medienpraxis zumindest in Bochum gab: praxis? Für wen ist Medienpraxis? Solche Fragen Über 80 Prozent der Veranstaltungen werden nach dem Ort und der Integration der Medien- von externen Lehrkräften getragen, nur zwei praxis in medienwissenschaftliche Studien- Professor*innen haben dieses Modul überhaupt gänge sind das zentrale Anliegen des Projekts jemals gelehrt, und von allen Kursen thema- Medienpraxiswissen an der Ruhr-Universität tisieren fast zwei Drittel audiovisuelle Medien. Bochum. Die Ergebnisse unserer empirischen, An der auf der Projekt-Homepage abrufbaren datenanalytischen und durch Interviews be- Visualisierung werden aber auch Tendenzen, gleiteten Forschung zu diesen Fragen möchten Kontinuitäten und Moden medienpraktischer wir in diesem Text vorstellen. Sie geben Auf- Lehre deutlich (etwa zwei Hochphasen von schluss über den Status quo medienpraktischer Lehre zu digitalen Medien Anfang der 2000er Lehre im deutschsprachigen Raum und deuten Jahre und seit 2015), die in einem nächsten an, in welche Richtung zukünftige Entwicklun- Schritt mit Daten anderer Institute verglichen gen gehen könnten. werden könnten.1 Der erste Schritt des Projekts bestand darin, Auf Grundlage dieser ersten Beobachtungen zu untersuchen, wie Medienpraxis bisher kon- entstand der Impuls, anderen Narrativen und zipiert und realisiert wurde. Vor Ort am Institut Modellen der Medienpraxis vergleichend zu für Medienwissenschaft in Bochum s tarteten wir begegnen. Dazu haben wir bisher 27 Interviews mit ersten Flurgesprächen und einer Recher che mit Dozierenden verschiedener Institute im zur mehr als 20-jährigen Geschichte des Mo- deutschsprachigen Raum geführt, an denen duls Medienpraxis. Aus den abgeleiteten Daten medienpraktische Lehre angeboten wird. Im (die meisten Daten wurden erst nachträglich Fokus standen hier ‹klassische› S tudiengänge erstellt, denn es gibt bis auf die Vorlesungsver- der Medienwissenschaft, interdisziplinäre zeichnisse keine etablierte Archivierungspraxis) (zumeist Master-)Studiengänge sowie Ange- entstand eine Datenvisualisierung, die schon bote an Gestaltungs- und Kunsthochschulen erste Hinweise auf die institutionelle Dynamik mit medientheoretischen Schwerpunkten. DEBATTE 149 PAUL HEINICKER / ARMIN BEVERUNGEN / PAUL HOFFSTIEPEL / MACE OJALA / ANTONIA WULFF Auf personeller Ebene haben wir mit Promo- reichten hier von «Theorie ist ein grundlegend vierenden, Lehrenden aus dem Mittelbau, anderer Ansatz als Praxis» bis hin zu «Praxis ist Professor*innen und Initiator*innen von Studi- auch Theorie». Die heutige Medienwissenschaft engängen gesprochen. hat diverse Praktiken und Praxisverständnisse Zusätzlich haben wir alle auf der von der von verschiedenen Disziplinen, aus denen sie Gesellschaft für Medienwissenschaft angebo- hervorgegangen ist, also von Kommunikations- tenen Webseite medienwissenschaft-studieren.org wissenschaft, Publizistik, Philosophie, Germa- gelisteten BA-Studiengänge auf Medienpraxis- nistik, Musik-, Film- und Theaterwissenschaft, Inhalte hin durchsucht. Dabei stützt sich unsere Gestaltung usw., übernommen und weiterent- Analyse auf Studienordnungen, Modulhand- wickelt. Weder in der Forschung noch in der bücher, Studienverlaufspläne und Webauftritte Lehre sind die Verhältnisse von Theorie, Praxis der Studiengänge – und hier somit auf die und Medien dabei immer expliziert. Innerhalb formelle Darstellung der Studiengänge, die die der Medienwissenschaft wurden Relationen von reflektierten, teils anekdotischen Berichte und Medien und Praxis immer wieder neu verhan- Erzählungen aus den Interviews ergänzt und delt: von einer vom medialen Apriori geprägten flankiert. Auf Grundlage dieser Zugänge wollen Praxis über Medien als Praktiken in der wir einen ersten groben Überblick über die Kultur technikforschung und den aktivistischen derzeitige Situation der Medienpraxislehre in Cultural Studies geprägten Ansätzen bis hin zur Deutschland erstellen. Medienpraxeologie. Diese Vielfalt an Konzepten von Medien- praxis spiegelt sich unseren Recherchen zufolge Über Medienpraxis sprechen nur bedingt in der Medienpraxislehre wider. Ein erster Befund aus unseren Interviews Ob durch Verweigerung des Transfers oder aus war: Es ist gar nicht so einfach, Gespräche anderen Gründen: Oftmals erscheint die Dif- über Medienpraxislehre zu initiieren. Gerade ferenz zwischen Theorie und Praxis sowohl auf unsere ersten Einladungen trafen zwar auf fachwissenschaftlicher als auch institutioneller allgemeines Interesse, aber oftmals merkten Ebene nicht besonders ‹gepflegt›. Es schien uns die Angesprochenen an, dass sie nichts zu dem zumindest so, als ob nur wenige kollegiale, kaum Problem sagen könnten oder gar sagen woll- institutionalisierte Gespräche über die Inhalte ten, weil die Theorie-Praxis-Spannung am von und Ansätze zu Medienpraxislehre stattfin- eigenen Institut so festgefahren sei. Über eine den, zumindest an den verschiedenen Orten, an Schneeballstichprobe konnten wir dennoch denen unsere Interviewpartner*innen lehren. Interviewpartner*innen gewinnen. Um eine Unsere Interviewpartner*innen waren demnach offene Gesprächsatmosphäre bei einem per- vornehmlich die Kolleg*innen, die sich mit sönlichen Treffen oder per Zoom zu schaffen, medienpraktischer Lehre befassen und insofern wurden Gespräche nicht aufgenommen und eher eine Affinität für ein ‹gepflegtes› Theorie- die im Ansatz teilstrukturierten Interviews Praxis-Verhältnis zeigten. So sind auch unsere wurden relativ informell geführt. Es besteht hier präsentierten Einsichten dementsprechend also Gesprächsbedarf, bestimmte Bedingungen von einer generellen Offenheit und Problema- erschweren jedoch den fachlichen Austausch. tisierungslust geprägt. Eine solche Bedingung ist die große Vielfalt Im weiteren Dialog mit unseren Inter- an Verständnissen von Medienpraxis, die auch viewpartner*innen fanden sich viele biografi- in unseren Interviews deutlich wurde. Aussagen sche Erzählungen, die Ambitionen einzelner 150 ZfM 29, 2/2023 MEDIENPRAXISLEHRE IN DER MEDIENWISSENSCHAFT Akteur*innen mit hochschulpolitischen Realitä- an – wohl häufiger von den entsprechenden ten innerhalb einer wissenschaftlichen Rah- Vorgaben abgewichen werden kann. mung verbinden. Das sich aus den Biografien Unserer Recherche nach sind Praktika fast ergebende Engagement für Medienpraxislehre immer möglich; oft sind sie durch Studienord- steht dabei offensichtlich oft im Konflikt zu den nungen vorgegeben. Allerdings sind sie oft nicht formellen Rahmenbedingungen für Medienpra- Teil des Fachs, sondern in anderen Elementen xislehre, die durch Studienordnungen vorge- der Studiengänge verankert, wo zusätzlich auch geben sind; Freiräume müssen hier gesucht und noch andere Angebote der Berufsorientierung erkämpft werden. Während wir in der Analyse oder Professionalisierung angesiedelt sind. Nur der Studiengänge und der Interviews auf un- selten sind Praktika in fachliche Praxis module terschiedliche Muster gestoßen sind, möchten integriert oder können dort Praxisseminare wir hier zwei wesentliche Aspekte fokussieren: ersetzen. Ob Praktika organisatorisch vom Fach Erstens besteht das strukturelle Problem der betreut und so integriert werden, bleibt hier curricularen Einbettung der Medienpraxislehre eine offene Frage. An vielen Standorten stehen in den Studienaufbau. Zweitens stellt sich die für Medienpraxislehre besondere Räumlichkei- Frage der Ausrichtung von Medienpraxislehre. ten wie Medienlabore zur Verf ügung, und an Hierzu haben sich vier Herangehensweisen vielen Standorten werden auch extracurriculare aus den Interviews kristallisiert: Berufsfeldlehre, Aktivitäten etwa in Radio- oder Fernsehsendern medientechnische Ausbildung, Medienreflexivität oder auch im Theater angeboten, die oft stu- und Wissenspraxis. dentisch organisiert und nur selten im Studien- ablauf eingebunden sind (z. B. als praktische Modulelemente). Strukturen In den von uns geführten Gesprächen An Universitäten besteht prinzipiell das wurden die großen Unterschiede im A ufbau strukturelle Problem, wie medienpraktische medien wissenschaftlicher Studiengänge Lehre in vorwiegend theoretisch ausgerichtet e deutlich, die auf standortspezifische Besonder- Studiengänge der Medienwissenschaft inte- heiten reagieren (oder sie hervorbringen). griert werden soll. Durch die Analyse von im Das Ausmaß medienpraktischer Anteile an den deutschsprachigen Raum angebotenen BA- Studieng ängen und ihre Organisation wird Studiengängen wurden verschiedene Lösungen unterschiedlich gehandhabt. Nicht selten be- sichtbar: dezidierte Praxismodule, praktische schränkt sich der Anteil der Medienpraxislehre Modulelemente, Projektmodule, Praktika sowie formell auf 9 oder 10 ECTS, üblicherweise extracurriculare Angebote. In unserer Auflistung auf ein Modul mit zwei Elementen (Seminar, sind dezidierte Praxismodule das Mittel, das Übung). Wenn Medienwissenschaft in einer am häufigsten gewählt wurde, um Medienpraxis- kleinen Variante als Teil eines 2-Fach-BAs oder lehre in Studiengängen zu verankern. Es gibt als Nebenfach gewählt wird, kann Medien- nur wenige Studiengänge – je nachdem, wie praxis oft ganz abgewählt werden. In manchen man Medienpraxislehre formell definiert,2 bis Fällen werden aber auch mehrere Module zu fünf –, die nominell ohne dezidierte Praxis- angeboten; wenn Praktika und andere Elemen- module auskommen. Seltener als in dezidierten te hinzukommen, werden bis zu 30 ECTS in Praxismodulen ist Medienpraxislehre als Teil von der Medien praxislehre abgeleistet, selten auch theoretischen Modulen vorgesehen, auch wenn noch wesentlich mehr (50 ECTS oder mehr). hier im Lehralltag – so zeigen unsere Interviews Praxisanteile sind erwartbarerweise besonders DEBATTE 151 PAUL HEINICKER / ARMIN BEVERUNGEN / PAUL HOFFSTIEPEL / MACE OJALA / ANTONIA WULFF in künstlerischen oder gestalterischen Studien- wird die Differenz zwischen Theorie und gängen ausgeprägt. Medienpraxislehre ist also Praxis in der Lehre auch in ihrer personellen für fast alle Studiengänge wesentlicher Teil des Besetzung sichtbar: Diese Einheiten werden Angebots, in vielen macht sie auch einen quan- in großen Teilen vom Mittelbau – z. B. ent- titativ großen Teil der Lehre aus. Dabei scheint fristeten Lehrkräften für besondere Aufgaben, Medienpraxislehre jedoch nur an wenigen aber auch nicht-entfristeten wissenschaftlichen Standorten integriert: Meist verweisen einzelne Mitarbeiter*innen – und besonders von externen Module nicht aufeinander und bauen auch Lehrbeauftragten getragen. «Wir müssen es nicht aufeinander auf. [die Medienpraxislehre] nicht selber machen, Unsere Interviews haben bestätigt, was die zum Glück», ist ein Satz, der sinngemäß nicht Studienordnungen und Darstellungen der nur einmal gefallen ist. Nur in Ausnahmefällen Studiengänge bereits andeuten: Medienprakti- tragen Professor*innen zur Medienpraxislehre sche Lehre ist oft schlecht in Curricula ein- bei. Gerade externe Dozierende haben jedoch bezogen, denn es gibt kaum Verweise zwischen kaum Einsicht bzw. kommen schlecht in den theoretischen und praktischen Studienelemen- Dialog mit den restlichen Inhalten des Studiums, ten. Teilweise – das wäre genauer zu ergrün- weswegen sich ihre Lehre eher als optionale den – scheint dies auch ein Schutzwall gegen die Ergänzung positionieren kann. Diese personelle «Neoliberalisierung der Universität» zu sein, in Trennung ist nur schwer zu überbrücken, z. B. der «wirtschaftsnahe» Praxis gegenüber Theorie durch das Engagement eines vermittelnden und privilegiert wird, wie ein*e Interviewpartner*in organisierenden Mittelbaus. Lehrbeauftrage berichtete. Nur an einer Handvoll Studienorten sind aufgrund der prekären Arbeitsbedingun- scheint Medienpraxislehre formell gut integriert, gen schwer zu gewinnen und zu halten, sodass weil z. B. Praxiselemente in theoretischen Mo- selbst produktive Lehrsituationen oft nicht über dulen zusammengeführt sind, Module aufeinan- mehrere Semester fortgeführt werden können. der aufbauen und verweisen und / oder Praktika Zweitens zeigte sich in unserer Recherche curricular eingebunden sind. Doch unsere In- eine Kluft zwischen historisch etablierten Aus- terviews belegen, dass die alltägliche Lehre mit prägungen der Medienpraxislehre und Entwick- einer «klaren Trennung in Personal und Inhalt» lungen in der Medientheorie und -praxis. In vom Rest des Studiengangs vonstatten gehen nicht wenigen Studiengängen ist die Medienpra- kann. Die große Mehrheit der Studiengänge xislehre auch formell schon stark vordefiniert, setzt formell also auf eine Trennung von Theo- z. B. wenn Module dezidiert für Film oder Radio rie und Praxis in der Lehre, wobei Medienpraxis, ausgewiesen werden. An Standorten, die auf Tra- so berichteten einige Interviewpartner*innen, ditionen der Publizistik und Kommunikations- von Studierenden im besten Fall als Bereiche- wissenschaft aufbauen, spielt die Trias von (Be- rung des Curriculums, im schlimmsten Fall als wegt-)Bild, Ton und Schrift, oft übersetzt in Film abgetrennte Lernerfahrung oder «Ablenkung» oder Fernsehen, Radio oder Sound und Zeitung von den «eigentlichen» Studieninhalten wahrge- oder Journalismus, eine bedeutende Rolle. An nommen wird. Standorten mit einer Geschichte in der Film- Neben der curricularen Trennung sind in oder der Theaterwissenschaft spielt oft der Film unserer Recherche zwei weitere, sich auch mit respektive das Theater eine dominante Rolle. unseren institutionellen Erfahrungen deckende Diese Fokussierungen mögen nicht nur histo- Aspekte aufgetreten, die die Integration von risch gewachsen, sondern weiterhin gewollt sein; Theorie und Praxis weiter erschweren: Erstens sie schließen jedoch praktisch anders gefasste 152 ZfM 29, 2/2023 MEDIENPRAXISLEHRE IN DER MEDIENWISSENSCHAFT medienpraktische Angebote aus – auch weil z. B. ausschließen: Medienpraxislehre als Berufs- Labore für Film oder Ton, viel seltener aber feldlehre; als medientechnische Ausbildung; als die für Virtual Reality oder Datenanalyse existieren. Herstellung einer Medienreflexivität; und In einigen Interviews und auch in einigen ein integriertes Verständnis von Medienpraxis Selbstdarstellungen von Studiengängen wird als Wissenspraxis. bemerkt, dass Medienberufe einem ständigen Wandel unterliegen und das Lehrangebot daran angepasst werden muss. Trotzdem gibt Berufsfeldlehre es vergleichsweise wenige in den Curricula Unter dem Stichwort Berufsfeldlehre ver- verankerte Angebote zum Web oder zu sozialen stehen wir einen Medien-Studiengang, der Medien, zu Game Studies oder zum Program- vermeintlich einen Beruf in der Medienbranche mieren, um nur ein paar Beispiele zu nennen. verspricht. Dies steht vor dem Hintergrund, Uns scheinen diese Verfestigungen daher meist dass medienwissenschaftliche Studiengänge nicht ‹gepflegt›, auch weil Angebote nicht immer noch – auch aus universitätspolitischen systematisch oder konsequent auf diese Entwick- Gründen – als berufs- und praxisorientiert lungen einzugehen scheinen. So berichten einige beworben werden, um Studierende anzuzie- Interviewpartner*innen sinngemäß, dass in hen, die «etwas mit Medien» machen wollen. der Weiterentwicklung der Angebote eher un- Medienpraxis bedeutet hier eine Lehre mit dem strukturiert «gedaddelt» wird. Auch gegenüber Ziel, Studierende auf eine bestimmte Medien- einer Medientheorie, die mit einem produktiv industrie vorzubereiten bzw. sogar schon im offengehaltenen Medienbegriff verschiedenste Studium Kontakte dorthin zu ermöglichen. mediale Phänomene oder auch medientechni- Eine berufsvorbereitende Medienpraxis, die sche Entwicklungen wie das Internet der Dinge, mehr in kulturell-wirtschaftliche Praktiken als virtuelle Umwelten oder künstliche Intelligenz in konkrete Medientechniken einführt, hat vor fokussiert, scheint die Medienpraxislehre sowohl allem das Ziel, möglichst viele Absolvent*innen auf curricularer Ebene als auch in der Lehrpraxis beruflich abzusichern. Dieser Ansatz ist zu- eher verschlossen. Wie mit diesen Entwicklun- mindest formell weit verbreitet, da alle Studi- gen an einzelnen Standorten umgegangen wird, engänge den Anspruch der Berufsorientierung bleibt hier eine offene Frage; durch die Inter- bedienen müssen, und wird z. B. durch Lehr- views wurde jedoch sehr deutlich, dass in dieser beauftragte aus den Medien- und Kulturbran- Hinsicht wenige institutionelle Verhandlungen chen vertreten. Dabei scheint dieser Ansatz stattfinden. selten aus der Medienwissenschaft selbst heraus entstanden zu sein und wird dort oft angefoch- ten. In einigen Interviews wurde das berufsprak- Ausrichtungen tische Versprechen von medienwissenschaftli- Wie Medienpraxis verstanden wird, hat Kon- chen Studiengängen sogar als «Ursünde» des sequenzen für die institutionelle Praxis. Medien- Fachs und als »Etikettenschwindel» bezeichnet, praxis als grundsätzliche Leitidee der Lehre zu weil es nie eingelöst werden kann. Eine Medi- diskutieren war ein wesentlicher Schwerpunkt enwissenschaft, die als ein «Problematisierungs- vieler unserer Gespräche. In einer Art Schema- verfahren», das «kein Problemlösungsverspre- tisierung haben wir vier wiederkehrende chen» liefert,3 verstanden wird, steht in einem konzeptionelle und pädagogische Ausrichtungen grundsätzlichen Konflikt mit einer berufsbilden- ausmachen können, die sich nicht zwingend den Medienpraxislehre. DEBATTE 153 PAUL HEINICKER / ARMIN BEVERUNGEN / PAUL HOFFSTIEPEL / MACE OJALA / ANTONIA WULFF © Paul Heinicker 154 ZfM 29, 2/2023 MEDIENPRAXISLEHRE IN DER MEDIENWISSENSCHAFT In unseren Gesprächen sind zwei besondere geklärt. Gleichzeitig wird Studieninteressierten Aspekte dieser Herangehensweise aufgefallen. eine Vielzahl von Kompetenzen versprochen: Erstens ergibt sich bei der Fokussierung auf analytische, b eratende, bewertende, gestaltende, Berufsfelder eine einfache Frage: Welche sind kommunikat ive, konzeptionelle, organisatori- damit gemeint? Neben klassischen Berufen sche, produzierende, redaktionelle, schöpferische wie Journalismus oder Medienproduktion wird oder auch (kultur- oder wissens-)vermittelnde. in den Selbstbeschreibungen der Studiengän- Die M edienpraxislehre wird von diesen Verspre- ge eine Vielzahl von (imaginiert) relevanten chen vorgeprägt. Den Gesprächen mit unseren Berufsfeldern genannt, etwa Eventorganisation, Interviewpartner*innen nach zu urteilen, wird Kulturmanagement, Kurator*innentätigkeit, mit der Anforderung zur Berufsorientierung Markt forschung, Medienpädagogik, Öffent- meist pragmatisch umgegangen, indem z. B. die lichkeitsarbeit oder Webdesign. Diese Berufe Vermittlung von technischen oder organisa- sollen sowohl in Medienbranchen als auch torischen Kompetenzen betont wird; auch die in verschiedenen Kulturindustrien sowie der teils überspannten Versprechen an Studien- Unternehmensberatung oder Werbeindus- interessierte verblassen vermutlich im Lehralltag. trie ausgeübt werden können. Nur selten wird Studierenden explizit kommuniziert, dass das Medientechnische Ausbildung universitäre Studium keine Berufsausbildung Eine ähnlich berufsvorbereitende, aber konkret darstellt. Gleichzeitig soll das Studium für ein medientechnische Herangehensweise findet breites Berufsfeld qualifizieren; dabei wird die sich in diesem zweiten Modell. Hier liegt der Notwendigkeit zusätzlicher Qualifikationen Schwerpunkt auf der Vermittlung medienhand- sehr selten erwähnt. Die Berufsfeldorientie- werklicher Fertigkeiten, etwa Expertise in Bild-, rung – wie sie in der Selbstdarstellung, teil- Video- und Tonbearbeitung oder (wesentlich weise auch in P raxismodulen formuliert wur- seltener) in Programmierung und im Umgang de – schien uns s elten systematisch konzipiert; mit ihren jeweiligen (Software-)Werkzeugen. oft scheinen Berufsfelder mehr oder weniger Die medientechnische Ausbildung stellt die arbiträr oder lokal kontingent ausgewählt. Auch am stärksten institutionalisierte Herangehens- Interviewpartner*innen wiesen auf diesen Zu- weise an Medienpraxislehre dar, denn sie löst stand hin. das V ersprechen der Berufsbildung zumindest Zweitens ergibt sich die Frage nach den teilweise ein und korrespondiert weitgehend Zielen und Erwartungen dieser berufsorien- mit einem Selbstverständnis der Medienwissen- tierten Medienpraxislehre: Dient sie als schaft, gemäß dem medientechnische Kompe- Schnupperkurs, damit Studierende z. B. Soft- tenz auch zur wissenschaftlichen Ausbildung ware für Filmschnitt «schon mal gesehen» gehört. So wird in vielen Teilen der Medienwis- haben? Oder wird sich an Industriestandards senschaft angenommen, dass eine praktische, orientiert, damit Studierende gleich als Editor handwerkliche Auseinandersetzung mit tech- in den Beruf einsteigen können? Sollen rein nischen Medien sogar unabdinglich für eine technische Kenntnisse und / oder zusätzliche medienwissenschaftliche Praxis ist. Auch wenn Kompetenzen in Organisation oder Kommuni- z. B. ein medienarchäologisches Nachspüren kation vermittelt werden? In unseren Interviews technologischer Operationen im Archiv nicht bekamen wir hierzu verschiedenste und dabei unbedingt ‹alltagstauglich› ist. oft pragmatische Antworten; in den Studi- Es besteht dabei also (weiterhin) eine enangeboten scheinen diese Fragen oft nicht Spannung zwischen den Anforderungen einer DEBATTE 155 PAUL HEINICKER / ARMIN BEVERUNGEN / PAUL HOFFSTIEPEL / MACE OJALA / ANTONIA WULFF wissenschaftlichen und beruflichen Praxis. Medienreflexivität Zwischen der Idee des critical making oder Im Gegensatz zu den zwei vorherigen Filmschnitt als kritischer Praxis und berufs- Modellen beschrieben manche unserer Inter- qualifizierenden Fähigkeiten besteht eine viewpartner*innen eine Herangehensweise, wichtige Differenz, die für das Selbstverständ- die nicht auf eine (Berufs-)Qualifikation abzielt, nis von Studiengängen konstitutiv sein kann. sondern auf die Hervorbringung einer medien- In unseren Interviews wurde deutlich, dass reflexiven Haltung. Es geht hierbei nicht um unterschiedliche Ansätze koexistieren, die Berufsfelder oder Umsetzungsexpertisen, son- zwischen Berufsaus bildung und Wissenspraxis dern um ein kritisches Anwendungswissen – ein angesiedelt sind. Auch hier treffen verschiedene Denken mit und in Medien. Im Zentrum dieser Ansprüche auf einander, insbesondere was das Lehre steht dann nicht der Zugang zu Medien- Niveau der zu vermittelnden handwerklichen, zusammenhängen, sondern die Selbstermächti- medientechnischen Fertigkeiten betrifft. Aus gung über sie: ein «kritisches Individuum» den Interviews ergibt sich der Eindruck, dass das sich seiner «eigenen Agency bewusst» wird. in einer spielerischen Vermittlung einiger Es wird kein Handwerk gemeistert, sondern grundlegender Kenntnisse, den Studierenden eine Praxis situiert und ein Spektrum aufgezeigt. Medientechniken in ihrer Materialität nahe- Trotzdem kann das vermittelte Wissen eine gebracht werden sollen. Die Medienpraxislehre Berufsorientierung ergänzen, so wie im Sinne wurde sinngemäß öfter als produktives «fort- einer liberal arts education Reflexionswissen An- schreitendes Scheitern» beschrieben. Nur an wendungswissen bereichern kann. Jedoch geht einigen Standorten, an denen Medienpraxis- dieser Ansatz mit der Annahme, dass Medien- lehre besonders ausgeprägt oder besonders auf reflexivität nicht nur im Beruf, sondern in vielen bestimmte Medientechniken oder Berufsfelder Bereichen des alltäglichen Lebens gebraucht fokussiert ist, werden höhere Erwartungen und wird, über eine Berufsorientierung hinaus. Auch Ansprüche bezüglich der praktischen Fähig- Philip Agres «critical technical practice», um keiten und medientechnischen Kompetenzen ein öfter zitiertes Beispiel zu nennen, sprengt die der S tudierenden formuliert. Grenzen einer eng gefassten berufsorientierten Unsere Interviews haben einige Medienpraxis.5 Lehrangebote zum Vorschein gebracht, die Gleichzeitig entfernt sich die Medienpraxis- diesen Ansatz stärken und erweitern, gera- lehre hier potenziell von medientechnischen, de über eine Berufsfeldorientierung hinaus. handwerklichen Medienpraktiken, z. B. wenn Hervorzuheben sind aus unserer Sicht insbe- Theorie im Sinne Gilles Deleuze’ selbst als sondere A nsätze, die man einer ‹Hacker-Ethik› die Produktion von Konzepten und somit als zuordnen könnte, wie sie z. B. Christopher M. g estalterisch oder kreativ verstanden wird.6 Kelty mit dem Begriff der «recursive publics» Medienpraxislehre kann in diesem Sinn aus beschrieben hat 4 und wie sie in den Digital medientheoretischer Reflexion mit wenig Nähe Humanities Anklang findet. Die reflexive An- zu technischen Medien und ihren Praktiken be- eignung und Öffentlichmachung von Com- stehen, was die Differenz zwischen Theorie und puter-Software und -Hardware steht hier im Praxis wieder aufruft. Gleichzeitig öffnet sich Mittelpunkt einer Medienpraxis, die lehrt, dass die Medienpraxislehre hier sozialen, politischen Medien nicht verschlossen bleiben müssen und und ökonomischen Fragestellungen sowie einer anders gestaltet werden können. bestimmten gestalterischen Haltung, was durch- aus eine Bereicherung der Medienpraxislehre 156 ZfM 29, 2/2023 MEDIENPRAXISLEHRE IN DER MEDIENWISSENSCHAFT in ihrer Vielfalt darstellt. Hier besteht das Poten- zum medienpraktischen Arbeiten mit Medien zial, dass Medienpraxislehre und Medientheorie dar. Durch die Integration von Medienpraxis- sich enger miteinander verzahnen, aber auch die lehre in medienwissenschaftliche Praxis wird so Gefahr, dass Medienpraxislehre sich von Medien- das Verhältnis von Medientheorie und -praxis techniken entfernt. ‹gepflegt›. Wissenspraktiken Viertens brachten unsere Gespräche Versuche Welche Pflege? zum Vorschein, Medienpraxis und ihre Lehre als Medienpraxislehre, so kann ein vorläufiges Wissenspraxis zu begreifen, sie somit aufzu- Fazit unserer Befragungen und Recherchen werten und in die Praxis des wissenschaftlichen lauten, ist eine vernachlässigte Praxis. Insofern Alltags zu integrieren. «Wir produzieren un- bestätigen unsere Ergebnisse in vielerlei sagbar viel Wissen im Üben», war eine für Hinsicht die Int uitionen einer ‹ungepflegten› diesen Ansatz beispielhafte Aussage. Als Vorbild Relation. Gleichzeitig ergibt sich ein durchaus dienten hier teilweise die Science and Technol- differenziertes Bild, in dem sich auf vielfältige ogy Studies, insbesondere deren Verständnis der Weise um Medienpraxislehre gesorgt wird. Die Integration von Theorie und Praxis in Wissen- strukturelle und inhaltliche Ausrichtung der schaft und Technik sowie die Aufwertung gestal- medienwissenschaftlichen BA-Studiengänge im terischer und schaffender Arbeit. Aufgegriffen deutschsprachigen Raum kann hier auch als wird solch ein Verständnis z. B. in den Digital ein Symptom gelesen werden: eines der Aufwer- Humanities oder auch den Applied Media Stu- tung von Theorie gegenüber Praxis im Fach, dies; 7 praktiziert wird es etwa in verschiedenen der eingeforderten Berufsorientierung, die das Labs, in der deutschsprachigen Medienwissen- Fach oft nicht ernst nimmt und auf die es mit schaft z. B. im Berliner Signallabor, im Baseler der Verschiebung von Arbeit und Verantwor- Critical Media Lab oder im Bochumer Virtual tung vom Professorium hin zum Mittelbau und Humanities Lab. Ein Labor dient dabei nicht den Lehrbeauftragten antwortet. Um diesen nur als Ort der Forschung oder der Gestaltung, Zustand zu ändern, wären also weitreichendere sondern auch als Ort der Lehre, die eng mit den Veränderungen notwendig, die nicht nur die anderen wissenschaftlichen Praktiken verknüpft Medienpraxislehre, sondern auch grundsätzlich ist. Auch das Experimentieren und Scheitern Hochschulstrukturen betreffen, z. B. die Arbeits- steht hier mehr als in den anderen Ansätzen im verhältnisse und Bewertungsmechanismen. Vordergrund, ebenso wie das Gestalten im Ge- Gravierender scheint uns allerdings, dass das gensatz zum Verstehen oder Nutzen. Das Labor Fach nur selten eingehend auf die externen An- bietet eine «spielerische und experimentelle forderungen an die Medienpraxislehre reagiert. Nähe von Praxis und Theorie».8 Die Pragmatik, mit der Medienpraxislehre an Auch Ansätze der «poor media» nach Johanna vielen Standorten umgesetzt wird, soll nicht un- Drucker, die nach dem Motto «Wir machen terschätzt werden; trotzdem ist es verwunderlich, das jetzt einfach mal» verfahren, könnten hier dass nur selten konkrete Konzepte vorliegen, eingeordnet werden: 9 Der Ausgangspunkt, dass in denen Medienpraxislehre systematisch und für die medienpraktische Arbeit und in ihr alle konsequent durchdacht, geplant und damit prak- technischen Medien, wie z. B. Plattformen für tiziert wird. In den Interviews wurde deutlich, Bildsammlungen, selbst kreiert werden können dass sowohl auf institutioneller Ebene (Institute, und müssen, stellt einen konkreten Zugang Seminare) als auch auf fachlicher Ebene (z. B. DEBATTE 157 PAUL HEINICKER / ARMIN BEVERUNGEN / PAUL HOFFSTIEPEL / MACE OJALA / ANTONIA WULFF in der Gesellschaft für Medienwissenschaft) ein 1 Die Visualisierung ist online Austausch nötig ist, der Medienpraxislehre in aufrufbar unter medienpraxiswissen. rub.de/ifm; die Daten und den ihren Transformationen begleitet und sich nicht Code stellen wir über GitHub zur auf eine unbestimmte Differenz von Theorie Weiterverwendung zur Verfügung. 2 Z. B. gibt es viele Module für und Praxis versteift. Dies stünde im Kontrast zur Medienanalyse, die man durchaus informell geführten Debatte um den «Etiketten- als medienpraktische Module begreifen und auch so lehren schwindel» der Studiengänge, die weiterhin kann, die in der Regel in den eine Berufsausbildung – mit mehr oder weniger Curricula allerdings von anderen Praxismodulen differenziert und expliziten Einschränkungen – versprechen, ohne getrennt sind. den so geweckten Erwartungen gerecht werden 3 Claus Pias: Was waren Medien-Wissenschaften?, in: zu können. ders. (Hg.): Was waren Medien?, Die verschiedenen grob skizzierten Heran- Zürich 2011, 7 – 30, hier 16. 4 Christopher M. Kelty: Two bits: gehensweisen bieten jeweils Ansätze für solch The cultural significance of free soft- eine Debatte. Sie verhandeln das Selbstverständ- ware, Durham 2008, hier 27 – 30. 5 Philip E. Agre: Toward a nis des Fachs in Relation zur Berufswelt und C ritical Technical Practice: zu einer sich ständig wechselnden Medienland- L ess ons Learned Trying to Reform AI, in: Geoffrey C. Bowker u. a. schaft. Während die Berufsfeldlehre fachlich (Hg.): Social Science, Technical umstritten, aber pragmatisch am weitesten ver- Systems, and Cooperative Work: Beyond the Great Divide, Mahwah breitet ist, bietet die medientechnische Ausbil- 1997, 131 – 157. dung einen ersten Ausblick darauf, wie externe 6 Vgl. beispielhaft Erin Manning: Propositions for a Anforderungen zur Berufsorientierung mit fach- Radical Pedagogy, or How to lichen Anforderungen in Einklang gebracht wer- Rethink Value, in: Kevin Leander, Christian Ehret (Hg.): Affect in den könnten. Medienpraxislehre mit dem Ziel Literacy Learning and Teaching, New der Medienreflexivität oder sogar als integraler York 2019, 43 – 49. 7 Vgl. Kirsten Ostherr (Hg.): Bestandteil einer Wissenspraxis eröffnet weitere Applied Media Studies: Theory Perspektiven, wie das Verhältnis von Theorie and Practice, New York 2017, doi.org/10.4324/9781315473857. und Praxis auf verschiedene Weisen ‹gepflegt› 8 Shintaro Miyazaki, Claudia werden könnte. Alle Herangehensweisen bieten Mareis: Critical Media Lab Basel, in: Interactions, Bd. 26, in ihren jeweiligen lokalen Umsetzungen, die Nr. 1, 2018, 16 – 19, hier 17, wir aus der Distanz beobachten konnten, ihre doi.org/10.1145/3292017, eigene Übersetzung. eigenen Widersprüche und Grenzen, die zu 9 Johanna Drucker, Annika diskutieren sind. Unsere Interviews dienten als Haas: Digital Humanities als epistemische Praxis, in: Zeitschrift erste Einladung zu einem Gespräch über Me- für Medienwissenschaft, Jg. 9, dienpraxislehre, das in dieser Debatte hoffentlich Nr. 16 (2/2017): Celebrity Cultures, 114 – 124, doi.org/10.25969/mediarep/ fortgesetzt werden wird. 2080. — 158 ZfM 29, 2/2023 — WERKZEUGE Abb. 1 Alan Erdahl, Chris Wylie und Gordon Romney im University of Utah Graphics Lab mit Bildschirmfoto-Vorrichtung, 1968 Abb. 2 Bill Atkinson: Polaroids der Lisa-Interface-Entwicklung bei Apple, ca. 1979 160 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150216. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — BILDSCHIRMBILDER Screenshots als Werkzeuge der Wissenschaft von WINFRIED GERLING und SEBASTIAN MÖRING Während eines Konferenzvortrags fix die Folie der Rednerin mit der interessan- ten Literaturangabe abfotografieren. Schnell den Screenshot einer Website für die eigenen Vortragsfolien anfertigen. Einen Film oder ein Game ‹screenshot- ten› für die Monografie oder den Artikel im Sammelband. Mit einem Screenshot den Besuch einer virtuellen Ausstellung festhalten. In den Bibliotheksregalen mit dem Screenshot des OPACs nach einem Buch suchen, Social-Media-Ein- träge dokumentieren, Teilnehmer*innen einer Videokonferenz festhalten, Zitate aus Google Books fixieren, nicht-downloadbare Bilder aufnehmen … Die Anlässe in der (Medien-)Wissenschaft, Screenshots anzufertigen, sind so vielfältig, dass wir diese Aufzählung endlos fortführen könnten. Mit der zunehmenden Bildschirmarbeit und der stetig wachsenden Verschränkung des (Arbeits-)Lebens mit Bildschirmmedien befinden wir uns ständig in Situ- ationen, in denen wir Bilder von Bildschirmen machen. Nichts anderes sind Screenshots: Bildschirmbilder. Screenshots beruhen nicht nur auf Funktio- nen von Computerbetriebssystemen. Auch das Abfotografieren von Handys, Projektionen, Displays usw. erzeugt Screenshots. Die Bewegtbildversion des Screenshots ist der Screencast. Er wird zu vergleichbaren Zwecken eingesetzt und unterscheidet sich vom Screenshot darin, dass er aus bewegten Bild- schirmbildern besteht. Bildschirmbilder sind weit verbreitete, aber wenig erforschte Bildpraktiken. Die Untersuchung ihres Einflusses auf Forschung und Lehre ist ein Desiderat. Obwohl omnipräsent in einer durch Bildmedien vermittelten Wissenschafts- kultur, werden Screenshots als Gegenstand der (Medien-)Wissenschaft bisher selten betrachtet. Dabei sind Screenshots weder eine neue noch eine vorüber- gehende Erscheinung. Schon ihre Genese fand in Forschungs- und Entwick- lungsumgebungen statt. Wer einen Screenshot macht, will ein bewegliches und sich schnell veränderndes (Bild-)Schirmbild unmittelbar festhalten. Damit steht WERKZEUGE 161 WINFRIED GERLING / SEBASTIAN MÖRING der Screenshot der Fotografie als Praxis des Aufzeichnens sehr nah. Möglicher- weise ist die Fotografie sogar aus einem ähnlichen Anliegen entstanden: ein Bild festhalten zu können, das vor der Aufnahme auf der Mattscheibe (Screen) der Camera obscura schon ein Bild ist. Die Geschichte des Bildschirmbildes beginnt mit dem Festhalten von so- genannten «Schirmbildern» und einem Sparzwang.1 Im Rahmen von Tuber- kulose-Reihenuntersuchungen 1936 in Brasilien entwickelte der Arzt Manuel Dias de Abreu ein standardisiertes und kostengünstiges Verfahren, mit dem der Leuchtschirm eines Röntgengerätes mittels abschirmender Haube und in- tegrierter Kleinbildkamera direkt abfotografiert werden konnte. Diese Bilder kosteten nur ca. ein Hundertstel des viel größeren Röntgenfilms und lösten diesen ab. Die ‹Schirmbildfotografie› wurde für verschiedene wissenschaftliche Dar- stellungsverfahren weiterentwickelt, etwa als Aufzeichnung von Bildern der Kathodenstrahlbildschirme (CRT), von Oszilloskopen oder Computermonito- ren. Dies geschah mit eigens konzipierten Kameratypen und Vorrichtungen, die seit den 1950er Jahren das Polaroid-Verfahren nutzten. So konnten un- mittelbar Aufzeichnungen von Messwerten archiviert werden, die anders nicht festzuhalten waren. Mit der Verbreitung und Erforschung des Computers um 1960 veränder- ten sich die Bilder des Bildschirms. Neben der Aufzeichnung von Datenbildern ging es mit Fotografien von Menschen vor dem Computer in erster Linie da- rum, ihn als wichtigen neuen wissenschaftlichen Arbeitsplatz zu kommunizie- ren und zu etablieren. Hier manifestiert sich das Genre des Fotos vom arbeiten- den Menschen vor dem Bildschirm,2 aber auch das Genre des Bildschirmfotos als vorbereitende Konventionalisierung des Screenshots (Abb. 1).3 Noch bei der Gestaltung des Lisa-Interfaces, dem paradigmatischen Design von Apple, nahm Bill Atkinson – einer der Entwickler dort – Bilder des Screens 1 Für eine umfangreiche Ge- mit einer gewöhnlichen Polaroid-Kamera auf. Während der Entwicklung des schichte der Schirmbildfotografie Systems war der Screenshot als Funktion des Computers noch nicht implemen- vgl. etwa Winfried Gerling: Pho- tography in the Digital: Screenshot tiert (Abb. 2). and In-Game Photography, in: Erst 1984 wird der Screenshot mit dem Macintosh als Tastenkombination photographies, Bd. 11, Nr. 2 – 3, 2018, 149 – 167; ders., Sebastian Möring, Teil des Betriebssystems (cmd+shift+3), auf IBM-kompatiblen PCs wird die Marco De Mutiis: Introduction, in: Funktion auf die ursprünglich für den Papierausdruck gedachte Print-Screen- dies. (Hg.): Screen Images. In-Game Photography, Screenshot, Screencast, Taste (PrtScr) gelegt. Dort ist sie oft bis heute erhalten. Berlin 2023, 11 – 42, doi.org/10.55309/ Anders als fotografische (Bild-)Schirmbilder ist der Screenshot einer Kopie c3ie61k5. 2 Vgl. Winfried Gerling: In-Front- ähnlicher als einer Fotografie und gehört damit aus unserer Sicht in die Nähe of-the-Screen Images – A Photo der kameralosen Fotografie. Schon Joseph Niépce und William Talbot expe- Essay, in: Gerling, Möring, De Mutiis, Screen Images, Berlin 2023, 93 – 136, rimentierten in den Anfängen der Fotografie mit Direktkopien von Grafiken doi.org/10.55309/c3ie61k5. und Texten. Der Maßstab 1:1 ist im digitalen Screenshot erhalten, denn er ist 3 Vgl. Matthew Allen: Represen- ting Computer-Aided Design: eine pixelgenaue positive Rastergrafik-Kopie der Konstellation von Programm- Screenshots and the Interactive fenstern, die sich im Moment des Screenshots auf dem jeweiligen Bildschirm Computer circa 1960, in: Perspectives on Science, Bd. 24, Nr. 6, 2016, befunden haben. 637 – 668. 162 ZfM 29, 2/2023 BILDSCHIRMBILDER Abb. 3 Lorna Ruth Galloway: Limited Gasoline, Grove Street, Davis, 2016 WERKZEUGE 163 WINFRIED GERLING / SEBASTIAN MÖRING Screenshots fungieren als Notizzettel, Beleg, Beweis, Dokumentation, und werden in der Medienkunst, im Seminar und in der Wissenschaftskommunika- tion verwendet. Sie sind für die Medienwissenschaft ein vielfältiges Tool, das Film-Stills, Interfaces, Social-Media-Postings etc. festhalten kann. Auf allge- meinerer Ebene wird die Verwendung von Screenshots in wissenschaftlichen Publikationen in der Regel nur dann ausdrücklich erwähnt, wenn deutlich wer- den soll, dass es sich um Bilder einer Interaktion mit dem Computer handelt. Beispielsweise wird der Screenshot eines Films häufig zum ‹Film-Still›, als sei nicht relevant, was die mediale Quelle dieses Bildes ist. Das Erstaunliche ist die Transparenz des Mediums Screenshot, wir sehen eher durch ihn als auf ihn.4 Das mag auch daran liegen, dass Screenshots im Gebrauch mit dem zu ver- wechseln sind, was sie zeigen. Ein Screenshot auf dem Display eines Smart- phones lässt sich nicht bedienen, es ist ein Freeze des Systems. Der Index zeigt nicht mehr auf die Operativität des Systems, sondern auf den festgehaltenen Gebrauch des Computers. In der Tat ist es möglich, dass der Screenshot das einzige Bild ist, das zumindest kurzzeitig mit seinem Gegenstand verwechselt werden kann. Zudem hat sich das ‹Screenshotten› als eigenständige kritische Ästhetik ent- wickelt. Die Arbeit Google Hands von Benjamin Shaykin macht beispielsweise die Hände prekär Arbeitender sichtbar, die unzählige Bücher auf ihre Digita- 4 Vgl. Paul Frosh: The Poetics of lisierung vorbereiten, während des Scanvorgangs die Seiten umblättern, und Digital Media, Medford 2019, 62. so gelegentlich im Scan sichtbar bleiben.5 Ulrike Bergermann fragt zu Recht, 5 Vgl. Benjamin Shaykin, Ulrike Bergermann: Google Hands, in: wer diejenigen sind, denen diese Hände gehören, und unter welchen Bedin- Zeitschrift für Medienwissenschaft, gungen diese Menschen arbeiten.6 Rund um das Computerspiel ist die In- Jg. 8, Nr. 15 (2/2016): Technik | Intimität, 96 – 104, doi.org/10.25969/ Game-Fotografie aus dem Screenshot entstanden und zu einer populären und mediarep/1908. zuweilen reflexiven ästhetischen Praxis geworden.7 Populär ist beispielsweise 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. Cindy Poremba: Point and die Reinszenierung bekannter Fotografien, wie etwa Lorna Ruth G alloways Shoot: Remediating Photography in Twenty Six Gasoline Stations. In Grand Theft Auto V interpretiert Galloway Ed Gamespace, in: Games and Culture, Bd. 2, Nr. 1, 2007, 49 – 58; Sebastian Ruschas berühmtes Künstlerbuch Twentysix Gasoline Stations neu, indem sie Möring, Marco De Mutiis: Camera Screenshots von Tankstellen in Los Santos, der Welt des Blockbuster-Spiels, Ludica: Reflections on Photography in Video Games, in: Michael sammelt und diese dann im Sinne einer ökologischen Kritik als Holzkohle- Fuchs, Jeff Thoss (Hg.): Intermedia Siebdrucke ausstellt.8 An dokumentarische Praktiken der Fotografie angelehnt Games – Games Inter Media. Video Games and Intermediality, New York macht Alan Butler im selben Spiel unter dem Titel Down and Out in Los Santos 2019, 69 – 94, doi.org/10.5040/ Aufnahmen von Obdachlosen und unternimmt so eine Reflexion der Rolle von 9781501330520.ch-003. 8 Vgl. Lorna Ruth Galloways NPCs (Nichtspielercharakteren) und ihres Bezugs zu Spielentwicklung und Serie Twenty Six Gasoline Stations Wirklichkeit (Abb. 3).9 in Grand Theft Auto V, Holzkohle- Siebdrucke, 2016; vgl. dazu Giulia Der Screen ist Aushandlungsort von Öffentlichem und Privatem. Hier Bernardi, Matteo Bittanti, Marco k ollidieren die beiden Welten auf intensive Weise, und so kann beispiels- De Mutiis (Hg.): How To Win At Photography, Winterthur 2021, sowie weise ein Screenshot vom Desktop eines*r Wissenschaftler*in auch unbeab- Grand Theft Auto V, Rockstar North, sichtigt Persönliches preisgeben. Ein nicht geschlossener Tab eines Browsers Rockstar Games, USA 2013; Ed Ruscha: Twentysix Gasoline Stations, mag bestimmte Interessen oder Vorlieben zeigen, so wie der räumliche Fotografie-Serie in s / w, 1963. Hintergrund in der Videokonferenz den Wohnraum für die Öffentlichkeit 9 Vgl. Alan Butler: Down and Out in Los Santos, Serie virtueller Fotogra- einsehbar macht. fien, 2015–heute. 164 ZfM 29, 2/2023 BILDSCHIRMBILDER Screenshots sind seltsame Zeugnisse, denn anders als herkömmliche digitale Fotografien, die beispielsweise Autor*in, Blende, Belichtungszeit, GPS-Daten etc. festhalten, enthalten die Metadaten eines Screenshots nur Verweise auf das System, auf dem das Bild erzeugt wurde. Sie können nur unzureichend als Hin- weise auf das möglicherweise vorrangig verfolgte Ziel gelesen werden, den Be- leg eines Ereignisses außerhalb des eigenen Rechners zu erzeugen. So wie heute in der Forschung auf die Materialität von Fotografie g roßer Wert gelegt wird, verdient es die besondere Konstellation des Screenshots – besser: des Bildschirmbildes –, dass Medienwissenschaftler*innen ihr mehr Aufmerksamkeit schenken und z. B. bei der nächsten Konferenz die fotografische Aufnahme einer Präsentation als eigenes Bildschirmbild-Format erkennen. — WERKZEUGE 165 — BESPRECHUNGEN Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150217. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — MECHANICAL BRO, HOTMESSAGE UND MSUNDERSTAND MEDIA «Weiße» Flecken der Medienwissenschaft von NOAM GRAMLICH Sarah Sharma / Rianka Singh (Hg.): Re-Understanding Dass eine feministische und rassismuskritische Be- Media. Feminist Extensions of Marshall McLuhan, Durham, schäftigung mit einer so gewichtigen Figur wie McLuhan London (Duke University Press) 2022 auf Abwehr stößt, macht Sarah Sharma, ehemalige Direktorin des McLuhan Centre in ihrem Prolog zu Ginger Nolan: The Neocolonialism of the Global Village, Re- Understanding Media. Feminist Extensions of Marshall Minneapolis (University of Minnesota Press) 2018 McLuhan (2022) deutlich.3 Dabei ist es, wie Sharma Armond R. Towns: On Black Media Philosophy, Berkeley in dem von ihr und Rianka Singh herausgegebenen (University of California Press) 2022 Sammel band schreibt, nicht ihr Ziel, McLuhans Arbei- ten ad acta zu legen. Vielmehr steht McLuhan aus Sicht — der in dem Band versammelten Autor*innen für ein In der ZfM-Ausgabe X | Kein Lagebericht (1/2022) schreiben Denken, dass Medien nicht auf Inhalte reduziert, son- Marie Eloundou, Lisa Karst und Dulguun Shirchinbal: «In dern einen materiell- in frastrukturellen Blick eröffnet, guter alter Tradition schreibt [die Medienwissenschaft] der für antirassistisch-f eministische Analysen diesseits koloniale Denkmuster und Narrative fort, behauptet von Repräsentationskritik wertvoll ist.4 Wenn Sharma aber einen ‹Beitrag zum Verständnis von Geschichte, schreibt, «we must accept that race, class, gender, and Kultur und Gesellschaft› leisten zu können.»1 In dieser sexuality cannot be understood outside of their intersec- Sammelrezension geht es um drei Veröffentlichungen, in tion with the technological» (S. 7), interveniert sie auch denen Formen des Wiederverstehens (re-understanding), in das Feld des weißen Techno-Feminismus, als dessen Aufgebens und Erweiterns weißer 2 Denktraditionen in der bedeutende Vertreterin Donna J. Haraway mehrmals ex- Medienwissenschaft verhandelt werden. Konkret steht emplarisch genannt wird (S. 182, 202). Mit Verweis auf das Denken von Marshall McLuhan im Fokus, der oft als Kimberlé Crenshaws Intersektionalitätskonzept nennt Vater der Medientheorie bezeichnet wird. Seine Arbeiten Sharma Technologie als eine weitere Straße an der sind von rassistischen, kolonialen, cis- und heteronor- Wegkreuzung in der Analyse von Macht und erweitert mativen, misogynen, christlichen, bürgerlichen, univer- damit ein Denken über Technologie, das lange weißen salistischen und linearen Argumentationen durchzogen. Feminist*innen vorbehalten war (S. 189). Darüber hinaus entstanden sie nicht zufällig gleichzeitig Den Auftakt zur Anthologie macht Armond R. Towns, mit afrikanischen Dekolonisierungskämpfen und der US- der sich dafür ausspricht, McLuhan zwar zu lesen – wenn amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. auch mit Vorsicht (S. 24) –, die Lektüre jedoch mit den BESPRECHUNGEN 167 NOAM GRAMLICH Arbeiten insbesondere von Schwarzen feministischen werden. Dennoch heißt Indigenität nicht ahistorische Denkerinnen wie Katherine McKittrick und H ortense Authentizität, die sich in einem unveränderbaren Design Spillers zu verbinden. Im Anschluss an McLuhans mate- von kené zeigen würde. Für kené sind vielmehr gestalte- riellen Medienbegriff argumentiert der Medienwissen- rische Verspieltheit (playfulness) und rituelle Verände- schaftler, dass es erst Medien des Transports wie rung charakteristisch. Langlois endet damit, dass eine das Schiff waren, die aus afrikanischen Menschen Kommodifizierung des Indigenen Wissens von kené im Sklav*innen machten. Mit McKittricks Denken von Zuge der Einspeisung in die Universität nur dadurch Blackness,5 Raum und Geschlecht wird auch der Blick umgangen werden kann, wenn sie als uneasy media da- frei auf Medien Schwarzer Menschen. Anhand der Ge- für sorgen, grundlegende Zweifel im oft als universell schichte von Linda Brent, für die ein Dach boden wäh- verstandenen weißen westlichen Medienverständnis zu rend ihrer Flucht vor der Versklavung zu einer S chwarzen säen (S. 82). Geografie wurde, argumentiert Towns für im weißen Nach den Interventionen im ersten Buchteil, in denen M edienverständnis bisher wenig beachtete Medien. Diese sich dafür ausgesprochen wird, McLuhan wiederzulesen werden dann erkennbar, wenn Schwarze Feminist*innen bzw. zu erweitern, widmet sich der zweite Teil analogen als Medientheoretiker*innen begriffen werden. Medien, vorwiegend Container-Technologien 6 wie dem Einen ähnlichen Zugriff auf McLuhans M aterialismus Inkubator, Tupperware oder Aktenschränken. Verhan- bei gleichzeitiger dekolonialer Erweiterung verfolgt delt werden die Schnittstellen von Vergeschlechtlichung Ganaele Langlois in ihrem Artikel über ein Textil namens und Mutterschaft sowie Büro- und R eproduktionsarbeit kené der Indigenen Amazonas-Gruppe Shipibo-Conibo. weißer, heterosexueller Frauen. Besonders Rianka Singhs Die von Frauen hergestellten Textilien stehen in der und Sarah Banet-Weisers Beitrag zeigt, wie McLuhans Ma- Kosmologie der Shipibo-Conibo für «transformation terialitätsdenken helfen kann, um Forderungen des Platt- because they are the pathways to different worlds, dif- form-Feminismus, etwa von #MeToo, zu h interfragen. ferent realities» (S. 72). Kené ist kein Handwerk, wie es Plattformen, die Sichtbarkeit versprechen, aber Logiken von Weißen oft missverstanden wird, sondern ein Medi- der Kommodifizierung perpetuieren und zur Steigerung um, in dem sich nicht-westliche Subjektvorstellungen von Vulnerabilität führen, verorten die beiden Autorin- und damit andere Weltzugänge materialisieren. Über nen in einer materiellen Genealogie von Plattformen, zu die ökonomische Aneignung von kené durch Online- denen sie z. B. die öffentlichen Hinrichtungen von Hexen Verkaufsplattformen wie Etsy schreibt Langlois, dass oder die Versteigerungsbörsen für aus Afrika verschleppte sich darin eine Nichtvereinbarkeit von zwei Welten Menschen zählen. Mit Bezug auf McLuhans The Mechanical ausdrückt, während Indigene Gruppen durch diesen Bride (1951) zeigen die Autorinnen hinter dem Verspre- Warenfetischismus ihres geistigen Eigentums beraubt chen von Selbstermächtigung durch den Plattform-Fe- minismus eine machtdynamische Verschränkung von Sex, Gender und Technologie. Der dritte Buchteil besteht aus Interviews mit Wissenschaftler*in- nen und Künstler*innen, die aus Indigener, Schwarzer oder ande- rer Perspektive of Color über ihre Arbeit und Erfahrung mit digita- len Technologien sprechen. Im Interview mit Nasma Ahmed und Ladan Siad wird deutlich, dass wie und was über Technologie ge- dacht wird, wesentlich mit Positi- onalitäten zusammenhängt. Aus einer Schwarzen Perspektive über 168 ZfM 29, 2/2023 MECHANICAL BRO, HOTMESSAGE UND MSUNDERSTAND MEDIA Technologie zu sprechen, so Siad, basiert auf Wissen, das Weißen ver- borgen bleibt (S. 188). Dadurch, dass Schwarze Menschen durch die Versklavung buchstäblich zur Technologie für die Entwicklung globaler Industriestaaten wur- den – was sich im Gefängnis-In- dustrie-Komplex und digitalen Ko- lonialismus bis heute fortsetzt –, haben Afro-Amerikaner*innen ei- nen anderen Zugang zu und damit ein anderes Wissen über Techno- logie. Hier setzt der Sammelband zentrale Impulse, anhand derer die Spannung zwischen «resurgence and refusal» (S. 210) von Technologie verhandelt wird. Galaxy. The Making of Typographic Man (1962) als Utopie Beispielsweise wird die Künstlerin Morehshin Allahyari einer globalen Verbindung durch elektronische Medien interviewt, die den aus Militär und Gaming-Industrie rezipiert wurde, entstand, so Nolans Ausgangspunkt, stammenden 3D-Druck verwendet, um von der IS zer- als eine koloniale Verwaltungstechnik der britischen störte Objekte irakischer Kultur zu reproduzieren. Al- Regierung, die im Kenia der 1950er Jahre zu massiven lahyaris Arbeit ist ein Beispiel dafür, inwiefern sich Tech- Landenteignungen führte. Der Widerstand der Kikuyu, nologie im Hinblick auf Sorge und eine poetische Praxis Embu und Meru gegen den Landraub und ihr Kampf um umdeuten lässt (S. 199). Ähnlich agiert auch Jennifer das Recht auf Literalität gipfelte in dem sogenannten Wemigwans, wenn die Medienp roduzentin und Pro- Mau-Mau-Krieg, in dessen Folge die britische Regierung fessorin mit Website-Interfaces arbeitet. Mit McLuhan tausende Menschen aus ihren Streusiedlungen riss und versteht Wemigwans Websites als taktile M edien und in Camps umsiedelte. Der Ethnopsychiater John Colin nutzt sie, um die Komplexität Indigener Kosmologien Carothers lieferte hierfür im Jahr 1954 mit dem Konzept zu vermitteln. Die von ihr co-produzierte Seite Fourdirec- des Globales Dorfs einen ideologischen Euphemismus tionsteachings.com stellt keine folkloristische Erzählung, für gewaltvolle (post-)koloniale Integrations- und Parti- sondern ein digital bundle dar, also eine vernetzte Form zipationstechniken. McLuhan, der sich mehrfach auf von Wissen, durch die Indigene Protokolle respektiert Carothers Arbeiten bezog, erbte auch dessen binär- werden. Mit Wemigwans Indigenem Verständnis des koloniales Denken von Stammeskulturen vs. Zivilisati- Internets erscheint dieses als intertemporales Wissens- onsgesellschaften und Oralität vs. Schriftkulturen. In bündel und nicht als bloßes Repositorium von vergan- 13 kurzen Kapiteln macht die Stadt- und Architekturfor- genem Wissen. In Wemigwans und Allahyaris Projekten scherin Nolan deutlich, dass das Globale Dorf ein quasi- liegt, wie es mit Wendy Hui Kyong Chuns Worten aus urbanes Mittel ist, um auf semiotische und räumliche der Zusammenfassung des Buchs gesagt werden kann, Weise die Existenz von vorkapitalistischen afrikanischen «[an] escape from an apocalyptic future» (S. 229). Durch Agrargesellschaften zu verhindern und sie gewaltvoll die Aufnahme und Erweiterung von McLuhan, wie es die in ein globales Weltsystem einzugliedern (S. 6). Ins- Beitragenden des Bands vorschlagen, kann auch eine besondere das Radio spielte hier eine Schlüsselrolle. andere Zukunft (von Medien) imaginiert werden. Dieser Carothers beschrieb eine angebliche magische Semio- Ansatz macht das Buch produktiv für eine kritische und se zwischen auditiven Medien und dem «afrikanischen visionäre Beschäftigung mit Medien(-wissenschaft). Geist» – eine Analogie, die freilich nur erfunden wurde, Einen eher wissenschaftshistorischen Ansatz verfolgt um den europäischen Einfluss nach der formellen Deko- Ginger Nolan in ihrem Essay The Neocolonialism of the lonisierung Kenias aufrechtzuerhalten (S. 44). Nolans Global Village (2018). Was seit McLuhans The Gutenberg Essay ist dicht an Beispielen dieser frappierenden BESPRECHUNGEN 169 NOAM GRAMLICH ausnahmslos bezieht, funktionieren kann. Wo sind die Referenzen auf antikoloniale Autor*innen, wie den Phi- losophen Ngũ gı̃ wa Thiong’o, wenn es um Fragen von semiotischer Macht geht? Wieso ist es möglich, dass, wenn es um agrikulturelle Gewalt auf dem afrikanischen Kontinent geht, Amílcar Cabral nicht zu Wort kommt? Insgesamt bleibt nicht nur die verwendete Literatur, sondern auch Nolans eigene Positionalität unmarkiert, was es erschwert, ihren politischen Einsatz zu erfassen, und die Möglichkeit verpasst, eine epistemische Kritik an die eigene Praxis zu richten. Den theoretisch visionärsten Ansatz unter den hier besprochenen Veröffentlichungen verfolgt vermutlich Armond R. Towns in seiner Monografie On Black Media Philosophy (2022). Während McLuhans Denken um den weißen, heterosexuellen, cisgeschlechtlichen, abeli- sierten, bürgerlichen, westlichen Mann kreist – ohne es freilich so zu benennen –, stellt Towns Blackness ins Zentrum seiner materiell-marxistischen Medienphilo- sophie. In vier Kapiteln werden die (Un-)Tiefen der epi- stemologischen Beziehungen zwischen Black Studies, Areal and Communication Studies, Sozialdarwinismus, Black- Panther-Bewegung, Kaltem Krieg, elektronischem Kapitalismus und McLuhans Medientheorie sichtbar. McLuhan ist insofern nützlich, schreibt Towns, um zu be- Widersprüchlichkeit – etwa auch an dem der britischen greifen, «how Western man built Western theory» (S. 26). Instrumentalisierung der Beichte bei gleichzeitiger Ab- Im ersten Kapitel macht Towns ein bestechendes wertung oraler Kulturen (S. 39 – 45), in der nicht nur ‹der und auch schmerzvolles Argument, wenn er darstellt, Afrikaner› und ‹das Globale Dorf› gebildet wurden, son- wie Schwarze Menschen der (frühen) Medienwissen- dern auch ‹der typographische weiße Mann›. schaft als Medium für Vorstellungen von Zivilisation Aufgrund der Verbindungen zwischen (Post-)Kolo- dienen. Auf Basis von sozialdarwinistischen Theorien, nialismus in Kenia und McLuhan’scher Medientheorie die McLuhan stark beeinflussten, argumentiert Towns: zählt The Neocolonialism of the Global Village sicher zu «[T]he Negro was a medium, or in McLuhan’s terms, an einer wichtigen Lektüre. Wie bereits bei Sharmas und extention, of Darwin’s self-being and knowing» (S. 31). Singhs Lesart von McLuhan liegt auch Nolans zentraler Einer der Hauptthesen, dass ‹der N.› als argumentative Fokus auf materiellen Effekten von Macht, also auf Sied- Ressource für Anliegen weißer Vorherrschaft eingesetzt lungskolonialismus, weißem Besitzrecht, Reorganisation wird, greift Towns im vierten Kapitel über die digitale und ‹Kultivierung› von Land. Gleichzeitig sind die zahl- Ökonomie von YouTube-Animationen der Ermordung reich vorgeschlagenen Begriffe wie ‹Nootechnologie›, von Michael Brown durch den weißen Polizisten Darren ‹Terra-Power› und ‹semiotische Armut› semantisch stark Wilson im Jahr 2014 auf (S. 117 – 148). Mit Referenz auf verdichtet. Dies wirft die Frage auf, ob es gelingt, eine die medienwissenschaftlichen Arbeiten von Simone argumentative Tiefe zu erreichen, die notwendig wäre, Brown und Ruha Benjamin schlussfolgert Towns, dass um hartnäckige Vorstellungen von medientechnologi- digitaler Extraktivismus Schwarze Menschen mehrfach scher Linearität oder afrikanischem Tribalismus zu de- betrifft: durch die materielle Ausbeutung ihrer Körper, naturalisieren. Es ist auch fragwürdig, ob ein kolonial- die zu ihrem Tod führen kann, sowie durch die ständige kritisches Gegenlesen von McLuhan mit weißen Autoren Reproduktion ihrer visuellen Ausbeutung in einer ver- wie Agamben, Deleuze oder Foucault, auf die sich Nolan meintlich unsichtbaren Cloud. 170 ZfM 29, 2/2023 MECHANICAL BRO, HOTMESSAGE UND MSUNDERSTAND MEDIA Auffällig ist, und das nicht nur an dieser Stelle, dass zu antikolonialen Kämpfen in Algerien, Nordkorea und Towns insbesondere auf cismännliche Protagonisten, Nordvietnam waren zentral für die Anfänge der Black neben Michael Brown auch auf Gil Scott-Heron, M alcolm Studies (S. 108). Black Studies liegt das Denken einer X oder Frantz Fanon referiert. Auch wenn Towns race weltweiten (Schwarzen) Community zugrunde – «[a] new mehrfach in der Intersektion zu Sexualität und Gender mode of comradery throughout the world» (S. 106). Ähn- benennt, verpasst er es, sein Argument der Kommodi- lich wie das Globale Dorf kann diese anti-imperiale Öko- fizierung und Entmenschlichung aus intersektionaler nomie durch Medien entstehen, wie Towns am Film The Sicht z. B. auf die Lebensrealität Schwarzer Trans* Frauen Battle of Algiers (Regie: Gillo Pontecorvo, ITA / ALG 1966) zu beziehen. skizziert. Blackness steht hier, kurz gesagt, für eine nicht- Wenn der Schwarze Körper ein Medium für weiße kapitalistische Form von Menschsein, die die weiße west- westliche Theorie und kapitalistische Medienökono- liche Welt nur schwer versteht. mie ist, was stellt dann seinen Inhalt dar, fragt Towns Towns’ Black media philosophy beschäftigt sich auf ra- und gibt die Antwort: «[It] is Western Nature.» (S. 39) dikale Weise mit der Frage, inwiefern sich Rassifizierung Eine Black media philosophy adressiert konsequenter- und Kommodifizierung in die Medienwissenschaft ein- weise weiße westliche Konzeptionen von Natur und geschrieben haben. Wenn nach Blackness in der westli- Rohstoffen, die immer eine epistemische Nähe zu ras- chen Konzeption von Medien gefragt wird, kommen die sifizierten Subjekten hatten und auf denen Kapitalismus materiellen und zutiefst kapitalistischen Bedingungen basiert, wie Towns mehrfach betont (S. 40 – 53, 89, 114, von Medien zum Vorschein. An diesem letzteren Punkt 149). Towns’ Umgang mit McLuhans (kolonialem und verbinden sich die drei besprochenen Veröffentlichun- rassistischem) Denken ist beeindruckend, da er weit gen. Black (Media) Studies ist nicht nur eine Einla- darüber hinausgeht, dessen weiße Ignoranz aufzuzei- dung für Schwarze Menschen, sondern auch für andere gen,7 und vielmehr McLuhan gegen sich selbst wendet. Forscher*innen of Color und weiße Forscher*innen – aus Mag McLuhan noch einer der Ausgangpunkte gewesen weißer Position ist auch diese Rezension geschrieben. sein, schrumpft er im sukzessiven Hineinschreiben von Mit Towns kann Black media philosophy als praktisch-epi- Blackness zu einer Nebenfigur der Medientheorie. Denn stemologisches Schlüsselelement verstanden werden, mit dem Akt des Hineinschreibens kann Towns zeigen, das es ermöglicht, nicht nur weiße Flecken und die tie- dass Blackness im Grunde schon immer zentraler Teil fe Verschränkung von Kapitalismus und Medien zu er- von Medientheorie war. kennen, sondern auch darüber hinauszugehen. Etwas, So nimmt der promovierte Aktivist und M itgründer wozu weiße Medientheorie – also auch McLuhans Den- der Black Panther Party Huey P. Newton für Towns eine ken – nicht in der Lage ist, sondern nur Black Studies als Schlüsselrolle ein, um die oft wenig gesehenen Be- «[a] full intellectual, epistemological shift in knowledge, ziehungen zwischen Media Studies und Black Studies one directly articulated to the materialist demands for zu benennen. Newtons Konzept eines revolutionären liberation worldwide» (S. 16). Interkommunalismus kritisiert das weiß-zentristische — Globale Dorf, weil es dem technokratischen Mann eine elektronische, d. h. körperlose Kontrolle in den Ghettos der USA und in den ehemaligen kolonisierten Gebieten ermöglicht. «[The global village] was a supporter of the demands of racial capitalism» (S. 96). Die Medienökono- mie des Fernsehens führte, so erörtert Towns mit Newton, ab 1960 zur ideologischen Distanz zwischen w eißer Mittelklasse und verarmten Schwarzen Communitys. Empathie wurde dabei verunmöglicht. Mit Newton voll- zieht Towns eine zentrale Bedeutungsverschiebung von Blackness. Weder ist Blackness auf Kolonialismus und Versklavung reduzierbar noch ausschließlich auf den US- amerikanischen Kontext beschränkt. Überschneidungen BESPRECHUNGEN 171 NOAM GRAMLICH 1 Marie Eloundou, Lisa Karst, 4 Im Interview mit Johannes Dulguun Shirchinbal: Dear Bruder und Nelly Y. Pinkrah sagt white professors, warum sind Sarah Sharma: «Für mich sind alle «Klassiker» ‹weiß›? Eine Kittler und McLuhan daher The- Einladung zur Diskussion, in: oretiker von Geschlecht, sie sind Zeitschrift für Medienwissenschaft, auch Theoretiker von race – nur Jg. 14, Nr. 26 (1/2022): X | Kein nicht in der Art und Weise, wie wir Lagebericht, 172 – 179, hier 179, doi. uns das wünschen würden. Aber org/10.25969/mediarep/18120. ihre Texte enthalten Vorstellungen 2 «Weiß» ist ein analytischer von white supremacy, vermittelt Begriff, der die rassistische durch eine Vorstellung der Architektur der Moderne markiert. Funktion von Technologie, in der Rachel Ricketts fasst die kulturel- all unsere Medien nicht einfach len Charakteristika von weißer Vor- nur Erweiterungen des Menschen herrschaft wie folgt zusammen: sind, sondern technologische Individualismus und Perfektion, Manifestationen der maskulinen Glaube an Objektivität, Hortung Vorstellung von Dienstbarkeit von Macht, ein Denken von falsch und Nützlichkeit.» Sarah Sharma, vs. richtig, Anbetung des geschrie- Johannes Bruder, Nelly Y. Pinkrah: benen Worts, Abwehrhaltung, Pa- McLuhan unter Palmen. Über ternalismus und Dringlichkeit, ein Orte des Denkens, Sprechens Quantität über Qualität stellendes und Handelns, in: Zeitschrift für Denken, Konfliktscheue, Recht Medienwissenschaft, Jg. 14, Nr. 26 auf Komfort, Binarität (inklusive (1/2022): X | Kein Lagebericht, Geschlechterbinarität), Anspruch 25 – 139, hier 126, doi.org/10.25969/ auf Besitzrecht und Wachstum mediarep/18116. von Reichtum sowie Diskriminie- 5 Da die Publikationen im US- rungen über Othering-Prozesse. amerikanischen Kontext verortet Um Weißsein zu bekämpfen, reicht sind, werden hier Begriffe wie es jedoch nicht, nur diese Eigen- race und Blackness als englische schaften ‹abzulegen›, sondern Begriffe wiedergegeben. antirassistische und antikoloniale 6 Vgl. Marie-Luise Angerer u. a. Gerechtigkeit müssen aktiv einge- (Hg.): Technologies of Contain- setzt werden, vgl. Rachel Ricketts: ment. Holding, Filtering, Leaking, Do Better. Spiritual Activism for Lüneburg 2023 (im Erscheinen). Fighting and Healing from White 7 Vgl. für den Begriff der weißen Supremacy, New York 2021, 72. Ignoranz in der Medienwissen- 3 Von Sarah Sharma stammen schaft auch Noam Gramlich: Un- auch die Begriffe für den Rezen- wahrnehmbare Ökolonialität, in: sionstitel, vgl. Sarah Sharma: Pref- Zeitschrift für Kulturwissenschaften, ace, in: dies., Rianka Singh (Hg.): Nr. 2, 2022: Radikale Imagination, Re-Understanding Media. Feminist 109 – 126, doi.org/10.14361/zfk-2022- Extensions of Marshall, Durham, 160208. London 2022, vii–xiii, hier xi. 172 ZfM 29, 2/2023 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 15, Heft 29 (2/2023), https://doi.org/10.14361/zfmw-2023-150218. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — «CUTTING TOGETHER-APART?» Feministische Doppelspaltexperimente, trans-baradianische Apparate und gouvernementale Materialitäten von FEDORA HARTMANN und CAROLYN AMANN Alisa Kronberger: Diffraktionsereignisse der Gegenwart. thematischen Knotenpunkten – Doppelspaltexperimente, Feministische Medienkunst trifft Neuen Materialismus, Diffraktionsereignisse, Schnitte und Apparate sowie (neue) Bi elefeld (transcript) 2022 Materialitäten? – in einer Hin-und-Her-Bewegung mitei- nander ins Gespräch gebracht. Von einem Denken mit Thomas Nyckel: Der agentielle Realismus Karen Barads. Barad und anderen feministischen Theoretiker*innen Eine medienwissenschaftliche Relektüre und ihre Anwendung im Feld vergangener und gegenwärtiger Medienkunst auf das Digitale, Bielefeld (transcript) 2022 (Kronberger) über eine kritische Auseinandersetzung Thomas Lemke: The Government of Things. Foucault mit Barads agentiell-realistischer Kritik an Michel and the New Materialism, New York (New York University Foucault und den Möglichkeiten einer Entgegnung im Press) 2021 Konzept eines government of things (Lemke) bis zu ei- ner akribischen Relektüre des agentiellen Realismus in — seinen quantenphysikalischen Bezügen und digitalen «Entanglements are not unities. They do not erase Fluchtlinien (Nyckel). Denn was passiert, wenn diese differences; on the contrary, entanglings entail dif- je verschiedenen Umarbeitungen von, mit und über ferentiatings, differentiatings entail entanglings. One B arads «diffractive materialism» (Lemke, S. 193) hinaus, move – cutting together-apart.»1 Ausgehend von diesem zusammen-auseinandergeschnitten werden? Welche Gedanken Karen Barads wollen wir Thomas Lemkes Interferenzen, welche «feinen Details» (Nyckel, S. 118), The Government of Things, Alisa Kronbergers Diffrak- welche Leerstellen und welche «Diffraktionsereignisse» tionsereignisse der Gegenwart und Thomas Nyckels Der (Kronberger, S. 26) werden dadurch in Gang gesetzt? agentielle Realismus Karen Barads mit dem Blick auf das doing der Autor*innen in diesem Beitrag aufeinander- treffen lassen. Dazu bedienen wir uns ganz konkret des Doppelspaltexperimente cutting together-apart, eines Zusammen-auseinander- Im quantenphysikalischen Doppelspaltexperiment wer- Schneidens, das als (kritische) Praktik zentrale Konzep- den physikalische Objekte innerhalb einer Apparatur te der Autor*innen aufnimmt, nach Interferenzen zwi- durch zwei Spalten geschickt und bilden beim Austre- schen ihnen sucht und sie an ihren Schnittstellen neu in ten ein spezifisches Muster, das auf ihre Teilchen- oder Relation setzt. Die drei Bücher werden daher auch nicht Welleneigenschaften schließen lässt. Der damit ein- in separaten Blöcken besprochen, sondern an den vier hergehende Welle-Teilchen-Dualismus rahmt Barads BESPRECHUNGEN 173 FEDORA HARTMANN / CAROLYN AMANN Untersuchungen zu Niels Bohrs Philosophie-Physik, lagerungseffekte – sogenannte Diffraktionsmuster –, in- deren Umarbeitung sowohl Barads agentiellen Realis- dem sie gegenwärtige feministische Medienkunst durch mus als auch das für Kronenbergers Arbeit wichtigere einen katalysatorischen Doppelspalt von neomaterialis- Konzept der Diffraktion durchzieht, das im nächsten Ab- tischen Denkmodellen und feministischer Videokunst schnitt näher besprochen wird. Thomas Nyckel zeichnet der 1970er Jahren schickt (vgl. S. 20). In Anlehnung an das aus der Bohr’schen Philosophie-Physik stammen- Iris van der Tuins kartografische Methode des «jumping de Doppelspaltexperiment detailliert nach und macht generations» (S. 25) etabliert Kronberger eine Praxis des B arads Umarbeitung derselben zum Ausgangspunkt Schnitts, des Grenzen-Ziehens, die sich als k onsequente seiner Relektüre. Anhand der Heisenberg’schen Un- «Durchquerung […] modernistische[r] Dualismen» schärferelation und der von Barad titulierten Bohr’schen (S. 53), wie etwa jener von privat / öffentlich, Subjekt / Ob- Unbestimmtheitsrelation markiert Nyckel die Entwick- jekt, Körper / Geist oder Repräsentation / Affekt, im «Da- lung von Bohrs Komplementaritätsprinzip und fasst zwischen» (S. 14) ihrer Kapitel ereignet. schließlich Barads Verständnis der Philosophie-Physik Bohrs über einen epistemischen und einen ontischen Pol zusammen (vgl. S. 82 – 84). Im epistemischen Pol wer- Diffraktionsereignisse den durch Apparate Begriffe (I) in ihrem semantischen Doppelspaltexperimente öffnen in der Regel das Feld Verständnis hervorgebracht sowie die Grenzen (II) zwi- für das Phänomen der Diffraktion, das, wie schon viel- schen Objekt und beobachtenden Agenzien gezogen. fach angedeutet, nicht nur in der (Quanten-)Physik Demgegenüber sieht Nyckel Barads Umarbeitung als für Unruhe sorgt, sondern auch in den Theorie-Ent- ontischen Pol, der durch den agentiellen Schnitt, neben würfen neomaterialistischer und queerfeministischer Begriffen (I) und Grenzen (II), auch Eigenschaften (III) Denker*innen. Nicht umsonst stellt Thomas Lemke hervorbringt und den er als Ontologisierung von Bohrs Barad unter dem Begriff des «diffractive materialism» Philosophie-Physik kennzeichnet. (S. 193) als Vertreter*in des von ihm weit gesteckten Kronbergers Situierung des Doppelspaltexperiments Feldes des New Materialism vor, das er von Graham führt weniger in die Tiefen der Bohr’schen Philosophie- Harmans object-oriented ontology bis hin zu Jane Bennets Physik, sondern schärft den Blick für spezifische Über- vitalem Materialismus spannt. Lemke wie auch Nyckel fächern Barads Diffraktionsbegriff in drei Konfigurationen auf: in An- lehnung an Donna J. Haraway als optische Metapher, als (quanten-) physikalisches Phänomen und als Methode des «durch-einan- der-hindurch-Lesen[s]» (Nyckel, S. 117) verschiedener Theorie- stränge. Ganz im Sinne seiner Aus- legung des agentiellen Realismus als Ontologisierungsbewegung der Bohr’schen Philosophie- Physik macht Nyckel bei Barad gegenüber Haraway eine «De- Metap horisierung» des Diffrakti- onsbegriffs aus (S. 106). Für ihn geht es Barad in erster Linie nicht mehr um eine Gegenbewegung zu den auf Reflexion beruhenden Praktiken der Wissensproduktion, sondern um eine grundsätzliche 174 ZfM 29, 2/2023 «CUTTING TOGETHER-APART?» ontologische Unbestimmtheit in der Materialisierung von Welt, die zentral für die von ihm entwickelte trans-baradianische Analyse ist, in welcher er sich zwischen epistemi- schem und ontischem Pol hin- und herbewegt. Dennoch: Wenn er von einer De-Metaphorisierung als «ontologische[r] Wendung» spricht (S. 113), wirft das die Frage auf, ob hier nicht zu nah an Dualismen wie «words and things» operiert wird,2 deren entscheidende Umarbeitung Barad in Meeting the Universe Half- way vornimmt. Was verloren geht, ist die wichtige Einsicht B arads, dass Fragen des mattering («what matters and what is ex- Repräsentation und Affekt im Sinne einer reflexiven Me- cluded from mattering») 3 ontologisch, epistemologisch, dienästhetik und affektiven Materialität überlagern und aber eben auch ethisch von Gewicht sind. ineinandergreifen, produziert der Künstler*innenkörper Weniger im Modus einer Relektüre denn in dem im diffraktiven Medium Video Medialität und Materia- einer kritischen Auseinandersetzung setzt Lemke im lität als Teil des Haraway’schen worlding, wo «Diskurse, Anschluss an Barads Kritik an Foucaults Theoriegerüst Medien und Materie daran teil[haben], wie sich Welt als selbst zu einem «‹diffractive reading› […] of Foucault’s intra-aktives Diffraktionsmuster hervorbringt» (S. 72). In idea of a government of things as a way of taking up and genau diesem Spannungsfeld von Repräsentation / Af- adding constructively to new materialist concerns» an fekt und jenem von Subjekt / Objekt schließt Kronberger (S. 77). Er orientiert sich an drei zentralen Konzepten eine diffraktiv-affektive Umarbeitung von Maskerade, Foucaults (das Milieu, das Dispositiv und die Technolo- Blick und Bild als etablierte Begriffe der (feministischen) gien), mit denen er Barads Kritik an Foucault zu begeg- Medien- und Kunstwissenschaft an. Im intra-aktiven nen versucht, die sich auf Foucaults Privilegierung des Schnitt von Bild / Betrachtung, in dem sich ein Tätig- Sozialen, den Vorwurf einer beständig humanistischen Sein von Bildern und «der sinnlich ergriffene, situierte bzw. anthropozentrischen Färbung in der Verhandlung Betrachter*innen-Körper» (S. 297) in einem unaufhör- von menschlicher bzw. nicht-menschlicher Agency und lichen Werden gleichwertig hervorbringen, falten und auf die Verbindung von diskursiven Praktiken und mate- beugen sich Kronbergers kapitelleitende Durchquerun- riellen Phänomenen bezieht (vgl. S. 10). gen zusammen-auseinander: Hier lösen sich Differen- Anders als bei Lemke bewegen sich Kronbergers zen und Spannungen von Repräsentation / Affekt oder titelg ebende Diffraktionsereignisse im Dazwischen, im Subjekt / Objekt nicht auf, sondern ereignen sich stetig Beugen und Halten von Metapher, Methode und Phä- in ihrem Dazwischen – als Diffraktionsereignisse. nomen. In Rückbezug auf Arjun Appadurais mediant assembly theory (MAT) und Lisa Handels Ontomediali- tätsbegriff (vgl. S. 72) eröffnet Kronberger Medialität Schnitte und Apparate und Materialität als wechselseitiges konstitutives Zu- In einer anders gelagerten Verbindung von agentiellem sammenspiel, in welchem Medien Effekte und Modi Realismus und Medialität wendet sich Nyckel abschlie- von Materialitäten darstellen. Daran anschließend und ßend dem Digitalen zu, das er mit seinem Konzept der im Rahmen einer Analyse früher feministischer closed- trans-baradianischen Analyse und einem agentiell-rea- circuit-Videoarbeiten und der Verwendung von Close- listischen Verständnis von Apparaten und Schnitten ver- ups in gegenwärtiger Medienkunst schlägt Kronberger knüpft. Barads Benennung des Bohr’schen Schnitts und vor, Video als diffraktives Medium zu fassen: Indem sich die Einführung des agientiellen Schnitts fasst Nyckel als BESPRECHUNGEN 175 FEDORA HARTMANN / CAROLYN AMANN ihm eine genauere Untersuchung dieser ausbleibt. Auch für Lemke stellen Barads Apparate einen wichtigen Bezugs- punkt dar, «in order to address the problem of ‹ontological politics›, paving the way for a more mate- rialist approach to government» (S. 102). So denkt Lemke Barads Apparate mit dem Konzept des Dispositivs zusammen und ent- wirft in seiner Erarbeitung eines government of things Werkzeuge, die eine Untersuchung des Politi- schen innerhalb des Relationalen durchaus griffig und überzeugend ermöglichen können. Das Disposi- tiv eröffnet als Analyserahmen den Blick auf Stabilisierungsprozes- se und Widerstände, wodurch es Verweis auf ein diffraktives ‹Sowohl-als-auch›, das sich materiell-diskursive Verschränkungen um eine strategi- für ihn aus dem Changieren zwischen epistemischem Pol sche Komponente erweitert. Der darin eingebettete Mi- und ontischem Pol bildet. Da Barads agienteller Schnitt lieu-Begriff, als Zirkulation menschlicher und mehr-als- physisch-begriffliche Auswirkungen auf den Apparat menschlicher Agenzien, schafft gleichfalls Ursache und selbst hat, der zugleich physisch-begriffliche Wirkun- Wirkung erst aus den darin wirkenden Relationen he- gen entfaltet, versteht Nyckel den Apparat des ontischen raus, als «the material condition and the technical me- Pols als materiell-diskursives Phänomen mit potenziell dium of government» (S. 132). Zugleich etabliert Lemke o ffenen Grenzen, das dem geschlossenen Apparat des die environmentality als Regierungsform, innerhalb derer epistemischen Pols gegenübersteht (vgl. S. 248, 254). kapitalistische Vereinnahmungen menschlicher und Nyckel legt dabei den Fokus auf den von Barad eigent- nicht-menschlicher Agenzien kritisch untersucht und, lich umgearbeiteten epistemischen Pol, den er hervorhebt durch die Weiterentwicklung von Foucaults Biopolitik- und zum Ausgangspunkt seiner trans-baradianischen Begriff, nach den Schnitten gefragt werden kann, die Analyse macht. Auf Grundlage der nach Bohr formulier- darüber entscheiden, welches Leben von Gewicht ist. In ten Objektivitätskriterien fasst Nyckels trans-baradia- diesem Konzept findet sich Erich Hörls Ökologie-Begriff nischen Analyse des Digitalen die konstitutiven Merk- wieder, der die Grenzen zwischen Natur und Technik als male des geschlossenen digitalen Apparates als durch technosphere erschüttert, indem Technologie selbst als 0 und 1 symbolisierbare Zustände (vgl. S. 293). Nyckel Naturgewalt gefasst wird, (vgl. S. 244) und anhand von zeigt auf, wie in der Erzeugung digitaler Zustände eine environmentaler Medien-Technologien wie Sensoren «intrinsische Exaktheit» generiert wird (S. 284), die alle und Algorithmen eine Regierung bis in die Affekte hin- individuellen Zustände zuvor negiert und performativ ein eröffnet (vgl. S. 177). eine Reproduzierbarkeit herstellt, die keines Außen be- darf. Das verweist auf eine Medialität, die sich aus den Apparaten heraus und in Intra-Aktion mit denselben (Neue) Materialitäten? materialisiert. Die in Barads agentiellem Realismus ent- Noch einmal zurück zum Anfang: «Matter and material- wickelten offenen Apparate entziehen sich in Nyckels ity matter.»4 Indem Kronberger ihr Buch mit dem Zitat Perspektive aufgrund ihrer Vielzahl und Heterogenität der Kunst- und Kulturhistorikerin Mieke Bal eröffnet, dem Anspruch gemeinsamer Merkmale, wodurch bei stellt sie nicht nur «die Bedeutsamkeit der Materie […] 176 ZfM 29, 2/2023 «CUTTING TOGETHER-APART?» an den Anfang» (S. 11), sondern hebt auch das Ineinan- («taking relations to be primary and originary forces dergreifen von neomaterialistischen Theo rien und fe- instead of secondary or derivate processes», S. 142) grö- ministischer Medienkunst der Gegenwart (und der Ver- ßer erscheinen lässt, als sie sein müsste. gangenheit) hervor (vgl. S. 15). Dieses Ineinandergreifen Bei Kronberger nimmt das Verhältnis von Ontologie, nimmt die agentiell-realistische Umarbeitung von Ma- Ethik und Politik in der fortlaufenden Rückkopplung terialität im Sinne eines Tätig- und Verschränkt-Seins neomaterialistischer Denkmodelle, (queer-)feministi- von Materie und Diskurs ernst und wird in Kronbergers scher und medienkünstlerischer Diskurse der Gegenwart Arbeit für medientheoretische wie medienpraktische und Vergangenheit gerade in Bezug auf ein agentielles Überlegungen zum Verhältnis von Medialität und Mate- Verständnis von (Medien-)Materialitäten eine andere rialität fruchtbar gemacht. Gestalt an. Sie zeigt, wie im Ernstnehmen des Tätig-Seins Für Lemke kommt das heterogene Feld des New von Materie nicht nur die Theorien und Praktiken post- Materialism unter dem Anspruch eines «novel con- strukturalistischer und feministischer Denker*innen eine cept of matter» zusammen (S. 2), in dem er aber die wichtige Rolle spielen, sondern wie darin eine Umarbei- Gefahr einer fortschrittslogischen Geste des ‹Neuen› tung von Ontologie vorgenommen wird, die Ontologie sieht, die er mit einer doppelten Kritik von «scientific nicht als Ursache oder Grundlage von Ethik oder Politik, positivism» und «political reductionism» verknüpft sondern selbst als ethisch-politische Angelegenheit ver- (S. 195). Der Bezug zu naturwissenschaftlichen Auffas- steht. Vor dem Hintergrund von Überlegungen um die sungen von Materialität wird Lemke zufolge als neu Situierung von Körpern, die Materialisierung von Ge- und innovativ dargestellt, während Auffassungen aus schlechtsidentität oder Fragen von (sexueller) Differenz den Geistes- und Kulturwissenschaften als traditionell lässt sich eine Trennung von Politik / Kritik und Ethik – die oder unzeitgemäß vernachlässigt werden. Damit einher Lemke in seinem Vorwurf des politischen Reduktionis- geht für Lemke der Verlust eines kritischen Bezugs zur mus durchaus einzieht – nicht ohne Weiteres aufrecht- politischen Dimension materieller Machtverhältnisse, erhalten: Ontologie ebenso wie Ethik sind in (queer-) die zugunsten einer Betonung von «ethical concerns» feministischen Diskursen niemals unpolitisch gewesen. als «understanding politics as the direct outcome and Daran schließt sich die Frage an, welche Unter- immediate effect of epistemo-ontological configura- schiede – oder mit Kronberger und Kathrin Thiele tions» zu kurz kommen (S. 209, 198). Vor dem Hintergrund, dass Lemkes eigener Ausgangspunkt Barads Auseinandersetzung mit Foucault ist, die zwar kritisch ist, aber neben Judith Butlers Perfor- mativitätsbegriff einen wichtigen (kulturwissenschaftlichen) Be- zugspunkt für B arads diffraktive Methodik wie auch Materialitäts- konzept darstellt, erstaunt diese doppelte Kritik. Zudem verwischt Lemkes Kritik an spezifischen Va- rianten neomaterialistischer The- orien teilweise zu einer Kritik am New Materialism im Allgemeinen bzw. in all seinen Varianten, was die Entfernung zwischen Barads relationaler (Ethico-)Onto-Episte- mologie und seinem Vorschlag eines relationalen Materialismus BESPRECHUNGEN 177 FEDORA HARTMANN / CAROLYN AMANN gesprochen «different difference[s]» (S. 51) – es macht, ‹neue› Materialitäten in welchen Bezügen und mit wel- chen Denker*innen, Theorien und Artefakten immer wieder aufs Neue zusammen-auseinander zu denken. Die vielfältigen, sich überlagernden und zum Teil ge- geneinanderstehenden Antworten, die in den drei be- sprochenen Monografien gegeben werden, konnten in diesem Beitrag nur angeschnitten werden, lassen aber die Frage «What is new about new materialism?»5 viel- leicht in einem anderen Licht erscheinen: ‹neu› nicht im Sinne eines schöpferischen Aktes aus dem Nichts, son- dern als eine Re-Konfiguration politisch-ethischer wie onto-epistemologischer Grenz(be)ziehungen, die nicht abgeschlossen ist, sondern sich in ihren Verbindungen und Verbindlichkeiten fortlaufend ereignet. — 1 Karen Barad: Diffracting Dif- fraction: Cutting Together-Apart, in: Parallax, Bd. 20, Nr. 3, 2014, 168 – 187, hier 176, doi.org/10.1080/1 3534645.2014.927623. 2 Karen Barad: Meeting the Universe Halfway, Durham, London, 2007, 137. 3 Ebd., 148. 4 Mieke Bal: Fragments of Matter. Jeannette Christensen, Bergen 2009, 4. 5 Karen Barad: Diffracting Diffraction, 168. 178 ZfM 29, 2/2023 — AUTOR*INNEN Carolyn Amann ist freischaffende Dramatikerin und David Bucheli ist seit 2022 Doktorand bei eikones – Zen- Dissertantin an der Kunstuniversität Linz. Ihre Arbeits- trum für die Theorie und Geschichte des Bildes an der Uni- schwerpunkte sind (queer-feministischer) Neuer Mate- versität Basel. Er hat Germanistik, Medienwissenschaft rialismus, Science and Technology Studies und Poetic und Wissenschaftsforschung in Basel und Luzern studiert Research. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit multi- und leitete zwischen 2018 und 2022 das interdisziplinä- modalen Wearable-Technologien, Affective Compu- re Forschungsprojekt «Kinematografie in der Schweiz ting und Well-Being-Konzepten. Mehr Informationen: 1896 – 1900», gefördert durch die Gebert Rüf Stiftung. www.carolynamann.at David Bucheli forscht zu Filmgeschichte, Medien der Psy- chologie, Geschichte der Camouflage und Post-Cinema. Armin Beverungen ist Juniorprofessor für Organisation in Zuletzt erschien: Digitale Camouflage. Geschichte eines Phan- Digitalen Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg. tasmas, Berlin 2021 (#Sonderdruck, Nr. 8). Von 2022 bis 2023 war er Gastprofessor am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum im Winfried Gerling ist Professor für Konzeption und Rahmen des Projekts «Medienpraxiswissen». Er arbeitet Ästhetik der Neuen Medien an der Fachhochschule aktuell an zwei Forschungsprojekten: «Automating the P otsdam / Fachbereich Design im Kooperationsstudien- Logistical City: Space, Algorithms, Speculation» (mit Ilia gang Europäische Medienwissenschaft der Universität Antenucci und Maja-Lee Voigt, https://logistical.city) sowie Potsdam und der Fachhochschule Potsdam. Mehr Infor- «Smartness as Wealth» (mit Liza Cirolia, Orit Halpern, mationen: h ttp://gerling.emw-potsdam.de Anindita Nag und Marc Steinberg). Carolin Gerlitz ist Professorin für Digital Media and Christoph Borbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am M ethods an der Universität Siegen sowie Mitglied der Lehrstuhl für Science, Technology and Media Studies an D igital Methods Initiative und des Public Data Labs. Sie der Universität Siegen. Er forscht zu Medienpraxeologien hat am Goldsmiths, University of London promoviert des Messens, zur Medientheorie der Stimme sowie zur und an der Universität Amsterdam gearbeitet. Zu ihren historischen Epistemologie des Digitalen. Letzte Ver- Forschungsinteressen gehören: digitale und Sensor- öffentlichungen: An interlude in navigation: Subma- medien, Platform Studies, Critical Data Studies, digitale rine signaling as a sonic geomedia infrastructure, in: Methoden, soziale Medien, Quantifizierung und Inven- New Media & Society, Bd. 24, Nr. 11, 2022, 2493 – 2513, tive Methodologies. Sie ist derzeit Sprecherin des DFG- doi.org/10.1177/14614448221122240; Videochat-Kultur. Sonderforschungsbereichs «Medien der Kooperation» Corona, Zoom und Paul Virilios «Terminal-Bürger», und Teilprojektleiterin im DFG-SFB «Transformationen in: Peter Klimczak et al. (Hg.): Corona und die ‹anderen› des Populären». Wissenschaften, Wiesbaden (Springer VS) 2022, 1 – 14, doi.org/10.1007/978-3-658-36903-3_1. AUTOR*INNEN 179 Sebastian Gießmann ist Gastprofessor für Kulturtechni- Paul Heinicker ist Designforscher und arbeitete von ken und Wissensgeschichte am Institut für Kulturwissen- 2022 bis 2023 als Koordinator für das Projekt «Medien- schaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Er leitet das praxiswissen» am Institut for Medienwissenschaft der Teilprojekt «Digital vernetzte Medien zwischen Speziali- Ruhr-Universität Bochum. Er promovierte in Medien- sierung und Universalisierung» im Siegener SFB «Medien wissenschaft an der Universität Potsdam und hat einen der Kooperation». Kommende Veröffentlichungen u. a.: interdisziplinären Hintergrund in Medieninformatik und Das Kreditkarten-Buch. Geschichte und Theorie des digitalen Be- Interfacedesign. Seine Forschung befragt theoretisch wie zahlens, Berlin (Kadmos), im Erscheinen; The Connectivity gestalterisch die Kultur und Politik von Diagrammen und of Things: Network Cultures Since 1832, Cambridge (MA), Datenvisualisierungen. London (MIT Press), im Erscheinen; zus. m. Tobias Röhl, Ronja Trischler, Martin Zillinger (Hg.): Materiality of Paul Leon Hoffstiepel studiert Medienwissenschaft und Cooperation, Wiesbaden (Springer VS), 2023. Mehr Infor- Biologie im Zwei-Fach-Bachelor an der Ruhr-Universität mationen: netzeundnetzwerke.de Bochum. Vor seiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft im Projekt «Medienpraxiswissen» führte er zusammen mit Noam Gramlich ist wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in Janou Feikens im WiSe 2021/22 das Seminar «We are VR» am Lehrstuhl für Medienwissenschaft / Medientheorie durch. Hierfür erhielten beide den Förderpreis 5 x 5000 an der Universität Potsdam und promovierte mit einer des Zentrums für Wissenschaftsdidaktik an der Ruhr- Arbeit zu Kolonialität, Mediengeologie und situier- Universität Bochum. ten Ansätzen am Beispiel der Kupfermine in Tsumeb ( Namibia). Mitherausgabe des Sammelbands Feminis- Daniela Holzer, Studien in Theater-, Film- und Medien- tisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten, wissenschaft an der Universität Wien; zuvor tätig in der Berlin (Kadmos) 2020. Zahlreiche Artikelveröffentli- Webentwicklung und im Bereich Medien und Design in chungen, z. B. Mediengeologisches Sorgen. Mit Otobong Wien / London und Graz. Im Rahmen ihres derzeitigen Nkanga gegen Ökolonialität, in: Zeitschrift für Medienwis- Forschungs projektes untersucht sie die Verbindung zwi- senschaft, Jg. 13, Nr. 24 (1/2021): Medien der Sorge, 65 – 76, schen Feuer und Kino. doi.org/10.25969/mediarep/15776 (ausgezeichnet vom Best Publication Award Gender und Medien der Gesellschaft Martin Kanzler hat Internationale Betriebswirtschaft für Medienwissenschaft). und Fernseh- und Filmproduktion studiert. Er arbeitet seit 2007 beim European Audiovisual Observatory und Fedora Hartmann ist Promotionsstudentin der Medien- ist dort seit 2019 stellvertretender Leiter der Abteilung kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität für Marktinformationen. Düsseldorf. Sie forscht im Bereich queer-feministischer Wissenschaftsforschung, zu Theorien und Praktiken Judith Keilbach ist Associate Professor am Institut des Neuen Materialismus und neuerdings zu (queeren) für Medien und Kultur an der Universität Utrecht. For- Figurationen des Berührens sowie der Materialität des schungsschwerpunkte: Fernsehwissenschaft, trans- in / human. Zuletzt hat sie zusammen mit der Rheinischen nationale Infrastrukturen, Medien und Geschichte, Sektion der Kompostistischen Internationalen den Sam- Nachhaltigkeit und Medien. Letzte Publikation: zus. m. melband Queerfeministische Kompostierungen des Anthro- Marek Jancovic: Streaming against the Environment. pozäns, Wiesbaden (Springer VS) 2022, herausgegeben, in Digital Infrastructures, Video Compression, and the dem auch ihr Beitrag «Für eine verantwortende Wissen- Environmental Footprint of Video Streaming, in: Karin schaft des Herumtappens» (69 – 82) erschienen ist. van Es, Nanna Verhoeff (Hg.): Situating Data. Inquiries in Algorithmic Culture, Amsterdam 2023, 85 – 102, doi.org/ 10.5117/9789463722971. 180 ZfM 29, 2/2023 Florian Krautkrämer ist Professor an der Hochschule Harun Maye verwaltet die Professur für Medienwissen- L uzern Design & Kunst, wo er Film- und Medientheorie schaft im Fachbereich Medienwissenschaft der Philoso- und -geschichte unterrichtet. F orschungsschwerpunkte phisch-Historischen Fakultät der Universität Basel. Seine sind u. a. Dokumentarfilm und Filmtechnik. Letzte Pu- Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Literaturge- blikationen: zus. m. Winfried Gerling (Hg.): Ve rsatile schichte seit dem 18. Jahrhundert, Geschichte des Lesens Camcorders. Looking at the GoPro-Movement, Berlin und der Lesung, Theorie und Geschichte der Medien, Kul- (K admos) 2021; Mobilizing the Undead: Zombie Films turtechnikforschung, Medien und Politik, Game Studies and the Discourse of Otherness from the 1930s to Post- und Medienkompetenz. Ausgewählte Veröffentlichun- Millenial Cinema, in: Atlantic Studies, Jg. 20, Nr. 1, 2023, gen: Blättern / Zapping. Studien zur Kulturtechnik der Stellenlek- doi.org/10.1080/14788810.2022.2125248. türe seit dem 18. Jahrhundert, Zürich (diaphanes) 2019; zus. m. Matthias Bickenbach: Metapher Internet. Literarische Bil- Daphné Nan Le Sergent, geboren in Südkorea und ad- dung und Surfen, Berlin (Kadmos) 2009; zus. m. Lutz Ellrich optiert in Frankreich, arbeitet an territorialen Problema- und Arno Meteling: Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie tiken und geopolitischen Streitfragen, v. a. aber darüber, und Geschichte medialer Latenz, Bielefeld (transcript) 2009. wie sich diese in Individuen körperlich einschreiben. Ein geteiltes Territorium korrespondiert manchmal mit einem Sebastian Möring ist akademischer Mitarbeiter im Ko- Riss, mit aufgespaltener Subjektivität. Durch zerteilte Bil- operationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft der und Diptychen bringt Daphné Nan Le Sergent dieses der Universität Potsdam und der Fachhochschule Pots- «schize», diese interne Zerschneidung, zum Widerhallen. dam und leitender Koordinator des DIGAREC (Zentrum Stück für Stück wird das Bild-Territorium (die V ideo / Foto- für Computerspielforschung der Universität Potsdam). Zeichnung) zum Ort, durch welchen die Gesten des gaze, Mehr Informationen: https://sebastianmoering.com. ihre Bahnen und Furchen visueller Materie, all unsere Kör- pertechniken und den kulturellen Habitus wie ein Echo Susanne Nikoltchev ist Juristin in den Bereichen Medien, zurückwerfen. Daphné Le Sergent ist Assistant Professor Telekommunikation, internationales Handelsrecht und an der Universität Paris VIII und AICA-Mitglied. EU-Wettbewerbsrecht und seit 2013 geschäftsführende Direktorin des European Audiovisual Observatory. Noortje Marres ist Professorin für Science, Technology and Society am Centre for Interdisciplinary Methodology Christopher A. Nixon ist Philosoph, Komparatist und an der Universität Warwick (UK) und Gastprofessorin Kurator. Er ist Vertretungsprofessor für Soziale Ungleich- am SFB «Medien der Kooperation» an der Universität heit und Sozialpolitik am Fachbereich Sozialwesen der Siegen. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Material Hochschule RheinMain in Wiesbaden. 2022 arbeitete Participation, Basingstoke u. a. (Palgrave Macmillan) er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für 2012 und Digital Sociology, Oxford (Polity Press) 2017. Politische Theorie und Ideengeschichte der Technischen Sie ist Forschungsleiterin (PI) des internationalen ORA- Universität Dresden. 2020 – 2021 war er als Kurator für Projekts «Shaping 21st Century AI: Controversy and koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart Closure in Research, Policy and Media» und erhielt das bei der Stiftung Historische Museen Hamburg tätig und Leverhulme Fellowship für das Projekt «Beyond the Lab: kuratierte dort in Co-Projektleitung eine Ausstellung An empirical philosophy of intelligent vehicle testing in zur kolonialen Verflechtung der hamburgischen Indus- the UK». Mehr Informationen: noortjemarres.net/index.php/ trie. 2013 – 2019 lehrte und forschte er an der Johannes research-projects. Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Postkoloniale, Kritische und Politische Theorie, Ästhetik und Sozialphilosophie. Zuletzt erschien sein Buch Den Blick erwidern. Epiphanie und Ästhetik postkolonial, Wien (Passagen Verlag) 2023. AUTOR*INNEN 181 Mace Ojala forscht in den Software Studies zu den indivi- Gabriele Schabacher ist Professorin für Medienkulturwis- duellen und geteilten Bedeutungen von Software und di- senschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kul- gitalen Objekten. Bevor er von 2022 bis 2023 am Projekt turwissenschaft (FTMK) der Johannes Gutenberg-Univer- «Medienpraxiswissen» an der Ruhr-Universität Bochum sität Mainz und stellvertretende Sprecherin des SFB 1482 arbeitete, konzentrierte er sich auf die Wartung und Pfle- «Humandifferenzierung». Sie leitet das Teilprojekt «Urba- ge von Software. Maces Forschung beschäftigt sich mit ne Kontrollregime. Bahnhöfe als Infrastrukturen der Hu- dem promiskuitiven, gequälten und unbeholfenen sozia- mandifferenzierung». Zu ihren Forschungsschwerpunkten len Leben von PDF, mit dem Klang, der digitalen Ästhetik zählen die Mediengeschichte von Verkehr, Mobilität und und so weiter und so fort. Infrastruktur, Kulturtechniken des Reparierens, urbane Überwachungsregime sowie Serialitätsforschung. Aktuel- Johannes Paßmann ist Juniorprofessor für Geschichte und le Buchpublikation: Infrastruktur-Arbeit. Kulturtechniken und Theorie Sozialer Medien und Plattformen an der Ruhr-Uni- Zeitlichkeit der Erhaltung, Berlin (Kadmos) 2022. versität Bochum und Teilprojektleiter im SFB «Transforma- tionen des Populären» an der Universität Siegen. Jüngste Philippe Sormani ist Senior Researcher und Co-Direktor Veröffentlichungen: zus. m. Anne Helmond und Robert am Science and Technology Studies Lab an der Universi- Jansma: From Healthy Communities to Toxic Debates: Dis- tät Lausanne. In Rückgriff wie auch Weiterentwicklung qus’ C hanging Ideas about Comment Moderation», in: der Ethnomethodologie hat er über das Experimentie- Internet Histories, Bd. 7, Nr. 1, 2022, 6 – 26, doi.org/10.10 ren in und quer durch verschiedene Aktivitätsfelder pu- 80/24701475.2022.2105123; zus. m. Cornelius Schubert: bliziert, von der Experimentalphysik (in Respecifying Lab Technografie als Methode der Social-Media-Forschung, E thnography, London [Routledge] 2014) bis hin zu künst- in: Eva Gredel (Hg.): Diskurse – Digital. Theorien, Methoden, lerischen Experimenten (in Practicing Art / Science, hg. zus. Anwendungen, Boston, Berlin (De Gruyter) 2022, 283 – 300, m. Guelfo Carbone und Priska Gisler, New York [Rout- doi.org/10.1515/9783110721447-015. ledge] 2019). Zurzeit experimentiert er mit ‹DIY KI›, Bil- dungstechnologie und Medienwissenschaften. Stefan Rieger, Studium der Germanistik und Philosophie. Promotion über barocke Datenverarbeitung und Mnemo- Sophie Spallinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im technik, Habilitationsschrift zum Verhältnis von M edien medienkulturwissenschaftlichen Teilprojekt «Urbane Kon- und Anthropologie (Die Individualität der Medien. Eine trollregime. Bahnhöfe als Infrastrukturen der Humandiffe- Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt / M. renzierung» des SFB 1482 «Humandifferenzierung» an der 2001). Seit 2007 Professor für Mediengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie promoviert zu Ruhr-Universität Bochum. Sprecher des SFB 1567 «Virtu- Überwachungsregimen unter Testbedingungen und zur elle Lebenswelten». Letzte Buchveröffentlichungen: Die Medialität der Bahnhofsinfrastruktur. Zu ihren Forschungs- Enden des Körpers. Versuch einer negativen Prothetik, Wiesba- schwerpunkten gehören u. a. Medien und Praktiken der den (Springer) 2018; Reduktion und Teilhabe. Kollaborationen Überwachung (Surveillance Studies), die Kulturtechnik in Mixed Societies, Berlin (Matthes & Seitz) 2022. des Testens und die Zeugenschaft von Bewegtbildern. Florian Sprenger ist Professor für Virtual Humanities an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunk- te: Virtuelle Lebenswelten, künstliche Environments im 20. Jahrhundert, Genealogie der Situiertheit. Antonia Wulff studiert seit 2020 Medienwissenschaft und Theaterwissenschaft im Zwei-Fach-Bachelor an der Ruhr- Universität Bochum. Im Projekt «Medienpraxiswissen» war sie von 2022 bis 2023 als studentische Hilfskraft tätig. 182 ZfM 29, 2/2023 — BILDNACHWEISE S. 9, 13, 18 Fotografien von Oliver Heise aus der Reihe symptom, Folkwang S. 91 Bild aus dem Dokumentarfilm AlphaGo (Regie: Greg Kohs, USA Universität der Künste, September 2022. Mit freundlicher Genehmigung 2017), entnommen aus der Pressemappe, alphagomovie.com/contact des Künstlers, alle Rechte vorbehalten. Mehr Informationen: oliverheise.com (20.4.2021) S. 21, 24, 33 Screenshots aus The Dark Mirror (Regie: Robert Siodmak, S. 94 Screenshots verschiedener Live-Videoaufnahmen des Coventry USA 1946), entnommen aus Blu-ray-Sammeledition Film Noir Classics – Die Telegraph vom 15.11.2017. Abb. 3 aus dem Artikel von Annette Belcher: pechschwarze Serie von Koch Media, 2014 Were driverless cars on the streets of the city centre today?, in: Coventry Telegraph, 15.11.2017, coventrytelegraph.net/news/coventry-news/ S. 25 Umschlagrückseite von Ruth McEnery Stuart, Albert Bigelow driverless-cars-13906343 (19.6.2023); Abb. 4 aus dem Video der Paine: Gobolinks or Shadow Pictures for Young and Old, New York 1896, Coventry Telegraph-Facebook-Seite Coventry Live: We’re live in the city hdl.loc.gov/loc.rbc/juv.17793 (18.5.2023) centre as driverless cars are tested in Coventry, 15.11.2017, S. 31 Fahnenabzug von Tafel IV des Rorschachtests mit Korrekturen von facebook.com/livecoventry/videos/1638060592917755 (29.5.2023) Hermann Rorschach, 1920. Digitalisat zur Verfügung gestellt durch S. 105 – 112 © Daphné le Sergent. Mit freundlicher Genehmigung das Archiv Hermann Rorschach, Institut für Medizingeschichte der Uni der Künstlerin, alle Rechte vorbehalten. Mehr Informationen: Bern (dort archiviert als Rorsch HR 3:3:7_IV) daphnelesergent.com S. 32 Darstellung eines Gruppen-Rorschachtests aus dem Artikel o. A.: S. 130 / 131 Fotografien von Eric Gyamfi: (1) Nana and Razak, (2) Ama and Personality Tests. Ink blots are used to learn how people’s minds Shana at lunch, (3) Kwasi and Annertey, 2016. Mit freundlicher Geneh- work, in: Life, Bd. 21, Nr. 15, 7.10.1946, 55 – 60, hier 55. Fotograf: Cornell migung des Künstlers, alle Rechte vorbehalten. Mehr Informationen: Capa. Mit freundlicher Genehmigung von The Life Picture Collection gyamfieric.tumblr.com S. 38 Nachgebaute Grafik, Original in der Pressemeldung der DB Mobility S. 132 Fotografie von Paul Mpagi Sepuya, Mirror Study (0X5A1317), Logistics AG: Themendienst. DB testet Innovationen an 16 Zukunfts- 2017, Orig. i. Farbe. Bortolami (New York), DOCUMENT (Chicago), bahnhöfen. Kunden entscheiden mit, 14.8.2020, hier 10, deutsche Peter Kilchmann (Paris & Zürich) und Vielmetter (Los Angeles). Mit bahn.com/resource/blob/5547096/fa4fa9aaf6395e3fb839c753162fbee5/ freundlicher Genehmigung des Künstlers, alle Rechte vorbehalten. 2020_077_TD_Kunst_am_Bahnhof-data.pdf (6.3.2023). © DB AG Mehr Informationen: paulsepuya.com S. 39, 46 Fotografien © Sophie Spallinger 2022 S. 136 Fotografie von Christian Werner: Remote Control, 2023. Mit S. 42 Fotografie einer Anzeigetafel, aus dem Tweet von project-mo.de freundlicher Genehmigung des Künstlers, alle Rechte vorbehalten. @ project_mo_de, Twitter, 15.6.2021, twitter.com/project_mo_de/status/ Mehr Informationen: christianwerner.org 1404781712488517637 (6.3.2023), Orig. i. Farbe. © Julian Schwarze S. 143, 154 © Paul Heinicker S. 43 Fotografie eines Werbebanners am Bahnhof Münster, aus der S. 160 oben Fotografie, zeigt Alan Erdahl, Chris Wylie und Gordon Newsmeldung: «So ist es live vor Ort», 24.9.2020, gobeta.de/projekte/ R omney im University of Utah Graphics Lab, 1968, Fotograf*in blick-nach-muenster (6.3.2023), Orig. i. Farbe. © DB AG unbekannt. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des © Special S. 44 Nachgebaute Grafik, Original im Bericht des Bundesrechnungshofs Collections Department, J. Willard Marriott Library, University of nach § 99 BHO zur Dauerkrise der Deutschen Bahn AG. Hinweise für Utah. unten Bildcollage von Polaroids der Lisa-Interface-Entwicklung eine strukturelle Weiterentwicklung, Bundesrechnungshof.de, 15.3.2023, bei Apple, mit freundlicher Genehmigung © Bill Atkinson hier 10, bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2023/db- S. 163 Holzkohle-Siebdruck von Lorna Ruth Galloway: Limited Gasoline, dauerkrise-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (13.05.2023) Grove Street, Davis, 2016. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, S. 60 Screenshot der YouTube-Realityshow 7 vs. Wild, S1 E8, 2021 alle Rechte vorbehalten. Mehr Informationen: lornaruthgalloway.com (Orig. i. Farbe), hochgeladen von Account Fritz Meinecke, 1.12.2021, S. 166 – 178 Grafiken von Laborequipment, entnommen aus William youtu.be/HzZfH4UNr6I (16.5.2023) Kendrick Hatt, Herbert Henry Scofield: Laboratory Manual of Testing S. 77 – 80, 83 Fotografien entnommen aus dem Artikel o. A.: Radar: Materials, London 1913, archive.org/details/laboratorymanua02scofgoog/ A Story in Pictures, in: Bell Telephone Magazine, Bd. 24, Winter 1945/46, page/n38/mode/2up (30.6.2023) 257 – 282, hier 263, 270, 276, 278 S. 87 Screenshot des Tweets von Emily Bender @emilymbender: #AIhype scavenger hunt. Which company is making this claim, with this specific Falls trotz intensiver Nachforschungen Rechteinhaber*innen nicht font & wording choice?, Twitter, 13.9.2022, twitter.com/emilymbender/ b erücksichtigt worden sind, bittet die Redaktion um eine Nachricht. status/1569795060425981952 (20.4.2023) — 183 — IMPRESSUM Die Zeitschrift für Medienwissenschaft erscheint zweimal im Jahr. Die digitale Version ist ab Herbst 2023 als Open-Access- Version verfügbar. Weitere Infos (u. a. auch zum Abonnement) finden Sie unter: www.transcript-verlag.de/zeitschriften/zfm-zeitschrift-fuer-medien wissenschaft/ Herausgeberin Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. Mitglieder der Gesellschaft für Medienwissenschaft erhalten c /o Prof. Dr. Jiré Emine Gözen, University of Europe die Zeitschrift für Medienwissenschaft kostenlos. for Applied Sciences, Campus Hamburg, Museumstraße 39, 22765 Hamburg, Verlag transcript Verlag, Hermannstraße 26, info@gfmedienwissenschaft.de, www.gfmedienwissenschaft.de 33 602 Bielefeld, www.transcript-verlag.de Redaktion Maja Figge (Mainz), Maren Haffke (Lüneburg), Bestellung: vertrieb@transcript-verlag.de Till A. Heilmann (Bochum), Katrin Köppert (Leipzig), Telefon: +49 (521) 39 37 97 0 Florian Krautkrämer (Luzern), Elisa Linseisen (Hamburg), Bibliografische Information der Deutschen National- Jana Mangold (Erfurt), Gloria Meynen (Linz), bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet Maja-Lisa Müller (Bielefeld), Birgit Schneider (Potsdam), diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; Stephan Trinkaus (Wien), Thomas Waitz (Wien) detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über Redaktionsanschrift: Zeitschrift für Medienwissenschaft http://dnb.d-nb.de abrufbar. c /o Prof. Dr. Birgit Schneider, Institut für Künste und Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Medien, Europäische Medienwissenschaft, Universität Creative-Commons-Lizenz CC-BY-NC-ND 4.0 DE Potsdam, Am Neuen Palais 10, D-14469 Potsdam, (Attribution, Non-Commercial, No Derivates). 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Redaktionsassistenz Noam Gramlich, Mirjam Kappes, Julius Lange, Alicja Schindler Veröffentlicht 2023 durch den transcript Verlag Lektorat © bei den Autor*innen Ulf Heidel Printed in the Federal Republic of Germany Beirat Marie-Luise Angerer (Potsdam), Ulrike Bergermann Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (Braunschweig), Cornelius Borck (Lübeck), Philippe Despoix (Montréal), Mary Ann Doane (B erkeley), Lorenz E ngell ( Weimar), Vinzenz Hediger (Frankfurt / M.), Ute Holl (Basel), Gertrud Koch (Berlin), Petra Löffler (Oldenburg), ISSN 1869-1722 Kathrin Peters (Berlin), Antonio Somaini (Paris), Martin eISSN 2296-4126 Warnke (Lüneburg), Geoffrey Winthrop-Young (Vancouver) Print-ISBN 978-3-8376-6362-4 Grafische Konzeption PDF-ISBN 978-3-8394-6362-8 Lena Appenzeller, Stephan Fiedler EPUB-ISBN 978-3-7328-6362-4 Layout, Bildbearbeitung und Satz — Lena Appenzeller Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg