Peter Grabher Hier und anderswo Marburger Schriften zur Medienforschung 82 ISSN 1867–5131 Für Rosa, Ina und Siranush Peter Grabher, geb. 1969, Dr. phil., Studium der Philosophie und Geschichte, lebt und arbeitet als freier Grafiker, Historiker, Filmwissenschaftler und AHS-Leh- rer in Wien. Filmarbeit im Rahmen der Gruppe kinoki. Publikationen: Die Pari- ser Verurteilung von 1277. Kontext und Bedeutung des Konflikts um den radika- len Aristotelismus, Diplomarbeit 2005; «Sowjet-Projektionen. Die Filmarbeit der kommunistischen Organisationen in der Ersten Republik (1918–1933)», in: Chris- tian Dewald (Hg.): Arbeiterkino. Linke Filmkultur der Ersten Republik, Wien: Fil- marchiv Austria 2007; «Eisensteins sexuelle Politiken», in: Basaran/Köhne/Sabo/ Wieder (Hg.): Sexualität und Widerstand. Internationale Filmkulturen, Wien: Mandelbaum 2018. Peter Grabher Hier und anderswo Palästina-Israel im essayistischen Film (1960–2010) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): PUB 750-G Dieses Werk ist veröffentlicht unter der CC-BY-4.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/ Schüren Verlag GmbH Universitätsstr. 55 • D-35037 Marburg www.schueren-verlag.de © Schüren 2021 Lektorat: Thomas Schweer Gestaltung: Erik Schüßler / Peter Grabher Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Frechen Coverfoto: © J. M. T. Films / Dan Geva Druck: Majuskel Medienproduktion, Wetzlar Printed in Germany Veröffentlicht als OA Publikation unter CC-BY 4.0 Lizenz ISBN 978-3-7410-0337-0 (Print) ISBN 978-3-7410-0134-5 (OA) https://doi.org/10.23799/97837410O1345 Inhalt Einleitung 7 Palästina-Israel filmen: Fragen, Methoden und Kontexte 1 Forschungsfeld Visual History 13 1.1 Umriss des Forschungsprojekts 16 1.2 Zur Methodik der Filmanalysen 26 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken 35 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays 38 Das Kapital filmen: Kinoglaz, intellektuelle Montage, Filmessay 38 Das denkende Kino: Die Caméra-stylo 42 Epistemologie des Essays: Experiment, Konstellation, Kraftfeld 45 Das schöpferische Auge: Visual thinking, offenes Kunstwerk 47 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung 50 Filmische Kraftfelder: Essayistische Rekonfigurationen Palästina-Israels Prolog: Méliès in Jerusalem 63 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva 71 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 73 Geschichte eines Films 73 Poetik einer Beschreibung 80 Aspekte eines Kampfes 87 Historizität eines Films 106 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva 114 5 Einleitung 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 125 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) 131 ‹Cinéma militant›: Film als ideologisches Produkt 131 Paratextuelle Montage eines Filmes 145 Transformation eines Blicks 157 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 171 Essayistische Demontage eines Films 171 Mikropolitiken eines Essayfilms 195 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard 211 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 225 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay 230 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 241 Local Angel – Essayfilm als visueller Midrasch 241 Mechilot – Fiktionale Intervention ins politische Unbewusste 278 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman 303 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari 321 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman 333 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? 353 Epilog: Adorno in Lustenau 369 Dank 375 Filmdaten 377 Filmografie 381 Bibliografie 385 Abbildungsverzeichnis 416 Personenregister 417 6 Einleitung Im Film, wie anderswo, gibt es keine andere Sorge als die um die Zukunft. – Alexandre Astruc, Die Geburt einer neuen Avantgarde. – Die Kamera als Federhalter (1948)1 13. August 1969: Die Ankunft von Bildern, die die Erdkugel vom Mond aus gese- hen zeigten, markierte auf der symbolischen Ebene den Eintritt in die Ära der ‹Globalisierung›.2 Jahrzehnte später bewohnen die Zuschauer*innen als tatenlose Hauptakteur*innen einer mediatisierten Weltkultur einen Kosmos von hoch- auflösenden oder verpixelten Bildern  – Bilder von Stars und Flüchtlingen, von Zeitzeug*innen und Sportler*innen, von Toten und Gotteskriegern, von Exeku- tionen, Siegerehrungen, Wahlen und Hoppalas, von Waffen und Geschlechts- teilen und von Katzen. Was in der Online-Doppelgängerwelt von Second Life aus onto-technologischen Gründen galt, scheint heute auf die äußere Wirklich- keit selbst zuzutreffen: Es ist nicht länger möglich, streng zwischen Bild und Welt zu unterscheiden. Bilder sind wirklich und die Wirklichkeit ein Bild. Mit dem sich vertiefenden Ausbau des elektronischen Medienverbunds seit den spä- ten 1960er-Jahren findet Geschichte weltweit in Echtzeit statt. Wir machen keine Geschichte, sondern sitzen im Zuschauerraum der Geschichte. Aber in Platons Höhle hat sich längst ikonoklastische Skepsis breitgemacht. 1 Astruc, Alexandre: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», in: Blümlinger, Christa und Constantin Wulff (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayis- tischen Film, Wien: Sonderzahl 1992, S. 199–204, hier S. 204. 2 Das eigentliche Ereignis war dabei die Ankunft des Fernsehbildes von der Mondoberfläche: «Das Eintreffen eines Bildes, von der Mondoberfläche aus aufgenommen, bei einem weltum- spannenden Fernsehpublikum, war der geplante und absehbare Höhepunkt des gesamten Apollo-Programms.» Engell, Lorenz: «Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflö- sung: Ereignis und Erwartung», montage/av 5/1996, S. 129–153, hier S. 144. 7 Einleitung In den Kulturwissenschaften drückte sich dies Anfang der 1990er-Jahre durch die Ausrufung des ‹Iconic Turn› aus. Seit dem CNN-Spektakel des Golfkriegs von 1991 und verstärkt seit ‹9/11› steht der Status medialer Bilder im Mittelpunkt des Nach- denkens. Es scheint, als hätte der Fall des Kommunismus eine Wirklichkeit aus der Verankerung gerissen: Die Bilder wurden aus ihrem mimetischen Verhältnis zur Wirklichkeit gelöst, so wie die globalen Währungen zur selben Zeit von fixen Wech- selkursen und der Golddeckung. An Stelle des wahrheitsfähigen Bildes trat das selbstreferenzielle Visuelle. In dieser neuen Ära, die bald als ‹Postmoderne› bezeich- net wurde, begannen visuelle und finanzielle Ströme unbeschränkt zu zirkulieren.3 Von den Folgen der Erschütterung des bis zum Ende des Kalten Krieges domi- nanten Repräsentationsregimes ist seither jedes politische und künstlerische Han- deln im Kern betroffen. Diese Aktualität spannt das Feld auf, innerhalb dessen die vorliegenden Analysen realisiert wurden. Ein Ausdruck der Krise war das vermehrte Auftauchen von Filmen und die wachsende Aufmerksamkeit für Filme, die – weder reine Dokumentar- noch Spielfilme – nicht über die Wirklichkeit berichteten oder eine Wirklichkeit inszenierten, sondern vielmehr Spiegelungen von Wirklichkeit in der Populärkultur, den Medien und im Kino selbst reflexiv in den Blick nahmen. In den 1990er-Jahren fand sich ein Etikett für diese schwer fassbare Art des Kinos: Der Essayfilm. Wurde das Phänomen innerhalb der Filmwissenschaft zunächst anhand eines relativ beschränkten Kanons von Autorenfilmen analysiert (Marker, Godard, Farocki …), verzeichnet die Filmwissenschaft heute Beispiele des essayistischen Films überall im postkolonialen Weltkino.4 Timothy Corrigan bezeichnet den Essayfilm als «the most vibrant and significant kind of filmmaking in the world today»,5 Laura Rascaroli konstatiert «its ever-growing worldwide appeal and attraction».6 Das vorliegende Buch greift aus dem globalen Spektrum der essayistischen Stim- men den Bereich Palästina-Israel heraus und fragt, wie und aus welchen ästheti- schen Gründen Filmemacher*innen aus Palästina-Israel bzw. Frankreich essayisti- sche Strategien gebrauchen, um nahöstliche Welten sichtbar zu machen. Dass der israelisch-palästinensische Konflikt auch ein Krieg der Bilder ist, liegt dabei auf der 3 Siehe Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography 1989; sowie Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien: Böhlau 1986. 4 Siehe Biemann, Ursula: Stuff it: The video essay in the digital age, Zürich: Voldemeer 2003; wei- ters Hollweg, Brenda und Igor Krstic (Hg.): World Cinema and the Essay Film: Transnational Perspectives on a Global Practice, Edinburgh: Edinburgh University Press 2019. Festivals wie das seit 2015 vom Birkbeck Institute for the Moving Image in London organisierte ‹Essay Film Festival› zeigen in ihrer Programmierung deutlich diese Erweiterung des Blicks, siehe http:// www.essayfilmfestival.com (zugegriffen am 14.4.2019). 5 Corrigan, Timothy: The essay film from Montaigne, after Marker, Oxford; New York: Oxford University Press 2011, S. 3. 6 Rascaroli, Laura: «The Idea of Essay Film», in: Papazian, Elizabeth A. und Caroline Eades (Hg.): The essay film: dialogue, politics, utopia, Nonfictions, London  / New York: Wallflower Press 2016, S. 300–304, hier S. 304. 8 Einleitung Hand. Seit Generationen besetzt er seinen Platz in der globalen medialen Arena und hört nicht auf, ganz unterschiedliche Öffentlichkeiten mit beispielloser Intensität zu affizieren. Weshalb dieser Konflikt? Warum scheint er endlos, unabschließbar? Die einzigartige mediale Aufmerksamkeit für Palästina-Israel ist dabei zugleich Ursache wie auch Konsequenz der Bedeutung dieses Topos. Seit dem ‹Sechs-Tage- Krieg› im Juni 1967 ergießt sich ein ununterbrochener Strom von Bildern aus dem Nahen Osten in die medialen Kanäle. Er ist integraler Bestandteil des politischen Imaginären des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Wie sonst kaum waren und sind Bilder hier umstritten: Sind sie unehrlich, subjektiv, parteilich, manipulativ? Ihre Auswahl von Absicht, verhehltem Ressentiment oder offenem Hass bestimmt, also ‹biased›? Das Besprechen und Darstellen des Nahostkonflikts ist von Ikonen und Ikonoklasmen, von Manipulationen, Manichäismen, Verdächtigungen und medienethischen Vorkehrungen umstellt. Gleichzeitig wurde er zum technologi- schen Experimentierfeld für die News-Medien, die sukzessive größere Unmittel- barkeit herstellten – vom Kamerastativ zur Schulterkamera, vom Off-Kommentar zum Original-Ton, von der Totale zur Großaufnahme, von der Projektion über den Bildschirm zu den Displays, bis zum Bildtransfer über Satellit mit immer kleineren Kameras. Seit den 2000er-Jahren treten neben die traditionellen journalistischen Vermittlungsformen Amateur*innen, die mit ihren handlichen Gadgets direkt in die globalen, fluiden Teilöffentlichkeiten der sozialen Netzwerke streamen. Die audiovisuelle Repräsentation ist hier immer schon ein politischer Akt und das Kino als Raum des symbolischen Nation Building seit jeher Schauplatz von Verhandlungen über Sinn und Bedeutung der mit der Formel ‹Israel/Paläs- tina› bezeichneten Welt(en). Das Kino schwankt dabei zwischen seinem Talent zur «nationalen Projektion» (Jean-Michel Frodon)7 und seinem genuin transnationalen Charakter. Der Fokus in den vorliegenden Analysen ist kein nationaler, sondern ein komparatistischer, der nicht von geschlossenen kulturellen Räumen ausgeht, son- dern sich für Kulturtransfers, Verflechtungen und Interaktionen interessiert. Die umkämpften Realitäten dieses Raumes scheinen den reflexiven Strategien des Essayfilms nicht gerade entgegenzukommen. Rücken sie den Subjekten nicht zu nah auf den Leib, als dass sie in der Tradition Michel de Montaignes kontem- plative Selbsterforschung betreiben könnten? Nichtsdestotrotz gibt es eine ganze Reihe von essayistischen Filmen, die sich mit Palästina-Israel auseinandersetzen – und dies aus guten Gründen, wie in diesem Buch gezeigt wird. Hier geht es nicht um eine Repräsentationsgeschichte Palästina-Israels, sondern um eine exempla- rische Analyse von Kunstwerken, die sich aus unterschiedlicher sozial-räumlicher und historischer Position mit der Wahrnehmung des Chronotopos8 ‹Israel-Paläs- tina› und dessen medialen Inszenierungen befassen. 7 Frodon, Jean-Michel: La projection nationale. Cinéma et nation, Paris: O. Jacob 1998. 8 Vgl. Bachtin, Michail: Chronotopos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 9 Einleitung Welche Rolle spielt die mediale Repräsentation des Nahostkonflikts? Wie greift die mediale Rahmung des Konflikts in diesen selbst ein? Wie veränderte sich die Bedeutung des Visuellen im Kontext Palästina-Israel in den letzten Jahrzehnten? Welche spezifischen Probleme stellen sich in der filmischen Darstellung des Nah- ostproblems? Wie gehen Filmemacher*innen der Avantgarde mit diesen um? Wel- che unterschiedlichen Perspektiven entwickeln Filmemacher*innen aus Frank- reich, Israel, Palästina und der Diaspora? Neben diesen Fragen dient eine weitere, die sich zwei französischen Publikationen 1978 und 2005 stellten, auch unserer Untersuchung als eine Art Leitstern: ‹Que peut le cinéma?›9 – was vermag das Kino? Dieses Buch erforscht vier filmische Universen, die auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlicher Perspektive Bilder Palästina-Israels zeichnen. Die Ana- lyse misst diese Bilder nicht an einem vorab – politikwissenschaftlich bzw. histo- riografisch – begrifflich bestimmten ‹Nahostkonflikt›, sondern versucht, die Kon- struktion dieses Konflikts in dichter Auseinandersetzung mit den Filmen immer wieder neu zu unternehmen. Wir versuchen zu zeigen, dass das ‹Nahostproblem› erst im Blick eines essayistischen Kinos sichtbar wird, in dem sich Reales und Ima- ginäres als ineinandergefaltete Aspekte eines letztlich nicht totalisierbaren Wirk- lichen erweisen. Anhand eines kleinen Korpus von Filmen wird die konstruktive Arbeit von Filmautor*innen untersucht, die aus unterschiedlicher Position mit den zwischen Fiktion und Dokument angesiedelten Strategien des essayistischen Kinos auf eigene Wahrnehmungen und die mediale Repräsentation Palästina-Is- raels reagieren. Die Analyse der Filme orientiert sich an leitmotivischen Fragen und Begriffen und vernetzt diese jeweils mit ihren lokalen, zeitlichen und filmi- schen Kontexten. Die Untersuchung umfasst die Zeit von 1960, dem Jahr der Ver- haftung Adolf Eichmanns, bis zur Post-9/11-Welt, der die jüngsten Filmbeispiele angehören, einen Zeit-Raum also, in dem das durch den ‹Arab Spring› ausgelöste «Ende des Nahen Ostens wie wir ihn kennen»10 noch unabsehbar war. Mit der Frage nach der Situierung unseres Zugangs zum Thema beschäf- tigt sich ein kurzer Epilog am Ende des Buches. Wie jedes Schreiben über Film können diese Untersuchungen nicht das eigene Sehen ersetzen, das gewiss auch andere Lektüren auslösen kann als die hier vorgeschlagenen. Im Anhang finden sich deshalb einige Informationen zur Verfügbarkeit der besprochenen Filme.11 9 Hennebelle, Guy und Janine Euvrard: Israël–Palestine. Que peut le cinéma?, Paris: Societé Afri- caine d’Édition 1978; sowie Halbreich-Euvrard, Janine: Israéliens, palestiniens, que peut le ciné- ma? carnets de route, Paris: Michalon 2005. Seit 2007 kuratiert Janine Halbreich-Euvrard in Paris ein Filmfestival, das sich in größeren Abständen dieser Frage widmet, siehe http://www. quepeutlecinema.com (zugegriffen am 14.4.2019). 10 Perthes, Volker: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay, Berlin: Suhrkamp 2015. 11 Ich danke Thomas Tode für die Organisation der Film- und Diskussionsreihe ‹Verschränk- te Blicke. Israel und Palästina› im Hamburger ‹Metropolis Kino›: https://www.hamburg.de/ veranstaltungen-2018/10403314/verschraenkte-blicke-israel/ 10 Palästina-Israel filmen: Fragen, Methoden und Kontexte 1 Forschungsfeld Visual History Zur Elementarlehre des historischen Materialismus: 1) Gegenstand der Geschichte ist dasjenige, an dem die Erkenntnis als dessen Rettung vollzogen wird. 2) Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten. – Walter Benjamin, Passagen-Werk [1935/40]1 Das Forschungsfeld, in dem sich die folgenden Untersuchungen bewegen, setzt sich aus überlappenden Randbereichen mehrerer Disziplinen zusammen: der Historiografie Palästina-Israels als geopolitischem Raum, der visuellen Zeit- und Kulturgeschichte innerhalb der Zeitgeschichte, der Filmgeschichtsschrei- bung Palästina-Israels, der Film- und Medienwissenschaft sowie der Ästhetik des Essayfilms im Besonderen. Historiker*innen stehen dem vorigen – 20. – Jahrhun- dert bereits in einer ähnlichen Distanz gegenüber, wie Walter Benjamin dem 19. Jahrhundert und seinen Enzyklopädien, Lithografien und Daguerrotypien. War die Eisenbahn die emblematische Erfindung des 19., so ist das Kino jene des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich ist dessen konkrete Aufhebung im Hegelschen Sinn zu Beginn des 21. Jahrhunderts im digitalen Medienverbund prinzipiell abgeschlos- sen. Entsprechend hatte der ‹erste› Kinofilm, L’ arrivée d’un train dans la gare de La Ciotat der Brüder Lumière, die Eisenbahn aufgehoben. Wie mittel- alterliche Pergamente und Tapisserien ist Zelluloid nun selbst zum archivarischen Überrest geworden, der eingelagert und restauriert wird. Benjamins Behauptung, die Geschichte zerfalle in Bilder, nicht in Geschichten, klingt heute so plausibel wie nie zuvor. Filmgeschichte zielt auf eine Archäologie des 20. Jahrhunderts, auf 1 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften (GS) V, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1989, S. 596. 13 1 Forschungsfeld Visual History die Rekonstruktion der Urgeschichte einer Gegenwart, in der Bilder scheinbar zu eigenständigen Akteuren der Geschichte und des Gedächtnisses geworden sind. Diese Medialisierung des Sozialen verändert nicht nur den Begriff von Zeugen- schaft, sondern auch den Begriff von historischer Erfahrung selbst. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfallen ganze historische Epochen und Ereignisuniversen zu einer Handvoll ikonischer Bilder:2 Vom Vietnamkrieg blieb das ‹Napalm-Girl›,3 von den 1980er-Jahren das Bild der US-Raumfähre Challenger, die immer und immer wieder in einem Feuerball von weißem Rauch explo- dierte, bis wir die Fernsehschirme nicht mehr von unserer Netzhaut unter- scheiden konnten.4 Der Zusammenbruch des kommunistischen Blocks gerann zum Bild einer jubeln- den Menge auf der Berliner Mauer, etc. Diese medialen Ikonen, in denen das Widersprüchliche und Inkommensurable der erlebten, erfahrenen, erkämpften, erinnerten und erzählten Geschichte zum Bild erstarrt, werden ihrerseits wieder zum Substrat individueller Geschichtserfahrung: Die vor 1980 Geborenen fühlen sich als Zeitzeugen des Mauerfalls, den sie lediglich am Fernsehbildschirm mit- verfolgt haben. Wer wollte aber behaupten, sie hätten damit Unrecht? Für Thomas Elsaesser ist die «‹Identitätspolitik› des Medienzeitalters»5 in sich widersprüchlich: Der Widerspruch, der sich auftut, ist der einer sich immer mehr monadi- sierenden Gesellschaft, die ihre Mitglieder über die Medien aneinander bin- det, was bedeutet, sie emotional an einer Vielzahl von Geschichten zu beteili- gen, die nicht die ihren sind, während zugleich der Glaube an das Singuläre, Zusammenhängende und Individuelle bekräftigt wird.6 Visuelle Artefakte werden zu Kristallisationspunkten des sozialen Bandes, des kollektiven Gedächtnisses, und zunehmend auch zu Akteuren der Geschichte: Geschichte machen bedeutet heute, ein Bild herzustellen. Infame Tableaus wie jenes der einstürzenden Twin Towers haben den Gang der Ereignisse irreversi- bel verändert. Und dann antworten auf ein Bild andere Bilder, und so weiter fort. 2 Siehe Paul, Gerhard (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder, Band 2: 1949 bis heute, Göttingen: Van- denhoeck & Ruprecht 2008. 3 Vgl. Paul, Gerhard: «Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Über- schreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg», Zeithistorische Forschungen Heft 2/2005, S. 224– 245, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005/id=4632 (zugegriffen am 14.4.2019). 4 Elsaesser, Thomas: «‹Un train peut en cacher un autre›: Geschichte, Gedächtnis und Medienöf- fentlichkeit», montage/av 11/1/2002, S. 11–25, hier S. 20. 5 Ebd., S. 14. 6 Ebd. 14 Wer vermöchte etwa zu sagen, inwieweit das Theater der Grausamkeit des soge- nannten ‹Islamischen Staats› jenen viral verbreiteten Privatfotos von misshan- delten Häftlingen aus dem US-Gefängnis Abu Ghuraib antwortete,7 die wiede- rum so zwingend die Erinnerung an Pasolinis letzten Film Salò oder die 120 Tage von Sodom (I 1975) wachriefen?8 Bilder sind Bestandteil der Realität und generieren selbst wiederum Realitäten. Mit Jean-Luc Godard muss die Historio- grafie heute sagen: Die Aktualität der Geschichte – das, was in einer jeweils gege- benen historischen Situation geschieht – und die Geschichte der Aktualität – das- jenige, was von ihr medial vermittelt wird – sind voneinander ununterscheidbar geworden.9 Mit dem Film erschien im 20. Jahrhundert eine historische Quelle, die mehr als nur eine neuartige Form geschichtlicher Überreste bildete, sondern eine Gat- tung von visuellen Artefakten, die den Begriff der Geschichte selbst modifizierte und damit auch die Praxis der Historiografie. Unwiderruflich hat das Auftau- chen des Films als «Auge des Jahrhunderts»10 zur Mediatisierung der Geschichte geführt. Thomas Elsaesser fragte deshalb, ob der Film nicht nur ein «aktiver Fak- tor des Zeitgeschehens», sondern die Geschichte als kausal verknüpfende Chro- nologie selbst «das erste historische Opfer des Kinos»11 sei. Denn mit dem Auf- kommen des Films vergehe das Vergangene nicht mehr in derselben Weise wie zuvor, die Zeiterfahrung, die er möglich macht, sei nicht mehr homogen und linear gerichtet: Was man früher durch steinerne Monumente, geschriebene Dokumente oder andere Zeichen der Absenz und der Symbolisierung als einmal gewesen inspizieren konnte, ist dank der Lebendigkeit der Bilder, die die Geschichte (des 20. Jahrhunderts) hinterlassen hat, nicht wirklich ‹hinter› uns und doch kein Teil der Gegenwart. Damit wirft die Vergangenheit einen Schatten aus Licht voraus, gibt Zeugnis von einer parallelen Welt, die gleichermaßen unreal, hyperreal und virtuell ist.12 7 Siehe Khatib, Lina: «How ISIS Capitalizes on Horrors of Blackwater and Abu Ghraib», http://carnegie-mec.org/2015/04/15/how-isis-capitalizes-on-horrors-of-blackwater-and-abu- ghraib-pub-59787 (zugegriffen am 3.5.2017); weiters Mirzoeff, Nicholas: Watching Babylon. The war in Iraq and global visual culture, New York: Routledge 2005. 8 Siehe Theweleit, Klaus: Deutschlandfilme – Godard, Hitchcock, Pasolini. Filmdenken & Gewalt, Frankfurt a. M.: Stroemfeld / Roter Stern 2003, Kap. 3. 9 Vgl. Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma, 1A: ‹Toutes les histoires› (TC 00:14:10–00:14:14). 10 Casetti, Francesco: Eye of the century: film, experience, modernity, New York: Columbia UP 2008. 11 Elsaesser: «‹Un train peut en cacher un autre›», S. 11. 12 Ebd., S. 12. 15 1 Forschungsfeld Visual History 1.1 Umriss des Forschungsprojekts Die vorliegende Studie bewegt sich durch den Schatten aus Licht, den das essay- istische Kino aus dem Nahen Osten wirft. Unweigerlich ist sie dabei in die Frage involviert, wie das ‹Visuelle› den Begriff der Geschichte verändert hat. Sie unter- sucht anhand von einigen essayistischen Filmen, die sich ab 1960 am Bild Paläs- tina-Israels abgearbeitet haben, welche Formen der Zusammenhang von Ereignis und Vermittlung in diesem Kontext annahm, welche Verbindungen hier das Visu- elle und das Historische, das Ästhetische und das Politische eingingen. Gleichzei- tig scheint das Kino – und vielleicht nur das Kino – in der Lage zu sein, diesen neuen geschichtlichen Modus augenfällig und bearbeitbar zu machen. Dadurch wird es selbst zu einer Praxis des Geschichte-Schreibens. Unablässig entwirft es alternative Modi der Historiografie, die in Konkurrenz zu den offiziösen, populär- kulturellen, aber auch wissenschaftlichen Praktiken des kollektiven Gedächtnis- ses treten. Möglicherweise bildet es das «Gedächtnis des Jahrhunderts»13 schlecht- hin, wie Jean-Luc Godard im Gespräch mit Youssef Ishaghpour behauptete. Die hier vorgelegten Filmanalysen diskutieren eine idiosynkratische Auswahl von Filmen, die eine solche Arbeit am Blick und am Gedächtnis für den histo- risch-politischen Raum Palästina-Israel unternommen haben. Ein solches Projekt kann an eine relativ neue Forschungstradition anschließen, in der Bilder auf neue Weise in den Blick genommen wurden. So wie um 1900 die Sprache als Sprache in den Fokus des Nachdenkens rückte, so begannen sich die Humanwissenschaften ab einem bestimmten Moment für Bilder als Bilder zu interessieren. Der schließ- lich in den 1990er-Jahren ausgerufene ‹Iconic› bzw. ‹Pictorial Turn› begründete den interdisziplinären Forschungbereich der ‹Visual Culture› bzw. ‹Visual Stu- dies›14 und der Bildwissenschaften.15 W. J. T. Mitchell diagnostizierte eine «Wieder - entdeckung des Bildes als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Insti- tutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität».16 Er forderte eine Wissenschaft des Visuellen, die davon ausgeht, «dass die Formen des Betrachtens […] ebenso tief- greifende Probleme wie die verschiedenen Formen der Lektüre […] darstellen.»17 Auch die zeitgeschichtliche Forschung erneuerte ihre Sichtweise auf die visuel- len Quellen. Die ‹Visual History› erarbeitete seit den 1990er-Jahren neue Zugänge zur Geschichtsschreibung, die den klassischen politikwissenschaftlichen Blick auf den Nahen Osten erweitern. Ihre wissenschaftsgeschichtlichen Wurzeln hat sie in 13 Godard, Jean-Luc und Youssef Ishaghpour: Archäologie des Kinos, Gedächtnis des Jahrhun- derts, Zürich u. a.: Diaphanes 2008, S. 8, 38. 14 Siehe Mirzoeff, Nicholas (Hg.): The visual culture reader, 3. Aufl., London u. a.: Routledge 2013. 15 Siehe Rimmele, Marius (Hg.): Bildwissenschaft und Visual Culture, Bielefeld: Transcript 2014. 16 Mitchell, W. J. T.: «Der Pictorial Turn», in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 15–40, hier S. 19. 17 Ebd. 16 den US-amerikanischen ‹Visual Studies›,18 aber auch in der französischen ‹Nouvelle histoire›.19 Diese vergrößerte in den 1980er-Jahren das von der Annales-Schule um Marc Bloch und Fernand Braudel definierte Territorium der Historiografie um die Geschichte der Mentalitäten, der Frauen, der Arbeiterbewegung und der Minoritä- ten. ‹Oral History› und Filmanalyse stiegen zu erstrangigen Methoden einer neuen Form von Geschichtsschreibung auf, mit deren Hilfe die Geschichte der Subjektivi- täten und Lebensweisen, des Alltags und des Imaginären beschreibbar werden soll- ten. Marc Ferro zufolge leitete die Analyse von Filmen als Quelle die Ära der anonymen Geschichte [ein], die unter den Auswirkungen der ‹gro- ßen› Geschichte zu leiden hat, der Geschichte der Wirkungen von geschicht- lichen Ereignissen und ihrer tragischen Konsequenzen.20 Filme ermöglichen Ferro zufolge einen «unabhängigen und neuen Blick auf die Gesellschaft»,21 wenn sie sich mit einer antithetischen Sichtweise in den Streit um hegemoniale Darstellungen einmischen. Die filmische «Gegen-Analyse»22 der Gesellschaft beginne «zunächst in der Form eines Museums der Gesten, der Gegenstände und der gesellschaftlichen Verhaltensweisen»23 und ginge dann in eine Gegen-Analyse der «gesellschaftlichen Strukturen und Organisationsfor- men»24 über, die potenziell «die Kritik aller institutionellen Systeme auf sich zieht […].»25 Der Film werde auf diese Weise ein «außergewöhnliches Instrument […], um die Verhöhnung der Geschichte anzuklagen und ihre Wahrheit darzustel- len»26 und bilde damit «eine privilegierte Form der Gegen-Geschichte».27 Die Historiografie muss zur ‹Visual History› werden, will sie auf der Höhe einer Kultur bleiben, die im Wesentlichen eine visuelle Kultur ist, die zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus hin und her gerissen ist. Bilder sind methodisch gesehen jedoch herausfordernde Quellen. Eine klassische Sichtweise vertraut auf die Kongru- enz von filmischer und historischer Wahrheit. Solchem Realismus sind Filmbilder 18 Elkins, James: Visual studies. A skeptical introduction, New York: Routledge 2003. 19 Siehe Dosse, François: L’histoire en miettes: des ‹annales› à la ‹nouvelle histoire›, Paris: Édition La Découverte 1987. 20 Ferro, Marc: «Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?», in: Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte. Der Historiker im Kino, Berlin: Wagenbach 1991, S. 21. 21 Ebd., S. 22. 22 Ferro, Marc: «Der Film als ‹Gegenanalyse› der Gesellschaft», in: Bloch, Marc und Claudia Ho- negger (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung his- torischer Prozesse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 247–269. 23 Ferro, Marc: «Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?», S. 23. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 24. 26 Ebd., S. 23. 27 Ebd. 17 1 Forschungsfeld Visual History Vergangenheitspräparate, die dem historischen Blick als mehr oder minder deutliche Spur eines flüchtigen Realen zur Verfügung stehen. Dass der Geschichtsprozess auf Zelluloid aufgezeichnet werden könne, verleitete frühe Theoretiker des Kinos dazu, dem neuen Medium spiritistische Qualitäten zuzuschreiben, etwa Bolesław Matus- zewski, der 1898 als einer der Ersten Filmen historischen Quellenstatus zusprach: Der kinematographische Beweis, bestehend aus tausenden Einzelbildern, die eine Szene ergeben, abgespult zwischen einer Lichtquelle und einem weißen Tuch, lässt die Toten und Abwesenden sich ankleiden und herumspazieren; dieses ein- fache beschichtete Zelluloid-Band stellt nicht nur ein historisches Dokument dar, sondern eine Parzelle der Geschichte, einer Geschichte, die nicht verschwunden ist und die keines Genies bedarf, um sie wieder heraufzubeschwören.28 Zelluloid bewegt Körper über ihren Tod hinaus, präpariert den Augenblick, verhin- dert das Verschwinden der Geschichte. Im Ersten Weltkrieg wurde der Film zum Propagandainstrument, nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beweismittel im histori- schen Prozess. Die Anklage in Nürnberg stützte sich auf filmische Dokumente, die alliierte Kameramänner in den befreiten NS-Vernichtungslagern hergestellt hat- ten. Als ob das stumme Zeugnis der Toten und das mündliche der Überlebenden nicht hinreichen würde, sollten sie ultimativ die Wirklichkeit jener beispiellosen Verbrechen beglaubigen, derer die Angeklagten beschuldigt wurden.29 Neben einer historiografischen Herangehensweise, die die Bedingungen zu bestimmen ver- sucht, unter denen Bildern der Status von Dokumenten zukommt, behauptet sich heute eine andere Auffassung: Bilder werden nicht als Abdrücke des Wirklichen, sondern als Tatsachen des Bewusstseins gelesen, wodurch der Film zur erstrangi- gen Quelle für eine Geschichte der Mentalitäten, Normen, Phantasien und Gefühle wird – unabhängig von seinem Verhältnis zur historischen Wirklichkeit. Günter Riederer zufolge erweist sich der Film so als kollektiver Deutungsapparat: Filme und ihre Bilder konstituieren einen Deutungsrahmen, innerhalb dessen Menschen Geschichte wahrnehmen und sozialen Sinn konstruieren. Ihre Ana- lyse ermöglicht damit Aussagen über gesellschaftlich gültige Normen, Haltun- gen und Werte der Zeit, in welcher sie gedreht und aufgeführt wurden.30 28 Matuszewski, Bolesłas: Une nouvelle source de l’histoire: création d’un dépôt de cinématographie historique / La photographie animée: ce qu’elle est, ce qu’elle doit être, Paris: Association française de recherche sur l’histoire du cinéma / Cinémathèque française 2006 (Übers. d. Autors). 29 Siehe Douglas, Lawrence: «Der Film als Zeuge. Nazi Concentration Camps vor dem Nürnber- ger Gerichtshof», in: Baer, Ulrich (Hg.): ‹Niemand zeugt für den Zeugen›. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 197–218. 30 Riederer, Günter: «Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwieri- gen Beziehung», in: Paul, Gerhard (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen: Vanden- hoeck & Ruprecht 2006, S. 96–113, hier S. 99. 18 In Filmen werden kollektive soziale Prozesse, Konflikte und Wünsche zu menta- len Bildern. Elisabeth Büttner ging konsequenterweise davon aus, dass die bewegten Bilder des Kinos […] die Grenze zwischen der physischen Wirk- lichkeit in der äußeren Welt und der psychischen Wirklichkeit im Bewusst- sein auf[heben].31 Deshalb vermag das Kino ein sozialer Resonanzraum zu werden, dessen Über- reste den Historiker*innen Zugang nicht nur zur Geschichte des Wirklichen, son- dern auch des Imaginären, Gefühlten, Erträumten, Möglichen und (noch) nicht Verwirklichten verschaffen. Mit Jacques Le Goff muss die Dignität dieser ephe- meren Geschichten verteidigt werden, denn eine «Geschichte ohne das Imagi- näre ist eine verstümmelte, entleibte Geschichte.»32 Das Programm der ‹Visual History› zielt auf eine solche nicht verstümmelte Geschichte. Sie versucht, sich auf der Schnittfläche zweier Perspektiven zu entfalten: Erstens sind Geschichte und Gedächtnis wesentlich visuell verfasst und zweitens unterliegt dieses Visuelle selbst einer spezifischen historischen Bewegung. Die Visualität der Geschichte und die Historizität des Visuellen bedingen einander. Die vorliegende Studie teilt die allgemeinen Forschungsziele, die Gerhard Paul benannt hat: Letzlich geht es darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit hin- aus als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrneh- mungsweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren. Visual History ist somit mehr als die Geschichte der visuellen Medien; sie umfasst das ganze Feld der visuellen Praxis der Selbstdarstellung, der Inszenierung und Aneignung der Welt sowie schließlich die visuelle Medialität von Erfah- rung und Geschichte.33 Filme, Fotos, Plakate, Karikaturen, Landkarten, Gemälde, Symbole, Inszenie- rungen – die Dokumente, die sich im imaginären Museum der ‹Visual History› ansammeln, können durch ihren Bezug auf Räumlichkeit und Zeitlichkeit unter- schieden werden: Auf einer synchronen Ebene verbinden sich die Probleme des 31 Büttner, Elisabeth: «Im Archiv. Filmische Strategien des Entwendens», Vortrag am Initiativ- kolleg ‹Sinne-Technik-Inszenierung: Medien und Wahrnehmung›, Universität Wien, 19.1.2010 [Typoskript]. 32 Le Goff, Jacques: Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 12, zit. nach Paul, Gerhard (Hg.): Visual History: ein Studienbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Rup- recht 2006, S. 11. 33 Paul (Hg.): Visual History, S. 25. 19 1 Forschungsfeld Visual History Raumes und der darauf bezogenen Politiken mit dem Visuellen. Ein grundlegen- der Typ dieses Verhältnisses ist z. B. die Landkarte, die Praktiken des Mappings realisiert, indem sie Grenzverläufe schafft oder in Frage stellt. Ebenso antwor- tet das Visuelle auf das Problem der Zeit und der Geschichte. Auf der dia chro- nen Ebene des Zeitstrahls wandernd bringt es Vergangenheiten und Zukünfte mit einer bestimmten Gegenwart in Kontakt. Filme vermengen ihre virtuelle Gegen- wart mit Bildern der Zukunft zwischen Erwartung, Angst und Hoffnung, und Bildern der Vergangenheit zwischen Mythos, Erinnerung und Trauma. Prak- tiken des Gedenkens, Zitierens und Zeugens bringen unentwegt Artefakte der ‹Visual History› hervor. Jedes Dokument trägt dabei die Spuren der Arbeit an den Widersprüchen, auf die es antwortet, indem es sie in seiner konkreten Gestalt fortschreibt, verleugnet, verschiebt oder überschreitet. Dabei sind historischer, medialer und filmischer Index voneinander abhängig, ineinander verstrickt. Folgt man der einfachen Unterscheidung von vier Epochen des industriellen Bildes, die Laurent Gervereau getroffen hat (die ‹Ära des Papiers› von 1848 bis etwa 1916 wird von der ‹Ära der Projektion› von 1916 bis etwa 1960 abgelöst, die ihrerseits in die ‹Ära des Bildschirms› von 1960 bis etwa 2000 über- geht und schließlich in eine provisorisch so benannte ‹Ära des Displays› mün- det34), so setzt die vorliegende Untersuchung im Übergang von der Ära der Pro- jektion zur Ära des Bildschirms ein und endet vor dem Übergang vom Bildschirm zum elektronischen Display, also den audiovisuellen Oberflächen von YouTube, Facebook, Instagram, Netflix & Co. Die hier aufgeworfene Frage, wie filmische Bilder im Kontext Palästina-Israel Wirklichkeit generieren oder rekonfigurieren, sieht sich der Tatsache gegenüber, dass die Produktion, Distribution und Kon- sumtion von Bildern durch das Zusammenspiel von Smartphone und Web 2.0 tiefgreifend verändert wurde. Diese Veränderungen werden in den hier bespro- chenen Filmen allenfalls aus den Augenwinkeln registriert. Welche essayistischen Artikulationsformen die User*innen diesen neuen Technologien abgewinnen, ist ein Thema für weitere Untersuchungen. Dass die Bedingungen der Wahrnehmung Palästina-Israels sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch die Transformation des medialen ‹Aprioris› grundlegend verändert haben, wird hier selbstverständlich vorausgesetzt. Der Funktionswan- del der Medien vom Jahrmarktspektakel zum Vehikel des Nation Building, die Entwicklung der ‹Aktualität› von der gedruckten Presse bis zu den elektronischen Newsmedien wird im Fall Palästina-Israel besonders augenfällig. Die ‹Visual His- tory› ist jedoch nicht einfach eine Resultante der Transformation des medialen Dis- positivs. Der technische Wandel ist seinerseits Ergebnis von sozialen Kämpfen.35 34 Vgl. Gervereau, Laurent: Histoire du visuel au XXe siècle, Paris: Seuil 2003, S. 20–30. 35 Siehe etwa Winston, Brian: Technologies of seeing. Photography, cinematography and television, London: British Film Institute 1996. 20 Medial vermittelte Bilder werden zu Gegenständen der Aneignung von Welt als sinnvollem Zusammenhang, der konflikthaften Aushandlung von Differenzen und Bedeutungen in der individuellen und kollektiven Sphäre. Das Visuelle bringt die Welt in den Modus des Erscheinens, dazu gehören Praktiken und Techniken des Darstellens genauso wie Praktiken und Techniken des Zuschauens. ‹Visual History› muss deshalb auch die Ebene des ‹Spectator- ship› mitdenken. Im ‹Zuschauerraum› der Geschichte ist der Nahe Osten eine der wichtigsten Projektionsflächen des «Homo Spectator»36 (Marie-José Mondzain). Ab einem bestimmten Moment wurde der Bildraum selbst zum Terrain der Aus- einandersetzung: Bilder erweisen sich als «eigenständige Wirkungsfelder des Poli- tischen, als Deutungsmedien der Geschichte»,37 gar als «immaterielle Waffen».38 Der Wandel von Visualität im Kontext des Nahostproblems wird in verschie- denen wissenschaftlichen Disziplinen zum Thema, von der Politologie zur Histo- riografie, von den Bild-, Film-, Medien-, Kunst- und Kulturwissenschaften bis hin zu den Religionswissenschaften. Entsprechende Untersuchungen finden sich weit verstreut, eine transdisziplinäre Zusammenschau der Forschung zur Medialität des Topos Palästina-Israel steht noch aus. Diese sieht sich besonderen Schwierig- keiten gegenüber: Einerseits wurde die Region seit Beginn des Kinos stark durch äußere Akteur*innen mediatisiert – von europäischen, US-amerikanischen und arabischen Filmemacher*innen und Fernsehstationen von den Lumière Frè- res bis zu CNN. Eine Geschichte für sich bildet die Repräsentation des Mittleren und Nahen Ostens durch Hollywood.39 Andererseits ist der nationale Rahmen traditioneller Filmgeschichtsschreibung umstritten: Noch stärker als in ande- ren regionalen Kontexten fechten hier minoritäre und indigene Perspektiven die Homogenität von dominanten Erzählungen an. Weiters müssen extraterritoriale, diasporische Situationen mitberücksichtigt werden: Zahlreiche israelisch-paläs- tinensische Filmschaffende leben und arbeiten nicht in Tel Aviv oder Ramallah, sondern in New York, Paris oder Brüssel. Krieg und Besetzung schaffen außer- dem opake Wirklichkeitsbereiche, die der Öffentlichkeit systematisch entzogen werden. Es existiert also kein transparentes Archiv und es ist nicht selbstver- ständlich, wie der Gegenstandsbereich einer Film- und Mediengeschichtsschrei- bung Palästina-Israels überhaupt umrissen werden soll. Es ist bezeichnend, dass im Gegensatz zu anderen nationalen Kinematogra- fien die Filmografie der gedoppelten Filmgeschichte Palästina-Israels nicht syste- matisch erfasst ist. Marsha H. McClintocks The Middle East and North Africa on 36 Mondzain, Marie-José: Homo spectator, Paris: Bayard 2007. 37 Paul (Hg.): Visual History, S. 18. 38 Ebd., S. 19; siehe auch Mondzain, Marie-José: Können Bilder töten?, Zürich: Diaphanes 2006. 39 Siehe Shaheen, Jack G.: Reel bad Arabs. How Hollywood vilifies a people, New York: Olive Branch Press 2001; weiters Khatib, Lina: Filming the Modern Middle East. Politics in the Cine- mas of Hollywood and the Arab World, London: I. B. Tauris Publishers 2006. 21 1 Forschungsfeld Visual History film40 bildet eine Ausnahme. Für die Zeit nach 1982 liegt dann kein vergleichba- res filmografisches Werkzeug mehr vor.41 Andererseits machte die Digitalisierung eine Vielzahl von Quellen als CD-ROM, DVD oder als Online-Ressource zugäng- lich.42 Die Forschung kann sich auf eine Reihe profunder Monografien stützen, die ab den späten 1980er-Jahren publiziert wurden. 1989 stellte Ella Shohat die Erforschung des israelischen Kinos auf eine neue Grundlage. Ihre Studie Isra- eli cinema: East/West and the politics of representation43 überschritt den Rahmen traditioneller nationaler Filmgeschichtsschreibung, indem sie sich auf die kriti- sche Bearbeitung nationaler Master-Narrative konzentrierte, welche das Kino in Palästina-Israel vor allem ab 1967 leistete. Dabei untersuchte sie die Filmpro- duktion in der Region nach den Formen, in denen Fragen von Gender, Identität, kultureller und politischer Hegemonie verhandelt wurden. Die Dominanz einer maskulin und aschkenasisch markierten zionistischen Staatsideologie im israe- lischen Kino wird in der aktuellen filmwissenschaftlichen Forschung durch die Rekonstruktion der leergebliebenen, subalternen und kritischen Positionen der Frauen, Mizrahim44 und Araber*innen bzw. Palästinenser*innen innerhalb Isra- els und in den besetzten Gebieten konterkariert.45 Auch für den palästinensischen Bereich liegen wissenschaftliche Gesamtdar- stellungen vor, wie etwa Nurith Gertz’ und George Khleifis Palestinian Cinema: Landscape, Trauma and Memory.46 Auch hier wird der nationalistische Diskurs der PLO, der in den 1970er- und 1980er-Jahren noch das Schreiben über palästi- nensische Filme dominierte,47 durch methodische Anwendung von Konzepten aus den ‹Cultural Studies› und ‹Visual Studies› überschritten. Die Frage nach der poli- tischen Bedeutung der Bildproduktion im Nahen Osten wurde in den letzten zwan- zig Jahren verstärkt außerhalb der akademischen Welt verhandelt: Zahlreiche Film- 40 McClintock, Marsha Hamilton: The Middle East and North Africa on film. An annotated filmo- graphy, New York: Garland 1982. 41 Siehe Leaman, Oliver: Companion encyclopedia of Middle Eastern and North African film, Lon- don: Routledge 2001. 42 Institutionen wie das Steven Spielberg Jewish Film Archive in Jerusalem, http://en.jfa.huji.ac.il, und das Imperial War Museum in London, http://www.iwm.org.uk/, haben in den letzten Jah- ren eine Vielzahl von Quellen zur Visual History Israel/Palästinas online veröffentlicht. 43 Shohat, Ella: Israeli cinema: East/West and the politics of representation. New edition with a Postscript, London, New York: I. B. Tauris 2010. 44 Nicht aus Europa, sondern aus Asien und Afrika und besonders aus dem Nahen und Mittleren Osten stammende jüdische Bevölkerungsgruppen in Israel. 45 Siehe etwa Bartov, Omer: The ‹Jew› in cinema: from ‹The Golem› to ‹Don’t touch my Holo- caust›, Bloomington IN: Indiana University Press 2005; weiters Peleg, Yaron / Talmon, Miri: Israeli cinema: identities in motion, Austin TX: University of Texas Press 2011. 46 Gertz, Nurith und George Khleifi: Palestinian cinema: landscape, trauma and memory, Bloo- mington: Indiana University Press 2008; sowie Dabashi, Hamid (Hg.): Dreams of a nation. On Palestinian cinema, London u. a.: Verso 2006. 47 Siehe etwa Hennebelle, Guy: «La Palestine au cinéma», Algérie-Actualité Mai 1971. 22 reihen, Ausstellungen und Kunstprojekte thematisierten Fragen der audiovisuelle Repräsentation im Kontext Palästina-Israel.48 Der Forschungsgegenstand Essayfilm wiederum fand seit den späten 1980er-Jahren wachsende Beachtung, die mit einer Infragestellung der massen- medialen Repräsentation und des Anspruchs dokumentarischer Authentizi- tät Hand in Hand ging. In der jüngeren Forschung sind mehrere Tendenzen zu beobachten: Eine transnationale Ausweitung des Kanons, die der Globalisierung künstlerischer Formen Rechnung trägt, eine Öffnung des Essayfilm-Kanons in Richtung Spielfilm und bildender Kunst und erste Versuche von Gesamtdarstel- lungen des essayistischen Filmfeldes in wissenschaftlichen Projekten und Filmre- trospektiven.49 Die vorliegende Studie verortet sich in jenem Horizont, den Sven Kramer und Thomas Tode abgesteckt haben: Indem der Essayfilm auf das Individuum in Zeiten der Globalisierung blickt, reicht er aber auch auf andere Weise über die nationalen Räume hinaus. Um seine vielgestaltigen Erscheinungsformen zu überschauen, müsste ein globa- ler Diskursraum geschaffen werden, der namentlich auch Länder außerhalb der westlichen Welt mit einbände.50 Während sich der erste Teil dieses Bandes auf die historiografische und film- analytische Methodik (Kapitel 1) sowie die Poetik des Essays (Kapitel 2) konzen- triert, setzt sich der zweite Teil aus vier Analysen zusammen, die unterschiedli- che künstlerische ‹Kraftfelder› kartieren. Das erste führt in das Israel des Jahres 1960 und zugleich auf den ‹Planète Marker›:51 Der 2012 verstorbene Chris Marker bereiste 1959/60 das junge Israel und montierte danach seinen Film Description d’un combat, einen Travellogue, der rückhaltlos einer subjektivistischen Ästhe- 48 Ein paar Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit: ‹ArtTerritories›, von Ursula Biemann und Shuruq Harb initiierte unabhängige Plattform für Künstler*innen und Wissenschaftler*in- nen im Kontext des Mittleren Ostens und der arabischen Welt 2010–2015; ‹Die Glut der Erin- nerung›, Retrospektive mit deutsch-palästinensischer Koproduktionen, Zeughauskino Berlin 2015 (kuratiert vorn Irit Neidhardt); ‹Zeit der Unruhe. Über die Internationale Kunstausstel- lung für Palästina 1978›, Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt 2016; ‹The World Is With Us›, Ausstellung im Barbican Cinema London 2016 (kuratiert von der Palestine Film Foundation). 49 Siehe Kramer, Sven und Thomas Tode (Hg.): Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UKV 2011; Ofner, Astrid und Jean-Pierre Gorin: Der Weg der Termiten. Beispiele eines essayisti- schen Kinos 1909–2004 – Eine Filmschau kuratiert von Jean-Pierre Gorin, eine Retrospektive der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums, 1. bis 31. Oktober 2007, Marburg: Schüren 2007. 50 Kramer, Sven und Thomas Tode: «Modulationen des Essayistischen im Film. Eine Einfüh- rung», in: Kramer, Sven und Thomas Tode (Hg.): Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, Kon- stanz: UVK 2011, S. 11–26, hier S. 20. 51 Das Centre Pompidou zeigte 2013 die Ausstellung ‹Planète Marker›, https://www. centrepompidou.fr/id/cT8bx6/rgzd4nB/de (zugegriffen am 14.4.2019). 23 1 Forschungsfeld Visual History tik verpflichtet war. Die Analyse vernetzt den Film mit diversen Intertexten und Kontexten und bringt den Film Markers mit anderen filmischen Travellogues in Verbindung, insbesondere mit der essayistischen Re-Lektüre von Description d’un combat in Dan Gevas Description of a Memory (ISR 2006). Hier wird die Frage nach der Historizität von Bildern virulent sowie das komplizierte Nachleben des Filmes, über den bisher kaum Arbeiten publiziert wurden (Kapitel 3). Genauso wie Markers Film ein ‹commissioned film› im Auftrag junger isra- elischer Kinoenthusiasten war, geht auch die Entstehung von Jean-Luc Godards und Anne-Marie Miévilles Ici et ailleurs (F 1976) auf einen Impuls von außen zurück. 1969 von der Arabischen Liga als militanter Film für die palästinensi- sche Sache in Auftrag gegeben, vollzogen die Filmemacher*innen Mitte der 1970er-Jahre einen selbstreflexiven Schwenk. Die verwickelte Geschichte dieses Films (1969–1976), die hier ausführlich dargestellt wird, begann im Zeichen eines militanten visuellen Maoismus für die Sache der Palästinenser. Unter der gueva- ristischen Parole ‹Jusqu’à la victoire› – ‹Bis zum Sieg› – plante der Groupe Dziga Vertov ein Filmprojekt, dessen Rekonstruktion hier auf der Basis der erhaltenen Quellen erstmals unternommen wird. Dessen Spezifität zeigt sich auch im Ver- gleich mit ähnlich gelagerten pro-palästinensischen Agitprop-Filmen (Kapitel 4). Mit den beiden weiteren filmanalytischen Kapiteln bewegt sich der Fokus der Untersuchung einerseits in Richtung Gegenwart und andererseits in Richtung Innensicht von Beobachter*innen, die in der Region aufgewachsen und soziali- siert sind. Anhand von Werken von Ariella Azoulay und Udi Aloni gilt es, einer Konjunktur nachzuspüren, die von Israel her jüdisch-diasporisches Denken film-essayistisch produktiv macht. Sowohl Azoulay (The Angel of History, ISR 2000) als auch Aloni (Local Angel, ISR/USA 2002) wählten Walter Benjamins Bild vom ‹Engel der Geschichte› zum Kristallisationspunkt ihrer Filmessays. In Alonis Mechilot (ISR 2006) werden schließlich die konkurrierenden nationa- len Opfernarrative auf ungewöhnliche Weise miteinander verknüpft (Kapitel 5). Zuletzt widmet sich ein filmanalytisches Kapitel Filmen von Künstler*innen palästinensischer Herkunft: Ula Tabari und Elia Suleiman sind beide als israeli- sche Staatsbürger*innen in Nazareth aufgewachsen und gehören mit ihren Filmen zu den ästhetisch avanciertesten und nachdenklichsten Stimmen des palästinen- sischen Kinos. In den analysierten Filmen stehen die beiden Filmemacher*innen selbst als Protagonisten einer historisch-politischen Recherche im Zentrum: Ula Tabaris Private Investigation (2002) und Jinga48 sowie Elia Suleimans The Time That Remains, die beide 2009 ins Kino kamen (Kapitel 6). Die Filmanalysen fragen, wie emblematische Ereignisse den Blick auf Palästina- Israel modifizierten: der Sinai-Krieg 1956, der Juni-Krieg 1967, der ‹Schwarze Sep- tember› 1970, das Münchner Attentat 1972, der Oktober-Krieg und die Energie- krise 1973, der Osloer Friedensprozess, das Attentat auf Jitzchak Rabin 1995, die Zweite Intifada und die geopolitischen Veränderungen, die mit der Chiffre ‹9/11› 24 verbunden sind. Darüber hinaus schlagen sich in den Filmen soziale Transformati- onsprozesse seit den 1960er-Jahren nieder: Vom ‹Roten Jahrzehnt› zur neokonser- vativen Hegemonie, vom demokratischen Aufbruch zur illiberalen Post-Demokra- tie, von der Nachkriegsprosperität zum Konjunktureinbruch nach dem ‹Ölschock›, von der Ära der anti-kolonialen Befreiung zum post-kolonialen ‹Empire›. Es geht um die Frage, welche direkten oder indirekten Zusammenhänge zwi- schen den bewegten Filmbildern und den sich im Werden befindenden sozialen Wirklichkeiten bestehen. Palästina-Israel als komplexes, hochmediatisiertes Wahr- nehmungsobjekt par excellence dient als Fallbeispiel, um Verschiebungen im histo- risch-medialen ‹Apriori› seit 1960 darzustellen: Sozio-politische Verschiebungen im Nahen Osten und in den Industriestaaten, innerfilmische Wellen und Trends sowie die Transformation des Medienverbunds von der fordistischen Fernsehgesellschaft zur post-fordistischen Informationsgesellschaft hinterlassen ihre Spuren in der kon- struktiven Arbeit der Filmautor*innen. Jeweils geht es um die Relationen von Insze- nierung, Augenschein und Reflexion in einem sich transformierenden politischen und technologischen Umfeld. Allen Filmen ist ihr medienhistorischer Kontext ein- geschrieben – und der hat sich seit 1960 immer wieder tiefgreifend verändert. 1967 diagnostizierte Guy Debord die «Gesellschaft des Spektakels»,52 nach 1968 «brach das Fernsehen über uns herein»,53 erinnerte sich später Godard. Die Geschichte des Dokumentarfilms, des ‹Third Cinema›, des israelischen und seit etwa 1969 auch des palästinensischen Kinos sowie die Geschichte massenmedialer Repräsentatio- nen des Nahost-Konflikts bilden kontextuelle Felder, an welche die Filmanalysen anschließen. Auch die technologische Entwicklung bleibt den Filmen nicht äußer- lich: 16-mm-Film mit synchronem Ton, analoges und digitales Video eröffnen der essayistischen ‹Caméra-stylo› (Alexandre Astruc) jeweils neue bildpolitische Arti- kulationsmöglichkeiten. Nicht nur das Private, auch das Technische ist politisch. Die hier getroffene Auswahl von Filmen ist nicht repräsentativ, sondern exem- plarisch. Viele andere Filme haben sich in die Geschichte des filmischen Essayis- mus im nahöstlichen Kontext eingeschrieben, Werke von Hany Abu-Assad, Tawfiq Abu-Wael, Chantal Akerman, Kamal Aljafari, Michal Aviad, Nurith Aviv, Moham- med Bakri, Yael Bartana, Irit Batsry, Ruth Beckermann, Alan Berliner, Ursula Bie- mann, Hazim Bitar, Simone Bitton, Yulie Cohen, Dominique Dubosc, Danae Elon, Ari Folman, Amos Gitai, Amit Goren, Johan Grimonprez, Ahmad Habash, Louis Henderson, Mike Hoolboom, Annemarie Jacir, Dan Katzir, Johan van der Keuken, Michel Khleifi, Buthina Canaan Khoury, Claude Lanzmann, Ibtisam Salh Mara’ana, Jumana Manna, Rashid Masharawi, Avi Mograbi, Dorit Na’aman, Otolith Group, 52 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels [1967], Berlin: Tiamat 1996. 53 Albera, François und Jean-Luc Godard: «‹Bestellen wir unseren Garten.› Ein Gespräch mit Jean-Luc Godard von François Albéra, 14. April 1989», in: Ofner, Astrid (Hg.): Jean-Luc Go- dard. Retrospektive der Viennale 1998 in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuse- um, Wien 1998, S. 84–91, hier S. 86. 25 1 Forschungsfeld Visual History Pier Paolo Pasolini, David Perlov, Till Roeskens, Samir, Larissa Sansour, Eyal Sivan, Susan Sontag, Mohamed Soueid, Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, Asher Tla- lim, Mohanad Yaqubi, Kais al-Zubaidi u. a. Angesichts dieser Vielfalt mag der hier versammelte Korpus von Filmen zufällig anmuten. Hoffentlich wird bei der Lek- türe der vorliegenden Analysen eine bestimmte Konsistenz der Auswahl deutlich. 1.2 Zur Methodik der Filmanalysen Für Raymond Bellour beruht Film auf einer «gemischten Materialität» von fünf verbundenen «Ausdrucksmaterien»:54 phonetischen Sprechlauten, schriftlichen Angaben, musikalischen Tönen, Geräuschen und dem bewegten fotografischen Bild. Diese gemischte Materialität begründet eine Vielfalt an bedeutsamen Vorgän- gen, die im Film innerhalb dieser Ausdrucksebenen und zwischen ihnen wirksam sind und dies für jede Betrachter*in in jeder spezifischen Betrachtungssituation auf singuläre und unwiederholbare Weise. Dies macht es Raymond Bellour zufolge unmöglich, in der Filmanalyse nach dem Modell der Textanalyse vorzugehen: «Der Filmtext ist ein unauffindbarer Text, denn er ist nicht zitierbar».55 Deshalb kann der Film auch durch keine andere Vermittlung als durch seine tatsächliche und voll- ständige Projektion wahrgenommen werden. Die Filmanalyse muss sich angesichts dieser Tatsache ganz bestimmter Taktiken bedienen. Raymond Bellour: Die Filmanalyse […] hört nie auf, nachzuahmen, zu evozieren, zu beschreiben; sie kann nur aus einer Art grundsätzlicher Verzweiflung heraus immer wieder versuchen, in wilde Konkurrenz mit dem Gegenstand zu treten, den zu verste- hen sie sich bemüht […]. [Filmanalysen] spielen auf einen abwesenden Gegen- stand an, doch da es darum geht, diesen präsent zu machen, können sie sich niemals die Mittel der Fiktion zugestehen, müssen sich aber ihrer bedienen.56 Auch Winfried Pauleit geht davon aus, dass die Gegenstände, die den Objektbe- reich der Filmwissenschaft bilden, letztlich ungreifbar bleiben. Seine methodi- schen Vorschläge gehen nicht davon aus, dass der Film gegeben ist. Sie versuchen auch nicht, den Film als einen Text zu operationalisieren. […] Film [wird] weder als Text noch als gegebenes Artefakt angenommen, sondern als offenes Diskursfeld entworfen.57 54 Bellour, Raymond: «Der unauffindbare Text», montage/av 1/1999 (Erstveröffentlichung: Ça  / Cinéma 2, 7–8/1975, S. 77–84), S. 8–16, hier S. 13. 55 Ebd., S. 9. 56 Ebd., S. 16. 57 Pauleit, Winfried: «Die Filmanalyse und ihr Gegenstand. Paratextuelle Zugänge zum Film als offenem Diskursfeld», Unveröffentl. Paper zu einem Workshop im Rahmen des Initiativkollegs 26 Die Visual history ist also notgedrungen einem Methodenpluralismus verpflich- tet, einem Set von Taktiken, die die filmanalytische Darstellung dicht an der Spur des Filmes halten. Die Untersuchungen dieses Bandes folgen analytischen Leitmo- tiven, die im Folgenden skizziert werden. Pauleits Konzept vom Film als offenem Diskursfeld entsprechend werden Filme als künstlerische Kraftfelder betrachtet. In dicht montierten ‹Wissenserzählungen› (Julia B. Köhne) wird versucht, die spezifische Konfiguration jener Kräfte in den Blick zu nehmen, die die gegenwär- tige Gestalt eines Films bestimmt haben. Obwohl sich die «bildlich-analoge Mate- rie»58 des «kinematographischen Signifikanten»59 der Sprache letzlich entzieht, kann nicht darauf verzichtet werden, die Filme auch textuell zu lesen. Alles, was in einem Film Sinn macht, seinen Ausdruck informiert und seine Wahrnehmung steuert, kann annäherungsweise in eine textuelle Analyse übersetzt werden. Es zeichnet essayistische Filme aus, dass sie historisch-politische, philosophi- sche und literarische Werke als Intertexte produktiv machen, wodurch auch diese zu zentralen Quellen der Analyse werden. Im vorliegenden Fall sind es z. B. Texte von Franz Kafka, Walter Benjamin und Mahmoud Darwish, auf deren symbo- lisches Reservoir die untersuchten Filme zurückgegriffen haben. Das Zitat als «effektive Präsenz eines Textes in einem anderen»60 bildet die unmittelbarste Form von Intertextualität bzw. Intervisualität und ist eine der effektivsten Strate- gien des Essayfilms. Der Kontext eines Filmes ist im weitesten Sinn die zeit-räumliche, filmische und außerfilmische Umwelt seines Entstehens. Die Analyse des sozio-kulturel- len Kontexts soll den Möglichkeitsraum ausleuchten, in dem ein Film gemacht werden konnte. Die Kontextanalyse gruppiert den Film mit Bezugsfilmen und bezieht das in den Filmen aufgefundene Ausdrucksmaterial auf bestimmte fil- mische Traditionen – die französische, israelische und palästinensische im vor- liegenden Fall. Neben den Filmen selbst wurden, soweit verfügbar, paratextuelle Quellen unterschiedlichster Art verwendet: Produktionsdokumente, Drehbücher, Erinnerungsliteratur, TV-Berichte, Filmkritiken, Plakate, Interviews und Texte der Regisseur*innen sowie vom Autor erstellte Interviews mit Akteur*innen. Ein weiterer Ansatzpunkt der Analyse ist die Ebene der Intervisualität, der «interagierenden und sich durchdringenden Modi der Visualität»,61 die Nicholas ‹Sinne-Technik-Inszenierung: Medien und Wahrnehmung›, Universität Wien / TFM 5.12.2008, S. 20. 58 Bellour, Raymond: «Die Analyse in Flammen (Ist die Filmanalyse am Ende?)», montage/av 1/1999, S. 18–23, hier S. 18. 59 Ebd. 60 Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 10. 61 Mirzoeff, Nicholas: «Die multiple Sicht. Diaspora und visuelle Kultur», in: Baleva, Marti na (Hg.): Image match. Visueller Transfer, ‹Imagescapes› und Intervisualität in globalen Bild kult uren, München: Fink 2012, S. 27–44, hier S. 37. 27 1 Forschungsfeld Visual History Mirzoeff für die Analyse der visuellen Kultur erschlossen hat. Intervisuelle Ver- weise und Zitate leben davon, dass Bilder und Töne prinzipiell offen sind für Remake, Reenactment, Remix und Reflexion  – allesamt Strategien des essayis- tischen Films. Durch solche Bezugnahmen entsteht ein historischer Resonanz- raum, der für die filmische Bedeutungsproduktion und für die Filmanalyse ergie- big ist. Alle analysierten Werke kommunizieren mit dem visuellen Archiv, spielen mit fotografischen, filmischen, populärkulturellen Bildern, die sie befragen, kriti- sieren, modifizieren, neu rahmen und montieren. Essayfilme können im Ext rem- fall zu audiovisuellen Metatexten werden, die ohne ihren bildlichen ‹Primär- text› undenkbar wären – etwa Dan Gevas Description of a Memory, der ganz aus einem intervisuellen Dialog mit Chris Markers Israel-Film besteht. Der Dia- log mit sprachlichen und visuellen Intertexten62 eröffnet essayistischen Filmen Zugänge zu Wirklichem, die sonst verschlossen blieben. Kontextanalysen laufen jedoch Gefahr, eine «Filmgeschichte ohne Film»63 zu betreiben oder sich im ufer- losen Projekt einer ‹Histoire totale›64 zu verlaufen. Historiker*innen müssen des- halb Konzepte und Methoden aus der Filmwissenschaft entlehnen, um den Film als Film zu beschreiben und nicht bloß als Illustration des historischen Prozesses. Von «diesen filmischen Mitteln», so Günter Riederer, «weiß die Geschichtswis- senschaft wenig.»65 Jede Erfahrung ist einer unendlichen Kontingenz ausgesetzt, sodass das Sub- jekt in der entropischen Mannigfaltigkeit der Eindrücke unterzugehen droht. Die Gegenwart der Erfahrung ist immer schon temporal verschoben in Richtung einer erinnerten Vergangenheit und einer erwarteten Zukunft. Im Bezug auf den Anderen wird sie multiperspektivisch und intersubjekiv aufgefächert. Die Fabel der Erzählung strukturiert diese Kontingenzen. Die narrativen Schemata heben Singularitäten heraus, verknüpfen sie und bringen sie in eine zeitliche Ordnung, z. B. im Narrativ vom eschatologischen ‹Dreisprung› aus Weltschöpfung, Welt- geschichte und Weltgericht. Vielleicht beruht jede Narration auf dem poetischen Prinzip, das Aristoteles beim Hesiod’schen und Homerischen Mythos am Werk sah, einem «Zusammensetzen der Geschehnisse».66 Aristoteles weiterdenkend 62 Siehe Genette: Palimpseste; weiters Shohat: Israeli cinema, S. 7 ff. 63 Riederer: «Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Bezie- hung», S. 105. 64 Marc Blochs Idee einer ‹Histoire totale› zielte darauf ab, alle Ebenen menschlichen Handelns in die historiografische Darstellung einzubeziehen; siehe Dosse: L’ histoire en miettes. 65 Riederer: «Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Be- ziehung», S. 105. 66 Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam 2005, Abs. 1450a; vgl. Saupe, Achim und Felix Wiedemann: «Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft, Version: 1.0», http:// docupedia.de/zg/Narration?oldid=106456 (zugegriffen am 4.1.2016); weiters Mattl, Siegfried: «Möglichkeiten und Grenzen der Visual History», Mitschrift eines Vortrags am Initiativkolleg ‹Sinne-Technik-Inszenierung: Medien und Wahrnehmung›, Universität Wien / TFM, 12.1.2010. 28 formulierte Paul Ricœur, dass jede Fabel, jede Erzählung eine «Synthesis des Heterogenen»67 vollbringe. Ohne narrative Unterkonstruktion würde jeder ‹Wirklichkeit› ihre vertraute Konsistenz fehlen.68 Auch die Rede vom ‹Nahostkonflikt› stellt ein narratives Schema dar, das israe- lisch-palästinensische Wirklichkeiten strukturiert und Singularitäten, die sich in dieses Schema nicht fügen, ausscheidet.69 Durch die Tropen von Kampf, Sieg, Niederlage, Ursprung, Gründung, Verrat, Opfer, Heimat, Flucht, Exil, Rückkehr, Friede und Erlösung wirken mythisch-religiöse Erzählmuster in die Beschrei- bung aktueller Problemlagen hinein. Die hier analysierten Filme arbeiten sich an kollektiven Master-Narrativen ab und zielen auf ein «narrative[s] Überschreiten der normativen Zusammenhänge».70 Um Neues, Unzeitgemäßes, Utopisches zu artikulieren, verletzen sie Regeln, subvertieren sie den dominanten Möglichkeits- raum durch ästhetische Abweichungen, Brüche und Erfindungen. Das Ende der «großen Erzählungen»71 des Kommunismus und des zionistischen, aber auch des palästinensischen Nationalismus hinterließ deutliche Spuren in den untersuch- ten Filmen. Umberto Eco hat darauf hingewiesen, dass offene Kunstwerke – und alle Bei- spiele des essayistischen Kinos sind als solche anzusprechen – Strukturen seien, die «als epistemologische Metaphern erscheinen, als strukturelle Entscheidun- gen eines diffusen theoretischen Bewusstseins […].»72 Mit Eco werden die Werke als exemplarische Realisierungen impliziter Theorie betrachtet, als Ergebnisse aktiver Erkenntnisprozesse im Modus der «ewigen und ubiquitären virtuel- len Gegenwart»73 (Susanne K. Langer) des Films. Das Kino ist keine Bühne der Repräsentation, sondern ein präsentiver philosophischer ‹Apparat›, der durch 67 Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band 1: Zeit und historische Erzählung, München: Fink 2007, S. 106. 68 Siehe Bruner, Jerome: «The Narrative Construction of Reality», Critical Inquiry 18/1/1991, S. 1–21. 69 Auch in der Forschung zu Palästina-Israel fand der Narrative turn statt, siehe Bar-Tal, Daniel, Neta Oren und Rafi Nets-Zehngut: «Sociopsychological analysis of conflict-supporting narra- tives: A general framework», Journal of Peace Research 51/5 (2014), S. 662–675; Downey, An- thony (Hg.): Dissonant Archives: Contemporary Visual Culture and Contested Narratives in the Middle East, London: I. B. Tauris 2015; Matar, Dina (Hg.): Narrating conflict in the Middle East. Discourse, image and communication practices in Lebanon and Palestine, London: Tauris 2012; sowie Rotberg, Robert I. (Hg.): Israeli and Palestinian narratives of conflict. History’s double helix, Bloomington: Indiana University Press 2006. 70 Mattl: «Möglichkeiten und Grenzen der Visual History». 71 Vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen: ein Bericht, Bremen: Verlag Impuls & Association 1982, S. 60 ff.; Lyotard, Jean-François: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jah- ren 1982–1985, Wien: Passagen 2009, S. 32 ff. 72 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk [1962], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 160. 73 Langer, Susanne K.: Feeling and form; a theory of art developed from philosophy in a new key, London / New York: Routledge & Kegan 1953, S. 415 (Übers. d. Autors). 29 1 Forschungsfeld Visual History Bilder hindurch Begriffe und Kategorien umarbeiten und neu bilden kann.74 Von Fall zu Fall werden in den vorliegenden Filmanalysen auch philosophisch-äs- thetische Bezüge stark gemacht – nicht als systematische Basistheorien, sondern als konzeptuelle Werkzeuge mittlerer Reichweite, die möglichst eng der filmim- manenten Logik folgend als Katalysatoren in die Interpretationen eingebracht werden. Filme werden weniger als Abbilder, denn als konstruktive Akte begriffen, als Handlungen im Symbolischen. Jeder ‹Filmakt›75 impliziert als eine Praxis des Sehens auch eine spezifische Politik. Die filmische Praxis spannt ein soziales Feld auf, in dem es mit W. J. T. Mitchell um die «Konstruktion von Subjektivität, Iden- tität, Begehren, Gedächtnis und Einbildungskraft»76 geht. Sie ist immer auf eine allgemeine Politik der (Un)Sichtbarkeit bezogen, auf die Idee eines Rechts am eigenen Bild auf eine neue «Aufteilung des Sinnlichen»77 (Jacques Rancière). Alle Beteiligten interagieren im Bildraum des filmischen Feldes. Die pragmati- sche Analyse versucht, die unterschiedlichen Arten und Funktionen des Filmak- tes als spezifische soziale Gebrauchsweisen der Kinematografie zu beschreiben.78 Der Nahostkonflikt ist den Zuschauer*innen Projektionsfläche, genauso wie sich die Inszenierungen des israelischen und palästinensischen Nation Building auch an den Blick von Dritten wenden. Zentral wird deswegen die Figur des Zuschau- ers  / der Zuschauerin gestellt.79 Bereits in Kants Analyse der an Enthusiasmus grenzenden Gemütsbewegung von unbeteiligten Beobachter*innen der franzö- sischen Revolution waren diese aus dem Zwielicht des Auditoriums ins Ram- penlicht des geschichtsphilosophischen Nachdenkens gerückt.80 Hannah Arendt schloss an diese Denkfigur an: 74 Siehe Carel, Havi (Hg.): New takes in film-philosophy, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011; in globaler Perspektive Martin-Jones, David: «Introduction: Film-Philosophy and a World of Ci- nemas», Film-Philosophy 20/1 (2016), S. 6–23. 75 Siehe Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts, Frankfurt: Suhrkamp 2010. 76 Mitchell, W. J. T.: «Interdisziplinarität und visuelle Kulturen», in: Wolf, Herta (Hg.): Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band 2: Diskurse der Fotografie, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 2003, S. 38–52, hier S. 49. 77 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2006. 78 Siehe Bourdieu, Pierre: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006. 79 Siehe Mayne, Judith: Cinema and spectatorship, London u. a.: Routledge 1993; weiters Blumen- berg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986; Boltanski, Luc: La souffrance à distance. Morale humanitaire, médias et poli- tique, suivi de La présence des absents, Paris: Gallimard 2007; Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a. M./New York: Campus 2010; sowie Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2015. 80 Vgl. Kant, Immanuel: «Der Streit der Fakultäten» [1798], in: ds.: Schriften zur Anthropolo- gie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Band 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, 30 Kant ist überzeugt, daß die Welt ohne den Menschen eine Wüste wäre, und ohne den Menschen heißt für ihn: ohne Zuschauer.81 Der vorliegenden Arbeit geht es um die Position der Filmemacher*innen im ‹Hier› und ‹Anderswo›. Sie sind aktive Zuschauer*innen, deren unterschiedli- che Position bestimmte Effekte und Differenzen zeitigt: In Frankreich etwa ist die Wahrnehmung Palästina-Israels durch das Modell des Algerienkriegs präfor- miert. Das Auftauchen der ‹Cause palestinienne›, der ‹palästinensischen Sache›, erfolgte vor dem Hintergrund einer starken Präsenz von Bevölkerungsgruppen mit jüdischen und arabischen Wurzeln, die jedes Sprechen über das Nahostpro- blem überdeterminiert.82 Eine eigene Untersuchung würde die Frage verdienen, weshalb sich in Österreich und Deutschland, den Nachfolgestaaten des National- sozialismus, nur wenige filmische Bearbeitungen des israelisch-palästinensischen Zusammenhangs finden.83 Eine Besonderheit stellt die transnationale Verortung vieler israelischer und palästinensischer Filmer*innen in der Diaspora bzw. im Exil dar. Weiters von Bedeutung sind die produktiven Umwege, über die künstle- rische Aneignungsprozesse stattfinden, wie etwa der dekonstruktiven Strategien Godards im neuen palästinensischen Kino. Die Analysen setzen, soweit die Quellenlage dies ermöglicht, den fertigen Film in ein Spannungsverhältnis zu seiner Entstehungsgeschichte. Mit Godard verste- hen wir das Kino als «das zufällig Endgültige»84 und versuchen hinter dem opa- S. 265–393; siehe Lyotard, Jean-François: Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte [1988], 2. überarb. Aufl., Wien: Passagen 2009. 81 Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. v. Ronald Beiner, München u. a.: Piper 1998, S. 184. Zu Arendts Kant-Lektüre siehe Bilsky, Leora Y.: «When Actor and Spectator Meet in the Courtroom: Reflections on Hannah Arendt’s Concept of Judgment», History and Memory 8/2/1996, S. 137–173. 82 Siehe Sieffert, Denis: Israël Palestine, une passion française. La France dans le miroir du conflit israélo-palestinien, Paris: Découverte 2004; Bourdon, Jérôme: Le récit impossible. Le conflit israélo-palestinien et les médias, Bruxelles: De Boeck  / INA 2009; sowie Debrauwere-Miller, Nathal ie (Hg.): Israeli-Palestinian conflict in the Francophone world, New York: Routledge 2010. 83 Unterschiedliche Ansätze zur Beantwortung dieser Frage finden sich in Stern, Frank: Im An- fang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen: Bleicher 1991; Reiter, Margit: Unter Antisemitismus-Verdacht. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah, Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 2001; Jäger, Siegfried und Mar- garete Jäger: Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus, Münster: Lit 2003; Beckermann, Ruth: Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945, Wien: Löcker 2005; Bunzl, John: «Spiegelbilder – Wahrnehmung und Interesse im Israel-Palästina-Konflikt», in: ds.: Zwi- schen Antisemitismus und Islamophobie: Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost, Hamburg: VSA 2008, S.  127–144; Ullrich, Peter: Die Linke, Israel und Palästina: Nahostdis- kurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin: Dietz 2008; Brecher, Daniel Cil: Der David. Der Westen und sein Traum von Israel, Köln: PapyRossa 2011; sowie Ebbrecht-Hartmann, To- bias: Übergänge: Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte, Berlin: Neofelis 2014. 84 Zit. nach Bergala, Alain: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo, Marburg: Schüren 2006, S. 106. 31 1 Forschungsfeld Visual History ken Produkt jene künstlerischen Prozesse nachzuzeichnen, die in der Endfassung nicht mehr sichtbar sind. Die Konstruktion des Films soll also so weit wie mög- lich durch die Rekonstruktion seiner Produktionsgenealogie dekonstruiert wer- den. Denn jeder Film ist die Antwort auf zahllose Fragen, die sich während der Konzeption, des Drehs und der Montage konkret und unabweisbar gestellt haben. Alain Bergala hat diese Herangehensweise als «Schaffensanalyse»85 bezeichnet. André Bazin zufolge ist der Film die «Mumie der Veränderung»:86 Tatsächlich gestaltet er als einzige Kunstform Veränderung, Kontingenz, Singularität und Werden – er erfasst die Welt mit Heraklits Augen. Als der Journalist Henri de Parville L’arroseur arrosé und andere Filme der Gebrüder Lumière zu sehen bekam, faszinierten ihn Details wie «aufsteigende Rauchwirbel, Meereswellen, die sich schäumend am Strande brechen, das Zittern der Blätter im Wind»87 mehr als die eigentliche Filmhandlung. Siegfried Kracauer bezog sich auf diese Faszi- nation, um das Kino insgesamt zu charakterisieren. Die Kamera erfasse die phy- sische Realität «sozusagen im Flug», das Kino scheine vom Wunsch beseelt, vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten, Leben in seiner vergänglichsten Form, Straßenmengen, unbeabsichtigte Gebärden und andere flüchtige Eindrücke sind seine Hauptnahrung.88 Das Kino, so Kracauer, könne in diesem Bezug zum Ephemersten für die Erret- tung der äußeren Wirklichkeit sorgen, deren Verschwinden durch Verwissen- schaftlichung und Technisierung drohe. Jacques Rancière argumentierte, dass die von Kracauer beschriebene materielle Spezifität des Films, diesen im Unterschied zu allen anderen Künsten an eine ganz bestimmte Idee von Geschichte binde: Es ist die Idee einer Technik, die nicht nur Technik ist, sondern ein spezifi- scher Modus der Anschauung, der Modus einer Materie, die der Festkörper- lichkeit und der Instrumentalität der Dinge entrungen und für die mensch- liche Gemeinschaft bewohnbar gemacht worden ist. In diesem ‹Mysterium› definiert sich eine gewisse Geschichtlichkeit des Menschen, die der Film nicht nur aufzeichnet, sondern die er mit seinem technischen und künstleri- schen Dispositiv erst hervorbringt.89 85 Ebd., S. 95. 86 Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander 2004, S. 39. 87 Parville, Henri de: «Le Cinématographe», Annales politiques et littéraires 1896, S. 269–270, hier S. 270, zit. nach Köhler, Kristina: Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz, Marburg: Schüren 2017, S. 151. 88 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964, S. 11. 89 Rancière, Jacques: «Die Geschichtlichkeit des Films», in: Hohenberger, Eva (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Texte zum Dokumentarfilm, 32 1.2 Zur Methodik der Filmanalysen Rancière zufolge steht der narrative Kern der Fabel immer im Bezug zu einer Erin- nerung und zur Sorge um eine gemeinsame Zukunft.90 Filmische Quellen spei- chern keinen unveränderlichen Sinn, sondern sind geschichtlich, indem sich im Wandel des hermeneutischen Deutungskontexts ihre Bedeutung ändern kann. Darauf beruht das bewegte ‹Leben› der Kunstwerke im Geschichtsprozess. Die Analyse versucht konkret nachzeichnen, wie deren Geschichtlichkeit nie endet, sondern in neuen zeit-räumlichen Konstellationen, in neuen Aufführungen einen anderen Sinn begründen kann. Die folgenden Untersuchungen widmen sich sogenannten Essayfilmen, also Filmen, die zu der durch die Kamera aufgezeichneten Wirklichkeit eine inter- pretierende und kommentierende Haltung einnehmen. Denn im filmischen Feld kann jeder Aspekt, jede Position oder Relation selbst Gegenstand eines filmischen Akts werden: sehen sehen, filmen filmen, beobachten beobachten, etc. In solchen Reflexionen entsteht ein Blick zweiter Ordnung, der Filme zu essayistischen Fil- men und das Kino zu einem Modus des Denkens werden lässt. Band 9, Berlin: Vorwerk 8 2003, S. 230–246, hier S. 230, 231; siehe weiters Robnik, Drehli (Hg.): Das Streit-Bild: Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien u. a.: Turia + Kant 2010. 90 Vgl. Rancière: «Die Geschichtlichkeit des Films», S. 232 f. 33 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar. – Paul Klee, Schöpferische Konfession (1920)1 Bald nach der Lumière’schen Erfindung tauchte die Idee auf, das Kino könne als ein Modus des Denkens fungieren, als eine Maschinerie, die Träume, Ideen, Gedanken und Gefühle darstellen und verändern könne. Der kuriose Kinematograph war bald dazu benutzt worden, dramatische Handlungen, aber auch mentale Zustände zu bebildern. Jenseits der klassischen Trennungen zwischen Anschauung und Ima- gination, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft verwickelt der Film transversal alle Kategorien ineinander. Dadurch konnte er zur weltumspannenden Traumfabrik werden und blieb keineswegs jene ‹Jahrmarktsgeschichte›, als die Louis Lumière in einem Brief an seinen späteren Kameramann Félix Mesguich ihn darstellte: Sie wissen, Mesguich, was wir Ihnen anbieten, ist keine Sache mit Zukunft, es ist mehr eine Jahrmarktsgeschichte. Das kann sechs Monate dauern, ein Jahr, vielleicht mehr, vielleicht weniger.2 «Une pensée qui forme / une forme qui pense».3 Dass das Kino «eine Form» sei, «die denkt» und gleichzeitig «ein Denken, das formt», ist ein Leitmotiv, das Jean- Luc Godard den Histoire(s) du cinéma, seiner filmischen Meditation über hun- 1 Klee, Paul: «Schöpferische Konfession», Tribüne der Kunst und Zeit 13, hg. v. Kasimir Ed- schmid, Berlin: Erich Reiß 1920, S. 28–40, hier S. 28. 2 Mesguich, Félix: Tours de manivelle, souvenirs d’un Chasseur d’images, Paris: B. Grasset 1933, S. 3 (Übers. d. Autors). 3 Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma, 3A: ‹Le monnaie de l’absolu› (TC 00:26:04 – 00:26:20). 35 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken dert Jahre Kinogeschichte zugrunde legte. Inwiefern kann man aber von einem Denken in Bildern, ja einem Denken der Bilder sprechen? Inwiefern ist das Bild eine Denkfigur? Diese Fragen stellten sich nach 1945 neu angesichts einer filmischen Form, die zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm persönliche Reflexion und Nachdenk- lichkeit ins Zentrum der filmischen Narration stellte. Als Reaktion auf den pro- pagandistischen Missbrauch des Kinos während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Forderung nach dokumentarischer Authentizi- tät zunehmend durchgesetzt, was zu einer immer stärkeren Trennung von doku- mentarischem und fiktionalem Film führte. Diese kategorische Grenzziehung ließ jedoch eine wachsenden Gruppe von Filmen entstehen, die weder dem einen noch dem anderen Bereich klar zugeordnet werden konnten. Beispielhaft seien einige dieser heute kanonischen Filme genannt: Nuit et brouillard (1955) und Toute la mémoire du monde (1956) von Alain Resnais, La rabbia (1963) von Pier Paolo Pasolini, Chris Markers Sans soleil (1983) – der bis heute funkelndste Film im essayistischen Feld –, Wie man sieht (1986) von Harun Farocki, Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma (1988–98). Der Begriff ‹Essayfilm› setzte sich in der Filmwissenschaft jedoch erst in den frühen 1990er-Jahren durch, um diese unklassifizierbaren Filme in einem heterogenen Korpus zusammenzufassen. Jedes essayistische Experiment ist durch Heterodoxie, Transgression und Regel- bruch gekennzeichnet, der Essayfilm kann deshalb kaum als Genre gefasst werden. Hartnäckig entzieht er sich der Definition, er ist ein Mischwesen, ein Zentaur,4 die rhizomatische Form des Kinos.5 Anstelle einer Gattungsdefinition ist der filmische Essayismus heuristisch durch eine Anzahl von typischen Merkmalen und Strate- gien zu fassen: • Zunächst sind essayistische Filme offensiv subjektiv. Die bewusste Subjektivi- tät vieler Essayfilme springt ins Auge: Off-Kommentar, Rede in der ersten Per- son, Selbstreferenzialität, direkte Adressierung des Publikums und dialogische Briefform verleihen der Autor*innenschaft eine Stimme, die im klassischen Dokumentarfilm zugunsten größerer Objektivität ausgeschlossen ist. Die Prä- senz des Autors / der Autorin ist anerkannt, seine / ihre Selbstreflexivität ist lei- tendes Konstruktionsprinzip der filmischen Erzählung, deren roter Faden mit Vorliebe entlang einer obsessiven, persönlichen Investigation gesponnen wird. • Essayistische Filme sind kritisch – und zwar nicht nur gegenüber ihrem Sujet und dessen Repräsentationen, sondern auch gegenüber sich selbst. Radikale 4 Lopate, Phillip: «In Search of the Centaur: The Essay-Film», The Threepenny Review 48/1992, S. 19–22. 5 Siehe Gorin, Jean-Pierre: «Proposal for a Tussle», in: Ofner, Astrid und Jean-Pierre Gorin (Hg.): Der Weg der Termiten. Beispiele eines essayistischen Kinos 1909–2004, Marburg: Schüren 2007, S. 9–14, hier S. 10; Rascaroli, Laura: «The Essay Film: Problems, Definitions, Textual Commit- ments», Framework: The Journal of Cinema and Media 49/2/2008, S. 24–47, hier S. 31–34. 36 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Medien- und Ideologiekritik liegt dem mäandernden Diskurs vieler filmischer Essays zugrunde. Diese wird aber auch zur Selbstkritik und zum Movens der filmischen Entwicklung. Das lateinische ‹exagium› meinte zunächst ‹Wiegen›, ‹Test›, ‹Versuch›. Von dieser Tradition ausgehend hieß ‹essai› bei Montaigne dann skeptische Evaluierung. Zweifel, Kontemplation und (Selbst-)Ironie sind leitende intellektuelle Tugenden des essayistischen Films. • Essayistische Filme sind offen. Sie spielen mit der Un-Einheit von Zeit, Raum, Tonfall, Material und Stil. Ihre Themenentwicklung verläuft modular, frag- mentarisch, episodisch, anekdotisch, induktiv, prozesshaft, rekursiv, spiele- risch, assoziativ, rhizomatisch. Filmische Essays sind deswegen der Ästhetik der Romantik verbunden. Jeder einzelne essayistische Film verwirklicht auf singuläre Weise Umberto Ecos Idee des offenen Kunstwerks. • Essayistische Filme sind anti-realistisch. Essayfilme zeigen keine Wirklich- keit, sondern zeigen die Produziertheit von Wirklichkeit. Die Immersion der Zuschauer*innen wird in jedem Fall von der gefilmten Wirklichkeit auf die Wirklichkeit des/der Filmenden gelenkt. Statt die Wirklichkeit zu beobachten, wird die Beobachtung beobachtet. Gegen die Realitätseffekte des Kinos bringen essayistische Filme ein ganzes Arsenal von Entauthentifizierungsstrategien in Stellung. So werden meist Bild- und Tonspur entkoppelt, um zwischen den sinn- lichen Kanälen offene, nicht-hierarchische Beziehungen und neue Bedeutungen zu generieren. • Essayistische Filme sind konstruktivistisch. Wenn man sagen kann, dass sich in jedem Film eine implizite Philosophie auffinden lässt, so sind Essayfilme die Konstruktivisten des Kinos. Sie zweifeln an der eindeutigen ontologischen Unterscheidbarkeit von Fakt und Fiktion. Denn wie Fiktionen sind Fakten immer hergestellte Fakten, die an sich die Spuren eines Kampfes um Reprä- sentation und Definitionsmacht tragen. Zwischen Dokument und Fiktion sind essayistische Filme auf der Suche nach einem schöpferischen audiovisuellen Denken. • Essayistische Filme sind hybrid. Sie sind audiovisuelle Container, in denen sich die Grenzen zwischen narrativen Genres verunschärfen. Sie beziehen sich auf ein kleines Territorium, können dieses aber nach Belieben erweitern und wech- seln. Das wilde Denken des Essays kann jederzeit unerwartete Verbindungen zu Fiktionen und Dokumenten und anderen Essays schlagen. Essays räubern im gesamten kulturellen Gedächtnis und können umstandslos disparate Me- dieninhalte inkorporieren (Text-Zitate, Found footage, Landkarten, Passfotos, Denkmäler, Computerspiele, technische Konstruktionszeichnungen, Zeitzeu- geninterview, Stummfilme, YouTube-Videos etc.). Sie wildern aus Prinzip in allen Archiven und komponieren ihren Text aus der präzis-assoziativen An- verwandlung potenziell beliebiger Inter- und Kontexte. Als idiosynkratische audiovisuelle Netzwerke bilden sie ein lebendiges Gedächtnis nach. 37 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken • Essayistische Filme sind minoritär. Sie meiden das Große und Bedeutende und gehen meist von Sujets am Rande aus. Im scheinbar Banalen, Alltäglichen, Kleinen, Unbedeutenden finden sie neue Materialien, von denen die Reflexion ihren Ausgang nimmt. Sie meiden die großen geschichtlichen Stunden und das Spektakel der öffentlichen Selbstinszenierungen. Filmische Essays werden aus minoritärer Position entworfen, als Stimmen von Minderheiten, oft genug als Stimmen von Minderheiten innerhalb von Minderheiten. Auf diese Weise sind essayistische Filme immer politisch. Wenn man sagen kann, dass sich in jedem beliebigen Film eine ganz bestimmte implizite Politik auffinden lässt, so sind essayistische Filme die Radikaldemokraten des Kinos. 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays Das Kapital filmen: Kinoglaz, intellektuelle Montage, Filmessay Einige mittlerweile klassische Poetiken des Filmessays schreiben die Tradition der Erforschung des literarischen Essayismus von Montaignes Selbstbefragun- gen hin zu Bertolt Brechts epischem Theater fort. Aus der literarischen Tradition ergaben sich fruchtbare Transfers ins filmische Feld, die in der Forschung zum Essayfilm bis heute produktiv gemacht werden. Eine erste begriffliche Fassung des Essayfilms reagierte in der Zwischenkriegszeit auf die Unzulänglichkeit der dokumentarischen Mittel angesichts einer hochtechnisierten, verwalteten Indus- triegesellschaft. Unabhängig voneinander fragten sich Sergej Eisenstein, Bertolt Brecht und Hans Richter, wie das Kapital darzustellen bzw. zu filmen sei. Am Beginn stand ein künstlerisches Krisenbewusstsein, das Brecht 1931 – zwei Jahre nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise – auf den Punkt gebracht hat: Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‹Wiedergabe der Realität› etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‹etwas aufzubauen›, etwas ‹Künstliches›, etwas ‹Gestelltes›.6 In seiner eigenen literarischen Produktion hatte Brecht auf die Krise des Abbild- Rea lismus und der mimetischen Repräsentation durch die Strategie der Verfrem- dung und des epischen Theaters geantwortet. In der Kinematografie – der Tech- 6 Brecht, Bertolt: «Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment» [1931], in: ds.: Brechts Dreigroschenbuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960, S. 81–121, hier S. 93 f. 38 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays nologie zur Abbildung des Sichtbaren schlechthin  – führte diese Kritik an der Möglichkeit einer einfachen «Wiedergabe der Realität» zu unterschiedlichen pro- grammatischen Auswegen. Zuerst in der Sowjetunion: Dziga Vertov – Der Mann mit der Kamera  – wollte in einer bolschewistischen Version des Futurismus bürgerliche Wirklichkeitskonstruktionen durch die Befreiung der post-humanis- tischen Potenziale des maschinellen ‹Kinoglaz›, des ‹Kino-Auges›, zertrümmern. Eine Maschine, die entfesselte Kamera, wurde zum eigentlichen Akteur des Kinos: [B]efreit von zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen, stelle ich beliebige Punkte des Universums gegenüber, unabhängig davon, wo ich sie aufgenom- men habe. Dies ist mein Weg zur Schaffung einer neuen Wahrnehmung der Welt. So dechiffriere ich aufs neue die euch unbekannte Welt.7 Dagegen suchte Sergej Eisenstein die Spannweite seines Kinos durch die Ent- wicklung einer ‹intellektuellen Montage› so zu erweitern, dass sie zur Darstellung von Abstracta tauglich würde. Forderte Vertov die «kommunistische Dechiffrie- rung des Sichtbaren»8 vermittels der entfesselten Kamera, proklamierte Eisen- stein einen «intellektuellen Film».9 Die Zukunft liege «beim Nicht-Spielfilm, beim Film jenseits von Spiel- und Dokumentarfilm».10 Er wünschte sich ein Kino, dem es «ohne Vermittlung von Sujet, Fabel, handelnden Personen, Schauspielern usw. usf.»11 möglich sei, «abstrakte Begriffe, logisch formulierte Thesen, intellektuelle und nicht nur emotionale Erscheinungen unmittelbar zu verfilmen.»12 (Abb. 1) Er projektierte ein «‹Magnitogorsk› der Kinematographie»,13 einen «Film über die Methode der Dialektik»,14 eine Übersetzung der Marx’schen Beschreibung des abstrakten Kapitalverhältnisses in Filmbilder. In seinen Notaten zur Verfilmung des Marxschen ‹Kapital› beschreibt er seinen Film Oktober als Vorstufe zu die- sem Projekt: 7 Vertov, Dziga: «Kinoki – Umsturz» [1923], in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1979, S. 24–38, hier S. 34. 8 Vertov, Dziga: Schriften zum Film, hg. v. Wolfgang Beilenhoff, München: Hanser 1973, S. 112. 9 Eisenstein, Sergej M.: «Die Geburt des intellektuellen Films» [ca. 1945], in: ds.: Schriften 3  – Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ‹Kapital›, hg. v. Hans-Joachim Schlegel, München: Hanser 1975, S. 169–178, hier S. 169; siehe Grabher, Peter: «Eisensteins sexuelle Poli- tiken», in: Wieder, Christina u. a. (Hg.): Sexualität und Widerstand: internationale Filmkultu- ren, Wien: Mandelbaum 2018, S. 122–148. 10 Eisenstein, Sergej M.: «Unser Oktober» [1928], in: ds.: Schriften 3 – Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ‹Kapital›, S. 182–186, hier S. 182. 11 Eisenstein: «Die Geburt des intellektuellen Films» [ca. 1945], S. 175. 12 Ebd. 13 Eisenstein, Sergej M.: «Die marxistisch-leninistische Methode im Film» [1932], in: ds.: Schrif- ten 3 – Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ‹Kapital›, S. 248–259, hier S. 254. 14 Ebd. 39 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Im Film erscheint […] mit OKTOBER eine neue Filmform  – ein ‹Es say›- Band aus einer Reihe von Themen, die die Oktober[revolution] ausma- chen.15 Im Originaltext verwendete Eisen- stein an dieser Stelle den englischen Ausdruck ‹Essays›. Er hoffte, die neue Filmform würde dazu in der Lage sein, 1 Eisenstein zielte bei der Montage von Oktober auf ein Denken in Bildern; Screenshot aus die marxistische Dialektik ins Kino Nachrichten aus der ideologischen Antike von zu übertragen, wie er es 1928 in sei- Alexander Kluge (DVD 1, TC 01:56:13) nem programmatischen Text Drama- turgie der Film-Form (Der dialektische Zugang zur Film-Form) gefordert hatte. Die Kunst müsse die Dinge analog zur dynamischen Betrachtungsweise dieser Philosophie in den Blick nehmen: Bestehen als ständiges Entstehen aus der Rückwirkung zweier konträrer Widersprüche. Synthese, die im Widerspruch von These und Antithese ent- steht. […] Im Gebiete der Kunst verkörpert sich dieses dialektische Prinzip der Dynamik im KONFLIKT als dem wesentlichen Grundprinzip des Beste- hens eines jeden Kunstwerks und jeder Kunstgattung. DENN KUNST IST IMMER KONFLIKT: 1. ihrer sozialen Mission nach, 2. ihrem Wesen nach, 3. ihrer Methodik nach.16 Ein ausgearbeitetes Programm des ‹Filmessays› wurde allerdings zuerst außer- halb der Sowjetunion formuliert: Der frühere Dadaist Hans Richter formu - lierte in einem Text für die Basler Nationalzeitung 1940 sein Unbehagen am herkömmlichen Dokumentarfilm: «Der Filmessay. Eine neue Form des Doku- mentarfilms».17 Dessen Aufgabe sei es nicht, wie eine Ansichtskarte «schöne Ansichte[n]»18 der Welt zu bieten, sondern «Gedanken auf der Leinwand zu for- 15 Eisenstein, Sergej M.: «Notate zur Verfilmung des Marxschen ‹Kapital›», in: ds.: Schriften 3  – Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ‹Kapital›, S. 289–311, hier S. 290; siehe Fih- man, Guy: «L’essai cinématographique et ses transformations expérimentales», in: Liandrat- Guigues, Suzanne und Murielle Gagnebin (Hg.): L’essai et le cinéma, L’or d’Atalante, Seyssel: Champ Vallon 2004, S. 41–48, hier S. 41. 16 Eisenstein, Sergej M.: «Dramaturgie der Filmform» [1929], in: ds.: Schriften 3 – Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ‹Kapital›, München: Hanser 1975, S. 200–225, hier S. 201. 17 Richter, Hans: «Der Filmessay. Eine neue Form des Dokumentarfilms» [1940], in: Blümlinger, Christa und Wulff Constantin (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl 1992, S. 179–192. 18 Ebd., S. 195 f. 40 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays men».19 Wie bei Brecht war es für Richter die Undarstellbarkeit kapitalistischer Verwertungsprozesse im modernen Börsenkapitalismus, die zu einer Krise der filmischen Repräsentation geführt hätte:20 Schon bei einer Aufgabenstellung wie ‹Die Funktion der Börse ist die eines Marktes› reicht die genaue Wiedergabe in chronologischer Folge aller noch so gut beobachteten Etappen eines Börsengeschäftes nicht mehr aus. […] Mit anderen Worten man kann sich nicht wie beim einfachen Dokumentarfilm mehr darauf verlassen, das darzustellende Objekt einfach abzuphotographie- ren, sondern man muß, mit welchen Mitteln es auch sei, versuchen, die Idee der Sache wiederzugeben.21 Die Kamera könne zwar die sozialen Folgen eines Börsencrashs zeigen, nicht jedoch seine strukturellen Ursachen. Die spezifische Unsichtbarkeit der kapita- listischen Gegenwart erzwinge neue filmische Strategien der Sichtbarmachung: Auf diese Weise wird dem Dokumentarfilm die Aufgabe gestellt, gedankliche Vorstellungen zu veranschaulichen. Auch was an sich nicht sichtbar ist, muß sichtbar gemacht werden. Die gespielte Szene wie die einfach abgebildete Tatsache sind Argumente in einer Beweisführung, die zum Ziele hat, Prob- leme, Gedanken, selbst Ideen allgemein verständlich zu machen. Aus diesem Grund halte ich die Bezeichnung Essay für diese Form des Films zutreffend, denn auch in der Literatur bedeutet ja ‹Essay› die Behandlung schwieriger Themen in allgemein verständlicher Form.22 Richter zufolge könne sich dieser neue Essayfilm zur Erfüllung seiner Aufgaben alle Freiheiten erlauben: Denn da man im Filmessay an die Wiedergabe der äußeren Erscheinungen nicht gebunden ist, sondern im Gegenteil das Anschauungsmaterial über- all herbeiziehen muß, so kann man frei in Raum und Zeit springen: von der objektiven Wiedergabe beispielsweise zur phantastischen Allegorie, von dieser 19 Ebd., S. 198. 20 In seinen Filmen Inflation (D 1928) und Die Börse als Barometer der Wirtschaftsla- ge (D 1939) hatte Richter sich selbst an dieser Undarstellbarkeit abgearbeitet; siehe Stäheli, Urs und Dirk Verdicchio: «Das Unsichtbare sichtbar machen: Hans Richters Die Börse als Baro- meter der Wirtschaftslage», montage/av 15/172006, S. 108–122. W. D. Griffiths A Corner in Wheat (USA 1909) gilt als erster Versuch, die unanschaulichen Prozesse der Rohstoffspe- kulation filmisch darzustellen; siehe Färber, Helmut: A Corner in Wheat von D. W. Griffith, 1909. Eine Kritik, München u. a.: Färber 1992. 21 Richter: «Der Filmessay. Eine neue Form des Dokumentarfilms», S. 196. 22 Ebd., S. 197. 41 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken zur Spielszene: man kann tote und lebendige, künstliche wie natürliche Dinge abbilden, alles verwenden, was es gibt und was sich erfinden läßt – wenn es nur als Argument für die Sichtbarmachung des Grundgedankens dienen kann.23 Darüber hinaus sei es die Aufgabe solcher Filme, «schöpferisch in die Vorstel- lungswelt unserer Zeit einzugreifen».24 In einer kapitalistischen Gegenwart, in der den Menschen Hören und Sehen vergeht, sollen sie dem überforderten Sensorium zu Hilfe kommen, die Strukturen der Macht sichtbar machen und die subjekti- ven Ressourcen der Zuschauer*innen stärken, ihre Urteils- und Vorstellungskraft. Das denkende Kino: Die Caméra-stylo Die Idee eines filmischen Denkens war auch in der frühen französischen Filmtheo- rie angelegt. Die Theoretiker eines poetischen Impressionismus Riciotto Canudo, Louis Delluc und Jean Epstein hatten die subjektive Seite des Kinos betont und die Filmemacher dazu ermutigt, ihr Inneres in einem persönlichen Kino zum Aus- druck zu bringen.25 In dieser Tradition prophezeite 1948 Alexandre Astruc (1923– 2016)26 in einem heute kanonischen Text, dass der Film zu einer Form werden würde, in der «ein Künstler seine Gedanken, so abstrakt sie auch seien»27 wie in einer Sprache «ausdrücken» und «seine Probleme so exakt formulieren» könne, «wie das heute im Essay oder Roman der Fall ist.»28 Dem Film stehe eine große Zukunft bevor, wenn er sich in einen «geschriebenen» Film transformiere: Darum nenne ich diese neue Epoche des Films die Epoche der Kamera als Federhalter [la caméra-stylo]. Dieses Bild hat einen genauen Sinn. Es bedeu- tet, daß der Film sich nach und nach aus der Tyrannei des Visuellen befreien wird, des Bildes um des Bildes willen, der unmittelbaren Fabel, des Konkre- ten, um zu einem Mittel der Schrift zu werden, das ebenso ausdrucksfähig und ebenso subtil ist wie das der geschriebenen Sprache.29 Die Filmemacher*innen zeichnen Wirklichkeit nicht einfach auf oder inszenie- ren sie, sondern ‹lesen› bzw. ‹dechiffrieren› diese. Ihren Film ‹schreiben› sie mit der Kamera und am Schneidetisch. In ausgezeichneter Weise sei der Film dazu bestimmt, den Gedanken eines Ichs Ausdruck zu verleihen, ganz so wie dies im 16. Jahrhundert der Essay für Montaigne und im 17. Jahrhundert der Traktat für 23 Ebd. 24 Ebd., S. 198. 25 Vgl. Rascaroli: «The Essay Film», S. 26 f. 26 Siehe Astruc, Alexandre: Du stylo à la caméra – et de la caméra au stylo, Paris: Archipel 1992. 27 Astruc: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», S. 200. 28 Ebd. 29 Ebd. 42 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays Descartes geleistet hatte. Als ‹Caméra-stylo› werde die Kamera die Schreibfeder beerben: Heute würde Descartes sich bereits mit einer 16mm-Kamera und Film in sein Zimmer einschließen und den Discours de la méthode als Film schrei- ben, denn sein Discours würde heute so ausfallen, daß nur der Film ihn, wie es sich gehörte, ausdrücken könnte. […] Der Ausdruck des Gedankens ist das Grundproblem des Films.30 Deshalb forderte Astruc, dass das Kino zu einer so rigorosen Sprache wird, daß der Gedanke sich direkt auf den Filmstreifen niederschreibt, ohne den Umweg über die plumpen Bilderasso- ziationen zu nehmen, die das Entzücken des Stummfilms waren.31 Damit war auch die Evokation von Ideen durch die Eisenstein’sche Attraktions- montage gemeint. Astrucs Kritik am Dokumentarfilm traf sich andererseits mit Eisensteins Ablehnung eines dokumentarischen «Material-Spektakel[s]»:32 Das dokumentarische Zeitalter der an einer Straßenecke aufgestellten Kamera, die auf gut Glück ihre Bilderfracht aufnimmt, ist längst vergangen.33 Damit das Kino der Zukunft seine Sprache finden könne, müsse es alle überkom- menen Genres verlassen und zum Essay werden: «Das Kino hat nur eine Zukunft, wenn die Kamera es schafft, den Federhalter zu ersetzen.»34 Denn seine Sprache sei weder jene der Fiktion noch jene der Reportagen, sondern jene des Essays. Es wird sich von der Diktatur der Fotografie und von der getreuen Abbildung der Realität losreißen und schließlich Durchgangsort zum Abstrakten werden.35 Dabei dachte Astruc keineswegs in erster Linie an die Verwendung von geschrie- bener oder gesprochener Sprache im Film. Der ‹régisseur› des alten Kinos werde vielmehr zum ‹auteur› des neuen Films, indem er sich auf den dynamischen, 30 Ebd., S. 200, 201; siehe Astruc, Alexandre: Le roman de Descartes, Paris: Balland 1989. 31 Astruc: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», S. 201. 32 Eisenstein, Sergej M.: Schriften 3 – Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ ‹Kapi- tal›, hg. v. Hans-Joachim Schlegel, München: Hanser 1975, S. 184. 33 Astruc, Alexandre: «L’avenir du cinéma», Trafic No. 3/1992, S. 151–158, hier S. 153 (Übers. d. Autors). 34 Ebd., S. 154. 35 Ebd. 43 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken signifikativen Charakter des filmischen Bildes selbst stütze. Wiederum klingt das Eisenstein’sche Programm an, wenn Astruc deklariert, jeder Film sei als beweg- tes Bild «der Durchgangsort einer unerbittlichen, ununterbrochen fortwaltenden Logik, […] einer Dialektik» und jedes Filmbild insofern ein «Theorem»:36 Jeder Gedanke wie jedes Gefühl ist eine Beziehung zwischen einem Men- schen und einem anderen Menschen oder gewissen Objekten, die Teile sei- ner Welt sind. Indem er diese Beziehungen darlegt, deren greifbare Spur zeichnet, kann der Film sich wahrhaft zum Ort des Ausdrucks der Gedan- ken machen.37 Das Denken wird den Bildern in der Epoche des Tonfilms also nicht durch sprach- liche Mittel nachträglich hinzugefügt, sondern findet in diesen selbst statt. Im Anschluss an Astruc formulierte Frieda Grafe, dass es im Essayfilm ein Denken gibt, das sich an eine Kombination von Spra- che und Bild bindet, und dass dies nicht eine Darstellung von Denken ist, sondern dass diese gedanklichen Bewegungen tatsächlich stattfinden, dass der Gang der Gedanken im Medium selbst stattfindet.38 Der Blick auf die Zukunft ist für Astruc nicht zufällig, sondern essenzieller Aspekt der neuen filmischen Form: Diese Kunst kann nicht, die Augen auf die Vergangenheit gerichtet von wie- dergekäuten Erinnerungen und dem Heimweh nach einer vergangenen Epo- che leben. Ihr Gesicht ist längst auf die Zukunft gerichtet, und im Film, wie anderswo, gibt es keine andere Sorge als die um die Zukunft.39 Astruc wurde mit seinen Manifesten zu einem Wegbereiter der Autorentheorie der Nouvelle Vague. Ohne ihn explizit zu erwähnen, beschrieb Klaus Theweleit in einem Text über Godards Histoire(s) du cinéma die Bedeutung der ‹Caméra- stylo› für die jungen französischen Filmemacher der 1950er-Jahre: Sie schreiben nicht über Film, sie schreiben mit den Filmen, die sie sehen; sie schreiben diese Filme um; sie schreiben sie weiter in die Filme hinein, die sie 36 Astruc: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», S. 202. 37 Ebd. 38 Zit. nach Barth, Hermann: «Über das essayistische Kino», Filmmuseum im Stadtmuseum München «Ich und die Kamera», Programm Herbst 2010, S. 36–39. 39 Astruc: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», S. 204. Astruc sah 1948 voraus, dass die mediale Entwicklung dazu führen würde, dass «jedermann Projektions- apparate bei sich zu Hause hat und zum Buchhändler um die Ecke geht, um sich über jedes belie- bige Thema und in jeder beliebigen Form geschriebene Filme zu entleihen […].» (ebd., S. 200 f.). 44 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays selber im Begriff sind zu machen. In (unovidischer) Metamorphose wird die Schreibmaschine unter ihren Händen zur Kamera; die Kritiker mutieren zu Filmemachern: den Regisseuren der Nouvelle Vague.40 Als Astruc seine Idee eines neuen Kinos formulierte, hatte er nicht Dokumen- tarfilme vor Augen, sondern Spielfilme von Welles, Hitchcock, Bresson, Malraux und Rossellini. Auch Jacques Rivette feierte 1955 in den Cahiers du cinéma Ros- sellinis Viaggio in Italia (I 1953) als den Film, der mit vollkommener Klarheit, endlich dem Kino, das bisher auf die Erzäh- lung angewiesen war, die Möglichkeiten des Essais aufzeigt. […] Der Essai ist, seit mehr als fünfzig Jahren, die eigentliche Sprache der modernen Kunst; er ist die Freiheit, die Unruhe das Suchen, die Spontaneität.41 Viaggio in Italia sei zugleich «metaphysischer Essai, Bekenntnis, Reisejournal, Tagebuch […].»42 Ebenfalls ohne Astruc zu nennen, bezog sich Rivette auf dessen Konzept der ‹Caméra-stylo›, wenn er über Rossellinis Filmarbeit äußerte, dass «der unermüdliche Blick der Kamera die Rolle des Stifts»43 spiele: «[E]ine Zeit-Zeichnung vollzieht sich unter unseren Augen […].»44 Im essayistischen Modus befreit sich das fiktionale Kino von den Zwängen der Handlung, des Theaters und des Romans und wird zum Medium einer spontanen Subjektivität, einer frei schweifenden Reflexion. Der ‹auteur› selbst wurde zum Gravitationszentrum des kommenden Kinos. Epistemologie des Essays: Experiment, Konstellation, Kraftfeld Eine andere Theoretisierung als genuin moderne Form erfuhr der Essay in Deutschland nach 1945: Sowohl Max Bense wie Theodor W. Adorno fassten den Essay in einer erkenntniskritischen Perspektive, in der er nicht mehr nur als lite- rarische Gattung, sondern als epistemologische Methode erschien. Als wissen- schaftliche Strategie ziele er auf die Wahrheit eines Gegenstandes als asymptoti- schen Fluchtpunkt einer Wirklichkeit, die als Horizont von beiden Autoren nicht in Frage gestellt wird. Einige Bestimmungsmerkmale, die Max Bense in seinem Text Über den Essay und seine Prosa (1947) aufzählt, lassen sich ohne weiteres auf den Essayfilm übertragen. Es fällt umso leichter, in seinem Text ‹filmen› für 40 Theweleit, Klaus: «Bei vollem Bewußtsein schwindlig gespielt», Histoire(s) du cinéma / Ge- schichte(n) des Kinos, Filmedition Suhrkamp 10, Berlin/Frankfurt a. M.: Absolut Medien / Suhrkamp 2009, S. 5. 41 Rivette, Jacques: «Brief über Rossellini» [1955], in: ds.: Schriften fürs Kino, München: Institut Français / Münchner Filmzentrum 1989, S. 72–90, hier S. 84. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 76. 44 Ebd. 45 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken ‹schreiben› zu lesen, als er immer wieder visuelle Metaphern gebraucht, um den essayistischen Schreibprozess zu charakterisieren: Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegen- stand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.45 In einer Art kubistischen Umkreisung ersteht das Bild des Gegenstands aus einer Kombination von Beobachtungen. Bense hebt hervor, dass im Essay die Bedin- gungen der künstlerischen Aktivität selbst die Darstellung des Gegenstands mit- bestimmen. Der*die Untersuchende beeinflusst den Ausgang des Experiments, indem er*sie bestimmte Bedingungen der Wahrnehmung des Gegenstandes schafft. Der Essay wäre also gleichsam die der Quantentheorie entsprechende künstlerische Form.46 Bei Bense steht das wissenschaftliche Motiv im Zent- rum, das Erfassen einer letztlich unerreichbaren Wirklichkeit. Aber weder Wis- senschaft noch Kunst können dem Gegenstand endgültig beikommen. Darauf reagiert der Essay, indem er improvisierend und experimentell die Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens des Gegenstandes ins Bild zu rücken versucht. Überträgt man diese Bestimmungen Benses aufs filmische Feld, könnte man for- mulieren, dass Essayfilme Versuche wären, zu zeigen, wie der Gegenstand unter den jeweiligen im Filmen geschaffenen Bedingungen überhaupt sichtbar wird. Auch Theodor W. Adorno gebraucht in Der Essay als Form (1958) zur Charak- terisierung des literarischen Essays starke visuelle Metaphern. Wie bei Bense ste- hen auch bei Adorno Subjekt und Objekt, Autor und Gegenstand einander schroff gegenüber, allerdings zielt Adorno auf ein dynamischeres, dialektisches Verhält- nis des Essays zu seinem Gegenstand, der vom Essay allererst konstituiert wird: [Im Essay] treten diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem Lesba- ren zusammen […]. Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick des Essays jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandeln muß.47 45 Bense, Max: «Über den Essay und seine Prosa», Merkur 3/1947, S. 414–424, hier S. 418. 46 Siehe Bense, Max: «Was ist Substanz? Zwischen Elektron und Feld. Spekulationen und Tatsa- chen aus der modernen Physik», Kölnische Zeitung 11.7.1937; weiters Bense, Max: «Heisenbergs Weltbild», Kölnische Zeitung 21.6.1942; sowie Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachi- ger Autoren (1925–1970), Berlin u. a.: de Gruyter 1995. 47 Adorno, Theodor W.: «Der Essay als Form» [1954–1958], in: ds: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 9–33, hier S. 21 f. 46 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays Der Essay macht aus dem Gegenstand eine Konfiguration von Elementen eines Kraftfeldes und nimmt ihm damit das geschlossen Objekthafte. Er erscheint jetzt als eine Konstellation von Kräften in Bewegung. Der Essay entsteht aus einem Blick, der die relationale Bezogenheit der nur scheinbar starren und isolierten Gegenstände sichtbar macht. «Ketzerei» sei, so Adorno, «innerstes Formgesetz»48 des Essays. Seiner Suche liegt kein ontologischer Wahrheitsbegriff zugrunde, son- dern ein erkenntniskritischer. Er tastet Bruchlinien ab und speist sich aus Dilem- mata und Dissonanzen, Kontrasten und Konflikten: «Diskontinuität ist dem Essay wesentlich, seine Sache stets ein stillgestellter Konflikt.»49 Essayistische Filme kennen zahlreiche Strategien, um solche Diskontinuität zu erzeugen: Die Trennung von Bild- und Tonspur, das subversive Spiel mit den Codes des Fiktionalen wie des Dokumentarischen, etc. Unter ihrem Röntgenblick werden die der Realität zugrunde liegenden, mit einander im Streit liegenden Kräfte sichtbar. Die ‹Wirklichkeit› ist ihnen keine gegebene Bezugsgröße, die vor- ausgesetzt werden kann, sondern ist eben das zu erklärende. Essays überschreiten die ‹Realität›, indem sie diese als Konfiguration eines Kraftfelds lesbar machen. Indem Essays Wirklichkeit in Lesbarkeit überführen, kann der Konflikt, der Adorno zufolge stets die Sache des Essay ist, stillgestellt werden. Durch Verschie- ben, Ziehen, Hinzufügen, Umgruppieren von Feldpunkten kann in die Anord- nung der Kraftpunkte eingegriffen werden. So wird die Umdeutung, Rekonfigu- ration und Transposition des Wirklichen möglich. Die schriftbildlichen Korrespondenzen zwischen literarischem und filmi- schem Essay sind nicht zufällig: So wie sich der geschriebene Essay bei Bense als auch bei Adorno durch die Montage eines spezifischen multiperspektivischen Blicks auf die Gegenstände entfaltet, orientieren sich viele Beispiele des filmischen Essayismus an der Idee einer Lesbarkeit des Visuellen. Das schöpferische Auge: Visual thinking, offenes Kunstwerk Der Begriff des Kraftfelds öffnet den Übergang zur Thematik eines anschaulichen Denkens. Adorno entlehnte diese Metapher, die in seinem einzigen größeren Text zur Methode eine wichtige Rolle spielt, von Rudolf Arnheim. Dieser hatte 1954 in Art and Visual Perception. A psychology of the creative eye50 eine Ästhetik auf wahr- nehmungspsychologischer Grundlage vorgestellt. Vermittelt durch Kurt Lewins Gestaltpsychologie fand der physikalische Feldbegriff Eingang in Arnheims The- 48 Ebd., S. 33. 49 Ebd., S. 25. 50 Arnheim, Rudolf: Art and visual perception. A psychology of the creative eye [1954], Berkeley: University of California Press 1957; dt.: Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin: de Gruyter 1965. 47 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken orie eines «visual thinking»,51 einer der Wahrnehmung inhärenten Form des Den- kens. Ein wichtiger Vordenker war der in die USA emigrierte ungarische Maler und Kunstpädagoge György Kepes, der bereits 1944 in Language of Vision52 die visuelle Wahrnehmung in den Termini von ‹Kräften› und ‹Feldern› beschrieben hatte: The optical units create an interpretation of the surface as a spatial world; they have strength and direction, they become spatial forces.53 Die Erfahrung von Bildern sei eine Interaktion zwischen inneren und äußeren Kräften sowie ihren jeweiligen Medien: The experiencing of every image is the result of an interaction between exter- nal physical forces and internal forces of the individual as he assimilates, orders, and molds external forces to his own measure. […] Every force acts in a medium, exists in a field. Any process induced by forces makes sense only with reference to the surroundings, as an interaction between the force and the medium in which it acts.54 Auf den Spuren von Kepes entwickelte Arnheim ein Konzept des anschaulichen Denkens, das die alten Dualismen von Wahrnehmen und Denken, Anschau- ung und Intellekt, Perzeption und Kognition überwinden sollte. Die empirische Wahrnehmungspsychologie hatte nachweisen können, dass innerhalb der räum- lichen Wahrnehmung kognitive Problemlösungvorgänge stattfinden. Arnheim: Was it seeing or was it thinking that solved the problem? Obviously the dis- tinction is absurd. In order to see we had to think; and we had nothing to think about if we were not looking. […] But our claim goes farther. We assert not only that perceptual problems can be solved by perceptual operations but that productive thinking solves any kind of problem in the perceptual realm because there exists no other arena in which true thinking can take place.55 Einfache visuelle Anordnungen folgen einer «complex hidden structure»,56 so wie Eisenspäne «will reveal the lines of force in a magnetic field.»57 (Abb. 2) 51 Arnheim, Rudolf: Visual thinking, London: Faber & Faber 1969; dt.: Arnheim, Rudolf: An- schauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln: DuMont 2001; weiters Arnheim, Rudolf: «A Plea for Visual Thinking», Critical Inquiry 6/3/1980, S. 489–497. 52 Kepes, György: Language of vision [1944], New York: Dover 1995. 53 Ebd., S. 19. 54 Ebd., S. 16. 55 Arnheim: «A Plea for Visual Thinking», S. 492. 56 Arnheim: Art and visual perception, S. 2. 57 Ebd. Auch Pierre Bourdieu verwendete den Begriff des «intellektuellen Kräftefelds» als «Sys- tem von Kraftlinien», «nach der Art eines magnetischen Feldes», vgl. Bourdieu, Pierre: Zur 48 2.1 Klassische Poetiken des Filmessays Das kreative Auge erforscht die visuelle Figur in ihren Variationen und detektiert auf diese Weise die Eigenschaften der «structural map»58 des visuellen Kraftfeldes. Ohne Wahrnehmung ist jedes Denken undenkbar. Auch die Lösung abstrakter Probleme erfolgt Arnheim zufolge im Umkreis des visuellen Denkens vermittels einer «intelligence of the senses».59 Künstlerische und wissenschaftliche Praktiken rücken in dieser Per- spektive zusammen. So wie eine wissenschaftli- che Entdeckung ist auch ein künstlerischer Aus- 2 Das Bild vom ‹Kraftfeld› bei Kepes und Arnheim; Art and visual druck für Arnheim perception (1957) a form of reasoning, in which perceiving and thinking are indivisibly inter- twined. A person who paints, writes, composes, dances, I felt compelled to say, thinks with his senses.60 Arnheims sinnliches Denken schafft einen neuen Zugang zur Poetik des Essay- films, indem Kognition in den vorbewussten und vorsprachlichen Bereich ver- lagert wird. Das Denken wird den Bildern nicht erst von außen durch die Intentionalität eines Autors – in Kommentar, Montage oder anderen Stilmitteln – hinzugefügt, sondern findet innerhalb der visuellen Wahrnehmung selbst statt. Diese Auffassung scheint die Unabhängigkeit der für den Essay charakteristi- schen Reflexion zu bestreiten. Jedoch benennt Arnheim genau den Moment, in dem die reflektierende Subjektivität ins Spiel kommt: In ambiguous situations the visual pattern ceases to determine what is to be seen, and subjective factors in the observer become more effective […].61 Von Arnheim ausgehend könnte man sagen, dass filmische Essays die Elemente eines Feldes in ambige, mehrdeutige Relationen zueinander stellen, sodass es zu Situationen der Indetermination kommt, die die Aktivierung der Subjektivität anregen, denn in diesen Situationen muss interpretiert, geurteilt, verglichen wer- den. Dadurch wird der filmische Essay zu jenem offenen visuellen Kunstwerk, das Umberto Eco 1962 beschrieben hat, denn er funktioniert als Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 76; weiters Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht [1987], Paderborn: Fink 2013, S. 57 f. 58 Arnheim: Art and visual perception, S. 3. 59 Arnheim: «A Plea for Visual Thinking», S. 497. 60 Arnheim: Visual thinking, S. V. 61 Arnheim: Art and visual perception, S. 4. 49 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Vorschlag eines ‹Feldes› interpretativer Möglichkeiten, als Konfiguration von mit substantieller Indeterminiertheit begabten Reizen, so daß der Perzipie- rende zu einer Reihe stets veränderlicher ‹Lektüren› veranlaßt wird […].62 Die Struktur eines solchen Kunstwerkes besteht laut Eco aus einer «‹Konstella- tion› von Elementen, die in wechselseitige Relationen eintreten können.»63 Ecos Beschreibung der Vorgehensweise im offenen Kunstwerk verbindet Adornos Kon- zept vom Essay als Kraftfeld und Arnheims Konzept eines anschaulichen Denkens: Man muß also die Elemente einer Konstellation auswählen, zwischen denen, allerdings erst nach der Wahl, mehrwertige Zusammenhänge hergestellt wer- den sollen. […] Die Offenheit hat also die langwierige und sorgfältige Orga- nisation eines Möglichkeitsfeldes zur Voraussetzung.64 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung Alle im vorigen Kapitel besprochenen Poetiken bleiben für die aktuelle Diskus- sion wesentlich. Sie bilden bis auf weiteres kanonische Referenzen für die Dis- kussion des essayistischen Kinos, das heute in der Filmwissenschaft als eine der wesentlichen filmischen Strömungen der letzten Jahrzehnte beachtet wird.65 Im Unterschied zu Eisenstein, Richter und Astruc, die alle ein erst zu schaffendes Kino beschwören mussten, für das es noch kein einziges konkretes Beispiel gab, kann sich die heutige Forschung auf einen vielfältigen Korpus von Filmen bezie- hen, die dem Essayfilm zugeordnet werden können. Timothy Corrigan etwa schrieb 2011 in einer Monografie zum Essayfilm: Essay films are aguably the most innovative and popular forms of filmmaking since the 1990s, producing a celebrated variety of examples from filmmakers around the globe. However extremely they may vary in style, structure and subject matter, the best of these, I believe, work in the tradition of Marker, a tradition that draws on, merges, and re-creates the literary essay and the photo-essay within the particular spatial and temporal dynamics of film.66 62 Eco: Das offene Kunstwerk, S. 154. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 203. 65 Siehe dazu die «Kleine Geschichte der Essayfilm-Forschung» in: Kramer/Tode: «Modulationen des Essayistischen im Film. Eine Einführung», S. 16–19. 66 Corrigan: The essay film from Montaigne, after Marker, S. 49. 50 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung Strategien des essayistischen Kinos gehören auch im Grenzbereich zwischen bilden- der Kunst und Film zum Repertoire künstlerischer Ausdrucksformen. Zunächst von Europa und hier vor allem von Frankreich ausgehend ist der Filme ssay heute ein weltweites Randphänomen. Autor*innen des globalen Südens  – Octavio Getino und Fernando Solanas, Trinh T. Minh-ha, Jean-Marie Teno, Raoul Peck u.v. a. – artikulieren seit den 1970er-Jahren postkoloniale Verhältnisse durch Rück- griff auf filmessayistische Strategien. Die Konjunktur des Essayfilms in den letzten Jahrzehnten ist dabei mit der technischen Mobilisierung der Kamera verbunden. Obwohl im Kern kritisch, war der Essayfilm immer rückhaltlos technophil: Die Einführung leichter 35-mm-Kameras durch Firmen wie Arriflex und Éclair in den 1930er- und 1940er-Jahren, von 16-mm-Film ab den späten 1940er-Jahren, von Video-Technik ab 1967, schließlich digitalem Video, Internet und mobiler Tele- phonie und den darauf basierenden Konvergenztechnologien67 – jede Neuerung stimulierte neue Artikulationsweisen der aktiven Subjektivität des essayistischen Films.68 Die Krise der medialen Repräsentation trug das ihre dazu bei, den Erfin- dungsgeist und die Kreativität der Astruc’schen ‹Caméra-stylo› anzustacheln.69 Als eine faszinierende, neue, hybride, reflexive, transgressive, komplexe, innova- tive, persönliche, transmediale, kritische Form des Filmemachens treffen Essayfilme in der Wissenschaft, im Kunstbereich und nicht zuletzt beim Kinopublikum auf nach- haltiges Interesse. In einer zunehmend von subjektiver Ungewissheit und Unsicherheit geprägten Epoche scheinen sie ein Bedürfnis nach Reflexion, Selbstvergewisserung und Sinngebung zu stillen. Symptomatisch war, dass 2004 mit Michael Moores Fah- renheit 9/11 erstmals ein Dokumentarfilm mit essayistischen Elementen in Cannes die Goldene Palme gewann. Für die Autorin, Künstlerin und Filmemacherin Hito Steyerl70 ist diese Konjunktur Ausdruck einer zunehmenden Flexibilisierung der Subjektivität, deren erzwungene Kreativität wie Prekarität der Essayfilm spiegle: A certain part of essayistic filmmaking might also express the new ambigui- ties of a global mode of production which has turned essayistic itself. […] The multiple and heterogenous forms of essays thus closely mimic the vari- ous formations of contemporary brand of capitalism based on the compul- sory manufacturing of difference, custom-tailored niche markets and flexible 67 Siehe Biemann: Stuff it: The video essay in the digital age; Landesman, Ohad: «In and out of this world: digital video and the aesthetics of realism in the new hybrid documentary», Studies in Docu- mentary Film 2/1/2008, S. 33–45; Brasier, Hannah: «A networked voice: speculative transformations of essayistic subjectivity in online environments», Studies in Documentary Film 11/1/2017, S. 1–17. 68 Vgl. Corrigan: The essay film from Montaigne, after Marker, S. 163. 69 Siehe Sørenssen, Bjørn: «Digital video and Alexandre Astruc’s caméra-stylo: the new avantgar- de in documentary realized?», Studies in Documentary Film 2/1 (2008), S. 47–59. 70 Sie realisierte einige Essayfilme, etwa Die leere Mitte (1998), Normalität 1–10 (1999– 2001), November (2004) und In Free Fall (2010), The Tower (2015). 51 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken and modular forms of production. Essays, with their mix of different lev- els of address, their stupefying combination of contradictory materials and amazing ambivalence, their combination of the arcane and the profane, of the affective and the reflexive, are no longer the exotic ‹other› of a drab and repetitive social reality. They now look amazingly similar to the collaged daily schedule of any contemporary working mom, to a zapping spree with a voiceover, or maybe just a Sunday afternoon remix contest on YouTube.71 Steyerls Beschreibung trifft sich mit Jean-François Lyotards Aussage, die von Montaigne begründete Form des Essays gehöre heute zur postmodernen Kondi- tion, während das Fragment die genuine Form der Moderne darstelle.72 Obwohl die Konjunktur des Essayfilms seit den 1960er-Jahren ungebrochen anhält, ist dessen Begriff bis heute unscharf geblieben, «under-theorized, even more so than other forms of non-fiction» (Laura Rascaroli).73 Bildet er überhaupt ein Genre? Gibt es essayistische Spielfilme? Ist ein Voice-over, die Stimme eines ‹Ich›, ein notwendiges Kennzeichen eines Essayfilms? Ist er überhaupt begrifflich zu fas- sen oder bildet er vielmehr «a sort of non-cinema, a non-place, where the system of cinema looses its coordinates»74 (Luka Arsenjuk)? Bis heute beschäftigen diese Fragen die Debatte über den Essayfilm. Michael Renov wies darauf hin, dass der Filmessay diese theoretische Unterbestimmtheit mit seinen literarischen Vorläu- fern teilt: The essay form, notable for its tendency towards complication (digression, fragmentation, repetition, and dispersion) rather than composition, has in its four- hundred-years history, continued to resist the efforts of literary taxono- mists, confounding the laws of genre and classification, challenging the very notion of text and textual economy.75 Die Teilung des filmischen Feldes in fiktionalen und nicht-fiktionalen Film stößt angesichts des essayistischen Films an ihre Grenzen. Anlässlich einer von ihm kuratierten Filmretrospektive zum essayistischen Kino von 1909 bis 2004 schrieb Jean-Pierre Gorin über das von seiner formalen Instabilität rührende subversive Potenzial des filmischen Essayismus: 71 Steyerl, Hito: «The essay as conformism?», in: Kramer, Sven und Thomas Tode (Hg.): Der Essay- film: Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UVK 2011, S. 101–110, hier S. 102. 72 Lyotard: Postmoderne für Kinder, S. 30. 73 Rascaroli: «The Essay Film», S. 24. 74 Arsenjuk, Luka: «‹to speak, to hold, to live by the image›: Notes in the Margins of the New Video- graphic Tendency», in: Papazian, Elizabeth A. und Caroline Eades (Hg.): The essay film: dia- logue, politics, utopia, London / New York: Wallflower Press 2016, S. 275–299, hier S. 275. 75 Renov, Michael: The subject of documentary, Minneapolis: Minnesota UP 2004, S. 70. 52 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung We know or we pretend to know what fiction or documentary are, and we live a content viewers’s life inside this dichotomy that seems as old as the confron- tational staging of Louis vs. Georges, Lumière vs. Méliès, in the wax museum of film histories. Introduce the notion of the essay and this certitude is blown to bits. Here is a form that seems to accomodate the two sides of that divide at the same time, that can navigate from documentary to fiction and back, crea- ting other polarities in the process between which it can operate.76 Die Grenzlinie zwischen dokumentarischem und fiktionalem Kino ist eine his- torisch gewachsene diskursive Praxis. Nach 1945 verfestigte sich eine filmi- sche Taxonomie, die auch den ‹Experimentalfilm› in eine prekäre Randposition bringt. Godard zufolge war sie für die jungen Autoren der Nouvelle Vague noch nicht maßgeblich: Was die Leute oft in Bezug auf die Doku denken – sie machen immer diese Unterteilung zwischen Dokumentarfilm und Fiktion, das machte man in der Zeit der Cahiers nicht, absolut nicht. Man sagte damals, Eisenstein sei ein großer Dokumentarist und Flaherty ein großer Fiction-Autor. Im übrigen war das nicht ganz falsch, denn es stellte die Dinge wieder an ihren Platz …77 Der filmische Essay ist transversal zu dieser Demarkationslinie überall zu finden. Er unterläuft die klare Zuordnung von Fakt und Fiktion zu Dokumentar- bzw. Spielfilm. Mit Blick auf den essayistischen Film kann man behaupten, dass Fak- ten und Fiktionen im Kino keine einfache Dichotomie bilden, sondern ein offenes Kontinuum, in dem sich essayistische Filme frei und auf immer neue Weise ver- orten. Für Noël Burch verkörpern gerade sie die «Dialektik von Fiktionalem und Nicht-Fiktionalem».78 Trotzdem wurde der Essayfilm in den 1990er-Jahren oft als eine besondere Art des Dokumentarfilms betrachtet. Seit einigen Jahren kommt es aber zu einer Aufweichung der Unterscheidung in Spiel- und Dokumentarfilm und der Situierung des Essayfilms in diesem Rahmen. In ihrem Sammelband zur Ästhetik des Essayfilms sprechen Sven Kramer und Thomas Tode vom Essayfilm nicht mehr als Gattung, sondern allgemeiner von «Modulationen des Essayisti- schen im Film»:79 76 Gorin: «Proposal for a Tussle», S. 9. 77 Godard, Jean Luc und Marcel Ophüls: Dialogues sur le cinéma, Lormont: Bord de l’eau – Col- lection ‹Ciné-politique› 2011, S. 46 f. (Übers. d. Autors). 78 Burch, Noël: Theory of film practice, Princeton NJ: Princeton UP 1981, S. 164. 79 Kramer/Tode: «Modulationen des Essayistischen im Film. Eine Einführung»; weiters Tode, Thomas: «La règle du jeu als Essayfilm», CINEMA. Das Schweizer Filmjahrbuch (2005), S. 9–20. 53 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Der Essayfilm oder das Essayistische im Film wären dann tentative Bezeich- nungen für eine künstlerisch-reflexive Praxis, die sich der begrifflichen Fixie- rung entzieht und zugleich etwas zu denken aufgibt.80 Auch Timothy Corrigan spricht vom Essayfilm als einem «particular mode of filmmaking».81 Der filmische Essayismus bildet folglich ein Spektrum, das quer zu den Grenzen zwischen Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilm verläuft, sodass man von dokumentarischen Essayfilmen, von essayistischen Spielfilmen und experimentellen Essayfilmen sprechen kann. Laura Rascaroli zufolge bildet jeder essayistische Film an open field of experimentation, sited at the crossroads of fiction, nonfiction and experimental film.82 Essayistische Filme bilden nicht ab, inszenieren nicht, sondern fangen Reflexio- nen von Bildern noch einmal in einer methodischen Anordnung von Brechun- gen ein, zuallererst im Spiegel einer wahrnehmenden Subjektivität: Sehen sehen, filmen filmen, beobachten beobachten, etc. Wie bereits gesagt, kann im filmi- schen Feld jede Position und jede Relation selbst Ausgangspunkt eines filmischen Akts werden. Wie bei Montaigne rückt Subjektivität als Modus und Medium von Welte rfahrung in den Fokus: «Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buches […].»83 In allen Definitionsversuchen des essayistischen Kinos ist der Begriff der Reflexion zentral. Laura Rascaroli: […] an essay is the expression of a personal, critical reflection on a problem or set of problems. Such reflection does not propose itself as anonymous or col- lective, but as originating from an authorial voice.84 Im Gegensatz zu den frühen Theoretisierungen des Filmessays, die um das Ver- hältnis zum gefilmten Gegenstand kreisten, rücken heute seine performativen Aspekte stärker in den Blick: Wie tritt er mit seinen Betrachter*innen in Kon- takt? Wie adressiert er sie? Eine dialogische Form kennzeichnet viele essayisti- sche Filme. Wie die Leser*innen werden auch die Zuschauer*innen des Film- essays «forced to acknowledge a conversation».85 Hermann Barth: 80 Kramer/Tode: «Modulationen des Essayistischen im Film. Eine Einführung», S. 15. 81 Corrigan: The essay film from Montaigne, after Marker, S. 3. 82 Rascaroli: «The Essay Film», S. 43. 83 Montaigne, Michel Eyquem de: Essais 1, München: Goldmann 2002, S. 6. 84 Rascaroli: «The Essay Film», S. 35; weiters Rascaroli, Laura: How the essay film thinks, New York NY: Oxford UP 2017. 85 Lopate, Phillip: Totally, tenderly, tragically: essays and criticism from a lifelong love affair with the movies, New York: Anchor Books / Doubleday 1998, S. 286. 54 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung Immer entsteht ein besonderer Hörraum im Bewusstsein des Zuschauers, ist die eine Stimme zu hören, die nicht im Off allwissend kommentiert, sondern direkt zu uns spricht, in einer für den essayistischen Diskurs typischen, sonst kaum erlebbaren Redeform, die, oft radikal aufrichtig, ins Vertrauen zieht, ungeschützt ihre eigene Ratlosigkeit offenbart, ungeahnte Freiheit gewinnt, vom Ich zum Du.86 Filmessays beziehen die Zuseher*innen in die Meditation über den Gegenstand mit ein, sodass sich produktive Brechungen im Dreieck von Subjekt, Objekt und Publikum ergeben. Indem sie ihr Nachdenken teilen und ‹Dritte› ins Gespräch verstricken, knüpfen sie eine Beziehung, ein soziales Band. Das Kino im essayisti- schen Modus folgt Martin Bubers dialogischem Prinzip, demzufolge das ‹Ich› nur im Bezug auf ein ‹Du› zu sich kommen kann.87 Rascaroli zufolge verwendet der filmische Essay dazu ganz bestimmte rhetorische Mittel: […] rather than answering all the questions that it raises, and delivering a complete, ‹closed› argument, the essay’s rhetoric is such that it opens up prob- lems, and interrogates the spectator; instead of guiding her through emo- tional and intellectual response, the essay urges her to engage individually with the film, and reflect on the same subject matter the author is musing about. This structure accounts for the ‹openness› of the essay film.88 Die essayistische Anrede schließt die Zuseher*innen nicht in ein kollektives ‹Wir› ein, vielmehr wendet sie sich an Mitsehende, an Kompliz*innen, die sie eher unter- stellt als kennt. Essayfilme sind keine Manifeste oder Traktate, vielmehr Briefe an Unbekannte, Flaschenpost, Kassiber. Raymond Bellour analysiert, wie diese indi- rekt-persönliche Anrede in Filmen von Chris Marker funktioniert: Still one thing is sure: the subjectivity expressed here with such force and such ease does not only stem from the power to say ‹I›, of which Marker makes immoderate use. It springs form a more general capacity: the viewer is always taken as third party to what he sees, through what he hears.89 Bellours Beobachtung ist von großer Bedeutung: Das essayistische Kino ist nicht einfach ein Kino in der 1. Person Singular. Narzisstische Ich-Bezogenheit blo- ckiert den dialogischen Bezug, ein Spezifikum des Essayfilms, das nicht einfach im Begriff der Kommunikation aufgeht. Bellour: 86 Barth: «Über das essayistische Kino». 87 Siehe Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Heidelberg: Schneider 1992. 88 Rascaroli: «The Essay Film», S. 35. 89 Bellour, Raymond und Laurent Roth: À propos du CD-ROM Immemory de Chris Marker, Paris: Éditions du Centre Pompidou 1997, S. 111. 55 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Marker’s formula is exchange, in the elective modes of conversation and cor- respondance. But since he does not believe in communication under which our epoch agonizes, he knows that the only real exchange resides in the address, the way the person who speaks to us situates himself in what he says, with respect to what he shows.90 Die essayistische Anrede funktioniert als individualisierende Anrufung. Diese stößt Subjektivierungsprozesse bei den Betrachter*innen an, die sie in einer ganz bestimmten Weise mitdenkt, ja erträumt. Durch die Stimme des Essays zur intel- lektuellen und emotionalen Partizipation aufgerufen, kann jede*r Zuseher*in an die Stelle eines impliziten Anderen treten und so virtuell selbst ein Anderer wer- den. Laura Rascaroli beschreibt das einzigartige dialektische Verhältnis, das der Essayfilm mit seinen Rezipient*innen etabliert: The essayist allows the answers to emerge somewhere else, precisely in the position occupied by the embodied spectator.91 Antworten auf die Fragen, die die filmische Reflexion umtreiben, finden sich außerhalb des Films selbst, im sehenden Subjekt. Der Bezug zu seinen Betrach- ter*innen definiert den filmischen Essay: «[…] it is the spectatorial experience that makes an essay film».92 David Montero bezieht sich in seiner Analyse des Essay- films als dialogischer Form auf Louis Althussers Begriff der Anrufung.93 Wäh- rend Althusser diese als subjektivierende Wirkung einer ideologischen Macht verstand, werde sie im Filmessay a liberating force since it encourages the viewer to develop a critical position not only in relation to authorial discourse, but also to the screened images and other discourses which compose the essay. Thus, the contrast of voices and utterances which form the fabric of an essay is itself a form of interpellation.94 Der Essay entfaltet ein ideologiekritisches, vereinzelndes, ‹asoziales› Poten- zial: Er stellt zwischen Filmdiskurs und Betrachter*in eine geteilte Einsamkeit her. Er entbindet diese temporär von ihren kollektiven Bindungen an Familie, 90 Ebd. 91 Rascaroli: «The Essay Film», S. 37. 92 Ebd. 93 Siehe Althusser, Louis: «Ideologie und ideologische Staatsapparate (Skizzen für eine Unter- suchung)» [1969/70], in: ds.: Marxismus und Ideologie. Probleme der Marx-Interpretation, Berlin: VSA 1973, S. 111–172, hier S. 156 ff. 94 Montero, David: Thinking images. The essay film as a dialogic form in European cinema, Oxford / New York: Peter Lang 2012, S. 121. 56 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung Religionsgemeinschaft, Nation. Er schlägt eine Bresche in dominante Subjektivie- rungen und öffnet einen temporären Spielraum, eine Zone der Indetermination. Der Essayfilm unterminiert traditionale Bindungen und Identitäten und stärkt das Vertrauen in die singuläre, menschliche Erfahrung. In der aktuellen Diskussion zum essayistischen Film wird immer wieder des- sen Verankerung im ‹auteurisme› der 1950er-Jahre kritisch thematisiert. Der gesprochene Kommentar vieler Essayfilme geriet in den Verdacht, autoritär oder didaktisch die Funktion einer Art ‹voice of god› einzunehmen und sich auf diese Weise diskursive Macht über die Wahrnehmung anzumaßen: […] the essay film, has often been accused within documentary theory of pro- ducing an authoritarian discourse and superimposing a reading on the pure thruthfulness of images.95 Strukturalistische Kritik an der literarischen Autorschaft und der Souveränität des Subjekts trugen dazu bei, die Präsenz des Autors / der Autorin im filmischen Essay in Frage zu stellen. Dennoch stellt die Methodik des Essays eine antiauto- ritäre formale Ressource dar. Laura Rascaroli verteidigt den Essayfilm in dieser Perspektive: The true essay film confounds issues of authority; and it is precisely because of its liberal stance that it is particularly relevant today, when the radical problematization of the existence of objective, permanent, fixed viewpoints on the world has produced the decline of grand narratives and of the social persuasiveness of myths of objectivity and authority.96 Die persönliche Rede einer Autorin / eines Autors in der 1. Person Singular ist ein Spezialfall des filmischen Essays. Jean-Pierre Gorin: What if we had essay films less for the fact that a nominative singular pronoun spoke in them and less for the fact that a type of persona could emerge as a watermark of that discourse than for the fact that in certain films an energy engaged and redefined incessantly the practice of framing, editing and mix- ing, disconnecting them from the regulatory assumptions of the genres?97 Der Essayfilm ist kein Genre des Autorenkinos, er verkörpert ein Kino jenseits von Genregrenzen schlechthin, «it is about the genre of cinema as such».98 Jeder 95 Rascaroli: «The Essay Film», S. 39. 96 Ebd. 97 Gorin: «Proposal for a Tussle», S. 13. 98 Arsenjuk: «‹to speak, to hold, to live by the image›: Notes in the Margins of the New Videographic Tendency», S. 275. 57 2 Filmischer Essayismus: In Bildern denken Essay wird von einer Krise angezogen und setzt sich als ‹Versuch› dem mögli- chen Verlust der Souveränität und der Möglichkeit des Scheiterns aus.99 Dabei verschiebt die Versuchsreihe des essayistischen Kinos die Grenzziehungen zwi- schen Möglichem und Unmöglichem: The essay is an attempt in the precise sense that its form delineates the con- tours of an impossibility, yet this delineation of the impossibility has the strange effect of transforming and reorganising the very field of formal pos- sibilities within which we move.100 Die Praxis der essayistischen Arbeit an Bildern ist prinzipiell offen für kollek- tive Formen der Autor*innenschaft. Beispielhaft beschreibt Kodwo Eshun in sei- ner Analyse von Handsworth Songs (UK 1986) den sozialen Mehrwert eines Films, dessen essayistische Strategien im Gruppenkontext des Black Audio Film Collective entwickelt wurden. Handsworth Songs dekonstruiert die ethnisie- rende mediale Berichterstattung über drei Tage andauernde Ausschreitungen in der Inner City von Birmingham im September 1985, indem er TV-Footage und Archivmaterial einem kritischen Remix unterzieht. Eshun: By separating these archival images from the stories they were used to narrate and by replaying them in a new montage, what emerged was a portrait of the encumbered individuality of the colonial migrant; a subject eager to please and all too willing to reassure the nation that imagined its unity through broadcasting.101 Durch das dekonstruktive Herauslösen der Bilder und Töne aus dem narrativen Rahmen können unhörbar und unsichtbar gemachte Stimmen und Körper auf- tauchen: The voice of the subject was separated from its body and commentary was divorced from footage in order to redistribute the relation of image to voice- over, music to image and colour to image. […] What was assembled was no thing less than an inventory of the Caribbean working classes […].102 Durch Assemblage und Neukommentierung von stark markierten Bilder der domi- nanten medialen Bildkultur produzierte der Film eine neue soziale Anordnung. 99 Vgl. Rascaroli: «The Idea of Essay Film», S. 304. 100 Arsenjuk: «‹to speak, to hold, to live by the image›: Notes in the Margins of the New Videogra- phic Tendency», S. 276. 101 Eshun, Kodwo: «The Disentchantments of Reflexivity in Handsworth Songs», in: Kramer, Sven und Thomas Tode (Hg.): Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UVK 2011, S. 241–256, hier S. 251. 102 Ebd. 58 2.2 Postklassische Poetiken des essayistischen Films: Modus, Dialog, Anrufung Eshun sieht in der Arbeit des Black Audio Film Collective an der Umwertung aller Bilder und Töne die Arbeit an einem kommenden Kino: For the Collective, the essayistic emerges from the dissatisfaction with cin- ema in the name of cinema; the formal implications of this ontological and immanent stance were to be worked out in each of their essay films, video essays and items of documentary fiction, all of which enacted the desire to transvaluate the obligations of image and the duties of sound in order to for- mulate a cinema to come, in the present.103 Die ästhetische Politik, die Eshun hier vorschlägt, löst den filmischen Essay aus den Limitierungen des europäischen Autorenkinos: Er ist nicht nur weißen, bür- gerlichen Männern vorbehalten, das Arsenal seiner kritischen Strategien ist offen für die «production of the common»104 durch alle minoritären, zum Schweigen gebrachten Stimmen. 103 Ebd., S. 256. 104 Ebd., S. 254. 59 Filmische Kraftfelder: Essayistische Rekonfigurationen Palästina-Israels Prolog: Méliès in Jerusalem Einer der wichtigsten Texte des Zionismus entstand im selben Moment wie das Kino: Am 17. Juni 1895 beendete Theodor Herzl das Manuskript zu Der Juden- staat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage.1 Nur wenige Tage zuvor, am 10. Juni, hatten Auguste und Louis Lumière beim Congrès des Sociétés photogra- phiques de France zum zweiten Mal ihren Cinématographe vorgestellt.2 Theodor Herzl, Korrespondent der Wiener Neuen Freien Presse in Paris, hatte seinen Schlüs- seltext unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre verfasst, die den Antisemitismus in nie dagewesenener Weise befeuert hatte. Am 5. Jänner 1895 war er selbst Augen- zeuge der Degradierung des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus (1859–1935) gewe- sen, der verleumderisch des Hochverrats beschuldigt wurde. Angestachelt von antisemitischen Titelblättern und Karikaturen in fast allen Zeitungen von links bis rechts, säumte eine hasserfüllte Masse von 20.000 schaulustigen Zuschauer*innen den Zaun der École militaire und die umliegenden Bäume. Herzl schrieb später: Und auch der Wutschrei der Menge auf der Straße gellt mir noch unvergess- lich in den Ohren: à mort! À mort les juifs! Tod allen Juden …3 Dass im selben Jahr Kaiser Franz Joseph I. dem Antisemiten Karl Lueger (noch) die Bestätigung als Wiener Bürgermeister verweigerte, soll Sigmund Freud mit einer 1 Herzl, Theodor: «Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage», in: Dethloff, Klaus (Hg.): Theodor Herzl oder der Moses des Fin de siècle, Wien/Graz/u. a.: Böhlau 1986, S. 186–259. 2 Die erste Vorführung des Cinématographe hatte am 22. März 1895 in der Société d’encourage- ment pour l’industrie nationale stattgefunden. Die erste öffentliche Vorführung vor zahlendem Publikum fand am 28. Dezember 1895 im Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris statt. 3 Zit. nach Schoeps, Julius H.: «Theodor Herzl und die Affäre Dreyfus», in: Schoeps, Julius H. und Hermann Simon (Hg.): Dreyfus und die Folgen, Berlin: Hentrich 1995, S. 11–50, hier S. 25. 63 Prolog: Méliès in Jerusalem Extra-Ration Zigarren gewürdigt haben.4 1895 koinzidierten auch kinematogra- fische und psychoanalytische Innovation im Zeichen der Projektion. Freud hatte erstmals die Paranoia mit diesem Mechanismus in Verbindung gebracht: Die Paranoia hat also die Absicht, eine dem Ich unerträgliche Vorstellung dadurch abzuwehren, daß deren Tatbestand in die Außenwelt projiziert wird.5 Dass die projektive Abwehr auch auf kollektiver Ebene stattfinden kann, illus- trierte Freud eine Seite weiter am Beispiel der Dreyfus-Affäre: Die grande nation kann die Idee nicht fassen, daß sie im Krieg besiegt werden kann. Ergo ist sie nicht besiegt worden, der Sieg gilt nicht; sie gibt das Beispiel einer Massenparanoia und erfindet den Wahn des Verrats.6 In seiner ebenfalls 1895 veröffentlichten Psychologie des foules erfasste der damals populäre Schriftsteller und frühere Kolonial-Arzt Gustave Le Bon die Wurzeln der unheimlichen politischen Potenz, die dem neuen Medium Film zukommen würde: Der Schein hat in der Geschichte stets eine größere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen. Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie und werden zu Ursachen ihrer Taten. […] Alles, was die Phantasie der Massen erregt, erscheint in der Form eines packenden, klaren Bildes, das frei ist von jedem Deutungszubehör und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestützt: einen großen Sieg, ein großes Wunder, ein großes Verbrechen, eine große Hoffnung.7 Während der Revisionsprozess gegen Dreyfus stattfand, machte Georges Méliès 1899 die Affäre zum Stoff des ersten Politthrillers (und der ersten Serie) der Film- geschichte: In L’affaire Dreyfus (1899) nahm er an der Seite Zolas Partei für den Verurteilten und ließ in elf Episoden die Ereignisse Revue passieren, um 4 Luegers Antisemitismus, der schließlich 1897 doch Bürgermeister wurde, inspririerte den jun- gen Adolf Hitler, der 1907 nach Wien zog, vgl. Rose, Jacqueline: The question of Zion, Princeton NJ: Princeton UP 2005, S. 109. 5 Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, Frankfurt a. M.: Fischer 1962, S. 99. Freud datierte den Ursprung seiner Traumdeutung auf den 24. Juli 1895, als es ihm erstmals gelang, einen eigenen Traum vollständig zu analysieren: den Traum von ‹Irmas Injektion›, den er im Kurhotel Belle- vue auf dem Wiener Cobenzl träumte; ebd., S. 277. 6 Ebd., S. 100. 7 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen, Stuttgart: Kröner 2008, S. 43 ff. 64 Prolog: Méliès in Jerusalem 3–4 Der Streit der Journalisten, Dreyfus auf der Teufelsinsel; Screenshots aus L’affaire Dreyfus schließlich den Revisionsprozess zeitgleich zu inszenieren (Abb. 3–4). Auch die Rolle der Medien wurde im Film zum Thema: Méliès warf einen kritischen Blick auf die Vertreter der Journaille, die den Sensationswert der Affäre ausschlachtete. In einer Episode kommt es unter ihnen zu einer Schlägerei. Jay Leyda berichtet, der Realismus der filmischen Inszenierung wäre sehr effektiv gewesen: «Méliès undisguisedly staged Dreyfus films which were swallowed whole by European audiences.»8 Was der Film nicht mehr zeigte: Das Gericht verurteilte den nach fünf Jahren Isolationshaft schwer Geschwächten abermals wegen Landesverrats. Es ist nicht bekannt, ob Theodor Herzl Méliès’ Film gesehen hat, aber dem Prozess in Rennes wohnte er persönlich bei und zog ein düsteres Fazit: Samstag, dem neunten September 1899, in den Abendstunden, wurde eine merkwürdige Entdeckung gemacht, die auch wirklich nicht verfehlt hat, all- gemeines Aufsehen in sämtlichen mit Telegraphendrähten versehenen Welt- teilen hervorzurufen. Es wurde nämlich entdeckt, dass einem Juden die Gerechtigkeit verweigert werden kann, aus keinem anderen Grunde, als weil er Jude ist. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden quälen kann, als ob er kein Mensch wäre. Es wurde entdeckt, dass man einen Juden zu infamer Strafe verurteilen kann, obwohl er unschuldig ist.9 Einige Tage darauf wurde Hauptmann Dreyfus vom Staatspräsidenten begnadigt, jedoch lediglich unter Verweis auf seinen Gesundheitszustand. Seine Rehabilitie- rung im Jahr 1906 erlebte Herzl, der 1904 verstarb, nicht mehr. Herzl versuchte seine Idee eines jüdischen Staates mit fiktionalen Mitteln einem breiten Publikum näher zu bringen. Im Roman Altneuland10 nahm er sie 1902 als verwirklichtes Experiment 8 Leyda, Jay: Kino. A history of the Russian and Soviet film, London: Allen & Unwin 1960, S. 23 (Anm.). 9 Herzl, Theodor (unter dem Pseudonym Benjamin Seff): «Fünf gegen Zwei», Die Welt 15.9.1899. 10 Herzl, Theodor: Altneuland [1902], 10. Aufl., Wien: Löwit 1933; siehe Stern, Frank: «Der wan- dernde Jude – Herzl und der Zionismus auf der Leinwand», in: Gelber, Mark H. und Vivian Liska (Hg.): Theodor Herzl: from Europe to Zion, Tübingen: Niemeyer 2007, S. 189–200. 65 Prolog: Méliès in Jerusalem literarisch vorweg. Palästina wurde darin zum Ort einer detailliert ausgestalteten philanthropischen, positivistischen, technik- und hygienegläubigen Utopie à la Jules Verne.11 Das Kinematografische an Herzls «großer Hoffnung» (Le Bon) wurde in Altneuland voll ausgespielt – der Fluchtpunkt der Fiktion war ihre Verwirklichung: «Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen», stand auf dem Frontispiz des Buches zu lesen. Herzl war sich der politischen Bedeutung des Imaginären vollkommen bewusst: Wissen Sie, woraus das deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Lie- dern, Phantasien, und schwarz-rot-goldenen Bändern. Und in kurzer Zeit. Bis- marck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasten pflanzten.12 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs – «the great seminal catastrophe of this cen- tury» (George F. Kennan)13 – waren die Monarchien der Habsburger, Hohenzol- lern, Romanovs und auch jene der Osmanen Geschichte. Bereits vor deren Zer- fall hatten Frankreich und das Vereinigte Königreich im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 eine neue koloniale Ordnung für den Mittleren Osten ausverhandelt – ohne Beteiligung der betroffenen Bevölkerungen.14 Die Balfour-Deklaration, die 1917 «a national home for the Jewish people» in Eretz Israel in Aussicht stellte, verlangte, dass dabei die religiösen und bürgerlichen Rechte von «existing non- jewish communities in Palestine» nicht verletzt werden dürften, jedoch wurde diese offizielle Erklärung von einem inoffiziellen Diskurs konterkariert: So statu- ierte Arthur James Balfour 1919 in einem internen Memo an Lord Curzon, dass in Palestine we do not propose even to go through the form of consulting the wishes of the present inhabitants of the country … The Four Great Pow- ers are committed to Zionism. And Zionism, be it right or wrong, good or bad, is rooted in age-long traditions, in present needs, in future hopes, of far profounder import than the desires and prejudices of the 700.000 Arabs who now inhabit that ancient land.15 Das Kino spielte eine Schlüsselrolle, um den aus dem Urknall von 1918 entstan- denen Nationalstaaten affektive Bindungskraft zu geben. Allerorten entstanden 11 Siehe Peck, Clemens: Im Labor der Utopie: Theodor Herzl und das ‹Altneuland›-Projekt, Berlin: Jüdischer Verlag 2012; weiters Rose: The Question of Zion, S. 28–35 sowie S. 59–68. 12 Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher 2: Zionistisches Tagebuch 1895–1899, Berlin u. a.: Propy- läen 1984, S. 65; siehe Peck: Im Labor der Utopie, S. 90 f. 13 Kennan, George F.: The decline of Bismarck’s European order: Franco-Russian relations, 1875– 1890, Princeton NJ: Princeton UP 1979, S. 3. 14 Siehe Fromkin, David: A peace to end all peace. The fall of the Ottoman Empire and the creation of the modern Middle East, New York NY: Holt 2009. 15 Zit. nach Nutting, Anthony: «Balfour and Palestine, a legacy of deceit» [1975], http://www. balfourproject.org/balfour-and-palestine (zugegriffen am 7.8.2019). 66 Prolog: Méliès in Jerusalem Filmindustrien im Dienst der «nationalen Projektion»16 (Jean-Michel Frodon). Mit der Weltkriegspropaganda war das Kino endgültig der Schaubude entwach- sen, aus dem Kuriosum war ein Politikum geworden – auch im Nahen Osten.17 Der Topos ‹Palästina› ist immer schon auf andere Orte bezogen. Er hört nicht auf, Ziel von spirituellen, nationalen, ethnischen Gefühlen, Aspirationen und Projektionen zu werden. Immer schon ist er von außen her gedacht, imagi- niert, bebildert worden – ein verheißenes Land in den Augen von Pilgern dreier Monotheismen auf dem Weg dorthin, Gegenstand einer tausendfältigen Faszina- tionsgeschichte. Nicht zufällig wählte Maurice Halbwachs, der 1945 in Buchen- wald ermordet wurde, dieses Terrain, um an ihm seinen Begriff des kollektiven Gedächtnisses zu erproben, indem er jüdische Ortsnamen entzifferte, die von christlichen überschrieben worden waren.18 Nur wenige Fotografien sind erhal- ten, die das Leben in Palästina vor dem Ersten Weltkrieg zeigen. Ihre Sammlung und Konservierung wurde in den letzten Jahrzehnten mit großer Akribie voran- getrieben. Dabei geht es um die Sicherung von Spuren einer verlorenen Zeit: Die alten Postkarten und Amateurfotos enthalten auch Existenzbeweise für eine ara- bische Zivilgesellschaft.19 Als zum ersten Mal Kameraleute im Auftrag der Gebrüder Lumière ihre Holz- stative in Palästina aufpflanzten, suchten sie in ihren Aufnahmen die überkom- mene Ikonografie des pastoralen ‹Biblismus› und des kolonial grundierten Ori- entalismus20 zu reproduzieren. Sie wanderten in den Fußstapfen einer Legion von literarischen Reisenden, die dieses Bild fabriziert hatten – Chateaubriand,21 Her- man Melville22 und Pierre Loti23 etwa, gar nicht zu reden von der seit Napoleons Ägyptenfeldzug andauernden orientalistischen Obsession in der europäischen 16 Frodon: La projection nationale. Cinéma et nation. 17 Vgl. Tryster, Hillel: Israel before Israel. Silent cinema in the Holy Land, Jerusalem: Steven Spiel- berg Jewish Film Archive of the Avraham Harman Institute of Contemporary Jewry, Hebrew University of Jerusalem and the Central Zionist Archives 1995, S. 179. 18 Halbwachs, Maurice: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis [1941], Konstanz: UVK-Medien 2003. 19 Siehe Khalidi, Walid: Before their diaspora. A photographic history of the Palestinians, 1876– 1948, Washington D. C.: Institute for Palestine Studies 1991; weiters Sanbar, Elias: Les Palesti- niens. La photographie d’une terre et de son peuple de 1839 à nos jours, Paris: Hazan 2004; sowie Nassar, Issam: «Familial Snapshots. Representing Palestine in the Work of the First Local Pho- tographers», History & Memory 18/2/2006, S. 139–155. 20 Siehe Said, Edward W.: Orientalism. Western conceptions of the Orient [1978], London u. a.: Penguin 1995; weiters Netton, Ian Richard (Hg.): Orientalism revisited Art, land and voyage, New York u. a.: Routledge 2013. 21 Chateaubriand, François-René Auguste de: Itinéraire de Paris à Jérusalem [1811], Paris: Flammarion 1968. 22 Melville, Herman: Clarel. Gedicht und Pilgerreise im Heiligen Land [1876], Salzburg/Wien: Jung und Jung 2006. 23 Loti, Pierre: Jerusalem [1895], München: dtv 2005. 67 Prolog: Méliès in Jerusalem 5–6 Hier und anderswo – zwei Kader erschließen die Signatur einer ungleichen Welt; Screenshots aus L’arrivée d’un train dans la gare de La Ciotat und Départ de Jérusalem en chemin de fer Malerei.24 Die lokale Bevölkerung wurde von den Künstlern als Teil der Land- schaft aufgenommen, Olivenbäumen, Palmen und Kamelen gleich. Im ersten Film der Frères Lumière aus Palästina ist eine bezeichnende Umkeh- rung der räumlichen Anordnung in L’arrivée d’un train dans la gare de La Ciotat (1895) zu sehen (Abb. 5). Während sich der einfahrende Zug der auf dem französischen Perron aufgestellten Kamera nähert, stellte Alexandre Promio25 in Départ de Jérusalem en chemin de fer (1897) seinen Kurbelkasten auf den Zug, der aus dem Bildrahmen verschwand und damit zur Camera dolly, zum Kamerawagen wurde (Abb. 6). Der Film realisierte so den vielleicht ersten Travel- ling bzw. ‹Locomotive› shot der Filmgeschichte. Marina Roy zufolge implizierte diese Einstellung ein typisch orientalisierendes Blickregime: […] only the movement of the camera shooting suggests that one is perceiv- ing as an ‹omnipotent› spectator from a position on the back of the train. The invisibility of the image of technology (the train) in this landscape is impor- tant in constructing the illusion of a non-progressive space, one that is stuck in the past and untouched by industrialization. This absence of the image of the train as industrial progress helps perpetuate the image of the exotic that Europeans have attached to the Orient throughout the nineteenth century, an image that rationalizes their colonization of the region.26 24 Siehe Lemaire, Gérard-Georges: Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei, Köln: Könemann 2005. 25 Promio drehte in diesem Jahr noch weitere Filme in Palästina: Jérusalem, le saint sépulcre, Caravane de chameaux und Bethléem, une place. 26 Roy, Marina: «The Recreation of Reality. From the Prison of Everyday Life to the Cinemato- graphic Adventure through Time and Space» (1999): http://marinaroy.ca/writing/speaking-in- other-terms-2 (zugegriffen am 15.4.2019). 68 Prolog: Méliès in Jerusalem ‹Hier› und ‹anderswo›: Zwei simple Einstellungen  – eine aus Frankreich, die andere aus dem osmanischen Palästina  – reichen aus, um die Signatur einer ungleichen Welt zu entziffern. Der zurückbleibende Andere gehört einer unwirk- lichen und retardierten Welt an: The foreign ‹other› on the station platform is static, as if being left behind by more privileged passengers. Initially the focus of this film is on the background landscape: the image of the ancient walls of Jerusalem that look almost like ruins in the distance. […] By filming Jerusalem then, one is not only capturing a distant place, but a different time, a historical and mythical place of the past.27 In dieser inauguralen Szene wurde ein Machtgefälle, das die visuelle Kultur Paläs- tinas vor der Ankunft des Films prägte, ins Dispositiv der Projektion eingeschrie- ben. Der Topos vom ‹Orient› organisierte die Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens von Subjekten vor der Kamera – ohne Vetorecht der Gefilmten. Das Sichtbare legt nahe, dass der ‹Zug der Geschichte›  – eine zentrale Metapher im amerikanischen und im sowjetischen Kino – sich von den Abbgebildeten entfernt. Im selben Moment, als die ersten bewegten Bilder in Jerusalem aufgenom- men wurden, setzte sich beim ‹1. Zionistischen Weltkongress› in Basel Theo- dor Herzls28 nationalistischer Zionismus gegen andere Auffassungen durch, etwa gegen Achad Ha’ams ‹Kultur-Zionismus›.29 Im Basler Programm hieß es: Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assi- milieren können oder wollen. Dass Palästina kein ‹Land ohne Volk für ein Volk ohne Land› war, wusste Herzl. Während er mit der Musik Richard Wagners im Ohr seinen Judenstaat fertig- stellte, notierte er Pläne zur Lösung dieses Problems in seinem Tagebuch: Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte exprop- riieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern.30 27 Ebd. 28 Einer der frühesten zionistischen Filme, Murray Rosenbergs First Film from Palestine (1911), war Herzl gewidmet. 29 Siehe Ahad Ha’am: Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze in zwei Bänden, Berlin: Jüdischer Verlag 1923; weiters Rose: The Question of Zion, S. 88–104. 30 Herzl: Briefe und Tagebücher 2: Zionistisches Tagebuch 1895–1899, S. 117; siehe Rose: The Ques- tion of Zion, S. 62 ff. 69 Prolog: Méliès in Jerusalem Hillel Tryster berichtet, dass die Ge- schichte der Filmvorführung in Palästina im Jahr 1900 begann, «like so much else, with the Dreyfus Affair.»31 Collara Salva- tore zeigte im Hotel d’Europe in Jerusa- lem einen Film über die Affäre – höchst- wahrscheinlich jenen von Méliès (Abb. 7). Aus diesem Anlass prägte Eliezer Ben- Jehuda, der ‹Vater des modernen Heb- räisch›, ein hebräisches Wort für Kino: , ‹re’ino’a›, also etwa ‹bewegte Vis i- 32 7 Georges Méliès’ Dreyfus-Film in Jerusalem; on›. Seine Frau Chemda verfasste dazu Zeitungsannonce zur ersten Filmvorführung in die erste Filmkritik in Iwrit, die vom Palästina, HaZwi 1.6.1900 Wunder des Kinos zeugt:33 If you were not at Rennes during the Dreyfus trial, go to the re’ino’a to see the accused before his judges as he is, with all his movements, his walk, the emo- tion on his face, the look in his eyes, everything, everything. You will see him in the prison sitting in his cell, enclosed, sad and upset; you will also see him meet his wife who has come to see him. And you will see other nice things, you will be amazed and enjoy it a very great deal, because until now nothing as beautiful and wondrous has been invented as the re’ino’a, known in foreign languages as the Cinematograph.34 Das vorliegende Buch möchte durch die Kartierung von vier filmessayistischen ‹Kraftfeldern› die Bedeutung des Kinematografischen im Kontext des Nahostpro- blems erforschen. Die besprochenen französischen und israelisch-palästinensi- schen Filme schreiben sich auf jeweils ganz individuelle Weise in eine Geschichte ein, deren Archäologie bis ins Wien und Paris des Fin de siècle reicht. 31 Tryster: Israel before Israel. Silent cinema in the Holy Land, S. 179. Eva Illouz wendet in ihrem Artikel «Dreyfus in Israel. Ein Gedankenexperiment» (2012) die Werte des Liberalismus, des Universalismus und der Menschenrechte, die die Dreyfusards geleitet hatten, auf die israelische Gesellschaft an, vgl. Illouz, Eva: Israel. Soziologische Essays, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 99–110. Obwohl die Dreyfus-Affäre ein Hauptgrund für Herzls Abkehr von der Perspektive der jüdi- schen Emanzipation war, spielte sie im zionistischen bzw. israelischen Kino kaum mehr eine Rolle; vgl. Tryster, Hillel: «Das Ende der Diaspora. Der israelische Film», in: Rother, Rainer (Hg.): Mythen der Nationen: Völker im Film, Leipzig: Koehler & Amelang 1998, S. 131–149, hier S. 132. 32 ‹Re’ino’a› steht im Hebräischen für den Stummfilm. Für Film und Kino im Allgemeinen wird heute das Wort ‹kolno’a› verwendet, das ursprünglich nur den Tonfilm bezeichnete (hebr. ‹kol›: ‹Stimme›); Mitteilung v. R. S. H. Tryster, E-Mail an den Autor, 20.3.2019. 33 Tryster: Israel before Israel. Silent cinema in the Holy Land, S. 179. 34 Übers. v. R. S. H. Tryster, E-Mail an den Autor, 20.3.2019; siehe Shohat: Israeli cinema, S. 13 ff. Shohat berichtet von ultra-orthodoxen Störaktionen gegen die ersten Kinos ab 1908 (ebd.). 70 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Und die Menschen gehen in Kleidern schwankend auf dem Kies spazieren unter diesem großen Himmel, der von Hügeln in der Ferne sich zu fernen Hügeln breitet. – Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes [ca. 1910]1 Die im ersten Teil umrissenen filmanalytischen Leitmotive werden im Folgen- den an einem ersten filmischen Kraftfeld erprobt, an Chris Markers Film über Israel aus dem Jahr 1960: Description d’un combat (dt. Beschreibung eines Kampfes).2 Neben der Beschreibung seiner essayistischen Poetik geht es in diesem Kapitel auch um die eigentümliche Zeitlichkeit dieses Filmes. Um das kontingente Ereignisuniversum aus Bildern, Gesten, Äußerungen, Begegnungen, Korrespon- denzen und Zufällen zu erschließen, das Description d’un combat umgibt, wird die Darstellung auch erzählende und collagierende Schreibweisen verwenden. Nachdem der Film zunächst als Modell für eine neue Art von Film gepriesen wurde, verschwand er bald nach seiner Premiere aus der Öffentlichkeit. Erst Jahr- zehnte später erlebte er in Description of a Memory (ISR 2006) des israelischen 1 Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente 1, hg. v. Malcolm Pasley und Hans-Gerd Koch, Schriften, Tagebücher – Kritische Ausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer 2002, S. 54. 2 Eine erste Version dieses Kapitels wurde 2010 publiziert, Grabher, Peter: «Die Zeitlichkeit von Zeichen», Maske und Kothurn 56/2/2010, S. 127–140; Teile wurden im Rahmen eines Panels zum ‹Left Bank Cinema› im August 2010 bei ‹Visible Evidence XVII – International Documen- tary Studies Conference› an der Boğaziçi Üniversitesi in Istanbul präsentiert. 71 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Regisseurs Dan Geva eine kritische Rekonstruktion. Im Unterschied zu den meis- ten fiktionalen oder dokumentarischen Kino- und Fernsehfilmen, die sich in die Repräsentationsgeschichte Palästina-Israels eingeschrieben haben, blendet Mar- ker die Frage nach dem prekären Status filmischer Darstellung nicht aus. Jenseits von «dokumentarischen Jargons der Eigentlichkeit»3 (Hito Steyerl) und fiktionalen Realitätseffekten konstruiert er sein Sujet aus einer Lektüre visueller Zeichen. Von Beginn an distanziert er sich vom Glauben an die Möglichkeit eines unvermittelten Zugangs zur ‹Realität›, der damals das junge Medium Fernsehen dazu inspirierte, die Welt in Echtzeit zu mediatisieren. Durch ihre simultane und globale Aufzeich- nung und Ausstrahlung würde sie endlich transparent werden. Erstmals spielte 1960 das Fernsehen eine wahlentscheidende Rolle: Kenndy gewann die US-Präsident- schaft, weil er in den TV-Duellen eine weitaus bessere Figur machte als sein Kon- trahent Nixon. Die ‹Ära des Bildschirms› (Laurent Gervereau) hatte die begonnen. Dass im Film die Evidenz einer transparenten Welt aber nicht zu haben ist, davon gingen Regisseure wie Orson Welles, Alfred Hitchcock und Alain Resnais in ihrer Arbeit aus. Auch Chris Marker hatte sich von seinem ersten Film an von den Parolen des ‹Cinéma verité› abgesetzt und stellte ihr sein idiosynkratisches ‹Ciné ma verité› entgegen. In Lettre de Sibérie (F 1958), seinem Filmbrief aus dem sowjetischen Sibierien, hatte Marker die Arbitrarität der Sinnkonstruktion im her- kömmlichen Kulturfilm demonstriert: Er variierte den Kuleshov-Effekt,4 indem er ein und dieselbe Sequenz dreimal mit unterschiedlichem Kommentar und Sound wiederholte und auf diese Weise ganz unterschiedliche Realitätseffekte erzeugte.5 Markers Filmkommentar hatte festgehalten, dass in Anbetracht dieses gleitenden Sinns auch die Anrufung filmischer ‹Objektivität› keinen Ausweg bietet: «Aber auch die Objektivität wird der Realität nicht gerecht. Sie deformiert die sibirische Realität nicht, aber sie sistiert sie für den Moment des Urteilens, und dadurch deformiert sie sie. Was zählt, ist der Elan und die Diversität. Und es ist nicht der Spaziergang durch die Straßen von Irkutsk, der Sie dazu bringt, Sibi- rien zu verstehen. Hierzu bräuchte es einen Film mit imaginären Nachrichten, aufgenommen an allen vier Ecken des Landes. Ich würde Ihnen diesen Film in 3 Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien: Turia + Kant 2008, S. 64. 4 Lew Kuleshov demonstrierte in den frühen 1920er-Jahren, wie die Montage selbst Bedeutungen produziert. Er kombinierte die Aufnahme eines unbewegten Gesichtes mit anderen Einstellun- gen und erreichte so ganz unterschiedliche Interpretationen des Gesichtes, dessen Ausdruck ab- hängig von der Montage als hungrig (ein Teller Suppe), traurig (ein Kind im Sarg) oder begehr- lich (eine schöne Frau) wahrgenommen wird – ein Effekt, der seither nach ihm benannt ist. 5 Vgl. Bazin, André: «Lettre de Sibérie», in: Blümlinger, Christa und Constantin Wulff (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl 1992, S. 205–208, hier S. 207 f.; sowie Tode, Thomas und Birgit Kämper: Chris Marker. Filmessayist, München: CICIM 1997, S. 227 f. 72 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker dem hübschen lackierten Kino von Irkutsk vorführen und ihn für Sie kommen- tieren, mithilfe von sibirischen Redewendungen, die selbst schon Bilder sind.»6 Ersetzt man ‹sibirisch› durch ‹israelisch›, erhält man bereits den Kern der Poetik, die Marker in Israel leiten wird. Seine Filmarbeit zielt nicht auf objekthafte Wahr- heit, sondern auf die Vielfalt einer lebendigen Wirklichkeit, die ohne Bezug auf Imaginäres, Phantasmatisches, Virtuelles unvollständig bleibt. Wie Lettre de Sibérie wird auch Description d’un combat nicht aus dokumentarischen, son- dern aus «imaginären Nachrichten» zusammengesetzt sein. Nach der Darstellung der Kontingenzen der Entstehungsgeschichte von Markers Israel-Film wird versucht, aus seinen Montagen eine spezifische Poetik herauszule- sen. Das Immanenzfeld aus ästhetischen Zeichen, das dieser Film aufspannt, wird anhand von einigen exemplarischen Konstellationen beschrieben. Zuletzt wird die spezifische Historizität von Description d’un combat nachgezeichnet, der immer wieder neue Lektüren angeregt hat – die produktivste in Dan Gevas Description of a Memory, mit dem Markers Film heute eine Art Diptychon bildet. 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Geschichte eines Films Eine zufällige Begegnung in Moskau 1959 markiert den Beginn der Geschichte von Description d’un combat. Mitten im Kalten Krieg trafen sich beim Moskauer Filmfestival die israelischen Filmenthusiasten Lia und Wim van Leer mit dem fran- zösischen Autor, Publizisten und Filmemacher Chris Marker. Das Ehepaar van Leer war mit einigen Filmkopien zum Festival angereist, das zum ersten Mal in seiner Geschichte Filme aus Israel zeigte. Die drei kurzen Filme, die sie nach Moskau mit- gebracht hatten, behandelten in naiver bis propagandistischer Weise Themen wie die Bewässerung einer Wüstenregion, die Situation der Frauen in der Armee und die Geschichte der Briefmarkenherstellung im jungen Staat Israel. Viele sowjetische Juden, die eigens angereist waren, um die Filme zu sehen, schienen enttäuscht gewe- sen zu sein. Wim van Leer überlieferte später Reaktionen, die er zu hören bekam: Jetzt sind wir bis aus Kiew gekommen, um israelische Filme zu sehen, und da zeigen Sie uns so einen Mist.7 Solche Erfahrungen motivierten die Van Leers, selbst einen Film zu produzieren, der auch hochgesteckte Erwartungen erfüllen sollte: 6 Übers. d. Autors. 7 O. V.: «Beschreibung eines Kampfes», Die Kultur Juli 1961. 73 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Unser Ziel war es, einen ernsthaften Film ohne Vorurteile zu schaffen, der die Errungenschaften und Fehlschläge ohne Klischees zeigen sollte, ohne einen Traktor, der das Land des Keren Kayemeth vor dem Hintergrund eines Son- nenuntergangs pflügt; ein Film ohne Fabriken, Spitäler und Minister in ein- drucksvollen offiziellen Zeremonien.8 Und an anderer Stelle: Es gibt viele Israel, ich kenne sie alle, nur eines kenne ich nicht: Das Israel der offizi- ellen Propaganda-Filme. […] Genau das wollte ich, Klischees über Israel zerstören.9 In seiner Autobiografie beklagte Wim van Leer den marginalen Status, der dem Kino in Israel zunächst zukam: As the People of the Book, books where the pinnacle of culture, closely followed by classical music, the cultural lingua franca of sophistication. The theatre was a modern development of the Purim spiel, the traditional charade, with hissable evil and tear-stained virtue clearly defined. But films where strictly for the hoi-pol- loi, to whose patronage no self-respecting person would admit. Ben-Gurion, for example, pretended never to have visited a cinema before the premiere of Exodus.10 Die Van Leers hatten Markers Dimanche à Peking (F 1956) und nun auch Lettre de Sibérie (F 1958) gesehen. Sie luden ihn ein, einen Film in Israel zu dre- hen, eine Art «Lettre de Tel Aviv».11 Lia und Wim van Leer haben vieles geschaf- fen, was heute Israels Filmkultur ausmacht. Lia van Leer (1924–2015) wuchs in Bessarabien auf und lebte seit 1939 im britischen Mandatsgebiet Palästina. Durch den Kriegsbeginn wurde aus einem Besuch bei ihrer Schwester in Tel Aviv ein dauernder Aufenthalt. Wim van Leer (1913–1992) stammte aus einer liberalen Amsterdamer Kaufmannsfamilie. Als junger Mann hatte er an der von Joris Ivens und anderen gegründeten Film-Liga teilgenommen.12 Den Zweiten Weltkrieg überlebte er in England, wohin er bereits vor 1939 emigriert war. Von hier aus half er deutschen Juden bei der Flucht, etwa einer Gruppe junger Männer aus Leipzig, die er im Jänner 1939 im Künstlerort Welwyn Garden City unterbrachte. 1948 übersiedelte der ausgebildete Pilot und Ingenieur nach Israel, wo die bei- den sich trafen, heirateten und ohne jede staatliche Hilfe vielfältige filmische 8 Aus einem Text von Wim van Leer, der in einem Zeitungsartikel aus Anlass seines Todes zitiert wurde: Haim, Shmueli: «Hachad Hashlishi shel ha-Matbea [Die dritte Seite der Münze]», Davar (Tel Aviv) 24.7.1992, S. 24–25, hier S. 24. 9 O. V.: «‹Beschreibung eines Kampfes›», Die Kultur, Juli 1961. 10 Leer, Wim van: The Time of My Life, Jerusalem: Carta & Jerusalem Post 1984, S. 342. 11 Marker, Chris: Commentaires, Paris: Seuil 1961, S. 125. 12 Vgl. Leer: The Time of My Life, S. 341. 74 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Aktivitäten entfalteten. Inspiriert von der Amsterdamer Film-Liga begründeten die van Leers 1955 den ersten israelischen Filmklub im Pe’er Cinema in Haifa. Sie zeigten dort 16-mm-Filmkopien, die sie von Festivals in aller Welt mitbrachten. Der Klub hatte etwa 200 Mitglieder, jährlich wurden rund 15 Filme gezeigt. In Tel Aviv und Jerusalem entstanden bald Filialen dieses Good Film Clubs. Ihre Samm- lung von Filmen bildete den Grundstock des Israel Film Archive, das sie 1961 – im Premierenjahr von Description d’un combat – gründeten.13 Aus verschiedenen Gründen muss Chris Marker (1921–2012) die Idee eines Films über Israel angezogen haben. Alle seine bisherigen Filmreisen hatte Marker in Länder unternommen, die sich im Umbruch befanden, in denen etwas Neues im Entstehen war. In diesen gesellschaftlichen Experimenten suchte er nach Alter- nativen zur globalen Lähmung des Kalten Krieges, in dem die sozialen Energien zwischen kapitalistischem und stalinistischem Block eingeklemmt waren. Marker reiste nicht wie Jules Vernes Held Phileas Fogg in 80 Tagen, sondern «in 80 Revolu- tionen»14 um die Welt, wie Roger Tailleur 1963 formulierte. Nach China, Korea und der sowjetischen Provinz Sibirien musste ihn Israel als Sujet interessieren, handelte es sich doch um einen Staat, der sich erst in jüngster Vergangenheit hatte selbst erfinden müssen, ähnlich wie Kuba, wohin ihn seine nächste Reise führen würde.15 Ein weiterer Aspekt von Markers Interesse an Israel resultierte aus seiner persön- lichen Geschichte: Als ehemaliges Mitglied der Résistance16 hatte er sich nach 1945 wiederholt in Debatten um filmische Erinnerungspolitik eingemischt. 1954 hatte er das deutsche Nachkriegskino in der Perspektive seiner geschichtlichen Verant- wortung kritisiert.17 Mit Alain Resnais und Jean Cayrol hatte er am Kommentar von Nuit et brouillard (F 1955) mitgearbeitet, jenem ersten Versuch, den Weg zum Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen in einem Film darzustellen, beginnend mit der antisemitischen Hetze und Diskriminierung, dem Aufbau des 13 Während sich ihr Ehemann später vom Kino zurückzog, wurde Lia van Leer zur ‹Mutter aller Kinematheken›: 1973: Cinemateque Haifa, Jerusalem Film Center, 1975: Cinemateque Beit Agron, 1980: Neubau der Cinemateque Jerusalem, 1984–2006: Gründung und Leitung des Jeru- salem International Film Festival. 1987 brach sie in Jerusalem ein Tabu, als sie begann, auch am Sabbat Filme zu zeigen. 2004 erhielt sie die höchste staatliche Auszeichnung für ihr Lebens- werk, den Israel-Preis. Taly Goldenberg drehte über sie das Filmporträt Lia (ISR 2011, 65 min). 14 Tailleur, Roger: «Markeriana», Artsept 1/1963: https://chrismarker.org/chris-marker-2/markeriana- by-roger-tailleur (zugegriffen am 6.3.2017). 15 Raymond Bellour und Jean Michaud schrieben dazu 1961: «Nach dem Sprung ins kubanische Wasser nimmt das Werk von Chris Marker ganz einfach den Sinn eines revolutionären Werks an. Und wo- nach ruft ein revolutionäres Werk? Ein revolutionäres Werk ruft zu den Waffen.» Michaud, Jean und Raymond Bellour: «Apologie de Chris Marker. ‹Signes …› / Commentaire pour Description d’un combat, par Chris Marker», Cinéma 61 / Juni 1961, S. 33–47, 155–157, hier S. 47 (Übers. d. Autors). 16 Marker war Mitglied der Francs-tireurs et partisans (FTP), vgl. Bellour, Raymond: Dictionnaire du cinéma, Paris: Éditions universitaires 1966, S. 482. 17 Marker, Chris: «Deutscher Film, adieu?» [1954], in: Kotulla, Theodor (Hg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Band 2: 1945 bis heute, München: Piper 1964, S. 132–138. 75 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva ‹Système concentrationnaire› (Olga Wormser- Migot) und endend mit der systematischen Deportation und Ver- nichtung.18 Marker begegnete Israel daher mit einer Haltung, die von grundsätzlicher Sympathie und An- teilnahme geprägt war und die bei aller kritischen Reflexion seinen Film auch emotional grundiert.19 8 Das Aufnahmeteam von Description d’un combat: Wim van Leer fungierte mit sei- In der Mitte der Kameramann Ghislain Cloquet, ner Firma Van Leer Films Produc- rechts mit Pfeife Wim van Leer, im Schattenprofil der 20 Fotograf und Filmemacher selbst tions als israelischer Produzent. In Frankreich produzierte den Film der junge André Valio-Cavaglione,21 der über seine eigene Produktionsgesellschaft SOFAC (Société des Films d’Art et de Culture) französische Fördergelder aqui- rierte. Van Leer brachte rund $ 60.000 zusammen, offenbar ohne Subventionen offizieller israelischer Stellen.22 Dieses Budget versetzte Marker zum ersten Mal in die Lage, einen Farbfilm mit Eastmancolor 16-mm-Farb-Material zu drehen. Gemeinsam mit Yaakov Malkin, dem späteren Sprecher des Kommentars der hebräischen Fassung des Films, durchquerte Marker im Jänner 1960 Israel auf einer Vespa, die ihm van Leer besorgt hatte. Alle Personen und Orte, die er ken- nenlernte, waren ihm von van Leer und Malkin vorgeschlagen worden.23 In sei- nen Commentaires24 berichtete Marker, dass er auf der Basis von 800 Fotos, die er in dieser Zeit gemacht hatte, einen ersten Plan für den Film erstellt hatte.25 18 Siehe Lindeperg, Sylvie: ‹Nuit et brouillard›. Un film dans l’histoire, Paris: O. Jacob 2007. 19 Siehe dazu einen Text Markers von 2001, in dem er sich an eine Episode aus der Zeit der Flucht der Juden nach Palästina erinnert: «Évocation de Chris Marker» (2001): http://www.drame. org/blog/index.php?2012/07/31/2377-evocation-de-chris-marker (zugegriffen am 17.4.2020). 20 Vgl. Le Roy, Eric: «Les rivières souterraines de Description d’un combat (Généalogie d’un générique)», in: Argos Films (Hg.): Description d’un combat, un film de Chris Marker et De- scription d’un souvenir, un film de Dan Geva [DVD-Booklet], Paris: Tamasa 2017, S. 7–21, hier S. 13. Van Leer drehte und produzierte später selbst einige Filme: There is a Future in the Past (1962), Song of Acco (1964), Dr Löwenstein, I Presume (1968). 21 Ebd. 22 Vgl. Haim: «Hachad Hashlishi shel ha-Matbea [Die dritte Seite der Münze]», S. 25. Mög- licherweise stellte auch die von van Leers Vater gegründete Bernard van Leer Foundation Geld zur Verfügung. Wim van Leer war seit dessen Tod 1958 an der Geschäftsführung dieser Stif- tung beteiligt. 23 Vgl. Le Roy: «Les rivières souterraines de Description d’un combat (Généalogie d’un générique)», S. 13. 24 Marker, Chris: Commentaires, Paris: Le Seuil 1961, S. 125. 25 Einige dieser Fotos wurden später im Film verwendet, andere fügte er Jahre später in seinen Fotofilm Si j’avais quatre dromedaires (1966) und in die CD-ROM Immemory (1997) ein. 76 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Im Verlauf der Dreharbeiten im Mai und Juni 1960 (Abb. 8) ist dieses Szenario jedoch offenbar stark verändert worden. Aus Sicht der Produzenten sollte Mar- kers Film vor allem ein jüdisches und nicht-jüdisches Publikum außerhalb Israels erreichen und diesem ein adäquates Bild der Lebenswirklichkeiten in dem jungen Staat vermitteln. Van Leer berichtete von den Vertragsverhandlungen: «Er ist hart- näckig und stur, Marker. Er fordert grenzenloses Vertrauen».26 Marker verlangte völlige künstlerische Freiheit ohne die Verpflichtung, das Skript irgend jeman- dem, das Produktionsteam eingeschlossen, vorzulegen. Auf die Frage, «[u]nd wenn der Film anti-israelisch ist?», habe Marker geantwortet: «Ich mache keine Filme gegen etwas. Dafür ist das Leben zu kurz.»27 Die Montage des Films erfolgte von Juli bis Oktober 196028 fern von Israel in einem Pariser Schneideraum. Eva Zora, die für den Schnitt verantwortlich war, berichtet, sie hätte tagsüber nach Markers Angaben editiert, während dieser nächtens den im Werden befindlichen Film sichtete.29 In der Früh fand sie exakte schriftliche Anweisungen sowie extern produzierte Materialien  – Archiv-Auf- nahmen, Fotos und Dokumente, Tricksequenzen und Musikaufnahmen –, die sie dann am Schneidetisch einarbeitete. Eva Zora zufolge gab es kein Drehbuch: Der Film setzte sich zusammen wie ein Puzzle und kein anderer kannte den Plan seiner definitiven Komposition, der im übrigen gar nicht existiert haben dürfte.30 Im Schichtbetrieb entstand eine Collage aus diversen Materialien. Eva Zora: Nach und nach, Szene für Szene. Ich hatte keine Ahnung, was das geben würde. Die Archivbilder hat Chris mitgebracht, wie seine Fotos, die im Film und im Vorspann verwendet wurden. Es war alles ziemlich geheim. Chris brachte mir ausgewählte Materialien, ich wusste nicht, woher die kamen, auch nicht die Trickaufnahmen. Ich machte dann den Schnitt nach seinen Angaben. Manchmal gab es Anpassungen zu machen, denn er war sehr genau, obwohl er die Technik nicht beherrschte. […] Alles wurde verwen- det. Der Film ist kurz und alles war vorbereitet, es gab keinen Verschnitt. Damals machte man keine einstündigen Filme. Es ist eine ziemlich schräge 26 Zit. nach Haim: «Hachad Hashlishi shel ha-Matbea [Die dritte Seite der Münze]», S. 24. 27 Ebd. 28 Vgl. Le Roy: «Les rivières souterraines de Description d’un combat (Généalogie d’un générique)», S. 21 (Übers. d. Autors). 29 Vgl. ebd., S. 16. Marker und Zora kannten sich von der Arbeit an François Reichenbachs L’amerique insolite (F 1960). 30 Zit. nach Le Roy, Eric: «Eva Zora, monteuse. Entretien», in: Argos Films (Hg.): Description d’un combat, un film de Chris Marker et Description d’un souvenir, un film de Dan Geva [DVD-Booklet], Paris: Tamasa 2017, S. 53–60, hier S. 56 (Übers. d. Autors). 77 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Filmlänge und wenig konventionell, nicht an die Distribution in der Zeit angepasst. Aber Chris kümmerte sich nicht um die gängigen Formate. Der Film ist genauso, wie er ihn wollte.31 Als Marker in Israel zu drehen begann, war ein anderer Regisseur ebenfalls mit einem Filmteam unterwegs, um einen Film zu drehen, der die visuelle Repräsen- tation Israels unvergleichlich stärker als sein Film prägen würde. Otto Preminger drehte von März bis Juli 1960 an Originalschauplätzen Exodus, jene epische Insze- nierung des Haganah-Narrativs von der Geburt Israels. Seine Verfilmung von Leon Uris’ Roman aus dem Jahr 1958 würde in der Repräsentationsgeschichte Israels einen prominenten Platz einnehmen.32 Für die Einschätzung von Description d’un combat ist es aufschlussreich, auf den ungleich bekannteren Exodus näher einzuge- hen. Zahlreiche offizielle Stellen förderten Premingers Film. Giora Goodman zufolge lief die breite Unterstützung unter dem Namen ‹Operation Exodus›. Sie bedeutete the culmination of a decade of Israeli government efforts to harness the power of Hollywood to the Israeli cause. The Zionist movement had been extensively concerned since its inception with direct and indirect production and pro- motion of films for the sake of ‹hasbara› (literally: explanation), the common Hebrew term for propaganda activities.33 Ari Ben-Kanaan stellt in Premingers Film einen jungen Sabra dar, der im Kibbutz geboren und aufgewachsen ist. Seiner Figur korrespondierte durchaus eine sozi- ale Wirklichkeit, vor allem erlaubte sie jedoch westlichen Betrachter*innen zwi- schen den Bildern des neuen und des mythischen Israel einen Kurzschluss herzu- stellen: Wie dem biblischen Auszug aus Ägypten folgte dem Exodus aus Europa die Gründung eines schützenden Gemeinwesen. Die Figur Ben-Kanaans in der Verkörperung durch den blonden, braungebrannten Paul Newman lud auch ein nicht-jüdisches Publikum zur Identifikation mit einem Retter ein, der die nobels- ten Züge des jungen Staates idealtypisch zu verwirklichen schien. Exodus sig- nalisierte außerdem die zunehmende Annäherung Israels an die USA, seine zunehmende Amerikanisierung, die auch in der konsumistischen Waren- und Popkultur dieser Epoche immer deutlicher wurde.34 Goodman berichtet weiters, 31 Vgl. Le Roy: «Eva Zora, monteuse. Entretien» S. 56 (Übers. d. Autors). 32 Vgl. Loewy, Ronny: «Exodus, 1960», in: Rother, Rainer (Hg.): Mythen der Nationen: Völker im Film, Leipzig: Koehler & Amelang 1998, S. 272–275; weiters Kaniuk, Yoram: Und das Meer teil- te sich. Der Kommandant der Exodus, München: List 1999. 33 Goodman, Giora: «‹Operation Exodus›: Israeli government involvement in the production of Otto Preminger’s film Exodus (1960)», Journal of Israeli History 33/2/2014, S. 209–229, hier S. 209 f. 34 Vgl. Silver, M. M.: Our Exodus: Leon Uris and the Americanization of Israel’s founding story, Detroit MI: Wayne State UP 2010; weiters Burston, Bradley: «The ‹Exodus› Effect: The 78 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker dass die Dreharbeiten für Exodus in Israel zu heftigen Auseinandersetzungen führten, nachdem die linke Wochenzeitung Olam ha-Zeh Teile des Filmskripts publiziert und die anti-arabische Haltung sowohl der Buchvorlage als auch des Filmskripts kritisiert hatte: The public exposure of scenes depicting the Arabs negatively in the book and film resulted in attacks on Exodus in the socialist and communist Arabic press. During filming at Kfar Kanna, including scenes in which Jewish forces led by Ben Canaan conquer the village, leaflets calling to boycott the produc- tion were distributed in nearby Nazareth and cars belonging to the film crew were pelted with stones.35 Moshe Zimmermann schrieb 2006 über die Bedeutung von Exodus: Jeder weiß, dass das Image Israels weniger auf historischen Fakten als viel- mehr auf der medialen Präsentation und Interpretation von Fakten beruht. […] So sieht Israel in den Augen der Konsumenten von Hollywood-Produk- tionen aus; es ist das wirkungsvollste Israel-Bild überhaupt. Darunter leiden an erster Stelle die Palästinenser bis heute.36 Umso interessanter ist vor diesem Hintergrund Markers Film. Auch in Description d’un combat spielte die Flucht jüdischer Displaced Persons ins umkämpfte Palästina des Jahres 1947 eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu Premingers Hollywood-Epopöe blieb Markers Film jedoch bis heute ein marginales Werk, selbst in dessen Œuvre. Er war lange ein ‹unsichtbarer› Film, den auch die umfängliche Forschung zu Chris Marker und dem Essayfilm bisher kaum beachtet hat.37 Zu Unrecht, denn sein isra- elischer Travellogue erweist sich sechzig Jahre nach seiner Fertigstellung als höchst aufschlussreiches Dokument im Rahmen einer ‹Visual History› Palästina-Israels. Monumentally Fictional Israel That Remade American Jewry», Haaretz 9.11.2012, http://www. haaretz.com/israel-news/the-exodus-effect-the-monumentally-fictional-israel-that-rema- de-american-jewry-1.476411 (zugegriffen am 23.4.2016). 35 Goodman: «‹Operation Exodus›», S. 220. 36 Zimmermann, Moshe: «Anmerkungen zum israelischen Selbstbild nach 1972, zu Deutsch- land und zu Steven Spielbergs Film München: Filme-Macher einer Nation», Berliner Zeitung 20.1.2006, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/anmerkungen-zum-israelischen-selbstbild- nach-1972-zu-deutschland-und-zu-steven-spielbergs-film--muenchen--filme-macher-einer- nation,10810590,10355180.html (zugegriffen am 3.4.2015). 37 Mit der Publikation einer französischen DVD-Edition mit ausführlichem Booklet ist der Film seit 2017 wieder zugänglich: Argos Films (Hg.): Description d’un combat, un film de Chris Marker et Description d’un souvenir, un film de Dan Geva [DVD-Booklet], Paris: Tamasa 2017. Eine deutsche oder englische DVD existiert leider nicht. Eine Bibliografie zum Film bietet: http://chris- marker.ch/longs-metrages-de-chris-marker-52.html#8YGKAYle (zugegriffen am 30.6.2018). 79 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Poetik einer Beschreibung Der Filmkommentar setzt mit folgenden aus dem Off gesprochenen Worten ein: «Zeichen. Dieses Land offenbart sich einem zunächst in Zeichen.»38 Schon die ersten Worte von Description d’un combat etablieren Distanz zum gefilmten Sujet und legen den Betrachter*innen nahe, dass das von der Kamera dem Auge Übermittelte durch eine Lektüre des Sichtbaren nach und nach erst erschlossen werden muss. Die erste und die letzte Sequenz des Filmes, die eben- falls den Begriff des Zeichens stark machen wird, setzen den gesamten Film in Klammer und distanzieren ihn von jeder filmischen Authentizitätsrhetorik. Mar- kers Arbeit besteht von Beginn an im Auffinden von Zeichen und dem Entziffern der Bedeutungen, die in den aufgenommenen akustischen und visuellen Spuren eingelagert sind. Nach der ersten Einstellung tauchen weitere ‹Zeichen› auf: Unförmige Metall- gebilde in einer Wüstenlandschaft, aus dem Off ist ein Flugzeug zu hören. Dass es sich bei den verstreuten Objekten um zerstörtes Kriegsgerät handelt, Überreste aus dem erst vier Jahre vergangenen Krieg um den Suez-Kanal, wird nicht mitge- teilt. Marker behauptet nur die Zeichenhaftigkeit dieser Objekte. Ihre Bedeutung wird in der Schwebe gehalten, sodass die Wahrnehmung der Bilder offen bleibt. Es sind Spuren eines Krieges, doch es könnten auch Skelette biblischer Unge- heuer sein, gestrandete Raumschiffe aus der Zukunft oder ‹Méta-Matics›, jene motorisierten Zeichenmaschinen, mit denen Jean Tinguely 1959 berühmt wurde. Der Kommentar verwandelt das Bild nicht in ein Dokument, es wird nicht mit einem historischen Index, einer archivarischen Bildunterschrift versehen. Marker schreibt das Bild keinem vorgefertigten Narrativ ein und gewinnt so Spielraum für seine filmische Methode: Ins Niemandsland zwischen Bild und Text drän- gende Assoziationen bilden das Material, aus dem motivische Sequenzen und Sequenzübergänge entwickelt werden. Die ‹Zeichen› hatten 1960 Konjunktur: Maurice Merleau-Pontys jüngste Essay- sammlung war gerade unter dem Titel Signes39 erschienen. Darin propagierte er 38 Zitate aus dem gesprochenen Kommentar der deutschen Fassung des Films sind in der Folge kursiv gesetzt. Es wird nach der Fassung zitiert, die 1961 bei der Berlinale gezeigt wurde. Der Text dieser Fassung liegt als Typoskript vor: Marker, Chris: Beschreibung eines Kampfes, Frankfurt a. M.: Deutsches Institut für Filmkunde, Frankfurt 1961. 2014 erschien eine deut- sche Ausgabe von Markers Commentaires, die auch den Kommentartext von Beschreibung eines Kampfes in einer neuen Übersetzung von Erich Brinkmann und Rike Felka bietet; Mar- ker, Chris: Kommentare 1, Berlin: Brinkmann & Bose 2014. 39 Merleau-Ponty, Maurice: Signes, Paris: Gallimard 1960. Roger Tailleur erwähnte Merleau-Pon- ty in seiner Kritik von Description d’un combat; vgl. Tailleur, Roger: «Description d’un combat», Positif 40 / Juli 1961, S. 75–76, hier S. 75. 80 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Claude Lévi-Strauss’ Adaption der strukturalen Auffassung des Zeichens bei Saus - sure für den Bereich der gesamten Humanwissenschaften und gab damit den Start- schuss für die strukturalistische Bewegung. Markers Semiotik sträubt sich aller- dings gegen die strukturale Systematik. Das Marker’sche Zeichen hat mit dem Sig- nifika/n/ten Saussures weniger zu tun, als mit den ideogrammatischen Zeichen, die Henri Michaux40 und später Roland Barthes41 in Asien fanden. Signifikant und Signifikat gehen in diesem Zeichen ineinander über. Es verhält sich eher wie jene «Signatur», die Giorgio Agamben zufolge «stets in die Position des Signifikats hin- ein[rutscht]» und so in eine «Zone der Unentscheidbarkeit»42 eintritt. Es unter- läuft die Teilung zwischen Figurativem und Semantischem, zwischen Bild und Wort. Wenn das Wahrgenommene selbst zum Zeichen wird, fällt dieses mit dem Bezeichneten zusammen. Es kommt zeichentheoretisch gesehen zu einer «Semio- tisierung des Referenten»43 (Umberto Eco). In Markers Vision einer zeichenhaf- ten Welt – die auch sein Chef d’œuvre Sans soleil noch prägte – lebt die auf das Mittelalter zurückgehenden Vorstellung vom ‹Buch der Natur›44 außerhalb ihrer theologischen Fundamente fort. Marker teilt jenes «Weltbild Prousts»,45 das Gilles Deleuze 1964 – sich damit vom Strukturalismus abgenzend – als eine Vision der Welt beschrieb, die ohne das beruhigende Vertrauen in die Objektivität der Physik und in das unendliche Vermögen des philosophischen Geistes auskommen muss: Wir haben Unrecht, wenn wir an Fakten glauben, es gibt nur Zeichen. Wir haben Unrecht, wenn wir an die Wahrheit glauben, es gibt nur Interpretatio- nen. Das Zeichen ist eine immer äquivoke, implizite und implizierte Bedeu- tung. […] Wenn der Duft einer Blume ein Zeichen gibt, geht er über die Gesetze der Materie und gleichzeitig über die Kategorien des Geistes hinaus. Wir sind weder Physiker, noch Metaphysiker: Wir müssen Ägyptologen werden.46 Marker liest, was er in Israel sieht, mit den Augen eines solchen Ägyptologen. Er notiert die Ergebnisse seiner visuellen Lektüre vermittels Alexandre Astrucs47 40 Vgl. Michaux, Henri: Un barbare en Asie [1933], Paris: Gallimard 1989. 41 Vgl. Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 42 Agamben, Giorgio: Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 46. 43 Eco, Umberto: Zeichen: Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1977, S. 63. 44 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 45 Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen, Berlin: Merve 1993, S. 76. 46 Ebd. 47 Marker und Astruc kannten sich persönlich. Beide waren Mitglied in dem 1953 gegründe- ten Groupe de trente, einer ‹Organisation de défense du court métrage cinématographique français›, der auch Roger Leenhardt, Georges Franju, Jacques Demy und Alain Resnais ange- hörten. Offenbar stand Astruc später Marker und Agnès Varda distanziert gegenüber; vgl. Ast- ruc/Simsolo: Le plaisir en toutes choses, S. 58. 81 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva ‹Caméra-stylo› und nimmt André Bazins Idee wörtlich, Film sei letztlich eine Komposition von Zeichen, mit vielfältigeren Ausdrucksmöglichkeiten als jede andere Kunst, nicht zuletzt jener, auch die spezifische Zeitlichkeit seiner Zei- chen darzustellen zu können.48 Bazin zufolge spricht das Kino die konkrete und zugleich universelle Sprache der Objekte, daher komme es zu einer Art dialektischer Überschreitung der Sprache. Die Sprache ist aus der Zeichnung herausgetreten, aus dem Bild, das sich durch den Symbolismus der Hieroglyphe zum reinen Zeichen gemacht hat.49 Der Filmtext spezifiziert verschiedene Kategorien von Zeichen: «Erdzeichen» – die Aufnahme einer Wüstenlandschaft, «Wasserzeichen» – eine Totale zeigt einen mäan- dernden Fluss, «Menschenzeichen» – eine Totale zeigt eine Ansiedlung am Horizont. Mit einem dumpfen Paukenschlag wechselt die Ansicht, die Kamera zeigt den Ver- lauf einer Pipeline durch die Wüste, dann eine Straße, im Vordergrund ein Verkehrs- zeichen. Die Statik dieser Einstellung wird durch das unvermittelte seitliche Auf- tauchen eines Dromedars gebrochen (Abb. 9). Das Erscheinen des ersten bewegten Objekts im Film ist von lakonischem Witz. Markers Bild-Text-Montage steuert ihre Interpretation nicht durch explizite ‹Beschilderung›: Nichts spricht gegen die Les- art, die Bedeutung des Verkehrszeichens, das Autofahrer vor Unebenheiten warnt, hätte sich mit dem Auftauchen des Dromedars in ein Zeichen zum Schutz dessel- ben verwandelt. Das gesprochene Wort «Zeichen» initiiert – «vom Ohr zum Auge»50 (André Bazin) – einen zweiten Blick auf die zufällige Begegnung. Die dokumentari- sche Wahrheitsbehauptung wird durch einen Blick gebrochen, der überall Zeichen sieht. Diese sind transitorisch, in Bewegung, flüchtig. In der Begegnung mit anderen Zeichen nehmen sie einen neuen Sinn an: Die Begegnung der beiden ‹Höcker-Zei- chen› generiert einen vorübergehenden Sinn, der die Gewissheiten des dokumenta- rischen Bildes unterminiert. Eric Zakim zufolge sind Markers Zeichen not signs of things. Rather they are signs of other signs, in an endless intertex- tual regression […]. Thus the landscape doesn’t present itself as such, but as a reference to other references.51 48 Vgl. Bazin, André: «Le langage de notre temps», in: Chevalier, Jacques (Hg.): Regards neufs sur le cinéma, Paris: Seuil 1953, S. 11–21, hier S. 14. Zum Verhältnis von Bazin und Marker siehe Co- oper, Sarah: «Montage, Militancy, Metaphysics: Chris Marker and André Bazin», Image & Nar- rative 11/1/2010, S. 16–28. 49 Bazin: «Le langage de notre temps», S. 13 f. (Übers. d. Autors). 50 Bazin: «Lettre de Sibérie», S. 207. 51 Zakim, Eric: «Chris Marker’s Description of a Struggle and the Limits of the Essay Film», in: Papazian, Elizabeth A. und Caroline Eades (Hg.): The essay film: dialogue, politics, utopia, Lon- don / New York: Wallflower Press 2016, S. 145–166, hier S. 161. 82 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 9 Chris Marker liest Israel als Zeichenlandschaft; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:01:30) Einen seiner letzten Texte widmete André Bazin Markers einzigartiger Montage- technik: Ein Bild sei «nicht mehr auf ein ihm vorausgegangenes oder folgendes» bezogen, sondern «gewissermaßen seitwärts auf das gerichtet, was gesagt wird».52 Bazin nannte dies «horizontale»53 Montage. Ihr Einsatz zielt auf die schöpferi- sche Modifikation semantischer Ordnungen. Markers Verfahren konnte sich dabei eher auf Projekte literarischer Weltverfremdung – etwa bei Kafka, Girau- doux oder Michaux – stützen als auf die Tradition des dokumentarischen Films. Mit dem Dromedar und dem Verkehrszeichen scheinen einander zwei Geschich- ten, zwei Geschwindigkeiten zu kreuzen: Israels Modernität einerseits, die bäuerli- che Lebensweise der arabischen Bevölkerung andererseits. Das als Zeichen dieser Begegnung wahrnehmbare Bild zeigt die beiden Elemente nicht in schroffer Diffe- renz, sondern als Relation in einem geteilten Raum. Das schwierige Aufeinander- treffen dieser beiden Welten bilde aber nicht den entscheidenden Kampf Israels, wird Markers Film in der Folge argumentieren. Die sekundäre Bearbeitung der Montage konzentrierte sich auf die spannungsreichen Beziehungen zwischen den Lebenswelten, die Israel ausmachen. Das «ästhetische Cogito»54 (Roger Tailleur) kreiert aus der Unordnung der Dinge eine neue Ordnung. Die Montage stellt am Schneidetisch überraschende Relationen her, Guy Gauthier zufolge ein wenig in der Weise, wie sie die Surrealisten verstanden, wenn sie von jenem berühmten Zusammentreffen eines Regenschirms und einer Nähma- schine auf einem Seziertisch sprachen. […] Chris Marker ist ein Meister in diesen ungewöhnlichen Annäherungen.55 52 Bazin: «Lettre de Sibérie», S. 207. 53 Ebd., S. 206. 54 Tailleur: «Description d’un combat», S. 75. 55 Gauthier, Guy: «Description d’un combat», Image et Son 180–181  / Jänner-Februar 1965, S. 74–75 (Übers. d. Autors). 83 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva In einem frühen Text beschrieb Marker, der in jungen Jahren kurz Artauds Sekre- tär gewesen war, dieses surrealistische Verfahren. Dabei grenzte er bereits eine Ästhetik der Zeichen von einer symbolistischen Ästhetik ab: Ein Film, der billigste wie der symbolistischste, ist zunächst eine Folge von Ereignissen, die auf einer Leinwand präsentiert werden. […] Buñuel und Dalí rekurrieren auf die Mittel des surrealistischen Schocks, der vor allem aus einer Begegnung besteht. Es geht nicht darum, zu symbolisieren, sondern darum, Objekte oder Zeichen sich auf dem neutralen Gebiet des Films begeg- nen zu lassen – so wie es uns selbst der Traum enthüllt, wenn er jene Erinne- rungen und Zeichen aneinander fügt, die unser Bewusstsein trennte.56 Die von der Montage induzierten ‹chocs› können eingefahrene Wahrnehmungs- muster und Schemata aufsprengen. Marker empfiehlt den Leser*innen, sich die Bedeutung der Bilder für das eigene Denken bewusst zu machen sowie dass die Ideenassoziation oft eine einfache Bildassoziation ist. Bilder, die durch ein Lied, eine Erinnerung oder irgendeine Erregung in Bewegung gesetzt werden, nehmen gern die Form eines surrealistischen Films an, ohne dabei dem Wahnsinn zu entsprechen. Nur die Sklerose der Gewohnheit macht den Zuschauer im Kino unempfänglich für eine Verkettungsweise, die ihm im Grunde näher ist als die sakrosankte Logik.57 Auch die von Marker begründete Reiseführer-Reihe ‹Petite planète›, in der 1957 ein Band von David Catariva über Israel erschienen war, überraschte durch freie Bildauswahl und ungewöhnliche Kombination von Bildern und Texten.58 In der Zusammenarbeit mit Alain Resnais (in Toute la mémoire du monde, Les sta- tues meurent aussi und Nuit et brouillard) und seinen ersten eigenen Fil- men der 1950er-Jahre hatte Marker die autoritäre Dominanz des Kommentars im herkömmlichen Kulturfilm zu enthierarchisierten Bild-Ton-Verhältnissen umge- arbeitet, in denen weder der Ton das Bild, noch das Bild den Ton dominierte. In einer seiner seltenen poetologischen Erklärungen formulierte Marker dazu: Der Text kommentiert ebensowenig die Bilder, wie die Bilder den Text illust- rieren. Es sind zwei serielle Sequenzen, bei denen es natürlich geschieht, dass 56 Marker, Chris: «L’avant-garde française: Entr’acte, Un chien andalou, Le sang d’un poète», in: Chevalier, Jacques (Hg.): Regards neufs sur le cinéma, Paris: Seuil 1953, S. 249–255, hier S. 251, 253 (Übers. d. Autors). 57 Ebd., S. 251. 58 Dieser Band enthielt bereits ein Foto, das Dromedare vor diesem Verkehrszeichen zeigte, Cata- riva, David: Israel, Paris: Seuil 1957, S. 180. 84 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker sie sich kreuzen und aufeinander verweisen, wobei es aber unnötig ermüdend wäre, wenn man versuchte, sie einander gegenüberzustellen.59 Neben der horizontalen Montage war ein weiteres tragendes Element von Markers essayistischer Entauthentisierung des filmischen Materials die Verwendung von Musik und Geräuschen, die die Bilder aus ihrem ‹organischen› Zusammenhang lösen.60 Immer wieder werden sie durch die orchestrale Musik Lalans, einer fran- ko-chinesischen Komponistin und Malerin, verfremdet. Oft setzt die Musik einen affektiven Kontrapunkt zum Bildinhalt. Perkussion und Kontrabass sind dabei die leitenden Instrumente. Vor allem die synthetischen Sounds des Toningenieurs Pierre Fatosme verleihen dem Film eine futuristische Atmosphäre, als käme das Filmteam nicht nur aus einem fernen Land, sondern auch aus einer anderen Zeit – das gefilmte Land wird zum ‹Fremdland›.61 «Marker bringt uns einen Science-Fic- tion-Film zurück»,62 schrieb François Weyergans 1961 in den Cahiers du cinéma. In Description d’un combat wird die Sichtweise der Semiologie in den Modus des Kinematografischen übertragen. So wird ein Aspekt der Zeichenhaftigkeit sichtbar, der hinter der Frage der Bedeutung meist verschwindet: die Zeitlichkeit von Zeichen. Bereits als Marker seinen ersten Film Olympia 52 (F 1952) drehte, stand die Frage der Temporalität des filmischen Zeichens im Zentrum seines Inte- resses: Jeder kinematographische Stil verweist auf eine Konzeption der Zeit einer Erzählung. Tatsächlich ist im Kino die Zeit das Problem Nr. 1. Die Erforder- nisse der Dauer der Projektion und der a posteriori-Charakter des Bildes ver- leiten den Regisseur fast immer dazu, in Bezug auf die Zeit zu schwindeln.63 Marker schwindelt nicht, sondern bricht den Realitätseffekt seiner Bilder auch im temporalen Sinn, indem er ihre Zeitlichkeit ausstellt. Bald nach Beginn des Films gleitet ein langsamer Travelling shot über Häuser, Palmen, ein Minarett und eine Halde mit Autoreifen (Abb. 10). Die Kommentarstimme spricht: 59 Aus Markers Vorwort zu seinem Foto-Roman Le dépays, zit. nach Binczek, Natalie (Hg.): ‹Sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder …› Anschlüsse an Chris Marker, Würzburg: Kö- nigshausen & Neumann 1999, S. 167. 60 Im gedruckten französischen Kommentar des Films findet sich auch eine Hommage an Miles Davis; vgl. Marker: Commentaires, S. 127. Auf der Platte The Birth of Cool, die Davis 1950 welt- berühmt machte, fand sich eine Nummer mit dem Titel Israel. 61 So der Titel der deutschen Übersetzung von Marker, Chris: Le dépays, Paris: Herscher 1982; vgl. Marker, Chris: Das Fremdland, Berlin: Galrev 1985. 62 Weyergans, François: «Chris en Israël», Cahiers du cinéma n° 115/1961, S. 40 (Übers. d. Autors). 63 Marker, Chris: «La passion de Jeanne d’Arc», in: Chevalier, Jacques (Hg.): Regards neufs sur le cinéma, Paris: Seuil 1953, S. 257–261, hier S. 258 (Übers. d. Autors). Im selben Artikel be- richtet Marker, dass «Dreyer […] aktuell an den heiligen Stätten in Israel eine Passion drehen will.» (Ebd., S. 260). Dreyer konnte seinen Jesus-Film bekanntlich nicht verwirklichen. 85 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva 10 Das diegetische ‹Jetzt› des Films ist ein Phantom; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:02:50) «Zeichen sind von kurzer Dauer. Diesen Reifenfriedhof in Jaffa gibt es heute bereits nicht mehr.» Die Montage macht ihre eigene Nachträglichkeit kenntlich. Niemand soll glau- ben, von Paris, Berlin oder Jerusalem durch das Fenster der Leinwand nach Jaffa zu blicken. Nichts garantiert, dass die kinematografischen Zeichen ihren Referen- ten nicht bereits verloren haben, dass die Konstellationen, die der Film präsen- tiert, inzwischen nicht erodiert sind. Im Bewusstsein dieser Kluft zwischen der fotografischen Aufzeichnung und dem irrepräsentablen Werden des Realen ent- spinnt sich der mal ernste, mal ironische Diskurs des Filmes. «Man weiß nie, was man filmt», wird es 1977 im Kommentar von Le fonds de l’air est rouge heißen, jenem Versuch, am Ende des ‹Roten Jahrzehnts› eine filmische Bilanz über die utopischen Projekte der Nachkriegszeit zu ziehen. Bil- der etablieren keinen stabilen Sinn jenseits der Zeit.64 Manchmal zeigt sich eine Bedeutung erst in der Zukunft, manchmal verkehrt die Zeit sie in ihr Gegenteil oder macht sie unlesbar. Auch Filmemacher*innen entkommen nicht der para- doxen Retroaktivität der subjektiven Sinnbildung, deren Struktur Jacques Lacan 1953 an der Grammatik des ‹Futur antérieur›, des Futurum exaktum, festmachte: Was sich in meiner Geschichte verwirklicht, ist nicht die bestimmte Vergan- genheit (passé defini) dessen, was war, weil es nicht mehr ist, noch ist es das Perfectum dessen, was gewesen ist in dem, was ich bin, sondern die zweite Zukunft (futur antérieur) dessen, was ich gewesen sein werde, für das, was ich dabei bin zu werden.65 64 Siehe Montero, David: «Film also ages: time and images in Chris Marker’s Sans soleil», Stu- dies in French Cinema 6/2/2006, S. 107–115. 65 Lacan, Jacques: «Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (Be- richt aus dem Kongress in Rom am 26. und 27. September 1953 im Instituto di Psicologia della Università di Roma)», in: Haas, Norbert (Hg.): Das Werk von Jacques Lacan. Schriften 1, Wien: Turia + Kant 1986, S. 143. 86 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Die Vergangenheit des Subjekts scheint sich wie der Schatten des Gehenden zu verwandeln. In Markers Lieblingsfilm Vertigo (USA 1958) hatte Alfred Hitch- cock diese paradoxe Zeitlichkeit in Szene gesetzt, in La Jetée (F 1962) würde er selbst einen ähnlichen Versuch unternehmen. Bereits Description d’un com- bat artikuliert sich innerhalb einer solchen zeitlichen Struktur: Israels sichtbare Gegenwart wird nicht als einfaches Resultat einer fixierten Vergangenheit ange- sehen, sondern als prozesshaftes, offenes Werden, dessen mögliche Richtungen anhand von Zeichen gedeutet werden können. Das generische Präsens des Films verweist einerseits auf einen Raum möglicher Zukünfte, andererseits darauf, dass Ereignisse retroaktiv in die Vergangenheit eingreifen können. Finn Brunton sieht bei Marker geradezu eine ästhetische Politik des ‹Futurum exaktum› am Werk: The future waits in the past, and the past is not merely preserved but alive, growing, changing, in the future […]. The heart of both Marker’s art and his politics lay in the future anterior, the knowledge that there is always an after, a next, which we cannot predict and which will change irrecoverably the value of what we have been and done.66 Aspekte eines Kampfes Der Titel des Films gibt sein Thema und seine Methode zu erkennen: Die Kamera entziffert das sichtbare Israel  – «ein Land im Alter seiner Bar-Mitzwa»67  – als Kraftfeld. Die ‹Caméra-stylo› zeichnet die Linien nach, die seinen realen und erträumten Raum bilden. Der Titel ist der ersten erhaltenen Erzählung Franz Kafkas entlehnt und die Anspielung hat einen präzisen historischen Hintergrund: Die ‹kafkaeske› Atmosphäre seiner Erzählungen und Romane war auch Ausdruck jüdischer Prekarität zwischen Antisemitismus und Assimilierung gewesen. Zeit seines Lebens verfolgte Kafka die Debatten um den Zionismus, er lernte zeitweise Hebräisch und trug sich mit dem Gedanken, in Palästina einmal ein Restaurant zu eröffnen.68 Über Vermittlung seines Schulfreunds Hugo Bergmann nahm er ab etwa 1910 an den Aktivitäten des Prager national-jüdischen Vereins ‹Bar Kochba› teil. In dieser Zeit las er auch Herzls Altneuland, nach dessen hebräischen Titel die 1909 gegründete Stadt ‹Tel Aviv›  – ‹Frühlingshügel›  – genannt wurde. Am 23. Oktober 1921 besuchte Kafka eine Vorführung von Shivat Zion [Rückkehr nach Zion] (1920/21), was er in seinem Tagebuch vermerkte. Der Text, den er 66 Brunton, Finn: «Chris Marker, 1921–2012», Radical Philosophy 176/2012, S. 68–71, hier S. 69. 67 Friedman, Régine Mihal: «De l’essai et le Midrash. Description d’un combat de Chris Mar- ker», in: Birnbaum, Pierre und Denis Charbit (Hg.): Les intellectuels français et Israël, Biblio- thèque des fondations, Paris: Éditions de l’éclat 2009, S. 167–180, hier S. 174. 68 Zu Kafkas Verhältnis zum Zionismus siehe Gelber, Mark H.: Kafka, Zionism, and beyond, Tübin- gen: Niemeyer 2004; weiters Binder, Hartmut (Hg.): Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Kröner 1979, S. 374 f. und 503 ff. 87 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva 1911 seiner Erzählung Bes chrei- bung eines Kampfes voranstellte (siehe S. 71) mutet wie die Legende zu jener ikonischen Fotografie an, in der der Fotograf Abraham Soskin, den Moment der «Grün- dung von Tel Aviv 1908»69 in einer menschenleeren Wüste erblickte (Abb. 11).70 Kafka dient dem Film 11 Kafka kannte vermutlich Soskins Fotografie, die zur als Intertext, genauso wie die Ikone der Gründung einer Stadt wurde, die nach der Thora und Herzls Programm- Prager Synagoge ‹Altneuschul› benannt wurde schrift Der Judenstaat von 1896. Der ‹Judenstaat› bedeutete in der Perspektive Herzls den ‹Exodus› aus der von Kafka beschriebenen Welt. «Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen»,71 hatte er sei- nem Roman Altneuland als Motto vorangestellt. Marker liest das sichtbare Israel im Spannungsverhältnis zu diesen ‹Urtexten› und interessiert sich für den Stand der Dinge im Jahr 1960, in dem gerade Herzls 100. Geburtstag mit zahlreichen Festivitäten, Sonderbriefmarken und einer Neuausgabe von Altneuland gefeiert wurde.72 Im Gegensatz zum Kampf, aus dem der Staat hervorgegangen war, finde nun im Alltag ein neuer Kampf statt: ein Kampf mit sich selbst, wie jener, um den Kafkas Erzählung kreist. Dieser Kampf sei weder ein Klassenkampf, noch ein militärischer Konflikt, sondern eine ethische Auseinandersetzung mit offenem Ausgang. Noch bevor die ersten Bilder auftauchten, hatte der Film in einem Roll- text diese leitende Perspektive präsentiert: Auserwähltes Volk, Wandervolk, Märtyrervolk, auferstandenes Volk – Israel kannte Kampf in allen seinen Formen. Heute entdeckt Israel noch eine andere Form, den Kampf, den jede junge Nation mit sich selbst aufnehmen muss, um in der Stunde des Sieges dem treu zu bleiben, was in den Tagen der Unter- drückung sein Ruhm bedeutete. Hinter den Scenen des täglichen Lebens in Israel, spielt sich dieser Kampf ab, weniger auffällig als glorreiche Waffenta- ten und wahrscheinlich der einzig Entscheidende. 69 Soskin, Abraham: Album Tel-Aviver Ansichten / Album of Tel-Aviv Views / Albom mar’ot Tel-Abib, Tel-Aviv 1926, S. 8. 70 Erst später wurde das Bild umdatiert und mit einem anderen Ereignis verbunden, der Verlo- sung von Baugründen in den Dünen vor Jaffa am 11. April 1909; vgl. Schlör, Joachim: Tel Aviv – vom Traum zur Stadt: Reise durch Kultur und Geschichte, Frankfurt a. M.: Insel 1999, S. 46 f.; wei- ters Hizky, Shoham: «Wie Tel Aviv noch einmal gegründet wurde», in: Loewy, Hanno und Hannes Sulzenbacher (Hg.): All about Tel Aviv-Jaffa. Die Erfindung einer Stadt, Hohenems/Zü- rich: Jüdisches Museum Hohenems/Bucher 2019, S. 55–63. 71 Herzl: Altneuland, S. 1. 72 Herzl, Theodor: Altneuland – Old-New Land, Haifa: Haifa Publications 1960. 88 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Um diesen Kampf darzustellen, durchquerte Marker mit seinem Filmteam ganz Israel vom äußersten Süden Eilats, den Landschaften ums Tote Meer und den See Genezareth, bis zum nördlichen Galil und besuchte Städte wie Akko, Haifa, Tel Aviv, Beer Sheva, Nazareth und Jerusalem. Der Produzent Wim van Leer fand es schwer zu glauben, dass aus diesen sorgfältig aufgenommen Bildern, die jedoch keinerlei Verbindung miteinander zu haben schienen, etwas ent- stehen könne.73 Erst am Schnittplatz erhielten diese Aufnahmen Kohärenz. Der Film orien- tiert sich dabei nicht an der kartografischen Realität, die wechselnden Schau- plätze werden nicht im Narrativ einer Reiseroute verbunden. Scheinbar will- kürlich springt der Film von einem Ort zum anderen, allerdings lässt sich für jeden Übergang eine symbolische Verbindung auffinden, ein metonymischer Übergang. Die filmische Reise konstruiert so eine virtuelle, psycho-geografische Landkarte Israels. In der knappen Stunde, die der Film dauert, wird in ungefähr fünfunddreißig Sequenzen ein vielfältiges Mosaik zusammengesetzt. Die Auf- zählung einiger Sujets macht dies deutlich: Der Film enthält eine Reihe kleiner Porträts von manchmal anonymen, manchmal namentlich genannten Menschen, etwa des ungarischen Juden Klein, dessen Ruf – «Taki, Taki! – zu Dutzenden […] die ungarisch- sprechenden Katzen» folgen, des elfjährigen Schachmeisters Noah Rosenfeld, von Arabern auf dem Markt von Jaffa, von Kindern orthodoxer Juden im Jerusalemer Viertel Mea Shearim, «wo Israel nicht anerkannt wird», wie es im Kommentar heißt. Der Film stellt dem Allgemeinbegriff ‹Israel› eine Vielzahl von singulären Verkörperungen, Gesichtern, Gesten und Blicken in die Kamera gegenüber. Gruppenbilder erweitern die Serie von Porträts um seine kollekti- ven Gestalten: Eine Versammlung im nördlichen Kibbutz Manara, mizrahische Juden, die in einem geräuschvollen Umzug am See Genezareth Simchat Torah feiern, eine exerzierende Gruppe zionistischer Pioniere, junge Leute in einem Tel Aviver «Existentialistenkeller», ein Disput in einem Beduinenzelt, Kinder, die zu Lag Ba’Omer, dem Gedenktag an den Bar Kochba-Aufstand am Strand Scheiter- haufen entzünden, «auf denen die Feinde des jüdischen Volkes von Haman bis Hit- ler in Flammen aufgehen», etc. Description d’un combat konstruiert sein Sujet jedoch nicht als additive Kompilation dieser Welten. Die sekundäre Bearbeitung der Montage konzent- rierte sich auf die Vielfalt unterschiedlicher Lebenswelten in Israel und die mit- unter spannungsreichen Beziehungen zwischen ihnen. Die soziale Realität Israels war 1960 nicht nur von Spannungen zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung geprägt, sondern auch von Konflikten, die durch die Immigration 73 Haim: «Hachad Hashlishi shel ha-Matbea [Die dritte Seite der Münze]», S. 25. 89 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva von orientalischen Juden und Jüdinnen entstanden.74 Diese schuf soziokulturelle Reibungsflächen, die 1959 in Ausschreitungen gemündet hatten.75 Im Verlauf der Wadi Salib riots kam es zu Demonstrationen und Vandalenakten, nachdem ein jüdischer Immigrant aus Marokko von einem Polizisten angeschossen wor- den war. Die Demonstrant*innen beschuldigten die Polizei, mizrahische Juden zu diskriminieren. Wadi Salib bei Haifa war vor 1948 eine arabische Siedlung gewesen. Wie viele andere Palästinenser*innen verließen ihre Bewohner*innen im Zuge des Unabhängigkeitskrieges ihre Häuser, die später mizrahischen Ein- wanderer*innen zugeteilt worden waren. Marker verzichtete durchgehend darauf, solche Ereignisse zu thematisieren. Soziale Kämpfe, ideologische Auseinandersetzungen zwischen zionistischen Fraktionen, bewaffnete Grenzkonflikte mit arabischen Fedayin und die Chrono- logie der nahöstlichen Geopolitik sind im Film nur indirekt präsent. Der Filme- macher hielt sich stattdessen am alltäglichen Rand auf und mied die Selbstinsze- nierungen des jungen Staates, denen er allerdings (vor allem auf der Ebene des Kommentars) nicht immer entkam. Während die Drehzeit durch große Offen- heit für Zufälle und Details geprägt war, herrschte im Schneideraum Rigorosität bei der Strukturierung des gefilmten Materials, das nun in überraschende Bezie- hungen gebracht wurde: «Verbindung aufnehmen – eine Ordnung schaffen zwischen feindseligen und gegenseitig unverständlichen Dingen.» Ein gutes Beispiel für Markers Arbeitsweise ist eine Sequenz, in der die inkom- patiblen Perspektiven von Religion und Wissenschaft in Zusammenhang gebracht werden (Abb. 12–15). Nach der Aufnahme eines Oszilloskops des Weiz- mann-Instituts in Rehovot folgen unvermittelt Bilder von Eulen. Die Montage folgt einer Ähnlichkeitsbeziehung: Als Messinstrument ist das Oszilloskop «den Nachttieren ähnlich». Elektronisches Zirpen schafft das auditive Milieu für die unerwartete Assoziation. Entlang der Ähnlichkeitsbeziehung unternimmt der Kommentar Transfers ins jeweils andere semantische Feld: Die Eulen sind «ferngesteuert», während das Oszilloskop befragt wird «wie ein Orakel». Bilder von Tieren des «Biblischen Zoos von Jerusalem» werden eingeschnitten. In der 74 Der österreichische Journalist Bruno Frei (1897–1988) berichtete 1965: «1962 waren von je 100 Juden aller Altersklassen 38,5 Israelgeborene, 33,5 waren in Europa oder in Amerika geboren und 28 stammten aus Asien oder Afrika. Jedoch waren 53,9 Prozent der Israelgeborenen selbst wieder Kinder von Orientalen respektive Israelgeborenen. Nur 46,1 Prozent der Israelgebore- nen entstammen europäischen oder amerikanischen Familien.» Frei, Bruno: Israel zwischen den Fronten. Utopie und Wirklichkeit, Wien u. a.: Europa 1965, S. 49; weiters Timm, Angeli- ka: Israel – Gesellschaft im Wandel, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 31–36. 75 Vgl. Weiss, Yfaat: A Confiscated Memory: Wadi Salib and Haifa’s Lost Heritage, New York: Columbia University Press 2011. 90 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 12–15 Die horizontale Montage Markers harmonisiert Gegensätze zwischen Wissenschaft und Religion: Die Eulen (TC 00:06:39) sind ‹ferngesteuert› (TC 00:07:00), das Planetarium der Universität (TC 00:07:28) und die Synagoge (TC 00:07:43) zwei Hälften eines Ganzen; Screenshots aus Description d’un combat Gedächtnisarchitektur des Zoos sind alle Gehege mit Bibelstellen versehen. Die Tiere werden zu transhistorischen Repräsentanten biblischer Wirklichkeit. Die Kippa des Wissenschaftlers, der das Oszilloskop bedient, weist diesen wiede- rum als Gläubigen aus, «daher wird er keine Eulen essen». Das «Elektronenhirn» des Weizmann-Instituts korrespondiere der Torah, insofern diese als «Kata- log» alles Existierenden verstanden wird. Die Geschichts- und Gedächtnismo- delle von Wissenschaft und Religion – der «technische Sinn der Enkel» und der «Gottesglaube der Großväter» – stünden, wie der Kommentar formuliert, nicht in einer «falschen Symmetrie» zueinander, sondern unterhielten subtile Korres- pondenzen, genauso wie die beiden Kuppeln der Hebräischen Universität und der modernen Jerusalemer Synagoge «nicht Feinde, sondern zwei Hälften» seien. Während die Parallelmontage dieser Sequenz Widersprüche nicht zuspitzt, sondern spielerisch harmonisiert, treten säkulare und sakrale Positionen in einer weiteren Sequenz in ein konflikthafteres Verhältnis. Exerzierübungen junger Chaluzim, Pioniere, kommentiert Marker mit launigen Bemerkungen: «Dieses Stadium des Pfadfindertums müssen alle jungen Nationen durchlau- fen. Es ist sowas wie khakibraune Masern. Der Geist des Orients hätte hier eine gute Gelegenheit einzugreifen, doch er beschränkt sich darauf, es der Sonne zu überlassen, den spartanischen Schleiflack zum Springen und die Uniformen zum Fallen zu bringen.» 91 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Das offiziöse Exerzieren wird durch Aufnahmen von plantschenden Kindern abgelöst. Die zionistische Institutionalisierung der Kindererziehung in den 1950er- Jahren wird deutlich ironisiert. «Ein paar Schritte von hier entfernt» wach- sen Kinder in einer anderen Welt auf, Mea Shearim, das orthodoxe Viertel Jeru- salems, sei eine «vorbildsgetreue Wiederherstellung des Ghettos». Angesichts der Kinder von Mea Shearim formuliert Marker die erste von mehreren drängenden Fragen, die im Verlauf des Films gestellt werden: «Ist es richtig, eine wunderbare Hoffnung einzutauschen gegen deren Erfül- lung, die im Sande zerfließen muss?» Der Film schneidet zu einem Piloten, der mit seinem Flugzeug Insektizide ver- sprüht. «Manchmal zerschellt ein Piper-Cup am Berg und manchmal wird ein Ser- gej angeschossen». Marker spielt an Hitchcocks Maisfeldsequenz aus North by Northwest (USA 1959) an: Die Landschaft ist ein ‹Terrain vague›, aus dessen Leere unvermittelt Bedrohungen auftauchen können. In die Ära des Kalten Krieges und der Entkolonisierung hatte sich die Raum- zeit Israels eingeschrieben. Im öffentlichen Diskurs in und außerhalb Israels wurde immer wieder der Begriff des ‹Wunders› verwendet, um diese Verwirklichung zu charakterisieren.76 Markers Kommentar entspinnt sich entlang von mythologisie- renden Ursprungserzählungen des jungen Staates. Die Epoche des zionistischen Aufbaus vor der Staatsgründung hatte sich ideologisch und ikonografisch immer wieder sowjetischer Versatzstücke bedient. Ben-Gurions Arbeiterpartei Mapai zielte auf ein sozialistisches jüdisches Gemeinwesen in Palästina.77 Der 1998 entstandene Dokumentarfilm ‹Wir kamen nach Palästina …› von Robert Krieg und Monika Nolte enthält eindrückliche Erzählungen von links-zionistischen Emigrant*in- nen aus Deutschland über ihre Hoffnungen und Enttäuschungen in Palästina-Is- rael.78 In der Kibbutz-Bewegung erhielten sich die egalitären und kollektivistischen Impulse der Aufbauzeit am längsten. Für Marker ist sie «die originellste Form, in der sich Israel ausdrückt».79 Das Filmteam besuchte den Kibbutz Manara an der Grenze 76 Siehe etwa Koestler, Arthur: Analyse d’un miracle, Paris: Calmann-Lévy 1949. 77 Siehe Sternhell, Zeev: The Founding Myths of Israel: Nationalism, Socialism, and the Making of the Jewish State, Princeton: Princeton University Press 2011. 78 Siehe http://www.krieg-nolte.de/214 (zugegriffen am 23.4.2019); weiters Lubitsch, Ruth: Ich kam nach Palästina. Geschichten meines Lebens, Berlin: Dietz 1988. 79 Siehe Near, Henry: The Kibbutz movement. A history. Vol. 2: Crisis and achievement 1939–1995, Oxford u. a.: Oxford UP 1997. Die französische Öffentlichkeit interessierte sich sehr für Isra- el und das Modell des Kibbutz im Besonderen. So sendete ORTF 1961 eine Reportage über den Versuch, einen Kibbutz in Frankreich zu gründen: Un kibboutz en France (Gilbert Larriaga & Jean Claude Bringuier, F 1962); vgl. Bourdon, Jérôme: «L’esprit du temps: les intellectuels, la télévision et Israel», in: Birnbaum, Pierre und Denis Charbit (Hg.): Les intellectuels français et Israël, Paris: Éditions de l’éclat 2009, S. 209–224, hier S. 212. 92 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 16 Im Kibbutz sieht Marker eine verwirklichte, aber gefährdete Utopie; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:36:47) zum Libanon. Marker kommentiert eine Aufnahme von einem Buben und einem Mann, die unter freiem Himmel ins Schachspiel vertieft sind: «Beide leben in einer Welt, in der Geld keine Rolle spielt, einer Welt, von der manche sagen, sie sei dem Verschwinden geweiht, die aber noch lange Zeit hin- durch ihren Einfluss auf Israels Geschichte bewahren wird.» Im Anschluss Aufnahmen von einer samstäglichen Plenarversammlung des Kib- butz (Abb.  16): Es wird über einen Delegierten zu einem überregionalen Tref- fen abgestimmt. Eine junge Frau leitet die Abstimmung. Uri Tennenbaum wird gewählt, doch plötzlich legt seine Frau ihr Veto ein. Die Wahl wird aufgehoben. Marker sieht hier «begrenzte, aber absolute Demokratie», die Gleichstellung von Männern und Frauen scheint hier verwirklicht. «Wir wissen, dass diese Männer und diese Frauen nichts besitzen, keine Erspar- nisse, keine Bankkonten, kein Gehalt. Alles wird ihnen von der Gemeinschaft gestellt, und die Kinder werden gemeinsam erzogen. Doch alle diese bemer- kenswerten Dinge des Kibbutzdaseins wurzeln in dieser allwöchentlichen Aus- übung der Utopie.» Die Utopie wird im Kibbutz zu einer jener Heterotopien, die Foucault zufolge wirkliche Orte, wirksame Orte [sind], die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tat- sächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kul- tur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.80 80 Foucault, Michel: «Andere Räume» [1967], in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 39. 93 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Markers Kommentar betont die außerordentliche, isolierte und gefährdete Posi- tion der Kibbutzim in Israel und in der Welt: «Wie lange werden sie, diese Erben eines unbeugsamen Idealismus, abge- schnitten inmitten des eigenen Landes, abgeschnitten vom Weltsozialismus ihre Reinheit bewahren können? […] Die Kibbutzim sind eine Minderheit in Israel. Eine beispielhaft stürmische Minderheit. Sie gibt den weniger abenteu- erlich gesinnten Israelis, die die kapitalistische Struktur nach Israel verpflanzt haben, ein gutes Gewissen.» Das ‹Widerlager› des Kibbutz ist von einer Dialektik der Normalisierung bedroht, die Marker in der Folge anspricht: «Der Teufel des Alltags, die Krankheit der Zufriedenheit stürzen sich wie Heuschrecken auf das Recht, für das soviel jüdisches Blut geflossen ist: einfach und ruhig zu leben.» Zwischen den Generationen öffnet sich ein Bruch im Gedächtnis: Aufnahmen von älteren Männern werden von einem abgewandelten Aphorismus Oscar Wil- des begleitet: «Warum kamst du nach Israel? – Um zu vergessen. – Was zu verges- sen?» Schnitt zur Aufnahme eines Buben mit einem Eisstarnitzel: «Ich habe es ver- gessen». Es folgt ein kurzes Pandämonium der Pop- und Warenkultur des Jahres 1960 (Abb. 17–20): Ein Jugendlicher mit Elvis-Tolle verkörpert «rosarote Amerika- träume». Ein Filmplakat von I Was A Teenage Werewolf (USA 1957) und ein Comic-Monster werden ironisch mit Goyas berühmtem Capricho in Verbindung gebracht: «Schlummernder Verstand gebiert Ungeheuer, meist werden sie außerhalb des Landes gezeugt». Folkloristischer Nippes und Reklame für Radios und Kühl- schränke repräsentieren die Glücksversprechen des Konsumismus – der Kommen- tar wendet ein, dass «auf der Skala des Glücks […] der Rahmen die Stelle des Glücks selbst ein[nimmt]». Der Film fingiert Bilder eines fiktiven israelischen Fernsehens – das erst nach 1967 Realität wurde –, in dessen medialen Rahmen alle Signifikanten eingeebnet werden: Auf Fotos von Schauspieler*innen und Alfred A. Neumann,81 der Gallionsfigur des US-Satire-Magazins MAD, folgt ein Bild David Ben-Gurions in clownesker Anmutung.82 In einer Serie kurzer Aufnahmen von Zeitungsartikeln über Kleinkriminalität, Streiks und das Nachtleben Tel Avivs taucht – das einzige Mal im Film – auch der Name ‹Eichmann› in einer Zeitungsnotiz kurz auf: acht- jährige Kinder, die den Prozess nachspielten, hätten ihren ‹Verurteilten› gehängt. 81 Im Abspann des Films rangiert er unter den Assistenten. 82 Siehe Katz, Elihu und H. Haas: «Zwanzig Jahre Fernsehen in Israel. Gibt es langfristige Auswir- kungen auf Werte und kulturelle Praktiken?», in: Hoffmann, Hilmar (Hg.): Gestern begann die Zukunft. Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt, Darmstadt: Wissen- schaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 145–164. 94 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 17–20 Marker ironisiert die ersten Symptome des Konsumismus. In einer rasanten Sequenz taucht neben Comic-Monstern (TC 00:46:51), Elvis-Doubles (TC 00:46:53) und ‹Ben-Gurion-TV› (TC 00:47:22) das einzige Mal im Film der Name ‹Eichmann› (TC 00:47:31) auf; Screenshots aus Description d’un combat Tom Segev hat eine vorsichtig positive Bilanz der Amerikanisierung Israels gezogen. Die Ankunft von Elvis in Jerusalem83 hätte zu einer kulturellen Moder- nisierung geführt, die den sozialistischen Zionismus der Pionierjahre durch die Anfänge einer neuen ‹postzionistischen› Identität konterkariert habe.84 Marker beobachtete diesen Wandel an seinem Beginn. In seiner Perspektive bildeten die Fetische des Konsumismus und die Identifikationsangebote der neuen visuellen Kultur jedoch lediglich Figuren des Vergessens. Sein Film fragt: Ist das ‹Gemein- wesen der Geretteten› unterwegs in eine ‹Gesellschaft des Spektakels›? Während das imaginäre Bild Israels durch importierte Bilder, wie etwa jenes in Exodus, überformt wird, setzt sich das Imaginäre von fotografierenden Tourist*innen aus Stereotypen zusammen, die mit den Selbstinszenierungen der Fotografierten in Austausch treten. Marker filmt sie beim Fotografieren: «Die Touristen sind sehr aufs Malerische aus, die Eingeborenen auch. Der eine liefert es dem anderen. Die Touristen kamen her, um hellhäutige Pioniere zu sehen. Wer nicht so aussieht, den erkennen sie einfach nicht an. […] Sie photo- graphieren die unendliche Mannigfaltigkeit menschlicher Gesichter, die Tou- risten, doch sehen tun sie sie nicht.» 83 Segev, Tom: Elvis in Jerusalem. Die moderne israelische Gesellschaft, Berlin: Siedler 2003. 84 Vgl. ebd., S. 51 f. und 62 f. 95 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Dem touristischen Blick stellt Marker eine eigene Ethik der Fotografie entgegen. Er filmt die Reaktionen von Menschen, denen er Fotos schenkt, die er ein paar Monate zuvor gemacht hat, es sind vor allem arabische Markthändler: «Wenn ein Bild zu seinem Modell zurückkehrt …» Ein Bild zu machen, ist ein reziproker sozi- aler Austausch, ein Akt der Freundschaft. Marker drehte in einer Zeit, die in der israelischen Filmgeschichtsschreibung als «heroic period»85 gilt: Kulturelle, memorielle und nicht zuletzt filmische Prak- tiken sollten der Nation, die ja kein Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung sein kann, anschauliche Präsenz verleihen.86 Filme wie Hill 24 Doesn’t Ans- wer (ISR 1954) präsentierten die Geschichte der Staatsgründung Israels in den maskulinen Termini eines säkularen zionistischen Nationalismus.87 Wie in Exo- dus wurden in diesem Historiendrama Konflikte mit der arabischen Bevölke- rung so interpretiert, als sei deren Gewaltsamkeit vor allem durch die unheil- volle Aktivität von Nazis verursacht, die in Palästina noch verstreut ihr Unwesen trieben.88 Angehörige der arabischen Bevölkerung wurden nicht als eigenmäch- tige Akteur*innen wahrgenommen. Ihre historische und soziale Position sowie die vielgestaltigen Beziehungen und Konflikte, die sie auf meist tragische Weise mit dem Staat Israel und dessen Bürger*innen verbanden, lag außerhalb dessen, was im Israel des Jahres 1960 den Rahmen des Darstellbaren begrenzte. Ari Ben Kanaans (alias Paul Newman) Prophezeiung, dass Juden und Araber eines Tages in Frieden leben würden, blieb vor diesem Hintergrund abstrakt. Während das israelische Kino in den 1950er-Jahren ein wichtiges Instrument des symbolischen Nation Building wurde, ist dieselbe Phase in der Historiografie des palästinensischen Filmschaffens in drei Worten abgehandelt: «Epoch of silen- ce».89 Die Staatsgründung Israels 1948 bedeutete in der Perspektive der Palästi- nenser*innen eine Katastrophe, arabisch ‹Nakba› – auch auf der Ebene der visu- ellen Kultur. Während aus der Zeit zwischen 1935 und 1948 noch einige Filme überliefert sind, finden sich in der Zeit bis zum Juni-Krieg 1967 praktisch keine Zeugnisse selbstbestimmten filmischen Ausdrucks. Die arabische Zivilgesell- schaft stand unter Schock. Arabische Israelis waren nicht als Subjekte repräsen- tiert und befanden sich in einer Position der ‹Subalternität› (Gayatri C. Spivak).90 85 Kronish, Amy und Costel Safirman: Israeli film. A reference guide, Westport CT: Praeger 2003, S. 2; weiters Shohat: Israeli cinema, S. 53–104. 86 Siehe Anderson, Benedict: Imagined communities: reflections on the origin and spread of natio- nalism [1983], Revised edition, London / New York: Verso 2006. 87 Vgl. Shohat: Israeli cinema, S. 53–59 und S. 68–70. 88 Siehe Wawrzyn, Heidemarie: Nazis in the Holy Land 1933–1948, Berlin/Jerusalem: De Gruyter, Magnes 2013. 89 Gertz/Khleifi: Palestinian cinema: landscape, trauma and memory, S. 11. 90 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Arti- kulation, Wien: Turia + Kant 2008. Den Begriff des Subalternen prägte zuerst Antonio Gramsci in 96 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Gleichermaßen unsichtbar blieb, was hinter dem Nation Building des frühen isra- elischen Kinos stattfand: Die Anfänge der politischen Organisierung der ‹Palästi- nenser›. Die Rekonstruktion einer vom Panarabismus Gamal Abdel Nassers unab- hängigen ‹palästinensischen› Identität wurde im libanesischen und ägyptischen Exil begonnen: 1959 gründete Jasser Arafat die säkular-nationalistische Organi- sation Al-Fath, später die wichtigste Fraktion innerhalb der 1964 auf Nassers Ini- tiative hin gegründeten Palestine Liberation Organization, kurz PLO.91 Das alge- rische Modell des bewaffneten Kampfes und der nationalen Befreiung sollte die Konstruktion Palästinas ermöglichen.92 In Europa wurde dies meist erst nach 1967 wahrgenommen.93 Vor diesem Hintergrund erscheinen jene wenigen Sequenzen, in denen Description d’un combat die Präsenz der arabischen Minderheit in den Film Eingang findet – jenem «Dorn im Fleische Israels»,94 wie es der Kommen- tar unter Verwendung eines propagandistischen Ausdrucks einmal formuliert – in einem anderen Licht. Bereits zu Beginn hatte Marker in einer ironischen Bemer- kung ein humanistisches Programm formuliert. Während wir Straßenszenen in Jaffa sehen – Fußgänger*innen, die Werkstatt eines arabischen Handwerkers, ein Ladenschild in Form einer Katze95 – kommentiert die sonore Sprecherstimme: «Abendland und Morgenland sind hier die Ehepartner, die hier den Bund fürs Leben eingehen  – vorläufig sieht es manchmal so aus, als lebten sie noch in getrennten Zimmern.» seinen Gefängnisheften. Zum palästinensischen Kontext siehe Masalha, Nur: The Palestine Nakba: decolonising history, narrating the subaltern, reclaiming memory, London: Zed Books 2012. 91 Vgl. Baumgarten, Helga: Palästina. Befreiung in den Staat. Die palästinensische Nationalbe- wegung seit 1948, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 133 ff.; weiters Kimmerling, Baruch und Joel S. Migdal: Palestinians. The making of a people, Cambridge MA: Harvard University Press 1993, S. 244–252; sowie Khalidi, R.: Palestinian identity. The construction of modern national consciousness, New York: Columbia UP 1997, S. 180–186. 92 Vgl. Kimmerling, Baruch und Joel S.  Migdal: The Palestinian people: a history, Cambridge MA: Harvard University Press 2003, S. 246. Zu Chris Marker in diesem Kontext siehe Öhner, Vrääth: «Im Schatten der Statuen. Über Le joli mai, die Krise der Repräsentation und zweier- lei Kolonialismus in Frankreich», Kolik: Zeitschrift für Literatur, Sonderheft Film 7, Wien: Ver- lag für neue Literatur 2007, S. 8–14. 93 Siehe etwa Hessel, Stéphane und Elias Sanbar: Israel und Palästina: Recht auf Frieden und Recht auf Land, hg. v. Farouk Mardam-Bey, Berlin: Jacoby & Stuart 2012, S. 63 f. 94 Christophe Chazalon nimmt Marker gegen Kritik an dieser Metapher in Schutz: «Diese ultra- schnelle Sequenz über die Araber hat mehr als einen schockiert. Auch wenn man darauf insis- tiert, Description d’un combat ist kein Film über Israel und seine Opponenten, sondern ein- zig und allein über Israel.» Chazalon, Christophe: «Description d’un combat ou la prophétie d’une lutte sans espoir», in: Argos Films (Hg.): Description d’un combat, un film de Chris Marker et Description d’un souvenir, un film de Dan Geva [DVD-Booklet], Paris: Tamasa 2017, S. 25–48, hier S. 33. 95 Im ganzen Film finden sich Markers Totemtiere und diskrete Grüße an Freund*innen wie etwa Agnès Varda, deren Familienname einmal auf einem Ladenschild auftaucht. 97 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Aus heutiger Sicht wirkt dieser Optimismus naiv, orientalistisch, Widersprü- che einebnend. Aber er steht unausgesprochen in der Tradition der Idee einer jüdisch-arabischen Kooperation, die etwa mit den Namen Brit Shalom und Mar- tin Buber verbunden ist.96 Description d’un combat gibt der arabischen Min- derheit in Israel in einigen wenigen, aber eindrücklichen Sequenzen Präsenz. Das prekäre Verhältnis der arabischen Bürger*innen zum Staat Israel wird vor allem in zwei intensiven Porträts angedeutet. Das erste ist dem Buben Ali gewidmet: In einer dynamischen Sequenz folgt ihm die Kamera, wie er mit seinem selbstgebastelten Roller den Berg Carmel über die gewundene Straße nach Haifa abfährt, bis zu einer alten Brücke über ein Wadi.97 Während der langen und schwungvollen Fahrt moduliert die Ton-Mon- tage den Blick auf Ali (Abb. 21). Der Synchronton wird zunehmend von einer künstlichen Geräuschkulisse überlagert, sodass sich ein Echoraum für die Wün- sche und Potenziale des Buben bildet. Man hört raunendes Sportpublikum und die exaltierte Stimme eines Stadionsprechers: «Ali barosh!»  – «Ali führt!» Der Bezug auf die sportliche Metapher öffnet die dokumentarische Außensicht auf soziales Elend – «Arme Kinder während der Arbeit … » – zu einem Bild des Begehrens, eines subjektiven Entwurfs – «… träumen vom olympischen Ruhm». Überall ist der Film den Träumen von Kindern und Jugendlichen auf der Spur, sie scheinen Zukünftigkeit schlechthin zu verkörpern. Das zweite Porträt der palästinensischen Minderheit ist einem Mädchen gewidmet, Mouna, die als ältestes von sieben Kindern einen ärmlichen Haushalt in den Sukhs von Nazareth führt.98 Sie wird beim Aufräumen gezeigt und im Gespräch mit Markers Übersetzer (Abb. 22). Der Kommentar berichtet, dass ihre Mutter im Spital und ihr Vater «im Irrenhaus» sei – weshalb, wird nicht mitgeteilt. Der Kommentar vermutet drei Dinge, die ihr helfen: 96 Siehe Buber, Martin: Politische Schriften, hg. v. Abraham Melzer, Affoltern a. A.: Zweitausend- eins 2010. Nach blutigen Ausschreitungen von Arabern gegen Juden mit etwa hundert Todesop- fern hatte der Zionistische Kongress bereits 1921 in einer von Martin Buber eingebrachten Re- solution zur arabischen Frage seinen «Willen, mit dem arabischen Volk in einem Verhältnis der Eintracht und der gegenseitigen Achtung zu leben» erklärt. Allen Völkern Palästinas solle «ungestörte nationale Entwicklung» gesichert werden. Der Kongress, die Legislative der Zio- nistischen Bewegung, forderte die Zionistische Exekutive dazu auf, «ihre Bemühungen um eine aufrichtige Verständigung mit dem arabischen Volk […] in erhöhtem Maße fortzusetzen.» Buber, Martin: Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, hg. v. Paul R. Men- des-Flohr, Frankfurt a. M.: Insel 1983, S. 93 f.; siehe weiters Arendt, Hannah: Vor Antisemitis- mus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzei- tung ‹Aufbau›, 1941–1945, München: Piper 2000; sowie Rose: The Question of Zion, S. 70–76. 97 Jahre später wird Amos Gitai einen Dokumentarfilm über die unter dieser Brücke lebenden jüdischen und arabischen Menschen drehen: Wadi (ISR 1981). 98 Der Filmemacher Elia Suleiman wird wenige Monate nach diesen Filmaufnahmen in Nazareth geboren werden. 98 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 21 Marker bricht die Regeln des Dokumentarfilms, um Alis Träume zu erfassen; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:13:31) 22 Porträt Mounas, eine weitere Miniatur arabischer Existenz in Israel; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:41:10) «Das Versprechen der Genossenschaft, ihr ein kleines Haus in einer Neubausied- lung zu überlassen – den Tanz, den sie über alles liebt – die dritte Sache, wie könnte man sie wohl nennen, diese kleine unzerstörbare Flamme in ihren Augen? Im Elend lächeln – auf dem Vulkan tanzen – die Menschen sind unendlich begabt hierfür.» Der dem linken Reformkatholizismus zugeneigte Marker zeigt auch eine von einem französischen Priester als Selbsthilfeprojekt gegründete Baugenossen- schaft. Durch sie konnten «ein paar der Barrikaden, welche die beiden Gemein- schaften trennen, überbrückt werden», kommentiert Marker eine Aufnahme arabi- scher Arbeiter auf einer Baustelle. Der Kommentar führt aus, dass Hilfe dringend sei, «um die Lebensverhältnisse in den arabischen Dörfern zu verbessern», aller- dings hätte sie «nur dann einen Sinn, wenn sie ohne jede Spur von kolonialisti- schem Paternalismus verwirklicht» werde. Die Einschränkung nahm deutlich auf den offiziellen französischen Diskurs Bezug, der das koloniale Engagement in Algerien gern als zivilisatorisches Projekt ausgegeben hatte. Darüber hinaus wirft die Rede vom Paternalismus die Frage auf, ob Markers eigener Diskurs dieser Falle immer entgeht. Die Gefilmten kommen nur in seltenen 99 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Ausnahmen selbst zu Wort, immer wieder spricht der Kommentar an ihrer Stelle. Marker ironisiert die direkte Rede wiederholt, etwa das Geplapper amerikanischer Tourist*innen oder die Unterhaltungen junger Israelinnen über Tanz und Mode, das er als «Vogelgezwitscher» bezeichnet und mit entsprechenden Geräuschen unter- legt. Markers Vorgehen ist prekär und überschreitet aus heutiger Sicht manchmal die Grenze zum Paternalismus. Seine Zurückhaltung gegenüber der direkten Rede war sicher technisch bedingt – synchroner Ton wurde erst kurze Zeit später zum techni- schen Standard –, aber auch von Skepsis gegenüber der Idee, die ‹authentische› Rede von Augenzeug*innen eröffne dem Dokumentarfilm einen Königsweg zum Realen.99 «Grenzzwischenfälle» werden im Film wiederholt erwähnt, der Belagerungs- zustand wird aber nicht sichtbar, sondern bleibt latent. Das Andere Israels ist nur schattenhaft präsent. An die Realität der territorialen Auseinandersetzung knüpfen sich Erinnerungen, denn «Israel ist aus dem Krieg geboren», wie es im Kommentar heißt. Marker filmt Kriegsspuren in der Landschaft und an Gebäu- den. «Zwölf Jahre. […] Herzl hatte nicht vorausgesehen, dass seine Utopie im Blut Wirklichkeit werden würde», wie auch «der Westen es nicht vorausgesehen hatte, dass der Mittlere Osten aufhören würde, seine Tankstelle zu sein.» Der Kommentar ortet einen Krieg «in allen Erinnerungen» und findet am Toten Meer eine Topo- grafie, an deren geologische Formationen sich erinnerungspolitische Mythen knüpfen. Ein langer Travelling shot über die Silhouette des Gebirges am südli- chen Toten Meer – «wie ein Stück Mond» sehe die Landschaft aus. Marker mon- tiert nach der Aufnahme einer steilen Felsspitze Lucas van Leydens Gemälde Lot mit seinen beiden Töchtern (ca. 1509) ein. Der gefilmte Fels kommt in seiner Mon- tage zur Deckung mit der gemalten Salzsäule, in die sich Lots Frau verwandelte, nachdem sie sich entgegen dem Verbot der Engel nach dem zerstörten Sodom umgeblickt hatte (Abb. 23–24).100 Das Trauma ist in dieser Geschichte uneinhol- bar, irrepräsentabel und tödlich. Gegen die Figur eines unmöglichen Erinnerns formierte sich in Israel ein neuer Erinnerungsdiskurs. Es will «sich eine Vergan- genheit schaffen, in der Resignation und Märtyrertum keinen Platz haben», wie Markers Kommentar an anderer Stelle formuliert. Die Landschaft um das Tote Meer war von großer Bedeutung für das archäo- logische Nation Building Israels.101 Archäologen fanden hier zwischen 1947 und 1956 Schriftrollen, die als Belege für eine aktive, revolutionäre Haltung in der 99 Siehe Hito Steyerl: «Können Zeugen sprechen? Zur Philosophie des Interviews», in: ds.: Die Farbe der Wahrheit, S. 17 ff. 100 Vgl. Genesis 19:17–26. 101 Siehe Elon, Amos: «Politics and archaeology», in: Silberman, Neil Asher und David B. Small (Hg.): The archaeology of Israel. Constructing the past, interpreting the present, Sheffield: Shef- field Academic Press 1997, S. 34–47; weiters Shohat: Israeli cinema, S. 253; sowie Hallote, Ra- chel S. und Alexander H. Joffe: «The Politics of Israeli Archaeology: Between ‹Nationalism› and ‹Science› in the Age of the Second Republic», Israel Studies 7/3/2002, S. 84–116. 100 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 23–24 Landschaft als mythischer Text: Marker bringt Lucas van Leydens gemalte Salzsäule (TC 00:27:59) und die entsprechende Felsformation am Toten Meer (TC 00:28:04) zur Deckung; Screenshots aus Description d’un combat jüdischen Geschichte angesehen wurden, Briefe Bar Kochbas, der im 2. Jahrhun- dert einen messianisch inspirierten, bewaffneten Aufstand gegen die Römer ange- führt hatte.102 Die Festung Masada unweit von Sodom stand im Zentrum des Inte- resses.103 Wiederholt bezieht sich Description d’un combat auf die im Kontext des symbolischen Nation Buildings Israels aufgeladene Geschichte Bar Kochbas.104 «Diese Bilder stammen vom 16. Dezember 1947.» Gegen Ende des Filmes fügte Marker historische Filmaufnahmen ein, die jüdische Flüchtlinge, Überlebende aus den Nazi-Vernichtungslagern auf dem Haganah-Schiff ‹Unafraid› zeigen (Abb. 25–26). Die Aufnahmen wurden von Bertrand Hesse gedreht, einem Kame- ramann der Pathé-Wochenschau. Wenig später waren sie von Meyer Levin und Tereska Torrès in ihrem Film The Illegals (1947) verwendet worden.105 Die Pro- duktion dieses Films war ein singuläres Unterfangen: In die Wirklichkeit der Flucht aus Europa hatten Meyer Levin und Teresa Torrès zwei Laiendarsteller eingeschleust, Protagonist*innen eines dokumentarischen Spielfilms bzw. Dokumentarfilms mit fiktionalen Elementen, bei dem die Flüchtenden «überwiegend gar nicht erkannten, dass ein Film gedreht wurde.»106 The Illegals verdeutlichte den liminalen Status jener ‹Displaced Persons›, denen die Erfahrung des Lagers den Weg zurück und die restriktive Einwanderungspolitik der Briten den Weg nach vorn versperrt hatten. Ähnlich wie in der Geschichte, die Exodus als Vorwand diente, war die ‹Unafraid› 102 Vgl. Yadin, Yigael: The message of the scrolls, London: Weidenfeld and Nicolson 1957. 103 Siehe Zerubavel, Yael: Recovered roots. Collective memory and the making of Israeli national tra- dition, Chicago IL u. a.: University of Chicago Press 1995, Kap. 5, 8 und 11. 104 Siehe ebd., Kap. 4, 7 und 10; weiters Zerubavel, Yael: «Bar Kokhba’s Image in Modern Israeli Culture», in: Schäfer, Peter (Hg.): The Bar Kokhba war reconsidered: new perspectives on the Se- cond Jewish Revolt against Rome, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 279–297. 105 Vgl. Loewy, Ronny: Unerschrocken. Auf dem Weg nach Palästina – Tereska Torres’ Filmtagebuch von 1947, Köln: DuMont 2004. 106 Tryster, Hillel: «Das Ende der Diaspora. Der israelische Film», in: Rother, Rainer (Hg.): Mythen der Nationen: Völker im Film, Leipzig: Koehler & Amelang 1998, S. 131–149, hier S. 139. 101 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva 25 Footage des Pathé- Kameramanns Betrand Hesse von der ‹Unafraid›; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:49:21) 26 Erschöpfte Überlebende der Nazilager an Bord der ‹Unafraid›; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:49:34) auf einer Odyssee, die sie aus Europa an die Küste von Palästina und von dort in bri- tische Lager auf Zypern führte. Während The Illegals sich mit bescheidenen Mit- teln gegen eine Unmöglichkeit auflehnte, inszenierte Otto Premingers Exodus aus- gehend von einer ähnlichen Geschichte die Geburt einer Nation und betrieb Nation Building in der epischen Breite von Cinemascope. Die Bilder von erschöpften Frauen und Männern bleiben in Markers Film zunächst unkommentiert. Erst angesichts von Aufnahmen aus den zypriotischen Lagern erfolgt ein Bruch und der Kommen- tar adressiert abrupt das europäische Publikum und ruft es als kollektives ‹Wir› an: «Das haben wir getan, das alte Europa, wir, die wir ununterbrochen von unseren geistigen Werten reden. Wir haben es soweit gebracht, dass tausende von Men- schen alles aufs Spiel setzen, um vor uns zu fliehen. Den Lagern entronnen, im Lager verwaist, in Lagern geboren, an Lagern zugrunde gegangen, so sind sie vor uns geflohen. Vor uns Deutschland, und vor unseren Verbrechen, vor uns Frank- reich, und vor unserer Gleichgültigkeit, und als sie mit uns, England, zusam- mentrafen, haben wir nichts besseres zu tun gewusst, als sie wieder ins Lager zu sperren.» 102 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Nur hier evoziert Description d’un combat direkt die Erinnerung an den Holocaust, allerdings nicht auf der visuellen Ebene. Eine einzige Einstellung im ersten Viertel des Films hatte ebenso indirekt darauf angespielt, im Rahmen der Zeichen- Theorie, die der Film eingangs entfaltet hatte: «Nur auf Baumrinden sind Zeichen von Bestand – und auf Menschenhaut». Die Montage springt von verliebten Schnitzereien auf Baumstämmen zu einem Staplerfahrer bei der Arbeit. Sein Hemd ist aufgekrem- pelt, am Unterarm ist eine tätowierte Nummer zu erkennen. Seine Figur verkörpert die Verwandlung des KZ-Überlebenden in den Pionier, den Chaluz.107 1960 war ein entscheidendes Jahr für die Erinnerungskulturen in Israel, ein gesamtgesellschaftlicher memorialer Umbruch begann: Der Prozess gegen den österreichischen NS-Täter Adolf Eichmann am Jerusalemer Bezirksgericht brachte den entsetzlichen Kosmos der NS-Vernichtungslager ans Licht der Öffentlichkeit. Während zuvor die Erinnerung an die Verbrechen im privaten Raum allgegenwär- tig war, wurde diese mit dem Eichmann-Prozess im öffentlichen Raum verankert.108 Die Figur des Zeugen, des Überlebenden rückte ins Zentrum. Wenn Zeugen ohn- mächtig zusammenbrachen, berichteten internationale Pressekorrespondent*in- nen  – unter ihnen Hannah Arendt109  – weltweit. Auf imaginärer Ebene wurde dem Eichmann-Prozess von manchen Beobachtern der Charakter einer «zweiten Geburt Israels»110 zugeschrieben. Die vom staatlichen Radio Kol Yisrael (‹Stimme Israels›) live übertragenen Zeugenanhörungen bedeuteten eine Konfrontation mit dem Horror der NS-Vernichtungslager auf gesamtgesellschaftlicher Ebene: The radio (we had no television) provided a very wide coverage, with the main features of the trial broadcast directly from the courtroom. People would often close their shops to listen; bus and taxi drivers were reported to have stopped their vehicles when the proceedings grew too moving. School chil- dren brought transistor radios to school, and the teachers had to stop work from time to time to allow group listening. The proceedings could be heard in the public streets, for the radio voices emerged from every open window.111 107 Eine ähnliche Bildkombination fand sich 1957 im Israel-Band von Markers Petite Planète-Rei- he, vgl. Catariva: Israel, S. 8 f. Zur Begegnung von Überlebenden und Sabras und zur Exo- dus-Affäre vgl. Zertal, Idith: From catastrophe to power. Holocaust survivors and the emergen- ce of Israel, Berkeley CA: University of California Press 1998. 108 Vgl. Segev, Tom: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek: Rowohlt 1995, S. 427–483; weiters Yablonkah, Hanah: The state of Israel vs. Adolf Eichmann, New York NY: Schocken Books 2004. 109 Siehe Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Mün- chen u. a.: Piper 1997; sowie Smith, Gary: Hannah Arendt revisited. ‹Eichmann in Jerusalem› und die Folgen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 110 Misrahi, Robert: «Le procès Eichmann et la seconde naissance d’Israël», Les temps modernes 186 / novembre 1961, S. 552–562. 111 Gideon Hausner: Justice in Jerusalem, New York: 1966, zit. nach Pinchevski, Amit, Tamar Liebes 103 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Das öffentliche Ereignis des Prozesses kommunizierte jenen Menschen Erinnerun- gen an die Lager, die sie selbst nicht teilten: Sabras, sephardischen Immigrant*in- nen und der ersten Generation junger Israelis – auch solchen, die sich der älteren Generation schämten, weil sich diese in ihren Augen «wie Schafe zur Schlachtbank führen»112 hatte lassen. Die Nachdenklichkeit von Markers Film wurde von der Aktualität des Prozesses geprägt. Als Eichmann am 11. Mai 1960 in Argentinien verhaftet wurde, drehte Marker gerade in Israel, zwei Wochen bevor das Jerusale- mer Bezirksgericht am 15. Dezember 1961 das Todesurteil gegen Eichmann aus- sprach, erlebte der Film seine israelische Premiere.113 Die letzte Einstellung des Filmes wird zum Bild einer neuen Generation. Die Aufnahme zeigt ein junges Mädchen in einem Zeichenkurs in Haifa (Abb. 27). Sie wirkt ganz versunken und scheint die Kamera nicht zu bemerken. Was sie zeich- net, zeigt der Film nicht. Die letzten Sätze des Kommentars allegorisieren ihr Bild schließlich, mit weitreichenden geschichtspolitischen Implikationen: «Was wird aus dieser kleinen Jüdin werden, die niemals Anne Frank sein wird? Man muss sie betrachten. Ihr Leben, ihre Freiheit, das war der Einsatz der ers- ten Kämpfe. Das war zur Zeit der Wunder. Aber Wunder vergehen, mit denen, die sie erlebt haben.» In den Jahren zuvor war aus der Geschichte des in Bergen-Belsen ermordeten Mäd- chens mit der Adaptierung ihrer Tagebücher im Broadway-Stück The Diary of Anne Frank und in George Stevens’ gleichnamigem Film eine mediale ‹Ikone› des Holocaust geworden.114 The Diary of Anne Frank (USA 1959) war ebenfalls beim Festival in Moskau gezeigt worden, bei dem die van Leers Marker getroffen hatten. und Ora Herman: «Eichmann on the Air: Radio and the Making of an Historic Trial», Histori- cal Journal of Film, Radio and Television 27/1/2007, S. 1–25, hier S. 1. 112 Die Formulierung spielt auf Jesaja 53:7 an, die Abba Kovner in seinem Aufruf vom 1.1.1942 verwendet hatte: «Laßt uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen!» Diesen Satz inter- pretierten manche als Kritik an den Opfern, die sich nicht zur Wehr gesetzt hätten. Vor dem Eichmann-Prozess stand, so Moshe Zimmermann, «der Holocaust […] eher im Zeichen der Verdrängung, er schien in krassem Gegensatz zum israelischen Wesen bzw. Mythos zu stehen: Dort die Schafe, die zur Schlachtbank gingen, hier die Kriegshelden.» Zit. nach Käppner, Jo- achim: «Jüdischer Widerstand gegen die Nazis: Flammen in der Asche», Süddeutsche Zeitung 17.5.2010, http://www.sueddeutsche.de/politik/juedischer-widerstand-gegen-die-nazis-flam- men-in-der-asche-1.449538 (zugegriffen am 6.8.2016); weiters Gampel, Yolanda: «Einige Ge- danken zu Dynamiken und Prozessen in einer Langzeitgruppe von Überlebenden der Shoah», in: Moses, Rafael (Hg.): Psychoanalyse in Israel. Theoriebildung und therapeutische Praxis, Göt- tingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 83–104, hier S. 86. 113 Die Filmaufnahmen vom Prozess wurden von Yad Vashem auf YouTube veröffentlicht: https:// www.youtube.com/user/EichmannTrialEN (zugegriffen am 23.4.2019). 114 Vgl. Loewy, Hanno: «Das gerettete Kind. Die ‹Universalisierung› der Anne Frank», in: Braese, Stephan (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a. M./New York: Campus 1998, S. 19–41; weiters Seibert, Peter (Hg.): Anne Frank: Mediengeschichten, Berlin: Metropol 2014. 104 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker 27 Ein Mädchen in einem Zeichenkurs in Haifa wird zur geheimnisvollen Verkörperung Israels; Screenshot aus Description d’un combat (TC 00:53:43) In einer ersten Bewegung hebt der Kommentar das namenlose Mädchen aus der Geschichte der Verfolgung heraus. Als Mädchen, das «niemals Anne Frank sein» wird, re-präsentiert sie die neue Generation, welche nicht die Erinnerung an Ver- folgung, Massenmord und Kampf um Land teilt. Etwa gleich alt wie der junge Staat, verkörpert sie die Zukunft, aber auch einen generationellen und memori- alen Bruch mit der Vergangenheit. In einer zweiten Bewegung nimmt der Kom- mentar noch einmal Kafkas Bild von einem inneren Kampf auf: «Ein zweiter Kampf beginnt. Eine Nation wie eine andere zu werden heißt, das Recht auf den Egoismus der Nationen zu erwerben, das Recht auf ihre Verblen- dung, ihre Eitelkeit.» Dieser bereits im Gang befindliche zweite Kampf erweist sich nun als das eigent- liche Thema des Films. Bei diesem Kampf geht es um die ‹Normalisierung›115 Isra- els als Staat unter Staaten, andererseits aber auch um die Verwirklichung der ihm eingeschriebenen Utopie: «Aber die ganze Geschichte Israels hat sich von Beginn an gegen eine Kraft gewehrt, die nur Kraft ist, gegen eine Macht, die nichts als Macht ist. Kraft und Macht sind selbst nur Zeichen.» Der Kommentar bürdet der jungen Frau das ganze Gewicht der Verantwortung des neuen Staates vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte auf: «Das größte Unrecht, das auf Israel lastet ist wohl das, kein Recht zu haben ungerecht zu sein. Man muss ihr zuschauen, wie sie da steht. Wie Israel. Man muss sie verstehen, vielleicht mit ihr reden. Sie oft daran erinnern, dass hier auf 115 Zur Ambivalenz dieses Begriffs siehe Rose: The Question of Zion, S. 70 f. 105 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Israels Boden Unrecht schwerer wiegt als anderswo, weil Israels Erde das Löse- geld des Unrechts ist.» In einer letzten Wendung insistiert der Kommentar schließlich darauf, das Mäd- chen so lange anzusehen, bis ihre einfache Sichtbarkeit – diesseits jeder Allego- rik – zum rätselhaften Zeichen wird: «Man muss sich die Gefahren vor Augen halten, die über ihr schweben, und für die keinerlei Schuld sie trifft. Doch zuerst sie betrachten – solange bis sie zum Rätsel wird. Wie Worte, die man unaufhörlich wiederholt, bis man sie nicht wiedererkennt. Solange, bis vor allen unbegreiflichen Dingen dieser Welt es am unbegreiflichsten wird, dass sie hier vor uns steht. Wie ein Vogel. Wie eine Zahl. Wie ein Zeichen.» Die Figur des jungen Mädchens wird ganz am Ende zum Bild eines kontingenten Werdens, zu einer Signatur, die potenziell offen für neue Bedeutungen ist. Zeich- nend schafft sie selbst Zeichen. Historizität eines Films Markers Film hat eine eigenartige Rezeptionsgeschichte: Zunächst erfolgreich an den Kinokassen und in cinephilen Gazetten als Modell gepriesen,116 verschwand er bald aus der Filmgeschichte, um fast fünfzig Jahre später – initiiert durch einen anderen Film – ein unwahrscheinliches Revival zu erleben. In der hebräischen Version erhielt der Film einen neuen Titel: Hatzad Hash- lishi Shel Hamatbaya, also ‹Die dritte Seite der Münze›. Vielleicht aus Rück- sicht darauf, dass das israelische Publikum den Begriff ‹Kampf› mit Konflikten mit äußeren Feinden in der Vergangenheit und in der Gegenwart assoziieren musste und damit übersehen konnte, dass es den Produzenten um Auseinan- dersetzungen innerhalb Israels ging. Dieser Titel betonte die transgressive Hal- tung des Films: Die Geschichte hat nicht nur zwei Seiten. Und schließlich funk- tionierte die Metapher einer Münze auch als Beschreibung von Markers Poetik: Die Kombination von Bild und Text schafft Interferenzen, die mehr ergeben als die Summe ihrer Teile. Bild- und Tonspur beleben sich gegenseitig und schaf- fen etwas Neues. Jede der beiden sensorischen Ebenen – visuelle Montage und auditiver Kommentar – bleibt für sich allein unverständlich, erst die «horizontale 116 Siehe etwa Michaud, Jean: «Apologie de Chris Marker. ‹Signes …› / Commentaire pour Descrip- tion d’un combat, par Chris Marker», Cinéma 61, 57 / juin 1961, S. 33–47 & 155–157 (Forts.). 106 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Montage» (André Bazin) beider Ebenen lässt Bedeutungen aus ihrer Interferenz entstehen. Die israelische Filmkritik war von Mar- kers Travellogue durchwegs angetan: «Der erste bedeutungsvolle Film über Israel […], der das Land erregend, lyrisch, sogar humorvoll dar- stellt» (Jerusalem Post); «Der beste Dokumentar- film über Israel bisher, der unser Leben wahrhaft darstellt» (Haolam Hazah, Tel Aviv).117 Auch Wim van Leer war zufrieden. In einem Gespräch äußerte er sich noch einmal über seine persön- liche Motivation als Produzent und die Fragen, auf die der Film reagiert hatte: Je mehr sich die wirtschaftlichen Verhältnisse 28 Auf dem Plakat zur hebräischen bei uns zu konsolidieren beginnen, desto Fassung des Films wurde gefragt: brennender werden die Probleme, die nicht «Weißt du alles über Israel?» zuletzt durch die krassen Gegensätze ausge- löst werden, die in Israel aufeinander prallen. Denn was gleich scheint, ist ja nicht gleich! Aus allen Ländern kamen die Juden, die bisher unter ganz ver- schiedenen Lebensbedingungen gelebt haben nach Israel. Was besagt über- haupt der Begriff Jude? Und was für eine Staatsform haben wir denn eigent- lich? Und warum werden wir nicht mit den Minoritäten fertig? Beantworten kann der Film natürlich nicht die Fragen. Es sind ja gerade die unlösbar scheinenden Probleme, die ich vor Augen führen will, damit man sie wahr- nimmt und sich mit ihnen auseinandersetzt.118 In Israel wurde Description d’un combat für mehrere Generationen eine Art Kultfilm119 und Wim van Leer staunte, dass der Film auch ein finanzieller Erfolg wurde (Abb. 28).120 Bei den offiziellen Stellen schien er nicht auf volle Zustim- mung zu treffen: Marker berichtete im ersten Band seiner Commentaires, diese fänden, «die Häufigkeit schlecht rasierter Juden überschreite die Schwelle zur Gegen- Propaganda»121  – eine ironische Anspielung auf Premingers Exodus, 117 Presse-Folder zu Description d’un combat, 1961, S. 4. 118 Scottie, Ilse von: «Gespräch mit Wim van Leer», Film in Berlin. Offizielle Festspielzeitung der XI. Internationalen Filmfestspiele Berlin 29.6.1961. 119 Vgl. Le Roy: «Les rivières souterraines de Description d’un combat», S. 21. 120 Vgl. Leer: The Time of My Life, S. 342. 121 Marker: Commentaires, S.  125 (Übers. d. Autors). Markers einleitende Bemerkungen zum Kommentar seines Israel-Films, aus denen diese Formulierung stammt, wurden in die deut- sche Ausgabe nicht aufgenommen. 107 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva dessen Hauptdarsteller Paul Newman «always well-shaved»122 in Aktion trat, wie ein Kritiker der New York Times bemerkt hatte. Markers Äußerung bezog sich auch auf die Tatsache, dass es sich bei einigen dieser «schlecht rasierten Juden» tatsächlich um israelische Araber handelte.123 Insgesamt stieß die unabhängige Produktion auf offizieller israelischer Seite auf Skepsis, weil er «die Zustände zu realistisch wiedergibt»,124 wie eine deutsche Filmkritikerin berichtete. Der Kon- struktivismus des Films hatte etwas sichtbar gemacht, was für den ‹Realismus› herkömmlicher Dokumentarfilme unsichtbar geblieben war. Markers essayistische Poetik beeinflusste israelische Filmschaffende wie David Perlov, dessen In Jerusalem (ISR 1963) den Beginn eines dokumentarischen Essayismus im israelischen Kino markiert. Perlovs Film stieß auf ähnliches Miss- trauen der Behörden wie Hatzad Hashlishi Shel Hamatbaya: Aus Sorge um das Bild Israels im Ausland sollten Aufnahmen von Jerusalemer Bettlern gestri- chen werden, von denen Perlovs Kommentar spekulierte, dass der Messias einst vielleicht aus ihrer Mitte kommen werde.125 Im direkten Vergleich mit anderen Filmen über Israel wird die Berechtigung von Markers komplexer Poetik deutlich. Alle Filme dieser Epoche, die sich doku- mentarisch mit Israel auseinandersetzten, bleiben hinter der Reflexivität von Description d’un combat zurück. Der deutsche Film Paradies und Feuer- ofen (D 1959) etwa, in dem Victor Vivas als rasender Reporter in der 1. Per- son Singular für ein deutsches Publikum aus Israel berichtete, verfiel – trotz aller authentifizierenden Gesten – von einem Stereotyp ins nächste.126 Markers Film war «das Gegenteil jener hurrapositivistischen Betrachtungsweise»,127 wie ein Kritiker der Zeit in seiner Besprechung von Beschreibung eines Kampfes fest- stellte. Ähnlich äußerte sich Hans-Dieter Roos 1963 in der Filmkritik: Das ist ein Film über Israel, aber er gleicht keinem anderen Film über Israel, überhaupt keinem jener Dokumentarfilme, wie sie in unserem Land so popu- lär sind. Da ist nicht die Pathetik von ‹Paradies und Feuerofen› […], hier ist ein präziser, intelligenter Bericht über einen Staat, von einem Mann, der sieht 122 Crowther, Bosley: «Exodus (1960) – 3 1/2-Hour Film Based on Uris’ Novel Opens», The New York Times 16.12.1960. 123 Die israelische Zensur hatte einen kurzen, launigen Dialog zweier Araber gestrichen. Ein paar Sekunden lang fehlt der O-Ton, während die Kommentarstimme weiterspricht. In der deut- schen Fassung ist dies durch den Untertitel «(Von der Zensur gestrichen)» (TC 00:24:42) kennt- lich gemacht. 124 Müller, Erika: «Ein Volk analysiert sich selbst. Chris Marker inszenierte für Israel den Doku- mentarfilm Beschreibung eines Kampfes», Die Zeit 21.7.1961. 125 Vgl. Klein, Uri: «Interview with David Perlov about In Jerusalem», Haaretz 29.9.1993. 126 Zur Produktionsgeschichte dieses Films siehe Brecher: Der David, S. 169 ff. 127 «Beschreibung eines Kampfes», Die Zeit 29.3.1963. 108 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker und zugleich eine Meinung hat, der leidenschaftlich Partei ergreift, der nicht bloß registriert, sondern zugleich über das Wahrgenommene reflektiert und uns schließlich die Summe seiner Gedanken und Erkenntnisse in einem 45-Minuten-Film präsentiert, der in seiner Art vollkommen ist.128 Der israelische Kompilationsfilm Etz o Palestine (‹Die wahre Geschichte Paläs- tinas›, ISR 1962) von Nathan Axelrod und Uri Zohar konstruierte humorvoll und nostalgisch aus scheinbar für sich selbst sprechenden Archivbildern eine ideologisch gefärbte historische Wahrheit.129 Pier Paolo Pasolinis Blick in Sopralluoghi in Palestina (I 1963) war ganz von der Enttäuschung getrübt, nicht mehr das biblische Palästina vorzufinden, das er als Schauplatz für seine Verfilmung des Matthäus-Evan- geliums suchte, sondern nur mehr die bunte Oberfläche des modernen Israel.130 Als Beschreibung eines Kampfes bei der Berlinale im Juni 1961 seine deut- sche Premiere erlebte, berichteten die Zeitungen täglich vom Eichmann-Prozess. Erstmals seit dem abrupten Ende der alliierten Entnazifizierungspolitik stand der Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen wieder im Zentrum der deutschen Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund war es ausgeschlossen, dass die Beschreibung eines Kampfes von der ‹Freiwilligen Selbstkontrolle der Film- wirtschaft› verboten würde, wie zuvor noch Resnais’ Nacht und Nebel und auch die früheren Filme Chris Markers: Wenn man in Deutschland auch nicht über die Chinesen, die Sibirier und zweifel- los auch nicht über die Kubaner sprechen durfte, so war es doch erfreulich zu sehen, dass es hier – wenigstens im Moment – möglich war, über die Juden zu sprechen.131 Dies schlug sich auch in Gerhard Pragers Begründung für die Erteilung des Prä- dikats ‹Besonders wertvoll› nieder: Der Film plakatiert weder ein Scheinbild noch ein Propagandabild, sondern hat den Mut, seinen Gegenstand hier und da mit kritischen Fragezeichen zu verse- hen. Trotz des scheinbar pathetischen Textes wirkt der Film unpathetisch und unsentimental. Er beschönigt weder die sozialen, politischen und religiösen Spannungen in diesem Lande noch verschweigt er die Schuld der europäischen Völker, voran die des deutschen Volkes am Schicksal des jüdischen Volkes.132 128 Roos, Hans-Dieter: «Beschreibung eines Kampfes», Süddeutsche Zeitung 19.6.1963. 129 Vgl. Kronish/Safirman: Israeli film. A reference guide, S. 147. 130 Siehe Gordon, Robert S. C.: «Pasolini as Jew, Between Israel and Europe», in: Di Blasi, Luca (Hg.): The scandal of self-contradiction: Pasolini’s multistable subjectivities, geographies, traditions, Wien: Turia + Kant 2012, S. 37–57. 131 Marker: Commentaires, S. 125 (Übers. d. Autors). 132 Brief der Filmbewertungsstelle Wiesbaden an die SOFAC, 8.11.1961. 109 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva Auch Wim van Leer nahm in Berlin auf den Moment der Premiere Bezug: Ich halte den Zeitpunkt der Filmpremiere für besonders günstig, denn durch den Eichmann-Prozess ist endlich einmal alles zur Sprache gekommen, was bisher immer wieder verdrängt wurde und mit dem der Einzelne nicht fertig werden konnte.133 Nach seiner mit dem ‹Goldenen Bären› für den besten abendfüllenden Dokumen- tarfilm belohnten Berlinale-Premiere wurde der Film noch im Jüdischen Gemein- dehaus gezeigt. Van Leer erhielt vom Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski134 eine Ehrengabe und äußerte sich dann kritisch über das offizielle israelische Kino und die Zensur. Während der Publikumsdiskussion kam es zu einem Zwischenfall: «Nur mit dem Libanesen, der ihn wegen des Schicksals der Araber anzupöbeln anfing, kam er nicht zu Rande.»135 Die deutsche Presse besprach den Film positiv bis hymnisch, auch die Filmbewertungsstelle Wiesbaden, die aber beanstandete, dass sich der Text «an einigen Stellen vielleicht etwas zu prätentiös [gibt]».136 Die essayistische Methode des Films wurde wiederholt gepriesen, etwa von Hans Stempel in der Filmkritik: Marker versucht, die Kamera wie eine Zeitmaschine zu handhaben. […] Das sichtbare Bild wird der gedanklichen Bildfolge untergeordnet, die das Statische des fixierten Bildes aufhebt und damit seinen Fetischcharakter. Das Bild ist so nicht länger das Endprodukt der Erkenntnis. Es wird als Motor eines Gedan- kens begriffen, es wird auf seinen historischen Stellenwert hin durchröntgt. Der Dokumentarfilm von morgen wird an dieser Arbeit Markers zu messen sein.137 In Frankreich war der Film bereits im April erfolgreich angelaufen, als Doppelpro- gramm mit Jean Rouchs semi-dokumentarischem Spielfilm La pyramide humaine (F 1960).138 Wie in Israel und in Deutschland reagierte die Kritik wohlwollend, 133 Scottie: «Gespräch mit Wim van Leer». 134 Galinski entkam 1975 unverletzt einem von unbekannten Tätern verübten Paketbombenan- schlag. Im September und im Dezember 1998 wurden auf das Grab des 1992 verstorbenen Eh- renbürgers der Stadt Berlin und ehemaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutsch- land auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Westend zwei Sprengstoffanschläge verübt, bei denen der Grabstein fast vollständig zerstört wurde. 135 «Beschreibung eines Kampfes» [Bericht über die Vorführung im Jüdischen Gemeindehaus Fa- sanenstraße]. 136 Brief der Filmbewertungsstelle Wiesbaden an die SOFAC, 8.11.1961. Das Programmheft zur Filmreihe ‹Jüdische Lebenswelten› (15.1.1992–26.4.1992) der Freunde der Deutschen Kinema- thek enthält eine Zusammenstellung von Kritiken. 137 Stempel, Hans: «Beschreibung eines Kampfes», Filmkritik 3/1963, S. 124–126, hier S. 126. 138 In diesem Film dramatisierte Rouch mit Laiendarsteller*innen die sozialen Probleme an einem Gymnasium in Abidjan, Côte d’Ivoire. 110 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker teilweise euphorisch auf Markers Film. Auch hier wurde seine reflexive Poetik von Kritiker*innen als Modell einer neuen Art von Dokumentarfilm angesehen. In diesem Zusammenhang taucht eine Frage auf: Martine Monod, 1961 Film- kritikerin der kommunistischen Humanité, erwähnt in ihrer Besprechung von Description d’un combat «Bilder von Deportationen und Massakern»,139 die auf sie einen bestürzenden Eindruck gemacht hätten. In einer Mappe mit Pressefotos für die Berlinale 1961 finden sich zwei Standfotos, die diese Angabe bestätigen.140 Das erste stammt vermutlich aus einem von den Nazis hergestellten Film über das nie- derländische Lager Westerbork und ist einer Sequenz entnommen, welche die Ver- ladung jüdischer Häftlinge in Viehwagons zeigt, die sie in die Vernichtungslager im Osten bringen werden – es sind die einzigen Filmbilder, die von diesem Vorgang exis- tieren.141 Das zweite Bild stammt aus dem Film eines alliierten Kameramanns und zeigt Verbrennungsöfen im KZ Buchenwald. Beide Sequenzen waren auch in Nuit et brouillard verwendet worden und Marker hatte gewiss Zugang zu diesen Auf- nahmen. Weshalb finden sie sich in den heutigen Versionen des Films nicht mehr? Wurden sie herausgeschnitten? Wann, von wem und weshalb? Gab es einen Zusam- menhang mit dem Eichmann-Prozess? Vermutete jemand Abwehrreaktionen sei- tens des deutschen Publikums? Keine Antwort, aber der einzige konkrete Hinweis zur Klärung findet sich in einer kurzen Filmbeschreibung aus dem Jahr 1965: Zu kurz für einen Langfilm und zu lang für ein Beiprogramm, wurde ‹Beschreibung eines Kampfes› um einige Sequenzen gekürzt, um program- miert werden zu können. Die neue Version besaß jedoch nicht die Ausbalan- ciertheit des Originals und wirkte erstaunlicherweise länger.142 Leider gibt es keine Möglichkeit, dieses Urteil nachzuprüfen und die beiden Ver- sionen zu vergleichen. Seit 1967 gestattete Chris Marker die Aufführung von Description d’un combat nicht mehr. Jahrzehntelang bekannte sich der Autor, Filmemacher und Multimediakünstler zu dieser «retrospektiven Selbstzensur»,143 139 Monod, Martine: «Description d’un combat», Lettres françaises 26.4.1961. In der Humanité schrieb sie: «Im Übrigen sind die aufwühlendsten Sequenzen seines Films in Schwarzweiß – es handelt sich um Archivausschnitte, die Massaker an Juden zeigen, die die Nazis im Namen des ‹Rasse›-Mythos begingen.» Monod, Martine: «Description d’un combat», L’Humanité 28.4.1961 (Übers. d. Autors). 140 Persönliche Mitteilung von Thomas Tode. 141 Dabei handelte es sich vermutlich um jene Aufnahmen von 1944, die der jüdische KZ-Häftling Rudolf Breslauer für die SS machen musste, die Harun Farocki 2007 in seinem Film Aufschub – Dokumentarische Szenen aus einem Judendurchgangslager essayistisch befragte. 142 Gauthier: «Description d’un combat» (Übers. d. Autors). 143 «Chris Marker – La Cinématèque française, Programme du 7 janvier au 1er février 1998», in: Argos Films (Hg.): Description d’un combat, un film de Chris Marker et Description d’un souvenir, un film de Dan Geva [DVD-Booklet], Paris: Tamasa 2017, S. 64 (Übers. d. Autors). 111 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva die er oft ästhetisch argumentierte.144 Gewiss war dieses Verdikt aber auch durch die historische Situation des Jahres 1967 motiviert: Sieben Jahre nach seiner Ent- stehung veränderte die israelische Besetzung des Westjordanlandes, Gazas und Ostjerusalems nicht nur die Landkarte des Nahen Ostens, sondern auch die gesamte Konfiguration, deren Entzifferung sich Description d’un combat gewidmet hatte.145 Nach dem Krieg war Israel nicht mehr Teil der blockfreien Welt, sondern begab sich in die Abhängigkeit von den USA. Das emanzipatori- sche Versprechen des Links-Zionismus begann an Kraft zu verlieren, der Aufstieg der religiösen Rechten begann.146 Überall wühlte der Juni-Krieg Affekte auf, besonders in Frankreich. Der Algeri- enkrieg hatte wenige Jahre zuvor ein Jahrhundert französischer Kolonialherrschaft beendet. Die öffentliche Meinung war in diesem Moment mehrheitlich anti-arabisch und pro-zionistisch. Eine radikale Wende markierte jedoch die Rede Charles de Gaulles vom 27. November 1967, kurz nach der Veröffentlichung der UN-Resolution 242, die den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten forderte. Brüsk und offen antisemitische Stereotypen bedienend, kritisierte er die Fortdauer der israelischen Besetzung von Gebieten, die völkerrechtlich den Palästinenser*innen zustanden.147 Den Schlusskommentar von Markers Films konnte man nun auf unterschied- liche Weise interpretieren: Rechtfertigte er die militärischen Expansion oder warnte er vor dem Einsatz von Macht und Gewalt? Beweist es die Normalisierung des Staates Israel, dass er wie andere Staaten ungerecht handeln darf oder muss er einer Utopie treu bleiben, die ihm dies verbietet? «Eine Nation wie eine andere zu werden heißt, das Recht auf den Egoismus der Nationen zu erwerben, das Recht auf ihre Verblendung, ihre Eitelkeit. Aber die ganze Geschichte Israels hat sich von Beginn an gegen eine Kraft gewehrt, die nur Kraft ist, gegen eine Macht, die nichts als Macht ist. Kraft und Macht sind selbst nur Zeichen. Das größte Unrecht, das auf Israel lastet ist wohl das, kein Recht zu haben ungerecht zu sein.» 144 «Ich bin gegen eine Aufführung nicht dieses Filmes im besonderen, sondern von allen, die ich vor 1962 gedreht habe, als ich mit La Jetée den Eindruck hatte, dass ich begonnen hätte, Kino zu machen … Also keine voreiligen Schlüsse über das Urteil, das ich über dies und jenes gefällt habe: Seine eigenen Entwürfe und Skizzen nicht zu zeigen, scheint mir ein Gebot elementa- rer Höflichkeit und daran halte ich mich unter allen Umständen.» Chris Marker, E-Mail an d. Autor, 4.3.2010 (Übers. d. Autors). 145 Zakim, Eric: «Chris Marker’s Description of a Struggle and the Limits of the Essay Film», in: Papazian, Elizabeth A. und Caroline Eades (Hg.): The essay film: dialogue, politics, utopia, Nonfictions, London / New York: Wallflower Press 2016, S. 145–166. 146 Siehe Leibowitz, Jeshajahu und Shashar, Michael: Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt a. M.: Insel, S. 17 f. 147 Siehe Aron, Raymond: Zeit des Argwohns. De Gaulle, Israel und die Juden, Frankfurt a. M.: F ischer 1968. 112 3.1 Description d’un combat (1960) von Chris Marker Marker selbst filmte in diesem Moment in bestreikten Pariser Betrieben und arbei- tete an Loin du Vietnam (F 1967), einem Anti-Vietnamkriegsfilm mit Beiträgen von Joris Ivens, Jean-Luc Godard, William Klein u. a., den er koordinierte und mit einem Kommentar versah. Später schrieb Marker über seine Erfahrungen in dieser Epoche: During those years, I came to the conclusion that the only sensible weapon against the cops could be a film camera. Not that glorious but, at times, efficient.148 Marker dürfte es kaum gefallen haben, dass ihm nun ein Satz aus seinem Film- kommentar von 1960 als Rechtfertigung für die militärische Expansion Israels ausgelegt wurde. 1982 geschah dies noch einmal anlässlich der US-Premiere des Films im Rahmen des New York Film Festivals: Vor dem Hintergrund des unter den Augen von Ariel Sharon von christlichen Milizen begangenen Massakers an Palästinenser*innen in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila149 quittierte die New Yorker Presse Description of a Struggle fast einhellig mit eisiger Kritik:150 Characterizing the triumph of Israel’s existence in 1960 as ‹the denial of the right to be injust›, Marker’s ‹Description of a Struggle› appears in New York in complicity with Lebanese militiamen that led to the massacre of more than 600 innocents.151 Indem der Filmkritiker der Village Voice Marker Komplizenschaft mit der Gewalt vorwarf, löschte er jedoch jene ‹Sorge um die Zukunft› (Astruc), von der Markers Montage geleitet gewesen war. 2009 schlug Régine-Mihal Friedman vor, den Film als eine Art visuellen Midrasch zu lesen, als einen «Text des Textes».152 Dass sie ihren Artikel mit Markers umstrittenem Schlusskommentar enden ließ, erklärte sie damit, dass ihm vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges um die Jahreswende 2008/09 größere Dringlichkeit denn je zukäme: Die finale Mahnrede – ernst, lang und zwei Mal wiederaufgenommen – wird noch insistenter in ihrem Plädoyer gegen die Ungerechtigkeit. […] Man wird sich gestatten, sie in extenso zu zitieren, weil diese Rede heute notwendi- ger, zutreffender und unserer post-postmodernen Sensibilität angemessener erscheint, als sie es seit 1960 jemals war.153 148 Marker, Chris: Staring back, Cambridge MA: MIT Press 2007, S. 7. 149 Siehe Al-Hout, Bayan Nuwayhed: Sabra and Shatila: September 1982, London, Ann Arbor MI: Pluto Press 2004. 150 Vgl. nach Hoberman, Jim: «Postcard from the Edge. Marker’s Impressions of Israel», Film Com- ment Juli/August 2003, S. 48. 151 Zit. nach ebd. 152 Friedman: «De l’essai et le Midrash. Description d’un combat de Chris Marker», S. 177. 153 Ebd., S. 108 (Übers. d. Autors). 113 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva Über Jahrzehnte blieb Description d’un combat verschwunden, Kopien waren praktisch nicht aufzutreiben und meist fehlte er auch in Retrospektiven, die dem Gesamtwerk Markers gewidmet waren. Bis 2006 der Film eines israelischen Regisseurs einen fulminanten intervisuellen Dialog mit Markers Film eröffnete: Der 1964 geborene Dan Geva154 hatte Markers Film zum ersten Mal Mitte der 1970er-Jahre gesehen, als er selbst etwa so alt war, wie das zeichnende Mädchen in der letzten Einstellung des Films: I first saw ‹Description of a Struggle› when I was around twelve. I can say in perspective that the images of this film magically haunted me. They remained within the hard disc of my memory, long before I was thinking even about film or filmmaking.155 Gevas Film Description of a Memory (ISR 2006) tritt in einen essayisti- schen Dialog mit dem Film Markers. Er beginnt mit einer Einstellung, die die- ses Verhältnis verräumlicht: In einem leeren Kinosaal beginnt die Projektion von Description d’un combat, der Film läuft rückwärts, die Bilder stehen Kopf. Geva versteht sich als direkter Adressat des an die Zukunft gerichteten Films, als Empfänger von Markers Flaschenpost. Der ein halbes Jahrhundert früher gedrehte Film wird zur Kontrastfolie, vor dessen Hintergrund Israels Gegenwart wiederum als sublime Zeichenlandschaft gelesen wird, zur kinematografischen Zeitmaschine. Geva kann allerdings nicht wie der Zeitreisende in Markers La Jetée in die Vergangenheit eingreifen. Markers Geste aufnehmend, richtet sich auch Gevas Meta-Essay an eine Zukunft in fünfzig Jahren. Markers ‹drei Sei- ten der Münze› fügt er eine weitere Seite hinzu: Tza’ad Revi’i La’matbe’a – ‹Die vierte Seite der Münze› – lautet der hebräische Titel seines Films. Der Film montiert zwölf Episoden und einen Epilog, indem er vier Bild- ebenen miteinander in Beziehung bringt: Erstens und vor allem sind es die Bil- der aus Markers Film, die neu gelesen werden. Sie bilden den titelgebenden Kor- pus der Erinnerung. Description of a Memory zitiert ausführlich und präzise Description d’un combat, der Film wird zum intervisuellen Container eines anderen. Ausgangspunkt ist die Lektüre von Filmbildern, nicht die dokumen- tarische Aufzeichnung einer Wirklichkeit. Zweitens dokumentiert der Film die 154 Weitere Filme von Dan Geva: Jerusalem. Rhythm of a Distant City (ISR 1993), Take Now Your Son (ISR 1994), What I Saw in Hebron (ISR 1999), Routine (ISR 2000), The Key (ISR 2001), Fall (ISR 2003), Think Popcorn (ISR 2004), Noise (ISR 2012), Footsteps in Jerusa- lem (ISR 2013). 155 Leiblein, Eva: «Interview mit Dan Geva» (2008), https://www.movie-college.de/index.php/ filmschule/dokumentarfilm/dokumentaristen/dan-geva (zugegriffen am 4.1.2019). 114 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva Resultate einer obsessiven, 15-jährigen Recherche nach den Protagonist*innen, die in Markers Film aufgetaucht sind. Wie Marker versuchte Geva die Bilder zu ihrem Modell zurückkehren zu lassen. So wie Marker überall Zeichen gefunden hatte, findet Geva drittens in eigenen Videoaufnahmen «insignifikante Details», die der Kommentar als Beweisstücke des historischen Prozesses untersucht. Um diese Bilder aus dem Israel von 2006 zu verfremden und von denen Markers abzuheben, verwendete Geva ein Fisheye-Weitwinkelobjektiv mit Gelbfilter, das ihnen einen klaustrophoben, fremdartigen Charakter verlieh. In den visuellen Spuren der irreal wirkenden Gegenwart des Filmes, die vom Bau der Sperrmauer in der Westbank und der Räumung der jüdischen Siedlungen in Gaza geprägt ist, sucht der Film nach einer Wahrheit hinter den Bildern. Eine weitere Materi- alebene bilden schließlich private Fotos und Super8-Filme, anhand derer Geva seine persönliche Familiengeschichte thematisiert und sein Verhältnis zu seinem fundamentalistischen Jugendfreund, dessen Haus im Gazastreifen gerade abge- rissen wird. Gevas Kommentar lässt sich von der Frage leiten, was aus den Träumen, denen Marker 1960 nachspürte, geworden ist. Sie dienen als Maßstab für die Beschrei- bung seiner eigenen Gegenwart. Geva interessiert sich für den Stand jenes ‹zwei- ten Kampfes›, den Marker wahrgenommen hatte und sucht Antwort auf die Fra- gen, die er aufgeworfen hatte. Was ist aus Markers Israel geworden, aus dem Kibbutz, seiner sozialistischen Utopie, seiner Jugend? Was ist aus Ali und seinen ‹olympischen› Träumen geworden und was aus dem zeichnenden Mädchen, das ‹niemals Anne Frank sein› wird? Gevas Bilanz ist bitter: Er recherchiert, dass Ali, der arabische Junge aus Haifa, später in England lebte, dort von einem Polizisten verletzt wurde, dann «ein biss- chen verrückt» wurde und schließlich «allein starb». Der selbst in Haifa aufge- wachsene Filmemacher kommentiert, während Markers Kamerafahrt mit Ali rückwärts abgespielt wird (Abb. 29–30): 29–30 Filmen aus der Zukunft: «Eine abfallende Straße, wo ich einmal geboren werde» (TC 00:07:03); die Erinnerung verschwindet, nur Bilder überdauern: «Hier erinnert sich niemand an Ali» (TC 00:08:04); Screenshots aus Description of a Memory 115 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva «Wo ich geboren wurde, werden all die ‹Alis› ihre Träume von olympischem Ruhm nicht erreichen. Wovon werden sie in 50 Jahren träumen?» Auch die Träume der jüdischen Kinder scheinen sich nicht in der Weise erfüllt zu haben, wie dies Marker 1960 noch für möglich hielt, auch wenn sie Architekten, Maler oder Lehrer wurden. Geva trifft etwa Noah Rosenfeld, den damals elfjäh- rigen Schachmeister aus dem Kibbutz Manara, über den Marker gesagt hatte, er lebe in einer Welt, «in der Geld aufgehört hatte, eine Rolle zu spielen». Jetzt ist er Mathematiklehrer und Gevas gesprochener Kommentar setzt jenen Markers fort: «Du hast den Kibbutz verlassen, um die nächste Generation für ein Leben aus- zubilden, in dem nur noch Geld zählt.» Der Film überblendet an dieser Stelle das Bild eines die Straße querenden Dro- medars mit der Aufnahme eines McDonald’s-Werbeschildes (Abb. 31). Der Film berichtet, dass es sich bei der Frau, die in Description d’un combat die Kib- butz-Versammlung leitet, um Rachel Rabin handelte, die Schwester jenes Pal- mach-Offiziers, der etwa fünfzehn Jahre später als Ministerpäsident Israels die Hoffnung auf eine Friedenslösung verkörpern wird. Eine bestürzende Koin- zidenz, denn der Mord an Rabin im Jahr 1995 durch einen national-religiösen Täter machte offenbar, dass aus dem von Marker beschworenen inneren Kampf ein offener Krieg geworden war. Gevas Film zeigt, dass zu den Bild-Sujets der Tourist*innen, die laut Marker «aufs Malerische aus sind», inzwischen auch die dystopischen Unorte des Nahost- konfliktes gehören: Road Blocks, Checkpoints, die Sperrmauer. «Occupation Tou- rism» nennt das Gevas Kommentar. Gemessen an den Träumen und Hoffnungen, denen Description d’un combat auf der Spur gewesen war, findet Description of a Memory eine Welt, aus der alle utopische Energie entwichen zu sein scheint. Markers Fragen lasten schwer auf dem Film, etwa die, ob «fünfzig Jahre Freiheit das zerstören können, was 2000 Jahre Verfolgung nicht imstande waren zu vollbringen: nämlich, dass das Gesetz in Vergessenheit versinkt.» Geva nimmt die Frage auf und zeigt die Angelobung von IDF-Soldat*innen vor der Klagemauer (Abb. 32). Seit dem biblisch konnotierten ‹Sechs Tage-Krieg› im Juni 1967 finden diese Angelobungen nicht mehr in Masada am Toten Meer, son- dern vor der Klagemauer in Jerusalem statt, Tom Segev zufolge ein deutlicher Hinweis darauf, dass man sich auch symbolisch von dem Kon- zept verabschiedet, die Armee sei eine kleine Gemeinschaft resoluter Krieger, die die Nation gegen einen starken und übermächtigen Feind verteidige. Die 116 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva militärische Schlagkraft Israels wurde zunehmend als ein Werkzeug der messianischen Theologie betrachtet.156 Der Film kommentiert das im Bild sicht- bare Bündnis von Religion und Armee157 mit einem lapidaren Satz aus der Thora: «Du sollst nicht töten». Wie Marker ver- hält sich Geva im Modus des ‹Futurum exaktum› zum Gefilmten, etwa während einer Protestaktion gegen die Räumung 31 Geva fügt den Marker’schen Zeichen «insignifikante Details» hinzu; Screenshot aus eines palästinensischen Olivenhains für Description of a Memory (TC 00:35:27) den Bau der Sperrmauer (Abb. 33): «In wenigen Momenten werden die Geschosse fliegen, zwei werden Alis Bauch treffen [ein junger Mann, der gerade im Bild ist, Anm. d. Autors] … Sorry … Er hat noch drei Minuten, um fortzufahren in seinen Träumen von olympischem Ruhm.» Je näher sich Geva Markers Zeichen ansieht, umso weiter scheinen sie sich 32 Angelobung von IDF-Soldaten vor der von ihm zu enfernen. Der Kommentar Klagemauer; Screenshot aus Description of a wird nicht mit ihnen fertig: Memory (TC 00:26:36) «Die Bilder bleiben kryptisch. Wo ist der Code, um sie zu entziffern?» Vielleicht erschließt sich darüber die rätselhafteste Sequenz des Films: In einer Wüstenlandschaft am Toten Meer nähert sich ein Mann dem Fisheye-Ob- jektiv, auf dem sich eine Fliege putzt. Er kommt schließlich ganz nah, blickt direkt in die Kamera, legt dann die Hände an den Mund und stößt einen 33 Bitte um Verzeihung angesichts der Enteignung eines Olivenhains; Screenshot aus Schrei aus, ähnlich dem, welchen Franz Description of a Memory (TC 00:39:37) 156 Segev: Elvis in Jerusalem, S. 96. 157 Siehe Illouz: Israel, S. 123–132. 117 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva in Kafkas Proceß «ausstieß, ungeteilt und unveränderlich».158 Es ist, als ob dieser in den Augenblick eingeschlossene, a-signifikante Laut an die Grenze des Sagba- ren rühren will: «Die Sprache langsam, schrittweise in die Wüste führen. Die Syn- tax zum Schreien benutzen, dem Schrei eine Syntax geben.» (Deleuze/Guattari)159 Die beiden Filme unterscheiden sich signifikant: Während Markers Film vorsichtig optimistisch seinen Blick auf die Zukunft richtet, blickt Gevas Film melancholisch auf eine Vergangenheit zurück, die in Markers Film versiegelt ist. Description of a Memory verhält sich zu seinem Vorbild wie Markers Le tom- beau d’Alexandre (F 1992) zum Werk des sowjetischen Filmemachers Alexan- der Medwedkin, dem er darin ein filmisches ‹Grabmal› errichtet hatte. In Gevas Film nimmt Marker nun die Stelle ein, die Medwedkin für Marker verkörpert hatte: die eines Kronzeugen einer verlorenen Utopie. Sein Film, der im Kommen- tar Marker immer wieder direkt adressiert, könnte auch den Titel ‹Le tombeau de Chris› tragen. Sowohl Markers als auch Gevas Film folgen einer romantischen «Poetik der Zeichen»,160 die nicht mehr auf aristotelischen Kausalketten aufbaut. Jacques Rancière: [D]as Gewebe eines Kunstwerks setzt sich nun aus variablen Eigenschaf- ten der Zeichen und Zeichenkombinationen zusammen. Die Ausdrucks- kraft ermöglicht einem Satz, Bild, Ausschnitt oder Eindruck sich zu isolie- ren, damit er aus sich selbst heraus Sinn – oder Sinnlosigkeit – eines Ganzen darstellen kann.161 Gevas Essay gipfelt zuletzt in einer Geste, die diese Poetik der Zeichen zu über- schreiten versucht. Die letzte Sequenz zeigt uns Markers zeichnendes Mädchen – Ilana. Geva fand sie in England, wohin sie in den 1970er-Jahren gezogen war (Abb. 34). «Das Mädchen, das du zum Symbol für Israel gewählt hast, hat sich dafür ent- schieden, weit weg zu leben.» Geva zufolge war für Marker das Mädchen the emblem of all preceeding signs. She is ‹The Sign›, she is everything, because signs and the process of semiosis mark the eternal enslavement to the task of meaning-seeking. […] At the same time that concluding text of 158 Kafka, Franz: Der Proceß, hg. v. Malcolm Pasley, Schriften, Tagebücher – Kritische Ausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer 2002, S. 113. 159 Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 37, siehe auch ebd. S. 124, Anm. 4 sowie S. 130, Anm. 4. 160 Rancière, Jacques: Die Filmfabel, Berlin: b_books 2001, S. 235. 161 Ebd. 118 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva 34 Das Mädchen, «das nie Anne Frank sein wird», in ihrem Haus in London; Screenshot aus Description of a Memory (TC 01:13:41) ‹Description of a Struggle› calls to emancipate the human from the tyranny of inhumane signhood.162 Der Film zeigt sie zeichnend in ihrem Haus in London und verändert damit den Blick auf Markers Schlusssequenz: Aus einer namenlosen Allegorie wird ein ver- letzlicher, konkreter Mensch. Die Kamera begleitet Ilana auf ihrem ersten Besuch in Israel seit dreißig Jahren. Freund*innen organisieren eine Überraschungsparty zu ihrem 60. Geburtstag. Am Computer ist eine Dia-Show mit Bildern aus ihrem Leben zu sehen, Ilana zeigt auf den Bildschirm: «Hier hat mich Chris Marker für ‹Description d’un combat› gefilmt.» (Abb. Buchumschlag). Geva: «The camera cap- tures this indexical image of an image of an image and freezes it.»163 Dabei ental- legorisiert sie der Kommentar und nimmt das symbolische Gewicht von ihr, das ihr Marker aufgebürdet hatte: «Und da, für einen Moment […] wird Ilana nicht länger ein Zeichen sein. […] Am Unbegreiflichsten ist, dass sie hier vor uns steht. Nicht wie ein Vogel. Nicht wie eine Zahl. Nicht wie ein Zeichen – wie ein Mensch.» In der hebräischen Version von Markers Film war das französische Wort ‹signe› nicht mit dem hebräischen ‹siman› für ‹Zeichen› übersetzt worden, sondern mit ‹semel›, das eher dem französischen ‹symbole› entspricht. Diese Übersetzung nahm Markers Schlusskommentar seine aufs Offene zielende Pointe und verwandelte 162 Geva, Dan: «Magic, Mystery and Miracle: Re-spiralling Marker and Kafka», in: Biderman, Shai und Ido Lewit (Hg.): Mediamorphosis: Kafka and the moving image, London / New York: Wall- flower Press 2016, S. 309–327, hier S. 321 und S. 323. 163 Geva, Dan: «Magic, Mystery and Miracle: Re-spiralling Marker and Kafka», S. 322. 119 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva das Mädchen vollends in ein Symbol, in eine allegorische Personifizierung Israels. Mit der Geste der Rückerstattung ihres Eigennamens endet Gevas Film ähnlich wie Description d’un combat: Die Aufnahme der zeichnenden Ilana wird von Schwarzfilm überblendet, ein Schnitt, der nun jedoch nicht mehr auf die Offen- heit eines außerhalb des Films liegenden, historischen Werdens verweist wie bei Marker, sondern als ikonoklastische Geste vollendet, was mit der Restitution des Eigennamens begonnen wurde. Mit dem letzten Wort des Kommentars, «wie ein Mensch», wird die Leinwand schwarz, die lebendige Existenz eines Menschen ist im Film irrepräsentabel. In einem Interview bestätigte Dan Geva diese Lesart: Denn wir existieren als menschliche Wesen außerhalb des Gefängnisses der Bilder, des universellen Gefängnisses der Bilder.164 Dan Geva hatte bald nach Beginn seines Filmprojektes Kontakt mit Chris Marker aufgenommen. Dieser sagte ihm seine Unterstützung zu, ermutigte ihn aber, sei- nen Film völlig eigenständig zu machen.165 Nachdem Marker Description of a Memory gesehen hatte, schrieb er Dan Geva: I guess ‹Description of a Memory› is the best thing that ever happened to me as a filmmaker […]. As for my film, with an immense generosity you extracted the few elements that could still make sense, and raised them to the level where it is possible to deal with all the essential themes of today. Some encounters (at least for me) are just heartbreaking, and the discovery of the Swan-girl at the end beats, scriptwise, any serial.166 Der Marker-Forscher Christophe Chazalon167 sieht in Gevas Film den von Mar- ker diagnostizierten Kampf als beendet an. Nicht die Hoffnungen, sondern die Befürchtungen hätten sich erfüllt: Schonungslos, obwohl er auch seinen privaten Bereich betritt, gibt Geva eine wenig erfreuliche Bilanz zu sehen. […] Der zweite Kampf ist tatsächlich zu 164 Mathieu, Bédard, Dan Geva und Théa Lozneanu: «Une rencontre avec Dan Geva: Détails ma- jeurs», Hors champ 17.6.2009: http://www.horschamp.qc.ca/spip.php?article353 (Übers. d. Autors). 165 Vgl. Sragow, Michael: «A ‹new wave› out of Israel», Baltimore Sun 5.2.2010: http://articles.bal- timoresun.com/2010-02-05/entertainment/bal-ae.mo.sragow05feb05_1_dziga-vertov-israeli- dan-geva (zugegriffen am 30.3.2017). 166 Argos Films (Hg.): Description d’un combat, un film de Chris Marker et Description d’un souvenir, un film de Dan Geva [DVD-Booklet], S. 68. Marker argumentierte die Weigerung, sei- nen Israel-Film aufführen zu lassen, auch damit, dass nun Gevas Film existiere: «Außerdem hat Dan mir das schönste Geschenk gemacht, das es gibt, indem er meinen Film ‹wiedergelesen› und ihn zugleich mit vergangener Zeit und seiner eigenen Sensibilität angereichert hat. Beide zu ver- mischen, hieße beiden schaden.» Chris Marker, E-Mail an den Autor, 4.3.2010 (Übers. d. Autors). 167 Seine Website bietet vielfältige Informationen zum Werk Markers: http://chrismarker.ch (zu- gegriffen am 30.3.2017). 120 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva Ende. Ein anderer, wesentlich gewalttätigerer, schärferer hat vor einiger Zeit begonnen. […] Die Befürchtungen sind eingetroffen. Es ist nicht falsch zu sagen, dass das Israel der Pioniere seine Seele verloren hat, zugunsten der Ex treme einer religiösen Orthodoxie einerseits und eines konsumorientierten Liberalismus westlicher Prägung andererseits.168 Ist Markers Film damit seinerseits zu einem unlesbaren Zeichen geworden, dessen Referent verloren ist, eine Figur wie jene in der Wüste verstreuten Metallgebilde, mit denen sein Film begonnen hatte? Eric Zakim sieht im Verdikt Markers über seinen Israel-Film ein Eingeständnis der Grenzen seiner essayistischen Politik: For Marker […] it is the very fungibility of signs (and images as signs) that offers hope. […] By placing signs in constantly moving relation to other signs, the filmmaker strives to forge new meanings beyond the narrow repertoire that has been imposed […]. The withdrawl of Description of a Struggle after 1967 might signal an awareness of the elusive possibilities of just such a poli- tics […]. If the 1967 war did anything, it encased the Conflict in fixed terms, terms that have already bequeathed to several generations since, and which seem to have no expiration date.169 War das semiotische Abenteuer von Description d’un combat nur eine narzisti- sche Allmachtsphantasie gewesen, die an der Wirklichkeit zerbrochen war? Marker hatte aus Alltagsimpressionen ein virtuelles Bild Israels montiert, dessen Konstruiert- heit in jedem Moment kenntlich gemacht war. Er hatte visuelle Fundstücke kollidie- ren lassen, nicht um das ‹objektive› Bild einer Gegenwart zu zeigen, sondern Umrisse einer möglichen Zukunft. Wer hätte die Maxime ernster genommen, die Alexandre Astruc im Jahr der Staatsgründung Israels ausgerufen hatte, als Chris Marker: «Im Film, wie anderswo, gibt es keine andere Sorge als die um die Zukunft.»170 Heute löst der Gedanke an die Zukunft bei vielen Menschen Affekte zwischen Sorge und Panik aus und die von Astruc im selben Text kritisierte «Tyrannei des Visuellen» hat sich in einer Weise radikalisiert, dass Bild und Welt, Abbild und Ereignis, Beobachtete und Beobachter*innen nicht mehr klar zu unterscheiden sind.171 An Markers Film bleiben deswegen bestimmte Gesten lebendig: Die poe- tische Geste der Dekonstruktion der ‹Realität› als Zeichen, die politische Geste, die eigene Gegenwart aus der Perspektive ihrer möglichen Zukünfte anzusehen, die anthropologische Geste des Vertrauens in menschliche Kreation, Partizipation 168 Chazalon: «Description d’un combat ou la prophétie d’une lutte sans espoir», S.  48 (Übers. d. Autors). 169 Zakim, Eric: «Chris Marker’s Description of a Struggle and the Limits of the Essay Film», S. 164. 170 Astruc: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», S. 204. 171 Siehe Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 7 ff. 121 3 Die Zeitlichkeit von Zeichen. Israel in Filmen von Chris Marker und Dan Geva und Freundschaft sowie die ontologische Geste, die in jedem singulären Moment auf universelle Multiplizität verweist. Description d’un combat ist kein Porträt des wirklichen, sondern eines ima- ginierten, erträumten, entworfenen, utopischen Israel. Als Reisender folgte Mar- ker der Nerval zugeschriebenen Maxime: ‹Je voyage pour vérifier mes rêves›, ‹Ich reise, um meine Träume zu prüfen›. Der Film gehört in die Reihe von Markers frühen Filmen über China, Sibirien und Kuba, die sich ebenfalls für Situationen des Umbruchs und sozialer Experimente interessierten.172 Sein Israel-Film war eine Spurensuche nach dem «zionistischen Sozialismus»,173 der sich sowohl gegen religiöse als auch kapitalistische Lebensformen behaupten muss. Für Christophe Chazalon ist Description d’un combat ein «Film über die sozialistische Utopie in voller Aktion.»174 Bereits 1965 behauptete Guy Gauthier in einer Besprechung von Markers Film, darin ginge es um weit mehr als die Zukunft Israels: Und die Dokumentation, die der kleinen Nation gewidmet ist, wird eigent- lich zu einer Meditation über die Zukunft unserer Zivilisation, die bedroht ist durch die Anbetung falscher Werte, die Verrohung der Geister und die Rück- kehr zu alten Irrtümern.175 2010 berichtete Dan Geva von einer Äußerung Chris Markers, in der er die Zukunft Israels und der Welt auf erratische Weise verknüpfte: «The fate of the world will be decided in Israel.»176 Geva war von Markers Film als einem Doku- ment im historiografischen Sinn ausgegangen, einem Dokument für die Gegen- wart Israels im Jahr 1960 einerseits und für den auf die Zukunft geöffneten Mög- lichkeitsraum andererseits. Geva interpretierte seine ‹insignifikanten Details› im Kontext einer allgemeinen Krise der dokumentarischen Repräsentation: The whole notion of authenticity of real life, real people has evolved in such a radical way that I don’t know anymore, what is the naïve concept of reality. […] At a certain point I felt I am tired of this way of documenting. Because I felt this way makes it easy for people to believe that the stories I am telling are true. And I came to realize that filmmaking is maybe more than that.177 172 1977, am Ende des ‹Roten Jahrzehnts›, wird Marker in Le fonds de l’air est rouge versuchen, über die linken Utopien der Nachkriegszeit Bilanz zu ziehen. 173 Chazalon: «Description d’un combat ou la prophétie d’une lutte sans espoir», S. 38 (Übers. d. Autors). 174 Ebd. (Übers. d. Autors). 175 Gauthier: «Description d’un combat» (Übers. d. Autors). 176 Zit. nach Sragow: «A ‹new wave› out of Israel». 177 Leiblein: «Interview mit Dan Geva». Geva widmete diesem Zweifel an der dokumentarischen Authentizität eine theoretische Studie, die sich auf Konzepte Jacques Lacans stützt: Geva, Dan: Toward a Philosophy of the Documentarian: A Prolegomenon, Springer 2018. 122 3.2 Description of a Memory (2006) von Dan Geva Bei Marker wie bei Geva geht es um eine Ästhetik, die sich von den Authentifi- zierungsstrategien der Medien und des realistischen Dokumentarismus absetzt. Suspendierung konventioneller Semantik, Allegorisierung des Bildinhaltes, frag- mentarische Darstellung, Fiktionalisierung, spielerische, improvisierende, late- rale Montage, retroaktive Zeitlichkeit, idiosynkratischer Kommentar, enthierar- chisierte Bild-Ton-Verhältnisse, Ironie: Die Verfahren des filmischen Essayismus setzen rückhaltlos auf Subjektivität, Phantasie und assoziatives Gedächtnis als strategische Ressourcen in der Begegnung mit dem Realen. Ihr unaufhebbares Risiko besteht im Verlust des Gegenstandes in tautologischer Subjektivität. Auch Kafka war sich dieser Spannung bewusst gewesen und hatte dazu eine Faustregel formuliert: «Im Kampf zwischen Dir und der Welt sekundiere der Welt.»178 André S. Labarthe hatte 1961 die Ästhetik des Essayismus in seiner Kritik von Description d’un combat im Wahrnehmungsvorgang selbst fundiert: Das reine Objekt, frei von Sinn, existiert nicht. Es sehen, heißt bereits, es interpretieren, seine Objektivität aufheben. Die Welt betrachten heißt für Marker also, sie zu interpretieren, d. h. einen Kommentar über das Gesehene zu montieren, d. h. einen Film zu machen.179 Das Sehen selbst ist bereits ein essayistischer Prozess. Auch Dan Geva verortet sein Kino in dieser Perspektive: Es enthalte keine absoluten Wahrheiten, sondern lediglich projizierte Bilder, die ihrerseits wieder interpretiert werden müssten. Darin gründe auch die unverzichtbare soziale Funktion des Kinos: Es geht darum, Bilder zu kreieren und auf eine Weise zu organisieren, die sie für die Interpretation und Re-Interpretation durch andere offen hält. So dass man eine Struktur erhält, die es uns ermöglicht, soziale Wesen in einer sozial en Gemeinschaft zu sein. Man muss weiter darüber nachdenken, wel- che Rolle das Kunstwerk spielt. Ich glaube wirklich, dass es in der Gesell- schaft eine Rolle spielt: Uns dabei zu helfen, die Wirklichkeit neu zu interpre- tieren und zu erfinden. Ich glaube, wenn wir aufhören, sie zu interpretieren und neu zu bewerten, dann sterben wir.180 178 Aus den Zürauer Aphorismen 1917/18, in: Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente 2, hg. von Jost Schillemeit, Schriften, Tagebücher – Kritische Ausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer 2002, S. 124. Kafkas Aphorismus wurde bereits 1961 sinngemäß zitiert in: Michaud/Bellour: «Apologie de Chris Marker», S. 157. 179 Labarthe, André S.: «Le rolleiflex de Christophe Colomb», Cahiers du cinéma n° 122 (1961), S. 59–60, hier S. 60 (Übers. d. Autors). 180 Mathieu/Geva/Lozneanu: «Une rencontre avec Dan Geva: Détails majeurs» (Übers. d. Autors). 123 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Kann aber einem etwas als Bild erscheinen, was kein Bild ist? – Fjodor Dostojewskij: Der Idiot (1869)1 Seit den späten 1960er-Jahren beschäftigt sich Jean-Luc Godard mit der Frage der filmischen Repräsentation Palästina-Israels. Vor allem drei Filme setzen sich damit zentral auseinander. Zunächst ein 1969 begonnenes Filmprojekt mit dem Titel ‹Jusqu’à la victoire›: Der unter dem kollektiven Label Groupe Dziga Ver- tov firmierende Film durchlief mehrere Skript- und Schnittversionen, wurde jedoch nie fertiggestellt. Dann der gemeinsam mit Anne-Marie Miéville mon- tierte Film essay Ici et ailleurs von 1976: In diesem Essayfilm erhielt das in Jor- danien und im Libanon gedrehte Material eine Form, die sich von der anfängli- chen Konzeption grundsätzlich unterschied. Zuletzt der essayistische Spielfilm Notre musique (F/CH 2004): In eine Spielfilmhandlung eingeflochten finden sich Reflexionen zum Status der Bilder in ‹Israel/Palästina›. In vielen anderen Arbeiten Godards seit 1967 finden sich Bezüge zum nahöstlichen Problemkno- ten: Das assoziative Netz, das in den Histoire(s) du cinéma (F/CH 1988–98) aus Bildern des Kinos, historischem Footage und visuellen Ikonen des 20. Jahrhun- derts gewoben wird, enthält auch einige Fäden, die mit dem israelisch-palästinen- sischen Zusammenhang verknüpft sind. Auch in Film socialisme (F 2010) bil- det Israel einen Fluchtpunkt der Narration. Immer wieder äußerte sich Godard in öffentlichen Debatten auf teilweise provokante Weise zu ‹Israel/Palästina›. Eine systematische Analyse der Einlassungen Godards mit dem Thema über die Jahr- zehnte würde eine eigene Studie verdienen. 1 Dostojewskij, Fjodor M.: Der Idiot, übers. v. Swetlana Geier, Frankfurt a. M.: Fischer 1998, S. 593. 125 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville In diesem Kapitel geht es vor allem um die Analyse des unvollendeten Film- projekts ‹Jusqu’à la victoire› und des Essayfilms Ici et ailleurs, die zusammen ein weiteres komplexes ästhetisches ‹Kraftfeld› bilden. Mit welchen filmischen Strategien arbeiteten sich die Filmemacher*innen an dominanten Repräsenta- tionen in dem sich zwischen 1969 und 1976 transformierenden politischen und medialen Umfeld ab? Wie wurde die massenmediale Rahmung des Nahen Ostens in den Film(projekt)en zum Thema? Welche unterschiedlichen Bildpolitiken wur- den demgegenüber erarbeitet? Eine immanente Analyse der visuellen Strategien von Ici et ailleurs profitiert von der Rekonstruktion seiner Produktionsgenea- logie. Diese macht sichtbar, welche historischen Erfahrungen, Brüche und Kon- flikte seine Nachdenklichkeit und seine formalen Erfindungen motivierten. Aus Interviews, Manifesten, historisch-politischen Darstellungen und theoretischen Versatzstücken können die unterschiedlichen Schichten rekonstruiert werden, die in den Film Eingang fanden. Godards Beschäftigung mit dem Chronotopos ‹Israel/Palästina› setzte in einem Moment ein, der durch das Auftauchen zweier Faktoren geprägt war, die Chris Marker 1960 erst schemenhaft wahrnehmen konnte. Die industrielle Pro- duktion von Bildern erlebte im Verlauf der 1960er-Jahre eine technische Revo- lution. Das mediale Apriori transformierte sich in ein televisuelles, dann auch telematisch-i nformationelles Dispositiv. Der Übergang von der Epoche der Pro- jektion zur Epoche des Bildschirms stellte die Massenmedien auf eine neue sozial- technische Grundlage. Kameraleute waren nun mit leichter 16-mm-Film- und Synchronton-Ausrüstung unterwegs, Laufbilder aus aller Welt drangen in jedes Wohnzimmer ein. Die Wahrnehmung dieser Bilder wurde vom Dispositiv des Kinos unabhängig. Mit der Durchsetzung des Fernsehens als Leitmedium verlor das Kino seine aktualisierende, repräsentierende, weltvermittelnde und Realität schaffende Funktion, die es im italienischen Neorealismus ein letztes Mal erfüllt hatte.2 Das Fernsehen befreite es von seinen journalistischen Aufgaben, aber auch von seiner fundamentalen Funktion für die Konstruktion eines modernen kollek- tiven Bewusstseins.3 In dem Maße, wie die Fernsehnachrichten die verbindliche Konstruktion von Realität übernahmen, gingen Aufgaben auf das Kino über, die bis dahin der Kunst vorbehalten gewesen waren. Denn televisuelle News-Bilder schaffen zwar ‹Realität›, aber keine sozial verbindlichen Wahrheiten. Dies war anhand eines Ereignisses deutlich geworden: Als am 22. November 1963 US-Präsident John F. Kennedy ermordet wurde, drückte der Amateurfilmer Abraham Zapruder 26 Sekunden lang auf den Auslöser seiner Super-8-Kamera. 2 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild (Kino 2), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 14 ff. 3 Vgl. Mondzain, Marie-José: «Representation: Conflict and Freedom», in: Gosetti, Giorgio und Jean-Michel Frodon (Hg.): Print the legend. Cinema and Journalism, Locarno: Festival Interna- zionale del film 2004, S. 39–41. 126 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Der später bis ins kleinste Detail analysierte Film zeigt zwar den Tod Kennedys, die Wahrheit über das Attentat ließ sich darin jedoch bis heute nicht finden. In diesem Moment zerbrach der «American pact of transparency» (Jean-Baptiste Thoret),4 der kollektiv geteilte Glaube also, dass zwischen dem Sichtbaren und dem Rea- len ein harmonischer Zusammenhang bestehe, der einerseits Wahrheit fundiert und andererseits die epistemische Grenze zwischen Fakten und Fiktionen aufrecht erhält. Dieses Fundament und diese Grenze begannen nun zu verschwinden. Folgerichtig begann das Kino, seine Subjektivität und seine Möglichkeiten zu reflektieren und seine kritischen Erkenntnisse auf die neue Konfiguration der Massenmedien anzuwenden. Bereits Filme wie Welles’ Citizen Kane (USA 1941) und Hitchcocks Vertigo (USA 1958) erforschten die Brüche, die sich zwischen Wahrnehmung und Wahrheit auftun. Filme wie Blow-up (Michelangelo Anto- nioni, UK 1966), Medium Cool (Haskell Wexler, USA 1969) und Professione: Reporter (Michelangelo Antonioni, I/USA 1975) zeugen davon, dass «die Welt und ihr Bild ununterscheidbar zu werden beginnen.»5 Jean-Luc Godards Film- schaffen stand von seinen Anfängen in der Nouvelle Vague an im Zeichen dieses Funktionswandels des Kinos in einer veränderten Welt. In Palästina-Israel selbst fand dieser mediale Übergang zeitverzögert statt: Als im Juni 1967 die Nachricht vom Krieg im Nahen Osten die Weltöffentlichkeit erreichte, verfolgten die Menschen in Israel die Nachrichten gebannt vor ihren Radiogeräten oder im ägyptischen Staatsfernsehen. In Israel wurde Fernsehen erst ab 1968 schrittweise eingeführt – nach langen Diskussionen über seine gesell- schaftlichen Auswirkungen: Die Gegner des Mediums, angeführt von David Ben-Gurion, befürchteten, die wiedererstehende hebräische Kultur werde durch die Einführung frem- der Werte untergraben, das Volk des Buches werde sich in ein Volk des Fern- sehens verwandeln, die Werte der Askese und des Pioniergeistes würden durch den Konsumismus entwurzelt und an die Stelle einer ideenbezogenen Politik werde eine personenbezogene Politik treten. […] Das Fehlen des Fern- sehens in Israel wurde am Vorabend des Sechstagekriegs von 1967 beson- ders deutlich spürbar, als aus den umliegenden arabischen Staaten sehr wohl Fernsehsendungen empfangen wurden.6 In europäischen Wohnzimmern wirkten die Bilder aus dem Nahen Osten realer und gewaltsamer als je zuvor: Das französische Fernsehen zeigte arabische Kriegsgefan - 4 Thoret, Jean-Baptiste: «I am Therefore I Investigate», in: Gosetti, Giorgio und Jean-Michel Fro- don (Hg.): Print the legend. Cinema and Journalism, Locarno: Festival Internazionale del film 2004, S. 145–157, hier S. 151 f. 5 Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 48. 6 Katz/Haas: «Zwanzig Jahre Fernsehen in Israel. Gibt es langfristige Auswirkungen auf Werte und kulturelle Praktiken?», S. 145. 127 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville gene, den gedemütigten Nasser, Moshe Dayan an der Klagemauer und paläs- tinensische Flüchtlinge mit Sack und Pack auf dem Weg nach Jordanien.7 Die Bilder ähnelten deutlich jenen von 1947/48. Vertreibung und Flucht aus den später so genannten ‹67er-Gebie- ten› wurden von den Palästinenser*in- nen auch ähnlich memorialisiert, Yom an- Naksa, als ‹Tag des Rückschlags›.8 35 Die ‹palästinensische Revolution› als Exploitation- Der Juni-Krieg war ein historischer, Spektakel; Lobby Card zu Palestinian in Revolt (1969) aber auch ein medialer Wendepunkt. Nicht nur Israel wurde jetzt anders wahrgenommen, auch die ‹Arabische Welt› rückte näher: Die französischen Fern- sehnachrichten brachten Berichte von pro-arabischen Demonstrationen in Kairo, von pro-palästinensischen Graffitis in Algiers.9 In den arabischen Ländern wurde die palästinensische Frage nun definitiv zur ‹causa prima›. Auf das Feindbild Israel konnten Frustrationen, soziale Spannungen und Ressentiments gegen den Westen projiziert und abgelenkt werden. Filmemacher*innen in Algerien10 und Ägypten11 widmeten sich der palästinensischen Sache. 1969 entstanden im Libanon sogar ein paar exploitative ‹Mujadara-Western›,12 in denen palästinensische Fedayin13 als irreale Protagonisten einer neuen Spezies von Martial-Arts-Filmen auftraten, etwa in Palestinian in Revolt von Rida Myassar (LEB 1969) (Abb. 35).14 Vor 1967 hatte Israel die mediale Bühne der Weltöffentlichkeit dominiert. Nun war es nicht mehr alleiniger Akteur in der öffentlichen Arena, sondern musste sich die mediale Präsenz mit den ‹Palästinensern› teilen. Dies war das zweite Ereignis, das den historischen Kontext von Godards Film fundamental von jenem Chris 7 Vgl. Israel-Palestine: L’emprise des images (TC 00:33:48–00:34:15). 8 Dieser Gedenktag an den Beginn des ‹Sechs-Tage-Krieges› am 5. Juni 1967 wird drei Wochen nach dem Nakba-Gedenktag am 15. Mai, dem Tag nach der israelischen Unabhängigkeitser- klärung, begangen. 9 Vgl. Israel-Palestine: L’emprise des images (TC 00:34:15–00:34:37). 10 Z. B. We Will Return von Mohamed Slim Riad (ALG 1971). 11 Z. B. The Dupes von Tewfik Salah (ÄGY 1973) nach Gassan Khanafanis Kurzgeschichte Män- ner in der Sonne. 12 Analog zu ‹Spaghetti-Western› nach dem populären libanesischen Linsen-Reis-Gericht ‹Mujadara›. 13 Die Bezeichnung für die Mitglieder der palästinensischen Guerrilla geht auf das arabische ‹Al-fi- dai›, dt. ‹der sich Opfernde› zurück. Als Fedayin werden Angehörige religiöser oder politischer Gruppierungen bezeichnet, die bereit sind, ihr Leben füreinander bzw. für ihre Sache zu opfern. 14 Weiters We Are All Fedayeen von Gary Garabédian (LEB 1969); siehe Hennebelle, Guy: «Sur les écrans arabes», Le monde diplomatique Jänner 1975. In Divine Intervention knüpfte Elia Suleiman ironisch an dieses Kino an. 128 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Markers unterschied. Auf palästinensischer Seite war ein artikuliertes politisches Subjekt in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit getreten. Die Palestine Liberation Organisation (PLO) hatte seit Mitte der 1960er-Jahre erfolgreich an der Konstruk- tion der ‹cause paléstinienne›, der ‹palästinensischen Sache›, gearbeitet. Die im Wes- ten bis 1967 unbekannte Bezeichnung ‹palästinensisch› tauchte 1968/69 überall auf. Die ‹palästinensische Frage› war von einer Angelegenheit mit regionaler Bedeutung zu einem global wahrgenommenen Problem geworden. Aus dem ‹israelisch-ara- bischen› wurde nun der ‹israelisch-palästinensische› Konflikt. Dieser wurde zur affektiven Projektionsfläche für Anhänger*innen beider Seiten. In Frankreich ver- suchten das Fernsehen und der Zeitschriften- und Buchmarkt dem unversöhnli- chen Paar durch Berücksichtigung beider Perspektiven Genüge zu tun.15 Diskus- sionen im Fernsehen fanden mit Vertreter*innen beider Seiten statt – ein Medium für zwei Völker.16 Die mediale Berichterstattung profitierte davon, dass, was auch immer geschah, scheinbar in einem unveränderlichen Rahmen ablief. Roie Amit: Eingegrenzt auf einen Ort, mit Protagonisten, die kaum wechseln, mit einem Spieleinsatz – ein Land, zwei Völker –, der auf der Hand zu liegen scheint, bietet dieser Konflikt den Medien eine klare Struktur, ganz im Sinne der drei Einheiten (des Ortes, der Zeit, der Handlung) der griechischen Tragö- die. Weiters mobilisiert er ein ganzes Bündel an Emotionen und gibt so den Medien die Möglichkeit, diese zu artikulieren.17 Dass im televisuellen Dispositiv nicht nur lokale Teilöffentlichkeiten mit Zeitver- zögerung erreicht wurden, sondern eine globale Weltgesellschaft in Echtzeit an Ereignissen teilnehmen konnte, hatte zwei Jahre nach dem Juni-Krieg die TV-Be- richterstattung über die Mondlandung gezeigt.18 1969 wurde das Leben endlich live und im selben Moment, als die Amerikaner auf dem Mond landeten, landeten auch die Palästinenser auf jedem Fernsehbildschirm der Welt: 15 Die legendäre Ausgabe der Temps Modernes zum Konflikt, die kurz vor dem Juni-Krieg er- schien, hatte sich an dasselbe Prinzip gehalten; siehe Sartre, Jean-Paul und Claude Lanzmann: Le conflit israélo-arabe, Paris: Les temps modernes 1967. 16 So strahlte etwa das französische Fernsehen kurz nach dem Juni-Krieg am 21.6.1967 Premin- gers Exodus aus. Die beiden Delegationen der danach geplanten TV-Diskussion fanden sich aufgrund der angespannten Situation in verschiedenen Studios ein. Zu einem Gespräch kam es gar nicht, da die arabischen Vertreter darauf bestanden, lediglich ihren Standpunkt der franzö- sischen Öffentlichkeit mitzuteilen. Ein israelischer Journalist verließ daraufhin das Studio unter Protest, Elie Wiesel warf den arabischen Vertretern Unmenschlichkeit vor; vgl. Israel-Palesti- ne: L’emprise des images (TC 00:39:45–00:42:13); weiters Bourdon: Le récit impossible, S. 217. 17 Amit, Roie: «Israel-Palestine: Laboratoire des médias», in: Begleitheft zu Israel-Palestine: L’emprise des images, S. 7 (Übers. d. Autors). 18 1960 gab es in Deutschland 3,4 Millionen Fernsehgeräte. 1970 waren es bereits 15 Millionen, davon erst 7 % Farbfernsehgeräte. 84 % der deutschen Haushalte waren nun an die ‹Internatio- nale der Fernsehzuschauer› angeschlossen. 129 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Wer die Palästinenser im Fernsehen erlebte oder ihr Bild in einer Zeitschrift sah, der konnte den Eindruck gewinnen, sie hasteten so schnell um den Erd- ball, daß sie gleichzeitig hier und da waren, aber sie selbst wußten, daß sie in allen Welten eingefangen und von diesen durchdrungen waren […].19 Jean Genet, der in den frühen 1970er-Jahren auf Einladung von Arafats PLO-Frak- tion Fatah zwei Jahre in Flüchtlingslagern in Jordanien zubrachte, betonte in sei- nen Erinnerungen die Medialität und den Inszenierungscharakter des paläs- tinensischen Widerstands, der in dieser Zeit seine Ziele durch spektakuläre terroristische Aktionen wie Geiselnahmen und Flugzeugentführungen verfolgte. Das televisuelle Dispositiv war auch zum Aktionsraum eines Terrorismus gewor- den, der die «semiologische Guerrilla»,20 die Umberto Eco 1967 prognostiziert hatte, ohne jede Ironie verwirklichte. Die visuelle Kultur der 1970er-Jahre erlebte eine Klimax spektakulärer Gewalt, die sich ins kollektive Gedächtnis durch eine Serie von infamen Ikonen eingeschrieben hat: Flugzeugentführungen der PFLP 1969,21 der ‹Schwarze September› in Jordanien 1970, das Attentat auf das israeli- sche Olympia-Team in München 1972. Seither induzieren globale Echtzeitmedien terroristische Akte. Dabei geben erpresserische Forderungskataloge Aktionen, die den Raum globaler Aufmerksamkeit ‹skyjacken›, den Anschein von politi- scher Rationalität. Politik war zum Spektakel geworden, dessen «materielle[n] Kontext» von nun an, so Hito Steyerl, «der Kampf von allen gegen alle innerhalb einer gnadenlos radikalisierten Aufmerksamkeitsökonomie»22 bildete. Auf einer Linie mit dem 180-Grad-Schwenk de Gaulles gegenüber Israel lag die wachsende Solidarität mit der Sache der Palästinenser*innen in Frankreich und in anderen europäischen Ländern sowie in den USA und in Japan. Zahlreiche Regisseur*innen artikulierten in den 1970er-Jahren diese Solidarität in Filmen: Palestine vaincra von Jean-Pierre Olivier (F 1969),23 Biladi, une revolution 19 Genet, Jean: Ein verliebter Gefangener. Palästinensische Erinnerungen, München: dtv 1990, S. 31. 20 Umberto Eco: «Es könnte indessen sein, daß sich aus diesen neuen nichtindustriellen Kom- munikationsformen […] die Formen einer künftigen Kommunikations-Guerilla entwickeln. Eine komplementäre Manifestation, eher ergänzend als alternativ zu den Manifestationen der Technologischen Kommunikation, eine permanente Korrektur der Perspektiven, eine laufen- de Überprüfung der Codes, eine ständig erneuerte Interpretation der Massenbotschaften. Die Welt der Technologischen Kommunikation würde dann sozusagen von Kommunikations- guerilleros durchzogen, die eine kritische Dimension in das passive Verbraucherverhalten einbrächten.» Eco, Umberto: «Für eine semiologische Guerilla», in: ds.: Über Gott und die Welt: Essays und Glossen, München/Wien: Hanser 1985, S. 156 f. 21 Die Topoi des Flugzeugunglücks und der Flugzeugentführung untersuchte Johan Grimonprez 1997 in seinem Filmessay Dial H-I-S-T-O-R-Y; siehe Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 37–40. 22 Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 38. 23 Jean-Pierre Olivier, ein ehemaliger Mitarbeiter von Jean Rouch, hatte diesen Film in Paris ge- meinsam mit einigen Student*innen, die der Fatah angehörten, aus abgefilmten Fotos mon- tiert. Er wurde in Frankreich von den États généraux du cinéma vertrieben. 130 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) von Francis Reusser (CH 1970), Palestine von Nick MacDonald (USA 1971), Sekigun-P FLP: Sekai Senso Sengen von Masao Adachi und Kôji Wakamatsu (JP 1971), We are the Palestinian People: Revolution Until Victory des San Francisco Newsreel Film Collective (USA 1973), Gelobtes Land von Almut Hielscher und Manfred Vosz (BRD 1973), L’olivier des Groupe cinéma de Vincennes (F 1975), De Palestijnen von Johan van der Keuken (NL 1975),24 Fortini / Cani von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet (I 1976)25 – und eben Ici et ailleurs von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville (F 1976).26 Ici et ailleurs ist nicht nur für Jean-Luc Godards Filmarbeit, sondern auch in der Geschichte des politischen Kinos nach 1968 ein Schlüsselfilm.27 Er markiert das Ende von Godards maoistischer und den Beginn seiner ‹Video-Phase› mit Fil- men wie der TV-Serie Six fois deux / Sur et sous la communication (F 1976) und Comment ça va (F 1978). Der Umweg über dieses in gewisser Weise tragi- sche Filmprojekt eröffnete Godard den Weg zu seiner Archäologie des filmischen Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts, die er während der 1980er- und 1990er-Jahre in seinen Histoire(s) du cinéma montieren würde. Die in Ici et ailleurs ver- handelten Fragen nach der Rolle von Bildern in der Geschichte, seine modell- hafte Dekonstruktion massenmedialer wie militanter Narrative und die Radikali- tät seiner politischen (Selbst-)Kritik sind heute immer noch aktuell, obwohl auch dieser Film nur noch selten zu sehen ist. 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) ‹Cinéma militant›: Film als ideologisches Produkt Der Impuls zu einem Filmprojekt über die ‹palästinensische Revolution› kam im November 1969 von der Arabischen Liga, in Person des offiziellen Filmverantwort- lichen der Fatah, Hani Jawharieh. Ähnlich wie bei Description d’un combat handelte es sich auch hier um einen Auftragsfilm. Dass nationale Befreiungsbewe- gungen bekannte Autorenfilmer ansprachen, war in den 1960er-Jahren nichts Unge- wöhnliches. Die Indienstnahme des Kinos für die Sache des Antiimperialismus 24 Siehe Keuken, Johan van der: «Über Die Palästinenser» [1975], in: Keuken, Johan van der: Abenteuer eines Auges – Fotos, Filme, Texte, hg. v. Gerd Roscher und Thomas Tode, Berlin: Stroemfeld 1983, S. 67. 25 Siehe Fortini, Franco: Les Chiens du Sinaï, suivi de Fortini/Cani, Paris: Édition Albatros et Édi- tion de l’Étoile 1979. 26 Einen systematischen Überblick bot 1977 Hennebelle, Guy und Khemais Khayati: La Palestine et le cinéma, Paris: E. 100, 1977. Der Band enthält zahlreiche Interviews, Dokumente und eine detailierte Filmografie. 27 MacCabe, Colin: Godard – a portrait of the artist at 70, London: Bloomsbury 2003, S. 246. 131 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville fand Vorbilder in der Sowjetunion. In Kuba, Argentinien und Algerien hatte sie konkrete Formen angenommen. Die Liaison von Film und Entkolonialisierung in Gestalt eines ‹Dritten Kinos› jenseits von Hollywood und Krasnogorsk fand ihren Ausdruck in zahlreichen Filmen und Manifesten.28 Die Idee zu La battaglia di Algieri (I/ALG 1966), jenem legendären semi-dokumentarischen Spielfilm über den algerischen Unabhängigkeitskampf in den Jahren 1954 bis 1957, kam von der jungen algerischen Regierung. Gillo Pontecorvo hatte das Projekt übernommen, nachdem zuvor Luchino Visconti und Francesco Rosi abgelehnt hatten. Die anti-kolonialen Befreiungsbewegungen hatten ihre Anstrengungen auf symbolisches Terrain ausgedehnt. Frantz Fanon, Psychiater, Theoretiker der alge- rischen Befreiungsbewegung FLN und Autor von Les damnés de la terre (1961),29 hatte schon 1952 in Peau noire, masques blancs30 beschrieben, wie die koloniale Gewalt bis in die Subjektivität der Kolonisierten, in ihre Träume und Selbstbilder hineinreichte. Der anti-koloniale Kulturkampf müsse deshalb auf die Zerschla- gung dieser kolonialen Identitäten und den Aufbau revolutionärer Subjektivie- rungen zielen. 1959 schrieb Fanon etwa über die Bedeutung des Radios: Nachdem das Radio gegen den Monolog des Herrschenden die nationale Stimme durchgesetzt hat, empfängt es die von allen Enden der Welt aus- gesandten Zeichen. Die Identifizierung der Stimme der Revolution mit der grundlegenden Wahrheit der Nation hat ein neues Zeitalter eröffnet.31 Medien konstituierten einen Raum, in dem sich die Revolte weltweit artikulie- ren und in Resonanz zu anderen treten konnte. Die Globalität von ‹1968› und der Anti-Vietnamkriegsbewegung spiegelte auch den Ausbau des massenmedialen Dispositivs und den parallel stattfindenden Boom alternativer Grassroots-Medien und deren überregionale Vernetzung.32 Der Protest gegen den Vietnamkrieg bil- dete den Kristallisationspunkt für die internationalisierte Gegenöffentlichkeit, von den japanischen Zengakuren bis zu den Student*innen in den USA, Frankreich und Deutschland, von den französischen Renault-Arbeiter*innen bis zur Black Panther Party. Es entstand eine Allianz von Kino und Politik, in der sowohl die 28 Siehe Gabriel, Teshome H.: Third cinema in the third world: the aesthetics of liberation, Ann Arbor MI: UMI Research Press 1982; sowie MacKenzie, Scott: Film manifestos and global cine- ma cultures. A critical anthology, Berkeley: University of California Press 2014, S. 207–324. 29 Siehe Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981; weiters Shohat, Ella: «Black, Jew, Arab: Postscript to The Wretched of the Earth» [published originally as «Postscript» in the Hebrew translation of Fanon’s The Wretched of the Earth, 2006]», Arena Journal/33–34/2009, S. 32–60. 30 Siehe Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. 31 Fanon, Frantz: Aspekte der Algerischen Revolution, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 67. 32 Vgl. Grabher, Peter: «Mit 16mm-Filmausrüstung dem Volke dienen. 1968 und das Kino», Die Beute. Neue Folge 2/1998, S. 123–137. 132 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) künstlerische Identität der Filmautor*innen, ihr professionelles Privileg, als auch die Produktionsverhältnisse der Filmindustrie zur Disposition gestellt wurden. Die Filmschaffenden waren von den Protesten provoziert und angesteckt, die soz i- alen Bewegungen eigneten sich das Kino an: ‹Cinéma au service de la révolution› – ‹Kino im Dienst der Revolution› – wurde dies in Frankreich genannt. Die Frage der Revolution stellte sich in diesem Moment auch als Frage filmischer Darstellung. In Film-Kollektiven erlernten Arbeiter*innen und Student*innen den Umgang mit Kamera und Schnitt, dem Mangel an finanziellen Mitteln wurde mit improvisie- renden Gestaltungsformen begegnet. Wo Korrespondentenmaterial fehlte, wurden Zeitungsbilder montiert, wo Studios fehlten, Animationen gemacht – der Maxime folgend: ‹Arme Technik gegen reiche Technik›, wie im Kampf des vietnamesischen FNL gegen die US-Streitmacht. Weltweit wurden im Kontext der Revolte tausende von Filmen fabriziert – eine ‹Internationale des Kinos› hatte sich gebildet.33 1967 äußerte eine Gruppe von Filmemacher*innen von Joris Ivens bis Agnès Varda in einem ‹Kollektivfilm›, dessen Endmontage Chris Marker vornahm, «daß sie mit dem kämpfenden vietnamesischen Volk solidarisch»34 seien, wie es im Kom- mentar hieß. Loin du Vietnam (F 1967), fern von Vietnam reflektierten sie die Schwierigkeit, aus der Distanz des kapitalistischen Zentrums eine solidarische Haltung zum Kampf des Vietkong einzunehmen.35 Der politische Fluchtpunkt des Filmes war die Frage: ‹Wo liegt Vietnam?› Die Zuschauer*innen wurden auf ihre je eigene Situation zurückverwiesen. Die elf Sequenzen des Filmes führten eine entsprechend große Zahl von Zugängen zu seinem Thema vor: Alain Resnais inszenierte in einer Pariser Wohnung den skeptischen Monolog eines links-li- beralen Mittelschicht-Intellektuellen: «Eure Opfer sind modeabhängig»; William Klein bewegte sich bei den Demonstrationen in den USA mit der Handkamera durch Mengen von Vietnamkriegsgegner*innen und -befürworter*innen, die «Bomb Hanoi!» skandierten; Bilder der französischen Kamerafrau Michèle Ray zeigten den High-Tech-Krieg der USA mit Flugzeugträgern und Flächenbombar- dements, der «flächendeckende[n] Folter», wie es im Kommentar heißt. 33 Siehe Hennebelle, Guy: Guide des films anti-impérialistes, Paris: Éditions du Centenaire 1975; sowie Hennebelle, Guy: Cinéma militant. Histoire, structures, méthodes, idéologie et esthétique, Paris: Filmeditions P. Lherminier 1976; weiters Petermann, Werner und Ralph Thoms (Hg.): Kino- Fronten. 20 Jahre ’68 und das Kino, München: Trickster 1988; Hurch, Hans (Hg.): That magic moment. 1968 und das Kino, Wien: Viennale 1998; Buchsbaum, Jonathan: «One, Two … Third Cinemas», Third Text 25/1/2011, S. 13–28; sowie Eshun, Kodwo und Ros Gray: «The Mili- tant Image: A Cine-Geography», Third Text 25/1/2011, S. 1–12. 34 «Loin du Viêt-Nam. Protokoll des Filmtextes», in: Hurch, Hans (Hg.): That magic moment. 1968 und das Kino, Wien: Viennale 1998, S. 44–46. 35 Siehe Véray, Laurent: Loin du Vietnam 1967. Film collectif réalisé par Jean-Luc Godard, Joris Ivens, William Klein, Claude Lelouch, Chris Marker, Alain Resnais, Agnés Varda, Paris: Édition Paris expérimental 2004; weiters Croombs, Matthew: «Loin du Vietnam: Solidarity, Repre- sentation and the Proximity of the French Colonial Past», Third Text 28/6/2014, S. 489–505. 133 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Jean-Luc Godard filmte sich in sei- nem Beitrag mit dem Titel ‹Camera- œil› monologisierend vor einer großen Mitchell- 35- mm-Kamera (Abb.  36). Er produzierte mit dieser Einstellung einen Kurzschluss zwischen Krieg und Kino, dem ‹Shooting› der Kanone und der Kamera: «Die 2-Zentimeter-Kano - ne eines Jagdbombers feuert 100mal in der Sekunde, die Kamera 24mal in der 36 Jean-Luc Godard am filmischen Nullpunkt: 36 Selbstkritik des Autors und Ausstellung des Sekunde.» Die vietnamesische Regie- medialen Apparats in «Camera-œil»; Screenshot rung hatte Godards Drehansuchen aus Loin du Vietnam wegen Zweifeln an seiner ideologischen Zuverlässigkeit abschlägig beantwor- tet. Er beschloss, von nun an in jeden seiner Filme ‹ein Bild des kämpfenden Vietnam› einzufügen. Sein kurzer Beitrag zu Loin du Vietnam bedeutete für Godard einen künstlerischen und politischen Einschnitt, einen Ausbruch aus dem «Gefängnis der Kultur», wie er es selbst nannte. Er trat selbst vor die Kamera und zum ersten Mal hörte man seine tonlose Stimme. Der Regisseur dekonstru- ierte sich selbst und verwandelte sich aus einem schillernden Autor fiktionaler Filme in einen Essayfilmer, der in seinem filmischen Diskurs von einer selbst- kritischen Reflexion in der 1. Person ausging. Er meinte, man hätte 1966 Filme über die Streiks in Saint-Nazaire machen sollen, denn dieser Kampf entspräche in Frankreich dem Kampf des Vietkong. Die Uraufführung von Loin du Vietnam fand im Oktober 1967 statt, in einer Fabrikshalle in Besançon vor den streikenden Arbeiter*innen des Unternehmens Rhodiacéta.37 Angesichts der Streiks und Proteste reaktualisierten die Filmer*innen Urszenen des revolutionären Kinos.38 Die für den politischen Film notorische Auseinander- 36 In Le petit soldat hatte es geheißen: «Photographie, das ist die Wahrheit. Und der Film ist die Wahrheit 24mal in der Sekunde.» 37 Am 5.3.1968 zeigte das staatliche Fernsehen À bientôt, j’espère, den Chris Marker mit Arbei- ter*innen der Rhodia-Werke in Besançon über ihren Streik im Vorjahr gedreht hatte. 38 Am 13.5.1968 war der Generalstreik auf seinem Höhepunkt: In Paris hielten 350.000 Studie- rende und Arbeiter*innen die Straßen besetzt. Nationalgarde und CRS-Bereitschaftspolizei wurden gegen sie eingesetzt, während gleichzeitig in Cannes die 21. Filmfestspiele stattfan- den. Dort wurde das Palais du Festival besetzt. François Truffaut erklärte, es sei undenkbar, dass sich die Leute Filme ansähen, während in Paris Blut flösse. Er und Godard hangelten sich während einer Vorführung «wie zwei Orang-Utans» an den Vorhängen hoch und drohten, diese in Brand zu stecken. Tags darauf wurde das Festival gegen den Widerstand der Vertreter der Industrie vorzeitig beendet. In Paris kam es zur Gründung der États généraux du cinéma. Diese ‹Generalstände des Kinos› traten in unbefristeten Streik und proklamierten, es sollten nur mehr Filme im Dienst der Revolte gemacht werden; vgl. Roth, Wilhelm: Der Dokumentar- film seit 1960, München u. a.: Bucher 1982, S. 56 ff. 134 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) s etzung über Form- oder Inhaltpräferenzen nahm den Disput innerhalb der sow- jetischen Filmavantgarde wieder auf. Dziga Vertov, der ‹Mann mit der Kamera›, stand dabei für eine revolutionäre Form, welche selbst auf Eisensteins dialekti- sche Montage als «sowjetische Zauberei»39 herabsah. Filmkollektive gingen in die Betriebe, um Filme über die aktuelle Streikbewegung zu machen. Chris Marker gründete den Groupe Medvedkin und realisierte Filme gemeinsam mit streikenden Arbeiter*innen. Godard gründete den Groupe Dziga Vertov in der Tradition des ‹kreiselnden Kurblers›. Seine früheren Filme verwarf er jetzt als ‹faschistisch› und ließ seinen glänzenden Autorennamen in der Geste der Kollektivität verschwinden. Dass das Kino für die Befreiungsprojekte der Kolonisierten ein wichtiges In- strument war, hatte neben La battaglia di Algieri auch La hora de los hor- nos (ARG 1968) bewiesen, ein anti-imperialistischer Agitprop-Film in epischem Format, in dem Fernando Solanas und Octavio Getino das Publikum gegen die lokale Bourgeoisie und ausländische Kapitalmacht mobilisierten. 1969 trafen sich Godard und Solanas in Paris, im selben Moment, als Godard mit der palästi- nensischen Anfrage konfrontiert wurde. Solanas attackierte die Vorstellung einer Unschuld der Zuschauer*innen und berief sich dabei auf Frantz Fanon: The film has been the detonator of the act, the agent that mobilizes the old spectator. Furthermore, we believe in what Fanon said: ‹If we must involve everyone in the fight for our common salvation, there are no spectators, there are no innocents. We all dirty our hands in the swamps of our soil and in the emptiness of our minds. Every spectator is either a coward or a traitor.›40 That is to say, that we are not facing a film for expression nor a film for communi- cation, but a film for action, a film for liberation.41 Obwohl die Befreiungsprojekte der beiden Regisseure von unterschiedlichen, teil- weise unvergleichbaren Situationen ausgingen, wurden sie im Begriff der Ideolo- giekritik scheinbar ineinander übersetzbar. Filmarbeit war an jedem Ort der Welt Arbeit gegen die herrschende Ideologie, und wurde in der Metaphorik des bewaff- neten Kampfes gedacht: «To use film as a weapon, as a gun»,42 sei die Aufgabe des revolutionären Filmemachers, so Solanas 1969. 39 Wertow, Dsiga: Aufsätze, Tagebücher, Skizzen, Berlin Ost: Institut für Filmwissenschaft 1967, S. 107. Zum Streit um Eisenstein und Vertov siehe Brandlmeier, Thomas: «Filmtheorie und Kinokultur. Zeitgeschichte und filmtheoretische Debatten», in: Petermann, Werner und Ralph Thoms (Hg.): Kino-Fronten. 20 Jahre ’68 und das Kino, München: Trickster 1988, S. 50–74, hier S. 62 ff.; weiters Baecque, Antoine de: Les ‹Cahiers du cinéma›. Histoire d’une revue. Tome II: Cinéma, tours détours 1959–1981, Paris: Cahiers du cinéma 1991, S. 241 ff. 40 Vgl. Fanon: Die Verdammten dieser Erde, S. 170. 41 Godard, Jean-Luc und Fernando Solanas: Godard by Solanas! Solanas by Godard!, Third World Cinema Group 1969, S. 1. 42 Ebd., S. 3. 135 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Auch Godard und sein ‹compagnon de route› Jean-Pierre Gorin beschrieben ihr palästinensisches Filmprojekt in Anlehnung an die PLO-Rhetorik vom bewaffne- ten Kampf. Godard hatte Gorin während der Recherchen zu La chinoise (F 1967) kennen gelernt. Er war ein Freund von Anne Wiaszemsky und den jungen Gauchis- ten in Godards Film ziemlich ähnlich. Er hatte bei Althusser und Lacan studiert und gab eine Zeitschrift im Umfeld der ‹Union des jeunes communistes marxistes- léninistes› heraus, die ihrerseits die Jugendorganisation einer Splittergruppe des PCF war. Er arbeitete zeitweise in einer Fabrik, nachdem er als Literaturrezensent von Le Monde gefeuert worden war. Gorin wurde für Godard ein Gesprächspart- ner, mit dem er aus seiner künstlerischen Krise zu einer neuen Art des Filmema- chens gelangen konnte. Godard war auf dem Weg vom Kino zum Aktivismus, Gorin auf dem Weg vom Aktivismus zum Kino. Die beiden gingen von ganz unterschiedlichen biografischen Voraussetzungen aus: Für Godard war die Erfahrung des Algerienkrieges von großer Bedeutung gewesen. Sein zweiter Film Le petit soldat (F 1960) hatte koloniale und revolu- tionäre Gewalt auf sehr zweideutige Art dargestellt. Er hatte mit diesem Film auf die Gewalttätigkeit der Situation reagiert und nicht offen Position für den Kampf der Algerier*innen gegen die französische Kolonialmacht bezogen.43 Mit dem palästinensischen Projekt wollte Godard auf der richtigen Seite der Geschichte ste- hen. Die Situation in Palästina-Israel schien ihm derselben Grundstruktur zu fol- gen, die den Algerienkrieg bestimmt hatte. Auch hier schien es um den militäri- schen, politischen und kulturellen Kampf einer kolonisierten Bevölkerung gegen ihre Besatzer zu gehen. In dieser Logik unterdrückte Israel die Palästinenser*in- nen genau so wie Frankreich die Algerier*innen kolonisiert hatte. Godard sah sei- nen Palästina-Film als Beitrag zur symbolischen Wiedergutmachung der franzö- sischen Schuld gegenüber Algerien, aber auch gegenüber dem maghrebinischen Proletariat in Frankreich. Er wolle als Franzose den Film über die Araber machen, der während des Algerienkrieges nie realisiert wurde. Ein Film über die so lange von den Franzosen kolonisierte arabische Welt, die es noch immer ist, weil in Frankreich ein großer Teil der Handarbeit von den Arabern und Afri- kanern gemacht wird. Hierher zu kommen, um einen Film zu machen, heißt nicht, Lektionen zu geben, sondern es mit Leuten zu tun zu haben, die weiter sind als wir. Ich versuche, meine technischen Kenntnisse dazu zu verwenden, die Ideen der palästinensischen Revolution auszudrücken.44 43 Dieser Spielfilm aus der Perspektive eines OAS-Agenten wurde von manchen als faschistisch angegriffen, während die Behörden ihn als ‹defätistisch› ansahen und erst 1963 unter Aufla- gen freigaben; vgl. Stora, Benjamin: «Le petit soldat. Godard ou les ambiguïtés d’une guerre», Revue française d’histoire d’outre-mer 83/311/1996, S. 93–101; weiters Stora, Benjamin: Imaginai- res de guerre. Algérie – Viêtnam, en France et aux États-Unis, Paris: La Découverte 1997. 44 Garin, Michel: «Godard chez les feddayin» [Interview 1970], in: Bergala, Alain (Hg.): Godard par Godard, S. 74 (Übers. d. Autors). 136 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Tatsächlich hatte etwa der Bretone René Vautier seit 1950 militante, in Frankreich verbotene Filme gegen den französischen Kolonialismus gedreht, z. B. Afrique 50 (1950) und Algérie en flammes (1958). 1968 war der Kampf der afrikanischen bzw. maghrebinischen Immigrant*innen, die sich z. B. in der ‹Union générale des travailleurs Sénégalais en France (UGTSF)› politisch organisiert hatten, Teil der Revolte gewesen. Jean-Paul Sartre hatte den Konvergenzpunkt der Kämpfe in der Formulierung getroffen, die ‹Dritte Welt› beginne in den Vorstädten: «Le Tiers Monde commence en banlieue.»45 Jean-Luc Godard (*1930) stammte aus einer bourgeoisen, protestantischen Familie, in der es Sympathien mit dem Vichy-Regime gab. Anlässlich der Verlei- hung des Adorno-Preises 1995 erzählte Godard, dass seine Beschäftigung mit den Konzentrationslagern mit der «Liebe zu Deutschland»46 zu tun hätte, die ihm sein Vater übertragen habe. In seiner Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos spricht er freimütig über seinen familiären Hintergrund: Ich habe den Krieg miterlebt, mir ist erst nachher aufgegangen, daß meine Eltern aus einer Familie von Kollaborateuren kamen. Mein Großvater war ein wüten- der – nicht etwa Antizionist, er war Antisemit, während ich Antizionist bin, er war Antisemit oder sowas. Daher kommt es, daß ich heute so viele Bücher über Hitler gelesen habe, über die Konzentrationslager, über alles das, wahr- scheinlich viel mehr als irgendein Judenkind [im frz. Orig. ‹enfant juif›, Anm. d. Autors], obwohl ich persönlich keine Beziehung zu den Problemen habe.47 Jean-Pierre Gorin (*1943) war ein solches jüdisches Kind gewesen. Sein sozialer Hintergrund unterschied sich deutlich von jenem Godards. Er war eine Genera- tion jünger und stammte aus einer linken, jüdischen Arbeiterfamilie. Er erzählte, dass sein Großvater von österreichischen Wehrmachtssoldaten verhaftet worden war und in einem Konzentrationslager umgebracht wurde.48 Während der Dreh- arbeiten war Gorin wegen seiner jüdischen Herkunft mit Diskriminierungen konfrontiert: Es «schlossen sich manche Türen, etwa in den Trainingscamps der Fatah»,49 berichtet Antoine de Baecque. Zwischen 1968 und 1972 drehten die bei- den fünf Filme gemeinsam, meist unter dem Label Groupe Dziga Vertov.50 Sie film - 45 Sartre, Jean-Paul: Plädoyer für die Intellektuellen: Interviews, Artikel, Reden 1950–1973, Rein- bek: Rowohlt 1995, S. 302–306. 46 Vgl. MacCabe: Godard, S. 387. 47 Godard, Jean-Luc: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, München: Hanser 1981, S. 56. 48 Persönliche Mitteilung von Jean-Pierre Gorin, November 2004. 49 Baecque, Antoine de: Godard: biographie, Paris: Grasset 2010, S. 471. 50 Diesem gehörten neben Jean-Pierre Gorin noch Jean-Henri Roger und Armand Marco an, zeit- weilig auch Gérard Martin, Nathalie Biard, Paul Burron, Anne Wiazemsky, Raphaël Sorin und Isabel Pons; vgl. Baecque: Les ‹Cahiers du cinéma›. Histoire d’une revue. Tome II: Cinéma, tours détours 1959–1981, S. 248–263. 137 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville ten in Italien (Vent d’est51 und Lotte in Italia, 1969), in den USA (Vladimir et Rosa, 1971) und im Nahen Osten für das palästinensische Filmprojekt. Erst für ihre beiden letzten Filme Tout va bien und Letter to Jane kehrten sie 1972 nach Frankreich zurück. Jean-Pierre Gorin nannte diese selten aufgeführten Werke später treffend «UVOs – Unidentified Visual Objects».52 Das Palästina-Projekt unterschied sich insofern von den früheren Filmen des Groupe Dziga Vertov, als die Idee und der Auftrag zu diesem Film von einer poli- tischen Organisation kam, die noch dazu in enger Verbindung mit bewaffneten Gruppen stand.53 Auch die Finanzierung kam von der Arabischen Liga: We didn’t get the money for it from a producer. We got the money from the so- called ‹progressive› Arab countries, from the Arabian League, so we were in the same position as al-Fateh. Since the Arabian League couldn’t say, ‹We don’t want this famous movie maker to make a movie on Palestine›, they were obliged to finance us.54 Das Geld, $ 6.000, war jedoch bald verbraucht, Godard und Gorin mussten neue Finanzquellen finden. Sie erhielten weitere Mittel von dem Produzenten Claude Nedjar (8.000 Francs), dem Schauspieler und Regisseur Jacques Perrin (20.000 Francs) sowie von deutschen und niederländischen TV-Stationen (8.000 und 5.000 Francs).55 Das Budget belief sich insgesamt auf rund 70.000 Francs bzw. $ 13.000 – der Film war eine Low Budget-Produktion.56 51 Dem Filmtitel lag die metaphorische Diagnose Maos zugrunde, dass von den beiden Luft- strömungen in der Welt der Ostwind gegenüber dem Westwind die Oberhand gewinnen werde. Im Sommer 1969 in Italien gedreht, war der Film eine Mixtur aus einem dekonstru- ierten Italo-Western und einer Re-Inszenierung der Diskussionen des Pariser Mai mit Daniel Cohn-Bendit in den sommerlichen Abruzzen: «Gorin: ‹[…] there was no real political discussi- on. What happened was that the two Marxists really willing to do the film took power, and … › Godard: ‹All the anarchists went to the beach … › (Laughter)», Goodwin, Michael, Tom Luddy und Naomi Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean-Luc Go- dard and Jean-Pierre Gorin», Take One 2/10/1971, S. 8–26, hier S. 17. 52 Ebd. 53 Das Filmprojekt stieß nicht überall auf Zustimmung: «Before we went to Palestine, all our friends and comrades were saying, ‹What’s the use of making a movie in Palestine? Stay in France. What’s the use? Movies are dead, why make movies anymore?›», Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Ver- tov Film Group in America. An Interview with Jean-Luc-Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 17. 54 Godard, Jean-Luc und Gorin, Jean-Pierre: «The Dziga Vertov film group in America: An inter- view with Jean Luc Godard and Jean Pierre Gorin» [with Michael Goodwin, Tom Luddy und Naomi Wise, 1970] Typoskript (76 S.), Pacific Film Archive, S. 50: https://cinefiles.bampfa.ber- keley.edu/cinefiles/DocDetail?docId=11165 (zugegriffen am 23.7.2019). 55 Vgl. Baecque: Godard, S. 467. 56 Das entspricht dem heutigen Gegenwert von etwa EUR 50.000. Zum Vergleich: La battaglia di Algieri (I/ALG 1966) kostete $ 800.000, genausoviel Medium Cool (USA 1969). Das Pro- duktionsbudget der Woodstock-Dokumentation (USA 1970) belief sich auf $ 600.000. 138 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Zwischen November 1969 und Fe- bruar 1970, und im Sommer 1970 reis- ten Godard, Gorin und der Kamera- mann Armand Marco mindestens sechs Mal nach Jordanien, in die Westbank und in den Libanon.57 Sie reisten ohne Techniker, meistens in Begleitung Fouads, eines libanesischen Mitglieds der Fatah.58 Gedreht wurde mit dem erst seit kurzem verfügbaren Video 37 Foto von den Dreharbeiten in Jordanien 1970; und auf 16-mm-Material, wobei die Cahiers du cinéma 262–263/1976, S. 39 Videokamera offenbar dazu diente, ‹Preshots› anzufertigen.59 Godard überließ die Video-Ausrüstung später palästinensischen Filmemachern.60 Die politische Situation war durch die Folgen des Juni-Kriegs von 1967 gekennzeichnet: Tausende Palästinen- ser*innen befanden sich als staatenlose Flüchtlinge in Lagern östlich des Jor- dans. Es gab ungefähr ein Dutzend sol- cher Lager, etwa Jebel Husain, Wahadat, 38 Die Kadrierung der Einstellung, die gedreht Baqa, Ghaza-Camp und Irbid. Diese wurde, als das Foto oben geschossen wurde, schneidet den offenen Horizont ab; Screenshot mit Mitteln der UNWRA erbauten aus Ici et ailleurs (TC 00:02:50) temporären Siedlungen bildeten bald eine Art Staat im Staat innerhalb Jordaniens.61 Auf einem später in den Cahiers du cinéma veröffentlichten Foto (Abb. 37) sind Godard und Gorin in einem dieser Flüchtlingslager zu sehen. Das Foto zeigt die beiden beim Einrichten der Kamera für eine Aufnahme, die das Lager in einer Totalen zeigt. Mit dem Rücken zur Kamera ist vermutlich der Kameramann Armand Marco mit dem Belichtungsmes- ser zu sehen. In Ici et ailleurs wird die damals gefilmte Einstellung später auf- tauchen (Abb. 38). 57 MacCabe: Godard, S. 413. 58 Godard, Jean-Luc: «Godard chez les Feddayin» Express 27.7.1970, in: Godard, Jean-luc: Jean- Luc Godard par Jean-Luc Godard, hg. v. Alain Bergala, Paris: Flammarion 1985, S. 340–342. 59 Brody, Richard: Everything is cinema. The working life of Jean-Luc Godard, London: Faber and Faber 2008, S. 352. 60 Vgl. Sanbar, Elias: «Vingt et un ans après», Trafic No 1/1991, S. 109–119, hier S. 117 f. 61 Siehe Makara, Michael: «From concessions to repression: Explaining regime survival strategies in Jordan during black september», Journal of the Middle East and Africa 7/4/2016, S. 387–403, hier S. 395 ff. 139 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Dass die palästinensische Führung ihre Losung von der Revolutionierung der Massen auch auf die jordanische Monarchie ausdehnte, führte in der Folge zu wachsenden Konflikten mit der Herrscherdynastie der Haschemiten. Die Idee der ‹palästinensischen Revolution› provozierte die überkommenen Herrschafts- verhältnisse, ihre Monarchien und klientelistischen Verbände, Großfamilien und opportunistischen Bündnisse im Kontext des Kalten Kriegs. Frauen bei den kämpfenden Einheiten brachen patriarchale Bilder auf, die Sache der Palästinen- ser*innen enthielt eine progressive Dynamik, die in der ‹arabischen Welt› ihres- gleichen suchte und in den Ländern des globalen Nordens starken Widerhall fand. Godard und Gorin waren nicht die Einzigen, die damals in den Nahen Osten reisten. In Europa wurden Palästina-Komitées gegründet, die pro-palästinensi- sche Filme vorführten. Schriftsteller*innen, Journalisten*innen, Fotograf*innen und Filmemacher*innen veröffentlichten Romane, Sachbücher, Zeitungsartikel, Fotoreportagen und Filme über die Palästinenser*innen. Jean Genet62 und Gérard Chaliand,63 etwas später auch Claude Lanzmann, dokumentierten ihre Reise-Er- fahrungen später unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen. Claude Lanzmann inaugurierte mit Pourquoi Israël (F 1974) sein filmisches Werk, das sich bis in seine letzten Verästelungen hinein als audiovisuelle Beweisführung für die Sache Israels verstand. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmemacher*innen verhielten sich Godard und Gorin kritisch gegenüber dem Realitätseffekt der vor Ort gedrehten Auf- nahmen. Ihr Filmprojekt setzte sich prinzipiell vom Authentizitätsgestus sowohl des Fernsehens als auch vieler Agitprop-Filme ab. Sie gingen vielmehr von einer ideologiekritischen Analyse des medialen Umfelds aus, in dem jeder Film über die ‹palästinensische Revolution› von vornherein situiert war. Jean-Pierre Gorin bezog sich dabei auf Louis Althussers Konzept der Ideologie, das dieser im Juni 1970 in seinem programmatischen Text Ideologie und ideologische Staatsapparate spekulativ zuspitzen würde: Unseres Wissens nach kann keine herrschende Klasse dauerhaft die Staats- macht innehaben, ohne gleichzeitig die Hegemonie über und in den Ideolo- gischen Staatsapparaten auszuüben.64 Mit Althusser wurde die Ideologie zum zentralen Feld politischen Handelns. Diese sei nicht bloß eine Spiegelung der Produktionsverhältnisse, sondern ein entschei- dender Schauplatz des Klassenkampfes. Mit den ‹Ideologischen Staatsapparaten› meinte Althusser alle nicht direkt staatlichen Institutionen, die für die tägliche 62 Siehe Genet: Ein verliebter Gefangener. 63 Siehe Chaliand, Gérard: La Résistance Palestinienne, Paris: Seuil 1970. 64 Althusser: «Ideologie und ideologische Staatsapparate», S.  131 f.; siehe Charim, Isolde: Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie, Wien: Passagen 2002. 140 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Reproduktion der kapitalistischen Ideologie sorgten: Kirche, Familie, Schule, Kul- turbetrieb etc. Diese schaffen materielle Praktiken, Rituale und Ideen, die schließ- lich zum subjektiven Glauben, zur Überzeugung und schließlich zur Tat eines Individuums werden.65 Es lag nahe, im audiovisuellen Medienverbund die Verlän- gerung jenes Althusser’schen «materielle[n] ideologische[n] Apparat[s], von dem die Ideen des betreffenden Subjekts»66 abhingen, zu sehen. Diese Interpretation konnte sich auch auf eine Bemerkung von Karl Marx über die Ideologie stützen, die man als politische*r Filmemacher*in einfach wörtlich nehmen musste: Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.67 Wenn die Ideologie den auf dem Kopf stehenden Bildern der Camera obscura ähnelt, war dann nicht die Filmkamera der Apparat, mit dem man in die Ideo- logieproduktion direkt intervenieren und ‹die Menschen und ihre Verhältnisse› wieder auf die Füße stellen konnte? Bereits Lotte in Italia, den Godard und Gorin 1969 in Italien und in der Pariser Wohnung von Anne Wiazemsky dreh- ten, analysierte im Kommentar laufende Klassenkämpfe in der Terminologie Louis Althussers. Die Protagonistin, die sich im Laufe des Films zur Revolutio- närin wandelt, arbeitet in der ersten Einstellung am Text eines Flugblattes für die ‹palästinensische Revolution›. Althusser war im Gegensatz zu vielen, die den Film dogmatisch und unfilmisch fanden, angetan von der filmischen Verwendung sei- ner Thesen.68 Alle Filme des Groupe Dziga Vertov zielten kritisch auf die ‹Ideolo- gischen Staatsapparate›, insbesondere auf das Fernsehen, das rund um 1968 zum hegemonialen Massenmedium mutierte. Godard und Gorin standen unter dem Eindruck, dass die Medien sich der Revolte bemächtigt hatten. In der Mediatisie- rung sahen sie eine Reaktion der Macht auf die globale Dissidenz. «Nach dem Mai 1968 brach das Fernsehen über uns herein»,69 formulierte Godard später. 1970 konzipierte er den Film als ideologisches Produkt, das an einer symbolischen Front ins Feld geführt wird. Der Filmemacher wurde zum Guerrilla-Kämpfer in einem Krieg der Bilder: 65 Vgl. Althusser: «Ideologie und ideologische Staatsapparate», S. 153. 66 Ebd., S. 154. 67 Marx, Karl und Friedrich Engels: «Die deutsche Ideologie» [1845/46], in: ds.: Werke [MEW], Bd. 3, Berlin: Dietz 1969, S. 5–530, hier S. 26. 68 Vgl. MacCabe: Godard, S. 229. Dieser erste Film, den die beiden gemeinsam montierten, wurde im Auftrag eines TV-Senders gedreht, aber nie ausgestrahlt. 69 Albera/Godard: «‹Bestellen wir unseren Garten.› Ein Gespräch mit Jean-Luc Godard von François Albéra, 14. April 1989», S. 86. 141 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville A movie is an ideological product. Therefore, to make movies today in a capi- talist country like France is a very secondary task. But since a movie is an ideological product, and since our concrete analysis of the concrete situation in France is that armed struggle needs political work first, needs what we call ‹ideological struggle›, the movies can play a very important part in this ideo- logical struggle. The ideology of the ruling class dominates everything with images and sounds: the papers, TV, records, tapes – everything.70 Godard und Gorin sahen hier den Anknüpfungspunkt zu ihrem sowjetischen Namenspatron: Dziga Vertov was the only one who clearly stated that the workers of the movie industry were to see the world, and show the world, in the name of the proletarian, world-wide revolution – this was their real task. No other Bolshe- vik movie maker said that. Whenever we say the name of Dziga Vertov we can raise all the issues of militant movie making, raise them from the beginning and start again from the Russian revolution. We have to learn again about Russian history. Through the movies.71 Allerdings ähnelten die repräsentativen Kräfteverhältnisse der späten 1960er- Jah re kaum mehr jenen, in denen Vertov und die historischen ‹kinoki› die Mani- feste und Filme des ‹kinoglaz› montiert hatten. Unter den Bedingungen des welt- weiten Medienverbunds konnte sich Vertovs Projekt einer «kommunistische[n] Dechiffrierung des Sichtbaren»72 nicht mehr umstandslos auf den entfesselten Einsatz des ‹Kino-Auges› durch einen ‹Mann mit der Kamera› stützen.73 Godard kritisierte 1970 die Arbeit des US-amerikanischen Newsreel Collective und damit zugleich das Paradigma der Gegeninformation in diesem Sinne: I think the only ones who try to be independent are Newsreel, but from the pic- tures I’ve seen I think they are working the wrong way, at least for the moment. They are just trying to spread other information than the Establishment. It’s not enough just to show students on strike or people rioting – the task of the militant filmmaker is much more difficult. How can you build an image of a riot, how can you build an image of a striker, when you don’t belong to the working class?74 70 Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean- Luc Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 17. 71 Ebd., S. 16. 72 Wertov: Schriften zum Film, S. 112. 73 Zur Aktualisierung des Vertov’schen Programms im Zeichen von Globalisierung und Digita- lisierung siehe Lazzarato, Maurizio: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus, Berlin: b_books 2002. 74 Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean- Luc Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 25. 142 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) In Interviews entwickelten Godard und Gorin die Elemente ihrer militanten Ästhetik, die sich von der Praxis des Direct Cinema abwandte. Die Maxime sei nicht, «‹go and fetch images, and then try to edit them›»,75 sondern: «build right images».76 Bilder zu ‹bauen› bedeute, dass die Montage des Films beginne, noch bevor die Kamera ein einziges Bild aufgezeichnet habe. Jean-Pierre Gorin: […] you’ve got a triple principle: you edit before the shooting, during the shooting, and after the shooting.77 ‹Richtig› seien Bilder, die dialektisch wie Begriffe auf einander verwiesen und ineinander griffen. Godard gab ein Beispiel für die angestrebte Bilderarithmetik: 1. A Fidai practicing his duty; 2. A woman fighter teaching at a school; 3. Chil- dren being trained. That means: 1. Armed struggle; 2. Political Action; 3. The long popular war. The third image is the result of the first two. The equation is: armed struggle + political action = the long popular war against Israel. It also is: The man (that announces the struggle) + the woman (that is being transformed as she takes her part in the revolution) and this man and woman give birth to the child that will liberate Palestine.78 These, Antithese und Synthese werden hier zur ‹heiligen Familie› der nach Paläs- tina transferierten maoistischen Kulturrevolution. Ein isoliertes Bild bliebe gegenüber solchen Bildern in Relation eine rein virtuelle Spiegelung: Like your reflection in the mirror. The real is you, then comes the relation be- tween you and this fictitious reflection. […] Making a movie from a political point of view is establishing this kind of relationship … This is how Imperia- lism tries to make us believe that the pictures of the world are real (when it is only fictitious), Imperialism forbids us from doing what we ought to do: the establishment of real relationships (political) between these pictures.79 Der fertige Film sollte von innen her den irrealen Charakter des Kinos durch- brechen und zu einem Moment des wirklichen Lebens sowohl der gefilmten Akteur*innen als auch der Zuschauer*innen werden: 75 Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean-Luc Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 13. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Godard, Jean-Luc: «The artistic front and the political one», Free Palestine Jänner 1971, S. 6–7, hier S. 7. 79 Ebd. 143 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Seeing the movie will be a moment in their real life, in their reality […]. Down with the cinema and long live the political relationship.80 Dem televisuellen ‹Seeing is believing› und der massenmedialen Ontologisierung der Bilder entgegnete ein ins Deutsche nicht übersetzbares Wortspiel in Vent d’est (F/I 1969): «Ce n’est pas une image juste, c’est juste une image» – dies ist kein rich- tiges (juste) Bild, sondern nur (juste) ein Bild. Im Rahmen von Godards filmischer Biografie bedeutete diese Bildauffassung, die er im Kontext des Groupe Dziga Ver- tov mitformulierte, einen radikalen Bruch mit der ontologisierenden Auffassung des Bildes in der Tradition Bazins, der er bisher verbunden war.81 Dieser Bruch zeichnete sich bereits in La chinoise ab, als Godard den Philosophen Alain Badiou zitierte: «Kunst ist nicht die Reflexion der Realität, sie ist die Realität dieser Refle- xion».82 Wenn aber Bilder nur Bilder, also keine Abbilder der Welt, sondern nur ihr ideologischer Reflex sind, wenn sie weniger Spuren eines außermedialen Realen als Idole sind, deren Beziehungen untereinander eine ‹Realität› eigener Ordnung bilden, wie kann dann noch ein Kriterium für die Wahrheit von Bildern formu- liert werden? Offensichtlich kann dies nur noch in der Relation zu anderen Bildern bestimmt werden. Bereits der Kommentar von British Sounds (UK 1969), des ers- ten Films des Groupe Dziga Vertov, hatte die ideologietheoretische Programmatik Althussers bzw. Badious direkt in die Praxis der Filmmontage übersetzt: Manchmal ist Klassenkampf der Kampf eines Bildes gegen ein anderes Bild, eines Tones gegen einen anderen Ton. In einem Film ist es der Kampf eines Bildes gegen einen Ton und eines Tones gegen ein Bild.83 Wenn, wie das Kommunistische Manifest formuliert hatte, die Bourgeoisie «sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde [schafft]»,84 dann war es die Aufgabe revolutio - 80 Ebd. 81 Vgl. Faroult, David: «Du vertovisme du groupe Dziga Vertov. À propos d’un manifeste mécon- nu et d’un film inachevé (Jusqu’à la victoire)», in: Brenez, Nicole (Hg.): Jean-Luc Godard. Docu- ments, Paris: Centre Pompidou 2006, S. 134–138, hier S. 134 f. 82 «L’effet esthétique est bien imaginaire: mais cet imaginaire n’est pas le reflet du réel, puisqu’il est le réel de ce reflet.» Badiou, Alain: «L’autonomie du processus esthetique», Cahiers marxis- tes-léninistes 12–13/1966, S. 77–89, hier S. 77. 83 Godard, Jean-Luc: «Erste ‹englische› Töne», S. 127. 84 Das Zitat im Kontext: «Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produk- tionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barba- rischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hart- näckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu wer- den. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.» Marx, Karl und 144 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) närer Bildarbeiter*innen, dieses Bild zu identifizieren, anzugreifen und es durch ein anderes, revolutionäres Bild zu ersetzen. Revolutionäre Bildpolitik bedeutete also nicht die Abbildung einer außerfilmischen politischen Bewegung, als viel- mehr die Parteinahme für ein marginales oder noch gar nicht existierendes Bild gegen ein dominierendes Bild. Bildpolitik war nicht Politik mit Hilfe von Bildern, sondern Politik in Bildern. Mit diesem Programm einer ästhetischen ‹Guerrilla› kam der Groupe Dziga Vertov ironischerweise Eisensteins intellektueller Mon- tage ziemlich nah, die von Konflikten lebte und Bilder und Töne in antithetische Gegensätze brachte. Fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution gehorchten die Bil- der immer noch einer immanenten Verkettungslogik, die aber jede Verbindung mit einer dialektischen Gesetzmäßigkeit des Geschichtsprozesses verloren hatte. Paratextuelle Montage eines Filmes Obwohl der Palästina-Film des Groupe Dziga Vertov nie fertig gestellt wurde, ist es möglich, sich durch die synoptische Zusammenschau von Para- und Epitexten ein ungefähres Bild davon zu machen, wie seine Konzeption aussah. Godard und Gorin fabrizierten bereits vor ihrer ersten Reise nach Jordanien ein kurzes Konzept des Films. Dieses ‹Schema eines von der Fatah in Auftrag gegebenen palästinensischen Films› umriss den politischen und ästhetischen Rahmen des Projekts. Der Text ver- glich die Situation der Palästinenser*innen mit jener der Indianer Nordamerikas: Was den Indianern passiert ist, kann den Palästinensern nicht passieren. Der bewaffnete Kampf ist kein militärisches Abenteuer, er ist der Volkskrieg. Palästinensisches Antlitz und arabisches Herz. Nationaler Befreiungskrieg = sozialer Kampf. Zuerst die Einheit herstellen (Fatah).85 Die Skizze wurde ergänzt durch Zitate aus Mahmoud Darwishs Gedicht Identi- tätskarte, das eine fiktive Rede an einen israelischen Soldaten richtet: Trag ein / dass ich Araber bin / dass Du die Weinberge meines Vaters geraubt hast / und den Boden, den ich bearbeitet / ich und meine Kinder / Du hast uns alles genommen außer / für das Überleben meiner Enkel / die Steine hier / Aber eure Regierung wird auch sie beschlagnahmen / Also / Trag ein! / Oben auf der ersten Seite  / Dass ich die Menschen nicht hasse  / und niemanden bestehle  / Aber wenn ich hungere  / esse ich das Fleisch meines Unterdrü- ckers / Hüte Dich! Hüte Dich! Hüte Dich! / Vor meinem Zorn!86 Friedrich Engels: «Manifest der Kommunistischen Partei», in: ds.: Werke, Band 4 [Mai 1846 – März 1848], Berlin: Dietz 1990, S. 459–493, hier S. 466. 85 Zit. nach Baecque: Godard, S. 268 (Übers. d. Autors). 86 Zit nach ebd.; siehe Said, Edward W.: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 166 f. [engl.: The question of Palestine, London: Routledge & Kegan 1980]. 145 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Mahmoud Darwish (1941–2008) war im Zuge des Krieges von 1948 mit seiner Familie aus seinem Geburtsort im Galil vertrieben worden, das Dorf wurde von der israelischen Armee dem Erdboden gleichgemacht. 1960, im selben Jahr als Description d’un combat entstand, wurde er inhaftiert, weil er ohne Identitäts- papiere von Dorf zu Dorf zog und seine Gedichte rezitierte. 1965 wurde Darwish mit seinem zornigen Gedicht über Nacht zur poetischen Stimme der Palästinen- ser*innen in Israel. ‹Jusqu’à la victoire›, ‹Bis zum Sieg› sollte der Film heißen. Der Fatah-Slogan bezog sich auf Maos Konzeption des ‹langandauernden Volkskrieges› von 1957: Kämpfen, unterliegen, nochmals kämpfen, wieder unterliegen, erneut kämp- fen und so weiter bis zum Sieg – das ist die Logik des Volkes.87 Intern trug das Projekt den Untertitel ‹Methoden des Denkens und Methoden des Handelns in der palästinensischen Revolution›. Nach einem Aufenthalt in Jordanien im Februar 1970 tourten Godard und Gorin im März und April des Jahres durch die USA, um Geld für ihren palästinensischen Film aufzutreiben. Bei öffentlichen Auftritten und in Interviews88 berichteten sie über den Stand des Projekts, besonders aufschlussreich ist ein Treffen, bei dem Godard und Gorin Journalisten des Fernsehsenders KQED-TV San Francisco im Detail erklärten, wie ‹Jusqu’à la victoire› aussehen sollte. Dabei verwendeten sie ein Skizzenbuch, in dem Godard bereits zahlreiche Einstellungen und Sequenzen entworfen hatte. Tom Luddy schilderte diese «shot-by-shot discussion of the Palestine movie»:89 Jean-Pierre described each sequence in detail, while Jean-Luc indicated the appropriate images in his shooting notebook. The notebook, which was made up partly of hand-drawn sketches in red and black magic marker, and partly of montages of magazine illustrations with hand-written comments looked just like a Godard movie.90 Godards Skizzenbuch ist teilweise veröffentlicht worden.91 Zu dem Treffen existie- ren mehrere Quellen: Die Dokumentation Godard in America (USA 1970) des 87 Mao, Tse-Tung: Das rote Buch. Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 82 f. 88 Vgl. Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean-Luc-Godard and Jean-Pierre Gorin»; sowie Goodwin, Michael und Greil Marcus: Double feature. Movies and Politics, New York: Outbridge and Lazard 1972, S. 9–69. 89 Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean- Luc-Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 15. 90 Ebd. 91 Es ist unklar, wieviele Blätter es insgesamt enthielt. Zwölf Blätter wurden von der kanadischen Filmzeitschrift Take One abgedruckt: «Dziga Vertov Notebook», Take One 2/11/1971, S. 7–9. Fünf dieser Blätter wurden in besserer Qualität noch einmal publiziert in: Goodwin/Marcus: Double 146 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) damaligen Harvard-Studenten Ralph Thanhauser, die von Richard Leacock und D. A. Pennebaker produziert und vertrieben wurde, enthält einige Aufnahmen davon.92 In einem kurzen Typoskript mit der Überschrift Till Victory. A note on a film none of us has seen as yet, das sich im Pacific Film Archive Berkeley befindet, fasste 1971 ein*e unbekannte*r Verfasser*in die bisherige Geschichte des Film- projekts zusammen. Es enthält Teile jener Erläuterungen, die Godard und Gorin zu dem Skizzenbuch gegeben hatten.93 Schließlich finden sich in Ici et ailleurs selbst zahlreiche Filmaufnahmen von 1969/1970. Die methodischen Probleme bei der Rekonstruktion von ‹Jusqu’à la victoire› liegen auf der Hand: Wie können die unterschiedlichen Quellen verbunden werden? Wie sollen die grafischen Darstel- lungen in den Skizzen textlich übersetzt werden? Wie soll mit Lücken und Wider- sprüchen umgegangen werden? Das Filmmaterial wurde später roh montiert und etwa fünfmal umgeschnitten, ohne je zu einer finalen Form zu finden. Die fol- gende Synopsis kann deswegen nur heuristischen Charakter haben. Der Film sollte aus drei Teilen und einem vorangestellten Prolog bestehen. Ein Blatt aus Godards Skizzenbuch illustriert die Bild-Text-Montage dieses Prologs (Abb. 39). Er sollte unterschiedliche Bedeutungsvalenzen der Farben der palästi- nensischen Nationalflagge miteinander ins Spiel bringen. Die symbolisch aufge- ladenen Farben sollten mit Text-Inserts, wie sie in früheren Filmen des Groupe Dziga Vertov schon verwendet wurden, rebusartig verbunden werden: The green means the earth; the white means peace; the black means death of the enemy; and the red means the blood given in the struggle.94 Im ersten, mit ‹PALESTINE ZERO› überschriebenen Teil des Films sollte dem zionistischen Narrativ eine andere Perspektive auf die Geschichte Palästinas ent- gegenhalten werden. Godard präsentierte in den USA seine Sichtweise: «Almost nobody knows what has really happened in the Middle East since the beginning of the century. Nobody knows about the Balfour Declaration. A lot of people still think that the Jews have the right just because they were Jews and [were] crucified by the Nazis, [and] have the right to come into the Middle East and just take the land off, push people who were on that land out.»95 feature. Movies and Politics, S. 53–56. Die in Take One veröffentlichten Blätter wurden 2004 im Katalog zur Godard-Retrospektive des Centre Pompidou wiederabgedruckt: Brenez, Nico- le (Hg.): Jean-Luc Godard. Documents, Paris: Centre Pompidou 2006, S. 141–143. 92 Godard und Leacock/Pennebaker zerstritten sich bei der Arbeit an One A.M. / One P.M. 93 D. O. D.: «Till Victory» [Typoskript], CineFiles – Pacific Film Archive, Berkeley, ca. 1971, https:// cinefiles.bampfa.berkeley.edu/catalog/11406 (zugegriffen am 23.4.2020). 94 Ebd. 95 Gesprochener Text aus dem Film wird in der Folge kursiv gesetzt. Godard in America (TC 00:19:11–00:19:35). 147 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville [Grafik der palästinensischen Nationalflagge, Texte in den Farbfeldern] RÉVOLUTION [schwarz] VISAGE Palestinien [rot] Coeur arabe [weiss] JUSQU’À LA VICTOIRE [grün]. [Folge von 4 beschrifteten Schriftbildskizzen] 1. poëme terre – [Kaderskizze: grüne Schraffur] – champ vert: la terre. 2. [Kaderskizze: Porträt eines Fedayin] – [Kaderskizze: Taube in Quadrat] – colombe blanche: la paix. 3. communiqué militaire – [Kaderskizze: schwarze Schraffur] – noir: la mort de l’ennemi. 4. torture repression Israelienne – [Kaderskizze: rot schraffierte menschliche Figur] – rouge: le sang raté 39 Eine Seite aus dem Skizzenbuch zu ‹Jusqu’à la victoire› (Goodwin/Marcus: Double Feature, S. 52) Der Film sollte auf zentrale Momente der palästinensischen Geschichte fokussie- ren, die von Protagonist*innen im Rollenspiel dargestellt würden: Two Palestinian fighters, a girl and a boy, will tell the story of the Palestinian fight from the beginning till now. But not just historical dates, saying ‹at that date it was that› and so on …96 Anhand der Suez-Krise von 1956 sollte dargestellt werden, dass die Palästinen- ser*innen sich nicht mehr nur auf die «so-called progressive Arab governments» verlassen konnten: So this is the way the boy and the girl can talk here: the boy can say to the girl, ‹You are the Palestinian People, I am Nasser, and I am going to speak for you› – and then he does just that: ‹I am going to speak for you.› You see? This is acting. This is fiction. But this is the way you can make people understand that Nasser is not really speaking for the Palestinians.97 96 D. O. D.: «Till Victory», S. 3. 97 Ebd. 148 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Diese Serie von historischen Szenen folgte dem offiziellen Narrativ der Fatah. Waren die Palästinenser*innen lange im Bild von Flüchtlingen und Opfern gefan- gen gewesen, verwandelten sie sich nun vor den Augen der Weltöffentlichkeit in bewaffnete Kämpfer*innen, Fedayin.98 Die Erzählung sollte in der ‹Schlacht von Karameh› vom 21. März 1968 kulminieren.99 Damals kamen über hundert Fedayin und 28 israelische Soldaten ums Leben, jedes Haus in Karameh wurde anschließend von der israelischen Armee gesprengt.100 Obwohl eine militärische Niederlage, wurde die Schlacht in einen symbolischen Sieg umgedichtet: Zum ersten Mal seit 1948 schlugen die vom Zionismus Kolonisierten unter Arafats Führung zurück, so die Lesart der Fatah, die sich in der Folge auf die militä- risch aussichtslose Strategie des bewaffneten Kampfes gegen Israel festlegte. Die ‹Schlacht von Karameh› bildete den Beginn der Fatah-Hegemonie innerhalb der PLO und der Legendenbildung um die Person Jasser Arafats, der 1969 zum Vor- sitzenden der PLO gewählt wurde.101 Der wenig heroische Hintergrund der Ereig- nisse war ein Angriff von IDF-Einheiten auf das jordanische Hauptquartier der Fatah, nachdem eine ihrer Minen unter einem Schulbus detoniert war und zwei Erwachsene getötet und zehn Kinder verletzt hatte.102 Godard und Gorin gebrauchten die Fiktion als ideo-ästhetisches Mittel, es ging ihnen mit ihren Inszenierungen nicht um historischen Naturalismus, son- dern um die leibliche Vergegenwärtigung von historischen Konstellationen, um die Fabrikation eines kollektiven Narrativs. Mit Louis Althusser gingen die Filme- macher davon aus, dass die Ideologie nicht einfach eine verzerrte Sichtweise der Realität darstelle, sondern im notwendigerweise imaginären Verhältnis der Indi- viduen zu ihren realen Existenz- und Produktionsbedingungen wurzle. Sie erfüllt die Funktion, qua Anrufung «konkrete Individuen zu Subjekten zu ‹konstituie- ren›».103 Der Film sollte zu einem ‹ideologischen Produkt› werden, indem seine abbildende Funktion in Richtung seines performativen Potenzials überschritten wird. Das Reenactment sollte die subjektive Aneignung historischer Bedeutungen ermöglichen und in Prozesse der Subjektivierung intervenieren. 98 Zu Strategie und Mythos des bewaffneten Kampfes der Fedayin siehe Baumgarten: Palästina. Befreiung in den Staat, S. 217–248; weiters Morris, Benny: Righteous victims: a history of the Zio- nist-Arab conflict, 1881–2001, New York: Vintage Books 2001, S. 363–376; sowie Sayigh, Yazid: Armed struggle and the search for state. The Palestinian national movement, 1949–1993, Ox- ford / New York: Clarendon Press / Oxford UP 1997, Kap. 2. 99 Vgl. Baumgarten: Palästina. Befreiung in den Staat, S. 212–215; sowie Sayigh: Armed struggle and the search for state, S. 174 ff. 100 Vgl. Baumgarten: Palästina. Befreiung in den Staat, S. 213. 101 Vgl. Kimmerling/Migdal: Palestinians. The making of a people, S. 254; weiters Hessel, Stéphane und Elias Sanbar: Israel und Palästina: Recht auf Frieden und Recht auf Land, hg. v. Farouk Mardam-Bey, Berlin: Jacoby & Stuart 2012, S. 71. 102 Vgl. Morris: Righteous victims, S. 368. 103 Althusser: «Ideologie und ideologische Staatsapparate», S. 157. 149 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Wäre es ‹PALESTINE ZERO› also darum gegangen, in der diachronen Dimen- sion des Vergangenen ein verkörpertes Gedächtnis herzustellen, hätte ‹PALES- TINE ONE› auf der synchronen Ebene Relationen zu Kämpfen weltweit knüpfen sollen. Dieser Teil des Films presents the struggle of the Palestinian People as a new political and revolu- tionary fact in the Middle East. This new revolutionary fact is related to all the anti-imperialist struggles all over the world: the Palestinians are fighting Zionism and Zionism is just an agent of imperialism. It’s related to Vietnam, it’s related to Laos, to Cuba, to South America – everywhere –, and we have to present it that way.104 Der Film sollte die Koordinaten einer neuen, revolutionären Raum-Zeit entwi- ckeln, die ganz in den Begriffen des virulenten Antiimperialismus der Epoche gedacht war. Er sollte eine Anordnung der Medien imaginieren, die die räumliche Trennung lokaler Kämpfe aufgehoben hätte: [We] just [film] a Palestinian fighter, looking at a video-tape on a screen, at some images of Laos, for example, and just look at it. Because when the pic- ture will be shown in Laos, it will be the contrary: to look at a fedayeen on the screen. So there is a very simple relationship without telling anything.105 Eine Kaderskizze zeigt eine Gruppe palästinensischer Kämpfer vor einem TV-Ge- rät mit der Beschriftung «TV Laos», der folgende Kader enthält den Schriftzug «LAOS» (Abb. 40). In Laos war aus einem Bürgerkrieg zwischen der kommunis- tischen Bewegung Pathet Lao und den Truppen des laotischen Königshauses ein Stellvertreterkrieg unter Beteiligung der nordvietnamesischen Volksarmee und von US-Truppen geworden. In diesem vergessenen Krieg gelang es den USA, ihre massive Beteiligung vor der Weltöffentlichkeit geheim zu halten.106 Der paläs- tinensische Schauplatz würde exemplarisch mit dem laotischen in Verbindung gebracht werden: Zwei lokale Kämpfe, die beide Teil eines universellen Kampfes gegen den Imperialismus sind. Auf ähnliche Weise sollte Palästina mit China verbunden werden, «because China has already achieved what they are still struggling for.»107 Fedayin sollten beim Betrachten eines chinesischen Films gezeigt werden, vermutlich Dongfang Hong (Der Osten ist rot, VRC 1965) von Wang Ping, der in dieser Zeit von 104 D. O. D.: «Till Victory», S. 3 f. 105 Ebd. 106 Vgl. Hancock, Larry J.: Shadow Warfare: the History of America’s Undeclared Wars, Berkeley CA: Counterpoint 2014, Kap. 10. 107 Godard in America (TC 00:19:11–00:19:35). 150 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) [Folge von 6 Kaderskizzen] 1. [Kaderskizze: Großaufnahme von 2 Fedayin, Schriftzug] 1968 2. [Kaderskizze: Großaufnahme von 2 Fedayin mit Keffiya, Text rechts] la lutte du peuple palestinien = fait politique révolutionnaire nouveau 3. [Kaderskizze: palästinensische Fahne; Schriftzug:] ANTI-IMPÉRIALISME 4. [Kaderskizze (durchgestrichen): Gruppe von 3 Fedayin mit Keffiya und Gewehren von hinten, vor TV-Bildschirm, darauf Insert:] TV laos 5. [Kaderskizze: Schriftzug] LAOS 6. [Kaderskizze (durchgestrichen): Großaufnahme von Fedayin in Gruppe mit Keffiya und Gewehr] 40 Eine Seite aus dem Skizzenbuch zu ‹Jusqu’à la victoire› (Goodwin/Marcus: Double Feature, S. 56) maoistischen Gruppen auf der ganzen Welt gerne vorgeführt wurde.108 China genoss ungeheure Attraktivität für soziale Bewegungen, denn während der Sow- jet-Kommunismus die Perspektive der Weltrevolution zugunsten der ‹friedlichen Koexistenz› aufgegeben hatte, setzte der Kommunismus in Maos Version immer noch auf weltrevolutionäre Rhetorik.109 Die maoistischen Formeln vom ‹Volks- krieg›, dem ‹bewaffneten Kampf›, dem ‹langdauernden Krieg›, der ‹Volksarmee› und dem ‹spontanen revolutionären Willen der Massen› bestimmten die Wahr- nehmung der beiden Filmemacher, die sich gleichsam in Protagonisten von La chinoise (F 1967) verwandelt hatten. 108 Der Film, der die Generation der Kulturrevolution prägte, ist die Adaption einer Oper, die zum 15. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik aufgeführt wurde. Er erzählt in Liedern und Tänzen mit tausenden Mitwirkenden die Geschichte des Kampfes der chinesischen Kommu- nist*innen gegen Feudalismus, Imperialismus und Bürokratie, vgl. https://archive.org/details/ The_East_is_Red (zugegriffen am 24.4.2017); weiters Kramer, Stefan: Geschichte des chinesischen Films, Stuttgart u. a.: Metzler 1997, Kap. II.3 (zugegriffen am 24.4.2017). 109 Siehe Böke, Henning: Maoismus. China und die Linke  – Bilanz und Perspektive, Stuttgart: Schmetterling 2007; sowie Bourseiller, Christophe: Les maoïstes. La folle histoire des gardes rouges français, Paris: Plon 1996. 151 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 1. [Kaderskizze: leerer Kader; Schriftzug]: Orient Rouge 2. [Kaderskizze (durchgestrichen): zwei Fedayin mit Gewehren] 3. [Kaderskizze: leerer Kader, Schriftzug:] Renault Flins Mai 68 4. [Kaderskizze (durchgestrichen): Gruppe von Fedayin von hinten, vor TV-Bildschirm, Insert:] Flins Mai 68 – [rechts: Kaderskizze undeutlich, Großaufnahme Fedayin] 5. [Kaderskizze: Großaufnahme von zwei Fedayin mit Keffiya von vorn, Schriftzüge in den Gesichtern:] Visage Palestinien – [rechts:] Comment la révolution palestinienne pense et agit de manière nouvelle / l’armée du peuple palestinien est l’expression de la volonté révolutionnaire du peuple paléstinien 6. [Kaderskizze: palästinensische Fahne; Schriftzug von Rot ins Weiß:] LE PEUPLE 41 Eine Seite aus dem Skizzenbuch zu ‹Jusqu’à la victoire› (Goodwin/Marcus: Double Feature, S. 55) Der Film sollte schließlich die Realität der Filmemacher «as french militants, involved in the class struggle in France»110 mit Palästina in einen Zusammenhang bringen. Im Skizzenbuch wird dies wieder durch einen Kader mit dem Schrift- zug «Renault Flins Mai 68» angezeigt (Abb. 41). Im nächsten Kader betrachten palästinensische Fedayin diese Schlagworte auf einem Bildschirm. Hier sollten Aufnahmen von Streiks im Renault-Werk in Flins bei Paris während des Pariser Mai einmontiert werden.111 Die Montage der Sequenzen von ‹PALESTINE ONE› kadriert und rekadriert also unterschiedliche lokale Zusammenhänge: China, wo die Revolution bereits gesiegt habe; Laos, wo eine andere antiimperiale Revolte im Gang ist; und Frankreich, wo mitten im kapitalistischen Zentrum ebenfalls Kämpfe unter ganz anderen Bedingungen stattfinden. Im TV-Monitor finden diese Situationen einen Rahmen, der sie aus ihrer Lokalität herauslöst und auf eine globale Ebene bringt. Umgekehrt hob das Betrachten dieser Bilder den par- tikularen Standpunkt der Zuschauer*innen in einer universalisierenden Perspek- tive auf. 110 Godard in America (TC 00:30:20–00:30:25). 111 Vgl. Godard in America (TC 00:30:30–00:30:47). 152 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) ‹PALESTINE TWO›, der dritte Teil des Films, sollte von der globalen wieder auf die lokale Ebene zoomen und die Originalität der ‹palästinensischen Revolu- tion› in den Blick nehmen, das Novum, das sie in der arabischen Welt darstellte. ‹PALESTINE TWO› sollte zeigen how by thinking their own situation in a new way the Palestinians act to transform themselves so as to carry on with the struggle. It’s how the Pales- tinian revolution is thinking and acting in a new way.112 Eine maoistische Formel hätte auch hier die gesamte filmische Erzählung struk- turiert: Bewaffneter Kampf + politische Arbeit = langandauernder Volkskrieg. The people’s army is the first spontaneous expression of the revolutionary will of the people. This revolutionary will leads to armed struggle. So we speak of armed struggle and after armed struggle we speak of political work, because the armed struggle involves only a few of the people, not the whole people; but if it only involves a few people, it has to spread as political work for the whole peo- ple: the people’s army can only live and continue to go on if there is an effort to develop the revolutionary capacity of the people; that means political work.113 Der Wirkungsbereich des Kinos lag dabei offensichtlich in der politischen Arbeit. Indem es revolutionäres ‹capacity building› leiste, sei das Kino unverzichtbar für die revolutionäre Sache. Denn ohne politische Arbeit sei der bewaffnete Kampf kein Volkskrieg, sondern nur ein rein militärisches Manöver.114 (Ici et ailleurs wird damit beginnen, diesen ersten Entwurf zu zitieren und zu suspendieren; Abb. 42–43). 42 Godard erläutert sein Skizzenbuch: «And 43 Zwischentitel und Footage evozieren 1976 die this revolutionary will leads to armed struggle»; anfängliche Konzeption des Films; Screenshot aus Screenshot aus Godard in America (TC 00:33:31) Ici et ailleurs (TC 00:01:25) 112 D. O. D.: «Till Victory», S. 4. 113 Ebd. 114 Vgl. ebd. 153 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville [Zwei Serien von Kaderskizzen:] [Serie A: Text-Grafik mit Karte Palästinas links, rechts Kalasch- nikow und Pfeile, auf den vier Kadern kommt jeweils ein Pfeil dazu, Schriftinsert:] fédayin en operation [Serie B: Vier palästinensische Protagonist*innen in Großaufnahme, die Kader sind jeweils durchgestrichen] 1. [Kaderskizze: Mann mit Brille; Text rechts:] nouveau visage palestinien (texte docteur) 2. [Kaderskizze: Junge Frau; Text rechts:] nouveau visage palestinien : femme (texte militante) 3. [Kaderskizze: Zwei Kinder; Text rechts:] nouveau visage palestinien : enfants (text Ashbal-Zaharat) 4. [Kaderskizze: Gesicht; Text rechts:] nouveau visage palestinien : milicien (texte milicien, paysan) 44 Eine Seite aus dem Skizzenbuch zu ‹Jusqu’à la victoire› (Goodwin/Marcus: Double Feature, S. 53) Intermittierend montierte Serien von Bildern sollten den Direct Cinema-Cha- rakter der vor Ort gedrehten Aufnahmen auf eine begriffliche Ebene heben: Ein Fedayin geht durch eine Wüste, «and we cut with simple images of what this walk really means – politically.»115 Eine weitere Sequenz sollte kämpfende Einheiten auf dem Weg zu Operationen mit Antworten eines Fedayin auf die Fragen eines poli- tischen Kommissars montieren: «Fedayin, where are you coming from? […] Why do you fight? […] Against whom are you fighting? […] How do you fight? […] How do you organize your everyday life in order to fight the way you have just told us? […] In which way the people’s army is different from a regular army?»116 Im Film sollten Gedichte, Lieder und gesprochene Texte einmontiert werden. Ein Blatt aus dem Skizzenbuch (Abb. 44) sah etwa eine Parallelmontage vor, die ver- schiedene Sprecher*innen (einen Arzt, eine Militante, Kinder, einen Milizionär/ 115 Godard in America (TC 00:41:39–00:41:45). 116 Ebd. (TC 00:42:00–00:42:54). 154 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Bauer) unter der Überschrift «nouveau visage paléstinien» präsentiert, die alter- nierend mit einer aggressiven Wort-Bild-Grafik montiert werden, in welcher eine AK-47 und Pfeile von Osten kommend auf eine schematische Karte Israels zielen: «fedayin en opération». Der Film sollte die überregionale Bedeutung des paläs- tinensischen Kampfes für die arabische Welt herausstreichen. Auf einem wei- teren Skizzenblatt werden Kader mit zwei Fedayin, wechselnd mit Aufnahmen unterschiedlicher Thematik montiert: Ein politischer Aufruhr auf offener Straße, Fedayin mit Gewehren und Keffiahs vor einem Sonnenuntergang, Bohrtürme und Lagertanks mit der Aufschrift ‹Shell›, etc.117 Godard: «In order to make a revolution in the Arab world, there is a Palestinian face and the Arab heart. And it is because of the way the Palestinian face is thinking and acting that the Arab heart will beat in a new way.»118 Die Kader sind mit Namen arabischer Städte markiert, die das Austrahlen des ‹palästinensischen Gesichts› in die arabische Welt anzeigen sollten. Die Sequenz kulminiert in der Losung «Tod dem Imperialismus». Der letzte Teil des Filmes, ‹PALESTINE THREE›, hätte die Zukunftsperspek- tive des nationalen Befreiungskampfes ins Zentrum gestellt, den Sieg am Ende des ‹lang andauernden Volkskriegs›. Der Film hätte die Farbsymbolik des Prologs auf- gegriffen, um zu demonstrieren, dass deren Wahrnehmung durch den Film nach- haltig verändert wurde. In Thanhausers Film erläutert Godard sein Skizzenbuch: «At the beginning, the meaning of the meeting, a popular meeting, can only mean the revolutionary will of the people – just a will, a feeling, a revolutionary feeling – but at the end, after having analysed the armed struggle, after hav- ing analyzed the political work, to see a meeting again, we can call this meeting ‹revolution till victory›.»119 Godard versuchte nachzuweisen, dass es dem Film gelinge, «schöpferisch in die Vorstellungswelt […] einzugreifen», wie Hans Richter es gefordert hatte:120 «Here, at the very beginning the color is just a romantic, poetic expression. And here at the end the same color has a political context, because of what we have seen in the two or three previous sequences, and on this color we are express- ing the political program of Al Fatah – the Seven Points of Al Fatah – which are coming from the real meeting.»121 117 «Dziga Vertov Notebook», Take One 1971, S. 9. 118 Godard in America (TC 00:35:05–00:35:15). 119 Ebd. (TC 00:39:42–00:40:06). 120 Richter: «Der Filmessay. Eine neue Form des Dokumentarfilms», S. 198. 121 Godard in America (TC 00:40:19–00:40:50). 155 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Im 7-Punkte-Programm hatte die Fatah 1969 ihr poli- tisches Ziel definiert: die Befreiung des palästinensi- schen Landes von «zionistischer Kolonisierung»122 und die Gründung «eines unabhängigen, demokra- tischen Staates Palästina, dessen Bürger ohne Anse- hen ihrer Religion gleiche Rechte genießen».123 Das 7-Punkte-Programm formulierte nicht so deutlich wie die Fatah-Verfassung von 1964, worauf dies hin- auslief, nämlich «die Ausrottung der ökonomischen, politischen, militärischen und kulturellen Existenz des Zionismus».124 Die Fatah legte Wert darauf, ihren Antizionismus vom Antisemitismus abzugrenzen: Ihr Kampf richte sich «nicht gegen die Juden als eth- 45 «Fatah – Kampf bis zum Sieg»; Plakat der Fatah, Algerien 1970 nische oder religiöse Gruppe», sondern «gegen Israel als Ausdruck einer Kolonisierung, die auf einem theokratischen, rassistischen und expansionistischen System beruht».125 In ähnli- cher Weise warb ein 1970 in Algerien gedrucktes französischsprachiges Plakat der Fatah für den bewaffneten Kampf gegen den Zionismus (Abb. 45): Die palästinensischen Fedayin kämpfen für die Wiederherstellung des tra- ditionellen Palästina, in dem Muslime, Juden, Christen harmonisch zusam- menlebten. Das Hauptziel der palästinensischen Revolution ist die Schaffung eines demokratischen Staates Palästina ohne Diskrimierung aufgrund von Rasse oder Religion, während der jüdische Staat nicht-jüdische Bürger aus- schließt, Araber, Christen und andere.126 Die grafische Gestaltung dieses Textes nahm das Verschwinden Israels bereits vor- weg. Die französischen Filmemacher übernahmen die Perspektive der Fatah und betrachteten den «Zionismus aus der Perspektive seiner Opfer»,127 wie Edward Said sie später ausformuliert hat. Dass dieses Filmprojekt des Groupe Dziga Ver- tov, dessen Gestalt nun in Umrissen erkennbar ist, nicht verwirklicht wurde, hatte äußere wie innere Gründe, etwa die Abstraktheit seiner Konzepte, die von Beginn an die Wahrnehmung israelisch-palästinensischer Wirklichkeiten filterten. 122 Abdul Hadi, Mahdi F.: Documents on Palestine. Vol. II: 1948–1973. Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs (PASSIA), Jerusalem 2007, S. 327, http://passia.org/media/ filer_public/3f/04/3f04c528-fa5c-40f2-b2be-8eb5cfc08ec7/cd_vol2.pdf (Übers. d. Autors). 123 Ebd., S. 328. 124 Ebd., S. 240. 125 Ebd., S. 327 (Übers. d. Autors); siehe Al-Fatah: La Révolution Palestinienne et les Juifs, Paris: Éditions de Minuit 1970. 126 http://www.palestineposterproject.org/poster/la-résistance-palestinienne (Übers. d. Autors). 127 Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 69. 156 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Transformation eines Blicks Abgesehen von Fragen der Filmästhetik stimmten Godard und Gorin zwischen 1969 und 1972 vollkommen mit den politischen und militärischen Zielen und Strategien der Fatah überein. In einem Artikel für das französischsprachige Bul- letin der Fatah gestand Godard sogar Abstriche vom Marxismus-Leninismus zu: «Die Fatah hat es nicht nötig, marxistisch in ihren Worten zu sein, denn sie ist revolutionär in ihren Taten.»128 In diesem einzigartigen Text übernahm Godard auch die Forderung der Fatah nach der «Ausrottung des Zionismus» und folglich der Zerstörung Israels: Sie [die Fatah, Anm. d. Autors] weiß, dass sich die Ideen beim Marschieren verän- dern. Je länger der Marsch nach Tel-Aviv andauern wird, umso mehr werden sich die Ideen ändern, die es am Ende ermöglichen, den Staat Israel zu zerstören.129 Der Filmhistoriker David Faroult nimmt Godard gegen den Vorwurf des Antise- mitismus in Schutz und argumentiert, dass der Artikel aus dem Juli 1970 einen tak- tischen Hintergrund hatte. Nachdem das Geld der Arabischen Liga erschöpft war, galt es für Godard, der Liga den Ernst seiner politischen Absichten zu beweisen: Das würde erklären, weshalb es für Godard notwendig war, einen Text in der Zeit- schrift der Fatah zu unterzeichnen: Es ging darum, mögliche politische Finanziers davon zu überzeugen, dass zwischen Godard und der Fatah enge Verbindungen bestanden und zu beweisen, dass er auch bereit war, sie öffentlich zu unterstützen.130 Diese Erklärung ist so plausibel wie müßig, machte Godard damals doch keinen Hehl aus seinem militanten Antizionismus: 1969 erklärte er ZDF-Journalisten das Palästina-Projekt und illustrierte die politische Ausrichtung der Gruppe durch eine Karte, die er in die Kamera hielt. Auf dieser sind Davidstern und Haken- kreuz grafisch miteinander amalgamiert, darunter steht zu lesen: «NAZISRAEL» (Abb. 46–47).131 Die Formel setzt die israelische Politik gegenüber den Palästinen- sern mit der NS-Politik gegenüber den Juden gleich, diese erscheint in der Gra- fik als Erbe, gar Fortsetzung des Nationalsozialismus. Godard fordert den Jour- nalisten auf, der Gruppe einen Scheck auszustellen, um damit Waffen zu kaufen, 128 Godard, Jean-Luc: «Manifeste» [El fatah Juli 1970], in: Brenez, Nicole (Hg.): Jean-Luc Godard. Documents, Paris: Centre Pompidou 2006, S. 138–140, hier S. 138 (Übers. d. Autors). 129 Ebd. 130 Faroult: «Du vertovisme du groupe Dziga Vertov. À propos d’un manifeste méconnu et d’un film inachevé (Jusqu’à la victoire)», S. 136 (Übers. d. Autors); siehe auch Faroult, David: Go- dard. Inventions d’un cinéma politique, Paris: Les Prairies ordinaires 2018. 131 Vgl. Godard und die Groupe Dziga Vertov -- Interview (ZDF-Ausschnitt, 2:42 min), https://www.youtube.com/watch?v=GQsvOwq7QFU (zugegriffen am 12.6.2018). 157 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 46–47 Nathalie Biard, Jean-Pierre Gorin, Jean-Luc Godard und ein weiteres Mitglied des Groupe Dziga Vertov; Screenshots aus einem ZDF-Interview, Paris 1969 «um gegen die Zionisten zu kämpfen». Das deutsche Fernsehen sei ja «von den Zionisten subventioniert».132 Godard übte sich in Kollektiv-Rhetorik und riss in Brecht’scher Manier die Kontrolle über die Inszenierung an sich, die anderen Mit- glieder der Gruppe sahen dabei amüsiert zu. Die Szene ist doppelbödig: Handelte es sich bei dem Auftritt um eine künstlerische Aktion an der ‹politischen Front›, ein gelungenes Détournement des TV-Dispositivs, einen bewussten Akt maxi- maler Provokation oder um eine Manifestation von blankem Antisemitismus, «Godards hässlichste[n] Moment»?133 Gorin und Godard berichteten während ihrer US-Tour, dass zwei Drittel des Films in Jordanien bereits gedreht seien und nun ein erster Rohschnitt gemacht werden müsse. Dieser werde dann mit den Gefilmten diskutiert.134 Die beiden wollten damit das Prinzip der «kollektiven Schöpfung» auf eine «Massenbasis»135 stellen. Die Beteiligung von Protagonist*innen diverser palästinensischer Fraktio- nen an der Diskussion des Filmkonzepts war ein schwieriger Prozess. Godard: It was kind of a political struggle, because we went to different organizations. A comrade would go to one organization, and come back and say, ‹We have to do it with these people.› Another would go to al-Fateh and say, ‹No, we have to do it with Fateh, not with the Democratic Front›.136 132 Vgl. Baecque: Godard, S. 531; weiters Krautkrämer, Florian: «80 plus One. Zwei oder drei Pub- likationen aus dem Godard-Jahr 2010 sowie zahlreiche Internetseiten und einige Filme», Zeit- schrift für Medienwissenschaft 2/2012, S. 173–176. 133 Chervel, Thierry: «Jean-Luc Godard und sein hässlichster Moment», Die Welt 24.7.2012, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article108372179/Jean-Luc-Godard-und-sein-ha- esslichster-Moment.html (zugegriffen am 3.5.2017). 134 Vgl. Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean-Luc-Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 19. 135 D. O. D.: «Till Victory», S. 1. 136 Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean-Luc Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 19. 158 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) 48 In der Sprache des Maoismus schienen sich weltweit Kämpfe ineinander übersetzen zu lassen; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:04:53) Elias Sanbar, später Herausgeber der Revue d’études Paléstiniennes137 und Überset- zer von Mahmoud Darwish, war im Februar 1970 über Vermittlung von Mahmoud Hamshari, dem Leiter des Pariser PLO-Büros, als Übersetzer für das Filmprojekt nach Jordanien gereist. In einem Text beschrieb er später seine Erinnerungen an die Arbeit an ‹Jusqu’à la victoire›. Es wird dabei deutlich, dass die dogmatische Haltung der ideologischen Guerrilleros aus Frankreich immer wieder mit den örtlichen Realitäten zusammenprallte. Er erinnert sich, dass mehrere Fedayin (Abb. 48), jeder von ihnen mit einer Keffiya maskiert, vor der Kamera im kleinen Roten Buch lesen mussten. Die kurze und einfache Szene war schnell fertig. Aber kei- ner von uns schenkte ihren Lachkrämpfen hinter den Keffiyas Beachtung.138 Sanbar beschreibt, wie die Filmemacher das Skizzenbuch entwickelten und es als Konstruktionsplan für die Dreharbeiten benutzten: Während des ganzen Weges hatte Godard nicht aufgehört, seine Notizen zu betrachten, Bemerkungen hinzuzufügen und Passagen mit drei Filzstiften in unterschiedlichen Farben anzustreichen. […] Am Beginn hatte ich das Gefühl, dass alles bereits diskutiert, systematisiert, geschrieben und aufgeteilt war, dass also der Film eine Art vorgefertigte Folge von leeren Feldern sei, die man nur methodisch ausfüllen müsse.139 Auch Gorin erinnerte sich später an die komischen Effekte bei der Arbeit mit dem Skizzenbuch, die grundlegende Verständigungsprobleme offenbarten: 137 Die 1981 gegründete Zeitschrift, die in den Éditions de minuit erschien, wurde 2008 eingestellt. 138 Sanbar: «Vingt et un ans après», S. 115 f. (Übers. d. Autors). 139 Ebd., S. 111. 159 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Man zeigte sie den Palästinensern, die sie nicht verstanden. Man verstand nichts auf der Ebene der Sprache. Die Übersetzer übersetzten, wie sie woll- ten, im Allgemeinen mit auswendig gelernten Slogans. Das wurde manchmal komisch, wenn etwa alles, was man uns sagte mit ‹Wir werden kämpfen bis zum Sieg› zusammengefasst wurde, sodass wir am Ende darüber lachten. Es bestätigte auf lächerliche Weise unseren Filmtitel. Für uns ist das ziemlich schnell ein Stummfilm oder eher ein Musical geworden.140 Sanbar beschreibt Godard bei der Arbeit als einen «großartigen Destabilisator».141 Nach der Sichtung von neu gedrehtem Material mit palästinensischen Milizionä- ren veränderte er die Ordnung des Skizzenbuchs immer wieder: Dann begann eine Auseinandersetzung zwischen dem zuvor geschriebenen Text und den gerade gedrehten Bildern. Sie endete meist damit, dass der Text neu geschrieben wurde und dieselbe Szene zum Erstaunen der palästinensi- schen Gesprächspartner neu gedreht werden musste.142 Aus Sicht der Filmemacher sollte sich der Film nicht an die bürgerliche Öffent- lichkeit wenden, sondern den antiimperialistischen Kampf als ideologischen Kampf gegen die Konfiguration der kapitalistischen News-Medien führen: Fatah, for Example, struggles against American Imperialism. But American Imperialism is The New York Times and C. B. S. We fight against the C. B. S.143 Ein Film im Reportagestil, der Talking Heads zu Wort kommen ließ und deren Äuße - rungen mit dokumentarischem Material illustrierte, kam deshalb nicht in Frage: It is not interviewing Habash,144 neither Arafat not Hawatimeh.145 It is not filming the parades, and the cubs as they jump through the fire.146 Deutlich wurden auch die ganz verschiedenen visuellen Gewohnheiten der am Film Beteiligten. Die palästinensischen Fedayin waren im Umgang mit Kameras von Erfahrungen mit internationalen Fernsehjournalist*innen geprägt: 140 Zit. nach Baecque: Godard, S. 470 (Übers. d. Autors). 141 Sanbar: «Vingt et un ans après», S. 112 (Übers. d. Autors). 142 Ebd., S. 111 f. 143 Godard: «The artistic front and the political one», S. 6. 144 George Habash, Führungsfigur der PFLP, Popular Front for the Liberation of Palestine. 145 Nayef Hawatimeh, Führungsfigur der DFLP, Democratic Front for the Liberation of Palestine, die sich Anfang 1969 von der PFLP abspaltete. 146 Godard: «The artistic front and the political one», S. 7. 160 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) So when we arrived, they asked us, ‹Where do you want to go? Do you want to shoot a training camp? An operation? A hospital? Where do you want to go?› I said, ‹Yes, we want to see a training camp, we want to see an operation, but for the moment we don’t know if we are going to build our picture from them. To know, we have to discuss it with you.›147 Viele der Militanten waren jedoch durch die Bilder des Hollywoodkinos geprägt. Godard: If I am less militant than they are on some basis, in the matter of cinema I am more militant – because I was oppressed for fifteen years in the movies, while they were being oppressed in a different way.148 In den Diskussionen tauchten laut Godard neue Bilder und Töne auf: ‹The people’s army has not the radar installations that are technologically perfected but the ten thousand children whose eyes are open.› This is a revo- lutionary picture. Abul Hassan also said: ‹We ought to shoot Assifa’s149 first shell close to the ears of the peasants that they may hear the sound of libera- tion of the land.› This is a revolutionary sound.150 Der Film sollte auch durch die Art seiner Distribution unterschiedliche Kämpfe in Verbindung bringen: Through cinema and television we spread the problems flat over a carpet of meditation. […] Demonstrating the struggle of the Fedayin to other Arabs; show ing women Fatah fighters to their sisters in the Black Panthers who are being chased by the FBI. […] Where can it be shown? This depends upon the situation of the present struggle. It could be shown in a village square in southern Lebanon; we will hang a sheet between two windows and show the movie. It will be shown to the students in Berkeley, to workers on strike in Cordoba or Lyon.151 Armand Marco hatte im Nahen Osten zehn Stunden Rohmaterial von exzellen- ter Qualität gedreht.152 Aber diese Masse an Bildern stellte die Filmemacher An - toine de Baecque zufolge vor massive Probleme: 147 Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America. An Interview with Jean- Luc Godard and Jean-Pierre Gorin», S. 19. 148 Ebd. 149 Der militärische Arm der Fatah. 150 Godard: «The artistic front and the political one», S. 6. 151 Ebd., S. 7. 152 Vgl. Baecque: Godard, S. 470 (Übers. d. Autors). 161 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Selten fand sich der Filmemacher mit so dichtem Material von solcher Quali- tät wieder, trotz der zahlreichen Missverständnisse eines zu genau vorberei- teten Drehs auf unbekanntem Gelände. Zweifellos erklärt die Quantität, die Qualität und der kryptische Charakter dieses gefilmten Materials zum Teil die Schwierigkeit, es in einen Film zu verwandeln.153 In einem Interview im Juli 1970 erläuterte Godard dem Express das Filmprojekt und deutete an, dass sich dessen Fertigstellung verzögern könnte: Dieser Film setzt sich ein doppeltes Ziel: 1) den Leuten, die auf die eine oder andere Weise in ihrem Land gegen den Imperialismus kämpfen, zu helfen; 2) eine neue Gattung von Film zu präsentieren, eine Art politische Broschüre. […] Wir versuchen nicht, Bilder zu zeigen, sondern die Bezüge zwischen den Bildern. Damit wird der Film politisch, denn die Bezüge gehen in Richtung der politi- schen Linie des Vereinigten Kommandos der palästinensischen Revolution. Die Palästinenser befinden sich in einem Zustand des verlängerten Volkskriegs. Es gibt keinen Grund, weshalb sich dieser Film nicht auch Zeit nehmen sollte.154 Im September 1970 nahmen die politischen Ereignisse plötzlich eine dramati- sche Wendung, die das Filmprojekt endgültig in eine Krise führte. Die Situation in Jordanien hatte sich immer weiter zugespitzt. Palästinensische Stimmen wie Ghassan Kanafani forderten den Sturz der haschemitischen Monarchie, um von hier aus den ‹Volkskrieg› gegen Israel zu führen.155 Die angespannte Lage strahlte bis nach Paris aus. Der Godard-Biograf Colin MacCabe berichtet, Godard hätte veranlasst, dass die Tür zum Schneideraum, in dem er mittlerweile auch schlief, durch eine armierte Tür ersetzt wurde.156 Die Situation eskalierte am 16. September 1970, nachdem ein Attentat der PFLP auf König Hussein misslungen war. In der Folge kam es zu schweren Kämp- fen zwischen den PLO-Milizen und der von den USA mit Waffen unterstützten jordanischen Armee. Sechs Tage lang setzte diese massive Kräfte zur Bombar- dierung von Amman ein. Tausende Palästinenser*innen flohen in den Libanon und nach Syrien, die PLO musste ihren Hauptsitz nach Beirut verlegen. Die Situ- ation der Palästinenser*innen hatte sich grundsätzlich verändert. Die Strategie des bewaffneten Volkskrieg zur Befreiung Palästinas war definitiv gescheitert – führungslos und dezimiert, denkt die Befreiungsbewegung nicht mehr an den ‹Sieg›, sondern daran, seine Wunden zu versorgen und sich neu zu bilden.157 153 Ebd. (Übers. d. Autors). 154 Godard: «Godard chez les Feddayin», S. 75 (Übers. d. Autors). 155 Vgl. Baumgarten: Palästina. Befreiung in den Staat, S. 223 f. 156 Vgl. MacCabe: Godard, S. 231. 157 Baecque: Godard, S. 473 (Übers. d. Autors). 162 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Nach Angaben der PLO wurden während des ‹Schwarzen Septembers› etwa 3.500 palästinensische Zivilist*innen und 900 Fedayin getötet, unter ihnen viele von denen, die Godard und Gorin gefilmt hatten.158 Ihre Aufnahmen bekamen jetzt einen gespenstischen Beigeschmack. Was Godard 1962 in einem Film Cocteaus gese- hen hatte, schien sich auf makabre Weise zu bewahrheiten: «Das Kino ist nach der Formulierung Cocteaus (ich glaube in Orphée) die einzige Kunst, die ‹den Tod bei der Arbeit filmt›.»159 Das Massaker der jordanischen Armee entzog dem Filmprojekt seine Basis, der Rohschnitt konnte den Gefilmten nicht mehr gezeigt werden: «‹Bis zum Sieg› hat also seine ersten Zuschauer verloren.»160 Der Film «war von der dra- matischen Geschichte jenes Volkes eingeholt worden, dessen revolutionäres Porträt er zeichnen wollte.»161 Als Chris Marker Godard in diesen Tagen im Schneideraum besuchte, sagte ihm dieser: «The film is in pieces, just like Amman.»162 In Paris war der Konflikt deutlich spürbar: Jean Genet berichtet in seinen Erinnerungen, dass König Hussein in Paris weilte, als seine Truppen das Lager von Baqa umstellten. Auf dem Weg zum Elysée-Palast konnte er auf dem Dach der Oper den mit weißer Farbe gepinselten Schriftzug lesen: ‹PALESTINE VAINCRA› – ‹Palästina wird siegen›. Kein Punkt der Welt schien vor den Terroristen sicher zu sein, und dieses Pariser Opernhaus, in dem Fantomas einst gegeistert war und in dessen Kel- lern das Gespenst der Oper seinen Spuk getrieben hatte, wurde in seinem Dachstuhl von den Fedayin heimgesucht.163 Jean Genet zufolge konnte man aber auch zwanzigmal und mehr in der Umgebung der Oper und anderswo die auf die grauen Wände von Paris gesprühte, unauffällige, fast scheue israelische Ent- gegnung lesen: ‹Israel wird leben›, zwei oder drei Tage nach dem, was ich in meiner Erinnerung noch immer den letzten Ball der Palästinenser von Baqa nenne. Die außerordentliche Wirkung dieser Antwort – und nicht Erwide- rung – zeigte sich in der fast zeitlosen Aussagekraft von wird leben im Ver- gleich zu der begrenzten Aussage von wird siegen. Auf dem sehr einfachen Gebiet der Rhetorik ging Israel […] in der Pariser Halb-Nacht mit seinen heimlich gesprayten Sprüchen außerordentlich weit.164 158 Vgl. Morris: Righteous victims, S. 375. 159 Godard, Jean-Luc: Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Vol. 1: 1950–1984, hg. v. a. Bergala, 2. erw. Aufl., Paris: Cahiers du cinéma 1998, S. 222 (Übers. d. Autors). 160 Baecque: Godard, S. 473 (Übers. d. Autors). 161 Ebd. 162 MacCabe: Godard, S.  243. Über Marker sagte Godard 1970: «We are trying to make a real Marxist-Leninist out of him, and get him to stop working for the French Communist Party. It is very difficult.» Goodwin/Luddy/Wise: «The Dziga Vertov Film Group in America.», S. 23. 163 Genet: Ein verliebter Gefangener, S. 92. 164 Ebd. 163 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Im Juni 1971 wurde Jean-Luc Godard bei einem Motorradunfall schwer ver- letzt, er musste zwei Jahre lang immer wieder im Spital behandelt werden. Dies war für ihn das persönliche Ende von ‹1968› und zunächst auch das Ende der Arbeit am Palästina-Film.165 Die Cutte- rin Christine Aya, die bei dem Unfall auch verletzt wurde, erinnert sich, sie hätte vorher noch am Schnitt von ‹Jus- qu’à la victoire› gearbeitet.166 Im August 1972 titelten die Cahiers du cinéma mit dem Bild eines Fedayin mit einer AK-47: «Ein Bild aus dem (ungeschnittenen) Film des Groupe Dziga Vertov über die Fatah.»167 (Abb. 49) In einer Äußerung 49 Die Cahiers du cinéma titelten 1972 mit einem Jean-Pierre Gorins vom Oktober 1972 Kader aus dem nie fertig gestellten Palästina-Film des Groupe Dziga Vertov; Cahiers du cinéma wird deutlich, wie sehr sich dessen Kon- 248/1972 zeption seit 1970 verändert hatte: Es gibt immer noch den Film über Palästina, der sich sehr verändert hat. Er ist jetzt in seiner dritten oder vierten Fassung, und gerade wird noch eine weitere Version erstellt. Man kann keinen Film mehr über Palästina machen, weil sich die Situation da unten so radikal geändert hat, deshalb wird das ein Film darüber, wie man Geschichte filmt.168 Zum ersten Mal zeichnet sich hier der essayistische Schwenk ab, den Ici et ail- leurs gegenüber ‹Jusqu’à la victoire› vollziehen wird. Zum ersten Mal finden sich hier auch jene historischen Bezüge auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, die in Ici et ailleurs eine so große Rolle spielen werden: Er wird das ganze palästinensische Material enthalten, gemischt mit einem fiktionalen Element, mit TV-Nachrichten und Material über die französische Résistance während des Zweiten Weltkriegs.169 165 Vgl. MacCabe: Godard, S. 232. 166 Vgl. ebd., Anm. S. 413. 167 Cahiers du cinéma no 240/1972 (Übers. d. Autors). 168 Goodwin, Michael u. a.: «Raymond Chandler, Mao Tse-tung and Tout va bien», Take One 3/6/ 1972, S. 24; zit. nach Faroult: «Du vertovisme du groupe Dziga Vertov», S. 136 (Übers. d. Autors). 169 Goodwin u. a.: «Raymond Chandler, Mao Tse-tung and Tout va bien», S. 24, zit. nach Faroult: «Du vertovisme du groupe Dziga Vertov», S. 136. 164 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Schon 1969 hatte sich die Fatah propagandistisch in die Tradition der Résistance gestellt,170 jedoch ging Gorins Idee, deren Geschichte in den Palästina-Film ein- zubeziehen, zweifellos auf ein Ereignis zurück, das am 5. September 1972 – von Kamerateams aus aller Welt live ins Fernsehen übertragen – stattgefunden hatte: Die katastrophal verlaufene Geiselnahme von israelischen Sportlern bei den Olympischen Spielen in München durch ein palästinensisches Terrorkommando namens ‹Schwarzer September›. Das Ereignis betraf die Produktion von ‹Jus- qu’à la victoire› direkt: Zwei Monate später explodierte in Paris das Telefon von Mahmoud Hamshari, jenes Mannes, der Godard und Gorin seinen Freund Elias Sanbar als Übersetzer geschickt hatte. Er starb kurze Zeit später mit 32 Jahren in einem Pariser Spital. Urheber des Anschlags war der israelische Auslandsgeheim- dienst, der Hamshari für einen der Drahtzieher der Münchner Aktion hielt.171 In Godards Filmen gab es eine obsessionelle Thematisierung von Gewalt und Tod. Man denke nur an die penible Darstellung der Folter in Le petit soldat (1960), die Fatalität, mit der Pierrot le fou (1965) auf die Selbstsprengung sei- nes Protagonisten zuläuft oder an die Darstellung verallgemeinerter Gewalt in Weeke nd (1968). Bereits 1950 hatte Godard in einem Artikel mit dem Titel Für ein politisches Kino Georges Sorel,172 den Theoretiker des proletarischen General- streiks und der ‹violence› zitiert, um das NS-Propagandakino zu definieren. Die- ses sei eine Organisation von Bildern, die instinktiv Gefühle hervorzurufen vermö- gen, die den Manifestationen des Kriegs […] gegen die moderne Gesellschaft entsprechen.173 Der damals 20-jährige Godard schrieb weiter: Indem es unentwegt von der Geburt und vom Tod spricht, legt das politische Kino Zeugnis ab vom Fleisch und gibt dem sakralen Wort unzweideutig eine neue Gestalt.174 170 Vgl. Kuenheim, Haug von: «El Fatah – die unheimliche Armee», Die Zeit 11.4.1969. 171 Bald nach den Münchner Ereignissen begannen israelische Geheimdienste Vergeltung zu üben. In seinem Film La liste Golda (F 2000) dokumentierte Emmanuel François die außer- gerichtlichen Exekutionen, die israelische Agenten im Verlauf von zwanzig Jahren durchführ- ten. Auch Steven Spielbergs Munich (USA 2005) basiert auf dieser Geschichte. 172 Siehe Sorel, Georges: Über die Gewalt [1908], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969; weiters Stern- hell, Zeev, Mario Sznaider und Maya Aseri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg: Hamburger Edition 1999. 173 Godard, Jean-Luc: Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950–1970), München: Hanser 1971, S. 14. Im selben Text fand Godard in Rosselinis Germania anno zero (I/D 1947) die «letzten Augenblicke der faschistischen Freude verzeichnet […] im verirrten Lä- cheln eines kleinen Jungen», ebd. 174 Godard: Godard/Kritiker, S. 14. 165 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville War davon nicht auch etwas in seinem ‹politischen Kino› am Werk gewesen? La chinoise kreiste um das Thema der revolutionären Gewalt:175 Die von jungen Mao- ist*innen gebildete ‹Aden Arabie Zelle›176 trifft sich in einer Pariser Wohnung, um die ‹Linie› zu diskutieren. Die Gruppe beschließt ein Attentat auf den sowjetischen Kulturminister. Der Film endet mit einem Gespräch über Gewalt zwischen Anne Wiazemsky und dem Philosophen Francis Jeanson, der 1960 verurteilt worden war, weil er Aktionen des algerischen FLN unterstützt hatte.177 Colin MacCabe: In fact within a long-term perspective Godard’s emphasis on the link between student revolutionaries and violence seems an essential ingredient of La Chi- noise’s strange prescience; the Weathermen in America, the Angry Brigades in Britain, the Baader-Meinhof gang in Germany, and the Red Brigades in Italy all testify to the potential for terrorism within the student movement. In France, however, no significant terrorist group developed, and Godard’s focus on violence appears to be the most personal part of the film.178 Ralph Thanhausers Godard in America endete abrupt mit einer Aussage, die die Ambivalenz der Gewalt-Rhetorik der Epoche auf den Punkt brachte: Godard erklärt den angestrebten Effekt der Montage des Palästina-Films, dass nämlich am Ende des Filmes die Wahrnehmung der Farbe Rot deutlich verändert sei: «At the beginning it was just red, blood – now it means revolution.»179 Dass die revo- lutionäre Gewalt als legitimes Mittel der Politik betrachtet wurde, entsprach dem transgressiven ‹air du temps› der späten 1960er-Jahre, so Jean-Pierre Gorin: Remember the Sixties? The romantization of violence that was in the air? The idea of its legitimacy? Its reactive nature? Naiveté or not, this was the pathos of the times.180 Jetzt, während der Arbeit am Fatah-Film, war den Filmemachern die Gewalt selbst auf den Leib gerückt. In einem ‹lang andauernden Krieg› am Schneide- tisch veränderte sich die Form des Films immer wieder. Als die Übersetzung 175 Zur Frage der Gewalt im Pariser Mai siehe Paas, Dieter: «Frankreich: Der integrierte Linksra- dikalismus», in: Hess, Henner u. a. (Hg.): Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus. Band 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 167–279, hier S. 198–214. 176 Nach Paul Nizans antikolonialem Essay Aden Arabie (1932). Sartre hatte den Text seines Freun- des während des Algerienkrieges 1960 wieder herausgegeben; Nizan, Paul: Aden. Die Wachhunde. Zwei Pamphlete. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Dossier zum Fall ‹Nizan›, Reinbek: Rowohlt 1969. 177 Vgl. MacCabe: Godard, S. 197 f. 178 Ebd., S. 198. 179 Godard in America (TC 00:43:10–00:43:17). Bereits in Weekend hatte es geheißen: «Das ist kein Blut, das ist Rot». 180 Jean-Pierre Gorin, E-Mail an den Autor, 15.5.2005; siehe dazu Arendt, Hannah: Macht und Gewalt [1970], München u. a.: Piper 2015. 166 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) jener Aufnahmen vorlag, die die beiden in Jordanien gedreht hatten, ohne ein Wort Arabisch zu verstehen, erhielten manche nachträglich einen ganz ande- ren Sinn. Elias Sanbar überliefert dafür ein Beispiel: Es geht um eine Sequenz, die drei Wochen vor den Ereignissen des ‹Schwarzen September› gefilmt wurde, der später in Ici et ailleurs zentrale Bedeutung zukommen würde. Zu sehen sind einige Fedayin, die von einer militärischen Operation im Westjordanland zurückgekehrt sind, in deren Verlauf zwei von ihnen getötet wurden.181 Die jun- gen Männer stehen unter Schock, und sind wütend auf den Verantwortlichen der Operation, der bei den Filmemachern geblieben war. Godard, der von all dem nichts wusste, ließ dem Filmkonzept folgend einen der Fedayin Stehsätze über die Bedeutung von Kritik und Selbstkritik in die Kamera sprechen, während die anderen Fedayin im Hintergrund aufgebracht debattierten. Erst zwei Jahre später, «vor dem Schneidetisch im Erdgeschoss eines Hauses in der Avenue de Maine»,182 so Elias Sanbar, ergab sich eine neue Sicht der Dinge, als Godard mit seiner gewohnten Intuition, die Stimme des Mannes, der über Selbstkritik sprach, leiser stellte und stattdessen die Aufzeichnung der Unter- haltung der im Hintergrund sitzenden Kämpfer aufdrehte und mich bat, sie zu übersetzen. ‹Ihr seid so leichtfertig›, sagten diese jungen Fedayin zu ihrem Vorgesetzten, ‹unser Feind ist wild und nimmt die Dinge nicht auf die leichte Schulter [wie ihr]. Dreimal schon haben uns die Aufklärungseinheiten gehei- ßen, den Jordan an der selben Stelle zu überqueren, und dreimal hat uns der Feind dort erwartet, sodass wir dort Brüder verloren haben …› Es folgten Beschimpfungen.183 Sanbar schildert den Eindruck, den diese Entdeckung auf ihn und Godard machte: Wir waren wie betäubt. Er, weil er mich bis jetzt nie gebeten hatte, das zu über- setzen, was diese Männer sagen, und ich fühlte mich schuldig, weil ich – dessen Muttersprache das war – nichts davon verstanden hatte, so sehr hatten mich Theorien und unerschütterliche Überzeugungen mit Taubheit geschlagen.184 Sanbar zufolge begann in diesem Moment die Entstehungsgeschichte von Ici et ailleurs: Ausgehend von dieser Szene, von dieser Entdeckung, baute Godard jene Sequenz von Ici et ailleurs, die für mich die tragischste ist, jene, in der Godard diese Szene zeigt und mit brüchiger Stimme erzählt, wie unsere 181 Vgl. Morris: Righteous victims, S. 367 f. 182 Sanbar: «Vingt et un ans après», S. 116 (Übers. d. Autors). 183 Ebd. 184 Ebd. 167 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Stimmen jene dieser Männer wiederentdeckten, die wir vernahmen, nach- dem wir sie zunichte gemacht hatten.185 Die jungen Männer, die in dieser Einstellung zu sehen sind, kamen kurze Zeit später im Verlauf des ‹Schwarzen Septembers› ums Leben. Colin MacCabe: The filmmakers may have gone to the Middle East, but the soundtrack that they brought with them meant that they were unable to see their own images. The structure of the Dziga Vertov film, with its Maoist emphasis on the peo- ple and the armed struggle, had failed to engage the reality of what had been shot. […] This simple fact of death – a death now evident in the images but rendered invisible by the original soundtrack – is what redeems the images even as it renders the original film null and void.186 Godard meinte später: «We were not listening and we were pretending to shoot what we thought we were hearing.»187 In diesem Moment war auch das Ende des Groupe Dziga Vertov besiegelt. Jean-Luc Godard beendete die kollektivistische Filmar- beit und begab sich in eine dialogische Paar-Konstellation mit Anne-Marie Mié- ville (*1945), in der eine Reihe von essayistischen Filmen entstehen würden. Im Dezember 1973 gründeten die beiden die Firma Sonimage. Sie hatten sich 1971 kennengelernt, als er mit dem Palästina-Film beschäftigt war und sie einen Paläs- tina-Buchladen in Paris leitete.188 Aber auch Jean-Pierre Gorin war noch in die Diskussion des Filmes involviert. In einem Interview meinte er 1974, der Film müsse nun seine eigene Unmöglichkeit reflektieren: We’ve had this film on our back for two years, and it has passed through four or five stages of cutting. One of the interesting things about the film is our impossibility to edit it, but I think we’ve found some kind of creative possibil- ity to reflect on the impossibility of editing the material. We plan to make four or five films each lasting one and one-half hours out of the ten hours material we have. They will be struggling films in the sense that we will honestly speak about the problems we have been facing in trying to film a historical process. […] It will break with the normal militant film made on foreign conflicts.189 185 Ebd. (Übers. d. Autors). 186 MacCabe: Godard, S. 241. 187 Addiego, Walter V.: «Godard’s film not what the PLO had expected», San Francisco Examiner [?] 1976, https://cinefiles.bampfa.berkeley.edu/cinefiles/DocDetail?docId=11405. 188 Grant, Catherine: «Home-Movies: The Curious Cinematic Collaboration of Anne-Marie Mié- ville and Jean-Luc Godard», in: Temple, Michael und Raymond Bellour (Hg.): For ever Godard, London: Black Dog 2007, S. 101. 189 Gorin, Jean-Pierre: «Filmmaking and history. Interview mit Christian Braad Thomsen», Jump Cut 3/1974, S. 17–19, hier S. 17 ff. 168 4.1 Das Filmprojekt ‹Jusqu’à la victoire› des Groupe Dziga Vertov (1969/74) Ein tiefer historischer Wandel machte sich in der Weise bemerkbar, in der Mié- ville und Godard die palästinensischen Aufnahmen einer Revision unterzo- gen und den heute als Ici et ailleurs bekannten Film montierten: Eric Hobs- bawm ortete in den Jahren 1973 bis 1976 das «Ende des Goldenen Zeitalters»190 des fordistischen Wohlfahrtsstaates, des Systems von Bretton Woods und den Beginn eines «Erdrutsches», der alle seit 1945 bestehenden Gewissheiten in Frage stellte. Mit dem Jom-Kippur-Krieg war das Nahostproblem wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Während der ‹Sechs-Tage-Krieg› die israelische Gesellschaft euphorisiert und die martialischen Seiten ihrer Selbstwahrnehmung gestärkt hatte, war der Jom-Kippur-Krieg 1973 ein Schock, der die Verletzbar- keit Israels sichtbar machte. Der Mythos von der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee war zerbrochen und die Argumentation Israels, von aggressiven Feinden umgeben zu sein, hatte sich bestätigt.191 Die darauffolgende Drosselung der Ölzu- fuhr durch die OPEC-Staaten führte zum Ende des ökonomischen Wachstums- modells im ‹Westen› und zum Beginn jener totalisierenden Prozesse, die seit den frühen 1980er-Jahren als ‹Globalisierung› bezeichnet wurden.192 1975 hatten sich auf Einladung von Giscard d’Estaing in Rambouillet zum ersten Mal die Regie- rungschefs der G-7 getroffen, um drohender ‹Unregierbarkeit› und den ‹Grenzen des Wachstums› mit neokonservativen bzw. neoliberalen Rezepten entgegenzu- wirken. Henry Kissinger entwickelte hier die Strategie, das Kartell der OPEC auf- zubrechen, mit weitreichenden Folgen bis in die Gegenwart. Der Schock des Jom- Kippur-Krieges griff in Gestalt des ‹Ölschocks› auf die Industriestaaten über und rückte den Mittleren Osten so deutlich ins Alltagsbewußtsein der Europäer*in- nen wie kein Ereignis zuvor. Ici et ailleurs entstand aus der immer wieder neu ansetzenden Bearbeitung der oben beschriebenen Schlüssel-Sequenz, um die herum der Film sich auskris- tallisierte. Die davon ausgehende retrospektive Neudeutung der Filmarbeit in Jor- danien bildete nun den Inhalt des Films. Die Begegnung mit dem Tod als einem schlechthin irrepräsentablen Realen hatte die Filmemacher in eine Krise geführt. Der Film wird versuchen, diese initiale Erschütterung ästhetisch einzuholen. Die Verschiebung, die Ici et ailleurs – der Film trug ab 1974 diesen Titel, wie es in den ersten Sätzen des Kommentars heißt  – gegenüber ‹Jusqu’à la victoire› vor- nahm, wird in jeder seiner Sequenzen deutlich werden: Der Fokus der Aufmerk- samkeit verschob sich von Palästina nach Grenoble, von einer Montage vor der Aufnahme zu einer Montage nach der Aufnahme, von einer militanten Ästhe- tik hin zu einer essayistischen. Das Scheitern des ersten, antiimperialistischen 190 Vgl. Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, München: dtv 1998, S. 324 f. 191 Vgl. Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, S. 516 f. 192 Vgl. James, Harold: Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München: dtv 1997, S. 7–14. 169 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Filmkonzepts spiegelte epochale Verschiebungen. Mitte der 1970er-Jahre endete das ‹Rote Jahrzehnt› und mit ihm auch Hoffnungen, Leidenschaften und Phan- tasien, die – vermittelt durch Bilder und Worte, Ikonen und Ideologeme – in die globale audiovisuelle Sphäre eingespeist worden waren und dort wild zirkulier- ten. Der erste Song von Patti Smiths Album Easter (1978) arikuliert diesen Bruch. Er war einem Film gewidmet, der nie fertiggestellt wurde.193 Das Pathos des erra- tischen Textes von Till Victory übersetzte die Topoi politischer Militanz in Pop. Krieg und Tod wurden darin zu abstrakten Metaphern in einem ortlosen Imagi- nären, das nicht mehr revolutionär, sondern religiös strukturiert ist: Till Victory / Raise the sky. / We got to fly over the land, over the sea. / Fate unwinds and if we die, souls arise. / God, do not seize me please, till victory. Take arms. Take aim. Be without shame / No one to bow to, to vow to, to blame. / Legions of light, virtuous flight. Ignite, excite. And you will see us coming, V formation, through the sky. / Film survives. Eyes cry. / On the hill, hear us call through a realm of sound. / Oh, oh-oh. Down and down.  / Down and round, oh, down and round.  / Round and round, oh, round and round. Rend the veil and we shall sail. / The nail, the grail: That’s all behind thee. / In deed, in creed, the curve of our speed. / And we believe that we will raise the sky. We got to fly over the land, over the sea. / Fate unwinds and if we die, souls arise. God, do not seize me please, till victory. Victory. Till victory. 193 Vgl. Rosenbaum, Jonathan: «Here, there and down under», Soho Weekly News 18.12.1981. Im Booklet zu Easter wird auf Godard und Wien Bezug genommen: «in vienna (wein [sic!]) there is the area that surrounds and circulates thru the hotel de france. […] here is lantern row where hard bucks lean and strut and pose for the passing of pasolini. here too is the street of stills where bertolucci passes his hand thru the light of the lamp. the lamp throws shadows across the face of a screen. here is the image of jean luc goddard [sic] offering up the celluloid strip as a materialization of the conscience of the last generation of military war. future images flicker. the death of the machine gun. the birth and ascension of the electric guitar.» In Godards Film socialisme (2010) spielte Patti Smith sich selbst. 170 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Essayistische Demontage eines Films Nach der Uraufführung von Ici et ailleurs am 15. September 1976 bemerkte der Philosoph François Châtelet, der Film sei «eine penible und aufwühlende Reflexion, die man wieder und wieder sehen müsste, um ihre ganze Bedeutung zu ermes - sen.»194 Tatsächlich werden in den 53 Minuten, die der Film dauert, so viele audi- tive, visuelle und diskursive Layer gemixt, dass es beim ersten Sehen kaum möglich ist, alle Bedeutungen zu dekodieren, die sich aus seinen komplexen Montagen für Betrachter*innen ergeben können. Im Folgenden wird nicht versucht, die dichte, überdeterminierte Textur des Filmes zu verdoppeln. Die filmische Entwicklung wird in ihrem diachronen Verlauf lediglich grob skizziert, einige zentrale audiovi- suelle Konstellationen, die der Film ausarbeitet, werden exemplarisch analysiert, um die Konturen seiner essayistischen Poetik und Politik deutlich zu machen. Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville befanden sich Mitte der 1970er-Jahre auf einem ähnlichen Weg wie Chris Marker, der in diesen Jahren versuchte, ein fil- misches Resumée zu ziehen, indem er Bilder der Revolte, die er selbst seit den frü- hen 1960er-Jahren aufgenommen hatte, einer kommentierenden Lektüre unter- zog. «Man weiß nie, was man filmt.» Dieses Fazit aus dem Kommentar von Le fond de l’air est rouge (F 1977) teilten Miéville und Godard: In der Nachträg- lichkeit zeigten die palästinensischen Bilder etwas, was im Moment der Aufnahme nicht gesehen werden konnte. Der Nahe Osten war im Film durch die Originalauf- nahmen von 1969/70 präsent, aber auch durch auf Palästina-Israel bezogene Iko- nen und Toponyme sowie aktuelle News-Bilder, deren Schauwert von den Massen- medien affektiv aufgeladen wurde. Gerade durch die Weise, in der Ici et ailleurs mit solchen Ikonen arbeitete, löste der Film teilweise massive Kritik aus. Der Film entstand im kritischen Dialog, den Jean-Luc Godard und Anne- Marie Miéville über die Bilder von 1969/70 miteinander führten. Der essayistische Modus von Ici et ailleurs entstand aus diesem zweiten Blick, aus der Beobach- tung von Beobachtungen, aus einer Reflexion zweiter Ordnung. Während im Fall von ‹Jusqu’à la victoire› die militante Gruppe den sozialen Rahmen der Filmarbeit darstellte, bildete nun das Paar die neue Sozialform des Films.195 Gemeinsam mit Elias Sanbar verbrachten die beiden viele Stunden in einem Übersetzungsstudio der UNESCO, um das Rohmaterial noch einmal zu sichten.196 Unabhängig vonei- nander entwickelten Godard und Miéville Texte und Ideen, 194 Châtelet, François: «Godard rouge et noir», Le Nouvel Observateur 27.9.1976 (Übers. d. Autors). 195 Vgl. Baecque: Godard, S. 865 (Anm. 22). Anne-Marie Miéville erzählte 1978, dass ihr Godard jeden Tag einen Brief schreibe, seit sie sich 1971 kennengelernt hätten. 196 Vgl. ebd., S. 526. 171 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 50 Das Dispositiv des Fernsehens vermittelt das ‹Anderswo› mit dem französischen ‹Hier›; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:00:35) bevor sie die Dialogfragmente zusammensetzen und vereinen; beide zeich- nen ihre Stimmen auf, wie beim Streitgespräch eines Paares. Aber sie lenken das Ganze nicht gemeinsam: Bei den Dreharbeiten spricht Godard und ist aktiv, während Miéville beobachtet und fotografiert.197 Godard und Miéville sind mit ihren eigenen Stimmen im Film präsent. Ihr Gespräch adressiert das Publikum auf indirekte Weise als schweigende Teilnehmer*innen. Ici et ailleurs bricht mit der Idee, in den Zuschauer*innen die Adressat*innen einer ideologischen Anrufung zu sehen, denn die Medien produzierten inzwischen «Millionäre an Bildern der Revolution», wie es im Kommentar des Films einmal heißt. Lautete 1969 die Frage, wie der Kampf der Palästinenser*innen Teil des glo- balen Kampfes gegen den Imperialismus wird, wurde sie 1976 umformuliert: Was sind die historischen und medialen Bedingungen der Möglichkeit, den Kampf der Palästinenser*innen wahrzunehmen? Und was haben diese Bilder vom ‹Anderswo› mit unserem Leben im ‹Hier› zu tun? Der Diskurs des Films stellt die Frage in all- gemeinster Form: Wie kann man ein Bild von sich selbst herstellen, das unabhän- gig von den Verkettungen ist, in die der telematische Kapitalismus die Bilder stellt? Der Film bringt zwei Orte miteinander ins Spiel: ‹Hier› eine französische Fami- lie vor dem Fernseher (Abb. 50), ‹anderswo› die ‹palästinensische Revolution›. Die Schauplätze sind über Medien televisuell verbunden. Der entscheidende ästhe- tische Kunstgriff des Films – die Einführung des französischen Schauplatzes – ging auf Anne-Marie Miéville zurück.198 Nicht laotische Guerrilleros betrachten die Filmbilder aus Palästina, sondern eine französische Arbeiterfamilie. Godard: 197 Ebd., S. 527 (Übers. d. Autors). 198 Vgl. ebd., S. 528. 172 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Man geht mehr davon aus, wo man ist, als von dort, wo man nicht ist. Man sagt also nicht: ‹Ich schaue, was in Portugal los ist›, sondern man nimmt sich wirk- lich die Zeit, um zu sagen: ‹Von hier bin ich ausgegangen und folgendes bringt mir dieses Anderswo oder nimmt es mir, im Hier.› […] Das Anderswo kann sehr gut LIP199 sein oder Portugal,200 Palästina etc. Aber das Hier muss von der Art sein: ‹Meine Frau im Bett mit einem anderen›, ob wahr oder nicht. Hier könnte auch sehr gut ein Drucker sein, der seinen Patron anfleht, seinen Arbeitsplatz zu erhalten. Aber dem müsste sein wahres Anderswo korrespondieren: ‹Welch seltsamer Gebrauch der Zeit für einen Arbeiter, für die Arbeiterklasse Übles zu drucken.› Wenn man das Hier und das Anderswo nicht verbindet, beschränkt man die Bewegung auf ihren Ausgangs- oder Ankunftspunkt.201 Im Film kehrt diese Einstellung immer wieder: Eine Kleinfamilie im kleinbürgerli- chen Wohnzimmer, in geschlechterstereotypen Körperhaltungen vor dem Röhren- bildschirm im Zentrum des Wohnzimmers fixiert, dem ‹Fenster zur Welt›.202 Aus einem Agitprop-Film wurde nun ein kritisches Homemovie, eine Art essayis- tische Sitcom. Ein genauer Blick auf die Mise-en-scène ergibt, dass die Präsenz des ‹Anderswo› nicht nur über televisuelle Bilder, sondern auch Objekte, orientalisierende Teppiche, präsent ist. Irmgard Emmelhainz schreibt über die Funktion dieser Ein- stellung, die die Blickpunkte von ‹Hier› und ‹Anderswo› miteinander multipliziert: The juxtaposition between France and Palestine creates a cartographic cognitive map of Palestine seen from the point of view of ‹France›. The French family is depicted as a domestic gathering watching television in the living room, becoming the allegory of the mediatised social space, the site for the shared sensible, portray- ing the French as a community of viewers constituted by the television screen.203 Der Film will nachdenken über das Fernsehen als soziales Dispositiv, das der tele- visuellen Gemeinschaft beliebige Gestalten des ‹Anderswo› ins ‹Hier› kommu- niziert. Der Film sollte nun nicht mehr die internationalistische Verknüpfung lokaler Schauplätze zu einem weltrevolutionären Netz darstellen, sondern einen 199 In der Uhrenfabrik LIP in Besançon hatten die streikenden Arbeiter*innen 1973/74 die Pro- duktion in Selbstverwaltung übernommen. 200 In Portugal hatte im April 1974 die ‹Nelkenrevolution› gegen die Salazar-Diktatur begonnen. 201 Godard, Jean-Luc: «Faire les films possibles là où on est. Interview mit Yvonne Baby (Le Monde 25.9.1975)», in: Bergala, Alain (Hg.): Godard par Godard. Des années Mao aux années 80, Paris: Flammarion 2007, S. 150–153, hier S. 151 f. (Übers. d. Autors). 202 Diese Szenen wurden im Grenobler Haus des Kameramannes William Lubtchansky gedreht, dessen Töchter auch die Rollen der Kinder spielten; vgl. MacCabe: Godard, S. 414. Godard und Miéville wohnten damals auch in diesem Appartement; vgl. Baecque: Godard, S. 528. 203 Emmelhainz, Irmgard: «From Third Worldism to Empire: Jean-Luc Godard and the Palestine Question», Third Text 23/5/2009, S. 649–656, hier S. 651. 173 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville reflexiven Raum schaffen, in dem über die politische Bedeutung medial ver- mittelter Relationen nachgedacht wer- den könnte: Wir bestehen bei dem Titel Hier und anderswo auf dem Wort und: Der wirkliche Titel des Films ist und, es ist weder hier noch anderswo, es ist Hier UND anderswo: Also eine 51 Digitale Schriftinserts verweisen bereits auf die Ära des Displays; Screenshot aus Ici et bestimmte Bewegung.204 ailleurs (TC 00:03:39) «EN REPENSANT A CELA» (Abb. 51) – «Im Nachdenken darüber». Der Film eröffnet mit der Erinnerung daran, was der erste Film hätte sein sollen. Zu den jordanischen Filmaufnahmen zitieren Godard und Miéville die maoistischen Formeln vom «Willen des Volkes» und dem «bewaffneten Kampf», der addiert mit der «politischen Arbeit» den «lang- andauernden Volkskrieg» ergibt – «bis 52 «Der Tod ist im Film durch einen Fluss von zum Sieg». Der Kommentar formuliert, Bildern repräsentiert»; Screenshot aus Ici et was damals die Singularität dieser Bil- ailleurs (TC 00:08:28) der und Töne auszumachen schien: «Und wir sagten, dass dies das Neue im Nahen Osten sei, fünf Bilder und fünf Töne, die man auf arabischem Boden nie zuvor weder gehört noch gesehen hatte.»205 Godards Kommentar benennt nun die Krise, in die das Projekt geraten ist, diese Bil- der und Töne zu zeigen. Die Dinge hätten sich nicht der Dialektik folgend entwickelt: «Ganz schnell brechen die Widersprüche auf, wie man so sagt, und du mit ihnen.» Der ‹Schwarze September› ist die Chiffre dieses Eklats. Einige Montagesequen- zen von kurzen Einstellungen von 1969/70 werden durch Fotos von Toten unterbro- chen (Abb. 52). Während die selbst gedrehten 16-mm-Aufnahmen farbig leuchten, wirken die vom Monitor abgefilmten Fotos sinister. Mit ihrer blinkenden Signatur gleichen sie kybernetischen Totenmasken: «AMMAN, SEPTEMBER 1970». Diese 204 Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 230. 205 Im Folgenden wird der Text der ersten deutschen TV-Ausstrahlung (WDR3, 17.2.1977) von Hier und anderswo zitiert und durch kursive Setzung als Gesprochenes ausgewiesen. 174 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Exposition macht klar, dass die neue Form des Films in jedem Moment von einem Trauma motiviert ist. Der Film, der ursprünglich auf den in der Zukunft liegenden Sieg zielte, wird zu einem audiovisuellen Grabmal, zur ethischen Geste gegenüber Toten, in deren Schuld die Filmemacher*innen stehen. Serge Daney: Was zurückgehalten, behalten wurde, kann so befreit, rückerstattet werden, selbst wenn es zu spät dazu ist. Die höchste List: man erstattet Bilder und Töne, wie man Ehren erweist – den Toten.206 Mit dem Bezug auf den Tod kehrte in der Filmarbeit Godards die Bazin’sche Bild- auffassung wieder, die das fotografische Bild als ontologische Spur einer Präsenz begriff. Wo die Filmemacher glaubten, Bilder für den kommenden Sieg zu konstru- ieren, hatten sie unwissentlich ‹den Tod bei der Arbeit› (Jean Cocteau) gefilmt. Ihr Filmmaterial bewahrte die gespenstische Spur von Toten, Ici et ailleurs war der Versuch, dieser Tatsache gerecht zu werden. Der Film kreist um einige Fragen, die in immer neuen Konstellationen berührt werden: 1. Wie gebraucht man die Zeit? Die persönliche Zeit und die Zeit der Geschichte zwischen Utopie und Trauma. 2. Wie organisiert man den Raum? Als politisches Territorium und als medial vermittelte Räumlichkeit. 3. Die Frage nach dem Digitalen als einer neuen Form des Kapitalismus, die die dialekti- sche Befreiungsperspektive auf völlig neue Weise zu unterminieren droht. 4. Wie macht man sich ein eigenes Bild? Die ästhetische Frage nach den Möglichkeiten des Kinos und der Kunst, die Wahrnehmung, das Sehen und die Bilder vor der Kolonisierung durch die Kybernetik und das Spektakel zu schützen. Auf einer elektrischen Rechenmaschine werden Jahreszahlen addiert und sub- trahiert, emblematische Markierungen des revolutionären Gedächtnisses: 1789, 1917, 1936, 1968… «Vermutlich hat man deswegen Additionsfehler machen müs- sen, weil man dem Traum immer wieder Hoffnung hinzufügen wollte.» (Abb. 53) Die Montage verschiebt die Arbeit am palästinensischen Gedächtnis ins ‹Hier› der französischen Gegenwart. Zum ersten Mal erscheint als digitales Insert der Titel des Films, «ICI ET AILLEURS». Der Kommentar versucht mit Archivbildern aus dem Pariser Mai, die beiden Orte in Verbindung zu bringen: «Französische Revolution und … und … und … Arabische Revolution». Die geschichtliche Dialek- tik stottert, die Konjunktion schafft keine höhere Synthese mehr. Der Kommen- tar reiht an dieses Begriffspaar weitere, und montiert dazu Bilder von Zeitungsar- tikeln, die das Scheitern der utopischen Hoffnungen von 1968 verzeichnen: «[…] Eingang UND Ausgang, Ordnung UND Unordnung, innen UND außen, schwarz UND weiß, noch UND schon, Traum UND Wirklichkeit, hier ODER anderswo 206 Daney, Serge: «Der Therrorisierte (Die Godard’sche Pädagogik)», in: Ofner, Astrid (Hg.): Jean- Luc Godard. Retrospektive der Viennale 1998 in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum, Wien 1998, S. 72–76, hier S. 75. 175 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville […]» Die Serie hält beim Term «arm ODER reich» inne: «Zu einfach und zu leicht, die Welt einfach in zwei Lager zu teilen. Zu einfach und zu leicht, einfach zu sagen, dass die Reichen im Unrecht sind und die Armen im Recht.» Es folgt eine Montage, die Widersprüch- 53 Auflösung der Dialektik im Digitalen; liches verbindet: Breschnew UND Ni- Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:11:47) xon, die binäre Welt des Kalten Krie- ges. Von einer Straßenszene, in der das Bild zum Fenster wird, schneidet der Film zur Aufnahme einer Schultafel, wodurch das Bild zum Medium einer abstrakten mentalen Operation wird. Die «Godard’sche Pädagogik»207 (Serge Daney) tritt in Aktion, eine Hand führt mit Kreide eine Kalkulation aus, die der Kommentar erklärt (Abb. 54): «Ja, wie funktioniert das Kapital? Viel- 54 Die «Godard’sche Pädagogik» (Daney) in Aktion; Screenshot aus Ici et ailleurs leicht ein wenig so: Ein Armer und eine (TC 00:16:13). Null gleich ein weniger Armer. Ein weni- ger Armer und noch eine Null gleich ein noch weniger Armer. Ein noch weniger Armer und noch eine Null gleich ein Rei- cherer. Ein Reicher und noch eine Null gleich ein noch Reicherer. Ein noch Reiche- rer und noch eine Null gleich ein noch viel Reicherer. So funktioniert das Kapital: In einem gegebenen Moment addiert es. Und es sind lauter Nullen, die es addiert.» Die ‹Dialektik› des Kapitals lässt die historische Entwicklungslogik ins Leere lau- fen. Das binäre Nullsummenspiel des Kapitalismus reduziert alles und jeden auf den Nullgrad der Äquivalenz: «Wir müssen sehen lernen, dass diese Tausende von mir und von Euch, dass wenn es darum geht, zu zahlen, wenn die Stunde der Endabrechnung aller Nie- derlagen und Siege heranrückt, dass wir dann sehr oft in den Arsch gekniffen sind. Wir sind in den Arsch gekniffen, weil wir, ich es nicht sehen wollten, du auch nicht, sie auch nicht und er auch nicht: dass all seine Träume zu einem gegebenen und dann wieder zurückgenommenen Moment repräsentiert sind durch Nullen, die diese Träume multiplizieren. Sehen lernen, nicht lesen lernen.» 207 Daney: «Der Therrorisierte (Die Godard’sche Pädagogik)». 176 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Das visuelle Spiel mit 0 und 1, der Signatur der beginnenden Digitalisierung, mündet in ein bitteres Fazit: «Wir hatten keine Zeit zu sehen, dass in diesem bestimmten Moment, an die- sem bestimmten Ort alle unsere Hoffnungen auf Null reduziert wurden.» Der Diskurs des Films behauptet einen Nullpunkt der Geschichte, eine Erschöp- fung des ‹Prinzips Hoffnung›, und wendet sich der Vergangenheit zu, um die Gründe für das Scheitern im historischen Imaginären zu suchen. Der Film wird zum analytischen Werkzeug der Dekonstruktion. Im Mai 1975, zwei Wochen vor der Fertigstellung von Ici et ailleurs, erläuterte Godard bei einer Pressekonfe- renz in Cannes sein neues Verhältnis zum Kino: Das Kino kann uns nur noch interessieren in dem Maß, wie es uns gelingt, es zu zertrümmern. So wie man einen Atomkern spaltet, beispielsweise oder eine biologische Zelle öffnet, um sie zu untersuchen.208 Ici et ailleurs lässt ikonische Bilder und Töne des 20. Jahrhunderts miteinander kollidieren. Die Videotechnik bot neue Möglichkeiten, Bilder reflexiven Prozedu- ren zu unterziehen und Godards Methode, mit dem Videomixer «den Schnitt gleich in die Inszenierung zu verlagern»209 (Klaus Theweleit), nahm die digitale Bildbear- beitung vorweg. Der Film demonstriert, dass die Kalkulationen mit der Rechenma- schine zwei historische Sequenzen mit unterschiedlichem Resultat ergeben: Wäh- rend man ‹hier› die Oktoberrevolution und die Volksfront addiert und als Ergebnis den Pariser Mai erhält – «1917 + 1936 = 1968» –, führt ‹anderswo› die Addition dieser Zahlen zu einem düsteren Ergeb- nis: «1917 [Balfour-Deklaration; Anm. d. Autors] + 1936 [Arabischer Aufstand] = 1970 [‹Schwarzer September›]».210 Der Film übersetzt diese Kalkulati- onen in Montagen: Die erste Sequenz beginnt mit dem Foto einer vermumm- ten jungen Frau aus dem Mai 1968 (Abb.  55) und stellt es dann in Rela- tion zu Ikonen der Oktoberrevolution, 55 Der Film ‹addiert› aus Bildern von 1917 und 1936 ein Bild vom Mai 1968; Screenshot aus Ici der Volksfront und der Hitler-Barbarei. et ailleurs (TC 00:17:17) 208 Godard, Jean-Luc: «Warum ich hier spreche … [Pressekonferenz bei den Filmfestspielen von Cannes im Mai 1975]», Filmkritik 225 / September 1975, S. 420–429, hier S. 423. 209 Theweleit: Deutschlandfilme – Godard, Hitchcock, Pasolini. Filmdenken & Gewalt, S. 24. 210 Vgl. Emmelhainz, Irmgard: «Before our eyes: Les mots, non les choses. Jean-Luc Godard’s Ici et ailleurs (1970–1974) and Notre musique (2004)», University of Toronto 2009, S. 290 f. 177 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 56–59 Eine audiovisuelle Demonstration: Lenin und die Oktoberrevolution (TC 00:17:21), Léon Blum und die Volksfront (TC 00:17:27), Hitler und der Nationalsozialismus (TC 00:17:37), Lenin und Hitler überblendet (TC 00:17:43); Screenshots aus Ici et ailleurs Eine Montage innerhalb des Bildrahmens demonstriert eine Schnittmenge: Zunächst ist das Bild des grüßenden Lenin sichtbar (Abb.  56). Links oben öff- net sich ein Ausschnitt eines weiteren Bildes: eine emporgestreckte Hand, auf der Tonspur ein Männerchor, die elegische sowjetische Hymne. Der Videomixer öffnet den Bildausschnitt, bis das Bild den gesamten Kader füllt (Abb. 57). Es zeigt Vertre- ter der Volksfrontregierung – ganz links im Bild Léon Blum –, die am 14. Juli 1936 in die Menge winken. Die Montage überlagert nun diese Fotografie von unten her durch ein anderes Bild, ein Foto von Adolf Hitler. Sobald dessen ikonisches Bärt- chen sichtbar ist, wird der sowjetische Chor ausgeblendet. Nach einem Moment der Stille ist die bellende Stimme Hitlers zu hören, der über «unser Werk und unser Wirken» spricht, während die Videomontage das Bild von 1936 wieder auf den kleinen Ausschnitt links oben reduziert. In dieser suggestiven Juxtaposition sieht die winkende Hand so aus, als wäre sie zum ‹Hitlergruß› emporgereckt (Abb. 58). Nachdem Hitler und Lenin in einer Doppelbelichtung erscheinen (Abb. 59), mar- kiert ein blinkendes Schriftinsert den kleinsten gemeinsamen Nenner, in dem die drei Fotos auf unheimliche Weise übereinstimmen: «POPULAIRE». Die Schnitt- menge dieser drei historischen Situationen wird sichtbar: das ‹Populäre›, die noto- rische Rhetorik der Gemeinschaft und des ‹Volkes›. 178 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Was sagt diese Montage? Behauptet sie eine einfache Identität? Will sie sug- gerieren, dass die sozialistische Rede vom ‹Volk› auf dasselbe hinauslief wie die nationalsozialistische? Will sie kritisieren, dass die Gesten der Linken von der Rechten übernommen worden waren? Dass in der Geste des ‹Populären› immer schon ein Element und der Ursprung des Totalitarismus liegt? Nicht um solch kurzschlüssige Aussagen ging es, sondern um eine kritische Revision des politi- schen Imaginären in einem Moment der Niederlage und der Enttäuschung, um die Demontage revolutionärer Mythen und um die Demonstration der Eigen- gesetzlichkeit des Visuellen. Dazu experimentierte der Film mit Ähnlichkeiten, Homologien, Wechselwirkungen und Übergängen zwischen emanzipatorischen und reaktionären Bewegungen. Dies gilt im Besonderen für die zweite Version der Addition von 1917 und 1936, die der Film nun ausführt. Die Montage wird eröffnet mit dem Foto des verstümmelten und verbrannten Körpers eines Palästinensers, das im Verlauf des ‹Schwarzen September› 1970 aufgenommen wurde. Es handelt sich um einen Ausschnitt eines Fotos des Magnum-Fotografen Bruno Barbey, der zwischen Februar 1969 und Februar 1971 eine Fotoreportage über die Palästinenser*in nen machte, die dann mit einem Text von Jean Genet im August 1971 veröffentlicht wurde.211 Dieses Bild wird wieder vom Bild Lenins abgelöst. Während die Sow- jethymne zu hören ist, wird von Lenin zu Hitler geschnitten. In einem schwar- zen Bildausschnitt rechts oben beginnt das Insert «ISRAEL» zu blinken. Als ein Foto von Golda Meir in diesen Bildausschnitt gesetzt wird (Abb. 60), ist wieder ein Ausschnitt aus einer Rede Hitlers zu hören, in der er die Situation der ‹Sude- tendeutschen› in der Tschechoslowakei mit jener der Araber im britischen Man- datsgebiet Palästina verglich: «… anderer Staatsmänner ein zweites Palästina ent- stehen zu lassen.»212 Auch Golda Meirs Hand erinnert nun an eine Hand, die zum ‹Hitlergruß› erhoben ist. Die Montage transformiert diese provozierende Anord- nung im nächsten Moment in eine weitere: Das Bild Hitlers wird von Schwarz- kader ersetzt, auf der Tonebene ist die klagende Stimme eines Kantors zu hören: «Au schwitz ... Majdanek ... Treblinka ...».213 Inzwischen wird das blinkende Schrift- insert «ISRAEL» Buchstabe für Buchstabe in «PALESTINE» umgeschrieben (Abb.  61), worauf wieder Hitler eingeblendet wird. Die Tonspur verstummt in 211 Genet, Jean und Bruno Barbey: «Les palestiniens. Vus par Bruno Barbey, texte de Jean Genet», Zoom. Le magazine de l’image 8.8.1971, S. 72–92, hier S. 76. 212 Rede auf dem Reichsparteitag über die ‹Sudetenkrise› 12.9.1938, zwei Wochen vor dem Ein- marsch in die Tschechoslowakei. 213 Die Worte stammen aus dem jüdischen Gebet El male rachamim. Nach 1945 wurde der mittel- alterliche Text erweitert und zum Gedenken an die Opfer des Holocaust und in Israel auch zum Gedenken an gefallene IDF-Soldat*innen gesungen. Godard und Miéville verwendeten eine Aufnahme des Kantors Shalom Katz, der es 1946 beim 22. Zionistenkongress in Basel vorgetra- gen hat. Auch am Ende von De Sicas Der Garten der Finzi-Contini (I 1970) ist sie zu hören. 179 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 60–63 Audiovisuelle Juxtaposition von Fotos von Adolf Hitler und Golda Meir: Das Insert «ISRAEL» (TC 00:18:29), wird in «PALESTINE» umgeschrieben (TC 00:18:34, 00:18:40), die Montage endet mit einem «Schockbild» (Barthes) aus dem ‹Schwarzen September› (TC 00:18:43); Screenshots aus Ici et ailleurs diesem Moment kurz, während «PALESTINE» blinkt (Abb. 62). Von dieser Kon- stellation bleibt nach dem nächsten Schnitt nur noch das blinkende Insert übrig, auf der Bildebene ist noch einmal Bruno Barbeys Foto des verstümmelten Kör- pers zu sehen (Abb. 63), während nun die Stimme des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish zu hören ist, der eines seiner Gedichte rezitiert. Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir hatte im Juni 1969 mit ihrer Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des palästinensischen Nationalismus die Existenz der Palästinenser überhaupt in Abrede gestellt: There was no such a thing as Palestinians. When was there an independ- ent Palestinian people with a Palestinian State? It was either southern Syria before the First World War and than it was a Palestine including Jordan. It was not as though there was a Palestinian people in Palestine considering itself as a Palestinian people and we came and threw them out and took their country away from them. They did not exist.214 214 Giles, Frank: «Interview mit Golda Meir», Sunday Times 15.6.1969. 180 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 1974 hatte Mustafa Abu-Alis von der Palestinian Cinema Institution pro- duzierter Film They Do Not Exist215 auf diese Erklärungen reagiert und Aufnahmen aus jordanischen Flücht- lingslagern gezeigt. Deren improvi- sierte Behausungen waren deutlich den verlorenen Häusern und Gärten nachempfunden und sollten auf diese Weise Meirs Behauptungen empirisch 64 Godard/Miéville beziehen die Ethik des widersprechen. Holocaust auf das Nahostproblem; Screenshot Godard und Miéville suchen Zu sam- aus Ici et ailleurs (TC 00:44:23) menhänge zwischen der ‹jüdischen› und der ‹palästinensischen Frage›. Zu sehen ist von einem Monitor abgefilmte News-Footage, schwarz eingerahmt. Die Stimme eine Nachrichtensprechers erläutert, was da zu sehen ist: In einer von orientalischen Juden bewohnten Stadt dringt ein vom «Paroxysmus des Zornes» erfüllter Mob in ein Haus ein; die Leichname von vier palästinensi- schen Fedayin werden aus den Fens- 65 Godard sieht im Namen des ‹Muselmann› einen Konvergenzpunkt von jüdischer und tern geworfen; die hysterische Menge palästinensischer Frage; Screenshot aus Ici et ruft ‹Tod den Terroristen!›, die leblosen ailleurs (TC 00:46:12) Körper werden von Männern ins Feuer geworfen und auf der Straße verbrannt (Abb. 64). Ort und Zeit dieser Aufnahmen werden nicht näher identifiziert, die Stimme Anne-Marie Miévilles bezieht ange- sichts dieser Bilder den ethischen Imperativ, der sich aus dem Holocaust ergibt, auf die palästinensischen Toten: «Wenn man diese Bilder sieht, gibt es nur eines zu sagen, gibt es nur einen Ton: [Stimme eines Kantors:] Auschwitz … Majdanek … Treblinka …» Direkt im Anschluss an diese Montage geht es um die andere Seite der Gewalt: Der Kommentar referiert die Ereignisse bei den Olympischen Spielen in Mün- chen im September 1972, während die Stimme eines Sportreporters zu hören ist. Anne-Marie Miéville kommentiert: 215 Vgl. Gertz, Nurith und George Khleifi: «From Bleeding Memories to Fertile Memories. Palesti- nian Cinema in the 1970s», Third Text 20/3/2006, S. 465–474, hier S. 471 f. 181 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville «Ich weiß nicht. Ich bin sicher, man hätte auch etwas anderes machen können. Überleg’ mal! Die Bedingungen, unter denen das damals stattfand: In München, an jenem Tag war die Macht des Imperialismus das Fernsehen und zwei Milliar- den Zuschauer, die ein Programm wollten. Also davon profitieren, dass die ganze Welt zuhört, um zu sagen: ‹Blendet von Zeit zu Zeit dieses Bild ein.› [Bild eines Flüchtlingslagers (Abb. 37)] Und falls das abgelehnt wird, davon profitieren, dass die ganze Welt fern sieht, um zu sagen: ‹Ihr weigert Euch also dieses Bild zum Bei- spiel bei jedem Finale einzublenden. Gut, dann bringen wir die Geiseln um und werden anschließend selber umgebracht. Und sowohl für sie wie für uns finden wir das blödsinnig, für ein Bild zu sterben und wir haben ein wenig Angst.›» Diese Überlegungen schließen an die publizistische Reaktion Jean-Paul Sartres auf das Münchner Attentat an, der sich im Oktober 1972 gegen die Skandalisie- rung der Aktion gewandt und gefordert hatte, «dass man jetzt, sofort, das Problem der Palästinenser lösen muss.»216 Die Sequenz endet mit einem kurz sichtbaren Bild von Überlebenden eines NS-Konzentrationslagers und wendet sich damit den beunruhigenden historischen Konnotationen zu, die die Spiele in München auf- gerufen hatten. Das Bild der befreiten KZ-Häftlinge in gestreiften Anzügen wird dann durch das Bild der französischen Familie vor dem TV-Gerät neu gerahmt. Die sonore Stimme eines Fernsehsprechers nennt die Fakten des Massenmords: «‹Zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden deportiert. Neun Mil- lionen sind umgekommen. Und für sechs Millionen von ihnen bestand ihr ein- ziges Verbrechen darin, Jude zu sein.›» Zum ersten Mal taucht nun im Werk Godards die Figur des ‹Muselmann› auf, jenes jüdischen KZ-Häftlings, der sich im liminalen Bereich zwischen Leben und Tod befindet, dem Primo Levi auf einigen unvergesslichen Seiten von Ist das ein Mensch?217 ein Monument gesetzt hat. Godards Kommentar nimmt in sehr salopper Weise auf diese Lektüre Bezug: «Eins ist mir aufgefallen, weißt du, als ich Bücher über die Konzentrationslager las. Als die Deportierten sich nicht mehr auf den Beinen halten und wirklich zu gar nichts mehr taugten, im allerletzten Stadium des physischen Verfalls also, ab da wurde ein Deportierter ‹Muselmann› genannt.» 216 Sartre, Jean-Paul: «Artikel Sartres in La Cause du peuple – J’accuse, Nr. 29 vom 15. Oktober 1972», in: ds.: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek: Rowohlt 1994, S. 208–210, hier S. 209. 217 Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München: dtv 2006; siehe Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 36–75. Zu einer Kritik an der Ontologisierung dieses Begriffs siehe Oster, Sharon B.: «Impossible Holocaust Metaphors: The Muselmann», Prooftexts: A Journal of Je- wish Literary History 34/3/2014, S. 302–348. 182 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Es folgt eine Montage von Archivbildern von Massengräbern und den Ermorde- ten. Die Stimme Anne-Marie Miévilles verweist dann direkt auf die von einem Monitor abgefilmte Großaufnahme eines Gesichts (Abb. 65): «Dies hier ist ein Jude in einem solchen Zustand, dass er von der SS ‹Musel- mann› genannt wurde.» Godard beschäftigt obsessiv die Idee, dass im Namen des ‹Muselmann› eine Ver- bindung von jüdischer und palästinensischer Geschichte aufzufinden sei – bereits am Beginn des Filmprojekts, als Godard den PLO-Vorsitzenden zum Interview traf. Nachdem Jasser Arafat die Frage nach der Zukunft der palästinensischen Revolu- tion unbeantwortet gelassen hatte, konfrontierte ihn Godard mit seiner Hypothese: I told him that the origin of the Palestinian difficulties had to do with the con- centration camps, and he said ‹No, that’s their story, the Germans and the Jews›, and I said, ‹No, you know that in the camps, when a prisoner was very weak, close to death, they called him Musulman.› And he said: ‹So what?› And I said, ‹You see, they could have called him black or any other name, but no, they said Muslim. And that shows that there’s a relationship, it’s a direct relationship.›218 Zehn Jahre später formulierte Godard diese Idee noch einmal in einem Brief an Elias Sanbar, der in einer von ihm gestalteten Ausgabe der Cahiers du cinéma abgedruckt wurde: Der gegenwärtige Krieg im Mittleren Osten wurde in einem Konzentrations- lager geboren, an jenem Tag, an dem sich ein großer jüdischer Clochard vor dem Sterben von irgendeinem SS’ler auch noch als Muselmann behandeln ließ. Man müsste wirklich das Genie des Bösen sein, um in die Erinnerung an sechs Millionen jüdische Tote die Erinnerung an den Hass auf den Anderen übertra- gen zu können. Aber des anderen Juden diesmal, denn innerhalb von dreißig Jahren traf das jüdische Volk seinen Nächsten, ein anderes jüdisches Volk, an einem ziemlich bestimmten Ort, nicht in Nacht und Nebel, eher in der Sonne, das ihm sagen würde: Ich bin dir ähnlich, ich bin ein Palästinenser.219 Der Bezug zur Epoche des Nationalsozialismus, die im Skizzenbuch von 1969/70 noch keine Rolle gespielt hatte, steht im Zentrum von Ici et ailleurs. Colin MacCabe beschrieb die zentrale Bedeutung, die die Geschichte des Nazismus für die Arbeit von Godard und Miéville nun hatte: 218 Brody: Everything is cinema. The working life of Jean-Luc Godard, S. 252 f. 219 Godard, Jean-Luc: «Lettre integral de Jean-Luc Godard à Élie Sanbar, quelque part en Palestine, le 19 juillet 1977», Cahiers du cinéma n° 300 / Mai 1979, S. 16–19, hier S. 17 f. (Übers. d. Autors); siehe Godard/Ishaghpour: Archäologie des Kinos – Gedächtnis des Jahrhunderts, S. 78. 183 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Hitler and the concentration camps must be at the centre of any politi- cal understanding; they should not be understood as exceptions, but rather as providing the very model of the political processes which con- front us.220 In mehreren Montagen erprobt der Film unterschiedliche Weisen, diesen 66 «Wie hat dieser Ton die Macht ergriffen?»; Zusammenhang herzustellen. Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:32:51) In einer Sequenz, in der der Kom- mentar über die Bedeutung des Tons reflektiert, wird dieser auf der Bild- ebene in der Anzeige eines vu-Meter, einem akustischen Aussteuerungs- messgerät, sichtbar gemacht (Abb. 66). Der Kommentar behauptet, dass wie bei den Bilderketten, in denen ein Bild das vorige verdrängt, auch ein Ton die Macht über alle anderen übernehmen 67 Kurzschluss von Gegenwart und Nazismus; kann. Die Anzeige schlägt beim tosen- Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:34:58) den Beifall während einer Hitler-Rede in den roten Bereich aus: «Es gibt immer einen Moment, einen Punkt in der Zeit … wo ein Ton die Macht über die anderen ergreift … Einen Punkt in der Zeit, wo dieser Ton quasi ver- zweifelt versucht, diese Macht zu konservieren. [Hitlerrede] Wie hat dieser Ton die Macht ergriffen? Er hat die Macht ergriffen, weil er sich in einem gegebenen Moment durch ein Bild hat repräsentieren lassen.» Es folgt eine Montage, die jene mit dem Bild Golda Meirs variiert und mit ihr eine Serie bildet: Auf das Bild Richard Nixons, «das Bild eines Gangsters, der die Mafia repräsentiert», folgt ein Foto von Moshe Dayan, dessen Bild auf der Tonebene mit der Fortsetzung der Hitler-Rede montiert wird, die zuvor zum Bild Golda Meirs zu hören gewesen war – «[Stimme Hitlers] ‹… die armen Araber … Die Deutschen in der Tschecho-Slowakei sind weder wehrlos noch sind sie verlassen› [aufbrausen- der Jubel]». Die Montage collagiert später ein Bild des lachenden Henry Kissinger mit einem pornografischen Foto, dann mit SS-Runen, die zuvor schon typogra- fisch in den Namen «KiSSinger» eingefügt worden waren (Abb. 67). 220 MacCabe: Godard, S. 245. 184 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Zweifellos können diese Montagen als simple Provokationen gelesen wer- den. Produktiver ist es jedoch, Ici et ailleurs auch hier als Essay ernst zu nehmen, als den Versuch, die Media- tisierung von Erfahrung selbst in den Blick zu bekommen. Dazu behandelten Godard und Miéville ihre Bilder wie Chemiker*innen ihre Moleküle oder Brecht seine Schauspieler*innen, mit 68 Arbeit an den Bildern I: Simultane Montage denen er seine Verfremdungseffekte im Raum; Screenshot aus Ici et ailleurs erzielte. Mit Bertolt Brecht, der eine (TC 00:20:47) wichtige Referenz während des Ent- stehungsprozesses des Filmes gewesen war, konnte auch der Übergang von einer militanten zu einer essayistischen Ästhetik argumentiert werden: Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sit- zen. Die Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Prob leme 69 Arbeit an den Bildern II: Ausstellung des tauchen auf und erfordern neue Mit - kinematografischen Dispositivs; Screenshot aus tel. Es verändert sich die Wirklich- Ici et ailleurs (TC 00:20:56) keit; um sie darzustellen, muß die Darstellungsart sich ändern.221 Ici et ailleurs erfand experimen- telle Settings und installative Anord- nungen, in denen die Bildlichkeit der Bilder selbst exponiert werden konnte. Der Film untersucht unterschiedliche Formen der Serialisierung von Bildern und führt etwa die Differenz zwischen einem synchronen Nebeneinander und einem diachronen Nacheinander von 70 Arbeit an den Bildern III: Sukzessive Montage in der Zeit; Screenshot aus Ici et ailleurs Bildern vor. Zunächst affichieren fünf (TC 00:21:20) 221 Brecht, Bertolt: «Volkstümlichkeit und Realismus» [1938], in: ds.: Gesammelte Werke Band 19, Schriften zur Literatur und Kunst 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 322–331, hier S. 327. 185 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Schauspieler*innen Fotografien, und ordnen sie den Losungen des antiimperialis- tischen Kampfes zu: «der Wille des Volkes», «der bewaffnete Kampf», «die politische Arbeit», «der langandauernde Volkskrieg», «bis zum Sieg» (Abb. 68). Diese Sequenz wird dann von einem 16-mm-Projektor, der links im Bild zu sehen ist, auf eine Leinwand projiziert – das kinematografische Dispositiv wird selbst in den Blick gerückt (Abb. 69). Dann folgt kaderfüllend eine zeitlich gestaffelte Montage der- selben Bilder, die zuvor an die Wand gehängt worden waren. Eine weitere Sequenz macht schließlich sichtbar, wie sich das zeitliche Nacheinander der sukzessiven Montage vom Nebeneinander der additiven Montage auf einer Wandfläche unter- scheidet: Ein Bild verdrängt jeweils das vorige, was durch die Schauspieler*in- nen verdeutlicht wird, die als Bildträger*innen vor der Kamera Schlange stehen (Abb. 70). Der Kommentar versucht zu artikulieren, dass im televisuellen Dispo- sitiv die Kategorien des Raumes von der Kategorie der Zeit subsumiert werden: «Insgesamt hat die Zeit den Raum ersetzt und spricht an seiner Stelle – oder viel- leicht … ist es der Raum, der auf den Film in einer anderen Form aufgenommen ist … und der eigentlich überhaupt kein Raum mehr ist, sondern eine Art Übersetzung, eine Art Gefühl, welches man von diesem Raum hat … das heißt: von der Zeit.» Ein Film ist nichts anderes als eine Kette von Bildern, und Raum und Zeit sind darin aneinander gekettet wie zwei Arbeiter am Fließband  – «von denen jeder zugleich die Kopie wie das Original des Andern ist.» Ausgehend von der Metapher des Fließbandes werden die Kategorien von Raum und Zeit nun zu Konzepten erweitert, die die Reformulierung grundlegender Fragen des Politischen erlauben: «Gut, aber wie soll man seine Zeit gebrauchen um seinen Raum auszufüllen? Wie wird der Gebrauch der Zeit organisiert? Wie wird eine Kette organisiert?» Die Nachdenklichkeit von Ici et ailleurs erspürt die Folgen des sich abzeichnen- den Übergangs zur Epoche des Postfordismus: «Die Fabrik vergessen, die Fabrik vergessen», heißt es im Kommentar. War Chaplins Modern Times (USA 1936) den Wahlverwandtschaften von Fließband und Kino in der Epoche des Fordismus auf den Grund gegangen, verzeichnet Ici et ailleurs den Beginn einer Ära, in der nicht mehr die industriellen Produktivkräfte des tayloristischen Fabrikssystems, sondern die kognitiven Produktivkräfte des ‹general intellect› (Karl Marx)222 den Kern der kapitalistischen Produktion ausmachen. Zu diesem Übergang gehörte die Verlagerung des Politischen aus der Fabrik hinaus in die vielfältigen Bereiche der ‹Mikropolitik›: Frauenbewegung, Hausbesetzung, Ökologie, Kommunenbewe- gung, Konsumkritik, Antipädagogik, Antipsychiatrie, Beziehungsarbeit, Sex etc. 222 Siehe Virno, Paolo: Grammatik der Multitude: Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebens- formen. Wien: Turia + Kant 2005. 186 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 71 «Wie soll man sein eigenes Bild finden in der Ordnung oder Unordnung der anderen Bilder?»; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:26:18) Ici et ailleurs arbeitet an einer politischen Bildtheorie, die auf der Höhe die- ses Epochenbruchs wäre. Diese stellt sich auch die Frage, welche Rolle die Bilder- ketten für die Prozesse der Subjektivierung und die Konstruktion des Gedächt- nisses spielen. Wie sind unter diesen Bedingungen überhaupt selbstbestimmte Bilder möglich? Auf der Bildebene wird die Ausarbeitung dieser Fragen durch einen neun-teiligen Splitscreen unterstützt, der nacheinander aktuelle und histo- rische Ikonen zeigt und miteinander variiert (Abb. 71). «Wahrscheinlich besteht eine Kette tatsächlich in der Anordnung von Erinne- rungen. Sie kettet diese nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit so aneinander, dass jeder seinen Platz auf der Kette wiederfindet, d. h. sein eigenes Bild. Ja, wie soll man sein eigenes Bild finden in der Ordnung oder Unordnung der anderen Bilder, in Übereinstimmung oder Widerspruch zu ihnen? Und darum: Wie soll man dann sein eigenes Bild herstellen? […] Ein Bild, das Spuren hinterlässt.» Godards Stimme präsentiert aus dem Off eine Reihe von aufgeladenen Bildern: Israelische Soldaten und eine verschleierte Frau, eine Frau mit Baby, die Erschie- ßung eines Vietkong durch den Polizeischef von Saigon, ein pornografisches Bild. Die Frage der visuellen Selbstbestimmung stellt sich innerhalb einer Dialektik von Ich und Anderem, die von medialen Spiegelungen überlagert wird: «Wenn man den Blick eines anderen verwendet, den man aus Bequemlichkeit ‹mein Mitmensch› nennt und vor dem Blick eines Dritten, der noch nicht da ist, aber bereits repräsentiert wird durch ein Kameraobjektiv, und der Du wer- den wird. […] Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass man sein eigenes Bild mithilfe des Anderen herstellt. Freund oder Feind. Du produzierst Dein Bild, Du produzierst und konsumierst Dein Bild zusammen mit meinem, indem Du mein Bild auf Dein Bild verteilst.» 187 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Die Struktur des fotografischen Dispositivs impliziert dem Kommentar von Ici et ailleurs zufolge in jedem Bild einen fundamentalen Bezug zur Alterität. Der Ort der Betrachter*innen ist ihm im Modus des Futurum exaktum immer schon eingezeichnet: Du wirst mich gesehen haben. Das eigene Bild ist immer schon von einer Verschiebung zum Anderen hin erfasst. Vielleicht ist es diese Alterität, die der unerschöpflichen Lust auf Bilder zu Grunde liegt. Der Film kehrt zum französischen Schauplatz zurück, an dem sich ein ‹Hier› und ein ‹Anderswo› überkreuzen. Die Frau besorgt die Kinderbetreuung, der Mann ist arbeitslos. Die Erwachsenen weichen den Fragen der Kinder aus: «Warum …?» Der Kommentar überträgt dies selbstkritisch auf die eigene Unfä- higkeit, zu hören, was die Palästinenser*innen zu sagen hatten. Fragen nach der Organisation des Alltags, der Zeit und der Arbeit werden in einer Parallelmon- tage von Aufnahmen aus Frankreich und Jordanien verallgemeinert. Bereits vor- her wurden Bilder palästinensischer Kinder beim paramilitärischen Training und Aufnahmen der französischen Familie, die ebendiese Bilder im Fernsehen sieht, parallel montiert. Der Kommentar konstatiert sarkastisch verkehrte Verhältnisse: «Armer Idiot von Revolutionär. Millionär an Bildern der Revolution.» (Abb. 72–73) Die Medientheorie, die Ici et ailleurs enfaltet, behauptet ein System des Visuellen, in das alle Bilder eintreten, und aus dem alle Bilder hervorgehen: «Jedes beliebige alltägliche Bild wird so Teil eines vagen und komplizierten Sys- tems, in dem die ganze Welt ein und aus geht. Die ganze Welt, das ist zuviel für ein Bild. ‹Nein, das ist nicht zuviel›, sagt der internationale Kapitalismus, der seine ganze Macht auf dieser Wahrheit aufbaut.» Die Montage zeigt hier einen Splitscreen mit vier TV-Monitoren. Während auf drei Monitoren eine Nachrichtensendung, ein Testbild und ein Fussballspiel zu sehen sind, blitzen auf dem vierten Monitor jene Ikonen kurz auf, auf die sich der Film bereits früher bezogen hatte. Auf der Tonebene sind Radionachrichten über den 72–73 «Armer Idiot von Revolutionär» (TC 00:20:10), «Millionär an Bildern der Revolution» (TC 00:20:18); Screenshots aus Ici et ailleurs 188 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Nahostkonflikt und die Situation in den Flüchtlingslagern im Libanon zu hören. Als wieder die Familie vor dem Fernseher zu sehen ist, fallen entscheidende Sätze: «Es gibt keine einfachen Bilder mehr, nur einfache Leute, die man zwingen wird, ruhig zu bleiben wie ein Bild. Auf diese Weise wird jeder von uns in sei- nem Innern zu zahlreich … und nicht genügend nach außen, wo wir alle all- mählich verdrängt werden … durch ununterbrochene Ketten von Bildern. Und die einen sind die Sklaven der Anderen … [Korrespondenten-Bericht zum Krieg im Libanon] Wo wir allmählich ersetzt werden durch ununterbrochene Ketten von Bildern. Und die einen sind die Sklaven der anderen. Jedes an sei- nem Platz, wie jeder von uns an seinem Platz in der Kette der Ereignisse, über die wir jede Gewalt verloren haben.» Das den televisuellen Bilderketten ausgelieferte Subjekt wird zum eigentlichen Sujet des Films. Was machen die Bilder mit ihren Betrachter*innen? Der Zuschauer war mit der französischen Revolution zu einer Schlüsselfigur der Moderne gewor- den: Die aufgeklärte Öffentlichkeit hatte einen medialen Raum etabliert, in dem die Bürger mindestens als Zuschauer am Gang der Weltgeschichte in Richtung Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit teilnehmen konnten. In seinem Streit der Fakultäten (1798) behandelte Immanuel Kant die Frage nach dem Optimismus, ob es also für den Glauben an den geschichtlichen Fortschritt einen empirischen Nachweis geben könne. Überraschenderweise erblickte Kant in den Zuschau- ern – nicht in den Revolutionären – die Garanten für einen geschichtsphiloso- phischen Optimismus. Den Beweis für das Fortschreiten in Richtung allgemeiner Emanzipation – Kant sprach von einem «Geschichtszeichen» – fand er nicht in der naheliegenden Tatsache der französischen Revolution, «die Revolution eines geistreichen Volkes», die «gelingen oder scheitern [mag]», sondern in deren en- thus iastischer Wahrnehmung durch ihre Zuschauer: Diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wun- sche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.223 Kants Begründung des weltgeschichtlichen Optimismus in der enthusiastischen Wahrnehmung des Ereignisses der Revolution durch Dritte adelt das mediale Dis- positiv der bürgerlichen Öffentlichkeit zum eigentlichen Feld des geschichtlichen Fortschritts. Moderne Politik fand seither innerhalb einer projektiven medialen Grundstruktur statt. Dies gilt auch für die Traditionslinie des emanzipatorischen 223 Kant: «Der Streit der Fakultäten», S. 358; siehe Lyotard: Der Enthusiasmus. 189 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 74 «Hier und anderswo (Bild und Ton)»; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:37:55) 75 Ein Mädchen deklamiert Mahmoud Darwish in den Ruinen von Karameh; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:38:35) Medienutopismus, vom sowjetischen Revolutionskino bis zum globalisierungs- kritischen Videoaktivismus. Das palästinensische Filmprojekt des Groupe Dziga Vertov stand in dieser Hinsicht in direkter Nachfolge von Entuziasm (SU 1930), jener ersten «Geräusch-Sinfonie»,224 in der Dziga Vertov in ästhetisch avancierter Form Radio und Tonfilm als konstitutive Medien der Sowjetisierung gefeiert hatte. Ici et ailleurs kritisierte die von Kant beschriebene Struktur der Zus chau- er*inn enschaft. Auch die eigene enthusiastische ‹Teilnehmung› an der palästi- nensischen Revolution ‹dem Wunsche nach› erschien nun problematisch. Der Film fand eine Einstellung, die dies zu reflektieren erlaubte: 1969 hatten Gorin und Godard ein Mädchen gefilmt, das in den Ruinen von Karameh mit theatra- lem Gestus und durchdringender Stimme das Gedicht Ich werde widerstehen von 224 Tode, Thomas: Dziga Vertov – Tagebücher, Arbeitshefte, Konstanz: UVK-Medien 2000, S. 91. 190 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Mahmoud Darwish rezitiert (Abb. 75). Ici et ailleurs führte dieses Bild durch eine Montage ein, die bereits beschrieben wurde: Zu sehen ist ein Sony-Verstärker (Abb.  76), während der Kommentar die Kämpfe des ‹Roten Jahrzehnts› aufzählt: Vietnam, Prag, Frankreich, Italien, die chinesische Kulturrevolution, Streiks in Polen, Fol- ter in Spanien, Irland, die Nelkenrevo- 76 Politik als Frage der Akustik; Screenshot aus lution, der Putsch in Chile, «Palestine». Ici et ailleurs (TC 00:38:04) Eine Hand dreht am Regler des Ver- stärkers und blendet jeweils die Internationale kurz ein und wieder aus, bevor schließlich die Aufnahme des deklamierenden Mädchens zu sehen ist: «Und der Ton war derart laut, dass er schließlich die Stimme erstickt hat, die er eigentlich aus dem Bild hatte aufsteigen lassen wollen.» Aus dem Off kommentiert Anne-Marie Miéville, das Kind stehe wie ein Schau- spieler auf einer Bühne, die Theatralität dieser Tableaus von 1969 stamme aus der Zeit der französischen Revolution, aus dem Jahr 1789: «Dieses kleine Mädchen da spielt ganz offensichtlich Theater für die palästi- nensische Revolution. Es ist unschuldig, aber diese Form von Theater ist es viel- leicht nicht ganz so.» Es ist ein falsches, kein selbstbestimmtes Bild: Die fremd anmutende Form im ‹Anderswo› war über subtile Transfers mit der Geschichte im ‹Hier› verbunden. Die Kette der zirkulierenden Bilder gleicht einem unendlichen Möbius’schen Band. Die perspektivische Dialektik des Raumes zwischen ‹Hier› und ‹Anderswo› und die Dialektik der Subjektivität zwischen Ich und Anderem berühren sich auf der Ebene der Bilder. Die Herstellung und Verkettung von Bildern ist deshalb ein gleichermaßen ästhetischer wie politischer Prozess, in dem es immer um die Bearbeitung von räumlicher und subjektiver Alterität geht. Colin MacCabe: The reason we cannot understand the ‹elsewhere› of Palestine is because we do not understand the ‹here› of France. But to understand our ‹here› in France, we must understand how others always constitute our ‹elsewhere›. And to understand this we must understand what it is to put images together, we must find our place in the chain of images; only then may we find an answer to the question of how we might make our own image.225 225 MacCabe: Godard, S. 245. 191 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 77–78 Utopie der freien Rede: Eine junge Frau spricht die Sprache eines anderen (TC 00:41:40), ein Mann spricht «im Namen des Volkes» (TC 00:42:14); Screenshots aus Ici et ailleurs Anne-Marie Miévilles Blick ist besonders produktiv, indem er die militanten Bil- der von 1969/70 einer feministischen Relektüre und Kritik unterzieht. Sie kom- mentiert blinde Flecken, Auslassungen, Fälschungen und Abweichungen vom vor- gefertigten Schema. Bei der diktierten Rede einer jungen Frau benennt sie deren Unbehagen angesichts von Worten, die nicht ihre eigenen sind (Abb. 77). Mié- ville fragt, was sie wohl von sich aus gesagt hätte, und in welcher Form. Die Kritik an autoritären Kommunikationsverhältnissen wird dann auf die Aufnahme einer Versammlung bezogen, bei der ein Sprecher die «Stimme des Volkes» mit seinem Mikrofon vereinnahmt (Abb. 78). Die Kritik zielt auf patriarchale Dominanz und auf das Verhältnis der Stellvertretung, der Repräsention überhaupt. Im Libanon hatte Godard eine schwangere Frau gefilmt, die einen Text spricht, in dem sie ihr Kind der Sache der palästinensischen Revolution «widmet». Godard hatte für die Szene eine hübsche junge Frau ausgesucht, die gar nicht schwanger war. Ici et ailleurs verrät, wie Godard in die Inszenierung eingegriffen und die Performance der Frau gesteuert hat. Miévilles Kommentar kritisiert Godard: «Man sieht immer nur den, der vor der Kamera steht und nie den dahinter. Man sieht nie denjenigen, der kommandiert und die Befehle gibt. Und noch etwas, was nicht stimmt: Du hast Dir für diese Aufnahme eine Intellektuelle ausgesucht und sie ist auch nicht schwanger, war nur damit einverstanden, diese Rolle zu spielen und außerdem ist sie auch noch jung und schön. Über all das verlierst Du nicht ein Wort. Aber von dieser Art von Geheimnis bis hin zum Faschismus ist es nicht weit.» Wer darf sprechen? Wer spricht in wessen Namen? Wer darf in wessen Namen sprechen? Welche Machtverhältnisse etabliert ein soziales, ein filmisches Disposi- tiv? Es sind diese Fragen neuen Typs, die von minoritären, feministischen, antiras- sistischen, mikropolitischen Akteur*innen gestellt werden, die auch der essayisti- schen Methode von Ici et ailleurs zugrunde liegen. Der Film kehrt an seinem 192 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Ende zu den Bildern zurück, von denen er seinen Ausgang genommen hatte, die Bilder jener Gruppe von Fedayin, die von einer militärischen Operation zurückge- kehrt sind, bei der einige von ihnen umgekommen sind. Die Kamera filmt sie im Kreis am Boden sitzend und debattierend (Abb. 79). Die Szene hätte den Zusam- menhang von Theorie und Praxis zeigen sollen, nun fragt Miéville: «Was sagen denn diese Fedayin? Sie sprechen gerade über ihre Bindung zur Erde und gebrauchen dazu das Beispiel eines Grabens. Wörtlich sagen sie: ‹Wir graben einen Graben in unsere Erde und lieben sie umso mehr›. Also rede nicht von ‹Praxis› und ‹Theorie›. Sie haben gesagt: Aus Liebe mit ihrer Erde schlafen. Also sag’ ‹Liebe› und sag’ ‹schlafen›.» Godard und Miéville führen noch einmal einen Dialog über diese entscheidende Szene. Godard betrachtet das Bild zuerst im Modus des Futurum exaktum: «Ja, ich erinnere mich. Als wir das gedreht hatten, das war drei Monate vor den Septembermassakern, das war im Juni 1970, und drei Monate später wird diese ganze kleine Gruppe tot sein. Und was wirklich tragisch ist, dass sie da über ihren eigenen Tod reden. Und das hat niemand gesagt.» Anne-Marie Miéville: «Nein, weil es an Dir gelegen hätte, das zu tun. Und tragisch ist, dass Du es nicht getan hast.» Jean-Luc Godard antwortet darauf nicht direkt: «Das ist wahr, selbst die Ruhe konnten wir uns nie in Ruhe anhören. Immer wollten wir sofort schon ‹Sieg› schreien – und dazu noch an ihrer Stelle.» Anne-Marie Miéville: «Wenn wir an ihrer Stelle Revolution hätten machen wollen, dann hätten wir vielleicht zu jener Zeit gar nicht wirklich Lust gehabt, sie da zu machen, wo wir sind, das heißt vielmehr da, wo wir nicht sind.» Godard und Miéville dekonstruieren die projektive Struktur der eigenen «Teilneh- mung» an der palästinensischen Revolution «dem Wunsche nach» (Kant). Die folgende Übersetzung des Gesprächs der jungen Fedayin macht klar, dass die Strategie des bewaffneten Kampfs angesichts der Kräfteverhältnisse reine Rhetorik gewesen war,226 und dass sich die Fedayin dessen auch bewusst gewesen waren. Ici et ailleurs doku- 226 Artikel 9 der Nationalcharta der PLO von 1968 lautete: «Der bewaffnete Kampf ist die einzige Weg zur Befreiung Palästinas …»; vgl. Baumgarten: Palästina. Befreiung in den Staat, S. 218. 193 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville mentiert, dass sie angesichts ihrer mili- tärischen Unterlegenheit auch Selbst- mord-Aktionen in Erwägung zogen: [Sprecher 1] «‹Glaubst Du, dass wir genügend Informationen haben über die israelischen Stellungen, um Ope- rationen mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen? [Sprecher 2] ‹Nein, wir haben nicht genügend Informati- 79 « … und drei Monate später wird diese ganze onen.› [Sprecher 1] ‹Könnt ihr gegen kleine Gruppe tot sein»; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:47:42) eine wichtige Stellung des Feindes ein Selbstmordkommando durchführen?› [Sprecher 2] ‹Ja, wir sind einverstan- den. Natürlich.›» Dieses Gespräch überrascht 1970, wur- de der eigene Tod bei bewaffneten Akti- onen doch erst später, vor allem in der ‹Al-Aqsa Intifada› bewusst eingeplant.227 Der Diskurs des Films geht darauf nicht weiter ein. An der Leerstelle des eige- 80 Jenseits der Bilder das Anderswo der Alterität; nen Enthusiasmus taucht der Andere Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:52:28) in seiner uneinholbaren Alterität auf (Abb. 80). Anne-Marie Miéville: «Aber wie kommt es, dass wir unfähig waren, diese ganz einfachen Bilder zu sehen und zu hören. Und dass wir, wie alle anderen auch, ganz andere Sachen über sie sagten, als die, die sie ausdrückten. Zweifellos können wir weder sehen noch hören oder der Ton ist zu laut und verdeckt die Wirklichkeit. Hier sehen ler- nen, um anderswo zu hören. Lernen, sich gegenseitig anzuhören, um zu sehen, was die Anderen machen – die Anderen, dieses Anderswo zu unserem Hier.» Diese letzte Wendung des Films in Richtung des ethischen Anderen wird vom Bild eines Monitors begleitet, der nur noch weißes Rauschen zeigt. Die Kette der Bilder ist unterbrochen, das Dispositiv befindet sich im Leerlauf. Nur jenseits der Medien ist die Wahrnehmung des Anderen und Dialog als reziproke Rede und Antwort möglich. Ici et ailleurs verwirft damit die eigene Medienutopie und stimmt in Jean Baudrillards Requiem für die Medien ein. Baudrillard hatte 227 Vgl. Sayigh: Armed struggle and the search for state, S. 339 ff.; Croitoru, Joseph: Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats, München/Wien: Hanser 2003. 194 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville diese 1972 als ein umfassendes System der sozialen Kontrolle beschrieben, das «die Antwort für immer untersagt» und «jeden Tauschprozess verunmöglicht».228 Dem linken Medienutopismus erteilte er eine pauschale Abfuhr: Es ist also eine strategische Illusion, an eine kritische Ver-Wendung der Medien zu glauben. Eine derartige Rede ist heute nur durch die Destruk- tion der Medien als solcher möglich, durch ihre Destruktion als System der Nicht-Kommunikation.229 Ici et ailleurs verabschiedet die ideologiekritische Praxis von 1969/70 als selbst ideologisch, an dessen Stelle tritt das provisorische Programm einer Pädagogik des Sehens und Hörens (Abb. 74). Sollte 1969 der Antiimperialismus auf das Kino angewandt werden, wurde 1976 das Kino auf den Antiimperialismus angewandt. Der Film demonstriert das Scheitern militanter Diskurse und mündet in eine Begegnung mit dem Anderen, jenem «Anderswo zu unserem Hier».230 Sein Weg führte von Althussers Ideologietheorie zu einer Neuformulierung der palästinen- sischen Frage im Zeichen der Lévinas’schen Alterität. Mikropolitiken eines Essayfilms Kurz bevor Ici et ailleurs ins Kino kam, deuteten zwei disparate Ereignisse auf einen Epochenbruch hin: Zwei Wochen zuvor waren die Sex Pistols erstmals in Paris aufgetreten,231 nur eine Woche zuvor, am 9. September 1976, war in China der ‹Große Vorsitzende› gestorben.232 Die französische Presse war angesichts des Films tief gespalten: Ablehnende Kritiken sahen eine «Explosion des Hasses»233 seitens Godards, «der die Juden den Nazis angleicht.»234 Der Karikaturist des Nou- 228 Baudrillard, Jean: «Requiem für die Medien» [1972], in: ds.: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve 1978, S. 83–118, hier S. 91; siehe Stephan, Gregory: «Die Wörter und die Dinger. Requiem für das Entfremdungskino», in: Buchmann, Sabeth, Helmut Draxler und Stephan Geene (Hg.): Film – Avantgarde – Biopolitik, Wien: Schlebrügge 2009, S. 264–279. 229 Ebd., S. 101. 230 Für eine Lektüre des Films in Lévinas’scher Perspektive siehe Drabinski, John: «Separation, Difference, and Time in Godard’s Ici et ailleurs», Substance: A Review of Theory & Literary Criticism 37/1/2008, S. 148–158. 231 Vgl. https://www.sexpistolsofficial.com/gig-archive-1975–2008/ (zugegriffen am 20.5.2019); siehe dazu Marcus, Greil: Lipstick traces: von Dada bis Punk – eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Reinbek: Rowohlt 1996. 232 Maos Begräbnis war eines der ersten Ereignisse, das vom chinesischen Staatsfernsehen live übertragen wurde. 1971 kam in China ein Fernsehgerät auf 4.000 Einwohner (in Frankreich 1:4). Die Menschen sahen kollektiv fern in der Fabrik, in Kasernen, in Gemeindesälen und Schulen; vgl. Didi, Franklin: «La TV selon Mao», Tele7Jours (1976), S. 92–93. 233 Chapier, Henry: «Le film de Godard à moitié retiré de l’affiche … Un fascisme chasse l’autre», Quotidien de Paris 20.9.1976 (Übers. d. Autors). 234 Ebd. 195 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville vel Observateur stellte Godard als Fedayin mit Keffiah und einer 16-mm-Kamera dar, die wie eine AK-47 aussah (Abb. 81). Die Karika- tur ironisierte den Guerrillero-Habitus von 1969/70, der in Ici et ailleurs durchaus nicht mehr maßgeblich war. Am Abend der Uraufführung von Ici et ailleurs im Pariser Kino ‹Quintette› wurde ein Paket mit einer selbstgebastelten Bombe und der Aufschrift «Verteidigung für die Juden»235 gefunden. Auch später kam es zu Stö- rungen von Aufführungen des Films.236 Seit Beginn des Jahres hatte es immer wieder solche Aktionen gegen Filme in Pariser Kinos gege- 81 Karikatur von JLG, Nouvel Obser­ ben, etwa Pasolinis Salò o le 120 giornate vateur 27.9.1976 di Sodoma (I 1975), Nikos Papatakis’ Gloria Mundi (F 1976) und Jean Rouchs Chantons sous l’occupation (F 1976) – durchwegs Filme, die die bürgerliche Gesellschaft mit ästhetisch extremen Mitteln kritisierten. Zu dem Anschlag bekannte sich nie- mand, vermutlich kamen die Täter aus dem Umfeld des Bétar, einer rechtsex- tremen zionistischen Jugendorganisation. Als der Film im ‹Quintette› abgesetzt wurde, bezeichnete Fabien Roland-Lévy, der Filmkritiker der Libération, dies als «Zensur durch Angst»237 und hielt Ici et ailleurs zugute, es sei ein Film, den man mehrmals lesen und hören muss. Er versucht um jeden Preis, nicht zu lügen, er serviert dem Auge keine Speisen aus der Küche des Realen.238 Eine andere Kritik verglich das Sehen des Films mit einer «séance d’électrochoc»,239 einer ‹Elektroschockbehandlung›. Der Philosoph François Châtelet sprach von einem «entscheidenden Moment in der Geschichte des Kinos»,240 denn der Film beweise, «dass es möglich ist, über den Lärm und den Furor der Welt in Bildern nachzudenken.»241 235 «Censure par la peur», Libération 17.9.1976. 236 Am 12.10.1976 störten Aktivisten der Gruppe ‹Talion› eine Vorführung im Kino ‹14 Juillet›. Dessen Leiter Marin Karmitz organisierte am 20.10.1976 eine öffentliche Debatte mit Godard. Seine Anzeige gegen die Täter blieb ohne Folgen; vgl. Baecque: Godard, S. 530. 237 «Censure par la peur», Libération 17.9.1976. 238 Roland-Lévy, Fabien: «Ici et ailleurs», Libération 5.1.1976 (Übers. d. Autors). 239 «Ici et ailleurs», Le Point 27.9.1976 (Übers. d. Autors). 240 Châtelet: «Godard rouge et noir» (Übers. d. Autors). 241 Ebd. 196 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Von 1969 an war die Frage offen geblieben, ob der Film ein reiner Propa- gandafilm werden würde oder ein Film, der auch von der Linie der PLO abweicht und Kritik äußert. Mit Ici et ailleurs war die Entscheidung gefallen. Die einst- maligen Auftraggeber des Films waren nicht ‹amused›:242 Die Arabische Liga und die Fatah hatten von Jean-Luc Godard einen Film erwartet, «der der Welt mitteilt, dass die Palästinenser unglücklich sind, und dass die PLO recht hat»,243 berichtet Jean-Henri Roger, zeitweiliges Mitglied des Groupe Dziga Vertov. Godard selbst erzählte von negativen Reaktionen der Fatah. Diese hätte ihn 1969 beauftragt, to ‹make an anti-Exodus› and counter any supposed pro-Israel feelings that might have resulted from the release of that movie.244 Die Palästinenser, die den Film gesehen hätten, seien jetzt «very angry about it», obwohl ihm nie jemand erklärt hätte, weshalb. Er selbst halte den Film für «not a very good picture.» Aber: «It’s good to have done it.» Guy Braucourt verteidigte den Film in seiner Rezension gegen Kritik von links:245 Was die stärker politisierten Gemüter angeht, […] so verzeihen [sie] ihm vor allem nicht, aus dem Problem der Palästinenser keinen militanten Film gemacht zu haben, sondern einen Film, der in Frage stellt, Zweifel äußert. Aber wie kann man an der Tatsache vorbeigehen, daß der Godard von 1976 sich gerade die Aufgabe gestellt hat, durch seine Zweifel seine eigene Infra- gestellung, seinen Skeptizismus und seine Konfusion zu filmen, die auch die unsere, diejenige unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise ist?246 Braucourt hielt dem Film zugute, dass er sich denselben Problemen stellte, die bereits Loin du Vietnam beschäftigt hatten: Ja, wir sind alle fern von Palästina wie wir einst fern von Vietnam waren, selbst wenn dieses Palästina in unserer alltäglichen Gegenwart präsent ist in Form von Bildern, Zeichen, Ideen, Leidenschaften, die uns aufgenötigt werden und häufig pauschal sind […]. Er wagt es zuzugeben, daß er nur ein Intellektueller ist, auch unterworfen der Manipulation durch Worte und Bilder. Er wagt es, und das verärgert: alle Welt, die Ästheten ebenso wie die sogenannten Revolutionäre. Was beweist, dass er allein jung, dynamisch, voller Spannkraft geblieben ist, dass er Fortschritte macht, indem er uns unaufhörlich, unermüdlich auf positive Weise provoziert.247 242 Vgl. Addiego: «Godard’s film not what the PLO had expected». 243 Baecque: Godard, S. 473 (Übers. d. Autors). 244 Addiego: «Godard’s film not what the PLO had expected» (ebenso die Zitate im nächsten Absatz). 245 Vgl. etwa Hennebelle: La Palestine et le cinéma, S. 178. 246 Braucourt, Guy: «Ici et ailleurs et Six fois deux», Écran 51/1976, S. 56–57 (Übers. d. Autors). 247 Ebd. 197 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Braucourts Filmkritik ist insofern typisch, als sie den entscheidenden Beitrag der Regisseurin Anne-Marie Miéville unterschlägt. Die femi- nistische Wende dieses im Dialog entstande- nen Filmes ging in der Rezeption immer wie- der im großen Namen Godards verloren.248 Auch das Werbeplakat des Filmverleihs MK2 machte den Blickwechsel deutlich, der seit 1969 stattgefunden hatte (Abb. 82). Der handgeschriebene Filmtitel wurde mit zwei Zeitschriftencovers vom Juli 1976 kombi- niert. Auf beiden Zeitschriften werden ähn- liche visuelle Elemente kombiniert, Bilder junger Frauen und Symbole palästinensi- scher Militanz. Auf dem Cover von ‹Pales- tine›, dem französischsprachigen Informa- 82 Filmplakat des Filmverleihs MK2 zu Ici tionsbulletin der PLO, verkörpern sie den et ailleurs, 1976 Kampf anderswo, dieselben Symbole auf dem Cover eines französischen Revolver- blatts versprechen, die ‹Geheimnisse des Harems von Istanbul› zu lüften. Dabei werden sie ihres revolutionären Inhalts buchstäblich entkleidet und zu leeren Ele- menten eines Radical Chic. Das politisch aufgeladene Kopftuch Keffiah249 wird Teil einer orientalistischen und sexistischen Montage. Das Plakat stellt wie der Film zwei Serien von Bildern nebeneinander: hier der Kapitalismus, anderswo der anti-imperialistische Kampf. Mit dem Blick von Ici et ailleurs wirkt aber auch der Gebrauch militanter Symbole auf dem PLO-Cover, das propagandistisch die ‹Intensivierung des bewaffneten Kampfes› als ‹Antwort auf alle Komplotte› fordert, exploitativ. Denn wer spricht hier für die zum Bild gemachten Frauen? Was sagen sie selbst? Wie der Film verweist auch die Montage des Plakats auf die Funktion des ‹UND›, auf den Zwischenraum zwischen den Bildern. Der Film kam in einem aufgeladenen Moment ins Kino: Ein halbes Jahr vor der Uraufführung am 11. April 1976 war Hani Jawharieh in einer militärischen Auseinandersetzung, die er mit seiner Kamera filmen wollte, umgekommen. Damit war der Mann gestorben, der Godard im November 1969 die Anfrage der Fatah übermittelt hatte, und der das militante palästinensische Kino in den 248 Siehe Miéville, Anne-Marie: Images en parole, Tours/Paris: Farrago / L. Scheer 2002; weiters Grant: «Home-Movies: The Curious Cinematic Collaboration of Anne-Marie Miéville and Jean-Luc Godard»; sowie White, Jerry: Two Bicycles: The Work of Jean-Luc Godard and Anne- Marie Miéville, Wilfrid Laurier University Press 2013. 249 Siehe Renfro, Evan: «Stitched together, torn apart: The keffiyeh as cultural guide», International Journal of Cultural Studies 21/6/2018, S. 571–586. 198 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville frühen 1970er-Jahren verkörpert hatte.250 Dass die Kamera eine Waffe sei, bewahrheitete sich in seinem Fall auf gänzlich unmetaphorische Weise. Die PLO und die ihr angeschlossene Palestinian Cinema Institution inszenierten einen regelrechten Personenkult um Jawharieh, der auf Plakaten und in Zeitschriften als ‹Mili- tant Cinema Martyr› firmierte (Abb. 83).251 Im Sommer 1976 hatten IDF-Soldaten und Agenten des Mossad vor den Augen der televi- suellen Weltöffentlichkeit die israelischen Pas- sagier*innen einer nach Uganda entführten Air- France-Maschine befreit. Dass sich unter den Flugzeugpiraten neben Mitgliedern der PFLP auch Deutsche befanden, die jüdische und nicht-jüdische Passagier*innen voneinan- 83 «Hani Jawharieh – Märtyrer der trennten, hatte beunruhigende historische des militianten Kinos»; Plakat der Assoziationen ausgelöst. Der Erfolg der israeli- Palestinian Cinema Institution, 1976 schen ‹Operation Entebbe› antwortete auf das kollektive Trauma, das der Jom-Kippur-Krieg 1973 in der israelischen Gesell- schaft verursacht hatte. Hillel Tryster: Die Operation von Entebbe konnte diese Gefühle vielleicht deshalb hervor- rufen, weil sie im Maßstab von etwa 60.000:1 vorgeführt hat, was hätte sein können, wenn es schon vor dem Holocaust einen jüdischen Staat und seine Armee gegeben hätte.252 250 Jawharieh, der 1939 in Jerusalem zur Welt kam, wurde beim Filmen von Kämpfen in Aintoura nördlich von Beirut am 11.4.1976 getötet. Mustafa Abu Ali und die Palestinian Film Institution widmeten Jawharieh den Film Palestine in the Eye (1976). Weitere Mitglieder der Film Insti- tution waren Abd al-Hafiz al-Asmar (alias Umar al-Mukhtar) und Ibrahim Mustafa Nasr (alias Muti Ibrahim). Auch sie starben 1978 im Südlibanon bei Kämpfen mit der israelischen Armee. Im Verlauf dieses Krieges wurde auch ein großer Teil der spärlichen Ausrüstung des palästi- nensischen Filminstituts zerstört. Die erste palästinensische Filmemacherin, Sulafa Jadallah Merzal, hatte im Gegensatz zu ihren Kollegen eine Ausbildung als Kamerafrau an der Film- hochschule in Kairo absolviert. Sie trug nach dem Krieg bleibende körperliche Schäden davon. 251 Siehe Denes, Nick: «Measures of stillness. The Poster in Cinema of Palestinian Revolution», in: Downey, Anthony (Hg.): Dissonant Archives: Contemporary Visual Culture and Contested Narratives in the Middle East, London / New York: I. B. Tauris 2015, S. 64–78. 252 Tryster: «Das Ende der Diaspora. Der israelische Film», S. 149. Die Hollywood-Version der Ak- tion Victory at Entebbe von Marvin Chomsky (USA 1976) stärkte diese Interpretation der Ereignisse. Auf ein Kino in Aachen, das den Film zeigte, verübten die an der Flugzeugentfüh- rung beteiligten ‹Revolutionären Zellen› einen Brandanschlag, vgl. Ebbrecht-Hartmann, To- bias: «Kampfplatz Kino  – Filme als Gegenstand politischer Gewalt in der Bundesrepublik» (2014). Der israelische Spielfilm Mivtza Yonatan / Operation Thunderbolt von Menahem 199 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Die Montagen, in denen Ici et ailleurs die Aktualität des Nahostproblems mit der Erinnerung an die Shoah verknüpfte, entsprachen einem Trend. Seit 1967 wurde zwischen den historischen Ebenen des Nationalsozialismus und des Nahostkonflikts ein gefährliches Vexierspiel betrieben: Im Extremfall wurde die israelische Politik mit der Besatzungspolitik der Nazis in Frankreich verglichen, oder der bewaffnete Kampf der PLO mit dem NS-Terror gleichgesetzt. Eine gespaltene Öffentlichkeit sah im palästinensischen Kampf gegen Israel entwe- der die Fortsetzung der nationalsozialistischen Verfolgung oder jene des anti- faschistischen Widerstands. «Das Gespenst des Vergleichs taucht in Momenten des Konflikts wieder auf.»253 Jerôme Bourdon zufolge spielte dessen Mediatisie- rung dabei eine ausschlaggebende Rolle: Wenn der Vergleich zwischen Israel und den Nazis (und später jener zwischen Palästinensern und Juden) viel Tinte fließen ließ und gern als versteckter Antisemitismus analysiert wird, muss man verstehen, wie leicht er einem in den Sinn kommt vor dem Hintergrund, dass der israelisch-arabische Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg der am stärksten mediatisierte Konflikt gewor- den ist (einschließlich der Fiktion und der Literatur). Diese Nähe im Imaginä- ren (trotz der Distanz der beiden Realitäten) lädt zum Vergleich ein.254 Bereits im März 1967 hatte Jean-Paul Sartre den Grund für diese Ambivalenzen darin geortet, dass es für das politische Handeln zwei memoriale Ankerpunke gab, aus denen die französische Linke nun widersprüchliche Forderungen ablei- ten konnte, nämlich dass es die Erinnerung an den Kampf der Algerier gegen die Kolonisation und die Erinnerung an die Verfolgung der Juden gibt. Anders gesagt, und ich kann dabei für mich selbst sprechen, diejenigen, die sich wirklich für die Frage interessieren, sind durch diese Probleme zerrissen.255 Golan (ISR 1977) suchte dem Narrativ vom Sieg in hoffnungsloser Situation, von Selbstaufop- ferung und der Wiederherstellung der Moral, Authentizität zu verleihen, indem damals be- teiligte Akteure wie Jitzchak Rabin sich selbst verkörperten. Jonathan Netanjahu, der Leiter der ‹Operat ion Thunderbolt›, war im Verlauf der Aktion getötet worden und wurde zum tra- gischen Helden. Zwanzig Jahre später traten die Beteiligten in eine neue Konstellation: Jona- thans Bruder Benjamin wurde Premierminister, sein Vorgänger Rabin wurde zur Schlüsselfi- gur eines Friedensprozesses, bis er seinerseits zum tragischen Helden wurde, nachdem er 1995 von einem jüdischen Terroristen ermordet worden war; vgl. Tryster: «Das Ende der Diaspo- ra. Der israelische Film», S. 149; weiters Mohr, Markus (Hg.): Legenden um Entebbe. Ein Akt der Luftpiraterie und seine Dimensionen in der politischen Diskussion, Münster: Unrast 2016. 253 Bourdon: «L’esprit du temps: les intellectuels, la télévision et Israel», S. 219 (Übers. d. Autors). 254 Ebd., S. 214. 255 Sartre, Jean-Paul: «Pressekonferenz in Tel Aviv am 29.3.1967», in: ds.: Überlegungen zur Juden- frage, Reinbek: Rowohlt 1994, S. 152. 200 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville In Israel, aber auch auf palästinensischer Seite,256 spielte die Erinnerung an den Warschauer Ghettoaufstand eine eminente Rolle.257 Der Historiker Henry Laurens beschrieb, welche subjektiven Verwerfungen die diskursive Verknüpfung der histo- rischen Kontexte des Nahostkonflikts, des Vichy-Regimes und des Algerienkrieges nach 1967 auch bei ehemaligen französischen Widerstandskämpfer*innen auslöste: Zur selben Zeit haben Sie beispielweise auch die Diskussionen in den Zusam- menhängen, die aus der Résistance hervorgegangen sind, über die Frage, ob der palästinensische Widerstand vom selben Typ sei wie der europäische Wider- stand angesichts des Nazismus. Das provozierte Dramen, denn einerseits sagte man, gewisse Methoden seien inakzeptabel, andererseits sagten einige ehema- lige Mitglieder der Résistance, der Kampf gegen Israel sei eine Fortsetzung des Kampfes der Nazis gegen Israel und die Araber seien die Nazis etc.258 Auch Jean Améry zeichnete ein Bild der Konfusion, die sich nach dem Juni 1967 ergeben hatte: Die ‹sozialistischen› Länder unterstützten arabische Feudalherren gegen die sozialistischen Pioniere der Kibbutzim. Aber ehemalige OAS-Männer259 tranken auf das Wohl des Generals Dayan. Der linksradikale Publizist und Sartre-Freund Claude Lanzmann rief aus: ‹Man zwingt mich, vive Johnson zu rufen! Ich bin bereit, es zu tun!› Sartre selbst erklärte sich in sehr gemäßigter und die arabischen Interessen nicht vergessender Form für das Existenzrecht des Judenstaates: daraufhin wurden seine Bücher in Algerien verboten, aus- gerechnet in jenem Algerien, für dessen nationale Freiheit er die eigene per- sönliche aufs Spiel gesetzt hatte. Lebenslange Freundschaften unter Links- intellektuellen gingen in Brüche. Das Debakel erschien als total.260 Die Rückwendung auf die Geschichte kennzeichnet die Periode der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre insgesamt. Nach dem Scheitern der Revolte kehrte melancholische Nachdenklichkeit ein. Nicht mehr um die Zukunft, son- dern um die Vergangenheit wurde nun gekämpft. In Frankreich flammte der Streit um die politische Bewertung und das Erbe der Geschichte der Résistance 256 Vgl. etwa Foot, Paul: «Palestine’s partisans», The Guardian 14.2.2002, http://www.theguardian. com/world/2002/aug/21/comment.israelandthepalestinians (zugegriffen am 21.7.2015). 257 Vgl. Zertal, Idith: Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit, Göttingen: Wallstein 2003, S. 42 ff. 258 Zit. nach Bourdon: «L’esprit du temps: les intellectuels, la télévision et Israel», S. 214 (Übers. d. Autors). 259 Die ‹Organisation de l’armée secrète› (OAS) war eine rechtsextreme Untergrundbewegung in Frankreich, die mit terroristischen Mitteln gegen die Unabhängigkeit Algeriens kämpfte. 260 Améry, Jean: Aufsätze zur Philosophie, Werke Band 6, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 62. 201 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville und der Kollaboration wieder auf.261 Bereits 1969 hatte Marcel Ophüls mit Le chagrin et la pitié (F 1969), einem Dokumentarfilm über Antisemitismus und Kollaboration in der französischen Provinz, den gaullistischen Mythos von der Wiedergeburt Frankreichs aus dem Geist der Résistance in Frage gestellt.262 Auch Louis Malles Lucien Lacombe (F 1974) löste Debatten über die Darstellung von Widerstand und Kollaboration aus.263 In einem Gespräch über die ‹Retro- Mode› mit Redakteuren der Cahiers du cinéma sah Michel Foucault eine regel- rechte «Schlacht um das populäre Gedächtnis»264 im Gange. Dabei waren Kino und Fernsehen «Apparate, die in Stellung gebracht [wurden] […], um diese Bewe- gung des populären Gedächtnisses zu blockieren» und «neu zu codieren»: Man zeigt den Leuten nun nicht, was sie gewesen sind, sondern was sie als ihre Vergangenheit im Gedächtnis behalten sollen. […] Man soll gar nicht mehr wissen, was das ist, die Résistance …265 Die im Aufwind befindliche Rechte sehe nun den Moment gekommen  – so Foucault weiter –, ihre Interpretation der Geschichte durchzusetzen. In Frank- reich wurde diese Tendenz durch Giscard d’Estaing verkörpert, der 1974 die Prä- sidentschaftswahlen gewonnen hatte. Eine weitere geschichtspolitische Linie zeichneten in diesen Jahren Filme, die die ethischen Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Verbrechen auf 261 Siehe Nettelbeck, Colin: «Getting the story right: narratives of World War II in post-1968 France», Journal of European Studies 15/2/1985, S. 77–116. 262 Der fürs Fernsehen gedrehte Film konnte erst 1971 in kleinen Kinos anlaufen. 263 Auch in anderen Ländern kamen jetzt Filme ins Kino, die sich auf skandalisierende Weise mit dem Nationalsozialismus beschäftigten: In Italien etwa Il portiere di notte (I/GB 1973) von Liliana Cavani, Salon Kitty (I 1975) von Tinto Brass und Salò o le 120 giornate di Sodoma (I 1975) von Pier Paolo Pasolini. Diese Filme thematisierten den Nationalsozia- lismus als sexualisierte Gewalt und als Begehren der Macht und übten düstere Kritik an den bürgerlichen Eliten; siehe Stiglegger, Marcus: Sadiconazista. Faschismus und Sexualität im Film. Remscheid: Gardez!, 2000; weiters Köhne, Julia Barbara: «Traumatisches Liebesspiel. KZ-Repräsentation, Identifikation mit dem Täter und masochistische Sexualität in The Night Porter (1974)», in: ds. (Hg.): Trauma und Film: Inszenierungen eines Nicht-Repräsen- tierbaren, Berlin: Kadmos 2012, S. 221–272. 264 Foucault, Michel: «Anti-Retro. Gespräch mit Pascal Bonitzer und Serge Toubiana» [Cahiers du cinéma n° 251–252/1974, S.  6–15] in: ds.: Schriften in vier Bänden, Band 2: 1970–1975, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S.  795. Foucault weiter: «Die alte Pétain’sche Rechte, die alte kollaboratistische, Maurras’sche und reaktionäre Rechte, die sich so gut es ging, hinter de Gaulle versteckte, sieht sich nun berechtigt, ihre eigene Geschichte neu zu schreiben. […] Sie hat Giscard ausdrücklich unterstützt. Sie braucht keine Masken mehr, und folglich kann sie nun ihre eigene Geschichte schreiben. […] Die Auslöschung der Trennlinie zwischen na- tionalistischer und kollaboratistischer Rechter [hat] diese Filme erst möglich gemacht.» Ebd., S. 794 f.; siehe weiters Baudrillard, Jean: «Geschichte: Ein Retro-Scenario», in: ds.: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve 1978, S. 49–56. 265 Ebd. 202 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville den Vietnamkrieg bezogen. Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik für eine Lichtspielscene (D 1972) etwa stellte einen Zusammenhang zwischen der US-amerikanischen Kriegspo- litik in Südostasien und den NS-Verbrechen her, Marcel Ophüls’ Memory of Justice (USA/D/GB 1976) wandte die Prinzipien des Nürnberger Gerichtes auf Kriegsverbrechen der US-Armee in Vietnam an.266 Vor dem Hintergrund dieser diskursiven Bezüge werden die teilweise heftigen Reaktionen auf Ici et ailleurs plausibel. Seine Bezugnahmen auf den National- sozialismus bilden gewiss den irritierendsten und schwächsten Aspekt des Fil- mes. Kritisiert wurde weiters, dass die Kritik an der Politik der palästinensischen Organisationen und ihrer Führung in Ici et ailleurs zu kurz komme. Weder die Strategie des bewaffneten Kampfes, auch nicht die militaristische Indoktri- nierung palästinensischer Kinder, die im Film an einigen Stellen präsent ist, noch die Politik der arabischen Länder wird grundsätzlich in Frage gestellt: «Kein Wort wird gesagt über die reaktionären arabischen Regime. Das weckt Zweifel an der Ehrlichkeit des Revolutionärs.»267 Stattdessen klingt im Film eine Lesart des Nah- ostproblems durch, die terroristische Aktionen gegen den Staat Israel legitimiert. Antoine de Baecque konstatiert, dass Godard nicht damit aufhört, eine Verbindung herzustellen zwischen der Vernichtung der Juden in den Todeslagern, der Gründung des Staates Israel und der Unmög- lichkeit, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu schlichten. Als ob ein historischer Fluch über dieser Genealogie laste: Israel, in den Lagern geboren, räche sich an den Palästinensern für den Holocaust, was wiederum alle arabi- schen Widerstandsakte einschließlich des Terrorismus rechtfertige, weil Israel eine paradoxe Form des historischen Wiederauflebens des Nazismus sei.268 Immer wieder geriet die Montage von Golda Meir und Hitler in den Fokus der Kritik: Eine Gleichsetzung der israelischen Premierministerin und des Massen- mörders Hitler, der Opfer des ‹Schwarzen September› und der Millionen Toten der Shoah auch nur anzudeuten, erschien unerträglich. Durch diese Montagen klang die Behauptung durch, die Juden hätten den Arabern angetan, was die Nazis den Juden angetan haben, eine Sichtweise, die Godard bis heute fallweise vertritt.269 266 Siehe Eue, Ralph, Michael Omasta und Fabian Tietke (Hg): Ein Meister der zielstrebigen Umwe- ge: Marcel Ophüls und sein Film ‹The memory of justice›, Wien: Synema 2015. 267 Haymann, Emmanuel: «On cherche une révolution», Tribune juive 1976 (Übers. d. Autors). 268 Baecque: Godard, S. 531 (Übers. d. Autors). 269 Vgl. ebd. Zur Diskussion von Godards Bezugnahmen auf die Shoah, die ihm wiederholt den Vorwurf des Antisemitismus eintrugen, siehe Darmon, Maurice: La question juive de Jean-Luc Godard: filmer après Auschwitz: essai, Cognac: Temps qu’il fait 2011; sowie Baecque, Antoine de: 203 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville In seiner Filmkritik wies Emmanuel Haymann bereits 1976 auf eine sympto- matische Lücke hin. Ici et ailleurs zeige die palästinensischen Fedayin und kommentiere, dass sie alle später umgebracht wurden, aber: «Dann zensuriert Godard. Nichts wird über diejenigen gesagt, die die Palästinenser getötet haben. Vor der Kamera spricht man über den ‹Feind› und der ‹Freund› schärft inzwi- schen sein Messer und bereitet das anti-palästinensische Pogrom vor.»270 Auch der Filmemacher Harun Farocki kritisierte 1987 die Montage von Hitler und Golda Meir, indem er darauf verwies, dass sich die PLO mit dem jordanischen König Hussein, dem einstigen ‹Schlächter von Amman›,271 längst wieder arrangiert habe: Im September 1970 niedergemetzelt und vertrieben, verloren die Palästinen- ser ihre Basis in Jordanien. Inzwischen hat es schon Fotos gegeben, die Arafat und Hussein in Umarmung zeigen. Die kleinen Montagen, die Godard mit Nixon und Breschnjew, mit Hitler und Meir macht, man könnte sie aus dem Fotomaterial machen, das Arafat in Umarmung mit wechselnden Personen zeigt, und man bräuchte keine Musikgeräusche dazu, das ginge stumm, nur aus der Kraft des Bildes!272 In Alain Fleischers Morceaux de conversation avec Jean-Luc Godard (F 2007) ging es erneut um die Montage Meirs und Hitlers. Im Gespräch mit Godard insistierte der Cahiers du cinéma-Redakteur Jean Narboni auf dem Problemati- schen dieser Montage: «Das bleibt rauh.» Godard: «Aber nein, ich finde daran nichts zu ändern.» Narboni beharrte darauf, dass sie meist als Gleichsetzung gele- sen wurde: «Das wird zu einer Metapher. […] Jeder versteht es so. Die Objektivi- tät kommt aus der Relation der Bilder.» Godard parierte mit dem Argument, im Bereich der Bilder gebe es keine Objektivität: «Im Gegenteil, die Bilder sind kom- plett subjektiv.» Narboni: «Du bewirkst mit deiner Montage, dass es da eine Anstif- tung gibt.» Auch Gilles Deleuze hatte gespürt, dass die Montage dieser Bilder unerträglich war, wenn sie als Behauptung einer Filiation oder gar Identität des Staates Israel und des NS-Staates gelesen wurde – eine Interpretation, die im Fall jener Grafik, die Godard 1969 ZDF-Journalisten präsentiert hatte, zweifellos intendiert gewe- sen war. Wird die Montage so gelesen, führt Deleuze aus, «Godard et la Shoah», in: Alain Kleinberger (Hg.): La Shoah. Théâtre et cinéma aux limites de la représentation, Paris: Édition Kimé 2013, S. 105–124; weiters: https://sites.google.com/site/dos- sierjeanlucgodard/ (zugegriffen am 21.7.2015); siehe auch S. 350, Anm. 164. 270 Haymann: «On cherche une révolution». 271 In ihrem heute verlorenen Film Hussein, le Néron d’Amman (F 1970) dokumentierte Carole Roussopoulos das Massaker des ‹Schwarzen September›. 272 Farocki, Harun: «Die Arbeit wird weniger, die Programme werden mehr» [Typoskript, 1987], S. 5; veröffentlicht in Farocki, Harun: On Ici et ailleurs / Über Ici et ailleurs, hg. v. Volker Pantenburg, Berlin: Harun Farocki Institut & Motto Books 2018. 204 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 84 ‹ET› aus Styropor rückt den Zwischenraum zwischen den Bildern, das Mediale der Montage in den Fokus; Screenshot aus Ici et ailleurs (TC 00:12:37) sind […] die Bilder in Ici et ailleurs, die Golda Meir und Hitler einander annähern, nicht zu ertragen.273 Deleuze unterschied jedoch zwischen einer Verknüpfung von zwei Bildern und dem Zwischenraum, der zwischen zwei Bildern auftaucht: Ist ein Bild gegeben, dann kommt es darauf an, ein anderes Bild zu wählen, das einen Zwischenraum zwischen beiden bewirkt.274 Er argumentiert, dass es Godards Methode «nicht um eine Operation der Ver- knüpfung» von Bildern ginge, sondern um eine Differenzierung oder, wie die Physiker sagen, der Disparation: zu einem gege- benen Potential muß man ein anderes, aber nicht irgendeines wählen, und zwar derart, daß sich eine Potential-Differenz zwischen beiden herstellt, die Produzent eines dritten oder von etwas Neuem ist.275 Nicht auf Identität, sondern auf Disparation, also auf ein «Anderswerden»276 bzw. eine «Veränderung»277 ziele die Montage. Die Montagen Godards müssten auf dieser Ebene wahrgenommen werden, so kontra-intuitiv dies für eingeschlif- fene Sehgewohnheiten sei: «Vielleicht ist dies aber der Beweis dafür, daß wir noch 273 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 234. 274 Ebd. 275 Ebd. 276 Ebd., S. 405 (Anm. 50). 277 Ebd. 205 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville nicht reif sind für eine wahre ‹Lektüre› des visuellen Bildes.»278 Wer sich empört, hätte also nicht richtig gelesen, hätte etwas Neues übersehen, hätte nach einem kon- ventionellen Schema reagiert. Diese Deutung gewinnt an Plausibilität, wenn man sie auf eine vergleichbare Montage anwendet: Niemand hat die visuell analoge Ver- bindung einer Fotografie Hitlers und einer Fotografie von Politikern der Volksfront mit Léon Blum als Gleichsetzung oder Kausalverhältnis interpretiert und skandali- siert, wie dies im Fall der Montage von Hitler und Meir immer wieder der Fall war. Die Akzentuierung der Konjunktion «ET» war eine Geste, die den Fokus auf das Zwischen, das Mittlere, das Mediale lenken sollte, um so den Blick aus indus- triellen ‹Bilderketten› herauszulösen. In Ici et ailleurs wurde die verborgene Sinnproduktion der Montage, die im herkömmlichen Film dissimuliert wird, in einer Einstellung aus Styropor geformt und ins Rampenlicht gestellt (Abb. 84). 1976 sagte Deleuze dazu in einem Cahiers du cinéma-Interview: Weder Element noch Gesamtheit, was ist dann das UND? Ich glaube, daß es die Stärke Godards ist, das UND in einer neuen Weise zu leben und zu den- ken und zu zeigen und es aktiv operieren zu lassen. Das UND ist weder das eine noch das andere, es ist immer zwischen den beiden, es ist die Grenze, es gibt immer eine Grenze, eine Flucht- oder Stromlinie, nur sieht man sie nicht, weil sie das Unscheinbarste ist. Und doch spielen sich die Dinge, die Werden auf dieser Fluchtlinie ab, zeichnen sich hier die Revolutionen ab. […] Das Ziel Godards: ‹die Grenzen sehen›, d. h. das nicht Wahrnehmbare sicht- bar machen.279 Das UND ist mit Godard und Miéville nicht als ein Identität, Kausalität oder Synthese erzeugender Operator zu sehen, sondern als Index für den generischen Zwischenraum zwischen den Bildern, der ein Denken der Bilder erst ermöglicht. Deleuze bemerkte, dass der Gebrauch des UND in Ici et ailleurs in der Tra- dition des Fehlanschlusses stehe. Seit À bout de souffle (F 1960) sei diese ‹fal- sche› Montage Godards wichtigstes filmisches Dekonstruktionsprinzip, das die Idee eines ontologischen Ganzen zugunsten immanenter Vielheit unterminiere: Zwischen zwei Aktionen, zwischen zwei Affekten, zwischen zwei Wahrneh- mungen, zwischen zwei visuellen Bildern, zwischen zwei akustischen Bildern, zwischen dem Akustischen und dem Visuellen: Das Ununterscheidbare, das heißt die Grenze sichtbar machen […]. Das Ganze unterliegt einer Mutation, weil es nicht mehr länger das Eine/das Sein ist, um das für die Dinge konstitutive 278 Ebd., S. 234. 279 Deleuze, Gilles: «Drei Fragen zu Six fois deux» [Cahiers du cinéma n° 271 / November 1976], in: Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S.  57–69, hier S. 68 f. 206 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville ‹und› zu werden, das für die Bilder konstitutive Dazwischen [l’entre-deux]. […] So gewinnt der Fehlanschluß, indem er zum Gesetz wird, einen neuen Sinn.280 Ici et ailleurs verabschiedet die dialektische bzw. intellektuelle Montage, mit der Sergej Eisenstein in den 1920er-Jahren dem Film das Denken in Bildern bei- bringen wollte. Aus den Bildern, die miteinander in Konflikt stehen, entsteht keine dialektische Synthese, sondern eine offene Zone der Indetermination, wie Irmgard Emmelhainz im Anschluss an Deleuze und Bergson ausführt: AND becomes a provisory zone of indetermination in which you cannot tell the sense of the images apart, allowing for their simultaneous readings in which past and present coexist, a movement between here and elsewhere, which includes a complex interweaving of temporalities and sensibilities.281 Ici et ailleurs ist von einer tiefen Ambivalenz gegenüber den Bildern geprägt. Alain Bergala zufolge weigerte sich Godard, sich zwischen den beiden Bildauffas- sungen zu entscheiden, die nach André Bazin das Kino in zwei Lager spalten: Regis- seur*innen, die an die Realität glauben und Regisseur*innen, die an das Bild glau- ben; ein ontologisches Kino der Spur und ein semiologisches Kino der Sprache; die Leinwand als ein Fenster oder ein Rahmen; das Da-Sein der Dinge oder die Montage. Es ist, als hätte sich Godard nie damit abgefunden, für sich selbst die Lektion des furchtbaren Postulats von Bazin […] zu akzeptieren, demzu- folge im Kino ‹der Realität immer ein Stück der Realität geopfert werden muss›. […] Godard trotzt dem bedeutenden Widerspruch in jeder seiner Einstellun- gen. Jedes Bild Godards tendiert heute dazu, zugleich ein Stück Welt und seine Metapher zu sein, uns die Sache an sich und das Bewusstsein von dieser Sache vor Augen zu führen. […] Jeder Kader ist zugleich das Fenster, das sich auf einen Teil der Landschaft öffnet, und das Gemälde, das sie als Ganzes organisiert.282 Der Tod seiner Protagonisten rückte den Film zwar in die Nähe der Bazin’schen Ontologisierung des Bildes als Spur des Realen, doch blickt er mit Post-Bazin’schen Augen auf Bilder, die in der Propaganda, der Werbung, im Fernsehen und im Hol- lywood-Kino verkettet werden. Elisabeth Büttner bemerkte, dass die aufgescho- bene Entscheidung zwischen diesen beiden Auffassungen dazu führte, dass in «Godards Verständnis des Bildes […] diesem nicht weniger Realität zu[kommt] als 280 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 234. 281 Emmelhainz: «From Third Worldism to Empire», S. 651. 282 Bergala, Alain: «Godard, ou l’art du plus grand écart», Revue Belge du Cinéma 22/23/1989, S. 5 f.; dt. Übers. zit. nach Büttner, Elisabeth: Projektion, Montage, Politik. Die Praxis der Ideen von Jean-Luc Godard (Ici et ailleurs) und Gilles Deleuze (Cinéma 2, L’image-temps), Wien: Synema 1999, S. 77. 207 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville der Realität selbst.»283 Das Bild als ontologische Spur des Realen oder als visuelle Konstellation mit immanenter Eigengesetzlichkeit: Das In-der-Schwebe-lassen der Ambivalenz von filmischem Realismus und Konstruktivismus ist ein Kennzeichen des Kinos im essayistischen Modus. Ici et ailleurs widerspiegelte den Beginn einer Transformation des medialen Aprioris. Dass sich im Zeitalter des Spektakels und der Simulation das Bild vom Realen löst, habe für das Kino fundamentale Folgen, erklärte Jean Baudrillard 1978: Eine ganze Generation von Filmen kommt auf uns zu, die im Verhältnis zu dem, was man kennt, das sind, was der Androide für den Menschen ist: wun- dervolle Artefakte, ohne Fehl, geniale Simulakren, denen es nur am Imagi- nären fehlt, und an jener eigentümlichen Halluzination, die eben das Kino zum Kino macht.284 So wie sich das Bild ins Visuelle verwandelte, trat an die Stelle des Sinns die Infor- mation  – eine Transformation, für die die Soziologen Simon Nora und Alain Minc in diesen Jahren den Begriff der «Informatisierung der Gesellschaft»285 erfanden. In ihrem Report zur Rolle der Mikroelektronik, den die Regierung d’Estaing 1975 in Auftrag gegeben hatte, diagnostizierten Nora und Minc einen sozialtechnischen Umbruch in Richtung eines telematischen Paradigmas, eine regelrechte «Informatik-Revolution», die «das Nervensystem jeder Organisation und der ganzen Gesellschaft [ändert]».286 Der Bericht ging von einer Krise aus, in der sich Frankreich nach der «schlagartigen Verteuerung der importierten Ener- gieträger»287 befand. Die OPEC-Staaten hatten 1973 nach dem Jom-Kippur-Krieg als Druckmittel gegen die Unterstützung Israels durch die westlichen Industrie- staaten den Ölpreis erhöht, indem sie die Fördermenge drosselten. Nora und Minc orteten die Wurzeln der Krise jedoch in den 1960er-Jahren: Die Reaktionen auf dieses Ereignis wären jedoch illusorisch, wenn sie den viel tiefer liegenden und schon vor dem Sechstagekrieg im Vorderen Orient ent- standenen Bruch unberücksichtigt ließen, den manche als Zivilisationskrise bezeichnen.288 283 Büttner: Projektion, Montage, Politik, S. 77. 284 Baudrillard: «Geschichte: Ein Retro-Scenario», S. 52. 285 Nora, Simon und Alain Minc: L’informatisation de la société. Rapport à M. le Président de la République, Paris: Documentation française 1978; dt. Übers.: Nora, Simon und Alain Minc: Die Informatisierung der Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York: Campus 1979; weiters Siep- mann, Eckhard: «Rotfront Faraday. Über Elektronik und Klassenkampf. Ein Interpretations- raster», Kursbuch 20/1970, S. 187–202. 286 Nora/Minc: Die Informatisierung der Gesellschaft, S. 29. 287 Ebd., S. 28. 288 Ebd. 208 4.2 Ici et ailleurs (1976) von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Die ‹Informatisierung› sei zugleich Ausdruck und Folge dieser Krise: Die wachsende Verflechtung von Rechnern und Telekommunikationsmit- teln, die wir ‹Telematik› nennen, eröffnet einen völlig neuen Horizont. […] Die Telematik bewegt – im Gegensatz zur Elektrizität – nicht einen trägen Strom, sondern Information, das heißt Macht. […] Die Telematik wird nicht nur ein weiteres Netz darstellen, sondern vielmehr ein Netz neuer Art, das Bild, Ton und Informationsinhalte in eine vielschichtige Wechselbeziehung treten lässt. Sie wird unser Kulturmodell verändern.289 Der Bericht diagnostizierte neue, konflikthafte Relationen zwischen ‹Orient› und ‹Okzident› und forderte eine technologische Antwort auf den Ölpreisschock. Jean Baudrillard hatte bereits 1976 den Eintritt in «das coole Universum der Digitali- tät»290 diagnostiziert, in dem die Unterscheidung von Realität und Fiktion vom «Hyperrealen»291 absorbiert werde. Ici et ailleurs reagierte auf das Auftau- chen von digitalen Sozialtechnologien und kybernetischer Kontrolle vermittels Statistik, Tests, Feedback, Enkodierung, Modellierung, Regulierung, Program- mierung, Kommunikation und Simulation. Intellektuelle wie Lyotard, Foucault, Deleuze und Guattari verabschiedeten die klassischen revolutionären Strate- gien und ersetzten sie durch eine ‹Mikro-Politik des Wunsches›292: so viele kleine Mikro prozessoren, so viele kleine ‹Wunschmaschinen› (Deleuze/Guattari). Ici et ailleurs vollzog den feministisch und ‹postmodern› inspirierten Blickwechsel auf die Mikro-Politiken des Alltags, den Oskar Negt und Alexander Kluge im ers- ten Satz ihres Buches Öffentlichkeit und Erfahrung (1974) mit Blick auf die Aktu- alität des Münchner Attentats als Ausgangspunkt ihrer Reflexion benannt hatten: Bundestagswahlen, Feierstunden der Olympiade, Aktionen eines Scharf- schützenkommandos, eine Uraufführung im Großen Schauspielhaus gelten als öffentlich. Ereignisse von überragender Bedeutung wie Kindererziehung, Arbeit im Betrieb, Fernsehen in den eigenen vier Wänden gelten als privat. Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kol- lektiven Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen.293 Danach steht es militanten Diskursen ‹hier› nicht mehr zu, die Wahrheit über Kämpfe ‹anderswo› zu artikulieren. Für Hito Steyerl ist die dekonstruktive Mon- 289 Ebd., S. 29. 290 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz 1982, S. 119. 291 Ebd., S. 113 f. 292 Vgl. Guattari, Félix: Mikro-Politik des Wunsches, Berlin: Merve 1977. 293 Negt, Oskar und Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 7. 209 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville tage des UND in Ici et ailleurs ein kritisches Werkzeug für die Reflexion von politischen Relationen im Allgemeinen: Der Film ist heute erschreckend aktuell, aber nicht in dem Sinne, dass er irgendwelche Positionierungen im Nahostkonflikt anbietet, sondern im Gegenteil dadurch, dass er die Begriffe und Schablonen problematisiert, in denen Konflikte und Solidaritäten auf binäre Oppositionen von Verrat oder Loyalität verkürzt und auf unproblematische Additionen und Pseudokausa- litäten reduziert werden. Was nämlich, wenn das Modell der Addition nicht stimmt? Oder das verbindende ‹Und› gar keine Addition darstellt, sondern eine Subtraktion, eine Division oder gar kein Verhältnis begründet?294 Olivia Harrison weist auf das Dilemma hin, das der Film zu lösen versucht hatte: Die Möglichkeit einer solidarischen Parteinahme für die Sache des Anderen zu behaupten, die nicht sofort zum Konsumgut medialer ‹Bilder-Millionäre› würde. [T]hat the apparently unrelated critique of consumer culture in what was ini- tially a propaganda film for the Palestinian resistance enables Godard and Miéville to advocate for ‹the cause of the other› without turning Palestine into an object of consumption for a complacent, post-revolutionary left.295 Ici et ailleurs verzeichnete den Übergang vom ‹Trikont› zum ‹Empire›296 als Bezugsrahmen für das Handeln, den Übergang von einer Politik im Zeichen der Befreiung und der Revolution, hin zu einer Ethik im Zeichen des Anderen und der Menschenrechte, wie Irmgard Emmelhainz ausführt: Third Worldism had implied universalising a cause or giving a name to a politi- cal wrong, and the ‹wretched of the earth› emerged for a specifically historic period of time as a new figuration of ‹the people› in the political sense: the colo- nised became the Algerian immigrant worker, the Chinese barefoot doctor, the revolutionary from elsewhere. Yet, with the new ‹ethical› humanism, revolution- ary and political sympathy was substituted by pity and moral indignation, trans- forming them into political emotions within the discourse of ‹pure actuality› and emergency. This led to new figures of alterity in the 1980s and 1990s, the ‹suffer- ing other› who needs to be rescued, and to the post-colonial ‹subaltern› demand- ing restitution, presupposing that visibility would follow emancipation.297 294 Steyerl, Hito: «Die Artikulation des Protestes», transversal web journal 9/2002, http://eipcp.net/ transversal/0303/steyerl/de (zugegriffen am 21.7.2016). 295 Harrison: «Consuming Palestine». 296 Siehe Hardt, Michael und Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M./New York: Campus 2002. 297 Emmelhainz: «From Third Worldism to Empire», S. 652. 210 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard Jacques Rancière betonte bereits 1976, wie radikal Ici et ailleurs linke Überzeu- gungen und Narrative in Frage stellte: Godard verweigert der Linken die Möglichkeit, die gesamte Geschichte zu erzählen. Er zeigt auf radikale Weise all die Lügen der Komparserie der Linken auf, und das heißt auch, dass er jede Reflexion über die militante Geschichte blockiert, indem er den militanten Diskurs sofort auf seine Lüge verweist, auf seine Komplizenschaft mit allen Formen der Fiktion von Macht und Kapital.298 Godards und Miévilles Arbeit nütze weniger einer politischen Sache, etwa der palästinensischen, als der Emanzipation ihrer Zuschauer*innen: Das kann uns ganz einfach helfen, nicht als Idioten zu sterben. Noch mehr, es kann das Prinzip einer neuen Wachsamkeit sein.299 Rancière sah in der Radikalität ihrer Kritik aber auch die Gefahr eines «ein wenig selbstmörderischen Aristokratismus»:300 Wenn man nicht wehrlos bleiben will, muss man die Mächte wohl vertei- len, man muss Bilder und Fiktionen produzieren, die immer etwas suspekt sein werden. Man muss unterteilen (das Hier und das Anderswo), aber auch produzieren (also das Hier und Anderswo gleichsam noch verdichten). Es ist die Stunde der Dialektik: Wie unterteilen, wen vereinigen und worüber? […] Man muss die Provokation Godards akzeptieren und trotzdem die Mittel fin- den, um darüber hinaus zu gehen.301 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard Godard blieb nicht bei der Provokation von 1976 stehen. Er versuchte, jene von Rancière eingeforderten Mittel zu finden, um über die Negativität von Ici et ailleurs hinauszugelangen, in Richtung einer Positivität, die weder lügenhaft noch propagandistisch wäre. Einige seiner späteren Filme beschäftigten sich zen- tral oder am Rand mit der Suche nach Bildern des israelisch-palästinensischen Zusammenhangs. Sein chef d’œuvre, die Historie(s) du cinéma (F/CH 1988–98), aber auch Notre Musique (F/CH 2004) und Film socialisme (F 2010) durch- zieht eine audiovisuelle Reflexion der nahöstlichen Tragödie. 298 Jacques Rancière: «L’image fraternelle (Entretien avec Jacques Rancière)», Cahiers du cinéma n° 268/1976, S. 7–19, hier S. 9 (Übers. d. Autors). 299 Ebd., S. 19 (Übers. d. Autors). 300 Ebd. 301 Ebd. 211 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville In den Histoire(s) du cinéma behauptete Godard, ein zerschlissener Bildka- der vermöge «die Ehre der gesamten Realität»302 zu retten. Gleichzeitig vertraue er aber auch in die «bescheidene und wunderbare Macht der Transfiguration»,303 über die das Kino verfüge. Die vielfältigen Montagen der Histoire(s) du cinéma bringen die Bilder des 20. Jahrhunderts in immer neue Konstellationen, um den Film zu einer Denkform sui generis zu machen. In Ici et ailleurs wurden die visuellen Verfahren einer Montage, die systematisch Bilder, Text-Inserts und Kommentar aufeinander prallen lässt, entwickelt, die nun das Produktionsprin- zip des gesamten audiovisuellen Gewebes bildeten. Godard setzte Bilder «schlag- artig miteinander in Beziehung», um dabei einen Funken hervorzubringen. Auf diese Weise entstehen Konstellati- onen, Sterne, die sich – wie Walter Benjamin es beschrieben hat304 – einander annähern oder voneinander entfernen.305 Spur oder Lüge, Beweis oder Propaganda, Metapher oder Fetisch, Denk- oder Trugbild? Diese Ambivalenzen den Bildern gegenüber lagen auch jenem sympto- matischen Streit zugrunde, der Jean-Luc Godard und Claude Lanzmann in der Frage nach der Aufgabe des Kinos angesichts der Shoah trennte. In seiner Studie Bilder trotz allem verglich Georges Didi-Huberman die unterschiedlichen Bild- auffassungen, von denen die beiden in Shoah (1985) und Histoire(s) du cinéma (1998) ausgegangen waren.306 Anders als Godard, der in seinen Filmen auf die «Brüderlichkeit der Metaphern»307 vertraute, verwarf Claude Lanzmann sowohl die Idee des Bildes als Spur, als auch die Montage als ästhetischen Ausweg. So blieb aus seinem neuneinhalbstündigen Opus magnum jede visuelle Quelle – auch Fotos, die in Auschwitz von Mitgliedern des Sonderkommandos unter Lebensge- fahr hergestellt worden waren308 – rigoros ausgeschlossen. Dem Streit zwischen diesen beiden Ästhetiken, der immer wieder polemische Formen annahm, liegt Didi-Huberman zufolge jedoch eine gemeinsame Überzeugung zugrunde: 302 Histoire(s) du cinéma, 1A: ‹Toutes les histoires› (TC 00:32:52). 303 Ebd. (TC 00:33:13). 304 Vgl. Benjamin, Walter: «Ursprung des deutschen Trauerspiels», GS I.1, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 1974, S. 203–430, hier S. 214 f. 305 Godard, Jean-Luc: «Le cinéma a été l’art des âmes qui ont vécu intimement dans l’Histoire (entretien avec Antoine de Baecque)», Libération 7.4.2002, S. 45. 306 Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem, München: Fink 2007, S. 173–213. 307 Histoire(s) du cinéma, 3A: ‹La monnaie de l’absolu› (TC 00:19:15). 308 Didi-Hubermans Untersuchung ging von vier Fotografien aus, die Häftlinge des Sonderkom- mandos im August 1944 machten – «vier Stücke Film, der Hölle entrissen» (S. 15). Sie zeigen die Einäscherung von Leichen vergaster Menschen in den Verbrennungsgräben vor dem Kre- matorium V und entkleidete Frauen auf dem Weg in die Gaskammer desselben Krematoriums (S. 28–31). 212 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard Sowohl Lanzmann als auch Godard gehen ganz zu Recht davon aus, daß die Shoah von uns verlangt, unser Verhältnis zum Bild insgesamt zu über- denken. Lanzmann vertritt die Ansicht, daß kein einziges Bild imstande ist, diese Geschichte ‹auszusprechen›, und aus diesem Grund filmt er unablässig die Aussagen der Zeugen. Godard hingegen vertritt die Ansicht, daß seit der Shoah alle Bilder von nichts anderem sprechen […], und aus diesem Grund sucht er unsere gesamte visuelle Kultur unter der Maßgabe dieser Fragestel- lung ab.309 Didi-Hubermann argumentiert in seinem Buch, dass sowohl aus der Perspektive einer bildwissenschaftlich informierten Historiografie, wie auch aus der Perspek- tive des politischen Imperativs ‹Nie wieder!› die sorgfältige Interpretation und Montage visueller Quellen und der immer neu unternommene Versuch, die Ein- bildungskraft auf das Unvorstellbare zu richten, notwendig seien: Was man nicht sehen kann, muß man also zu einer Montage machen, um die Differenzen, die einige lückenhafte visuelle Monaden voneinander tren- nen, so gut es eben geht zu denken zu geben. Auf diese Weise läßt sich trotz allem erkennbar machen, was niemals vollständig erfaßbar ist und in seiner Gesamtheit unzugänglich bleibt.310 Didi-Hubermann geht nicht auf den Konnex ein, der den Dissens zwischen Lanzmann und Godard mit der israelisch-palästinensischen Frage verknotet. Gérard Wajcman, Psychoanalytiker und Freund von Lanzmann, äußerte dage- gen offen, dass es im Streit um die (Un)Darstellbarkeit der Shoah implizit auch um ethisch-politische Haltungen zum Nahostkonflikt gehe. Wajcman spricht mit Blick auf Godard vom Bild als Fetisch, ja von einer «Christianisierung»311 der Debatte um die Bilder. Ähnlich wie Lanzmann stellt er die Bilder ikonoklas- tisch unter Generalverdacht: Sie leisten Lüge, Täuschung und Fälschung Vor- schub, schließlich gar der «Vertauschung der Rollen von Henker und Opfer».312 Dies führe letztlich dazu, «einen Staat Israel im Hinblick auf die Situation der Palästinenser zu denunzieren, seine Verfechter ‹schlimmer als die Nazis› zu fin- den und die Palästinenser als die wahren Juden unserer Zeit zu sehen.»313 Ohne explizt auf Godards Montage von Golda Meir und Hitler einzugehen, vertei- 309 Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 180. 310 Ebd., S. 196. 311 Siehe Wajcman, Gérard: «‹Saint Paul› Godard contre ‹Moïse› Lanzmann, le match», L’infini 65/1999, S. 121 f. 312 Wajcman, Gérard: «De la croyance photographique», Les temps modernes 613/2001, S. 47–83, hier S. 62; zit. nach Didi-Hubermann: Bilder trotz allem, S. 84. 313 Ebd. 213 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville digte Didi-Huberman Godard gegen Wajcmans Kritik: «Eine Montage ist keine Gleichsetzung. Nur ein triviales Denken suggeriert, daß alles, was nebeneinan- der erscheint, sich auch ähneln muss.»314 Im Gegenteil bringe jede Montage «eine uneinholbare, ebenso konkrete wie komplexe Geste hervor.»315 Godard selbst sah in seinen Montagen Resonanzphänomene, dialektische Bilder: Das ist es was ich ‹Bild› nenne, dieses Bild, das aus zweien gemacht ist, das heißt ein drittes Bild …316 Godard selbst sah einen Zusammenhang zwischen Lanzmanns Shoah und dem Nahostproblem. In einem Interview fragte er polemisch: «Hätte er diesen Film heute gemacht, wenn es keine Palästinenser gäbe?»317 Lanzmann hatte die Arbeit an seinem monumentalen Film unmittelbar nach Fertigstellung seines ersten Films Pourquoi Israël begonnen. Dieser hatte 1974 ein ähnlich solidarisches Bild von Israel gezeichnet, wie vor ihm schon Markers Description d’un com- bat. Lediglich dreißig Sekunden seines dreistündigen Dokumentarfilms wid- mete Lanzmann jedoch den Palästinenser*innen. Für Godard folgte Tsahal (F/ DE 1994), Lanzmanns affirmatives Filmporträt der israelischen Armee, genauso logisch auf Shoah, wie dieser Film wiederum als Explikation der Feststellung Pourquoi Israël verstanden werden wollte. Die Idee Godards, gemeinsam mit Lanzmann einen Film zu gestalten, in dem ihre beiden Perspektiven in einen Dia- log treten, wurde nie verwirklicht.318 Im Folgenden wird auf Bezüge zum Problemknoten Palästina-Israel eingegan- gen, die sich in Filmen des ‹späten Godard›319 finden: In Notre Musique (F/CH 2004) stellte er das Nachdenken über das Nahostproblem und die Rolle der Bilder noch einmal ins Zentrum. Der essayistische Spielfilm ist in Sarajewo angesiedelt, die Narration geht von einem internationalen Schriftstellertreffen auf Einladung der französischen Botschaft und des Centre Malraux aus. Fiktionale und reale Per- sonen wie Juan Goytisolo, Elias Sanbar, Mahmoud Darwish und Jean-Luc Godard selbst treffen in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas zusammen, jener Stadt, 314 Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 217. 315 Ebd., S. 222. 316 Godard/Ishaghpour: Archäologie des Kinos, Gedächtnis des Jahrhunderts, S. 25. 317 Albera/Godard: «‹Bestellen wir unseren Garten.› Ein Gespräch mit Jean-Luc Godard von François Albéra», S. 85. 318 Vgl. Brody, Richard: «Claude Lanzmann: Movie Time», The New Yorker 12.3.2012, https:// www.newyorker.com/culture/richard-brody/claude-lanzmann-movie-time (zugegriffen am 29.8.2019). Auch der Plan, gemeinsam mit Marcel Ophüls einen Film zum Nahostkonflikt mit dem Arbeitstitel ‹Des vérités désagréables› zu drehen, wurde nicht realisiert; vgl. Godard, Jean Luc und Marcel Ophüls: Dialogues sur le cinéma, Lormont: Bord de l’eau 2011. 319 Zur Charakteristik des ‹späten Godard› siehe das Kapitel «High-Tech Collectives in Late Go- dard» in: Jameson, Fredric: The geopolitical aesthetic. Cinema and space in the world system, Bloomington IN: Indiana UP 1995, S. 158–185. 214 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard deren multikulturelle und -religiöse Realität sie zum Symbol des Föderalismus im kommunistischen Jugoslawien und damit zur bevorzugten Zielscheibe für einen militanten Nationalismus machte. Der Film enthält Aufnahmen vom banalen All- tag in der ehemals belagerten Stadt, in der wenige Jahre zuvor nichts mehr normal gewesen war. Mitten in Europa und unter den Augen der Weltöffentlichkeit war hier ein urbanes Zusammenleben attackiert worden, das eine konkrete Alterna- tive zur Logik ethnischer und nationaler Teilung darstellte. Eine fiktive Hauptfi- gur des Films, die israelische Journalistin Judith Lerner, fragt sich im Film: «Warum Sarajewo? Wegen Palästina, weil ich in Tel Aviv lebe. Ich möchte einen Ort sehen, an dem die Versöhnung möglich scheint.» Godard macht Sarajewo zum symbolischen Durchgangsort, an dem sich ‹Hier› und ‹Anderswo› durchqueren: In der postkommunistischen Wirklichkeit Ex-Ju- goslawiens spiegelt sich die gespaltene Wirklichkeit Palästina-Israels. Diese wird wiederum in der postkolonialen Wirklichkeit der USA reflektiert: Eine Einstel- lung zeigt drei Native Americans unter der Brücke von Mostar, die gerade rekon- struiert wird. Jemand liest aus Entre nous von Emmanuel Lévinas: «… ist das Antlitz auch das ‹Du-wirst-nicht-Töten.›»320 Solche Tableaus schaffen einen Reso- nanzraum, in dem sich (ex-)jugoslawische, US-amerikanische und nahöstliche Erfahrungen überlagern, sie inszenieren die metaphorische Rede von den Paläs- tinensern als den «Indianern Palästinas» (Elias Sanbar  / Gilles Deleuze).321 Für Elias Sanbar, der im Abspann als ‹Mémoire› firmiert, ist Notre musique ein «nomadisches Werk»,322 in dem «nichts an seinem Platz ist.»323 320 Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien: Hanser 1995, S. 133. Der Satz stammt aus einem Interview, das Lévinas kurz nach dem Massaker von Sabra und Chatila im Oktober 1982 gab: «[…] es gibt daher im Antlitz des Anderen immer den Tod des Anderen und so, gewissermaßen, Anstiftung zum Mord, die Versuchung, bis zum Letz- ten zu gehen, den Nächsten vollkommen zu vernachlässigen – und gleichzeitig, und das ist das Pa- radox, ist das Antlitz auch das ‹Du-wirst-nicht-Töten›, Du-sollst-nicht-Töten, das man auch noch viel näher explizieren kann; es ist der Tatbestand, daß ich meinen Nächsten nicht alleine sterben lassen kann, es ist wie ein Appell an mich; […]» ebd. S. 133 f.; siehe Lévinas, Emmanuel: Verletzlich- keit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Zürich u. a.: Diaphanes 2007. 321 Deleuze, Gilles und Elias Sanbar: «Les indiens de Palestine» [Libération 8./9.5.1982], in: Deleuze, Gilles: Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975–1995, Paris: Les Éditions de Minuit 2003, S. 179–184; weiters Darwish, Mahmoud: «Discours de l’indien rouge», Revue d’études palesti- niennes 46 (1993), S. 3–10. 1971 verglich der Film Palestine von Nick MacDonald die Vertrei- bung der Native Americans mit jener der palästinensischen Araber. Amos Vogel zufolge ar- beitete der Film «Ähnlichkeiten zwischen demokratischem Bestreben in der amerikanischen Verfassung und dem Programm der El Fatah» heraus, Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus, St. Andrä-Wördern: Hannibal 1997, S. 130. 322 Godard, Jean-Luc, Elias Sanbar und Christophe Kantcheff: «Jean-Luc Godard – Elias Sanbar», Politis 11.2.2006: Politis, http://www.politis.fr/article1150.html (zugegriffen am 16.1.2010). 323 Ebd. 215 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville Der Film ist in Anlehnung an Dantes Divina Comedia in drei Abschnitte unterteilt: Hölle, Purgatorium und Paradies. Der erste Teil präsentiert eine düs- tere Montage von Bildern des traumatischen 20. Jahrhunderts. Der Film kreist um Zusammenhänge von historischer Gewalt und aktuellem Verhängnis und stellt der Geschichtsschreibung der Sieger die «Tradition der Unterdrückten» (Walter Benjamin)324 gegenüber. Anders als in Ici et ailleurs bilden nun aber die Fragen nach der Versöhnung und den Mitteln der Poesie und des Kinos, diese zu ermög- lichen, den Horizont des audiovisuellen Gewebes. Die Perspektive des Anderen, die am Ende von Ici et ailleurs stand, bildet nun die Perspektive, von der aus das Verhältnis von Ethik und Politik angesehen wird. Das Pathos von Notre musique beruht auf der Überzeugung, dass nur das Gespräch und die Poesie jenes ‹wir› begründen können, das im Filmtitel aufscheint. «… pas une conversa- tion juste, juste une conversation …», wandelt Mahmoud Darwish im Film einen Satz von Godard ab. Laura Rascaroli: Notre musique not only places dialogue (between factions, between people, between different ideological or theoretical positions) at its narrative and philo- sophical core, but also postulates the dialogue between filmmaker and specta- tor as its main goal and subject matter.325 […] not by accident, it is set in public places that are sites of movement, mixing, exchange and encounter: an interna- tional airport, a taxi, an embassy, an hotel hall, a library, a street market, a con- ference room, a bridge.326 In einer Sequenz kommt Godard selbst ins Bild: Vor Student*innen gibt er eine Lecture und lässt dabei Bilder aufeinanderprallen, die er bereits in den Histoi- re(s) du cinéma verwendet hatte – ein Bild aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, ein Bild Eisensteins aus Mexiko  – und in Ici et ailleurs: das Bild eines jüdi- schen KZ-Überlebenden, das darin mit dem Insert «MUSULMAN» versehen wor- den war. Godard ist von hinten gefilmt, während er zwei Fotos kommentiert, die er in Händen hält. Das erste zeigt ein landendes Boot mit jüdischen Flüchtlingen aus Europa (Abb. 85): «1948 durchqueren sie das Wasser, das gelobte Land». Das zweite zeigt palästinensische Flüchtlinge, die zur selben Zeit mit Sack und Pack durchs Wasser ziehen (Abb. 86): «Die Palästinenser durchqueren das Wasser, in Richtung Ertrinken.» Godard betrachtet die Bilder abwechselnd: «Schuss und Gegenschuss, Schuss und Gegenschuss [champs/contre-champs].» Schließlich ordnet er den histo- rischen Kontexten der Fotografien unterschiedliche Modi des Kinematografischen zu: «Le peuple juif rejoint le fiction [Das jüdische Volk erreicht den Spielfilm], le peu- ple palestinien le documentaire [das palästinensische Volk den Dokumentarfilm].» 324 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697. 325 Rascaroli: «Performance in and of the Essay film», S. 55. 326 Ebd., S. 56. 216 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard 85–86 Godard bei einer ‹manuellen› Montage: «1948 durchqueren sie das Wasser, das gelobte Land» (TC 00:46:38) und «Die Palästinenser durchqueren das Wasser, in Richtung Ertrinken» (TC 00:46:41); Screenshots aus Notre musique Godards Lektüre der Fotos trägt dem unterschiedlichen Bezug Rechnung, den die beiden Gruppen zum Visuellen unterhalten: Während die zionistische Idee von Beginn an auf die Verwirklichung eines ‹Märchens› (Herzl) – ästhetisch gesprochen: einer Fiktion – zielte, waren die Palästinenser*innen mit deren Verwirklichung seit 1948 darauf verwiesen, ihrem erzwungenen Verschwinden dokumentarische Exis- tenzbeweise entgegenzuhalten. In der Verbindung von politischer Geschichte und ‹Visual History› steckt der Anspruch auf eine «Politik der Fiktion» (Jacques Ran- cière),327 etwa in Form des Projektes, Premingers Exodus einen ‹Anti-Exodus› ent- gegenzusetzen. Filme von Borhan Alaouyes’ Kafr Kassem (1975)328 bis zu Elia Suleimans The Time That Remains (2009)329 sind im Licht dieses Anspruchs zu sehen. Auf die Frage einer bosnischen Studentin, ob er glaube, dass die kleinen digi- talen Kameras das Kino retten werden, schweigt Godard vielsagend. Dass Godard die Gründung des Staates Israel mit dem fiktionalen Genre ver- knüpfte, war genauso dazu geeignet, zu provozieren, wie das narrative Ende des Filmes: Zurück in seinem Schweizer Domizil in Rolle erfährt er von einem – fik- tiven – Vorfall in einem Jerusalemer Kino: Olga Brodsky, eine Israelin mit rus- sischen Wurzeln, die ihm in Sarajewo eine DVD mit einem Film namens ‹Notre Musique› zukommen ließ, habe gedroht, sich in die Luft zu sprengen.330 Sie habe den anderen Kinozuschauer*innen fünf Minuten Zeit gegeben, sich zu entschei- 327 Vgl. Rancière, Jacques: «Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion», in: Linck, Dirck (Hg.): Realismus in den Künsten der Gegenwart, Zürich: Diaphanes 2010, S. 141–157. 328 Siehe Le Péron, Serge, Jean Narboni und Abdelwahab Meddeb: «Dossier: Le Cinema et la Pa- lestine [A propos du cinéma palestinien, par Serge Le Péron / Le sang changé en signe (Kafre Kassem), par Jean Narboni / La leçon sauvage (Kafr Kassem), par Abdelwahab Meddeb]», Ca- hiers du cinéma n° 256/1975, S. 35–51. 329 Siehe Kap. 6.2. 330 Vgl. Niels, Niessen: «ACCESS DENIED: Godard Palestine Representation», Cinema Journal 52/2/2013, S. 1–22, hier S. 2; weiters Doron, Miki: Who the Fuck Is Kafka?, München: dtv 2016, S. 54 f. 217 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville den, ob sie mit ihr für den Frieden sterben wollten. Man erfährt, dass sie von einem Scharfschützen erschossen wurde, in ihrer Tasche fanden sich nur Bücher. Im letzten Teil des Filmes taucht sie wieder auf, in einem irrealen ‹Paradies› am Ufer eines Sees, der von US-Marines bewacht wird. Sie teilt einen Apfel mit einem jungen Mann, als ob die Geschichte der Menschen noch einmal beginnen würde. Irmgard Emmelhainz sieht in Notre musique die Suche nach Möglichkeiten der Versöhnung, based on a collective memory constructed by free individuals within the bonds established by politics, giving way to living together in the manner of speech. […] Godard’s plea for the Palestinians’ ‹right to fiction› foregrounds the moment of Homeric impartiality.331 Das homerische Motiv einer mediterranen Odyssée bildete 2010 den narrativen Rahmen von Godards Film socialisme.332 Das Mittelmeer-Kreuzschiff Costa Con- cordia333 war der Schauplatz des ersten Teils des Films, der sich damit in eine hetero- tope Geschichte einschreibt: Für Foucault ist das ‹Schiff› nicht nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewe- sen ist […], sondern auch das größte Imaginationsarsenal. Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.334 Die Costa Concordia steuert von Algier an der nordafrikanischen Küste ent- lang nach Alexandria, von Haifa nach Odessa, zurück nach Griechenland, dann weiter nach Neapel und schließlich nach Barcelona. In Godards Film wird das Schiff zu einem heterotopen Ort, gleichzeitig ist es ein dystopischer Mikrokos- mos spätkapitalistischer Vergesellschaftung,335 dessen Betriebsamkeit in verpixel- ten Handy- Aufnahmen gezeigt wird. In das Spektakel der Vergnügungskreuz- fahrt fügt Godard die fiktionale Präsenz einiger Schauspieler*innen und realer Personen ein, etwa Patti Smith und Alain Badiou. Sie sind keine Tourist*innen, sondern scheinen alle mit den legendären Wegen des 1936 verschwundenen Gol- 331 Emmelhainz: «From Third Worldism to Empire», S. 655; weiters ds.: Jean-Luc Godard’s Political Filmmaking, Cham: Palgrave Macmillan 2019. 332 Der Film erlebte am 17.5.2010 bei den 63. Filmfestspielen in Cannes seine Weltpremiere. 333 Als das Schiff kurze Zeit nach den Dreharbeiten sank, wirkte dies wie ein absurder Epilog zu Godards Film, vgl. Corato, Nico de: «Costa Concordia was the set for a movie directed by Jean- Luc Godard» (4.2.2012), http://www.tobetravelagent.com/costa-concordia-was-the-set-for-a- movie-directed-by-jean-luc-godard (zugegriffen am 29.3.2016). 334 Foucault: «Andere Räume», S. 46. 335 Siehe Wallace, David Foster: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, Hamburg: Mare 2007. 218 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard des der spanischen Nationalbank zu tun haben, eine Fabel, die Barcelona, Odessa, Moskau und Palästina miteinander verbindet. Gold und Geld336 – das, wie es im Film einmal heißt, erfunden wurde «um den Menschen nicht in die Augen sehen zu müssen»  – sind wiederkehrende Topoi, genauso wie die Fragen nach dem Widerstand und nach dem Bild in der Ära des Displays. In HD-Video im Format 16:9 gedreht, war Film socialisme Godards erster rein digital produzierter Film. Sein Titel ist buchstäblich zu verstehen: Er stellt sich darin der Aufgabe, das Kino und den Sozialismus in einem Moment zusammenzudenken, in dem diese beiden Erfindungen des 19. Jahrhunderts nur noch ihren eigenen Tod zu wiederholen scheinen. In einem Brief an Godard schrieb der Philosoph und Schriftsteller Jean- Paul Curnier über die begriffliche Montage des Filmtitels:337 Wenn der Film Kraft braucht, Seele und Augen, Gedächtnis und Bejahung der Existenz zu erfinden, damit er gesehen wird, dann braucht jeder Akt, der sich explizit auf den Sozialismus bezieht, die Kraft, die Erfindung des Sozia- lismus anzuregen.338 In Godards Augen war das Kino an seiner Aufgabe gescheitert, Auschwitz zu bezeugen, wie der Sozialismus gewissermaßen an der Aufgabe, es zu verhindern: In dem Augenblick, in dem man darauf verzichtet hat, die Konzentrati- onslager zu filmen, war alles besiegelt. In diesem Augenblick hat das Kino vollkommen versagt. Sechs Millionen Menschen, vor allem Juden, wurden getötet und vergast, und das Kino war nicht zur Stelle. […] Indem es die Kon- zentrationslager nicht gefilmt hat, hat sich das Kino seiner Aufgabe vollkom- men entledigt.339 Dieses Versagen des Kinos wiederholte sich bis in die Gegenwart. Niels Niessen: Moreover, in Godard’s logic, cinema not only died in the face of Auschwitz but also died and continues to do so in the face of Vietnam, Bosnia, and Palestine.340 Die palästinensische Frage steht 2010 bei Godard nicht mehr im Zentrum, son- dern ist in eine filmische Erörterung der Frage nach dem Sozialismus einbezogen, der «einzige[n] passende[n] Antwort auf die Einsamkeit des Menschen» (Jean-Paul 336 Im Film finden sich Spuren der Lektüre von Braudels Geschichte des mediterranen Gold- handels; siehe Braudel, Fernand: «Monnaies et civilisations: De l’or du Soudan à l’argent d’Amerique. Un drame méditerranéen», Annales. Histoire, Sciences Sociales 1/1/1946, S. 9–22. 337 Der Film sollte ‹Socialisme› heißen. Nachdem Curnier in seinem Text fälschlicherweise ange- nommen hatte, der Film würde ‹Film Socialisme› heißen, behielt Godard diesen Titel bei. 338 Zit. nach Godard, Jean-Luc: Film Socialisme, Zürich: Diaphanes 2011, S. 109. 339 Zit. nach Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 200 f. 340 Niessen, Niels: «ACCESS DENIED: Godard Palestine Representation». 219 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 87–88 Eine palästinensische Passagierin betrachtet ein Foto der Bucht von Haifa von 1839 (TC 00:30:47), ein Insert verweist auf den blockierten Zugang zu Palästina (TC 00:31:44); Screenshots aus Film socialisme Curnier).341 Palästina ist im Film zunächst durch eine Daguerrotypie aus dem Jahr 1839 repräsentiert. Elias Sanbar erzählt auf dem Schiff die Geschichte dieses Bildes, das die pittoreske Ansicht der Bucht des osmanischen Haifa zeigt.342 Eine palästi- nensische Passagierin betrachtet das Bild: «Where are you now my beloved home- land?» (Abb.  87). Nach einer Einstellung, die Tourist*innen beim Verlassen des Schiffes zeigt, folgt auf ein Insert «PALESTINE» ein weiteres: «ACCESS DENIED» (Abb. 88). Anders als die anderen im Film angesteuerten Orte scheint Palästina blo- ckiert, unzugänglich, unsichtbar. Es folgt eine stumme Aufnahme des Kreuzschif- fes, von der Ferne aus gesehen. Für Niels Niessen macht Godard in dieser Montage eine Leerstelle sichtbar: Die lange Einstellung auf die Costa Concordia repräsentiere im Film einen Blick auf das Schiff von außen, von Gaza her, einem Territorium im Ausnahmezustand, dessen Realität von der Repräsentation ausgeschlossen ist.343 Mit der Frage «QUO VADIS EUROPA» ist der lange Mittelteil dieses «befremd- lichen, monströsen Experimentalessays»344 überschrieben. Er zeigt Szenen und Dia- loge der fiktiven Familie Martin, die in den französischen Savoyen eine Tankstelle betreibt. In deren Gespräche sind Sätze eingestreut, die die Eckpunkte eines kom- menden Sozialismus formulieren: «Der Staat träumt davon, allein zu sein, das Indi- viduum davon, zwei zu sein.»345 Und: «Überhaupt keine Macht, eine Gesellschaft, kein Staat.» Dies lässt an ein Fragment denken, das Walter Benjamin – für Godard seit den Histoire(s) du cinéma eine wichtige Referenz – 1918 notierte: DIE ETHIK, auf die Geschichte angewendet, ist die Lehre von der Revolution auf den Staat angewendet die Lehre von der Anarchie346 341 Zit. nach Godard: Film Socialisme, S. 111. 342 Siehe Sanbar: Les Palestiniens. La photographie d’une terre et de son peuple de 1839 à nos jours. 343 Vgl. Niessen: «ACCESS DENIED», S. 18 f. 344 Lenssen, Claudia: «Film von Godard: Revolution als flüchtiges Puzzle», Die Zeit 28.9.2011, http://www.zeit.de/kultur/film/2011-09/film-socialisme (zugegriffen am 29.3.2016). 345 In der Buchpublikation zum Film sind nach diesen Sätzen Fotos von Hans und Sophie Scholl gesetzt, die im Film selbst nicht vorkommen; vgl. Godard: Film Socialisme, S. 60. 346 Benjamin, Walter: «Fragmente vermischten Inhalts» [1918], GS VI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 91–93, hier S. 91. 220 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard Durch Inserts auf schwarzem Grund werden die Inszenierungen an der Tankstelle als fiktionales Reenactment von Ereignissen aus der Zeit der Résistance kennt- lich gemacht. In Toulouse gab es ein kleines Netzwerk namens ‹Familie Martin›, das Teil der Combat-Bewegung war.347 Die Devise der Martins – «Unsere Mensch- heiten befreien und vereinigen [libérer et fédérer nos humanités]» – bildet das Leit- motiv für die letzte Viertelstunde des Films, in der ein mediterranes Kräftefeld zusammengefügt wird: Égypte, Palestine, Odessa, Hellas, Napoli und Barcelona. Film socialisme verwebt die Hafentreppen-Sequenz aus Panzerkreuzer Potem- kin  – Inbegriff filmischer Darstellung empörenden Unrechts  – mit Videoaufnah- men derselben Hafentreppe 2010, Archivaufnahmen von der Ankunft der US-Alli- ierten in Neapel 1943 und aus dem Spanischen Bürgerkriegund verknüpft Fernseh- bilder von Demonstrationen der spanischen Linken mit Texten von Jean Genet, Jean- Paul Sartre, Hannah Arendt, Gershom Scholem und Simone Weil. Die Montage ver- dichtet dabei Bilder, Texte und Inserts bis zur Unlesbarkeit. Sie wird zu einer Art audiovisuellen Stenografie, zu deren Entzifferung und Interpretation die DVD- Edi- tion unverzichtbar ist.348 Es geht in diesen Sequenzen nicht um eine dokumentarische Repräsentation der geografischen Stationen, sondern um die sinnliche Vergegenwär- tigung ihrer legendären Existenzweise. Amy Taubin: «Generous as the movie is with visual beauty, it is equally withholding of linguistic meaning.»349 Bevor der Film nach diesen erratischen Montagen mit dem Insert «NO COMMENT» endet, taucht ein Satz Pascals auf, der die Legitimität des Widerstands über die Legalität des Staates stellt: «Wenn das Gesetz nicht gerecht ist, hat die Gerechtigkeit Vorrang vor dem Gesetz.» Wie auch die anderen Sequenzen des letzten Teils sträubt sich die knapp 4-minütige Sequenz, die «PALESTINE» gewidmet ist, gegen ihre Wahrnehmung auf den ersten Blick.350 Die Analyse kann nicht anders, als einige Elemente her- ausgreifen: Die typografische Montage des arabischen Schriftzugs «Staat Palästi- na»,351 der vom hebräischen Wort «Israel» überschrieben wird, übersetzt das Nah- ostproblem in ein einfaches Schriftbild (Abb. 89). Hände betätigen den Auslöser einer Daguerre-Kamera, die Inszenierung erinnert an den Beginn der mediati- sierten Wahrnehmung Palästinas, den Eintritt des ‹Nahen› Ostens ins «Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit» (Walter Benjamin). Während das Dispositiv des Kinos im Begriff ist, in den Kanälen von YouTube zu verschwinden, erinnert sich Film socialisme an den Ursprung des fotochemischen Bildes. Bereits 1839 war den Bildern eine Politik eingeschrieben, wie ein Text aus Godards erstem Sze- nario formuliert: «In großer Zahl kommen Photographen, um Illustrationen für 347 Vgl. Godard: Film Socialisme, S. 70–74. 348 Siehe Godard, Jean-Luc: Film socialisme [DVD+Booklet], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. 349 Taubin, Amy: «Wiping the Slate Clean», Film Comment 46/5/2010, S. 44–46, hier S. 45. 350 Film socialisme (TC 01:23:15–01:26:54). 351 Beim arabischen Wort «Falastin» fehlt im Film der letzte Buchstabe. 221 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville 89–92 Schriftbild des Nahostkonflikts (TC 01:23:35), ein Reportagefoto aus dem Kontext der Besetzung (TC 01:24:05), ein Kader aus Jean-Daniel Pollets Méditerranée (TC 01:24:19), ein schlafender Fedayin von 1969 und ein Brief von Gershom Scholem von 1926 (TC 01:24:30); Screenshots aus Film socialisme Reisebücher anzufertigen, die darauf abzielen, eine dauernde Präsenz der Bibel in diesem Land zu herzustellen.»352 Indem die frühe Fotografie das religiöse Narrativ der sichtbaren Landschaft einschrieb, kam es zu einer folgenreichen Transfigura- tion des ‹Chronotopos Palästina›. Die Sequenz enthält eine kurze Einstellung aus Claude Lanzmanns Tsahal sowie ein Reportagefoto (Abb. 90), das einen IDF-Soldaten zeigt, der eine Reihe von Gefangenen anführt, denen die Augen verbunden worden sind. Die israeli- sche Besetzung palästinensischer Gebiete erscheint hier als eine repressive Politik der Sichtbarkeit, die direkt auf die Körper und die Sinne einwirkt. Auch eine Ein- stellung aus Jean-Daniel Pollets stummem Filmessay Méditerranée (F 1963)353 variiert, was früher schon ausgeprochen wurde: Palästina, inbesondere Gaza, wo 352 Godard, Jean-Luc: «Scénario de Film socialisme», S. 25, http://debordements.fr/pdf/Socialime-JLG. pdf. (Übers. d. A.) Hatte John Murray’s erster Reiseführer für das ‹Hl. Land› noch die Bibel als besten Führer empfohlen, hieß es 1876 im Baedeker: «Palestine is the best guide to the Bible.» Vgl. Goldhill, Simon: «Jerusalem», in: Gange, D. und M. Ledger-Lomas (Hg.): Cities of God. The Bible and Archaeology in Nineteenth-Century Britain, Cambridge UP 2013, S. 71–109, hier S. 87; Goldhill schreibt: «That is, the reality of Palestine, its landcapes, people, physical impact, will guide a read- ing of the Scripture – reading the bible is now grounded in the real – and photography as a practice played an integral role in this new authorization of the word by the facts on the ground», ebd. 353 Siehe Neyrat, Cyril: «L’essai à la limite de la terre et de l’eau», in: Liandrat-Guigues, Suzanne und Murielle Gagnebin (Hg.): L’essai et le cinéma, Seyssel: Champ Vallon 2004, S. 157–170. Pol- lets Film war eine wichtige Inspirationsquelle für Godards Le mepris (F 1963), in dem er zum ersten Mal den homerischen Mittelmeerraum in den Blick genommen hatte. 222 4.3 Palästina-Israel beim späten Godard um die Jahreswende 2008/09 über 1400 Menschen bei israelischen Luftangriffen getötet wurden, ist ein der Wahrnehmung entzogenes Territorium (Abb. 91). Weitere intervisuelle und -textuelle Verweise kollidieren in einer Montage, die religiöse Bezüge der israelischen Politik in den Blick nimmt. Der Film zitiert einen Brief, den Gershom Scholem 1926 aus Jerusalem an Franz Rosenzweig in Berlin schrieb. Zu Scholems Warnung vor der Wiederbelebung des Hebräischen montiert Godard Heinrich Hoffmanns Fotos des gestikulierenden Hitler von 1927. Dann folgt ein Bild aus dem Material von ‹Jusqu’à la victoire›: ein schlafen- der Fedayin (Abb. 92), dazu Scholems Text: «Dieses Land ist ein Vulkan. Und der Tag wird kommen, an dem die Sprache sich gegen die wenden wird, die sie spre- chen.» Scholems Brief hatte bereits in Udi Alonis Local Angel (ISR/USA 2002)354 eine zentrale Rolle gespielt, aus dem Godard auch eine Einstellung in seine Paläs- tina-Sequenz aufnahm: die Aufnahme eines marmornen Engels, der vom christ- lich-palästinensischen Friedhof von Jaffa aufs Meer blickt. Wie bereits Aloni, zitiert Godard hier die biblische Erzählung vom Engel, der Abraham vom Opfer Isaaks zurückhält. Godard lässt Isaak seinen Vater fragen: «Ich sehe das Feuer, ich sehe das Messer, aber wo ist das Lamm?» Abraham antwortet: «Gott wird es für ein Brandopfer [Holocaust] zur Verfügung stellen.» Ein düster hallender Klavierak- kord begleitet einen Jump Cut zu schwarz-weißen Aufnahmen eines Leichnams, der am Boden entlang geschleift wird, ein schwarzes Insert bezeichnet das Bild: «JUIF», «Jude». Eine zweite Einstellung aus derselben Footage enthält das Insert «MUSULMAN». Godard variiert hier noch einmal die Montage, die ihn seit 1969 beschäftigt. Während im Szenario für den Film Israel noch als Station der Reise vorgesehen war,355 ist dieser Topos im fertigen Film nicht mehr enthalten. In der gesamten ‹Palästina›-Sequenz findet sich kein Hinweis darauf, dass Israel einmal mit der historischen Hoffnung der Juden und Jüdinnen verbunden war, ein Land auf der Grundlage jener Prinzipien der Gerechtigkeit, Moral und Menschlichkeit aufzubauen, die ihnen in ihrer gesamten Geschichte vorent- halten worden waren.356 Film socialisme zählt Haifa und Tel Aviv nicht zu den Orten, die er unter der Überschrift «nos humanités» vereint. Nach der Aufnahme eines über das Meer fliegenden Kampfflugzeugs US-amerikanischer Herkunft endet die ‹Palästina›- Sequenz mit Aufnahmen eines Wasservogels, der erfolglos versucht, einem Kro- kodil zu enkommen. Die Montage lässt keinen Interpretationsspielraum: Der Staat Israel beruht auf dem Recht des Stärkeren, sein Gesetz ist nicht gerecht, Widerstand 354 Siehe S. 248 f. 355 Godard, Jean-Luc: «Scénario de Film socialisme», S. 16, http://debordements.fr/pdf/Socialime- JLG.pdf (zugegriffen am 5.6.2019). 356 Illouz: Israel, S. 222. 223 4 Hier und Anderswo. Palästina in Filmen von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville daher gerechtfertigt. Von jener Hoffnung, die 1878 Naphtali Herz Imber in seinem Gedicht Tikvatenu (‹Unsere Hoffnung›), der Textgrundlage der israelischen Natio- nalhymne besungen hat,357 ist aus Godards Sicht nur die Hybris des Siegers übrig.358 Kann die Existenz eines Film die Möglichkeit eines anderen begründen? Zuletzt ist es wichtig, auf die produktiven Transfers und Aneignungen hinzuwei- sen, die Jean-Luc Godards Filmarbeit im palästinensischen Kontext erfahren hat. Michel Khleifis The Fertile Memory (PAL 1978)359 profitierte entscheidend von der Selbstkritik des militanten Diskurses in Ici et ailleurs, von seinem selbstre- flexiven Blickwechsel und seiner Dekonstruktion des Dispositivs des klassischen Revolutionskinos. The Fertile Memory erforschte jene mikropolitischen Zwi- schenräume, die Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville geöffnet hatten, und gab jenen vor allem weiblichen Stimmen Raum, von denen Ici et ailleurs gezeigt hatte, dass sie durch den militanten Diskurs immer wieder zum Schwei- gen gebracht worden waren. Rückblickend schrieb Michel Khleifi über The Fer- tile Memory: This film turned upside down the PLO’s militant cinema. It demonstrated that it is more important to show the thinking that leads to a political slogan rather than the expression of this slogan that is political discourse.360 Das neue palästinensische Kino, das sich Ende der 1970er-Jahre in den Filmen von Khleifi und anderen artikulierte, arbeitete an der Möglichkeit einer kom- menden Demokratie, indem es neue Perspektiven, Formen und Subjektivierun- gen produzierte. Es konnte sich dabei auf die ‹Caméra-stylo› Alexandre Astrucs und auf das essayistische Kino Godards und Miévilles berufen: I think that in our case, the only way to confront the power of commercial cin- ema is to use a camera like you would use a pen.361 […] To see and to listen, said Godard.362 357 Vgl. ebd. 358 Nach der Premiere des Films und der Verleihung des Oscars für sein Lebenswerk kam es wie- der zu einer öffentlichen Debatte um den Vorwurf, Godard sei Antisemit, siehe etwa Harris, Paul: «Jean-Luc Godard’s Oscar rekindles antisemitism row», The Guardian 14.11.2010, https:// www.theguardian.com/film/2010/nov/14/jean-luc-godard-oscar-antisemitism (zugegriffen am 3.5.2017). Daniel Cohn-Bendit u. a. nahmen Godard in Schutz, vgl. Cohn-Bendit, Daniel: «Mon ami Godard», in: Godard, Jean Luc und Marcel Ophuls: Dialogues sur le cinéma, Collection ‹Ciné-politique›, Lormont: Bord de l’eau 2011, S. 85–97. 359 Siehe S. 317 f. 360 Khleifi, Michel: «From reality to fiction. From poverty to expression» (El País 1997), in: Daba- shi, Hamid (Hg.): Dreams of a nation. On Palestinian cinema, London u. a.: Verso 2006, S. 45– 57, hier S. 51. 361 Ebd., S. 49. 362 Ebd., S. 50. 224 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Laissez donc, ô invités du lieu, quelques sièges libres pour les hôtes, qu’ils vous donnent lecture des conditions de la paix avec les défunts. Mahmoud Darwish, Discours de l’indien rouge (1992)1 Im Zeichen der gescheiterten Friedensgespräche von Camp David II und dem Beginn der Zweiten Intifada im September 20002 entstanden in Israel Essayfilme, die sich emphatisch auf den literarischen Essayismus von Autor*innen der jüdi- schen Diaspora bezogen. Texte von Sigmund Freud, Walter Benjamin, Gershom Scholem und Jacques Derrida etwa wurden in diesen filmischen Kunstwerken zu Katalysatoren für eine ästhetische Bearbeitung dominanter Master-Narra- tive. Das folgende analytische ‹Kraftfeld› greift aus dem jüngeren Filmschaffen in Israel zwei markante Stimmen heraus: Ariella Azoulay und Udi Aloni. Ihre zeitnah entstandenen Essayfilme The Angel of History (ISR 2000) und Local Angel (ISR/USA 2002) eignen sich Walter Benjamins berühmte geschichtsphi- losophische These über den ‹Engel der Geschichte› an und transponieren ihn in den israelisch-palästinensischen Kontext. Beide Filme sind auch ein Symptom der verspäteten Ankunft jüdisch-diasporischen Denkens in Israel. Welche unterschiedlichen Bildauffassungen und ästhetischen Politiken impli- zieren diese Filme? Wie versuchen sie, ein Denken in Bildern in Gang zu setzen? Unter welchen Vorzeichen eignen sie sich Stimmen der jüdischen Diaspora an? 1 Darwish, Mahmoud: «Discours de l’indien rouge» (Übers. aus dem Arabischen v. Elias San- bar), Revue d’études palestiniennes 46/1993, S. 3–10, hier S. 10: «Lasst also, oh geladene Gäste dieses Ortes, einige Plätze frei für die Gastgeber, damit sie vor Euch Bedingungen verlesen für den Frieden mit den Verstorbenen.» (Übers. d. Autors). 2 Siehe etwa Said, Edward W.: Das Ende des Friedensprozesses. Oslo und danach, Berlin 2002. 225 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Wie reagieren die beiden Künstler*innen, die derselben Generation angehören, auf die Erfahrung eines täglichen Ausnahmezustands, insbesondere nach dem Mord an Jitzchak Rabin? Die israelische Rezeption Walter Benjamins (1892–1940)3 erfolgte verzögert wie auch jene Hannah Arendts4 und der Kritischen Theorie.5 Nachdem sie nur parti- ell und mit Verspätung aufgenommen wurden, sind die Texte Benjamins heute für zahlreiche Wissenschaftler*innen und Künstler*innen in Israel ein wichtiger theoretischer Bezugspunkt.6 Jahrzehntelang wurde ihre Rezeption durch die Per- son Gershom Scholems (1897–1982) bestimmt, den Wiederentdecker der jüdischen Mystik und der Kabbala – und Freund Walter Benjamins.7 Scholem korrespon- dierte jahrzehntelang mit Benjamin über einen Besuch, gar eine Übersiedelung nach Palästina. Benjamin beschäftigte sich seit 1912 mit dem Zionismus, mit des- sen Sache er sich aber nie ganz identifizieren wollte.8 In der ‹arabischen Frage› sym- pathisierte er mit Scholem, der sich im Rahmen der kleinen Gruppe Brit Shalom (Friedensbund)9 für jüdisch-arabische Kooperation und für einen binationalen Staat im britischen Mandatsgebiet Palästina einsetzte. Benjamin fand, dass diese politische Position in ihrer Dissidenz seiner eigenen anti-bürgerlichen Haltung in Deutschland entsprach, wie er Scholem im April 1931 in einem Brief mitteilte: Wenn ich in Palästina wäre – sehr möglich, daß die Dinge dann ganz anders lägen. Deine Stellung in der Araberfrage beweist, daß es dort noch ganz andere Methoden eindeutiger Differenzierung von der Bourgeoisie gibt als hier. Hier gibt es sie nicht. Hier gibt es nicht einmal die.10 3 Siehe Liska, Vivian und Tamara Eisenberg: «A Travel Guide to Palestine. Walter Benjamin in Israel», Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte 2/2/2009, S. 301–327. 4 Siehe Aschheim, Steven E. (Hg.): Hannah Arendt in Jerusalem, Berkeley CA: University of Ca- lifornia Press 2001. Eichmann in Jerusalem wurde erst 2000 in hebräischer Sprache publiziert. 5 Siehe Zuckerman, Moshe: «Kritische Theorie in Israel  – Analyse einer Nichtrezeption», in: ds. (Hg.): Theodor W. Adorno: Philosoph des beschädigten Lebens, Göttingen: Wallstein 2004, S. 9–24. 6 Liska/Eisenberg: «A Travel Guide to Palestine», S. 315. 7 Zur Freundschaft zwischen Benjamin und Scholem siehe den Beitrag von Stephane Mosès in: Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u. a.: Metz- ler 2011, S. 59–76; sowie Palmier, Jean-Michel: Walter Benjamin: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 193 ff. 8 Vgl. Benjamins Briefe an Ludwig Strauss, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe, Band 1: 1910–1918, hg. v. Christoph Gödde, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 61 ff. 9 Weitere Mitglieder waren Martin Buber, Arthur Ruppin, Hugo Bergmann, Hans Kohn, Ernst Simon, Felix und Robert Weltsch, Yehoshua Radler-Feldman Ha-Talmi und Yaakov Yonathan Thon. Der ‹Brit Shalom› wurde 1925 gegründet, 1931 wurde er aus dem Zionistenkongress aus- geschlossen und löste sich in den Jahren danach auf; vgl. auch S. 98. 10 Zit. nach Scholem, Gershom: Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 290; siehe Liska/Eisenberg: «A Travel Guide to Palestine», S. 301 f. 226 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Scholem sah in Benjamin einen jüdischen Mystiker in der Moderne, seine mar- xistischen, deutschen und französischen Orientierun- gen erschienen ihm dagegen äußerlich. Scholems eigenes Verhältnis zur Religion und zum Zionismus war ambi- valent: Er warnte vor den Gefahren einer Übertra- gung des Messianismus in den Bereich säkularer Poli- tik, glaubte aber nach dem arabischen Aufstand von 1936 nicht mehr an die Mög- lichkeit einer binationalen Lösung  – ab diesem Zeit- punkt sei der Weg in Rich- tung Krieg und Gründung 93 Paul Klee: Angelus Novus (1920), 31,8 x 24,2 cm, Israel des jüdischen Staates 1948 Museum Jerusalem (Inv. Nr. B 87.994) vorgezeichnet gewesen.11 Seit Mitte der 1980er-J ahr e begann eine jüngere Generation, sich Benjamins Werk anzueignen. In dieser neuen Rezeption gewannen seine Texte «potentially explosive relevance in Israel»,12 wie Vivian Liska und Tamara Eisenberg formulie- ren. Gründe dafür waren die zunehmende Polarisierung der israelischen Gesell- schaft, das Entstehen einer postzionistischen Kritik zionistischer Master-Narra- tive13 und die Internationalisierung des akademischen Diskurses in Israel.14 In Israel waren seit 1977, als die dreißig Jahre währende Hegemonie der links-zionis- tischen Awoda durch die erste Likud-Regierung unter Menachem Begin endete, tiefe Bruchlinien entstanden, die in den 1980er- und 1990er-Jahren immer deut- licher zu Tage traten. Liska/Eisenberg: 11 Vgl. Biale, David: «Scholem und der moderne Nationalismus», in: Schäfer, Peter (Hg.): Ger- shom Scholem – Zwischen den Disziplinen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 257–274, hier S. 262. 12 Liska/Eisenberg: «A Travel Guide to Palestine», S. 303. 13 Vgl. Timm: Israel, S. 247 ff.; weiters Brumlik, Micha: «Zionismus/Antizionismus/Postzionis- mus», in: Braun, Christina von und Micha Brumlik (Hg.): Handbuch Jüdische Studien, Köln/ Weimar: Böhlau/UTB 2018, S. 371–383, hier S. 382 f. 14 Vgl. Silberstein, Lawrence Jay: The Postzionism debates. Knowledge and power in Israeli culture, London / New York: Routledge 1999, Kap. 4. 227 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni The religious right became more radical and so did the left, bringing forth activists and thinkers like the ‹New Historians›, who revised the early history of the Jewish State, demystified its founding myths, and increasingly calling Zionist ideology as such into question. Benjamin became an important figure among the radical fringe of this new, non-Marxist left.15 Vor allem auf drei Texte konzentrierte sich die künstlerische und wissenschaft- liche Rezeption: Zur Kritik der Gewalt16 von 1920/21, in dem Benjamin die Aus- übung staatlicher Gewalt fundamental kritisierte, das Theologisch-politische Frag- ment17 aus derselben Zeit, das eine aus israelischer Sicht hochaktuelle Kritik an der Idee der Theokratie und des Messianismus enthält, und schließlich die zwan- zig Jahre später im von den Nationalsozialisten besetzten Paris ausgearbeiteten Thesen Über den Begriff der Geschichte.18 Benjamin verfasste diesen Text unter dem Eindruck der Erfolge des Nazismus, der Schauprozesse und des Hitler-Sta- lin-Paktes. Er kritisierte darin den fatalen Fortschrittsglauben der Linken, die zu diesen Erfolgen beigetragen hatte, indem sie ihre Anhänger*innen in der Sicher- heit gewiegt hatte, die dialektische Logik des Geschichtsprozesses werde quasi automatisch zum Sieg der Arbeiterklasse führen, selbst wenn die tägliche Erfah- rung diesem Glauben Hohn spottete. «Wir befinden uns im Nadir der Demokra- tie», hatte er im August 1940 gegenüber Stéphane Hessel geäußert.19 Die berühmte 9. These Über den Begriff der Geschichte bestand in der Inter- pretation eines Bildes von Paul Klee mit dem Titel Angelus Novus, das Benjamin 1921 gekauft hatte (Abb. 93).20 Bevor er vor den Nazis aus Paris floh, vertraute er das Bild Georges Bataille an, der es in der Bibliothèque Nationale versteckte. Die- ser schickte es nach Kriegsende nach New York zu Theodor W. Adorno, über den es schließlich zu Gershom Scholem nach Jerusalem gelangte. Nach dessen Tod wurde es 1982 in die Sammlungen des Israel Museum aufgenommen.21 Benjamin hatte die visuelle Anordnung des Bildes in eine Fabel übersetzt, in der die Kate- gorien des historischen Materialismus durch theologische Begriffe ersetzt waren: 15 Liska/Eisenberg: «A Travel Guide to Palestine», S. 304. 16 Benjamin, Walter: «Zur Kritik der Gewalt», GS II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 179–203. 17 Benjamin, Walter: [«Theologisch-politisches Fragment»], GS II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 203–204. 18 Benjamin, Walter: «Über den Begriff der Geschichte», GS I.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 693–704. 19 Hessel/Sanbar: Israel und Palästina, S. 46. Das arabische Wort ‹Nadir› bezeichnet den Tief- punkt einer geometrischen Kurve bzw. einer Entwicklung. 20 Scholem, Gershom: Walter Benjamin und sein Engel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 35–72. 21 Auf dessen Website heißt es: «There is something almost mystical about the presence in Israel’s national museum of this pivotal work, once the prized possession of two of the greatest Jewish thinkers of the twentieth century.» https://www.imj.org.il/en/collections/199799 (zugegriffen am 31.5.2018). In The Museum von Ran Tal (ISR 2017) taucht das Bild nur einen Augenblick auf. 228 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf darge- stellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flü- gel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.22 Diese mit dem Namen ‹Engel der Geschichte›23 bezeichnete intervisuelle Kons- tellation von Klees Bild und Benjamins Text bildete den Kristallisationspunkt für die hier analysierten Filme. Die «linke Ikone»24 des Angelus Novus fungiert in diesen Essayfilmen als produktives «Hyperzitat», als ein «Artefakt, das multiple intertextuelle Referenzen erzeugt.»25 Die bereits bei Benjamin selbst essayistische Verknüpfung eines Bildes mit einem Kommentar kam den film essayistischen Bezugnahmen Ariella Azoulays und Udi Alonis entgegen.26 Wie auch diese sich gegenüber dem ‹Urtext› in ganz unterschiedlicher Weise Freiheiten herausneh- men, soll im Folgenden dargestellt werden. 22 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697 f. 23 Siehe Mosès, Stéphane: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag  / Suhrkamp 1994; weiters Herkommer, Hubert: «‹Angelus Novus› und ‹Engel der Geschichte›: Paul Klee und Walter Benjamin», in: ds. u. a. (Hg.): Engel, Teufel und Dämonen: Einblicke in die Geisterwelt des Mittelalters, Basel: Schwa- be 2006, S. 225–22; sowie Eberlein, Johann Konrad: ‹Angelus Novus›. Paul Klees Bild und Wal- ter Benjamins Deutung, Freiburg i. Br. u. a.: Rombach 2006. Zu weiteren Bezugnahmen auf den ‹Engel der Geschichte› siehe Bürkli, Anna und Juri Steiner (Hg.): Lost paradise – der Blick des Engels, Bern: Zentrum Paul Klee 2008. 2016 kuratierte Sara Raza im Guggenheim Muse- um die Ausstellung ‹But a Storm Is Blowing from Paradise: Contemporary Art of the Midd- le East and North Africa›, 11.2.2016: https://www.guggenheim.org/exhibition/but-a-storm-is- blowing-from-paradise-contemporary-art-of-the-middle-east-and-north-africa (zugegriffen am 25.5.2016). 24 Werckmeister, Otto Karl: Linke Ikonen: Benjamin, Eisenstein, Picasso – nach dem Fall des Kom- munismus, München/Wien: Hanser 1997. 25 Mirzoeff: «Die multiple Sicht. Diaspora und visuelle Kultur», S. 38. 26 Zu filmischen Bearbeitungen Benjamin’scher Texte siehe Dotzler, Bernhard J. und Jutta Mül- ler-Tamm: «Film nach Benjamin. Bild und Erzählung im Denken der Kinematographie», in: Schöttker, Detlev (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 208–19; zu Benjamins Beschäftigung mit der visuellen Kultur siehe Dotzler, Bernhard J. und Jutta Müller-Tamm: «Benjamins Bilderwelten. Objekte, Theorien, Wirkungen», in: Schöttker, Detlev (Hg.): Schrift Bilder Denken, S. 9–29; zum Motiv des Engels im Kino siehe Jaspers, Kristina (Hg.): Flügelschlag. Engel im Film, Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek 2003. 229 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay 1996 erschien in Israel die erste hebräische Übersetzung von Benjamins The- sen Über den Begriff der Geschichte. Wer sie Ende der 1990er-Jahre in Israel las, musste unweigerlich an die Zuspitzung der inner-israelischen sozialen Konflikte denken, die ein Jahr zuvor im Attentat auf Jitzchak Rabin gegipfelt hatten. Eine der genauesten Leser*innen Benjamins war in diesem Moment die 1962 in Tel Aviv geborene Ariella Azoulay, die sich seit den 1990er-Jahren27 als Wissenschaft- lerin,28 Kuratorin29 und Filmemacherin30 mit der Visualität des israelisch-palästi- nensischen Zusammenhangs beschäftigt. Azoulays theoretische, historische und kuratorisch-künstlerische Auseinandersetzung mit Bildpolitik speist sich direkt aus der Erfahrung des lokalen Ausnahmezustandes und seiner täglichen Mediati- sierung. In der Einleitung zu ihrem Hauptwerk The civil contract of photography, an dem sie während der Zweiten Intifada zu arbeiten begann, schrieb sie: I can say that observing the unbearable sights presented in photographs from the Occupied Territories, encountering them in the national context within which they were presented and enduring the difficulty of facing them day after day, formed the main motives for writing this book.31 Ihr Essayfilm The Angel of History (ISR 2000) entstand im Kontext einer gleichnamigen Ausstellung, die sie im Herzliya Museum of Contemporary Art kuratierte. Der Film ist ein audiovisueller Katalog zur Ausstellung, der dem Dis- positiv der Ausstellung weitere Layer hinzufügt. Deren räumliche Anordnung wird in eine Serie von filmischen Episoden aufgelöst, in denen Kunstwerke sze- nisch, dialogisch oder installativ präsentiert werden, die in Auseinandersetzung mit dem Benjamin’schen Text entstanden sind  – Kunstwerke von Boaz Arad, 27 Vgl. Silberstein: The Postzionism debates. Knowledge and power in Israeli culture, S.  187 ff. Die Website http://cargocollective.com/AriellaAzoulay (zugegriffen am 28.5.2017) gibt einen Überblick über die zahlreichen Projekte Azoulays. 28 Siehe u. a. Azoulay, Ariella: Death’s showcase. The power of image in contemporary democracy, Cambridge MA: MIT Press 2001; ds.: The civil contract of photography, New York NY: Zone Books 2008; ds.: Civil imagination. A political ontology of photography, London / New York: Verso 2012; ds.: Potential History, London / New York: Verso 2019. 29 Siehe u. a. Azoulay, Ariella: From Palestine to Israel: A photographic record of destruction and state formation, 1947–1950, London: Pluto 2011; ds.: Act Of State – 1967–2007 / Photographed History Of The Occupation, o. O.: Etgar 2008 [hebr.]. 30 Weitere Filme von Ariella Azoulay: Civil Alliances, Palestine, 47–48 (2012), At Nightfall (2005), The Food Chain (2004), I Also Dwell Among Your Own People: Conversations With Azmi Bishara (2004), Chaira’s Smile (2002), A Sign From Heaven (1995). 31 Azoulay: The civil contract of photography, S. 16; siehe Jurich, Joscelyn: «You Could Get Used to It: Susan Sontag, Ariella Azoulay, and Photography’s Sensus Communis», Afterimage 42/5/ 2015, S. 10–15. 230 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay Marie-Ange Guilleminot, Gideon Gechtman, Aim Deuel Luski, Michal Heiman, Sigalit Landau, Doron Solomons, Justin Frank, Roee Rosen und Miki Kratsman. Die Örtlichkeit des Museums wird im Film erweitert, indem andere Räume ins Spiel gebracht werden: ein Atelier, ein Friedhof, ein Theater, der Platz, auf dem Jitzchak Rabin erschossen wurde. Der Film stellt Relationen her, die das Disposi- tiv der Ausstellung überschreiten. Ariella Azoulay: The movie probes beyond the standard and limited museal relationships between artist and work or viewer and work, exposing the fragile, troubled and intimate relations between the various protagonists who participate in the becoming-public of the work of art: between a daughter and her mother, between an analyst and his patient, between father and son, between photo- grapher and photographic subject, between a ghost from the past and con- temporary figures, and between hangman and victim.32 Azoulay interviewt die Künstler*innen vor ihren Kunstwerken und Installati- onen, mit Schauspielerinnen inszeniert sie Szenen und Choreografien, die die Kunstwerke in Bewegung bringen. Im Zusammenspiel mit den multimedia- len künstlerischen Anordnungen entsteht eine komplexe Collage aus heterokli- ten audiovisuellen Materialien: Texte, Stimmen, Körper, Projektionen, Schriftin- serts, Objekte und Fotografien. Der ‹Engel der Geschichte› fungiert als kollektiver Intertext, um eine Vergangenheit zu adressieren, die nicht aufhört, in der Gegen- wart wiederzukehren. Der Benjamin’sche Text bleibt dabei nicht sakrosankt, son- dern wird produktiv angeeignet, inszeniert und umgeschrieben. Klees Zeichnung taucht im ganzen Film kein einziges Mal auf. Die Medienkünstlerin Michal Heiman verschiebt ein Dispositiv in ein ande- res, um ihm eine neue Funktion zu geben, «to build a different apparatus»: Das psychoanalytische Setting wird im Museum in eine interaktive Videoinstallation umgebaut, in eine Apparatur zur Untersuchung des kollektiven Imaginären: Besu- cher*innen der Ausstellung legen sich auf die Couch und erhalten eine Box, die sie nach genauen Instruktionen verwenden sollen. Im Film liest eine junge Frau aus diesem performativen Text, der jede*n Betrachter*in persönlich adressiert: «It is meant only for you, covered in nylon which protects it from the touch of strange hands. This box is an invitation to break the silence. Yours. The photo- grapher’s, someone else’s. This is an invitation to testify.» Die Box enthält eine Serie von Fotos: Frauen auf der Couch, im Bett, beim Baden, im Urlaub, Fotos von Hausfrauen, Arbeiterinnen, einer Terroristin, ein pornografisches 32 Azoulay, Ariella: «The Angel of History» (2000): http://cargocollective.com/AriellaAzoulay/ filter/Films/The-Angel-of-History (zugegriffen am 17.6.2016). 231 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 94–95 Michal Heimans multimediales Setting zur Analyse des kollektiven Unbewussten (TC 00:19:44) und des Unbewussten der Bilder (TC 00:21:41); Screenshots aus The Angel of History Bild – und Fotos der verstorbenen Mutter der Künstlerin. Die Besucher*innen sol- len zu diesen Bildern assoziieren wie Freuds Patient*innen über ihre Träume und Phantasien, während über der Couch die Videoaufnahme dieser Situation live pro- jiziert wird (Abb. 94). Die Kamera sei ein symbolischer Phallus, erklärt Heiman. Ihre Installation würde dagegen nicht nur Menschen zum Sprechen verhelfen, auch die Fotos selbst würden zu ‹Patienten› einer kollektiven Analyse: «Probably the first man whom I treat, who is my patient, will be a picture I found only recently. A photograph of Eichmann lying on a bed.»33 Heiman erfindet neue soziale Gebrauchsweisen der Fotografie,34 indem sie den Bil- dern animistische Präsenz zuspricht. Sie bricht das psychoanalytische Setting auf, das durch die Couch repräsentiert ist (Abb. 95), um kollektive Strukturen der Sub- jektivierung besprechbar zu machen, die im fotografischen Archiv aufscheinen. Mit dem Namen ‹Eichmann› ist das zentrale kollektive Trauma angesprochen, das nach 1945 jede*r Leser*in als Inbegriff der von Benjamins Engel wahrgenommenen Katastrophe assoziieren musste. Azoulays Film und die darin präsentierten Kunst- werke setzen sich auf vielfältige Weise mit diesem traumatischen Zusammenhang auseinander. In einem von Azoulay inszenierten ‹Intermezzo› deklamiert ein auf engem Raum zusammengedrängter ‹Chor› eine Serie von Begriffen, die mit ex tre- mer Gewalt konnotiert sind (Abb. 96). Die Shoah wird in eine ‹Kette von Bege- benheiten› gestellt, die im 20. Jahrhundert ‹Trümmer auf Trümmer häuft[e]›. Die Gründung des Staates Israel wird in diese Serie eingereiht: «To hell. To Hiroshima. To the electric chair. To the gas chambers. To hanging. To fangs. To hell. To destruction. To beheading. To demolition. To stoning. To execution. To the museum. To stoning. To the Jewish State. … To destruction. 33 Gesprochenes aus dem Film zitieren wir nach den englischen Untertiteln in kursiver Setzung. 34 Vgl. Bourdieu: Eine illegitime Kunst. 232 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay To the ovens. To the wax sculpture … To the Brit Mila.»35 Der Chor spricht einen Text, der um das mediale Archiv des 20. Jahrhunderts, die physische Auslöschung der Opfer und die mediale Präsenz der Täter kreist: «The body disappeared as if it never existed. He is present like a ghost.» Archivfootage von Hitler leitet über zum Künstler Boaz Arad, der Hitler 96 Ein Chor von Geistern; Screenshot aus The mit Hilfe einer Audiosoftware sym- Angel of History (TC 00:24:49) bolisch zwingt, um Verzeihung zu bitten: «Shalom Jerusalem. I apolo- gize.» (Abb.  97) So wie Heiman über ein Foto in eine unmögliche Konver- sation mit Eichmann eintritt, verfrem- det Arad audiovisuelle Spuren Hitlers, um retroaktiv ins Trauma einzugrei- fen. Das Mediale wird in diesen künst- lerischen Interventionen zum Medium einer Begegnung mit einer spukhaften Geschichte, die nicht vergehen will.36 97 Boaz Arad fiktionalisiert das visuelle Archiv; In einer weiteren Sequenz schichten Screenshot aus The Angel of History (TC 00:25:56) zwei Darstellerinnen Bücher zur NS- Ges chichte zu hohen Türmen auf dem Gepäckträger eines Fahrrads. Sie erzäh- len eine Geschichte von Widerstand in unfassbarer Lage aus dem Jahr 1942, zwei Jahre, nachdem Benjamin sich auf der Flucht das Leben genommen hatte: Die Nazis planten, in Prag ein Museum des – vernichteten – Judentums zu errichten.37 Jüdische Häftlinge wurden gezwungen, das aus ganz Europa einlangende Mate- rial zu ordnen. Am Ende sollten sie selbst ermordet werden: «The labor will end with the slaughter of the workers.» Wie Scheherazade nicht aufhörte, zu erzählen, um zu überleben, zögerten die jüdischen Häftlinge die Arbeit des Sammelns und Ordnens hinaus: «The jews are trying to postpone the end. There are more and more exhibits to collect and sort», heißt es im Filmkommentar. Als sich die Rote Armee 35 Hebräisch ‹Beschneidung›, wörtlich ‹Bund der Beschneidung›. 36 Zu Boaz Arad und Roee Rosen vgl. Azoulay, Ariella: «The Return of the Repressed», in: Horn- stein, Shelley, Laura Levitt und Laurence J. Silberstein (Hg.): Impossible images: contemporary art after the Holocaust, New York: New York University Press 2003, S. 85–117. 37 Siehe Potthast, Jan B.: Das jüdische Zentralmuseum der SS in Prag: Gegnerforschung und Völkermord im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M.: Campus 2002. 233 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 1944 Prag näherte, wurden die jüdischen Arbeiter*innen nach Auschwitz depor- tiert und ermordet. Zuletzt sieht man die Protagonist*innen Azoulays durch die Straßen von Tel Aviv radeln – ein intensives Gegenbild zum historischen Terror, dem die Episode nachspürt. Justine Frank ist eine Kunstfigur, die der Künstler Roee Rosen in fünfjähriger Arbeit erschaffen hat: Die 1900 in Antwerpen geborene Jüdin, Künstlerin, Surrea - listin starb seiner Fiktion zufolge 1943 in Tel Aviv unter ungeklärten Umstän- den. Rosen kreierte nicht nur ihren Lebenslauf, sondern schuf auch ein ganzes künstlerisches Œuvre.38 Franks respektive Rosens Kunst verhandelt in transgres- siver, oft pornografischer Weise Fragen jüdischer Identität in ihrem Verhältnis zu Sprache, Geschlecht und Nation. Ariella Azoulay schreibt Rosens Fiktionen fort, indem sie im Film das obsessive künstlerische Werk der Justine Frank kommen- tiert (Abb. 98). Azoulay zufolge unterminiert es «the primal fantasies of Israeli art. A secularity that totally represses the Jew- ish body. Everything that Justine Frank represents, the female Jewish body, the female body of the Jew. That body is taken to be non-productive. It represents surplus, lumpiness, uselessness, fate, idle chatter, vanity and sexuality.» Obwohl Justine Frank auf den zionistischen Nationalismus immer sarkastisch reagiert habe, sei sie ihrer fiktiven Biografie zufolge in den 1920er-Jahren von Paris nach Palästina übersiedelt, wo sie mit ihren Arbeiten auf Ablehnung gesto- ßen sei. Sie habe sich geweigert, Hebräisch zu lernen und malte auf eine Weise, die in Israel unmöglich auszustellen war. Rosen präsentiert im Film eine Serie grotes- ker Zeichnungen, in denen hebräische Lettern zu erotischen Miniaturen geformt sind (Abb. 99). 98–99 Ariella Azoulay kommentiert im Film das fiktive Werk Justine Franks (TC 00:41:40), in dem verdrängte Körperlichkeit auf verstörende Weise wiederkehrt (TC 00:46:45); Screenshots aus The Angel of History 38 Siehe http://roeerosen.com/tagged/Justine-Frank (zugegriffen am 12.7.2017). 234 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay Azoulay rezitiert dazu Yona Volachs provozierendes Gedicht Hebrew,39 während sie am Strand von Tel Aviv zwischen halbnackten Körpern spaziert: «‹Hebrew is a sex-maniac. Wants to know who’s talking. Hebrew peeks at you through the keyhole. As I did at you and your mother. […] Look what a body language has.›» Die nun folgende Sequenz verlässt die Ausstellung, um den Ort jenes Ereignis- ses aufzusuchen, das in gewisser Weise den initialen Moment für Azoulays Pro- jekt gebildet hatte: Am 4. November 1995, nach einer Friedenskundgebung mit 150.000 Teilnehmer*innen auf dem Platz der Könige Israels in Tel Aviv, ermordete der 25-jährige Jigal Amir den israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin, die Symbolfigur des Osloer Friedensprozesses und Vaterfigur einer ganzen Gene- ration,40 mit zwei Schüssen aus seiner Pistole.41 Unmittelbar vor seinem Tod hatte Rabin in seiner Rede einen Paradigmenwechsel verkündet: Ich bin 27 Jahre Soldat gewesen. Ich habe so lange gekämpft, wie der Friede keine Chance hatte. Jetzt aber gibt es diese Chance, eine große Chance, und wir müssen sie ergreifen.42 Zwei Monate vor dem Attentat war das Oslo II-Abkommen über die Ausdehnung der palästinensischen Autonomie unterzeichnet worden, obwohl die Gewaltspirale auf einem Höhepunkt angelangt war: Zwischen April 1994 und August 1995 wur- den bei neun Terroranschlägen 77 israelische Bürger*innen von palästinensischen Selbstmordattentätern in den Tod gerissen.43 Jedoch unterstützte 1997 immer noch eine Mehrheit der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung den Frie- densprozess.44 Während sich das Massaker, das Baruch Goldstein im Februar 1994 an 29 Palästinenser*innen in einer Moschee in Hebron verübt hatte, gegen Ange- hörige einer Out-group richtete, zielte die Tat Jigal Amirs auf Teile der In-group.45 39 Engl. Übers. in: Glazer, Miriyam (Hg.): Dreaming the actual. Contemporary fiction and poetry by Israeli women writers, Albany NY: State University of New York Press 2000, S. 245–247; weiters http://www.poetryinternationalweb.net/pi/site/poem/item/3502/ (zugegriffen am 12.7.2017). 40 Vgl. Segev, Tom: Elvis in Jerusalem, S. 125 und 132 f. 41 Im Internet findet sich unter dem Titel ‹Kempler Video› eine filmische Aufzeichnung des Attentats, das ein Amateur zufällig aufgenommen hat. Amos Gitai drehte zwanzig Jahre später das Dokudrama Rabin, The Last Day (ISR 2015). Der lettische Regisseur Herz Frank verstarb während der Arbeit an einem Dokumentarfilm über den Attentäter: Beyond the Fear (Maria Kravchenko & Herz Frank, LVA/RUS 2014). 42 Zit. nach Timm: Israel, S. 193. 43 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Palestinian_suicide_attacks (zugegriffen am 27.3.2018). 44 Vgl. Timm: Israel, S. 192. 45 Vgl. Tajfel, Henri (Hg.): Differentiation between social groups. Studies in the social psychology of intergroup relations, London u. a.: Academic Press 1978, S. 77 ff. 235 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 100 Reenactment des Rabin-Attentats, das Gravitationszentrum des Films; Screenshot aus The Angel of History (TC 00:53:53) Der Mord an Rabin war das erste politische Attentat dieser Art in der Ge- schichte Israels, es war ein Symptom des Aufstiegs national-religiöser Gruppen, die dem säkularen Zionismus und dem liberalen Judentum innerhalb Israels den Krieg erklärt hatten.46 Das Land stand an einem Scheideweg: Ein halbes Jahr nach Rabins Tod schien sich mit der Wahl des Likud-Politikers Benjamin Netanjahu zum Ministerpräsidenten ein historisches ‹Window of opportunity› für einen dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinenser*innen zu schließen.47 Der Attentäter Jigal Amir (*1970) stammte aus einer orthodoxen Familie mit jemenitischen Wurzeln. Zum Tatzeitpunkt studierte er Jura an der Bar-Ilan-Uni- versität in Ramat Gan. Ein kurzer Aufenthalt in einer fundamentalistischen Sied- lung in der Westbank wurde zu seinem national-religiösen Erweckungserlebnis. Er betrachtete das Oslo-Abkommen als Verrat an Israel und sah sich als Werk- zeug göttlicher Gewalt, als Erben der jüdischen Partisanen und seine Tat als Akt messianischen Opfermuts.48 In ihr schlug jahrelange Hetze gegen Rabin, an der sich auch sein Nachfolger beteiligt hatte, in tödliche Gewalt um.49 Fünf Jahre später, nachdem sich die offizielle Untersuchungskommission hauptsächlich mit sicherheitstechnischen Fragen beschäftigt hatte,50 versuchte Azoulay in einer gefilmten Performance die ideologischen Bedeutungen des 46 Vgl. Kapeliouk, Amnon: Rabin. Ein politischer Mord – Nationalismus und rechte Gewalt in Israel, Heidelberg: Palmyra 1997. 47 Vgl. Timm: Israel, S. 194 f. 48 Vgl. Zertal: Nation und Tod, S. 316 (Anm. 118); weiters Azoulay, Ariella: «Der Geist des Jigal Amir», Theoria u-vikoret 17 / Herbst 2000, S. 12 [hebr.]. 49 Vgl. Kapeliouk: Rabin, Kap. 2; sowie Illouz: Israel, S. 149 ff. 50 Vgl. Zertal: Nation und Tod, S. 320; weiters Bilsky, Leora: Transformative justice: Israeli identi- ty on trial, Law, meaning, and violence, Ann Arbor: University of Michigan Press 2004, Kap. 8. 236 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay Attentates zu erforschen. In einem szenischen Reenactment wird das diskursive Feld um das Attentat dargestellt, das Konglomerat aus religiösen und institutio- nellen Texten und Erzählungen, das schließlich den Übergang zur Tat, ‹le passage à l’acte›, ermöglichte. The Angel of History kehrt an den Ort des Geschehens zurück, auf den Platz, der heute nach Jitzchak Rabin benannt ist. Protagonist*innen verlesen einen Text des Mörders, einen Polizeibericht sowie einen Kommentar, der ver- sucht, sich der Tat Amirs zu nähern (Abb. 100): «Amir knew he could die. That the gun aimed at the Prime Minister marks him as the sacrificial offering. He took upon himself the absolute mission. The policemen didn’t touch the boy.» Insbesondere das religiöse Thema des Opfers wird im Reenactment akzentuiert. In einem Gesang tritt ‹Isaak› Rabin symbolisch an die Stelle von Abrahams Sohn. Der Kommentar hält fest, dass die Verwendung des Opfer-Topos durch den Attentäter dessen Gebrauch im nationalen Kontext desavouierte: «Since November 4th 1995 the State of Israel finds it difficult to justify the death of its sons in Lebanon, the death of its citizens for Jerusalem or the torture of Palestinian subjects for the sake of security. And the justified death was no longer taken for granted.» Die Performance mahnt universelle Erinnerung als Grundvoraussetzung für den Frieden ein: «Remember what your father did unto Ishmael your brother.» Die nächste Episode des Films ist einer fotografischen Annäherung an den mit den Worten «Ishmael your brother» adressierten palästinensischen Ande- ren gewidmet. Miki Kratsman, ein «thinking photographer», ist täglich mit der Wirklichkeit in den besetzten Gebieten und an den Checkpoints konfrontiert. Vor Azoulays Kamera kommentiert er eigene Fotos, etwa eines palästinensischen Buben, der einen Arm verloren hat und ihn entschlossen aufforderte: «Photo- graph me.» Dann ein Gruppenbild von palästinensischen Arbeitern: Zwei bede- cken ihr Gesicht mit den Händen, sie wollen nicht fotografiert werden (Abb. 101) – jedes Bild eine singuläre Konstellation von Sichtbarkeit und Macht. Im fotografi- schen Akt selbst liegt latente Aggressivität. Kratsman erzählt, dass ihn die Geste, die Kamera hochzunehmen und scharf zu stellen, immer noch verlegen mache. In Fotos von einer Straßenparty am israelischen Unabhängigkeitstag entdeckt Kratsman Widersprüche: «It’s not happiness. It’s anger.» (Abb. 102) Azoulays hybrider Filmessay kehrt am Ende zu Benjamins Engel zurück, der auch jetzt nicht in seiner Klee’schen Gestalt gezeigt wird. Der Engel ist sprach- los, traumatisiert: «The images hit him one by one.» Der Text Benjamins wird von 237 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 101–102 Miki Kratsman kommentiert eigene Fotos: palästinensische Arbeiter (TC 00:59:23), eine Straßenparty am Unabhängigkeitstag (TC 01:00:39); Screenshots aus The Angel of History zwei Protagonistinnen, die von der Kamera umkreist werden, als Streitgespräch von zitierender Rede – «The angel looks as if it is about to move away from … His mouth is open» – und insistierender Gegenrede inszeniert: «He never has anything to say.» (Abb. 103) Benjamins Text – «His face is turned toward the past» – wird durch den Kommentar gebrochen – «No, this time it’s for real». Diese Inszenierung macht das produktive Prinzip von The Angel of History deutlich: Die in der 9. These bereits angelegte Kommentarstruktur wird in den Kunstwerken der Ausstellung und in Azoulays filmischen Inszenierungen ver- vielfältigt. Der ‹Engel der Geschichte› ist kein sakrosankter Text, auch er ist nicht vor jenem Verfall der Aura gefeit, den Benjamin in seinem ‹Kunstwerk-Aufsatz›51 diagnostiziert hatte. Daraus gewinnt Azoulay ihre künstlerischen Spielräume: The appearance of photography enabled Benjamin (and, as a result, me) to set up retroactively an independent and parallel tradition of reproduction, that would stand in opposition to a tradition in which the objects are considered unique and irreproducible.52 Von den beiden Modi der Tradierung des Kunstwerkes, die Benjamin in seinem Text nennt, die entweder ihren Kult- oder ihren Ausstellungswert53 aktualisie- ren, ist Azoulays Filmessay auf paradoxe Weise dem Modus der Ausstellung ver- pflichtet: Ohne den visuellen ‹Urtext› Klees jemals zu zitieren, werden in der Aus- stellung und im filmischen Katalog neue audiovisuelle Konstellationen rund um den Angelus Novus präsentiert. Benjamins Engel wird selbst «zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen uns die bewußte, die künstlerische, als 51 Vgl. Benjamin, Walter: «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» (3. Fassung), GS I.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 471–508, hier S. 479 f. 52 Azoulay, Ariella: «The Tradition of the Oppressed», Qui Parle 16/2/2007, S. 73–96, hier S. 80. 53 Vgl. Benjamin: «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», S. 482 ff. 238 5.1 The Angel of History (2000) von Ariella Azoulay 103 Der Text Benjamins wird im Film einer szenischen Gegenrede ausgesetzt; Screenshot aus The Angel of History (TC 00:53:53). diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.»54 Tat- sächlich steht die sozio-politische Funktion der Kunstwerke bei Azoulay im Vor- dergrund. Sie schreiben unter den Bedingungen des nahöstlichen Ausnahme- zustands eine Tradition fort, die Benjamin in der 8. These Über den Begriff der Geschichte angerufen hatte: Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezu- stand, in dem wir leben, die Regel ist.55 In Benjamins These hallt die bittere Kritik wider, die Gershom Scholem 1931 am Zionismus formuliert hatte: Dieser habe sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Imperialismus der britischen Aggressoren, der «manifesten Gewalt»56 also, ange- schlossen, damit jedoch «in der Stunde des Sieges»57 die eigenen Quellen verraten: Der Zionismus unterließ es, sich mit den versteckten Kräften, sprich mit den Unterdrückten, zu verbinden, die schon bald danach aufstehen und ins Licht der Öffentlichkeit treten sollten.58 54 Ebd., S. 484. 55 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697. 56 Zit. nach Raz-Krakotzkin, Amnon: Exil und Binationalismus: von Gershom Scholem und Han- nah Arendt bis zu Edward Said und Mahmoud Darwish, Berlin: EUME, Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa 2012, S. 28; hebr. in: Scholem, Gershom: «Bemai Ka’Mipalgi», Od Davar (Tel Aviv) 1987, S. 57–59. 57 Ebd., S. 29. 58 Ebd., S. 28. 239 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Seit Jahrzehnten widmet sich Ariella Azoulay als Historikerin und Fototheore- tikerin in Ausstellungen und Büchern der Rekonstruktion des visuellen Archivs der ‹Unterdrückten› seit der Staatsgründung 1948. Symbolische Ausschlüsse prä- gen auch Azoulays eigene Familiengeschichte mit algerisch-mizrahischen Wur- zeln. Seit einigen Jahren nennt sie sich nach dem verdrängten arabischen Namen ihrer Großmutter väterlicherseits Ariella Aïsha Azoulay.59 In The Tradition of the Oppressed stellte Azoulay den Engel Benjamins in den Kontext eines «visual field of war»:60 Walter Benjamin hätte im Engel an einen sprachlosen, traumatisierten «survivor of the First World War»61 gedacht, dem nun ein weiterer Krieg Trümmer «vor die Füße schleudert».62 Benjamin erhob angesichts dessen die Forderung nach der «Herbeiführung des wirklichen Aus- nahmezustandes».63 Azoulay fand sie im Kontext des Post-Rabin’schen Israel im Streik der Soldaten verwirklicht, die das ‹heroische Selbstopfer› für die Nation und das Bild souveräner Macht verweigern: By state of emergency, I mean what is created by the general, revolutionary strike: the strike of the soldiers who would refuse to go to war, refuse to sacrifice themselves or others for the sake of such a unique and sacred image of war or for the sake of the image of the one sovereign power that invariably initiates it.64 2002 hatten sich fünf IDF-Soldaten zu einem Akt entschlossen, den Azoulay einen ‹revolutionären Streik› nannte: Sie weigerten sich, «to fight beyond the 1967 bor- ders in order to dominate, expel, starve and humiliate an entire people».65 Godard widmete ihnen zwei Kurzfilme: Prières pour Refusniks I / II (F 2004).66 59 Vgl. Azoulay: Potential History, S. 13 ff. 60 Azoulay: «The Tradition of the Oppressed», S. 85. Eine erste Version dieses Textes präsentier- te Azoulay 2006 in einem Seminar von Judith Butler über Benjamin an der University of Cali- fornia in Berkeley. Im selben Jahr erschien ihr Buch zu Benjamin und Fotografie: Once Upon A Time. Photography in the Footsteps of Walter Benjamin, Ramat-Gan: Bar-Ilan UP 2006 [hebr.]. Zu Azoulays Benjamin-Rezeption siehe Liska/Eisenberg: «A Travel Guide to Palestine», S. 318–322. 61 Azoulay: «The Tradition of the Oppressed», S. 85. 62 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697. 63 Ebd. 64 Azoulay: «The Tradition of the Oppressed», S. 86; siehe weiters ds.: «The Imperial Condition of Photography in Palestine: Archives, Looting, and the Figure of the Infiltrator», Visual Anthro- pology Review 33/1/2017, S. 5–17; sowie ds.: «Civil alliances – Palestine, 1947–1948», Settler Co- lonial Studies 4/4/2014, S. 413–433. 65 Zit. nach McGreal, Chris: «Dissident soldiers ordered to fight in occupied lands», The Guardi- an 31.12.2002: https://www.theguardian.com/world/2002/dec/31/israelandthepalestinians.war- crimes (zugegriffen am 1.6.2019). 66 Aus Anlass der Freilassung der ‹Refusniks› nach zwei Jahren Haft kontaktierte der Filmema- cher Avi Mograbi Jean-Luc Godard, der vorschlug, für jeden von ihnen einen Kurzfilm zu ge- stalten. Er realisierte nur zwei, die am 23.9.2004 uraufgeführt wurden, vgl. Schweitzer, Ariel: «Résistances», Cahiers du cinéma n° 611/2006, S. 14. 240 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Local Angel – Essayfilm als visueller Midrasch Auch in Udi Alonis Video-Essay Local Angel (ISR/USA 2002)67 wird Walter Benjamins ‹Engel der Geschichte› zum Katalysator für eine grenzüberschreitende essayistische Recherche. Bereits im Vorspann deklariert sich der Film als «inspired by Walter Benjamin and Gershom Shalom». In ähnlicher Weise wie Ariella Azoulay bezog sich Udi Aloni in einem «Augenblick der Gefahr»68 auf Denkansätze aus der jüdischen Diaspora, die in Israel lange minorisiert worden sind. Zwei Ereignisse markierten diesen Augenblick: Ariel Sharons Besuch auf dem Jerusalemer Tem- pelberg am 28. September 2000, auf den der Ausbruch der Zweiten Al-Aqsa-Inti- fada folgte, sowie die Terror-Anschläge der Al-Kaida vom 11. September 2001 auf die Türme des World Trade Center und weitere Ziele in den USA. Vor diesem Hin- tergrund lässt Local Angel Benjamins Engel in der Gegenwart ankommen und lokalisiert ihn an konkreten Orten wie New York, Jerusalem und Tel Aviv/Jaffa. Udi Aloni, der 1959 in Israel geboren wurde, gehört wie Ariella Azoulay zu jener Generation israelischer Künstler*innen, die durch das Rabin-Attentat, das Schei- tern des Osloer Friedensprozesses und das Erstarken der national-religiösen Sied- lerbewegung geprägt wurde. Diese Generation löste sich auf manchmal radikale Weise vom zionistischen Master-Narrativ und bezog sich stattdessen passioniert auf diasporisch-jüdische Denktraditionen, um daraus kritische, ‹postzionistische› Sichtweisen zu entwickeln. Marginalisierte jiddische, mizrahische, palästinensi- sche, linke, feministische und queere Positionen wurden für viele dieser Genera- tion zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Artikulation. Aloni arbeitete als Werbegrafiker, Galerist, bildender Künstler69 und Theoreti- ker in Tel Aviv, Berlin, New York sowie in Jenin.70 Sein Weg zum Kino verlief nicht über eine klassische Filmausbildung, sondern über die visuelle Gestaltung und 67 Aloni, Udi (Hg.): Local Angel. Theological Political Fragments [DVD + Begleitbuch], Lon- don: ICA – Institute of Contemporary Art 2004; Website zum Film: http://localangel.udialoni. com (zugegriffen am 27.12.2019). 68 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 695. 69 1995: The Book of Sham (New York, Nicole Klagsbrun Gallery), 1996: Re-U-Man (New York, Metropolitan Museum of Art / 22nd St. Bridge und Jerusalem, The Israel Museum), Parrhesia (Ramat Gan, Museum for Contemporary Art), God Is Dead Already From the Beginning – Kon- ferenz mit Umberto Eco und Moshe Idel (Mishkenot Shaananim, Israel). 70 Von 2010 bis 2012 arbeitete Aloni im Flüchtlingslager Jenin an einem Spielfilm mit dem Arbeits- titel ‹Antigone›; 2011 inszenierte er mit dem Freedom Theatre of the Jenin Refugee Camp Becketts Waiting for Godot. Im April des Jahres wurde Juliano Mer-Khamis, der charismatische Leiter der Theatergruppe, von einem maskierten Täter erschossen. Aloni veröffentlichte zu seiner Arbeit in Jenin Artikel auf dem Blog http://mondoweiss.net; siehe weiters Aloni, Udi: «Brooklyn-Jenin: The Binational Popular Front for the Liberation of the Middle East», in: Cichocki, Sebastian und Galit Eilat (Hg.): A cookbook for political imagination, Berlin: Sternberg Press 2011, S. 40–45. 241 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 104 Paul Klees Angelus Novus blickt auf New York; Screenshot aus Local Angel (TC 00:04:38) die bildende Kunst.71 Er sieht sich als jemand, «who wanders between visual art and cinema».72 In seinem ersten Essayfilm Local Angel (hebr. Titel: Mala’ach Mekomi) unternahm Aloni den Versuch, einige für das Nahostproblem zentrale ideologische und theologische Konzepte und Metaphern zu dekonstruieren. Vom New Yorker Ground Zero ausgehend, bewegt sich der Film nach Palästina-Israel, von der Metropole des säkularen Multikulturalismus in die dreifach heilige Stadt Jerusalem. Viele Motive, um die der Essayfilm Local Angel kreist, wurden 2006 in Alonis essayistischem Spielfilm Mechilot neu artikuliert und inszeniert. Local Angel ist das künstlerische Resultat einer tiefen subjektiven Krise. Aloni ist als Protagonist dieser Krise von Beginn an im Film selbst präsent, der Prozess der filmischen Arbeit zielt auf einen radikalen persönlichen Neuanfang. Am Beginn des Films spaziert Aloni wie Walter Benjamins ‹Flaneur› über die hell erleuchteten New Yorker Boulevards. Aufnahmen vom Times Square machen den spektakulären Kapitalismus der Gegenwart emblematisch sichtbar. Sein aus dem Off gesproche- ner hebräischer Monolog in der 1. Person Singular73 benennt Ursachen der Krise: Exiliert zwischen Israel und den USA, dyslektisch und zwischen zwei Sprachen zerrissen, durchlebe er einen Moment der Katastrophe. Eine weitere Einstellung zeigt Aloni rauchend vor einem Hafengebäude der City of New York, ein Kamera - schwenk rückt die Statue of Liberty und Ellis Island in den Blick und evoziert so die Bedeutung New Yorks als Ort der Rettung für europäische Jüdinnen und Juden. 71 Mit Shimon Azulay drehte er seinen ersten Dokumentarfilm Left, ein filmisches Porträt linker Par- teien in Israel am Vorabend der Knesset-Wahlen 1996. Er entstand im Rahmen des Projektes ‹Re-U- Man› und besteht zur Gänze aus Interviews mit Shimon Peres, Shulamit Aloni, Azmi Bishara u. a. 72 Aloni, Udi (Hg.): What does a Jew want? On binationalism and other specters. Conversations and comments by Alain Badiou, Judith Butler and Slavoj Žižek, New York: Columbia UP 2011, S. 89. 73 Analysen zu Filmautor*innen, die sich essayistisch auf ihre jüdische Identität beziehen, bietet Lebow, Alisa: First person Jewish, Minneapolis MN: University of Minnesota Press 2008. 242 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Schwarz gerahmte historische Footage vom World Trade Center macht die traumatische Lücke im Stadtbild sichtbar. Im Unterschied zu Ariella Azoulays The Angel of History taucht Paul Klees Angelus Novus bald nach Beginn von Alonis Film in monumentalem Format an der Außenhaut eines New Yorker Hochhauses auf (Abb. 104)74 und verortet diesen zum ersten Mal in der Gegen- wart. Während Aloni aus dem Off die 9. geschichtsphilosophische These in hebrä- ischer Übersetzung wiedergibt, ist er beim Besuch der Gedenkstätte am Ground Zero zu sehen (Abb. 105): «This storm is what we call progress.» Intermittierend zu den New Yorker Aufnahmen ist Klees Angelus Novus eingeschnitten, der von der Kamera in Nahaufnahme abgetastet wird. Programmatisch wird in Local Angel die Post-9/11-Welt mit den Augen des Benjamin’schen Engels als ein Trümmer- haufen betrachtet, der sich weiter vor uns auftürmt. Der persönlichen Krise ent- spricht die kollektive Krise einer aus den Fugen geratenen Welt.75 Alonis filmische Selbstvergewisserung in Local Angel gestaltet ein dichtes sinnlich-diskursives Kräftefeld, aus dem hier einige Linien herausgearbeitet wer- den. Der Film entfaltet sich nicht als Folge von audiovisuellen Wahrheitsbehaup- tungen, wie die folgenden Erörterungen vermuten lassen könnten. Was als Suk- zession von thematischen Sequenzen erscheinen könnte, ist im Film zu einem schillernden Gewebe verarbeitet. Dieses bleibt fragil und enthält auch Momente des Zweifels und des Scheiterns. Unverkennbar weisen seine hybride Form, die radikale Subjektivität seines Diskurses, seine Bezogenheit auf Unmögliches, Unsichtbares und Unsagbares Local Angel als Essayfilm aus bzw. als ‹Visual Midrash›, wie der Regisseur seine filmessayistische Schreibweise selbst nennt. Aloni spricht vor einer schmucklosen Mauer in die Kamera (Abb. 106) – ein im Film wiederkehrendes rekursives Setting – und benennt den theologisch-politischen Ansatzpunkt zur Erforschung der Krise: Die manifeste Spaltung der Welt findet ihr Modell am Tempelberg, jenem dreifach geheiligten Ort, an dem nach jüdischem Narrativ Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte, an dem nach christlichem Nar- rativ der Sohn Gottes auferstanden ist und an dem nach islamischem Narrativ der Prophet Mohammed zu Pferd gen Himmel aufgefahren ist.76 Jacques Derrida: Es handelt sich also um einen heiligen, aber auch um einen unter allen Monothe- ismen, allen Religionen des einzigen und des transzendenten Gottes, des absolu- ten Anderen (radikal und wütend) umstrittenen Ort. Diese drei Monotheismen 74 Aloni ging 1996 nach New York, wo er als bildender Künstler und Werbegrafiker arbeitete und als erster solche Plakate für kommerzielle Auftraggeber gestaltete. 75 Siehe Aloni, Udi: «L’ange. Débat avec Udi Aloni», La Revue Documentaires 19-20/2005 (Pales- tine-Israel. Territoires cinématographiques), S. 97–98, hier S. 97. 76 Siehe Mardam-Bey, Farouk und Elias Sanbar (Hg.): Jérusalem. Le sacré et le politique, Paris: Sindbad/Actes Sud 2000; weiters Wasserstein, Bernard: Jerusalem. Der Kampf um die heilige Stadt, München: Beck 2002. 243 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni bekämpfen sich, und es nützt nichts, dies in einer glückseligen ökumeni- schen Bewegung zu verneinen; sie bekriegen sich mit Feuer und Schwert, seit jeher und heute mehr denn je, und jede beansprucht Verfügung über diesen Ort und eine ureigene histo- risch-politische Interpretation des Mes- 105 Udi Aloni am Gedenkort des Ground Zero; 77 Screenshot aus Local Angel (TC 00:05:53) sianismus und des Opfers von Isaak. Auch Aloni geht davon aus, dass die Mys- tifikationen Jerusalems  – hebr. ‹Ye ru- shalayim›, arab. ‹al-Quds› – einer Logik des Opfers folgen. Sein Projekt, mit der Kamera an diesen Ort zurückzukeh- ren, um den Tempelberg und so auch sich selbst verstehen zu lernen, ist von 106 Videografische Selbsterforschung in der der Hypothese geleitet, «that the human 1. Person Singular; Screenshot aus Local Angel sacrifices continue at the Temple Mount», (TC 00:07:56) wie er vor der Kamera ausführt. Der Film wechselt den Ort – und für eine Sequenz auch das Genre. Im Stil einer National-Geographic-Dokumentation gleitet die Kamera über die ikonisch glänzende Kuppel des Felsendoms, während eine sonore Männerstimme den Voice-over-Kommentar dazu spricht: «On a hill in the heart of Jerusalem sits a mosque where Muslims praise the Lord day after day. The Dome of the Rock has come to symbolize Jerusalem, but we never take pleasure in its splendor. We experience the Al Aksa Mosque as the absence of the Temple. We bury our dead on the Mount of Olives facing the dome, hoping for resurrection, hoping to find the Dome no more.»78 Alonis Text79 benennt einen israelischen Blick, der in der Al-Aqsa-Moschee ledig- lich das Fehlen des Tempels sieht und auf den Wunsch hinausläuft, die goldene Kuppel möge verschwinden. Das Ungeschehenmachen der Zerstörung, die Auf- hebung der traumatischen Absenz ist in diesem Sinne nur durch die Zerstörung 77 Derrida, Jacques: «Den Tod geben», in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 331–445, hier S. 396 f. 78 In der Originalfassung des Films wird Englisch, Hebräisch und Arabisch gesprochen. Im Fol- genden wird gesprochener hebräischer oder arabischer Text nach den englischen Untertiteln zitiert und kursiv gesetzt. 79 Abgedruckt in Aloni (Hg.): Local Angel, S. 42. 244 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni der falschen Präsenz des Anderen am selben Ort möglich.80 Für Lawrence Wright stellt dessen Sakralisierung eines der Haupthindernisse für Frie- den in der Region dar: [T]he mystical concept of sacred space that shrouds the Temple Mount  – 107 Haviva Pedaya; Screenshot aus Local Angel and, beyond that, Jerusalem and (TC 00:10:04) Israel itself – has for centuries served as an impenetrable barrier to peace.81 Alonis audiovisueller Diskurs erör- tert die Jerusalem-Frage weder auf der Ebene der vielfältigen Lebenswirk- lichkeiten in der Stadt noch auf der Ebene der konkreten politischen Aus- einandersetzung um territoriale Sou- 108 Amnon Raz-Krakotzkin; Screenshot aus Local veränität, sondern auf der Ebene eines Angel (TC 00:10:36) phantasmatischen Geländes, dem eine politische Theologie eingeschrieben ist. Im gefilmten Dialog mit den befreun- deten Intellektuellen Haviva Pedaya, Amnon (Nono) Raz-Krakotzkin und Musa Budeiri (Abb.  107–109) setzt er die Theologie des Tempelbergs  – hebr. ‹Har haBait›, arab. ‹al-Haram ash-Scharif›  – und die Konzepte des 109 Musa Budeiri; Screenshot aus Local Angel Heiligen und des Opfers einer dekon- (TC 00:11:33) struktiven Kritik aus. Ein Gedicht der Theologin und Dichterin Haviva Pedaya82 hatte einen ersten Anstoß zu Alonis fil- mischer Recherche gegeben. Im Film liest sie selbst daraus: 80 In den 1980er-Jahren planten Anhänger von Meir Kahane mehrmals, den Tempelberg zu erstür- men bzw. zu sprengen, indem sie versuchten, sich Zugang zu Tunneln unter dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee zu verschaffen; vgl. Wasserstein: Jerusalem, S. 350 f.; weiters Illouz: Israel, S. 58. 81 Wright, Lawrence: «Letter from Jerusalem», The New Yorker 10.7.1998, S. 48. 82 Haviva Pedaya, 1965 mit sephardischen Wurzeln in Jerusalem geboren, ist Dichterin und Pro- fessorin für jüdische Geschichte an der Ben-Gurion-Universität des Negev; Publikationen: Pedaya, Haviva: Kabbalah and psychoanalysis. An inner journey following the Jewish mysticism [hebr.], Tel Aviv 2015; ds.: Vision and speech. Models of revelatory experience in Jewish mysticism [hebr.], Los Angeles: Cherub 2002; ds.: «Die Kunst als Projekt der Archiv-Veränderung …», in: 245 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni «And Abraham went from Beer-Sheva to Moriah / three days  / binding and unbinding his son in his mind / three days butchering / and weeping / we’re still bound and unbound / who are the weeping butchers / who are the laughing butchers / here they all go / some proceeding ahead to the city of the dead / is that where we’re headed / while I wish to be dug out / of the graves / here / until when will there be nothing / but life racing backward.»83 Im Gespräch mit Aloni liest Pedaya die Akedah, die biblische Erzählung von der ‹Bindung› Isaaks durch Abraham auf dem Berg Moriah gegen den Strich: Wäh- rend in der kanonischen Version der Erzählung aus dem Buch Bereschit der Tora (Genesis 22, 1–24) ein Engel Abraham im letzten Moment von der Opferung sei- nes Sohnes abhält und damit die Ersetzung des Menschenopfers durch symboli- sche Rituale bekräftigt, kam es in einer minoritären Version der Geschichte tat- sächlich zum Schlachtopfer.84 Für Pedaya folgt die Politik des israelischen Staates dieser zweiten Version der Geschichte. Bis in die Gegenwart fordere deren Logik das Opfer der Söhne in immer neuen Kriegen. Jacques Derrida formulierte 1994 ähnlich, allerdings ohne seine Lesart auf Israel einzuschränken: Das Opfer des Isaak währt alle Tage fort. Maschinen, die ohne zu zählen den Tod geben, beliefern einen Krieg ohne Front.85 Die israelische Filmwissenschaftlerin Sandra Meiri argumentiert in ihrer Analyse von Local Angel, diese Opferlogik sei Ausdruck eines «process of attenuation of spirituality and sublimation (the Symbolic)»86 und damit einer «repudiation of the essence of Judaism».87 Implizit umkreist der Film die Frage nach dem ‹Wesen› jüdischer Identität. Aloni nimmt an dieser Frage eine entscheidende Verschie- bung vor. Aus einer Frage, die identitäre Definitionen und Zuschreibungen nach sich zieht, wird eine Frage nach dem Begehren: «What does a Jew want?»88 Oberhollenzer, Günther, Karin Schneider u. a. (Hg.): Overlapping voices: Israeli and Palestini- an artists, Klosterneuburg/Wien: Edition Sammlung Essl 2008, S. 124–128. Pedaya ist eine der Protagonist*innen von Nurith Avivs Essayfilm Misafa Lesafa / From Language to Langu- age) (ISR 2004). Eine Analyse von Pedayas transgressiver Poesie bietet Setter, Shaul: After the Fact: Potential Collectivities in Israel/Palestine, UC Berkeley 2012, S. 151–182. 83 Das Gedicht mit dem Titel A Man Goes ist abgedruckt in: Aloni (Hg.): Local Angel, S. 32–35. 84 Vgl. Meiri, Sandra: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and Forgiveness (2006)», in: Köhne, Julia Barbara (Hg.): Trauma und Film: Inszenie- rungen eines Nicht-Repräsentierbaren, Berlin: Kadmos 2012, S. 327–347, hier S. 329. 85 Derrida: «Den Tod geben», S. 396 f. 86 Meiri: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and For giveness (2006)», S. 329. 87 Ebd. 88 Aloni (Hg.): Local Angel, S. 12. Aloni entlehnte diese Frage einem Kommentar Slavoj Žižeks zu Local Angel, vgl. Žižek, Slavoj: «What does a Jew want?», in: Aloni (Hg.): Local Angel, S. 24–29. 246 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Haviva Pedaya führt im Film aus, wie die Theologie des Tempels zum Kristalli- sationspunkt für politischen Messianismus und apokalyptische Phantasmen wird. In der Architektur des Tempels verbinden sich zwei Ideen, so Pedaya: Einerseits «the inner sanctum, the Ark of the Covenant, which contains the Holy Book, which is knowledge. […] And the altar, whose center is sacrifice.» Mit dessen Zerstörung würde die Funktion des Altars substituiert, indem sich das Land selbst, Israel, in den Tempel verwandle. An diesem Punkt verbinde sich das zionistische Unterneh- men mit dem messianischen Traum von der Rückkehr nach Zion und vom Wie- deraufbau des Tempels. Der Historiker Amnon Raz-Krakotzkin89 bringt dies auf eine Formel: «The state is the Temple. This is the Third Temple.» Der zionistischen Hoffnung sei von Beginn an eine tiefe Ambivalenz eingeschrieben. Der jüdische Nationalismus säkularisiere zwar den religiösen Messianismus, indem er den Ver- lust einer souveränen Existenz durch deren Wiederherstellung rückgängig machen will, erbe damit aber auch eine theologische Hypothek, die jedoch verdrängt wer- den muss.90 Der mögliche Übergang vom Zionismus zum Messianismus habe deutlich apokalyptische Formen angenommen, als Moshe Dayan im Jom-Kippur- Krieg 1973 die Bereitschaft signalisierte, Atomwaffen zum Schutz Israels einzu- setzen. Haviva Pedaya spricht hier von einem modernen apokalyptischen Modell: «The classical apocalyptic model is restrained in the face of destruction, a prin- ciple that breaks down in modernity. We merge the apocalyptic with the idea of destruction: I want to hasten the day of reckoning and so I destroy. We no longer wait for God to bring about the end.»91 Die Sakralisierung des Landes thematisierte kurz vor 9/11 auch W. J. T. Mitchell, der Herold des Pictorial Turn. Er verglich die Vorstellung des ‹Heiligen Landes› mit dem Topos der ‹Frontier› und eines menschenleeren ‹Wilden Westens›: The landscape becomes a magical object, an idol that demands human sacri- fices, a place where symbolic, imaginary, and real violence implode on an actual social space.92 89 Amnon Raz-Krakotzkin, 1958 in Jerusalem geboren, ist Professor für Jüdische Geschichte an der Ben-Gurion-Universität des Negev; Publikationen: Raz-Krakotzkin, Amnon: Exil et sou- veraineté. Judaïsme, sionisme et pensée binationale, Paris: La fabrique 2007; ds.: Exil und Bina- tionalismus: von Gershom Scholem und Hannah Arendt bis zu Edward Said und Mahmoud Dar- wish, Berlin: EUME, Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa 2012. 90 Siehe Scholem, Gershom: «Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum» [1960], in: ds.: Judaica 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 7–74; weiters Taubes, Jacob: Der Preis des Messianismus. Briefe von Jacob Taubes an Gershom Scholem und andere Materialien, Würz- burg: Königshausen & Neumann 2006; sowie Rose: The question of Zion, Kap. 1. 91 Siehe auch Illouz: Israel, S. 206. 92 Mitchell, W. J. T.: «Holy Landscape: Israel, Palestine, and the American Wilderness», Critical Inquiry 26/2/2000, S. 193–223, hier S. 206. 247 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Mitchell diagnostizierte mit Blick auf die andauernde Verletzung palästinensi- scher Rechte, militärische Besetzung und Siedlungsbau «an idolatry of place, a territorial mysticism enforced by bullets and bulldozers.»93 Der Besuch Ariel Sha- rons auf dem Tempelberg hatte die messianischen Bezüge in der israelischen Poli- tik deutlich sichtbar gemacht. Alonis Filmkommentar liest dieses Ereignis als eine symptomatische Wiederkehr des Verdrängten. Gerade die Leugnung des Tempels habe ihn wachsen lassen «like a cancer in our language.» Aber die politische Theo- logie dieses Ortes präge nicht nur das Denken und Handeln der Siedler*innen- bewegung, des Gush Emunim, der Anhänger*innen von Rabbi Kook und Meir Kahane – «the ‹kibbutz› movement of the entire right»94 von Menachem Begin bis zu Ariel Sharon und Benjamin Netanjahu. Denn während der Har haBait in den offiziellen Erklärungen säkularer Akteur*innen kaum eine Rolle spiele, mani- festiere sich dennoch eine latente Bindung an die Idee des Tempels, wenn auch diese die Souveränität über die heiligen Stätten zur unverhandelbaren Forderung erklärten. Jacqueline Rose: «The language of secular Zionism bears the traces and scars of a messianic narrative that it barely seeks, or fails, to repress.»95 Heiliger Ort, heilige Sprache: Was als Sakralisierung am Ort des Tempel- bergs eingeschrieben wurde, droht seit Beginn des zionistischen Projekts die Sprache selbst zu erfassen.96 In Local Angel erinnert Aloni an Gershom Scho- lems berühmte Warnung vor dem «apokalyptischen Stachel»97 einer «gespensti- schen Sprache»,98 die er 1926 in einem Brief an Franz Rosenzweig äußerte. Scho- lem hatte dem schwer kranken Autor des Stern der Erlösung99 in seinem Brief ein Bekenntnis über unsere Sprache übermittelt: Dies Land ist ein Vulkan. Es beherbergt die Sprache. Man spricht hier von vie- len Dingen, an denen wir scheitern können, man spricht heute mehr denn je von den Arabern. Aber unheimlicher als das arabische Volk steht eine andere Drohung vor uns, die das zionistische Unterfangen heraufbeschworen hat: Was ist es mit der ‹Aktualisierung› des Hebräischen? Muß nicht der Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen?100 93 Mitchell: «Holy Landscape», S. 223. 94 Rose: The question of Zion, S. 36. 95 Ebd., S. 42 f. 96 In einem Brief an Moshe Idel formulierte Aloni: «Hebrew + the land of Israel = the Holy Temple.» Aloni (Hg.): Local Angel, S. 73. 97 Zit. nach Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 215. 98 Ebd., S. 216. 99 Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. 100 Zit. nach Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 215; siehe auch Scholem, Gershom: «Pledge to Our Language. Letter to Franz Rosenzweig», in: Aloni, Udi (Hg.): What does a Jew want? S.  247–248; zuletzt in: Scholem, Gershom: Poetica. Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019, S. 290–293. Der Band enthält 248 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Der Filmkommentar fragt in Anlehnung an Scholem: «Will not the holy lang uage open up like an abyss and swallow us all?»101 Trotz Säkularisierung kommt es zu einer Aktualisierung «der apokalyptischen messianischen Vision».102 In Sharons Tempelberg-Besuch wird aus der Perspektive von Local Angel die Gewalt dieser ‹Aktualisierung› augenfällig. Aloni erzählt eine Anekdote von Scholems Besuch auf dem Tempelberg, die Sharons medial inszenierten Besuch konterkariert. Die- ser fand im Juni 1967 statt, kurz nachdem die israelische Armee die Altstadt von Jerusalem eingenommen hatte. «He looked and looked», aber schon nach fünf Minuten habe er sich mit den Worten abgewandt: «‹Fine, time to go.›» Der Untertitel des Films – Theological-Political Fragments – verweist auf den gedanklichen Bezugsrahmen, den Walter Benjamin im Theologisch-po- litischen Fragment103 aufgespannt hat. Obwohl dieser Text außerhalb des Films bleibt, bezeichnet er eine intertextuelle Schlüsselreferenz für Local Angel. Der Film aktualisiert die darin formulierte Kritik am politischen Messianismus und an der Idee der Theokratie. In den Terroranschlägen von 9/11 war das Gewalt- potenzial einer solchen Politik hyperreal und global sichtbar geworden, im Film stehen dafür die Aufnahmen vom Ground Zero. In einem Text machte Aloni klar, dass Scholems Warnung keineswegs nur die hebräische Sprache betrifft. Die Sakralisierung des Arabischen habe eine Hypertrophie des «apokalyptischen Modells» (Pedaya) ermöglicht, die in der ‹göttlichen› Zerstörung des ‹neuen baby- lonischen Turmes› des World Trade Center gipfelte.104 Aloni liest dieses Ereignis als Wirkung eines Zusammenbruchs des Metaphorischen, nach dem nichts mehr einem psychotischen Durchbruch ins Reale im Wege stand.105 Gegen die Sakralisierung von Sprache, Land und in der Folge auch der Gemeinschaft baut Aloni mit Walter Benjamin auf das «Glückssuchen der freien Menschheit»,106 das auf eine innerweltliche Ordnung des Profanen verwiesen ist. auch eine Vorstufe des Briefes. Scholem formulierte darin: «Die Sache des Zionismus hängt an dieser Frage, einer bangen Frage.» (S. 288) Siehe darin auch den Text «Die Verzweiflung der Siegenden» (S. 294–295); zu Scholems Brief vgl. Mosès: Der Engel der Geschichte, Kap. 9: Spra- che und Säkularisation, S. 215–234. 101 Einige Sequenzen später spielt Alonis Off-Kommentar darauf an, dass Scholem seine Hal- tung von 1926 später zugunsten einer nationalistischen Position aufgab: «‹Who will stand in the way of a revolt of a holy language?›, asked Scholem in his letter – and fell into the very abyss he destined for us with his acts.» Siehe dazu Biale: «Scholem und der moderne Nationa- lismus»; weiters Biale, David: Gershom Scholem: Kabbalah and Counter-History, 2. Aufl., Cam- bridge MA: Harvard UP 1982, S. 97–111. 102 Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 35. 103 Benjamin: [«Theologisch-politisches Fragment»], GS II.1, S. 203–204. Der Titel dieses Textes stammt von Adorno. Benjamin nahm gelegentlich auf Spinozas Theologisch-Politischen Trak- tat Bezug, etwa in «Zur Kritik der Gewalt», S. 180. 104 Vgl. Aloni (Hg.): Local Angel, S. 73 f. 105 Vgl. ebd. 106 Benjamin: «Theologisch-politisches Fragment», S. 203 f. 249 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Im Theologisch-politischen Fragment hatte Benjamin ausgeführt, dass die Idee des Gottesreiches so an die Idee der Unsterblichkeit geknüpft sei wie die Idee des Glücks an Verletzlichkeit, Leid und «Vergängnis»:107 [D]er Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück.108 Die Dimension des Messianischen kann in der Ordnung des Profanen nur in einer paradoxen Zeitlichkeit aufgehoben werden. Ein letztes Insert am Ende von Local Angel zitiert einen Satz aus Kafkas posthum veröffentlichten Aufzeich- nungen: «The messiah will come one day after his arrival.»109 (Abb. 131, S. 275) Local Angel folgt zwei konträren Bewegungen, die eine destruktiv, die andere konstruktiv. Einerseits entwickelt der Film eine radikale Kritik an der politischen Theologie des Tempelbergs und ihren Implikationen für das Leben in Palästina-Israel, andererseits versucht er in sorgfältig inszenierten Bildern und Tönen mit Benjamin die Ordnung des Profanen «aufzurichten an der Idee des Glücks».110 Dabei spielt die Musik eine entscheidende Rolle. Sie ist jene sensori- sche Ausdrucksform, die das Überschreiten religiöser und nationaler Identitäten möglich und wünschbar machen soll. In Avital Ronells Lektüre des Films steht die Musik für den Diskurs des Anderen, «something that jumps out of the secure zone of a certain kind of semantic residue».111 Local Angel behauptet, dass ihre Rhythmen die Dialektik von ‹Eigenem› und ‹Fremdem›, von Ich und Anderem zum Tanzen bringen können. Die für den Film inszenierten Performances israe- lischer und palästinensischer Musiker*innen wie Tamir Muskat,112 David d’Or,113 Dikla114 und der Rapper von DAM115 verschieben monolithische Identitäten in Richtung eines kollektiven Dialogs. Bilder des Jüdischen und des Arabischen werden bis zur Ununterscheidbarkeit hybridisiert. Rhythmische, musikalische und visuelle Kreation wird zum Medium der kulturellen Transgression und der Profanierung des Religiösen. 107 Ebd., S. 204. 108 Ebd. 109 Kafka schrieb am 4. Dezember 1917: «Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.» Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente 2, S. 56 f. 110 Benjamin: «Theologisch-politisches Fragment», S. 203. 111 Ronell, Avital: «Apostrophe to the Absent Father», in: Aloni (Hg.): Local Angel, S. 14–19, hier S. 15. 112 Siehe https://www.allmusic.com/artist/tamir-muskat-mn0000166415 (zugegriffen am 26.2.2018). 113 Siehe http://www.daviddor.com (zugegriffen am 26.2.2018). 114 Siehe https://www.discogs.com/de/artist/2111226-Dikla (zugegriffen am 26.2.2018). 115 Siehe https://www.damofficialband.com (zugegriffen am 26.2.2018). 250 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 110–113 Eine musikalische Parallelmontage, die der Realität von Teilung und Feindschaft ein transgressi- ves Begehren entgegensetzt; Screenshots aus Local Angel (TC 00:12:35, 00:12:47, 00:12:45, 00:14:44) In einer dieser Sequenzen, die die lineare Diegese von Alonis Recherche immer wieder unterbrechen, flaniert die Kamera etwa mit den Musiker*innen David d’Or und Dikla durch den arabischen Bazar der Jerusalemer Altstadt. Die bei- den singen im Duett zu orientalischen Dance-Sounds ein Liebeslied in arabischer Sprache: Er: «Dreaming about you, waiting for you with passion … and if you don’t ask about me, I will be content with the tender nights I dreamt of you …» Sie: «… you’ve filled my life with pleasure, dreaming of you, my love … Ever since I learned to love …» Diese ästhetisierten Einstellungen werden mit Serien dokumentarischer Fotos vom Alltag der Besetzung parallel montiert: IDF-Soldaten kontrollieren palästinensische Männer, Frauen und Kinder an Checkpoints. Dem latenten Kriegszustand wird das Potenzial ästhetischer Schöpfung gegenübergestellt, die Montage konterkariert die Bilder einer peinvollen Normalität durch den musikalischen Liebesdiskurs, aus dem «das Pathos tropft wie warmer Honig»116 (Abb. 110–113). Die Sequenz ist viel- deutiger, als sie zunächst scheint. Sie stellt nicht einfach israelisch markierter Macht eine arabisch markierte Liebe entgegen, vielmehr unterläuft sie die Entgegensetzung kollektiver Identitäten: Die beiden Musiker*innen sind nicht Palästinenser*innen, 116 Hanich, Julian: «Wenn Gott stirbt. Panorama: Local Angel, ein Essay über den Nahen Osten», Tagesspiegel, 7.2.2003. 251 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni sondern Israelis mit Wurzeln im arabischen Raum.117 Ihr Gesang verkörpert miz- rahische Formen jüdischer Identität, die die aschkenasisch kodierte ‹Israeliness›118 überschreiten, denn die Position ‹arabischer Jüd*innen› scheint innerhalb der binä- ren Unterscheidung von ‹jüdisch/israelisch› bzw. ‹arabisch/palästinensisch› unmög- lich.119 Dikla ist eine jüdische Musikerin mit ägyptischen und irakischen Wurzeln, die Lieder der im ganzen arabischen Raum verehrten Oum Kalthoum eingespielt hatte.120 Der Kontertenor David d’Or wurde mit Liedern sephardischer Rabbis aus Libyen bekannt. Die Differenz zwischen dem israelischen ‹Hier› und dem arabi- schen ‹Anderswo› erweist sich als Grenzziehung zwischen Identitäten, die an vielen Punkten verknüpft sind und einander antworten. Eine Voice-over-Stimme rahmt die Inszenierung dieser Sequenz durch einen Text, der den orientalistischen Blick als phantasmatische Kehrseite der Politik der Besetzung kenntlich macht: «Though there are those among us who consider themselves as secular and are taken with the magnificence of the Mosque. They look upon the sweet, elusive beauty of the East with an orientalist gaze and see the bazars reflected in the Domes golden globe.» Local Angel geht von Edward Saids Kritik am orientalistischen Blick aus. Die wesentliche intellektuelle Aufgabe, die der Orientalismus als «form of thought for dealing with the foreign»121 stellt, hatte Said in Form einer Frage formuliert, deren Dringlichkeit seit 1978 kontinuierlich zugenommen hat: Can one divide human reality, as indeed human reality seems to be genuinely divided, into clearly different cultures, histories, traditions, societies, even races, and survive the consequences humanly? By surviving the consequences humanly, I mean to ask whether there is any way of avoiding the hostility expressed by the divisions, say, of men into ‹us› (Westerners) and ‹they› (Orientals).122 117 Kritische Analysen zur Geschichte der Juden und Jüdinnen im arabischen Raum bieten Bensous- san, Georges: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage, Berlin: Leipzig 2019 sowie Boum, Aomar und Sarah Abrevaya Stein (Hg.): The Holocaust and North Africa, Stanford: Stanford UP 2019. 118 Siehe Kimmerling, Baruch: The invention and decline of Israeliness. State, society, and the mili- tary, Berkeley: University of California Press 2001; weiters Bar-On, Dan: The others within us. Constructing Jewish-Israeli identity, Cambridge u. a.: Cambridge UP 2008. 119 Siehe Shohat, Ella: On the Arab-Jew, Palestine, and other displacements. Selected writings, Lon- don: Pluto Press 2017; weiters Kimmerling, Baruch: Clash of identities. Explorations in Israeli and Palestinian societies, New York: Columbia UP 2008. 120 Auf ihrer CD Ahava Musika (2000). In Shlomi Elkabetz’ Film Edut / Testimony (ISR 2011) verkörpert sie eine ähnliche Position: «Dikla’s performance emphazises the always ‹forgot- ten› link between the Jew and the Arab.» Raz, Yosef und Ozery Yaara: «Ghostly Testimonies. Re-enactment and Ethical Responsibility in Recent Israeli Documentary Filmmaking», in: El- liott, David James, Marissa Silverman und Wayne Bowman (Hg.): Artistic citizenship. Artistry, social responsibility, and ethical praxis, New York: Oxford UP 2016, S. 272–296, hier S. 288. 121 Said: Orientalism, S. 46. 122 Ebd., S. 45. 252 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 114–117 Die Montage verweist auf geteilte Trauer und bezieht das Gebot der Nächstenliebe auf den palästinensischen Nachbarn; Screenshots aus Local Angel (TC 00:18:50, 00:20:13, 00:21:06, 00:21:23) Von Alonis Film geht die humanistische Anrufung aus, die Teilung der Welt zu überwinden und stattdessen eine Wirklichkeit herzustellen, in der sich das Benja- min’sche «Glückssuchen der freien Menschheit» enfalten kann. Eine weitere Sequenz verbindet eine Performance von Dikla und David d’Or in einem jüdischen Friedhof oberhalb von Jerusalem mit einer weiteren Serie doku- mentarischer Fotos. Dem innigen Pathos einer aschkenasischen Hymne, die das Torah-Studium und die Nächstenliebe lobpreist – «love thy neighbor and the study of the Torah» –, sind Fotos von öffentlich trauernden israelischen und palästinen- sischen Familien schroff gegenübergestellt. Deutlich sichtbar teilen beide Kollek- tive eine gemeinsame, traumatisierende Wirklichkeit. Wieder scheint die Montage den Film der Schöpfung und die Fotografie dem Tod zuzuordnen (Abb. 114–117): «Der Engel der Fotografie»123 erhebt Agamben zufolge in der Ordnung des Profa- nen den Anspruch, «dass man sich an all das erinnert», wovon die Fotos zeugen, «am Ende der Tage, das heißt eines jeden Tages.»124 Juden singen in Local Angel arabisch und Palästinenser hebräisch. So wie Local Angel quer zur Norm stehende mizrahische Identitäten in Szene setzt, gibt er auch palästinensischen Protagonisten Raum zu kontra-stereotyper Arti- kulation, etwa den Rappern von DAM:125 Mahmoud Jreri und die Brüder Tamer 123 Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 22. 124 Ebd. 125 Aloni drehte mit DAM gemeinsam das Musikvideo Innocent Criminals (ISR 2003) und den Spielfilm Junction 48 (ISR/D/USA 2016, Berlinale Panorama Publikumspreis 2016). Tamer 253 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni und Suhell Nafar sind in der gemischt arabisch-jüdischen Stadt Lydda/Lod süd- lich von Tel Aviv aufgewachsen. Ihr Bandname ist ein Akronym für ‹Da Ara- bian MCs›. ‹Dam› bedeutet aber auch ‹Blut› im Arabischen wie auch im Hebrä- ischen, DAM rappen in beiden Sprachen. In Local Angel performen sie ihren ersten Song Min Irhabi (Who is a Terrorist?) auf Arabisch. 2001 wurde er für viele Jugendliche im Mittleren Osten zu einer Hymne. Sie adressieren darin den isra- elischen Anderen, um ihm das eigene Zerrbild spiegelbildlich zurückzuwerfen: «Who is a terrorist? I am a terrorist? / How can I be a terrorist when I’m living / in my own homeland / Who is a terrorist? You are a terrorist!» DAM singen in den verwaisten Ruinen arabischer Häuser und vor den visuell ver- fremdeten Aufnahmen einer israelischen Friedenskundgebung (Abb.  118–119). Ihr Text bedient sich einer extremen Metaphorik: «Democracy? You remind me of the Nazis / because you have raped the Arab soul / and it became pregnant / giving birth to suicide bombers / and then you call us terrorists.» Am 1. Juni 2001 waren beim Selbstmordanschlag eines palästinensischen Attentä- ters vor der Tel Aviver Diskothek Dolphinarium 21 Menschen in den Tod gerissen und 120 verletzt worden, die meisten von ihnen Teenager, die auf Einlass gewartet hatten. Als Aloni DAM im Tonstudio filmt, weist Tamer Nafar auf den sozialen Nexus der Gewalt hin, der in der Dämonisierung palästinensischer Terrorist*in- nen in der Regel ausgeblendet wird: «The kid who watched his house being demo- lished grows up with hate. I won’t be surprised if he becomes a recruit.» Der Film zeigt die Musiker bei der Aufnahme von Innocent Criminals, der Songtext ist im Original hebräisch: «Wake up people and make justice. Before you read me, before you judge me, before you feel me, before you punish me, get into my shoes and your feet will hurt. Because we are criminals, innocent criminals.» Nafar schrieb mit Oren Moverman das Drehbuch zu diesem Film und verkörpert die Figur eines palästinensischen Rappers mit autobiografischen Zügen. Die komplexe Beziehung zwi- schen Nafar und Kobi Shimoni von der israelischen Hiphop-Band Subliminal steht im Zent- rum von Anat Halachmis Dokumentarfilm Arotzim Shel Za’am / Channels of Rage (ISR 2003); vgl. Goldman, Lisa: «Who’s the Terrorist? The leading Palestinian hip-hop group finds an unlikely fan base», Tablet Magazine 6.11.2007, https://www.tabletmag.com/jewish-arts- and-culture/music/1138/whos-the-terrorist (zugegriffen am 29.12.2019). Im Dokumentarfilm Sling-shot Hip-Hop (PAL/ISR 2008) von Jackie Reem Salloum firmieren DAM als Pioniere des palästinensischen Hiphop; vgl. Eqeiq, Amal: «Louder Than the Blue ID: Palestinian Hip- Hop in Israel», in: Kanaaneh, Rhoda Ann und Isis Nusair (Hg.): Displaced at Home: Ethnicity and Gender among Palestinians in Israel, Albany NY: SUNY Press 2010, S. 53–71. 254 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 118–119 Local Angel gibt der zornigen Selbstartikulation des palästinensischen Hiphop Raum: Tamer Nafar von DAM rappt vor dem Hintergrund arabischer Ruinen (TC 00:27:45) und einer grafisch verfremdeten Demonstration gegen die Besetzung (TC 00:29:27); Screenshots aus Local Angel Amnon Raz-Krakotzkin kritisiert im Film, dass das säkulare Bild der ‹Israeliness›, das Tel Aviv im Gegensatz zu Jerusalem verkörpert, auf einem kategorischen Aus- schluss des Arabischen beruhe. Arabische Menschen kämen nur als Selbstmord- attentäter oder als Rapper nach Tel Aviv: «[T]he solution will come when Arabs will live in Tel Aviv.» Diesseits des unmöglichen Wunsches nach Einheit und Rein- heit126 versucht Alonis Film in seinen musikalischen Inszenierungen sinnfällig zu machen, dass eine binationale Kultur möglich ist, in der Ost und West, ‹Orient› und ‹Okzident›, Arabisches und Hebräisches ko-existieren und interferieren. In diesen Sequenzen wird das Konzept des Binatio nalismus als einer «Vorstellung von einem gemeinsamen politischen Bezugsrahmen für beide Gruppen»127 mit Anschauung erfüllt. Dieser Rahmen resultiert für Raz-Krakotzkin einfach aus der «Anerkennung der Notwendigkeit von Gleichheit und Teilhabe»128 für alle. Entsprechende Subjektivierungen finden ihren sprachlichen Ausdruck in para- doxen Selbstbezeichnungen wie ‹Arab Jew› oder ‹Jewish-Palestinian›,129 die in der israelischen Öffentlichkeit immer wieder für Kontroversen sorgen. Aloni erläutert in einem Video-Monolog, dass er den Prozess andauern- der Zerstörung nicht als «apocalyptic moment», vielmehr als «opportunity to act» sehen wolle: «For me to understand how to act in it, politically, not theolo- gically. I thought I would benefit from following my mother’s political journey», ihrem Kampf für Menschenrechte «and, these days it is necessary to emphasize: Every human [hebr. kol adam].» Damit ist ein weiteres Motiv von Local Angel 126 Vgl. Aloni, Udi: «The Star of Redemption with a Split Aleph», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 28 f. 127 Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 21; siehe auch Boehm, Omri: Israel – eine Utopie, Berlin: Propyläen 2020. 128 Ebd., S. 70. 129 Edward Said im August 2000: «I am a Jewish-Palestinian.» Zit. nach Said, Edward W.: Power, politics and culture. Interviews with Edward W. Said, hg. v. Gauri Viswanathan, London: Bloomsbury 2005, S.  458; weiters Aloni, Udi: «From Now on Say I Am a Palestinian Jew» [2009], in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 121–124, hier S. 121. 255 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni angesprochen: Alonis dialogische Auseinandersetzung mit seiner Mutter Shula- mit Aloni (1928–2014),130 einer zentralen Protagonistin der israelischen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung und zeitweiligen Erziehungs- und Kulturministerin im Kabinett Rabin.131 Aloni montiert private Video-Footage von einer Geburts- tagsparty seiner Mutter ein, aus dem Off hört man seine Laudatio: «In a sea of generals you arrived with your beads and bracelets and unruly curls.» Jitzchak Rabin, der hier mitgemeint war, umarmt Shulamit Aloni (Abb. 120), die mit dem Premierminister und ehemaligen Generals tabschef des Tsahal eine lange Freund- schaft verbindet. In ihrer Zeit als Ministerin kämpfte sie kompromisslos für Frau- enrechte und gegen den wachsenden Zugriff von religiösen Gruppen auf israe- lische Politik und Rechtsprechung. Die privaten Bilder rufen unweigerlich das Trauma des Rabin-Attentats auf, das in Ariella Azoulays The Angel of History den Horizont für die gesamte filmische Konstruktion gebildet hatte. Sie gewin- nen eine andere Bedeutung, wenn man um die Auseinandersetzungen weiß, die Shulamit Aloni mit Rabin über die Haltung gegenüber jenen messianischen Fun- damentalist*innen führte, aus deren Reihen wenig später sein eigener Mörder kommen würde: Darüber hatte ich eine sehr heftige Diskussion mit Rabin. Nach dem Anschlag von Goldstein132 in Hebron133 rief ich ihn nachts an und erinnerte ihn an die 130 Shulamit Aloni (geb. Adler) wurde 1929 als Tochter polnischer Einwanderer in Tel Aviv in Paläs- tina unter britischem Mandat geboren. Sie absolvierte ein Lehrerseminar und studierte Rechts- wissenschaften. 1948 geriet sie bei Kämpfen in der Jerusalemer Altstadt in jordanische Gefangen- schaft. 1952 heiratete sie Reuven Aloni (1919–1991), der später die Israel Lands Administration mitaufbaute. 1965 wurde sie für die linke Mapai in die Knesset gewählt. Nach Konflikten mit Golda Meir verließ sie 1969 die Partei und gründete 1973 die Bürgerrechtsbewegung Ratz, die auch zu Wahlen antrat. In den 1980er-Jahren setzte sie sich für direkte Verhandlungen mit der PLO ein. 1992 vereinigte sich Ratz mit Mapam und Shinui zur neuen links-liberalen Partei Me- retz. Ministerin war Aloni in den Jahren 1992 bis 1995. Ihr kompromissloser Säkularismus führ- te zum Konflikt mit Rabbi Ovadja Josef, dem Anführer der ultra-orthodoxen Shas-Partei. Um die Rabin-Koalition zu erhalten, wurde sie gedrängt, vom Erziehungs- ins Kommunikationsministe- rium zu wechseln. Nach Rabins Ermordung war sie unter Shimon Peres noch ein Jahr Ministerin für Kommunikation, Wissenschaft und Kunst. 1996 zog sie sich aus der Politik zurück und war als Aktivistin, Journalistin und Lehrende an israelischen und US-amerikanischen Universitäten tätig. 2000 wurde ihr der ‹Israel-Preis› verliehen; vgl. Chazan, Naomi: «Shulamit Aloni», https:// jwa.org/encyclopedia/article/aloni-shulamit (zugegriffen am 19.1.2020); weiters Zertal, Idith: I Can Do No Other. A Political Biography of Shulamit Aloni, Tel Aviv 1997 [hebr.]. Anat Saragusti drehte den Dokumentarfilm Citizen Aloni (ISR 2008) über sie. 131 «I grew up in the Zionist warmth of an aristocratic, socialist-Zionist family, with a security that’s always killing me (present continuous), but will always protect me as well.» Aloni, Udi: The Book of Sham. Visual Midrash, New York: Nicole Klagsbrun Gallery 1995, S. 10. 132 Siehe S. 235. 133 Wie Jerusalem gilt auch Hebron, arabisch Al-Halil, Juden und Muslimen als heiliger Ort, weil sich hier das Grab Abrahams befunden haben soll. 1929 kam es in der Stadt zu einem Massa- ker, bei dem 67 Juden von Arabern getötet und zahlreiche verletzt wurden. Der Großteil der 256 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Ermordung Graf Bernadottes 1948 in Jerusalem.134 Damals steckte Ben- Gu rion 200 Leute ins Gefängnis. Ich bin dafür, daß die Armee all die 400 bis 500 Juden, die in Hebron sitzen, evakuiert und die dortigen Siedlun- gen mit schweren Schlössern ver- schließt. Diese Siedler sind eine 120 Shulamit Aloni bei einer Friedenskund- Schande – es ist unmöglich, daß sie gebung; Screenshot aus Local Angel (TC 00:23:11) dort bleiben. Wir sind gezwungen, eine Wirklichkeit zu schaffen, die Präzedenzcharakter aufweist. Der Mord in Hebron war ein Ereignis, in dessen Folge man auch Kiryat Arba135 hätte räumen lassen können. Dennoch: Hebron wird arabisch sein. Alle diese Umgehungsstraßen, die man heute baut, haben so einen Beigeschmack von Bedrängnis. Ich betone immer, daß diese Gebiete unter Militärverwaltung stehen und eben nicht Teil des israelischen Staates sind. Da es ein Gebiet unter Militärverwaltung ist, gehört es nicht uns, sondern dem palästinensischen Volk. Zu diesem Thema habe ich eine völlig klare Haltung, aber ich bin nicht Ministerpräsidentin und stehe in dieser Frage auch ziemlich alleine da.136 Im selben Gespräch mit Azmi Bishara bezeichnete Shulamit Aloni in Jerusalem im Jänner 1996 «Besetzung und Annektion Jerusalems nach dem Sechstagekrieg» als einen «Fehler».137 Trotzdem vertraute sie zu diesem Zeitpunkt darauf, «daß wir irgendwann Frieden haben werden – auch in Jerusalem.»138 Der rechtliche Rah- men eines solchen Friedens werde eine Zwei-Staaten-Lösung sein: Wir werden diesen aber nur an der Seite des palästinensischen Volkes als souve- ränem Volk haben. Ich zeige das gerne an einem Vergleich: Wenn ein Häftling mit einem Gefängniswärter geht, sind beide durch die Handschellen verbun- den. Nicht nur, daß der Häftling ein Gefangener ist, auch der Gefängniswärter jüdischen Gemeinde, etwa 435 Menschen, überlebte durch die Hilfe ihrer arabischen Nach- barn. Diese Geschichte erforschte Dan Geva in seinem Dokumentarfilm What I saw in He- bron (ISR 1999). Nach dem Krieg von 1967 begannen militante Mitglieder des national-religi- ösen Gush Emunim, sich dauerhaft in Hebron festzusetzen. 134 Folke Bernadotte Graf von Wisborg, Vermittler der UNO in Palästina, wurde am 17.9.1948 von Mitgliedern der rechts-zionistischen Terrorgruppe Lechi erschossen. 135 Jüdische Siedlung am Stadtrand von Hebron, deren Mitglieder ebenfalls zum harten Kern der Siedlerbewegung zählen. 136 Zit. nach Bishara, Azmi und Uri Avnery (Hg.): Die Jerusalemfrage. Israelis und Palästinenser im Gespräch, Heidelberg: Palmyra 1996, S. 169. 137 Ebd., S. 162. 138 Ebd., S. 165. 257 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 121 Shulamit Aloni und Jitzchak Rabin; 122 Shulamit Aloni und Hanan Ashrawi; Screenshot aus Local Angel (TC 00:30:53) Screenshot aus Local Angel (TC 00:31:29) ist nicht frei. Um sie voneinander zu trennen, muß man diese Situation stop- pen und die Verbindung lösen, damit beide in Freiheit leben können.139 Local Angel enthält Video-Footage von einer Kundgebung der Friedensbewe- gung gegen die Politik der Besetzung (Abb. 121). In ihrer Rede vergleicht Shulamit Aloni die israelische mit der österreichischen Rechten: «The right occupies territories which don’t belong to it, the right talks about transfer, they need to apologize to Haider of Austria. Haider wants to expel the newly arrived, and here they want to expel the indigenous who’ve been living here for generations, we, who have just arrived.» Sie kritisiert die theokratische Legitimierung von Besiedlung, Enteignung und Häuserzerstörungen in den seit 1967 besetzten Gebieten: «We have rabbis proud of Judaism, and they betray it. Those who talk about destroying, breaking, annihilating, eliminating.» In der Folge porträtiert der Film eine grenzüberschreitende Freundschaft, die in ihrer visuellen Darstellung zu einer Art Lektion wird. Der Filmemacher besucht mit seiner Mutter die palästinensische Politikerin Hanan Ashrawi140 in ihrem 139 Ebd. 140 Hanan Ashrawi wurde 1946 in Nablus, in Palästina unter britischem Mandat als jüngste von fünf Töchtern einer christlichen Arztfamilie geboren. Die Familie flüchtete während des Kriegs von 1948 nach Jordanien und ließ sich dann in Ramallah im Westjordanland nieder. Ashrawis Vater war einer der Gründer der PLO und trat auch für Frauenrechte ein. Ashrawi studierte englische Li- teratur im Libanon und in den USA. Nach der israelischen Besetzung des Westjordanlandes wurde ihr als ‹Abwesender› die Rückkehr verboten. Erst 1973 konnte sie aus dem Exil in den USA zurück- kehren. 1975 heiratete sie den Künstler und UNO-Fotografen Emile Ashrawi. Von 1974 bis 1995 war sie Professorin für englische Literatur an der Birzeit Universität nahe Ramallah. Politisch en- gagierte sie sich beim Palästinensischen Frauenverband und der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS). Weltbekannt wurde sie 1988 als Mitglied des Politischen Intifada-Komitées und 1991 als Sprecherin der palästinensischen Delegation bei der Madrider Nahost-Konfe- renz sowie den darauffolgenden Verhandlungen in Washington. Während der Verhandlungen 258 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Büro in Ramallah (Abb. 122). Ashrawi benennt die Grundlage ihrer seit langem bestehenden Freundschaft: «We have the same principles.» Tatsächlich entzie- hen sich beide Frauen durch ihre Orientierung am Wert universeller Gerechtig- keit dem «Imperativ der Hypersolidarität»,141 der aus der Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Gruppe erwächst. Beide teilen die Werte einer laizistischen, inklusiven, humanistischen Linken – der israelischen Soziologin Eva Illouz zufolge «die ein- zige Stimme […], die im Namen einer universellen Moral spricht»,142 nötigenfalls auch im Dissens zu vorherrschenden Überzeugungen des eigenen Kollektivs. Shulamit Aloni gründete 1973 die Bürgerrechtsbewegung Ratz und 1982 das International Center for Peace in the Middle East. Seit den 1960er-Jahren trat sie dafür ein, eine ‹Israeli Bill of Rights› mit gleichen Grundrechten für alle israe- lischen Staatsbürger*innen unabhängig von ihrer Religion zu schaffen. Ebenso lange kämpfte sie gegen die religiöse Bevormundung durch das orthodoxe Rab- binat in Belangen des Ehe- und Scheidungsrechts. Sie wurde deshalb gelegentlich als «Israel’s First Lady of Human Rights»143 bezeichnet. Hanan Ashrawi grün- dete 1993 mit Jasser Arafat die Independent Palestinian Commission for Human Rights144 und 1998 die Palestinian Initiative for the Promotion of Global Dialogue and Democracy (Miftah),145 der sie auch heute noch angehört. Im Gespräch mit Udi Aloni fällt ihre Bestandsaufnahme im Jänner 2002 bitter aus: «There is a sort of monolithic, mindless approach to reality: Dehumanize the Palestinians. Hate the Palestinians. Blame everything […] on the Palestinians. Bash, beat, destroy the Palestinians. Anybody who does speak out […], is cer- tainly taking risk, because you are challenging a really prevalent version of real- ity. You know, when people recognise your narrative and your humanity, that goes a long way. A long way towards the solution.» Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte die Spirale der Gewalt eine Klimax erreicht: Angriffe der Hamas, gezielte Tötungen und Häuserzerstörungen durch die israelische zwischen Arafat und Rabin war Ashrawi Vorsitzende des Vorbereitungskomitees für die Unab- hängige Palästinensische Menschenrechtskommission in Jerusalem, später Mitglied des Palästi- nensischen Legislativrats. 1996 wurde sie Ministerin für Bildung und Forschung der Palästinensi- schen Autonomiebehörde. 1998 legte sie dieses Amt aus Protest gegen die politische Korruption in der von Arafat dominierten palästinensischen Führung nieder. Publikationen: Ashrawi, Hanan: «The contemporary literature of Palestine: poetry and fiction», Charlottesville VA: University of Virginia 1982; ds.: Ich bin in Palästina geboren. Ein persönlicher Bericht, Berlin: Siedler 1995. 141 Illouz: Israel, S. 34. 142 Ebd., S. 206. 143 Goodman, Amy: «Israel’s First Lady of Human Rights: A Conversation with Shulamit Aloni», Democracy Now! 14.8.2002, http://www.democracynow.org/2002/8/14/israels_first_lady_of_ human_rights (zugegriffen am 19.1.2020). 144 Siehe https://ichr.ps/en (zugegriffen am 19.1.2020). 145 Siehe http://www.miftah.org (zugegriffen am 19.1.2020). 259 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 123 Begegnung mit dem ‹Feind›: Udi und Shulamit Aloni bei Jasser Arafat; Screenshot aus Local Angel (TC 00:36:32) Armee in Gaza und in Ost-Jerusalem, Selbstmordattentate der Al-Aqsa-Märtyrer-Bri- gaden in israelischen Städten. Aloni schlägt deshalb seiner Mutter und Ashrawi – «two mothers who refuse to accept the human sacrifice that Jerusalem has demanded all these years» – vor, eine feministische Friedensbewegung zu gründen. Die Alonis treffen nach Hanan Ashrawi Jasser Arafat in dessen belagerten Hauptquartier in Ramallah (Abb. 123). Shulamit Aloni berichtete später in einem Text über diesen Besuch, den ihr Sohn mit der Kamera begleitete: I decided to go to Arafat personally and hear his version; and maybe to tell him not all of us are Sharon. Arafat repeated his words that we Israelis are trying to forget: That already in 1988 the institutions of the PLO accepted UN Resolutions 242 and 338 – that is, the Green Line borders – and from their point of view that means that they gave up on greater Palestine and recog- nised the existence of the State of Israel.146 Der Film kulminiert in dieser Situation in einem ebenso überraschenden wie irri- tierenden ethischen Akt. Udi Aloni radikalisiert in einer Frage, die er seinerseits an Arafat richtet, das Anliegen seiner Mutter in grenzüberschreitender Weise: «What the Israeli people should do, in order for the Palestinians to forgive us for all the wrong doings we did in the last fifty years?»147 Die Videoaufzeichnung dieses Moments zeigt, wie sehr Alonis Frage aus dem Rahmen des gewohnten Diskurses fällt. Sie löst bei den Anwesenden, Shulamit 146 Aloni, Shulamit: «You Can Continue with the Liquidations» (18.1.2002), in: Carey, Roane und Jonathan Shainin (Hg.): The other Israel. Voices of refusal and dissent. Foreword by Tom Segev, New York: New Press 2002, S. 85–87, hier S. 86. 147 In einem Brief an Moshe Idel schrieb Aloni: «Yet we, because of our greed, arrogance and, it would seem, paranoia, have destroyed all hope in the Palestinian people.» Aloni (Hg.): Local Angel, S. 78. 260 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Aloni, Arafat und dessen Entourage spontanes Lachen aus. In diesem vieldeu- tigen «para-linguistic moment of laughter»148 kann man Nuancen von Über- raschung, Unglauben, Sympathie, aber auch von Sarkasmus und Verbitterung erkennen. Arafat übergeht in seiner Antwort den Kern von Alonis Frage. Man müsse auf den Weg zurückkehren, den er gemeinsam mit Rabin eingeschlagen habe, «which means that two states are living side by side.» Obwohl Alonis Versuch eines rückhaltlosen Dialogs in der Anwesenheit sei- ner Adressat*innen sichtbar scheitert, etabliert er als gefilmter Akt eine Verschie- bung des Blicks auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Arafat ist in die- sem Moment moralisch und politisch bereits delegitimiert und isoliert, trotzdem ist er für Aloni symbolischer Dialogpartner. Auf der performativen Ebene for- muliert Aloni keine Bitte um Vergebung, sondern verknüpft ein Einbekenntnis von Verantwortung für die palästinensische Misere mit der Frage nach faktischen Bedingungen der Möglichkeit von Vergebung, die durch konkrete Handlungen hergestellt werden könnten. Vergebung wird dabei nicht im christlichen Sinn ver- standen, sondern als ‹Forgiveness› im Sinne Jacques Derridas, an dessen Semi- nar zu diesem Begriff Aloni teilgenommen hat: als einen unmöglichen, eigentlich messianischen Akt, der eine Bresche zu einer ganz anderen Geschichte öffnet.149 Mag Alonis Geste vor dem Hintergund der ‹Realpolitik› auch naiv anmuten, sie berührt doch einen entscheidenden Punkt des nahöstlichen Problemknotens, den auch der Politikwissenschaftler John Bunzl im Auge hatte, als er formulierte: Ich war (und bin) überzeugt, dass ein israelisches ‹Sorry›, d. h. das Einbekenntnis einer historischen Hauptverantwortung für die Schaffung der Flüchtlingstragö- die 1948, eine unabdingbare Voraussetzung für alles Weitere ist und bleibt.150 Alonis Begegnung mit Arafat ist die kontroversiellste Szene des Filmes, die Aloni Kritik eingetragen hat, wie er selbst in einem weiteren Monolog selbstreflexiv fest- hält. Er rechtfertigt den gefilmten Sprechakt als eine symbolische Intervention in israelische Diskurse: «Some people got angry with me, asking: What right do I have to ask Arafat to forgive us? Who appointed me to ask forgiveness, and who is he to grant it? And I thought about the Jews unable to forgive the Nazis. It was always clear to me that the Nazis were pure evil, and the Jews, the ultimate victims. Sheep to the slaughter. I was seeking forgiveness from another place. Here the occupier is not pure evil, it’s possible to understand him and his motives. And the victims surely 148 Ronell: «Apostrophe to the Absent Father», in: Aloni (Hg.): Local Angel, S. 18. 149 Siehe S.  288 f.; weiters Derrida, Jacques: On cosmopolitanism and forgiveness, London  / New York: Routledge 2001; sowie Aloni, Udi: «The Star of Redemption with a Split Aleph», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 27. 150 Bunzl, John: Israel im Nahen Osten. Eine Einführung, Wien u. a.: Böhlau 2008, S. 214. 261 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni are not sheep led to slaughter. Still it seems to me that asking forgiveness from the Palestinians, is the place to start a dialogue. So I chose Arafat, because he is the Palestinians’ elected leader. I don’t think it is my place to ask forgiveness on behalf of the Israeli people, but I can offer it as an option to start a dialogue. So I went to try to and ask forgiveness. Not so much for Arafat to accept it on behalf of the Palestinians, but as an option to consider in the Israeli discourse.» Alonis gesamter audiovisueller Diskurs lässt sich als eine auf die Möglichkeit von ‹Forgiveness› bezogene Geste angesichts des palästinensischen Anderen verste- hen. Diese Geste will eine konkrete Perspektive öffnen, in der die reflexhafte Poli- tik der Feindschaft durch eine operative Politik der Freundschaft abgelöst wird. Alain Badiou bemerkte, Local Angel konstruiere «a sort of a common point in the future which is precisely a new place both spiritual and concrete»,151 indem er an einer einfachen Überzeugung festhalte: The conviction of the movie is that if we consider the situation from the real point of view of a subjectivity which is composed of loyalty, faithfulness, and awareness of the other, we can know that the people who live in Palestine are something like the same as those in Israel.152 Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Politik, die dieser Überzeugung folgt, ist schließlich Gegenstand eines Dialogs, der noch stärker als die Begegnung mit Arafat Bruchlinien und Unvereinbarkeiten in der israelischen Diskurslandschaft sichtbar macht. Während der Autofahrt von der Westbank zurück nach Jerusa- lem debattieren Udi und Shulamit Aloni über die Forderung nach einem Rück- kehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge von 1948: Udi Aloni: «So why are we so appalled?» Shulamit Aloni: «Because we don’t want it. We’ll become a minority and that’s the end of the Jewish state.» U. A.: «And where do you stand on this?» S. A.: «I think, that if we have two states, and you allow the right to return the state of Israel is done for. We’ll end up with a Palestinian state and a bi- national state in which we are a minority. And so, in the balance of things, it is not right. You don’t remedy one injustice by committing another.» U. A.: «What injustice is committed? I didn’t say return to a land if a Jew lives there.» S. A.: «So he’ll return to Israel, to his state, to Palestine.» U. A.: «For fifty years there is no Palestine? Since 1949 Palestine doesn’t exist?» 151 Badiou, Alain: «Angel for a New Place», in: Aloni (Hg.): Local Angel, S. 20–23, hier S. 21. 152 Ebd. 262 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni S. A.: «Udi, I don’t want to argue. We both know what you think and what I think. Enough.» U. A.: «But that’s the point. I never fathomed the liberal thinking. I don’t know what I think. Why do you say we both know what you think. I honestly don’t know where I stand on this.» Die UN-Resolution 194 (III) vom 11. Dezember 1948 hatte eine internationale Verwaltung für Jerusalem vorgesehen und bezüglich der vor dem Krieg geflüchte- ten Palästinenser*innen festgehalten, that the refugees wishing to return to their homes and live at peace with their neighbours should be permitted to do so at the earliest practicable date […].153 Dieses Rückkehr- und Entschädigungsrecht wurde nie umgesetzt und wird von fast der gesamten jüdisch-israelischen Gesellschaft  – auch der Linken, wie das Streitgespräch der Alonis zeigt – als massive Gefahr für die Existenz des jüdischen Staates betrachtet. Die palästinensischen Flüchtlinge, so Amnon Raz-Krakotzkin, «spuken als permanente Drohung im Bewusstsein der Israelis herum, als Erinne- rung, die nach Möglichkeit unterdrückt werden sollte.»154 Raz-Krakotzkin ist ein Vertreter jenes minoritären Binationalismus, der in der Verwirklichung des paläs- tinensischen Rückkehrrechts, der vollständigen Beendigung der Besetzung der palästinensischen Gebiete und der Verwirklichung rechtlicher Gleichstellung aller Bürger*innen Vorbedingungen für einen demokratischen Staat und nachhalti- gen Frieden in Palästina-Israel sieht. Alonis essayistische Haltung bleibt für Zwei- fel und Ambivalenz offen. In einem Video-Monolog reflektiert er über die Begeg- nungen mit Hanan Ashrawi, Jasser Arafat und das Gespräch mit seiner Mutter: «The truth is: I don’t know what I think. I am constantly torn between moth- er’s Zionism and Nonos bi-nationalism. When I see my mother with Arafat I think we need two states for two peoples. When I see her with Hanan Ashrawi in some form of sisterhood I ask: Why not a bi-national state? I feel I must chal- lenge my mother on this: Why is she a Zionist? It’s against the core of the lib- eral makeup. And the more she persists and is unwilling to cross the line and the more she is intolerant on this point I, absurdly, believe that as long as she remains a Zionist, Zionism has a chance of being humanistic. In this irratio- nality lies the vigor that can purify Zionism.»155 153 https://undocs.org/A/RES/194 (III) (zugegriffen am 17.6.2018). 154 Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 38. 155 Aloni trat später entschieden für einen «binationalism as the only living possibility» ein, vgl. Aloni, Udi: «A Manifesto for the Jewish-Palestinian Arabic-Hebrew State», in: ds. (Hg.): What does a Jew want?, S. 13–18; ab etwa 2010 befürwortete er auch die BDS-Kampage zur Durchsetzung palästinensischer Rechte; vgl. Aloni, Udi: «Why We Support Boycott, Divest- ment, and Sanctions», in: ds. (Hg.): What does a Jew want? S. 19–21. 263 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 124 Transposition des Benjam in’schen Engels in den Nahen Osten; Screenshot aus Local Angel (TC 00:55:33) Im letzten Teil des Films gestaltet Aloni eine Klimax der Montage, die noch ein- mal die zentralen Motive des Films in einem Reigen verbindet. In seiner essay- istischen Schreibweise bearbeitet Aloni die religiösen Topoi des Opfers und des Messianischen. Er entwickelt dazu heterodoxe theologische Konzepte, in die auch christliche Vorstellungen Eingang finden. Kristallisationspunkte dieser (De)Konstruktion sind das paradoxe Theologem eines schwachen Gottes sowie die Ikonen der Schmerzensmutter (Abb. 128) und der Pietà (Abb. 131, S. 275). Benjamins ‹Engel der Geschichte› liefert Aloni das Modell einer schöpferi- schen Bearbeitung mythischer Urtexte. Nachdem er Benjamins Bild bereits ins von den Anschlägen des 11. September 2001 traumatisierte New York versetzt hatte, transponiert Aloni es nun in den traumatischen Kontext Palästina-Isra- els. Der Film zeigt einen verwaisten muslimischen Friedhof an der Küste zwi- schen Jaffa und Tel Aviv, an den ein gepflegter christlich-palästinensischer Fried- hof grenzt. Grabsteine blicken aufs bewegte Mittelmeer. Die Kamera zoomt auf einen steinernen Engel, in dem der Off-Kommentar einen neuen, ‹lokalen› Engel erkennt (Abb. 124). Benjamins Text wird nun von Aloni satzweise in den Nahen Osten transponiert, wobei sein Umgang mit dem Original ähnlich frei ist wie jener Benjamins mit der Klee’schen Vorlage: «The angel looks as though he is about to move away from something he has been guarding. This is how one pictures the local angel of history.» Diese Umschrift wird in eine dichte musikalisch-visuelle Montage eingebunden, die mit Assoziationen spielt, die im Resonanzraum auftauchen, den der Film bis- her aufgebaut hat: Der Sänger David d’Or wird in einer Überblendung mit ange- lischen Attributen ausgestattet (Abb.  125). Aufnahmen von Dikla und Musi- kern um Tamir Muskat sowie des durch die Altstadt von Jerusalem spazierenden Regisseurs – der Text eines hebräischen Liedes beschwört den Traum von einer 264 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 125–128 Eine dichte Montage verknüpft das Motiv vom ‹Engel der Geschichte› und das christliche ‹Stabat Mater Dolorosa›; Screenshot aus Local Angel (TC 00:55:40, 00:56:33, 01:00:08, 01:01:32) neuen Welt und den Weg dorthin: «I see and wish every minute, for a world to begin, a new world.» (Abb. 126) Alonis ‹lokaler Engel› ist ein Engel der Kunst, der Israel auf einen «path of art, of sublimation, of dialogue»156 (Sandra Meiri) ver- weist, so wie der biblische Engel Abraham im letzten Moment auf einen Weg jen- seits des Menschenopfers verwiesen hat. «He faces the East, and his back is turned to the sea. The waves, in constant motion behind him, beckon him to sail westward. Momentarily it appears as if the sea stands still and an easterly wind is propelling him back.» In der Reartikulation des Benjamin’schen Textes werden aus den Trümmern des Ersten Weltkriegs «the ruins of Mediterranean history»157 (Slavoj Žižek): «Where we perceive a chain of events, which we call the history of Israel-Pales- tine, he sees one single catastrophy that keeps piling wreckage upon wreckage, and hurls it in front of his feet. The angel would like to stay, awaken the dead, and make whole what has been broken but the easterly wind blinds his teary eyes and the sea beckons him to sail into the future.» 156 Meiri: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and For- giveness (2006)», S. 335. 157 Zit. nach Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. xvi. 265 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Hier setzen dynamische elektronische Beats ein, auf der Bildebene sind tanzende Jugendliche in der psychedelischen Beleuchtung eines Tel Aviver Clubs zu sehen. «He cannot resist the calling of the West, whose voice, like that of the Sirens, holds him backward into what we call progress. Meanwhile, the pile of debris before him grows skyward.» In die Dancefloor-Einstellungen werden im Rhythmus der härter werdenden Beats Presse-Fotos aus der Zweiten Intifada einmontiert. Dann kommt es durch die Montage zu einer Neuanordnung der filmischen Ausdrucksmaterien: Die Kamera zoomt auf das Gesicht eines Buben auf einem Foto von protestierenden palästinensischen Jugendlichen (Abb.  127). Die elektronische Musik endet und getragene Klaviermusik setzt ein. Die ekstatisch Tanzenden werden in Zeitlupe versetzt, und David d’Or beginnt auf der Bühne Giovanni Battista Pergolesis Sta- bat Mater (1736) zu singen: «Eia, mater, fons amoris  / Me sentire vim doloris  / Fac, ut tecum lugeam. [O du Mutter, Brunn der Liebe / mich erfüll’ mit gleichem Triebe / dass ich fühl die Schmerzen dein.]» Eine weitere Einstellung überblen- det den Sänger mit einer Skizze der Kreuzigungsszene mit der trauernden Maria (Abb. 128). Aloni kommentiert aus dem Off: «Stabat mater dolorosa. Maria endures her pain as she regards Jesus on the cross. I look at the mother looking at her crucified son, crucifying himself and feel that this scene epitomizes the tragedy of Jerusalem. On one side you have the mother who endures the pain, instead of rising in revolt and saying: Enough!» Aloni unternimmt in seiner Lektüre der Passionsgeschichte Verschiebungen inner- halb der christlichen Theologie und Ikonografie. Jesus wird in die Nähe Isaaks gerückt, die Passion Christi in die Nähe der Akedah. In einer Weise, die Benjamins Umdeutung von Klees christlichem Angelus in einen jüdisch-messianischen Engel gleicht, liest Aloni im Pathos der christlichen Schmerzensmutter den verdrängten Zorn revoltierender Mütter.158 Im mentalen Raum, den Local Angel inzwischen aufgespannt hat, treten die Ikone der Mater dolorosa und Pergolesis Musik in Reso- nanz zu den Fotografien der trauernden israelischen und palästinensischen Müt- ter, die zuvor im Film aufgetaucht waren. Der überraschende Bezug auf das Stabat 158 Alonis Interpretation der Passionsgeschichte in seinem Text «Jocasta’s Dream» macht klar, dass es hier nicht um die Beschwörung einer christlichen bzw. ökumenischen Sichtweise geht, sondern um die Umarbeitung verknüpfter kollektiver Mythen; Aloni, Udi: «Jocasta’s Dream», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 61–71. Eine grenzüberschreitende Perspektive des ‹jüdisch-christ- lichen› Nexus bietet Boyarin, Daniel: Border lines. The partition of Judaeo-Christianity, Philadel- phia: University of Pennsylvania Press 2007. Zur Interpretation der Passionsgeschichte als Ursze- ne des christlichen Antisemitismus und als narrativer Keimzelle einer folgenreichen ‹Lehre der Verachtung› siehe Isaac, Jules: Jesus und Israel [1948], Wien u. a.: Hans Deutsch 1968, S. 419–446. 266 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Mater in Local Angel wird durch die Vermutung Julia Kristevas erhellt, dass die «zahlreichen Variationen des Stabat Mater, die uns […] als Musik berauschen, […] eine Maria [vermitteln], die sich über den Tod hinwegsetzt».159 Entscheidender als der mariologische Inhalt sind die ästhetischen Gesten, die sensorischen Materien, die die Kunst immer wieder gegen Krieg und Zerstörung mobilisieren kann: Sind die Kommunikationsmöglichkeiten hinweggefegt, so bewahrt man als letztes Bollwerk gegen den Tod nur die subtile Skala der akustischen, takti- len und visuellen Spuren, die älter sind als die Sprache und erneut ausgear- beitet werden.160 Local Angel (und stärker noch Mechilot) ist ganz einer solchen Ästhetik ver- pflichtet. Aloni sieht in Hanan Ashrawi und Shulamit Aloni Mütter, die sich dem Tod entgegensetzen, indem sie sich weigern, das Opfer der Söhne weiter hinzu- nehmen. Den konkreten Hintergrund hierzu bildete 2000 der Rückzug der israeli- schen Armee aus dem Südlibanon, an dem der Aktivismus der Four-Mothers-Be- wegung wesentlichen Anteil hatte. Diese war 1997 gegründet worden, nachdem beim Abschuss zweier IDF-Helikopter auf dem Weg in den Libanon alle 73 Solda- ten an Bord getötet worden waren.161 So wie dem Bild der duldenden das einer revoltierenden Mutter gegenüberge- stellt wird, so der Theologie eines allmächtigen, patriarchalen Gottes eine Theolo- gie, die Gott als auf die Solidarität der Menschen angewiesen sieht. Haviva Pedaya entwickelt diese Konzeption vor Alonis Kamera: «The life of the Jewish God is His weakness. That’s what’s unique about Him. It’s in the scriptures, and all the suffering, the suffering God already appears in Isaiah. Consider the ecstatic hymns where He is called a wretched king, a pitiful king and is praised for it. And this is precisely the source of His power. And so, even when you connect with the transcendental, it doesn’t legitimize all your actions.» Aloni führt den Gedanken eines schwachen, sterbenden Gottes fort: «God hasn’t been dead from the beginning, but is dying, he is dying already from the beginning. So he’s a God who doesn’t want us to kill for, or in His name. He is a weak God who needs our help, our compassion. I found that these two images, the mother who instead of enduring, protests and the concept of a weak, fragile God, these two concepts can be the beginning of a different discourse on Jerusalem.» 159 Kristeva, Julia: «Stabat Mater», in: ds.: Geschichten von der Liebe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 226–255, hier S. 244. 160 Ebd., S. 245. 161 Vgl. Meiri: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and Forgiveness (2006)», S. 337. 267 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Der Einsatz von Local Angel ist transgressiv: Er weist auf die Verbindung zwi- schen säkularem und messianischem Zionismus hin und verändert jüdische Theo- logeme so, dass sie einer Politik der Kontrolle und Expansion unverfügbar werden. Aloni: «Mythology controls everything and, therefore, we have to understand it and its actions within the conflict – and then we have to dismantle it.»162 Das Heilige soll zerlegt und neu zusammengesetzt werden, seine Dekonstruktion ist die eigentliche Arbeit der Kreation.163 Auch W. J. T. Mitchell sah die Aufgabe, den territorialen Mys- tizismus zu dekonstruieren: «The challenge is to sound out this idolatry, to unbind its fascination.»164 Wenn die Verknüpfungen zwischen dem Subjektiven, dem Sak- ralen und dem Territorialen gelöst werden, taucht das Exil als Lebensform auf: «Now I go back to New York and New York is not my home, Tel Aviv, Jerusalem and Israel are no longer my home. I don’t know where I belong, as if my home now is the word, the language.» Local Angel ist auf der Suche nach einer Form von Zugehörigkeit, die Sandra Meiri zufolge auch Rosenzweig im Sinn hatte, «a form of being that does not require any adherence to land or nationality in order to exist.»165 Die Erfahrung des Exils sei kein Mangel, sondern Kern des Jüdischen, heißt es im Stern der Erlösung: Wir allein […] ließen das Land […]. Denn die Erde nährt, aber sie bindet auch, und wo ein Volk den Boden der Heimat mehr liebt als das eigene Leben, da hängt stets die Gefahr über ihm […].166 Eretz Israel sei dem Judentum ein begehrtes, kein zu besitzendes Land: «Das Land ist ihm im tiefsten Sinn eigen eben nur als Land seiner Sehnsucht, als – heiliges Land.»167 Die Dekonstruktion der Verbindungen von ‹Nation› und ‹Territorium›, von ‹Volk› und ‹Land› betrifft keineswegs nur den Staat Israel, sondern alle Natio- nen, die, wie Rosenzweig formulierte, «ihre Wurzeln in die Nacht der selber toten, doch lebensspendenden Erde [treiben] und […] von ihrer Dauer Gewähr der eige- 162 Aloni (Hg.): Local Angel, S. 76. 163 In ähnlicher Absicht versuchte Allen Ginsberg 1955 in Footnote to Howl eine exzessive Über- affirmation: «The world is holy! The soul is holy! The skin is holy! The nose is holy! The tongue and cock and hand and asshole holy! Everything is holy! Everybody’s holy! Everywhere is holy! Everyday is in eternity! Everyman’s an angel!» Steven Sebrings Patti Smith: Dream of Life (USA 2007) illustriert Patti Smiths Vertonung des Textes durch Aufnahmen der durch die Alt- stadt Jerusalems flanierenden Sängerin. 164 Mitchell: «Holy Landscape», S. 223. 165 Meiri: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and Forgiveness (2006)», S. 346. 166 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 332. 167 Ebd., S. 333; siehe Aloni: «The Star of Redemption with a Split Aleph», S. 23. 268 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni nen Dauer [nehmen].»168 Die deterritorialisierende Erfahrung des Exils bzw. der Diaspora (die nicht mit der Idee einer Rückkehr verbunden ist) bildet den unhin- tergehbaren Horizont einer Conditio humana, die sich als sprachlich verfasste nur in einer Bezogenheit auf Abwesendes und in einer Zeitlichkeit des Aufschubs entfalten kann. Local Angel bewegt sich im Umfeld von Rosenzweigs diasporischem Denken, jedoch unter historischen Bedingungen, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts völlig verändert haben. Mit der ‹Machtergreifung› der Nazis ist «einem der Boden unter den Füßen weggenommen worden»,169 beschrieb die aus Deutschland nach Palästina geflohene Ruth Tauber ihre rassistische Entwurzelung nach dem Jänner 1933. Aloni erinnert in einem Text daran, dass Rosenzweig sein Buch während des Ersten Weltkriegs in einer Folge von Briefen entworfen hatte, die er als Soldat von der Front an seine Mutter schickte. Der Stern der Erlösung sei vielleicht, so Aloni, the last heroic attempt to shape Judaism into a theological-philosophical me - thod of thinking, before the logic of the worlds was obliterated in Auschwitz, perhaps permanently.170 Bevor der Film zuletzt seine Tableaus in einem dreiteiligen Splitscreen Revue pas- sieren lässt, liest Haviva Pedaya noch einmal aus ihrem programmatischen Gedicht A Man Goes, das den Anstoß zu Alonis Arbeit an Local Angel gegeben hatte: «… finding nothing, for Israel is missing from Israel. You who wanted to be free in your land, pack your Diaspora bundle, in the meantime I choose to inhabit the word. Another home doesn’t exist yet, if it ever did.» Local Angel arbeitet an einer radikalen Rekonfiguration Palästina-Israels. «Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst»,171 formulierte Theodor W. Adorno 1936 in einem Brief an Walter Benjamin. Was folgt aus dieser negativen Bestimmung der Utopie, wenn sie auf alle Menschen in Palästina-Israel bezogen wird? Udi Aloni versucht, einen postzionistischen Chronotopos zu entwerfen, in dem Juden und Jüdinnen und Palästinenser*innen frei von Angst existieren können.172 Dazu überschreitet er den konzeptionellen Rahmen der Zwei-Staaten- Lösung173 168 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 332. 169 Betten, Anne und Miryam Du-nour (Hg.): Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Gespräche mit den Emigranten der dreißiger Jahre in Israel, Gerlingen: Bleicher 1998, S. 86. 170 Aloni, Udi: «The Star of Redemption with a Split Aleph», Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 23. 171 Adorno, Theodor W. und Walter Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, Frankfurt a. M.: Suhr- kamp 2003, S. 173. 172 Siehe dazu Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 66 f. 173 Siehe Timm, Angelika: 100 Dokumente aus 100 Jahren: Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917–2017), Berlin: AphorismA 2017. 269 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni und stellt das Prinzip der Teilung – nach 1945 das Standardmodell geopolitischer Konfliktösung174  – grundsätzlich in Frage. Er inszeniert filmische Phantasmago- rien, Wunsch- bzw. ‹Kippbilder› einer binationalen Wirklichkeit, eines gemeinsa- men Exils175 an jenem begehrten «Ort, an dem die Realität alle Träume zunichte machte».176 Seine Filmbilder ähneln den dialektischen Bildern, denen Walter Benja- min in den Pariser Passagen nachspürte: Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild.177 Die filmische Charakteristik von Local Angel ergibt sich aus seiner fragmenta- rischen Bauweise, auf die bereits der Untertitel des Films – Theological-politi- cal Fragments – verweist. Aloni, der eher als bildender Künstler sozialisiert ist, denn als Filmemacher, verglich sein Verfahren mit der von Benjamin beschriebe- nen Wahrnehmung des Flaneurs.178 Er setzte den Film ohne Drehbuch improvi- sierend aus den gefilmten Materialien und im Studio nachträglich aufgenomme- nen Monologen zusammen.179 Die patchworkartig verbundenen Sequenzen ergeben ein Mosaik, das sich zu keiner glatten Synthese fügt. Adornos Bestimmung des Essays als einer Menge «diskret gegeneinander abgesetzte[r] Elemente», die «zu einem Lesbaren zusam- mentreten»,180 lässt sich leicht auf diesen Film übertragen. Dass die «Sache [des Essays] stets ein stillgestellter Konflikt»181 wäre, gilt für Local Angel in besonde- rem Sinn. Definitionsgemäß riskieren Essays als Versuche Irrtum und Scheitern. Aloni: «It is okay to realize that a film is a journey full of failures, which give rise 174 Aloni beschäftigte sich in Kashmir: Journey to Freedom (USA/ISR 2009) mit einem ande- ren postkolonialen Konflikt, der in der 1947 erfolgten Teilung des indischen Subkontinents in die beiden Staaten Indien und Pakistan wurzelt und insofern dem israelisch-palästinensischen Konflikt strukturverwandt ist. Aloni begleitete im Film eine Kampagne der Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF); vgl. Kramer, Max: Mobilität und Zeugenschaft: Unabhängige Doku- mentarfilmpraktiken und der Kaschmirkonflikt, Bielefeld: Transcript 2019, S. 95 f. und S. 158. 175 Vgl. Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 58 und S. 68. 176 Doron, Lizzie: Who the Fuck Is Kafka, S. 63. 177 Benjamin, Walter: «Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts» [1935], in: Benjamin, Wal- ter: Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 45–59, hier S.  55; siehe Tiedemann, Rolf: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benja- mins, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 32 ff.; sowie Palmier, Jean-Michel: Walter Benjamin, S. 752 f. und Agamben: Profanierungen, S. 45 f. 178 Hoare, Michael: «Local Angel. Entretien avec Udi Aloni», La Revue Documentaires 19–20: Palestine-Israel. Territoires cinématographiques (2005), S. 99–101, hier S. 99. 179 Ebd. 180 Adorno: «Der Essay als Form», S. 21. 181 Ebd., S. 25. 270 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni to possibilities.»182 Auch Avital Ronell fand in Alonis Film «moments of failure» beim Versuch, etwas prinzipiell Unsichtbares zu zeigen, trying to deal with an impossible or aporetic limit of intelligibility. Here is a kind of war zone in the very effort to film something that by definition retreats and withdraws from filmic language.183 Udi Aloni gelangte unabhängig von der Tradition des Filmessays und den kano- nischen Werken von Marker und Godard zur filmessayistischen Schreibweise von Local Angel. In einer intensiven Auseinandersetzung mit jüdischen Traditio- nen im Rahmen seiner Arbeit als bildender Künstler entwickelte Aloni ein ästhe- tisches Verfahren, das er bereits 1995 im Book of Sham,184 einer queer-kabbalisti- schen Hommage an den an AIDS verstorbenen Freund und Dichter Hezy Leskly, als ‹Visual Midrash› bezeichnete. Dieses Verfahren im Umgang mit Texten und Bildern, das Aloni auf seine filmische Arbeit übertrug, bildet eine eigenständige essayistische Poetik, die auf Konzepten und Interpretationstechniken des Tal- mud, der Kabbala und der jüdischen Mystik aufbaut, wie sie durch die Studien von Gershom Scholem,185 Daniel Boyarin186 und Moshe Idel187 vermittelt wurden. Die Formel ‹Visual Midrash› spielt auf ein literarisches Genre des talmudischen Judentums in Palästina und Babylon des ersten Jahrtausends n. d. Z. an. In den ‹Midraschim› legten die Rabbinen den Text der Tora für eine aktuelle Situation aus. Die Etymologie von ‹Midrasch› ähnelt jener des ‹Essay›: Das Wort kommt vom vieldeutigen hebräischen Verb darasch und bedeutete zunächst suchen, fragen, sich um etwas kümmern, später erforschen, auslegen, befragen sowie befolgen der Schrift.188 ‹Midrasch› bezeichnet sowohl die spezifischen Methoden der Bibelausle- gung als auch die so entstandenen Werke, die versuchen, den Sinn des überlieferten Schrifttexts für den alltäglichen religiösen Gebrauch zu interpretieren und so die Welt der Tora mit der Welt der Lebenden zu verbinden.189 Daniel Boyarin betonte, dass die Midraschim in einem intertextuellen Verhältnis zur Schrift standen, das 182 Aloni (Hg.): Local Angel, S. 65. 183 Ronell: «Apostrophe to the Absent Father», S. 17. 184 Aloni: The Book of Sham, New York: 1995. 185 Siehe Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967; ds.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. 186 Siehe Boyarin, Daniel: Carnal Israel. Reading sex in Talmudic culture, Berkeley CL: University of California Press 1993. 187 Siehe Idel, Moshe: Language, Torah, and hermeneutics in Abraham Abulafia, Albany NY: State University of New York Press 1989. Moshe Idel wird im Abspann von Local Angel persönlich gedankt; im Book of Sham (1995) bezeichnete ihn Aloni als entscheidenden «friend and mentor». 188 Vgl. Langer, Gerhard: Midrasch, Tübingen: Mohr Siebeck/UTB 2016, S. 22 ff. 189 Vgl. ebd., S. 12 ff. 271 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni sie auf eine potenziell unabschließbare Lektüre des göttlichen, daher unendlich heterogenen und polysemischen Textes verwies, dem immer wieder neue explizite oder implizite Bedeutungen entlockt wurden.190 Diese Praxis der Auslegung findet eine Entsprechung in der Form des Kommentars, der Michel Foucault zufolge «per definitionem nie beendet sein»191 wird: «Die Sprache hat in sich selbst ihr inneres Prinzip der Fruchtbarkeit.»192 Die Welt der profanierten Auslegung ist die Welt des Essayismus. In Die Ordung der Dinge zitierte Foucault Michel de Montaigne: Es kostet mehr, die Auslegung auszulegen, als die Sache selbst, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen Gegenstand. Wir machen nichts als Anmerkungen übereinander.193 Alonis ‹Visual Midrash› profaniert die religiöse Auslegungspraxis und erwei- tert sie um die Dimensionen des Bildlichen. Die sichtbare Welt wird als sublimer Text entziffert und die Lektüre von Texten durch den Bezug auf Bilder geöffnet. Diese künstlerischen Verfahrensweisen können sich auf Vorstellungen der Kab- bala stützen, wie etwa die esoterische Auffassung, die sinnliche Welt sei in ihrer Vielfalt aus dem vollkommenen Text der Tora, aus den göttlichen Emanationen der zehn Sefirot hervorgegangen, die somit die symbolisch-sprachliche Ursache allen Seins bilden.194 Die Aufgabe der kabbalistischen Gelehrten war es, diesem Zusammenhang bis ins kleinste Detail der Schöpfung hinein nachzuspüren. In seinen Projekten The Book of Sham – Visual Midrash (1995) und Re-U-Man (1996) spielte Aloni mit der diagrammatischen Darstellung dieser Lehre des mittelalter- lichen Sefer ha-Sohar195 bei Isaak Luria (Abb. 129).196 Auch hier bewegt sich Aloni in den Fußspuren Benjamins, der von Scholems Studien zur Sprachtheorie der jüdischen Mystik, insbesondere bei Abraham Abu- lafia beeinflusst wurde, der die Schöpfung als «Akt des göttlichen Schreibens» sah, «in dem Gott seine Sprache den Dingen einverleibt, sie als seine Signaturen in ihnen hinterlässt».197 1931 formulierte Benjamin das Programm eines ‹mystischen› 190 Vgl. ebd., S. 16 und 18; siehe auch Boyarin, Daniel: Intertextuality and the reading of Midrash, Bloomington u. a.: Indiana UP 1994; sowie Idel, Moshe: Absorbing perfections. Kabbalah and interpretations, New Haven: London 2002. 191 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 73. 192 Ebd. 193 Montaigne: Essays III 13, zit. nach Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 73. 194 Vgl. Langer: Midrasch, S. 260 ff.; siehe Scholem, Gershom: «Der Name Gottes und die Sprach- theorie der Kabbala», in: ds.: Judaica 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 7–70. 195 Hebr. ‹Buch des Glanzes›; siehe Scholem, Gershom: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem kabbalistischen Buche Sohar [1935], Frankfurt a. M.: Insel 1971. 196 Aloni, Udi: Re-U-Man. An inaugural presentation at The Metropolitan Museum of Art, June 21, 1996, New York 1996, S. 8. 197 Scholem: «Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala», S. 58. 272 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Materialismus: Er habe nie anders den- ken können, als «in Gemäßheit der tal- mudischen Lehre von den neunund- vierzig Sinnstufen jeder Thorastelle.»198 Benjamin verschob diese Vorstellung aber aus ihrem orthodoxen Kontext, indem er hinzusetzte, «Hierarchien des Sinns» habe seiner Erfahrung nach «die abgegriffenste kommunistische Plati- tüde mehr als der heutige bürgerliche Tiefsinn, der immer nur den einen der Apologetik besitzt.»199 «A specter haunts the Middle East, the daunting specter of Palestinian-Jewish binationalism.»200 Was für Benjamin der Kommunismus, ist für Aloni der Binati- onalismus: «Jewish-Arab Solidarity».201 Seine Filme und Texte sind als Formen eines ‹modernen Midrasch› zu sehen, 129 Alonis hypertextuelle Aneignung des dem auch Denker wie Freud, Benjamin, Lurianischen Diagramms der zehn Sefirot, Derrida202 und Schriftsteller wie Bialik, Re­U­Man (1995) Agnon und Kafka203 zugerechnet werden können, insofern diese ihre Texte in mehr oder weniger direkter Bezugnahme zu «rabbinischen Hermeneutiken, Denkmuster[n] und Denkstrukturen»204 schrieben. Scholem betonte, «daß die entscheidenden Schöpfungen der Kabbala […] Bil- der sind.»205 Dass sie sich in Visionen, Symbolen und Mythen artikulierte, trug ihr seit Maimonides Misstrauen ein: Man warf ihr vor, sie sei eine irrationalistische Abirrung vom Studium der Torah und der täglichen Einhaltung der Mitzwot, der 198 Benjamin, Walter: Brief an Max Rychner, 7.3.1931, in: ds.: Gesammelte Briefe, Band 4: 1931–1934, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 19 f. Die betreffende Lehre findet sich im Tal- mud-Traktat Rosch Haschana 21b:11; siehe Palmier: Walter Benjamin, S. 283 f. 199 Ebd., S. 20. 200 Aloni: «A Manifesto for the Jewish-Palestinian Arabic-Hebrew State», S. 13. 201 Aloni, Udi: «What Do You Mean When You Say ‹Left›», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 141–143, hier S. 143. 202 Vgl. Handelman, Susan A.: The slayers of Moses. The emergence of rabbinic interpretation in modern literary theory, Albany NY: State University of New York Press 1982. 203 Vgl. Langer: Midrasch, S. 270. 204 Ebd. 205 Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 129. Zur Sichtbarkeit der Welt im Sohar siehe Müller, Ernst (Hg.): Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala [1932], München: Diederichs 1997, S. 199 f. 273 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni religiösen Gebote. Ihr Schrifttum sei den Versuchungen des platonistisch-gnosti- schen Mystizismus erlegen, daher «insgesamt heidnisch»206 (Jeshajahu Leibowitz). Scholems Charakteristik der kabbalistischen Haltung in ihrem Verhältnis zum Visuellen macht dagegen klar, wie interessant diese gerade aufgrund ihres ‹Irrati- onalismus› für künstlerische Projekte wie das von Udi Aloni ist: Die Kabbalisten waren Menschen, die nachgedacht hatten, die aber eigent- lich in Bildern dachten und das ihre mehr oder weniger zulänglich in Bildern vorbrachten – in Bildern, die Symbole darstellten, in denen sie die Welt des Judentums neu beschreiben wollten, oder, in denen sie die alten Worte, die das Jüdische umfassen, zum Teil mit neuem Inhalt erfüllt haben, als Symbole, die einen weiteren Rahmen umfassten.207 So ähnelt die kabbalistische Imagination dem filmessayistischen Denken in Bil- dern, von dem Eisenstein als Erster träumte. Als semiotische Praktiken sind beide in den «fundamental dialektischen Charakter des Wort-Bild-Problems»208 (W. J. T. Mitchell) verwickelt: «Das Wort als Bild, das Bild als Wort; das Wort als Grenze für das Bild, und umgekehrt.»209 Essayfilme nehmen sich in ihrer Ausle- gung (nicht Darstellung) des Sichtbaren ähnliche Freiheiten wie die «klassischen Dokumente der Kabbala», die, so Scholem, «fast ungehemmt in ihrer Produktion und Anwendung solcher, vom Theologischen aus gesehen, unreinen oder doch tief problematischen Bilder [sind].»210 In Local Angel taucht etwa dieses ‹unreine› Bild auf: Ein Mann am Schlag- zeug (Tamir Muskat) in olivgrüner Militär-Kleidung, eine Kapuze über dem Kopf. In einem dunklen Raum, der von stroboskopischem Blitzlicht und einer über seinem Kopf hin und her schwingenden Glühbirne erleuchtet wird, schlägt er einen hypnotischen Marsch-Rhythmus (Abb. 130). Der gesprochene Off-Kom- mentar zu dieser Einstellung ist ein ‹Midrasch› Alonis zu einer Talmud-Stelle,211 die bereits Walter Benjamin 1933 in seinen Text Agesilaus Santander eingearbei- tet hatte:212 206 Leibowitz, Jeshajahu und Michael Shashar: Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt a. M.: Insel 1994, S. 124. 207 Gershom Scholem: Die Erforschung der Kabbala [Originaltonaufnahmen, 1967], CD-Set hg. v. T. Knoefel u. K. Sander, Wyk auf Föhr: supposé, 2006. 208 Mitchell, W. J. T.: «Das Unaussprechliche und das Unvorstellbare. Wort und Bild in einer Zeit des Terrors», in: Hüppauf, Bernd und Christoph Wulf (Hg.): Bild und Einbildungskraft, Mün- chen: Fink 2006, S. 327–344, hier S. 327. 209 Ebd. 210 Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 130. 211 Vgl. Traktat Chagiga 14a. 212 Siehe Scholem: Walter Benjamin und sein Engel, S. 41 f.; sowie Lindner (Hg.): Benjamin-Hand- buch, S. 670 f. 274 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 130 Ein albtraumhaft aufblitzendes Leitmotiv des Films: der Trommler mit Kapuze; Screenshot aus Local Angel (TC 00:01:02) 131 Die letzte Einstellung des Films: ein dialektisches Schrift-Bild; Screenshot aus Local Angel (TC 01:07:48) «With every new blink God creates countless new angels, and their only purpose is to sing the Lord’s praise, and then vanish. An angel who attempts to escape this bitter fate usually adopts a man and disguises himself as his guardian angel.» Das Bild des trommelnden ‹Engels› kehrt im Film als albtraumhaft aufblitzendes Leitmotiv wieder. Es ruft Assoziationen zu Gewalt und Terror wach. Die Kapuze ist ein Emblem der Folter. Dem Opfer wird sie aufgezwungen, um es mit Blindheit zu schlagen und ihm das Antlitz zu nehmen. Der Täter trägt sie, um seine Identität zu verschleiern und dem Blick seines Opfers zu entgehen.213 In dieser Einstellung werden Grenzen verwischt, wird an Unaussprechliches gerührt. Das Bild verweist auf die Einbildungskraft als den Schauplatz des Kriegs der Bilder und damit auf die wesentliche Bezugsebene künstlerischer Intervention. Sandra Meiri: 213 Vgl. Mitchell, W. J. T.: «Das Unaussprechliche und das Unvorstellbare. Wort und Bild in einer Zeit des Terrors», S. 333. Die Inszenierung wirkt wie eine Vorwegnahme der infamen Bilder aus den US-Gefängnissen in Guantanamo und Abu Ghraib; siehe dazu ebd., S. 340 ff. 275 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni The fact that the drummer is rendered both victim and perpetrator blurs the boundary between the two – today’s victim is tomorrow’s perpetrator – as well as between subject/object. Yet, the violence of the drumbeat suggests a process of sublimation. The drummer becomes a recurrent image, an emblem of subjectivity and history, of war and art.214 Giorgio Agamben zufolge gleichen die Bilder den Talmudischen Engeln: Das Sein des Bildes ist seine fortwährende Zeugung […]. Als Sein der Zeu- gung nach und nicht der Substanz nach wird es jeden Augenblick neu geschaf- fen, wie die Engel, die, nach dem Talmud, Gottes Lob singen und sogleich im Nichts versinken.215 Am Ende der Kette von Bildern, aus denen Local Angel zusammengesetzt ist, steht dieses theologisch gesehen ‹tief problematische› Bild: Sonnenuntergang am Strand von Jaffa, Dikla hält David d’Or in der Pose der Pietà (Abb. 131). Sowohl die Grenzlinie zum Christentum wie auch jene zum Kitsch wird hier übertreten. Allerdings erweist sich auch dieses Bild als hintergründig, denn die christliche Ikonografie wird durch Kafkas Paradox vom Messias, der erst einen Tag nach sei- ner Ankunft komme, gebrochen. In seinem kleinen Midrasch verschiebt Kafka die Hoffnung auf Erlösung in eine paradoxe Immanenz, und aus dem Andachts- bild wird ein Denkbild über die messianische Idee.216 Aloni manövriert künst- lerisch im Kontext der von Gershom Scholem benannten «Krise des messiani- schen Anspruchs».217 Gegen Umdeutungen des Messianismus im Zeichen einer Verschmelzung der Konzepte von Opfer und Erlösung, Nation und Souveränität bestreitet er solchen Unternehmungen ihr theologisch-politisches Terrain im Zei- chen von Exil/Diaspora, Alterität und Verletzlichkeit.218 214 Meiri, Sandra: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and Forgiveness (2006)», S. 323. 215 Agamben: Profanierungen, S. 52. 216 Zum Messias bei Kafka siehe Benjamin, Walter: «Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages» [1934], in: GS II.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 409–438, hier S. 413, S. 427 f. und S. 433. 217 Scholem: «Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum», S. 74. 218 Vgl. Aloni, Udi: «Samson the Non-European» [2011], in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 35–52, hier S. 49. Auch die rechtsextreme Siedler*innenbewegung beruft sich auf die Luria- nische Kabbala: Im Anschluss an Rabbi Kook wird das spirituelle Konzept der Malchuth, der zehnten Sefira, zur Legitimation eines gottesstaatlichen Erlösungsprojektes ‹Groß-Israel› um- gedeutet. Scholem zufolge meint Malchuth «das ‹Reich› Gottes, im Sohar meistens als Kenes- seth Jisrael, das mystische Urbild der Gemeinde Israels, oder als Schechina bezeichnet», Scho- lem: Hauptströmunungen, S. 232, siehe dazu Müller (Hg.): Der Sohar, S. 207 f.; weiters Rose: The question of Zion, S.  19 f.; weiters Leibowitz/Shashar: Gespräche über Gott und die Welt, S. 34; sowie Enderlin, Charles: Au nom du Temple. Israël et l’irrésistible ascension du messi- anisme juif, 1967–2013, Paris: Seuil 2013 und Aldrovandi, Carlo: Apocalyptic Movements in 276 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni In seinem Brief an Rosenzweig hatte Scholem 1926 eine visuelle Metapher ver- wendet, um die Gefahr zu verdeutlichen, die dem zionistischen Projekt aus inne- ren Gründen drohe: Wir leben ja in dieser Sprache über einem Abgrund, fast alle mit der Sicher- heit des Blinden. Aber werden wir nicht, wir oder die nach uns kommen, hin- einstürzen, wenn wir sehen werden?219 Local Angel versucht, in diesem «Moment der Luzidität»,220 auf den Scho- lem zufolge der Sturz in den Abgrund folgt, innezuhalten und «über ihm sich schwebend zu erhalten».221 Indem er als visueller Midrasch, d. h. als Essayfilm, die «Augen der Sprache» (Jacques Derrida)222 öffnet und offen hält, versucht er, den Sturz abzuwenden. So wie Dan Geva sich zum Adressaten von Chris Markers Sorge um die Zukunft Israels machte, sieht Udi Aloni die Welt nicht mit den Augen der Grün- der*innen Israels, sondern mit den Augen der Generation «of their scarred child- ren»,223 jener «Jugend», angesichts derer Gershom Scholem sich die Frage auf- drängte, «ob sie im Aufstand einer heiligen Sprache bestehen können wird»,224 mit den Augen jener «Kinder, die hoffnungslos der Leere preisgegeben werden»,225 wie Scholem sie im darauffolgenden Absatz imaginierte. Und genauso wie Benja- min scheint sich auch Aloni Kafkas Umformulierung des kategorischen Impera- tivs zu eigen gemacht zu haben: «Handle so, daß die Engel zu tun bekommen.»226 Contemporary Politics: Christian and Jewish Zionism, Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2014; Persico, Tomer: «The movement that saw Israeli settlements as redemption for Jews and the world», Haaretz 22.6.2017: https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE- the-rise-and-fall-of-zionism-as-a-religion-1.5486927 (zugegriffen am 24.5.2020). 219 Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 215; siehe dazu auch Scholems Brief an Walter Benjamin vom 1.8.1931, in: Scholem: Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, S. 211–217. 220 Derrida, Jacques: Die Augen der Sprache. Abgrund und Vulkan, Wien: Passagen 2014, S. 27. 221 Benjamin, Walter: «Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen» [1916], in: GS II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 140–157, hier S. 141. 222 Derrida geht in seiner Lektüre von Scholems Brief an keiner Stelle auf den Titel seines Textes Les yeux de la langue ein. Die Metapher, die Sehen und Sprechen ineinanderfaltet, bildet den Fluchtpunkt seines Kommentars, der außerhalb des Textes verbleibt. 223 Aloni: «Samson the Non-European», S. 40; siehe Rose: The question of Zion, S. 43 f. 224 Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 216. 225 Ebd. 226 Benjamin, Walter und Gershom Scholem: Briefwechsel (1933–1940), hg. v. Gershom Scholem, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 262; im Dezember 2015 nahm Udi Aloni an der Organisa- tion der Konferenz ‹Benjamin in Palestine. On the Place and Non-Place of Radical Thought› in Ramallah teil, siehe https://benjamininpalestine.wordpress.com/ (zugegriffen am 26.6.2020); weiters Mercier, Lucie Kim-Chi: «Benjamin in Ramallah», Radical Philosophy 196 / Mar-Apr 2016: https://www.radicalphilosophy.com/conference-report/benjamin-in-ramallah (zug e grif- f en am 26.4.2020). 277 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Mechilot – Fiktionale Intervention ins politische Unbewusste Udi Aloni hat nach Local Angel filmisch neues Terrain betreten und mit Mechilot (ISR/USA 2006) einen Spielfilm gedreht, der den dokumentarischen Essayismus und den ethisch-politischen Diskurs von Local Angel in drama- tische Fiktionen transponiert. Der Film verwendet narrative Elemente, Figuren, Symbole und theoretische Versatzstücke, die Aloni zuvor in seinem Buch Gilgul Mechilot227 zu einer Text-Collage versammelt hatte. Im Unterschied zu Local Angel beschäftigt sich Mechilot nicht nur mit Ideen und Ideologemen, die im israelisch-palästinensischen Zusammenhang verknotet sind, sondern vor allem mit den starken Affekten, mit denen er immer wieder neu aufgeladen wird. Im Zentrum der Narration steht das Trauma eines jungen Soldaten und die Frage, ob dieses jede Zukunft verunmöglicht oder zum Ausgangspunkt für eine psycho-politische Wandlung werden kann. Der filmische Essayismus von Mechi- lot überschreitet dazu die Grenzen des Realitätsprinzips: Er bebildert Gedanken, inszeniert Traumbilder und Phantasien, lässt Geister erscheinen und die Toten sprechen. Astrucs Behauptung, der «Ausdruck des Gedankens» sei «das Grund- problem des Films»,228 wird hier auf das unbewusste Denken ausgeweitet. Das Betrachten von Mechilot (engl. Titel: Forgiveness) ist deshalb eine emotional wie intellektuell fordernde Erfahrung, wie Slavoj Žižek feststellte: Forgiveness realizes Eisenstein’s old dream of film as a form of thinking: it confronts incompatible levels (the Holocaust and the Israeli mistreatment of Palestinians, victims and executioners, lovers and parents, political and private, reality and dreams) without offering any straight solution – it forces every viewer to start thinking and search for possible solutions. The thinking the film gives rise to is not a cold appraisal, but an emotionally engaged par- ticipation – the film THINKS WITH EMOTIONS, which is why many scenes display an almost unbearable emotional intensity. I was deeply shattered by this film. It works on me like magic. Although Forgiveness is deeply critical politically, it provides a profound experience of Jewish spirituality.229 Mechilot soll zunächst in einem Feld situiert werden, das gleichzeitig mit dem Kino entstand, jenes der psychologischen Traumatheorie: Traumatisierun- gen begründen Risse im Gedächtnis, und um diese Leerstellen herum tauchen Flashbacks, Geistererscheinungen, Deckerinnerungen, aber auch Mythen und Ideologien auf. Dies gilt nicht nur für individuelle Psychen, sondern auch für 227 Aloni, Udi: Gilgul me’hilot: Gufim te’ologim poli’tiyim [Rolling in the Underworld’s Tunnels: Theological-political Fragments], Tel Aviv: ha-’Kibuts ha-me’u’had 2005 [hebr.]. 228 Astruc: «Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter», S. 200 und S. 201. 229 Žižek, Slavoj: «Review of Forgiveness» (2006), http://www.forgivenessthefilm.com/reviews/ zizek.html (zugegriffen am 1.6.2018). 278 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Kollektive. Benedict Anderson sieht Nationen als «Imagined communities», als «cultural artefacts of a particular kind»,230 die immer auf dem vorgestellten Bild einer Gemeinschaft beruhen. Was Individuen oder Gruppen jeweils für Realität halten, ist eine historisch kontingente und umstrittene Kompromissbildung aus Wahrnehmung, Amnesie und Phantasie. Spätestens seit D. W. Griffith’s Birth of a Nation ist das Kino der Raum, in dem die Ununterscheidbarkeit von individu- ellem und kollektivem Unbewussten, das Ineinander von Welthistorischem und Privatem, von Realem und Imaginärem, von Traumata und Phantasmata artiku- liert werden kann. Als tatsächliche Traumfabrik ist das Kino bis heute die einzige große populäre Kunst geblieben. Félix Guattari hat 1977 in einem Text über Die Couch des Armen die formalen Analogien zwischen Film und Traum, Psychoanalyse und Kino zugespitzt und der Erfahrung der «kinematografischen Performanz» eine «massenpsychoana- lytische»231 Wirkung zugeschrieben. Die a-signifikanten Intensitäten des «kine- matografischen Unbewussten» kapern Guattari zufolge das «kleine Theater des Familialismus» und können so die «Anordnung des Wunsches verändern, die Stereotypen durchbrechen, die Zukunft eröffnen.»232 Das Kino bildet nicht ab, gibt nicht einfach zu sehen und zu hören, sondern modelliert, produziert und deterritorialisiert dabei ständig Subjektivierungsweisen. «Das Kino ist eine Kunst, die die Geister zurückkehren lässt», antwortete Jacques Derrida in Ken McMullens Ghost Dance (UK 1983) auf die Frage, ob er an Gespenster glaube. Kino und Telekommunikation würden die Geister verviel- fältigen und: «Kino plus Psychoanalyse ist gleich: Wissenschaft der Phantome.» In überraschender Übereinstimmung mit Guattari benannte Derrida in einem Interview mit den Cahiers du cinéma ein «gemeinsames Denken»233 von Psycho- analyse und Kino im Zeichen des Spektralen, des Gespenstischen, des Spuks, der lebenden Toten, kurz: der «Hantologie».234 Man lässt sich im Kino analysieren, indem man all seine Gespenster erschei- nen und sprechen lässt.235 230 Anderson: Imagined communities, S. 13. 231 Guattari, Félix: «Die Couch des Armen», in: ds.: Mikro-Politik des Wunsches, Berlin: Merve 1977, S. 82. 232 Ebd., S 96 233 Derrida, Jacques: «Le cinéma et ses fantômes. Interview recueillie par Antoine de Baecque et Thierry Jousse le 10 juillet 1998», Cahiers du cinéma n° 50  / April 2001, S. 75–85, hier S. 77 (Übers. d. Autors); dt. Übers. in: Derrida, Jacques: Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren 1979–2004, hg. v. Ginette Michaud, Joana Masó und Javier Bassas, übers. v. Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek, Berlin: Brinkmann & Bose 2017. 234 Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Inter- nationale [1993], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 77. 235 Derrida: «Le cinéma et ses fantômes», S. 77 (Übers. d. Autors). 279 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni In der Anordnung des Kinos sind die Zuschauer*innen zugleich vergemeinschaftet und vereinsamt. Sie machen Derrida zufolge eine «Erfahrung der sozialen Disso- ziation», also einer «Singularität», die «verschiebt, das soziale Band auflöst und es anders wieder ins Spiel bringt».236 Um das Kino zu verstehen, müsse man deshalb das Fantom und das Kapital zusammendenken, letzteres [sei] selbst eine spektrale Angelegenheit.237 Filmische Traumarbeit interveniert in Subjektivierungsprozesse durch die Inszenie- rung und Transgression des Imaginären. Im Gegensatz zur Psychoanalyse können dabei individuelle Traumatisierungen permanent auf kollektive bezogen werden. Das Feld der Homologien und Austauschbeziehungen zwischen Kino, trau- mabezogenen Symptomatiken und Therapien reicht weit: Traumatisches Erleben wird oft von einem Gefühl der Irrealisierung begleitet: «Passiert das wirklich oder ist das irgendein Kinofilm?»238 Traumatisierte verwenden Kinometaphern, um intrusive Erinnerungen oder dissoziiertes Erleben zu beschreiben.239 Umgekehrt setzen manche Trauma-Therapien darauf, schmerzhaft wiederkehrende Erinne- rungen an das traumatische Geschehen durch quasi-filmische Strategien zu ban- nen: Beim ‹Imagery rehearsal› etwa wird versucht, Albträume im Wachzustand zu visualisieren und ihnen ein alternatives Ende zu geben. Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT)240 versucht, der Wiederholung des Traumas durch das Agieren mit inneren Bildern und allegorischen Repräsentanzen zu begegnen. Es werden distanzierende Techniken angewandt, wie die Übung ‹Lein- wand›, in der die Betroffenen angeleitet werden, das traumatische Geschehen als Zuschauer*in in einem Kinosaal zu betrachten. Im ‹Flashback› überschneiden sich die Register des Kinos und der Psychologie vollends. Ruth Leys: The term flashback implies the cinematic possibility of literally reproducing or cutting back to a scene from the past and hence expresses the idea that the trauma victim’s experiences are exact ‹reruns› or ‹replays› of the traumatic incident.241 Historische Vergleichsstudien legen nahe, dass sich die ‹Shell shocks› bzw. ‹Kriegs- neurosen› von Soldaten des Ersten Weltkriegs von dem Erleben unterscheiden, das 236 Ebd., S. 80. 237 Ebd., S. 79. 238 Bericht eines im Irak-Krieg traumatisierten Soldaten der US-Armee; zit. nach Wizelman, Leah: Wenn der Krieg nicht endet: Schicksale von traumatisierten Soldaten und ihren Angehörigen, Bonn: Balance 2009, S. 133. 239 Vgl. ebd., S. 104. 240 Vgl. Reddemann, Luise: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. PITT – das Manual, Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta 2004. 241 Leys, Ruth: Trauma. A genealogy, Chicago IL: University of Chicago Press 2000, S. 214. 280 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni seit den 1980er-Jahren bei Vietnam-Veteran*innen und heutigen Soldat*innen als ‹Post Traumatic Stress Disorder› (PTSD) diagnostiziert wird. Psychische Reaktio- nen auf traumatisierendes Geschehen könnten einem historischen Wandel unter- liegen, der mit dem Medienwandel verbunden ist. Simon Wessely vom King’s Cen- ter for Military Health Research London vertritt die Auffassung, dass die Häufigkeit von Flashbacks signifikant zugenommen habe. Er sieht einen Zusammenhang mit dem Aufkommen des Kinos, der filmischen Verwendung von narrativen Rückblen- den und der zunehmenden Verbreitung potenziell traumatisierender Bilder: Shell shock was marked by gross neurological disorders such as deafness, mute- ness, paralysis and limb twitching but hardly anywhere in the literature can we find any reference to flash backs – one of the key hallmarks of PTSD. Depression, crying, impotence are all in the medical records of the time around the First World War, but not flashbacks. Why didn’t they mention this? One theory is that this was before the time of mass cinema when the flashback became a powerful cinematic tool. I wonder if men who started going to the pictures regularly somehow altered the way they processed trauma – art imitating life and life imitating art.242 Mechilot ist präzise entlang dieser Verbindungslinien zwischen Politik und Psy- chologie, Krieg und Kino konstruiert.243 Wie viele andere Filme seit Taxi Driver (USA 1976)244 erzählt er die Geschichte eines Soldaten, dessen Psyche auf Erleb- nisse und Taten im Krieg mit Symptomen von ‹Combat-related PTSD› reagiert. Die Traumatologie dieses Films artikuliert anhand seines Protagonisten einen historisch-politischen Raum, der seit Generationen auf singuläre Weise von kol- lektiven (Re-)Traumatisierungen durchzogen ist. Die psychische Verletzung des von Itay Tiran verkörperten David Adler wird zum Angelpunkt für eine radikale filmische Rekonfiguration des Nahostproblems. Der Film gehört zu einer ganzen Gruppe von israelischen Spiel- und Doku- mentarfilmen, die um die subjektiven Erfahrungen von Soldat*innen kreisen, wie Breaking the Silence: Israeli Soldiers Talk About Hebron (ISR 2005),245 242 Wessely, Simon: «Professor Sir Simon Wessely on war, terror and the brain», Hippocratic Post 30.4.2019, https://www.hippocraticpost.com/call-of-duty/professor-sir-simon-wessely-on-war- terror-and-the-brain/ (zugegriffen am 1.6.2019); siehe Jones, Edgar u. a.: «Flashbacks and post- traumatic stress disorder. The genesis of a 20th-century diagnosis», The British Journal of Psych- iatry 182/2/2003, S. 158–163, hier S. 162. 243 Siehe Paul, Gerhard: «Krieg und Film im 20. Jahrhundert. Historische Skizze und methodolo- gische Überlegungen», in: Chiari, B., M. Rogg und W. Schmidt (Hg.): Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2003, S. 3–76. 244 Siehe Sielke, Sabine: «New York, New Hollywood, Trauma: Martin Scorsese’s Taxi Driver, 1976–2011», in: Köhne, Julia Barbara (Hg.): Trauma und Film: Inszenierungen eines Nicht-Re- präsentierbaren, Berlin: Kadmos 2012, S. 102–125. 245 Diese Dokumentation wurde von ‹Breaking the Silence› produziert, einer NGO, die Video- Test i monials von IDF-Soldat*innen online publiziert. Sie wurde 2004 von Veteran*innen 281 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 132 Die Geschichte eines Soldaten: Itay Tiran als David Adler; Screenshot aus Mechilot (TC 00:02:55) Flipping Out (Yoav Shamir, ISR 2007), See If I’m Smiling (Tamar Yarom, ISR 2007), Waltz With Bashir (Ari Folman, ISR 2008), Z32 (Avi Mograbi, ISR 2008), Lebanon (Samuel Maoz, ISR 2009) u. a. Dokumentarische Bekenntnisse und fikti- onale Inszenierungen traumatischer Erinnerungen an Krieg und Besetzung neh- men im israelischen Kino einen bedeutenden Raum ein. In diesen Filmen werden Zusammenhänge zwischen Trauma, Gender und nationaler Identität in Israel ver- handelt. Aber obwohl immer wieder Empathie für die Verletzbarkeit und Scham der Akteur*innen geäußert wird, bleibt das ethisch-politische Projekt dieser Filme hinsichtlich des palästinensischen Vis-à-vis meist unscharf. Der erste israelische Film, der den soldatischen Mythos von Aufopferung und Erlösung unterminierte, war Judd Ne’emans Paratroopers (ISR 1977). 2009 äußerte sich Aloni sarkas- tisch über israelische «soldier-directors»,246 deren posttraumatische Kriegsfilme dem Prinzip ‹schießen und weinen›247 – hebräisch ‹yorim u’vochim› – folgen: I am also certain that there is some soldier in Gaza who is planning his next film, and a very sensitive, humane film it will be.248 Sein eigener Film Mechilot will im Gegensatz dazu eine Grenze überschreiten: gegründet, «to expose the Israeli public to the reality of everyday life in the Occupied Terri- tories, […] to stimulate public debate about the price paid for a reality in which young sol- diers face a civilian population on a daily basis, and are engaged in the control of that popu- lation’s everyday life.» https://www.breakingthesilence.org.il/about/organization (zugegriffen am 7.4.2019). 246 Aloni, Udi: «This Time It’s Not Funny!» [2009], in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 133– 136, hier S. 134. 247 Siehe Oz, Amos und Avraham Shapira: Man schießt und weint. Gespräche mit israelischen Solda- ten nach dem Sechstagekrieg [1970], mit DVD: Censored Voices. Stimmen des Krieges (Mor Loushy, ISR/D 2015), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018. 248 Aloni: «Samson the Non-European», S. 41. 282 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Yet […], in moments of kindness, we might find a breach in the fence and cross to the other side. Then it might be possible not to describe the other with great pity and sympathy from the vantage point of a watchtower that looms over the walls of Western democracy. Instead we might be able to climb through the breach and reappear on the other side, gazing back at where we once stood – transforming our gaze from something that creates otherness to something that challenges its very creation.249 Aloni sucht eine rückhaltlose Begegnung mit dem ‹Feind›: «In the movie I wish for my demon to meet their demons in the night and start to talk. […] A movie must rattle your unconscious.»250 Eine kurze Synopsis des Films: David Adler,251 ein junger New Yorker Jude, Sohn eines deutschen Shoah-Überlebenden, geht nach Israel, wo er in die Armee eintritt. Während eines Einsatzes in der Westbank erschießt er ein palästinensi- sches Mädchen. Traumatisiert verliert er das Gedächtnis und findet sich in einer psychiatrischen Klinik wieder (Abb. 132), wo ihn der Geist jenes Mädchens ver- folgt. Von diesem Ort ausgehend erzählt der Film zwei mögliche Versionen von Davids weiterer Geschichte: eine dystopische, in der der Held stirbt, und eine uto- pische, in der sich ein Ausweg aus dem Zyklus der Gewalt eröffnet. Im Folgenden werden einige Elemente des emotionalen Denkens dieses psy- cho-politischen Thrillers dargestellt: Die symbolische Topografie des zentralen Schauplatzes des Films, die Dynamik seiner Hauptfiguren (mehrere Väter, die um das Heil eines Sohnes konkurrieren), das mesmerisierende Gleiten des Films «between the real and the uncanny»,252 der Einsatz einer polyphonen Montage und schließlich die Organisation seiner filmischen Narration, die mehrere Hand- lungsverläufe als unterschiedliche mögliche Welten präsentiert. Zentraler Topos des Films ist eine Klinik, in der sich der sprachlose und katatone David nach seinem Einsatz in Ramallah befindet. Dieser Ort existiert wirklich im Nordwesten Jerusalems, auf einem Hügel in Sichtweite der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem: Das Kfar Shaul Mental Health Center wurde 1951 gegründet und ist seither auf die Behandlung von Shoah-Überlebenden, traumatisierten IDF-Sol- dat*innen, aber auch von Patient*innen mit dem ‹Jerusalem Syndrome› spezialisiert, das sich alljährlich bei etwa hundert Jerusalem-Besucher*innen in religiösen und politischen Wahnvorstellungen äußert. Moderne Gebäudeteile, pittoreske Ruinen 249 Ebd., S. 42. 250 Utin, Pablo: «Mechilot: Interview with Udi Aloni», in: ds.: The New Israeli Cinema: Conversations with Filmmakers, Tel Aviv: Resling 2008, S. 142 [Aus dem Hebr. übers. v. Eva u. Omri Strobl- Katz]. 251 David Adler war auch der Name von Udi Alonis Großvater – Shulamit Alonis Vater –, der in Auschwitz ermordet wurde. 252 Aloni, Udi: «Director’s Objective  – Forgiveness», http://www.forgivenessthefilm.com/Udi/ udi0.html (zugegriffen am 4.1.2016). 283 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni und uralte Bäume bilden ein trügerisches Idyll, denn das Spital wurde innerhalb der Überreste von Deir Yassin errichtet, wo 1948 ein Massaker stattfand. Der Name dieses arabischen Dorfes hat in der palästinensischen Erinnerung emblematische Bedeutung. Kurz vor der Gründung des Staates Israel – am 9. April 1948 – ver- übten jugendliche Mitglieder der rechts-zionistischen Untergrundorganisationen Irgun und Lechi ein Massaker an den Einwohner*innen von Deir Yassin, bei dem etwa 120 Menschen ermordet wurden, darunter viele Frauen und Kinder.253 Der Name evoziert das palästinensische Narrativ der ‹Nakba›, der Katastrophe der Ver- treibung aus der Heimat, die die Gründung Israels für die arabische Bevölkerung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes bedeutete.254 Der Filmwissenschaftler Haim Bresheeth betont, dass dieses Trauma kein isoliertes Erinnerungsobjekt ist, sondern ein andauernder Prozess, der in die Gegenwart hineinreicht: The Nakba is not only a memory of the past but a continuity of pain and trauma reaching from the past into the heart of the present, as well as a con- tinuity of struggle in which losses of the Nakba fuel the resistance to Israeli occupation and subjugation.255 Mechilot visualisiert traumatische Kontinuitäten seit 1948 und schließt dazu israeli- sche und palästinensische Narrative miteinander kurz.256 Sein zentraler Schauplatz ist ein dichter Mikrokosmos israelisch-palästinensischer Geschichte: Die Patient*innen der Klinik leben in den Häusern der ermordeten und vertriebenen Einwohner*innen. Die Klinik wurde auf den Überresten des arabischen Dorfes errichtet wie der Staat Israel «on the ruins of another potential state project – the Palestinian state […].»257 253 Vgl. Morris, Benny: 1948. A history of the first Arab-Israeli war, New Haven CT: Yale University Press 2008, S. 125–128. Anzahl der Opfer, Hergang und Bedeutung des Ereignisses sind bis heute umstritten. Zunächst wurden die Opferzahlen von Seiten jüdischer Organisationen zur Abschre- ckung übertrieben, später von palästinensischen Organisationen zu Zwecken der Propaganda; vgl. Gelber, Yoav: Palestine, 1948: war, escape and the emergence of the Palestinian refugee prob- lem, Portland OR: Sussex Academic Press 2001, S. 307–318; weiters Morris, Benny: «The Historio- graphy of Deir Yassin», Journal of Israeli History 24/1/2005, S. 79–107. Zu einer Analyse von Deir Yassin als ‹Lieu de mémoire› siehe Gandolfo, Luisa: «Material mnemonics and competing narrati- ves in Palestine-Israel», Social Semiotics 27/2/2017, S. 1–16; weiters Shindler, Colin: The Triumph of Military Zionism. Nationalism and the Origins of the Israeli Right, London u. a.: I. B. Tauris 2006. 254 Siehe Abu-Lughod, Lila und Ahmad H. Sa’di: Nakba: Palestine, 1948, and the Claims of Memo- ry, New York: Columbia University Press 2007. 255 Bresheeth, Haim: «The Nakba Projected. Recent Palestinian Cinema», Third Text 20/3/2006, S. 499–509, hier S. 499. 256 Siehe dazu Rotberg (Hg.): Israeli and Palestinian narratives of conflict; weiters Smulders New- man, Kirkland: «The Battle over Victimhood: Roles and Implications of Narratives of Suffer- ing in the Israeli-Palestinian Conflict», in: Matar, Dina und Zahera Harb (Hg.): Narrating conflict in the Middle East: discourse, image and communications practices in Lebanon and Pa- lestine, London / New York: I. B. Tauris 2013, S. 164–182. 257 Shohat: Israeli cinema, S. 252; weiters Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 64. 284 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Der Ort sieht, mit Michel de Certeau gesprochen, «an seiner Oberfläche wie eine Collage aus. […] Eine Aufschich- tung von heterogenen Lagern.»258 Er ist ein «Palimpsest»,259 an dem die Geschichte Palästina-Israels eine hyper- archäologische Formation bildet, für die sich De Certeau zufolge ein Modell 133 Yaakov: ‹Muselmann›, Maulwurf, Prophet; bei Sigmund Freud findet, der in Das Screenshot aus Mechilot (TC 00:02:04) Unbehagen in der Kultur die «phantas- tische Annahme» machte, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reich- haltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekom- men war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase 134 Shoah-Überlebende graben nach Spuren der Nakba; Screenshot aus Mechilot (TC 00:03:01) auch alle früheren noch fortbestehen. […] Und dabei brauchte es vielleicht nur eine Änderung der Blickrichtung oder des Standpunktes von seiten des Beobachters, um den einen oder den anderen Anblick hervorzurufen.260 Mechilot handelt von einem Ort, der ebenfalls einem ‹psychischen Wesen› gleicht. Aloni bezeichnete ihn als «Trau - 135 Ein Schlüssel, Symbol der Vertreibung; ma Zone».261 In vielfältigen ‹Änder un- Screenshot aus Mechilot (TC 00:028:54) 258 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 354. 259 Ebd., S. 355. 260 Freud, Sigmund: «Das Unbehagen in der Kultur», in: ds.: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M.: Fi- scher 1982, S. 191–270, hier S. 202. Freud stand dem Zionismus ambivalent gegenüber, mit «leichtem Übergewicht nach der positiven Seite hin», so Ernst Simon. Freud schrieb 1932 an Arnold Zweig aus Anlass von dessen Palästina-Reise: «[…] wie merkwürdig muss dieses tragisch-tolle Land […] Ihnen geworden sein. Denken Sie, kein anderer Fortschritt verknüpft sich mit diesem Streifen unserer Mut- tererde, keine Entdeckung oder Erfindung […] als Religionen, heiliger Wahnwitz, vermessene Ver- suche, die äussere Scheinwelt durch die innere Wunschwelt zu bewältigen.» Zit. nach Simon, Ernst: «Priester, Opfer und Arzt. Zu den Briefen Wolfskehls, Kafkas und Freuds», in: Tramer, Hans (Hg.): In zwei Welten. Siegfried Moses zum 75. Geburtstag, Tel Aviv: Bitaon 1962, S. 414–469, hier S. 457. 261 Aloni: «Director’s Objective – Forgiveness». 285 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni gen der Blickrichtung› der Kamera werden die darin simultan anwesenden histori- schen Aufladungen erforscht. Die Narration entfaltet in ihren Figuren die schizoide Logik eines Raums, in dem weder die Lebenden noch die Toten Frieden finden. Wie im Unbewussten ist das zeitliche Nacheinander aufgehoben, alles existiert gleich- zeitig und nebeneinander als Spur, Ruine, Gebein, Gespenst. Weiter De Certeau fol- gend, ist die ‹Trauma Zone› einer jener Orte, «die von zahlreichen Atmosphären und Geistern überlagert sind, welche dort schweigend bereitstehen und ‹heraufbeschwo- ren› werden können oder nicht».262 Die räumliche Übereinanderschichtung histori- scher Strata suspendiert die chronologische Zeitordnung und schließt Davids trau- matische Gegenwart direkt mit den Ereignissen von 1948 kurz. Die künstlerische Entscheidung, ihn an diesen Ort zu versetzen, bildet den subversiven Kern des Films, denn hier erscheint seine Tat als Symptom eines historischen Wiederholungszwangs. Yaakov, ein Shoah-Überlebender, den die Lager zum ‹Borderliner› gemacht haben,263 ist die Schlüsselfigur in der ‹Trauma Zone›. Er ist ein visionärer Prophet und blinder Seher zugleich, ein «Jenseits-Lebender»,264 der sich «Muselmann» nennt. Seine Figur spielt die ganze semantische Ambivalenz dieses rätselhaften Namens für die Schwächsten und Sprachlosen in den nationalsozialistischen Ver- nichtungslagern aus, in denen Primo Levi «die Untergegangenen, die eigentlichen Zeugen» sah.265 Wie schon bei Godard zog der Name des ‹Muselmann› Kritik auf sich. Yaron Peleg und Miri Talmon zufolge suggeriert seine Gestalt in Alonis Film an ideological connection between the terms used for Jewish prisoners in the death camps and Muslims in Israel. In other words, the film suggests a simi- larity between the Jews in the Holocaust and Palestinians in Israel.266 262 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 205. 263 Zur psychiatrischen Klinik und Therapie von Shoah-Überlebenden siehe Niederland, Wil- liam G.: Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom – Seelenmord, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980; weiters Greenwald, Baruch, Dori Laub u. a.: «Psychiatry, Testimony, and Shoah: Reconstructing the Narratives of the Muted», Social Work in Health Care 43/2–3/2006, S. 199–214; sowie Laub, Dori: «Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens», in: Baer, Ulrich (Hg.): ‹Niemand zeugt für den Zeugen›. Erinnerungskultur und historische Ver- antwortung nach der Shoah, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 68–93; und Zertal: From ca- tastrophe to power, S. 272 f. 264 Zertal, Idith: «Trauer und Trauma in Israel. Die Totenklage der Überlebenden», in: Assmann, Jan (Hg.): Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen: Wallstein 2005, S. 235. 265 Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, übers. v. Moshe Kahn, München: dtv 1993, S. 85. Eine Diskussion dieses Namens und seiner Diskursgeschichte von Primo Levi bis Giorgio Agamben in nahöstlicher Perspektive bietet Anidjar, Gil: «‹Our Time in One Image› Around 1948», Third Text 20/3–4/2006, S. 305–316; siehe weiters Patell, Shireen R. K.: «Trau- matic Memory and Cinematic Syntax», in: Köhne, Julia Barbara (Hg.): Trauma und Film: Insze- nierungen eines Nicht-Repräsentierbaren, Berlin: Kadmos 2012, S. 29–55, hier S. 30 f. 266 Talmon, Miri und Yaron Peleg: Israeli cinema: identities in motion, Austin TX: University of Texas Press 2011, S. 281. 286 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Alonis Figur des ‹Muselmann› dient jedoch nicht einfach einer Gleichsetzung der Opfer, ihre symbolische Aufgabe ist wesentlich komplizierter. Für Shireen R. K. Patell markiert der Überlebende «as the vessel of serious social critique […] a transmission of the dialectic of trauma onto the witnessing social body.»267 Yaa- kov ist als Überlebender kein Held, sondern ein Anti-Held, der nie in die Nor- malität zurückgekehrt ist. Er bewohnt eine schizoide, liminale Realität, die von Untoten bewohnt ist. Er hält Kontakt mit den Geistern und kann in die symbo- lischen Austauschverhältnisse zwischen den Lebenden und den Toten interve- nieren.268 Sein traumatisches Wissen macht seine Singularität aus, die das kol- lektive Gedächtnis bedroht. Ähnlich wie die Hauptfigur in Paul Schraders nach der Romanvorlage von Yoram Kaniuk269 gedrehten Spielfilm Adam Resurrec- ted (USA 2008)270 verkörpert er ein Gedächtnis an die Shoah, das sich kaum – wie in Israel seit der Zweiten Intifada verstärkt zu beobachten271 – in ein natio- nales erinnerungspolitisches Narrativ integrieren lässt.272 Während das offizielle Gedenken einen harten «cement floor»273 (Abraham B. Jehoshua) für eine zuneh- mend zerrissene israelische Gesellschaft bildet, treibt Yaakovs wildes Gedächtnis im Film eine subversive Bewegung nach unten an, in den lokalen Untergrund. Er nennt sich auch «Maulwurf»274 und sucht mit anderen Patient*innen nach den Spuren der palästinensischen Toten von Deir Yassin: Überlebende der Shoah gra- ben nach Überresten von Toten der Nakba (Abb. 133–135). Bereits im Kommen- tar von Description d’un combat hatte es geheißen: «Um zu ermessen, was auf diesem Boden vor sich gegangen ist, müsste man ihn durchröntgen.» Yaakovs Gedenken überschreitet den Rahmen des nationalen Narrativs und schließt transgressiv alle Toten ein. Wie Benjamins ‹Engel der Geschichte› will er die Toten wecken und das Zerbrochene zusammenfügen.275 Dabei geht es kei- neswegs, wie Peleg und Talmon andeuten, um eine Gleichsetzung von Shoah und Nakba. Yaakov formuliert im Film vielmehr eine delirante Theologie, derzufolge der Friede der jüdischen Toten von jenem der palästinensischen Toten (und daher auch der Lebenden) abhängt: 267 Patell: «Traumatic Memory and Cinematic Syntax», S. 37. 268 Siehe Trigg, Dylan: «The place of trauma: Memory, hauntings, and the temporality of ruins», Memory Studies 2/1/2009, S. 87–101; weiters Illouz: Israel, S. 218 ff. 269 Kaniuk, Yoram: Adam Hundesohn [1969], München: dtv 1994. 270 Siehe Milner, Iris: «The end of love: Kaniuk’s ‹Adam Resurrected› and Grossman’s ‹See Under – Love› revisited.», Prooftexts 35/1 (2015), S. 37–47. 271 Vgl. Loshitzky, Yosefa: «Pathologising Memory. From the Holocaust to the Intifada», Third Text 20/3 (2006), S. 327–335. 272 Vgl. Zertal: Nation und Tod, S. 10 f. 273 Yehoshua, Abraham. B.: «Interview mit A B Yehoshua», Haaretz 19.3.2004. 274 Vgl. dazu Žižek, Slavoj: «‹… I will move the underground›: Slavoj Zizek on Udi Aloni’s Forgive- ness», International Journal of Applied Psychoanalytic Studies 6/1/2009, S. 80–83, hier S. 83. 275 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697. 287 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni «An old Hasidic rabbi once told me that when the righteous Jews of Poland were killed, their spirits began traveling through underground tunnels [die titelgebenden talmudischen ‹Mechilot›276] toward the Mount of Olives; for it is at the Mount of Olives that they will be resurrected when the Messiah comes.» In Anwesenheit der unerlösten Toten von Deir Yassin ist die Erlösung der Gerech- ten aber unmöglich. Der Schizo Yakoov ist in einer liminalen Situation gefangen: «There I am. Behind me, piled high, are the bones of the slaughtered. In front of me, the spirits of the righteous Jews are coming. I must protect the spirits! […] So I tell them, ‹You cannot pass this way. This is a mass grave – a cemetery of the innocent!› And now those poor souls cannot go back and cannot go forward. So there we stand, facing each other with blind eyes for eternity!» Yaakovs Archäologie rührt an die Wurzeln der ‹schlechten Unendlichkeit› des israelisch-palästinensischen Konflikts. Sie destabilisiert, was Ella Shohat «Zio- nist archeology of the land» genannt hat, «invested in the reading of territorial homeland as a document of possession».277 Gräber und Tunnel fungieren als Stät- ten traumatischer Erinnerung, als Verräumlichungen des Unbewussten, des Ver- drängten. Der Film unternimmt in Yaakovs Figur eine Transgression des jüdi- schen Erinnerungsgebotes in Richtung des Traumas des arabischen Anderen.278 Von der ‹Trauma Zone› der Klinik ausgehend, werden in filmischen Flash- backs und -forwards narrative Linien entwickelt und weitere Schauplätze einge- führt: Die moderne Urbanität New Yorks und das jüdisch-liberale Milieu, in dem David aufgewachsen ist, die dystopische Wirklichkeit der Westbank und seiner Checkpoints, die hedonistische Welt der Clubs von Tel Aviv, in denen David nach seinen Diensteinsätzen feiert. Jeder dieser Orte fügt dem Film neue kulturelle Bezüge und emotionale Aufladungen hinzu. David Adler ging nach Israel gegen den Willen, aber in einer bestimmten Treue zu den Erfahrungen seines Vaters Henry, der die NS-Lager überlebt und im israe- lischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat. Vorher ließ er sich in New York einen Davidstern auf die Brust tätowieren. Durch seinen Eintritt in die israelische Armee will er die von seinem Vater verkörperte ‹diasporische Schwäche› aufheben und sich symbolisch jener «Negation des Exils»279 anschließen, die der Staat Israel aus der Sicht dominanter Richtungen des Zionismus bedeutet. In Davids Figur werden im 276 Vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Ketubot 13:111a. 277 Shohat: Israeli cinema, S. 253. 278 Siehe Smulders Newman: «The Battle over Victimhood: Roles and Implications of Narratives of Suffering in the Israeli-Palestinian Conflict», S. 175 ff. 279 Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 33; weiters ds.: Exil et souveraineté, S. 26–40. 288 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Verlauf des Films Fragen nach Maskulinität und Militarismus verhandelt, nach dem Verhältnis zwischen den Generationen und nach den Grundlagen jüdischer Identi- tät. Der Film kreist um das Verhältnis von Söhnen zu ihren biologischen und sym- bolischen Vaterfiguren: Nach seinem Zusammenbruch konkurrieren drei ‹Väter› um Davids Wiederherstellung, die unterschiedliche Konzepte von Heilung vertre- ten, aber auch unterschiedliche Auffassungen bezüglich der ethischen Konsequen- zen, die sich aus der Erfahrung an die Shoah in einer Gegenwart ergeben, die durch andauernde Traumatisierungen im Kontext des ‹Nahost-Konflikts› geprägt ist.280 In der Klinik ist der Psychiater Itzhik Shemesh für Davids Therapie zuständig, er soll das «black hole» in Davids Bewusstsein mit Hilfe von Psychopharmaka überbrü- cken.281 Er zweifelt an seiner Profession, in seinem Büro hängt ein Bildnis Freuds.282 Gespielt wird er von dem bekannten palästinensischen Schauspieler Makram Koury. Wie zahlreiche israelische Spielfilme überschreitet auch Mechilot Konfliktgrenzen auf der Ebene der Produktion: Das Schauspieler*innen-Team bestand aus Palästi- nenser*innen sowie jüdischen und palästinensischen Israelis. Dieses Casting produ- ziert einen transgressiven Bedeutungsüberschuss, insbesondere wenn Dr. Shemesh über den fundamentalen Bezug des Judentums zum Eingedenken spricht: «What does it mean, erasing the memory of someone like David Adler? David Adler, who made aliyah,283 precisely because of his memory. […] Does killing our memory destroy the very essence of our Jewishness?» Während die Figur der Mutter in Local Angel einen wesentlichen Aspekt des Films darstellte, ist sie in Mechilot gänzlich abwesend. Davids Mutter ist vor kurzem verstorben und scheint nur in der Melancholie seines Vaters fortzuleben. Henry Adler (gespielt von Michael Sarne) war 15, als er aus dem KZ befreit wurde. Er kämpfte im Unabhängigkeitskrieg, um Israel jedoch bald nach der Staatsgrün- dung in Richtung USA zu verlassen, wo er als Pianist Anerkennung und Wohl- stand erreichte. Henry reist nun nach Jerusalem, um seinen Sohn so rasch wie möglich nach New York zurückzuholen. Dass Davids Handeln und Leiden etwas mit seiner eigenen Geschichte zu tun haben könnte, verleugnet er. Aloni zufolge 280 Vgl. Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, S. 663 ff. 281 Dieses Medikament ist eine Fiktion, nicht aber die Forschung danach, vgl. Even, Dan: «Israe- li Researchers Seek to Develop ‹Morning-after-pill› for Post-traumatic Stress Disorder», Haa- retz 1.8.2011: http://www.haaretz.com/israeli-researchers-seek-to-develop-morning-after- pill- for-post-traumatic-stress-disorder-1.376253 (zugegriffen am 6.1.2016); weiters Mandel, Jonah: «Israel seeks to beat PTSD with ‹ecstasy› therapy», The Times of Israel 21.8.2019, https://www. timesofisrael.com/israel-seeks-to-beat-ptsd-with-ecstasy-therapy/ (zugegriffen am 12.6.2020). 282 Zur Rezeption der Psychoanalyse in Palästina und Israel siehe Rolnik, Eran: Freud in Zion: Psy- choanalysis and the Making of Modern Jewish Identity, London: Karnac Books 2012. 283 Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet das hebräische Wort für ‹Aufstieg› die Einwanderung von Jüdinnen und Juden nach Palästina bzw. Israel. 289 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni verweist die Beziehung zwischen Henry und David auf einen Bann, der über dem Verhältnis zwischen den Generationen liegt: What we are talking about here is a curse carried by the hero, which was passed down by his father and exists within the community. In this sense, we find ourselves in a far more cruel place, because the movie talks about the foundation of our existence here.284 Aloni fand ein eindrückliches Bild für die intergenerationelle Last, die auf den Söh- nen liegt, indem er den berühmten Traum vom brennenden Kind aus Freuds Traum- deutung285 in Szene setzte: Henry Adler ist am Abend auf einer Bank im Freien einge- schlafen. David, sein Kind, ist jedoch nicht tot wie bei Freud, sondern schläft nebenan in einem Raum, aus dem gelbes Licht nach außen dringt. Yaakov, der neben seinem Bett wacht, ist eingeschlafen. Durch eine umgefallene Kerze fängt Davids Ärmel Feuer. Die Kamera zeigt David, der seinen Kopf dem brennenden Arm zuwendet. Er erhebt sich langsam, geht nach draußen zu seinem schlafenden Vater – sein Arm brennt nun lichterloh – und flüstert ihm leise zu: «Father, can’t you see I’m burning?» (Abb. 136) Während bei Freud der Vater nun aufwacht und einen wirklichen Brand löscht, folgen in Alonis Film zwei Versionen des Erwachens: In der ersten entdeckt Henry ein riesiges Feuer um Davids Bett, den immer noch schlafenden Yakoov und den Geist Amals (Abb. 137). Diese Version des Traums endet mit einer Einstellung, die wiederum den schlafenden Henry zeigt, der diese apokalyptische Szenerie offen- bar nur geträumt hat. In der zweiten Version, welche die erste als Traum im Traum kenntlich macht, wird Henry von Dr. Shemesh aufgeweckt. Gemeinsam betreten sie das Zimmer, in dem David friedlich schläft (Abb. 138). Aber Yakoov wendet sich mit den Worten an Dr. Shemesh: «Herr Doctor, can’t you see he’s burning?» (Abb. 139). Hier klingen im Film die fundamentalen Fragen nach dem Verhältnis von Traum und Wirklichkeit und nach der Logik und Ethik des Unbewussten an, die Freuds Traumerzählung aufwirft. Das alarmierende Bild des brennenden David stellt einen Appell dar: Wer löscht die Flammen, von denen die Söhne verzehrt werden? Sandra Meiri liest die Sequenz mit Jacques Lacan286 und Cathy Caruth287 als Inszenierung einer unerträglichen Begegnung mit dem Realen, dem Unmögli- chen, das durch die Struktur der Psyche nicht mehr strukturiert werden kann:288 284 Utin: «Mechilot: Interview with Udi Aloni», S. 146. 285 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S. 415 f. 286 Siehe Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Das Seminar von Jacques Lacan Buch XI, Olten u. a.: Walter 1980, S. 63 ff.; weiters Bowie, Malcolm: Lacan, Göttingen: Steidl 1994, S. 102 f. 287 Siehe Caruth, Cathy: «Traumatic Awakenings», in: Vries, Hent de und Samuel Weber (Hg.): Vio- lence, identity, and self-determination, Stanford CA: Stanford University Press 1997, S. 208–222. 288 Meiris eingehende Analyse der Sequenz findet sich in: ds.: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and Forgiveness (2006)», S. 340–344. 290 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 136–139 «Father, can’t you see I’m burning?» – Traum als Film, Film als Traum; Screenshots aus Mechilot (TC 00:47:09, 00:47:43, 00:48:24, 00:48:28) Unmöglich, nicht aufzuwachen, nicht dem Ruf des toten Kindes zu folgen  – genauso unmöglich aber auch, an dessen Anspruch auf Rettung nicht zu schei- tern.289 Meiri sieht in «Aloni’s blur of boundaries between the living and the dead, between subjects […] an imperative to wake up, survive, survive to tell the story of the burning.»290 Nach und nach findet in Mechilot eine unmerkliche Subversion von Realis- mus statt, es kommt zu einer Verkehrung der diegetischen Ordnung: Realistische Szenen wirken auf einmal wie Tagesreste, die in das Gewebe eines Traums einge- arbeitet sind. Der Film evoziert ‹Realität› in einer psychoanalytischen Perspektive als fiktional strukturiert, wie Slavoj Žižek sie erläutert: Was in der Gestalt des Träumens oder gar Tagträumens erscheint, ist zuweilen die verborgene Wahrheit, auf deren Unterdrückung sich die soziale Wirklich- keit selbst gründet. Darin liegt die große Lehre von Freuds Traumdeutung: Die Wirklichkeit ist etwas für diejenigen, die den Traum nicht aushalten können.291 289 Siehe auch Raz, Yosef: «The Ethics of Trauma: Moral Responsibility and the Israeli-Palestini- an Conflict in Current Israeli Cinema (Forgiveness 2006 and Waltz with Bashir 2008)», in: Köhne, Julia Barbara (Hg.): Trauma und Film: Inszenierungen eines Nicht-Repräsentierbaren, Berlin: Kadmos 2012, S. 155–172, hier S. 161. 290 Meiri: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and Forgiveness (2006)», S. 342. 291 Žižek, Slavoj: «Die brennende Frage. Hundert Jahre Traumdeutung lehren: Wach sein ist feige», Die Zeit 2.12.1999: http://www.zeit.de/1999/49/199949.traumdeutung_.xml (zugegriffen am 6.1.2016). 291 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni David wird vom Geist einer Toten von Deir Yassin verfolgt, einem Mädchen, das jenem ähnlich sieht, das er in Ramallah erschossen hat. Um den Hals trägt es den Schlüssel zu ihrem 1948 geraubten Haus, ein Symbol, mit dem die Palästinen- ser*innen den Wunsch nach Rückkehr in ihre Heimat verbinden.292 Die geister- hafte Präsenz des Mädchens signalisiert den insistierenden Anspruch des Ver- drängten nach Wiederkehr. Bei David löst sie panischen Schrecken aus: «You are not here! Go away!» Der Film subvertiert Realismus, indem er Phantasmata – etwa den Geist des ermordeten Mädchens auf einer Schaukel (Abb. 143, S. 299) – und sinnliche Wahrnehmungen in einer Einstellung vermischt. In seiner filmischen Hyperrealität wird der historische Untergrund gleichsam geröntgt und die Anwe- senheit von Geistern spektrografiert. In einer Schlüsselszene des Films, nach der sich die Narration in zwei Ver- sionen der Geschichte verzweigen wird, treffen Yaakov und Henry aufeinander. Beide sind Überlebende der Vernichtungslager, nehmen aber konträre Positionen im Umgang mit der traumatischen Vergangenheit ein. Im Gespräch der beiden äußert Henry, er führe einen dauernden «fight» gegen die Dämonen. Er spiele seine Musik, um die Geister zu bannen, ihre Rückkehr zu verhindern. Er erin- nert Yakoov an die Musik, die im Konzentrationslager gespielt wurde, um die Schreie der Gepeinigten zu übertönen. Dagegen wird Yakoov zum Medium für Davids Begegnung mit seinen eigenen Geistern werden. Yakoovs schizoides Stim- menhören steht im Gegensatz zu Henrys neurotischer Abwehr der Stimmen. Er beschwört Henry, David noch in der Klinik zu lassen. Dieser sei noch nicht so weit, die medikamentöse Löschung des Traumas sei nur eine scheinbare Heilung: «Give him the chance we never had!» Yaakov verkörpert einen tiefen Optimismus: Im Gegensatz zur ultimativen ‹Trauma Zone› Auschwitz ist die traumatisierende Gegenwart ‹Israel/Palästinas› nicht heillos, nicht irreparabel.293 Udi Aloni: «Bet- ween these two characters lies the entire post-Auschwitz ethic of the West.»294 Mechilot verzweigt sich in der Folge in die narrative Präsentation der beiden Welten, die Henrys Entscheidung generieren kann.295 292 Siehe Bresheeth, Haim: «Telling the Stories of Heim and Heimat, Home and Exile: Recent Pa- lestinian Films and the Iconic Parable of the Invisible Palestine», New Cinemas: Journal of Con- temporary Film 1/1/2002, S. 24–39. 293 Siehe Illouz: Israel, S. 222 ff.; weiters Derrida, Jacques: Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare, Wien: Passagen 2018 und Jankélévitch, Vladimir: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, insbesondere S. 253. 294 Aloni: «Director’s Objective – Forgiveness». 295 Siehe hierzu Yolanda Gampels Bericht über eine Diskussion von Überlebenden der Shoah über die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete zum Zeitpunkt der Intifada. Einige sahen in der Besetzung eine weitere überlebensnotwendige Form der Selbstverteidigung. Die Dame, die die Diskussion vom Zaun gebrochen hatte, beunruhigte dagegen der Gedanke an ihren Sohn und andere junge israelische Soldaten, «die mitten in der Nacht in Häuser eindringen, die Fa- milien aufwecken und vielleicht den Vater von geängstigten, furchtsamen Kindern mitnehmen 292 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Mechilot strahlt intensive Sinnlichkeit aus. Gegen die Leere und Gewalt des Traumas mobilisiert er eine Vielfalt sensibler Register, fiktionaler Strategien und intellektueller Konzepte. Die Kameraarbeit von Amnon Zalait konzentriert sich immer wieder auf Texturen, Oberflächen, Ornamente und Farben. Tanz als kör- perliches Denken und Musik als Denken in Gefühlen sind in Mechilot als Medien der Transgression dauernd aktiv. Die Performance der palästinensischen Rapper DAM, die elektronischen und klezmernden Sounds von Tamir Muskat, Schumanns herzzerreißendes Ich grolle nicht, jiddische und arabische Klage- und Liebeslieder, orientalisierende Beats in einer Tel Aviver Diskothek und die Choreo- grafien, die Ohad Naharin und die Tänzer*innen der Batsheva Dance Company für den Film entwickelt haben, bringen jenseits eines ‹Clash of Civilizations› US- amerikanische, europäische, arabische und jüdische Kulturen in einen pluralen Austausch, der alle monolithischen Identitäten auf etwas Neues hin überschreitet. Ähnlich wie bei David Lynch wird im Ineinandergleiten von Realismus, Traum- szenen, allegorisierenden Tableaus und theaterhaft verfremdeten Sequenzen die Immersion der Zuschauer*innen in die filmische Welt von Mechilot immer wie- der gebrochen und moduliert. Asynchrone Narration, kontra-stereotype Inszenie- rungen, die Situierung der Bilder auf einer realistischen und einer symbolhaften Ebene zugleich, fordern den Zuschauer*innen eine aufwühlende kognitive und emotionale Orientierungsarbeit ab. Dabei vergessen sie leicht, ob sie wachen oder träumen, während der Fluss der Bilder und Töne ihr Denken und ihre Gefühle verändert, wie Alain Badiou über Mechilot schrieb.296 Alonis Film gelinge dies tatsächlich, indem er ein «Universum in vier Dimensionen»297 konstruiere: einer historischen, einer narrativen, einer psychoanalytischen und einer kulturellen. Indem der Film aus diesen einen kunstvollen Knoten binde, leiste er eine «imma- nente Transfiguration innerhalb des Desasters selbst».298 Für Badiou restituiert der Film damit die «Chance der Liebe»299 als einer «geteilten Liebe zu dem Ort.»300 Das Fortschreiten des Filmes in Brüchen, Verschiebungen, Hybridisierungen, die auf mehreren Ebenen vorangetriebene sinnliche, emotionale und semantische mußten […]. Sie könne diese Vorstellung nicht ertragen; ihrer Ansicht nach seien die Handlun- gen der Soldaten die gleichen wie jene, denen sie als Kind ausgesetzt gewesen sei. ‹Wie können jü- dische Soldaten das tun? Wir, die selbst unter Verfolgung gelitten haben, dürfen so etwas nicht tun.›» Gampel, Yolanda: «Einige Gedanken zu Dynamiken und Prozessen in einer Langzeitgrup- pe von Überlebenden der Shoah», in: Moses, Rafael (Hg.): Psychoanalyse in Israel. Theoriebildung und therapeutische Praxis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 83–104, hier S. 93. 296 Vgl. Badiou, Alain: «Les dimensions de l’art. Udi Aloni, Pardons», in ds.: Cinéma. Textes ras- semblés et présentés par Antoine de Baecque, Paris: Nova 2010, S. 403 (Übers. d. Autors); siehe auch Badiou, Alain: Kino. Gesammelte Schriften zum Film, Wien: Passagen 2014. 297 Ebd. (Übers. d. Autors). 298 Ebd., S. 411. 299 Ebd., S. 408. 300 Ebd., S. 405. 293 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni 140 IDF-Soldaten tanzen in einer Synagoge und besingen die Rückkehr der 1948 Vertriebenen in arabischer Sprache; Screenshot aus Mechilot (TC 01:25:34). Aufladung der Narration könnte man ‹Polyphonie› bzw. ‹polyphone Montage› nennen. In der Sequenz, die die dramatische Schlussszene des Films vorbereitet, wird diese Montage besonders intensiv: Es ist extra-diegetische arabische Musik zu hören, während Yaakov und die anderen Shoah-Überlebenden wie Sufi-Der- wische im Garten tanzen. Daraufhin sieht man wieder den schlafenden David in Großaufnahme. Nun ist es er, der träumt: Seine Augäpfel bewegen sich im Rhyth- mus der Musik. Die Kamera schwenkt nach oben und deutet so einen Wechsel der diegetischen Ebene an. Die Zuschauer*innen befinden sich plötzlich in einer Synagoge, wo sie mit einer irritierenden Inszenierung konfrontiert werden, die den Tanz der Shoah-Überlebenden aufnimmt und variiert: Soldaten tanzen zur selben Musik und singen in arabischer Sprache: «Mein Sohn, komm’ zurück in dein Land …» Ein destabilisierendes, utopisches Tableau: Tanzende IDF-Soldaten besingen die Rückkehr der 1948 Vertriebenen in arabischer Sprache (Abb. 140). Auch dieses transgressive Bild übersetzt die widersprüchliche Tektonik des Ortes, an dem sich David befindet, in eine hybride Vermischung kultureller For- men. Es ist ein diasporisches Bild, das eine «multiple Sichtweise»301 eröffnet. Die Tanzszenen kombinieren nicht einfach unvereinbare Formen, sondern realisieren eine Öffnung und Pluralisierung kultureller Identitäten in Richtung des jeweils ausgeschlossenen Anderen. Jenseits einer orientalistischen Aneignung wird der Tanz zum Medium für eine Deterritorialisierung, für das Werden eines anderen Körpers. Mit Jean-Luc Nancy könnte man über die tanzenden Soldaten sagen: Unmerklich geschieht diesem Körper das: Er ist nicht länger ein Körper in sich […], er tanzt sich, er wird von einem anderen getanzt.302 301 Mirzoeff: «Die multiple Sicht. Diaspora und visuelle Kultur», S. 35. 302 Nancy, Jean-Luc: Die Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, Zürich u. a.: Diaphanes 2010, S. 33. 294 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Die polyphone Montage etabliert das affektive Milieu, in dem in der Folge Davids Wiederherstellung stattfinden kann. Der Schnitt beschleunigt sich, Musik und Montage verbinden die unterschiedlichen Schauplätze zu einem Reigen: den Gar- ten der Klinik mit seinen Ruinen und Bäumen, die Synagoge und die Tel Aviver Diskothek, in der David mit einem Kumpel bis in den frühen Morgen gefeiert hatte. Gemeinsam hatten sie einer jungen Palästinenserin, die hier als Reinigungskraft arbeitete, zum Spaß einen Ecstasy-Cocktail verabreicht. Es wird die Tochter dieser Frau sein, die David später im Dienst erschießt. Dass sie zur Selbstmordattentäterin wurde, wird David später zufällig aus den Fernsehnachrichten erfahren. Nur hier adressiert der Film die hegemoniale Konstruktion des Nahostkonflikts als mediati- siertes Spektakel, in dessen visueller Oberfläche alle Zusammenhänge getilgt sind. In der Schlusspassage von Mechilot wacht David nächtens auf und folgt dem Geist des Mädchens in ein unterirdisches Gewölbe, wo sie und Yaakov im Rah- men eines Rituals seine Heilung bewerkstelligen. Yaakov spielt die Rolle des Hei- lers, des Maggid, eines kabbalistischen Predigers und Magiers. Feuer sind entzün- det, wie «wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe» (Gershom Scholem).303 Yakoov klei- det David mit einem Tuch, nimmt einen Säbel – wieder spielt die Szene an die Ake- dah an – und schneidet damit in Davids Handfläche. Als Amal Davids blutende Hand nimmt und die beiden sich anblicken, kommt es zur kathartischen Klimax des Rituals.304 David erinnert sich an seine Tat und an den Horror, den die Mutter des Mädchens erlebt, das er in Ramallah erschoss. Es kommt zu einer Identifika- tion mit ihrem Schmerz, die ihm mit einem Mal bewusst wird. In diesem Moment erleidet er einen Zusammenbruch, der demjenigen der Mutter analog verläuft. In einer Doppelbelichtung wird der ethische Kern von Davids Krise als somatische Korrespondenz sichtbar – die körperliche Affektion durch das Trauma des Ande- ren (Abb. 141). Udi Aloni äußerte sich zu dieser Montage: 303 Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 384. 304 Dieses Ritual ist eine filmische Fiktion, die Elemente unterschiedlicher jüdischer Traditio- nen einbezieht: Brit Mila, die Praxis der Beschneidung, ekstatische und transformative Er- fahrungen und Techniken der jüdischen Mystik und die Kol-Nidre-Liturgie am Vorabend des Versöhnungsfestes Jom Kippur, in deren Zentrum das Sündenbekenntnis und Bitten um Vergebungen (hebr. Selichot) in der kollektiven Wir-Form stehen; vgl. Idel, Moshe: Enchan- ted chains. Techniques and rituals in Jewish mysticism, Los Angeles: Cherub Press 2005; sowie ds.: «On the Language of Ecstatic Experiences in Jewish Mysticism», in: Riedl, Matthias und Tilo Schabert (Hg.): Religionen  – die religiöse Erfahrung, Würzburg: Königshausen & Neu- mann 2008, S. 43–84. Idel spricht von «rites and techniques used in order to trigger a certain experience» (S. 70), die auch aus unterschiedlichsten nicht-jüdischen Quellen gespeist wurde: «Greek and Hellenistic sources as mediated by Arabic sources, basically Neoplatonic and Her- metic, and sometimes also Sufi and Hindu elements» (ebd.); siehe weiters Werczberger, Ra- chel: «Self, Identity and Healing in the Ritual of Jewish Spiritual Renewal in Israel», in: Huss, Boaz (Hg.): Kabbalah and Contemporary Spiritual Revival, Beer-Sheva: Ben-Gurion Universi- ty of the Negev Press 2011, S. 75–100, S. 91 f. 295 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni For me, this editing was not supposed to carry textual or formalized but rather associative meaning. When I saw David fall, I also saw the Palestinian woman falling. Because it is about a moment of insight, I decided to not just jump to the flashback in the usual way and to show the image of the girl, but to pass to the flashback by means of this gesture of the body, his collapsing.305 Wenn David zuletzt sagt, «I am a killer»,306 dann geht es dabei um etwas, wovon Yehudi Menuhin am Ende eines anderen Filmes – Marcel Ophüls’ The Memory of Justice (USA 1976) – gesprochen hat: «Wissen Sie, das Beste wäre, das Urteil würde aus dem Menschen kommen, der die Tat begangen hat.» Der Prozess der Wiederherstellung von Davids Psyche basiert auf dem zugleich ethischen wie politischen Akt der Anerkennung der Tat und der rückhaltlosen Annahme der traumatischen Perspektive des Anderen. Eine zweite Bedeutung der titelgebenden ‹Mechilot› wird nun klar. Neben ‹unterir- dischen Tunneln› bezeichnet das hebräische Wort auch Akte der Vergebung. Jacques Derrida, an dessen Seminar über ‹Forgiveness› an der New Yorker Columbia Uni- versity Udi Aloni teilgenommen hat, verstand ‹Vergebung› weder im christlichen Sinne noch als «Therapie oder Ökologie der Erinnerung».307 Derrida betrachtete ‹Forgiveness› als einen «Wahnsinn des Unmöglichen»,308 als messianischen Akt,309 der niemals eingefordert werden könne. Weder gehe sie aus einer ethischen Norm hervor, noch konstituiere sie eine neue Normativität. Vielmehr unterbreche sie den Geschichtsprozess, um einer unabsehbaren, neuen Zeit Raum zu geben: Es ist vielleicht das Einzige, dessen Auftauchen den gewöhnlichen Lauf der Geschichte, der Politik und des Rechts überraschen kann, wie eine Revo- lution.310 Dass dem Film eine Verschiebung der Perspektive gelang, bezeugen Reaktionen palästinensischer Zuschauer*innen, etwa von Moheeb Al-Barghouti, der den Film am 12. Juli 2006 bei seiner Welturaufführung in Ramallah gesehen hat (einen Tag vor seiner offiziellen Premiere beim Jerusalem Film Festival): 305 Utin: «Mechilot: Interview with Udi Aloni», S. 143. 306 Der Film wurde wegen dieser Aussage wiederholt angegriffen. Als im März 2007 das ‹Israe- lische Filmfestival› in Paris mit Mechilot eröffnen wollte, drohte die israelische Botschaft, seine Subvention zurückzuziehen; vgl. Yudilovith, Merav: «Israeli Embassy vs. Forgiveness», ynet 28.7.2007: http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-3370814,00.html (zugegriffen am 6.1.2016). 307 Derrida, Jacques: On cosmopolitanism and forgiveness, London / New York: Routledge 2001, S. 32 (Übers. d. Autors). 308 Derrida, Jacques: Foi et savoir. Les deux sources de la ‹religion› aux limites de la simple raison. Suivi de Le siècle et le pardon, Paris: Seuil 2001, S. 114 (Übers. d. Autors). 309 Vgl. Derrida: Marx’ Gespenster, S. 47 f. 310 Derrida: Foi et savoir, S. 114 (Übers. d. Autors). 296 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni 141 Körperliche Affektion durch das Trauma des Anderen in der Doppelbelichtung; Screenshot aus Mechilot (TC 01:31:57). My god, how could an Israeli-American director capture the moment of sad- ness in a Palestinian woman’s eyes in such an accurate way? This is the long- ing for truth that is imprisoned within cabinets of politicians, who give us the illusion about how difficult it is to act in the face of the other. The director made me feel dry in my throat and made me hold my chest to make sure that my heart was still in place. And I wish for more powerful films, like this one, that show me that there are still honorable men, and that you can see the oth- er’s face as human, with no differences of race or color. All of this in the face of the big surprise that captured the audience.311 Auch Mahmoud Darwish äußerte sich nach der Vorführung positiv: It is a beautiful and significant film. The key point in the film is the question regarding who has the right to make the victim forget.312 Der Moment der Premiere war denkwürdig: Zwei Stunden zuvor hatte der zweite Libanon-Krieg begonnen. Ähnlich wie Local Angel blickt Mechilot mit den Augen des Benjamin’schen Engels auf die Geschichte, die sich als eine Kette trau- matischer Ereignisse darstellt, «eine einzige Katastrophe, die unablässig Trüm- mer auf Trümmer häuft.»313 Dass auf eine Traumatisierung die nächste folgt, ist das unerträgliche Reale der Geschichte. Für Sandra Meiri sind die Subjekte der Geschichte «all survivors, involved in some way in the death of others […]».314 311 Aloni, Udi: «Quotes about Forgiveness», http://www.forgivenessthefilm.com/reviews/quotes. html (zugegriffen am 4.1.2016). 312 Zit. nach Yudilovith, Merav: «Slavoj Žižek in Ramallah. Back to the Trauma Zone», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 5. 313 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697. 314 Meiri: «From War to Creation and Redemption: On Udi Aloni’s Local Angel (2002) and For- giveness (2006)», S. 343. 297 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Das utopische Ende des Films teilt den Wunsch des Engels, «die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen.»315 Wie bereits Benjamins For- mulierung ist auch Alonis Fabel vom Konzept des Tikkun inspiriert. Die kabba- listische Vorstellung, dass es mit der Schöpfung zu einem ‹Bruch der Gefäße›, die das göttliche Licht enthielten, gekommen sei und damit zur Entstehung des Bösen, wurde von Isaak Luria im 16. Jahrhundert entwickelt.316 Tikkun ist der Pro- zess der Restitution, an des sen Ende der Messias komme. Die «Errettung aller Dinge»317 ist allerdings nur durch das aktuelle Tun der Menschen möglich, dem so unendliche Bedeutung zuwächst: Der historische Prozeß und dessen geheimste Seele, nämlich die religiöse Tat des Juden, bereiten die endgültige Restitution aller versprengten, ins Exil der Materie gesandten Lichter und Funken vor. […] Jede Tat des Menschen hat Bezug auf diese letzte Aufgabe, die Gott seiner Kreatur aufgetragen hat. […] Wenn eben jedes Ding an seinen rechten Ort gesetzt ist, wenn der Makel an allen Dingen ausgebessert ist, so ist eben das ‹Erlösung›.318 Diese Konzeption kann auch einer national-religiösen Auffassung des Staates Israel als konkreter Gestalt der Erlösung und messianischer Aufhebung des Exils als Grundlage dienen. Bei Aloni wird sie wie bei Benjamin zum Fluchtpunkt einer transgressiven Politik unter mystischen Vorzeichen. Die Gesten von Mechilot verweisen auf eine Einschreibung Israels in den ‹Orient›, in den Nahen Osten. Es soll nicht mehr darum gehen, den palästinensischen Anderen zum Verschwin- den zu bringen, ihn zu dämonisieren oder zu «nazifizieren».319 ‹Mechilot›, Akte von ‹Forgiveness› im Sinne Derridas, überschreiten die Grenze zum Anderen und unterbrechen die Serie traumatischer Wiederholungen. Yosefa Loshitzky: I strongly believe that as long as the memory of Palestinian dispossession is not recognised by Israel, there is no return from the primary scene of the ‹return of the repressed›.320 315 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697. 316 Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 292 ff. 317 Ebd., S. 301. 318 Ebd., S. 300 f.; siehe auch Rose: The Question of Zion, S. 22 ff. 319 Loshitzky: «Pathologising Memory. From the Holocaust to the Intifada», S. 328. So verglich Benjamin Netanjahu immer wieder Arafat mit Hitler und konstruierte ohne jede historische Grundlage eine Komplizenschaft zwischen den Nazis und den Palästinenser*innen bei der Planung der ‹Endlösung›; vgl. Rudoren, Jodi: «Netanyahu Retracts Assertion That Palestinian Inspired Holocaust», The New York Times 30.10.2015: https://www.nytimes.com/2015/10/31/ world/middleeast/netanyahu-retracts-assertion-that-palestinian-inspired-holocaust.html (zugegriffen am 11.7.2017); siehe auch Zertal: Nation und Tod, S. 269 ff. 320 Ebd., S. 335, Anm. 37. 298 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Mechilot wirbt für die Vision eines «common home»321 auf der Basis einer geteilten Liebe zum Land.322 Voraus- setzung für den Ausbruch aus dem Zyklus der Gewalt ist die wechselsei- tige Begegnung mit dem Trauma des Anderen: Die Anerkennung der Shoah durch die Palästinenser*innen323 und 142 Fotografie als Spur: Ein Mädchen aus Deir die Übernahme von Verantwortung Yassin; Screenshot aus Mechilot (TC 00:04:18) für die Nakba durch Israel.324 Cathy Caruth formulierte, that history, like trauma, is never simply one’s own, that history is pre- cisely the way we are implicated in each others traumas.325 Mit der Erinnerung an seine Tat wird David am Ende in einem rasanten fil- 143 Kino als Spektrografie: Der Geist des Mädchens; Screenshot aus Mechilot (TC 00:30:02) mischen Flashforward auch die ge- bannte Möglichkeit eines anderen, katastrophalen Verlaufs seines Schicksals bewusst, den der Film zuvor erzählt hat: Trotz Yaakovs Drängen, noch in der Kli- nik zu bleiben, kehrt er mit seinem Vater nach New York zurück, wo er sich in die Palästinenserin Leila (Clara Khoury) verliebt, die als Modedesignerin arbeitet, allein mit ihrer Tochter Amal lebt und sich als Aktivistin für die palästinensische Sache einsetzt. Trotz des Medikaments, das er sich selbst injizieren muss, wird er von Panikattacken, Flashbacks und Geistererscheinungen eingeholt. In einer akuten Krise identifiziert er die Tochter seiner Geliebten mit dem Mädchen, das er in Ramallah erschossen hat, welches denselben Namen trug: Amal, arabisch ‹Hoffnung›. Ihre Figur steht für die Wiederholung, in der die palästinensische 321 Aloni, Udi: «An Introduction to Binational Thought: Jewish and Palestinian, Arabic and He- brew», Haaretz 12.7.2009. 322 Siehe Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 57 f. und S. 67 f. 323 Siehe Bishara, Azmi: «Die Araber und der Holocaust – Die Problematisierung einer Konjunk- tion», in: Steininger, Rolf (Hg.): Der Umgang mit dem Holocaust: Europa – USA – Israel, Wien u. a.: Böhlau 1994, S. 407–429; weiters Achcar, Gilbert: Die Araber und der Holocaust. Der ara- bisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen, Hamburg: Nautilus 2012. 324 Siehe Lentin, Ronit: Co-memory and melancholia. Israelis memorialising the Palestinian Nakba, Manchester u. a.: Manchester University Press 2010; weiters Bashir, Bashir und Amos Goldberg (Hg.): The Holocaust and the Nakba, A New Grammar of Trauma and History, New York: Colum- bia University Press 2018. 325 Caruth, Cathy: Unclaimed experience. Trauma, narrative, and history, Baltimore: Johns Hop- kins UP 1996, S. 24. 299 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Geschichte gefangen ist: Bei den Gra- bungen in der Klinik war das Foto eines palästinensischen Mädchens aufgetaucht (Abb.  142), das den bei- den Mädchen in Ramallah (Abb.  144) und New York aufs Haar gleicht (und im Film jeweils von Tamara Mansour 144 ‹Amal› in Ramallah; Screenshot aus Mechilot verkörpert wird). Amal zeigt David in (TC 00:04:41) New York alte Fotografien und erzählt ihm die tragische Geschichte von Lei- las Familie, die beinahe vollständig bei einem Massaker – jenem von Deir Yas- sin  – ermordet wurde, und zeigt ihm auch den Schlüssel zu ihrem Haus in Palästina, den ihr die Mutter anver- traut hat. Als David das Medikament absetzt, verfällt er in ein gewalttäti- 145 Amal in New York; Screenshot aus Mechilot ges Acting-out und wird zum ‹Berser- (TC 01:22:16) ker›326 (Abb. 145). Er verfolgt Amal mit der Pistole seines Vaters – einer deutschen Luger aus dem Zweiten Weltkrieg –, wendet diese im letzten Moment jedoch von ihr ab und erschießt sich selbst. Der gewalttätige Wiederholungszwang in dieser Version von Davids Geschichte ent- spricht der Logik des andauernden Krieges in Palästina-Israel. Anders als in anderen Filmen, die als «forking path narrative»327 konstruiert sind, bilden die beiden Versionen der Geschichte Davids, die der Film paralleli- siert, nicht nur kontingente Alternativen, sondern unterschiedliche ethische Wel- ten: einmal ein Universum auswegloser Melancholie, dann ein Universum, in dem Trauer die Möglichkeit der Hoffnung wiederherstellt. Freud zufolge wird in der Trauer die Welt «arm und leer»,328 in der Melancholie hingegen «das Ich selbst».329 Für Jacques Derrida ist Trauerarbeit dem Kino von jeher eingeschrieben: Das Kino ist eine riesige Trauer, eine großartige Trauerarbeit; und es ist be - reit, sich von allen betrauerten Erinnerungen beeindrucken zu lassen.330 326 Vgl. Shay, Jonathan: Achill in Vietnam: Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, Hamburg: Hamburger Edition 1998, Kap. 5. 327 Vgl. Simons, Jan: «Complex narratives», New Review of Film and Television Studies 6/2/2008, S. 111–126; weiters Patell: «Traumatic Memory and Cinematic Syntax», S. 48–51. 328 Freud, Sigmund: «Trauer und Melancholie», in: ds.: Studienausgabe, Band 3, Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 200; siehe auch Illouz: Israel, S. 214–226. 329 Ebd. 330 Derrida: «Le cinéma et ses fantômes», S. 78 (Übers. d. Autors). 300 5.2 Local Angel (2002) und Mechilot (2006) von Udi Aloni Die narrative Verzweigung geschieht nicht zufällig, sondern ist das Ergebnis einer spirituellen Wahl. Im Ausgang der zweiten Variante der Geschichte ist David von dem Zwang befreit, in der Wirklichkeit auszuagieren, was ihm nun während eines Heilungsrituals in albtraumhaften Halluzinationen erscheint. Das utopische Ende des Films ‹virtualisiert› somit die erste, dystopische Version der Geschichte. Im Film ist diese Virtualisierung durch die Doppelung des Bildes als ‹Split screen› angezeigt. Die implizite Philosophie dieses Films, nämlich Realität nicht ‹realistisch›, sondern als wesentlich fiktional verfasst zu denken, unterläuft die klassische Dichotomie von Fakt und Phantasie.331 Mechilot will keine Realitätseffekte erzie- len, sondern die virtuelle Gegenwart des Kinos zur Intervention in Imaginäres und Traumatisches nutzen. Sein Element ist das des Traums, welches mit Derrida wie kein anderes durchlässig ist für die Trauer, die Heimsuchung, das Geister- hafte aller Geister und allen Geistes, die Wiederkehr der Revenants […]. Der Traum ist auch ein gastlicher Ort, der dem Anspruch auf Gerechtigkeit und den unverbrüchlichsten messianischen Hoffnungen Unterkunft gewährt.332 Der Film interveniert mit seinen Gesten und Inszenierungen ins Unbewusste der Betrachter*innen, ähnlich wie die Gesten und Inzenierungen von Yakoovs Ritual auf Davids Seele wirken.333 Judith Butler schrieb über Mechilot, dass aus ihm some hope emerges for a life that is not murdered from the start, whose birth is not implicated in the curse of revenge, whose ability to acknowledge an irreparable loss makes way for another future.334 331 Auch Herzl verortete seine Utopie auf dieser Ebene, wenn er im Nachwort zu Altneuland schrieb, «das Träumen sei immerhin auch eine Auffüllung der Zeit, die wir auf Erden verbringen. Traum ist von Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume.» Herzl: Altneuland, S. 329; siehe Said: Zionismus und palästinen- sische Selbstbestimmung, S. 24 ff.; sowie Rose: The Question of Zion, S. 16 f. und 67 f. 332 Derrida, Jacques: «Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege» [Rede zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am 22. September 2001], Le Monde Diplomatique (dt. Ausgabe) 11.1.2002. 333 Aloni berichtet von einem Gespräch mit Itamar Barnea, einem für die Behandlung von PTSD verantwortlichen Psychologen der israelischen Luftwaffe: «Not only did he see it [Mechilot, Anm. d. Autors] five times, he also forces every psychologist working under him to watch it, and he organizes discussion groups around it. I was very moved when he told me ‹Udi, of course, you have a political aspect in the movie, but you also touch the issue of trauma in soldiers, and I, as a therapist, have to touch it.›» Utin: «Mechilot: Interview with Udi Aloni», S. 153. 334 Butler, Judith: «Foreword», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. XIV; siehe auch Aloni, Udi und Judith Butler: «There are some muffins there if you want …: A Conversation on Queerness, Precariousness, Binationalism and BDS», in: Aloni (Hg): What does a Jew want?, S. 204–227; weiters Butler, Judith: Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a. M./ New York: Campus 2013. 301 5 Der Engel der Geschichte in Palästina-Israel. Filme von Ariella Azoulay und Udi Aloni Politisch ist Mechilot nicht dadurch, dass er zu bestimmten Aktionen, Identi- fizierungen und Parteinahmen aufruft, sondern indem seine «kinematographi- sche Performanz»335 (Félix Guattari) die Anordnungen des Wunsches verändert. Er kapert das ‹kleine Theater des Separatismus›336 und macht eine Politik der Freund- schaft im Nahen Osten denkmöglich und begehrenswert. Udi Aloni: First of all I say, change your heart. If people realize deep inside their hearts that all men are equal; if people believe that the struggle to love the other is a positive struggle, it’s not only a concession; if people will feel in their hearts that Palestinians and Jews are brothers … If the underlying feeling will be such, the facts will fall into place.337 Ella Shohat benannte 1989 in ihrem Buch über die israelische Filmgeschichte Aufgaben eines Kinos im Konflikt: In a situation of conflict, it is the responsibility of the cinema to orchestrate the war of competing discourses, while intimating the long-term possibilities of change.338 Mechilot ist zweifellos ein essayistischer Spielfilm, der diese Verantwortung übernimmt. Darüber hinaus drängt er auf das Eintreten jenes utopischen Mo- ments, ab welchem Shohat zufolge ‹wahre filmische Polyphonie› erst möglich werde: True cinematic polyphony will emerge, most probably, only with the advent of political equality and cultural reciprocity among the three major groups within Israel – European Jews, Oriental Jews, and Palestinian Arabs. But until the advent of such a utopian moment, cultural and political polyphony might be filmically evoked, at least, through proleptic procedures of ‹anticipatory› texts, texts at once militantly imaginative and resonantly multivoiced.339 335 Guattari: «Die Couch des Armen», S. 82. 336 Ebd., S. 95. Guattari spricht an dieser Stelle eigentlich vom «kleinen Theater des Familialis- mus», das den «Produktionen des kinematographischen Unbewußten», den «Injektionen dieser Narrativitätskapseln, die der Film konstituiert, keinen Widerstand» zu leisten vermöge. 337 Interview mit Udi Aloni in Behind the Scenes (ISR/USA 2006, R: Manny Philip), der Making of-Dokumentation zu Mechilot auf der DVD-Edition des Films (United King Films 2006). 338 Shohat: Israeli cinema, S. 247. 339 Ebd. 302 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman1 Das sah ich und mußte es glauben, trotzdem es unbegreiflich war. Niemand will so viel Reformen durchführen wie Kinder. Franz Kafka, Fragment aus dem Nachlass (1916)2 Im November 1947 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 181 die Teilung des britischen Mandatsgebietes in Palästina west- lich des Jordans in zwei Staaten: einen jüdischen und einen arabischen. Als am 14. Mai 1948 ihr Mandat endete, zogen sich die Briten zurück und der Vorsitzende der Jewish Agency, David Ben-Gurion, rief den Staat Israel aus. Daraufhin erklärten die arabischen Nachbarstaaten den Krieg. Es war «ein langer Tag mit vielen Ereig- nissen, die bis heute das Schicksal mehrerer Millionen Menschen bestimmen.»3 In Israel wird er seither als Unabhängigkeitstag, hebräisch Yom ha’atzma’ut, gefei- ert. Aus palästinensischer Perspektive war es der Tag der Katastrophe, arabisch Yom an-nakba, der auf Initiative von Jasser Arafat seit 1998 ebenfalls als mnemo- 1 Dieses Kapitel basiert auf einer Präsentation im Rahmen der von Julia B. Köhne in Zusammen- arbeit mit Michael Elm und Kobi Kabalek organisierten Konferenz ‹The Horrors of Trauma. Vio lence, Reenactment, Nation, and Film› an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beer- Sheva/Israel im Mai 2012; siehe Grabher, Peter: «Beyond Trauma: Aesthetic Strategies of ‹Minor Cinema› within the Liminal Space of Palestine (Ula Tabari, Elia Suleiman)», in: Elm, Michael, Kobi Kabalek und Julia B. Köhne (Hg.): The Horrors of Trauma in Cinema. Violence Void Visualization, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2014, S. 224–250. 2 Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente 2, S. 8. 3 Lakitsch, Maximilian: «Walter Benjamins Engel der Geschichte und der katastrophische Sturm des Fortschritts durch das Deutsche Reich, die Weimarer Republik und Palästina», in: Mader, Gerald u. a. (Hg.): Am Anfang war die Vision vom Frieden: Wegweiser in eine Zukunft jenseits von Krieg und Gewalt, Wien: Kremayr & Scheriau 2016, S. 129–147, hier S. 140. 303 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman politischer Gedenktag begangen wird. Seit den 1990er-Jahren wurde die öffentli- che Memorialisierung der Nakba immer stärker akzentuiert. ‹Tag der Unabhän- gigkeit› oder ‹Tag der Katastrophe›? In dieser Frage ist das ganze Nahostproblem enthalten. Die kollektiven Spannungen, die in diesem Datum gebündelt sind, bil- den den Ausgangspunkt für die Filme, die in diesem Kapitel untersucht werden. Die Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman bringen das Gewicht persönlicher Erfahrungen und eine Vielzahl künstlerischer Mittel in eine symbolische Ausein- andersetzung um Erzählungen, Bezeichnungen und Bilder ein. Das Kapitel stellt die Frage, wie sie durch den Gebrauch unterschiedlicher ästhetischer Strategien zwischen Dokument und Fiktion auf eine Situation reagieren, die man als ‹paläs- tinensische Kondition› bezeichnen könnte. Es geht zunächst darum, die imma- nenten Bedingungen nachzuvollziehen, von denen aus palästinensische Künst- ler*innen arbeiten. Für beide Filmemacher*innen sind Väter und Mütter zentrale Figuren, die in ihren Filmen persönlich oder als fiktionale Doubles erscheinen. Deren Lebens- geschichten und persönlichen Archive – Erzählungen, Briefe, Fotos, Physiogno- mien – bilden den Kristallisationspunkt für ihre unterschiedlichen künstlerischen Projekte. Beide beziehen sich auch empathisch auf die gerade heranwachsende Generation und konstruieren in ihren Filmen auf diese Weise ein intergeneratio- nelles Archiv. Während Elia Suleiman The Time That Remains (2009) drehte, setzte Ula Tabari im selben Jahr ihre Private Investigation (2002) mit dem Film Jinga48 (2009) fort. Alle drei Filme beschäftigen sich mit der Konstruktion paläs- tinensischer Identitäten und kollektiver Narrative, indem sie die Gegenwart mit der Vergangenheit kurzschließen, mit einer ‹Zeit, die bleibt›: den traumatischen Ereignissen von 1947/48 in Suleimans essayistischem Spielfilm und Tabaris erstem essayistischen Dokumentarfilm bzw. mit den Erinnerungen an den palästinensi- schen ‹Land Day› am 30. März 1976 in Tabaris zweiter filmischer Recherche. Sowohl Tabari als auch Suleiman wurden in Nazareth geboren, besitzen einen israelischen Pass und leben heute in Paris. Bezeichnet man ihre soziale Zuge- hörigkeit mit dem Etikett ‹arabische Minderheit in Israel›, ist man bereits beim Kernproblem dieser Künstler*innen: Beide stellen als ästhetische Aktivist*innen hegemoniale israelische Diskurse über Identität und Erinnerung in Frage. Beide begannen 2009 ihre Narration mit einer Reise von Frankreich nach Israel, wo sie sich beide zunächst nächtens in einem Taxi von Tel Aviv nach Nazareth wieder- finden, in einer vom schwarzem Humor einer arabisch-sprachigen Radio-Show geprägten Atmosphäre bei Tabari bzw. in düsterer Desorientierung während eines ‹biblischen› Gewitters bei Suleiman (Abb. 146–147). Sie übersetzen diese initiale Bewegung im Raum in eine Bewegung auf der historischen Zeitachse. Obwohl sie dabei filmästhetisch ganz unterschiedlich vorgehen, setzen beide auf ein radikales subjektives und körperliches Engage- ment, indem sie ihre eigene Person jeweils ins Zentrum ihrer Filme stellen. Beide 304 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman 146–147 «Was ist das für ein Ort?» Von Paris nach Tel Aviv und Nazareth: Tabari und Suleiman bereisen das ‹Terrain vague› Palästina-Israels; Screenshot aus Jinga48 (TC 00:02:55) und The Time That Remains (TC 00:03:45) tauchen darin als Protagonist*innen der narrativen Konstruktion auf und ver- körpern damit eine intergenerationelle Zwischenposition: In Distanz zu den his- torischen Erfahrungen der ersten Generation ihrer Eltern, deren Biografien durch die Chiffre ‹Nakba› umrissen wird, als auch in empathischer Distanz zu einer im Werden begriffenen dritten Generation, vollführen sie innerhalb einer inter- mediären Gegenwart relativ einsam ihre künstlerischen Manöver. Die Arbeiten beider Filmemacher*innen könnten deswegen gewiss als Zeugnisse einer Arbeit der ‹Postmemory› (Marianne Hirsch) beschrieben werden, als Äußerungen einer zweiten Generation, die auf starke traumatische Erfahrungen antworten, that preceded their births but that were nevertheless transmitted to them so deeply as to seem to constitute memories in their own right.4 Wir möchten die Arbeiten Tabaris und Suleimans allerdings nicht in dieser Per- spektive der ‹Postmemory› beschreiben, sondern als Beispiele eines ‹minoritären Kinos›. Gilles Deleuze prägte diesen Begriff im zweiten Band seines Kinobuchs, am Ende eines Abschnitts über ‹Das Denken und das Kino›.5 Welchen Vorteil bietet dieser filmtheoretische Rahmen gegenüber den Konzepten von Trauma, Absenz, Gedächtnis und Identität, die im Kontext des palästinensischen (und auch israeli- schen) Kinos immer wieder stark gemacht werden?6 Eine solche Perspektive hilft, deutlicher wahrzunehmen, dass die Thematik des individuellen oder kollektiven Traumas in den fraglichen Filme überschritten wird und dass ihr künstlerisches Handeln auf der Suche nach Optionen für zukunftshaltiges Handeln ist. So kann vermieden werden, die ästhetische Arbeit der Filme zu entpolitisieren und sie auf Bekundungen individueller Melancholie oder kollektiver Trauer zu reduzieren. Mit Deleuze liegt das Augenmerk darauf, dass in diesen Filmen nicht nur histori- 4 Hirsch, Marianne: «The Generation of Postmemory», Poetics Today 29/1/2008, S. 103–128, hier S. 103. 5 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 277 ff. 6 Vgl. etwa Bresheeth, Haim: «A Symphony of Absence: Borders and liminality in Elia Suleiman’s Chronicle of A Disappearance», Framework 43/2/2002, S. 71–84. 305 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman sche Traumata repräsentiert, sondern zugleich aktuelle Werdensprozesse präsen- tiert werden, die potenziell auch Zuschauer*innen affizieren können. ‹Trauma› ist mit Deleuze als eine Begegnung mit dem ‹Unerträglichen› zu verstehen, das nicht durch ein psychoanalytisches Erinnern und Durcharbeiten, sondern durch ein «Revolutionär-Werden»7 überwunden werden kann. Deleuze bezeichnete dieses mit Blick auf Primo Levi als die «einzige Chance der Menschen», durch die «die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden»8 kann, sei es in politischen oder künstlerischen Bewegungen, auf der Straße oder im Kino- saal. Mit welcher Konstellation haben es Tabari und Suleiman zu tun? Von der Ver- öffentlichung des UN-Teilungsplans für Palästina im November 1947 bis zu den Ereignissen um den 15. Mai 1948 verließen etwa 750.000 Menschen, also etwa zwei Drittel der arabischen Einwohner*innen Palästinas ihre Heimat.9 Tausende Häuser wurden zerstört, 418 Dörfer verwüstet oder enteignet.10 Das urbane Leben der arabischen Bevölkerung hörte praktisch zur Gänze auf. Wie viele Menschen aus welchen Motiven zwangsumgesiedelt, gewaltsam vertrieben oder getötet wur- den, ist bis heute Gegenstand eines Historikerstreits.11 Unumstritten ist, dass den Ereignissen kein – jüdischer oder arabischer – Masterplan zugrunde lag,12 dass jedoch im zionistischen Diskurs die Idee eines ‹Transfers› der arabischen Bevöl- kerung bereits existierte.13 Diese später mit dem Namen ‹Nakba› bezeichneten Ereignisse führten zur Fragmentierung einer ganzen Gesellschaft14 und dem Ver- schwinden eines Landes aus der Geschichte, den Landkarten und Schulbüchern.15 Arabische Namen von Städten, Dörfern, Hügeln und Flüssen wurden gelöscht.16 7 Deleuze, Gilles: «Kontrolle und Werden. Gespräch mit Toni Negri», in: ds.: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 245. 8 Ebd. 9 Vgl. Peace Research Institute in the Middle East: Side by side: parallel histories of Israel-Palesti- ne, New York: The New Press 2012, S. 119. 10 Vgl. ebd., S. 121. 11 Vgl. Timm: Israel, S. 249 ff.; weiters Bunzl: Israel im Nahen Osten. Eine Einführung, S. 125 ff.; sowie Morris, Benny: The birth of the Palestinian refugee problem: 1947–1949, Cambridge u. a.: Cambridge UP 1989; Morris, Benny: «Revisiting the Palestinian Exodus of 1948», in: Rogan, Eugene L. (Hg.): The war for Palestine: rewriting the history of 1948, Cambridge: Cambridge UP 2001, S. 12–36; weiters Gelber: Palestine, 1948; sowie Masalha: The politics of denial. 12 Vgl. Kimmerling/Migdal: The Palestinian people, S. 135. 13 Vgl. Bunzl: Israel im Nahen Osten. Eine Einführung, S. 137 f.; sowie Morris: «Revisiting the Palestinian Exodus of 1948», S. 39 ff. 14 Vgl. Kimmerling/Migdal: The Palestinian people, S. 165 ff. 15 Siehe Nasser, Riad M.: Palestinian identity in Jordan and Israel: the necessary ‹other› in the making of a nation, New York u. a.: Routledge 2005, Kap. 3: School Textbooks and the Politics of Identity. 16 Siehe Benvenisti, Meron: Sacred landscape: the buried history of the Holy Land since 1948, Ber- keley: University of California Press 2000; siehe auch Darwish, Mahmoud: Palästina als Meta- pher. Gespräche über Literatur und Politik, Heidelberg: Palmyra 1998, S. 21 f. 306 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Die Chiffre ‹1948› verweist auf ein traumatisches Ereignisuniversum, dessen Nachwirkungen immer noch andauern – der Krieg von 1947/48 scheint nie auf- gehört zu haben. Zwei Berichte werfen ein grelles Licht in diese komplexe histo- rische ‹Trauma zone› (Udi Aloni):17 Der in England lebende Filmwissenschaftler Haim Bresheeth etwa kam 1946 als Kind von Überlebenden von Auschwitz-Bir- kenau in einem ‹DP Camp› in der Nähe von Rom zur Welt. Er erinnerte sich 2011: We arrived in Israel in June 1948, on the first boat which entered Israel after its independence in May 1948. […] My mother and I stayed in the refugee centre in Atlith, until the end of the fighting, when we were all re-housed in a flat at Jebaliya (later to be re-named as Giva’at Aliya …) to the South of Jaffa, which was of course the former home of a Palestinian family, expelled with thousands of others when the Irgun has conquered Jaffa and forcibly got rid of its indigenous population, most of whom boarded fishing vessels trying to reach Gaza or Lebanon. Many were lost at sea.18 Er berichtet, dass er als Kind die Erfahrung eines Zusammenlebens machte, das im neuen Staat nicht zum Modell werden sollte: The neighbourhood was most unusual in the Israeli context  – the newly- housed survivors of the camps who made the majority of the population, shared the lovely town with few Palestinian families who have stayed behind, making some of the poorest population of the new state. Jews have shared a school with the Palestinian Arab children, and Arabic was taught as well as Hebrew. None of this could happen today.19 Der zweite Bericht stammt von Yoram Kaniuk, dem Autor von Adam Resurrec- ted.20 In seinem autobiografischen Roman 1948 von 2010 schildert er das Auf- einandertreffen von verzweifelten Überlebenden der Shoah und verzweifelten vertriebenen Palästinenser*innen, dessen Zeuge er als 18-jähriger Soldat der isra- elischen Armee wurde. Als er bei Ramla (arab. Ramleh) auf Vertriebene trifft, kommt es zu einem bestürzenden Dialog mit einem anderen Soldaten der IDF: Ich fragte ihn, wer diese Menschen seien, die mich sehnlich anblickten, um meine Aufmerksamkeit zu erheischen und mich um Erbarmen zu bitten. Der Soldat sagte: Die sind nix! Araber! Wollen zurück nach Ramla. Dürfen aber nicht. Ich fragte ihn: Wer hat das verboten, es ist ihre Stadt gewesen. Er antwortete: Sei kein 17 Vgl. S. 278; siehe auch Raz-Krakotzkin: Exil und Binationalismus, S. 48 f. 18 Bresheeth, Haim: «Short web-interview with Prof. Haim Bresheeth, of the One State in Palesti- ne group», Dialogue – Review for Discussion between Arab and Jewish Activists of Palestine 13 / Juni 2012, S. 5–6, hier S. 5. 19 Ebd. 20 Siehe S. 287. 307 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Dummkopf, sie ist es nicht mehr. Er lächtelte mich an, als hielte er mich für geist- esschwach. […] Ich war ein Mittäter und hatte das Gefühl, dass mein Gewissen, das mich in meiner Jugend stets verlässlich begleitet hatte, im kritischen Augen- blick eingedämmert war. Aber was hätte ich denn tun sollen? Den Soldaten eines Staates bekämpfen, zu dessen Gründung ich eben erst beigetragen hatte?21 Zwei Tage später wurde Kaniuk Zeuge, wie 1.500 Überlebende der NS-Vernich- tungslager – «Menschen, die einer anderen Kosmologie entstammten»22 – die lee- ren arabischen Häuser in Besitz nahmen: Zwei Tage später, kurz bevor wir wieder in den Negev verlegt werden sollten, wo die Kämpfe wieder ausgebrochen waren, tauchte aus der Dunkelheit eine Lastwagenkolonne auf. Es waren alte Laster, das laute Rumpeln ihrer Räder war von weitem zu hören. […] Als die Laster hielten, sprangen Menschen heraus, derengleichen ich noch nie gesehen hatte. Mitten im erez-israelischen Sommer trugen sie mehrere Schichten dunkler, ausgefranster, zerrissener, verblichener Winterkleidung übereinander, dazu komische Hüte, Schirmmützen und Baretts wie in alten Filmen. Sie schrien und redeten in vielen Sprachen durcheinander: Bulgarisch, Polnisch, Russisch, Griechisch, Jiddisch, Deutsch. […] Sie gingen nicht auf die leeren Häuser zu – sie stürzten sich drauf! Sie erstürmten sie hung- rig, gierig, während die Eigentümer fern hinterm Zaun standen, sich sehnlich zurückwünschten oder vielleicht schon resigniert hatten und in langen Strömen ins Ungewisse zogen. […] Sie suchten sich einen Platz an der Sonne! Die ara- bische Sache war ihnen fremd. Interessierte sie auch nicht. Auf meine nerven- den Fragen antworteten sie: Wenn diese Flüchtlinge einen Ort haben, an den sie gehen können, dann sind sie doch fein raus! Wir haben über zehn Jahre hin- ter Stacheldrahtzäunen verbracht. Was versteht ein Sabre wie du schon davon!23 Europa zu verlassen und in einem jüdischen Staat neu zu beginnen, war für viele Jüdinnen und Juden nach 1945 die einzige vitale Zukunftsperspektive. ‹Shoah› und ‹Nakba› sind Namen für inkommensurable Ereignisse, deren Aufrechnung und Vergleich unmöglich und anstößig ist. Edward Said: «Wer würde Massenvernich- tung moralisch mit Massenenteignung gleichsetzen?»24 Dennoch bildet der Zusam- menhang der beiden Ereignisse den Kern der israelisch-palästinensischen Trauma- zone, aus der zwei radikal inkompatible Erzählungen hervorgingen:25 21 Kaniuk, Yoram: 1948, übers. v. Ruth Achlama, Berlin: Aufbau 2013, S. 200 f. 22 Ebd., S. 202. 23 Ebd., S. 201 f. 24 Said: Das Ende des Friedensprozesses, S. 153. 25 Neben Udi Aloni versuchten auch andere israelische Filmemacher*innen wie Avi Mograbi (Happy Birthday, Mr. Mograbi, 1999) oder Yulie Cohen (My Zion, 2004) die Konjuktion von Shoah und Nakba essayistisch in den Blick zu nehmen; vgl. Dittmar, Linda: «In the Eye of 308 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman The narrative of building and that of destruction, the narrative of immigra- tion […] to the Promised Land and that of expulsion and exile.26 Für Jacqueline Rose «the word ‹and› in this context issues a challenge, uncovers an often-silenced history and makes links that for many will be scandalous, unwelco- me.»27 Aus palästinensischer Sicht mündete die Konjunktion von Shoah und Nakba in souveräne Staatlichkeit auf der einen und subalterne Staatenlosigkeit auf der anderen Seite. Der gewaltsame Zusammenprall von österreichisch-deutscher, jüdi- scher und arabischer Geschichte in Palästina führte Edward Said zufolge dazu, dass Generationen palästinensischer Araber […] zusehen [mußten], wie sich vor ihren Augen ein Entwurf entfaltete, dessen ursprüngliche Verknüpfung mit der jüdischen Geschichte, den grausamen Erfahrungen der Juden, durch die Vorgehensweise in Palästina nahezu unkenntlich wurde.28 2002, wenige Jahre vor seinem Tod, benannte Said noch einmal den Konnex von Shoah und Nakba und schloss dabei in bitteren Worten die Verantwortung der Europäer*innen mit ein: Was den Juden Europas […] widerfuhr, war eine Katastrophe, für die das palästinensische Volk – das an der Katastrophe keinen Anteil hatte – mit der Zerstörung seiner Gesellschaft im Jahre 1948 und ab 1967 mit der militäri- schen Okkupation des ihm verbliebenen Landes bezahlen musste.29 In den letzten Jahren wurde in der Historiografie zu Palästina-Israel im Zuge des ‹Narrative turn› ein «dual-narrativer»30 Zugang entwickelt, der versucht, beide Perspektiven zusammenzudenken. Im Zentrum stehen die Interdependenzen zwischen israelisch-jüdischen31 und arabisch-palästinensischen Narrativen,32 die the Storm: The Political Stake of Israeli i-Movies», in: Lebow, Alisa (Hg.): The Cinema of Me. The Self and Subjectivity in First-Person Documentary, London u. a.: Wallflower 2012, S. 158–179. 26 Dittmar, Linda: «In the Eye of the Storm: The Political Stake of Israeli i-Movies», S. 174. 27 Rose, Jacqueline: «Afterword: The Holocaust and the Nakba», in: Bashir, Bashir und Amos Goldberg (Hg.): The Holocaust and the Nakba. A New Grammar of Trauma and History, New York: Columbia University Press 2018, S. 353–361, hier S. 353. 28 Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 95. 29 Said: Das Ende des Friedensprozesses, S. 29. 30 Vgl. die Einleitung von Sami Adwan und Dan Bar-On zu: Peace Research Institute in the Middle East: Side by side. 31 Siehe Bar-Tal, Daniel: «Israeli-Jewish narratives of the Israeli-Palestinian conflict: evolution, con- tents, functions, and consequences», in: Rotberg, Robert I. (Hg.): Israeli and Palestinian narra- tives of conflict. History’s double helix, Bloomington: Indiana UP 2006, S. 19–45. 32 Siehe Jawad, Saleh Abdel: «The Arab and Palestinian Narratives of the 1948 War», in: Rotberg, Robert I. (Hg.): Israeli and Palestinian narratives of conflict. History’s double helix, Blooming- ton: Indiana UP 2006, S. 72–114. 309 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman eine Art geschichtliche ‹Doppelhelix›33 bilden. Dabei entstand das palästinensi- sche Selbstverständnis auch in Reaktion auf den Zionismus, die jüdische Einwan- derung und die Gründung Israels.34 Avraham Sela und Alon Kadish haben auf die Analogien zwischen palästinensischem und israelischem Narrativ hingewiesen: In recent decades the unifying narrative adopted by the Palestinian national movement has increasingly mirrored the Israeli one in both structure and con- tents. Similarly to the Zionist-Israeli framing of Jewish historical narrative along contrasting gravities of destruction (hurban) and redemption (ge’ula), Holocaust (shoah) and rebirth (tekuma), exile (galut) and return to Zion, the Palestinian historical narrative draws on catastrophe (nakba) and defeat as well as on rebellion/revolution (thawra) and resistance (muqawama), exile (ghurba, shatat), and return (’awda). These parallels culminated in the growing Palestin- ian tendency since the late 1990s to draw an analogy between the Holocaust and the nakba in their claim for international recognition of their collective trauma, suffering, and the historical injustice Israel had done to the Palestinians.35 Während die Flüchtlinge sich in der Staatenlosigkeit eines, wie sich bald heraus- stellte, nicht vorübergehenden, sondern dauernden Exils wiederfanden, wurden andere auf ihrem eigenen Land und in ihren eigenen Häusern zur Minderheit inner- halb des neuen Staats. Der administrative Ausdruck ‹Internal Refugees› benennt den aporetischen Status dieser Bevölkerungsgruppe, einem «Dorn im Fleisch Isra- els», wie sie 1960 in Chris Markers Description d’un combat genannt wurde. Sowohl Ula Tabari als auch Elia Suleiman sind Nachkommen von Palästinen- ser*innen, die zu ‹Internal Refugees› bzw. ‹Present Absentees› gemacht wurden. So bezeichnete die israelische Armee Menschen, die während des 1. israelisch-arabi- schen Krieges von ihren Wohnorten geflohen oder vertrieben worden sind, aber innerhalb des Gebietes blieben, das nun zum Staat Israel gehörte. ‹Present Absen- tees›  – also ‹anwesende Abwesende›36  – wurden auch als ‹Internally Displaced Palestinians› (IDPs) bezeichnet, wobei sich dieser Name auch auf deren Nachkom- men bezog.37 Insgesamt betraf der Status des ‹Present Absentee› – für Edward Said 33 Edward Said forderte bereits 2001 eine gedoppelte historische Narration, vgl. ds.: «Afterword: the consequences of 1948», in: Rogan, Eugene L. (Hg.): The war for Palestine: rewriting the his- tory of 1948, Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 206–219, hier S. 217 ff.; siehe wei- ters Bar-On, Mordechai: «Conflicting Narratives or Narratives of a Conflict. Can the Zionist and Palestinian Narratives of the 1948 War Be Brigded?», in: Rotberg (Hg.): Israeli and Palesti- nian narratives of conflict, S. 142–173. 34 Vgl. Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 129. 35 Sela, Avraham und Alon Kadish: «Israeli and Palestinian Memories and Historical Narratives of the 1948 War. An Overview», Israel Studies 21/1/2016, S. 1–26, hier S. 6. 36 Siehe Kaniuk: 1948, S. 201. 37 Vgl. Kimmerling/Migdal: The Palestinian people, S. 170–180. 310 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman «eine juristische Fiktion von Kafkaesker Subtilität»38– 60.000 bis 156.000 Men- schen, je nach Quelle.39 In Markers von Kafka inspiriertem Israel-Film war diese Seite der Geschichte völlig im Dunkeln geblieben. Mit Notstandsverordnungen und Gesetzen wurde der Rückkehr der früheren Bewohner*innen ein Riegel vor- geschoben und ihr Land in vielen Fällen einfach konfisziert.40 Heute sind etwa 1,2 Mio. Menschen, ca. 20 % der Bevölkerung Israels, auf diese Weise Staatsbürger*innen und Fremdkörper, Insider und Outsider zugleich. Mit Blick auf die Dreyfus-Affäre schrieb Eva Illouz über den Rechtsstatus dieser Gruppe: Die Araber in Israel sind Inhaber einer Staatsbürgerschaft, doch ist diese lediglich ein leeres bürokratisches Faktum. Sie gleicht eher der einer ethni- schen Enklave im Osmanischen Reich als der des inklusiven Universalismus der französischen Staatsbürgerschaft.41 Die Ereignisse von 1947/48 strukturieren den Alltag und das kollektive Gedächt- nis dieser Bevölkerungsgruppe bis heute.42 Schon die Bennenung ihrer eigenen Geschichte wird von den israelischen Behörden als gefährlich erachtet. Öffent- liches Gedenken der ‹Nakba› wird streng kontrolliert und seit 2011 durch ein Gesetz sanktioniert.43 Im selben Moment kontrollierte Israel bereits Gebiete, die doppelt so groß waren, wie jene, die ihm die UNO 1947 zugedacht hatte. Palästinensische Filmemacher*innen sind gezwungen, sich künstlerisch mit einem Trauma auseinanderzusetzen, das kein distinktes Objekt in der Zeit ist, das aus siche- rer Distanz behandelt werden könnte. Zu nah ist eine Vergangenheit, deren Folgen seit sechzig Jahren nicht aufhören, jede Generation aufs Neue zu (re)traumatisieren.44 38 Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S.  116 f. Zur arabischen bzw. paläs- tinensischen Kafka-Rezeption siehe Botros, Atef: Kafka. Ein jüdischer Schriftsteller aus ara- bischer Sicht, Wiesbaden: Reichert 2009; sowie Knoblauch, Elisabeth und Atef Botros: «Franz Kafka: ‹Man las ihn oder wurde Islamist›», Die Zeit 5.5.2010: https://www.zeit.de/kultur/litera- tur/2010-05/kafka-arabische-welt/komplettansicht (zugegriffen am 21.5.2020); weiters Hanssen, Jens: «Kafka and Arabs», Critical Inquiry 39/1/2012, S. 167–197; und Mondzain, Marie-José: K comme Kolonie. Kafka et la décolonisation de l’imaginaire, Paris: La Fabrique Éditions 2020. 39 Vgl. Abu-Lughod/Sa’di: Nakba: Palestine, 1948, and the Claims of Memory, S. 3. 40 1949: ‹Law for the Requisitioning of Property in Time of Emergency›, 1950: ‹Absentee’s Proper- ty Law›, 1953: ‹Land Aquisition Law›, 1958: ‹Presciption Law› (‹Verjährungsgesetz›); vgl. Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 116 f. 41 Illouz: Israel, S. 106. 42 Vgl. Abu-Lughod/Sa’di: Nakba: Palestine, 1948, and the Claims of Memory. Zur Ethik der Me- morialisierung der Nakba vgl. auch Ahmad H. Sa’adis Nachwort in diesem Band; weiters Said, Edward W.: «Invention, Memory, and Place», Critical Inquiry 26/2/2000, S. 175–192. 43 Das ‹Nakba Law› verbietet subventionierten NGOs, Israels Unabhängigkeitstag als Tag der Trau- er zu begehen; vgl. Gutman, Yifat: Memory Activism: Reimagining the Past for the Future in Isra- el-Palestine, Nashville TN: Vanderbilt University Press 2017, Kap. 4, weiters Illouz: Israel, S. 58 ff. 44 Hans Keilsons Konzept des sequenziellen Traumas betont den Prozesscharakter von Traumatisierungen und lenkt den Blick vom primären Trauma in Richtung späterer 311 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Die ‹palästinensische Kondition› demoliert das Bild der Zukunft: Sie verspricht nicht Offenheit und Hoffnung, sondern Beckett’sches Warten und fatalistische Erwartung neuer Rückschläge. Honaida Ghanim spricht von einem «state of alienation»,45 der aus einer planvollen «policy of irresolution»46 resultiere. Diese Entfremdung suspen- diere die Vergangenheit als produktive Ressource, wie auch die Potenzialität der Gegenwart als Kern möglicher Zukünfte. Palästinensische Subjekte seien in einer unheimlichen historischen Zirkularität gefangen, sie befänden sich in einem existen- ziellen ‹Loch›, wie Ghanim – sich dabei auf Walter Benjamin beziehend – ausführt: The Palestinian present is occupied with itself and loaded with its moment, as well as with its immediate consequences, a stubborn tragedy in its continuing reiteration of its particular versions of tragedy. In the ‹hole› the present is not a balcony anymore that surrounds a time-place that is generative of multiple narratives of the past (the paradise of Palestine, the home of lemons and many colors). […] Rather it is the triumph of the abstract ‹now› over temporal possi- bility, and the freezing of the moment on the edge of the tragedy, while waiting for the (un)coming resolution – no one knows how or when it will come, or if it will come at all, paralleling Walter Benjamin’s messianic moment, in which the dialectic freezes whilst we wait for messianic salvation.47 Die palästinensische Erfahrung in Israel, in den besetzten Gebieten und in der Diaspora ist eine Erfahrung von Liminalität. Der Begriff meint einen subjekti- ven Status, der dauerhaft zwischen zwei existenziellen Ebenen situiert ist. Er bezieht sich auf Übergangssituationen und Bedingungen, die durch die Aufhe- bung von etablierten Strukturen, die Umkehrung von Hierarchien und Unsi- cherheit hinsichtlich der Kontinuität von Traditionen und Zukunftserwartungen gekennzeichnet sind.48 Liminalität generiert notwendigerweise Widersprüche, Dilemmata und Double binds in allen Lebensbereichen. Sie führt zu einer Irreali- sierung, die der palästinensische Regisseur Hany Abu-Assad einmal so beschrie- ben: «When occupation becomes daily life, reality becomes like fiction.»49 Liminalität betrifft die palästinensische Minderheit in Israel in besonde- rer Weise. Neben sozialen Ungerechtigkeiten in den Bereichen Landbesitz, Re- Traumatisierungen; vgl. Keilson, Hans: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Unter- suchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen [1979], Gießen: Psychosozial-Verlag 2005. 45 Ghanim, Honaida: «The Urgency of a New Beginning in Palestine: An Imagined Scenario by Mahmoud Darwish and Hannah Arendt», College Literature 38/1/2011, S. 75–94, hier S. 77. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 84. 48 Von lat. ‹limen›, Schwelle. Zum Konzept der Liminalität siehe Thomassen, Bjorn: Liminality and the modern: living through the inbetween, Farnham: Ashgate 2014. 49 Ramsey, Nancy: «Drama Finds a Palestinian Filmmaker», New York Times 12.6.2003, http://www.nyti- mes.com/2003/06/12/movies/drama-finds-a-palestinian-filmmaker.html (zugegriffen am 3.4.2015). 312 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Steuerpolitik, politische Partizipation und Bürgerrechte50 sind für die ästhetische Produktion vor allem jene Liminalitätseffekte von Bedeutung, die Prozesse der Subjektivierung selbst betreffen: In zeitlicher Hinsicht leben palästinensische Sub- jekte in einer entleerten Gegenwart. Sie erfahren sich als von der Vergangenheit abgeschnitten und von der Zukunft ausgesperrt. Im Gegensatz zur Zukunftshal- tigkeit Israels erleben sie für Edward Said «den endgültigen Exodus aus ihrer eige- nen und jeder anderen Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.»51 In räumlicher Hinsicht heißt «sich bewußt als Palästinenser fühlen, […] seit 1948 in einer Utopie, in einem nichtvorhandenen Raum leben zu müssen.»52 Jeder Versuch des Subjekts, sich und die eigene Identität territorial zu situieren, führt in einen Widerspruch, denn es muss sich – exiliert in der eigenen Heimat – sagen: Ich bin von hier, meine Wurzeln sind hier, aber auch: Ich bin am falschen Ort, gehöre hier nicht her53 – ein «Schwebezustand im Niemandsland» (Edward Said).54 Auf der Ebene repräsentativer Politik gerät bereits die Existenz einer arabi- schen Minderheit mit der Idee eines demokratischen und jüdischen Staates in Konflikt. Dieser muss dazu tendieren, «demokratisch für die Juden und jüdisch für den Rest»55 zu sein, wie es der palästinensische Knesset-Abgeordnete Ahmed Tibi einmal ausdrückte. 2018 wurde von der Knesset das ‹Basic Law› verabschie- det, das den ausschließlich jüdischen Charakter des Staates Israels festschreibt, dem Arabischen seinen Status als offizielle Landessprache nimmt, Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt reklamiert und demokratische Rechte von Minderheiten, insbesondere der arabischen, weiter einschränkt. Diese ist mit Diskriminierung und Integrationsdruck konfrontiert, aber auch von Palästinenser*innen außer- halb Israels wird sie immer wieder mit Misstrauen gesehen.56 Die Liminalität der palästinensischen Kondition führt schließlich zur Unmög- lichkeit einer allgemein anerkannten Benennung der ‹israelisch-arabischen Min- derheit›. So ist die Existenz dieser Bevölkerungsgruppe in vielfältiger Weise 50 Siehe Ganim, Asad: The Palestinian-Arab minority in Israel, 1948–2000. A political study, Alba- ny: State University of New York Press 2001. 51 Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 116; vgl. auch S. 163 f. 52 Ebd., S. 136. 53 Vgl. Timm: Israel, S. 58 ff.; weiters Bligh, Alexander: The Israeli Palestinians: an Arab minority in the Jewish state, London u. a.: Cass 2003. 54 Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 164. 55 Lis, Jonathan: «MK Tibi: Israel Is Democratic for Jews, but Jewish for Arabs», Haaretz 22.12.2009, http://www.haaretz.com/news/mk-tibi-israel-is-democratic-for-jews-but-jewish-for-arabs-1.1603 (zugegriffen am 21.3.2016). In einer Knesset-Rede am Holocaust Memorial Day verurteilte Tibi die in der arabischen Welt weitverbreitete Leugnung der Shoah, vgl. Lis, Jonathan: «Arab MK Slams Holocaust Denial, Wins Praise From Jewish Colleagues», Haaretz 27.1.2010: http://www.haaretz. com/news/arab-mk-slams-holocaust-denial-wins-praise-from-jewish-colleagues-1.262205 (zuge- griffen am 21.3.2016); weiters Bligh: The Israeli Palestinians, S. 165 ff. und 212 ff. 56 Vgl. Bligh: The Israeli Palestinians, S. 165 ff., 212 ff., S. 27 ff., 229 ff. und 249 ff. 313 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman von Unmöglichkeiten bestimmt. Seit dem Ende der 1950er-Jahre bezeichnet der Name ‹Palästinenser› das Begehren, diese kollektiv zu überwinden.57 Dabei kam dem Kampf gegen Verschwinden, Unsichtbarkeit, Irrealisierung und Verleugnung besondere Bedeutung zu. Edward Said: It became obvious to me that the relationship of Pa- lestinians to the visible and the visual was deeply 148 Das militante Logo der problematic. In fact, the whole history of the Pales- palästinensischen Film- tinian struggle has to do with the desire to be visi- Organisation: AK-47, Olivzweig ble. Remember the early mobilizing phase of Zion- und Filmrollen, Le palestine et le cinéma (1977) ism: ‹We are a people without a land going to a land without people›? It pronounced the emptiness of the land and the non-existence of a people.58 Tatsächlich verlegte sich die territorial besiegte PLO nach 1967 zunehmend aufs mediale Feld, wo sie kontinuierlich Terrain gewann. Ein Maximum an Sichtbar- keit erreichte die Rede Jasser Arafats vor der UN-Generalversammlung am 13. November 1974. Aber auch der Versuch, selbstbestimmte filmische Strukturen aufzubauen, war seit Ende der 1960er-Jahre vorangekommen: Die Filmorgani- sation der PLO (Abb.  148) und ihre Teilorganisationen in Amman und Beirut drehten im Exil bis 1982 etwa sechzig Dokumentarfilme.59 Es war eine Filmpro- duktion ohne Staat, ohne Zentrum, exiliert und auf internationale Solidarität angewiesen (etwa aus der DDR oder Ägypten). Als die PLO 1982 im Zuge der israelischen Libanoninvasion Beirut fluchtartig verlassen musste, ging auch ihr Filmarchiv verloren. Der Krieg hatte nicht nur die gesamte zivile Infrastruktur zerstört und viele Tote gefordert – darunter jene von Sabra und Chatila –, son- dern auch einen wesentlichen Teil der materiellen Träger einer palästinensischen ‹Visual History› gelöscht.60 57 In Publikationen der Fatah taucht der Begriff zuerst auf. Auch der Terminus ‹Nakba› spielte be- reits Anfang der 1960er-Jahre eine Rolle; vgl. Baumgarten: Palästina. Befreiung in den Staat, S. 142 f.; weiters Khalidi: Palestinian identity, Kap. 8; sowie Said: Zionismus und palästinensi- sche Selbstbestimmung, Kap. 3. 58 Said, Edward W.: «Preface», in: Dabashi, Hamid (Hg.): Dreams of a nation. On Palestinian ci- nema, London u. a.: Verso 2006, S. 1–5, hier S. 2; siehe auch sein gemeinsam mit Jean Mohr ge- staltete Foto-Essay: After the Last Sky. Palestinian lives, New York: Pantheon Books 1986. 59 Der Dokumentarfilm Von Komparsen und Königen – Auf der Suche nach einem Bild von Palästina (D/PAL 2004) von Azza El-Hassan (Jg. 1971) beschäftigt sich mit der Suche nach dem verlorenen palästinensischen Filmarchiv. Die Regisseurin floh als kleines Kind nach dem ‹Schwar- zen September› mit ihrer Familie von Amman nach Beirut, das sie 1982 ebenfalls verlassen musste. 60 Filmemacher*innen dieser Periode waren u. a. Sulafa Mirsal, Salah Abu Hannoud und Mustafa Abu-Ali. 314 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Die 1967 gegründete Film- und Foto-Abteilung der Fatah wurde von Hani Jawharieh geleitet, der später Jean-Luc Godard einlud, einen Film für die palästi- nensische Sache zu drehen. Kais Al-Zubaidi drehte 1969 in Syrien einen der ersten Filme, Fern der Heimat, einen zehnminütigen Dokumentarfilm über Kinder: Ich habe tagelang in einem Flüchtlingslager gedreht, wie sie dort leben, wie sie in den Ferien spielen. Dann holte ich einige Kinder, die ich gefilmt hatte, ins Studio und zeigte ihnen die Aufnahmen. Die Kinder waren fassungs- los, weil sie noch nie zuvor einen Film gesehen hatten. Das hat sie so beein- druckt, daß sie anfingen, die ganze Zeit von allein wie aufgezogen zu spre- chen, genauer besehen, sich selbst zu kommentieren. […] Die Kinder wußten natürlich nicht, daß eine Tonspur mitlief und ihre laut gewordenen Gedan- ken registrierte. Nachdem ich ein sehr umfangreiches und originelles Ton- material besaß, machte ich mit fünf Kindern ein Interview über ihre Wün- sche, ihre Lebenslage, ihre Zukunft. Dann habe ich diese drei Elemente: Bild, Originalton und Interviews zu einer künstlerischen Einheit montiert.61 Nur ein Spielfilm entstand: Kassem Hawals The Return to Haifa (1981) nach einer Erzählung von Ghassan Kanafani war auch der einzige Film, der sich direkt den Ereignissen von 1948 zuwandte. Das militante PLO-Kino war einer marxis- tisch-leninistischen Ideologie und Ästhetik verpflichtet und sollte ein nationales palästinensisches Narrativ als Teil des weltweiten antiimperialistischen Kampfes erfinden: [T]he image of the repressed refugee that had dominated Palestinian culture in previous years gave way to the image of the fighting Fiddaiy. The tale of the suffering and adversity evolved into a story of struggle with emphasis on the future.62 Trotz aller militanten Rhetorik war das Kino der ‹Palästinensischen Revolution›,63 das die «epoch of silence»64 von 1948 bis 1967 beendete, mit seiner Fixierung auf die Ikonografie der verlorenen Heimat und des bewaffneten Kampfs eigentlich ein ‹Trauma-Kino›. Seine Anfänge waren vom kollektiven Trauma geprägt, an das die ersten Filme der PLO nicht zu rühren wagten. Nurith Gertz und Georges Khleifi argumentieren, dass in diesem Kino 61 Al Zubaidi, Kais: «Der Dokumentarist ist ein Soldat, Patriot und Poet zugleich» [1981], in: Her- linghaus, Hermann (Hg.): Dokumentaristen der Welt in den Kämpfen unserer Zeit. Selbstzeug- nisse aus zwei Jahrzehnten (1960–1981), Berlin (Ost): Henschel 1982, S. 307–314, hier S. 307. 62 Gertz/Khleifi: «From Bleeding Memories to Fertile Memories», S. 465. 63 Mohanad Yaqubi kompilierte aus Sequenzen dieses Kinos, und auch aus Ici et ailleurs, sei- nen Film Off Frame Aka Revolution Until Victory (2016). 64 Gertz/Khleifi: Palestinian cinema: landscape, trauma and memory, S. 11. 315 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman the geographically and socially fragmented society is unified around one subject while disregarding anything that might harm national agreement or pride, such as the 1948 defeat.65 Ein Manifest von 1973 übte Selbstkritik und forderte einen künstlerischen Rich- tungswechsel. Auch die Ursachen für die eigene Niederlage sollten in Filmen dar- gestellt und analysiert werden: Tatsächlich ist es wichtig, ein palästinensisches Kino zu entwickeln, durch das der Kampf unseres Volkes würdig unterstützt wird, indem es die wah- ren Gründe für unsere jetzige Lage enthüllt und die einzelnen Abschnitte des Kampfes von uns Arabern und Palästinensern zur Befreiung unseres Landes beschreibt. Das Kino, an dessen Entstehung wir arbeiten, soll die Gegenwart, die Vergangenheit sowie die Zukunft berücksichtigen.66 Niederlage und Marginalisierung stellen revolutionäre und künstlerische Bewe- gungen vor die Aufgabe, einen neuen Zeit-Raum zu kreieren, «a time-place that is generative of multiple narratives of the past» (Honaida Ghanim).67 Gilles Deleuze formulierte mit Blick auf die palästinensische Politik ähnlich: Revolutionäre wie künstlerische Bewegungen seien ‹Kriegsmaschinen›, die sich überhaupt nicht durch den Krieg definieren, sondern durch eine bestimmte Weise, den Zeit-Raum zu besetzen, auszufüllen, oder neue Zeit- Räume zu erfinden. […] Man berücksichtigt zum Beispiel nicht genügend, dass die PLO einen Zeit-Raum in der arabischen Welt erfinden musste.68 Dafür spielte die Hinwendung zur traumatischen Geschichte seit der Staatsgrün- dung Israels eine zentrale Rolle. Erst in den 1980er-Jahren begann die Periode um 1948 wieder aufzutauchen.69 Besonders sichtbar wurde dies zu am 50. Jahrestag der Gründung Israels, als einige Filme entstanden, die das Gedächtnis der Nakba direkt adressierten: Al-nakba (ISR 1997) von Benny Brunner und Alexandra 65 Ebd., S. 61. 66 Zit. nach Schlegel, Hans-Joachim: «Probleme und Perspektiven auf dem Wege zu nationalen arabischen Filmkulturen», in: Eichenberger, Ambros (Hg.): Der afrikanisch-arabische Film. Eine Dokumentation, Mannheim 1978, S. 145–159, hier S. 157 f.; engl. Übers. MacKenzie: Film Manifestos and Global Cinema Cultures, S. 273–275; weiters Dickinson, Kay: Arab Film and Video Manifestos. Forty-Five Years of the Moving Image Amid Revolution, Cham: Springer 2018. 67 Ghanim: «The Urgency of a New Beginning in Palestine: An Imagined Scenario by Mahmoud Darwish and Hannah Arendt», S. 84. 68 Deleuze: «Kontrolle und Werden. Gespräch mit Toni Negri», S. 247; siehe Medien, Kathryn: «Pa- lestine in Deleuze», Theory, Culture & Society 36/5/2019, S. 2–22. 69 Siehe Ahmad H. Sa’di: «Catastrophe, Memory and Identity: Al-Nakbah as a Component of Palestinian Identity», Israel Studies 7/2/2002, S. 175–198. 316 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Jansse (auf der Basis von Benny Morris’ Forschungen), ‹1948› von Mohammed Bakri (PAL 1998), In Search of Palestine  – Edward Said’s Return Home (UK 1998) von Charles Bruce und Edward Said sowie ‹Ich kam nach Paläs- tina …› (D/ISR 1998) von Robert Krieg und Monika Nolte. Über die Jahre war neben den Kämpfen um soziale Rechte eine eigene mne- mopolitische Agenda entstanden.70 Gründe für diesen Wandel waren einerseits die Enttäuschung der mit dem Osloer Friedensprozess verbundenen Hoffnungen, andererseits die zunehmende Delegitimierung der PLO71 und ihres Projektes, über die Idee der Nation Einheit herzustellen. Das Zerbrechen dieses politischen Rahmens und die repressive Politik des israelischen Staates ließ eine fragmen- tierte Patchwork-Gesellschaft entstehen.72 Innerhalb des leeren Ortes der ‹paläs- tinensischen Nation› wurden soziale, religiöse, regionale und Gender-Differen- zen immer deutlicher, Kritik an Paternalismus und Korruption innerhalb der politischen Klasse wurden immer lauter. Der Ausfall der utopischen Perspektive suspendierte die Orientierung an der Zukunft und führte zu einer Hinwendung zu den dunklen Zonen der Vergangenheit. Einem globalen Trend entsprechend wurde aus dem Kampf für die Zukunft eine «Schlacht ums populäre Gedächt- nis»73 (Michel Foucault). Darin ging es vor allem um die Rekonstruktion der Nakba und die archäologische Suche nach Spuren der untergegangenen palästi- nensischen Zivilgesellschaft.74 Gedenkpraktiken wie der ‹Tag der Nakba› wurden in den 1990er-Jahren zu Kristallisationspunkten eines neuen mnemopolitischen Aktivismus. Dieses Phänomen war Ausdruck einer veränderten Konfiguration von Politik, Geschichte und Gedächtnis, die sich bereits früher in einem neuen Modus filmi- scher Artikulation abgezeichnet hatte. 1980 benannte ein essayistischer Doku- mentarfilm des ebenfalls aus Nazareth gebürtigen Michel Khleifi diesen Epochen- bruch schon in seinem Titel: La mémoire fertile– ‹das fruchtbare Gedächtnis›. Dieser Film war sowohl Resultat als auch Katalysator dieser Veränderungen. Das kollektive Gedächtnis wird in diesem Film zur politischen Ressource: Wo zuvor die ideologische Rede der Fedayin dominierte, konstruiert dieser Film aus den Stimmen von Frauen – bislang stumme Objekte der Geschichte bzw. patriarchale 70 Siehe Gutman: Memory Activism. 71 Siehe etwa Said: Das Ende des Friedensprozesses; sowie Ashrawi, Hanan: Ich bin in Palästina geboren. Ein persönlicher Bericht, Berlin: Siedler 1995. 72 Vgl. Said: Das Ende des Friedensprozesses, S. 23. 73 Foucault: «Anti-Retro», in: ds.: Schriften in vier Bänden, Band 2, S. 795. 74 Siehe Khalidi: Before their diaspora. A photographic history of the Palestinians, 1876–1948; siehe weiters die Projekte ‹Palestine Remembered›, http://www.palestineremembered.com (zugegrif- fen am 21.5.2017) und ‹Zochrot›, http://zochrot.org/en (zugegriffen am 21.5.2017). Zochrot or- ganisiert seit 2013 jährlich ‹Cinema 48 mm – The International Film Festival on Nakba and Return› in der Cinematheque Tel Aviv und dem Al-Saraya Theatre in Jaffa. 317 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Allegorie für das verlorene Land – eine neue politische Welt. Ihre aufgezeichneten Erfahrungen, Reflexionen und Erinnerungen sind privat, individuell, alltäglich, machen aber zugleich einen konkreten sozialen Raum erfahrbar, innerhalb des- sen sich jede Subjektivierung gegen eine Vielzahl von Unmöglichkeiten behaup- ten muss.75 Im Kontext des palästinensischen Kinos rief La mémoire fertile völ- lig neue Artikulationsformen ins Leben. Bei seinem Versuch, ein neues Modell des politischen Kinos zu entwerfen, bezog sich Gilles Deleuze an prominenter Stelle auf Khleifis Essayfilm. Er sah in La mémoire fertile ein Beispiel für ein Kino, das er ‹Cinéma mineur›, also ‹kleines› bzw. ‹minoritäres Kino›, nannte. Er fand es vor allem in Filmen verwirk- licht, die während der 1970er- und frühen 1980er-Jahre in der sogenannten ‹Drit- ten Welt› entstanden waren. Deleuze benannte einige Merkmale, die dieses ‹Third Cinema›76 als minoritäres Kino auszeichneten: Während der ‹klassische› Modus des politischen Kinos (wie auch der Politik im allgemeinen) auf einer unhinter- fragten Grenzziehung zwischen dem Privaten und dem Politischen basiere, sei im minoritären Kino das Politische überall. Die Grenzen sind verwischt, jede pri- vate Angelegenheit wird unmittelbar zu einer politischen Sache: Alltag, Arbeit, Schule, Familie, Freizeit, Gender- und Generationenbeziehungen bilden die mi- kropolitischen Felder des ‹Cinéma mineur›. Auch in Chris Markers Sans soleil kam 1983 dieser Blickwechsel zum Ausdruck: «Nach einigen Reisen um die Welt interessiert mich nur noch das Banale.»77 Im minoritären Kino gibt es Deleuze zufolge keine ‹Generallinie› mehr, der die Filmemacher*innen folgen könnten, wie noch Sergej Eisenstein. Minoritäre Filme müssen stattdessen aus Unmöglichkeiten fabriziert werden. Sie kristalli- sieren sich an Objekten und Sprechakten aus, die sie im sozialen Gewebe auffin- den. Deleuze: Es hat den Anschein, als lebte das moderne politische Kino nicht mehr wie das klassische von der Möglichkeit von Evolution und Revolution, sondern von Unmöglichkeiten oder, wie bei Kafka, vom Unerträglichen.78 Im klassischen politischen Kino von Eisenstein, Pudovkin, aber auch jenem von Capra und Ford hatte ‹das Volk› als regulatives Bild funktioniert. Deleuze zufolge 75 Siehe Gertz/Khleifi: Palestinian cinema: landscape, trauma and memory, S.  74–100; weiters Arsenjuk, Luka: Political Cinema: The Historicity of an Encounter, Durham: Dissertation, Duke University 2010, S. 153–220. 76 Siehe Pines, Jim und Paul Willemen (Hg.): Questions of third cinema, London: BFI 1989; weiters Guneratne, Anthony R. und Wimal Dissanayake (Hg.): Rethinking Third Cinema, New York: Routledge 2003; sowie MacKenzie: Film manifestos and global cinema cultures, S. 207–322. 77 Sans Soleil. Ein Film-Essay von Chris. Marker, Wien: Stadtkino Filmverleih 1984, S. 3. 78 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 282. 318 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman wurdediese Trope der Massen als Subjekt der Geschichte durch Hitlers Aufstieg und den Zweiten Weltkrieg dauerhaft zerstört. Daraus ergibt sich für jedes politi- sche Kino nach Vichy, Drancy und Auschwitz eine Bedingung: Es sei nur möglich […] auf der Basis, daß das Volk nicht mehr existiert oder noch nicht exis- tiert … das Volk fehlt.79 Nicht zufällig entstand das postklassische politische Kino zuerst in der ‹Dritten Welt›. Angesichts der (post)kolonialen Gewalt waren die Filmemacher*innen hier überall gezwungen, von einem «ewigen Minderheitsstatus» und einer unlösba- ren «kollektiven Identitätskrise»80 auszugehen. Ihr Kino musste ohne Totalen von revolutionären, demokratischen, nationalen oder ‹volksgemeinschaftlichen› Mas- sen auskommen, ohne überlebensgroße Großaufnahmen eines zukunftsgewissen Massen-Subjekts. Deleuze zufolge versuche das minoritäre Kino stattdessen mit Hilfe von Trance oder Krise ein Gefüge entstehen zu lassen, das reale Ele- mente zusammenführt, um stellvertretend für ein noch fehlendes Volk kol- lektive Aussagen hervorzubringen […].81 Deshalb befinden sich die Künstler*innen oft in einer isolierten Position. Paul Klee und Franz Kafka sind für Deleuze diejenigen, die zuerst spürten und artikulierten, dass ‹das Volk fehlt›. Deleuze zitiert aus Kafkas Tagebuch und schreibt, dass die kleinen Literaturen ‹in den kleinen Nationen› das ‹untätige und immer sich zersplitternde nationale Bewusstsein› ersetzen und die kollektiven Auf- gaben in Abwesenheit eines Volkes erfüllen müssen.82 Wie Kafkas ‹kleine Literaturen› steht das minoritäre Kino vor der Aufgabe, Kol- lektivität und Gemeinschaftlichkeit ohne ‹Volk› zu adressieren. Ebenfalls von zentraler Bedeutung für Deleuze ist eine Stelle aus einem Vortrag, den Paul Klee, 79 Ebd., S. 279. Die Problematik des deutschen Wortes ‹Volk› ergibt sich im Französischen nicht in derselben Weise. Deleuze sah in der nationalsozialistischen Rhetorik vom ‹Volk› und der ‹Volksgemeinschaft› die systematische Zerstörung jedes autonomen, kollektiven Subjekts der Geschichte, vgl. ebd., S. 215 ff. und 337 ff.; siehe Badiou, Alain u. a.: Was ist ein Volk?, Ham- burg: Laika 2017. 80 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 279. 81 Ebd., S. 288. 82 Ebd., S. 279; vgl. Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Tagebücher 1910–1923, hg. v. Max Brod, Frankfurt a. M.: Fischer 1983, S. 152 f., siehe weiters Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976; sowie Kreuzmair, Elias: «Die Mehr- heit will das nicht hören. Gilles Deleuze’ Konzept der ‹littérature mineure›», Helikon 1/2010, S. 36–47. 319 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman dessen Angelus Novus ein paar Jahre vorher in den Besitz von Walter Benjamin übergegangen war, 1924 anlässlich einer Ausstellung im Kunstverein Jena hielt: Manchmal träume ich ein Werk von einer ganz großen Spannweite durch das ganze elementare, gegenständliche, inhaltliche und stilistische Gebiet. […] Wir müssen es noch suchen. Wir fanden Teile dazu, aber noch nicht das Ganze. Wir haben noch nicht diese letzte Kraft, denn: uns trägt kein Volk. Aber wir suchen ein Volk, wir begannen damit, drüben am staatlichen Bau- haus. Wir begannen da mit einer Gemeinschaft, an die wir alles hingeben, was wir haben. Mehr können wir nicht tun.83 Überträgt man dies auf den palästinensischen Zusammenhang, so ergibt sich, dass im klassischen Modus des PLO-Kinos ein nationales Massensubjekt das ‹Volk, das fehlt› substituieren sollte, um eine revolutionäre nationalistische Per- spektive zu konstruieren, während sich das Kino im modernen Modus mit Khlei- fis La mémoire fertile inmitten der sozialen Fragmentierung selbst situierte. Khleifi verabschiedete die Idee eines nationalen Massensubjekts und ersetzte sie durch eine Assemblage konkreter, vor allem weiblicher Sprechakte. Das zeitgenössische palästinensische Kino erforscht die Paradoxien der kollek- tiven Existenz arabischer Bürger*innen des Staates Israels und bewegt sich damit in die «liminal zone between Israel and Palestine»84 (Ella Shohat), um dort kollek- tive Traumata und minorisierte Erinnerungen sichtbar zu machen. Der Flucht- punkt ‹1948› erweist sich auch hier als symbolisches Gravitationszentrum. Auch Michel Khleifi drehte 2009 einen Spielfilm, der sich mit den Ereignissen von 1948 beschäftigt. Der Film erzählt die Geschichte eines palästinensischen Filmema- chers, der in Europa lebt und nach Ramallah zurückkehrt, um Berichte von Zeit- zeugen von 1948 zu filmen: Zindeeq (VAE/PS/UK/B 2009). Die im Folgenden analysierten essayistischen Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman gehen von der oben beschriebenen Liminalität der palästinensischen Kondition aus. Ihre Filme entfalten sich innerhalb von Michel Khleifis neuem Paradigma minoritärer filmischer Artikulation. Sie erforschen das Potenzial sei- nes Aufbruchs und treiben es entlang unterschiedlicher Fluchtlinien weiter. Ihre Filme stoßen transgressive Bewegungen und Werdensprozesse an. Weder schrei- ben sie hegemoniale Wirklichkeitskonstruktionen ‹Israel/Palästinas› dokumen- tarisch fort, noch stellen sie diese fiktional nach, sondern versuchen, diese mit essayistischen Strategien zu rekonfigurieren. 83 Klee, Paul: Über die moderne Kunst, Bern-Bümpliz: Benteli 1945, S.  53; vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 414, Anm. 43. 84 Shohat: Israeli cinema, S. 271. 320 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari Ula Tabaris Private Investigation aus dem Jahr 2002 geht von einem Foto aus: Im Rahmen einer Feier zum israelischen Unabhängigkeitstag singen die Kin- der eines Schulchors – unter ihnen die Regisseurin selbst – die israelische Natio- nalhymne Hatikva (Abb. 149).85 Das Foto wurde Ende der 1970er-Jahre in einer öffentlichen Schule in Nazareth aufgenommen. Im Text des Liedes heißt es: As long as deep in the heart, the soul of a Jew yearns, and forward to the East to Zion, an eye looks. Our hope will not be lost, the hope of two thousand years, to be a free nation in our land, the land of Zion and Jerusalem. Die israelische Nationalhymne ist für Tabaris Familie kein Lied der Hoffnung (hebr. ‹hatikva›), sondern ein Symbol der Niederlage und des Verlusts. Als Tabaris Mutter in Tarshiha im Norden Galiläas und ihr Vater in Tiberias geboren wurden, lagen beide Orte im britischen Mandatsgebiet Palästina. Heute sind sie Teil des Staates Israel.86 Tabari, die 1970 in Nazareth geboren wurde, begann künstlerisch zunächst in den Bereichen Theater und Skulptur zu arbeiten, etwa in palästinensischen The- aterproduktionen in Jerusalem und in der Westbank, in denen sie allerdings ihre eigenen Erfahrungen nicht wiedererkannte. In israelischen Produktionen war sie mit stereotypen Zuschreibungen konfrontiert, immer wieder wurde sie auf Rol- lenklischees von arabischen Frauen reduziert, wie sie in einem Interview erzähl- te.87 1996 arbeitete sie mit Elia Suleiman an Chronicle of a Disappearance, in dem sie eine Hauptrolle spielte.88 In dieser Zeit begann sie mit ihrer eigenen Film- arbeit, die die komplexen Wurzeln ihrer Identitätskrise erforscht. Für Tabari ist das Foto aus ihrer Schulzeit ein Bild der Entfremdung, das den Versuch der staatlichen Identitätspolitik, die arabische Minderheit zu entwurzeln, sichtbar macht.89 Tabari: Israel wollte immer die Palästinenser in seinem Innern vom Rest der Ara- ber trennen. Dies ist das beste Mittel, um sie zu kontrollieren. So haben die 85 Siehe Illouz: Israel, S. 222 ff. 86 Vgl. Halbreich-Euvrard: Israéliens, palestiniens, que peut le cinéma?, S. 33. 87 Vgl. ebd., S. 33 f. 88 Tabari lebt als Filmemacherin, Schauspielerin und Casting Director in Paris. Sie arbeitete mit Elia Suleiman (The Arab Dream, 1997), Christophe Loizillon (Les pieds, 1999), Samir (For- get Bagdad, 2002), Eyal Sivan & Michel Khleifi (Route 181, 2003) sowie mit Steven Spielberg (Munich, 2005) zusammen. 2005 drehte sie den fiktionalen Kurzfilm Dia spora (F/PS/Jor- danien 2005, 16 min, P: Eris & Nada). 89 Siehe Berndt, Daniel: Wiederholung als Widerstand? Zur künstlerischen (Re-)Kontextualisie- rung historischer Fotografien in Auseinandersetzung mit der Geschichte Palästinas, Bielefeld: transcript 2018. 321 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman 149 Die Private Investigation beginnt mit einem Foto, das die Regisseurin als Kind beim Singen der Hatikva zeigt; Screenshot aus Private Investigation (TC 00:02:41) Israelis eine künstliche Lügen-Identität erfunden, die der israelischen Ara- ber. Paradoxerweise ist diese Identität zu einer ihrer Schwächen geworden.90 In einem Gespräch mit Janine Halbreich-Euvrard beschrieb Tabari die Schule als einen eminent politischen und umstrittenen Raum: Als ‹israelische Araberin› bestand meine schulische Erziehung in einer Gehirnwäsche. […] In den extrem kontrollierten arabischen Schulen in Israel spricht man arabisch, die Lehrer waren palästinensische Araber, aber die Schulen gehörten in den Zuständigkeitsbereich des israelischen Erzie- hungsministeriums, in dem es Kommitées gab, die auf Sicherheitsfragen spezialisiert waren, die Shabak.91 Diese Kommitées kontrollierten die Leh- renden, und wählten die Bücher und Texte aus, auf die wir ein Recht hatten. Noch heute gibt es ein Kommitée für arabische Literatur, welches das ganze Jahr arbeitet und seine Vorschläge an den Shabak weiterleitet. Wenn dieser sich weigert, wird das Kommitée ausgetauscht.92 Tabari erzählt, dass das Studium des palästinensischen Dichters Mahmoud Dar- wish zwar an jüdischen Schulen erlaubt sei, «denn es ist wichtig seinen Feind zu kennen»,93 nicht jedoch an Schulen mit in mehrheitlich palästinensischen Kin- dern, «das könnte ihnen eine Kraft verleihen, die für Israel gefährlich wäre».94 90 «Entretien avec Ula Tabari», in: Halbreich-Euvrard: Israéliens, palestiniens, que peut le ciné- ma?, S. 34 (Übers. d. Autors). 91 Akronym für ‹Sherut haBitachon haKlali›, Israels internen Sicherheitsdienst. ‹Shin Bet› ist eine weitere hebräische Abkürzung für die Israel Security Agency (ISA). 92 «Entretien avec Ula Tabari», in: Halbreich-Euvrard: Israéliens, palestiniens, que peut le ciné- ma?, S. 34 (Übers. d. Autors). 93 Ebd. 94 Ebd. 322 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari Das Klassenfoto aus den 1970er-Jahren ist das symbolische Zentrum ihres Films und Ausgangspunkt für eine audiovisuelle Recherche in mehrere Richtungen. Während des israelischen Unabhängigkeitstages sammelt Tabari mit ihrer Videokamera Mei- nungen auf der Straße: «Was denken Sie über die Nakba?», «Sind Sie ein Palästinen- ser?» Sich selbst zu benennen, kommt einer politischen Deklaration gleich. Tabari: Terminology is politics. […] Creating this confusion in naming is to create an identity crisis and a division between people. In this case being different is being dangerous, and by manufacturing difference by naming, we have the basis of a kind of war that is being waged. Although in reality, all of us are dif- ferent, and appreciating our differences opens doors for richness, depth; dif- ference is what makes people interesting.95 Heute ist die ‹arabische Minderheit› in Israel Objekt gegensätzlicher Identitäts- politiken, die Elisabeth Timm auf die Formel «‹Palästinisierung› versus ‹Israe- lisierung›»96 bringt. Ula Tabari dokumentiert selbstsichere, befangene und auch abwehrende Stimmen: «I don’t think they should be Palestinians, they are Israelis.» In Private Investigation wird das Spektrum an subjektiven Positionen hör- und sichtbar, die auf das Dilemma, israelische*r Bürger*in mit arabischen Wur- zeln zu sein, antworten. Der Film ist eine Assemblage von Stimmen, die von der kollektiven Identitätskrise der ‹arabischen Minderheit› in Israel zeugt. Tabari recherchiert mit ihrer Kamera über die Zeit, als das Foto aufgenommen wurde. Sie filmt das Schulgebäude, trifft ihre einstigen Lehrer*innen und konfron- tiert sie mit ihren Fragen. Die Schule wird als zentraler Ort des Politischen kennt- lich. Von Beginn an zielte die staatliche Erziehungspolitik darauf ab, ein identi- täres Standardmodell durchzusetzen. Minoritäten sollten sich ‹israelisieren› und damit Teile ihrer kollektiven Identität und Erinnerung verleugnen. Dies betraf nicht nur die palästinensische Minorität, auch mizrahische Juden aus arabischen Ländern wurden dazu angehalten, ihre ‹orientalische› Seite zu unterdrücken.97 Private Investigation erforscht neben der Schule vor allem die Familie der Regisseurin: Ihr Vater, der kurz nach den Dreharbeiten verstarb, rezitiert eigene Gedichte. Der Film verleiht ihm in diesen Sequenzen eine intensive melancho- lische Präsenz. 90 % seiner Familie lebt(e) im Exil, er selbst verbrachte Jahre in Ägypten und im Libanon (Abb. 151). Tabaris Mutter hat vor ihrer Pensionierung als Lehrerin gearbeitet. In einer langen Sequenz sitzen Mutter und Tochter, die 95 Zit. nach Grabher, Peter: «Ula Tabari: ‹The struggle for meanings is the struggle to exist›. Con- versation with Peter Grabher», in: Elm, Michael, Kobi Kabalek und Julia B. Köhne (Hg.): The Horrors of Trauma in Cinema. Violence Void Visualization, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2014, S. 251–269, hier S. 258 und S. 260. 96 Timm: Israel, S. 58. 97 Siehe Shohat: Israeli cinema, Kap. 3. 323 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Repräsentantinnen zweier Generationen, in der Küche98 und sprechen über die Geschichte, die die Familie geprägt hat, während die Mutter Gemüse fürs Abend- essen schneidet. Sie wurde 1940 geboren, nach 1948 blieb sie in Nazareth, von wo sie mehrmals ausgewiesen wurde. Der Rest der Familie verließ die Heimat. Wäh- rend des Küchengeprächs werden die hyperpolitisierenden Effekte der Geschichte auf die Familie spürbar: Eltern und Kinder teilen eine problematische Welt, die ständig in den intimen Raum der Familie eingebrochen ist. Der Film stellt der Schule, die Tabari besuchte, das Porträt einer selbstorganisier- ten freien Schule entgegen: Die Massar School in Nazareth, die aus einem privaten Kindergarten entstand, ist ein ehrgeiziges pädagogisches Projekt, das den Kindern viel Freiheit bietet. Jedes Jahr am 14. und 15. Mai kollidieren die kollektiven Nar- rative. In der Massar School wird den Kindern anderes erzählt wie in staatlichen Schulen.99 Tabari ist mit der Kamera dabei, als ihre Mutter den Kindern die gewaltsamen Ereignisse von 1948 aus eigenem Erleben erzählt. Ihre Präsenz verkörpert eine Gegenerzählung zum offiziellen Diskurs: «The Nakba is a sad day. Tomorrow I will be very sad, because I’ll remember what happenend long ago, 53 years ago.» (Abb. 150) 150 Tabaris Mutter, die Lehrerin; Screenshot aus Private Investigation (TC 01:03:54) Der Film dehnt dann seine Inves- tigation vom Thema der Identität auf die Frage der Territorialität aus. Tabari filmt den Vertreter einer palästinensi- schen NGO, der ausländischen Fern- sehjournalisten die staatliche Praxis der Konfiszierung von Land erläu- tert, die dazu geführt hat, dass die arabische Minderheit zwar etwa 20 % 151 Tabaris Vater, der Dichter; Screenshot aus der Bevölkerung stellt, aber nur noch Private Investigation (TC 01:19:30) 2,5 % des Landes besitzt. 98 Die Küche ist ein wichtiger Topos des minoritären Kinos, etwa in Martha Roslers Semiotics of the Kitchen (USA 1975). 99 Siehe Naveh, Eyal J.: «The Dynamics of Identity Construction in Israel Through Education in History», in: Rotberg, Robert I. (Hg.): Israeli and Palestinian narratives of conflict. History’s double helix, Bloomington: Indiana University Press 2006, S. 244–270. In Ma’aloul Cele- brates Its Destruction (1984) von Michel Khleifi berichten Flüchtlinge aus dem zerstör- ten Dorf Ma’aloul. Ihre Erzählungen widersprechen dem, was der Dorflehrer – einst selbst Flüchtling – seinen Schüler*innn in Übereinstimmung mit dem offiziösen Diskurs des isra- elischen Erziehungsministeriums erzählt; vgl. Gertz/Khleifi: Palestinian cinema: landscape, trauma and memory, S. 81. 324 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari 152–153 Tabari befragt ihre Nichten Adan und Ward nach ihrer Meinung zur Möglichkeit von Frieden; Screenshots aus Private Investigation (TC 01:08:47, 01:08:49) Auch Nisreen Daher, die Schwester der Regisseurin und ehemalige Aktivistin äußert sich zur kollektiven Identitätskrise, die der Film erforscht: «Everyone has inner struggles and confusion. […] Most people don’t know themselves and when you ask them about themselves, they start to stutter. They don’t stutter because of the camera or because they’re afraid. They simply don’t know. There’s a reason for that. It’s a result of a very old policy. In our home these things had less of an impact. Not because my father raised us on national- istic values, but because he didn’t raise us on this country’s ‹typical› values. We knew we weren’t Israelis or Jews, but we didn’t know who we are.» Nisreens Mann Jamal unterrichtet an der Birzeit Universität bei Ramallah Phi- losophie. Auch er sieht in der Liminalität palästinensischer Identität und deren nationaler ‹Unterbestimmtheit› ein Ergebnis israelischer Identitätspolitik: «If they really wanted to solve this problem called ‹Palestinians› just as the Americans solved the problem of the blacks or the Indians, they’d have to act in a different manner. At least in a manner that doesn’t clash with our identity and culture, they’d have to recognize us as a minority with a national identity and deal with us as such. That doesn’t clash at all … It even works perfectly with the so-called democratic system. But they acted in a completely different man- ner, which contradicts the claim that this state is democratic, […] which creates and created today a problem with our level of awareness. We are undefined, as far as the state is concerned, because this is a Jewish state. We’re also politically undefined, and of course on the level of affiliation as well.» Tabaris filmisches Unternehmen zielt auf Autonomie und auf die Befreiung aus dem subalternen Verhältnis zum hegemonialen israelischen Anderen. In einer kurzen Einstellung filmt sie sich selbst vor dem Spiegel, ihre Hand verdeckt das hebräische Wort «Freund», lesbar bleibt nur noch «ich erinnere mich» (Abb. 154). Erst in einem herrschaftsfreien Raum könnte ein Dialog auf Augenhöhe stattfin- den. Dazu müsste es jedoch zunächst zu einem radikalen Bruch kommen: 325 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman 154 Filmische Selbstreflexion in Auseinander- setzung mit dem Blick des Anderen; Screenshot aus Private Investigation (TC 01:02:55) 155 Denkbild am israelischen Unabhängig- keitstag; Screenshot aus Private Investigation (TC 00:07:23) Solange die Welt nicht aufhört, die Existenz Palästinas mit Israel zu verbinden, werde ich diese erzwungene Gemeinschaft ertragen müssen. Bevor die Welt versteht und einräumt, dass Palästina für sich selbst steht, werde ich weiter- hin gezwungen sein, mit Israel zu koexistieren, bevor ich überhaupt existiere. Ich wurde als das Resultat eines Liebesaktes zwischen zwei Menschen gebo- ren – meiner Mutter und meinem Vater – Israel war niemals daran beteiligt.100 Private Investigation ist Ula Tabaris persönliche ‹Unabhängigkeitserklärung› (Abb. 155). Essayistisch ist der Film, indem er mit seinen Fragen eher auf emotio- nale und mentale Prozesse als auf soziale Tatbestände zielt: Wie bin ich die gewor- den, die ich bin? Die Antworten sucht Tabari im Sozialen: in Narrativen, Praxen und Institutionen. Ihr Film ist ein audiovisueller Selbstvergewisserungsprozess, der umso politischer wird, je weiter er die historisch-politische Infrastruktur von 100 Tabari, Ula: «Private Investigation. Begleittext zur Programmreihe des ZDF/Das kleine Fernsehspiel», zit. nach Festivalprogramm der 16. Tage des unabhängigen Films Augsburg, 2002. 326 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari 156–157 Capoeira und Oral History als Praktiken des Widerstands; Screenshots aus Jinga48 (TC 00:50:25, 01:07:50) kollektiven Identitäten und Subjektivierungsweisen in Israel offenlegt. Der Film stellt einen ‹point de vue documenté›101 in der Tradition Jean Vigos dar. Tabari geht davon aus, dass das Kino Teile der Realität destabilisieren kann: Dem Bild eignet etwas Großartiges. Es dient dazu, sich zu erinnern, zu doku- mentieren, zu archivieren. Das Bild steht gegen den Tod, es erlaubt uns, uns mit ihm zu konfrontieren, mit der Trauer zu beginnen und ihn uns anzueig- nen. […] Für mich ist das ein Moment, in dem man mit ihm einen Teil der Wirklichkeit zum Stillstand bringt. […] Vermittels des Kinos kann ich mei- nen Zorn und meine Hoffnungen zeigen. Angesichts der Aggression und der Ungerechtigkeit, in einer Welt, die von einem Einheitsdenken verstümmelt ist, artikuliert das Kino auf seine Weise einen Schrei, der befreit.102 Sieben Jahre später wird Ula Tabari bei ihrer Recherche von Adan und Ward unterstützt, den Kindern von Nisreen und Jamal Daher, die die Regisseurin bereits in Private Investigation interviewt hat (Abb. 152–153). Damals waren die bei- den Schwestern als selbstbewusste Schülerinnen der Massar School aufgetaucht, die ihre Eltern mitbegründet haben. Sie gehörten zur ersten Generation von Schü- ler*innen, inzwischen sind sie zu Teenagern herangewachsen. Jinga48 ist das Por- trät ihrer Generation. Adan und Ward nehmen als Protagonist*innen an einer Nachforschung mit Kamera und Schnittcomputer teil, die Tabari anleitet und begleitet. Nach der traumatisierten ersten Generation von 1948, die in Private Investigation zu Wort kam, spürt der Film der Situation der dritten Generation nach. Adan und Ward folgen ihren leidenschaftlichen Fragen und ihrem Sinn für Ungerechtig- keit. Jinga48 zeigt, wie die beiden eine subjektive Position entwickeln, die ihren 101 Vgl. Vigo, Jean: «Vers un cinéma social» [1930], in: Chevalier, Jacques (Hg.): Regards neufs sur le cinéma, Paris: Seuil 1953, S. 49. 102 «Entretien avec Ula Tabari», in: Halbreich-Euvrard: Israéliens, palestiniens, que peut le cinéma?, S. 35 f. (Übers. d. Autors). 327 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman minoritären Status affirmiert und sie Handlungsmacht aufbauen lässt. Am Ende kulminiert die filmische Recher- che in einem Affektbild vom ‹Revolu- tionär-Werden› der palästinensischen Teenager. Jinga48 konterkariert dieses Ende durch die Darstellung jener Identitäts- 158 Video als Werkzeug der Analyse; Screenshot aus Jinga48 (TC 01:08:37) krise, die in Private Investigation begonnen wurde. Wir lernen Hassan kennen, einen zwölfjährigen Buben arabischer Herkunft, dessen subjektive Posi- tion die Ziele der offiziellen israelischen Identitätspolitik auf fast unheimliche Weise erfüllt. Seine Identifikation mit der majoritären Position geht deutlich mit Rassismus und Aggressivität einher: Tabari: «If you were a soldier in the Israeli army whom would you fight?» Hassan: «Jordan and Palestine.» Tabari: «Are you willing to kill a Palestinian or a Jordanian?» Hassan: «Yes!» Tabari: «Yes? Don’t you have relatives in Nablus, Gaza, Jerusalem or Ramal- lah?» [Hassan schüttelt den Kopf.] Tabari: «What about Haifa?» Hassan: «I only have one relative.» Tabari: «Do you know that people of Haifa are Palestinians?» Hassan: «I can kill Palestinians who are no relatives of mine.» Tabari: «Are there Palestinians in Nazareth?» Hassan: «No!» Tabari: «Are you Palestinian?» Hassan: «No, I’m Israeli.» Digitales Video wird zum Tool für die Analyse von Subjektivierungprozessen (Abb. 158). Beim Betrachten des Interviews am Schnittplatz fragt Tabari die Mäd- chen: «What can we say to a child like Hassan?» Wie ist eine solche Subjektivie- rung möglich? Die Sequenz hilft, die Auseinandersetzungen um Identität und Gedächtnis zu verstehen, in die Adan und Ward verwickelt sind. Es ist hilfreich, die Kategorien der Minderheit und der Mehrheit so zu verste- hen, wie sie Gilles Deleuze und Félix Guattari ausgearbeitet haben. Die beiden schlugen vor, die beiden Terme nicht mehr als solche der Quantität  – die Vie- len und die Wenigen – zu begreifen, sondern als solche der Qualität. Mehrheit und Minderheit werden so zu konträren Polen von Subjektivierung: ‹Mehrheit› 328 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari beruht auf einem abstrakten Standardmodell, das eine Anzahl von Merkmalen – etwa ‹männlich›, ‹weiß›, ‹heterosexuell›  – als hierarchisch organisierte Punkte anordnet, ‹Minderheiten› beruhen dagegen auf Punkten, die in ihrer Bewegung zu Linien werden, den berühmten ‹Fluchtlinien› des Deleuzianischen Werdens. Daraus ergibt sich, dass niemand die ‹Mehrheit› restlos verkörpern kann, da aus prinzipiellen Gründen immer Differenzen zur abstrakten Matrix des Standard- modells bestehen bleiben müssen. Die Verwirklichung des Wunsches, Mehr- heit zu werden oder ihren Platz zu erobern, geht Deleuze zufolge notwendiger- weise mit Formen von Gewalt einher. Denn das Subjekt muss dazu jede Differenz zur mehrheitlichen Matrix löschen: Im Selbstbezug um den Preis von Entfrem- dung, Narzissmus oder Depression, im Bezug auf den Anderen in den Formen des Chauvinismus, Sexismus, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus. In Deleuzianischer Perspektive ist die Menge der Mehrheit strenggenommen immer leer, wie umgekehrt jede*r eine Minderheit ist. ‹Minoritär-werden› bedeutet für Deleuze daher keineswegs Mangel und Tod, sondern muss ganz im Gegenteil als kreative Option affirmiert werden: Kurz gesagt ist eine universelle Figur des minoritären Bewußtseins als Wer- den eines jeden denkbar, und dieses Werden ist Schöpfung.103 Dieses Konzept kann auf den zitierten Dialog angewendet werden: Indem sich Hassan das mehrheitliche Standardmodell zu eigen macht, ist er dazu gezwun- gen, jene Merkmale zu unterdrücken, die ihn von diesem Modell unterscheiden. Durch aggressive Disidentifikation mit dem palästinensischen Eigenen, das zum Anderen wird, gelingt ihm diese subjektive Volte. Angesichts des sozialen und institutionellen Drucks ist die Wahl des Buben eine verständliche Option, die jedoch fundamental widersprüchlich bleiben muss.104 Angesichts desselben Dilemmas entscheiden sich Adan und Ward für eine andere, minoritäre Option. Die Mädchen hinterfragen ihr palästinensisches Erbe und nehmen es unter völlig anderen diskursiven Umständen in Besitz wie die zweite Generation von Aktivist*innen, zu der die Filmemacherin zählt. Die Welt, in der Adan und Ward leben, ist von einem Patchwork lokaler mikropolitischer Kämpfe geprägt und von Differenzen innerhalb der palästinensischen Zivilgesell- schaft, die stärker und sichtbarer sind als je zuvor. Adan und Ward untersuchen das soziale Gewebe ihres persönlichen Um felds: Familie, Freund*innen, Aktivist*innen. Sie greifen die nationalistische palästi - 103 Deleuze, Gilles: «Philosophie und Minderheit», in: ds.: Kleine Schriften, Berlin: Merve 1980, S. 27–29, hier S. 29; weiters Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin: Merve 1992, S. 147 ff. und 396 ff. 104 Siehe Nasser: Palestinian identity in Jordan and Israel, S. 1–42. 329 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman nensische Ikonografie auf, ihre Bil- der, Symbole, Lieder und ‹Lieux de mémoire› (Pierre Nora). Mehrere Sequenzen des Films zeigen die bei- den im Dialog mit Aktivist*innen, etwa einem Mitarbeiter der Men- schenrechts-NGO Adalah  – Legal Center For Arab Minority Rights 159 Footage vom ‹Tag des Bodens› am 30. März 105 1976; Screenshot aus Jinga48 (TC 00:01:41) (Abb.  157). Die Kamera beobach- tet sie beim Capoeira üben, einer Kampfkunst, die von brasilianischen Nachfahren afrikanischer Sklav*in- nen entwickelt wurde (Abb. 156). Jinga ist eine Grundbewegung des Capo- eira, die Angriff und Verteidigung in einer Geste vereint. Der Filmtitel  – Jinga48 – bezeichnet die Weise, in der 160 Israelisches Schulbuch für arabische Kinder; sich die Mädchen ihre Geschichte und Screenshot aus Jinga48 (TC 00:04:53) ihre Identität aneignen: reaktiv und kreativ zugleich. Die historische Recherche der Mäd- chen konzentriert sich auf auf den ‹Land Day›, arabisch Yom al-Ard, einen jähr- lichen Gedenktag an die Ereignisse des 30. März 1976: Gegen das Vorhaben der israelischen Regierung, tausende Dunam Land zu enteignen, wurden 161 Mit einem Vertreter des Erziehungsminis- damals ein Generalstreik und Protest- teriums; Screenshot aus Jinga48 (TC 00:39:10) märsche in arabischen Städten und Dörfern vom Galil bis in den Negev organisiert. In Konfrontationen mit der isra- elischen Armee und Polizei wurden sechs palästinensische Bürger Israels getötet, etwa hundert verletzt und hunderte verhaftet.106 Dieser historische Kampf um ihr Land war für das Verhältnis der arabischen Bürger*innen zum israelischen Staat von einschneidender Bedeutung. Zum ers- ten Mal seit 1948 hatten Palästinenser*innen in Israel eine kollektive Antwort auf die israelische Konfiskationspolitik organisiert. Heute erinnern sich nur wenige an diese Ereignisse. Adan und Ward sprechen mit Zeitzeug*innen, die an den Auseinandersetzungen in den 1970er-Jahren teilgenommen haben (Abb. 157) und 105 Vgl. http://adalah.org/eng (zugegriffen am 3.4.2019). 106 Vgl. Kimmerling/Migdal: The Palestinian people, S. 195 f. 330 6.1 Private Investigation (2002) und Jinga48 (2009) von Ula Tabari 162 Affektbild vom ‹Revolutionär- Werden› paläs- tinensischer Teenager; Screenshot aus Jinga48 (TC 01:13:48) besuchen einen Friedhof, auf dem die ‹Märtyrer› begraben sind. Film-Footage von 1976 (Abb. 159), die die Mädchen im Internet fanden, hatte diesen «Tiger- sprung ins Vergangene» (Walter Benjamin)107 angestoßen, ähnlich wie das Klas- senfoto aus Ula Tabaris Kindheit in ihrem ersten Film. Ein weiterer Gegenstand der Recherche ist die staatsbürgerliche Erziehung in der Schule. Jinga48 schreibt auch hier Motive aus Private Investigation fort, indem sie in die Lebenswelt der beiden Mädchen übersetzt werden. Ein aktuel- les Schulbuch, das arabische Kinder die israelische Flagge schwenkend darstellt, empört die beiden Mädchen (Abb. 160), die die dominante Perspektive selbstsi- cher in Frage stellen. In ihrem mit Postern von Pop-Stars tapezierten Zimmer berichtet eine von ihnen, dass fünf Fußballfans eingesperrt wurden, weil sie im Stadion die palästinensische Flagge für ihr Team geschwenkt hätten. Sie tref- fen einen Repräsentanten des Erziehungsministeriums und konfrontieren ihn mit hartnäckigen Fragen: «Warum ist da keine palästinensische Flagge?» Sie kri- tisieren die staatliche Unterscheidung zwischen einer ‹Primary Identity›  – der jüdisch-israelischen – und einer ‹Secondary Identity› – der arabisch-israelischen Identität (Abb. 161). Adan und Ward kommen durch Fragen, Zuhören und Streiten voran, indem sie Capoeira praktizieren und mit der Filmemacherin Material am Schnittplatz diskutieren. ‹Warum?› ist ihre leitende Frage. Gilles Deleuze zufolge ist sie die Frage des minoritären Kinos schlechthin: ‹Warum?› ist die Frage des Innen, die Frage des Ich: wenn nämlich das Volk fehlt, wenn es in Minoritäten zerstreut ist, dann bin ich es, der zunächst ein Volk ist […]. ‹Aber warum?› ist auch die Frage des Außen, die Frage der Welt und die Frage des Volkes, das, gerade weil es fehlt, sich erfindet […].108 107 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 701. 108 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 284. 331 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Der Film endet mit einer affektiven Klimax, zu der die Anwesenheit der Kamera, das Wissen gefilmt zu werden, beigetragen haben mag: Während einer Demons- tration gegen Ehud Olmerts Besuch einer Schule in Nazareth, wird eines der Mäd- chen von Emotionen überwältigt (Abb. 162). Die protestierenden Schüler*innen machen den israelischen Ministerpräsidenten für die Bombardierung von Gaza verantwortlich, die die israelische Armee um die Jahreswende 2008/09 durch- führte, als die Mädchen gerade mit der Kamera unterwegs gewesen waren.109 Dabei wurden der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem110 zufolge allein 320 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren getötet.111 Der Name der Mili- täroperation, ‹Gegossenes Blei›, verwies auf ein israelisches Chanukka-Kinder- lied. Die demonstrierenden Teenager skandieren: «Olmert, wie viele Babies hast Du getötet?» Ihre Affektion scheint aus einer Mischung aus Zorn, dem Schwinden der Angst und der Freude über die Wahrnehmung eigener Handlungsmacht zu rühren. Die Einstellung lässt an Baruch de Spinoza denken, der in seiner Ethik Affekte definierte als Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen vergrößert oder verringert; gefördert oder gehemmt wird […].112 Spinoza behauptet, dass jedes physische oder mentale Ding danach «strebt [lat. ‹conatur›], soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren».113 Eine Person sei betrübt durch alles, was seinem ‹conatus› (dt. ‹Streben›) entgegensteht. Freude (lat. ‹laetitia›) definierte Spinoza als den «Übergang des Menschen von geringe- rer zu größerer Vollkommenheit»,114 Traurigkeit (lat. ‹tristitia›) sei dagegen «der Übergang des Menschen von größerer zu geringerer Vollkommenheit».115 Auf das Unerträgliche durch ein Revolutionär-Werden zu antworten, ist eine freud- volle Option, die Disempowerment, Depression und Entfremdung überschreitet. Jinga48 versucht, die Möglichkeit dieser Option zu demonstrieren. 109 Vgl. Grabher: «Ula Tabari: ‹The struggle for meanings is the struggle to exist›», S. 261. 110 Vgl. https://www.btselem.org (zugegriffen am 27.5.2016). 111 Vgl. «B’Tselem’s investigation of fatalities in Operation Cast Lead»: https://www.btselem.org/ download/20090909_cast_lead_fatalities_eng.pdf (zugegriffen am 27.5.2016). 112 Spinoza, Baruch de: Die Ethik, Stuttgart: Reclam 1977, S. 255 (III, Def. 3). 113 Ebd., S. 273 (III, Prop. 6). 114 Ebd., S. 397 (III, Affectuum Def. 2). 115 Ebd. Zur Spinoza-Rezeption in Israel siehe Dunkhase, Jan Eike: Spinoza der Hebräer. Zu einer israelischen Erinnerungsfigur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 26 ff. 332 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman Elia Suleimans Kino beginnt als ästhetisches Werkzeug der Post-Memory: The Time That Remains – Chronicle of a Present Absentee (UK/I/B/F 2009) re-inszeniert palästinensische Geschichte durch die Linse der persönlichen Erin- nerungen des Filmmachers sowie den in Erzählungen, Briefen, Gesten und Objek- ten überlieferten Erinnerungen seines Vaters, Fuad Suleiman. Mit The Time That Remains eignet sich Suleimans Kino die historische Fiktion an. Ohne dabei filmisches Nation Building zu betreiben, bebildert er palästinensische Geschichte seit der Nakba entlang der Erinnerungen seines Vaters und der fragilen Präsenz seiner greisen Mutter, die kurz nach der Fertigstellung des Films verstarb. Auch The Time That Remains kann als Fortsetzung eines früheren Films betrachtet werden: Bereits Chronicle of a Disappearance von 1996 enthielt ein Porträt des Vaters, der nach den Dreharbeiten für diesen Film starb. Man sieht ihn darin schlafend in tiefer Nacht, während aus dem Fernseher nach Pro- grammschluss die Hatikva vor wehenden israelischen Fahnen in Endlosschleife ertönt. Suleiman hielt die Idee zu The Time That Remains lange Zeit für unre- alisierbar. Er betrachtete ihn als «the film that I most probably will not make».116 Der Adaption einer Geschichte, die nicht ausschließlich auf seiner persönlichen Erfahrung beruhte, stand der Regisseur skeptisch gegenüber. Dieses Zögern hatte möglicherweise aber auch strukturelle Gründe: Nach den Ereignissen von 1948 waren israelische und Hollywood-Filme hegemonial in der fiktionalen Darstel- lung dieser Epoche. Anlässlich der Premiere des Filmes in Cannes schrieb Sulei- man eine kurze Synopsis des Films: It’s a semi biographic film, in four historic episodes, about a family  – my family – spanning from 1948 until recent times. The film is inspired by my father’s diaries of his personal accounts, starting from when he was a resist- ant fighter in 1948, and by my mother’s letters to family members who were forced to leave the country since then. Combined with my intimate memo- ries of them and with them, the film attempts to portray the daily life of those Palestinians who remained in their land and were labeled as ‹Israeli-Arabs›, living as a minority in their own homeland.117 116 Interview mit Elia Suleiman, Extra auf der DVD-Edition von The Time That Remains. Die Filmografie Suleimans: Introduction to the End of an Argument (Ko-Regie, 1990), The Gulf War, What Next? (1993), Chronicle of a Disappearance (1996), War and Peace in Vesoul (1997), The Arab Dream (1998), Cyber Palestine (1999), Divine Interven- tion (2002), The Time That Remains (2009), 7 Days in Havana (2012), It Must Be Heaven (2019). 117 Suleiman, Elia: «The Time That Remains – Synopsis»: https://www.festival-cannes.com/en/ films/the-time-that-remains (zugegriffen am 21.6.2019). 333 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Die Filmerzählung korrespondiert in vielerlei Hinsicht der wirklichen Biogra- fie des Regisseurs: Suleiman wurde 1960 in Nazareth geboren, im selben Jahr, als Marker seinen Israel-Film fertigstellte. Suleimans Vater arbeitete als Graveur, die Mutter (wie auch Ula Tabaris Mutter) als Lehrerin. Als er vierzehn Jahr alt war, wurde sein Vater wegen Waffenschmuggels verhaftet. 1977 – Ici et ailleurs hatte ein paar Monate zuvor in Paris seine Premiere erlebt – wurde der junge Elia Suleiman selbst in Tel Aviv verhaftet. Er weigerte sich, ein Dokument zu unter- zeichnen, in dem er seine PLO-Mitgliedschaft erklärt hätte, und ging stattdessen nach London und 1982 nach New York, wo er bis 1993 lebte und Film studier- te.118 Zehn Jahre später wurde die Oscar-Nominierung seines zweiten Spielfilms Divine Intervention (F/MA/D/PAL 2002) in der Kategorie ‹Best Foreign Lan- guage Picture› von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences mit der Begründung abgelehnt, das Produktionsland Palästina sei kein von der UNO anerkannter Staat.119 Suleimans erster Film, den er 1990 gemeinsam mit dem libanesisch-kanadi- schen Künstler Jayce Salloum120 montierte, unterzog das visuelle Imaginäre des Nahostkonflikts einer radikalen Kritik. Das essayistische Kompilationsvideo Introduction to the End of an Argument / Intifada – Speaking for One- self… Speaking for Others / Muqadimmah Li-Nihayat Jidal (USA 1990) dekonstruierte dominante mediale Repräsentationen des Nahen und Mittleren Ostens mit den subversiven Strategien des Found-Footage-Films und des ‹Culture Jammings›.121 Er entstand im Kontext der Intifada (1987–1993), des ersten kollek- tiven Aufstands der Palästinenser*innen nach einem Jahrzehnt der Besetzung der Westbank und Gazas, viele von ihnen Kinder, Jugendliche und Frauen. Dieser Aufstand führte zu einer Autonomisierung der palästinensischen Basis von ihrer Führung und war ein wichtiger Faktor für die Aufnahme der Osloer Friedens- verhandlungen. Zum ersten Mal musste sich die israelische Öffentlichkeit mit Bildern jener Gewaltherrschaft konfrontieren, die die Armee in ihrem Namen seit über zehn Jahren über eine Zivilbevölkerung ausübte. «Es war das erste Mal, daß das Fernsehen etwas Positives für die Palästinenser bewirkt hat»,122 meinte Mahmoud Darwish später. Introduction to the End of an Argument, der ganz auf Off-Kommentar verzichtet, besteht aus einer wilden Collage von Filmsequenzen, die aus dem Archiv jener Bilder entwendet wurden, die seit den Anfängen des Kinos den Chrono - 118 Vgl. Gertz/Khleifi: Palestinian cinema: landscape, trauma and memory, S. 40. 119 Wazir, Burhan: «Palestinian film denied Oscars entry», The Guardian 15.12.2002: https://www. theguardian.com/world/2002/dec/15/film.filmnews (zugegriffen am 24.5.2017). 120 Siehe https://vimeo.com/salloum (zugegriffen am 3.6.2019). 121 Siehe DeLaure, Marilyn, Moritz Fink und Mark Dery (Hg.): Culture jamming: activism and the art of cultural resistance, New York: New York UP 2017. 122 Darwish: Palästina als Metapher, S. 172. 334 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman 163–166 Dekonstruktion dominanter audiovisueller Repräsentationen des ‹Nahen Ostens›; Screenshots aus Introduction to the End of an Argument (TC 00:29:59, 00:21:53, 00:30:43, 00:05:19) topos Palästina-Israel formten. Referenzen sind u. a. The Sheik (USA 1921) mit Rudolph Valentino, Otto Premingers Exodus (USA 1960, Abb. 163) und David Leans Epopöe Lawrence of Arabia (UK 1962), aber auch kritische Filme wie Gillo Pontecorvos La Battaglia di Algieri (I/ALG 1966) und Constantin Cos- ta-Gavras Hanna K (F/ISR 1983). Die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst spielt für den Diskurs des Films keinerlei Rolle: Unterschiedlichste Fundstü- cke aus Hollywood-Blockbuster-Spielfilmen und -Animationen (Abb.  164), aus Werbeclips, Wochenschau-Berichten und TV-News seit den 1950er-Jahren und CNN-Live-Coverage der Intifada aus Gaza und der Westbank (Abb.  165) wer- den der audiovisuellen Argumentation einverleibt. Durch Manipulationen der Bild- und Ton-Montage und das Hinzufügen von Schriftinserts werden die Bil- der gegen den Strich gebürstet und als orientalistische, touristische, rassistische bzw. imperialistische Stereotypisierungen in der medialen Darstellung von Ara- ber*innen und Palästinenser*innen kenntlich gemacht.123 Ironische Zwischenti- 123 Siehe Shaheen, Jack G.: Reel bad Arabs. How Hollywood vilifies a people, New York: Olive Branch Press 2001; sowie Khatib, Lina: Filming the Modern Middle East. Politics in the Cinemas of Hollywood and the Arab World, London: I. B. Tauris Publishers 2006. 335 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman tel benennen das von westlichen Medien konstruierte und immer wieder fortge- schriebene narrative Schema: «A mediterranean mise-en-scène» oder «an oriental tale» (Abb. 166).124 Der Zugang zur eigenen Vergangenheit und Zukunft wird von diesen Bildern verstellt. Salloum und Suleiman lesen die Filmgeschichte in ihrem essayistischen Experi- mentalfilm deshalb mit dekolonialem Blick. Als am Ende des Films der ‹Locomo- tive shot› aus dem Jerusalem-Film der Gebrüder Lumière125 zu sehen ist, erklingt dazu Elvis Presleys süßliche Desert Serenade aus dem orientalistischen Musical Harum Scarum (USA 1965): «Give me a chance to hold you near. You’ll see a brand new world appear. So come and hear, my desert serenade.» Das Bild des Zuges, der Jerusalem verlässt, wird nun zum utopischen Bild der Befreiung von jener Fremd- bestimmung umgedeutet, die seit dem Ersten Weltkrieg andauert: «Leave those poor fuckin’ Arabs alone!», ist das letzte Wort des Films, das ebenfalls der Tonspur eines Spielfilms entwendet wurde. Kurz nach der Fertigstellung des Videos kam es im Zuge des von einer US-geführten Allianz geführten Golfkrieges gegen den Irak zu einer spektakulären Modernisierung jener ideologischen Bildwelten, die Sal- loum und Suleiman auseinandergenommen hatten: Aus einer «desert serenade» wurde ein ‹Desert Storm›, statt eine «brand new world» zu schaffen, wurde ein ‹New World Order› durchgesetzt, mit Langzeitfolgen bis in die Gegenwart.126 Der Krieg selbst wurde unsichtbar, «das Gespenst von Vietnam wurde für immer im Wüstensand der arabischen Halbinsel vergraben.» (George Bush)127 Introduction to the End of an Argument hatte versucht, die dekonstruk- tive Arbeit am dominanten Imaginären in Angriff zu nehmen, die notwendig ist, um eine ästhetische Artikulation aus arabischer bzw. palästinensischer Position möglich zu machen. Drei Jahrzehnte später war Elia Suleimans The Time That Remains einer der ersten Filme, der die Hegemonie des israelischen, europäi- schen und US-amerikanischen Kinos im historischen Film in Frage stellte. Aus der Position der «Nicht-Juden in Israel» wendet sich Suleimans Film gegen den «Exodus aus ihrer eigenen und jeder anderen Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft».128 Suleiman reklamiert sein Recht auf Fiktion und konstruiert dazu 124 Vergleichbares hat Craig Baldwin für den europäischen Imperialismus in Afrika in Rocket- KitKongoKit (USA 1986) und für die Geschichte der US-Interventionen in Mittelamerika in Tribulation 99: Alien Anomalies Under America (USA 1991) unternommen. Ein weiteres Beispiel eines politischen Found-Footage-Kinos ist Deedee Hallecks The Gringo in Mañana- land (USA 1995), der in Lateinamerika-Bildern des Hollywood-Kinos koloniale Interessen sichtbar macht. 125 Siehe S. 68 f. 126 Siehe etwa Virilio, Paul: Desert screen. War at the speed of light [1991], London: Continuum 2002; sowie Eleey, Peter und Ruba Katrib (Hg.): Theater of operations. The Gulf Wars 1991–2011 (Exhibition Catalogue). New York: MoMA PS1 2019. 127 Zit. nach Mitchell: Der Pictorial Turn, S. 18. 128 Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, S. 116. 336 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman 167 Nazareth im Mai 1948: historische Fiktion jenseits von Nation Building, Screenshot aus The Time That Remains (TC 00:23:43) ein selbstbestimmtes Bild der Geschichte, das er ganz aus idiosynkratischen Frag- menten zusammenbaut. Das historische Reenactment in The Time That Remains vermeidet jede nationalistische Rhetorik oder Nostalgie, das offizielle Narrativ der PLO ist an keiner Stelle maßgeblich.129 So fehlen die meisten ikonischen Bilder und Ereignisse der palästinensischen Geschichte: Deir Yassin, die PLO und Jasser Arafat, die Fedajin und der bewaffnete Kampf, der ‹Schwarze September›, Sabra und Shatila, die beiden Intifadas – kein einziger Hinweis auf diese emblematischen Namen findet sich in The Time That Remains. Suleimans Aneignung histori- scher Fiktion stellt daher keineswegs die späte Geburt jenes ‹Anti-Exodus› dar, den sich Jean-Luc Godards Auftraggeber 1969 gewünscht hatten. Die Narration von The Time That Remains setzt im Sommer 1948 ein: Trup- pen der Haganah nehmen Nazareth ein, Flugzeuge werfen Flugblätter ab, ein- zelne Scharmützel finden noch statt. Der Bürgermeister unterzeichnet schwei- gend die Kapitulation, alle Waffen werden konfisziert, ein Mann erschießt sich mit versteinerter Miene, nachdem er eine Protestnote verlesen hat. Menschen verlassen auf Lastwagen fluchtartig die Stadt, Fuad Suleiman (gespielt von Saleh Bakri) beobachtet plündernde israelische Soldaten. Er versteckt sein Gewehr im Haus (Abb. 167), wird aber von einem Kollaborateur verraten. Die filmische Dar- stellung der Ereignisse legt nahe, dass das ‹Volk› von Beginn an fragmentiert ist, es fehlt in diesem intialen Moment der Niederlage und des Verrats.130 Fuad wird vorgeworfen, in seiner Werkstatt Waffen zu verstecken, aber wie durch ein Wunder überlebt er ein israelisches Exekutionskommando. Suleiman 129 Vgl. Haider, Sabah: «‹A different kind of occupation›. An interview with Elia Suleiman», The Electronic Intifada 1.2.2010: https://electronicintifada.net/content/different-kind-occupa- tion-interview-elia-suleiman/8654 (zugegriffen am 1.9.2015). 130 Siehe Khalidi, Rashid: «The Palestinians and 1948: the underlying causes of failure», in: Rogan, Eugene I. (Hg.): The war for Palestine: rewriting the history of 1948, Cambridge: Cambridge UP 2001, S. 12–36. 337 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman zeigt dies in statischen Einstellungen, die Rettung Fuads wird nur Off-screen dar- gestellt: In einer Großaufnahme ist er mit verbundenen Augen auf dem Gras knie- end zu sehen, eine Pistole an der Schläfe. Ein Soldat befiehlt ihm, auf zehn zu zählen. Als er bei ‹fünf› innehält und dann zu ‹zehn› springt, wird er mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen, was der Film nur noch aus der Ferne in einer Totalen auf den Olivenhain zeigt, in dem all dies geschieht. Der erste von vier historischen Abschnitten des Films endet mit einer Schwarzblende, als die Solda- ten Fuads bewusstlosen Körper über eine Steinmauer werfen. Suleiman versuchte, der Singularität der Erinnerungen seines Vaters treu zu bleiben: I heard these stories from my father […]. When he fell sick, I asked him to write them down. But I didn’t think I was mature enough to handle them: it’s a thin rope to walk along without falling into all kinds of aesthetic and politi- cal traps.131 Metikulös arrangierte Einstellungen aus dem Haus der Familie restituieren ein Bild arabischer Urbanität im Mandatsgebiet Palästina, das später von anderen Bildern überlagert wurde. Elias Sanbars Reflexion über die Rolle des Visuellen für palästinensische Identitäten nach 1948 macht die Bedeutung von Suleimans Bildern klar: Bevor wir nicht die Wirklichkeit unserer Präsenz durchsetzten, wurden wir lediglich als Flüchtlinge wahrgenommen. Nachdem unsere Widerstands- bewegung erreicht hatte, dass man mit unserem Kampf rechnen müsse, hat man uns erneut in einem reduktiven Bild eingeschlossen.132 Die filmische Erzählung springt ins Jahr 1970: Fuad wirkt inzwischen stoisch und resigniert, schmuggelt aber immer noch Waffen. Der Film zeigt fast nebenbei, wie er sein Leben aufs Spiel setzt, als er einem israelischen Soldaten, der schwer- verletzt in einem brennenden Armee-Lastwagen eingeklemmt ist, das Leben ret- tet und damit zu einer Art «suicide savior»133 (Udi Aloni) wird. Zum ersten Mal taucht die fikionalisierte Figur des Regisseurs selbst auf. Die Eltern und ihr zehn- jähriger Sohn Elia (gespielt von Zuhair Abu Hanna) trinken Tee in der Küche, während aus dem Radio ägyptische Musik ertönt, die deutlich Nassers panarabi- schen Traum evoziert: In den privaten Raum dringt immer schon das Politische ein. In der Schule wird Elia vom Lehrer nach dem Unterricht zur Rede gestellt: 131 Rose, Steve: «Elia Suleiman: stories my father told me», The Guardian 15.6.2010: https://www. theguardian.com/film/2010/jun/15/elia-suleiman-interview (zugegriffen am 24.5.2017). 132 Deleuze/Sanbar: «Les indiens de Palestine», S. 179 (Übers. d. Autors). 133 Aloni, Udi: «For Palestine is Missing from Palestine», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 78–84, hier S. 80. 338 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman 168 Reenactment des Fotos, das am Beginn von Tabaris Investigation stand; Screenshot aus The Time That Remains (TC 00:35:44) «Wer hat Dir gesagt, Amerika sei kolonialistisch?!» Wenn in diesem wortkargen, der sprachlichen Kommunikation misstrauenden Film gesprochen wird, handelt es sich meist um kolonisierende, kontrollierende Diskurse. Das Subjekt spricht nicht, sondern wird gesprochen. Die persönliche Äußerung ist dagegen auf Blicke und Gesten verwiesen. Auf dieser zweiten historischen Ebene reinszeniert der Film auch präzise jene Situation, die Ula Tabaris Private Investigation zugrunde lag. Das Foto, das in ihrem Film zum Ausgangspunkt einer Recherche wurde, die das kindliche Leben zum Politikum machte, taucht in Suleimans Film als ‹Tableau vivant› auf, das die gesamte Situation in den Blick rückt: den Festsaal, die Bühne, die Fähnchen, die Schüler*innen, Lehrer*innen und Honoratioren und deren institutionalisierte Gesten (Abb. 168). Die Mädchen singen allerdings nicht die Hatikva, sondern den Song Machar (‹Morgen›) der israelischen Sängerin Naomi Shemer:134 «Von den Stränden von Eilat zur Elfenbeinküste. Die alten Kriegsschiffe werden Orangen transportieren. Dies ist kein Gleichnis und kein Traum. Es ist wahr, wie die Mittagssonne wahr ist. Wenn nicht für heute, dann für morgen.» Im Kontext von Suleimans Narration ist klar, dass auch hier die Kinder von Besiegten die Lieder des Siegers singen. Mahmoud Darwish: «Er will ich sein und in meinem Namen sprechen.»135 Als ein Vertreter der Schulbehörde den staatli- chen Festakt in den Begriffen eines liberalen Universalismus deutet, produziert dies im Film einen absurden Effekt: 134 Shemers Song Yerushalayim Shel Zahav (‹Jerusalem aus Gold›) war nach dem Juni-Krieg von 1967 zu einer Art inoffiziellen israelischen Nationalhymne geworden, siehe https://jwa.org/ encyclopedia/article/shemer-naomi (zugegriffen am 13.7.2020). 135 Darwish: Palästina als Metapher, S. 46. 339 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman «Ich bin glücklich und stolz, heute diesem wunderbaren Chor den ers- ten Preis des ‹Wettbewerbs des heb- räischen Liedes› zu überreichen. Ich möchte hervorheben, dass die Verlei- hung dieses Preises an eine Schule der arabischen Minderheit unseren ent- 169 Spartakus’ Nachleben im Kino; Screenshot schiedenen Willen beweist, die univer- aus The Time That Remains (TC 00:41:21) sellen Werte der Demokratie und der Gleichheit aller Bürger zu vermitteln.» Der Film konterkariert diese Szene durch eine andere, die wiederum im Festsaal stattfindet. Elia sieht mit seiner Klasse Stanley Kubricks Spartacus (USA 1960) in einer Originalfassung 170 Nassers Begräbnis im Fernsehen; Screenshot mit arabischen Untertiteln. Mit über- aus The Time That Remains (TC 00:50:48) irdischer Stimme spricht Kirk Doug - las als Spartacus zu seinen tausen- den Gefolgsleuten, die hoffnungsvoll an seinen Lippen hängen. Sie könnten erst heimkehren, wenn sie ihre Freiheit in der Schlacht gegen die römischen Legion en erkämpft hätten. Für die Schüler*innen wird Kubricks in Suleimans Geburtsjahr in den USA gedrehter Film zur historisch-politischen Projektionsfolie. Als Kirk Douglas und Jean Simmons sich auf der Leinwand küssen, springt die Lehrerin behende vor den Projektor. In starkem Kontrast zur offiziösen Feier am israeli- schen Unabhängigkeitstag öffnet das Dispositiv des Kinos sich den Wünschen und Phantasien der gebannt zuschauenden Kinder weit (Abb. 169). Spiegelbildlich zu dieser intervisuellen Präsenz Hollywoods in The Time That Remains verhält sich die Darstellung eines Fernsehereignisses, das die arabische Welt in einen Schockzustand versetzte: Am 28. September 1970, wenige Tage nach dem ‹Schwarzen September›, bringt das ägyptische Fernsehen die Nachricht vom Tod Gamal Abdel Nassers. Im Film kommt das zivile Leben zum Erliegen, im Wohnzimmer der Suleimans wäscht die Mutter schluchzend das Geschirr, wäh- rend der Vater erschüttert raucht und im Fernsehen Bilder von den Hundertau- senden zu sehen sind, die am Begräbnis des ägyptischen Generals teilnehmen. Die arabischen Massen verlieren ihren Spartakus, es ist das Ende des panarabi- schen Traums (Abb. 170).136 Die filmische Erzählung öffnet einen dritten historischen Layer, nachdem Elia Zeuge wurde, wie sein Vater wegen Waffenschmuggels verhaftet wurde 136 Siehe Genet: Ein verliebter Gefangener, S. 12 f. 340 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman (Abb.  171). Nach einer Schwarzblende setzt die Narration im Jahr 1980 wie- der ein, wie ein Brief klar macht, den Elias Mutter auf dem Balkon ihrer Wohnung an eine Verwandte im Exil schreibt. Sie erzählt darin vom Heran- nahen des ‹Land Day›. Der 20-jährige Elia (gespielt von Ayman Espanioli) 171 Elia 1970; Screenshot aus The Time That müsse das Land verlassen, nachdem er Remains (TC 00:54:47) bei einer Protestaktion eine israelische Flagge zerrissen habe. Während der ergraute Vater die Blumen gießt, wird im Radio von den historischen Ereig- nissen jenes 30. März 1976 berichtet, um die Ula Tabaris Jinga48 kreist. Die kurze Sequenz endet mit der Andeu- tung von Elias Weggang ins Ausland: 172 Elia 1980; Screenshot aus The Time That Rauchend beobachtet er vom Balkon Remains (TC 01:08:36) der elterlichen Wohnung aus die Aus- einandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und IDF-Soldaten, an denen er selbst nicht mehr teilnimmt. Wiederum endet die Sequenz mit einem Blick auf seinen Vater, der im Auto wartend zu den Klängen eines wehmütigen Schlagers der ägyptischen Sängerin Leila Mourad137 eingeschlafen ist (Abb. 172). Im vierten und letzten Abschnitt des Filmes springt The Time That Remains drei Jahrzehnte in die Gegenwart von 2009. Der Protagonist (nun vom Regisseur selbst verkörpert) kehrt zurück nach Nazareth, um seine kranke Mutter zu besu- chen. Die Gegenwart wird als eine Welt gezeichnet, in der Palästina-Israel Teil eines globalisierten Raums geworden ist, in dem der neoliberale Kapitalismus die Prekarisierung des Lebens verallgemeinert hat. Suleimans Mutter wird von einer philippinischen Pflegerin betreut, die im Film zu Celine Dions Titanic-Hit My Heart Will Go On Karaoke singt. Ihr redseliger Partner, ein Polizist, erzählt von Drogenkonflikten in der Nachbarschaft und vom Tourismus-Marketing, das Nazareth als Stadt von Josef und Maria bewerben will. Eine Wirklichkeit, in der sich hybride Globalität und militärischer Ausnahmezustand vermischen, wird von Suleiman in mikrologischen Slapstick-Szenen ad absurdum geführt. 137 Leila Mourad wurde 1918 als Tochter jüdischer Eltern in Kairo geboren. Nachdem sie den Re- gisseur Anwar Wagdi geheiratet hatte, konvertierte sie zum Islam. 1953 wurde sie zur offizi- ellen Stimme der ‹ägytpischen Revolution› gewählt. In dieser Zeit verbreitete ihr geschiede- ner Mann Gerüchte, sie wäre eine ‹israelische Spionin›, die sich später als haltlos erwiesen. Einen ähnlichen symbolischen Überschuss produzierte die Spartacus-Verkörperung durch Kirk Douglas, der wie Mourad aus einer jüdischen Familie stammte. 341 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman 173 Schuss und Gegenschuss zwischen den Generationen: Suleiman als Protagonist der Fiktion… 174 …und seine reale Mutter; Screenshots aus The Time That Remains (TC 01:18:41, 01:19:33) Die Begegnung mit seiner eigenen Mutter, nun von ihr selbst verkörpert, steht im Zentrum des letzten Teils von Suleimans Film, in dem Fiktion und Doku- ment vollends ununterscheidbar werden. In einer präzise komponierten Einstel- lung betrachtet der Protagonist seine Mutter, während sie auf ihrem Balkon sitzt (Abb. 173–174). Wie in den meisten Sequenzen des Films bleibt die Kamera auch jetzt unbewegt, die Montage präsentiert die Situation in starr gerahmten Einstel- lungen, die in 180-Grad-Schuss-Gegenschuss-Sprüngen konstruiert wird. Immer wieder stoßen solche Einstellungen wie These und Antithese aufeinander, ohne je in der Synthese eines ‹Master Shot› auf das Ganze aufgehoben zu werden: Es gibt in diesem Film keinen absoluten Gesichtspunkt, keine Metasprache, die mit der Alterität des Anderen fertig wird. Der Film hatte die Mutter auf demselben Bal- kon vierzig Jahre früher gezeigt, beim Schreiben eines jener Briefe, die Suleiman nun als Quelle für seine Narration dienen. Elias Vater Fuad ist bereits vor Jahren verstorben, die zerbrechliche Gestalt seiner Mutter gibt ein intensives Bild der Bitterkeit palästinensischer Existenz und ihrer Einsamkeit. Suleiman bricht aber dieses Bild eines beschädigten Lebens durch eine minimale Veränderung. Er stellt 342 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman Lautsprecherboxen auf den Balkon und spielt der Mutter ihre Lieblingsmusik vor. Dies stößt ein musikalisches Werden an: Sie beginnt mit ihren Zehen im Rhyth- mus zu tippen, eine Bewegung, die umso intensiver wirkt, als sie ihren Körper nur unmerklich affiziert. Die Szene korrespondiert jener Episode von 1980, in der Elia vom Beifahrersitz aus seinen Vater betrachtete, der seinen Kopf im Rhyth- mus der Musik wiegte, bevor er einschlief. Der Film platziert in seinem Verlauf immer wieder solche unauffälligen Trigger für eine innerfilmische Erinnerung. So geleitet The Time That Remains die Zuschauer*innen durch seine immer dichter werdende Narration und rechnet  – ähnlich wie Dostojewskij in seinen Romanen – damit, woran sich diese erinnern werden. Wie in allen seinen Filmen bleibt Elia Suleiman selbst eine stumme, an Buster Keaton gemahnende Erscheinung. Wie immer spielt Musikalität eine bedeuten- dere Rolle als Sprache und Dialog, die deutlich hinter der audiovisuellen Kompo- sition von Blickwinkel, Bildausschnitt, Textur, Farbe, Gestik und Musik zurück- treten – ästhetische Elemente, die alle mit größter Sorgfalt ausgewählt sind. Die Musik in The Time That Remains dient nicht der Illustration oder der emotio- nalen Aufladung der Narration, sondern ist ein Medium von Werdensprozessen und damit tragendes Element der Narration: Nostalgische Lieder initiieren als «Ritornelle» (Deleuze/Guattari)138 ein territorialisierendes Band zwischen einem Subjekt und einem Ort, zwischen einem Subjekt und einem Anderen. Eine Party im Ausnahmezustand: In einem hypnotischen Tableau gegen Ende des Films ziehen in einem Club in Ramallah treibende House Beats Tänzer*innen in eine deterritorialisierende körperliche Trance hinein. IDF-Soldaten versuchen von ihrem Militärjeep aus, die Ausgangssperre durchzusetzen. Der Name des Clubs lautet ‹Stones›, ein ironischer Verweis auf die Steine, die palästinensische Jugendliche während der Intifada geworfen hatten. Jetzt scheinen sie in einem Club gleichen Namens abzutanzen139 (Abb. 175). Auch diese Szene variiert eine frühere: Bereits 1948 tönten aus einem solchen Jeep dieselben Befehle, als wäre die Ausgangssperre sechzig Jahren lang nicht aufgehoben worden. Die Einstellung konterkariert ein anderes Stereotyp: das einer Jugend, die von der globalen Pop- kultur abgeschnitten ist und sich mit ethnischer bzw. militanter Folklore identi- fiziert. Während die Soldaten die Position der Majorität einnehmen und sich im Modus der Kontrolle befinden, genießen sich die Tanzenden in ihrem musikali- schen Werden. Sie verharren in einer sensorischen Resistenz, in einem Nicht-Ver- hältnis zur Macht. Sie hören nicht auf die, die ihnen Befehle geben, sie gehorchen nicht. Die Situation entspricht dem sozialen Verhältnis, das Gilles Deleuze ‹Kon- trollgesellschaft› im Gegensatz zur klassischen ‹Disziplinargesellschaft› genannt 138 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, S. 440 ff. und 475 ff. 139 Die Bar in Ramallah, in der diese Szene gedreht wurde, trägt tatsächlich diesen Namen. 343 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman hat: Was diese zu kontrollieren sucht, ist gerade die multiple Bewegung von minoritären Werdensprozessen.140 Nun modifiziert der Film diese Konstellation durch eine Umkehrung der Blickachse, die eine andere Wahr- nehmung derselben Situation eröffnet (Abb. 176). Jetzt beginnt das körperli- che Werden der Tänzer*innen auch die jungen Soldaten in ihrem Militärjeep zu affizieren. Einer von ihnen nickt im Rhythmus der Tanzmusik, während er zugleich mit automatenhafter Stimme seine Order, die Party zu beenden, übers Mikrofon wiederholt. Mit subli- 175–176 Perspektivwechsel als ästhetischer Widerstand: Tanz auf dem Vulkan vs. kontroll- mer Ironie wird eine Umkehrung der gesellschaftlicher Blick; Screenshots aus The Time Machtverhältnisse präsentiert: Es sieht That Remains (TC 01:34:07, 01:34:25) nun so aus, als ob die IDF-Soldaten in ihrem gepanzerten Fahrzeug gefangen wären. Obwohl sie über die Macht verfügen, erscheinen sie nun als ohnmächtig und traurig, während die tanzende Menge auf dem glänzend erleuchteten Dance- floor mit der Musik zu fließen scheint. The Time That Remains klammert seine historische Narration durch phantas- tische visuelle Metaphern ein: Er endet, wie er begonnen hat, in einer Atmosphäre räumlicher Desorientierung. Der Regisseur, wie in fast allen seinen Filmen stum- mer Protagonist der filmischen Narration, findet sich wieder verloren in einem nächtlichen Taxi. Zuvor wurden die Zuschauer*innen von einer imaginären Trans- gression der israelischen Sperrmauer überrascht. In einer so lakonischen wie spek- takulären Geste verwirklicht der Film den Tagtraum von einer Welt ohne Mauern (Abb. 177–178). Der Film endet mit einem musikalischen ‹Revolutionär-Werden›: Während die Filmcredits abrollen, läuft ein Y.A.S.-Remix des Bee-Gees-Hits Stayin’ Alive141 als rückhaltlose Affirmation der Freude unter deprimierenden Umständen. The Time That Remains imaginiert den Chronotopos Palästina: Die vier historischen Layer des Filmes – 1948, 1970, 1980, 2009 – werden nicht zu einer 140 Siehe Deleuze, Gilles: «Postskriptum über die Kontrollgesellschaften» [1990], in: ds.: Unter- handlungen 1972–1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 254–262. Es ist eine bittere Ironie, dass die israelische Armee in ihren taktischen Überlegungen zur Kontrolle der besetzten Ge- biete auch auf Konzepte von Deleuze und Guattari zurückgreift; vgl. Weizman, Eyal: Sperr- zonen: Israels Architektur der Besatzung, Hamburg: Edition Nautilus 2009, S. 201–235. 141 Y.A.S., ein Akronym für ‹Your Arab Soundsystem›, wurde von DJ Mirwais gemeinsam mit Yas- mine Hamdan gegründet, der Sängerin der libanesischen Band Soapkills. 344 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman 177 Der stumme Protagonist vor der israelischen Sperrmauer; Screenshot aus The Time That Remains (TC 01:34:48) 178 Vom filmischen zum phantasma- gorischen ‹Jump Cut›; Screenshot aus The Time That Remains (TC 01:34:51) teleologischen Fortschrittserzählung zusammengesetzt. Indem der Film «mit Hilfe von Trance oder Krise»142 kollektive Aussagen erzeugt, die das fehlende Sub- jekt des historischen Prozesses ersetzen, gibt er sich mit Gilles Deleuze als Beispiel des minoritären Kinos zu erkennen. Im Gefüge von Suleimans filmischer Erzählung werden immer wieder visu- elle Elemente auf den verschiedenen Zeitebenen variiert, so z. B. eine Szene in einem Straßencafé während des Kampfes um Nazareth, die sich 1980 und 2009 in analoger Form wiederholt: Rauchend und Kaffee trinkend beobachten drei Gäste des Cafés die an ihnen vorbeiziehende ‹Historie› mit stoischen Mienen. In diesen Serien erzeugt Suleiman minimale Differenzen und schafft über die Dauer des Films eine hypnotische Form der Temporalität. Sie verweisen darauf, dass in The Time That Remains die titelgebende Zeit tatsächlich bleibt. Die Immer- sion der Zuschauer*innen wird weniger entlang der Chronologie des Zeitstrahls geführt, vielmehr schichtet die filmische Narration vor ihnen alle zeitlichen 142 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 288. 345 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Ebenen übereinander, sodass nach und nach der Eindruck einer immer dich- ter werdenden Kopräsenz aller Zeiten entsteht. Auf diese Weise expandiert der Film während seiner Dauer gleichsam vertikal innerhalb der lebendigen Erin- nerung und des produktiven Unbewussten. Er versetzt seine Betrachter*innen in die Position des Benjamin’schen Engels, der dort, wo anderen «eine Kette von Begebenheiten»143 erscheint, «eine einzige Katastrophe»144 wahrnimmt. Viel- leicht rührt daher die besondere Erfahrung beim Drehen dieses Films, die Sulei- man als «experience of elevation, of a certain kind of euphoria, of a certain kind of metamorphosis»145 beschrieben hat. Den Filmtitel verstand er auch als Warn- signal: Of things running out. Of time running out. Of the fact that maybe it’s already too late. From the melting ice to the cleansing of any form of jus- tice.146 Suleimans ‹Chronik› präsentiert sich nicht als ‹wahre Geschichte› und weigert sich, als Antwort auf Trauma und Depression eine lineare Erzählung oder gar einen nationalen Mythos zu fabrizieren. Auf die Frage, ob sein Film autobiogra- phisch, dokumentarisch oder fiktional sei, antwortete er: «I refuse linear histories […]. I depart from a certain grounding of truth into an aesthetic dimension.»147 Suleiman übersetzt mit seiner Fiktionalisierung von Gedächtnis das poetische Programm von Mahmoud Darwish ins Kino: History awoke a sense of irony in me. This lightens the weight of the nation- alist worry somewhat. And so one sets out on an absurd journey. […] What matters is that I was able to find a greater lyrical capacity, and a passage from the relative to the absolute. An opening allowing me to inscribe the national on the universal, so that Palestine not limits itself to Palestine, but that it may find its aesthetic legitimacy in a vaster human space.148 Zehn Jahre nach Darwishs künstlerischer Konfession hat sich die Welt in einen Ort verwandelt, in dem Palästina-Israel kein isolierter und singulärer Schauplatz mehr ist. Einerseits ist der Nahostkonflikt «im Kern auf den Territorialkonflikt zwischen 143 Benjamin: «Über den Begriff der Geschichte», S. 697 f. 144 Ebd. 145 Interview mit Elia Suleiman, Extra auf der DVD-Edition von The Time That Remains. 146 Haider: «‹A different kind of occupation›. An interview with Elia Suleiman». 147 Rose: «Elia Suleiman: stories my father told me», The Guardian 15.6.2010. 148 Darwish, Mahmoud u. a.: «[I Discovered That the Earth Was Fragile and the Sea Light]», boundary 2 26/1/1999, S. 81–83, hier S. 81; siehe auch ds.: Palästina als Metapher, S. 66 sowie S. 128 f. 346 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman Israel und den Palästinensern geschrumpft»,149 gleichzeitig wurde er zu einer pro- totypischen Konfliktstruktur der Post-9/11-Welt. Wie Darwish zielt Suleiman ausgehend von der ‹palästinensischen Sache› auf eine universelle Artikulation: The Arab-Israeli conflict is the world’s conflict and vice-versa, so I don’t know what is a microcosm of what anymore, because globally, Palestine has multiplied and generated into so many Palestines. […] In fact, The Time That Remains is not at all a metaphor of Palestine. […] This is a reality that is being experienced everywhere in the world, and not necessarily just by Palestinians. I’m saying it’s an experience that can be identified […] everywhere in the world. We live in a place called ‹the globe› today that has a multiplicity of experiences in it.150 Tatsächlich sind aus Suleimans Film keine konkreten auf den israelisch-paläs- tinensischen Kontext bezogenen politischen Forderungen abzuleiten. Für Udi Aloni, der seinem Regie-Kollegen in einem Text auf The Time That Remains antwortete, folgt aus Suleimans Film jedoch eine radikale Konsequenz, die sich aus der Perspektive einer Ethik des Anderen ergibt: Engaging in a cinematic dance, Suleiman creates an aesthetic of the present- absent subject. Until this present absentee is once again fully present, the place called Israel will remain irremediable and bereft of a permanent name.151 Inwiefern sind die besprochenen Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman als Beispiele des filmischen Essayismus anzusprechen? Tabaris Filme versetzen das Dokumentarische in einen essayistischen Modus, indem sie ihre Investigation ganz auf die Singularität eines fragenden ‹Ichs› stützt. Sie betreibt Selbsterfor- schung in der Tradition Montaignes, der seine Essais nur an Freunde adressierte. Suleimans Spielfilme wiederum versetzen den Spielfilm in einen essayistischen Modus, indem sie in der Tradition der großen Malerei das Bild zu einem Medium des Denkens werden lassen: I like to maximalise the potentiality of the images to see what they have to say and to open to the spectator all the possibilities of their own democratic reading of the image.152 149 Perthes, Volker: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 75. 150 Haider: «‹A different kind of occupation›. An interview with Elia Suleiman». 151 Aloni, Udi: «For Palestine is Missing from Palestine», in: Aloni (Hg.): What does a Jew want? S. 78–84, hier S. 78. 152 Elia Suleiman: «The world today has become a global Palestine», France 24 English 3.12.2019: https://www.youtube.com/watch?v=9CVkkpJMDa8 (zugegriffen am 22.8.2020). 347 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman Suleiman nimmt an einem Kampf um visuelle Selbstbestimmung teil, wenn er Ta - bleaus im Stil der niederländischen Meister komponiert. Genauso Maler wie Regis- seur, versucht er in seinem Kino ähnlich wie Darwish in seiner Lyrik, «die Gegen- wart aus ihrer Verankerung zu lösen und sie in den Rahmen einer Ikone […] zu stellen.»153 Seine Einstellungen kreiert er in einem langsamen Prozess als mentale Bilder, die über die Zeit und in Beziehung zueinander langsam auskristallisieren: It takes a lot of static – hours, days and months and I would say even years – of going back and forth, and reflecting on the wall a certain tableau for instance. This tableau is always in the imagination. […] Sometimes the maturing of a certain scene becomes the maturing of a scene very far, distant away. But in the cosmos of writing there are things… that I call: ‹they fall into place›.154 Beide künstlerischen Projekte beziehen sich auf eine Realität, die von den Mecha- nismen des neoliberalen Kapitalismus und den Sicherheitspraktiken der Kont- rollgesellschaft in einem spezifischen regionalen Kontext bestimmt ist. Beider Filme beziehen sich auf eine geschichtspolitische Bewegung, die die Nakba als generisches Ereignis rekonstruiert, als den Beginn eines Ausnahmezustandes, in dem immer neue Gewaltakte und Kriege lediglich Sequenzen bilden. Beide manö- vrieren ästhetisch jenseits des Diskurses des palästinensischen Nationalismus und abgelöst vom Bereich offizieller repräsentativer Politik. Ula Tabari: I am not representing the ‹Palestinian people› […], and I am not representing ‹Palestine› and I am not telling the ‹truth›. Therefore I decided to put myself up as a character, as an individual and to tell you a private story. […] I am not a leader and I don’t have a leader. Maybe that’s my problem politically. So, I have to do everything alone, and doing a film is part of that.155 Statt an Prozessen von Nation Building teilzunehmen, artikulieren ihre Filme Prozesse des Minoritär-Werdens. Sie kreieren und besetzen einen imaginä- ren Raum jenseits der Traumatisierung durch den permanenten Ausnahmezu- stand, der die Kapazitäten des Subjekts zu ruinieren droht: begehren, genießen, erfahren, reflektieren, lachen, träumen, handeln.156 Weit davon entfernt, auf die Re-Präsentation von Marginalisierung, Trauma, Absenz und Verlust beschränkt zu sein, stellen beide Filmemacher*innen die «universelle Figur des minoritä- 153 Darwish: Palästina als Metapher, S. 54. 154 Interview mit Elia Suleiman, Extra auf der DVD-Edition von The Time That Remains. 155 Grabher: «Ula Tabari: ‹The struggle for meanings is the struggle to exist›», S. 252; siehe auch Darwish: Palästina als Metapher, S. 166. 156 Siehe dazu Darwish: Palästina als Metapher, S. 66 f. 348 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman ren Bewusstseins als Werden eines jeden»157 dar. Ausgehend von der Diagnose, dass ‹das Volk fehlt›, verkörpern ihre filmischen Projekte zwei Optionen: Wäh- rend Ula Tabari Subjektivierungsprozesse dokumentiert, in denen es darum geht, ‹jemand›, ‹palästinensisch› und schließlich ‹revolutionär› zu werden, ohne sich dabei noch auf ein existierendes nationales Projekt stützen zu können, arbeitet Suleiman an einer «impersonal performance»158 (Patricia Pisters), an einem Ver- such ‹niemand›, ‹unwahrnehmbar› und auf diese Weise ‹revolutionär› zu wer- den.159 Immer wieder wurden Elia Suleimans Filme als Variationen über Absenz, Trauer und Melancholie interpretiert. Dieser Sichtweise widerspricht Udi Aloni: There is a difference between Freud’s perception of melancholy and the per- formative kind of melancholy that can produce a revolutionary awareness. When the process of mourning is impossible, when death repeats itself con- stantly, only a revolutionary type of leap can catapult the Israeli Arab out of the immanent melancholy of his state.160 Wo Trauer unmöglich ist, weil die Kette der Retraumatisierungen nicht abreißt, bleibt als einzig möglicher Ausweg ein Revolutionär-Werden. Was Patricia Pis- ters über Suleimans Divine Intervention schreibt, gilt genauso für The Time That Remains: The political accountability of these images is necessarily situated on the level of their power to do something (if only to affect us and cause debate) to real- ity, rather than on the level of accurate representation in or as reality. For the filmmaker, this implies that he should not try to represent a people, but his fabulating films can contribute to the creation of a people.161 Mit Deleuze’schen Konzepten rückt die konstruktive Dimension ins Zentrum des Nachdenkens über künstlerische Kreativität und ihre ästhetischen Strategien, die auf das Unerträgliche antworten. Elia Suleiman beobachtet allerdings eine zuneh- mende Prekarisierung seines künstlerisch-politischen Projektes: 157 Deleuze: «Philosophie und Minderheit», S. 29; weiters Streit, Elisabeth, Peter Grabher und Tom Waibel: «Jede/r ist eine Minderheit. Vom minoritär-werden im Kino», Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten 74/2010. 158 Pisters, Patricia: «Violence and Laughter: Paradoxes of Nomadic Thought in Postcolonial Cine- ma», in: Bignall, Simone und Paul Patton (Hg.): Deleuze and the postcolonial, Deleuze connec- tions, Edinburgh: Edinburgh UP 2010, S. 206. 159 Siehe Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, S. 380 ff. 160 Aloni: «For Palestine is Missing from Palestine», S. 80. 161 Pisters: «Violence and Laughter: Paradoxes of Nomadic Thought in Postcolonial Cinema», S. 208. 349 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman I can tell you at the same time that the space of this form of reflexivity, of meditation of pleasure, of the positivity to destabilize the authorities that are aggressing us, those who want any form of a better life, is shrinking. We are not necessarily winning. We are only trying to arrest the regression, unfortu- nately. And the powers that are trying to shrink our aspiration for democracy are greater than our imagination.162 Auch in dieser Hinsicht ist die Kunst dem politischen Revolutionär-Werden eng verwandt. Deleuze: Angeblich haben Revolutionen eine schlechte Zukunft. Aber dabei bringt man zwei Dinge durcheinander: Die Zukunft der Revolutionen in der Geschichte und das Revolutionär-Werden der Menschen. Es sind nicht ein- mal dieselben Leute in beiden Fällen. Die einzige Chance des Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet werden oder auf das Unerträgliche geantwortet werden.163 Dieses Konzept von ‹Revolution›, das mit den Revolutionstheorien von Blanqui bis Guevara wenig gemein hat, ist von einer intensiven Rezeption der Erfahrun- gen Primo Levis164 inspiriert, erklärte Deleuze einmal: Mich haben all jene Seiten bei Primo Levi sehr erschüttert, auf denen er erklärt, daß die Konzentrationslager der Nazis in uns ‹die Scham, ein Mensch zu sein›, hervorgebracht haben.165 Auch für Elia Suleiman sind Levis Texte eine zentrale Referenz. Wegen seines lakonischen Humors und seiner stoischen Präsenz als Schauspieler wurde er wiederholt als ‹palästinensischer Buster Keaton› bezeichnet und seine Filme mit jenen von Jacques Tati verglichen.166 Als dies in Cannes anlässlich der Premiere von The Time That Remains wieder einmal geschah, antwortete Suleiman: 162 Haider: «‹A different kind of occupation›. An interview with Elia Suleiman». 163 Deleuze: «Kontrolle und Werden. Gespräch mit Toni Negri», S. 245. 164 Den Primo Levi zugeschriebenen Aphorismus ‹Jeder ist jemandes Jude. Und heute sind die Pa- lästinenser die Juden Israels›, hat dieser nie geäußert. Zum Hintergrund dieser Aussage, die Shoah und Nakba nivelliert vgl. Scarpa, Domenico und Soave, Irene: «Le vere parole di Levi», Il Sole 24 Ore 8.4.2012: https://www.auschwitz.be/images/parole_di_Levi.pdf (zugegriffen am 22.7.2019). 165 Deleuze: «Kontrolle und Werden. Gespräch mit Toni Negri», S. 247. 166 Vgl. etwa Lionis, Chrisoula: Laughter in Occupied Palestine: Comedy and Identity in Art and Film, London/New York: I. B. Tauris 2016, S. 139 ff. 350 6.2 The Time That Remains (2009) von Elia Suleiman Ever since my first film, I never saw the films of Tati or Buster Keaton. Now I absolutely adore the films of Tati […]. I’m more influenced by Primo Levi than I am by Tati, and he’s not even a filmmaker.167 Obwohl sich Gilles Deleuze auf zahlreiche Filme bezog, die heute als Essayfilme bezeichnet werden, spielt die Kategorie des ‹Essayistischen› bzw. des ‹Essayfilms› in seinen Kino-Büchern keine Rolle (genausowenig wie die Unterscheidung von Spiel- und Dokumentarfilm). Die Konjunktur dieses Begriffs setzte erst in den frühen 1990er-Jahren ein und Deleuze ging in seinen Analysen davon aus, dass das Kino per se ein spezifischer Modus des Denkens sei, wodurch die Dichoto- mien von dokumentarischem und fiktionalem, von essayistischem und nicht- essayistischem Film von vornherein bedeutungslos sind. Das Denken der Bilder ist in Deleuze’scher Perspektive nicht dem Essayfilm vorbehalten, es kennzeich- net das moderne Kino des ‹Zeit-Bildes› schlechthin. Aber im Kapitel «Das Denken und das Kino» bezog er sich auf Alexandre Ast- rucs ‹Caméra-stylo› und zitierte dessen grundlegende These: «Der Ausdruck des Gedankens ist das Grundproblem des Films.»168 Das Spezifikum der ‹Caméra- stylo› sei – so Deleuze –, dass sie, z. B. bei Orson Welles, das Denken aus der Mon- tage «ins Innere der Bilder»169 verlege. Jedoch sei das höchste Ziel, welches das Kino zu verwirklichen versuche, «das Denken und nichts anderes als das Denken und seine Funktionsweise».170 Die Erreichung dieses Ziels werde paradoxerweise durch eine grundlegende «Ohnmacht des Denkens»171 (Antonin Artaud) notwen- dig, durch «die Gestalt des Nichts, die Inexistenz eines Ganzen, das gedacht wer- den könnte.»172 Deleuze zufolge übernimmt das Denken des Kinos die Aufgabe, den Menschen angesichts der Inexistenz eines Ganzen, angesichts des Unerträg- lichen und einer «Welt, die uns als ein schlechter Film vorkommt»,173 Gründe für den Glauben an diese in die Hand zu geben. Dies ist ein radikales Unterfangen in einer Zeit, in der Lüge, Depression, Angst und Hass das Revolutionär-Werden blockieren – in Palästina-Israel und darüber hinaus.174 Tabari und Suleiman ver- 167 Suleiman, Elia: «Palestinain [sic] director Elia Suleiman talks about his film at Cannes Compe- tition», Cinema Without Borders 22.5.2009: https://cinemawithoutborders.com/1879-palesti- nain-director-elia-suleiman-talks-about-his-film-at-cannes-competition (zugegriffen am 30.5. 2019). 168 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 402 (Anm. 38). 169 Ebd., S. 220. 170 Ebd. 171 Ebd., S. 219. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 224. 174 Siehe etwa Berardi, Franco: Helden. Über Massenmord und Suizid, Berlin: Matthes & Seitz 2016. 351 6 Minoritäres Kino in Palästina-Israel. Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman 179 Ein palästinensischer Engel im New Yorker Central Park; Screenshot aus It Must Be Heaven (TC 01:11:20) ausgaben sich mit ihren essayistischen Filmen auf unterschiedliche Weise für ein solches Projekt. Man denkt an The Time That Remains, wenn Deleuze weiter schreibt, es gehe nicht darum, an eine andere Welt [zu] glauben, sondern an das Band zwischen Mensch und Welt, an die Liebe oder das Leben, und zwar im Sinne des Unmögli- chen, des Undenkbaren, das dennoch nur gedacht werden kann. […] Dieser Glaube macht aus dem Ungedachten die dem Denken eigene Macht, durch das Absurde und kraft des Absurden.175 «The world today has become a global Palestine.»176 In seinem letzten Film It Must Be Heaven (F/PAL 2019) verließ Suleiman Palästina-Israel, um diese These an anderen Orten  – in Paris und New York  – zu verifizieren. Im New Yorker Central Park, unweit des ‹Trump Tower›, inszenierte er eine chaplineske Verfol- gungsjagd, die noch einmal die Anfänge des bewegten Bildes evoziert: Während Leonard Cohens Song Darkness erklingt, versuchen tolpatschige Polizisten ver- geblich, einem palästinensischen ‹Engel der Geschichte› in Gestalt einer jungen Frau Herr zu werden, die mit Palästina-Flagge und Flügeln bekleidet ist. Zumin- dest im Kino obsiegt die Ironie über die Absurdität der Geschichte (Abb. 179). 175 Deleuze: Das Zeit-Bild (Kino 2), S. 222. 176 Suleiman: «The world today has become a global Palestine», France 24 English 3.12.2019. 352 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Durch die Kunst nur vermögen wir aus uns herauszutreten und uns bewußt zu werden, wie ein anderer das Universum sieht, das für ihn nicht das gleiche ist wie für uns und dessen Landschaften uns sonst ebenso unbekannt geblieben wären wie die, die es möglicherweise auf dem Mond gibt. Dank der Kunst sehen wir nicht nur eine einzige Welt, nämlich die unsere, sondern eine Vielzahl von Welten; so viele wahre Künstler es gibt, so viele Welten stehen uns offen: eine von der anderen stärker verschieden als jene, die im Universum kreisen, senden sie uns Jahrhunderte noch, nachdem der Fokus erlo- schen ist, von dem es ausging, ob er nun Rembrandt oder Vermeer hieß, ihr spezifisches Licht. Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit (1927)1 Israël–Palestine. Que peut le cinéma? Was vermag das Kino an diesem Ort? 1978 organisierten Janine Halbreich-Euvrard und Guy Hennebelle in Paris zum ersten Mal eine Filmschau, die Antworten auf diese Frage suchte. In einem Text wies Halb- reich-Euvrard damals dem Kino eine Aufgabe zu, die der Kunsttheorie, die Marcel Proust in seiner Suche nach der verlorenen Zeit formulierte,2 genau entsprach: Wenn wir unsere Behauptungen einander gegenüberstellen wollen, dann brauchen wir dazu jenes Minimum an Toleranz, das notwendig ist, um 1 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7: Die wiedergefundene Zeit, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 301 f. 2 Jacqueline Rose hat 2011 eine weit über ihr Thema hinaus bedeutsame Studie über Proust in nahöstlicher Perspektive vorgelegt, siehe Rose, Jacqueline: Proust among the nations. From Dreyfus to the Middle East, Chicago IL: University of Chicago Press 2011. 353 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? wenigstens die Perspektive des Anderen zu sehen und zu verstehen  – und hier kann und muss das Kino eine entscheidende Rolle spielen.3 2005 wiederholte sie in einer weiteren Filmreihe und einem neuen Buch ihre Ant- wort auf jene Frage, die brennend aktuell geblieben war: Nichts in der Region hat sich geändert, wenn nicht zum Schlimmeren: Der Tod, die Angst, die Erniedrigungen sind jederzeit zur Stelle. Nachdem ich einen Monat dort verbracht hatte, schien mir eine Sache gewiss: Es wird kei- nen Frieden geben, solange der eine nicht den anderen anhört, ihm seinen Schmerz nicht zugesteht. Heute, genauso wie vor 28 Jahren, weigere ich mich, dort stehen zu bleiben. Es ist dringend, unverzichtbar, lebensnotwendig für die israelischen und palästinensischen Filmemacher, dass sie auf diesem so richtigen Weg nicht innehalten, daher die Idee zu diesem Buch, das jenen das Wort gibt, die sich durch das Bild ausdrücken.4 Auch das vorliegende Buch fühlt sich dieser Haltung verpflichtet. Es versucht, einen neuen Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung von Palästi- na-Israel zu werfen und Perspektiven einer essayistischen (Bild-)Politik zu umrei- ßen. Ziel war die Prüfung der These, dass die Ästhetik des filmischen Essayismus als einer «denkende[n] Form» (Jean-Luc Godard) im Bezug auf den Nahen Osten zukunftsfähig ist. Ein Leitmotiv bildete die Überlegung, dass ein Kino im essay- istischen Modus Artikulationsmöglichkeiten eröffnet, die dem Spiel- und Doku- mentarfilm – nicht zu reden von den klassischen oder neuen ‹sozialen› News-Me- dien – verschlossen bleiben. Dazu wurde eine Auswahl von Filmen analysiert, die seit 1960 entstanden sind und auf ganz individuelle Weise zwischen Fiktion und Dokument changieren. Sie zielen nicht auf die dokumentarische oder fiktionale Abbildung einer ‹authentischen› Realität, sondern vielmehr auf eine ‹Entautoma- tisierung der Wahrnehmung› (Viktor Schklowski),5 sowie auf den Ausdruck und die Rekonfiguration von Gedanken und Gefühlen, von Perzepten, Konzepten und Affekten, die den vielschichtigen Topos ‹Palästina-Israel› durchziehen. Entscheidend für das essayistische Kino ist die skeptische Infragestellung des Begriffs einer dokumentarischen Wahrheit. Denn für Essayfilme gibt es keine einfachen ‹Facts on the ground›, die vom technischen Auge der Kamera direkt aufgezeichnet werden könnten. Christa Blümlinger: 3 Hennebelle/Euvrard: Israël–Palestine. Que peut le cinéma? Paris: Société Africaine d’Édition 1978. 4 Halbreich-Euvrard: Israéliens, palestiniens, que peut le cinéma? Carnets de route, Paris: Micha- lon 2005, S. 15 f. (Übers. d. Autors) 5 Vgl. Roscher, Gerd: «Konstellationen einer Zwischenzeit», in: Kramer, Sven und Thomas Tode (Hg.): Der Essayfilm: Ästhetik und Aktualität, Konstanz: UVK 2011, S. 61–70, hier S. 65. 354 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Die Bilder und Worte gelten niemals als ‹reine› Dokumente, selbst wenn sie sich mündlicher oder photographischer Zeugenschaften bedienen.6 Die Kritik an der Vorstellung faktischer Wahrheit, die Hannah Arendt 1967 for- mulierte, wird in jedem essayistischen Film vorausgesetzt: Denn was wir unter Wirklichkeit verstehen, ist niemals mit der Summe aller uns zugänglichen Fakten und Ereignisse identisch und wäre es auch nicht, wenn es uns je gelänge, aller objektiven Daten habhaft zu werden. Wer es unternimmt zu sagen, was ist  – legei ta eonta  –, kann nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten bereits ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen eine Bedeutung, die mensch- lich sinnvoll ist.7 Das essayistische Kino geht weniger von ‹Fakten und Ereignissen› aus, als von sol- chen ‹menschlich sinnvollen Bedeutungen› und wird so zu einem Borderline-Phä- nomen zwischen Tatsachen und Fiktionen. Für seine Autor*innen gilt, was Michel de Montaigne zufolge den modernen neuzeitlichen Menschen schlechthin auszeich- net: «Nur mit seinen Augen kann er sehen, nur mit seinem Griff greifen.»8 Anders als Montaignes Zeitgenosse Francis Bacon teilen sie nicht die Hoffnung, die Trug- bilder, die den menschlichen Verstand am Zugang zur Wahrheit der platonischen Urbilder hindern, jemals durch systematische naturwissenschaftliche Beobach- tung auflösen zu können. Ganz im Gegenteil lassen sie «die Trugbilder aufsteigen»,9 die – so Deleuze – «eine positive Macht»10 bergen. Wie Montaigne machen essay- istische Filmemacher*innen aus ihrer perspektivischen Beschränkung ein ästheti- sches Programm: «Die Unmöglichkeit, die Wahrheit der Welt auszusprechen, wird zum Mittel, sich selbst in seiner persönlichen Wahrheit auszusprechen.» (Jean Sta- robinski)11 Die Betrachter*in rückt damit selbst ins Zentrum, ihr «Akt des Beob- achtens und Darstellens bildet seinerseits den Gegenstand einer Darstellung.»12 Ausgehend vom Essayismus Montaignes referierte unsere Untersuchung klas- sische Ausarbeitungen einer Theorie der hybriden und häretischen Form des 6 Blümlinger, Christa: «Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes. Zu Chris Markers Level Five», montage/av 7/2/1998, S. 91–104, hier S. 103. 7 Arendt, Hannah: «Wahrheit und Politik», in: ds.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München/Zürich: Piper 1972, S. 44–92, hier S. 89. 8 Montaigne, Michel Eyquem de: Essais, Band 2, München: Goldmann 2002, S. 416. 9 Deleuze, Gilles: «Trugbild und antike Philosophie», in: ds.: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 311–340, hier S. 320. 10 Ebd. 11 Starobinski, Jean: Montaigne. Denken und Existenz, Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 371. 12 Ebd., S. 52. 355 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? (Film-)Essays, etwa bei Sergej Eisenstein, Hans Richter, Alexandre Astruc, Max Bense, Theodor W. Adorno, Rudolf Arnheim und Umberto Eco. Gemeinsam ist diesen Autoren, dass sie den Essay als epistemologisches Genre verstehen, in dem versucht wird, im Spannungsfeld von Bild und Text, von Sichtbarem und Sag- barem, von Anschauung und Begriff, von Aisthesis und Logos ein spezifisches Denken zu entfalten. Eine essayistische Lektüre des Sichtbaren unterscheidet sich dabei entscheidend vom Modell der Textlektüre, geht es doch um etwas Para- doxes: «‹Was nie geschrieben wurde, lesen.›»13 Vermittels Bildern zu denken, ist jenem «Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen»14 verwandt, das Walter Benjamin in seinen Aufzeichnungen zum ‹Passagen-Werk› als ein Denken in ‹Konstellationen›, in ‹dialektischen Bildern› zu fassen versuch- te.15 Diese Vorstellung einer Bilderschrift hatte Theodor W. Adorno vor Augen, als er in einer seiner seltenen Äußerungen zum Kino diesem einen dritten Weg jen- seits von Spiel- und Dokumentarfilm empfahl: Der Film findet sich vor der Alternative, wie er ohne Kunstgewerbe einerseits, andererseits ohne ins Dokumentarische abzugleiten verfahren solle. Die Ant- wort, die primär sich darbietet […], ist die der Montage, die nicht in die Dinge eingreift, aber sie in schrifthafte Konstellation rückt.16 Adorno registrierte nicht mehr, dass nach 1945 tatsächlich ein solches – essayis- tisches – Kino, das nicht mehr abzubilden, sondern aus dem Sichtbaren zu ‹lesen› versucht, entstanden war.17 Dieses Kino, das kein Genre bildete, sondern in Ein- zelwerken zu entdecken war, charakterisierten wir aus heuristischen Gründen durch eine Reihe von Merkmalen: Es sei subjektiv, kritisch, offen, anti-realistisch, konstruktivistisch, hybrid und minoritär. Diese Bestimmungsmerkmale sind in der Fachliteratur der 1990er-Jahre kanonisch geworden, allerdings decken sie nicht ab, was der aktuellere Begriff eines ‹essayistischen Modus des Kinos› besser fassen kann: dass essayistische Spielfilme von einer anderen Seite her ein Den- ken in Bildern realisieren können als die klassisch zu nennenden essayistischen 13 Benjamin, Walter: «Über das mimetische Vermögen» [1933], in: ds.: GS II.1, S. 210–213, hier S. 213. Benjamin zitierte diesen Satz aus Hugo von Hofmannsthals Gedicht Der Tor und der Tod von 1893 in mehreren Texten; siehe Mitchell: «Der Pictorial Turn», S. 19. 14 Ebd. 15 Siehe Benjamin: «Das Passagen-Werk», GS V.1, S. 576 ff.; weiters Tiedemann, Rolf: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 32 ff.; sowie Palmier: Walter Benjamin, S. 760–777. 16 Adorno, Theodor W.: «Filmtransparente» [1966], in: ds.: Ohne Leitbild, Parva Aesthetica, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 83; zit. nach Roscher: «Konstellationen einer Zwischen- zeit», S. 66. 17 Eine Ausnahme bildet Adornos Begegnung mit Alexander Kluge und dessen frühen Filmen; vgl. Roscher: «Konstellationen einer Zwischenzeit», S. 63 ff. 356 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Dokumentarfilme in der 1. Person Singular, aus deren Analyse jene Kriterien vor allem gewonnen worden waren. Darüber hinaus erlaubt der Begriff eines filmi- schen ‹Modus›, auch kollektive Artikulationen einzubeziehen sowie essayistische Verfahrensweisen, die sich nicht auf die Autorität einer kommentierenden Rede stützen, sondern ihren gedanklichen Ausdruck über non-verbale bzw. performa- tive Strategien finden. Postklassische Theorien verstehen deshalb den filmischen Essayismus nicht als ein epistemologisches Genre, sondern als eine Form ästheti- schen Handelns. Ihn zeichne weniger seine monologische Selbstreflexion als die dialogische Einbeziehung des Anderen aus, weniger seine Subjektivität als seine Inter-Subjektivität. Nur durch ihren reflexiven, zugleich aber dialogischen Zugriff gelingt es essayistischen Filmen, kollektive Prozesse der Produktion von Wahr- nehmung, Gedächtnis und Subjektivität selbst ins Bild zu rücken. In den Filmanalysen dieses Bandes wurde deshalb kein Raster von ‹Genre- Merkm alen› des Filmessays angelegt, sondern versucht, aus dem filmischen Material heraus individuelle essayistische Schreibweisen darzustellen. Die Filme wurden als ‹Kraftfelder› verstanden, als Kunstwerke, die von einem Netz vielfäl- tiger ‹Kraftlinien› und Relationen durchzogen werden, das sie ihrerseits zu rekon- figurieren suchen. Das wissenschaftliche Schreiben entwickelte sich zu einer Col- lage von historischen Materialien und begrifflichen Konzepten und ist darin dem Anspruch nach dem Filmessay methodisch verbunden. Diese stärker induktiv als deduktiv orientierte Arbeitsweise resultierte in mikrohistorischen Wissenserzäh- lungen, in denen immanente Sequenz- und Einzelbildanalysen mit einer mög- lichst detaillierten Rekonstruktion des Schaffensprozesses sowie der Darstellung von filmischen Inter-, Hyper- und Kontexten verknüpft wurden. In den Analy- sen wurde außerdem versucht, den Wandel des medialen Index und der visuellen Regime in den Jahrzehnten bis etwa 2010 zu verzeichnen, den Übergang von der ‹Epoche der Leinwand› zu jener des ‹Monitors› und schließlich zur gegenwärtigen ‹Epoche des Displays›. Die Untersuchungen dieses Bandes verstehen sich als Beitrag zu einer Visual History Israel-Palästinas und dessen transnationaler und interkultureller Wahr- nehmung. Ihren theoretischen Bezugsrahmen bildete eine kultur- und medien- wissenschaftlich informierte Historiografie. Lokal wurden Bezüge aus Narratolo- gie, Semiotik, Medien-, Kunst- und Kulturtheorie, Filmtheorie bzw. -philosophie, Psychoanalyse und politischer Theorie stark gemacht. Die analysierten Filme wurden nicht an einem vorab – politikwissenschaftlich oder historiografisch – begrifflich bestimmten ‹Nahostkonflikt› gemessen. Vielmehr ging es darum, die Konstruktion des ‹Nahostproblems› in Auseinandersetzung mit den Filmen aller- erst und immer wieder neu zu unternehmen. Denn im emphatischen Sinn wird dieses Problem erst im Blick eines essayistischen Kinos sichtbar, in dem sich Rea- les und Imaginäres als ineinandergefaltete Aspekte eines letztlich nicht totalisier- baren Wirklichen erweisen. 357 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Die Filmanalysen setzen im Jahr 1960 ein, zwölf Jahre nach der Gründung Israels: Während Otto Premingers Exodus (USA 1960) die Wahrnehmung die- ses Staates vor allem außerhalb Israels nachhaltig geformt hat, zeigt die vorlie- gende Arbeit, dass die gleichzeitig gedrehte Beschreibung eines Kampfes (F/ ISR 1960) von Chris Marker heute auf eine Weise aktuell ist, die zum Zeitpunkt seiner Herstellung kaum absehbar war. Israel erscheint in diesem Film als para- doxes Territorium, als eine Landschaft aus Zeichen. Indem er das «Imaginäre des dokumentarischen Bildes»18 produktiv machte, zeichnete er ein intensives virtu- elles Bild Israels. Die Filmanalyse beschreibt Markers filmische Methode einer schöpferischen Semiologie als Verwirklichung der Astruc’schen ‹Caméra-stylo›, der es nicht um den Realitätseffekt des bewegten Bildes geht, sondern um des- sen mantische Potentiale. Marker versuchte, durch das Sichtbare hindurch in die Zukunft zu blicken, ganz im Sinn von Mahmoud Darwishs Bestimmung der ‹Gabe der Prophetie› als der Fähigkeit, «die Zirkulation der Zeichen im Inneren der Gegenwart zu lesen.»19 Sein engagierter und prinzipiell solidarischer Blick von außen konfrontierte das sichtbare Israel mit der ihm eingeschriebenen Uto- pie. Gemäß seines einer Erzählung Kafkas entlehnten Titels spürte er die inneren Kämpfe des jungen Staates auf und benannte Spannungen zwischen Utopie und Normalisierung, zwischen sozialistischen und kapitalistischen Tendenzen, zwi- schen soziokultureller Vielfalt und nationaler Einheit sowie zwischen religiösem und säkularem Denken. Dan Gevas fast 50 Jahre später entstandener Meta-Es- say Description of a Memory (ISR 2006) teilt die essayistische Ästhetik von Description d’un combat, welcher im medialen Umbruch zwischen ‹Kultur- film› und Direct Cinema entstanden war, entwickelt aber vor dem Hintergrund des Mauerbaus und der Besetzung palästinensischer Gebiete eigenständige Stra- tegien zur ‹Dechiffrierung des Sichtbaren› (Dziga Vertov). Er wiederholt die Fra- gen, die Marker geleitet hatten und wendet sich wie jener an den «Blick des künf- tigen Zuschauers».20 Die beiden Filme bilden heute ein singuläres filmisches Diptychon, das grundlegende Fragen zur Historizität des Kinos aufwirft. Das zweite analytische ‹Kraftfeld› war Bezugnahmen auf den Topos Palästina- Israel bei Jean-Luc Godard gewidmet, die sich seit den späten 1960er-Jahren in dessen Filmschaffen finden, vor allem in dem mit Anne-Marie Miéville gemein- sam montierten Ici et ailleurs (F 1976), in dem Bilder eines palästinensischen ‹Anderswo› mit solchen aus dem französischen ‹Hier› kollidieren. In diesem Film fand ein selbstkritischer Blickwechsel statt, der eine fundamentale Refle- xion aller Bild-Ton-Verhältnisse nach sich zog. Die Medialität der spätkapitalis- tischen Gesellschaft als a priori für die Wahrnehmung trat in den Vordergrund, 18 Vgl. Blümlinger, Christa: «Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes», S. 103. 19 Darwish: Palästina als Metapher, S. 136. 20 Starobinski: Montaigne, S. 54. 358 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? während das Engagement für die ‹palästinensische Sache›, die am Beginn dieses Films stand, zunehmend in den Hintergrund rückte. Aus einem Agitprop-Film wurde ein offenes Kunstwerk, aus einer geschlossenen Bilderkette ein audiovi- sueller Reflexionsraum, in dem das schöpferische Auge der Zuschauer*innen mit Nachdruck angerufen wird. Um nachzuvollziehen, wie aus dem nie vollendeten Jusqu’à la victoire schließlich Ici et ailleurs wurde, rekonstruierten wir die Geschichte dieses Filmprojekts von 1969 bis 1976 und situierten den Film im Epo- chenbruch der 1970er-Jahre. Am Ende des ‹Roten Jahrzehnts› wurden die filmi- schen Prämissen des militanten Kinos im Zeichen der Ideologietheorie Althussers einer Revision unterzogen. Gleichzeitig mit dem Verlust einer weltrevolutionären Zukunftsperspektive kam es zu einem verstärkten Auftauchen der Vergangen- heit im Film, im besonderen der Shoah. Diese und andere historische Verschie- bungen, wie die sich abzeichnende Formierung der digitalisierten Informati- onsgesellschaft und der Übergang vom Fordismus zum Post-Fordismus, haben im nachdenklichen Diskurs von Ici et ailleurs Spuren hinterlassen. In dieser Gegenwart, konstatiert der Kommentar einmal, gebe es «keine einfachen Bilder mehr, nur einfache Leute, die man zwingen wird, ruhig zu bleiben wie ein Bild.» Den Kern dieses Essayfilms bildet die Frage nach dem UND, also die Frage nach dem Medium, dem Mittleren, das einen Zusammenhang zwischen den Bildern und Tönen, zwischen Räumen und Zeiten, zwischen ‹Hier› und ‹Anderswo› erst herstellt. Um die Bilderketten zu zerbrechen, in denen die Subjekte der Gesell- schaft des Spektakels gefangen sind, kreieren die dekonstruktiven Montagen von Ici et ailleurs aus dem Inkommensurablen zwischen zwei Dingen deutungsof- fene visuelle Beziehungen, die jedes Vorverständnis ins Leere laufen lassen und dadurch einen Prozess der Neuinterpretation in Gang setzen. Godard blieb nicht beim aggressiven Dekonstruktivismus dieses umstrittenen Filmes stehen: Ici et ailleurs öffnete den Weg zu seinen Histoire(s) du cinéma (1988–1998) und den essayistischen Spielfilmen Notre musique (2004) und Film socialisme (2010), die ebenfalls um die ‹Cause paléstinienne› kreisen. Dabei wich die iko- noklastische Haltung von 1976 wieder einer ontologisierenden Bildauffassung à la Bazin. Der ‹späte Godard› – darin Claude Lanzmanns Bilderskepsis entgegen- gesetzt – erprobte in diesen Filmen die rettenden und versöhnenden Potentiale eines als Geste und Metapher gedachten Bildes.21 Das dritte filmische ‹Kraftfeld› verbindet Filme, die sich von Israel aus auf Motive jüdisch-diasporischen Denkens beziehen. Vor dem Hintergrund der Ermordung Jitzchak Rabins, der Symbolfigur des Osloer Friedensprozesses, im November 1995 geht es Ariella Azoulay und Udi Aloni in ihrem emphatischen Bezug auf das intellektuelle Netzwerk der jüdischen Diaspora von Kafka, Ben- jamin, Freud, Scholem, Rosenzweig, Arendt, Levi bis hin zu Derrida um eine 21 Siehe Rancière: Die Filmfabel, S. 253–274. 359 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? transgressive Intervention in dominante Konzepte von Nation, Kultur, Religion, Geschlecht und Identität. Eine zentrale Rolle spielte hier Walter Benjamins von einer Zeichnung Paul Klees inspirierte Fabel vom ‹Engel der Geschichte›, die in den nahöstlichen Bildraum transferiert und produktiv gemacht wurde. Die Kura- torin, Kulturwissenschaftlerin und Fototheoretikerin Ariella Azoulay kritisiert zionistische Gründungsmythen ausgehend von einer dekonstruktiven Archiv- praxis, die in umfassenden Ausstellungen und Publikationen zu den fotografi- schen Zeugnissen der Vertreibungen nach 1947 und 1967 dokumentiert wurde. In The Angel of History (ISR 2000), der im Kontext einer Ausstellung im Herz- liya Museum of Contemporary Art entstand, überquerte Azoulay die Grenze zur bildenden Kunst, indem sie ihren ‹Videokatalog› zum Container von ästhe- tisch-politischen Äußerungen israelischer Künstler*innen machte, denen Ben- jamins ‹Engel der Geschichte› als Katalysator diente. Auch Udi Alonis Local Angel (ISR/USA 2002) ‹lokalisiert› diesen Engel im Nahen Osten. Sein nach 9/11 aus Fragmenten zusammengesetztes ‹i-Movie› ist das Ergebnis einer subjektiven Krise, die ihn zu einer radikalen Kritik am national-religiösen Zionismus und der messianischen Theologie des Tempelbergs, aber auch an säkularen linkszionisti- schen Überzeugungen führt. In Begegnungen mit seiner Mutter Shulamit Aloni, mit Hanan Ashrawi und Jasser Arafat versucht er, die Möglichkeit einer «Poli- tik der Freundschaft» (Jacques Derrida) in Palästina-Israel zu demonstrieren. Die Analyse widmete sich der spezifischen essayistischen Schreibweise Alonis, die er als ‹Visual Midrash› aus rabbinischen und kabbalistischen Konzepten von Luria bis Benjamin ableitet. In seinem Spielfilm Mechilot (USA/ISR 2006) werden die Anliegen von Local Angel in eine komplexe Narration und affektiv aufgeladene Inszenierungen übertragen. Der Film untergräbt den fiktionalen Realismus in Richtung eines symbolistischen Traumkinos, in dem sich ein gemeinsames Den- ken von Kino und Psychoanalyse entfaltet. Palästina-Israel wird als ‹Traumazone› in den Blick genommen, die vom Nexus zweier inkommensurabler kollektiver Traumata gebildet wird: der Shoah und der Nakba. Aloni bezieht gegenüber die- sem Zusammenhang keine neutrale, sondern eine dissensuale Position: We did something wrong in ’48. Some are keen to point out that in this regard there are different narratives. But, at the end of this narratives, we have a state, and they have nothing.22 Einem Wiederholungszwang, der sich in gewalttätigem Acting out manifestiert, setzt Mechilot eine Begegnung mit den Geistern der Geschichte und mit dem Trauma des/der palästinensischen Anderen entgegen. Anhand der Geschichte 22 Aloni, Udi: «Pnay El (Face of God). The Place of Radical Encounter», in: ds. (Hg.): What does a Jew want?, S. 53–60, hier S. 59. 360 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? eines Sohnes und Soldaten werden der zionistische Traum der Väter und die Mythen des israelischen Nation Building analytisch ‹durchgearbeitet›. Ideologeme wie die Vorstellung einer ‹Reinheit der Waffe› werden in diesem Film ebenso in Frage gestellt wie der dominante Maskulinismus der zunehmend militarisierten israelischen Gesellschaft. Um seine transgressive Vision im Zeichen von ‹Forgive- ness› und ‹Tikkun› ästhetisch zu artikulieren, steigert der Film seine fiktionalen Mittel zu einem nahöstlichen magischen Realismus, in dem Slavoj Žižek Eisen- steins Traum eines denkenden Kinos verwirklicht sah. Das vierte ‹Kraftfeld› widmete sich schließlich essayistischen Filmen, die aus palästinensisch-diasporischer Sicht die kollektive Erinnerung an die Nakba von 1948 rekonstruieren und dazu neue künstlerische Artikulationsweisen entwi- ckeln. Mit Gilles Deleuze interpretierten wir die Filme von Ula Tabari und Elia Suleiman als Beispiele eines minoritären, ‹kleinen› Kinos, das im palästinensi- schen Kontext von Michel Khleifis La mémoire fertile (1980) inauguriert wor- den war. Jenseits der militanten Rhetorik des frühen PLO-Kinos erarbeitet Ula Tabari in ihrem essayistischen Dokumentarfilm Private Investigation einen unabhängigen ‹point de vue documenté› (Jean Vigo) auf ihre Zugehörigkeit zur ‹arabischen Minderheit› innerhalb Israels. Ausgehend von einer Fotografie aus ihrer Schulzeit, das die Regisseurin als Bild einer planvollen Entfremdung liest, fokussieren Tabaris Nachforschungen auf die kollektive Identitätskrise einer auf eigenem Boden ‹exilierten› Bevölkerungsgruppe, die mit Misstrauen, Integra- tionsdruck und Marginalisierung konfrontiert ist. Im Dialog mit ihren Eltern erschließt Tabari das palästinensische Gedächtnis der Nakba, das sie den offizi- ellen Gedächtnispraktiken am israelischen Unabhängigkeitstag entgegensetzt. Jinga48 erweitert diese Recherche um ein Porträt der nächsten Generation: Nun sind es zwei junge Protagonistinnen, die ihre filmische Recherche fortsetzen. Diese konzentriert sich auf den ‹Land Day› von 1976 und stellt damit Fragen nach territorialer, sozialer und politischer Gleichberechtigung. Wie Tabaris Filme kon- struiert auch Elia Suleimans essayistischer Spielfilm The Time That Remains ein intergenerationelles Archiv. Anders als Tabari reklamiert Suleiman in seiner Präsentation der Nakba als generisches Ereignis die filmischen Mittel der histo- rischen Fiktion. Jenseits der symbolischen Strategien des Nation Building bleibt seine fragmentarische und sublim ironische Narration ganz der Kontingenz der Erfahrung seines Vaters treu, die der Film in statischen ‹Zeit-Bildern› (Deleuze) präsentiert, deren metikulöse Mis-en-scène, Komposition und Montage sie in die Nähe eines Denkens der Malerei rückt. Wir argumentierten, dass The Time That Remains nicht als melancholisches Monument des Traumas, der Post-Memory und der Absenz verstanden werden sollte, sondern als Beispiel einer Ästhetik des Widerstands. Mit ganz verschiedenen künstlerischen Strategien realisieren Tabari und Suleiman ein filmisches Revolutionär- bzw. Unwahrnehmbar-Werden, das auf das Unerträgliche einer seit Generationen andauernden Liminalität antwortet. 361 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Trotz ihrer sehr unterschiedlichen persönlichen Zugänge teilen die Filme- macher*innen gewisse Fragen, Gesten, Reaktionsweisen, ästhetisch-politische Grundhaltungen und eine Vorliebe für Texte von Franz Kafka, Walter Benjamin und Mahmoud Darwish. Diese ‹Wahlverwandschaft› äußert sich in intertextu- ellen und intervisuellen Bezugnahmen, die ihre Filme quer zu den ethno-terri- torialen Verwerfungen in Palästina-Israel gleichsam durch ‹kommunizierende Röhren›23 verbindet: Jean-Luc Godards audiovisuelle Innovationen inspirierten seit den 1960er-Jahren palästinensische wie israelische Filmemacher*innen. In Vrai Faux Passeport (F 2006) zitierte er selbst eine kurze Sequenz aus Suleimans Divine Intervention und in Film socialisme montierte er eine Einstellung aus Udi Alonis Local Angel ein. Aloni teilt wiederum mit Ariella Azoulay eine Reihe von Motiven, die beide aber auf ganz unterschiedliche Weise bearbeiten. Aloni pries in einem Text The Time That Remains seines palästinensischen Kollegen Elia Suleiman, der darin die dokumentarischen Recherchen von Ula Tabari in eine historische Fiktion übersetzt hatte. Dan Geva schließlich machte in Description of a Memory den Blick auf einen anderen Film, Markers Description d’un com- bat überhaupt zum Angelpunkt einer filmischen Meditation. Auf diese Weise ent- stand zwischen den besprochenen Filmen eine polyphone, transhistorische und transnationale Konversation, die wir in diesem Buch nachzuzeichnen versuchten. Bestimmte aufs kinematografische Dispositiv selbst bezogene Gesten verleihen essayistischen Filmen a priori eine subversive Stellung: Sie bleiben gegenüber der Performanz des filmischen Akts und den Realitätseffekten des bewegten Bildes nicht naiv. Die machtvolle Subjektposition der Filmenden, sein*ihr Verhältnis zu den Gefilmten und den Filmbetrachter*innen werden oft selbst Gegenstand des essayistischen Diskurses und seiner singulären Versuchsanordnungen. In schar- fer Abgrenzung zu den Massen, die der Propagandafilm implizierte, wie auch zur kollektiv träumenden Menge des Spielfilmpublikums, rufen essayistische Filme die Intelligenz und Sensibilität jeder*s Einzelnen persönlich an. Der passivieren- den Tendenz des Kino-Dispositivs zum Trotz initiieren sie einen Dialog, indem sie ihren Betrachter*innen auf Augenhöhe entgegentreten. Sie machen diese nicht zu ohnmächtigen Zeug*innen einer ‹objektiven Realität›, noch erlauben sie ihnen den Genuss der Immersion in eine fiktionale Welt. Essayistische Filmemacher*in- nen adressieren ihr Publikum als Versammlung potenziell schöpferischer und handlungsmächtiger Gestalter*innen einer gemeinsamen Welt, deren rezipieren- des Mitdenken und Mitfühlen ihren Film in gewisser Weise erst erschafft. Deshalb ist dem essayistischen Film ein bestimmter Humanismus inhärent. Laura Rascaroli: «Humanism is, indeed, implicit in the essay structure […].»24 23 Für Breton bilden Träumen und Wachen keinen Gegensatz, sondern ein System kommunizierender Röhren; vgl. Breton, André: Die kommunizierenden Röhren, München: Rogner & Bernhard 1988. 24 Rascaroli: «The Essay Film», S. 37. 362 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Wenn man will, kann man in der Genealogie dieser humanistischen Haltung weit zurückgehen. Georg Seeßlen datiert ihren Beginn nicht mit Montaigne, sondern mit der Erfindung der freien Rede auf der athenischen Agora. Indem der Essayfilm nur im Namen «der eigenen Neugier und der eigenen Lust an der Montage»25 spre- che, verkörpere er geradezu die «ästhetisch-analytische Form gewordene Demo- kratie».26 Dazu gehöre, dass im Essay immer von der Idee der Gleichwertigkeit aller Perspektiven sowie von der Gleichwertigkeit von Gegenstand und Darstellung aus- gegangen werde. Seeßlen leitet daraus die Idee einer essayistischen Lebensform ab: Das politische Subjekt, das sich selbst im Essay befreit hat, will diese Freiheit auch weitergeben. Und so wie man essayistisch Filme sehen kann, so kann man durchaus eine Idee davon entwickeln, essayistisch zu leben.27 Im Zusammenhang mit dem aus Bruchlinien gebildeten Chronotopos ‹Paläs- tina-Israel› gewinnen diese Spezifika des Essays besondere Bedeutung. Adorno zufolge denkt er «in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet.»28 Auch sein auf Benjamin zurückgehendes Konzept vom «stillgestellten Konflikt»29 als Sache des Essays erhält im Nahen Osten ganz buchstäbliche Bedeutung. «Diskret gegenein- ander abgesetzte Elemente zu einem Lesbaren»30 zusammentreten zu lassen, ist an diesem Ort eine künstlerische wie politische Aufgabe: Palästina-Israel in ein zukunftsoffenes Kräftefeld zu verwandeln, ihm essayistische Lebensformen vor- zuschlagen. Im Kontext der medialen Repräsentation des israelisch-palästinensischen Problems, in dem Bilder immer wieder zum Mittel und Schauplatz des Krieges werden, die als affektauslösende Objektivitätsbehauptungen die Wahrnehmung vereinnahmen, kommt der essayistischen Ästhetik eine radikale politische Bedeu- tung zu. Sie begründet eine Bildpolitik entlang der Maxime, dass Bilder nur Zei- chen sind, die interpretiert werden müssen und dass folglich nur über Interpreta- tionen verhandelt werden kann, nicht über direkte Abbilder der Wirklichkeit. Nur wenn die Zeichenhaftigkeit der aufgezeichneten ‹Realität› nicht camoufliert wird, 25 Ebd. 26 Seeßlen, Georg: «Der Essayfilm als politische Geste», in: Basaran, Aylin, Julia B. Köhne und Klaudija Sabo (Hg.): Zooming in and out. Produktionen des Politischen im neueren deutsch- sprachigen Dokumentarfilm, Wien: Mandelbaum 2013, S. 95–104, hier S. 104. Siehe dazu Chris Markers Filmserie über das Erbe des antiken Hellas L’héritage de la chouette (F 1989), deren dritter Teil der ‹Demokratie› gewidmet ist. 27 Ebd. 28 Adorno: «Der Essay als Form», S. 25. 29 Ebd.; vgl. Benjamin: «Das Passagen-Werk», GS V.1, S. 577. 30 Ebd. 363 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? bleibt jener Zwischenraum offen, in dem sich die Sehenden – Filmemacher*innen wie Zuschauer*innen – als politische Subjekte frei artikulieren können. Marc Ferro wies dem Kino insgesamt die Aufgabe einer ‹Gegen-Analyse› der sozialen Strukturen und Organisationsformen zu, die auch eine «Kritik aller ins- titutionellen Systeme»31 nach sich ziehen könne. Das essayistische Kino widmet sich mit Vorliebe solchen ‹Gegen-Analysen› und steht damit jener Funktion der Intellektuellen nahe, die Michel Foucault einmal als ‹Parrhesia› bzw. ‹Wahrspre- chen› bezeichnet hat: der Macht die Wahrheit zu sagen.32 Die ‹Gegen-Analysen› essayistischer Filme stützen sich jedoch nie allein auf die Beweiskraft von Fakten, sondern vor allem auf die Unabweisbarkeit menschlich sinnvoller Bedeutungen und ihrer Interpretation. Den sich wandelnden Konfigurationen der Macht ste- hen sie aus prinzipiellen Gründen fremd gegenüber,33 die Chris Marker in seinem Kommentar zu Description d’un combat mit Blick auf Israel formulierte: «Aber die ganze Geschichte Israels hat sich von Beginn an gegen eine Kraft gewehrt, die nur Kraft ist, gegen eine Macht, die nichts als Macht ist. Kraft und Macht sind selbst nur Zeichen.» Gewiss zählt das essayistische Kino daher zu jenen sozial unentbehrlichen Praxen, die sich Jacques Derrida zufolge der «unceasing, well-informed, courageous reflec- tion»34 widmen, die auf eine (Neu)Interpretation der «institutions of interpretati- on»35 zielen, namentlich des Staates, der Rechtssprechung, des Bildungssystems, der dominanten Narrative, Religionen und Ideologien und der Massenmedien. Derrida äußerte dies in einem Vortrag, den er 1991 an der École normale supéri- eure hielt, der später unter dem Titel Interpretations at War: Kant, the Jew, the Ger- man veröffentlicht wurde. Gegen Ende seines Vortags gab er damals selbst ein Bei- spiel für diese kritische Praxis, indem er die israelisch-palästinensische Frage in selten direkter Weise ansprach. Er forderte ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten und den Rückzug der israelischen Armee aus den 1967 eroberten Gebieten. Diese 31 Ferro, Marc: «Gibt es eine filmische Sicht der Geschichte?», S. 23 f. 32 Vgl. Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, Berlin: Merve 1996; siehe Illouz: Israel, S. 7. 33 Die Vorstellung einer majoritären essayistischen Artikulation – etwa in Gestalt eines ‹nationa- listischen› oder ‹fundamentalistischen Essayfilms› – wäre daher eine Contradictio in adjecto. 34 Derrida, Jacques: «Interpretations at War: Kant, the Jew, the German», New Literary History 22/1/1991, S. 39–95, hier S. 39; siehe auch Derrida, Jacques und Elisabeth Roudinesco: De quoi demain … Dialogue, Paris: Fayard/Galilée 2001, insbesondere S. 192 ff.; sowie Cixous, Hélène, Jacques Derrida und Russell Banks u. a.: Le voyage en Palestine de la Délégation du Parlement international des écrivains en réponse à un appel de Mahmoud Darwish, Castelnau-le-Lez (Hérault): Climats 2002, S. 123–136 und Derrida, Jacques und Mustapha Cherif: Begegnung mit Jacques Derrida. Der Islam und der Westen, München: Fink 2009. 35 Ebd. 364 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Erklärung ergänzte er durch eine Offenlegung der subjektiven Bedingungen, aus denen sein politisches Sprechen hervorging: As is evident by my presence right here, this declaration is inspired not only by my concern for justice and by my friendship toward both the Palestinians and the Israelis. It is meant also as an expression of respect for a certain image of Israel and as an expression of hope for its future.36 Als Derrida dies äußerte, bildete sich vor dem Hintergrund der späten Anerken- nung Israels durch die PLO im Jahr 1988, der Intifada in den besetzten Gebieten und der Annäherung von Jitzchak Rabin und Jasser Arafat die politische Vision einer ‹Zweistaatenlösung› heraus. Diese stellte einen neuen chronotopischen Rahmen für eine kommende Welt zur Verfügung, in der Israel und Palästina als gleichberechtigte Nationalstaaten und friedliche Nachbarn nebeneinander exis- tieren würden. Nach Jahrzehnten des Konflikts begann eine – wie sich bald her- ausstellen sollte – kurze Periode der Hoffnung auf einen gerechten Frieden in der Region. Israel Zangwills Losung ‹Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land› wurde jetzt durch die Formel ‹Zwei Staaten für zwei Völker› ersetzt, und ‹Isra- el-Palästina› wurde nun mit einem Bindestrich geschrieben. Heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Attentat von Jigal Amir auf Jitz- chak Rabin, dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses, der Marginalisierung des israelischen ‹Friedenslagers› und der Ausbreitung religiös-fundamentalisti- scher, rassistischer und antisemitischer Diskurse bis in die politischen Führun- gen beider Seiten hinein, scheint die ‹Zweistaatenlösung› selbst historisch gewor- den zu sein. Während die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 noch in Übereinstimmung mit der UN-Charta «all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung»37 zugesichert hatte, formuliert das kürzlich von der Knesset verabschiedete Natio- nalstaatsgesetz: «Die Verwirklichung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzig für das jüdische Volk.»38 Von einem Rückzug aus den besetzten Gebieten ist keine Rede mehr, im Gegenteil wird zum Gesetz erho- ben, was stillschweigend lange schon praktiziert wurde: «Der Staat Israel sieht in der Weiterentwicklung der jüdischen Besiedlung einen nationalen Wert»,39 den 36 Ebd., S. 40. 37 «Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel» (14.5.1948): https://embassies.gov.il/berlin/ AboutIsrael/Dokumente%20Land%20und%20Leute/Die_Unabhaengigkeitserklaerung_des_ Staates_Israel.pdf (zugegriffen am 20.6.2020). 38 «Grundgesetz: Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes» (18.7.2018): https://www.swp-ber- lin.org/fileadmin/contents/products/sonstiges/2018A50_Anhang_IsraelNationalstaatsgesetz. pdf (zugegriffen am 20.6.2020). 39 Ebd. 365 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? es «anzuspornen und voranzutreiben»40 gelte. Mit der Verlegung der US-Bot- schaft nach Jerusalem und der Anerkennung des israelischen Anspruchs auf die Golan-Höhen ermutigte die US-Regierung unter Donald Trump die Idee weiterer Annexionen in ‹Galiläa und Samaria› bzw. ‹Jescha›, wie die besetzten Gebiete in der Terminologie der messianischen Siedler*innenbewegung und der mit ihr ver- bundenen israelischen Parteien genannt werden. 2019 waren 77% der wahlberechtigten Bevölkerung in Israel Juden und Jüdin- nen. Bezieht man aber die palästinensischen Gebiete mit ein, auf die israelische Regierungspolitiker*innen heute vielfach Anspruch erheben, vermindert sich dieser Anteil auf kaum mehr als 50%. Das Konzept eines ‹jüdischen› Staates würde im Fall einer Annexion dazu führen, dass beinahe der Hälfte seiner Ein- wohner*innen als Nicht-Juden und -Jüdinnen die volle politische Gleichberech- tigung verwehrt wäre. Damit würde sich die seit der Staatsgründung bestehende Spannung zwischen der Definition Israels als eines ‹jüdischen› und zugleich ‹demokratischen› Staates in eine unauflösbare Aporie verwandeln, argumen- tiert der israelische Philosoph Omri Boehm. In seinem Buch A Future for Israel. Beyond the two-state solution41 erklärt er: «Ob es uns gefällt oder nicht, hat sich Amirs Vermächtnis in Israel durchgesetzt, nicht das von Rabin.»42 Nachdem die Zweistaatenlösung als politische Option ausgefallen sei, stelle sich unweigerlich die Frage, welche Alternativen zu einer illiberalen Ethnokratie denkbar sind, in der auch evangelikale, nation alistische und rechtsradikale Akteur*innen in aller Welt eine Verwirklichung ihrer Prinzipien erkennen dürften. Boehm selbst entwickelt die Utopie eines Staates gleichberechtigter Bürger*in- nen vom Jordan bis zum Mittelmeer. Ausgehend von den liberalen Prinzipien aufgeklärter Staatstheorie schlägt er den «Umbau des Landes […] vom jüdischen Staat in eine föderale, binationale Republik»43 vor sowie die «Entwicklung einer wirklich demokratischen, arabisch-jüdischen Zusammenarbeit, die auf einem völlig gleichen Staatsbürgerstatus beruht.»44 In einer solchen Republik, für die er das bereits existierende Zusammenleben in Haifa zum Vorbild nimmt, sollen die Nakba und die Shoah «von Palästinenserinnen und Jüdinnen gemeinsam erin- nert werden.»45 Im Unterschied zu anderen Verfechter*innen des Binationalis- mus beruft sich Boehm dabei auch auf ‹rechte› Traditionslinien des Zionismus. 40 Ebd. 41 Boehm, Omri: Israel – Eine Utopie, Berlin: Propyläen 2020, S. 192; engl.: A Future for Israel. Beyond the two-state solution, New York: New York Review Books 2020. 42 Boehm: Israel – Eine Utopie, S. 192. 43 Ebd., S. 44. 44 Ebd., S. 141. 45 Ebd., S. 53; siehe etwa Pappé, Ilan und Jamil Hilal (Hg.): Zu beiden Seiten der Mauer. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Bild der israelisch-palästinensischen Geschichte, Hamburg: Laika 2013. 366 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Er führt Belege für ein binationales Denken bei Menachem Begin oder Wladimir Zeev Jabotinsky an, aber auch bei Theodor Herzl, dem Autor des Judenstaat und des Romans Altneuland. Erst durch das britische Konzept einer ‹Partition› (inklu- sive eventuell nötiger Umsiedlungsaktionen), das 1937 im Bericht der Peel-Kom- mission formuliert wurde, sei das Ziel arabisch-jüdischer Koexistenz durch die Idee einer jüdischen Souveränität in Palästina verdrängt worden, so Boehm.46 In Israel werden solche Argumente nur von einer Minderheit rezipiert und nur von einer Minderheit innerhalb dieser Minderheit geteilt. Bei den meisten israeli- schen Juden und Jüdinnen lösen sie Angst und Abwehr aus, auch auf palästinensi- scher Seite dürften sie kaum mehrheitsfähig sein. Boehm diagnostiziert hier eine «Beschränktheit unseres Denkens»,47 an der jeder utopische Gedanke abpralle, und «Barrieren unseres Vorstellungsvermögens davon, was im Rahmen zionis- tischer Grundsätze möglich ist und was nicht.»48 Wie auch immer man Boehms politischer Vision gegenübersteht: Akzeptiert man seine Diagnose, dass der Chro- notopos der Zweistaatenlösung Geschichte ist, wird man auch seiner Schlussfol- gerung zustimmen, in der er an Theodor Herzls Utopismus anschließt: «Um rea- listisch über eine lohnenswerte Zukunft für Israel jenseits der Zweistaatenillusion nachdenken zu können, wird man träumen müssen.»49 Wir behaupten, dass das essayistische Kino immer schon mit dieser Traum- arbeit beschäftigt war. Die hier vorgestellten Filme teilen dieselbe ‹Sorge um die Zukunft›, die Alexandre Astruc 1948 dem kommenden Kino der ‹Caméra-stylo› zugeschrieben hatte. Allein auf ihre ästhetischen Erfindungen gestellt, bemü- hen sie sich in der Auseinandersetzung mit der aktuellen Erfahrung des Sichtba- ren, «eine Weisheit zu definieren, die der gemeinschaftlichen Existenz angemes- sen ist (die ebenso die eigene Existenz ist)»50 (Jean Starobinski). Sie sind Beispiele für ein weiteres Spezifikum, das Georg Seeßlen zufolge den filmischen Essay- ismus auszeichnet und in unserem Kontext von enormer Bedeutung ist: «Jeder größere Essay enthält den heterotopischen Keim einer sozialen Bewegung.»51 Ihr einsamer Utopismus verbindet die essayistischen Filme mit den vielen klei- nen palästinensischen und/oder jüdischen Widerstands-, Friedens-, Dialog- und Kooperationsinitiativen, die heute in den unterschiedlichsten mikropolitischen Feldern – Menschenrechte, Wissenschaft, Bildung, Kultur und nicht zuletzt im Kino – wachsendem Druck ausgesetzt sind.52 46 Boehm: Israel – Eine Utopie, S. 103 ff. 47 Ebd., S. 204. 48 Ebd., S. 210. 49 Ebd., S. 56. 50 Starobinski: Montaigne, S. 373. 51 Seeßlen: «Der Essayfilm als politische Geste», S. 104. 52 Siehe Kalicha, Sebastian (Hg.): Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegs- dienstverweigerung, Anarchismus, Nettersheim: Graswurzelrevolution 2008. 367 Resumé: Was vermag das essayistische Kino? Versteht man den filmischen Essayismus mit Jacques Rancière als genuine Form eines ästhetischen Regimes der Kunst, steht er der ‹Realität› jedoch kei- neswegs ohnmächtig gegenüber. Rancière zufolge überschreitet der ästhetische Modus der Kunst die selbst historische Grenzziehung zwischen Kunst und Poli- tik: Die Politik der Kunst bestehe darin, die dominante «Aufteilung des Sinnli- chen» zu unterlaufen, indem sie mit ihren «ästhetischen Handlungen […] neue Weisen des Fühlens sowie neue Formen der politischen Subjektivität hervor- bringt.»53 Essayistische Filme vermögen dies, indem sie ins Sichtbare immer neue Ambiguitäten einführen und den Perzipierenden ein Feld interpretativer Mög- lichkeiten vorschlagen, das sie zu immer neuen Lektüren veranlasst. Im Span- nungsfeld zwischen ‹Hier› und ‹Anderswo› greifen sie in Prozesse der Subjekti- vierung und des kognitiven Mappings ein und produzieren auf diese Weise einen anderen, heterotopen Raum,54 in dem die Koordinaten des geografischen Ter- ritoriums um die Qualitäten des ‹Thirdspace› (Edward W. Soja) erweitert sind: «a knowable and unknowable, real and imagined lifeworld of experiences, emo- tions, events, and political choices».55 Der ästhetische Traum eines «most radi- cal sort of third place»56 (Udi Aloni), in dem eine Begegnung zwischen «the self and the other» stattfinden kann, wird so zu einer politischen Option, die wir in diesem Band mit der provisorischen Schreibweise ‹Palästina-Israel› bezeichnen wollten. Soviel vermag also das essayistische Kino: Inmitten der krisenhaften Gegen- wart teilt es den Ausdruck seiner Gedanken und seine Sorge um die Zukunft freundschaftlich mit denen seiner Betrachter*innen. In glücklichen Momenten vermag es mehr, nie weniger. 53 Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 21. 54 Lefebvre, Henri: «La production de l’espace», L’Homme et la société 31–32/1974, S. 15–32. 55 Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other real-and-imagined places, Mal- den MA: Blackwell 1996, S. 41. 56 Aloni: «Pnay El (Face of God). The Place of Radical Encounter», S. 56. 368 Epilog: Adorno in Lustenau Hier und anderswo: 1917, im Jahr der ‹Balfour-Deklaration›, die ‹die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina› versprach, starb in einem Armenhaus in Lustenau (Vorarlberg) Agatha Hämmerle (geb. Baier), meine Urgroßmutter väterlicherseits, mit 32 Jahren nach der Geburt ihres fünf- ten Kindes. Ihre Kinder blieben allein im Armenhaus zurück. Ihr Mann, mein Urgroßvater, fand sich nach seiner Rückkehr aus dem Krieg als mittelloser Knecht außerstande, die Kinder zu betreuen und gab sie zur Adoption frei. So kam mein Großvater mit etwa acht Jahren zu kinderlosen Bauern und bekam später ihren Familiennamen, ‹Grabher›. 1943, im Jahr der ‹Moskauer Deklaration›, die die meisten Österreicher*innen später als moralische Absolution verstanden, sich als erstes von Hitler okkupier- tes ‹Opfer› fühlen zu dürfen,1 wurde in Lustenau mein Vater als erstes von sieben Kindern geboren. Nur fünf Jahre zuvor, im März 1938, war in diesem Ort «ein schreiender NS-Mob durch die Straßen» gezogen, um «Rache an den örtlichen Spitzen des ‹Ständestaats›»2 zu fordern. Der damalige Bürgermeister Josef Peint- ner wurde ins KZ Buchenwald deportiert. Für viele Verfolgte des NS-Terrors, die sich über die Grenze in die Schweiz zu retten suchten, wurde Vorarlberg in diesen Jahren zur tödlichen Sackgasse, etwa für den Schriftsteller Jura Soyfer, der beim Versuch, auf Skiern über die Grenze zu kommen, festgenommen wurde und 1939 im KZ Buchenwald einer Typhus-Infektion erlag, oder die Philosophin Gertrud Kantorowicz, die 1945 eine Woche vor Ankunft der Roten Armee im KZ Theresi- 1 Siehe Arlanch, Stefan: Die Republik der Opfer. Zur Rezeption, Verarbeitung und Instrumenta- lisierung des Opferbegriffs in der politischen Kultur der Zweiten Republik, Diplomarbeit, Wien 2001. 2 Pichler, Meinrad: Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer –Täter – Gegner, Innsbruck/Wien/ Bozen: Studienverlag 2012, S. 52. 369 Epilog: Adorno in Lustenau enstadt starb.3 In Lustenau hatten unmittelbar nach dem ‹Anschluss› ans ‹Reich› Freiwillige mit Hakenkreuzarmbinden begonnen, die Grenze zur Schweiz eigen- mächtig zu kontrollieren.4 Etwa zehn Kilometer entfernt kam ein Jahr nach Kriegsende meine Mutter als jüngstes von fünf Kindern in Hohenems zur Welt, wo die Nazis eine jüdi- sche Gemeinde zerstört hatten, die seit dem 17. Jahrhundert bestand und über- regionale Bedeutung im ‹Medinat Bodasee› gewonnen hatte.5 Jetzt wurde Hohe- nems zum Durchgangsort für sogenannte ‹Displaced Persons›, also Jüdinnen und Juden, die dem Vernichtungssystem entkommen waren und nun aus Europa wegzukommen versuchten.6 Die ‹DPs› organisierten sich in der Communauté Israélite de Hohenems und unterstützten die illegale Einwanderung nach Paläs- tina. Einige von ihnen, etwa Ester und Abraham Kopolovits, die sich im Kib- butz Af-Al-Pi (‹Trotz alledem›) in Hohenems kennengelernt hatten, bestiegen spä- ter das Haganah-Schiff ‹Exodus› in der Hoffnung, Palästina zu erreichen. Meine Mutter erzählt, dass sie in den frühen 1950er-Jahren als kleines Mädchen Kinder von jüdischen Familien aus Polen sah, an deren «blasse, fast durchsichtige Haut» und deren «schönes Gewand und Schuhe» sie sich erinnert. Kontakt mit diesen Kindern hatte sie nicht. Inzwischen waren die ehemaligen Nationalsozialist*in- nen im ‹Ländle› wieder zu Wahlen zugelassen und der ‹Verband der Unabhän- gigen›, aus dem 1955 die rechtsextreme FPÖ hervorging, erhielt bei der Natio- nalratswahl 1949 22% der Stimmen, «mehr als in jedem anderen Bundesland.»7 Antisemitismus gegenüber Jüdinnen und Juden manifestierte sich in medialen, administrativen und tätlichen Übergriffen gegen die ‹DPs›. Mit der ‹Umnutzung› der ‹Emser› Synagoge, die in ein Feuerwehrhaus umgewandelt wurde, kam es nach dem Staatsvertrag zu einer klammheimlichen Fortsetzung der antisemiti- schen Politik des NS-Staates.8 Vom Inneren der Synagoge, das die Nazis geplün- dert hatten, sind nur zwei kleine Messingsterne erhalten, die die Brüstung der 3 Siehe Zudrell, Petra: Der abgerissene Dialog. Die intellektuelle Beziehung Gertrud Kantoro- wicz – Margarete Susman oder die Schweizer Grenze bei Hohenems als Endpunkt eines Flucht- versuchs, Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 1999. 4 Pichler: Nationalsozialismus in Vorarlberg, S. 54. 5 Jean Améry, 1978: «[M]eine Familie väterlicherseits stammt aus Vorarlberg [...] und mein Großvater (Siegfried Maier) war sehr stolz auf seinen Stammbaum, der bis ins 17. Jahrhundert reichte in Hohenems.» Zit. nach Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Jean Améry, München: Editi- on Text+Kritik 1988, S. 56; weiters Grabher, Ursula: ‹… sollen ihnen alle handtierungen, so den christen erlaubt, vergundt und zugelassen sein …› Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Hohenems in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diplomarbeit: Uni- versität Innsbruck 1999. 6 Siehe Haber, Esther und Jüdisches Museum Hohenems (Hg.): Displaced persons. Jüdische Flüchtlinge nach 1945 in Hohenems und Bregenz, Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 1998. 7 Pichler: Nationalsozialismus in Vorarlberg, S. 361. 8 Siehe https://www.jm-hohenems.at 370 Epilog: Adorno in Lustenau Chor-Empore geschmückt hatten. Einer ist heute im Jüdischen Museum Hohe- nems ausgestellt. In der Zeit des Krieges hatten meine beiden Großväter das ‹Glück›, nur in der zweiten und dritten Reihe des Vernichtungskrieges zu stehen: Mein Großvater mütterlicherseits war Autobus-Mechaniker bei der ‹Reichspost› in Hohenems und konnte als ‹unabkömmlich› an der ‹Heimatfront› bleiben. Mein Großvater väterli- cherseits kam mit einer Wehrmachtseinheit nach Norwegen, das seit April 1940 von deutschen Truppen besetzt war. Fotos, die er nach Hause schickte, zeigen ihn im Porträt in ‹schneidiger› Wehrmachtsuniform, feucht-fröhlich mit Kameraden im Quartier, draußen beim Schneeschaufeln, im Gruppenbild mit seiner Einheit und ihren Offizieren, mit Schwimmweste an Bord eines Kriegsschiffes. In diesen Bil- dern findet sich keinerlei Hinweis auf den gewaltsamen Gesamtkontext seines Auf- enthaltes an diesem Ort. Nach 1945 schwieg er wie viele ehemalige Wehrmachts- soldaten über seine Kriegserlebnisse und seine persönliche Verantwortung. Wie er tatsächlich dachte, erschließt sich nur aus Details: Als mein Vater ihm zum Weih- nachtsfest 1967 einen TIME LIFE-Bildband über den britischen Premier Winston Churchill schenken wollte, wies der Großvater die Gabe brüsk zurück. Immer noch galt ihm dieser Mann als der Feind, der ihn besiegt hatte. Ich habe noch die brutale Maxime im Ohr, die wir als Kinder manchmal von ihm in rüstigem Tonfall hörten: «Zäh wie Leder, hart wie Krupp-Stahl!» Wo war das arme, verstörte Kind in einem Lustenauer Armenhaus geblieben, das er selbst einmal gewesen war? Im Jahr 1969, ein paar Monate vor der Mondlandung, wurde ich in eine Kon- stellation hineingeboren, in der das ‹große Tabu›9 galt. Bezüglich der eigenen NS- Vergangenheit herrschte Abwehr und Diskursverweigerung, kein Wort der Aner- kennung oder des Mitgefühls für die vertriebenen und ermordeten Opfer. Das Schweigen der Täter*innen, das die Generationen der Kinder und Kindeskinder verstrickte, vertrug sich mit einem althergebrachten patriarchalen Autoritarismus und Katholizismus. Diese bildeten die Basis einer Mentalität, deren Wertesystem sich für mich im Vorarlberger Dialekt-Wort g’hörig am bündigsten ausdrückt. Das Adjektiv bezeichnet Menschen, Dinge, Sachverhalte oder Verhaltensweisen, die als ‹anständig›, ‹ordentlich›, ‹angemessen›, ‹brav› oder schlicht ‹gut› gelten. Vor allem Kinder sollen sich g’hörig verhalten, so, wie es sich eben ‹gehört›. Das Wort ist vermutlich verwandt mit hörig, das seit dem Mittelalter eine abhängige, unfreie Rechtsstellung von Bäuer*innen bezeichnete. Es kommt von ‹hören› bzw. ‹gehorchen›, sodass g’hörig zu sei, immer auch die Bedeutungsnuance mit sich trägt, unterworfen und gehorsam zu sein.10 Hannah Arendts Verdikt, niemand 9 Siehe Pelinka, Anton, Erika Weinzierl und Ernst Hanisch (Hg.): Das große Tabu. Österreichs Um- gang mit seiner Vergangenheit, Wien: Edition S/Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1987. 10 Der Duden leitet das Wort vom althochdeutschen gahôrig und dem mittelhochdeutschen gehœrec mit der Hauptbedeutung ‹gehorchend›, ‹folgsam› ab. 371 Epilog: Adorno in Lustenau habe das Recht zu gehorchen, bezeichnet das diametrale Gegenteil zu dieser Tie- fenkultur, die nicht Eigensinn, offenherziges Gespräch und die Fähigkeit zum Nein-Sagen fördert, sondern auf Anpassung, Folgsamkeit und ‹Pflichterfüllung› drängt. Und klar war auch: Die Opfer waren unzugehörig.11 Unzugehörig mussten sich auch die türkischen Kinder fühlen, die in meiner Volksschule Mitte der 1970er-Jahre immer in der letzten Reihe saßen und dort oft sitzen blieben. Im Wohnzimmer unseres Hauses stand bald ein Fernseher, mit dem ich die ersten Erinnerungen an einen fernen Krieg im Nahen Osten verbinde. Wie die Kinder der französischen Familie in Ici et ailleurs (vgl. Abb. 50, S. 172) saß auch ich mit meinen Eltern vor dem Bildschirm und empfing von dort unverständ- liche Bilder von Jasser Arafat mit Keffiah, von Moshe Dayan mit Augenklappe, von palästinensischen Flugzeugentführungen und vom Bürgerkrieg im Libanon. In den 1980er-Jahren, am Dornbirner Gymnasium, eröffnete mir der Unterricht von Wer- ner Bundschuh12 unbekannte Türen zur Geschichte. Zum ersten Mal erfuhr ich von der Arbeiter*innenbewegung und vom Nationalsozialismus und seinen Ver- brechen. Mit achtzehn fielen mir Bücher von Theodor W. Adorno in die Hände – die Minima Moralia,13 die Negative Dialektik14 – von deren Inhalt ich wenig ver- stand. Aber der Jugendliche, der ich damals war, identifizierte sich mit ihrem emotionalen Grundton, der am deutlichsten in Adornos Aufladung des Namens ‹Auschwitz› zum Ausdruck kommt. Ich identifizierte mich mit den Opfern, mit einer Geschichte, die nicht meine eigene war. Ich beobachtete, dass zu Menschen, die dieses Gefühl nicht teilten, ein Abstand entstand. Hier und anderswo: 1987, im Jahr, als die palästinensische ‹Intifada› begann, die ich damals kaum registrierte, begann ich mein Geschichte- und Philoso- phie-Studium in Wien, das ich zu einem rettenden, urbanen Fluchtpunkt ver- klärte: Hier hatte Sigmund Freud das Unbewusste entdeckt. An der Wiener Uni- versität streikten die Studierenden gerade gegen Sozialabbau, und im Zuge der ‹Waldheim-Affäre› wurde begonnen, die verschwiegene NS-Geschichte ans Licht der Öffentlichkeit zu holen. Im ‹Gedenkjahr› 1988 sah ich Claude Lanzmanns Shoah, eine Erfahrung, die mein Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt. Wenn Bücher lesen «Denken mit fremdem Gehirn»15 ist, wie Jorge Luis Bor- ges einmal sagte, gilt dies auch für das Sehen von Filmen. Manchmal verlässt man 11 Vgl. Beckermann, Ruth: Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945 [1989], 2. Aufl., Wien: Löcker 2005. 12 Der Historiker und Sachbuchautor Werner Bundschuh ist Obmann der Johann-August-Ma- lin-Gesellschaft, Historischer Verein für Vorarlberg und war bis 2016 Mitarbeiter bei erinnern.at. 13 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin/Frank- furt a. M.: Suhrkamp 1951. 14 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966. 15 Borges, Jorge Luis und Osvaldo Ferrari: Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn. Gespräche über Bücher & Borges, Zürich: Arche 1990. 372 Epilog: Adorno in Lustenau das Kino als ein Anderer. Dass dies möglich ist, bestimmte meine intellektuelle Objektwahl: Ich vertiefte mich in Filmgeschichte und ‹Visual History›, der zeit- geschichtlichen Erforschung der audiovisuellen Archive. Es entstanden Untersu- chungen zur Filmarbeit der Kommunist*innen in der Ersten Republik, zu Ser- gej Eisenstein und Dziga Vertov, dessen Enthusiasmus zum Leitstern der Gruppe Kinoki wurde, die ich mit Freund*innen im besetzten Ernst-Kirchweger-Haus in den frühen 1990er-Jahren in Wien mitbegründete. Wir definierten das Kino als antifaschistische und antikapitalistische ‹Wunschmaschine› und in Kinokis Mi- krokino erkundeten wir in über 250 Film- und Diskussionsabenden Querverbin- dungen zwischen Kino und Politik in alle möglichen Richtungen: Arbeiter*innen- Film, Third Cinema, Videoaktivismus, engagierter Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm, Zeitzeug*innen-Video, Essayfilm – ‹Film als subversive Kunst› eben, im Sinne des aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Wien vertriebenen Amos Vogelbaum.16 1998, im 50. Jahr der Staatsgründung Israels, nahm ich an einer Reise in den Libanon und nach Syrien teil, die ein Freund, der aus christlich-palästinensischer Familie stammende und in Wien lebende Musiker Marwan Abado, organisierte. Die Eindrücke dieser Reise waren verwirrend: elende soziale Verhältnisse in den palästinensischen Flüchtlingslagern, etwa in Shatila in Süd-Beirut, verstörte junge Männer, die gerade aus israelischer Haft entlassen worden waren, Mein Kampf, das in arabischer Übersetzung in den Buchhandlungen von Damaskus stapelweise auf- lag, ein syrisch-palästinensischer Gastgeber, der uns mit der Erklärung schockierte, die Juden hätten den Holocaust nur erfunden, ‹um damit alle Welt zu erpressen›. Im Jänner 2000, kurz vor der Angelobung einer österreichischen Regierung mit Beteiligung der FPÖ, zeigte ich in Kinokis Mikrokino Ici et ailleurs von Godard/Miéville, der bei mir auch nach mehrmaligem Sehen einen widersprüch- lichen Eindruck hinterließ. Am Beginn des vorliegenden Forschungs- und Buch- projektes stand die Beschäftigung mit diesem Film und den Ambivalenzen, die er auslöste. Aber es ging auch darum, vermittelt durch die Analyse eines filmischen Blicks, mit den kognitiven Dissonanzen, der Befangenheit und der Sprachlosigkeit umzugehen, die auf die erste Reise in den Nahen Osten gefolgt waren. Wer spricht? Welches Begehren hat diese umwegige intellektuelle Suche ange- trieben? Jeder Text vermittelt mehr, als er ausdrücklich mitteilt, immer entsteht eine Ebene der impliziten Kommunikation. Auf dieser Ebene machen sich auch im wissenschaftlichen Diskurs zu Palästina-Israel manchmal antisemitische Res- sentiments hörbar.17 Meine Position als Autor wird durch die genannten biogra- 16 Vogel, Amos: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick, hg. v. Alexander Horwath, St. Andrä-Wördern: Hannibal 1997. 17 Siehe etwa Horvilleur, Delphine: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin: Hanser 2020, S. 111 ff. 373 Epilog: Adorno in Lustenau fischen Konstellationen einigermaßen umrissen. Sie prägten meine Themenwahl, meine Arbeitshypothesen und mein Erkenntnisinteresse. Die Frage der Verant- wortung stellte sich in jedem Absatz der Textproduktion. Die Verantwortung meiner Interpretation hängt dabei mit einer bestimmten Interpretation der Ver- antwortung zusammen, die sich aus meiner Herkunft ergibt. Dieser wird man durch distanzierte ‹Objektivität› oder durch Parteinahme oder Gegnerschaft für oder gegen eine Seite des israelisch-palästinensischen Konflikts keineswegs gerecht. Das Unheil dieser ‹Trauma zone› (Udi Aloni) ist verknüpft mit der unge- heuren Traumazone des Nationalsozialismus. Zu den Schlüsseln, die viele palästi- nensische Familien als Symbol ihrer Vertreibung aufbewahren, gehören geraubte Schlüssel von Hohenemser oder Wiener Häusern und Wohnungen, aus denen ihre jüdischen Bewohner*innen von der Generation meiner Großeltern ins Exil und in den Tod getrieben wurden.18 Die Frage, «who has the right to make the victim forget», die der palästinensi- sche Dichter Mahmoud Darwish stellte,19 kann deshalb nur mit ‹niemand› beant- wortet werden. Aus ihr ergibt sich nicht das Gebot der Äquidistanz, sondern im Gegenteil das der ‹Äquiproximität›, also einer rückhaltlosen Einlassung auf die Positionen, Narrative, Bedürfnisse und Träume aller in Palästina-Israel lebenden Menschen. Die Stimmen der hier besprochenen essayistischen Filme haben mir – jede auf ihre eigene Weise – dabei geholfen, eine solche multiple Perspektive für möglich zu halten. 18 Man denke an Yoram Kaniuks Erinnerungen, die auf S. 307 f. zitiert werden. 19 Vgl. S. 297 im vorliegenden Band. 374 Dank Dieses Buch ist die überarbeitete und erweiterte Fassung einer 2017 abgeschlos- senen Dissertation, die durch mehrere Stellen gefördert wurde: Ihre Basis bildete der Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte, Film und andere Medien am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien unter der Leitung von Frank Stern, dessen Expertise in ästhetischen und nahöstlichen Belangen einen wichti- gen Ankerpunkt bildete. Er hat mir Hinweise auf Filme gegeben, mich geduldig betreut und auch vor einigen Um- und Irrwegen bewahrt. Für alle, die ich trotz- dem eingeschlagen haben mag, bin allein ich verantwortlich. Wesentliche Impulse verdankt der Text einem Forschungsaufenthalt an der Pariser École normale supérieure im Rahmen eines Austauschprogramms der Universität Wien. Als Fellow des ‹Initiativkollegs Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung› der Universität Wien konnte ich von 2007 bis 2010 unter Bedingungen arbeiten, die allen Dissertant*innen offen stehen sollten. Ich danke dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), der diese Buchpublikation durch eine Förderung möglich gemacht hat, weiters Frau Dr. Annette Schüren, Erik Schüßler und Thomas Schweer vom Schüren Verlag. Ich möchte mich für Unterstützung, Anregung, Auskünfte, Ermutigung, Korrekturen, Kommentare, Feedback und Kritik herzlich bedanken bei: Stefan Almer, Stefan Arlanch, Luka Arsenjuk, Vida Bakondy, Thomas A. Bauer, Stefan Bläske, Andrea Braidt, John Bunzl, Jamal Daher, Valerie Deifel, Friedemann Der- schmidt, Christian Dewald, Heidi Dumreicher, Alexander Dumreicher-Ivance- anu, Michael Eckerstorfer, Barbara Eichinger, Alex Gil, Dennis Göttel, Klemens Gruber, Deedee Halleck, Klaus Hamberger, Daria Ioan, Dror Izhar, Kobi Kabalek, Nicole Kandioler, Stefan Kartusch, Marietta Kesting, Dennis Kirchhoff, Nikolaus König, Eva Krivanec, Caroline Lensing-Hebben, Richard S.  Levine, Alexandre Mamarbachi, Rio Mäuerle, Anni Mazzurana, Monika Meister, Birgit Mennel & 375 Dank Jamal Mennel-Taleb, Günther Moser, Katja Müller-Helle, Omar Nagati, Jean Nar- boni, Rosa Neubauer, Evelyn Niel-Dolzer, Obioma Ofoego, Loulou Omer, Serge Le Péron, Stephan Pfeffer, Claus Pias, Daniela Pillgrab, Hano Pipic, Arthur Pokorny, Sabir Hussain Qureshi, Oliver Rein, Eva Reinbacher, Daniel Rojas, Regina Schlag- nitweit, Klaus Schönberger, Noel Simsolo, Birgit Sohler, Ruth Sonderegger, Flo- rian Sprenger, Hito Steyerl, Hannes Stromberger, Stewart Hillel Tryster, Ste- ven Ungar, David Unterholzner, Patrick Watkins, Christina Wieder, Françoise Zamour, Barbara Zimmermann, Uli Zimmermann und Matthäus Zinner. Einige Menschen waren entscheidend für dieses Projekt: Meine Lehrer Wer- ner Bundschuh und Walter Rigger; Sabine Dreher, die mich mit Walter Benjamin und Chris Marker bekannt gemacht hat; meine Genoss*innen von kinoki: Tina Leisch, Lisi Streit & Tom Waibel; Marwan Abado, der den ersten Impuls zu die- ser intellektuellen Reise vermittelte, Ulli Fuchs, mit der ich sie begann, Thomas Tode, der sie in jeder Phase generös gefördert hat, Julia B. Köhne, die in kritischen Momenten geholfen hat, dass diese Reise ihr Ziel erreicht und Lotte Kreissler, die mich unterwegs beraten hat; schließlich meine Familie: Ursula & Oliver, Linnea & Flora, Gitta & Josef Grabher. In der langen Zeit der Arbeit an diesem Buch waren Rosa Fuchs, Ina Ivanceanu & Siranush Ivanceanu mit mir, ihnen möchte ich es zueignen. Ich danke den Filmemacher*innen Udi Aloni, Ariella Azoulay, Dan Geva, Jean-Pierre Gorin und Ula Tabari für ihre Dialogbereitschaft. Das vorliegende Buch kann kaum zurückerstatten, was es der Intelligenz und Großherzigkeit ihrer Kunstwerke verdankt. Elisabeth Büttner, Peter A. Schauer, Ekke Muther, Eva & Omri Strobl-Katz bleiben unvergessen. 376 Filmdaten Description d’un combat Englischer Titel: Description of a Struggle; deutscher Titel: Beschreibung eines Kampfes; hebräischer Titel: Hatsad Hashushi Shel Hamatbea [«Die dritte Seite der Münze»]. J: 1960; L: ISR/F; R: Chris Marker; Kommentar: Chris Marker; K: Ghislain Cloquet; Ar- chivaufnahmen von der Reise der ‹Adalia› aus Meyer Levins Film The Illegals (gedreht von Bertrand Hesse von Pathé Film); T: Pierre Fatosme, SIMO / Jean Nény; Sch: Eva Zora, Gatherine Bachollet (Assistenz); M: Lalan; Spr: Jean Vilar (französische Fassung), Vernon Howard (deutsche Fassung), Alan Adair (englische Fassung), Yaakov Malkin (hebräische Fassung); Übertragung ins Deutsche: Wim van Leer, Vernon Howard; Übertragung ins Hebräische: Amos Keinan (Quelle: Yaakov Malkin); Assistenten: Bob Cahen, Maureen Stewart [= Alexandra Stewart], Alexander Pfau, Catherine Bachollet, Alfred E. Neumann, Sarah d’Avigdor, Ya’acov Malkin; Produktionsleitung: Yitzhak Zohar; Produktion: Van Leer Films Productions Israel / SOFAC (Société des Films d’Art et de Culture) France; Pro- duzenten: Lia und Wim van Leer, André Valio-Cavaglione; Nicht-kreditierte Beteiligte: Jean Nény (Mischung), Arcady Brachilanoff (Trick). F: 16 mm / Farbe / Eastmancolor; L: 54 min; Labor: LTC; Visa 24697, 23 mars 1961. UA: 7.3.1961, Paris; Deutsche EA: 3.6.1961, Filmfestspiele Berlin; Englische EA: 30.8.1961, Filmfestspiele Edinburgh; Israelische EA: 1.12.1961; Deutscher Kinostart: 28.9.1962; US- EA: 28.9.1982, New York Film Festival. Auszeichnungen: 1961 Goldener Bär Berlin; 1961 Jugendfilmpreis des Senats von Berlin; Ver- leih: Israel Film Archive / Jerusalem, DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum e. V. / Wies- baden (zwei Archivkopien der deutschen Fassung). Restaurierung: 2014 (Argos Films, The Is- raeli Film Archives – Jerusalem Cinemateque, mit Unterstützung des CNC; Bild: Eclair Group, L’immagine Ritrovata; Ton: Diapason). Englische DVD: «Chris Marker Collection» (Soda Film + Art), UK 2014; Französische DVD: «Description d’un Combat» & «Description d’un mémoire» (Argos Films / Tamasa, Paris), F 2017; eine deutsche DVD-Fassung liegt bislang nicht vor. Tza’ad Revi’i La’matbe’a [«Die vierte Seite der Münze»] Englischer Titel: Description of a Memory; französischer Titel: Descripion d’un mémoire. J: 2006; L: ISR; R: Dan Geva; Kommentar: Dan Geva; K: Dan Geva; B: Dan Geva, Noit 377 Filmdaten Geva; Sch: Dan Geva, Noit Geva; M: Alex Claude; P: Dan & Noit Geva, Habayit Hakatom Ltd.; Second Authority for Television and Radio, Israel; Finanzierung: Second Television / Radio Authority, Joshua Rabinowitz Fund – Cinema; Commissioning Editor: Yosi Mulla; The New Fund for Cinema and Television, Israel. L: 80 min; Spr: hebräisch, englisch, arabisch, russisch; UT: engl.; Verleih: JMT Films, Tel Aviv: http://www.jmtfilms.com. Auszeichnungen/Festivals: 2017 Avant-première Chris Marker: Reflet Médicis, Paris (Fran- kreich), 2013 Planète Marker: Centre Pompidou, Paris (Frankreich), 2012 Cinema from Is- rael: DIFF Delhi International Film Festival (Indien), 2011 Illegal Cinema: Les Laboratoires d’Aubervilliers (Frankreich), 2010 Description of a Territory: IK Sinne – Technik – Insze- nierung, TopKino, Wien (Österreich), 2009 Chris Marker Retrospective: CCCB São Paulo, Rio de Janeiro, Brasilia (Brasilien), 2008 DOK. FEST International Doc. Film Festival, Mün- chen (Deutschland), 2008 It’s All True International Documentary Film Festival (Brasilien), 2007 DokuARTS International Festival for Films on Art, Berlin (Deutschland), 2007 Jihlava International Documentary Film Festival (Tschechische Republik), 2007 Grand Prix Ca- mera Stylo Rencontres internationales du documentaire de Montréal / RIDM International Documentary Film Festival (Kanada), 2006 Jerusalem International Film Festival (Israel). Englische DVD: «Description of a Memory» (Icarus Films, New York), USA 2012; Fran- zösische DVD: «Description d’un combat» & «Description d’un mémoire» (Argos Films / Tamasa, Paris), F 2017. [Jusqu’à la victoire – Méthode de pensée et de travail de la Révolution Palestinienne] Nicht fertiggestelltes Filmprojekt, 1969–1974; R: Groupe Dziga Vertov; K: Armand Mar- co, Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin; Sch: Christine Aya, Jean-Luc Godard; P: Groupe Dziga Vertov; Finanzierung: PLO/Al-Fatah, Arabische Liga, Jacques Perrin, Claude Ned- jar; Budget: ca. 70.000 Francs ($ 13.000); Drehzeit / Drehort: Jordanien, Libanon, Novem- ber 1969 – Sommer 1970; F: 16 mm / Farbe. Ici et ailleurs Englischer Titel: Here and Elsewhere; deutscher Titel: Hier und anderswo J: 1976; L: F; R: Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville; B: Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville; Sch: Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville; K: Armand Marco, William Lub- chansky; Video: Gérard Teissèdre; M: Jean Schwarz; Spr: Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville; Schauspieler*innen: Jean-Pierre Bamberger u. a.; P: Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville, Jean-Pierre Rassam; Produktionsfirmen: Sonimage (Grenoble), Institut National de l’Audiovisuel / I. N. A. (Paris), Gaumont (Paris); Produktionsleitung: Stéphane Tchalgadjieff. Drehzeit/Drehort: Jordanien, Libanon November 1969 – Sommer 1970, Frankreich 1973–75. L: 53 Min; F: 16 mm und Video, umkopiert/Farbe; Kameras: Shibaden FP 1200, Eclair ACI, Debrie CX; Filmmaterial: Kodak Eastmancolor; Verleih: Gaumont S.A (Paris), MK2 (Paris). UA: 15.9.1976, Paris; US-EA: 1976, Pacific Film Archives, Berkeley CA; Oktober 1977 Blee- ker Street Cinema, NYC; Dt. TV-EA: 17.2.1977, WDR 3; Dt. Kino-EA: 26.6.1977 Berlin, Forum; Auszeichnungen: 1976: International Film Festival Rotterdam, 1977: Locarno In- ternational Film Festival. Frz. DVD: «Jean-Luc Godard Politique – Coffret 13 films» (Gaumont, Paris), F 2012; US- DVD: «Ici et ailleurs» (Olive Films, Chicago), USA 2012; ital. DVD: «Ici et ailleurs / Com- ment ça va?» (Terminal Video Italia SRL), I 2012; dt. DVD: «Jean-Luc Godard Edition 2: ‹Hier und anderswo›» (OFmdtU), Leipzig: Kinowelt Home Entertainment, 2011. 378 Filmdaten The Angel of History J: 2000; L: ISR; R: Ariella Azoulay; B: Ariella Azoulay; K: Miki Kratsman; Choreografie: Ta- mar Borer; M: Eran Zur; Sch: Eliav Lilty; Produktion: Herzliya Museum of Art; Produk- tionsleiter: Ilit Ferber; Finanzierung: Cellcom Israel LTD, The Forum of Art Museums; Künstler*innen: Boaz Arad, Marie-Ange Guilleminot, Gideon Gechtman, Aim Deuel Luski, Michal Heiman, Sigalit Landau, Doron Solomons, Justin Frank, Roee Rosen, Miki Kratsman. Mitwirkende: Maya Laub, Renana Ophir, Hanan Hever. Sprachen: hebräisch, F: Video; L: 70 min Ital. EA: «New Territories», The Venice Film Festival, 2001. VHS: «The Angel of History» (ohne Jahr; ohne Vlg.); Websites: https://vivo.brown.edu/ display/aazoulay; http://cargocollective.com/ariellaazoulay/ Local Angel – Theological-Political Fragments Hebräischer Titel: Mala’ach Mekomi J: 2002; L: USA/ISR; R: Udi Aloni; B: Udi Aloni; K: Amnon Zalait; Kameraassistenz: Tal Cohen, Nimrod Aloni; S: Galia Gill Moors; T: Chen Harpaz; Tonmischung: Dani Sheetrit; Sound Design: Chen Harpaz; Musik: Tamir Muskat; Erzähler: Craig Wollman; Live- Tontechnik: Amnon Guzi; Make-up: Nina Amir; Garderobe: Irad Amotz; Grafik: Anders Hallgren; Produzenten: Shimon Azulay, Udi Aloni; Produktionsassistenz: Eyal Brosh, Tal Shohat, Franklin Molina; Boom-men: Kobi Nisim; Equipment: Utopia (Israel), GRS (USA); Tonstudio: Vertigo Power Inc. NY; Farbkorrektur: Audio Plus Video Intl.; Produktion: An- gel LLC; Co-Produktion: Noga Communications – Channel 8, Israel; Mitwirkende: David D’or, Dikla, DAM (Tamer Nafar, Joker, Su-hell), Tamir Muskat, Shulamit Aloni, Jasser Arafat, Hanan Ashrawi, Haviva Pedaya, Amnon Raz Krakotzkin, Musa Budeiri. L: 70 min; F: Digi Beta; Farbe; Sprachen: Hebräisch, Arabisch, Englisch; Weltvertrieb: Menemsha Films – Los Angeles. Mehrsprachige DVD: «Local Angel. Theological Political Fragments» (mit Begleitbuch), London: ICA  – Institute of Contemporary Art 2004; Websites: http://localangel.net/, http://udialoni.com/, https://vimeo.com/user9951303/ Mechilot Englischer Titel: Forgiveness; französischer Titel: Pardons. J: 2006; L: ISR/USA; R: Udi Aloni; B: Udi Aloni, Paul Hond; K: Amnon Zalait, Sch: Galia Gill Moors; P: Udi Aloni, David Silber (Metro Communications), Lemore Syvan (Elevation Filmworks); Produktionsassistenz: Sarah Kamens; Ausführende Produzenten: Moshe & Leon Edery, Miki Rabinovitz, Andre Malignac, Sigal Primor, Benny Korman; Finanzie- rung: United King, Hot, Cinema Project, Joint Project of Rabinovitch Foundation, Reca- nati Foundation, The Israeli Ministry of Education, Culture and Sports, The Israel Film Council, Relais Finance-André Malignac, Benny Kormann. UA: Internationales Filmfestival Berlinale, 11.2.2006, Palästinensische EA: «Artists wit- hout Walls», Franco-German Cultural Center Ramallah, 12.7.2006 (Kommentar: Slavoj Žižek). Israelische EA: Jerusalem Film Festival, 13.7.2006; US-EA: Mill Valley Film Festi- val  / California, 7.10.2006; NYC: Cinema Village Manhattan, 12.9.2008; Frz. EA: Israeli Film Festival Paris, 23.3.2007 (Kommentar: Alain Badiou). Auszeichnungen: 2006: Woodstock Film Festival 2006, Publikumspreis. Mehrsprachige DVD: «Mechilot/Forgiveness», United King / Globus United, Israel, 2006; Website: http://www.forgivenessthefilm.com/ 379 Filmdaten Private Investigation Französischer Titel: Enquête personelle; arabischer Titel: Khliqna w iliqna J: 2002; L: Pal/D/F; R: Ula Tabari; B: Ula Tabari; K: Pascale Granel; T: Graciela Barrault, Jean-Louis Garnier; Sch: Christina Hadjizachariou; M: Jean-Paul Questé; Produktionslei- tung: Karina Megdiche; Produktion: ADR Productions, ZDF «Das kleine Fernsehspiel»; Finanzierung: MEDIA Programme of the European Union, Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC). L: 90 min; F: Beta SP / 16:9 DVD: «Private Investigation», 2002 («Published with the support Palestinian Audio-Visual Project, which is funded by the A. M. Qattan foundation and the European Union – Part- nership for Peace Programme»). Kontakt: ulatabari@gmail.com Jinga48 J: 2009; L: Qatar/Pal; R: Ula Tabari; D: Ula Tabari, mit Adan & Ward Daher; K: Fatma Chreif, Ramez Kazmouz; L: Naser Samara; T: Raja Dbeyeh, Isam Rashed; Sch: Ramez Kaz- mouz, Mhamad Hawary; Produktionsleitung: Osnat Hadid; Mitwirkende: Mohammad Barakeh, Dr. Shokri Arraf, Sobhi Badarneh, Ali Slaiha, Kamal Ateleh, Hisham Nafaà, Bilal Ibrahim, Hasan Jabareen, Amer Hiehel, Cheikh Raed Salah, Shawqi Khatib, Naief Hajo, Dr. Nabil Badarneh, Jihad Abu Ahmad, Edan Harari, Sali Abu Ahmad, Saleh Aslieh, Imad Abdo, Afef Badawi, Capoieira De Nazareth group; P: Nizar Younis, ALARZ Productions – Nazareth, Al-Jazeera Children’s Channel / JCCTV. L: 77 min. The Time That Remains Französischer Titel: Le Temps qu’il reste; arabischer Titel: Al-Zaman al-Baqi J: 2009; L: UK/I/B/F; R: Elia Suleiman; B: Elia Suleiman; D: Elia Suleiman, Saleh Bakri, Leila Mouammar, Bilal Zidani, Shafika Bajjali, Ayman Espanioli, Zuhair Abu Hanna, Sa- mar Qudha Tanus u. a.; M: Matthieu Sibony; K: Marc-André Batigne; T: Pierre Mertens, Christian Monheim; Sch: Véronique Lange; Kostüm: Judy Schrewsbury; Produktionsde- sign: Sharif Waked; Casting: Juna Suleiman; Trick: La Maison; P: Michael Gentile, Elia Suleiman; Koproduktion: Maya Sanbar, Patrick Quinet, Hani Farsi; Produktionsleitung: Jacques Royer; Produktionsleitung Israel: Avi Kleinberger; Produktionsfirma: Film, The; Koproduktionspartner: Nazira Films, Wild Bunch, France 3 Cinéma, Artemis Films, Ra- dio Télévision Belge Francophone (RTBF), BIM Distribuzione, Belgacom TV, Corniche Pictures, MBC Group, France 3 (FR 3), Canal+, TPS Star; Finanzierung: Eurimages, Tax Shelter ING Invest de Tax Shelter Productions, MEDIA Programme of the European Uni- on; Verleih: Le Pacte: https://le-pacte.com/ F: 35 mm / color / 16:9; L: 109 min / 3.035 m; Sound: Dolby Digital DTS; Sprachen: hebrä- isch, arabisch, englisch. UA: 22.05.2009 (Cannes Film Festival). Auszeichnungen: 2009 Asia Pacific Screen Awards – Jury Grand Prize; 2009 Mar del Plata Film Festival – ACCA Jury Prize & Best Director; 2010 Granada Film Festival Cines del Sur – Audience Award & Silver Alhambra (Best Director). Französische DVD: «Le temps qu’il reste / The Time That Remains», Le pacte/3 Éditions: Paris 2009. 380 Filmografie 1895 Frères Lumière: L’arrivée d’un train en gare de la Ciotat 1897 Frères Lumière: Départ de Jérusalem en chemin de fer 1899 Georges Méliès: L’affaire Dreyfus 1915 David Wark Griffith: The Clansman [The Birth of a Nation] 1921 Yaacov Ben Dov: Shivat Zion / Rückkehr nach Zion 1921 George Melford: The Sheik 1928 Carl Theodor Dreyer: La passion de Jeanne d’Arc 1928 Sergej Eisenstein: Oktobr 1929 Dziga Vertov: Tschelowek s kinoapparatom / Der Mann mit der Kamera 1930 Dziga Vertov: Entuziazm [Simfonija Donbassa] 1936 Charlie Chaplin: Modern Times 1941 Orson Welles: Citizen Kane 1945 Hanuš Burger & Billy Wilder: Death Mills 1947 Meyer Levin & Teresa Torrès: The Illegals 1950 Jean Cocteau: Orphée 1950 René Vautier: Afrique 50 1953 Alain Resnais & Chris Marker: Les statues meurent aussi 1953 Roberto Rossellini: Viaggio in Italia 1954 Thorold Dickinson: Giv’a 24 eina ona / Hill 24 Doesn’t Answer 1955 Alain Resnais: Nuit et brouillard 1956 Alain Resnais: Toute la mémoire du monde 1956 Chris Marker: Dimanche à Peking 1958 René Vautier: Algérie en flammes 1958 Chris Marker: Lettre de Sibérie 1958 Herbert Viktor: Paradies und Feuerofen 1958 Alfred Hitchcock: Vertigo 1959 Alfred Hitchcock: North by Northwest 1959 George Stevens: The Diary of Anne Frank 1960 Jean-Luc Godard: À bout de souffle 1960 Jean Rouch: La pyramide humaine 1960 Otto Preminger: Exodus 381 Filmografie 1960 Chris Marker: Description d’un combat 1961 Baruch Dienar: Hem hayu assara / They Were Ten 1961 François Chalais: Israël à l’heure Eichmann 1962 Nathan Axelrod & Uri Zohar: Etz o Palestine / The True Story of Palestine 1962 David Lean: Lawrence of Arabia 1962 Chris Marker: La Jetée 1963 David Perlov: In Jerusalem 1963 Jean-Daniel Pollet: Méditerranée 1963 Pier Paolo Pasolini: La rabbia 1964 Pier Paolo Pasolini: Sopraluoghi in Palestina 1965 Gene Nelson: Harum Scarum 1965 Jean-Luc Godard: Pierrot le fou 1965 Wang Ping: Dongfang hong / Der Osten ist rot 1966 Gillo Pontecorvo: La battaglia di Algieri 1966 Michelangelo Antonioni: Blow-Up 1967 Jean-Luc Godard: La chinoise 1967 Filmkollektiv: Loin du Vietnam 1968 Jean-Luc Godard: Weekend 1968 Octavio Getino & Fernando Solanas: La hora de los hornos 1969 Kais Al-Zubaidi: Ba‘idan an-il ardh / Fern der Heimat 1969 Haskell Wexler: Medium Cool 1969 Rida Myassar: ’Al-Filastini al-Tha’ir / The Revolutionary Palestinian 1969 Marcel Ophüls: Le chagrin et la pitié 1969 Groupe Dziga Vertov: British Sounds 1969 Groupe Dziga Vertov: Vent d’est 1969 Groupe Dziga Vertov: Lotte in Italia 1969–74 Groupe Dziga Vertov: Jusqu’à la victoire [Filmprojekt] 1969 Jean-Pierre Olivier: Palestine vaincra 1970 Francis Reusser: Biladi, une revolution 1970 Ralph Thanhauser: Godard in America 1971 Groupe Dziga Vertov: Vladimir et Rosa 1971 Nick MacDonald: Palestine 1972 Masao Adachi & Kôji Wakamatsu: Sekigun-PFLP: Sekai senso Sengen 1972 Groupe Dziga Vertov: Tout va bien 1972 Groupe Dziga Vertov: Letter to Jane 1972 Jean-Marie Straub & Danièle Huillet: Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene 1973 Almut Hielscher & Manfred Vosz: Gelobtes Land 1973 San Francisco Newsreel Film Collective: We are the Palestinian People 1974 Louis Malle: Lucien Lacombe 1974 Susan Sontag: Promised Lands 1974 Claude Lanzmann: Pourquoi Israël 1975 Borhan Alaouye: Kafr Kassem 1975 Groupe cinéma de Vincennes: L’olivier 1975 Johan van der Keuken: De Palestijnen / The Palestinians 1975 Michelangelo Antonioni: Professione: reporter 1975 Pier Paolo Pasolini: Salò o le 120 giornate di Sodoma 1976 Nikos Papatakis: Gloria Mundi 1976 Jean Rouch: Chantons sous l’occupation 382 Filmografie 1976 Jean-Luc Godard & Anne-Marie Miéville: Ici et ailleurs 1976 Jean-Luc Godard & Anne-Marie Miéville: Six fois deux – Sur et sous la communication 1976 Jean-Marie Straub & Danièle Huillet: Fortini/Cani 1976 Marcel Ophüls: The Memory of Justice 1976 Marvin Chomsky: Victory at Entebbe 1976 Martin Scorsese: Taxi Driver 1977 Chris Marker: Le fonds de l’air est rouge 1977 Judd Ne’eman: Masa Alunkot / Paratroopers 1978 Jean-Luc Godard & Anne-Marie Miéville: Comment Ça va 1980 Michel Khleifi: Al Dhakira al Khasba / La mémoire fertile 1981 Kassem Hawal: Return to Haifa 1983 Ken McMullen: Ghost Dance 1983 Chris Marker: Sans soleil 1983 David Perlov: Diary 1983 Constantin Costa-Gavras: Hanna K 1984 Michel Khleifi: Ma’aloul Celebrates its Destruction 1974–85 Claude Lanzmann: Shoah 1986 Black Audio Film Collective: Handsworth Songs 1986 Harun Farocki: Wie man sieht 1990 Gerd Roscher: Jenseits der Grenze – Eine Erinnerung an Walter Benjamin 1990 Jayce Saloum & Elia Suleiman: Introduction to the End of an Argument 1990 Craig Baldwin: Tribulation 99: Alien Anomalies Under America 1991 Eyal Sivan: Izkor – Slaves of Memory 1992 Chris Marker: Le tombeau d’Alexandre 1992 Simone Bitton & Jean-Michel Meurice: Palestine, histoire d’une terre 1993 Simone Bitton & Catherine Poitevin: Daney/Sanbar. Conversation Nord-Sud 1993 Andreas Veiel: Balagan 1994 Claude Lanzmann: Tsahal 1994 Asher Tlalim: Don‘t Touch My Holocaust 1995 Deedee Halleck: The Gringo in Mañanaland 1996 Elia Suleiman: Chronicle of a Disappearance 1996 Thomas Tode, Ale Muñoz & Rasmus Gerlach: Im Land der Kinoveteranen: Filmexpedition zu Dziga Vertov 1997 Johan Grimonprez: Dial H-I-S-T-O-R-Y 1997 Claude Lanzmann: Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures 1997 Benny Brunner & Alexandra Jansse: Al-Nakba 1998 Mohammad Bakri: 1948 1988–98 Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma 1998 Charles Bruce & Edward Said: In Search of Palestine 1998 Robert Krieg & Monika Nolte: «Wir kamen nach Palästina... » 1999 Dan Geva & Noit Geva: What I saw in Hebron 1999 Avi Mograbi: Happy Birthday, Mr. Mograbi 1999 Eyal Sivan: Un Spécialiste – Portrait d‘un Criminelle Moderne 2000 Richard Dindo: Genet in Chatila 2000 Ariella Azoulay: The Angel of History 2002 Samir: Forget Baghdad 2002 Dominique Dubosc: Palestine Palestine 2002 Udi Aloni: Mala’ach Mekomi / Local Angel 383 Filmografie 2002 Ula Tabari: Private Investigation 2002 Elia Suleiman: Divine Intervention 2003 Mohammed Bakri: Jenin Jenin 2004 Yulie Cohen: My Zion 2004 Simone Bitton: Mur 2004 Hany Abu-Assad: Paradise Now 2004 Azza El-Hassan: Von Komparsen und Königen – Auf der Suche nach einem Bild von Palästina 2004 Dominique Dubosc: Réminiscences d’un voyage en Palestine 2004 Michel Khleifi & Eyal Sivan: Route 181: Fragments of a Journey in Palestine-Israel 2004 Jean-Luc Godard: Notre musique 2004 Jean-Luc Godard: Prières pour Refusniks I / II 2004 Michael Moore: Fahrenheit 9/11 2004 Juliano Mer Khamis & Danniel Danniel: Arnas Children 2004 Dan Geva: Ch‘schow Popcorn / Think Popcorn 2004 Nurith Aviv: MiSafa LeSafa / From Language to Language 2005 Breaking the Silence: Israeli Soldiers Talk About Hebron 2005 Steven Spielberg: Munich 2005 Ula Tabari: Diaspora 2006 Jean-Luc Godard: Vrai faux passeport 2006 Chantal Akerman: Lá-bas / Down There 2006 Shai Carmeli-Pollak: Bil‘in Habibti / Bilin My Love 2006 Dan Geva: Tza’ad Revi’i La’matbe’a / Description of a Memory 2006 Udi Aloni: Mechilot / Forgiveness 2007 Yoav Shami: Flipping Out 2007 Tamar Yarom: See if I’m Smiling 2008 Jérôme Bourdon & Antonio Wagner: Israël-Palestine – l’emprise des images 2008 Ari Folman: Waltz With Bashir 2008 Avi Mograbi: Z32 2008 Chris Marker: Le regard du bourreau / Henchman Glance 2008 Otolith Group: Nervus Rerum 2008 Paul Schrader: Adam Resurrected 2008 Alexander Kluge: Nachrichten aus der ideologischen Antike 2009 Michel Khleifi: Zindeeq 2009 Samuel Moaz: Lebanon 2009 Ursula Biemann: X-Mission 2009 Till Roeskens: Videomappings: Aida, Palestine 2009 Alain Fleischer: Morceaux de conversations avec Jean-Luc Godard 2009 Udi Aloni: Kashmir – Journey to Freedom 2009 Elia Suleiman: The Time That Remains 2009 Ula Tabari: Jinga48 2010 Jean-Luc Godard: Film socialisme 2011 Jean-Marie Straub: Schakale und Araber 2011 Emad Burnat & Guy Davidi: Five Broken Cameras 2012 Ariella Azoulay: Civil Alliances, Palestine, 47–48 2013 Udi Aloni, Mariam Abu Khaled & Batoul Taleb: Art/Violence 2015 Mor Loushy: Censored Voices / Stimmen des Krieges 2016 Mohanad Yaqubi: Off Frame Aka Revolution Until Victory 2019 Elia Suleiman: It Must Be Heaven 384 Bibliografie Abdul Hadi, Mahdi F.: «Documents on Pa- Adorno, Theodor W. und Walter Benjamin: lestine, Vol. II: 1948–1973», Palestinian Briefwechsel 1928–1940, Frankfurt a. 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Die To- Wien/Bozen: Studienverlag 1999. 415 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Nachrichten aus der ideologi- Abb.  42: Godard in America, Groove schen Antike, Suhrkamp Verlag; Abb. 2: Press; Abb.  46–47: ZDF; Abb.  49: Cahiers Arnheim: Art and visual perception, Uni- du cinéma, Nr. 248/1972, U1; Abb.  81: versity of California Press, S.  3; Abb.  3–4: Le Nouvel Obsérvateur; Abb.  82: MK2; L’affaire Dreyfus; Abb. 5: L’arrivée d’un Abb. 85–86: Notre musique, Wild Bunch; train dans la gare de La Ciotat; Abb. 6: Abb. 87–92: Film socialisme, Wild Bunch; Départ de Jérusalem en chemin de fer; Abb. 93: ‹Angelus Novus›, Israel Museum; Abb. 7: HaZwi; Abb. 8: Kämper/Tode: Chris Abb. 94–103: The Angel of History, Ari- Marker  – Filmessayist, CICIM, S.  232; ella Azoulay; Abb. 104–131: Local Angel, Abb. 9–10, 12–27: Description d’un com- ICA/Udi Aloni; Abb. 129: Udi Aloni: Re-U- bat, Argos Films & Tamasa; Abb. 11: Soskin: Man, S.  8; Abb. 132–145: Mechilot, Uni- Album of Tel-Aviv Views, ohne Verlag, S. 8; ted King Films / Udi Aloni; Abb. 146, 156– Abb.  28: Israel Film Archive; Abb.  29–34: 162: Jinga48, Ula Tabari; Abb. 147, 167–176: Description of a Memory, J. M. T. Films / The Time That Remains, Nazira Films  / Dan Geva; Abb. 35, 45, 83: Palestine Poster Elia Suleiman; Abb. 148: Hennebelle/Khay- Project Archives; Abb.  36: Loin du Viet- ati: La Palestine et le cinéma, U4; Abb. 149– nam, Icarus Films; Abb.  37: Cahiers du 155: Private Investigation, Ula Tabari; cinéma 262/263, 1976, S.  39; Abb.  38, 43, Abb. 163–166: Introduction to the End 48, 50–80, 84: Ici et ailleurs, Gaumont; of an Argument, Jayce Salloum  / Elia Abb.  39–41, 44: Goodwin/Marcus: Double Suleiman; Abb.  177: It must be Heaven, Feature, Outerbridge & Lazard, S.  52–56; Nazira Films / Elia Suleiman. 416 Personenregister A Aristoteles 28 Abado, Marwan 373 Arnheim, Rudolf 47–50, 356 Abu-Ali, Mustafa 181, 314 Arsenjuk, Luka 52, 58 Abu-Assad, Hany 25 Artaud, Antonin 84, 351 Abu-Hanna, Zuhair 338 Ashrawi, Emile 258 Abu-Hannoud, Salah 314 Ashrawi, Hanan 258–260, 263, 267, 360 Abu-Wael, Tawfiq 25 Astruc, Alexandre 7, 25, 42–45, 50–51, 81, Abulafia, Abraham 272 113, 121, 224, 278, 351, 356, 358, 367 Adachi, Masao 131 Aviad, Michal 25 Adler, David 283 Aviv, Nurith 25, 246 Adorno, Theodor W. 45–47, 50, 137, 228, 249, Aya, Christine 164 269–270, 356, 363, 369, 372 Axelrod, Nathan 109 Agamben, Giorgio 81, 253, 276 Azoulay, Ariella 24, 225, 229–241, 243, 256, Agnon, Samuel 273 359–360 Al-Barghouti, Moheeb 296 Azulay, Shimon 242 Al-Zubaidi, Kais 26, 315 Alaouye, Borhan 217 B Aljafari, Kamal 25 Badiou, Alain 144, 218, 262, 293 Aloni, Reuven 256 Bacon, Francis 355 Aloni, Shulamit 242, 256–260, 262–263, 267, Baecque, Antoine de 137, 161, 203 283, 360 Baldwin, Craig 336 Aloni, Udi 24, 223, 225, 229, 241–302, 307, Balfour, Arthur James 66, 147, 177, 369 308, 338, 347, 349, 359–362, 368, 374 Bakri, Mohammed 25, 317 Althusser, Louis 56, 136, 140–141, 144, 149, Bakri, Saleh 337 195, 359 Bar Kochba, Simon 87, 89, 101 Améry, Jean 201, 370 Bartana, Yael 25 Amir, Jigal 235–237, 365–366 Barbey, Bruno 179–180 Amit, Roie 129 Barnea, Itamar 301 Anderson, Benedict 279 Barth, Hermann 54 Antonioni, Michelangelo 127 Batsheva Dance Company 293 Arafat, Yasser 97, 130, 149, 160, 183, 204, 259– Batsry, Irit 25 262, 298, 304, 314, 337, 360, 365, 372 Bazin, André 32, 82–83, 107, 144, 175, 207, Arendt, Hannah 30, 103, 221, 226, 355, 359, 371 359 417 Personenregister Beckermann, Ruth 25 C Beckett, Samuel 241, 312 Canudo, Ricciotto 42 Bee Gees 344 Capra, Frank 318 Begin, Menachem 227, 248, 367 Caruth, Cathy 290, 299 Bellour, Raymond 26, 55 Catariva, David 84 Ben-Jehuda, Eliezer 70 Cayrol, Jean 75 Ben-Jehuda, Hemda 70 Certeau, Michel de 285–286 Ben-Gurion, David 74, 95, 127, 257, 303 Chateaubriand, François-René de 67 Benjamin, Walter 13, 24, 27, 212, 216, 220– Chaliand, Gérard 140 221, 225–230, 232–233, 237–242, 249–250, Chaplin, Charlie 186, 352 264, 266, 269–270, 272–274, 277, 287, 298, Châtelet, François 171, 196 312, 320, 331, 356, 359–360, 362–363 Chazalon, Christophe 97, 120, 122 Bense, Max 45–47, 356 Churchill, Winston 371 Bergala, Alain 32, 207 Cloquet, Ghislain 76 Bergmann, Hugo 87, 226 Cocteau, Jean 163, 175 Berliner, Alan 25 Cohen, Leonard 352 Bernadotte Graf von Wisborg, Folke 257 Cohen, Yulie 25, 308 Bialik, Chaim Nachman 273 Cohn-Bendit, Daniel 138, 224 Biard, Nathalie 137, 158 Collara, Salvatore 70 Biemann, Ursula 25 Corrigan, Timothy 8, 50, 54 Bishara, Azmi 230, 242, 257 Costa-Gavras, Constantin 335 Bismarck, Otto von 66 Curnier, Jean-Paul 219–220 Bitar, Hazim 25 Curzon, George 66 Bitton, Simone 25 Black Audio Film Collective 58–59 D Blanqui, Auguste 350 Dalí, Salvador 84 Bloch, Marc 17, 28 Dante Alighieri 216 Boaz, Arad 230, 233 DAM 253–255, 293 Boehm, Omri 366–367 Daney, Serge 175–176 Borges, Jorge Luis 372 Darwish, Mahmoud 27, 145–146, 159, 180, Bourdieu, Pierre 48 190–191, 214, 216, 225, 297, 322, 334, 339, Bourdon, Jerôme 200 346–348, 358, 362, 374 Braudel, Fernand 17, 219 Davis, Miles 85 Brecht, Bertolt 38, 41, 158, 185 Dayan, Moshe 128, 184, 201, 247, 372 Breschnew, Leonid 176 Debord, Guy 25 Bresheeth, Haim 284, 307 Deleuze, Gilles 81, 118, 204–207, 209, 215, Breslauer, Rudolf 111 305–306, 316, 318–319, 328–329, 331, 343– Bresson, Robert 45 345, 349–352, 355, 361 Breton, André 362 Delluc, Louis 42 Bruce, Charles 317 Demy, Jacques 81 Brunner, Benny 316 Derrida, Jacques 225, 243, 246, 261, 273, 277, 279– Brunton, Finn 87 280, 296, 298, 300–301, 359–360, 364–365 Buber, Martin 55, 98, 226 Descartes, René 43 Budeiri, Musa 245 Didi-Huberman, Georges 212–214 Bundschuh, Werner 372 Dikla 250–253, 264, 276 Buñuel, Luis 84 Dion, Celine 341 Bunzl, John 261 DJ Mirwais 344 Burch, Noel 53 Dostojewskij, Fjodor 125, 343 Burron, Paul 137 Douglas, Kirk 340 Bush, George 336 Dreyer, Carl Theodor 85 Butler, Judith 240, 301 Dreyfus, Alfred 63–65, 70, 311 Büttner, Elisabeth 19, 207 Dubosc, Dominique 25 418 Personenregister E Ghanim, Honaida 312, 316 Eco, Umberto 29, 37, 49–50, 81, 130, 241, 356 Giraudoux, Jean 83 Eichmann, Adolf 10, 94–95, 103–104, 109– Gitai, Amos 25, 98, 235 111, 232–233 Godard, Jean-Luc 8, 15–16, 24–25, 31, 35–36, Eisenberg, Tamara 227 44, 53, 113, 125–224, 240, 271, 286, 315, Eisenstein, Sergej 38–40, 43–44, 50, 53, 135, 337, 354, 358, 359, 362, 373 145, 207, 216, 221, 274, 278, 318, 356, 361, Goodman, Giora 78 373 Goldenberg, Taly 75 Elkabetz, Shlomi 252 Goldstein, Baruch 235, 256 Elon, Danae 25 Goren, Amit 25 Elsaesser, Thomas 14–15 Gorin, Jean-Pierre 52, 57, 136–143, 145–147, Emmelhainz, Irmgard 173, 207, 210, 218 149, 157–159, 163–166, 168, 190 Epstein, Jean 42 Goya, Francisco de 94 Eshun, Kodwo 58–59 Goytisolo, Juan 214 Espanioli, Ayman 341 Grafe, Frieda 44 d’Estaing, Giscard 169, 202, 208 Griffith, David Ward 41, 279 Grimonprez, Johan 25, 130 F Groupe Cinéma de Vincennes 131 Fanon, Frantz 132, 135 Groupe Dziga Vertov 24, 125, 131, 135, 137– Farocki, Harun 8, 36, 111, 204 138, 141, 144–145, 147, 156, 158, 164, 168, Faroult, David 157 190, 197 Fatosme, Pierre 85 Groupe Medvedkin 135 Ferro, Marc 17, 364 Guattari, Félix 118, 209, 279, 302, 328, 343, 344, Fleischer, Alain 204 Guilleminot, Marie-Ange 231 Folman, Ari 25, 282 Ford, John 318 H Foucault, Michel 93, 202, 209, 218, 272, 317, 364 Ha’am, Achad 69 François, Emmanuel 165 Habash, Ahmad 25 Franju, Georges 81 Habash, George 160 Frank, Anne 104–105, 115, 119 Hämmerle, Agatha 369 Frank, Herz 235 Halachmi, Anat 254 Franz Joseph I. 63 Halbreich-Euvrard, Janine 322, 353 Freedom Theatre of the Jenin Refugee Camp Halbwachs, Maurice 67 241 Halleck, Deedee 336 Frei, Bruno 90 Hamdan, Yasmine 344 Freud, Sigmund 63–64, 225, 232, 273, 285, Hamshari, Mahmoud 159, 165 289, 290–291, 300, 332, 349, 359, 372 Harb, Shuruq 23 Friedman, Régine-Mihal 113 Harrison, Olivia 210 Frodon, Jean-Michel 9, 67 Hawal, Kassem 315 Hawatimeh, Nayef 160 G Haymann, Emmanuel 204 Galinski, Heinz 110 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13 Garabédian, Gary 128 Heiman, Michal 231–233 Gaulle, Charles de 112, 130, 202 Henderson, Louis 25 Gauthier, Guy 83, 122 Heraklit 32 Gechtman, Gideon 231 Herzl, Theodor 63, 65–66, 69, 70, 87–88, 100, Genet, Jean 130, 140, 163, 179, 221 217, 301, 367 Gertz, Nurith 22, 315 Hesiod 28 Gervereau, Laurent 20, 72 Hesse, Bertrand 101–102 Getino, Octavio 51, 135 Hessel, Stéphane 228 Geva, Dan 24, 28, 71–73, 114–123, 257, 277, Hielscher, Almut 131 358, 362 Hirsch, Marianne 305 419 Personenregister Hitchcock, Alfred 45, 72, 87, 92, 127 Khoury, Clara 299 Hitler, Adolf 64, 89, 137, 177–180, 184, 203– Khoury, Makram 289 206, 213, 223, 228, 233, 298, 318, 369 Kinoki 142, 373 Hobsbawm, Eric 169 Kissinger, Henry 169, 184 Hoffmann, Heinrich 223 Klee, Paul 35, 227–229, 231, 237–238, 242– Hofmannsthal, Hugo von 356 243, 264, 266, 319, 360 Homer 28 Klein, William 113, 133 Hoolboom, Mike 25 Kluge, Alexander 40, 209, 356 Huillet, Danièle 26, 131, 203 Kohn, Hans 226 Hussein I. von Jordanien 162–163, 204 Kook, Abraham 248, 276 Kopolovits, Abraham 370 I Kopolovits, Ester 370 Idel, Moshe 241, 248, 260, 271 Kovner, Abba 104 Illouz, Eva 70, 259, 311 Kracauer, Siegfried 32 Imber, Naphtali Herz 224 Kramer, Sven 23, 53 Ishaghpour, Youssef 16 Kratsman, Miki 231, 237–238 Ivens, Joris 74, 113, 133 Krieg, Robert 92, 317 Kristeva, Julia 267 J Kubrick, Stanley 340 Jabotinsky, Wladimir Zeev 367 Jacir, Annemarie 25 L Jansse, Alexandra 316 Labarthe, André S. 123 Jawharieh, Hani 131, 198–199, 315 Lacan, Jacques 86, 136, 290 Jeanson, Francis 166 Lalan 85 Jehoshua, Abraham B. 287 Landau, Sigalit 231 Johnson, Lyndon B. 201 Langer, Susanne K. 29 Josef, Ovadja 256 Lanzmann, Claude 25, 140, 201, 212–214, 222, Jreri, Mahmoud 253 359, 372 Laurens, Henry 201 K Le Bon, Gustave 64, 66 Kadish, Alon 310 Le Goff, Jacques 19 Kafka, Franz 27, 71, 83, 87–88, 105, 118, 123, Leacock, Richard 147 250, 273, 276–277, 303, 311, 318–319, 358– Lean, David 335 359, 362 Leenhardt, Roger 81 Kahane, Meir 245, 248 Leer, Lia van 73–75 Kantorowicz, Gertrud 369 Leer, Wim van 73–77, 89, 92, 104, 107, 110 Kalthoum, Oum 252 Leibowitz, Jeshajahu 274 Kanafani, Ghassan 162, 315 Lenin, Wladimir Iljitsch 178–179 Kaniuk, Yoram 287, 307–308, 374 Leyden, Lucas van 100–101 Kant, Immanuel 189–190, 193, 364 Levi, Primo 182, 286, 306, 350–351, 359 Karmitz, Marin 196 Lévi-Strauss, Claude 81 Katz, Shalom 179 Levin, Meyer 101–102 Katzir, Dan 25 Lévinas, Emmanuel 195, 215 Keaton, Buster 343, 350–351 Lewin, Kurt 47 Keilson, Hans 311 Leyda, Jay 65 Kennan, George F. 66 Leskly, Hezy 271 Kennedy, John F. 126–127 Liska, Vivian 227 Kepes, György 48–49 Loizillon, Christophe 321 Keuken, Johan van der 25, 131 Loshitzky, Yosefa 298 Khleifi, George 22, 315–316 Loti, Pierre 67 Khleifi, Michel 25, 224, 317–318, 320, 324, 361 Lubtchansky, William 173 Khoury, Buthina Canaan 25 Lueger, Karl 63 420 Personenregister Lumière, Auguste & Louis 13, 21, 32, 35, 53, Montero, David 56, 51 63, 67–68, 336 Moore, Michael 51 Luria, Isaak 272–273, 276, 298, 360 Morris, Benny 317 Luski, Aim Deuel 231 Mourad, Leila 341 Lynch, David 293 Murray, John 222 Lyotard, Jean-François 52, 209 Muskat, Tamir 250, 264, 274, 293 Myassar, Rida 128 M MacCabe, Colin 162, 166, 168, 183, 191 N MacDonald, Nick 131, 215 Na’aman, Dorit 25 Maier, Siegfried 370 Nafar, Suhell 254 Maimonides 273 Nafar, Tamer 253–255 Malkin, Yaakov 76 Naharin, Ohad 293 Malraux, André 45, 214 Nancy, Jean-Luc 294 Manna, Jumana 25 Napoleon Bonaparte 67 Mansour, Tamara 300 Narboni, Jean 204 Mao, Tse-tung 138, 146, 151, 195 Nasser, Gamal Abdel 97, 128, 148, 338, 340 Maoz, Samuel 282 Nedjar, Claude 138 Mara’ana, Salh Ibtisam 25 Neidhardt, Irit 23 Marco, Armand 137, 139, 161 Nerval, Gérard de 122 Marker, Chris 8, 23–24, 28, 36, 50, 55–56, 71– Netanjahu, Benjamin 200, 236, 248, 298 123, 126, 129, 133, 134, 135, 163, 171, 271, Netanjahu, Jonathan 200 277, 310–311, 318, 334, 358, 362, 363, 364 Neumann, Alfred A. 94 Martin, Gérard 137 Newman, Paul 78, 96, 108 Marx, Karl 39, 141, 144, 186 Newsreel Collective 142 Masharawi, Rashid 25 Niessen, Niels 219–220 Matuszewski, Bołeslaw 18 Nizan, Paul 166 McClintock, Marsha H. 21 Nixon, Richard 72, 176, 184, 204 McMullen, Ken 279 Nolte, Monika 92, 317 Medwedkin, Alexander 118 Nora, Pierre 330 Meir, Golda 179–181, 184, 203–206, 213, 256 Nora, Simon 208 Meiri, Sandra 246, 265, 268, 275, 290–291, 297 Méliès, Georges 53, 63–65, 70 O Melville, Herman 67 Olivier, Jean-Pierre 130 Menuhin, Yehudi 296 Olmert, Ehud 332 Mer-Khamis, Juliano 241 Ophüls, Marcel 202–203, 214, 296 Merleau-Ponty, Maurice 80 d’Or, David 250–253, 264, 266, 276 Mesguich, Félix 35 Otolith Group 25 Michaux, Henri 81, 83 Miéville, Anne-Marie 24, 125, 131, 168–169, P 171–211, 224, 358, 373 Palestinian Cinema Institution 181, 199 Minc, Alain 208 Papatakis, Nikos 196 Minh-ha, Trinh T. 51 Parville, Henri de 32 Mirsal, Sulafa 314 Pascal, Blaise 221 Mirzoeff, Nicholas 28 Pasolini, Pier Paolo 15, 26, 36, 109, 170, 196, Mitchell, William John Thomas 16, 30, 247– 202 248, 268, 274 Patell, Shireen R. K. 287 Mograbi, Avi 25, 240, 282, 308 Pauleit, Winfried 26–27 Mondzain, Marie-José 21 Peck, Raoul 51 Monod, Martine 111 Pedaya, Haviva 245–247, 249, 267, 269 Montaigne, Michel de 9, 37–38, 42, 52, 54, Peintner, Josef 369 272, 347, 355, 363, 367 Peleg, Yaron 286–287 421 Personenregister Pennebaker, D. A. 147 Rouch, Jean 110, 130, 196 Peres, Shimon 242, 256 Roussopoulos, Carole 204 Pergolesi, Giovanni Battista 266 Roy, Marina 68 Perlov, David 26, 108 Ruppin, Arthur 226 Perrin, Jacques 138 Pisters, Patricia 349 S Platon 7, 274, 355 Said, Edward 156, 252, 255, 308–309, 310, 311, Pollet, Jean-Daniel 222 313–314, 317 Pons, Isabel 137 Salah, Tewfik 128 Pontecorvo, Gillo 132, 335 Salloum, Jackie Reem 254 Prager, Gerhard 109 Salloum, Jayce 334, 336 Preminger, Otto 78–79, 102, 107, 129, 217, Samir 26, 321 335, 358 Sanbar, Elias 159–160, 165, 167, 171, 183, Presley, Elvis 94–95, 336 214–215, 220, 338 Promio, Alexandre 68 Sansour, Larissa 26 Proust, Marcel 81, 353 Saragusti, Anat 256 Pudovkin, Wsewolod 318 Sarne, Michael 289 Sartre, Jean-Paul 137, 166, 182, 200–201, 221 R Saussure, Fernand de 81 Rabin, Rachel 116 Schklowski, Viktor 354 Rabin, Jitzchak 24, 116, 200, 226, 230–231, Scholem, Gershom 221–223, 225–226–228, 235–237, 240–241, 256, 258, 259, 261, 359, 239, 248–249, 271–274, 276–277, 295, 359 365–366 Scholl, Hans 220 Radler-Feldman Ha-Talmi, Yehoshua 226 Scholl, Sophie 220 Rancière, Jacques 30, 32–33, 118, 211, 217, Schrader, Paul 287 368 Schumann, Robert 293 Rascaroli, Laura 8, 52, 54–57, 216, 362 Seeßlen, Georg 363, 367 Ray, Michèle 133 Segev, Tom 95, 116 Raz-Krakotzkin, Amnon 245, 247, 255, 263 Sela, Avraham 310 Raza, Sara 229 Sex Pistols 195 Reichenbach, François 77 Shamir, Yoav 281 Renov, Michael 52 Sharon, Ariel 113, 241, 248–249, 260 Resnais, Alain 36, 72, 75, 81, 84, 109, 133 Shemer, Naomi 339 Reusser, Francis 131 Shimoni, Kobi 254 Riad, Mohamed Slim 128 Shohat, Ella 22, 70, 288, 302, 320 Richter, Hans 38, 40–41, 50, 155, 356 Sica, Vittorio de 179 Ricœur, Paul 29 Simmons, Jean 340 Riederer, Günter 18, 28 Simon, Ernst 226 Rivette, Jacques 45 Sivan, Eyal 26, 321 Roeskens, Till 26 Smith, Patti 170, 218, 268 Roger, Jean-Henri 137, 197 Soapkills 344 Ronell, Avital 250, 271 Soja, Edward W. 368 Roos, Hans-Dieter 108 Solanas, Fernando 51, 135 Rose, Jacqueline 248, 309, 253 Solomons, Doron 231 Rosen, Roee 231, 234 Sontag, Susan 26 Rosenberg, Murray 69 Sorel, Georges 165 Rosenfeld, Noah 89, 116 Sorin, Raphaël 137 Rosenzweig, Franz 223, 248, 268–269, 277, Soskin, Abraham 88 359 Soueid, Mohamed 26 Rosi, Francesco 132 Soyfer, Jura 369 Rosler, Martha 324 Spartakus 340 Rosselini, Roberto 165 Spielberg, Steven 79, 165, 321 422 Personenregister Spinoza, Baruch de 249, 332 Vautier, René 137 Spivak, Gayatri C. 96 Verne, Jules 66, 75 Stevens, George 104 Vertov, Dziga 24, 39, 125, 135, 142, 190, 358, 373 Stewart, Alexandra 120 Vigo, Jean 327, 361 Steyerl, Hito 51–52, 72, 130, 209 Visconti, Luchino 132 Straub, Jean-Marie 26, 131, 203 Vivas, Victor 108 Suleiman, Elia 24, 98, 128, 217, 303–306, 310, Vogel, Amos 215, 373 320–321, 333–352, 361–362 Volach, Yona 235 Vosz, Manfred 131 T Tabari, Ula 24, 303–306, 310, 320–332, 334, W 339, 341, 347–349, 351, 361–362 Wagner, Richard 69 Tailleur, Roger 75, 80, 83 Wajcman, Gérard 213–214 Tal, Ran 228 Wakamatsu, Kôji 131 Talmon, Miri 286–287 Wang, Ping 150 Tati, Jacques 350–351 Weil, Simone 221 Tauber, Ruth 269 Welles, Orson 45, 72, 127, 351 Taubin, Amy 221 Weltsch, Felix 226 Teno, Jean-Marie 51 Weltsch, Robert 226 Thanhauser, Ralph 147, 155, 166 Wessely, Simon 281 Theweleit, Klaus 44, 177 Wexler, Haskell 127 Thon, Yakoov Yonathan 226 Weyergans, François 85 Thoret, Jean-Baptiste 127 Wiazemsky, Anne 137, 141, 166 Tibi, Ahmed 313 Wiesel, Elie 129 Timm, Elisabeth 323 Wilde, Oscar 94 Tinguely, Jean 80 Wright, Lawrence 245 Tiran, Itay 281–282 Tlalim, Asher 26 Y Tode, Thomas 10, 23, 53 Yaqubi, Mohanad 315 Torres, Torrès 101 Yarom, Tamar 282 Truffaut, François 134 Y.A.S. 344 Trump, Donald 352, 366 Tryster, Hillel 70, 199 Z Zalait, Amnon 293 U Zangwill, Israel 365 Uris, Leon 78 Zapruder, Abraham 126 Zimmermann, Moshe 79, 104 V Žižek, Slavoj 265, 278, 291, 361 Valentino, Rudolph 335 Zohar, Uri 109 Valio-Cavaglione, André 76 Zola, Émile 64 Varda, Agnès 81, 97, 133 Zora, Eva 77 423