- Blindtext Hartmut Winkler P rozessieren Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion ISBN 978-3-7705-5841-4 ISBN 978-3-7705-5769-1 Wil helm Fink Winkler.indd 2 28.11.14 15:01 Wink ler Cal lPserno ze sMsITi AeNDERENW FinWk Fink AUGEN SErHeENn Hartmut Winkler Prozessieren Hartmut Winkler Prozessieren Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Paderborn Umschlagabbildung: Collage nach einer Idee von Hartmut Winkler auf Basis einer im Internet zirkulierenden Fotografie Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Lektorat und Satz: Margret Westerwinter, Düsseldorf; www.lektorat-westerwinter.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5841-4 INHALT EINLEITUNG .................................................................. 7 1 PROZESSIEREN ........................................................... 15 1.1 Eingreifende Veränderung ............................................... 17 1.2 Transformieren, Transkribieren, Übersetzen .................... 33 1.3 Metamorphosen, der Wandel, das Neue .......................... 47 1.4 Transformation und Form ................................................ 63 1.5 Performativität, Wandel durch Wiederholung ................. 67 1.6 Geformt und ungeformt ................................................... 71 1.7 Schalten, Entscheiden ...................................................... 79 1.8 Algorithmen, mathematische Transformationen .............. 83 1.9 Handeln ohne Subjekt? .................................................... 97 1.10 Zwischensumme Prozessieren ......................................... 103 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN ........................................ 117 2.1 Relation der drei Medienfunktionen In welchem Verhältnis stehen Übertragen, Speichern und Prozessieren? ....................................... 119 2.2 Das Medium als Gegenüber ............................................. 135 2.3 Speichern, Stillstellen, Reifizieren ................................... 153 2.4 Übertragen ....................................................................... 179 2.5 Prozessieren ..................................................................... 189 2.6 Die Medienfunktionen als Netz ....................................... 191 2.7 Substituierbarkeit ............................................................. 205 2.8 Raum des Textes, Raum der Geografie ........................... 209 2.9 Summe Medienfunktionen ............................................... 215 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT ........................... 231 3.1 Viefs Hase Medien, Verräumlichung und Reversibilität ............... 233 3.2 Was tut ein Prozessor? Raum und Zeit auf der Mikroebene der Chips ............ 255 3.3 Der Computer − ein Kind der Telegrafie ......................... 277 3.4 Zeitgebundene und zeitkritische Medien ......................... 297 4 AUSGANG .................................................................. 313 LITERATURVERZEICHNIS ............................................... 319 EINLEITUNG Friedrich Kittler, der wohl bekannteste Vertreter der deutschen Medientheorie, hat gesagt, es gebe drei basale Medienfunktionen: Übertragen, Speichern und Prozessieren.1 Die ersten beiden dürf- ten unstrittig sein; ‚Übertragen‘ meint Kommunikation und Tele- kommunikation, die Fähigkeit der Medien, räumliche Distanzen zu überwinden. Die zweite Dimension, das ‚Speichern‘, steht für die Überwindung der Zeit, für Traditionsbildung und kulturelle Konti- nuierung. Über beide ist innerhalb der Medienwissenschaften nahezu unüberschaubar viel gearbeitet worden Was aber ist mit der dritten Medienfunktion, dem Prozessieren? Zunächst fällt auf, dass es in diesem Feld ungleich weniger Unter- suchungen, Theorien und Vorstellungen gibt. Der Begriff erscheint ‚technischer‘ und in seiner Reichweite auf spezifische Weise ein- geschränkt; so ist klar, dass Kittler ihn aus der Erfahrung mit dem Computer ableitet: Computer übertragen und speichern Daten nicht nur, sondern sie prozessieren sie auch. Computer verändern Daten und formen sie um. Während man von einem Soundrecorder verlangt, das Aufgenommene möglichst exakt wiederzugeben, gilt für Computer das Gegenteil: hier wäre es tief enttäuschend, würde der Output genau dem Input entspre- chen. Im Inneren des Rechners also finden Operationen statt. Wir sind es gewohnt, Computer in Metaphern der Tätigkeit, der Arbeit zu denken; und im Kern der Rechner sitzt ein ‚Prozessor‘. Auf dem Feld der Computer also wäre Kittlers Aussage wenig strittig. Wenn sie provokativ ist, dann, weil er beansprucht, die Medien insgesamt auf die Trias von Übertragen, Speichern und Prozessieren zu bringen. Es erscheint fraglich, ob diese Verallge- meinerung sinnvoll und zulässig ist. Kann man die Logik des Computers auf andere Medien umstandslos übertragen? Handelt man sich damit nicht, quasi automatisch, eine technizistisch-redu- zierte Sicht ein? Aus exakt diesem Grund habe ich den Begriff, und die Trias insgesamt, lange Zeit zurückgewiesen. Eng verbunden hiermit ist die Frage, was ‚Prozessieren‘ in den unterschiedlichen Medien eigentlich meint. Wenn ein Fotolabor Filme entwickelt, wird man zumindest im Englischen von ‚pro- cessing‘ sprechen; wenn die Post Briefe prozessiert, dann leitet sie sie weiter und stellt sie zu, ‚Prozessieren‘ also meint hier den Vor- 1 Z. B.: „[…] Es geht mithin um Medientechnologien, um Übertragung, Speiche- rung, Verarbeitung von Information“. (Kittler, Friedrich: Vorwort. In: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 8-10, hier: S. 8). 10 EINLEITUNG gang der Übertragung. Der Prozessor eines Computers schließlich verändert die Daten. Ist es tatsächlich derselbe Begriff, der hier je- weils in Anschlag gebracht wird? Und wie kann man diese hetero- genen Verwendungen aufeinander beziehen? Und schließlich die Theorie. Wenn zum Begriff bisher wenig veröffentlicht wurde, gibt es sicherlich Ansätze, die, möglicher- weise in anderem Zusammenhang entwickelt, dennoch Interessan- tes beizusteuern haben. Für das skizzierte Feld scheint typisch zu sein, dass die relevanten Phänomene unter den verschiedensten Termini verhandelt werden, was dazu zwingt, auch solche Theo- rien einzubeziehen, die andere Begriffe als den des ‚Prozessierens‘ in den Mittelpunkt stellen. Der erste Teil meines Buchs geht diesen Weg. Hier schlage ich zunächst eine Arbeitsdefinition vor, um eine Ausgangsbasis zu haben. Es werden medienwissenschaftliche Ansätze vorgestellt, die das Prozessieren zum Thema machen, und dann einige der Kon- zepte, die an das Prozessieren angrenzen, um auf diese Weise Vor- stellungen, Konnotationen und Problemkonstellationen zu extra- hieren, die für das fragliche Feld wichtig sind und mit denen ich im Folgenden weiterarbeiten kann. Daneben bringe ich weitere, eigene Begriffe ins Spiel; Beispiel sei der Begriff der Metamorphose. Wenn Prozessieren Verände- rung heißt, denke ich, sollte man kurz reflektieren, dass es um kulturellen Wandel geht, und noch allgemeiner um das Problem des Neuen. Und hier stößt man auf unvermutete Praktiken wie die Magie, die zum Prozessieren dennoch einiges beitragen. Ein zwei- ter solcher Punkt ist der Begriff der Form. Häufig beim Prozessie- ren geht es um Umformung, Formwechsel und Transformation; woraus die Frage entsteht, was eine ‚Form‘ ist, und ob es Verbin- dungen zu anderen medienwissenschaftlichen Konzepten von Form gibt, wie sie etwa in der ‚Formalisierung‘ und der ‚Informa- tion‘ stecken. An dieser Stelle scheint mir eine Zwischenbemerkung zum methodischen Vorgehen nötig. Denn zum einen ist die Auswahl der Aspekte, die ich in diesem ersten Teil diskutiere, nicht syste- matisch, sondern eher assoziativ. Ich habe ausgewählt, was ich für relevant halte, um das Feld in einer ersten Annäherung zu erschlie- ßen, und es kommt mir mehr darauf an, zu zeigen mit welchen Problemen man es zu tun hat, wenn man über das Prozessieren nachdenkt, als bereits Ergebnisse zu präsentieren. Dasselbe gilt für EINLEITUNG 11 die Auswahl der Literatur. Man sollte also keinen ‚Stand der For- schung‘ und nicht eine stringente Abfolge von Argumenten erwar- ten. Wichtig ist mir, dass der Begriff seine Komplexität und sein Volumen behält, gerade weil das Prozessieren häufig auf den Computer, und dieser auf ein relativ diffuses Alltagsverständnis verkürzt wird. Zum Zweiten kann im Gesagten der Eindruck entstehen, in mei- nem Buch gehe es vorrangig um Begriffe. Um eine begriffliche Klärung, etwa in dem Sinne, in dem die analytische Philosophie die sprachlichen Konzepte befragt, möglicherweise, weil sie vor der Sache, die es doch eigentlich zu begreifen gilt, zurückschreckt. Das aber ist nicht der Fall. Prozessieren selbst ist als Konzept sehr abstrakt, und man wird dem Prozessieren nur näher kommen, wenn man sich auf eine Klärung einlässt, die das Konzept als ein Kon- zept ernst nimmt und auf seine Implikationen, seine Reichweite und seine Grenzen befragt. Die Alternative, auf ‚die Medien‘ direkt durchzugreifen, sehe ich nicht. Dennoch geht es letztlich darum, die Medien, und nicht die Theorie zu verstehen. Dies ist der Maßstab, an dem sich Theorie messen muss. Begriffe sind Vor- schläge zur Analyse konkreter Phänomene. Sie sind mit theore- tischen Konzepten verbunden, die es selbst nachzuvollziehen und zu evaluieren gilt, und die Werkzeugcharakter haben. Werkzeuge nun fallen nicht vom Himmel. Sie müssen selbst erarbeitet und weiterbearbeitet werden, geschärft, gepflegt, umgebaut oder ver- worfen. Und wie es gute und schlechte Werkzeuge gibt, gibt es neben tauglichen auch untaugliche Theorien. Und schließlich gibt es auch in diesem Buch eine Ebene der Konkretion. Im Verlauf der Argumentation wird das Erarbeitete immer wieder auf konkrete Medienphänomene bezogen und an diesen gemessen werden; und insgesamt, denke ich, wird deutlich werden, dass die Überlegung Relevanz auch für medienpraktische und mediengeschichtliche Fragen hat. Bei den Medienbeispielen geht es immer wieder um den Fall des Computers. Wenn das Konzept des Prozessierens hier sein Zentrum hat, sollte kurz geklärt werden, was Prozessieren im Fall des Computers überhaupt heißt; dies geschieht auf zweifache Weise: So wird in einem Abschnitt im ersten Teil gezeigt, dass Algorithmen mathematische Transformationen, d. h. Umformungs- regeln sind. Eine detailliertere, etwas technischere Überlegung ‚Was tut ein Prozessor?‘ habe ich in den dritten Teil ausgegliedert, 12 EINLEITUNG eben weil sie detaillierter und technischer ist. Abgeschlossen wird der erste Teil durch eine Art Zwischenfazit, das die diskutierten Stränge provisorisch zusammenführt. Der zweite Teil des Buchs wechselt die Perspektive. Nun soll aus- gehend vom Prozessieren gefragt werden, in welcher Beziehung, welcher Relation die drei Medienfunktionen stehen. Auch diese Frage ist nicht trivial, weil es ausgearbeitete Vorstellungen hierzu kaum gibt. Übertragen, Speichern und Prozessieren aber sind durch vielfältige Wechselwirkungen miteinander verbunden, und diesen sollte man nachgehen. Zudem bewirkt jede These, die man hierzu entwickelt, dass sich auch das Verständnis der jeweils einzelnen Medienfunktionen ver- schiebt. Dies ist durchaus tückisch, und gleichzeitig sehr interes- sant, weil auf diese Weise unvermutete Aspekte auch an den ver- trauten Medienfunktionen hervortreten. Entsprechend hat in die- sem Teil des Buchs jede Medienfunktion ihr Kapitel. Im Anschluss kehre ich zur Frage der Relationen zurück. Der abschließende, dritte Teil enthält vier Essays, die den Charak- ter relativ eigenständiger Fallstudien haben. Hier geht es darum, das Erarbeitete zu erproben und die Brücke zu konkreten medien- wissenschaftlichen und mediengeschichtlichen Problemen zu schlagen. Der erste Text ist mir besonders wichtig; er ist so etwas wie der versteckte Kern des Buchs und Lesern mit wenig Zeit sei dieses Kapitel, obwohl es etwas Sorgfalt verlangt, vor allen anderen emp- fohlen. Da die Ausgangsüberlegung nicht von mir stammt sondern von Bernhard Vief, habe ich den etwas exotischen Titel ‚Viefs Hase‘ vergeben; These ist, dass nahezu alle Medien mit Verräum- lichung arbeiten. Dinge werden dem Fluss der Zeit entrissen und räumlich repräsentiert; und dies ist die Basis aller nachfolgenden Medienoperationen. Ein Filmstreifen etwa legt, was eigentlich ein zeitlicher Ablauf ist, in Form eines räumlichen Nebeneinanders nieder. Und Medien allgemein sind Maschinen, die Raum in Zeit und Zeit in Raum umcodieren. Für die Frage nach dem Prozessie- ren ist diese These von ganz außerordentlicher Reichweite; und darüber hinaus für ein Verständnis der Funktionsweise der Medien insgesamt. Autoren neigen dazu, ihre Produkte zu überschätzen, in diesem Fall aber gehe ich das Risiko ein. EINLEITUNG 13 Der zweite Text wurde schon erwähnt; er will klären, was sich in einem Computerprozessor abspielt, und was ‚Prozessieren‘ auf diesem Terrain tatsächlich heißt. Dieser Text ist im Grunde ein Übersetzungsprojekt: Ich habe einige Bücher der technischen In- formatik gelesen und übertrage sie in die Sprache der Kulturwis- senschaften; dabei allerdings verschiebt sich die Perspektive, und es werden Aspekte wichtig, die die Informatik allenfalls am Rand interessieren. Computer prozessieren, indem sie Zeichen räumlich- zeitlich verschieben; insofern kommt der Text bei denselben Kate- gorien an, die auch im übrigen Buch die hauptsächliche Rolle spielen. Der dritte Text ist eine Überlegung zur Telegrafie. Wird die Vernetzung der Computer üblicherweise als eine relativ späte Errungenschaft betrachtet, der eine lange Geschichte von ‚stand alone‘-Maschinen vorangeht, schlage ich eine andere Deutung vor. Der Computer, dies glaube ich zeigen zu können, ist in vieler Hin- sicht ein Kind der Telegrafie. Und auch hier geht es wieder um Raum und Zeit und die Medien als Techniken, beide zu organisie- ren. Das letzte Kapitel schließlich behandelt speziell die zeitge- bundenen Medien. Der Bezug auf Raum und Zeit ist die Klammer, der die Texte des dritten Teils miteinander verbindet. Raum steht für die Über- tragung, und Zeit ‒ grob zugeordnet ‒ für das Speichern; und viele Arten des Prozessierens sind Operationen in Raum und Zeit. Dies wirft die Frage auf, ob hinter der Trias von Übertragen, Speichern und Prozessieren eine spezifische raum-zeitliche Logik steht, eine Logik, die wie John Peters vorschlägt, eine Logistik wäre. Mein Buch schließt an diese Vorstellung an und will einige Züge dieser Logik / Logistik zeigen. Und schließlich gibt es einen biografischen Punkt, der das Buch motiviert. Als Kittler, der die Trias von Speichern, Übertragen und Prozessieren in die Welt gebracht und immer am offensivsten vertreten hat, meine Habilitation zu begutachten hatte, merkte er an, dass der Aspekt der Verarbeitung fehle. Dieser aber sei für den Computer zentral und eine Analyse des Computers als Medium müsse sich entsprechend auch Gedanken über Prozessieren / Verarbeitung machen. Und er hatte mehr als recht: Mein Text war auf das Internet als ‚Docuverse‘ ‒ ein Universum maschinen- lesbarer Dokumente ‒ zentriert, er favorisierte den Speicher- Aspekt und versuchte Eigenheiten und Zugriffsmodalitäten des 14 EINLEITUNG neuen Mediums zu klären. Speicher stehen, als Technik der Still- stellung, gegen die Zeit. Mit dem Prozessieren kommen ganz im Gegenteil Transformation, Wandel und Neuerung in den Blick. In gewisser Weise also holt das Buch nach, was der Meister 1996 verlangte. Danksagung An der Fertigstellung eines Buchs sind immer Viele beteiligt: Der Universität Paderborn danke ich für ein vorgezogenes Freisemester und die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Ralf Adelmann, Andreas Böhm, Oliver Leistert und Mirna Zeman für genaues Lesen und inhaltliche Kritik; Bärbel Tischleder für Gespräche, Anregungen und Support in der Frühphase meines Projekts; John Durham Peters für die Diskussion meines zentralen Kapitels, Holger Karl für Hinweise im IT-Bereich. Den Teilnehmern der Seminare ‚Prozessieren‘ im WS 2009/10 und im SS 2012 für ihre Bereitschaft, unfertige Gedanken vorab zu testen. Und Daniela Sannwald für die begleitende Lektüre, viele Gespräche, wichtige Hinweise und ihre Unterstützung in der Phase des Schreibens. Marlies Weskamp und Martin Böing-Messing für organisatori- sche Unterstützung und Margret Westerwinter für die Einrichtung des Druckbildes; dem Wilhelm Fink Verlag und Andreas Knop schließlich für eine freundliche und sachkundige Betreuung der Publikation. 1 PROZESSIEREN Kapitel 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 1. ‚Prozessieren‘ in der Medien- und Kulturwissenschaft In einem ersten Anlauf soll nun geklärt werden, in welchen Kon- texten und mit welchen Implikationen der Begriff des Prozes- sierens Verwendung findet, und was sie meinen, wenn Medien- wissenschaftlerinnen von Prozessieren sprechen. Ein Handbuch- eintrag von Bernhard Dotzler bietet eine erste Bestimmung: Der Begriff der Prozessierung oder des Prozessierens ist kein ein- geführter Terminus der Medientheorie. Er dient eher der Definition anderer Begriffe, als selber definiert zu sein. So in Niklas Luhmanns Versuch einer ‚Klärung des Kommunikationsbegriffs‘: ‚Kommuni- kation ist Prozessieren von Selektion‘ [...]. Und so auch, wenn Friedrich A. Kittler vorschlägt, sowohl ‚Kunst‘ und ‚Dichtung‘ im besonderen als auch ‚Kommunikationssysteme‘ im allgemeinen ‚wie Informationssysteme zu analysieren‘, d. h. als Systeme, die der ‚Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Nachrichten‘ die- nen [...]. In beiden Fällen basiert die begriffliche Weichenstellung auf der mathematisch-technischen Kommunikationstheorie, wie sie von Claude E. Shannon 1948 vorgelegt wurde. Kommunikative Akte, welcher Art auch immer, haben danach nicht nur einen Kanal – ein Medium – zur Voraussetzung, sondern auf Sender- wie auf Empfängerseite Operationen der Informationserzeugung und -ver- arbeitung. [...] In allen diesen Verwendungsweisen aber tritt der Konnex zum Medium Computer klar hervor.2 Prozessieren also wird über den Computer bestimmt, als ‚Opera- tion der Informationserzeugung und -verarbeitung‘, das Problem der Verallgemeinerung auf andere Medien wird angesprochen, in der Folge werden Theorie- und Rezeptionsgeschichte kurz disku- tiert; einen Versuch den Begriff inhaltlich zu füllen unternimmt der Text nicht. 2 Dotzler, Bernhard J.: Prozessieren. In: Roesler, Alexander; Stiegler, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München: Fink 2005, S. 214-218, hier: S. 214. 18 1 PROZESSIEREN Bei Kittler selbst kommt ‚Prozessieren‘ meist als Teil der Trias, im Verbund mit Übertragen und Speichern vor. Hier ist auffällig, dass der Sprachgebrauch schwankt, insofern Kittler häufiger als den Begriff selbst Synonyme wie ‚Verarbeiten‘ oder ‚Berechnen‘ verwendet. An einer prominenten Stelle werden die Medien als „das Netzwerk von Techniken und Institutionen“ bestimmt, „die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verar- beitung relevanter Daten erlauben.“3 Eine zweite Stelle sagt: „[…] Es geht mithin um Medientechnologien, um Übertragung, Speiche- rung, Verarbeitung von Information.“4 Einen frühen seiner Aufsätze hat Kittler ‚Literatur und Literatur- wissenschaft als Word Processing‘ überschrieben.5 Auch diese Formulierung geht von der Erfahrung des Computers aus, die sie nutzt, um Literatur ‒ provokativ ‒ auf Textverarbeitung zu reduzie- ren.6 Ein Sammelband von 1989 ist in die Abschnitte ‚Speichern‘, ‚Übertragen‘ und ‚Berechnen‘ gegliedert.7 Eine weitere Belegstelle nutzt die Trias zunächst, um die Medien selbst zu gruppieren: „Es gibt, erstens, Übertragungs- medien wie Spiegel [?], zweitens Speichermedien wie Filme und drittens [...] Maschinen, die Wörter oder Zahlen selber manipu- lieren.“8 Dies ist eine der wenigen Stellen, wo Kittler den Versuch 3 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 - 1900. München: Fink 1995, S. 519 (EV: 1985). 4 Kittler, Friedrich: Vorwort. In: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 8-10, hier S. 8. 5 Kittler, Friedrich A.: Literatur und Literaturwissenschaft als Word Processing. In: Stötzel, Georg (Hg.): Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Berlin/New York, NY, 1985, 2. Teil, S. 410- 419. 6 Kittler hat immer wieder vertreten, mediale Vorgänge und insbesondere die Literatur seien als Informationsverarbeitung zu betrachten: „Einer literatur- wissenschaftlichen Methode, die nach Maßgabe ihres Gegenstandes vorgeht […], begegnet also zunächst und zuerst die scheinbare Äußerlichkeit Informa- tion. Elementares Datum ist, daß Literatur (was auch immer sie sonst sein mag) Daten verarbeitet, speichert, weitergibt. Und daß solche Datenakquisitions-, Datenspeicherungs- und Datentransmissionssysteme, wenn es sie in Gestalt von Texten gibt, dieselbe technische Positivität wie bei Computern auch haben.“ (Kittler, Friedrich: o.T. [Vorwort zum Buch: Aufschreibesysteme; unveröff. Manuskript 1983], in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 1, 2012, S. 117- 126, hier: S. 117). 7 Kittler, Friedrich A.; Tholen, Georg Christoph (Hg.): Arsenale der Seele. Lite- ratur- und Medienanalyse seit 1870. München: Fink 1989. 8 Kittler, Friedrich: Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine. In: ders.: Draculas Vermächtnis, a. a. O., S. 61 (Erg. H. W.) (EV: 1989)). KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 19 unternimmt, die dritte Medienfunktion näher zu definieren. Prozessieren bedeutet: ‚Wörter oder Zahlen zu manipulieren‘. ‚Manipulieren‘, selbstverständlich, meint eine technische Opera- tion, einen manuellen oder technischen Eingriff ins Material; und Gegenstand der Manipulation sind Wörter und Zahlen, jene kleine- ren Einheiten also, aus denen Texte und Datenbestände gemacht sind. Diese Bestimmung ist, wie zu zeigen sein wird, weitreichen- der als man denkt. Gleichzeitig erscheint sie, da es explizitere Definitionen bei Kittler nicht gibt, einigermaßen grob und rudimentär. Die Erfah- rung des Computers scheint die Notwendigkeit einer Definition geradezu zu ersetzen. ‚Prozessieren‘ erscheint als eine relative Selbstverständlichkeit, als ein Term, der sich selbst erklärt. Und andere Medienautoren verfahren ähnlich: Schneider schreibt ein Buch über ‚Textiles Prozessieren‘, das Jacquards Lochkartenwebstuhl als einen Vorläufer des Computers analysiert;9 Hartmann nennt ‚Prozessieren‘ im Titel zweier Texte zur digitalen Fotografie,10 Siegert bezieht sich auf Luhmann11 – ebenfalls ohne Definition, und wieder als erkläre sich der Begriff selbst. Pias macht darauf aufmerksam, dass das Prozessieren aus der Trias nicht verabschiedet werden darf: [Boris Groys verkürzt] die von Friedrich Kittler einmal angebotene Minimaldefinition von Speichern, Übertragen und Prozessieren […] um die Prozessierung und verspielt damit einen entscheidenden Be- griff. Wenn das Archiv beispielsweise ein kultureller Speicher ist, dann fehlt mit dem Begriff der Prozessierung auch der der Erzäh- 9 Schneider, Birgit: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Loch- kartenweberei. Zürich/Berlin: Diaphanes 2007. 10 Hartmann, Frank: Produzieren und Prozessieren von Bildern. Ein Essay über Fotografie als Übersetzungsspiel. In: Rundbrief Fotografie, Vol. 13, 2006, Nr. 3, S. 17-20; http://www.medienphilosophie.net/texte/fotografie.html, 18.1.2011; sowie ders.: Vom Reproduzieren zum Prozessieren von Bildern. In: Medienimpulse, Nr. 56, Juni 2006, S. 20-22; www.mediamanual.at/mediamanual/themen/pdf/me dien/56_Hartmann-Vom_Reproduzieren.pdf, 18.1.2011. 11 „Nun werden diese Unterscheidungen jedoch über Medien im weitesten Sinne prozessiert (z. B. prozessieren Türen die Unterscheidung innen/außen), die aus diesem Grund weder der einen noch der anderen Seite der Unterscheidung zu- geschlagen werden können, sondern stets die Position eines Dritten einnehmen; diese Medien sind eminente Kulturtechniken. Dabei ist zu beachten, daß die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur selbst kontingent ist und auf einer Unterscheidung beruht, die kulturtechnisch prozessiert wird.“ (Siegert, Bernhard: Was sind Kulturtechniken? http://www.uni-weimar.de/medien/kulturtechniken/ kultek.html, 18.1.2011). 20 1 PROZESSIEREN lung als sinngenerierende Aktivierungsleistung ‒ der Algorithmus, der auf dieser Datenbank erst aufsetzen muß, um Geschichte zu er- möglichen.12 Wenn Pias die Erzählung als ein Beispiel für das Prozessieren wählt, und mit ‚Algorithmus‘, ‚Datenbank‘ und ‚Speicher‘ Meta- phern aus dem Umfeld des Computers, so wird ein weiteres Mal die Kluft übersprungen, die den Computer von den anderen Medien trennt. Äußerst fruchtbar allerdings erscheint die skizzierte Wechselwirkung selbst, die Vorstellung, dass das Prozessieren als ein Algorithmus auf das Archiv bezogen ist, dass kulturelle Spei- cher und ‚sinngenerierende Aktivierungsleistungen‘ auf regelhafte Weise interagieren. Dies hat Bedeutung weit über den konkreten Fall hinaus und wird auch in meiner Rekonstruktion eine große Rolle spielen. Die Gewohnheit, Prozessieren und Prozessor kurzzuschließen und Medienprobleme in Computerbegriffen abzuhandeln, zieht sich durch, wenn etwa Schröter schreibt: Gerade Theorien, die auf die Medien und ihre technischen Potenzen den Blick richten, insistieren immer wieder auf der Kraft dieser Medien, Wahrnehmungsschwellen zu unterlaufen oder Datenflüsse zu prozessieren, die von Menschen überhaupt nicht mehr aufge- nommen, geschweige denn verarbeitet werden können.13 Oder Maresch: Unter den Bedingungen modernster Computertechnologie geraten Nachrichten zu Befehlen (‚nach denen Personen sich zu richten haben‘), Personen zu Adressen (die das Prozessieren ‚weiterer Kommunikationen ermöglichen‘) […].14 Die Verwendungen also streuen breit. Es muss deshalb wie das Pfeifen im Keller wirken, wenn Dotzler / Schüttpelz / Stanitzek versichern: Leicht genug [!] lässt sich die von Kittler mitgeprägte Unterschei- dung aller Medien nach ihrer Leistung im Speichern, Übertragen 12 Claus Pias: Der Verdacht ist das Medium. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.3.2000 (Erg. H. W.). Die Aussage bezieht sich auf Boris Groys: Unter Ver- dacht. Eine Phänomenologie der Medien. 13 Schröter, Jens: Das TechnoSubjekt der Geschichte. Verschiebungen einer Teleo- logie, http://www.gradnet.de/papers/pomo99.papers/Schroeter99.htm, 15.8.2009 (Hervorh. H. W.). 14 Maresch, Rudolf: Kommunikation ‒ Medien – Macht. In: Telepolis, 26.5.1999, http://www.heise.de/tp/r4/ artikel/2/2879/1.html,15.8.2009. KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 21 und Rechnen auf das informatische Kategorientripel von Daten, Adressen und Befehlen abbilden.15 Um dann fortzusetzen: „Diese Trias freilich ist nun doch rein dem Medium Computer geschuldet. [Aber] der Computer ist es nicht allein, der sich so formalisieren lässt.“16 Im Folgenden, wie gesagt, wird es darum gehen, solche Übernahmen von Computerbegriffen genauer zu prüfen. 2. Data Processing Zunächst erscheint es sinnvoll zu fragen, was ‚Prozessieren‘ auf dem Terrain des Computers bedeutet; und hier scheint der Begriff durchaus etwas klarer gefasst: So definiert die Encyclopedia Britannica Information Processing, als „Acquisition, recording, or- ganization, retrieval, display, and dissemination of information.“17 Und Data Processing schlicht als Manipulation of data by a computer. It includes the conversion of raw data to machine-readable form, flow of data through the CPU [Central Processing Unit, ,Prozessor‘] and memory to output devices, and formatting or transformation of output. Any use of computers to perform defined operations on data can be included under data processing. In the commercial world, data processing refers to the processing of data required to run organizations and businesses.18 Diese Vorstellung geht zurück auf das allgemeinere Begriffsfeld, das sich mit dem englischen ‚Processing‘ verbindet: Process or processing [as a general term] typically describes the act of taking something through an established and usually routine set of procedures to convert it from one form to another, as a manu- facturing or administrative procedure, such as processing milk into 15 Dotzler, Bernhard; Schüttpelz, Erhard; Stanitzek, Georg: Die Adresse des Mediums. Einleitung. In: Andriopoulos, Stefan; Schabacher, Gabriele; Schu- macher, Eckhard (Hg.): Die Adresse des Mediums. Köln: Dumont 2001, S. 10 (Hervorh. H. W.). 16 Ebd. (Erg. H. W.). 17 Encyclopedia Britannica online: Eintrag Information Processing, http://www. britannica.com/EBchecked/topic/ 287847/information-processing, 18.1.2011. 18 Encyclopedia Britannica online, Eintrag: data processing; http://www.britannica. com/EBchecked/topic/1516440/data-processing, 14.9.2010 (Erg. H. W.). 22 1 PROZESSIEREN cheese, or processing paperwork to grant a mortgage loan, or con- verting computer data from one form to another.19 Diese Bestimmung ist ein Gewinn; zum einen, weil sie von Com- puter und Büro zurückverweist auf die materielle Produktion, in der der Begriff zumindest im Englischen ein Zentrum hat; und zum Zweiten, insofern mit der Formveränderung – to convert some- thing from one form to another – eine inhaltliche Bestimmung versucht ist. Auf Form, Formveränderung und Formwechsel wird mein Text zurückkommen, ich sehe Form und Formwechsel als die wichtigsten Korrespondenzkategorien des Prozessierens an. Bleibt man bei der materiellen Produktion, so wird klar, dass Prozessieren sich an einem Objekt, einem Gegenstand vollzieht; der aktive Eingriff ins Material, seine Formung und Umformung mündet in ein Produkt, und erst dieses wird dann zum Gegenstand von Tausch, Austausch und ‚Kommunikation‘ werden. Entsprechend naheliegend wäre es, einen Zugang über die Kate- gorie der Arbeit zu suchen. Umso auffälliger ist, dass Arbeit inner- halb der deutschen Mediendebatte kaum eine Rolle spielt, anders als der Begriff des Operativen, der Arbeit etymologisch bereits evoziert. Grund könnte sein, dass die Arbeit zusammen mit ande- ren sozialwissenschaftlichen Kategorien aussortiert wurde, als die Medienwissenschaft in den 80er-Jahren von den ideologiekriti- schen Ansätzen Abstand nahm; ein zweiter Grund könnte sein, dass Arbeit ein Subjekt, und zwar ein menschliches Subjekt ver- langt, was für das Prozessieren möglicherweise nicht gilt. Gleich- zeitig benutzen wir routiniert anthropomorphisierende Metaphern, wenn wir sagen, ein Prozessor ‚arbeite‘ mit 3,2 GHz, wenn wir von ‚Tasks‘, von ‚Arbeitsspeicher‘ oder von ‚workflow‘ sprechen. Hier also verbirgt sich die Frage, ob es immer ein menschliches Subjekt braucht, wenn Medien prozessieren, oder ob man diesen Begriff auch einer aktiv handelnden Technik zuschreiben kann. Ebenso offen wäre, wie das Konzept auf andere Medien zu erweitern ist; kann man auch einen Soundrecorder oder ein Telefon als eine aktiv handelnde Instanz des Prozessierens betrachten? Eine Bestimmung über die Arbeit aber könnte auch in die Irre führen; scheint sie doch wie selbstverständlich die Medienproduktion zu favorisieren, 19 Wikipedia, engl., Eintrag: process (http://en.wikipedia.org/wiki/Processing, 14.9.2010 (Erg. u. Hervorh. H. W.)). KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 23 während Prozessieren möglicherweise auch Distribution und Rezeption mit umschließt. 3. Umstellung aufs Operative Wenn sich die Aufmerksamkeit nun auf das Prozessieren richtet, so geschieht dies im Kontext einer allgemeineren Entwicklung, die in den letzten Jahren zu beobachten ist. In der deutschen Medien- theorie hat sich eine tiefgreifende Wende vollzogen; hatte man lange Reifizierungen – Texte / Produkte, Schrift, Aufschreibesys- teme, Technik oder Dispositive – ins Zentrum gestellt, so ändert sich dies, indem sich das Interesse nun vor allem auf Praktiken richtet.20 Wegbereiter war Krämer mit ihrer Theorie des Operativen,21 die von den operativen Schriften der Computerprogramme ausgeht und Schrift auf eine neue Weise als selbsttätig / aktiv, als eine techné und als ein Bündel von Praxen beschreibt.22 Das Handbuch ‚Mediologie‘ 20 In ähnlicher Weise ist an die Seite des materiellen ‚Weltkulturerbes‘ der Begriff des ‚Immateriellen Kulturerbes‘ getreten; auch hier geht es um Praktiken, also etwa um Tänze; 2010 wurde die Echternacher Springprozession unter den Schutz der Unesco gestellt … 21 Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 4. - dies.: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert. Berlin/New York, NY: de Gruyter 1991, S. 88ff. - dies.: Operative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informa- tik. In: Schefe, Peter; Hastedt, Heiner; Dittrich, Yvonne (Hg.): lnformatik und Philosophie. Mannheim: BI-Wissenschaftsverlag 1993, S. 69-84. - dies.: Kalküle als Repräsentationen. Zur Genese des operativen Symbol- gebrauches in der Neuzeit. In: Rheinberger, Hans-Jörg; Hagner, Michael; Wahring-Schmidt, Bettina (Hg.): Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie 1997, S. 112-122. - dies.: Bredekamp, Horst (Hg.): Bild − Schrift – Zahl. München: Fink 2003. - dies.: Operationsraum Schrift. Ein Perspektivenwechsel im Schriftverständnis. In: Grube, Gernot; Kogge, Werner; dies. (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink 2005, S. 13-32. - dies.: Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen. In: Strätling, Susanne; Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München: Fink 2005, S. 75-84. 22 Der antike Begriff der techné schließt Praktiken selbstverständlich mit ein. 24 1 PROZESSIEREN aus dem Jahr 2012 beansprucht programmatisch „Medien in ihrer Prozesshaftigkeit in den Blick zu nehmen“.23 Ein zweiter wichtiger Punkt sind die Forschungen zur Perfor- mativität, die, ebenfalls in Berlin entwickelt und mit dem Namen Krämer verbunden, Austin, Derrida und Butler zur Basis einer allgemeineren Medientheorie machen;24 Performativität hat mit dem Prozessieren gemeinsam, dass beide auf den Aspekt der Ver- änderung, der Verschiebung abheben. Ein dritter Zusammenhang ist der Begriff der ‚Kulturtechniken‘, der die bis dahin gültige Vorstellung von Technik erweitert und verflüssigt, indem er nun auch technische Praxen in systematischer Weise einbezieht.25 Erhard Schüttpelz fasst zusammen: 23 Bartz, Christina; Jäger, Ludwig; Krause, Marcus; Linz, Erkia (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen [Einleitung]. München: Fink 2012, S. 7-15, hier: S. 7 (Hervorh. H. W.). Das Handbuch fasst Ergebnisses des Kölner Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation (1999-2008) zusammen. Hier wird der praxeologische Ansatz explizit dem Versuch entgegengestellt, den Begriff des Mediums selbst zu bestimmen: „[D]as Handbuch [setzt] an die Stelle einer Beantwortung der essentialistischen Frage: ‚Was ist ein Medium?‘ und des damit verbundenen Versuchs einer Stilllegung der Bestimmungsversuche die konzeptuelle Umformulierung der Problemstellung, indem es die Frage verhandelt: ‚Wie operieren Medien?‘ Um diese Umstellung von Was auf Wie-Fragen programmatisch zum Ausdruck zu bringen, wird der Begriff der Medialität eingeführt“. (Ebd. (Erg. H. W.)). Die methodologische Frage, warum das Wie besser zu beobachten oder zugäng- licher als das Was der Medien ist, allerdings bleibt offen … 24 - Krämer, Sybille; Wulf, Cristoph (Hg.): Theorien des Performativen. Para- grana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 10, H. 1, Berlin 2001. - dies. (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004. - Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris (Hg.): Kulturen des Performativen. Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 7, H. 1, Berlin 1998. 25 Die Debatte insgesamt ist sehr umfangreich und kann hier nicht nachgezeichnet werden. Relativ früh, nämlich bereits 1983, wird der Begriff bei Kittler ge- nannt: Kittler, Friedrich: o.T. [Vorwort zum Buch: Aufschreibesysteme; unver- öff. Manuskript 1983]. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 1/2012, S. 117-126, hier: S. 119, 125. Als weitere Stationen sind zu nennen: - Krämer, Sybille; Bredekamp, Horst: Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur. In: dies. (Hg.): Bild – Schrift − Zahl. München: Fink 2003, S. 11-22. - Macho, Thomas: Zeit und Zahl. Kalender- und Zeitrechnung als Kulturtechni- ken. In: Krämer/Bredekamp, Bild – Schrift − Zahl, a. a. O., S. 179-192. - Krämer, Sybille: Technik als Kulturtechnik. Kleines Plädoyer für eine kultur- anthropologische Erweiterung des Technikkonzeptes. In: Kornwachs, Klaus (Hg.): Technik – System – Verantwortung. Münster: Lit 2004, S. 157-164. KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 25 Der deutschsprachige Begriff der Kulturtechniken, zweifelsohne ein allgegenwärtiger Begriff der aktuellen deutschsprachigen Medien- theorie, verspricht [...] vor die Reifizierung von Apparaten und Substantiven zurückzugreifen, um einen Zugriff auf die Verben und Operationen zu ermöglichen, aus denen die Substantive und Arte- fakte erst hervorgegangen sind: schreiben, malen, rechnen, musizie- ren und viele andere.26 Die Umstellung bringt die Gefahr einer neuerlichen Vereinseiti- gung mit sich; wenn nun Verben und Operationen favorisiert wer- den, drohen die Materialität der Kommunikation, der Speicher- aspekt und der Dingcharakter der Dinge in den Hintergrund treten. Dies führt auf die Frage, wie Medienprozesse und Mediendinge vermittelt sind, die ich für eine der schwierigsten und gleichzeitig - Nanz, Tobias; Siegert, Bernhard (Hg.): Ex Machina. Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken. Weimar: VDG 2006. - Siegert, Bernhard: Was sind Kulturtechniken? Beschreibung des Lehr- und Fachgebietes. www.uni-weimar.de/medien/kulturtechniken/kultek.html (o. J.), 14.2.2007. - ders.: Cacography or Communication? Cultural Techniques in German Media Studies. In: Grey Room, No. 29, New German Media Theory, Fall 2007, S. 26- 47, http://www.jstor.org/stable/20442774, 12.8.2013. - Macho, Thomas: Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität. In: Baecker, Dirk; Kettner, Matthias; Rustemeyer, Dirk (Hg.): Über Kultur. Theo- rie und Praxis der Kulturreflexion. Bielefeld: Transcript 2008, S. 99-117. - Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. 1/2010, Schwerpunkt: Kultur- technik. - Maye, Harun: Kulturtechnik. In: Bartz, Christina; Jäger, Ludwig; Krause, Marcus; Linz, Erika (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Media- len. München: Fink 2012, S. 142-148. - Winthrop-Young, Geoffrey: Cultural Techniques: Preliminary Remarks. In: Theory Culture Society 30; Nr. 3, 2013, originally published online 18 August 2013, S. 3-18, http://tcs.sagepub.com/content/30/6/3. - Siegert, Bernhard: Cultural Techniques: Or the End of the Intellectual Postwar Era in German Media Theory. In: Theory Culture Society, published online 21 August 2013, http://tcs.sagepub.com/content/early/2013/08/21/0263276413488963. - Parikka, Jussi: Afterword: Cultural Techniques and Media Studies. In: Theory, Culture & Society, published online 12 August 2013, S. 1-13, http://tcs.sagepub. com/content/early/2013/08/12/0263276413501206. - Geoghegan, Bernard Dionysius: After Kittler: On the Cultural Techniques of Recent German Media Theory. In: Theory Culture Society, published online 12 August 2013, S. 1-17, http://tcs.sagepub.com/content/early/2013/08/28026327 6413488962. 26 Schüttpelz, Erhard: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Engell, Lorenz; Siegert, Bernhard; Vogl, Joseph (Hg.): Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). Weimar: Universitätsverlag 2006, S. 87- 110, hier: S. 87 (Hervorh. H. W.). 26 1 PROZESSIEREN für eine der Grundfragen im Feld der Medien halte; ich habe des- halb einen eigenen Vorschlag zu dieser Vermittlung gemacht.27 4. Prozess-Philosophie Selbstverständlich kann man den Bogen noch etwas weiter schla- gen; denn hinter dem Gesagten steht, noch allgemeiner, eine Be- stimmung des Prozessierens als Dynamisierung. Zum philosophi- schen Hintergrund schreibt Wikipedia, in diesem Fall kompakt und brauchbar: Process philosophy (or ontology of becoming) identifies meta- physical reality with change and dynamism. Since the time of Plato and Aristotle, philosophers have posited true reality as ,timeless‘, based on permanent substances, whilst processes are denied or sub- ordinated to timeless substances. If Socrates changes, becoming sick, Socrates is still the same (the substance of Socrates being the same), and change (his sickness) only glides over his substance: change is accidental, whereas the substance is essential. Therefore, classic ontology denies any full reality to change, which is con- ceived as only accidental and not essential. This classical ontology is what made knowledge and a theory of knowledge possible, as it was thought that a science of something in becoming was an impos- sible feat to achieve [...]. In opposition to the classical model of change [...], process philoso- phy regards change as the cornerstone of reality – the cornerstone of the Being thought as Becoming. Modern process philosophers in- clude Henri Bergson, Charles Peirce, John Dewey, Alfred North Whitehead, Charles Hartshorne, Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche, Nicholas Rescher, and Gilles Deleuze. In physics Ilya Prigogine [...] distinguishes between the ,physics of being‘ and the ,physics of becoming‘.28 Kontext dieser Veränderung ist die rapide Entwicklung der Natur- wissenschaften: Ritter nennt den Chemiker Gren, der im 18. Jahr- hundert den Prozessbegriff vom Menschen löst, so dass auch Na- turvorgänge als Prozesse bezeichnet werden;29 und dann Schelling, 27 Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 110-130. 28 Wikipedia, engl., Eintrag: Process philosophy, http://en.wikipedia.org/wiki/ Process_philosophy, 14.9.2010. 29 Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie: Eintrag Prozeß. Bd. 7, Darmstadt: WBG 1972, S. 1543-1562, hier: S. 1543ff. „Prozesse KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 27 der sich ‒ sehr früh ‒ bereits autopoietische, sich selbst organisie- rende Prozesse vorstellen kann; Ritter schreibt: Ein Teil der [Prozesse] entsteht durch die Verbindung des Prozess- Begriffs mit dem Begriff des Lebens, die Prozesse nämlich, die sich selbst erhalten und organisieren, Prozesse werden nunmehr sub- jektlos und bedürfen keines Operateurs mehr, sei dieser auch die Natur selbst.30 Dieser Strang wird in die Evolutionstheorie und die Theorien zur Selbstorganisation münden.31 Zum Zweiten zentral sind Hegels Geschichtsphilosophie32 und Dialektik.33 Natur und Geschichte, die als Effekte sowohl der menschlichen Kunstfertigkeit als auch der Natur selbst erscheinen als äquivalente Phänomene. Damit ist der P.-Begriff von einem Begriff, der Vorgehensweise bedeutete, zu einem geworden, der (auch) von Menschen unabhängige Vorgänge der Natur beinhaltet.“ (Ebd., S. 1549 (Prozesse im Original abgekürzt)). 30 Ebd. (Prozess im Original jeweils abgekürzt). 31 Unter dem Stichwort „Process Theory“ schreibt die engl. Ausgabe von Wiki- pedia: „Process Theory: [...] Surgence in philosophy. Western science emerged out of philosophy. It is notable that ancient and Enlightenment era Western philosophy completely overlooked the power of process in producing effects. For instance, Plato imagined ,forms‘ and the atomists imagined ,atoms‘ (in their original Greek sense) as fully explaining reality in its ,current state‘. The problem with such accounts of ,current state‘ reality is that we are left with our theoretical entities to account for. In the 19th century, science began to part with this old ,entity-centric‘ view in favor of processes. One of the earliest is Charles Darwin’s theory of evolution. It was followed by the Big Bang theory and plate tectonics. In these theories, complex ,current states‘ can be explained in terms of processes that occurred over time and space – generally evolving from simpler more primordial states. One of the advantages of process theories is that they avoid endless regress of explanations, as complex states arise from simpler states – what is often referred to as a teleological perspective. Only very recently has this thinking begun to enter philosophy (see Alfred North Whitehead). Rather than accounting for experience through hypothetical entities and forces (such as matter and energy) philosophers are beginning to postulate an evolution of experience itself — resulting in fewer ,working parts‘ and surprising degrees of explanatory power. What was taken to be the result of matter and energy (the effect as presented in human experience) is then simply reassigned as a piece in a perceptual process. This is still a new and radical view and is not as of yet the general consensus, but it does appear to be persisting as an alternative worldview.“ (Wikipedia, engl., Eintrag: Process theory, http://en.wikipedia.org/wiki/Process_theory, 14.9.2010). 32 Ritter, Historisches Wörterbuch, a. a. O., S. 1547ff. 33 „Seit 1807 (‚Phänomenologie des Geistes‘) wird der P.-Begriff mit der Dialektik in Verbindung gebracht. Nun wird Negativität zum ‚Prinzip des P.‘ erklärt.“ (Ebd., S. 1550). 28 1 PROZESSIEREN Entwicklung des Geistes, der Technik und Wissenschaft – im 19. Jahrhundert, zeigt Ritter, wird nahezu alles von Sein auf Werden umgestellt. Mit den sich emanzipierenden und historisierenden Naturwissen- schaften des 19. Jh. geht der Prozeß-Begriff in die allgemeine wis- senschaftliche Umgangssprache über und breitet sich in Biologie, Physiologie, Psychologie usw. aus. H. von Helmholtz spricht etwa bereits von den ‚psychischen Prozessen‘ [...]. Alle Vorgänge in Veränderungen, die nicht eindeutig als kausal determiniert darge- stellt werden, werden nunmehr als Prozesse gedeutet.34 Einschneidend verändert dies vor allem den Status der Objekte, in- sofern die festen Dinge Schritt für Schritt ihren dinghaft-gewissen Charakter verlieren. Hierauf reagieren Ansätze wie derjenige Schellings, der „die Begriffe ‚Prozeß‘ und ‚Organisation‘ als sich wechselseitig bedin- gend [darstellte]“; und „die Redeweise [begründete], durch die ‚Prozeß‘ und ‚Produkt‘ bzw. ‚Produktion‘ aufeinander bezogen werden“.35 Nun treten beide in ein Verhältnis: Prozess und Produkt, Verben und Substantive, das Flüssige und das Feste. Auf diese Vorstellung einer Vermittlung werde ich im Folgenden immer wieder zurückkommen. Marx schließlich, schreibt Ritter, hat den Bogen zurück zum Prozess der Arbeit geschlagen: Wie die Naturprozesse endet auch der Arbeits-Prozeß mit einem Resultat: ‚Der Prozeß erlischt im Produkt.‘ [...] In ihm [dem Pro- dukt] ist die Arbeit vergegenständlicht. Wenn auch der einzelne Arbeits-Prozeß im Produkt erlischt, so ist doch dieses Prozeß-Re- sultat Bedingung weiterer Prozesse, in die es entweder als Gegen- stand (sogenanntes Rohmaterial oder Halbfertigprodukte) oder aber als Mittel eingeht; d. h. als was eine bestimmte Sache erscheint, das hängt von ihrer Stellung in einem ganz spezifischen Prozeß ab.36 5. Definition Der kursorische Durchgang durch die Philosophie zeigt, dass ‚Pro- zessieren‘ nicht allein ein Computer-Begriff ist. Vor allem aber 34 Ebd., S. 1554. 35 Ebd., S. 1549 (Prozess im Original jeweils abgekürzt). 36 Ebd., S. 1553f. (Hervorh. H. W., Prozess im Original jeweils abgekürzt). KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 29 wird deutlich, dass man das ‚Prozessieren‘ gegen Medienprozesse im Allgemeinen wird abgrenzen müssen, denn selbstverständlich kann man alles, was Medien betrifft, als Vorgänge oder Prozesse betrachten. Nahezu alles, was sich in, an und mit den Medien ab- spielt, hat eine zeitliche Dimension, und auch ‚Speichern‘ und ‚Übertragen‘ sind substantivierte Verben, was anzeigt, dass es sich auch hier um Prozesse handelt. ‚Prozessieren‘ aber meint offensichtlich nicht Prozess allge- mein. Auf dem Terrain des Computers wie auf dem der materiellen Produktion ist ‚Prozessieren‘ dadurch bestimmt, dass Input und Output sich unterscheiden, dass der Prozess in das Produkt also eingreift und das Produkt verändert. Mein Vorschlag ist deshalb, Prozessieren in einer ersten Arbeitsdefinition als eingreifende Ver- änderung zu fassen. Eine Stütze findet dies in Kittlers These, Prozessieren bestehe darin, ‚Wörter oder Zahlen zu manipulieren‘, und ebenso im Ver- weis auf Form, Formveränderung und Formwechsel. ‚To convert something from one form to another‘ lässt sich von der materiellen Produktion mühelos übertragen auf den Umgang mit Zeichen. In den Mittelpunkt tritt damit die Arbeit am Produkt, ein materieller Eingriff, der das Produkt in seinem materiellen Sosein, seiner Sub- stanz und seiner Bedeutung verändert. Exakt das ist es, was Computerprozessoren mit Daten tun, und auf dieser ersten Ebene scheint auch die Übertragung auf andere Medien möglich: Ob ein Autor Buchstaben und Worte anreiht oder ein Laborant einen Film prozessiert, ein Beleuchter sein Licht setzt oder ein Programmierer Code schreibt – in all diesen Fällen wäre ‚Eingreifende Veränderung‘ als Beschreibung plausibel. ‚Eingreifende Veränderung‘ nun hat verschiedene Implikatio- nen. Die erste ist, dass keineswegs nur die Produktion, sondern auch und vor allem die Weiterbearbeitung von Produkten ins Zent- rum rückt. Eingriff ist nicht creatio ex nihilo; sondern lenkt den Blick auf das Material oder Ausgangsprodukt, an dem sich die eingreifende Veränderung vollzieht, auf den Vorgang der Verände- rung selbst, und dann auf das Resultat. Vorher und Nachher (Input und Output) werden verglichen und in ein Verhältnis gesetzt. Und mehr noch: Produktion wird quasi automatisch als Weiterbearbei- tung gefasst, ganz im Einklang etwa mit Flusser, der darauf hin- weist, dass Autoren nicht geniale Kreative, sondern, weil sie auf 30 1 PROZESSIEREN der Basis von Vorhandenem arbeiten, immer Weiterbearbeiter, Relaisstation im Netz der Diskurse, sind.37 Die zweite Implikation ist, dass die eingreifende Veränderung die Identität des Produkts selbst antastet. Ein Festes, das Aus- gangsprodukt, wird aufgelöst, und erst am Schluss der Bearbeitung als ein Produkt wieder konstituiert. Eingreifende Veränderung löst das Produkt in seine Bestandteile auf. Hiermit ist notwendig ein Wechsel der Ebene verbunden. Autor, Programmierer oder Cutter beschäftigen sich nicht mit dem ganzen Medienprodukt, sondern jeweils mit seinen Bestandteilen. Wenn sie das Produkt verflüssi- gen, dann um die Teile neu zu ordnen oder umzuformen; die Bear- beiter tauchen – um im Metaphernfeld des Wässrigen zu bleiben – in das Produkt ein.38 Dies wirft die Frage auf, wie das Produkt seine relative Stabili- tät, seine Identität und seine Grenzen gewinnt, was es daran hin- dert, sich in Prozesse vollständig aufzulösen. Und weiter, wie die Ebene der Bestandteile näher zu definieren wäre. Im Fall der Schrift oder des Programmcodes wären dies die Zeichen, die der Autor hin- und herschiebt oder der Prozessor manipuliert. Andere Mediensysteme allerdings verfügen nicht über konstituierte Zei- chen; im Fall des Spielfilms werden die eingreifenden Verände- rungen deshalb anders aussehen; Regisseur, Beleuchter, Cutter und Laborant beschäftigen sich zwar mit Details, diese aber liegen nicht als abgrenzbar-stabile, zeichenhafte ‚Bausteine‘ vor. Und schließlich hat die Arbeitsdefinition zur Konsequenz, dass sie ein ganzes Bündel von Medienvorgängen ausschließt, für die der Begriff des ‚Prozessierens‘ zumindest alltagssprachlich eben- 37 Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography 1985, S. 74-83. 38 Die Metapher der Verflüssigung ist sicherlich problematisch. Dennoch ist sie mir wichtig, weil sie mit einem zweiten Begriff – dem der Verhärtung / Verfestigung – korrespondiert. Beide, Verflüssigung und Verfestigung, werde ich im Folgen- den immer wieder in Anspruch nehmen; dann wird deutlich werden, dass das Begriffspaar einen systematischen Stellenwert hat. Zudem hat die Metapher eine lange Tradition: So sagt z. B. eine Einführung in die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus: „Interaktionisten […] be- greifen Handeln ganz allgemein als wenig determiniert und flüssig. […]. [Des- halb ist] die Vorstellung von festen sozialen Beziehungen zwischen Personen und natürlich genauso diejenige von festen und stabilen größeren Handlungs- geflechten, wie sie etwa Institutionen oder Organisationen darstellen, durchaus problematisch.“ (Schubert, Hans-Joachim u. a.: Pragmatismus. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2010, S. 119 f.). KAPITEL 1.1 EINGREIFENDE VERÄNDERUNG 31 falls völlig plausibel wäre. Wenn etwa die Post Briefe ‚prozes- siert‘, ist klar, dass sie diese transportiert, logistisch verwaltet und weiterleitet, dass sie die Briefe aber – solange das Postgeheimnis intakt bleibt – nicht öffnet, den Inhalt, die Botschaft, also unbe- rührt lässt. ‚Eingreifende Veränderung‘ also trifft hier nicht zu. 6. Drei Ebenen Auf diesem Hintergrund erscheint es mir sinnvoll, einen weiten Begriff des Prozessierens und einen engen, präzisen zu unterschei- den. Der enge, präzise Begriff der ‚Eingreifenden Veränderung‘ bleibt zentral, und hier liegt der Fokus des vorliegenden Buchs. Der weiter gefasste Begriff würde zugestehen, dass es auch an- dere Arten des Prozessierens gibt, die in die Produkte gerade nicht eingreifen. Die Post handelt auf einer Art Makroebene, die es ausschließlich mit den konstituierten Produkten zu tun hat; hier muss alles Prozessieren dem Prozessierten äußerlich bleiben. Die Post bewegt Medienprodukte in Raum und Zeit. Und auf dieser Ebene – dies ist interessant – fällt Prozessieren mit Übertragen und Speichern weitgehend zusammen: Dieser allgemeinere Begriff hebt zunächst nur hervor, dass es sich auch hier um Tätigkeiten, um Prozesse handelt. Prozessieren weiter Begriff Medienprozesse (incl. Logistik, Post… und -tätigkeiten allgemein Versand, Weiterleiten, Speichern) enger, präziser Begriff Eingreifende Autor, Veränderung Beleuchter, Cutter, Computer- prozessor Abb. 1 32 1 PROZESSIEREN Und nun würde ich vorschlagen, innerhalb der ‚Eingreifenden Ver- änderung‘ noch einmal zu unterscheiden: Eine erste Ebene für Medien allgemein, für alle Operationen, die in das Medienprodukt eingreifen. Und eine zweite Ebene, die nur solche Medien umfasst, wo der Eingriff ins Produkt, wie Kittler geschrieben hatte, eine „Manipulation von Wörtern und Zahlen“ bedeutet. Prozessieren weiter Begriff Medienprozesse Post… und -tätigkeiten allgemein enger, präziser Begriff Eingreifende Eingriffe Beleuchter, Veränderung aller Art Cutter „Manipulation Autor, von Wörtern Computer- und Zahlen“ prozessor Abb. 2 Diese Unterscheidung ist – wie unschwer zu erkennen – nötig, um die falsche Verallgemeinerung zu verhindern, die Computer-Krite- rien vorschnell auf alle Medien überträgt. Im Feld der Computer mag Prozessieren tatsächlich ein ‚Manipulieren von Wörtern und Zahlen‘ sein; für Fotografie, Film oder Blockflöte dagegen wäre diese Bestimmung schlicht unzutreffend. Das Projekt meines Buchs ist es, solche Unterschiede ernst zu nehmen, und Schritt für Schritt zu einem klareren Begriff des Pro- zessierens zu kommen. Wissenschaftliche Begriffe scheinen mir nur dann brauchbar zu sein, wenn ihre Implikationen ausreichend diskutiert, ihr begriffliches Umfeld geklärt und ihre inneren Span- nungen offengelegt werden. Nur auf diese Weise können sie ihren selbstverständlichen, alltagsnahen Gebrauch hinter sich lassen. Für die Begriffe der Medienwissenschaften gilt dies umso mehr. So sind die Medien in die Alltagsvollzüge in besonderer Weise ver- flochten, ein überbordender Mediendiskurs erzeugt Evidenzen, die keine sind, und weil das Fach relativ jung ist, ist noch relativ wenig Sorgfalt in begriffliche Klärungsprozesse geflossen. Am Beispiel des Prozessierens wird dies deutlich. Kapitel 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 1. Transformieren Prozessieren wurde als ‚eingreifende Veränderung‘ gefasst, und diese Vorstellung soll nun ausgebaut und Schritt für Schritt mit Inhalt gefüllt werden. Hierfür erscheint es nötig, sich vom Prozes- sieren ein Stück weit zu lösen. Wenn nämlich über Prozessieren bislang wenig geschrieben wurde, so kann dies auch daran liegen, dass die Autorinnen, die Relevantes zum Feld beitragen, eben nicht diesen, sondern andere Leitbegriffe gewählt haben, sei es, um den etwas technizistischen Beiklang zu vermeiden, der dem ‚Prozessie- ren‘ anhaftet, oder weil sie den inhaltlichen Fokus anders setzen ‒ es erscheint in jedem Fall sinnvoll, zu prüfen, welche angrenzen- den Sachverhalte und verwandten Etiketten es gibt. Und hier fallen als erstes Texte ins Auge, die die transformie- rende Kraft der Medien in den Mittelpunkt stellen. Meist, wenn im Medienkontext von Transformationen die Rede ist, geht es darum, Entwicklungen und Verschiebungen zu beschreiben, die die Medi- enlandschaft insgesamt betreffen, Veränderungen also, die ins Feld der Mediengeschichte fallen. Diese können hier nicht Thema sein. Daneben aber gibt es Überlegungen, die der ‚Eingreifenden Ver- änderung‘ durchaus nahekommen. So schreibt etwa Hickethier in seiner Medieneinführung: Zeichentransformation. [...] Zeichen können [...] in der Medien- kommunikation einen mehrfachen medialen Transformations- prozess ihrer Träger und ihrer Zeichengestalt durchlaufen. [...] Um die Zeichen des Films zu sehen, wird der Film in der Regel auf eine Leinwand projiziert. [...] Um den Film im Fernsehen zu zeigen, wird das analoge Filmbild in ein elektronisches Bild umgewandelt, d. h., es wird von einem Kathodenstrahl abgetastet und in elektri- sche Impulse umgewandelt, die wiederum auf Frequenzen auf- moduliert und gesendet, empfangen und in ein elektronisches Bild auf dem Bildschirm zurückverwandelt werden. [...] Auch der Über- 34 1 PROZESSIEREN gang zur digitalen Speicherung von Bild und Ton stellt deshalb nur eine Transformation dar.39 Die Stelle ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Hickethier hebt zunächst auf die Technik ab. Nicht die Eingriffe von Menschen, Autoren oder Weiterbearbeitern, sorgen für die Transformation, sondern die Technik selbst bewirkt, dass die Zeichen / Signale ihre Gestalt ändern. Zum Zweiten werden die Transformationen zu Pro- zessketten verknüpft, in deren Verlauf die Zeichen von Station zu Station immer wieder umgeformt werden. Erst an der letzten Sta- tion wird das Signal ‚in ein elektronisches Bild auf dem Bildschirm zurückverwandelt‘, und erst dann trifft es wieder auf Menschen. Und zum Dritten widerspricht Hickethier der Auffassung, dass Medien transparente ‚Kanäle‘ zur Weiterleitung von Botschaften wären. Medien vielmehr werden über eine Kaskade von Form- wechseln beschrieben, was die Frage aufwirft, was in der Kette dieser Formwechsel aus der Botschaft eigentlich wird. Das Bild der Prozesskette weist zurück auf die Apparatustheo- rien der 70er-Jahre. So hatte Baudry in einem berühmten Text eine Skizze gezeigt, die das Medium Film in eine ganze Anzahl von Schritten zerlegt:40 [objektives Reales (Licht)] → [Drehbuch, Szenenauflösung] → [Filmstreifen, Kamera (Tonaufzeichnung)] → [Montage] → [Projektor/Film (Licht)] → [Leinwand, Projektion] → [Zuschauer] Abb. 3: Prozesskette Baudry41 39 Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2003, S. 77f. 40 Baudry, Jean-Louis: Le dispositif. Approches métapsychologiques de l’impres- sion de réalité. In: Communications, Nr. 23, 1975, S. 56-72; dt.: ders.: Ideolo- gische Effekte erzeugt vom Basisapparat. In: Riesinger, Robert F. (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster: Nodus 2003, S. 27-39; die deutsche Übersetzung allerdings ist nicht in allen Fällen glücklich. 41 Ebd. S. 2, bzw. in der dt. Version S. 28; Baudry wählt eine etwas komplizier- tere grafische Darstellung, die in einer Zickzack-Konstruktion neben der Ver- kettung weitere Wechselwirkungen zu beschreiben versucht. KAPITEL 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 35 Innerhalb der Apparatustheorien hatte dies systematischen Stellen- wert; Kontext war die Frage, inwieweit das Medium Film ‚unmit- telbare‘ oder ‚realistische’ Bilder lieferte, und Baudry argumentier- te, der lange Weg technischer Umsetzungen – und also Eingriffe – dementiere jede Art von Unmittelbarkeit. Baudry erläutert: Unser Schema erlaubt die Akzentuierung folgender Punkte: Zwi- schen dem ‚objektiven Realen‘ und der Kamera, dem Ort der Ein- schreibung, wie auch zwischen der Einschreibung und der Projek- tion liegen bestimmte Operationen; eine Arbeit, aus der ein fertiges Produkt resultiert. […] In dem Maße wie dieses Produkt vom Roh- material (‚dem objektiven Realen‘) getrennt ist, erlaubt es uns nicht, die Transformation zu sehen, die stattgefunden hat.42 Das Material wird zwar transformiert, dem Zuschauer, der sich auf den Inhalt, die Gegenstände und die Handlung des Films konzen- triert, aber ist dies keineswegs zu jedem Zeitpunkt bewusst. Die Apparatusautoren sprachen von einer ‚Transparenz-Illusion‘; das Medium Film behaupte zwar transparent, also auf die abgebildete Realität hin durchsichtig/ durchlässig zu sein, und diese Illusionie- rung sei für sein Funktionieren zentral, tatsächlich aber sei es opak; und noch mehr: Es sei Medium gerade darin, ins Material einzu- greifen. Sein medialer Charakter tritt in der Kette der Eingriffe allererst deutlich hervor. In der Apparatusdebatte geht es um Manipulation, und zwar im doppelten Sinne: Wie bei Kittlers ‚Manipulation von Wörtern und Zahlen‘ meint Manipulation zunächst relativ neutral den Eingriff selbst; das Wort verweist zurück auf die Hand, wie der Eingriff auch. Zum Zweiten meint Manipulation, selbstverständlich, Verfälschung.43 42 Baudry, Ideologische Effekte, a. a. O., S. 28 (Hervorh. H. W.). 43 Die Apparatustheorien gehören ins Umfeld der Ideologiekritik der 70er-Jahre; der Vorwurf der ‚Manipulation‘ spielte hier eine besondere Rolle, insofern es um interessegeleitetes Handeln, das Entstehen von Weltbildern in Relation zu diesen Interessen, und die Wechselwirkung von Täuschung und Selbsttäu- schung geht. Die Formulierung: „In dem Maße wie dieses Produkt vom Rohmaterial (‚dem objektiven Realen‘) getrennt ist, erlaubt es uns nicht, die Transformation [die Arbeit] zu sehen, die stattgefunden hat“ ist unmittelbar dem Marxschen Waren- fetisch nachgebildet. Baudry setzt fort: „Demgemäß verweist das kinemato- graphisch Spezifische auf eine Arbeit, d. h. auf einen Transformationsprozeß. Die Frage ist dabei, ob die Arbeit sichtbar ist, ob die Konsumtion des Produkts einen Bewußtseinseffekt nach sich zieht, oder aber, ob die Arbeit verborgen ist; wobei, wenn letzteres zutrifft, das Produkt offenbar von ideologischem Mehr- 36 1 PROZESSIEREN Enzensberger erläutert zur selben Zeit: Manipulation, zu deutsch Hand- oder Kunstgriff, heißt soviel wie zielbewußtes technisches Eingreifen in ein gegebenes Material. Wenn es sich um ein gesellschaftlich unmittelbar relevantes Ein- greifen handelt, ist die Manipulation ein politischer Akt. Das ist in der Bewußtseins-Industrie der Fall. Jeder Gebrauch der Medien setzt also Manipulation voraus. Die elementarsten Verfahren medialen Produzierens von der Wahl des Mediums selbst über Aufnahme, Schnitt, Synchronisation, Mischung bis hin zur Distribution [?] sind allesamt Eingriffe in das vorhandene Material. Ein unmanipuliertes Schreiben, Filmen und Senden gibt es nicht.44 Ebenfalls mit Transformationen und mit Eingriffen argumentieren viele Theorien zur Intermedialität. Ausgehend von frühen Unter- suchungen z. B. zur Literaturverfilmung wurden Theorien ent- wickelt, die das Verhältnis verschiedener Medien zueinander be- schreiben;45 hieraus sind komplexe Überlegungen zur Medien- spezifik entstanden,46 sowie zur Frage, von welchem Ort aus man Medien überhaupt beobachten kann.47 Im Fall der Literaturverfilmung geht es darum, Inhalte von einem Medium in ein anderes Medium zu transferieren. In diesem Übergang müssen sie notwendig umgeformt werden, weil das neue Medium neue Anforderungen stellt.48 Dies zwingt dazu, die Spezi- fika des neuen Mediums und die Tatsache, dass es Mediengrenzen gibt, bewusster zu reflektieren. Ja: Mediengrenzen und Medien- brüche sind dadurch definiert, dass eine direkte Weitergabe nicht möglich ist, dass es einer Transformation oder einer Übersetzung wert begleitet wird.“ (Ebd., S. 29). Ein wichtiger Punkt also ist, dass die Arbeit verborgen ist. Das ist sicher nicht bei allen medialen Transformationen der Fall. 44 Enzensberger, Hans Magnus: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kurs- buch, Nr. 20, März 1970, S. 159-186, hier: S. 166 (Erg. H. W.). 45 Vgl. z. B.: Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Stuttgart: UTB 2002. 46 Z. B.: - Paech, Joachim; Schröter, Jens (Hg.): Intermedialität – Analog / Digital: Theorien, Methoden, Analysen. München: Fink 2007. - Ellestrom, Lars (Hg.): Media Borders, Multimodality and Intermediality. Houndmills (UK): Palgrave 2010. 47 Paech, Joachim: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Schmidt 1998, S. 14-30. 48 Dies führt auf die ‚Urszene‘ aller Überlegungen zur Intermedialität: Lessings Laokoon. (Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart: Reclam 1998 (EV: 1766)). KAPITEL 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 37 bedarf.49 Und zwischen den Medien, am Punkt des Medienbruchs, sind es meist Menschen, die die Rolle des Moderators und des Übersetzers übernehmen. Bereits auf dieser ersten Stufe steht Intermedialität für einen spezifischen Typus des Prozessierens; das Material wird eingreifend verändert; die Besonderheit ist, dass das Prozessieren geschieht, weil eine Mediengrenze eine Übersetzung erzwingt. 2. Transkribieren Eine etwas anders geartete Theorie der Transformation haben Jäger/Jarke mit ihrer ‚Transkriptivitäts‘-Theorie entwickelt.50 Auch hier geht es nicht um technische Prozessketten, sondern wieder um Medienproduktion, um die Tätigkeit von Autoren. Autoren, sagen Jäger/Jarke, schreiben nicht, sondern sie schreiben um. Gerade für die wissenschaftliche Tätigkeit ist dies evident: Wissenschaftler gehen ins Archiv und lesen, wählen aus und organisieren um und denken nach, bis schließlich auf Basis einer großen Anzahl alter Texte ein einzelner neuer entsteht, was immer dieser an tatsächlich Neuem enthält. Fertig gestellt wird dieser ins Archiv wieder ein- gehen und auf seine Reaktivierung im nächsten Zyklus warten (→ Abb. 4, S. 38). Die Theorie der Transkriptivität will die Wechselwirkung zwi- schen aktiver Produktion und Archiv fassen. Wenn Schreiben Um- schreiben – Transkribieren eben – ist, dann wird die Medienpro- duktion eingebunden in einen Diskurs; sie ist keineswegs Tätigkeit eines einsamen Individuums, sondern immer abhängig von den 49 So will, um ein Beispiel zu nennen, das Elearning-Lehrmodul ‚Intermediale Transformation‘ der HAWK Hildesheim die „Brüche und Reibungen [unter- suchen], die bei der medialen Übersetzung von Bedeutungseinheiten entstehen“. (http://elearn.hawk-hhg.de/projekte/medialeproduktion/pages/lehrmodule/inter mediale-transformation.php, 20.1.2011). 50 Jäger, Ludwig; Jarke, Matthias; Klamma, Ralf; Spaniol, Marc: Transkriptivität. Operative Medientheorien als Grundlage von Informationssystemen für die Kulturwissenschaften. In: Informatik Spektrum 31, 1, 2008, S. 21-29; siehe auch: - Stanitzek, Georg: Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung. In: Jäger, Ludwig; ders. (Hg.): Transkribieren. Medien / Lektüre. München: Fink 2002, S. 7-18. - Jäger, Ludwig: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. Ebd., S. 19-42. 38 1 PROZESSIEREN Voraussetzungen, die sie vorfindet, und Grundlage für alles, was auf sie folgt. Auswahl Präskript von Skripten Transkription Archiv / Skript Entnahme Transkript Übernahme ins kulturelle Gedächtnis Abb. 4: Jäger/Jarke: Autorschaft als Transkription Und gleichzeitig scheint mir dies ein sehr starkes Modell auch für das Verständnis des ‚Prozessierens‘ zu sein. Wieder wird die Medienproduktion auf radikale Weise prozessualisiert; nicht mehr nur weil jede Tätigkeit ein Prozess und damit zeitabhängig ist, sondern vor allem weil deutlich wird, dass die Einzeltätigkeit ein- gebettet ist in weit größere Zeitstrukturen, in den Diskurs. In weiteren Veröffentlichungen haben Jäger und andere diesen Ansatz ausgebaut. Jäger selbst hat die Frage philosophisch tiefer gelegt und gezeigt, dass die Transkriptivität keineswegs nur das Verhältnis alter zu neuen Dokumenten oder von Autoren zum Archiv zu beschreiben vermag, sondern darüber hinaus klassische Fragen der Erkenntnistheorie und der Semantik berührt.51 Kernpro- jekt ist zu zeigen, dass die Kognition selbst von Medien ‒ Schriften und Umschriften ‒ abhängig ist, weil nur diese die Welt lesbar machen und die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses semantisch ratifizieren.52 Für die Frage nach dem ‚Prozessieren‘ ist wichtig, dass hier- durch die Kognition in den Mittelpunkt rückt. Sie wird eingebun- den in den Mechanismus von Schrift und Umschrift, in dem sich Kognition allererst konstituiert; Jäger zeigt dies am Beispiel des ‚einsamen Sprechens‘: 51 Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik, a. a. O., S. 19-41. 52 Ebd., S. 21, 29, 35ff. KAPITEL 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 39 Bereits das sozusagen einsame Sprechen verfährt (wie auch das Schreiben) insofern transkriptiv, als in den produktiven Prozeß der Zeichenhervorbringung konstitutiv rezeptive Momente der Selbst- lektüre eingebaut sind, die sich als Formen der Selbsttranskription beschreiben lassen. Jede produktive Entfaltung einer linearen Kette von Zeichen ist an die Voraussetzung geknüpft, daß der Rede-Pro- duzent konsekutiv und fortlaufend die geäußerten Segmente seiner Rede rezipiert und sie mit seiner prätextuellen Redeintention ab- gleicht (Monitoring).53 In jede Rede ist also bereits auf der Seite des Produzenten ein auto- hermeneutisches transkriptives Moment eingeschrieben, während in der dialogischen Rede umgekehrt jeder rezipientenseitige Verstehens- prozeß geprägt ist durch die fortlaufend hypothetische Transkription der Rede des Anderen, die die Form einer hetero-rhetorischen Zu- Ende-Konstruktion der Alter-Äußerungen auf dem jeweiligen Stand ihrer Entfaltung annimmt.54 Für die Kognition bedeutet dies, dass sie zwar prozessiert, nicht aber im Sinne einer souveränen Instanz, eines ‚Subjekts‘, das die Umschrift bewirkt; sondern in einer ständigen Oszillation zwi- schen Produktion und Rezeption, und das heißt im selben Maße rezeptiv wie handelnd. Die Grundvorstellung einer ‚Umschrift‘ also bewährt sich nicht primär darin, dass es ‚Prätexte‘ gibt, von denen die Kognition abhängig ist, sondern vor allem, insofern nun der Zyklus insgesamt in den Fokus tritt. Das rezeptive Moment des Verstehens hat – ganz wie in Halls ‚Encoding, Decoding‘55 – den gleichen Wert wie die ‚aktive‘ Produktion; das Prozessieren scheint aufgespannt zwischen beiden Polen und ebenso ein Selbst- verhältnis wie ein Verhältnis zum diskursiven Umraum zu kon- stituieren. 3. Übersetzen, Übertragen Und schließlich gibt es verzweigte Theorien zum Übersetzen, die ebenfalls ein Licht auf das ‚Prozessieren‘ werfen. Sehr selbstver- ständlich hat z. B. McLuhan eines seiner Kapitel „Medien als 53 Ebd., S. 40. 54 Ebd. 55 Hall, Stuart: Kodieren, Dekodieren. [1973]. In: Adelmann, Ralf u. a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Konstanz 2001, S. 105-124. 40 1 PROZESSIEREN Übersetzer“ überschrieben,56 und nennt Medientechniken „Metho- den [...], um eine Art von Wissen in einen anderen Modus zu über- tragen.“57 McLuhan hat sich bekanntlich sehr für die Übersetzungs- verhältnisse zwischen den Medien interessiert.58 An der zitierten Stelle allerdings geht es – verblüffend – zu- nächst um Erfahrung, um die Möglichkeit, Erfahrung auszu- drücken und in eine explizite, symbolische Form zu bringen.59 Diese Möglichkeit des Ausdrucks ist an Medien gebunden und sicherlich eine zentrale Medienfunktion. Und gleichzeitig wird sie in der Theorie eher selten behandelt. Dass McLuhan sie dennoch anpackt, lenkt den Blick darauf, dass Medien auch eine Überset- zung innerer Vorgänge (Erfahrung) nach außen, und damit ein Prozessieren eines zunächst Ungeformten hinein in die Form leis- ten. In einem kühnen Schwung verlängert McLuhan seine Über- legung in eine allgemeine Metapherologie der Medien: Alle Medien sind mit ihrem Vermögen, Erfahrung in neue Formen zu übertragen, wirksame Metaphern. [...] Denn der Mensch besitzt, im Gegensatz zu rein biologischen Geschöpfen einen Übertragungs- und Umformungsapparat, der auf seiner Fähigkeit, Erfahrung zu speichern, basiert. Und diese Fähigkeit des Speicherns, wie etwa in der Sprache selber, ist auch ein Mittel zur Umwandlung von Erfah- rung. [...] [G]enauso wie eine Metapher Erfahrung umformt oder überträgt, tun das auch die Medien.60 McLuhan war ein großer Anhänger der Metapher und hat schrei- bend exzessiven Gebrauch von Metaphern gemacht. Die These selbst aber reicht wesentlich weiter: Wenn Metaphern – ‚über- tragene Bedeutung‘ – Maschinen der Übertragung sind, und Über- tragung neben Speichern und Prozessieren die zentrale Medien- 56 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. ‚Understanding Media‘. Düssel- dorf/Wien 1968, S. 67 (EV, engl.: 1964). 57 Ebd. 58 Vgl. z. B. das Kapitel ‚Energie aus Bastarden‘, das in Understanding Media dem eben zitierten unmittelbar vorangeht, mit seiner These: „[A]lle Medien [kommen] paarweise vor, wobei das eine als ‚Inhalt‘ des anderen fungiert und die Wirkungsweise beider verschleiert.“ (Ebd., S. 58ff., S. 62 (Erg. H. W.)). 59 „Technik ist Ausdrücklichkeit [...]. Übersetzen heißt also, Formen von Wissen Buchstabe für Buchstabe auszusprechen.“ Und „Wörter sind vielschichtige Systeme von Metaphern und Symbolen, die die Erfahrung in unsere geäußerte oder nach außen gebrachten Sinnesempfindungen übertragen. Sie sind eine Technik der Ausdrücklichkeit.“ (Ebd., S. 68). 60 McLuhan, Die magischen Kanäle, a. a. O., S. 67. KAPITEL 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 41 funktion, so wird deutlich, dass mediales Prozessieren und Über- tragen sich auf eigentümliche Weise annähern; oder dass zumin- dest Prozessieren nicht einfach das Andere der Übertragung ist.61 Ein zweiter Autor zur Übersetzung ist Michel Serres, der die Übersetzung zur Grundlage einer ausgebauten Wissenschafts- und Medientheorie macht.62 Seine wichtigste Vorstellung ist die Trans- formation; die zentrale These aber ist zunächst durchaus verwir- rend, weil sie vier gesellschaftliche Bereiche in Relation bringt, die üblicherweise sauber getrennt werden: Wir kennen die Dinge nur aufgrund der Transformationssysteme jener Mengen, in denen sie enthalten sind. Zumindest vier solcher Systeme gibt es. [1] Die Deduktion auf mathematisch-logischem Gebiet. [2] Die Induktion auf dem Feld des Experiments. [3] Die Produktion im Bereich der Praxis. [4] Die ‚Transduktion‘ oder Übersetzung im Raum der Texte.63 Serres also nennt vier Bereiche ‒ die Mathematik, das wissen- schaftliche Experiment, die materielle Produktion und die Medien – und will alle vier als Systeme von Transformationen beschreiben. (Dass zwei davon, Medien und materielle Produktion, es mit Transformationen zu tun haben, wurde im Kontext der Eingrei- fenden Veränderung bereits diskutiert). Und er setzt fort: Es ist keineswegs abwegig, wenn wir annehmen, dass sie dasselbe Wort wiederholen. Daß es Philosophie nur als Philosophie der Duk- tion gibt – mit notwendigen aber wechselnden Vorsilben. Man kann sein Leben damit zubringen, diesen Sachverhalt zu klären.64 Es erscheint äußerst interessant und radikal, dass Serres die augen- fälligen Differenzen, die zwischen den angesprochenen Sphären 61 Sybille Krämer hat von der Übertragung zur Übersetzung einen weiten Bogen geschlagen: Vermittelt über den Boten und die Figur des Engels werden die Krankheitsübertragung durch Viren, die Eigentumsübertragung durch Tausch und Geld, die Sprachübertragung in der Übersetzung, die Gefühlsübertragung in der Psychoanalyse und schließlich die Übertragung von Wahrnehmung und Wissen durch Zeugen analysiert (dies.: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008). Zum Zusammenhang von Metapher und medialer Übertragung habe ich eine eigene Überlegung angestellt in: Winkler, Diskursökonomie, a. a. O., S. 94- 109. 62 Serres, Michel: Hermes III, Übersetzung. Berlin: Merve 1992 (EV, frz.: 1974); die anderen Bände des ‚Hermes‘-Projekts heißen ‚Kommunikation‘, ‚Inter- ferenz‘ und ‚Verteilung‘. 63 Ebd., S. 7 (Erg. H. W.). 64 Ebd. 42 1 PROZESSIEREN bestehen, an diesem Punkt überbrückt. Spezifisch für die Medien wäre die ‚Transduktion‘ oder Übersetzung. Etwas enttäuschend ist, dass Serres alle vier ‚Duktionen‘ dann auf Kommunikation redu- ziert,65 und diese schließlich auf eine Kombinatorik.66 Hier, fürchte ich, rächt sich die Orientierung an Shannon; und das hier verfolgte Projekt, Prozessieren eben nicht wie selbstverständlich vom Com- puter her zu begreifen, wird einen anderen Weg nehmen. Interessant, obwohl er auf den Computer fokussiert, ist Bernard Robben, der den Computer als das paradigmatische ‚Medium der Übersetzungen‘ zu fassen versucht.67 „Wenn jedes Medium ein Übersetzer ist“, schreibt Robben mit McLuhan, „ist der Computer das universelle Medium: der Übersetzer der Übersetzer.“68 Wichtig ist zunächst, dass Robben den Computer als ein Medium der Notation betrachtet,69 das er in strikter Weise auf ma- terielle, syntaktische70 Operationen eingeschränkt sieht. Auf dieser Basis aber können Rechner mehr und andere Übersetzungen als jedes andere Medium leisten. Und Robben nennt verschiedene Ebenen, auf denen ‚Übersetzungen‘ für Computer wesentlich sind: Auf einer ersten kann man die Hardware selbst als eine Überset- zung verstehen: „Die erste Generation übersetzt die Grundrechen- arten in mechanische Räderwerke, die zweite diese wiederum in elektronische Schaltkreise.“71 Vorgänge, die bis dahin symbolische waren, werden in materielle Strukturen gegossen. Zum Zweiten übersetzen Computer Zeichen in Zeichen:72 Schon immer waren Notationen Hilfsmittel zur Darstellung von Wissen. Um sich notiertes Wissen anzueignen und um es zu ver- 65 „Das zeitgenössische Wissen ist in seiner Totalität eine Kommunikationstheo- rie“ (Ebd., S. 51). 66 „Der Schlüssel zu alledem ist die Kombinatorik, und die Chemie ist in ihrer Sprache wie in ihrer Topologie nichts anderes [!] als eine Theorie der Permuta- tionen, der Anordnungen, der Substitutionsvorgänge. Eine Reaktion [...] ist ein Ensemble von Austauschvorgängen.“ (Ebd., S. 40 (Hervorh. H. W.)); vgl. ebd. S. 33. 67 Robben, Bernard: Der Computer als Medium. Eine transdisziplinäre Theorie. Bielefeld: transcript Verlag 2006. 68 Ebd., S. 45; dankenswerterweise schränkt eine Fußnote die Universalität auf diejenige der Turingmaschine ein. 69 Ebd., S. 46ff. 70 Diese Einschränkung auf syntaktische Operationen ist die wohl bezeichnendste Eigenschaft der Computer. Ich werde sie im Teil 1.8, S. 83ff. näher darstellen. 71 Ebd., S. 30. 72 Ebd., S. 43. KAPITEL 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 43 mitteln, bedurfte es der Übersetzung zwischen den Notationen. Erst mit dem Computer entsteht das technische Medium [?]. Es leistet selbsttätig Übersetzungsprozesse, vermittelt zwischen Notationen.73 Dies meint zunächst, dass Computer Zeichen in andere Zeichen verrechnen. Der Computer, sagt Robben, „hat den Zweck zu rech- nen (d. h. Zeichenreihen nach eindeutigen Regeln zu manipulie- ren).“74 Hierbei haben Computer die Fähigkeit, zwischen verschie- denen Codes zu vermitteln. Dies ist der Aspekt der ‚Multimediali- tät‘; in gewisser Weise, und auf syntaktische Operationen einge- schränkt, kehrt die Intermedialität im Computer als Multimedialität wieder. Und schließlich kennen Computer letztlich nur einen einzi- gen Code, den binären, so dass alles, was dem Computer überhaupt zugänglich ist, in diesen Code übersetzt werden muss.75 Das leitet über zu einer noch allgemeineren Ebene. In gewissem Sinne nämlich ist das Projekt der Formalisierung selbst, und die Bindung des Computers an Formalsprachen, als ein System von Übersetzungen zu betrachten. Robben unterscheidet verschiedene Stufen, die die Innenwelt der Rechner, die ‚inhärente Semantik der Schaltprozesse wie Addition, Drucken oder Zeichnen‘ über die formalen Modelle, die formal definierten Strukturen schließlich mit jener Außenwelt verbinden, die ‚dem Computer unzugänglich‘, ‚ein Jenseits der Programmierung‘ bleibt.76 „[D]ie wesentliche Übersetzung, die der Computer leistet,“ sagt Robben, [ist] die Übersetzung zwischen dem in einer formalen Sprache nach syntaktischen Regeln geschriebenen Programm-Kode und der im Prozessieren durch die Maschine erscheinenden operativen Semantik.77 Die Stärke dieser These ist, dass sich Robben auf die erwartbaren, syntaktischen Operationen nicht beschränkt, sondern den Blick auf jene Übersetzungen lenkt, die den Computer in die Welt einbetten. Dies gilt für die Modellierung (die Abbildung der Welt) ebenso wie für die Fälle, in denen der Rechner als Medium der Steuerung oder Regelung performativ in die Welt direkt eingreift: 73 Ebd., S. 29. 74 Ebd., S. 31; Robben zitiert Wolfgang Coy. 75 Ebd., S. 40. 76 Ebd., S. 40; Robben zitiert Zemanek. 77 Ebd., (was genau eine operative Semantik ist allerdings lässt Robben offen). 44 1 PROZESSIEREN Die Algorithmik des Rechners erlaubt die Simulation nahezu aller Arbeitsvorgänge [!] als Zeichenmanipulation. Die Umsetzung der berechneten Zeichen in Signale eröffnet die Möglichkeit der Steue- rung, Regelung und Automation, der Sensorik und Aktorik.78 Folgt man Robben, handelt es sich in all diesen Fällen um Überset- zung. Und noch deutlicher, wenn der Rechner mit seinem Nutzer zu kommunizieren versucht. Computer selbst operieren mit Zei- chen, mit denen der User ‒ ohne Übersetzung ‒ nichts anfangen kann; [deshalb] übersetzt der Computer für den Menschen zwischen einer unsinnlichen formalen Symbolwelt, die im Speicher der Maschine nach syntaktischen Regeln prozessiert, und einer dadurch induzier- ten wahrnehmbar dargestellten medialen Wirklichkeit, welche uns einen reflexiven, durch das Formale hindurchgehenden, aber nicht auf Formales beschränkten Weltzugang ermöglicht.79 Der Computer übersetzt zu Darstellungen, die zwar nach formalen Regeln gedruckt, gezeichnet oder irgendwie sonst berechnet prä- sentiert werden, die uns aber dennoch in eine sinnliche Welt verset- zen.80 Hiermit ist die vierte Ebene markiert, die man das Problem der Schnittstelle nennen könnte. Da der Wahrnehmungsapparat des Menschen für Formales nur sehr eingeschränkt geeignet ist, muss der Computer auch hier übersetzen. Vor allem, dass Robben den Computer in die tatsächliche Welt einbettet, macht seine Überlegung hier relevant. Gestützt auf ein sehr allgemeines Konzept von Übersetzung kann er die Grenze zwischen Computer und Welt, Symbolischem und Außersymbo- lischem leichtfüßig überspringen; Prozessieren / Übersetzen ist bei Robben insofern kein Computerbegriff, sondern gerade umgekehrt: Was der Computer tut, wird in kulturwissenschaftlich anschluss- fähigen Termen beschrieben. Der Durchgang durch die heterogenen Theorieterrains hat gezeigt, dass nicht alle Ansätze, die ins Feld der hier unternommenen Untersuchung fallen, notwendig das Etikett des ‚Prozessierens‘ nutzen. Vielmehr scheint es ebenso viele Synonyme wie Heran- gehensweisen zu geben, immer vorausgesetzt, dass ein einheit- 78 Ebd., S. 35, Robben zitiert Coy. 79 Ebd., S. 41. 80 Ebd., S. 40f. KAPITEL 1.2 TRANSFORMIEREN, TRANSKRIBIEREN, ÜBERSETZEN 45 liches Feld überhaupt existiert, dass die Herangehensweisen also tatsächlich ähnliche Sachverhalte zum Gegenstand haben. Und gleichzeitig ist klar geworden, dass es sicherlich weitere Felder gibt, und Probleme, die in den referierten Ansätzen zwar berührt, nicht aber systematisch zum Thema gemacht werden. Einige hier- von sollen im Folgenden zumindest angesprochen werden. Kapitel 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 1. Metamorphosen Das erste ist das Problem des Wandels. Prozessieren hat es immer mit Wandel und Verwandlung zu tun; Grund genug, einen kurzen Blick darauf zu werfen, was der Wandel ‒ als konnotatives Umfeld ‒ zur Bestimmung des Prozessierens beitragen kann. Die Tatsache, dass die Welt und die Dinge nicht stabil sind, sondern einer ständi- gen Veränderung unterworfen, ablesbar an den Zyklen der Natur, am eigenen Altern und an der Erfahrung des Todes, hat alle Kultu- ren in außerordentlichem Maße beschäftigt. Gesellschaftliche For- mationen, Institutionen und Bündnisse sind zerbrechlich und bedürfen zu ihrem Erhalt der Pflege; die Natur liefert immer aufs Neue ein überbordendes Maß an Ressourcen, gleichzeitig werden Vorräte verbraucht oder verderben, und der Reichtum zerrinnt. Und umgekehrt kann man, wie Adorno plastisch gesagt hat, alles, was einigermaßen stabil ist ‒ Institutionen, Vorräte, Reich- tum, Dingwelt und ‚Kapital‘ ‒ als ein Bollwerk ansehen, das die Menschheit gegen die Angst vor dem Mangel errichtet.81 Die materielle Produktion, die Herstellung materieller Dinge, die die westlich-kapitalistische Moderne über jeden Maßstab hinaus stei- gert, steht insofern für diese verfestigte, Material gewordene Angst. Und gleichzeitig ist die materielle Produktion selbst Inbe- griff der Veränderung; sie greift tief in die Natur ein, und verändert ‒ als Basis von Geschichte, ‚Fortschritt‘, Zivilisation und Moderne ‒ immer aufs Neue alle Facetten und jeden Aspekt der Realität. Die metaphysisch zentrierten Gesellschaften der Vergangenheit allerdings haben Wandel und Verwandlung keineswegs mit irdi- schen Dingen, sondern vielmehr mit dem ‚Wunder‘ assoziiert. Verwandlungen, Metamorphosen waren vor allem dann interes- 81 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophi- sche Fragmente. In: A., Th. W.: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 32, 45 (EV: 1947). 48 1 PROZESSIEREN sant, wenn sie unerwartet und unerklärlich auftraten; metaphysi- sche Systeme und Mythen hatten ihr Zentrum in solchen Meta- morphosen; die Praktiken des Schamanismus und der Ekstase, Ma- gie, Masken und Fetische haben mit Verwandlungen von Men- schen und Dingen zu tun; und bis in die monotheistischen Hoch- religionen hinein spielen Vorgänge der ‚Wandlung‘ ‒ etwa die Wandlung des Brots in den Leib Christi ‒ eine entscheidende Rolle.82 83 Beispielhaft für die Bedeutung der Verwandlung stehen die ‚Metamorphosen‘ Ovids, ein in Hexametern geschriebenes Epos, das in der Zeit um Christi Geburt entstand.84 Ovid fasst in seinem Werk 250 Mythen der griechischen und italienischen Überliefe- rungen zusammen. Er greift die Tatsache auf, dass Mythen häufig Verwandlungsgeschichten zum Gegenstand haben, etwa wenn Götter sich in Menschen, Pflanzen, Tiere oder Sternbilder verwan- deln, und er stellt seine ganze Darstellung auf diese Wandlungen ab. Die Einzelmythen, schreibt Kindlers Literaturlexikon, verweben sich in den Metamorphosen zu einem höchst ungewöhn- lichen erzählerischen Ganzen. Dem Epos fehlt nicht nur ein zentra- ler Held sondern überhaupt ein durchgehender, tragender Stoff. […] Der herrschende Grundgedanke, der diese Erzählmasse zusammen- hält, liegt in dem mit leitmotivischer Beharrlichkeit in jeder der Sagen wiederkehrenden Prinzip der ‚Verwandlung‘ (griech. meta- morphosis), d. h. die Sagen werden vor allem um der mythischen Verwandlung willen erzählt, die ihre Gestalten erleiden.85 82 Interessanter Weise heißt die Wandlung auch ‚Transsubstantiation‘, wobei die Substanz der philosophischen Tradition nach gerade das ist, was sich nicht wandeln kann. 83 Die Werbung nimmt diese Tradition auf und ist geradezu obsessiv mit magischen Verwandlungen befasst: „Wenn aus Herrn Weber Sebastian wird, wenn aus Nachbarschaft Freundschaft wird, wenn aus Bier Bitburger wird […]“ (Werbespot Bitburger, 2013, http://www.youtube.com/watch?v=PFmbLOj_Rc0, 7.5.2013); sowie, eventuell in ironischer Bezugnahme: „Wenn aus Ketchup salsa picante wird, wenn aus Brötchen panes deliciosos werden, wenn aus Sauerrahm crema fresca wird, wenn aus einem Burger zum ersten Mal chilli con carne wird, wie man es noch nie gegessen hat, und wenn aus Georg Jorge wird, dann sind in Deutschland wieder: los wochos.“ (Werbespot McDonald‘s: Los Wochos 2013, http://www.youtube.com/watch?v=z1eeEYRXpCE, 7.5.2013). 84 Ovid: Metamorphosen. München: 1981. 85 Kindlers Literatur Lexikon: Eintrag: Metamorphoseon Libri. Bd. 8, München: DTV 1986, S. 6262-6263, hier: S. 6262. Zu Ovids Metamorphosen vgl.: Reber, Ursula: Formenverschleifung. Zu einer Theorie der Metamorphose. München: Fink 2009. KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 49 Der Text beginnt mit der Entstehung der Welt aus der rohen, unge- ordneten Masse des Chaos, d. h. mit einer Schöpfungsgeschichte; 86 und er endet in Ovids Gegenwart mit dem Tod Caesars und seiner Verwandlung in einen Stern.87 Auf diese Weise kehrt das Prinzip der Verwandlung, das die einzelnen Mythen bestimmt, auf der Ebene des Ganzen wieder. Zum Zweiten zeigt Kindler eine Ver- bindung zur literarischen Form: Der wichtigen Kategorie des Faktischen wird nur eine verschwin- dend geringe Bedeutung beigemessen. Statt dessen erscheint das ‚Epische‘ hier in einem tiefen Sinn an die leitende Idee der Ver- wandlung geknüpft. Sie umschließt für Ovid die ganze unermeß- liche Vielfalt des welt- und menschheitsgeschichtlichen Prozesses […]. Damit hat das antike Epos den letzten Rest der ihm noch an- haftenden religiös-kultischen Funktionalität abgestreift und einen autonomen Sinn erhalten.88 These also ist, dass sich ein Schritt in Richtung Säkularisierung ereignet, insofern es nun die literarische Form, die Form der Er- zählung, ist, die die Verwandlung trägt. In meiner Perspektive ist dieser Punkt sehr interessant, weil damit eine mediale Form die Last übernimmt, die vorher der Mythos, das metaphysische Kon- strukt, zu tragen hatte. Und selbstverständlich führen die meisten Formen von Erzählungen Verwandlungen vor, ebenso der Film, und allgemeiner all jene Künste und Medien, die die Achse der Zeit, und damit die Veränderung, in den Mittelpunkt stellen. 2. Trajectories Wenn es um Wandel und Veränderung geht, wird im englischen Sprachraum, und besonders im Umfeld poststrukturalistischer Texte, häufig mit ‚trajectories‘ argumentiert.89 Der Begriff ist abge- leitet von der Flugbahn eines Geschosses, der ballistischen Kurve, und wird von dort aus verallgemeinert; Webster definiert: 86 Ovid, Metamorphosen, a. a. O., S. 9. 87 Ebd., S. 368f. 88 Kindler, a. a. O. 89 Für den Hinweis danke ich Oliver Leistert; vgl.: ders.: Mobile Media: Protest and Surveillance. On the Political Rationality of Ubiquitous Individual Connectivity, S. 2ff., http://digital.ub.uni-paderborn.de/hs/content/titleinfo/555530, 2.7.2013. 50 1 PROZESSIEREN Trajectory: 1.): the curve that a body (as a planet or comet in its orbit or a rocket) describes in space; 2.): a path, progression, or line of development resembling a physical trajectory, ,an upward career trajectory‘.90 Amazon weist allein 2.500 Buchtitel nach, in denen der Begriff vorkommt;91 von ‚Trajectories‘ wird in den unterschiedlichsten Feldern gesprochen, in- und außerhalb der Medien, und mit Blick auf Phänomene in unterschiedlichem Maßstab ‒ von konkret bis abstrakt, und von winzig kleinen Veränderungen bis hin zu globa- len Umbrüchen. ‚Computing with Spatial Trajectories‘ stehen ,The Long Trajectory. The Metaphysics of Reincarnation and Life after Death‘ gegenüber.92 ‚Trajectories‘ benennen Wandlungsprozesse nahezu aller Art; deshalb sollen sie hier, im Kontext des Prozessie- rens, kurz reflektiert werden. Besonders interessant an diesem Konzept ist die materialistische Konnotation. Während die Verwandlung selbst häufig Immateri- elles betrifft, also eher kulturelle und soziale Verschiebungen, Ver- änderungen der Bedeutung, also des Signifikats, scheint der Be- griff selbst immer schon auf der Seite des materiellen Signifikan- ten zu stehen. Der Weg, den das Geschoss nimmt, macht die Ver- bindung zwischen Vorher und Nachher unmittelbar deutlich. Offensichtlich also handelt es sich um eine Metapher, die die An- schaulichkeit der ballistischen Kurve nutzt, um Prozesse des Wan- dels zu fassen, die für sich genommen wesentlich weniger an- schaulich sind. Und selbstverständlich gibt es eine große Anzahl ähnlicher Sprechweisen. Insbesondere Metaphern des Weges und der Fort- bewegung, der räumlichen Veränderung und des Reisens scheinen geeignet, Veränderungen ein Gesicht zu geben, die eigentlich die Qualität, und das heißt die inneren Eigenschaften des Dargestellten betreffen. Dies gilt für den ‚Fort-Schritt‘ ebenso, wie für die 90 Merriam Webster Online Dictionary: Eintrag Trajectory, http://www.merriam- webster.com/dictionary/ trajectory, 6.5.2013. 91 Abgefragt am 6.5.2013. 92 Die Beispiele sind willkürlich herausgegriffen: Zheng, Yu; Zhou Xiaofang (Hg.): Computing with Spatial Trajectories. New York, NY: Springer 2011; Weiss, Eric M.: The Long Trajectory. The Metaphysics of Reincarnation and Life after Death. Bloomington, IN: iUniverse 2012. KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 51 ‚Richtung, die eingeschlagen wird‘, den ‚Übergang‘, den ‚Weg nach Europa‘ und den ‚Entwicklungsschub‘.93 Märchen und Erzählungen knüpfen die Entwicklung des Helden häufig an Reisen und Wege; der Held verlässt seine Heimat; er wird Abenteuer bestehen, und gereift und zu einem anderen ge- worden schließlich zurückkehren. Das Roadmovie organisiert sein Material entlang einer Straße; wer ein Buch liest, folgt dem Weg der Zeile; und wer im WWW stöbert, ‚navigiert‘ im Cyberspace. Meine Behauptung nun ist, dass es bei diesen Weg-Metaphern nicht ausschließlich um Metaphorik und Veranschaulichung geht. Das Problem der Darstellung vielmehr reicht tiefer, insofern man fragen kann, was qualitative Veränderungen überhaupt sind, und in welchem Verhältnis sie zu ihrer Wahrnehmbarkeit und zur Mög- lichkeit ihrer medialen Darstellung stehen. Für die Frage nach dem Prozessieren ist dies von großer Be- deutung. Prozessieren als Eingreifende Veränderung betrifft den praktischen Umgang mit Medienprodukten; am plastischsten auf der Seite der Produktion, der Formgebung oder In-Formation. Gleich- zeitig gibt es offensichtlich Stellen des Übergangs, wo mediale Form (Erzählung, lineare Abfolge, Zeile) und bestimmte Inhalte sich berühren; Veränderung und Wandel auf der Ebene des Inhalts schei- nen ‒ auch dies wird bei Lessing bereits diskutiert94 ‒ bestimmte Medien zu favorisieren, um zur Darstellung zu gelangen. Und ausgehend hiervon kann man fragen, auf welche Weise sich das Prozessieren selbst niederschlägt im Produkt. Prozessieren und Prozess, hatte Marx gesagt, kommen im Produkt zum Still- stand.95 Und das Prozessieren hinterlässt Spuren; im Inhalt selbst, den es durch den Eingriff verändert hat, und im Verhältnis zum Medium, in dem es sich artikuliert. In der Folge ist mit einer ‒ durchaus komplizierten ‒ Wechsel- beziehung zwischen drei Arten von Prozessen zu rechnen: [1.] Veränderungen / Wandel auf der Ebene des Inhalts, [2.] den Geset- zen des Mediums, das regelt, wie Veränderung und Wandel zur Darstellung kommen, und [3.] der Einschreibung, die das Prozes- 93 Vgl. z. B.: Schieder, Siegfried: Die gestaltende Kraft von Sprachbildern und Metaphern. (Diss., Uni Trier 2006), S. 502ff., ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/ 2010/598/pdf/Schieder_13102006.pdf, 9.5.2013. 94 Lessing, Laokoon, a. a. O. 95 Wobei ‚Stillstand‘ wieder eine Fortbewegungsmetapher ist. 52 1 PROZESSIEREN sieren selbst im Produkt hinterlässt. Auch hierzu werde ich im dritten Teil meines Buchs eine Überlegung liefern. Im Vorgriff hierauf sei gesagt, dass Raum und Zeit eine heraus- ragende Rolle spielen. Raum hat die Eigenschaft, auf relativ mühe- lose Weise anschaulich zu sein, sicherlich ein Grund dafür, dass nahezu alle Medien räumliche Anordnungen zur Darstellung nut- zen, und viele Medien auch solche Gegenstände, die genuin nicht räumlich sind, auf die vertraute Erfahrung des Raums zurückproji- zieren. Die Metapher des Wegs bringt neben dem Raum zusätzlich die Zeitachse ins Spiel. Wenn es um Wandel und um Veränderung geht also werden Medien häufig Weg und Bewegung in Anschlag bringen. Mit dem zusätzlich verwirrenden Punkt, dass ein ‚Weg‘ ‒ blickt man auf die Trias der drei Medienfunktionen ‒ eher ins Terrain der Übertragung als in das des Prozessierens fiele … 3. Produkt-Identität Wenn Prozessieren Eingreifende Veränderung ist, dann steht dies in Spannung zur Identität des Produkts. Die Eingreifende Verände- rung löst das Produkt in seine Bestandteile auf, bearbeitet diese oder re-arrangiert sie, und konstituiert am Ende des Zyklus’ das Produkt mit einer neuen Identität neu. Hier ist man an die ‚Transformers‘ erinnert, eine Serie von Spielfilmen und von Spielzeug-Actionfiguren, die eine japanisch- amerikanische Firmenkoop seit 1984 in die Kinderzimmer liefert.96 Die Actionfiguren haben jeweils zwei Identitäten; ein unbezwei- felbar dinghaft solides Objekt lässt sich mit wenigen Handgriffen in ein verblüffend anderes verwandeln (→ Abb. 5, S. 53). Dass die Identität der materiellen Dinge – zumindest auch – ein Gefängnis ist, hat am entschiedensten Adorno herausgearbeitet.97 Höhnisch treten sie uns gegenüber mit ihrer materiellen Beharrungskraft und der Behauptung, stets und immer das Gleiche zu sein. Gerade wenn es sich um hoch spezialisierte Dinge handelt, erscheint die Stabilität der Form, die ja auf die Wertsetzungen und Zwecke der Vergangenheit zurückgeht, diese festschreibt und in eine mögli- 96 Der vierte Spielfilm der Reihe kam 2014 in die Kinos. 97 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. In: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 53 cherweise bereits ganz andersartige Gegenwart als Fremdkörper einbringt, als ungleichzeitig und starr. An der Mode und den Moden vergangener Architektur wird dies in besonderer Weise deutlich.98 Abb. 5: Transformers Transformers machen hier ein Versprechen. Sie stehen für die Utopie, dass die Dinge ihre Identität abschütteln, also gleichzeitig sie selbst und auch ganz anders sein können. Die Verwandlung ist nicht nur verblüffend, sondern zumindest für Kinder sicherlich magisch und eine Art Wunder. Und gleichzeitig dementieren sie – mit gesteigertem Hohn? – das Versprechen, insofern es nur eine einzige, ebenfalls starre Alternative gibt, und immer schon fest- steht, dass die Verwandlung nicht mehr ist als die Rückkehr zu einer vordefinierten zweiten Identität.99 Die tatsächliche Utopie dagegen wäre eine resultatoffene Veränderung. Wenn Kinder spie- len etwa, kann ein Stuhl nacheinander eine Höhle, ein Turm oder ein Lastwagen sein. Die Praxis des Spiels und die Phantasie ge- 98 Sehr interessant zu diesem Punkt war die Debatte um das Verhältnis von Archi- tektur und ‚Neuen Medien‘; vgl. z. B. Pawley, Martin: Architektur im Kampf gegen die neuen Medien. In: Iglhaut, Stefan; Medosch, Armin; Rötzer, Florian (Hg.): Stadt am Netz. Mannheim: Bollmann 1996, S. 27-38; Mitchell, William J.: Ziegel oder Bits? Ebd., S. 64-70. 99 Dies übrigens gilt nur für die Spielzeuge, die Spielfilme können kompliziertere Metamorphosen zeigen. 54 1 PROZESSIEREN winnen dem Objekt Neues ab, gerade, indem sie es in seiner Sub- stanz unangetastet lassen. Der Eingreifenden Veränderung ist diese Qualität nicht gege- ben. Auch wenn der Eingriff selbst resultatoffen ist, und nicht fest steht, zu welcher neuen Identität die Transformation führt, so steht eben doch fest, dass am Ende ein neues Produkt, eine neue Identi- tät stehen wird. Alternative wären solche Praxen, die wie die künstlerische Performance oder das Theater eine Reifizierung ziel- gerichtet vermeiden; in den meisten Fällen aber mündet mediales Prozessieren in ein neues Produkt. 4. Das Neue Wandel und Verwandlung haben es, insbesondere dann, wenn die Verwandlung resultatoffen ist, auf spezifische Weise mit dem Neuen zu tun; und jede Überlegung zum Prozessieren hat hier einen ihrer Bezugspunkte, gerade dann, wenn man das Prozessie- ren als qualitative Veränderung fasst und konfrontiert mit der Tat- sache, dass Übertragen und Speichern ‚Stillstellung‘ verlangen. Als einen einzelnen Autor, der sich über das Neue Gedanken gemacht hat, greife ich Boris Groys heraus. Der Bezug auf das Neue, schreibt Groys, ist ein Kennzeichen der Moderne.100 Moder- nisierung beruht auf Innovation; mit der Aufklärung tritt die Rolle des Schöpfergottes als Weltgestalter zurück und geht, spätestens in der Romantik, auf die Figur des schöpferischen Menschen, des Genies, über; in der Industrialisierung ergänzt durch die des geni- alen ‚Erfinders‘. Von einem Denker, Künstler oder Literaten wird gefordert, daß er das Neue schafft, wie früher von ihm gefordert worden war, daß er sich an die Tradition hält und sich ihren Kriterien unterwirft. Das Neue in der Moderne ist nicht mehr das Resultat einer passiven, un- freiwilligen Abhängigkeit vom Zeitwandel, sondern Produkt einer bestimmten Forderung und einer bewußten Strategie, die die Kultur der Neuzeit beherrschen.101 ‚Denker‘, Kunst, Handwerk und Industrie bringen das Neue in die Welt, auf jeweils unterschiedliche Weise und ein jeweils unter- 100 Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt am Main: Fischer 1999 (EV: 1992). 101 Ebd., S. 10. KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 55 schiedliches Neues. Und gleichzeitig, hebt Groys hervor, bleibt das Neue auf das bezogen, was schon besteht; per definitionem, inso- fern das ‚Neue‘ ein relationaler Begriff ist, der einen Bezugspunkt im ‚Alten‘, Bestehenden braucht, und darüber hinaus in der Sache: Das Neue wird vor allem immer dann gefordert, wenn alte Werte archiviert und dadurch vor der zerstörerischen Arbeit der Zeit ge- schützt werden. Wo keine Archive existieren, oder sie in ihrer phy- sischen Existenz bedroht sind, wird die Weitervermittlung der in- takten Tradition der Innovation vorgezogen. […] Erst wenn die Er- haltung des Alten technisch und zivilisatorisch gesichert zu sein scheint, beginnt das Interesse am Neuen, denn es erscheint dann überflüssig, tautologische und epigonale Werke zu reproduzieren, welche nur das wiederholen, was in Archiven schon längst enthalten ist.102 Bezugspunkt, Gegenüber und Widerpart des Neuen, dies ist im hier verfolgten Zusammenhang interessant, ist das Archiv. Und von dessen Bestand stößt sich nicht nur das Neue, sondern auch ein bestimmtes Selbstbild des Menschen ab, das mit der Moderne auf- tritt und das für die Moderne kennzeichnend ist: Wäre der Mensch nicht ‚lebendig‘, das heißt anders in Bezug auf jede ‚tote‘ Kultur, dann unterschiede er sich nach dieser Vorstellung nicht von einer Maschine, die ständig nach ein und demselben Pro- gramm arbeitet, bis sie nicht mehr geht. Aus dieser Vorstellung von der Kultur als Summe unveränderlicher Muster und deren stereo- typer Reproduktion erwächst der Appell an Gott, das Sein, das Leben oder die Differenz, welche die Kultur gewissermaßen ver- steckt umprogrammieren und so das Neue in ihr hervorbringen. Der Ursprung des Neuen kann danach nur das Vergessen der kulturellen Tradition und der Verzicht auf die Summe von Vorurteilen, toten Konventionen und überlebten Formen sein sowie die Verkündigung des Anderen an sich.103 Deshalb genießen in der Moderne die Theorien der Natur, des Be- gehrens oder des Unbewußten, die vom Anderen sprechen, oder die 102 Ebd., S. 23; innerhalb der Medienwissenschaften bestimmt dieser Gedanke die Theorien zur Schrift: Erst die Möglichkeit der schriftlichen Aufzeichnung befreit die Kultur aus der Notwendigkeit, Inhalte / Traditionen durch rituelle Wiederholung stabilisieren und bewahren zu müssen. Mit der schriftlichen Aufzeichnung, sagt Flusser, tritt die zyklische Auffassung von Zeit in den Hintergrund und es entsteht eine neue, lineare Auffassung von Zeit, und damit Raum für das Neue. (Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göt- tingen: Immatrix 1987, S. 11ff.). 103 Ebd., S. 29. 56 1 PROZESSIEREN Kunst, die das Andere zu zeigen sucht, die größte Aufmerksam- keit.104 Groys zeigt weiter, dass es beim Neuen nicht einfach ums Andere, sondern um ein als ‚wertvoller‘ etikettiertes Anderes geht.105 Es tritt also eine Wertsetzung hinzu, die sich wiederum nur auf die Vergangenheit, aufs Archiv, stützen kann. Diese Spur kann ich hier nicht weiterverfolgen. Zudem wird die etablierte Rede von Moderne und Modernisie- rung, die Groys als interpretatorischen Rahmen in Anspruch nimmt, von anderen Autoren als implizit teleologisch, als eine Variante der ‚große Erzählungen‘ kritisiert.106 Dies wird man be- denken müssen. Das Neue und das Problem des Neuen aber be- rührt dies kaum; so gibt es Wirtschaftstheorien, die zumindest die Medienwirtschaft vollständig an Innovation und an Überraschung binden,107 und auf einer noch viel basaleren Ebene geht der Begriff der Information selbst ‒ zumindest in seiner nachrichtentechni- schen Fassung ‒ auf ein bestimmtes Konzept des ‚Neuen‘ zurück. Wenn Shannon/Weaver den Informationsgehalt einer Botschaft als umgekehrt proportional zur Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens definieren, dann ist die Information umso größer, je weniger sie zu erwarten ist. Das Gegenüber der ‒ so gefassten, technischen ‒ In- formation ist die Redundanz; und Groys zitiert diese Vorstellung indirekt, wenn er vom Neuen auf das Archiv und auf das Beste- hende zurückschließt. 5. Emergenz Eine besondere, und eine besonders interessante Fassung des Neuen verfolgen die Theorien der Emergenz. ‚Emergent‘ werden Phänomene genannt, die aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile nicht plausibel erklärt werden können. Ein privilegiertes Beispiel ist die Entstehung des ‚Lebens‘ innerhalb der Evolution, die als ein 104 Ebd., S. 30. 105 Ebd., S. 42ff. 106 Vgl. z. B.: Bonacker, Thorsten; Römer, Oliver: (Post)Moderne. In: Baur, Nina; Korte, Hermann; Löw, Martina; Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2008, S. 355-372, hier: S. 362. 107 Hutter, Michael: Neue Medienökonomik. Neue ökonomische Bibliothek. Mün- chen: Fink UTB 2006. KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 57 ‚qualitativer Sprung‘, und ‒ allen Erkenntnissen der Naturwissen- schaften zum Trotz ‒ als nach wie vor unerklärlich erscheint.108 Andere Beispiele bewegen sich in kleinerem Maßstab, so werden auch das Verhalten von Menschenmassen oder kognitive Prozesse als emergent modelliert. Emergenz hat eine synchrone Dimension, insofern es ‒ deskrip- tiv ‒ um die Frage geht, wie sich Teile und Ganzes zueinander ver- halten. Vor allem aber wird der Begriff verwandt, um diachrone Prozesse, also Entwicklungen zu beschreiben.109 Die Tatsache, dass emergente Phänomene unerklärlich sind, bindet die Emergenz ‒ durchaus überraschend ‒ zurück an das Wunder. Entsprechend hat man gegen das Konzept eingewandt, es sei nicht mehr als ein Verlegenheitsbegriff, ein Platzhalter, der für die Tatsache der Unerklärlichkeit ein neues, wissenschaftliches Etikett finde. Das aber ist nicht vollständig der Fall; so haben die Überlegungen zur Emergenz durchaus Türen geöffnet, zur Unter- suchung von Phänomenen der Selbstorganisation,110 der System- entstehung111 und z. B. auch der Automatismen.112 Alle drei ge- nannten Bereiche können Emergenz zwar gleichfalls nicht erklä- ren, sehr wohl aber Einzelmechanismen benennen, die bei der Ent- stehung zumindest bestimmter Fälle von Emergenz eine Rolle spielen. Im Zusammenhang mit dem Prozessieren ist die Emergenz aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen in Bezug auf das Neue: Emergente Phänomene sind im emphatischen Sinne neu, insofern etwas entsteht, das in keiner Weise absehbar ist. Zum Zweiten haben emergente Phänomene mit dem Prozessieren gemeinsam, 108 Selbstverständlich, wird man einschränken müssen, gibt es in diesem Fall Erklärungen von Seiten der Naturwissenschaften. Keine dieser Erklärungen aber ist so mächtig, dass auf ihrer Basis der technische Nachvollzug dieses Sprungs, also die Synthese von Leben aus unbelebten Bestandteilen, möglich wäre. Insofern leisten sie einstweilen nicht wesentlich mehr als die Schöp- fungsgeschichte, die ebenfalls eine Erklärung der Entstehung des Lebens war. 109 Vgl. Stephan, Achim: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorga- nisation. Paderborn: Mentis 2007, S. 26ff. (EV: 1999). 110 … das genannte Buch von Stephan trägt die Selbstorganisation bereits im Titel. 111 Emergenz ist ein prominenter Begriff auch bei Luhmann (ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 43ff. (EV: 1984)). 112 Das Graduiertenkolleg ‚Automatismen‘ der Universität Paderborn etwa defi- niert Automatismen als ‚Mechanismen der Strukturentstehung jenseits geplanter Prozesse‘. (http://www.uni-paderborn.de/institute-einrichtungen/ gk-automatismen/, 10.6.2012). 58 1 PROZESSIEREN dass nicht in allen Fällen ein Subjekt und ein Handlungsmodell unterstellt werden können. Zudem geht es in beiden Fällen um die Entstehung von Ordnung, um Strukturgewinn, und schließlich um eine Relation zwischen Mikro und Makro, insofern die Emergenz Teil-Ganzes-Beziehungen zu fassen versucht und auch im Fall des Prozessierens immer wieder die Notwendigkeit auftaucht, zwi- schen Mikro und Makro, zu unterscheiden. 6. Kleiner Wandel, großer Wandel In Ovids Metamorphosen tritt diese Frage auf, wo jene Wand- lungsprozesse, die Gegenstand der Einzelmythen sind, eingebettet werden in ein Werk, das ‒ von der Schöpfung bis zur Gegenwart ‒ die Weltgeschichte insgesamt als einen Wandel beschreibt. Hier ist es die Narration, die Mikro und Makro verbindet. Geschichte und Weltgeschichte bilden den Rahmen, der den Einzelverwandlungen ihren Ort gibt; und umgekehrt wird unterstellt, dass die großen, geschichtlichen Veränderungen ihre Basis in ‚lokalen‘ Verwand- lungen haben, die, das ist die Eigenschaft von Mythen, singulär und spezifisch, ereignishaft, und insofern keineswegs einfach aus- tauschbar sind. Das Prozessieren wäre sicherlich zunächst dem ‚kleinen Wan- del‘ zuzuordnen. Weder aber wird man unterstellen können, dass die fraglichen Prozesse den Charakter singulärer, nicht-austausch- barer Ereignisse haben, noch, dass der kleine und lokale Wandel bruchlos in den großen der Geschichte übergeht. Dies ist wichtig, weil verschiedene Begriffe, die im Umfeld eine Rolle spielen, ge- nau dieses unterstellen würden; Beispiel seien die ‚Trajectories‘, die, wie dargestellt, leichtfüßig von Mikro zu Makro springen. Prozessieren beschreibt Prozesse der Verwandlung, die ‚lokal‘ und von Geschichte zunächst abgekoppelt sind. Und gleichzeitig ist es ‒ selbstverständlich ‒ dennoch sinnvoll, nach dem Übergang zu fragen …113 113 Zur Transformation als Mikroebene der Mediengeschichte siehe z. B.: Beil, Benjamin; Engell, Lorenz; Schröter, Jens; Schwaab, Herbert; Wentz, Daniela: Die Serie. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Zeitschrift für Medienwissen- schaft, Nr. 7, 2/2012, S. 10-16. KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 59 7. Probehandeln Ein Faktor, der verhindert, dass Prozessieren in Geschichte unmit- telbar übergeht, ist die Tatsache, dass das Prozessieren ‒ obwohl in vielen Fällen materieller Eingriff ‒ symbolische, und eben keine materiell-tatsächlichen Prozesse betrifft. Das Terrain des Symbo- lischen, dies habe ich an anderer Stelle gezeigt, kann man über den Begriff des Probehandelns definieren.114 Innerhalb der Gesellschaft wird eine Sphäre abgegrenzt, die zwar tatsächlich-materiell ist, deren Operationen gleichzeitig aber von tatsächlichen Konsequen- zen abgekoppelt sind. Bestimmte Dinge werden ausgewählt, die als Zeichen, als Signifikanten, Spielsteine verwendet werden, und es wird die implizite Vereinbarung getroffen, dass Handlungen in der Sphäre des Symbolischen keine tatsächlichen Konsequenzen haben. Zentral ist, dass es sich um reversible Prozesse handelt. Nur auf dieser Basis ist ein reversibles Probehandeln möglich, das die Sphäre des Möglichen auslotet, ohne unmittelbar die Konsequen- zen tragen zu müssen. Auch wenn diese Bestimmung keineswegs Konsens ist, kann man hieraus eine weitere Eigenheit ableiten, die für das Prozessie- ren wichtig ist. Prozessieren hat am Probehandeln Anteil, weil es ganz und völlig auf dem Terrain des Symbolischen verbleibt. Der Wandel, den es vorführt, ist ein inszenierter, probehafter Wandel, und damit ‒ in gewissem Maße ‒ abgekoppelt von der Welt. Dies zu betonen ist notwendig, gerade wenn man die materielle Pro- duktion als Referenz benutzt. Ein valenter Begriff des Prozessie- rens wird systematisch einbeziehen müssen, dass es um symbo- lische und eben nicht um ‚tatsächlich‘-irreversible Prozesse geht. 8. Poiesis Und gleichzeitig ist Prozessieren ‒ als Hervorbringung des Neuen ‒ Poiesis. „Poiesis (griechisch ‚herstellendes Tun‘)“, schreibt Hubert Zapf,115 ist der 114 Winkler, Diskursökonomie, a. a. O., S. 63ff. Ich werde später, im Kapitel 3.1, auf das Probehandeln zurückkommen. 115 Zapf, Hubert: [Stichwort: Poiesis]. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kultur- theorie. Stuttgart/Weimar 1998, S. 429f. 60 1 PROZESSIEREN seit Aristoteles verwendet[e] Begriff für die welterzeugende Tätig- keit der dichterischen Einbildungskraft. Die Poiesis betont gegen- über der in der Mimesis herausgestellten Nachahmung einer außer- literarischen Wirklichkeit den Charakter des literarischen Werks als Hervorbringung einer dem handwerklichen Können und der Imagi- nation des Künstlers entsprungenen Eigenwelt der Dichtung […]. In den semiotisch und konstruktivistisch ausgerichteten neueren Literatur- und Kulturtheorien hat Poiesis im allgemeinen Sinn pro- duktiver Hervorbringung […] Bedeutung gewonnen, etwa im Be- griff ‚poietischen Könnens‘, den J. Mittelstraß als Schlüsselbegriff für den schaffenden, neue Möglichkeiten hervorbringenden Geist der Neuzeit ansetzt, oder in der ‚Autopoiesis‘ als Eigenschaft sich selbst erzeugender und reproduzierender biologischer, kultureller und textueller Systeme […].116 Prozessieren gehört in dieses Feld, sofern man den Begriff in den größeren Zusammenhang philosophisch etablierter Konzepte ein- ordnen will. Nun wird wichtig, dass Poiesis ‒ qua definitionem ‒ in Spannung zur Mimesis steht. Mimesis wurde traditionell als ‚Nachahmung‘ verstanden, und abgeleitet davon als die Grundlage des Weltbezugs der Zeichen, aller zeichenhaften Repräsentation. Inzwischen allerdings gibt es neuere Ansätze, die an der Mimesis nicht den Bezug auf die tatsächliche Welt, sondern Bezugnahme auf historische Vorläufer ‒ also die Nachahmung von Vorlagen ‒ hervorheben.117 Wenn man dieser Vorstellung folgt, ergibt sich, dass Mimesis und Poiesis strikt komplementär gedacht werden müssen: Während Mimesis für die Bezugnahme auf die Vergan- genheit steht, eröffnet Poiesis die Dimension einer unabsehbaren Zukunft. Es ist also der gleiche Zeitpfeil, der Mimesis und Poiesis organisiert: Mimesis blickt in die Vergangenheit, Poiesis blickt nach vorn. Für die Frage nach dem Prozessieren hat dies unmittelbare Kon- sequenzen. Hier bedeutet Mimesis die Bezugnahme aufs Archiv, auf die Speicher; das Prozessieren selbst wäre Poiesis. Und zwi- schen beiden würde sich eine neue, systematische Wechselbezie- hung ergeben. Ganz neu allerdings ist diese Wechselbeziehung nicht, vielmehr ist man an die Transkriptions-These bei Jäger und Jarke erinnert; 116 Ebd. (Hervorh. H. W.; griechisch, Poiesis, literarisch und Literatur im Original abgekürzt). 117 An der Bauhausuniversität Weimar wird gegenwärtig eine Forschergruppe zum Thema Mimesis etabliert, die u. a. diese These verfolgt (unveröff. Man. 2013). KAPITEL 1.3 METAMORPHOSEN, DER WANDEL, DAS NEUE 61 hatten diese doch geschrieben, dass Schreiben immer Umschreiben ist: die Entnahme von Präskripten (Vorlagen) aus dem Archiv, dann die Transkription, die dem Prozessieren entsprechen würde, und schließlich die Rück-Übergabe der Resultate wieder ans Archiv. In diesem Schema wäre der erste Schritt mimetisch, der zweite Poiesis. Der dritte Schritt würde das Terrain, das Mimesis und Poiesis umreißen, verlassen. Das Prozessieren als Poiesis zu verstehen kann nicht bedeuten, jedes Operieren von Medienmaschinen in die Nähe von Kreativität und Dichtung zu rücken und eine Medienfunktion, die durchaus auch sehr triviale und mechanische Seiten hat, durch den Bezug auf die philosophische Ästhetik zu adeln. Gleichzeitig ist es wich- tig, in neu geprägten Begriffen auch traditionelle Bestände wieder aufzufinden, und zu prüfen, was neu, und was eben auch in tradi- tionellen Konzepten abbildbar ist. Und eigentlich ist es gerade umgekehrt: erst wenn man das Pro- zessieren in den Kontext anderer, weitreichenderer Metamorphosen stellt, kann man verhindern, dass von vornherein nur mechanische Konnotationen in den Blick kommen. Viele Typen Eingreifender Veränderung aber haben mit Mechanik nichts zu tun; und auch sie wird man angemessen berücksichtigen müssen, wenn das Konzept des Prozessierens nicht vorschnell und mit weitreichenden Konse- quenzen verkürzt werden soll. Kapitel 1.4 TRANSFORMATION UND FORM Ein weiteres der genannten Theorieprobleme ist das der Form. Wenn von ‚Transformationen‘ die Rede ist, klingt der Begriff zwangsläufig an, ebenso wie im Fall der Metamorphose, heißt μορφή im Altgriechischen doch ebenfalls Form, sodass μετα- μορφόω umgestalten und μεταμόρφωσις die Verwandlung in eine andere Gestalt bezeichnet.118 Hier komme ich auf die Überlegung zurück, dass Prozessieren über Form, Formveränderung und Form- wechsel bestimmt werden kann. ‚To convert something from one form to another‘, war oben eine der Definitionen. In der Sache bedeutet dies, dass es Anschlüsse gibt an die sehr komplexen philosophisch-ästhetischen Theorien zu Medien und Form.119 So hat z. B. Leschke ein Buch vorgelegt, das die Form- genese innerhalb der Medien zum Gegenstand hat120 und inter- essanter Weise auch Metamorphosen behandelt,121 Krämer schreibt über ‚Form als Vollzug‘,122 Baecker hat einen bekannten Band edi- tiert,123 und ich selbst habe versucht, zwischen ästhetischer Form und dem Projekt der mathematischen Formalisierung eine Brücke zu schlagen.124 118 Griechisch-Deutsches Schul-Wörterbuch. Leipzig: Teubner 1882, S. 548, 532. 119 Vgl. als erste Orientierung und schon mehr als einschüchternd: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie: Eintrag Form. Bd. 2., Darmstadt: WBG 1972, S. 974-1031. 120 Leschke, Rainer: Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien. Kon- stanz: UVK 2010; Leschkes Projekt ist ein anderes als das hier verfolgte, weil es Leschke nicht um singuläre Formen oder Formwechsel geht. Hauptsächliche Frage seines Buchs ist, wie allgemeine, überindividuelle und transmediale For- men entstehen (ebd., S. 17, 39); entsprechend ist einer der Zeugen Cassirer (ebd., S. 20). 121 Ebd., S. 53f. 122 Krämer, Sybille: Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medien und Form. In: Siemon, Dieter (Hg.): Rechtshistorisches Journal 17. Frankfurt am Main: Löwenklau 1998, S. 558-574, http:77userpage.fu- berlin.de/~sybkram/medium/kraemer 2.html, 30.12.2007. 123 Baecker, Dirk (Hg.): Probleme der Form. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. 124 Winkler, Diskursökonomie, a. a. O., S. 147-169. 64 1 PROZESSIEREN Andere Texte gehen aus von der Transformation. So reflektiert z. B. Schröter verschiedene Typen von Intermedialität und von Transformation.125 Ähnlich wie Paech126 und Spielmann127 stößt er im Kern der Transformation auf Probleme der Form. So schreibt Paech, dass die Überlegungen zur Intermedialität u. a. auf forma- listische und semiotische Ansätze innerhalb der Literaturwissen- schaft zurückgehen: Transformation (Transposition, Transfiguration, Projektion) […]. [Eine] grundlegende Arbeit, die auf der Formseite des Systems der Kunstformen historisch […] und systematisch […] intermediale Korrelationen (re-)konstruiert.128 Bevor man Prozessieren als Formwechsel oder Formveränderung fasst, also sollte man wissen, worum es sich bei einer ‚Form‘ eigentlich handelt. Dies allerdings erweist sich als weitaus schwie- riger als man denken würde, denn mit dem Begriff der Form wur- den historisch wie systematisch sehr unterschiedliche Konzepte verbunden. So kann Form zunächst die Gestalt eines einzelnen Gegenstan- des oder Kunstwerks, eine individuelle Form also, meinen. Dem- gegenüber stehen Konzepte, die als ‚Form‘ gerade das ansehen, was mehrere Dinge oder Kunstwerke verbindet; Stile oder Genres etwa sind werkübergreifende Formen, Konventionen (z. B. Höf- lichkeitsformen) gewinnen erst in einer langen Kette von Einzel- ereignissen Kontur und Gestalt.129 Transformationen ‒ selbstver- 125 Schröter, Jens: Intermedialität, http://www.theorie-der-medien.de/text_druck.php? nr=12, 7.2.2013. 126 Paech, Joachim: Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Inter- medialität. Stuttgart: Metzler 1994; ders.: Intermedialtiät. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theo- rie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Schmidt 1998, S. 14-30. 127 Spielmann, Yvonne: Intermedialität als symbolische Form. In: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 24, 1995, S. 112-117. 128 Paech, Intermedialtiät, a. a. O., S. 15. 129 Leschke, Rainer: Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien. Kon- stanz: UVK 2010, S. 27ff. Ähnlich Krämer: „Der Mensch ist durch seine leibliche Existenz der Bedingung der Zeitlichkeit unentrinnbar anheimgestellt. Doch er entwickelt Strategien des Wiederholens, um diese Irreversibilität der Zeit ‒ zumindest partiell ‒ bannen zu können. Die Hervorbringung von Formen ist unsere Weise dafür zu sorgen, daß ein zeitliches Geschehen seiner Singularität entkleidet wird. Medien nun dienen dem Wiederholen von Formen.“ (Krämer, Sybille: Sprache und Schrift KAPITEL 1.4 TRANSFORMATION UND FORM 65 ständlich ‒ kann es auf beiden Ebenen geben; wenn es hier um das mediale Prozessieren geht aber hätte man sicher zunächst die erste, die Mikroebene, vor Augen. Häufig wird Form in der Entgegensetzung zum Inhalt be- stimmt.130 So evident erscheint, dass Form auf einen Inhalt ange- wiesen ist, den sie formt, so unklar ist, was denn ein Inhalt ohne Form überhaupt wäre. Sind Inhalte denkbar, die vollständig ohne Form sind? Oder gehen Formen immer andere Formen voran? Dies würde bedeuten, dass es nichts als Formwechsel und das heißt Transformationen gäbe. Und mehr noch: häufig ist unklar, um was es sich bei Inhalt und Form überhaupt handelt. Denn offensichtlich sind ganz unter- schiedliche Fälle denkbar. Wenn ein Mikrophon, um ein Beispiel zu nennen, ein akustisches Signal in ein elektronisches verwandelt, und ein Lautsprecher das elektronische zurück in ein akustisches, dann soll, obwohl die Form auf drastische Weise wechselt, der Inhalt, die Botschaft, so weit wie möglich konstant bleiben. Das Prozessieren, die Prozesskette, besteht darin, einen möglichst kon- stanten Inhalt durch verschiedene technische Metamorphosen zu schleusen. In diesem Fall ist Prozessieren, Transformieren, ein Wechsel der technischen Form. Man kann aber auch gerade umge- kehrt denken, und dies wäre der zweite Fall, dass hier gerade die Form ‒ z. B. der Welle ‒ konstant bleibt, obwohl das Träger- medium wechselt. Die Form der Welle, so könnte man sagen, mig- riert durch unterschiedliche technische Medien. Die Frage nach der Transformation also bleibt eigentümlich in der Schwebe; es erscheint ebenso möglich, dass bei konstantem Inhalt die Form wechselt, als auch ‒ verblüffend ‒, dass es gerade die Form ist, die die Transformation unberührt übersteht. Fast ebenso etabliert ist die Entgegensetzung von Form und Materie. Wenn aus einem Tonklumpen ein Krug geformt wird, so erscheint das Ausgangsmaterial Ton auf spezifische Weise amorph. Und dies hat die Philosophiegeschichte in weitere, sehr weitreichende Polaritäten verlängert: In die Gegenübersetzung von Natur und Kultur (als dem Gegebenen und dem Gemachten); in den Descarteschen Dualismus von Materie und Geist, und in die Polarität von aktiv und passiv, insofern man die Materie als ‚pas- oder: Ist Schrift verschriftete Sprache? In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, Nr. 15.1, 1996, S. 92-112, hier: S. 97 (Hervorh. H. W.)). 130 Ritter, a. a. O., S. 975. 66 1 PROZESSIEREN siv‘ und die Formgebung / Gestaltung als ‚aktiv‘ verstanden hat, verknüpft mit einem deutlichen Gender-Bias, der die Form als aktiv-gestaltend, überlegen und männlich konnotiert.131 Die kriti- sche Philosophie der 60er-Jahre und die Kultur- und Gendertheo- rien haben solche Selbstverständlichkeiten (und mit ihnen diesen Formbegriff) nahezu vollständig demontiert. Hiermit eng verbunden ist das Problem der Stabilität der Form. Ist es die Form, die stabil ist, oder das Material, der Inhalt, der Gegenstand, an dem sich der Formwechsel vollzieht? Und noch weiter: Sind die vorfindlichen Dinge nur Exemplare, Instantiierun- gen vorgängig stabilisierter Formen (das wäre die Position klas- sisch idealistischer Philosophien), oder sind Formen gerade umge- kehrt nur Ähnlichkeiten / Gemeinsamkeiten, die an irreduzibel sin- gulären, konkreten Gegenständen erscheinen? Und schließlich die Bestimmung der Form als Abstraktion. Wenn von den Formalsprachen der Mathematik die Rede ist, so ist klar, dass Formalisierung vom Konkreten abrückt und auf das Regelhafte, das Gesetzmäßige zielt. Mathematik und Computer lassen Transformationen nur insofern zu, als sie dem Gesetz ge- horchen und mit den vorformulierten Regeln vereinbar sind. Weniger determinierte, resultatoffenere Transformationen, wie man sie in anderen Medien beobachten kann, müssen deshalb in Spannung zu dieser Vorstellung von Gesetzmäßigkeit treten. Die wenigen Stichworte zeigen, was man sich einhandelt, wenn man mit Transformationen ‒ und das heißt mit Form ‒ argumen- tiert. Und dennoch ist Prozessieren von Transformation und Form nicht zu lösen. Die Bestimmung wird insofern alles enthalten, was die Philosophiegeschichte an unerledigten Problemen mit sich schleppt. Mein Vorschlag ist entsprechend, sich pragmatisch zu beschränken, zunächst einen alltagssprachlichen Begriff von ‚Transformation‘ zu unterstellen und die angesprochenen Probleme als Hintergrund, als Denkanreiz und als mögliche Anknüpfungs- punkte im Kopf zu behalten. 131 Diese Genderkonnotation der Form wird schroff kritisiert z. B. bei Luce Irigaray und Judith Butler (vgl. dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 59ff. (EV, am.: 1993)). Kapitel 1.5 PERFORMATIVITÄT, WANDEL DURCH WIEDERHOLUNG Ein Theoriediskurs, der ebenfalls als Hintergrund der Transforma- tion mit reflektiert werden sollte, ist der der Performativität. Per- formativität wird in der deutschen Medienwissenschaft breit dis- kutiert, vor allem weil das Konzept erlaubt, die Medien in Hinblick auf ihre Handlungsmacht (agency) zu betrachten, und verspricht, eine bestimmte Wirkungsdimension der Medien, die Wirkung symbolischer Prozesse auf die tatsächliche Welt, auf neue Weise zu fassen. Die Theorien zur Performativität gehen zurück auf die Sprechakttheorie Austins und Searles; Jacques Derrida und Judith Butler haben das Konzept medienphilosophisch fruchtbar gemacht. Wie die Transformation enthält auch die Performativität den Begriff der Form. Und mehr noch: Performativität war eines der ersten Konzepte, mit dem man das notwendig Prozesshafte der Medien ins Zentrum gerückt hat; in dieser Dimension steht Per- formativität für Prozesse des Wandels, und für die Kraft der Dis- kurse sich zu erneuern, von etablierten Mustern abzuweichen und neue Wege zu nehmen. Ich möchte dies, möglichst knapp, an einem einzelnen Text von Sybille Krämer zeigen.132 „Auch Judith Butler“, schreibt Krämer, stellt sich die Frage nach der Handlungsmacht der Sprache. Die Originalität ihrer Auffassung besteht allerdings darin, […] daß sie […] [dem] eine neue Drehung gibt, die darin besteht, ‚Performativi- tät in Verbindung mit Transformation zu denken‘.133 Mit der Transformation ‒ selbstverständlich ‒ ist das entscheiden- de Stichwort gefallen. Krämer setzt fort: In der Perspektive des politisch folgenreichen Sprechens interpre- tiert Judith Butler den Sprechakt nicht nur als einen Akt der Kon- stitution, sondern als einen Akt der Transformation. […] [Die] Rolle 132 Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Per- spektiven des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 242, 244. 133 Ebd., S. 242; Krämer zitiert Butler: Haß spricht (Erg. u. Hervorh. H. W.). 68 1 PROZESSIEREN der Rede soll in einer Weise erklärt werden, die sprachliche Perfor- manz nicht nur als Bestätigung und Bewahrung außersprachlicher Kraft- und Machtverhältnisse und sozialer Konventionen deutet, sondern mit dem Wandel von Macht und Konventionen vereinbar macht.134 Für Butler ist dies eine Frage mit weitreichenden Implikationen, weil es ihr um einen letztlich politischen Wandel geht. Krämer selbst stellt auf dieser Basis eine allgemeinere Überlegung an: Schon die Klassiker der Sprechakttheorie, Austin und Searle, hat- ten betont, dass Sprechakte notwendig an Konventionen gebunden sind. Gestützt auf Derrida argumentiert Krämer nun, dass Konven- tionen auf Wiederholung zurückgehen: In jedem Sprechakt sedimentieren sich frühere Sprechakte, gerinnt die Vergangenheit fest und eröffnet dadurch die Zukunft weiterer Sprechakte. Ein Sprechakt ist also kein einmaliger Akt. Es ist dieser Umstand, der dem Sprechen überhaupt erst die Möglichkeit er- schließt, performativ gelingen zu können.135 An dieser Stelle allerdings, schreibt Krämer, verbirgt sich ein Problem; gerade nämlich wenn Performativität mit der ‚Logik der Iterierbarkeit‘ [der Wieder- holbarkeit] erklärt wird und seine Kraft sich der Geschichtlichkeit von Konventionen verdankt, dann kann das Performative zwar zeigen, wie die Macht in Diskursen wirksam wird, aber nicht, wie Macht durch Diskurse gebrochen und verändert werden kann. […]. Das Performative als Ritual wäre dann nicht nur durch und durch konventionell, sondern auch konservativ. So drängt sich für Judith Butler die Frage auf: Ist ‚eine Wiederholung denkbar, die den Sprechakt von den ihn stützenden Konventionen ablösen kann?‘.136 Hier wird es interessant, weil es nun um die angesprochenen Transformationen geht. Und die Lösung bietet ‒ überraschend ‒ exakt dieselbe Wiederholung, die das Problem verursacht; und zwar, weil Wiederholung eben nur nach einer ihrer Seiten hin Sta- bilität produziert: Schon bei Derrida ist es die Pointe der Iterabilität, ein Anders- werden des Wiederholten einzuschließen. Judith Butler greift diesen Gedanken auf und gibt ihm eine bei Derrida so nicht angelegte Wendung. Ein Potential zur Transformation weisen Wiederholungs- 134 Ebd., S. 244 (Hervorh. H. W.). 135 Ebd., S. 252. 136 Ebd. (Hervorh. H. W.). KAPITEL 1.5 PERFORMATIVITÄT, WANDEL DURCH WIEDERHOLUNG 69 verfahren dann auf, wenn die Reproduktion zugleich als die Insze- nierung des Reproduzierten zu begreifen ist. Wenn also das Wie- derholen die [Wieder-] Aufführung des Wiederholten ist. […]. Das Zitieren wird für sie zum Rezitieren, die Signifikation zur Resignifikation, die Kontextualisierung zur Rekontextualisierung. Wenn alles Handeln als menschliches Tun zugleich ein Zeichen- handeln ist, dann ist diese Handlungsfähigkeit (agency) nicht ein- fach die Fähigkeit zum Hervorbringen und Interpretieren von Zei- chen, sondern zum Transformieren und Uminterpretieren über- kommener und übernommener Zeichen. Nicht Zeichen genuin zu erzeugen, sondern die Zeichen, indem wir sie wiederholen, zugleich auch zu verändern: Das ist die für Judith Butler entscheidende Form unserer Kreativität.137 Für die Frage nach dem Prozessieren ist diese Überlegung ein gro- ßer Gewinn, insofern klar wird, dass zumindest dieser zweite Strang der Performativitätsdebatte, der die Möglichkeit zum suk- zessiven Wandel betont, einen ähnlichen Ansatz, ein ähnliches Erkenntnisinteresse und bis in die verwendeten Begriffe hinein ähnliche Motive verfolgt. Die Performativität könnte insofern einen Rahmen bilden, der es möglich macht, das Prozessieren noch einmal neu und anders zu verorten. Weitreichende Implikationen hat vor allem der Rekurs auf die Wiederholung. Es wird deutlich, dass jede einzelne Transformation eingebettet ist in eine Kette von Signifikationsakten, die immer beide Momente, Beharrung / Wiederholung und Innovation, mit- einander verbinden. Die einzelne Transformation, die bis dahin im Mittelpunkt stand, wird aus ihrer Isolation erlöst und eingebunden in einen Diskurs. Das Prozessieren wird dadurch eines Teils seiner Sonderstellung beraubt: Eingreifende Veränderung erscheint nicht mehr als ein einzelner Akt eines eingreifenden souveränen Sub- jekts, sondern als ein Moment von Veränderung und Verschie- bung, das mit allen Formen von Praxen notwendig verbunden ist. Ein weiteres Moment hängt hiermit zusammen. Pointe der Wie- derholung bei Derrida ist ja, dass Subjekt und Intention so gut wie keine Rolle spielen; Verschiebung, Veränderung, Transformation und Eingreifende Veränderung wären insofern auf Vollzug, auf Praktiken allgemein zu beziehen, unabhängig davon, ob sie be- wusst gesteuert oder von Bewusstsein begleitet sind. Wiederholung 137 Ebd., S. 253f. (Hervorh. H. W.). 70 1 PROZESSIEREN bei Derrida ähnelt einem Automatismus;138 auch bei der eingrei- fenden Veränderung ist insofern mit einem Moment von Blindheit zu rechnen. 138 An dieser Stelle sei noch einmal auf die Veröffentlichungen des Graduierten- kollegs ‚Automatismen‘ der Universität Paderborn verwiesen. Kapitel 1.6 GEFORMT UND UNGEFORMT 1. Artikulation Der nächste Aspekt, der hier diskutiert werden soll, scheint zum bisher Gesagten wenig zu passen. Wenn es bislang vor allem um Transformationen, um Umformung ging, also unterstellt wurde, dass das Material, der Gegenstand, den das Prozessieren ergreift und transformiert, vorher bereits eine Form hatte, und wenn auch die Eingreifende Veränderung impliziert, dass Prozessieren Ein- griff in Vorhandenes ist, dann ist nun in gewisser Weise die Gegenprobe zu machen. Prozessieren kann nämlich auch bedeuten, dass etwas, das bis dahin keine ‒ oder sehr wenig ‒ Form hatte, Form erhält. Der Aspekt ist bereits angeklungen, wenn McLuhan als erstes Beispiel für mediale Übersetzung die Übersetzung von Erfahrung genannt hatte.139 Erfahrung ist zunächst wenig geformt und be- kommt erst dann, wenn sie artikuliert, in ein Medium übersetzt wird, überhaupt zweifelsfrei Form. Etwas systematischer ausgearbeitet wird die Frage z. B. bei Füger,140 der sie interessanter Weise als eine Variante der Inter- medialität diskutiert. Von McLuhan übernimmt Füger die These, dass medial Geformtes sich immer auf etwas bezieht, das nicht im selben Maße geformt ist. Beispiel bei McLuhan ist die sprachliche Äußerung, die immer eine Vorgeschichte im ‚Vorsprachlichen‘ hat: „Ins Vorsprachliche verweist uns […] die Frage nach dem medialen Inhalt der Rede: ‚It is an actual process of thought, which is in itself non-verbal‘.“141 139 Die Stelle wurde im Kapitel 1.2, ,Transformieren, Transkribieren, Übersetzen‘ (S. 33ff.) zitiert. 140 Füger, Wilhelm: Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensio- nen eines klärungsbedürftigen Konzepts. In: Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Schmidt 1998, S. 41-54. 141 Ebd., S. 41 (Erg. H. W.). 72 1 PROZESSIEREN Vorsprachlich also sind zunächst die Gedanken, und allgemei- ner alle Vorgänge, die sich im Gefühlsleben dessen abspielen, der die sprachliche Äußerung produziert. Und die Äußerung selbst gibt den vorsprachlichen Gedanken überhaupt erst Form. Vor jedem Gedanken, sagt Füger, aber ist schon die Wahrnehmung quasi- medial organisiert, insofern sie aus dem Strom des Wahrgenomme- nen Merkmale herausfiltert, die wiederum Grundlage der Sprache und der Begriffsbildung sind. Betrachtet man demnach die Ebene dieser Filterungsprozesse als Grundstufe der Mediatisierung, so begänne Intermedialität […] be- reits dort, wo diese (weithin unbewußten) Vorgänge, zu denen neben Wahrnehmungen auch Gefühle gehören, auf der nächsten Stufe der Informationsverarbeitung einem Begriffsbildungs- bzw. Verbali- sierungsprozeß unterzogen, d. h. bewußtseinsintern in Sprache umgesetzt werden.142 Was nämlich vor jedem Medienwechsel zunächst einmal in ein Medium überhaupt umgesetzt wird, sind letztendlich (selbsterfahrene, vermutete oder unterstellte) Bewußtseinsinhalte, -akte und -prozesse; denn auch als gegebener Sachverhalt Präsentiertes basiert originär auf Bewußtseinsvorgängen.143 Viele Grundannahmen bei Füger sind durchaus problematisch; so sieht er relativ unreflektiert das Subjekt und sein Inneres als das Zentrum, als Ursprung und Quellpunkt an, das zunächst Gedanken produziert, um diese dann ‒ sekundär ‒ in mediale Formen zu brin- gen. Und dem entspricht eine Rhetorik des ‚Primären‘, die die ge- samte Begriffswahl bestimmt. Diese subjektzentrierte Sicht ist ‒ auch wenn Füger sich hier mit McLuhan einig weiß ‒ von der post- strukturalistischen Philosophie grundlegend kritisiert worden. Und problematisch ist sicher auch die Rede von neuronalen Netzen, Filterungsprozessen und Informationsverarbeitung, mit der Füger Anschluss an die hard science sucht. Sehr plausibel aber erscheint mir der Kern der These selbst: Dass den medialen Formen etwas gegenübersteht, was nicht im selben Maß oder in derselben Weise geformt ist, jener Raum inner- psychischer Vorgänge, für die Füger Wahrnehmungen, Gedanken- prozesse und Gefühle als Beispiele nennt. Auch wenn man es ablehnt, diese als ‚primär‘ zu verstehen, bleibt die Tatsache, dass 142 Ebd. 143 Ebd., S. 43. KAPITEL 1.6 GEFORMT UND UNGEFORMT 73 man Übergänge zwischen inneren, psychischen Vorgängen und dem Außenraum der Medien ins Modell einbeziehen muss. Auch an der Grenze, am Übergang zwischen Ungeformtem (weniger Geformtem) und Geformtem wird offenbar ‚prozessiert‘; mit der Folge, dass das Prozessieren auch für die Zunahme von Form verantwortlich ist, also einen Aufbau von Formprägnanz leistet. Weiter könnte man fragen, ob Prozessieren ‒ umgekehrt ‒ Formprägnanz auch abtragen kann. 2. Ausdruck Relativ selbstverständlich wird bei Füger die Kategorie des Aus- drucks verwendet.144 Ausdruck ist derjenige Begriff, mit dem die klassische Ästhetik den Übergang von Innen nach Außen und vom Ungeformten in die Form zu fassen versucht. Ausdrucksästhetiken sind nicht erst mit dem ‚Ende des Subjekts‘ in eine tiefe Krise ge- raten und gelten als überholt.145 Eine prominente Ausnahme aller- dings ist Adornos ‚Ästhetische Theorie‘, die, und dies ist im hier verfolgten Zusammenhang mehr als interessant, die Spannung zwi- schen Ausdruck und Form als die grundlegende Achse ansieht, die alle künstlerische Produktion organisiert.146 Zudem haben vor allem Philosophinnen die Frage, wie Unge- formtes in Form übergeht, weiter diskutiert, wenn auch ohne den Begriff des Ausdrucks in Anspruch zu nehmen: Susan Langer, die sich für den Symbolerwerb interessiert und mit Blick die Phasen der kindlichen Entwicklung dem Symbolischen einen ‚präsentati- ven Symbolismus‘ vorschaltet;147 Irigaray,148 und ähnlich Kristeva mit dem Begriff der ‚Chora‘, der Erfahrungsräume vor und außer- halb symbolischer Artikulation zu fassen versucht.149 144 Ebd., S. 44. 145 Vgl. z. B. Joachim Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie: Eintrag Ausdruck. Bd. 1, Darmstadt: WBG 1971, S. 653-662, hier: S. 653ff. 146 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Ges. Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 121, 168ff., 211ff. 147 Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt am Main: Fischer 1965 (EV, am.: 1942). 148 Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve 1979 (EV, frz.: 1977). 149 Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (EV, frz.: 1974). 74 1 PROZESSIEREN 3. In-Formation Auf dem Feld der Medienwissenschaften wäre Vilém Flusser zu nennen, der den Begriff der Information ‒ ebenfalls auf der Grenze zum Ungeformten ‒ neu positioniert. Flusser begreift Information wörtlich als In-Formation, und hebt den Aspekt der Formwerdung und Formgebung hervor, der in der Information notwendig steckt. „Informieren“, schreiben Kloock/Spahr über Flusser, heißt für ihn zunächst schlichtweg ‚Form in etwas bringen‘. Der Schuhmacher ‚informiert‘ den Schuh. Der Benutzer des Schuhs be- kommt die Information, das heißt er dekodiert sie, ist der verste- hende Empfänger, indem er den Schuh als Schuh nutzt. ‚Informie- ren‘ ist menschlich gesehen (fast) gleichzusetzen mit Arbeiten, Her- stellen, Ordnung in ein amorphes Material bringen, es so in ein brauchbares Ding umzuformen, also etwas verfügbar werden lassen „Das Semiotische kennzeichnet Kristeva als verdrängte, unbewusste Sprache, die sie auch mit dem Begriff Chora umschreibt. Die Chora wird aus dem Grie- chischen mit Raum oder Unterleib übersetzt. Im philosophischen Zusammen- hang taucht die Chora bei Platon auf und gilt als etwas Unnennbares, Unerfahr- bares und Flüssiges, das dem Einen, dem Vater vorgängig ist. Unter Chora ver- steht Kristeva die menschlichen Triebe und ihre unbewusste Artikulation, die somit dem Bereich des Semiotischen zugeordnet werden. Sie ist weder ein Zei- chen noch eine Position, sondern eine grundsätzliche bewegliche und extrem provisorische Artikulation. Die Chora ist der Ort der Bedeutungen, die nicht auf eine symbolische Ordnung reduziert werden können, deshalb überschreitet sie die rationale Subjektivität. Über die Chora stellt Kristeva die Beziehung zwischen dem Semiotischen und ihrem Subjekt-im-Prozess [!] her. Im Gegensatz zum neutralen rationalen Sub- jekt der männerdominierten Sprache wird es im Akt der Bedeutungsgebung mit archaischen, instinktiven und mütterlichen Aspekten konfrontiert. Kristeva ver- steht die Chora auch als pulsierenden Druck auf oder in der symbolischen Sprache. Man kann sich diesen Prozess vorstellen wie eine Eruption, die nach oben drängt. Und ein Ausbruch ist nur in einem Moment möglich, dem Prozess der Bedeutungsgebung. Durch sie tritt der sprechende Mensch in die symbo- lische Ordnung und deren Definitionsmacht ein, verdrängt aber gleichzeitig auf dem Weg liegende unbewusste Bedeutungen. Durch die Chora entsteht für Kristeva keine neue Sprache, sondern sie steht für die heterogene, gespaltene Dimension der Sprache. Sie versteht die Chora als einheits- und identitätslos, aber trotzdem sei sie bestimmten Regeln unter- worfen, die nicht dem Bereich des Symbolischen entstammen.“ (Meyer, Ursula: Die andere Philosophiegeschichte. Aachen: Ein-Fach-Verlag 2007, S. 307f. (Hervorh. H. W.)). KAPITEL 1.6 GEFORMT UND UNGEFORMT 75 [?], indem es dem Chaos der Unverfügbarkeit der Stoffe, der bloßen Rohmaterialien entrissen wird.150 Hierbei ist auffällig, dass Flusser vom Substantiv Information zu- rückgeht auf das substantivierte Verb Informieren. Damit hebt er das Prozesshafte hervor, den Vorgang, in dem die Form entsteht. Und auch hier ist es die materielle Produktion, an der sich die Vor- stellung orientiert: „Werkzeuge im üblichen Sinne“, schreibt Flusser, reißen Gegenstände aus der Natur, um sie dorthin zu stellen (her- zustellen), wo der Mensch ist. Dabei verwandeln sie die Form dieser Gegenstände, sie drücken ihnen eine neue, beabsichtigte Form auf. Sie ‚informieren‘: der Gegenstand gewinnt eine widernatürliche, unwahrscheinliche Form, er wird kulturell. Dieses Herstellen und Informieren von Naturgegenständen heißt ‚Arbeit‘ und deren Re- sultat heißt ‚Werk‘.151 Dass es Flusser tatsächlich um den Moment zu tun ist, in dem die Form aus dem Ungeformten entsteht, lässt sich daran ablesen, dass er einen mesopotamischen Schöpfungsmythos aufruft, um den Beginn der Keilschrift und ihr spezifisches Verhältnis zu Material und Form zu erläutern: ,Schreiben‘ kommt vom lateinischen ‚scribere‘, das ‚ritzen‘ bedeu- tet. Und das griechische ‚graphein‘ bedeutet ‚graben‘. […] [Dem] Mythos zufolge hat Gott Sein Ebenbild aus Lehm (hebräisch ‚ada- mah‘) geformt, darin Seinen Odem eingegraben und daraus den Menschen (hebräisch ‚adam‘) geschaffen. Wie jeder Mythos ist auch dieser bedeutungsvoll, und diese Fülle kann auseinanderge- faltet werden. Zum Beispiel: Lehm ist das Material (die Große Mutter), in welche Gott (der große Vater) Seinen Odem (‚Geist‘) hineingrub, und so sind wir, diese begeisterten Materialien, aus die- sem Beischlaf entstanden. Es läßt sich […] darin der Ursprung des Schreibens erkennen. Der mesopotamische Lehm, von dem der Mythos erzählt, wird darin zu einem Ziegel geformt, der göttliche keilförmige Stilus gräbt in ihn, und so ist die erste Inschrift (der Mensch) geschaffen worden.152 In der Formulierung distanziert, und ausgelagert in den Mythos, reaktualisiert die sexuelle Metapher noch einmal den problemati- 150 Kloock, Daniela; Spahr, Angela: Medientheorien. Eine Einführung. München: Fink 1997, S. 85ff. (Erg. H. W.). 151 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Photographie. Göttingen: European Photography 1983, S. 19. 152 Ders.: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: Immatrix 1987, S. 14. 76 1 PROZESSIEREN schen Genderbias, von dem oben die Rede war. Mit der Konnota- tion von Gewalt allerdings ist es Flusser ernst: Informieren ist eine negative, gegen den Gegenstand gerichtete Geste. Die Geste eines gegen Objekte vorgehenden Subjekts. Sie gräbt Löcher in Gegenstände. Sie gräbt Löcher des ‚Geistes‘ in die zu sehr von sich selbst gefüllten Dinge, damit diese Dinge das Sub- jekt nicht bedingen mögen. Es ist die Geste des Sich-Befreien- Wollens vom sturen Widerstand, den die Gegenstände dem Subjekt bieten. Das grabende Schreiben ist eine informierende Geste, deren Absicht es ist, aus dem Kerker der Bedingungen zu brechen, d. h. Ausbruchsschächte in die uns einkerkernden Mauern der objektiven Welt zu graben.153 Und auf der allgemeinsten Ebene schließlich geht es um die Zu- nahme von Ordnung: „,Information‘“, schreibt Flusser, ist das Spiegelbild zu ‚Entropie‘. Sie ist die Umkehrung der Ten- denz aller Objekte (der objektiven Welt überhaupt), in immer wahr- scheinlichere Situationen und schließlich in eine formlose, höchst- wahrscheinliche Situation zu verfallen.154 Flusser also bringt einen Begriff der Information in die Medien- theorie ein, der an den philosophischen Begriff der Form an- schließt und diesen ernster nimmt als die nachrichtentechnische Tradition. Wenn In-Formation Zunahme von Formprägnanz ist, so ist diese einem Material abgerungen, das der Information Wider- stand entgegensetzt, und abgerungen auch dem alle Formen auf- lösenden Automatismus der Entropie. Für die Frage nach dem Prozessieren bedeutet dies, dass auch das Prozessieren ‒ häufig? immer? ‒ nicht beliebige Transforma- tionen, sondern eine gerichtete Bewegung, einen Vektor, meint. Möglicherweise ist auch hier mit Widerständen zu rechnen; mit Kräften der Beharrung, die dem Prozessieren entgegenstehen, und mit dem Widerstand des Materials, in dem die Form artikuliert wird. Und umgekehrt ist zu fragen, woher die Kräfte stammen, die das Prozessieren vorantreiben, dort wo es Zunahme von Formprägnanz ist. Gerade wenn man nicht ‒ wie selbstverständlich ‒ ein mensch- liches Subjekt unterstellen will, das als Träger einer ‚Handlung‘ fungiert, und keinen Schopenhauerschen ‚Willen‘, der in allen 153 Ebd., S. 15. 154 Ebd. KAPITEL 1.6 GEFORMT UND UNGEFORMT 77 Prozessen waltet,155 ist diese Frage prekär. Das Bild des Computers droht sie zu verstellen. Die Annahme, Computer prozessierten ohne Widerstand und ‚immateriell‘ aber ist auch hier falsch: Auch Computer brauchen Strom, nehmen also Energie auf; und dies ist ein Hinweis darauf, dass Prozessieren ein ‚Vektor‘ ist. 155 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. II, Zürich 1977, S. 155f. (EV: 1844). Kapitel 1.7 SCHALTEN, ENTSCHEIDEN 1. Rechtspflege Auf den ersten Blick mag es fernliegen, dennoch möchte ich kurz auf den Begriff des Prozessierens eingehen, wie ihn Juristen ver- wenden. Ein Prozess ist hier nicht ein Vorgang allgemein, sondern ein Rechtsstreit, der vor einem Gericht ausgetragen wird. Aus- gangspunkt ‒ zumindest im Zivilrecht ‒ ist ein Konflikt; der Prozess selbst ist ein Verfahren, das diesen Konflikt aus der Welt schaffen soll, und zwar auf eine vordefinierte, geordnete Weise, die darauf abzielt, dass die Entscheidung Akzeptanz bei den Beteiligten findet, und in einem institutionellen Rahmen, der der Entscheidung ‒ mit oder ohne diese Akzeptanz ‒ faktische Geltung verschafft.156 An dieser Bestimmung sind fast alle Einzelaspekte wichtig. Der Konflikt ist der Motor, der die Sache in Gang setzt. Wenn gerade diskutiert wurde, was Prozesse vorantreibt und ihnen eine Rich- tung gibt, dann sind es hier, im juristischen Kontext, Interessen, die gegen einander stehen, letztlich also Mangel, Not, Wunsch und Be- gehren, die (auf einer sehr allgemeinen Ebene) unseren Stoffwech- sel mit der Natur und den Austausch mit Anderen bestimmen. Pro- zesse ohne diese Dimension gibt es ‒ außerhalb natürlicher Vor- gänge ‒ nicht; und gerade wenn man mediales Prozessieren auf Menschen nicht eingrenzen will, erscheint es immer sinnvoll, nach diesem Antrieb zu fragen. Konflikt und Widerstreit verweisen ein weiteres Mal auf die Dialektik, die in der Begriffsgeschichte des Prozessierens bereits zu erwähnen war. Juristische Prozesse schreiten, als eine institutio- nalisierte Form des Streitgesprächs, über These und Antithese voran; die Synthese ist durch die Entscheidung eines autorisierten Dritten, eines Richters, ersetzt; wie im Fall der Synthese aber 156 Vgl.: Vismann, Cornelia; Weitin, Thomas (Hg.): Urteilen / Entscheiden. Mün- chen: Fink 2006. 80 1 PROZESSIEREN kommen Konflikt und Prozess in einem (interimistischen) Zustand der Stase zur Ruhe. Dass der juristische Prozess durch Gesetze geordnet ist, verweist auf eine Logik der Präparation, die im Kontext der Maschine noch einmal diskutiert werden wird. Auch mediales Prozessieren eben ist keineswegs ein Liveprozess, sondern im Fall des Computers ab- hängig vom Pro-gramm, das im Vorhinein geschrieben wurde und seinen Charakter als Vor-Schrift im Namen trägt; und im Reich der Medien allgemein abhängig von dem Apparat von Techniken, Ge- brauchsweisen und Regeln, die das Medium bilden und die die je- weils aktuelle Äußerung zur Voraussetzung hat. Und schließlich die Dimension der Geltung, der Wirkung. Juristische Entscheidungen schaffen Fakten. Gesetze sind aus schwachen Zeichen (Worten) gemacht; indem sie sich mit sehr zwingenden Kräften materieller gesellschaftlicher Repression ver- binden, aber können sie ihr Realwerden tatsächlich erzwingen. In dieser Hinsicht sind Gesetze extrem performativ. Mediales Prozes- sieren, es wurde gesagt, kennt vergleichbar zwingende Wirkungen nicht; dennoch ist festzuhalten, dass Prozessieren ein Moment von Entscheidung enthält. 2. Schalten Und diese Bestimmung eröffnet weitere Assoziationen. Im Umfeld der ‚Trajectories‘ war die Metapher des Weges aufgetaucht; Wand- lungsprozesse wurden, gerade wenn sie unanschaulich-qualitativen Charakter hatten, in das anschauliche Bild von Weg und Reise ge- fasst. Auch Entscheidungen nun werden häufig in Wegmetaphern gedacht, etwa im Bild einer Kreuzung, die dazu zwingt, sich für den einen und eben nicht für den anderen Weg zu entscheiden. Wieder mit der Konnotation, dass die Entscheidung folgenreich ist. Dies schlägt eine unvermutete Brücke hin zur Medientechnik und zum Computer. Computer bestehen aus Transistoren, und Transisto- ren sind elektronische Schalter; Schalter nun bringen Weg und Ent- scheidung zusammen, und zwar keineswegs metaphorisch sondern im soliden Reich der Physik. Hier sind es Kupferleitungen, die sich am Punkt des Schalters verzweigen; und die Stellung des Schalters entscheidet darüber, welchen Weg der Strom nimmt. KAPITEL 1.7 SCHALTEN, ENTSCHEIDEN 81 Das Digitale insgesamt basiert auf dem Prinzip des Schalters: Ja oder Nein, 1 oder 0, An oder Aus.157 Der Computer ist ein Medium, das ständig zu Entscheidungen zwingt, und für den das logische ‚Oder‘ ungleich wichtiger ist als das logische ‚Und‘.158 Computer sind Medien der Organisation und der Analyse; Maschinen, die geeignet sind, die Dinge auseinander zu legen. Wenn Computer prozessieren, dies wird unten zu zeigen sein,159 wird beständig geschaltet. Der Ablauf des Programms besteht darin, dass Schalter gesetzt und ständig neu gesetzt werden; das Programm mag vorschreiben, wie die Abfolge der Schritte ist; sobald das Programm tatsächlich ausgeführt wird (run-time), aber klappern die elektronischen Schalter; und wie im juristischen Pro- zess geht es auch hier um Entscheidung. 3. Weg und Adresse Schalter also sind Knotenpunkte, an denen sich Wege verzweigen, und die jeweils aktuelle Stellung der Schalter entscheidet darüber, welchen Weg der Strom nimmt. Dies bedeutet, wieder völlig un- metaphorisch, den Sprung hin zu einer Topologie. Damit wird das Problem der Adresse berührt. Adressen sind Voraussetzung dafür, dass die erste Medienfunk- tion, die Übertragung, überhaupt stattfinden kann. Sie schaffen eine Topologie; sie müssen vorgebahnt, vorvereinbart sein, damit sie zur Ausführungszeit zur Verfügung stehen, und sie bilden die Optionen, unter denen die jeweils konkrete Zustellung nur wählen kann. Auf diese Weise liegt die Adresse im Schnittpunkt zweier völlig unterschiedlicher Dinge: Sie verbindet den Raum, wie das Medium ihn definiert, mit dem Vorgang der Übertragung. Übertragen ist nicht Prozessieren; und ich habe das Prozessieren oben als Eingreifende Veränderung definiert. Ganz offensichtlich aber kann die Übertragung nicht auf den Akt der Übertragung be- schränkt werden. Übertragungen müssen gesteuert werden, damit die Sendung ihr Ziel erreicht; hierfür sind Entscheidungen nötig, 157 Vgl.: Dennhard, Robert: Die Flipflop-Legende und das Digitale. Eine Vorge- schichte des Digitalcomputers vom Unterbrecherkontakt zur Röhrenelektronik 1837-1945. Berlin: Kadmos 2009. 158 Auch das logische ‚Und‘ wird mit Hilfe von Schaltern, also dem logischen ‚Oder‘, realisiert … 159 Kap. 3.2, ,Was tut ein Prozessor?‘. 82 1 PROZESSIEREN ähnlich wie man bei der Eisenbahn Weichen stellt. Wenn Prozes- sieren also ‒ nach einer Seite hin ‒ das Setzen von Schaltern ist, dann kehrt das Prinzip hier auf verblüffende Weise wieder; Über- tragen und Prozessieren nähern sich an. Aber geht das nicht allzu sehr über Stock und Stein? Kann man wirklich eine Linie ziehen vom juristischen Prozess bis zum Schal- ter und zur Adresse? Festhalten möchte ich, dass Prozessieren, zu- mindest unter anderem, Entscheiden bedeutet. Kapitel 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 1. Computer Seine stabilste Basis, es wurde gesagt, hat der Begriff des Prozes- sierens auf dem Terrain des Computers. Solange die Mainframes der 60er-, 70er- und 80er-Jahre vor allem Stapelverarbeitung machten, erschien klar, dass der Rechner – ‚Data Processing‘ – an Daten arbeitet, dass Gegenstand der Bearbeitung ‚Daten‘ sind. Inzwischen allerdings ist der Begriff der Datenverarbeitung aus der Mode gekommen. Mit dem Paradigma der Interaktivität und des Dialogs wird der Rechner zum Gegenüber; er scheint auf die menschlichen Eingaben fast wie ein menschlicher Partner zu war- ten,160 das Programm erscheint als ein dienstbarer Geist161 und eher Antworten zu geben, als Aufgaben oder abgrenzbare ‚Jobs‘162 zu übernehmen. Hinzu kommt, dass nur eine Minderheit der Nutzer selbst Pro- gramme schreibt, also die Erfahrung macht, auf welche Weise Maschine, Programmiersprache / Compiler, Programm und Eingabe- daten tatsächlich zusammenwirken. Nutzer vielmehr nutzen Program- me, und deshalb heißen sie so; und wenn digitale Medien ‚program- mable media‘, oder Nutzer ‚digital natives‘ genannt werden, so sind dies fragwürdige Euphemismen. In vieler Hinsicht also verdeckt die Maschine, was sie tatsäch- lich tut. In der Sache aber hat sich so gut wie nichts geändert: Jeder Mausklick löst eine Kette von Operationen aus, und auch im Dia- log folgt auf jede Eingabe keineswegs direkt die Ausgabe, sondern zunächst ‒ gesteuert durch das Programm ‒ eine unübersehbare Anzahl von Verarbeitungssschritten. Wenn man diese weitgehend 160 Der Turing-Test hat exakt diese Verwechslung zum Gegenstand. 161 Vgl. Krajewski, Markus: Vom Servant zum Server. Die Herrschaft der stum- men Diener und elektronischen Gehilfen, in: Arch+ 205, 2012:, S. 20-25. 162 ‚Job‘ war in den Siebzigern der Terminus für den Durchlauf, die Ausführung eines Programms. 84 1 PROZESSIEREN ignorieren kann, dann nur, weil sie sich in ‚Realzeit‘ vollziehen. Auch diese Realzeit aber ist ein empirischer Wert, und immer wenn der kleine Wartekreis auf dem Bildschirm rotiert (der übri- gens einmal eine Sanduhr war!) oder das Notebook Wärme ent- wickelt, wird deutlich, dass der Prozessor prozessiert, also Arbeit verrichtet; und selbstverständlich ‚weiß‘ der Nutzer, dass dies so ist. Software heißt ‚soft‘, und Computer sind mit Wandel, mit stän- diger Veränderung assoziiert, gerade auch im Gegensatz zu den traditionellen Massenmedien, deren Produkte man im Rückblick als ‚starr‘ empfindet: New media […] is characterized by variability. (Other terms that are often used in relation to new media and that might serve as appropriate synonyms of variable are mutable and liquid.) Instead of identical copies a new media object typically gives rise to many different versions.163 Input und Output unterscheiden sich, und im Herz des Rechners sitzt ein Prozessor. Gleichzeitig aber ist auch auf dem Terrain des Computers keineswegs klar, was Prozessieren tatsächlich bedeutet. Dies gilt für die basale Ebene der Hardware; hierzu wird in einem der folgenden Kapitel eine Überlegung angestellt werden.164 Aber auch auf jener höheren Ebene, wo es um Algorithmen, die Eigen- schaften und Besonderheiten der Formalsprachen, um den Status von Programmen sowie die Regeln und Grenzen automatisierten Prozessierens geht. Dies soll in den folgenden Abschnitten zumin- dest soweit geklärt werden, wie dies zur Entwicklung eines allge- meinen ‒ d. h. vom Computer unabhängigen ‒ Konzepts des Pro- zessierens nötig ist. 2. Formalsprachen Das Prozessieren der Computer ist an Formalsprachen gebunden.165 Historisch entstehen Formalsprachen auf dem Schnittpunkt zwi- 163 Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge, MA: MIT 2001, S. 36. 164 Kapitel 3.2, ,Was tut ein Prozessor?‘. 165 … während z. B. die Hardware ‒ von ‚Papiermaschinen‘ bis zum wet com- puting ‒ relativ austauschbar erscheint. Turing entwickelt seine Maschine zu- nächst als Entscheidungstabelle (auf Papier) und dann als Turing-Maschine, die KAPITEL 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 85 schen dem System der Zahlen (der Quantifizierung), zum Zweiten der Mathematik, die die Umformungsregeln (die Algorithmen) be- reitstellt und festlegt, welche Operationen zulässig und welche un- zulässig sind, und drittens schließlich der formalen Logik, die ein Abzug bestimmter Aspekte der natürlichen Sprache ist. Formalsprachliche Systeme haben einzigartige Eigenschaften: Sie sind ‒ ganz anders als die natürlichen Sprachen ‒ in sich wider- spruchsfrei, und diese Widerspruchsfreiheit kann mit formalen Mitteln geprüft und sichergestellt werden; sie können mechanisiert, d. h. an Maschinen übergeben werden, und sie vereinigen Reprä- sentation und Operationalität, insofern man Weltaspekte in Model- len abbilden und formalsprachlich formulierte Programme tatsäch- lich exekutieren, also praktisch ausführen kann. Formalsprachliche Systeme also sind im selben Atemzug for- mal / abstrakt und konkret, was theoriehistorisch wie im Alltag eine Zahl sehr folgenreicher Missverständnisse nach sich zieht; diese sollten zumindest andiskutiert werden, weil sie auch für das Verständnis des Prozessierens weitreichende Konsequenzen haben. Das gravierendste ist die Überzeugung, dass formale Systeme un- abhängig von jedem Weltbezug wären. Die Vorstellung dieser Unabhängigkeit erben die Formalsprachen von der Mathematik, die, seit dem Streit zwischen Hilbert und Brouwer,166 als völlig ‚autonom‘, als ein Spiel nur mit den eigenen Regeln betrachtet wurde. „Die formalistische Auffassung der Mathematik“, schreibt etwa Heintz, steht für die mathematische Moderne. [. . .] Im Formalismus sind die Zeichen ‚autark‘ geworden, sie haben keine Referenzfunktion, keine Bedeutung mehr, und der Mathematiker, der mit ihnen ope- riert, ist im Prinzip frei in ihrer Setzung. In der formalistischen Mathematik gibt es keinen Verweis mehr auf irgend etwas außer- halb des mathematischen Systems, heiße das nun Anschauung, Evi- denz, sinnliche Erfahrung oder Intuition. Die Mathematik erzeugt ihre Daten schrittweise wieder auf Papier, nun auf einem Papierband, notiert. Verallgemeinernd hat Dotzler die Vorgeschichte der Computer in den ‚Papier- maschinen‘ der Verwaltung aufgefunden (ders.: Papiermaschinen. Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik. Berlin: Oldenbourg Akademie 1996). „The ‚wet computer‘ incorporates several recently discovered properties of chemical systems that can be hijacked to engineer computing power.“ (Palmer, Jason: Chemical computer that mimics neurons to be created. In: BBC News, http://news.bbc.co.uk/2/hi/8452196.stm, 11.1.2010, 19.4.2013). 166 Vgl. Winkler, Diskursökonomie, a. a. O., S. 154ff. 86 1 PROZESSIEREN die Objekte, mit denen sie operiert, und die Regeln, nach denen sie vorgeht, selbst.167 Gerade darin, dass sie von der Welt, von Referenz und von ‚Be- deutung‘ Abstand nimmt, erscheint die Mathematik als ‚formal‘.168 Und gleichzeitig gibt es gute Gründe, dem zu widersprechen. Denn sowohl die Mathematik als auch die Formalsprachen sind über den Umweg ihrer Nutzbarmachung in der Technik tief in unseren All- tag verflochten; schon deshalb muss die These ihrer völligen ‚Un- abhängigkeit‘ mehr als unwahrscheinlich erscheinen. Mathema- tische Modelle mögen ihre Eigenlogik, ihre innere Schönheit und ihre autonome Geltung haben. Praktisch bewähren sie sich, wo sie ‒ etwa in der Technik ‒ praktisch nutzbar werden. Und umgekehrt wurde nahezu der gesamte Regelapparat der Mathematik zumin- dest in Wechselwirkung zu lebenspraktischen Aufgaben ‒ von der altägyptischen Landvermessung bis zur Molekularbiologie ‒ über- haupt erst entwickelt. Jede Brücke, die stehen bleibt, habe ich an anderer Stelle geschrieben, singt ein Hohelied auf die statischen Modelle, die sie ermöglicht haben; zu sagen, dass Formalsprachen keine Referenz beanspruchen und an keinem Wahrheitsmodell An- teil hätten, erscheint mir abenteuerlich. Alles hängt insofern davon ab, auf welche Weise man beides zusammendenken und den formalen Charakter der Formalsprachen anerkennen kann, ohne gleichzeitig Referenzlosigkeit behaupten zu müssen. 3. Modelle Zentral für ein Verständnis der Formalsprachen und damit auch des Prozessierens erscheint mir, den Mechanismus der Modell- bildung zu begreifen. Modelle, sagt der Informatiker Bernhard Mahr, dienen dazu, einen bestimmten Ausschnitt der Welt, einen bestimmten Weltaspekt oder einen Zusammenhang darzustellen: Modelle spielen als Bezugsgrößen nicht nur in der disziplinären Matrix einer wissenschaftlichen Gemeinschaft eine maßgebende 167 Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Com- puters. Frankfurt am Main/New York, NY: Campus 1993, S. 16. 168 Vgl. Heintz, a. a. O., aber auch Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1988. KAPITEL 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 87 Rolle, sondern prinzipiell in allen Werk- und Erkenntnisprozessen. [...] Heute bezeichnet das Begriffswort Modell ein Abstraktum, das allgemein als Synonym für eine Art Abbild, Vorbild, Vorschrift oder Analogie steht. […] In den Modelltheorien Tarskis und Stachowiaks steht ein Modell im Zusammenhang eines Urteils, in dem von einem Objekt ausgesagt wird, es sei ein Modell von etwas. […] Bei Stachowiak betrifft dieses Urteil eine Abbildbeziehung zwischen einem Objekt als Original und einem Objekt als Modell, bei der das Modell nach der Überzeugung eines Subjekts im Hinblick auf einen bestimmten Zweck und innerhalb einer be- stimmten Zeit bestimmte Merkmale des Originals reflektiert.169 169 Mahr, Bernd: Das Wissen im Modell. In: KIT-Report Nr. 150, TU Berlin, Dezember 2004. www.tu-berlin.de/ fileadmin/fg53/KIT-Reports/r150.pdf, S. 9, 10, 19.4.2013. Und Mahr setzt sehr interessant fort: „In groben Zügen lässt sich nun das Modellsein wie folgt skizzieren: Das Modellsein ist Inhalt eines Urteils, wie dies auch in den beiden Modelltheorien so verstanden wird. Mit dem Urteil des Modellseins wird das Bestehen verschiedener Sachverhalte ausgesagt, die eine Kombination von Rollen des als Modell betrachteten Gegenstands betreffen, und die dadurch die Identität des Gegenstands als Modell bestimmen. Die Identität eines Gegenstandes als Modell ist dreigestaltig: sie betrifft erstens den als Modell qualifizierten Gegenstand für sich, der irgendeine Erscheinungs- form besitzt, z. B. als Text, Graphik, Körper oder als Menge von Regeln. Sie betrifft zweitens das Ergebnis einer in einem weiten Sinne verstandenen Induk- tion, bei der Anschauungen, Erfahrungen, Messungen, Merkmale, Erkenntnisse oder Regelinhalte durch Auswahl ,Verallgemeinerung und Bindung an eine neue Form und Repräsentation in der Weise zum Inhalt des Modells gemacht werden, dass es gerechtfertigt ist, im Gegenstand ein Modell von etwas zu sehen. Und sie betrifft drittens den Gegenstand als Bezugsgröße einer in einem weiten Sinne verstandenen Deduktion, mit der sich der in Form und Repräsen- tation gefasste Inhalt bei der Anwendung des Modells wieder herauslösen und auf einen anderen Gegenstand übertragen lässt, so dass es gerechtfertigt ist, im Gegenstand ein Modell für etwas zu sehen. Zwischen Induktion und Deduktion besteht eine natürliche zeitliche Reihenfolge, auch wenn bei der Modell- entwicklung die Induktion durch Annahmen über die spätere Deduktion von Modellinhalten mitbestimmt werden kann. Für ein begründbares Urteil des Modellseins ist es notwendig, dass Sachverhalte bestehen, die diese dreigestal- tige Identität bestätigen. Erkennung, Auswahl, Erzeugung, Anwendung, Bewertung und Nutzung von Modellen implizieren jeweils ein Urteil des Modellseins und sind an Ordnungs- systeme gebunden, die in Form von Konventionen, Regeln oder Metamodellen in Erscheinung treten, und die dem Urteil des Modellseins als Maßgabe der Qualifizierung zugrunde liegen. Sowohl in der Rolle als Modell von etwas als auch in der Rolle als Modell für etwas ist ein Modell Träger von Wissen. In einem Modell ist dieses Wissen als Modellinhalt an Form und Repräsentation gebunden. Die Qualifizierung des Modellinhalts als Wissen, die vom Konsens einer Gemeinschaft abhängt, ergibt sich einerseits aus dem Urteil des Modellseins, insofern es die dreigestaltige 88 1 PROZESSIEREN Modelle nun kann man in den unterschiedlichsten Materialien auf- bauen: Architekten verwenden Balsaholz und Autodesigner Ton; Naturwissenschaftler und Techniker formulieren ihre Modelle in der Sprache der Mathematik,170 und Informatiker in eigens ent- wickelten Formalsprachen. Formalsprachlich formulierte Modelle haben zwei Seiten. Mit dem einen Fuß stehen sie in der tatsächlichen Welt, und mit dem anderen in der Mathematik. Auf der ‚Welt‘-Seite geht es darum, Probleme, die in der tatsächlichen Welt auftreten, zu modellieren. Eine Versicherung, die ‒ wählen wir ein historisches Beispiel ‒ von Paperwork auf Computer umstellt, macht eine Analyse all der Vorgänge, die ihr Geschäft ausmachen; von der Erfassung neuer Kunden an der Haustür, über die Verwaltung der Stammdaten und Beiträge bis hin zur Schadensmeldung, Entscheidung und Aus- zahlung. Dieser Vorgang wird ‚Systemanalyse‘ genannt.171 Ergeb- nis ist ein Modell, das alle wichtigen Daten und Abläufe enthält. Das Modell selbst wird formuliert in einer Formalsprache, die für diese Art von Problemen besonders geeignet ist, und dann umge- setzt in ein Programm, das auf einem Computer lauffähig ist. Von diesem Moment an ist der Computer Teil der Vorgänge selbst. Er wird eingebaut in die praktischen Vollzüge und das Modell ist die Drehscheibe, über die alle Vorgänge prozessiert werden. Ohne das Modell ‒ das ist seine performative Dimension ‒ wird die Versi- cherung schlicht nicht mehr existieren. Die zweite Seite, wie gesagt, ist die Mathematik. Die Entschei- dung, das Modell nicht in Balsaholz oder Ton sondern in einer Identität des Gegenstandes als Modell aussagt, und andererseits aus dem Erfüllen der Bedingungen des Ordnungssystems, das der Erkennung des Gegenstands als Modell zugrunde liegt. Wissen im Modell findet sich daher nicht nur in dem als Modell qualifizierten Gegenstand selbst und in dem von diesem Gegenstand getragenen Inhalt, sondern auch in dem, wovon der Gegen- stand Modell ist und in der verbindenden Induktion, sowie auch in dem, wofür der Gegenstand Modell ist und in der verbindenden Deduktion. Darüber hinaus steckt auch im Ordnungssystem Wissen, und letztlich wird auch im Urteil des Modellseins selbst Wissen etabliert. Ein Modell ist dabei immer Ausdruck einer Möglichkeit, die sich einerseits im Modus der Aussage des Modellseins von etwas und andererseits im Modus der Aussage des Modellseins für etwas zeigt. Modelle werden dadurch zu kom- plexen Möglichkeitsformen.“ (Ebd., S. 11f.). 170 Kein naturwissenschaftliches oder technisches Modell kommt ausschließlich mit der Mathematik aus … 171 Eine unglückliche Begriffswahl, die immer schon unterstellt, dass es sich bei dem zu Analysierenden um ein ‚System‘ handelt … KAPITEL 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 89 Formalsprache zu formulieren, erlegt dem Modell strenge Regeln auf. In das Modell werden nur diejenigen Faktoren eingehen, die aus Sicht der Versicherung tatsächlich relevant sind; wenn der Versicherte bei seiner Schadensmeldung also sein halbes Leben erzählt, wird die Frau im Callcenter dennoch nur das aufnehmen, was die Erfassungsmaske auf dem Bildschirm an Daten verlangt. Und ebenso wird das Modell alle Faktoren in zweifelsfrei-eindeu- tige Relationen bringen. Vieldeutigkeiten, wie sie in einer Erzäh- lung selbstverständlich wären, sind innerhalb formalsprachlich formulierter Modelle inakzeptabel. Zugelassen ist nur das, was sich mit den Mitteln der Mathematik und der formalen Logik bearbei- ten lässt. Das Problem, das in der Welt noch sein volles Volumen hatte, wird reduziert auf eine Struktur, ein Skelett. So wird sicher- gestellt, dass das Modell keine inneren Widersprüche enthält und jeden Fall einer Lösung zuführen kann. Das Beispiel macht klar, dass zwischen beiden Seiten des Modells eine Spannung besteht. Die Probleme der tatsächlichen Welt müssen auf vielfältige Weise aufbereitet, gefiltert und über- setzt werden, bevor sie mit dem formalsprachlich formulierten Modell kompatibel sind. Und bestimmte Aspekte, die realweltlich durchaus eine Rolle spielen, sind grundsätzlich ungeeignet, sich mit den Mitteln einer Formalsprache formulieren zu lassen. Für die Ängste und Emotionen etwa, die der Versicherte mit seinem Scha- den verbindet, würde sich die Versicherung unzuständig erklären; sie würde sie an einen Psychologen verweisen, und dieser würde möglicherweise ein Gespräch führen, nicht aber ein formales Modell zu ihrer Lösung verwenden. Wichtig nun ist, dass die Aufbereitung von dem formalsprach- lich formulierten Modell selbst nicht geleistet werden kann. Diese Aufbereitung / Zurüstung / Übersetzung vielmehr müssen Men- schen übernehmen, und zwar einmal bei der Modellierung selbst, und dann in jedem einzelnen Fall, in dem das Modell ‚angewendet‘ wird.172 Wie leistungsfähig Formalsprachen sind, beweist die Tatsache, dass weltweit Milliarden von Computern arbeiten. Dabei findet zwischen den formalsprachlichen Modellen und den Alltagsprob- 172 ‚Anwendung‘, ‚application‘ ist einer der am meisten verwendeten Begriffe im Umfeld des Computers; und gleichzeitig einer der problematischsten; denn in der ‚Anwendung‘ wird der Computer praktisch; er tritt in einen tatsächlichen Verwendungszusammenhang, und damit in einen Kontext ein. 90 1 PROZESSIEREN lemen ein ständiger, beidseitiger Abgleich statt. Und beide Seiten optimieren sich wechselseitig: Die formalsprachlichen Modelle werden darauf geprüft, inwieweit sie ‒ obwohl skelettiert ‒ gültige Vereinfachungen sind, die Praktiken, umgekehrt, passt man den Modellen zunehmend an. 4. Einschränkung auf syntaktische Operationen Die Überlegung zur Modellierung ist wichtig, wenn man verstehen will, was Prozessieren auf dem Terrain des Computers tatsächlich heißt. Denn zum einen wird klar, dass zumindest die Modelle kei- neswegs referenzlos oder frei von lebensweltlichen Bezügen sind. Ganz im Gegenteil: Wie Mahr zeigt, sind sie grundsätzlich zwei- wertig, insofern sie ‒ sei es im Sinne einer Abbildrelation oder als ‚Vorbild‘/‚Vorschrift‘ ‒ das Modell mit einem zu Modellierenden verbinden. Und auf der anderen Seite eben sind die Formalspra- chen ‚formal‘ nur in dem Maß, wie sie sich von der Welt lösen und den eigenen Gesetzen ‒ z. B. der Eindeutigkeit, der Widerspruchs- freiheit und der Kohärenz ‒ folgen. Auf dieser Basis nennt Reinhard Keil das entscheidende Krite- rium für Formalisierung: Formalisierbarkeit, sagt Keil, bedeutet, dass Probleme so behandelt werden, und so behandelt werden kön- nen, als seien sie von der Welt unabhängig: „Formalisierung bedeutet, die Manipulation […] nur noch auf die Form und Anordnung der Elemente zurückzuführen, nicht mehr darauf, wofür sie stehen.“ 173 Und Keil setzt fort: „Gelingt dies, kann man den Prozess automatisieren, d. h. seine Ausführung an eine Maschine übergeben.“174 Formalisierung bedeutet, dass die Manipulation ‒ das Prozessie- ren ‒ auf rein syntaktische Operationen eingeschränkt werden kann. Syntaktische Operationen sind materielle Operationen in Raum und Zeit, ohne jede Rücksicht auf die Dimension der Bedeu- tung; und die ‚Form und Anordnung der Elemente‘ zu verändern ist ein äußerer, materieller Vorgang. 173 Keil, Reinhard: Von der Zeichentransformation zur Wissensarbeit. Digitale Medien eröffnen neue Potenziale für die Wissensarbeit. In: Forschungsforum Paderborn, Nr. 4, 2001, S. 12-17, hier: S. 14 (Hervorh. H. W.). 174 Ebd. KAPITEL 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 91 Auf diesen Typus von Operationen sind Computer vollständig eingeschränkt. Alles, was auf ihrem Terrain prozessieren heißt, ist die schrittweise Änderung der Form und der Anordnung von Zei- chen. Und in dieser drastischen Reduzierung – dies ist zentral – unterscheiden sich Rechner grundsätzlich von allen anderen Me- dien, die eine ungleich breitere Palette von Prozessen und Manipu- lationen kennen; auf der Ebene des Technischen, wenn die Foto- grafie die Reflexion des Lichts und die Chemie ins Spiel bringt, und auf einer allgemeineren Ebene, wenn das ‚Prozessieren‘ der Literatur von der Ebene der Bedeutung eben keineswegs absehen kann. Und eingeschränkt aufs Syntaktische ist nur das Prozessieren innerhalb der Rechner selbst. Dieses interne Prozessieren ist ein- gebettet in die schwirrende Vielfalt der Herstellungs-, Anwen- dungs- und Nutzungsprozesse; Prozesse, die ungleich komplexer, und denjenigen anderer Medien durchaus ähnlich sind; dies hat die Überlegung zum Modell ausreichend klargemacht. Es ist deshalb unumgänglich, beide Ebenen zu betrachten, und beide Ebenen in einen valenten Begriff des Prozessierens einzubringen. 5. Algorithmen Klammert man die Modellbildung aus und beschäftigt sich nur mit dem rechner-internen, syntaktischen Prozessieren, muss man als einen weiteren Begriff den des Algorithmus klären, denn es sind Algorithmen, die das Prozessieren der Rechner steuern. „Ein Algo- rithmus“, sagt das Lexikon, „ist eine allgemein nachvollziehbare eindeutige Beschreibung einer Folge von Aktionen zur Lösung eines, meist mathematischen Problems.“175 Sofort fällt auf, dass die Definition ganz auf die Handlung abhebt. Damit ist ‒ wie selbstverständlich ‒ das Handlungsmodell unterstellt, das im Zusammenhang des Prozessierens schon ver- schiedentlich aufgetaucht ist, und das das Prozessieren mit Praxen und Arbeit, mit Zielen und ‚Problemen‘, die gelöst werden sollen, verkettet. Der Algorithmus selbst beschreibt die Handlung im Vor- 175 Online-Lexikon ITWissen: http://www.itwissen.info/definition/lexikon/Algo rithmus-algorithm.html, 22.7.2014; andere Lexika bieten geringfügig variiert dieselbe Definition. 92 1 PROZESSIEREN hinein, also bevor die Handlung beginnt; und er schreibt die Hand- lung vor, eine Vor-schrift, ähnlich wie das Pro-gramm. Und in der Vorschrift lauern Anweisung und Befehl, d. h. die viel zu wenig beachtete Tatsache, dass die Kommunikation mit Computern sich ‒ als sei auch dies selbstverständlich ‒ einer Spra- che des Befehls bedient, die neben Deklarationen und logischen Verknüpfungen fast ausschließlich Imperative kennt. Algorithmen, Probleme und Lösungswege sind zunächst Be- standteil der Mathematik; gleichzeitig ist schon die zitierte Defini- tion ganz offensichtlich am Computer orientiert, und dieser ist wesentlich stärker in die Welt involviert als die Mathematik selbst: Auf der Problemseite, insofern die Modelle auf die Lösung real- weltlicher Probleme abzielen, im Bezug auf das Prozessieren, das eingebettet in tatsächliche Handlungen ist, und im Hinblick auf die Maschine, die als technischer Apparat eben keineswegs weltfrei, sondern immer und notwendig Teil der 3-dimensional-tatsäch- lichen Welt ist. 6. Prozessieren, Transformieren Eine andere Definition, diesmal im Duden, setzt den Akzent etwas anders: „[Algorithmus: Ein] Verfahren zur schrittweisen Umfor- mung von Zeichenreihen; Rechenvorgang nach einem bestimmten (sich wiederholenden) Schema.“176 Mit der Umformung von Zeichenreihen ist jener Bezug auf Form und Formwechsel ange- sprochen, der oben dargestellt wurde; wieder mit der Einschrän- kung, dass die Umformung sich im Fall des Computers nur auf die An- und Umordnung konstituierter Zeichen, oder wie das Lexikon sagt Zeichenreihen, bezieht. Für die Frage nach dem Prozessieren ist die Vorstellung einer ‚Umformung‘ zentral. Wie aber formen Computer Zeichen und Zeichenreihen um? In der Welt der Computer sind Algorithmen gegliedert in eine Abfolge einzelner Statements oder Handlungs- anweisungen, die im Programm als Zeilen untereinander stehen und die, wenn das Programm ausgeführt wird, linear nacheinander abgearbeitet werden. Für die ‚Umformung‘ nun sind sowohl die einzelnen Statements als auch deren Abfolge relevant. 176 Duden online, Stichwort: Algorithmus, http://www.duden.de/rechtschreibung/ Algorithmus, 23.4.2013 (Erg. u. Hervorh. H. W.). KAPITEL 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 93 Einzelne Statements formen Daten um, etwa indem sie eine Be- rechnung vornehmen; Beispiel sei eine einfache Addition: c = a + b Was in der Mathematik eine Gleichung wäre, also einen bestimm- ten Zusammenhang zunächst beschreibt, ist hier allerdings eine Handlungsanweisung, die etwa so zu übersetzen wäre: - Berechne die Summe von a und b und weise sie der Ergebnisvariablen c zu. Oder genauer: - Nimm den Inhalt der Speicherstelle, die mit dem Namen a deklariert wurde, - nimm den Inhalt der Speicherstelle b, - führe eine Addition aus - und schreibe das Ergebnis an die Speicherstelle c, und zwar unabhängig davon, was vorher in c stand. Das Gleichheitszeichen also ist eigentlich ein von rechts nach links gerichteter Vektor, der vorbestimmt, was zum Zeitpunkt der Aus- führung eine Handlung ist. Und Inhalt dieser Handlung ist ein Transfer; und das heißt in den Begriffen, die mein Buch diskutiert, eher eine Übertragung als eigentlich ein Prozessieren. ‚Umgeformt‘ wird der Wert von c. Aber auch dieser Wert wird eigentlich nicht umgeformt, sondern schlicht überschrieben. Und was als Wandel, als Qualitätsveränderung erscheint, löst sich im Computer in einfache Vorgänge des Lesens und des Schreibens, bzw. des Überschreibens von Speicherstellen auf. Auf diesen Punkt werde ich an anderer Stelle zurückkommen.177 Die zweite Ebene der ‚Umformung‘, wie gesagt, ist die Abfolge der Statements. Deren Reihenfolge ist von großer Bedeutung, denn Computer178 verfahren strikt linear und arbeiten die Statements in strenger Folge ab, so dass jeder Einzelbefehl auf die Zwischen- ergebnisse aller vorangegangenen Schritte zugreifen kann. Die Abfolge des Programms bildet insofern die Makrostruktur, in der die einzelnen Statements ihren Ort haben, und es macht einen Unterschied, ob ein Statement auf ein anderes Statement folgt oder diesem vorangeht. Insgesamt aber gilt auch hier, was über die ein- 177 Kapitel 3.2, ,Was tut ein Prozessor?‘. 178 … zumindest von-Neumann-Computer … 94 1 PROZESSIEREN zelnen Statements gesagt wurde: Auch auf der Makroebene des Programms gibt es keinen Wandel und keine Qualitätsverände- rung, sondern nur das fortlaufende Lesen und Schreiben bzw. Überschreiben von Speichern. Exakt dies war gemeint, wenn oben gesagt wurde, dass Rechner auf ‚syntaktische‘ Operationen einge- schränkt sind. 7. Schluss Wenn Algorithmen also eine Sprache sind, dann sind sie eine sehr besondere Sprache. Die Rede allein von ‚Formalsprachen‘ droht wichtige Aspekte zu verdecken: Der Handlungscharakter wird erst deutlich, wenn man sich überlegt, was ein Algorithmus ist, und ebenso die Sprache des Befehls, die ebenfalls eine sehr besondere Sprache ist. All dies ist sehr bedenkenswert, wenn Handlung und Befehl nicht unreflektiert, als Konterbande, in den Begriff des Prozessierens eingehen sollen. Und ebenso die Annahme einer Weltfreiheit des Formalen. Ohne Besinnung auf den Modellbegriff und die Praxen der Model- lierung kann nicht deutlich werden, dass eben beides richtig ist: dass Formalsprachen formal sind, weil sie eigenen Regeln folgen, und eben doch verwendbar für den Aufbau von Modellen, die immer Referenz und Weltbezug behaupten. Strikt reduziert auf syntaktische Operationen, aber dennoch involviert in und zurück- gebunden an jene Welt, die die dominierende Auffassung von ‚Formalisierung‘ vollständig verabschiedet sieht. Erst wenn man diese Doppeldeutigkeit verstanden hat, kann man auch im Feld des Prozessierens Ordnung schaffen. Innerhalb der Rechner selbst ist Prozessieren eingeschränkt auf das syntak- tische, materielle Umordnen von Zeichen. Die Rechner selbst aber sind eingebettet in Nutzungsprozesse, die ungleich komplexer und den anderen Medien ähnlich sind, und die Nutzungsprozesse sind den Rechnern nicht einfach äußerlich; der Entschluss, nur das For- male selbst zu sehen und die Nutzungsprozesse auszublenden,179 vielmehr ist nicht mehr als ein Entschluss; und wenn die Informa- 179 Der Begriff der ‚Nutzung‘ ist ähnlich problematisch wie derjenige der Anwen- dung. Eine Medientheorie des Computers, denke ich, wird nahezu alle Alltags- begriffe im Umfeld der Rechner einer eingehenden Revision unterziehen müssen. KAPITEL 1.8 ALGORITHMEN, MATHEMATISCHE TRANSFORMATIONEN 95 tik sich auf ihre ‚Kontexte‘ besinnt,180 dann um diese Vereinsei- tigung zu korrigieren. Wenn oben also vorgeschlagen wurde, verschiedene Begriffe des Prozessierens zu unterscheiden, findet sich dies hier bestätigt; man braucht [1.] einen weiten Begriff für Medienprozesse allge- mein, [2.] die vorgeschlagene Definition der ‚Eingreifenden Ver- änderung‘, und [3.] jenen engsten, der das Prozessieren auf syn- taktische Operationen einschränkt. Neu ist, dass die Rechner offen- sichtlich an allen drei Begriffen Anteil haben: Am ersten, etwa mit Blick auf die Modellbildung, am zweiten sowieso, weil ‚Eingrei- fende Veränderung‘ maschinelle wie menschliche Eingriffe um- fasst; und der dritte, engste Begriff betrifft die Computer allein, weil nur sie ‒ auf der Seite des Formalen ‒ Prozessieren auf rein syntaktische Operationen beschränken. Dies, um auch das noch einmal zu sagen, ist ihre Besonderheit im Reich der Medien, und gleichzeitig der Punkt, der eine vorschnelle Verallgemeinerung verbietet. 180 Reinhard Keil, der oben als Zeuge genannt wurde, hat seine Professur in Pader- born von ‚Informatik und Gesellschaft‘ in ‚Kontextuelle Informatik‘ umwid- men lassen … Kapitel 1.9 HANDELN OHNE SUBJEKT? Wenn Flusser die materielle Produktion als Beispielfeld für In- Formation und Formgebung wählt, die Arbeit und schließlich die Schöpfung, dann sind hiermit weitreichende Implikationen verbun- den, die man ebenfalls kurz überdenken sollte, damit sie nicht un- reflektiert auch die Vorstellung des ‚Prozessierens‘ bestimmen. Deutlich ist zunächst, dass Arbeit ein Subjekt verlangt, das diese Arbeit leistet; im Fall der materiellen Produktion sind Subjekt der Arbeit, relativ unproblematisch, Menschen;181 im Fall der Schöp- fung Gott, und davon abgeleitet wieder der Mensch, z. B. in der Figur des Künstlers als Paradigma des schöpferischen Subjekts. Schon im Fall der materiellen Produktion aber tut sich die Frage auf, welchen Status Maschinen haben. Im Kapitel zur eingreifen- den Veränderung wurde gesagt, dass Maschinen häufig zuge- schrieben wird, ‚Arbeit‘ zu leisten,182 was zunächst eine anthropo- morphisierende Metapher ist, gleichzeitig aber zu fassen versucht, dass spätestens mit den Energiemaschinen des 19. Jahrhunderts ein Moment von Eigenbewegung in den Maschinenpark einzieht. Der Status der Maschinen als ‚Werkzeug‘ und Mittel wird zunehmend prekär, wenn das Stahlwerk seinen Schöpfer körperlich winzig erscheinen lässt; mit zunehmender Automation (und das heißt Selbsttätigkeit) dieser Maschinen muss die Frage endgültig kritisch werden. Im Fall des ‚Prozessierens‘ ist es ohnehin eher umgekehrt. Wenn der Term vom Computer her kommt, oder auf dem Terrain des Computers seinen Kern und seine schlichteste Evidenz hat, ist sein Terrain von vornherein das der Maschine. Die Frage wäre ent- sprechend nicht, ob Maschinen ‚arbeiten‘, sondern ob auch andere 181 Besonders deutlich ist dies bei Marx, dessen politisches Projekt es ist, das Subjekt der Arbeit ‒ den Arbeiter ‒ zum Subjekt auch der Geschichte zu machen … 182 Eine Lieblingsvorstellung der kapitalbesitzenden Bürger ist, dass auch das Kapital ‚arbeitet‘. 98 1 PROZESSIEREN Instanzen als Maschinen ‚prozessieren‘ können. (Und abgeleitet davon, ob es Unterschiede zwischen Arbeit und Prozessieren gibt). Gleichzeitig aber war ja die These, dass ‚Prozessieren‘ nicht ausschließlich ein Computerterm ist; und wenn geprüft werden soll, ob der Begriff auch auf andere Medien zu applizieren ist, dann wird die Lage sofort wieder komplizierter. So erscheint es sinnvoll zu fragen, ob auch das Prozessieren ein Subjekt braucht, bzw. welchen Instanzen man die Fähigkeit zu prozessieren zu- schreiben will. Geht man vom Alltagskonzept aus, sind neben Computern sicher allgemeiner Maschinen zu nennen; die Trans- formationen in der technischen Signalkette, die die Apparatus- Autoren genannt hatten, wären ein Beispiel; ein anderes, ebenfalls mehrfach genannt, das chemische ‚Processing‘ von Filmmaterial. Menschen können selbstverständlich ebenfalls als Instanzen des Prozessierens fungieren; anders erscheint eine Applikation auf die Medien insgesamt sicher nicht möglich, und der Anschluss an Konzepte wie die Transkription oder die Übersetzung, die nicht primär technische Terme sind, würde reißen. Und weil Medien immer im intersubjektiven Raum ihren Ort haben, wären sicher auch Kollektive und Institutionen zu nennen, die man ohnehin häufig nach dem Muster des Subjekts, als Quasi- Subjekte, verstanden hat, etwa wenn die bürgerliche Rechtsord- nung Institutionen den Status ‚juristischer Personen‘ verleiht. Generell ist das Problem der Anthropomorphisierung keines- wegs auf die ‚Arbeit‘ der Maschine beschränkt. In der Akteur- Netzwerk-Theorie, die programmatisch eine Auflösung der Grenze zwischen Subjekten und Objekten vertritt, wird dies mehr als deut- lich, und es hat mich immer wieder verblüfft, wie schnell, wie breit und relativ unkritisch der radikale, in der Sache aber doch eher schlichte Schachzug akzeptiert wurde, auch den Dingen ‚Agency‘ (Handlungsfähigkeit) zuzuschreiben. Auf einer sehr basalen Ebene tut dies bereits die Alltagssprache, wenn sie erlaubt, dass Dinge in der grammatikalischen Position des Subjekts auftreten. Wenn ich sage: ‚Mein Computer, das Mistding, hat schon wieder nicht getan, was er sollte“ aber ist damit der Verdacht eines uneigentlichen Sprechens verbunden; wer so spricht, weiß natürlich, das ein Computer nichts ‚tut‘, oder zu- mindest nicht in exakt dem Sinne, in dem man Menschen Hand- lungen zuschreiben würde. KAPITEL 1.9 HANDELN OHNE SUBJEKT? 99 Und selbstverständlich hat die ANT sich hierüber Gedanken gemacht, das traditionelle Handlungskonzept kritisiert und ihre These in eine ganze Konzeption, eine Theorie der Agency ausge- baut. Möglicherweise aber wäre es nötig, das Handlungsmodell selbst in Frage zu stellen. Dieses Handlungsmodell führt die Akteur-Netzwerk-Theorie ‒ paradox ‒ bereits im Namen; paradox deshalb, weil die Subjekt-Objekt-Spaltung, die aufzuheben oder zu hinterschreiten das hauptsächliche Anliegen ist, im Handlungs- modell ihre verlässlichste Stütze hat. Jede Vorstellung von Handlung verlangt ein Subjekt, das mit Objekten etwas tut; und schon die Grammatik, die Vorschriften zum Satzbau, sind in fast allen Sprachen nach einem Handlungs- modell strukturiert, wenn sie ein grammatikalisches Subjekt in die Position setzen, mit Hilfe des Verbs die Objekte zu ‚regieren‘. Zudem wird das Handlungskonzept häufig auf intentionale Hand- lungen zentriert.183 Das schafft zusätzliche Probleme, weil nun nicht mehr die Handlung, sondern die Intention auf die handelnden Instanzen zugerechnet werden muss. Dies alles zeigt, dass die Wurzeln des Problems sehr tief liegen, und die Anthropomorphi- sierung sich als ausgesprochen widerständig erweist. Durch einen heroischen Entschluss, wie den, auch den Dingen Agency zuzuge- stehen, jedenfalls wird sie kaum zu umgehen sein. Umso wichtiger ist festzustellen, dass es durchaus auch Ansätze gibt, die vom Handlungskonzept Abstand nehmen oder es zumin- dest relativieren, und diese könnten für ein Verständnis des Prozes- sierens durchaus wichtig sein. Solche Ansätze finden sich zunächst auf dem Terrain des Handlungsbegriffs selbst, über den vor allem die Soziologie intensiv nachgedacht hat, weil sie sich zu weiten Teilen als eine Wissenschaft menschlichen Handelns versteht.184 183 So referiert etwa Giddens das dominante Handlungskonzept der Soziologie: „Ein menschliches Wesen zu sein, heißt, ein zweckgerichtet Handelnder zu sein, der sowohl Gründe für seine Handlungen hat, als auch fähig ist, diese Gründe auf Befragung hin diskursiv darzulegen (oder auch: sie zu verbergen).“ Um dann sofort einzuschränken: „Aber mit solchen Begriffen wie ‚Zweck‘, bzw. ‚Intention‘, ‚Grund‘, ‚Motiv‘ und so fort muß vorsichtig umgegangen werden.“ (Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/New York, NY 1995, S. 53 (EV, engl.: 1984)). 184 „Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich 100 1 PROZESSIEREN Innerhalb der Soziologie wurden Positionen entwickelt, die den Handlungsbegriff in einem ersten Schritt von der Intention lösen.185 In der Folge wurden auch solche Akte als Handlungen anerkannt, die nicht oder nur teilweise auf Intention zurückgehen; beeinflusst u. a. durch die Psychoanalyse wurden neben bewussten auch un- bewusste Motive als Antrieb einbezogen, der Handlungsbegriff nähert sich hierdurch dem des Verhaltens an. Andere Begriffe wie der der Praktiken ‒ etwa bei Foucault ‒ würden die Frage nach Intentionen von vornherein an den Rand rücken. Wer von Praktiken spricht, klammert die Frage, wer Träger oder Subjekt dieser Praktiken ist, quasi ein; das Subjekt wird in den Strom seiner Praktiken verflüssigt; Gegenstand der Beobach- tungen sind nun die Praktiken und nicht mehr die Subjekte, die Praktiken treten quasi an deren Stelle. Andere Soziologien gehen einen ähnlichen Weg; so, bei allen Differenzen, z. B. Luhmann, wenn dieser das Handlungskonzept explizit verwirft und anstelle von Handlungen (und Subjekten) ‚Kommunikationen‘ beobachten will. Beim ‚Prozessieren‘ nun, und das ist bei aller skizzenhaften Verkürzung die Pointe der Rekonstruktion, könnte es sich um ein ähnliches Konzept handeln. Möglicherweise klammert auch das Prozessieren die Frage nach Handlung und Subjekt ein. Gerade dass der Terminus vom Terrain der Technik ausgeht, dass ihm auch alltagssprachlich etwas unpersönlich Menschenfernes anhaf- tet, könnte anzeigen, dass es darum geht, die Probleme des Hand- lungskonzepts zumindest zu umschiffen. Dies mag für Kittler, der sich gern in den Mantel eines provo- kativen Antihumanismus kleidete, die Attraktion des Begriffs aus- gemacht haben. Auch wenn man diesen Gestus nicht teilt aber kann es Sinn machen, Begriffe auszuprobieren, die zumindest nicht erklären will.“ (Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verste- henden Soziologie. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2005, S. 3 (EV: 1922). 185 Giddens setzt fort: „[Wir müssen] die Frage, was ein Handelnder ‚tut‘, von der- jenigen trennen, was ‚beabsichtigt‘ wird, bzw. von den intentionalen Aspekten dessen, was getan wird. Handeln bezieht sich auf das Tun. Das Licht anmachen war etwas, was der Handelnde getan hat, und den Dieb aufzuschrecken war gleichfalls etwas, was der Handelnde tat. Es war unbeabsichtigt, wenn der Handelnde nicht wußte, daß der Dieb da war […]. Nicht-intentionale Taten können konzeptionell von nicht-intendierten Folgen von Taten getrennt wer- den“. (Giddens, Die Konstitution, a. a. O., S. 61 (Erg. u. Hervorh. H. W.)). KAPITEL 1.9 HANDELN OHNE SUBJEKT? 101 sofort und nicht zwingend mit dem menschlichen Handeln ver- quickt sind. Bestimmte Zwischenergebnisse, die bislang herausgearbeitet wurden, allerdings werden hierdurch rückwirkend in Frage gestellt. So erscheint die ‚Eingreifende Veränderung‘ zwar nicht notwendig an menschliche Akteure, sehr wohl aber an das Handlungsmodell gebunden, und zwar stärker als das Prozessieren selbst, so dass hier ein Teil der Radikalität der These zurückgenommen würde. Und deutlicher noch im Rekurs auf die ‚Arbeit‘, sowie in den Begriffen der Transkription und der Übersetzung, die ebenfalls weitgehend menschengebunden sind. Dass es gleichzeitig ohne solche Parallel- begriffe oder Übersetzungen nicht geht, weil der Begriff des Pro- zessierens sonst im Dunkeln bliebe, macht einen Teil der Schwie- rigkeit aus. Offensichtlich ist der Begriff von Spannungen durch- zogen, denen sich, wer ihn verwendet, wird stellen müssen; und ebenso offensichtlich ist es keine Lösung, der Technik im Hand- streich Agency zuzuschreiben oder ausgerüstet mit ursprünglich technischen Termini antihumanistisch-auftrumpfend auf die Seite der Technik zu wechseln. Der Begriff des Prozessierens hat nicht die Kraft, das Handlungsmodell ganz zu verabschieden, und des- halb wird er auch die Probleme, die mit diesem verbunden sind, nicht vollständig los. Kapitel 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 1. Eingreifende Veränderung Was nun hat der Durchgang durch die genannten, durchaus hetero- genen Theoriefelder gebracht? Der Vorschlag, mediales Prozessie- ren als eingreifende Veränderung zu definieren, denke ich, bewährt sich in verschiedener Hinsicht. Zum einen, insofern klar wird, dass nicht alles mediale Prozessieren eingreifende Veränderung ist. Die Aktivitäten der Post, um das Beispiel noch einmal zu nennen, also Übertragen, Adressieren und Weiterleiten, sind zwar Medien- prozesse, fallen, da sie das Produkt selbst intakt lassen, aus einem engeren Begriff des Prozessierens aber heraus. Mein Vorschlag ist entsprechend, einen weiteren und einen engeren Begriff zu unter- scheiden: Prozessieren im weiteren Sinn umfasst Medienprozesse allgemein, Prozessieren im engeren Sinne nur solche Vorgänge, die in das Produkt eingreifen und es verändern. Die Dreiteilung, die am Schluss des ersten Kapitels steht,186 ist insofern das erste manifeste Ergebnis. Prozessieren weiter Begriff Medienprozesse Post… und -tätigkeiten allgemein enger, präziser Begriff Eingreifende Eingriffe Beleuchter, Veränderung aller Art Cutter „Manipulation Autor, von Wörtern Computer- und Zahlen“ prozessor Abb. 6 186 S. 32. 104 1 PROZESSIEREN Sie erlaubt, die Dinge einigermaßen übersichtlich auseinanderzu- legen: Auf der mittleren Ebene die ‚Eingreifende Veränderung‘, der das hauptsächliche Interesse meines Buchs gilt. ‚Oberhalb‘ ein allgemeineres Konzept, das auch die Aktivitäten der Post mit umfassen würde; und ‚unterhalb‘ der Computer, wo Prozessieren eine „Manipulation von Wörtern und Zahlen“ ist. Dem Konzept der eingreifenden Veränderung kann man näher kommen, wenn man auch Transformieren, Transkribieren, Über- setzen und weitere verwandte Konzepte mit reflektiert. Hierbei wird deutlich, dass sich im Feld eine Vielzahl von Ebenen schnei- den: Transformationen kann es innerhalb von Medien und zwi- schen Medien geben; auf Ebene der Technik wie durch Eingriff menschlicher Subjekte, als singulären Eingriff oder als Prozess- kette, unter Erhalt der Form oder als Formveränderung, resultat- offen oder relativ determiniert. Wenn das Konzept trotzdem nicht zerfließt, nicht völlig unspe- zifisch wird, dann weil es dennoch so etwas wie einen Kern hat: Es lenkt den Blick darauf, dass innerhalb von Medien an Medien- produkten gearbeitet wird, dass diese erarbeitet, bearbeitet und ständig weiterbearbeitet werden. Im Feld der Medienproduktion wäre ‚Prozessieren‘ intuitiv plausibel, und möglicherweise eben wäre die Rezeption einzubeziehen, insofern auch hier eine Bear- beitung stattfindet, auch wenn dies keine materielle Bearbeitung ist. Die Zwischensphäre der Distribution wäre von der Eingreifen- den Veränderung ausgeschlossen, hier würde nur der erste, weite Begriff des Prozessierens greifen. Prozessieren versucht zu fassen, dass die Produkte plastisch sind und sich auf den verschiedenen Prozessstufen immer wieder ver- ändern. Prozessieren bewährt sich als Perspektive, die die Auf- merksamkeit speziell auf Eingriffe fokussiert. Und gleichzeitig wird zum Rätsel, wodurch Medien und Medi- enprodukte überhaupt Stabilität, oder Zustände einer relativen, ephemeren Stabilität, gewinnen. Dies macht es nötig, das Argu- ment zu begrenzen und das Prozessieren auf die Monumentalisie- rung in technischen Speichern zurückzubeziehen. In Mechanismen der Stillstellung hat das Prozessieren sein notwendiges Komple- ment. Wenn gesagt wurde, dass Prozessieren zwischen Verflüssi- gung und Verfestigung oszilliert, geht es um den Wechsel zwi- schen Prozessen und Reifizierung; Vorgänge und Dinge, Verben und Substantive, Prozess und Archiv bleiben dialektisch aufeinan- KAPITEL 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 105 der bezogen. In der Eingangs-Trias wäre dies das Verhältnis zwi- schen Prozessieren und Speichern. Dieses wird Gegenstand eines eigenen Abschnitts sein.187 Ebenso erscheint offen, in welchem Verhältnis Prozessieren und Vorgänge der Kommunikation und der Übertragung stehen. Wurde einerseits gesagt, dass auch die Post ‚prozessiert‘, so erscheint zu- mindest der verändernde Eingriff eigentümlich unkommunikativ, der Kommunikation abgewandt. Auch hieran werde ich im Fol- genden anschließen.188 2. Beharrung und Veränderung Ein weiteres Ergebnis ist, dass Prozessieren es immer mit dem Wandel und dem Neuen zu tun hat. Damit bildet es den dynami- schen Widerpart jener vielfältigen Kräfte der Beharrung, die für die Medienlandschaft in gleicher Weise kennzeichnend sind. Medien übernehmen Funktionen des kulturellen Gedächtnisses und der kulturellen Kontinuierung; dinglich-materiell in der Funktion des Speicherns, die schon genannt wurde, in Wechselbeziehung zum menschlichen Gedächtnis, das als ein ‚Speicher‘ mit eigenen Regeln und Qualitäten fungiert, und in Zyklen der Wiederholung, wie sie für Riten, aber auch für die Herausbildung von Gewohn- heiten, Schemata und Stereotypen kennzeichnend sind. Den Aspekt der Beharrung in seinen unterschiedlichen Ausprä- gungen zu zeigen, stand im Mittelpunkt meiner eigenen Arbeiten der Vergangenheit;189 und diese Ausrichtung konnte sich auf prominente Vorläufer berufen: So hatte Kittler in seinen Schriften den Medienbegriff von der ‚Kommunikation‘ gelöst, und statt- dessen materielle Speicher und Discourse Networks ins Zentrum gerückt;190 Aleida und Jan Assmann haben in vielfältigen Ansätzen 187 Kapitel 2.3, ,Speichern‘. 188 Kapitel 2.1, ,Relation der drei Medienfunktionen‘. 189 Dies gilt für mein Buch ,Docuverse‘, das ein Kapitel zu Speichern und Gedächtnis enthält (Winkler Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. München: Boer 1997, S. 81-130); für ein zentrales Kapitel meiner Diskursökonomie (a. a. O., S. 110-130) sowie für verschiedene meiner Texte zu Schemabildung und Stereotypen. 190 Kittlers Begriff der ‚Aufschreibesysteme‘ verweist auf die Speicher, die auch in ‚Grammophon, Film, Typewriter‘ im Mittelpunkt stehen; die englische Über- setzung ‚Discourse Networks‘ allerdings ist mehr als zutreffend; sie hebt her- vor, dass es Kittler, zumindest im Teil ‚1900‘, eigentlich um die Verschal- 106 1 PROZESSIEREN das individuelle Gedächtnis auf das kollektive, das kulturelle und das mediale Gedächtnis bezogen,191 und von Leroi-Gourhan war zu lernen, die Frage techniktheoretisch / anthropologisch und über die großen Zeiträume der Paläontologie zu reformulieren.192 Wenn ich nun das Prozessieren zum Thema mache, wechsele ich gewissermaßen die Seite und fokussiere auf Wandel und Inno- vation. Medien ‒ wer könnte das übersehen ‒ sind selbst drasti- schen Veränderungen unterworfen und organisieren völlig gleich- wertig zur Beharrung einen ständigen Strom von Veränderungen, der die Ebene der medialen Inhalte und der medialen Formen und Formate ebenso betrifft wie die Formen gesellschaftlicher Einbin- dung, mediale Institutionen und Gebrauchsformen, und nicht zu- letzt auch die Medientechnik selbst. Wenn diese Veränderungen die Medien nicht von außen anfallen, wie eine Erfindergeschichte dies suggeriert, wird man den Motor der Veränderung deshalb innerhalb der Medien selbst auffinden müssen, als ein Moment der Unruhe, das die Entwicklung quasi von innen erzwingt. Hierfür kommen am ehesten die medialen Praktiken in Frage, und von den drei Medienfunktionen am ehesten das Prozessieren. tungslogik des Literaturbetriebs geht. (Vgl.: Kittler, o.T. [Vorwort zum Buch Aufschreibesysteme 1983], a. a. O. 191 Assmann, Aleida: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Huber, Jörg; Müller, Alois Martin (Hg.): Raum und Verfahren. Basel/Frankfurt am Main 1993, S. 133-155. - dies.; Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991. - dies.: Schrift und Gedächtnis − Rivalität oder Allianz? In: Faßler, Manfred; Halbach, Wulf (Hg.): Inszenierungen von Information. Gießen 1992, S. 93-102. - dies.; Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Merten, Klaus; Schmidt, Siegfried J.; Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissen- schaft. Opladen 1994, S. 114-140. - dies.; Assmann, Jan; Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Ar- chäologie der literarischen Kommunikation. München 1993, S. 265-283 (EV: 1983). - Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders.; Höl- scher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9-19. - ders.; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988. - ders.: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten. München 1991. 192 Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (EV, frz.: 1964). KAPITEL 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 107 Die deutsche Medientheorie, auch dies wurde gesagt, stellt gegenwärtig auf breiter Front von Reifizierungen (Texten und Hardware) auf Praktiken und Kulturtechniken um, und meine Überlegung reiht sich in diesen Kontext sicherlich ein. Unter den Praktiken allerdings ist Prozessieren eine sehr besondere Praxis. Auch die Praktiken selbst nämlich haben beide Aspekte: den Aspekt der Beharrung, etwa in der Regelhaftigkeit oder Wieder- holung, und den der Innovation. Das Prozessieren ‒ als Eingrei- fende Veränderung ‒ scheint von vornherein auf die Seite des Neuen zu fallen, insofern es eben Eingriff und Veränderung, und mit Blick auf die Wiederholung die Verschiebung, betont. Mit den Praktiken wie dem Moment der Verschiebung komme ich auf die zweite meiner theoretischen Leidenschaften zurück. Beharrung und kulturelle Kontinuierung habe ich immer in Wech- selbeziehung zu medialen Praxen zu modellieren versucht, und ich bin nach wie vor überzeugt, dass mediale Prozesse nur in einer Wechselbeziehung zwischen Praktiken und Niederlegungen analy- siert werden können.193 Das prominenteste Beispiel hierfür, ich habe dies in verschiedenen meiner Veröffentlichungen beschrie- ben, ist die Wechselbeziehung zwischen Sprechen und Sprache: Sprache stellt die Formen bereit, die es möglich machen, überhaupt erst zu sprechen, und umgekehrt gehen die Formen und Konven- tionen der Sprache auf die tatsächlichen Diskurse der Vergangen- heit, also auf Praktiken des Sprechens zurück. In der Folge habe ich vorgeschlagen, das System der Sprache selbst als eine Nieder- legung zu begreifen, als ein Produkt, in dem sich die unendliche Vielfalt der tatsächlichen Diskurse verdichtet. So gefasst steht die Sprache für das Paradox eines dynamischen Monuments; ein Monument, das monumental beharrt und gleichzeitig ständigen Verschiebungen (der Bedeutungen und der sprachlichen Regeln) ausgesetzt ist.194 In diese Grundvorstellung wäre das Prozessieren einzuordnen, als diejenige Kraft, die für die Verschiebungen ver- antwortlich ist. 193 Dies ist Kern in dem bereits genannten Kapitel der ‚Diskursökonomie‘ … 194 Winkler, Diskursökonomie, a. a. O., S. 110-130. 108 1 PROZESSIEREN 3. Formveränderung So augenfällig und unabweisbar der Wandel ist, so wenig scheint er mir bisher begrifflich durchdrungen. Dies wird deutlich, sobald man den Wandel als Transformation zu fassen versucht, und von dort aus zurückgeht auf den Begriff der Form. In der Medien- wissenschaft in den unterschiedlichsten Kontexten verwendet ‒ als ästhetische Form, als Selbstetikettierung des Formalismus, im Begriff der Formalsprachen und, nicht zuletzt, der Information ‒ ist dieser Begriff dennoch nicht mehr als ein Rätsel. Formverände- rung, der Wandel von Form, muss insofern als das Rätsel des Rätsels erscheinen, und hier wird deutlich, wie sehr es der Medien- wissenschaft noch immer an präzisen begrifflichen Werkzeugen fehlt. Ohne eine Inanspruchnahme solcher Referenzen allerdings kommt eine Überlegung zum Prozessieren nicht aus, soll das Kon- zept nicht entweder leer bleiben, oder sich, was schlimmer ist, auf unkontrollierte Weise mit Computerkonnotationen füllen. Dieses Problem wurde in den Eingangszitaten gezeigt, von denen einige das Problem deutlich benennen. Trotz dieser Schwierigkeiten schlage ich deshalb vor, Transfor- mation und Formveränderung ‒ neben der Eingreifenden Verände- rung und in Spannung zu ihr ‒ als Definition zu verwenden. Zu- nächst in einem alltagssprachlichen Sinn, der auf die Klärung der Frage nach der Form nicht angewiesen ist, und dann als Aufforde- rung, in die eingeschlagene Richtung weiterzudenken: im Über- gang vom Prozessieren zu Transformation und Form, und im Brü- ckenschlag zu einem veränderten Konzept von Information, ohne das eine kritische Durchdringung des Computers und vielleicht der Medien insgesamt wahrscheinlich nicht möglich ist. Ebenfalls wichtig für ein Verständnis des Wandels ist die Magie. In der Überlegung zu magischen Transformationen und dann zur Emergenz ist deutlich geworden, dass es Formwechsel gibt, die zwar beobachtbar und raum-zeitlich-materiell, dennoch aber nicht völlig erklärbar, und Erklärungen, die nicht völlig hin- reichend sind. Unerklärliche Formwechsel aber sind nicht weit vom Wunder entfernt. Magische Transformationen sind deshalb ein Gegenpol zu einem verkürzten Verständnis, das Prozessieren auf der Linie von Transformation, Form und Computer vorschnell allein mit diesseitig raum-zeitlich-materiellen Operationen verbin- KAPITEL 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 109 det. Was für den Computer zutrifft, muss nicht für alles mediale Prozessieren zutreffend sein, und ein valenter Begriff des Pro- zessierens muss auch solche Transformationen einschließen, die weniger luzide und entsprechend weniger luzide beschreibbar sind. Und dies gilt gerade dann, wenn man auf der Linie medienmateria- listischer Ansätze raumzeitliche Operationen dennoch favorisiert.195 Das Feld weniger luzider Medienprozesse beginnt schon dort, wo Prozessieren mit Vorgängen der Wahrnehmung und der Erfah- rung, mit In-Formation, Formgenese und Formgewinn zu assoziie- ren war. Auch an der Grenze zwischen Geformtem und Ungeform- tem wird prozessiert, und dies ist ein Grund mehr, sich mit dem Konzept der Form auseinanderzusetzen. Wahrnehmung und Erfah- rung allerdings verweisen auf mehr; weiter nämlich auf die Tat- sache, dass Prozessieren grundsätzlich anders funktioniert als die beiden anderen, besser untersuchten Medienprozesse, insofern das Prozessieren außerhalb der kommunikativen Achse lokalisiert werden muss, die Sender und Empfänger verbindet. Die Relevanz dieser Überlegung wird im Folgenden zu zeigen sein, wenn es da- rum geht, in welcher Relation die drei Medienfunktionen stehen, und darum, die sogenannten Wahrnehmungsmedien neu zu ver- orten. Wahrnehmung hat es immer mit dem Inneren der Subjekte, und damit mit einer weniger gut ausgeleuchteten Sphäre zu tun. Gleich- zeitig sind Medien in die menschliche Wahrnehmung tief ver- flochten, so dass Medien und Medienprozesse bis ins Innere der Subjekte hineinreichen. Am deutlichsten ist dies im Fall der Spra- che, die im Spracherwerb von außen zu uns kommt, um unser Inneres zu strukturieren. Mit dieser Strukturierung setzt die Spra- che uns eine Brille auf, die unsere Wahrnehmung rastert und die wir nicht mehr absetzen können; so wird niemand ein gestreiftes Pferd sehen, ohne auf irgendeiner Ebene ‚Zebra‘ zu denken. Medien haben insofern immer einen doppelten Ort: Sie verbin- den materielle Dispositive im Außenraum mit dem Innenraum der Subjekte; sie legen im Innenraum der Subjekte Filialen an und machen die Subjekte selbst zum Relais des medialen Dispositivs. Für das Prozessieren bedeutet dies, dass man mit einem Prozessie- ren schließlich auch im Subjekt wird rechnen müssen; Beispiel sei das Denken, als ein mehr als prekärer Medienprozess, der seine 195 Der dritte Teil meines Buchs ist mit ‚Operationen in Raum und Zeit‘ über- schrieben. 110 1 PROZESSIEREN Gegenstände zwar eingreifend verändert, dabei aber notorisch schlecht beobachtet werden kann. 4. Subjekte Und allgemeiner geht’s noch einmal darum, wer ‚Subjekt‘ des Prozessierens ist. Denn auch hier erscheint das Subjekt nicht um- standslos als Herr im eigenen Haus. Wenn die Medien und Dis- kurse das Subjekt durchdringen und es zu dem machen, was es ist, erscheint es fast ebenso plausibel, dass das Subjekt prozessiert wird, wie dass es Urheber, Herr und Meister des Prozessierens ist. Dass auch Maschinen prozessieren, schränkt den Raum der Subjekte zusätzlich ein. Prozessieren, dies war oben eines der Er- gebnisse, ist einer der Begriffe, die sich um Neutralität an der Front zwischen menschlichen und außermenschlichen Akteuren bemühen und versuchen ohne zentral verantwortliche Instanz aus- zukommen. Und gleichzeitig, auch dies sei zugestanden, ist dies eine eini- germaßen vordergründige Lösung. Denn im Rücken der ‚Neutrali- tät‘ entsteht das ganze Bündel von Problemen neu, die im ‚Sub- jekt‘ gelöst erschienen: die Frage, wer Kraft ausübt und über Kraft verfügt, Motor des Wandels ist; wer dem Prozessieren seine Rich- tung vorgibt und es steuert, wie Motive, Intentionen, Zweck und Ziele zusammenspielen, und schließlich, wem das Prozessieren zugeschrieben werden kann. All diese Fragen dauern fort, wenn oben Prozessieren als gerichtete Bewegung, als ein Vektor zu be- schreiben war; als eine Zunahme von Ordnung (Formprägnanz), die keineswegs einfach zufällig und insofern unwahrscheinlich ist. Der Begriff allein kann diese Probleme nicht lösen. Mein Vor- schlag war, die Fragen einzuklammern, und den Begriff des Pro- zessierens eingeklammert / provisorisch zu verwenden; als ein Kon- zept, das seinerseits den Vorschlag macht, zunächst nur deskriptiv den Vorgang selbst zu fassen, Prozess, Transformation und Wandel, ohne Rücksicht darauf, wer ihn verantwortet und bewirkt. Meine Eingangsdefinitionen über ‚Eingreifende Veränderung‘ und ‚Arbeit‘ allerdings kommen hier an Grenzen … KAPITEL 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 111 5. Einbindung in den Diskurs Ein Aspekt, der zur Annahme einer Neutralität passt, ist der Bezug auf die Wiederholung. Die Performativitätstheorie, die sich genuin für Transformationen, Wandel und Veränderung interessiert, hatte den Vorschlag gemacht, nicht den jeweils einzelnen Akt zu be- trachten, sondern dessen Wiederholung in ganzen Ketten von Akten. Dies bettet die Frage nach dem Prozessieren ein in die grö- ßere nach dem Diskurs; entschärft aber das Problem wer prozes- siert, insofern die Träger der Akte und Praktiken hinter die Wie- derholung zurücktreten. Gleichzeitig wirft die Einbettung in den Diskurs durchaus neue Fragen auf, wie man sich den Übergang zwischen dem jeweils einzelnen Prozessieren und dem Ablauf der Geschichte ‒ dem klei- nen und dem großen Wandel ‒ vorstellen kann. Auch hierauf wird es keine schlichte Antwort geben, insofern das Prozessieren auch in dieser Hinsicht schillert: gefasst als Transformation und als Ver- schiebung scheint es Basis aller größeren Veränderungen zu sein; dass es um symbolische Prozesse geht, die einen definierten Abstand zum Tatsächlichen halten, macht zumindest einen direk- ten Übergang in Geschichte unmöglich. 6. Verallgemeinerbarkeit Und schließlich die prekäre Frage der Verallgemeinerbarkeit, ob und inwieweit also das Konzept des Prozessierens tatsächlich für alle Medien gültig ist. Dies war bei Kittler die Behauptung, und sicherlich besonders strittig, aufgrund des mechanistischen Bei- klangs, den das ‚Prozessieren‘ im Fall des Computers hat. Und hier ist nun tatsächlich eine klare und differenzierende Antwort mög- lich. Zum einen ist deutlich geworden, dass Prozessieren keineswegs nur ein Computer-Term ist. Wenn man Prozessieren als Eingrei- fende Veränderung auffasst und verwandte Konzepte wie Trans- formation und Übertragung einbezieht, wird deutlich, dass diese in den unterschiedlichsten Medienkontexten verwendet werden, immer dann, wenn Input und Output sich unterscheiden, sich die Medieninhalte verändern. ‚Eingreifende Veränderung‘ also ist in keiner Weise computerspezifisch. 112 1 PROZESSIEREN Wenn Kittler das Prozessieren allerdings als ein Manipulieren von Wörtern und Zahlen bestimmt hatte, dann schränkt dies die Reichweite des Begriffs ein; denn es ist offenkundig, dass wichtige Medien wie Malerei, Fotografie oder Musik nicht über Wörter und Zahlen verfügen. Dies war der Grund, in der Tabelle oben196 noch einmal zu unterscheiden: In Medien wie den Computer, für den die Definition eines „Manipulierens von Wörtern und Zahlen“ sicher- lich zutrifft, und andere Medien, für die sie keine Gültigkeit hat. Der Computer wird damit zum Spezialfall. Und es wird klar, dass nur ein weiter gefasster Begriff von Eingreifender Verände- rung auf andere Medien appliziert werden kann. Dann allerdings erscheint er sinnvoll, weil er an diesen Medien etwas Neues be- leuchtet. Und gleichzeitig bleibt die Bestimmung eines „Manipulierens von Wörtern und Zeichen“ relativ grob; und es ist einigermaßen kontraintuitiv, wenn Kittler neben dem Computer auch die Pro- duktion von Literatur, die Tätigkeit von Autoren, hierunter subsu- miert. Die Bestimmung erscheint drastisch unterkomplex; oder zumindest als reduktionistisch, insofern Literatur ohne die Dimen- sion der Bedeutung sicher nicht sinnvoll gefasst werden kann. Im Feld der Computer ist Prozessieren mit exakt gegenläufigen Konnotationen verbunden: einer ‚Manipulation of Data‘ im Sinn eines mechanischen Rearrangierens stabil konstituierter Zeichen, der Beschränkung auf ein rein syntaktisches Operieren, dem Ideal einer vollständigen Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Pro- zesse, ihrer Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit usf. Entspre- chend erscheint es nötig, die Autoren von den Rechnern auf klare Weise zu trennen. Gemeinsam ist Schrift / Literatur und Computer, dass beide über stabil konstituierte Zeichen verfügen, das setzt sie ab von Malerei, Fotografie, Film und Musik. Der Spezialfall des Computers ist, dass er konstituierte Zeichen mechanisch rearrangiert. In der Folge ist das oben skizzierte Schema zu modifizieren: 196 Abb. 6, S. 103. KAPITEL 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 113 Prozessieren weiter Begriff Medienprozesse Post… allgemein enger, präziser Begriff Eingreifende Medien Eingriffe Beleuchter, Veränderung allgemein aller Art Cutter Medien, „Zeichen- Autor die über manipulation“ konstit. Zeichen mechanisches Computer- verfügen Umordnen Prozessor konstituierter Zeichen Abb. 7 7. Zeichen Hierzu eine kurze Bemerkung: Geht man vom Prozessieren aus, ist festzustellen, dass konstituierte Zeichensysteme eine drastische Vereinfachung bedeuten. Wenn Eingreifende Veränderung im Fall der Analog-Fotografie auch das Umgehen mit Chemie, Entwickler- bädern, umfasst, und allgemeiner eine schwirrende Vielfalt von Prozessen, von Menschen- und Maschinenpraxen, von geistigen und semantischen bis hin zu praktisch-unbewussten Prozessen, von technisch-materialen Anordnungen, sozialen Vorgängen, Arran- gements und Institutionen, so erscheint das Reich der Zeichen – betrachtet man es isoliert – als simpel, aufgeräumt und ‚rein‘. Zeichen zielen, zumindest vordergründig, auf eine luzide, bau- klotzähnliche Kombinierbarkeit ab; das wird im Fall des Compu- ters besonders plastisch. Der Computer allerdings ist gleichzeitig ein Extrempunkt, weil nur er den Umgang mit den Zeichen auf ein mechanisch-syntaktisches Rearrangement reduziert. Man wird insofern beide Seite sehen müssen: Dass diese Re- duktion möglich ist, die Tatsache also, dass konstituierte Zeichen sich überhaupt herausgebildet haben, ist die wahrscheinlich be- merkenswerteste Kulturleistung auf dem Feld der Medien. Und gleichzeitig eben ist völlig klar, dass die Luzidität nur innerhalb 114 1 PROZESSIEREN des Spielfelds selbst gilt. Bereits in der Maschine, die den Spiel- platz stellt, kehrt alle Komplexität wieder; bei ihrer Herstellung, ihrer materiellen Produktion, kommt ebenfalls Chemie zum Ein- satz, und fast alles, von dem grade die Rede war. Insofern ist sehr bestreitbar, ob es sinnvoll ist, ‚den Computer‘ auf die symbolischen Operationen zu reduzieren, die auf seiner Basis möglich sind. Das Spielfeld selbst vielmehr verdankt sich einer Abstraktion, einer künstlichen Freistellung, die das Spielfeld von seinen ‚technischen Voraussetzungen‘, Zwecken, Verwen- dungsweisen, Kontexten usf. abspaltet; und der Rechner selbst ist eingebettet in Nutzungspraxen, die nach wie vor irreduzibel-kom- plex und denen anderer Medien äußerst ähnlich sind. Es kommt also darauf an, was man betrachtet: das Spielfeld allein, oder die Faktoren, die es konstituieren. Nur im Fall des Computers ist das Spielfeld soweit abgetrennt, dass die Vorstel- lung entstehen kann, es gehe ausschließlich um syntaktische Ope- rationen, nur um Form oder Information, und man könne das in der Formalsprache Formulierte allein und ohne sein Umfeld betrach- ten. Im Fall aller anderen Medien ist diese Trennung weniger scharf, weil bereits der Augenschein sie dementiert. Auch wenn sie ‒ wie Sprache und Schrift ‒ über konstituierte Zeichen verfügen, erscheint es ausgeschlossen, von der Semantik abzusehen, weshalb man die Sprache im Gegensatz zu Formalsprachen eine ‚natür- liche‘ nennt. 8. Prozessieren ohne materiellen Eingriff Und schließlich erscheint noch eine weitere Differenzierung nötig; denn bislang bleibt die Vorstellung des ‚Eingriffs‘ auf materielle Eingriffe beschränkt, die das Produkt in seinem materiellen Sosein verändern. Aber wurde nicht gesagt, dass mediale Inhalte auch dann ‚prozessiert‘ werden, wenn man über mediale Produkte, ohne sie materiell zu verändern, nur nachdenkt? Z. B. als Rezipient? Und ändert sich nicht der Inhalt einer Botschaft, wenn man sie – materiell unverändert – mit 500.000 Anderen teilt? Dieser Einwand ist sicher richtig und Grund genug, zwischen materiellen und nicht materiellen ‚Eingriffen‘ zu unterscheiden. Dennoch erscheint es sinnvoll, die Perspektive insgesamt auf mate- rielle Eingriffe zu zentrieren, weil dies vielfältige theoretische An- KAPITEL 1.10 ZWISCHENSUMME PROZESSIEREN 115 schlüsse erlaubt, die ansonsten unsichtbar würden. Auch das wird in den folgenden Kapiteln deutlich werden. 9. Schluss Eingreifende Veränderung ist die Besonderheit der dritten, ver- nachlässigten Medienfunktion. Dass sie vollständig nicht vernach- lässigt ist, sondern unter anderen Begriffen – Medienproduktion, Transformation, Transkription und Metamorphose ... – durchaus diskutiert, wird erst aus der Perspektive der vorgeschlagenen Dif- ferenzierungen ausreichend deutlich. Auch wenn der Begriff also präzisiert, aus- und umgebaut werden muss: Es ist ein Verdienst Kittlers, dass er auf seiner Trias hartnäckig bestand. Die Problem- stellung, worum es sich beim ‚Prozessieren‘ eigentlich handelt, stellt an das Fach tatsächlich neue Fragen. 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Kapitel 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN In welchem Verhältnis stehen Übertragen, Speichern und Prozessieren? 1. Raum und Zeit Der erste Teil meines Buchs hat das Ziel verfolgt, dem Begriff des Prozessierens selbst näher zu kommen, sein begriffliches Umfeld zu klären und bestimmten Implikationen nachzugehen, die mit dem Prozessieren verbunden sind. Im Kern wurde das Prozessieren als Eingreifende Veränderung bestimmt. Der zweite Teil nun setzt anders an: Wenn Kittler nämlich drei Medienfunktionen genannt hatte: Übertragen, Speichern und Prozessieren – Was kann man dann über die Relation dieser Medienfunktionen sagen? In welchem Verhältnis steht das Prozessieren zum Übertragen und Speichern? Sind die Medienfunktionen wirklich vergleichbar? Liegen sie auf einer Ebene? Und kann man, wenn man sich mit den Medienfunktionen beschäftigt, auch über die tatsächlichen Medienprozesse etwas erfahren? Bevor man auf diese Fragen zugehen kann, erscheint es mir sinnvoll, einige systematische Bestimmungen zusammenzutragen, die für das Verständnis der drei Medienfunktionen wichtig sind, und die im Folgenden immer wieder eine Rolle spielen werden. Die erste ist die Zuordnung zu Raum und Zeit. Medien haben die Eigenschaft, räumliche und zeitliche Distanzen zu überwinden; die Überwindung des Raums wurde bereits im 19. Jahrhundert, im Zusammenhang mit der Telegrafie diskutiert.197 Harold Innis hat dies in den 1950er Jahren aufgegriffen und zu einem Grundraster seiner Medienanalyse gemacht; etwa, indem er zeigte, dass die Monumente Altägyptens auf eine Überwindung der Zeit abzielen, während das römische Empire sein Straßennetz ausbaut, um den Raum zu beherrschen. Beide Empires also hatten eine unterschied- 197 Z. B.: Knies, Karl: Der Telegraph als Verkehrsmittel. Über den Nachrichten- verkehr überhaupt. München 1996, S. 4, 6, 18 (EV: 1857). 120 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN liche ‚Neigung‘ oder Vereinseitigung; die unterschiedliche Orien- tierung auf Zeit und auf Raum hat Innis ‚bias of communication‘ genannt.198 Diese Grundüberlegung ist außerordentlich hilfreich für ein erstes Verständnis auch der drei Medienfunktionen. Denn Über- tragung ist ‒ wenn man die Vergröberung akzeptiert ‒ der Dimen- sion des Raums zugeordnet. Übertragung ist Kommunikation oder Tele-Kommunikation; sie will den Raum überwinden. Die zweite Medienfunktion, das Speichern, zielt auf eine Überwindung der Zeit. Hier geht es um die Funktion der Medien für Überlieferung und Tradierung. Raum und Zeit, Übertragung und Speicherung können als das grundlegende ‚Koordinatensystem‘ der Medien be- schrieben werden.199 ○ Raum Übertragen Überwindung des Raums Kommunikation, Telekommunikation (Gleichzeitigkeit, Synchronie) Speichern Überwindung der Zeit Überlieferung, Tradierung (Diachronie) Zeit Abb. 8: Übertragen und Speichern200 So übersichtlich-einleuchtend diese Zuordnung ist, muss doch auf- fallen, dass das Prozessieren im Schema keinen Ort findet. Mein 198 Innis, Harold A.: Empire and Communications. Lanham, MD, 2007 (EV: am.: 1950); ders.: The Bias of Communication. Toronto/Buffalo, MN/London: University of Toronto Press 2006 (EV, am.: 1951). 199 Vgl. Winkler, Hartmut: Basiswissen Medien. Frankfurt am Main: Fischer 2008, S. 161ff. 200 Ebd., S. 163. KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 121 Vorschlag ist, diese Frage beiseitezulassen und auf dem einge- schlagenen Weg zunächst ein Stück weiterzugehen. 2. Status der Unterscheidung Zum Zweiten nämlich scheint mir sinnvoll im Vorlauf zu klären, welchen Status die Unterscheidung der Medienfunktionen hat. Denn einerseits ist dies sicherlich eine analytische Unterscheidung, die zunächst Eigenschaften ‒ Funktionen eben ‒ freistellt, die man an Medien beobachten kann. Hier geht es darum, das begriffliche Instrumentarium zu schärfen, mit deren Hilfe wir die Medien zu verstehen versuchen; immer zugestanden, dass die tatsächlichen Medien komplexer sind, insofern die meisten Medien, wenn auch in unterschiedlichem Maß, alle drei Medienfunktionen erfüllen. Eine alternative Deutung wäre, dass es sich um ein Ordnungs- raster handelt, das die Medienlandschaft insgesamt zu ordnen ver- mag. Schon Innis stellt fest, dass man die Einzelmedien einzelnen Medienfunktionen zuordnen kann;201 so ist eine ägyptische Stein- stele, was die Dauerhaftigkeit angeht, ein sehr leistungsfähiger Speicher und kann einen zeitlichen Abgrund von 5000 Jahren mühelos überwinden. Gleichzeitig aber ist sie immobil, als Medi- um der Raumüberwindung also wenig geeignet. Beim Papyrus wäre es umgekehrt; als Zeichenträger klein, leicht und mobil, kann es räumliche Distanzen leicht überwinden; gleichzeitig wird es leicht feucht und verrottet, seine Fähigkeiten als Langzeit-Speicher also sind eher schwach.202 Der Fall mündlicher Äußerungen ist noch eindeutiger: Der Schall der Stimme verhallt sofort. Nicht nur Empires, sondern auch Einzelmedien also scheinen einen gewissen ‚bias‘ zu haben. Beschränkt man sich zunächst auf Übertragen und Speichern und ordnet die Einzelmedien diesen Medienfunktionen zu, ergibt sich z. B. folgendes Bild: 201 Innis, Empire and Communications, a. a. O. 202 Nur das extrem trockene Klima in bestimmten Teilen Ägyptens hat es möglich gemacht, dass Museen heute Papyri zeigen. 122 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Übertragung, Überwindung des Raumes, Kommunikation, Telekommunikation → Utopie: „global Speichern, Gespräch, Bote Telefon, village“, Über- Präsenz- Live-TV „Tele- windung öffentlichk., präsenz“ der Zeit Theater ↓ Bibliothek Schrift, Brief, Video, WWW Fotografie, Datenbanken (Monument, (Bildtafel Architektur) der Inschrift, Pioneer- ↓ Archiv Sonde) Utopie: Über- ewige Dauer, windung Unzerstörbarkeit von Raum und Zeit Abb. 9: Zuordnung von Einzelmedien203 Eine dritte Möglichkeit wäre, dass Raum und Zeit grundlegendere Kategorien sind, die mit Übertragen und Speichern eben doch nicht einfach zusammenfallen. Dieser Möglichkeit wird der dritte Teil meines Buchs ‚Operationen in Raum und Zeit‘ nachgehen. Bei all dem, wie gesagt, fällt auf, dass das Prozessieren zunächst keinen Ort findet. Wenn es hier aber speziell um die dritte Medien- funktion gehen soll, wird man einen etwas weiteren, indirekten Weg gehen müssen. 3. Kommunikation? Und bereits die erste Beobachtung, die man macht, wenn man sich dem Prozessieren zuwendet, ist einigermaßen verblüffend. Wenn ‚Kommunikation‘ eine der Basisbestimmungen des Medialen ist, und sich die meisten Mediendefinitionen wie selbstverständlich auf Konzepte der ‚Kommunikation‘ stützen, so muss auffallen, dass 203 Winkler, Basiswissen, a. a. O., S. 164. KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 123 das Prozessieren ‒ definiert als Eingreifende Veränderung ‒ der Kommunikation auf eigentümliche Weise abgewandt ist. An dieser Stelle trennen sich die drei Medienfunktionen: Wäh- rend ‚Übertragen‘ mit Kommunikation fast zusammenfällt, und man auch das ‚Speichern‘ als eine Kommunikation mit den nach- folgenden Generationen, eine Kommunikation über den Abgrund der Zeit, fassen kann, fällt das Prozessieren aus dieser Betrach- tungsweise eigentümlich heraus. Die Eingreifende Veränderung erscheint eher unkommunikativ, die Arbeit am Produkt – sieht man von Kollektivproduktionen ab – als ein relativ einsamer Prozess.204 Erst wenn das Produkt fertig ist, wird es in die kommunikativen Kanäle wieder eingespeist werden. Sucht man nach Konzepten, die Prozessieren und Kommunika- tion ins Verhältnis setzen, könnte man sich z. B. auf Karl Bühler beziehen.205 Bereits 1934, also 15 Jahre vor Shannon, entwickelte er sein ‚Organonmodell der Sprache‘, das dem Sender-Empfänger- Modell Shannons auf den ersten Blick ähnelt. Anders als Shannon aber bezieht Bühler neben Sender und Empfänger eine dritte Di- mension, die Relation auf ‚Gegenstände und Sachverhalte‘, ein: Abb. 10: Bühler, Organonmodell206 204 Kollektivproduktionen sind ein interessanter Fall, weil sie Prozessieren und Kommunikation / Übertragung verschränken … 205 Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Gustav Fischer 1934. Bühlers Buch ist, anders als man angesichts des Erscheinungsjahrs denken könnte, in die Nazi-Germanistik nicht involviert; er lehrte seit 1922 in Wien, wurde 1938 von den Nazis inhaftiert und konnte 1940 über London in die USA emigrieren. 206 Ebd., S. 28. 124 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN In das Zentrum seines Schemas stellt Bühler ‚Z‘, das Zeichen,207 den übermittelten Zeichenkomplex, das „mediale Produkt“.208 Und Bühler betont – bis in die Wahl der Strichstärken hinein – die im Schema waagerechte Achse der Kommunikation, die Sender und Empfänger miteinander verbindet: Abb. 11: Achse der Kommunikation Mit Blick auf das Prozessieren aber würde sich dies verändern; Eingreifende Veränderung meint ja, dass der Sender ‒ als Produ- zent oder Manipulator des medialen Produkts209 ‒ es zunächst mit diesem Produkt zu tun hat. Er greift verändernd in das Produkt ein; sein Blick ist auf das Produkt gerichtet. Und vermittelt über das Produkt möglicherweise auf die ‚Gegenstände und Sachverhalte‘, auf deren Darstellung das Medienprodukt zielt. Statt der waagerechten wird damit die senkrechte Achse wich- tig, die den Sender (als Produzenten) mit dem Zeichen und den Gegenständen und Sachverhalten verbindet. 207 „Der Kreis in der Mitte symbolisiert das konkrete Schallphänomen [der münd- lichen Äußerung]. Drei variable Momente an ihm sind berufen, es dreimal ver- schieden zum Rang eines Zeichens zu erheben [...]. Die Linienscharen symboli- sieren die semantischen Funktionen des (komplexen) Sprachzeichens.“ (Ebd. (Erg. H. W.)). 208 Ebd., S. 31. 209 … Bühler schreibt: „[...] als Täter der Tat des Sprechens, der Sender als Subjekt der Sprechhandlung“ (Ebd., S. 31 (Hervorh. im Original)). KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 125 Abb. 12: Achse des Prozessierens Kommunikation und Empfänger werden demgegenüber eher an den Rand des Schemas gedrängt. Zumindest auf dieser Stufe des Prozessierens interagieren nicht Sender und Empfänger, sondern der Sender als Produzent interagiert mit dem Produkt. 4. Zwischenbemerkung zur Methode In der Geschichte der Sprachtheorie wird das Schema Bühlers überwiegend als ein Beitrag zur Semantik verstanden, das mit Ausdruck, Appell und Darstellung drei verschiedene Bedeutungs- dimensionen des sprachlichen Zeichens auseinanderzulegen ver- sucht; und nicht primär als ein Beitrag zur Sprachpragmatik, in der es um kommunikative Rollen geht. So betrachtet wäre meine Inan- spruchnahme Bühlers eine sprachpragmatische Umdeutung. Ich denke allerdings, dass das Organonmodell Bühlers tatsäch- lich beides enthält. Dies wird im Vergleich mit dem Zeichenmodell de Saussures deutlich, auf das Bühlers Organonmodell eine Reak- tion ist.210 Während de Saussure mit Signifikant und Signifikat aus- schließlich den Bezug auf ‚Gegenstände und Sachverhalte‘, also die ‚senkrechte‘ Achse der Bedeutung,211 thematisiert (und mit sei- 210 De Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967 (EV, frz.: 1916). 211 Ebd., S. 76ff. 126 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN ner ‚Werttheorie‘ die Relation auf andere Zeichen212), bringt Bühler mit Sender und Empfänger Akteure in sein Schema ein, und damit ein Handlungsmodell, das es so bei de Saussure nicht gibt. Und mit der Handlung die Achse der Zeit, die bei de Saussure ebenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. De Saussure ist dafür berühmt geworden, dass er eine dominant ‚synchrone‘ Auffassung der Sprache durchgesetzt hat. Bühlers Organonmodell kann insofern als eine Kompromissbildung ver- standen werden; er nimmt die Innovation de Saussures auf, will sie gleichzeitig aber mit der traditionell diachron, d. h. sprachge- schichtlich orientierten, deutschen Sprachwissenschaft wieder ver- söhnen. Ich denke deshalb, dass das Organonmodell eine sprach- pragmatische Lesart durchaus zulässt und tatsächlich sehr geeignet ist, Pragmatik und Semantik, Kommunikation und Sachbezug zu relationieren. Zudem ist die Achse der Zeit für das Prozessieren von zentraler Bedeutung. Deshalb schlage ich vor, auf dem einge- schlagenen Weg noch etwas weiterzugehen. 5. Empfänger Prozessieren als Eingreifende Veränderung fällt zunächst auf die Seite des Senders; Dotzler allerdings weist darauf hin, dass nicht nur der Sender, sondern auch der Empfänger prozessieren kann: Kommunikative Akte, gleich welcher Art auch immer, haben [...] nicht nur einen Kanal – ein Medium – zur Voraussetzung, sondern auf Sender- wie auf Empfängerseite Operationen der Informations- erzeugung und -verarbeitung.213 Dem wird man zustimmen müssen: Es erscheint unbedingt sinnvoll zu unterstellen, dass auch der Empfänger prozessiert; er muss die Botschaft aufnehmen und verstehen, was sicherlich ein Typus von ‚Verarbeitung‘ ist. 212 Ebd., S. 132ff. 213 Dotzler, Bernhard J.: Prozessieren. In: Roesler, Alexander; Stiegler, Bernd (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München: Fink 2005, S. 214-218, hier: S. 215 (Hervorh. H. W.; Sender- im Original ohne Bindestrich)). Dass auch der Empfänger Information erzeugt, allerdings erscheint mir wenig plau- sibel … KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 127 Abb. 13: Prozessieren auf Empfängerseite: Verstehen / Dekodieren Meine Arbeitsdefinition der Eingreifenden Veränderung allerdings stößt hier an eine weitere Grenze. Verstehen und Dekodieren mö- gen ‚Operationen der Informationsverarbeitung‘ sein,214 ‚Eingrei- fende Veränderung‘ aber sind sie nicht, weil sie zumindest mate- riell das Produkt nicht verändern. Meine Arbeitsdefinition erweist sich als allzu selbstverständlich produzentenorientiert; und zudem als verengt, weil sie äußere, materielle Eingriffe favorisiert. Dass das Prozessieren auf materielle Eingriffe nicht einge- schränkt werden kann, wurde deutlich, als es um die Dimension des Ausdrucks ging, also um jene Transformationen, die zunächst Formloses oder wenig Geformtes in Form überführen. Dement- sprechend wären möglicherweise auch Operationen auf Empfän- gerseite neu zu verstehen: Auch dort, wo die Botschaft auf einen Kopf trifft und in diesem Kopf verschwindet, wird sie sicherlich ‚prozessiert‘. Dass es Ähnliches auch in Technik und Hardware gibt, etwa wenn Computerprozessoren eingehende mpg-Dateien entkomprimieren, spricht zusätzlich dafür. 214 … ich selbst halte diesen Sprachgebrauch für eher unglücklich … 128 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN 6. Das Medium als Gegenüber Was sich mit dieser Perspektive ebenfalls ändert, ist die Rolle und die Positionierung der Medien. Sie sind nicht länger channel of communication, sondern werden selbst zum Gegenüber der Inter- aktion. Wer einen Text schreibt, ein Layout entwirft oder einen Film schneidet, prozessiert sein Produkt und greift formend in die- ses Produkt ein. Er mag den Rezipienten im Hinterkopf haben, sein Gegenüber aber sind das Produkt und ‒ dies ist ein Aspekt, der in Bühlers Schema nicht vorkommt ‒ das Medium selbst. Besonders deutlich wird dies im Fall des Computers. Wir alle sitzen einen Großteil unseres Lebens vor dem Bildschirm. Auch insofern ist die Gegenüberpositionierung – durchaus in Spannung zur Kommunikation – intuitiv plausibel; gleichzeitig sind hiermit weitere Bestimmungen auch des Prozessierens verbunden; im nächsten Kapitel werde ich deshalb auf diese Frage zurückkom- men. 7. Ordnen, Organisieren, logistical media Ingenieure planen und organisieren, Manager managen, und das Heer der white collar workers ordnet, organisiert und schiebt in unterschiedlichen Medien Zeichen hin und her. Wenn all dies Pro- zessieren ist, dann treten Medienfunktionen hervor, die man unter dem Primat der Kommunikation kaum in den Blick bekommt: Medien sind – vor allem anderen – Maschinen, die es erlauben, Ordnungen zu entwerfen und zu testen, Maschinen, die Ordnungen auf die Welt projizieren. Krämer hat dies für die Techniken des schriftlichen Rechnens gezeigt: erst die Verschriftlichung erlaubt es, den Vorgang der Berechnung in Einzelschritte zu gliedern und diese nach und nach abzuarbeiten; nur weil die Zwischenergebnisse niedergelegt wer- den, sind die Schritte nachvollziehbar und damit gesichert.215 Und wieder ist das Gegenüber das Medium, in diesem Fall das Papier. Zwischen dem Rechnenden und dem Papier entspinnt sich ein 215 Krämer, Sybille: Operative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informatik. In: Schefe, Peter (Hg.): Informatik und Philosophie. Mannheim 1993, S. 69-83. KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 129 Dialog, in dem die Ordnung prozesshaft Schritt für Schritt Gestalt gewinnt. John Peters hat vorgeschlagen, sich für die logistische Funktion der Medien zu interessieren und er hat Calendar, Clock und Tower als eher ausgefallene Beispiel-Medien benannt.216 Wenn er die logistische Funktion zunächst – orientiert an Innis – auf die Raum- und Zeitbeherrschung bezieht, auf den Raum der Gesellschaft und auf intersubjektive Prozesse, so wäre der Begriff vielleicht zu er- weitern; ‚logistisch‘ wären Medien dann allgemein in ihrer Funk- tion, die Welt zu ordnen und in der Sphäre zeichenhaften Probe- handelns Ordnungen zu prozessieren; Voraussetzung dafür, mit der Hilfe von Zeichen organisierend-steuernd in die Welt einzugreifen. Und sicherlich hatte vor der Schrift und dem Rechnen bereits die Sprache die gleiche Rolle und die gleiche Ordnungsfunktion. 8. Die ‚Treue‘ des Boten Medien also kennzeichnet keineswegs nur die im Bühler-Schema waagerechte Achse der Kommunikation, sondern auch die senk- rechte des Prozessierens. Wie aber, um die Frage wieder aufzuneh- men, sind beide relationiert? In welchem Verhältnis stehen Prozes- sieren und Übertragen? Wenn oben Prozessieren als Eingreifende Veränderung be- stimmt wurde, ergibt sich ein drastischer und verblüffender Unter- schied darin, dass Vorgänge der Übertragung in das Produkt ge- rade nicht eingreifen dürfen. Übertragen wird jeweils ein intaktes Produkt, das nicht – oder so wenig wie möglich – angetastet wer- den darf. Grundmuster ist der Bote, den man zur ‚Treue‘ verpflichtet. „Die Beweglichkeit des Boten“, schreibt Sybille Krämer, steht in eigentümlichem Spannungsverhältnis zur erwarteten Identi- tät und Stabilität des ihm Aufgetragenen. Der Bote hat die Botschaft nicht nur zu überbringen, sondern dabei zugleich zu bewahren im störungsanfälligen Verlauf der von ihm durchmessenen Raum-Zeit- lichkeit. Die Mobilität der Nachricht, die sich im Boten verkörpert, 216 Peters, John Durham: Calendar, Clock, Tower. In: Stolow, Jeremy (Hg.): Deus in Machina. Religion and Technology in Historical Perspective. New York, NY: Fordham University Press, 2013, S. 25-42, http://web.mit.edu/comm-forum/mit6/ papers/peters.pdf, 3.3.2010, S. 16ff. 130 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN kommt der Nachricht allein in der Äußerlichkeit ihres materialen Trägers zu, während ihr Gehalt möglichst immobil zu halten ist. [...] Der Bote verhält sich indifferent gegenüber dem Gehalt seiner Bot- schaft.217 Die Post, es wurde oben gesagt, öffnet die transportierten Briefe nicht. Ähnlich der Fall, wenn wir von ‚Hifi‘ sprechen; ,High fidel- ity‘, hohe Treue, meint ja, dass das Signal auf seinem Weg durch die Maschinen möglichst wenig verformt werden möge. Und gleich- zeitig gibt es einen großen Unterschied, denn tatsächlich wird das Signal ja mehrfach verändert; es ist Bedingung der Übertragung, dass die Maschinen Schall in Elektrizität verwandeln, das Signal mehrfach umformen und schließlich wieder umsetzen zurück in Schall. Und exakt diesen Maschinen wird das Boten-Ideal der Treue auferlegt. Der Begriff ‚Hifi‘ löst das Problem pragmatisch, indem er eben nur eine hohe, nicht aber eine absolute ‚Treue‘ zum Ziel setzt. Übertragung und Prozessieren also gehorchen offensichtlich getrennten Regeln. 9. Speichern Soll das übertragene Produkt unverändert bleiben, ist es eine zwin- gende Voraussetzung für Austausch und Übertragung, dass das Produkt durch institutionelle oder technische Maßnahmen künst- lich stillgestellt wird. Und dasselbe gilt selbstverständlich für die ‚Übertragung längst der Achse der Zeit‘, für das Speichern. Und mehr noch: Speichern ist eine derjenigen Kulturtechniken, die für eine Stillstellung des Produkts sorgen. Man nimmt die Beharrungskraft der Materie in Anspruch, um die beweglichen Zeichen zu fixieren. Man vertraut die Inhalte möglichst unver- änderlichen Substanzen an, um die Botschaft zu erhalten, letztlich, um ein Bollwerk gegen Eingriffe und den natürlichen Verfall, die Entropie, zu errichten. Hieraus nun ergibt sich, dass zwischen Prozessieren und Spei- chern eine grundlegende Spannung besteht. Wenn Prozessieren als Eingreifende Veränderung bestimmt wurde, als eine Verflüssigung des Produkts, die dieses in seine Bestandteile zerlegt, dann würde Speichern gerade das Gegenteil, nämlich Stillstellung und Verfesti- 217 Krämer, Medium, Bote, Übertragung, a. a. O., S. 116, 118. KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 131 gung heißen. Auf eine Formel gebracht: Prozessieren und Spei- chern ‒ Verflüssigung und Stillstellung ‒ sind offenkundig kom- plementär aufeinander bezogen. Wenn Prozessieren Veränderung ist, will Speichern Veränderung gerade verhindern. Diese Bestimmung halte ich für außerordentlich weitreichend. Auf den ersten Blick erscheint sie fast selbstverständlich, kaum mehr als das Herstellen von etwas mehr Ordnung im Feld der Be- griffe. Tatsächlich aber, würde ich behaupten, legt sie einen der entscheidenden und absolut basalen Mechanismen offen, die das Feld der Medien regieren. Und mehr noch: Sie macht überhaupt erst deutlich, dass im Feld der Medien und im Funktionieren der Diskurse eine Art Mechanik wirksam ist. Ein Bündel von Gesetz- mäßigkeiten, die Diskurse strukturieren, und eine Technologie symbolischer Prozesse, die mit der Hardware kaum zu tun hat, und die genereller, dauerhafter, härter als die Hardware ist. Das alles wird im Fortgang zu zeigen sein. 10. Verflüssigung und Stillstellung Als erster Spin-off dieser Vorstellung erscheint es möglich, Ver- flüssigung und Stillstellung in eine Abfolge zu bringen. So kann man sagen, dass das Produkt auf seinem Weg durch die Instanzen verschiedene Phasen oder Aggregatzustände durchläuft. Wird das Produkt bearbeitet, löst man seine Identität auf und greift verän- dernd in diese Identität ein. Ist der Eingriff abgeschlossen, wird das Produkt – mit veränderter Identität – neu konstituiert, und das heißt in den meisten Fällen: ‚gespeichert‘. Seine stabilisierte Identität ist Voraussetzung dafür, das Produkt zu übertragen oder aufzubewah- ren, es also durch Raum oder Zeit zu bewegen. Man kann also sagen, dass das Produkt zwischen Verflüssigung und Verfestigung oszilliert (→ Abb. 14, S. 132). 132 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Übertragen als Raum- überwindung oder Speichern, Überwindung der Zeit Ver- Verfestigung, Ver- flüssigung Stillstellung flüssigung Prozessieren, Eingreifende Veränderung Produktidentität konstituiert Produktidentität aufgelöst Abb. 14: Verflüssigung, Verfestigung Die Akteur-Netzwerk-Theorie hat ‒ ausgesprochen intelligent, wie ich meine ‒ von Medienprodukten als ‚immutable mobiles‘ gespro- chen.218 Im Kern meint dies, dass die Stillstellung ‒ ‚immutable‘ ‒ Voraussetzung für die Beweglichkeit der Produkte ist. Der Ansatz der ANT wird in einem späteren Abschnitt detaillierter zu diskutie- ren sein.219 11. Noch einmal: Speichern Gleichzeitig bedeutet das Gesagte, dass man das Speichern in zwei völlig unterschiedliche Medienfunktionen aufspalten muss; denn Speichern kann entweder eine Stillstellung bedeuten, etwa wenn man eine DVD brennt und die Daten dadurch fixiert. Oder aber 218 Latour, Bruno: Die Logistik der immutable mobiles. In: Döring, Jörg; Thiel- mann, Tristan (Hg.): Mediengeographie. Theorie − Analyse − Diskussion. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 111-144 (EV, am.: 1987). - ders.: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Ele- mente. In: Belliger/Krieger, ANThology, a. a. O., S. 259-307 (EV, am.: 1986/90). 219 Kapitel 2.3, ,Speichern‘. KAPITEL 2.1 RELATION DER DREI MEDIENFUNKTIONEN 133 Speichern meint, wie oben gesagt wurde, eine ‚Übertragung längs der Achse der Zeit‘, wenn man dieselbe DVD also aufbewahrt und an seine Enkel übergibt: Übertragen, Raum- überwindung oder Speichern, Überwindung der Zeit Ver- Verfestigung, Ver- flüssigung Stillstellung flüssigung Prozessieren, Eingreifende Veränderung Produktidentität konstituiert Produktidentität aufgelöst Abb. 15: Speichern als Stillstellung und Speichern als Tradierung Dass wir beides ‚Speichern‘ nennen, ist kaum mehr als eine Schlamperei, denn dass es sich um zwei getrennte Funktionen han- delt, wird im Schema mehr als deutlich. Entsprechend wäre es sinnvoll, beide Funktionen auch begrifflich klar zu unterscheiden: ‚Stillstellen‘ versus ‚Bewahren‘ wäre hierzu ein ‒ wenn auch nicht sehr eleganter ‒ Vorschlag. 12. Schluss Die vorgeführte Zergliederung scheint den Umgang mit den Be- griffen ‒ Übertragen, Speichern und Prozessieren ‒ zunächst vor allem komplizierter zu machen. Gleichzeitig aber, behaupte ich, bewährt sie sich sehr. Zunächst, indem sie Probleme zeigt, die der alltägliche Sprachgebrauch zwar erfolgreich verdeckt, die er als 134 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Unschärfe oder offenen Defekt gleichzeitig aber mitschleppt. Ich würde noch weitergehen: Es erscheint völlig aussichtslos, mit diesen Termini weiterzuarbeiten, bevor eine theoretische Anstrengung sie zumindest von den gröbsten Mehrdeutigkeiten gereinigt hat. Und zum Zweiten geht es keineswegs allein um Begriffe, sondern um ein Verständnis der Medienprozesse selbst, wenn auch projiziert auf eine zunächst sehr abstrakte Ebene. Sobald man Medienprodukte als immutable mobiles begreift, hat man die Chance, beide Seiten, ihre Mobilität wie die Mechanismen ihrer Stabilisierung und Still- stellung, zu fassen. Wir sind es, um ein Beispiel zu nennen, gewöhnt, den Buch- druck als eine Technik der technischen Reproduktion und als ein Mittel zur Verbreitung zu sehen. Dass es sich gleichzeitig um eine Technik der Festschreibung (der Stillstellung oder der Monumen- talisierung) handelt, um die Herstellung von immutables, die gera- de deshalb mobil werden können, erscheint nicht ebenso selbst- verständlich. Wenn Gutenberg mit beweglichen Lettern druckt, die er zu einem starren Satzbild zusammenstellt, um sie anschließend wieder zu mobilisieren und neu zu verwenden, und mehr noch: wenn er seine Lettern durch Abguss seriell ‚identisch‘ reprodu- ziert, und damit Auflagen herstellt, die, anders als die manuelle Abschrift, eine starre Serie ‚identischer‘ Exemplare liefern, und diese dann geografisch verteilt, also wieder mobilisiert, so wird das Spiel, das hier gemeint ist, deutlich. Medienprozesse scheinen nur in der Oszillation zwischen Ver- flüssigung und Stillstellung angemessen zu beschreiben zu sein. Und gleichzeitig treten zwei Ebenen klar auseinander: Es ist ein Unterschied, ob die Mobilisierung das ganze Medienprodukt be- trifft, es an einen anderen geografischen Ort versetzt (‚Übertra- gung‘) bzw. in eine andere Zeit (‚Speichern‘), oder ob es sich um eine Mobilisierung seiner Elemente handelt, wie dies beim Prozes- sieren als Eingreifender Veränderung der Fall ist. In der Folge wären beide Ebenen sauber zu trennen. Wenn die Ausgangsfrage war, in welcher Relation die drei Medienfunktionen stehen, so erweist sich diese jedenfalls nicht als trivial. Ich werde deshalb die einzelnen Punkte, die in meiner Überlegung aufgetaucht sind, in einer Reihe weiterer Schritte näher betrachten. Kapitel 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 1. Differenzerfahrung Im vorigen Kapitel war eines der Ergebnisse, dass das Prozessieren zu der Annahme, Medien hätten es immer mit Kommunikation zu tun, wenig passt; in der Folge hatte sich die Aufmerksamkeit von der horizontalen Achse der ‚Kommunikation‘ auf die vertikale verschoben, die in Bühlers Schema für den ‚Sachbezug‘ steht. Bei Bühler selbst meint Sachbezug den Bezug auf „Gegenstände und Sachverhalte“, also die semantische Dimension, die Dimension der Bedeutung. Davor aber meint Sachbezug den Bezug auf die Sache, das Medienprodukt. Wer an einem Medienprodukt arbeitet, es ein- greifend verändert, es ‚prozessiert‘, beschäftigt sich mit diesem Produkt und nicht (oder erst sekundär) mit den möglichen Rezipi- enten; das Produkt ist das Gegenüber der Interaktion. Das Produkt allerdings ist nicht das einzige Gegenüber. Wer an einem Produkt arbeitet, auch dies wurde oben gesagt, ist immer auch konfrontiert mit dem Medium, in dem er sein Produkt artiku- liert. Er wird sich mit der Medientechnik befassen und deren Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Grenzen ausloten; und ebenso das Bündel aus Regeln und Codes, die Gesetze des Zeichensystems, das für das Medium maßgeblich ist. Und weiter wird er sich selbst im Umgang mit der Medientechnik verändern; er wird sich schu- len, um vielleicht schließlich irgendwann Souveränität zu ent- wickeln; auch derjenige, der prozessiert, also bleibt nicht einfach der, der er ist. ‚Interaktivität‘, einer der wenig präzisen Begriffe des gegenwärtigen Computerdiskurses, übrigens meint beides: Die Interaktion mit dem Medium wie mit dem Produkt. Die neue Gegenüberpositionierung hat im deutschen Theorie- raum u. a. Reinhard Keil zum Thema gemacht.220 Dass Keil Infor- 220 Keil, Reinhard: Von der Zeichentransformation zur Wissensarbeit. Digitale Medien eröffnen neue Potenziale für die Wissensarbeit. In: Forschungsforum Paderborn, Nr. 4, 2001, S. 12-17. 136 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN matiker ist, ist sicher kein Zufall: Die Informatik versteht sich als Ingenieurwissenschaft, und Ingenieure sind bekanntlich weit eher mit den Dingen als mit Kommunikationsprozessen befasst. Und insbesondere in der Arbeit vor dem Bildschirm, auch das wurde gesagt, wird die Gegenüberpositionierung plausibel. Keils Argument aber geht wesentlich weiter; er ordnet die Frage ins Feld der Erkenntnistheorie ein und zeigt, dass es bei der Inter- aktion mit dem Produkt letztlich um Probleme der Erkenntnis geht. Der Prozess der Erkenntnisgewinnung, schreibt Keil gestützt auf Gibson221 und Gregory222, ist auf ein materielles Gegenüber zwin- gend angewiesen. Erst das materielle Gegenüber gestattet eine ‚Differenzerfahrung‘. Und erst in der Erfahrung von Differenz ent- steht die Möglichkeit, dass der Gegenstand, mit dem man sich beschäftigt, Überraschungen bereithält, und damit eine Möglich- keit für die Erkenntnis des Neuen.223 „Zunächst ist festzustellen“, schreibt Keil, dass Wissen, und damit auch Lernen, an physisches Handeln und sinnliche Wahrnehmung gebunden sind. Eine Überlegung von J. J. Gibson zur Unterscheidung von Illusion und Realität weiterführend kann man feststellen, dass es unmöglich ist, über einen nur in der Vorstellung existierenden Gegenstand neue Informationen zu gewinnen. Jeder Versuch, durch rein gedankliches Drehen, Be- leuchten, Zerschneiden etc. zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, ist zum Scheitern verurteilt, da die jeweilige Operation der eigenen Bewusstseinssteuerung unterliegt und damit nur das produzieren kann, was der Geist antizipiert.224 Echte Überraschung oder ‒ neu- traler formuliert ‒ Differenzerfahrung, und zwar sowohl als Bestäti- gung als auch als Widerlegung, ist Voraussetzung für Informations- gewinnung unverzichtbar und kann nur in Auseinandersetzung mit - ders.: Medienqualitäten beim eLearning: Vom Transport zur Transformation von Wissen. Bibliothek Forschung und Praxis 31, 1, 2007, S. 41-50. - ders.: Das Differenztheater. Koaktive Wissensarbeit als Selbstorganisation. In: Bublitz, Hannelore u. a. (Hg.): Automatismen. München: Fink 2010, S. 205- 230. 221 Gibson, James J.: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München/Wien/Baltimore, MD: Urban & Schwarzen- berg 1982, S. 276ff. (EV, am.: 1979). 222 Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn. Zur Psychophysiologie des Sehens. München: Kindler 1966 (EV, am.: 1966). 223 Keil, Medienqualitäten beim eLearning, a. a. O., S. 43. 224 Dies halte ich keineswegs für zwingend; ich denke, dass Nachdenken, Synthe- sis und logische Schlüsse durchaus im emphatischen Sinn ‚Neues‘ hervorbrin- gen können … KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 137 einer außerhalb des Geistes liegenden gegenständlichen Welt erfol- gen, setzt also physisches Handeln und sinnliche Wahrnehmung voraus.225 Erkenntnis also arbeitet sich an einem materialen Gegenüber ab. Als dieses Gegenüber kann die ‚Natur‘ fungieren, etwa im natur- wissenschaftlichen Experiment; oder aber, dies ist die zweite Option, Produkte des Menschen selbst; seien es symbolische Pro- dukte,226 oder aber die dreidimensional solide Technik, die selbst ein materielles Gegenüber für Experimente bietet. Eine solche Konzeption bindet Erkenntnis an das Handeln, an die tätige Aus- einandersetzung mit den Erkenntnisgegenständen, zurück. Und klarer Weise setzt sie sich von Vorstellungen eines ‚reinen‘ Den- kens und dem etablierten Körper-Geist-Dualismus ab. In ähnlichem Erkenntnisinteresse, nun auf dem Terrain der Phi- losophie, hat auch Sybille Krämer argumentiert. Zum einen hat sie das umfangreiche Konzept einer ‚Diagrammatik‘ entwickelt, das Schrift und z. B. wissenschaftliche Grafiken in ihrem Potential beschreibt, Sachverhalte zu analysieren.227 Die Fläche des Papiers wird zu einem Raum, der es ermöglicht, die Dinge im wörtlichen Sinn auseinander zu legen; die Niederschrift schafft das Gegen- über, das Erkenntnis möglich macht. Zum Zweiten, ähnlich ausge- baut, die Konzeption einer ‚operativen Schrift‘.228 Operative Schrif- 225 Keil, Medienqualitäten beim eLearning, a. a. O., S. 43. 226 Beispiel bei Keil ist das Festhalten von Zwischenergebnissen beim schriftlichen Rechnen (ebd.). 227 Krämer, Sybille: Die Schrift als Hybrid aus Sprache und Bild. Thesen über die Schriftbildlichkeit unter Berücksichtigung von Diagrammatik und Kartogra- phie. In: Hoffmann, Thorsten; Rippl, Gabriele (Hg.): Bilder. Ein (neues) Leit- medium? Göttingen: Wallstein 2006, S. 79-92. - dies.: Operative Bildlichkeit. Von der ,Grammatologie‘ zu einer ,Diagramma- tologie‘? Reflexionen über erkennendes ,Sehen‘. In: Hessler, Martina; Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Biele- feld: transcript Verlag 2009, S. 94-121. - dies.: Notationen, Schemata und Diagramme. Über ‚Räumlichkeit‘ als Dar- stellungsprinzip. Sechs kommentierte Thesen. In: Brandstetter, Gabriele; Hoff- mann, Frank; Maar, Kristen (Hg.): Notationen und choreographisches Denken. Freiburg/Berlin/Wien: Rombach 2010, S. 29-45. - dies.; Cancik-Kirschbaum, Eva; Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Aka- demie 2012. 228 Krämer, Sybille: Operative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informatik. In: Schefe, Peter; Hastedt, Heiner; Dittrich, Yvonne (Hg.): Infor- matik und Philosophie. Mannheim: BI-Wissenschaftsverlag 1993, S. 69-84, hier: S. 73. 138 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN ten haben ihre Hauptfunktion nicht in der Repräsentation oder Dar- stellung, sondern in der Möglichkeit, mit Zeichen Handlungen aus- zuführen. Hintergrund ist die Erfahrung des Computers, der Zahlen eben nicht nur darstellt, sondern mit Zahlen rechnet. Hier also geht es unmittelbar und im engsten Sinn um das Prozessieren. Vom Computer aus allerdings, und dies macht die Sache zusätz- lich interessant, geht Krämer weit zurück in die Mediengeschichte. Grundsätzlich alle Schriften nämlich, sagt Krämer, haben einen operativen Aspekt. Die Schriftgeschichte beginnt, wie Schmandt- Besserat gezeigt hat, in Mesopotamien mit Zählsteinen aus Ton,229 mit denen man Mengen bilden, Addieren, Subtrahieren und Divi- dieren konnte ‒ und zwar allein händisch-praktisch, also ohne die Notwendigkeit, die Rechenoperationen mental oder konzeptionell zu beherrschen. Und ähnlich deutlich im Fall des schriftlichen Rechnens: Erst mit der Erfindung des dezimalen [Zahlensystems] kann das Rechnen als eine rein schriftliche Prozedur bewerkstelligt werden. Das dezimale Positionssystem unterscheidet sich vom additiven römischen Zahlzeichensystem dadurch, daß es in ein und demselben Medium zwei Funktionen zu realisieren erlaubt: In ihm können Zahlen sowohl dargestellt, wie auch mit Zahlen gerechnet werden. Ein künstliches Zeichensystem, welches solche Doppelfunktion er- möglicht, also sowohl darstellendes Medium wie operatives Instru- ment ist, sei ‚symbolische Maschine‘ genannt.230 - dies.: Kalküle als Repräsentationen. Zur Genese des operativen Symbol- gebrauches in der Neuzeit. In: Rheinberger, Hans-Jörg; Hagner, Michael; Wahring-Schmidt, Bettina (Hg.): Räume des Wissens: Repräsentation, Codie- rung, Spur. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 112-122. - dies.: Operationsraum Schrift. Ein Perspektivenwechsel im Schriftverständnis. In: Grube, Gernot; Kogge, Werner; dies. (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink 2005, S. 13-32. - dies.: Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen. In: Strätling, Susanne; Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München: Fink 2005, S. 75-84. - dies.: OperationsSchrift. Ein Perspektivenwechsel im Schriftverständnis. In: Grube, Gernot; Kogge, Werner; dies. (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink 2005, S. 13-32. 229 Schmandt-Besserat, Denise: Before Writing. Vol. 1: From Counting to Cunei- form. Austin 1992. Krämer bezieht sich auf Schmandt-Besserat z. B. in Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in ge- schichtlichem Abriß. Darmstadt 1988, S. 8ff. 230 Dies., Operative Schriften als Geistestechnik, a. a. O., S. 73 [im Original: Posi- tionssystems]. KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 139 Erst das schriftliche Rechnen ermöglicht es, Zwischenergebnisse festzuhalten und den Rechenweg prüfend nachzuvollziehen; und im Resultat wesentlich komplexere Rechenoperationen. Auch in diesem Fall also kommen beide Aspekte zusammen: die Gegen- überpositionierung, die z. B. die Zwischenergebnisse anschaulich macht, und der operative Aspekt, der es erlaubt, mit Zahlen zu arbeiten, sie händisch-praktisch zu manipulieren. Krämer sum- miert: „So kann eine komplexe geistige Tätigkeit zurückgeführt werden auf das handgreifliche Operieren mit externen Symbo- len.“231 Auf dieser Basis stellt Krämer eine allgemeinere Überlegung an; Hauptzeuge ist Wittgenstein; und dieser, schreibt Krämer, hat auf die Frage nach dem ‚Ort‘ des Denkens lakonisch geant- wortet: Wenn wir annehmen, dass wir mit dem Kopf denken, dann müßten wir auch sagen, wir denken ‚mit dem Mund, der spricht‘ oder wir ‚denken mit dem Bleistift auf einem Stück Papier‘.232 Von den Zahlen also geht sie zu einem allgemeinen Medien- konzept über, und vom Beispiel des Rechnens auf das allgemeine Problem der Erkenntnis. Erkenntnis ist an ein materiales Gegen- über, an die Erfahrung materieller Medien gebunden. Für die Frage nach dem Prozessieren bedeutet dies, dass auch hier mit Wechsel- beziehungen zwischen Köpfen und Medien zu rechnen ist. 2. Handlungskreis Neben Wittgenstein könnten sich Keil und Krämer auch auf Arnold Gehlen berufen, der 1957 den Prozess der Erkenntnis an ein materielles Gegenüber band und als eine Interaktion mit die- sem Gegenüber modellierte. Gehlen beschreibt die Interaktion als einen ‚Handlungskreis‘: [D]er Handlungskreis ist ganz einfach darzustellen [...]: Wenn Sie mit einem Schlüssel an einem Schloß herumprobieren, so gibt es eine Folge von sachlichen Veränderungen, die in der Ebene von Schlüssel und Schloß vor sich gehen, wenn es etwa klemmt, und Sie Im „Operative[n] Symbolismus“, schreibt Krämer in einem anderen Text, wird eine Zahl „zu etwas, […] mit dem regelgeleitet verfahren werden kann.“ (Dies., Kalküle als Repräsentationen, a. a. O., S. 112). 231 Ebd. 232 Ebd., S. 70. 140 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN müssen noch etwas hin- und herprobieren. Dabei gibt es eine Serie von Erfolgen oder Mißerfolgen in der Sachebene, die Sie aber sehen und hören und fühlen, die also zurückgemeldet werden, die Sie wahrnehmen; und nach dieser Wahrnehmung wieder verändern Sie die Zugriffsrichtung Ihres Handelns, verändern Sie Ihre Probier- bewegungen, und schließlich kommt dann doch in der Sachebene der Erfolg, und das Schloß schnappt auf. So geht der Vorgang im Kreise, d. h. man kann einen solchen Vorgang als einen einzigen Kreisprozeß beschreiben, der läuft dann aber über psychische Zwischenglieder, die Wahrnehmungen, und über motorische Zwi- schenglieder, die Eigenbewegungen in die Sachebene weiter und zurück. [...] Eine Zerlegung des Vorganges in Leibliches und See- lisches [d. h. der Körper-Geist-Dualismus] würde nichts beitragen und bei der Beschreibung nur hindern, genauso wie jede Reflexion auf diesen Unterschied während des Vollzuges, beim Probieren mit dem Schlüssel, nur stören würde. Das Handeln selber ist – würde ich sagen – eine komplexe Kreisbewegung, die über die Außenwelt- sachen geschaltet ist.233 An dieser Vorstellung nun sind drei Dinge wichtig. Zum einen, dass Gehlen die Erkenntnis in radikaler Weise prozessualisiert. Wenn Erkenntnis vom Vorgang des Probierens abhängig gemacht wird, so stellt sich diese sukzessive, im Voranschreiten der Inter- aktion und einzelner Erkenntnisschritte oder Fehlversuche ein. Und erst der schließliche Erfolg wird den Prozess zum Stillstand brin- gen. Zum Zweiten ist die Kreisvorstellung selbst bedenkenswert. So impliziert der ‚Handlungskreis‘, dass es keineswegs nur um ein Voranschreiten, sondern auch um Rückkehr geht; im Probieren ist bereits enthalten, dass man mehrere Versuche macht und die An- ordnung nach den einzelnen Versuchen jeweils zurücksetzt. Gleichzeitig erinnert das Modell an einen Regelkreis;234 und die Tatsache, dass Gehlen von ‚Zurückmelden‘ (feedback) spricht, macht den Einfluss der Kybernetik deutlich.235 233 Gehlen, Arnold: Zur Geschichte der Anthropologie. In: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Rein- bek: Rowohlt 1961, S. 18f. (Erg. u. zweite Hervorh. H. W.) (EV: 1957). 234 Regelkreise allerdings setzen die Steuervariable nicht zurück … 235 Gehlen erläutert in einer Fußnote: „Als ich diese Vorstellungen seit Mitte der dreißiger Jahre entwarf, war es noch unbekannt, welche außerordentliche Be- deutung die Regelungstechnik erhalten würde; man beschreibt heute zahlreiche technische, biologische und soziale Vorgänge in ganz analoger Weise […]. Die hier entworfenen anthropologischen Modelle sind bisher die einzigen, in denen KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 141 Zum Dritten erscheint mir relevant, dass Gehlen seinen Hand- lungskreis ‚über die Außenweltsachen geschaltet‘ sieht. Für das Prozessieren muss dies heißen, dass die Überlegung bei der ‚Ein- greifenden Veränderung‘, als einem materialen Eingriff ins Pro- dukt, nicht stehen bleiben darf. Ganz wie Keil vorgeschlagen hat, zwingt schon der erkenntnistheoretische Rahmen dazu einzurech- nen, dass das materiale Produkt nur das erste materielle Gegen- über, die erste ‚Außenweltsache‘, ist, mit der der Prozessierende interagiert. Hinter dem Produkt sind weitere Außenweltsachen anzunehmen, mit denen es der Prozessierende zumindest indirekt ebenfalls zu tun hat. Und hier ist noch einmal an Bühler zu erin- nern. Die Senkrechte in seinem Schema hatte er die Achse der ‚Darstellung‘ genannt; und hinter ‚Z‘, dem Zeichen, dem Medien- produkt, die ‚Gegenstände und Sachverhalte‘ ausgemacht, auf die sich das Produkt als ein symbolisches bezieht. Hier also kommt ins Spiel, dass es beim medialen Prozessieren nicht um beliebige Pro- zesse geht. Anders als beim ‚processing‘ in der materiellen Pro- duktion sind Gegenstand des Prozessierens Zeichen. Und Zeichen sind Vermittler nicht nur zwischen den Kommunizierenden, son- dern vor allem zwischen diesen und der Welt. Prozessieren, dies wäre die Zwischensumme zum ‚Medium als Gegenüber‘, bedeutet Interaktion auf drei Ebenen: Interaktion mit dem symbolischen Produkt, Interaktion mit dem Medium, in dem dieses symbolische Produkt artikuliert wird, und schließlich Inter- aktion mit der Welt, von der das Produkt Teil ist und auf die es referenziell verweist. 3. Wahrnehmungsmedien Das Gesagte hält weitere Optionen bereit. Relativ unvermittelt nämlich wird es möglich, jene ‚Wahrnehmungsmedien‘ einzube- ziehen, die bis dahin eine eigentümliche Randexistenz in der Welt der Medien führten. So plädiert Krämer allgemein, man solle die Frage aufwerfen, ob das, worum es einer medientheoretischen Betrachtung geht, gar nicht in Kategorien des Kommunizierens und Verständigens, son- rückläufige [d. h. rekursive] Steuerungsprozesse bereits in die Grundkategorien des Menschseins hineingenommen wurden.“ (Ebd., S. 19 (Erg. H. W.)). 142 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN dern eher in solchen des ‚Wahrnehmbarmachens‘ und ‚Erscheinen- lassens‘ zu thematisieren ist.236 Hickethiers Medieneinführung nennt ‚Beobachtung und Wahr- nehmung‘ – am Beispiel von Fernrohr, Mikroskop oder Röntgen- gerät – als erste von vier Medienfunktionen,237 und damit noch vor ‚Speicherung / Bearbeitung‘, ‚Übertragung‘ und ‚Kommunika- tion‘. Gleichzeitig wird deren Status nicht wirklich geklärt. Es er- scheint mir wenig plausibel, Wahrnehmungsmedien als „Erweite- rung und Steigerung der menschlichen Sinnesorgane“,238 oder wie McLuhan sagt: als Prothesen, zu fassen. Unbestreitbar aber haben Fernrohr und Mikroskop einen Medienaspekt, und z. B. Benjamin hat für Fotografie und Film die Funktion der Wahrnehmungs- erweiterung und -schulung betont.239 Eine Überlegung zu den Wahrnehmungsmedien findet sich auch bei Gibson, der bezogen auf Fernrohr und Mikroskop schreibt: Die Erfindung solcher Instrumente im siebzehnten Jahrhundert hat es dem Menschen möglich gemacht, mehr als vorher über sehr große oder sehr kleine Körper zu erfahren. Dieses neue Wissen war fast wie Sehen. Mondberge und Bewegungen der lebenden Zelle konnten jetzt durch Einstellungen des Instruments, nicht anders wie es Kopf und Augen tun würden, beobachtet werden. Auch die Garantien für Realität waren ähnlich.240 Und er setzt fort ‒ interessanter Weise wieder in Spannung zur kommunikativen Funktion der Medien: „Niemand brauchte für das, was er sah, die Beipflichtung einer anderen Person.“241 Der Gedanke selbst, darauf macht Campe aufmerksam, ist selbstver- ständlich viel älter: [Baumgarten] empfahl in den Begleitbriefen zur Aesthetica [1750] auch das Studium der Instrumente, die Naturforscher in ihren Expe- rimenten verwenden. Fernrohr und Mikroskop, Hygrometer und 236 Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 18. 237 Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2003, S. 21. 238 Ebd. 239 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier- barkeit. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (EV: 1936). 240 Gibson, Wahrnehmung, a. a. O., S. 279. 241 Ebd. KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 143 Barometer und ihr Gebrauch im Experiment: das zählte ebenso zur Vorschule der Ästhetik wie die poetologischen Künste.242 Auffällig selten aber wird dieses Programm eingelöst, und materi- ale Studien zu den Wahrnehmungsmedien sind eher rar. Eine Aus- nahme allerdings ist ein Text von Joseph Vogl.243 Vogl setzt sowohl theoretisch als auch historisch an und will erklären, wie das Fernrohr von einem Instrument zu einem Medium wurde. Denn das Gerät, das der Legende nach von holländischen Brillen- schleifern nach Italien geriet und von Galilei schlicht plagiiert wurde, hat in Galileis Hand und vor seinem Auge grundlegend den Charakter gewechselt, es entlässt nun Daten ganz eigener Art und ist ‒ so lautet die These ‒ von einem Instrument zu einem Medium geworden. Wie lässt sich diese Transformation, dieses Medien-Wer- den und dieses medienhistorische Datum beschreiben?244 Und seine erste Antwort ist: „Durch eine Denaturierung der Sinne“.245 Vor alle Erkundung des Firmaments hat Galilei vielmehr eine Er- kundung des Geräts selbst gestellt, eine Erkundung, die jede Him- melsschau auf eine ‚Theorie dieses Geräts‘ zurückführt […]. [D]er Blick durch das Teleskop wird um den Blick auf die Gesetzmäßig- keiten dieses Blicks ergänzt und lässt nichts sehen was nicht auf be- sondere Weise auch das Sehen selbst sehen ließe. Das Fernrohr er- scheint nun als gebaute, konstruierte, materialisierte theoria oder Schau.246 Die Stelle bestätigt, dass immer auch das Medium selbst Gegen- stand der Exploration, und das heißt ein Gegenüber, ist. Wahr- nehmungsmedien verweisen, wie alle Medien, immer auch auf sich selbst. Zum Zweiten haben Wahrnehmungsmedien die Eigen- schaft, dass sie Dinge nicht nur sichtbar, sondern andere Dinge gleichzeitig unsichtbar machen. Sie fungieren als Filter. Der kritische Punkt einer historischen Medienanalyse liegt nicht in dem, was Medien sichtbar, spürbar, hörbar, lesbar, wahrnehmbar 242 Campe, Rüdiger: Technik im Geist. Kommentar zu Geoffrey Winthrop-Young. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 2, Dez. 2008, S. 133-138, hier: S. 135. 243 Vogl, Joseph: Medien-Werden: Galileis Fernrohr. In: Archiv für Medien- geschichte, Nr. 1, 2001, S. 115-123. 244 Ebd., S. 115. 245 Ebd. 246 Ebd.. 144 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN machen, er liegt weniger in einer Ästhetik der Daten und Nachrich- ten, sondern in der anästhetischen Seite dieses Prozesses.247 Und schließlich haben sie wie andere Medien ‒ auch wenn dies in deutlicher Spannung zu ihren reflexiven Möglichkeiten steht ‒ die Eigenschaft, sich selbst, das eigene Funktionieren unsichtbar zu machen und zum Verschwinden zu bringen. Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit einer Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an all diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahr- nehmbar, anästhetisch […] zu werden.248 In all dem wird deutlich, dass Wahrnehmungsmedien die Wahr- nehmung nicht einfach ‚erweitern‘. Der Zugang zur Welt, den sie eröffnen, ist auf spezifische Weise geformt und gerastert; und das Medium schreibt sich in den Strom des Wahrgenommenen ein. 4. Messdaten Ohne Zweifel aber geht es auch bei den Wahrnehmungsmedien um ein ‚Prozessieren‘. Das Fernrohr, schreibt Vogl, „entlässt Daten ganz eigener Art“; und man könnte dies zuspitzen und sagen, dass überhaupt erst das Medium ‚Daten‘ entlässt. Klarer noch als beim Fernrohr wird dies im Fall von Messgeräten, die einen durchaus ähnlichen Status haben. Ein Fieberthermometer etwa zeigt auf der einen Seite Messwerte an, mit der anderen steckt es in einem Kinderpopo. Messgeräte also stehen mit einem Fuß in der Natur und mit dem anderen in der Sphäre der Zeichen. Natur Zeichen Abb. 16: Messdaten 247 Ebd., S. 118. 248 Ebd., S. 122. KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 145 Auf ihrer Datenseite sind Messgeräte skaliert. Technisch program- miert setzen sie Naturphänomene in Daten um. Wenn oben vom Prozessieren als ‚Übersetzung‘ die Rede war, dann ist dies also ein besonders deutlicher Fall; statt von Daten (dem Gegebenen), hatte Flusser polemisch gesagt, sollten wir lieber von ‚Fakten‘ (dem Gemachten) sprechen.249 Damit kehrt auch im Fall der Messgeräte jene Doppeldeutigkeit wieder, auf die Vogl aufmerksam macht; denn gleichzeitig ‒ und dies ist ja die Pointe des Messens ‒ erheben Messdaten weitgehen- de Ansprüche auf Wahrheit und Referenzialität. In der Natur- wissenschaft wie im Alltag verlassen wir uns auf Messdaten und erkennen diese als objektiv und besonders sachhaltig an. In Bühlers Schema wären die Wahrnehmungsmedien ‒ wie das Prozessieren allgemein ‒ auf der beschriebenen, senkrechten Ach- se zu verorten. Wenn Bühler gesagt hatte, dass das Zeichen in seiner Darstellungsfunktion auf ‚Gegenstände und Sachverhalte‘ abzielt, so wird nun deutlich, dass hinter den ‚Sachverhalten‘ die Sphäre der Referenten liegt. Wahrnehmungsmedien beanspruchen, auf die Sphäre des Referenten durchzugreifen. ‚Gegenstände‘ aller- dings, dies dürfte plausibel sein, sind nicht einfach gegeben, sondern werden im Prozess der Übersetzung erst konstituiert; der Begriff der ‚Sachverhalte‘ schillert insofern; denn eine Aussage „wie sich eine Sache verhält“ behauptet ‒ so als finde keine Über- setzung statt ‒ in gewissem Maß Objektivität. Allgemein also geht es um die Kraft der Medien, die Welt zu er- schließen, und um den Anteil, den das Prozessieren an dieser Welterschließung hat. Theoriegeschichtlich war die Frage nach der Referenz, nach dem Weltbezug der Medien lange Zeit out of fashion, um nicht zu sagen: tabu. Wenn sich die Medienwissen- schaft nun verstärkt der Wissenschaftstheorie und -geschichte zu- wendet, und auch Fragen der Erkenntnistheorie – immer bezogen auf die Medien – eine zunehmende Rolle spielen, so zeigt dies an, dass dies nicht mehr so ist. 249 Flusser, Vilém: Digitaler Schein. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 147-159, hier: S. 147. 146 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN 5. Archiv Bis hierhin wurden drei verschiedene Typen von ‚Gegenüber‘ be- sprochen: das jeweils einzelne, aktuelle Produkt (das im Mittel- punkt der Überlegung zur Eingreifenden Veränderung stand), das Medium selbst, und im Falle von Wahrnehmungsmedien und Messdaten die Welt als die Sphäre der Referenten. Auch hiermit aber scheint die Liste nicht abgeschlossen, denn ein weiteres wich- tiges Gegenüber des Prozessierens ist das Archiv. Der Aspekt ist bereits aufgetaucht, als Jäger/Jarkes Konzept der Transkription diskutiert wurde.250 Jäger/Jarke hatten Transkription als eine Kette von Akten beschrieben, die mit der Auswahl und der Entnahme von Skripten aus dem Archiv beginnt, die Umarbeitung des Präskripts in das Transkript (d. h. die Eingreifende Verände- rung) in den Mittelpunkt stellt, und das Transkript schließlich wie- der ans Archiv übergibt.251 Man kann das Archiv also nicht nur als einen Speicher betrach- ten, oder alternativ als ‚Input‘ für denjenigen, der prozessiert, was unter den Aspekt der Übertragung fiele, sondern auch als das ‚Ge- genüber‘, mit dem der Prozessierende interagiert. Dieser Gedanke ist wichtig, weil er zum Verständnis des Prozessierens eine weitere Dimension beiträgt. Ausgearbeitet hat diesen Aspekt Michael Giesecke in seinem Buch zur Geschichte des Buchdrucks der Frühen Neuzeit.252 Unter der Überschrift ‚Vergleichen und Unterscheiden: Die Reflexion des Speichers‘ beschreibt er, dass das Archiv, die Bibliothek selbst, produktive Wirkungen hat, indem es neue Praktiken im Umgang mit Wissen ermöglicht: Das typographische Medium [d. h. Buchdruck, Vertriebssystem und Bibliotheken] wird zu einer Integrationsinstanz für Informationen, die zuvor in den verschiedensten sozialen, psychischen und techni- schen Speichern getrennt aufbewahrt wurden. Nachdem diese In- formationen einmal typographisch transformiert, aus ihren prakti- schen Kontexten herausgerissen und [im Archiv] in eine übersicht- liche symbolische Form gebracht sind, können sie selbst wiederum als Phänomene betrachtet und einer reflexiven Analyse unterzogen 250 Kapitel 1.2, ,Transformieren‘, S. 33ff. 251 Vgl. ebd. 252 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fall- studie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechno- logien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 147 werden. Die in den Fachbüchern gespeicherten Daten dienen keineswegs nur als Anleitung für praktisches Handeln und Erleben, sondern auch als Material für weitergehende Modell- oder Theorie- bildungen.253 Erst das typographische Medium und das Archiv also überführen das Wissen in eine geordnete Form; Wissen wird aus den konkre- ten Kontexten seiner Entstehung herausgelöst, von Kontextfakto- ren ‚gereinigt‘ und unabhängig von diesen Kontexten an einem zentralen Ort, dem Archiv, verfügbar gemacht. Es entsteht ein völ- lig neuartiges geordnetes Nebeneinander. Und die Pointe ist, dass dieses geordnete Nebeneinander Vergleiche erlaubt. Die Doku- mente, und die Phänomene, die sie behandeln, schreibt Giesecke, können einer reflexiven Analyse unterzogen werden. Und nun kommt es zur Transkription, denn [a]uch diese Reflexion der Reflexion von Wahrnehmungen wird wieder typographisch erfaßt [und in Büchern niedergelegt]. Je län- ger, je mehr beschäftigt sich das typographische Informationssystem mit sich selbst, mit schon typographisch gespeicherten Daten.254 Allenthalben erscheinen Werke, die den Vergleich oder, wie man damals sagte, den ‚Unterschied‘ verschiedener Phänomene zum Gegenstand nehmen.255 Die vergleichende und unterscheidende Arbeitsweise, die für die moderne Naturwissenschaft typisch ist, erhält durch die vielen Beschreibungen, die man nun bequem nebeneinander legen kann, einen wichtigen, wenn nicht den entscheidenden Anstoß.256 Dass Prozessieren u. a. darin besteht, Dokumente oder Teile davon physisch-räumlich nebeneinander zu legen, wird im Fortgang meines Buchs eine große Rolle spielen. Dann nämlich, wenn im dritten Teil das Prozessieren ‒ zumindest nach einer Seite hin ‒ über ‚Operationen in Raum und Zeit‘ bestimmt werden wird. Bei Giesecke ist es das Archiv, das die Dokumente in eine neue räum- liche Nähe bringt. Und zwar mit dem Effekt, dass die Möglichkeit zum Vergleich umschlägt in einen völlig neuartigen Typus von Wissen: Die auf diesem höheren Abstraktionsniveau angesiedelten Modelle hatten selbstverständlich auch wieder Rückwirkungen auf die ge- 253 Ebd., S. 662 (Erg. H. W.). 254 Ebd., S. 662f. 255 Ebd., S. 663. 256 Ebd. 148 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN sellschaftliche Praxis. Sie führen zunächst nur symbolisch Bereiche zusammen, die die gesellschaftliche Arbeitsteilung seit langem strikt getrennt hielt. […] So gesehen erweisen sich die neuen Infor- mationen, die über altbekannte handwerkliche Fertigungsprozesse gesammelt werden, auch als ein mächtiger Motor für den neuzeit- lichen Industrialisierungsschub.257 Der Vergleich also schlägt um in einen neuen Typus von Abstrak- tion. Die Befreiung der einzelnen Wissensbestände aus ihrem Kontext und ihr neues räumliches Nebeneinander wirken darin zusammen, dass sie hervorbringen, was vorher so nicht denkbar ist; eine neue Form von Synthesis; die wiederum zum Ausgangs- punkt des neuerlich Neuen wird. Für die Frage nach dem Prozessieren hat dies weitreichende Konsequenzen. Denn unter der Hand hat sich die Gegenüberpositi- onierung verändert. Gegenüber ist nicht mehr das einzelne Produkt oder (ebenfalls im Singular) das Archiv; sondern das Archiv kon- frontiert Dokumente mit Dokumenten. Zwischen diesen Doku- menten nun spinnen sich Wechselprozesse an; und mit Abstraktion und Synthesis tauchen Typen des Prozessierens auf, die bis dahin so nicht im Blick waren. 6. Schluss Was nun hat die Überlegung zur Gegenüberpositionierung er- bracht? Ausgangspunkt war die Tatsache, dass das Prozessieren auf der waagerechten Achse in Bühlers Schema, der Achse der Kommunikation, plausibel nicht untergebracht werden kann. Weit geeigneter erscheint die senkrechte Achse, die bei Bühler den Be- zug auf die Sache, auf ‚Gegenstände und Sachverhalte‘ beschreibt; denn Prozessieren, Eingreifende Veränderung, hat es vor allem anderen mit der Sache zu tun. Gleichzeitig gibt es einen deutlichen Unterschied; wenn Bühler selbst diese Achse nämlich die der ‚Darstellung‘ nennt, geht es ihm um Repräsentation, um die Tatsache, dass das Zeichen einen Sach- bezug, also Bedeutung hat. In meiner Deutung hat sich dieser Fokus auf den praktischen Umgang verschoben. Insofern deute ich Bühler praxeologisch um. Zu rechtfertigen ist dies mit dem Hin- weis, dass die waagerechte Achse der Kommunikation selbstver- 257 Ebd., S. 663f. KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 149 ständlich eine Praxis, etwas Prozesshaftes zu fassen versucht. Auch die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger ist ein Vor- gang, der Zeit verbraucht. Theoriegeschichtlich, wie gesagt, war Bühlers Organonmodell gerade deshalb eine Innovation, weil er die Frage nach der Bedeutung auf neue Weise mit der der Kom- munikation konfrontierte; das scheinbar statische Problem der Be- deutung wurde damit verflüssigt; was neue Möglichkeiten eröffnet, Semantik (Darstellung, Bedeutung) an Diskurs, und das heißt an konkrete kommunikative Praxen, zurückzubinden. Folgt man Bühler wird deutlich, dass die Kommunikation, so- lange prozessiert wird, anhalten muss. Und gleichzeitig, dass die Interaktion mit dem Gegenstand, dem Produkt, in gewissem Sinne ebenfalls ein Kommunikationsprozess ist, eine Kommunikation mit der Sache. Wer prozessiert, setzt sich diese Sache gegenüber und interagiert mit ihr. Und mit Keil, Krämer und Gehlen konnte gezeigt werden, dass diese Interaktion ‒ wie könnte es beim Prozessieren anders sein ‒ selbst prozesshaft ist und notwendig in Schritten verfährt. Insbesondere der ‚Handlungskreis‘ Gehlens hebt dieses schrittweise Vorangehen im Prozessieren hervor: Pro- zessieren erscheint, um es noch einmal zu wiederholen, als „eine komplexe Kreisbewegung, die über die Außenweltsachen geschal- tet ist“.258 Das Stichwort der ‚Außenweltsachen‘ weist darauf hin, dass das ‚Gegenüber‘ in verschiedene Ebenen getrennt werden muss. Und ich habe vier Ebenen vorgeschlagen: das jeweils einzelne Produkt, das Medium, in dem dieses Produkt artikuliert wird, die Außenwelt und das Archiv. Das Produkt, das Gegenstand der Eingreifenden Veränderung ist, ist selbst Teil der materiellen Welt. Und gleich- zeitig verdoppelt es diese, weil es eben um symbolische Produkte (Zeichen), und nicht um die Herstellung materieller Güter geht, und das Produkt als ein symbolisches auf ‚Außenweltsachen‘ gleichzeitig verweist. ‚Darstellung‘ war bei Bühler das Stichwort. Ich habe hieraus abgeleitet, dass das Prozessieren immer auch mit jenen ‚Gegen- ständen und Sachverhalten‘ umgeht, die Gegenstand der Darstel- lung sind. Für den, der prozessiert, sind auch sie ein Gegenüber. Die Überlegung zu den Wahrnehmungsmedien und den Messge- räten hatte dies unterstützt. 258 Die Stelle wurde oben zitiert. 150 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Diesen Sachbezug festzuhalten, erscheint mir wichtig, gerade weil sich hier ein Kriterium auftut, das das Prozessieren des Com- puters vom Prozessieren anderer Medien unterscheidet. Computer sind, folgt man dem Mainstream der Theoriebildung, mit ‚Außen- weltsachen‘ nicht befasst. Sie sind auf spezifische Weise un- semantisch, Und tatsächlich, dem wäre zuzustimmen, ist ihr Pro- zessieren auf rein syntaktische Operationen ‒ das An- und Umord- nen von Zeichen ‒ eingeschränkt; exakt dies macht den ‚formalen‘ Charakter von Formalsprachen aus. Und gleichzeitig ist diese Isolation Schein. Denn selbstverständ- lich bilden auch Computermodelle Außenweltsachen ab; Modelle modellieren etwas; auch sie haben ihr Gegenüber in der tatsäch- lichen Welt, in die sie eingebettet sind, von der sie Teil sind und auf die sie gleichzeitig referenziell verweisen. Die Besonderheit formaler Systeme besteht darin, dass sie diese ‚semantische‘ Dimension ausgliedern und auf die ‚Anwendung‘, die Nutzung und den Nutzer, die Einbettung der Rechner in die Welt, verschieben. Rechner ohne ‚Nutzung‘ aber gibt es nicht. Insofern kehrt auch hier das Verdrängte wieder. In der Folge ist das Prozessieren der Computer aufzuspalten. In ein erstes Prozessieren, das sich im Computer selbst vollzieht, und ein zweites, das den Rechner, wie alle anderen Medien, einbettet in die Welt und ‚nutzbar‘ macht. Die Aufspaltung in Ebenen (und unterschiedliche Gegenüber) also macht auch das Feld der Rechner selbst ein bisschen klarer. Und ein weiterer Punkt scheint mir der Summierung wert. Deutlich nämlich schließt das Gesagte an die Überlegung an, die oben zur Übersetzung von Erfahrung angestellt wurde.259 Wenn es dort um Leistung der Medien ging, das zunächst Ungeformte (oder wenig Geformte) in Form zu überführen, so hat auch dies mit dem hier dargestellten Gegenüber zu tun. ‚Erfahrung‘ meint nichts anderes, als jenen prekären Übergang, der ‚Außenweltsachen‘ zum Teil des Inneren, des psychischen Funktionierens macht. Welche Rolle Medien für ‚Erfahrung‘ spielen, ist eins der großen, überwältigend großen Sachprobleme, an denen Medienwissenschaft sich abarbei- tet.260 Deutlich aber ist, dass Prozessieren von dieser Dimension 259 Vgl. Kap. 1.2, ,Transformieren‘, S. 33ff. und Kapitel 1.6, ,Geformt und Ungeformt‘, S. 71ff. 260 Beispielhaft sei hier auf die Arbeiten von Dieter Mersch verwiesen. KAPITEL 2.2 DAS MEDIUM ALS GEGENÜBER 151 nicht abgetrennt werden kann. Wenn Prozessieren Konfrontation mit einem Gegenüber ist, dann meint es notwendig mehr als das Herumschieben von Zeichen. Das Gegenüber fokussiert auf eine Wechselwirkung. Auf eine Interaktion mit einem Gegenstand, der seinerseits in vielfältige Ebenen gestaffelt ist. Ein Kopf interagiert mit einem Produkt, ein Computerprozessor interagiert mit Zeichen; hinter dem Produkt und hinter diesen Zeichen aber steht die Welt, und hinter den Begriffen, sagt Adorno, steht das zu Begreifende. Prozessieren bedeutet Übergang, bedeutet Wechsel zwischen die- sen Ebenen. Dies macht die hauptsächliche Differenz zum syntak- tisch-materiellen Prozessieren der Computer aus. Mein letzter Punkt schließlich ist etwas kritisch. Rückwirkend nämlich hat das Gesagte Einfluss auch auf ein Ergebnis, das am Ende des vorangegangenen Kapitels stand.261 Dort war die These, dass die Relation von Übertragen, Speichern und Prozessieren in ein Sequenzmodell zu überführen ist, das zwischen verschiedenen Phasen unterscheidet. Da Prozessieren (als Eingreifende Verände- rung) eine Auflösung der Produktidentität bedeutet, nur stabil kon- stituierte Produkte aber gespeichert oder übertragen werden kön- nen, schien alles Mediale zwischen Stabil und Instabil, Fest und Flüssig zu oszillieren: Prozessieren und Speichern / Übertragen schienen sich als Phasen abzulösen. Nach der Überlegung zum Gegenüber nun wird man dieses Oszillieren anders fassen müssen. Der Handlungskreis Gehlens meint ja gerade, dass das Prozessieren selbst in Zyklen der Ver- flüssigung / Verfestigung sich fortbewegt. Zum Gegenüber kann ein Produkt nur taugen, wenn es ‒ zumindest interimistisch ‒ feste Form annimmt, nur dann kann es selbst zum Gegenstand von Erfahrung werden. Mein Vorschlag ist entsprechend, auch innerhalb des Prozessie- rens selbst noch einmal zu unterscheiden: Einen Makrozyklus, der das Prozessieren insgesamt umgreift, und der vom Ausgangs- material (dem Präskript Jägers) zum Produkt (dem Transkript) führt. Und innerhalb des Prozessierens selbst, wie Gehlen vor- schlägt, eine große Zahl von Mikrozyklen, die die Einzelschritte des Prozessierens darstellen, und ihrerseits zwischen Fest zu Flüs- sig oszillieren. Dass dieser Vorschlag weniger verwirrend ist als er erscheint, wird im Kapitel ‚Speichern‘ deutlich werden. 261 Siehe voriges Kapitel, S. 131f. 152 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Verwirrend oder nicht: Ohne ‚Gegenüber‘ muss das Prozessie- ren blutleer bleiben. Die syntaktisch-materielle Neuanordnung von Zeichen mag ein Kernpunkt sein, und Anreiz dafür, das Konzept medien-materialistisch auf die Medien insgesamt zu projizieren. Exakt hieran aber muss die Verallgemeinerung scheitern. Allein das innere Funktionieren des Computers ist auf syntaktische Ope- rationen eingeschränkt; und nur hier scheint die Hardware Zeichen hin und herzuschieben. Für alle anderen Medien ist dies eine grau- same Verkürzung. Und wie gezeigt auch für den Computer selbst, sobald man auch die Dimension der Nutzung einbezieht. Gerade wenn der Begriff des Prozessierens für alle Medien gelten soll, wird man fragen müssen, wer es ist, der prozessiert (ob mensch- liches Subjekt, Maschine oder was auch immer) und was dem Handlungssubjekt als ‚Objekt‘ des Prozessierens jeweils gegen- übersteht. Spielmarken, wie im Inneren der Rechner, sind dies nicht. Kapitel 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 1. Kontext Im letzten Abschnitt ging es um das Gegenüber, das der Prozessie- rende vor sich hat, das er bearbeitet und mit dem er interagiert. In gewissem Sinn also um eine Relation zwischen Subjekt und Objekt, immer eingerechnet, dass es sich nicht notwendig um ein menschliches Subjekt handeln muss. Die folgende Überlegung schließt hieran an; nun soll es noch einmal um das Speichern gehen. Speichern hat vor allem mit der Objekt-Seite zu tun, denn Speicher, das werde ich zu zeigen versuchen, sind immer und not- wendig materielle Dinge; und nur auf dieser Basis kann ein Medienprodukt zu einem materiellen Gegenüber werden. Und noch eine zweite Linie ist nun wieder aufzunehmen. Im Abschnitt ‚Relationen‘ war eines der Ergebnisse, dass Speichern Stillstellen und Verfestigen bedeutet.262 Damit tritt es in einen Gegensatz zum Prozessieren, das gerade umgekehrt Verflüssigung, die Auflösung des Produkts in seine Teile, meint. Auf dieser Basis habe ich ein Sequenzmodell vorgeschlagen, das zeigt, dass Medien zwischen Verflüssigung und Verfestigung oszillieren; Phasen einer fest konstituierten Produktidentität (Speichern, Übertragen) und Phasen, in denen diese Produktidentität aufgelöst ist (Prozessie- ren), lösen einander ab.263 Der dritte Gedanke war, dass der Begriff des Speicherns zwei verschiedene Bedeutungen hat: So meint Speichern zunächst die Stillstellung selbst, den Akt des Abspeicherns, der das Produkt überhaupt erst zu einem stabilen macht. Zum Zweiten spricht man von ‚Speichern‘, wenn das Produkt die Zeit überdauert.264 An all dies ist nun anzuknüpfen; und aus der Perspektive des Prozessie- rens, dies wird zu zeigen sein, ergeben sich auch für das Speichern, 262 Kapitel 2.1, ,Relation‘, S. 130ff. 263 Ebd., S. 131ff. 264 Ebd. 154 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN eine an sich vertraute und gut bearbeitete Medienfunktion, unver- mutet neue Aspekte. 2. Speichern als Prozess Dies beginnt, wenn man sich klar macht, dass das Speichern selbst ein Prozess ist, der sich in der Zeit abspielt und Zeit verbraucht. Und gleichzeitig eben zielt Speichern auf Beharrung ab. Beharrung meint ja, dass das Gespeicherte sich als so stabil wie möglich er- weist. In dieser Dimension ist Speichern gegen die Zeit gerichtet; wie ein Bollwerk stemmt es sich ihrem verändernd entropischen Einfluss entgegen. Speichern, so kann man sagen, markiert das Paradox eines Prozesses, der auf eine Stillstellung abzielt. ,War to end all wars‘, will das Speichern alles Prozesshafte beenden. Diese Bestimmung führt zu weiteren Fragen. Denn zum einen ist das Beharren auf Beharrung letztlich selbstverständlich aus- sichtslos, weil auch der stabilste Speicher der Entropie ausgesetzt ist und früher oder später verfällt. Auf diese Weise läuft die Zeit an den Objekten und in den Objekten weiter. Zum Zweiten gilt es den Übergang selbst in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie Flüs- sig überhaupt in Fest übergehen kann. Die Überlegung setzt damit auf der philosophischen Frage auf, wie das Verhältnis zwischen den unbestreitbar materiell stabilen Dingen und den fluiden Pro- zessen gedacht werden kann. Und davon abgeleitet, was überhaupt ein ‚Ding‘ ist. 3. Prozess und Produkt Innerhalb der Philosophie stehen sich, wenn man sehr vergröbert, zwei Positionen gegenüber: Auf dem einen Pol Heraklit, der – „panta rei“265 ‒ alles scheinbar Feste in Bewegung auflöst, und auf dem anderen jene stabil gefügten Ontologien, die sich meist aller- dings, dies ist auffällig, gerade nicht auf die Stabilität des Mate- riellen berufen. Und selbstverständlich gibt es vielfältige Modelle, die zwischen beiden Polen vermitteln. 265 „Alles fließt“. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 155 Besonders einfach, einleuchtend und fruchtbar erscheint mir der Vorschlag bei Marx, der den Prozessbegriff auf den des Produktes bezieht. Bei Marx geht es um den Prozess der materiellen Produk- tion. Rahmen ist der Versuch, die materielle Produktion als Teil eines umfassenden Stoffwechsels mit der Natur zu begreifen. Ritter rekonstruiert zunächst den Kontext, in dem die Überlegung steht:266 „Marx [gibt] selbst Rechenschaft über seine Verwendung des Prozeßbegriffs. Das Wort bezeichne ‚eine Entwicklung‘, ‚die im Gesamtzusammenhang ihren realen Bedingungen betrachtet wird‘.“267 Zu den realen Bedingungen, die den Produktionsprozess bestim- men, schreibt Ritter, gehört die Einbindung in die Gesellschaft wie die Interaktion mit der Natur; und Marx beansprucht, beide zu rekonstruieren. Dies bedeutet gleichzeitig, dass der Produktions- prozess, auch wenn Arbeit bei Marx eine große Rolle spielt, auf ‚Arbeit‘ nicht eingegrenzt, und nicht auf menschliche Subjekte zurückgerechnet werden kann: Einer der wichtigsten Aspekte des Begriffs des Produktions-Prozes- ses bei Marx ist, daß die Produktionsakte nicht mehr sinnvoll als freie Tätigkeiten eines autonomen Subjekts erscheinen. […] Der Prozeß wird so bei Marx zum Begriff der Darstellung der Depoten- zierung des transzendentalen Subjekts. Der Prozess verliert end- gültig sein Subjekt.268 Und dann kommt die Stelle, die für den hier verfolgten Zusammen- hang wichtig ist: „Wie die Natur-Prozesse endet auch der Arbeits- prozeß mit einem Resultat: ‚Der Prozess erlischt im Produkt‘.“269 Prozess und Produkt sind miteinander verschränkt, insofern der Prozess im Produkt zum Stillstand kommt. Wenn oben das Spei- chern also als Stillstellung gefasst wurde, ergibt sich eine deutliche Parallele. Und Marx selbst setzt fort: Die Arbeit [als Prozess] hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint 266 Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie [Eintrag: Prozeß]. Darmstadt 1972, Bd. 7, S. 1543-1562. 267 Ebd., S. 1552 (Prozess im Original durchgängig als P. abgekürzt). 268 Ebd., S. 1553. 269 Ebd. (Hervorh. H. W.); Ritter zitiert ‚Das Kapital‘ (Marx, Karl; Engels, Friedrich: Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz 1972, S. 195 (EV: 1867)). 156 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts. Er hat gesponnen und das Produkt ist ein Gespinst.270 Der Prozess der Arbeit kommt im Produkt also nicht nur zum Still- stand, sondern die Arbeit geht ins Produkt ein. Dabei wechselt sie selbst ihre Form; ‚Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft‘; was flüs- sig war, erscheint nun als fest; und mit der Formulierung ‚… in der Form des Seins …‘ verweist Marx ironisch auf die Tradition der philosophischen Ontologie. Interessanter Weise nun bleibt Marx hierbei nicht stehen, son- dern zeigt, dass das Produkt Ausgangspunkt für neue Prozesse ist. So schreibt Ritter weiter: Wenn auch der einzelne Arbeitsprozeß im Produkt erlischt, so ist doch dieses Prozeß-Resultat Bedingung weiterer Prozesse, in die es entweder als Gegenstand (sogenanntes Rohmaterial oder Halbfertig- produkte) oder aber als Mittel eingeht; d. h. als was eine bestimmte Sache erscheint, das hängt von ihrer Stellung in einem ganz spezi- fischen Prozeß ab.271 Der Gesamtprozess also ist größer, und innerhalb dessen ist das ‚Erlöschen im Produkt‘ nur die erste Phase. Offensichtlich ebenso wichtig ist die zweite, in der das Produkt z. B. weiterbearbeitet wird. Und erst der Prozess als Ganzer bestimmt darüber, was eine bestimmte Sache ist. Alternative zur Weiterbearbeitung ist der Gebrauch: „Diese neuen Prozesse sind aber nicht nur möglich, sondern nötig, ‚um diese Produkte als Gebrauchswerte […] zu verwirklichen‘.“272 Und Alternative zum Gebrauch ist jener natürliche Verfalls- prozess, von dem oben die Rede war: „[...] andernfalls fallen sie in die bloß natürlichen Prozesse etwa der Korrosion zurück.“273 Das Marxsche Modell nun weist schlagende Parallelen auf zu dem, was oben über das Speichern gesagt wurde. Die erste Phase, das Erlöschen des Prozesses im Produkt, würde die Medienwissen- schaft z. B. als ‚Einschreibung‘ fassen. Einschreibung meint, was ich oben Stillstellung genannt hatte; den Übergang vom Prozessie- ren zum Speichern, wenn das Prozessieren für den flüssigen und das Speichern für den festen, produktartigen Zustand steht. 270 Marx/Engels, ebd. (Erg. H. W.). 271 Ritter, a. a. O., S. 1553f. 272 Ebd., S. 1554. 273 Ebd. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 157 In der zweiten Phase wird das produktartig Verfestigte wieder verflüssigt; das Gespeicherte wird wieder Prozess, und zwar in eine der drei Richtungen, die Marx nennt: in die Weiterbearbeitung (d. h. neuerliches Prozessieren), in den Gebrauch (die Rezeption) oder in Entropie, den Verfall. Die Vorstellung insgesamt entspricht exakt dem Zyklus, der oben genannt wurde: Verfestigung und Verflüssigung lösen einander ab und sind wechselseitig auf einander verwiesen.274 4. Dinge Wenn Marx auf die materielle Produktion abhebt, dann geht es ‒ wie selbstverständlich ‒ um Dinge. Der Produktionsprozess mündet in ein Produkt.275 Wenn es nun um das Speichern geht allerdings, sollte geklärt werden, ob dies auf symbolische Prozesse umstandslos zu übertragen ist. Ist das Gespeicherte immer ‚Produkt‘? Und mündet symbolisches Prozessieren immer in Dinghaftes ein? 274 Das radikalste Modell für die Dingwerdung ist die natürliche Evolution (und diese ist als Denkanreiz und kritische Referenz bei Marx durchgängig spürbar). Darwin hat sein Buch ‚Die Entstehung der Arten‘ genannt. Die Arten, so wie sie vorfindlich sind, werden auf den Prozess ihrer Entstehung zurückgeführt; etwas bis dahin Feststehendes wird verflüssigt hinein in einen Prozess. Insofern musste auch und gerade die Evolutionstheorie die Ontologie irritieren: Hatte man bis dahin die Natur als vorfindlich, und ‒ unter Einschluss ihrer zyklisch beobachtbaren Wechsel ‒ als Inbegriff des Dauerhaften verstanden, gab es nun einen irreversiblen Zeitvektor, und damit Geschichte auch in der Natur. Allerdings gibt es innerhalb der Evolutionstheorie eine Gegentendenz: Indem Darwin Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung benennt ‒ die Konkurrenz um Ressourcen, die natürliche Selektion und andere mehr ‒, müssen diese Gesetz- mäßigkeiten nun als das eigentlich Dauerhafte erscheinen. Dass die Stabilität von den Dingen auf Gesetzmäßigkeiten übergeht, gilt für die Naturgesetze allgemein; diese werden als überzeitlich gültig verstanden, und ich habe noch keinen Versuch gelesen, parallel zur Historisierung der Natur in der Evolutionstheorie nach der Historizität nun auch der Naturgesetze zu fragen. Etwas zynisch könnte man sagen, dass hier durchaus noch Raum für einen Schöpfer bleibt, verbunden mit der Empfehlung an die Kreationisten, dem Schöpfer möglicherweise nicht mehr die Schöpfung der Schöpfung sondern die der Naturgesetze zuzuschreiben … 275 Mit Arbeit, die kein materielles Resultat hat, also mit Dienstleistungen, hat sich die marxistische Ökonomie entsprechend immer etwas schwer getan … 158 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Ich denke, dass dies ‒ mit oder ohne Marx ‒ tatsächlich der Fall ist. Speicher gibt es nur und ausschließlich in materiell-dinghafter Form.276 Und hier unterscheiden sich Speichern und Übertragen: Die Übertragung hat, oft hervorgehoben, einen Prozess zunehmen- der Immaterialisierung durchlaufen, der die Zeichenübermittlung erst vom physischen Transport, und schließlich auch von materi- ellen Trägermedien löst; Funk und drahtlose Telekommunikation nehmen nur noch den ‚Äther‘ in Anspruch ‒ und jene Vielzahl 3-D-solider Endgeräte,277 die die Rede von der Immaterialisierung gerne vergisst. Und auch dem Computer hat man unterstellt, mit ‚immateriellen‘ Zeichen zu operieren; sicher ähnlich problema- tisch, weil auch hier die Hardware mitzudenken ist. Im Fall des Speichers hingegen ist die Diagnose simpler: Spei- cher gibt es nur in dinghaft-materieller Form.278 Und mehr noch: man kann sagen, dass die Mediensphäre, wo sie speichert, die Dingwelt ganz bewusst in Anspruch nimmt, um ‒ quasi parasitär ‒ an deren Beharrungskraft Teil zu haben. Das aber verschiebt zunächst nur die Frage. Denn was ist ein Ding? Um die Begriffe des Dings, des Gegenstands und des Ob- jekts ist innerhalb der Kulturwissenschaften inzwischen eine ver- zweigte Diskussion entstanden;279 ausgehend von der Tatsache, dass gerade die kapitalistische Wirtschaftsordnung die Welt mit Dingen überschwemmt, hat man sich gefragt, was deren Status ist und welche Funktion Dinge innerhalb der material culture und der kulturellen Vollzüge übernehmen. 276 Ein wichtiger Sonderfall, es wurde oben gesagt, ist das menschliche Gedächt- nis, das zwar ebenfalls Speicherfunktion übernimmt, dennoch aber sehr anders funktioniert als mechanische Speicher, und zudem zwar materiell, nicht aber ‚dinghaft‘ im hier vertretenen Sinne genannt werden kann. 277 … dass diese Geräte ‚End‘-Geräte heißen, umreißt das ganze Problem … 278 Hier mag ein Grund dafür liegen, dass etwa Kittler die Funktion des Speicherns in den Mittelpunkt seines Medienkonzepts stellte. Der Titel ‚Aufschreibesysteme‘ macht dies deutlich … 279 Vgl. z. B.: - Brown, Bill (Hg.): Things. A Critical Inquiry Book. Chicago, IL: UCP 2004. - ders.: A Sense of Things: The Object Matter of American Literature. Chicago, IL: UCP 2004. - Ecker, Gisela (Hg.): Umordnungen der Dinge. Königstein: Helmer 2000. - dies. (Hg.): Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen. Königstein: Helmer 2001. - dies.; Breger, Claudia; Scholz, Susanne (Hg.): Dinge, Medien der Aneignung, Grenzen der Verfügung. Königstein: Helmer 2002. - Tischleder, Babette Bärbel: The Literary Life of Things: Case Studies in American Fiction. Frankfurt am Main/New York, NY: Campus 2014. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 159 Wenn es mir hier um das Speichern geht, ist die Fragestellung enger: Dinge, würde ich behaupten, sind dadurch bestimmt, dass sie beharren. Ob Naturding oder von Menschen hervorgebracht ‒ ein Ding zumindest im engeren Sinn kann nur sein, was materiell ist, mit sich identisch oder gegenüber seinem Umraum zumindest hinlänglich abgegrenzt, und was den Einflüssen der Zeit eine ge- wisse Stabilität entgegensetzt. So würden wir uns sehr wundern, wenn sich beim Aufwachen morgens unsere Möbel in Nichts auf- gelöst hätten. Mit der Liebe kann dies geschehen, mit den Möbeln unter normalen Umständen nicht. Ausgestattet mit dieser Stabilität treten die Dinge den mensch- lichen Praxen entgegen:280 Hinfällig, veränderbar und immer zu Richtungsänderungen geneigt, umspülen die Praxen die Dinge; dies war der Grund, die Dinge ‚fest‘ und die Praktiken ‚flüssig‘ zu nennen. Und gleichzeitig richten sich die Praktiken an den Dingen auf. Sie benutzen deren materielle Beharrung, um sich selbst zu stabilisieren. „Wenn Soziologen“, schreibt Bruno Latour, auf die Dauerhaftigkeit sozialer Bindungen hinweisen, dann glauben sie, damit etwas vorzubringen, das tatsächlich die erforderliche Trägheit, Festigkeit und Dauerhaftigkeit besitzt. Es ist die ‚Gesell- schaft‘, es sind ‚soziale Normen‘ oder ‚soziale Gesetze‘ oder ‚Struk- turen‘ oder ‚soziale Bräuche‘ oder ‚Kulturen‘ oder ‚Regeln‘ etc., so argumentieren sie, die stählern genug sind, um uns im Griff zu halten und die unebene Landschaft zu erklären, in der wir uns alle abmühen. Eine in der Tat bequeme Lösung, doch sie erklärt nicht, woher die ‚stählerne‘ Eigenschaft stammt, die die schwachen Ver- knüpfungen sozialer Fertigkeiten verstärkt. […] In der Praxis sind es stets Dinge ‒ und ich meine das letzte Wort jetzt buchstäblich ‒, die ihre stählerne Eigenschaft der fragilen ‚Gesellschaft‘ leihen.281 Dass auch die Dinge keineswegs unbegrenzt stabil, sondern selbst Prozessen ausgesetzt sind, bedarf keiner Erwähnung. Gezielter Eingriff (Eingreifende Veränderung), Transformation oder Ab- nutzungsprozesse zeigen, dass die hinfälligen Praktiken einige Macht auch im Reich der Dinge haben, daneben laufen Prozesse, die autonom, oder zumindest unabhängig vom Menschen sind; Verfall, Entropie und die Eigengesetzlichkeit der Dinge, im Fall der Naturprozesse aber auch Emergenz, also Formgewinn. 280 Der Begriff des ‚Gegenstands‘ hält diese Gegenüberpositionierung fest. 281 Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 115ff. (EV, engl.: 2005). 160 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Speichern nimmt die Stabilität der Dingwelt in Anspruch, weil symbolische Praktiken doppelt hinfällig sind. Flusser, hieran sei noch einmal erinnert, spricht von In-Formation; die Begriffe der ‚Einschreibung‘, des Engramms oder der Spur wollen die gleiche Interaktion zwischen Material und symbolischer Formgebung fassen. Einmal eingeschrieben, einmal dem Material anvertraut, teilen die Symbole das Schicksal des materiellen Trägers. Was ihm zu- stößt, stößt auch den Symbolen zu; und wenn die übertragene Nachricht vom Rauschen bedroht ist, dann die gespeicherte von der Entropie. Und dieses Schicksal kann vollständig unvermutet verlaufen; etwa wenn Pflanzenfasern ‒ Papyrus ‒ sich trocken ge- halten über Jahrtausende als stabil und lesbar erweisen und eine DVD aus Kunststoff schon nach etwa 10 Jahren nicht mehr lesbar ist. Dinge stehen in Wechselbeziehung zu Praxen; insofern kehrt wieder, was oben zur Wechselwirkung von Produkt und Prozess gesagt wurde. 5. ‚Punktualisierung‘ Einen besonders interessanten Ansatz zur Rolle der Dinge hat die Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelt, in dem es ebenfalls um das Verhältnis zwischen Dingen und Praktiken geht; Beispiel sind zu- nächst die technischen Dinge allgemein, und dann speziell sym- bolische Dinge. Technische Dinge, sagt die ANT, sind Praktiken, die stabile Form angenommen haben, oder wie Latour einen Text überschreibt: „Technology is society made durable“.282 Die Besonderheit der Dinge nun besteht darin, dass sie diese Tatsache verdecken. „Für die meisten von uns“, schreibt John Law in einem bekannten Aufsatz, stellt ein Fernsehgerät z. B. die meiste Zeit ein einzelnes, zusam- menhängendes Objekt mit relativ wenigen sichtbaren Teilen dar. Wenn es aber plötzlich defekt ist, verwandelt es sich schnell für denselben Benutzer ‒ und erst recht für den Monteur ‒ in ein Netz- 282 Ders.: Technology is Society Made Durable. In: Law, John (Hg.): A Sociology of Monsters? Essays on Power, Technology and Domination. London/New York, NY: Routledge 1991, S. 103-131. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 161 werk elektronischer Komponenten und menschlicher Interventio- nen.283 Erst im Fall einer technischen Störung tritt der soziale Charakter der Technik, die Tatsache, dass es sich eigentlich um ein Netz von Praktiken handelt, wieder hervor. Für diese Verdeckung wählt Law den Begriff der ‚Punktualisierung‘: Weshalb verschwinden die einen Akteur aufbauenden Netzwerke manchmal ‒ oder werden unsichtbar? Und weshalb geschieht das manchmal nicht? […] Jedes der oben aufgeführten Beispiele sugge- riert, dass die Erscheinung von Einheit und das Verschwinden des Netzwerks mit Simplifikation zu tun hat. […] Falls ein Netzwerk als ein einziger Block handelt, verschwindet es, um von der Handlung selbst und dem anscheinend simplen Autor dieser Handlung ersetzt zu werden. Gleichzeitig wird die Art, in der der Effekt erzeugt wird, gelöscht: Zum gegebenen Zeitpunkt ist sie weder sichtbar noch re- levant. Auf diese Weise maskiert zu bestimmten Zeiten ein ein- facheres Element ‒ ein funktionierendes Fernsehgerät, eine gut ver- waltete Bank oder ein gesunder Körper ‒ das produzierende Netz- werk. Akteur-Netzwerk-Theoretiker bezeichnen solche instabilen Vereinfachungseffekte […] als Punktualisierungen.284 ‚Punktualisierung‘ also meint, dass etwas Komplexes zusammen- gezogen und für eine bestimmte Zeit als eine Einheit, als ‚Ding‘ behandelt wird. Und Stabilität erlangt dieses Ding nicht allein dadurch, dass es materiell niedergelegt, einem stabilen Material anvertraut wird, sondern vor allem durch die Vereinfachung selbst: So ist es bequemer und ökonomischer, das Ding eben nicht als ein Netzwerk, sondern als eine wie auch immer prekäre Einheit zu behandeln. Und die ‚Verdeckung‘ folgt dieser Funktion: Es ist ökonomischer, von der inneren Komplexität nichts zu wissen, nichts wissen zu müssen und nichts wissen zu wollen. Wenn die 283 Law, John: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie: Ordnung, Strategie und Heterogenität. In: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript Verlag 2006, S. 429-446, hier: S. 435 (EV, am.: 1992). 284 Ebd., S. 436. Ähnlich Latour: „Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu wer- den, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox: Je erfolg- reicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie.“ (Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 373 (EV, engl.: 1999)). 162 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN ANT Objekte deshalb ‚Blackbox‘ nennt, ist dieselbe Tatsache gemeint.285 Für das Speichern bedeutet dies, dass die Stillstellung offen- sichtlich die gleiche Komplexitätsreduktion leistet. Was, solange man prozessierte, in sich komplex und beweglich war, wird ‚punktualisiert‘ und kann in der Folge als Einheit, als ein ‚Text‘, behandelt werden. Fixierung, Festschreibung also meint nicht allein die Einschreibung ins Material, sondern auch die Herstellung einer ‚Einheit‘, die Konstituierung der Produkt-Identität, von der oben die Rede war. 6. Mikro und Makro Diese Überlegung hat eine Implikation, die im Fortgang meiner Argumentation wichtig werden wird: In gewisser Weise nämlich ist mit der Punktualisierung die Unterscheidung zweier Ebenen, einer Mikro- und einer Makroebene, markiert. Latour erklärt dies nicht am Fall der Dinge, sondern am Beispiel von Institutionen, die er ebenfalls als Produkte einer Punktualisierung fasst: [Wir nehmen als selbstverständlich an], dass irgendwo in der Gesellschaft Makro-Akteure existieren, die auf natürliche Weise die Szene dominieren: Korporationen, Staaten, Produktionskräfte, Kulturen, Imperialismus, ‚mentalités‘ usw. […] Das Problem ist, dass diese Einheiten ohne die Konstruktion eines langen Netz- werkes [d. h. materialer Mechanismen ihrer Konstituierung] […] überhaupt nicht existieren könnten. Ein ‚Staat‘, eine ‚Korporation‘, eine ‚Kultur‘ oder eine ‚Ökonomie‘ sind das Ergebnis eines Punktu- alisierungsprozesses.286 Die Unterscheidung zwischen Mikro und Makro, also etwa zwi- schen der Ebene des einzelnen Handelnden und dem ‚Kollektiv- subjekt‘ der Gesellschaft, gehört zum Grundbestand der etablierten Soziologie. Die ANT nun, dies muss man wissen, erkennt diese Unterscheidung nicht an. Wenn sie von Makrophänomenen spricht, dann um diese zu demontieren, bzw. auf jene materialen Mechanismen zurückzuführen, die sie tragen und den Eindruck 285 Belliger, Andréa; Krieger, David J.: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theo- rie. In: dies., ANThology, a. a. O., S. 13-50, hier: S. 43ff. 286 Ebd., S. 297. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 163 hervorrufen, hier handele auf einer höheren Ebene ein Makro- akteur. Der Begriff der Punktualisierung also ist ein kritischer, der die genannte Vorstellung abtragen will. Gleichzeitig, dies ist meine Behauptung, reproduziert der Begriff das Modell, wenn auch auf einer möglicherweise abstrakteren Ebene. Dies wird deutlich, wenn Latour wenige Seiten später schreibt: „Der Punktualisie- rungsprozess wandelt […] ein ganzes Netzwerk in einen einzelnen Punkt oder Knoten eines anderen Netzwerkes um. Dieses Vorgehen kann unendliche Male wiederholt werden.“287 Für meine eigene Überlegung ist diese Stelle sehr relevant; und ich werde auf sie zurückkommen, wenn es darum gehen wird, die materialen Operationen im Text (Eingreifende Veränderung, Pro- zessieren) und materiale Operationen im Raum der Geografie (Übertragen) als Mikro und Makro zu unterscheiden.288 7. Immutable mobiles Ein weiteres sehr fruchtbares Konzept hat die ANT mit den ‚im- mutable mobiles‘ vorgelegt.289 Und hier nun geht es spezifisch um symbolische Dinge. Latour schildert eine Expeditionsreise im 18. Jahrhundert: Ein Beispiel zur Illustration: La Pérouse reist für Ludwig XVI. durch den Pazifik, mit der ausdrücklichen Mission, eine bessere [Land-] Karte zurückzubringen. […] Man muss fortgehen und mit den ‚Dingen‘ zurückkehren, wenn die Bewegungen nicht vergeblich sein sollen, die ‚Dinge‘ müssen aber in der Lage sein, die Rückreise zu überstehen, ohne Schaden zu nehmen. Weitere Erfordernisse: Die gesammelten und verlagerten ‚Dinge‘ müssen alle gleichzeitig denen präsentierbar sein, die man überzeugen will und die nicht fortgegangen sind. Kurz: man muss 287 Ebd., S. 335. 288 Kapitel 2.8, ,Raum des Textes, Raum der Geografie‘. 289 Latour, Bruno: Die Logistik der immutable mobiles. In: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hg.): Mediengeographie. Theorie − Analyse − Diskussion. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 111-144 (EV, am.: 1987). - ders.: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Ele- mente. In: Belliger/Krieger, ANThology, a. a. O., S. 259-307 (EV, am.: 1986/90). - Vgl. auch: Schüttpelz, Erhard: Die medientechnische Überlegenheit des Westens. Zur Geschichte und Geographie der immutable mobiles Bruno Latours. In: Döring/ Thielmann, Mediengeographie, a. a. O., S. 67-110. 164 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Objekte erfinden, die mobil, aber auch unveränderlich, präsentier- bar, lesbar und miteinander kombinierbar sind.290 Die Reise also muss dokumentiert werden, und die Dokumente müssen mobil sein, aber auch unveränderlich und stabil genug, die Rückreise zu überstehen ‒ exakt dies will der Begriff der immuta- ble mobiles fassen. Für meine Überlegung zum Speichern nun ist Verschiedenes wichtig: Zum einen das Bild der Reise, weil es um Mobilisierung und Mobilisierbarkeit geht. Mobilisierung, Ortswechsel, selbstver- ständlich, steht für die Übertragung; und die Dinge müssen reisen, weil die Adressaten nicht fortgegangen, also nicht zu reisen bereit sind. Darüber hinaus aber steht die Reise für eine Dekontextua- lisierung; und Dekontextualisierbarkeit ist keineswegs selbstver- ständlich gegeben; sie ist eine Anforderung ans Produkt, die bis in die Tiefe seiner inhaltlichen Bestimmungen reicht. Das Produkt eben muss so gestaltet sein, dass es auch außerhalb seines Entste- hungskontextes gut funktioniert; Speichern konstituiert die Pro- duktidentität; diese aber beweist sich erst dann, wenn das Produkt unbeschadet seinen Kontext wechseln kann. Zum Zweiten der Gedanke der Stabilität. Speichern meint Still- stellung, und ,immutable‘ stabil, unveränderlich. Dies ist der mate- rielle Aspekt, weshalb Latour ‒ wie selbstverständlich ‒ von ‚Din- gen‘ spricht. Und zum Dritten schließlich die Kombinierbarkeit; dieser Gedanke spielte oben bereits bei Giesecke eine Rolle, der hervorhob, dass die Bibliothek es möglich macht, Bücher neben- einander zu legen und zu vergleichen. Latour greift den Fall des Buchdrucks auf, um das Zusammen- spiel der drei Momente noch einmal zu demonstrieren: Ein anderes Beispiel soll zeigen, dass Inskriptionen nicht per se interessant sind, sondern nur, weil sie entweder die Mobilität oder die Unveränderbarkeit von Spuren steigern. […] Eisenstein […] [betrachtet] die Druckerpresse als Mobilisierungsvorrichtung […], oder genauer, als Vorrichtung, die sowohl Mobilisierung als auch Unveränderbarkeit zur selben Zeit ermöglicht. […] Unveränderbar- keit wird durch den Prozess des Druckens vieler identischer Kopien sichergestellt, Mobilität durch die Anzahl der Kopien, das Papier, die beweglichen Lettern. Die Verbindungen zwischen verschiede- nen Orten in Zeit und Raum werden von dieser phantastischen Be- 290 Latour, Drawing Things Together, a. a. O., S. 264, 266. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 165 schleunigung unveränderlich mobiler Elemente, die irgendwo in allen Richtungen Europas zirkulieren, vollständig modifiziert.291 Und wie bei Giesecke wird das Nebeneinander zur Grundlage der Abstraktion: Das Meiste, was wir ‚Struktur‘, ‚Muster‘, ‚Theorie‘ und ‚Abstrak- tion‘ nennen, sind Konsequenzen solcher Überlagerungen. ‚Denken ist Handarbeit‘, sagt Heidegger; was aber in den Händen ist, sind Inskriptionen.292 Von hier aus, und dies geht über Giesecke hinaus, macht Latour den Sprung zur Formalisierung. Das Rätsel, wie formalisierte Sys- teme ‒ Basis der Formalsprachen und des Computers ‒ entstehen, will Latour ebenfalls auf materiale Operationen in Raum und Zeit und die Spannung zwischen Mobilität und Unveränderbarkeit zu- rückführen. Der Gedanke, schreibt Latour, ist besonders interessant, […] weil er uns einen Weg eröffnet, ‚Formalismus‘ zu einer profaneren und materielleren Realität zu machen. Um sich von ‚empirisch‘ zu ‚theoretisch‘ zu bewegen, muss die Wissenschaft von langsameren zu schnelleren mobilen Elementen, von veränderlicheren zu weniger veränderlichen In- skriptionen übergehen. […] Tatsächlich ist, was wir Formalismus nennen, die Beschleunigung der Verlagerung ohne Transformation. […] Dieselbe Deflationsstrategie, die wir verwendeten, um zu zeigen, wie ‚Dinge‘ in Papier verwandelt werden [Latour hatte dies als einen Vorgang zunehmender Verdichtung beschrieben], kann ebenfalls zeigen, wie Papier in weniger Papier umgewandelt werden kann. Nehmen wir das Beispiel der ‚Effektivität der Arbeit Gali- leos‘, wie sie bei Drake berichtet wird. Drake verwendet tatsächlich das Wort Formalismus, um das zu kennzeichnen, wozu Galileo fähig war, seine Vorgänger jedoch nicht.293 Formalismen entspringen dem Verfahren, immer mehr Inskriptio- nen zu mobilisieren, nebeneinander zu legen und zu vergleichen, Grundlage dafür zu extrahieren, was ihnen gemeinsam ist und als abstrakte, formalisierte Aussage wieder niedergelegt werden kann. Formalismen erscheinen als eine besonders stabile Variante der Inskription, weil sie sich von den jeweils konkreten Kontexten be- sonders unabhängig gemacht haben. Und schließlich erscheint, was in einer Formalsprache formulierbar ist, in ganz besonderem Maße 291 Ebd., S. 272. 292 Ebd., S. 286. 293 Ebd., S. 288 (Erg. H. W.). 166 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN anreihbar und vergleichbar. Auch an dieser Stelle also reichen die materiellen Vorgänge der Speicherung (immutable) und der Über- tragung / Zirkulation (mobiles) tief in Fragen des Contents hinein. 8. Prozessieren und Speichern Die referierten Ansätze haben gemeinsam, dass sie – durchaus in Spannung zu ihrer praxeologischen Grundausrichtung – die Mate- rialität der Speicher betonen. Und ich stimme dem zu, wenn ich betone, dass es Speicher nur in materieller Form gibt, dass die Mediensphäre hier das engste Bündnis mit der Dingwelt eingeht. Dies ist der Grund, von Speichern als Reifizierung zu sprechen. Und zweifellos ist der Dingcharakter der Speicher die Basis für deren materielle Beharrung. Zum Zweiten wurde oben zwischen zwei Speicherfunktionen unterschieden: der Stillstellung, die das Prozessieren beendet und das Produkt als solches konstituiert (Speichern_1), und der materi- ellen Beharrung, Bewahrung oder kulturellen Tradierung (Spei- chern_2). Auf dieser Basis erscheint es möglich, Prozessieren und Speichern in ein Sequenzschema zu bringen, das die Oszillation zwischen Verflüssigung (Prozessieren) und Verfestigung (Spei- chern) etwas detaillierter, als eine Abfolge von Schritten be- schreibt. Hierbei wird es nötig, auch das Prozessieren in zwei Schritte aufzuspalten. Völlig spiegelgleich zum Speichern zerfällt nun auch das Prozessieren in einen ersten Schritt, der das Material überhaupt erst verflüssigt, und einen zweiten, der in der Eingreifenden Verän- derung besteht. Das Sequenzschema könnte z. B. so aussehen, wie in Abb. 17, S. 167, skizziert. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 167 ↓ ↓ Prozessieren_1 Prozesseröffnung: Verflüssigung Prozess von fest zu flüssig ↓ Resultat Flüssig ↓ ↓ Prozessieren_2 Eingreifende Veränderung Prozess Eingreifende Veränderung ↓ Resultat weiter flüssig ↓ ↓ ↓ Speichern_1 Speichern als Stillstellung Prozess von flüssig zu fest ↓ Resultat: Fest ↓ ↓ Speichern_2 Speichern als Bewahren, mat. Beharrung, kult. Tradierung Prozess Bewahren Dauer, Überwindung der Zeit ↓ Resultat: weiter fest ↓ Abb. 17 9. Materielle Einschreibung An dieser Stelle allerdings entstehen verschiedene Probleme; zum Ersten ist es keineswegs ausgemacht, dass die Stillstellung (Spei- chern_1) immer und notwendig mit einer materiellen Einschrei- bung in Dinge einhergeht. Dies macht ein Blick auf die Übertra- gung deutlich: Es wurde gesagt, dass auch die Übertragung auf ein stillgestelltes, stabil konstituiertes Produkt angewiesen ist. Im Fall des Briefs und der Tontafel ist Gegenstand der Übertragung ein 168 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN physikalisches Ding, hier also fallen Stillstellung und Reifizierung zusammen. In anderen Fällen aber gilt dies ebenso offensichtlich nicht. So können das Life-Fernsehen oder der Computer Produkte übertragen, die zwar vorher prozessiert wurden, nicht aber materi- ell-dinghafte Form angenommen haben. Auch diese Produkte müs- sen als Produkt stabil konstituiert sein, Stillstellung und Reifizie- rung aber fallen nicht zusammen. Dies macht es nötig, das Speichern ein weiteres Mal aufzuspal- ten. Neben Speichern_1 (Stillstellung) und Speichern_2 (Behar- rung) scheint es eine dritte Teilfunktion zu geben: Speichern_3, die Einschreibung in Dinge. 10. Stillstellung Die Einschreibung in Dinge (Speichern_3), wäre die materielle Voraussetzung für die dinghaft-materielle Beharrung; die Behar- rung (Speichern_2) würde man wahrscheinlich als den Kern der Medienfunktion Speichern ansehen. Für die dritte Teilfunktion, die Stillstellung (Speichern_1), aber ergibt sich eine Konsequenz, die zunächst eher verwunderlich ist. Wenn nämlich gesagt wurde, dass die Stillstellung Voraussetzung sowohl für die Übertragung wie auch für das Speichern ist, weil beide fest konstituierte Produkte voraussetzen, dann muss die Still- stellung immer schon vollzogen sein, bevor Übertragung oder Speichern beginnen. Dies wiederum heißt, dass die Stillstellung ‒ und dies eben ist befremdlich ‒ eine Teilfunktion nicht des Spei- cherns sein kann. Die Stillstellung (Speichern_1) vielmehr muss dem Prozessieren zugerechnet werden; als dessen letzter Schritt, der das Prozessieren beendet und das Produkt als ein stabiles wie- der konstituiert. 11. Entropie Ein weiterer Punkt ist nun zu ergänzen. Es wurde gesagt, dass Speichern keineswegs einfach Bewahren ist, sondern dass alles, was gespeichert ist, der Entropie unterliegt. Beharren / Bewahren und Entropie liefern sich einen dauernden Kampf; und entgegen jeder Absicht verändert sich das Gespeicherte eben doch. Dies KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 169 bedeutet, dass etwas in das Gespeicherte eingreift, auch wenn dies kein menschlicher oder willentlicher Eingriff ist. In gewissem Sinne also kann man von einem selbsttätigen Prozessieren spre- chen. Will man auch dies unter die Teilfunktionen aufnehmen, zerfällt das Prozessieren nun in drei Teilfunktionen: die Eingreifende Ver- änderung (Prozessieren_1), die Kern des Prozessierens ist, die Ver- flüssigung (Prozessieren_2), die der Eingreifenden Veränderung notwendig vorangeht, und die Entropie (Prozessieren_3). 12. Einfluss des Mediums Wenn man die Entropie als eine Art selbsttätigen Prozessierens betrachten muss, dann gilt dies sicher auch für die formende Kraft des Mediums selbst, die ja ebenfalls Einfluss auf das Gespeicherte und auf die Art und Weise, wie abgespeichert wird, nimmt. Das ‚Medium‘ wäre hier so breit wie irgend möglich zu fassen, zu ihm gehören die Technik, die Ebene des Institutionellen, Codes, Regu- laritäten usf. Mein Vorschlag entsprechend ist, den Einfluss des Mediums als einen weiteren Faktor mit zu berücksichtigen (Prozessieren_4). Betrachtet man beide ‒ die Entropie wie den Einfluss des Mediums ‒ als Varianten des Prozessierens allerdings ist befremdlich, dass beide nicht im Kontext des Prozessierens auftauchen, sondern in dem des Speicherns. 13. Wechselseitige Inklusion Allgemeiner bedeutet dies, dass die Medienfunktionen offensicht- lich Teilfunktionen enthalten, die logisch Teil einer anderen Medi- enfunktion sind. Zwischen den Medienfunktionen also besteht ein Verhältnis wechselseitiger Inklusion.294 Das ist, gerade wenn man die Medienfunktionen zu systemati- sieren versucht, eine Irrititation. Gleichzeitig macht dies klar, wie notwendig diese Klärung ist, und wie problematisch ein fachlicher 294 Auf diese wechselseitige Inklusion hat mich bereits in einem sehr frühen Gespräch über mein Projekt Bärbel Tischleder aufmerksam gemacht. 170 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Sprachgebrauch, der sich noch sehr weitgehend an alltagssprach- lichen Gewissheiten orientiert. Inhaltlich eröffnet die These einer wechselseitigen Inklusion weitreichende Perspektiven. Dies wird zu zeigen sein, wenn es im Folgenden um den Computer-Prozessor geht, der das, was hier Prozessieren genannt wird, vollständig in Vorgänge des Übertra- gens und Speicherns auflöst.295 14. Teilfunktionen Fasst man das Gesagte zusammen, ergeben sich für das Speichern die in Abb. 18, S. 171, genannte Liste von Teilfunktionen. Im Fortgang meiner Argumentation werde ich auch die anderen beiden Medienfunktionen auf vergleichbare Weise in Teilfunktio- nen zerlegen. Dies ist nötig, um ihre wechselseitige Inklusion zu analysieren, um Aufschluss über ihr tatsächliches Funktionieren zu bekommen, vor allem aber, um zu zeigen, wie die Medienfunktio- nen aneinander anschließen können. Diese Frage wird Gegenstand eines eigenen Abschnittes sein.296 295 Vgl. Kapitel 3.3, ,Was tut ein Prozessor?‘. 296 Vgl. Kapitel 2.6, ,Die Medienfunktionen als Netz‘. KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 171 ↓ Speichern ↓ Speichern_3 Speichern als materielle Einschreibung, Reifizierung Voraus- Übernahme eines stillgestellten, setzung stabil konstituierten Produkts Prozess Materielle Einschreibung in Dinge, Reifizierung ↓ Resultat Fest, dinghaft materiell ↓ Prozessieren_4 Einfluss des Mediums Prozess Medium formt den Inhalt ↓ Resultat ↓ Speichern_2 Speichern als Beharrung, Überlieferung, kult. Tradierung Prozess Konstanthalten, Bewahren der Produktstruktur ↓ Resultat Produkt verfügbar zu neuem Zeitpunkt ↓ Prozessieren_3 Entropie Prozess Entropie verändert das Gespeicherte ‒ wider Willen ‒ qualitativ Resultat Produkt eventuell korrumpiert ↓ ↓ Abb. 18 172 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN 15. Luhmann warnt … Ein weiterer Aspekt des ‚Speicherns‘ ist nun zu ergänzen. Im Gang meiner Argumentation habe ich immer wieder die materiellen Speicher als ‚fest‘ betrachtet, und den ‚fluiden‘ Prozessen, dem Prozessieren, gegenübergestellt. Umso wichtiger ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Luhmann vor dieser Annahme warnt und vor- schlägt, sie im Rahmen einer größeren Überlegung zu bestimmten Eigenheiten der Zeit neu zu bewerten. Der entsprechende, relativ frühe Text Luhmanns heißt ‚Tempo- ralstrukturen des Handlungssystems‘;297 und fokussiert auf die Tat- sache, dass der Ablauf der Zeit durch Irreversibilität gekennzeich- net ist. Demgegenüber, sagt Luhmann, steht die Möglichkeit, zu Medienprodukten, die materiell niedergelegt sind, zurückzukehren. Deshalb muss man fragen, schreibt Luhmann, wie über Irreversibilität disponiert wird. Das Problem der Reversi- bilität / Irreversibilität liegt nicht primär in der Umkehrbarkeit / Unumkehrbarkeit objektiver Verläufe. Gemeint ist hier vielmehr ein Problem, das allen Sinnstrukturen [oder Medienprodukten] imma- nent ist: daß man zu Sinngehalten, die man im Verlauf des Erlebens und Handelns verläßt, indem man sich anderem zuwendet, zurück- kehren kann; daß man sie in neuen Gegenwarten reaktualisieren kann, sofern sie nicht irreversibel geworden und nur noch der Erinnerung verfügbar sind. Wer, um ein Beispiel zu bilden, seine Brieftasche vergessen hat, kann umkehren und sie holen: Sie befin- det sich dort, wo er sie hatte liegenlassen. Wer dagegen sein Geld ausgegeben hat, dem bleibt nur die Erinnerung als Modus der Re- aktualisierung von Möglichkeiten.298 Luhmann also hebt auf die Möglichkeit ab, zu Sinngehalten zu- rückzukehren; Bedingung hierfür ist, dass diese Sinngehalte mate- riell niedergelegt, also gespeichert sind; und nicht umsonst wählt Luhmann ein materielles Ding, die Brieftasche, als Beispiel; in Spannung zum Gedächtnis, das möglicherweise auch eine Reaktu- alisierung, nicht aber eine materielle Rückkehr erlaubt. Rückkehr ‒ selbstverständlich ‒ ist gegen die Zeit gerichtet. Wo diese linear und irreversibel voranschreitet, bringt die Rückkehr ein zirkuläres Moment in die Zeit ein. „Handlungssysteme“, setzt Luhmann fort, 297 Luhmann, Niklas: Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammen- hang von Handlungs- und Systemtheorie. In: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen 1993, S. 126-150 (EV: 1980). 298 Ebd., S. 132 (Erg. H. W.). KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 173 konstituieren den Sinn der Handlungen, aus denen sie bestehen. Für sie liegt daher nicht vorab schon fest, was zu welchem Zeitpunkt irreversibel wird und was nicht. Vielmehr gehört die Differenz von Reversibilität und Irreversibilität mit zu der Ordnungsleistung, die sie erbringen. Und gerade das, was sie durch Strukturbildung der Vergänglichkeit des Moments entziehen, wird damit reversibel gemacht: Es dauert, also kann man es ändern.299 Für das Verständnis der Speicher ist dies hoch relevant und durch- aus verblüffend, weil gerade die materielle Dauer zur Basis für Veränderung wird. Anders als eine vereinfachte Entgegensetzung von Struktur und Pro- zeß es wahrhaben will, dient gerade die Strukturbildung [/Materiali- sierung] dem Vorhalten von Änderungsmöglichkeiten, während als Prozeß die Verkettung der Ereignisse erscheint, sofern sie irreversi- bel ist. Strukturen dienen dem Aufbau von Reversibilität, Prozesse dem Erzeugen von Irreversibilität.300 Die Grundannahme, Speichern stehe für ‚fest‘ und Prozessieren für ‚flüssig‘, wird geradezu umgekehrt. Als besonders ‚fest‘, weil irre- versibel, muss nun das Prozesshafte erscheinen. Das Gespeicherte (Luhmann sagt: die Struktur) ‚dient dem Aufbau von Reversibili- tät‘, zielt also geradezu auf Änderung und Änderbarkeit ab. Luhmann hat Paradoxa geliebt, und aus Paradoxa immer theo- retische Funken geschlagen. So auch hier; und zwar vor allem, indem er Reversibilität und Irreversibilität nun an Entscheidungen bindet. [Eine] Entscheidung ist [eine] Wahl zwischen Alternativen. […]. [Dies] wird [bei Parsons] am Fall von Geld und, für unsere Zwecke vielleicht ebensogut, am Fall von Macht exemplifiziert. Handlungen sind hier Ausgabeentscheidungen, die in der Sprache des Mediums artikuliert werden. Sie haben als Ereignis einen Doppeleffekt: Einerseits binden sie den Abgebenden und den Empfänger insofern, als sie Verwendungs- und Transferentscheidungen sind. Veraus- gabtes Geld kann nicht nochmals ausgegeben, eine auf Macht ba- sierte Entscheidung kann nicht mehr anders getroffen werden, sie hat ihre Alternativen ebenfalls ‚verausgabt‘. Das könnte, etwas er- weitert, der Begriff der kollektiven Bindung durch Entscheidung bezeichnen. […] So organisieren Medien Stabilität und Zirkulation 299 Ebd. (Hervorh. H. W.). 300 Ebd., S. 132f. (Erg. H. W.). 174 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN zugleich. Vielleicht kann man sagen: sie überführen eine primäre Handlungsungewißheit in zirkulierende Bindung.301 Besonders irreversibel ist, was entschieden ist; in der Entscheidung wurden auch deren ‚Alternativen verausgabt‘. Entscheidung also eliminiert den Möglichkeitsraum, der vor der Entscheidung be- steht. Das Gespeicherte nun kennt eine vergleichbare Vereindeuti- gung nicht, im Licht dessen, was Luhmann sagt, muss es vielmehr selbst für diesen Möglichkeitsraum stehen. Luhmann fasst zusam- men: [So] ist die Dauergegenwart [des Gespeicherten] keineswegs ein bloßes Fortbestehen des Festen, Festgelegten, Bestimmten. Im Ge- genteil: Ihr Dauern erfordert Unterbestimmtheit, Offenheit, Rever- sibilität; denn was irreversibel bestimmt ist, ist eben schon nicht mehr gegenwärtig.302 Im Kontext meines Projekts mag die Luhmannsche Umkehrung zunächst verwirrend erscheinen. Bei näherem Zusehen aber trägt sie tatsächlich Entscheidendes bei. So zunächst den Gedanken, dass Prozessieren u. a. Entscheiden, und damit Vereindeutigung ist. Als Prozess mag das Prozessieren resultatoffen sein, von sei- nem Resultat her betrachtet, wenn die Entscheidung gefallen ist, ist es Vereindeutigung. Zudem sind Prozess und Prozessieren an Zeit gebunden, und haben entsprechend Anteil an deren grundsätzlicher Irreversibilität. Zum Zweiten tut sich die Möglichkeit auf, das Speichern neu zu begreifen. Wenn Speichern über die Möglichkeit zur Rückkehr bestimmt ist, dann besteht der Charme einer Rückkehr darin, dass man anschließend einen anderen Weg als den ursprünglich ge- wählten nehmen kann. Wenn Luhmann also das Gespeicherte mit dem Möglichkeitsraum assoziiert, so ist dies mehr als plausibel; und dasselbe gilt für die Reversibilität: Reversibilität erscheint als Chance, als Potential; und was reversibel ist, erscheint weniger ‚machtgesättigt‘ als die Entscheidung.303 Speichern, so könnte man sagen, setzt Zeit aus; dies ist ein Beitrag u. a. zum Verständnis des 301 Ebd., S. 138 (Erg. u. Hervorh. H. W.; im Original fehlerhaft: Tranferentschei- dungen). 302 Ebd., S. 142 (Erg. H. W.). 303 Dies korrespondiert mit meinem eigenen Versuch die Sphäre des Symbolischen über den Begriff des ‚Probehandelns‘ zu bestimmen (vgl. Kapitel 1.3, ,Meta- morphosen‘, S. 47ff.). KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 175 Ausgangsparadoxes, dass Speichern ein Prozess ist, der Prozesse gleichzeitig stillstellen will. Und schließlich gibt es bestimmte Momente, die das hier Vertretene mit Luhmann durchaus gemeinsam hat: Methodisch parallel etwa wäre der Versuch, Struktur und Prozess, das materiell Niedergelegte und die praktischen Vollzüge, zu relationieren. Ebenso gemeinsam wäre die Vorstellung, dass beide in einem Zyklus regelhaft aufeinander bezogen sind. Und hier ergibt sich eine weitere Möglichkeit von Luhmann zu lernen: wenn ich bisher die Stabilität des Niedergelegten betont hatte, so bedeutet diese Stabilität eben nicht, dass sie determinie- rend wirkt, d. h. die Richtungnahme zukünftiger Praxen bestimmt. Die Richtungsentscheidung vielmehr ist Teil des Prozessierens selbst. In der Folge erscheint es nötig, sich genauer Rechenschaft zu geben, welche Phase des Zyklus‘ man aus welcher Perspektive betrachtet. Und dies gilt auch für Luhmann selbst: Wenn der Pro- zess bei Luhmann für Vereindeutigung steht, dann nur, wenn man ihn quasi rückwärts, von seinem Resultat her in den Blick nimmt. Und ein Reich der Möglichkeiten ‒ umgekehrt ‒ kann das Gespei- cherte nur im Blick auf zukünftige Verwendungen sein. Blickt man dagegen vom Gespeicherten aus zurück auf die Prozesse, die es konstituiert haben, muss es selbst als das Resultat von Entschei- dungen, d. h. als Festlegung, Vereindeutigung erscheinen. 16. Schluss Auch meine Überlegung zum Speichern, denke ich, hat einiger- maßen handfeste Resultate. So wird zunächst deutlich, dass es völ- lig falsch wäre, Medienprozesse und das Prozessieren an die Stelle der bis dahin favorisierten Dinge zu setzen; wenn Schüttpelz also analysiert hatte, dass die Medienwissenschaft gegenwärtig von ‚Reifizierungen‘ (Dingen, Apparaten) zu Prozessen übergeht, und von Substantiven zu Verben,304 dann wäre dies nicht mehr als eine neuerliche Vereinseitigung. Allzu offensichtlich sind die Medien- prozesse eben zyklisch auf Dinge verwiesen; sie sind abhängig von Reifizierungen nicht nur auf Seiten der Apparate, ohne die keine der drei Medienfunktionen denkbar ist und kein Medienprozess 304 Die Äußerung wurde oben zitiert; Kapitel 1.1, ,Eingreifende Veränderung‘, S. 25. 176 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN sich vollziehen kann, sondern vor allem dort, wo es ums Speichern geht. Nach ihrer Speicherseite hin, da hat Kittler recht, sind Me- dien materielle Aufschreibesysteme; und Speichern bedeutet, wie gesagt, dass die Medien ein systematisches Bündnis mit der Ding- welt eingehen; die zerbrechlichen Symbole suchen Schutz bei der materiellen Stabilität der Dinge und benutzen sie ‚parasitär‘ mit, um die eigene Beharrung zu gewährleisten. Für Beharrung und Dauer zahlen sie den Preis der Starrheit. Und erst neuerliches Pro- zessieren (als Verflüssigung) wird sie wieder in Bewegung brin- gen. Semantisch und von der diskursiven Funktion her, das war Luh- manns Punkt, ist es gerade umgekehrt: Das gespeicherte, materiell konstituierte Produkt mag materiell ‚starr‘ sein, Voraussetzung dafür, dass es beharrt und dass man materiell zu ihm zurückkehren kann. Gerade dadurch aber ist es semantisch vieldeutig (und das heißt: in seiner Deutung und Verwendung flexibel), insofern es dem neuerlichen Gebrauch neue, abweichende Möglichkeiten be- reitstellt. Und aus der Sicht der Semantik ist gerade das Prozessie- ren Entscheidung und Vereindeutigung (und das heißt eine Zu- nahme von Determination). Die Ebenen des Materiellen und des Semantischen also erscheinen eigentümlich gekreuzt. Und gleichzeitig wird man Luhmanns Einwand begrenzen und festhalten müssen, dass das Gespeicherte nicht beliebige Spiel- räume eröffnet. Insofern es selbst Struktur, d. h. Resultat von Ent- scheidungen ist, also festschreibt, was im vorangegangenen Pro- zessieren entschieden wurde, legt es eine Art Korridor fest, der die Spannbreite möglicher Verwendungen systematisch begrenzt. Luh- mann selbst hat gezeigt, dass sich ‚Anschlusskommunikationen‘ in einem solchen Korridor bewegen. Dies zwingt dazu, jeweils zu unterscheiden, welche Phase des Zyklus man betrachtet und ob man vom Prozess ‚vorwärts‘ auf dessen Resultat, oder ‚rückwärts‘ vom Resultat auf dessen Entste- hung schaut. Meine Aufgliederung in Teilschritte nimmt dies auf, indem sie für jeden Teilschritt zwischen Voraussetzung, Prozess und Resultat unterscheidet. Ein weiterer Zugewinn ist Luhmanns Begriff der Entscheidung, der eine Neuakzentuierung auch des Prozessierens erlaubt. Wenn Prozessieren Entscheiden, also Vereindeutigung ist, dann wird Prozessieren, stärker als bis dahin, an die Irreversibilität der Zeit gebunden. Zudem wird ein Anschluss auch an weitere Fragen KAPITEL 2.3 SPEICHERN, STILLSTELLEN, REIFIZIEREN 177 möglich, die spezifisch medienwissenschaftlich sind und an die Luhmann sicher nicht gedacht hätte: Medientechnisch, es wurde oben gesagt, bedeutet Entscheiden Schalten, und weitergehend das Einschlagen eines Wegs (zu Ungunsten alternativer Wege), was Probleme der Zustellung und der Adresse berührt.305 Da man diese nicht dem Prozessieren, sondern üblicherweise der Übertragung zurechnen würde, tut sich hier die Möglichkeit eines interessanten Brückenschlags auf. 305 Kapitel 1.7, ,Schalten, Entscheiden‘. Kapitel 2.4 ÜBERTRAGEN 1. Stillstellen Nachdem das Speichern, aus der Perspektive des Prozessierens betrachtet, doch einige unvermutete Eigenheiten bereit hält, soll dieselbe Probe nun für das Übertragen gemacht werden. Und der erste Gedanke schließt an bereits Erarbeitetes an. So wurde im Kapitel ‚Relationen‘ gezeigt, dass Übertragung und Prozessieren getrennten Regeln folgen. Während Prozessieren im Kern Eingrei- fende Veränderung ist, das Produkt in seiner Identität also auflöst und erst am Schluss wieder konstituiert, verlangt die Übertragung, dass das übertragene Produkt unangetastet bleibt. Die Botschaft soll ‒ soweit das möglich ist ‒ genau so ankommen, wie sie losge- schickt wurde. Dass kein Medium diese Anforderung vollständig erfüllen kann, wurde ebenfalls schon gesagt; dennoch soll nun bei der Regel der Unveränderbarkeit noch einmal angesetzt werden. Die Tatsache, dass die Logik der Übertragung verändernde Ein- griffe ausschließt, hat besonders systematisch und präzise Sohn- Rethel beschrieben,306 allerdings außerhalb des Medialen, am Bei- spiel der Ware. Markt und Ökonomie sind in Vielem der Medien- sphäre vergleichbar;307 auch im Fall der Ökonomie geht es um Aus- tausch, wenn auch meist um den Austausch nicht symbolischer, sondern 3-dimensional-solider Güter. Sohn-Rethel spricht über den Markt als einen Ort des Tauschs und des Austauschs, und das heißt der Übertragung; und er kann zeigen, dass der Markt gegen die Sphäre der Produktion und der Konsumtion abgegrenzt und als ein Schutzraum überhaupt erst konstituiert werden muss: Tauschhandlung und [Produktions- wie] Gebrauchshandlung schlie- ßen einander aus: zwischen ihnen besteht genaue zeitliche Trennung. 306 Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform. Versuch über den gesellschaft- lichen Ursprung des ‚reinen Verstandes‘. In: ders.: Warenform und Denkform. Aufsätze. Frankfurt am Main/Wien: EVA 1971 (EV: 1961). 307 Dies ist die zentrale These in meinem Buch Diskursökonomie (a. a. O.). 180 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN [...] [Der Marktplatz] ist ein Raum, der ständig oder zu bestimmten ausgesparten Zeiten allein für Tauschhandlungen reserviert ist und von dem Gebrauchshandlungen, ob produktiver oder konsumtiver Art, mehr oder minder vollständig verbannt sind.308 [Die Tauschhandlung] aber ist eine Handlung von höchst eigentüm- licher Bestimmtheit. Durch sie verändert sich lediglich der Besitz der Waren, und dies ist ein rein gesellschaftlicher Status, der in der physi- schen Beschaffenheit der Dinge keinen Ausdruck findet. [...] Aber wenngleich die Tauschhandlung die Waren in ihrer gebrauchswerten, physischen Beschaffenheit unversehrt läßt, ist sie doch selbst ein physischer Vorgang, eine reelle Handlung in Raum und Zeit.309 Insbesondere diese letzte Bestimmung wird im Folgenden aufzu- greifen sein; an dieser Stelle aber geht es zunächst um die Still- stellung selbst; denn Sohn-Rethel schreibt weiter: Eine Ware, die zu einem bestimmten Preis ausgezeichnet ist, steht für die Dauer, während derer der Preis derselbe bleibt, unter dem Postulat unveränderter materieller Identität. [...] Ihre gebrauchs- werte physische Beschaffenheit darf also keine Veränderung erlei- den. Primär bezieht sich das Postulat auf Veränderungen durch menschliche Gebrauchshandlungen, doch erstreckt es sich selbst auf die Natur, von der erwartet wird, daß sie um unserer gesell- schaftlichen Angelegenheit willen in den Warenkörpern den Atem anhält.310 Die Tauschhandlung hat in der Tauschabstraktion die Bestimmt- heit abstrakter Bewegung, nämlich einer materiellen Handlung, durch welche die Substanzen (d. i. ihre Objekte) keine materiellen Veränderungen erfahren und die daher nur Veränderungen des Ortes in der Zeit ist. Der Raum, durch den solche unveränder- lichen Substanzen sich bewegen, sowie die Zeit, die sie dazu brau- chen, werden hierdurch ihrerseits zu abstrakten und homogenen, von reellen stofflichen Veränderungen losgelöste Medien.311 Sohn-Rethel zeigt, dass der Markt von den Waren in der Phase des Austauschs Stabilität und Identität fordert, und zweitens, dass diese Identität keineswegs einfach gegeben ist, sondern durch bestimmte materielle Maßnahmen allererst produziert und sichergestellt wer- den muss. An erster Stelle durch ein Tabu, das die Berührung / Veränderung der Ware (mit bestimmten Ausnahmen) verbietet. 308 Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, a. a. O., S. 114f. (Erg. H. W.). 309 Ebd., S. 116 (Erg. H.W.). 310 Ebd., S. 118. 311 Ebd. KAPITEL 2.4 ÜBERTRAGEN 181 [Auf dem Markt] sind die Gebrauchswerte als Objekte der Kennt- nisnahme durch eine unüberschreitbare Kluft vom Subjekt getrennt. Das braucht ein Betasten, ein Ausprobieren oder ‚Anprobieren‘ der Waren keineswegs auszuschließen, ja die Prüfung mag sogar genau dieselbe Form annehmen wie der beabsichtigte Gebrauch. Dennoch hat sie hier die Geltung, nur der Urteilsbildung zu dienen, nicht der praktischen Nutzung.312 Und weiter, könnte man folgern, wird sie sichergestellt durch Techniken wie die Verpackung,313 die zwischen Subjekt und Objekt eine ‚unüberschreitbare Kluft‘ errichten. In der Sphäre der Medien gibt es durchaus vergleichbare institutionelle und tech- nische Mittel, die die Identität der Botschaft sichern; unter den Tabus wären vielleicht das Postgeheimnis und die Tatsache, dass die Zusteller lange Zeit Beamtenstatus hatten,314 zu nennen, unter den technischen Maßnahmen der geschlossene Umschlag, die festen Buchdeckel, die die Textintegrität sichern, und nicht zuletzt der Druck selbst, als eine ‚Materialität der Verkörperung‘,315 die den flüssigen Text in eine dauerhafte, feste Form bringt. „Was immer eine Botschaft ist:“, hatte Krämer geschrieben, „Sie muss jedenfalls aus der Situation ihrer Genese ablösbar und also trans- portierbar sein.“316 2. Übertragen und Speichern Übertragung, Ablösbarkeit und Transportierbarkeit ‒ dies war ein weiteres Ergebnis im genannten Kapitel ‒ werden sichergestellt durch die Speicherfunktion, die das Produkt in seiner Identität überhaupt erst stabilisiert und konstituiert.317 Und zwar, um genau- er zu sein, durch jene erste Speicherfunktion, die oben Abspei- chern oder Stillstellen genannt wurde. Die zweite, das Bewahren 312 Ebd., S. 116. 313 Besonders deutlich ist dies im Fall jener nahezu unzerstörbaren Plastikver- packungen, die die Ware – allen Blicken ausgesetzt – in eine Art Schneewittchen- sarg einschließen. 314 Dieser wurde aufgegeben, und selbst Pakete werden inzwischen von Subunter- nehmern in schäbig-unscheinbar-weißen Klein-LKW ausgeliefert … 315 Krämer, Medium, Bote, Übertragung, a. a. O., S. 116. 316 Ebd.; dass Medien Maschinen der Kontextentbindung sind, ist eine der zentra- len Thesen in meiner Diskursökonomie (a. a. O.). 317 Kapitel 2.1, ,Relation‘, S 130ff. 182 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN über die Zeit, war davon zu trennen; sie arbeitet ähnlich wie die Übertragung selbst, als eine Übertragung längs der Achse der Zeit. Übertragen werden kann nur, was vorher gespeichert, also still- gestellt wurde. Und häufig beginnt die Übertragungskette damit, dass ein Speicher ausgelesen wird. Hier aber entsteht sofort eine Anschlussfrage: Wenn Startpunkt der Übertragungskette ein Spei- cher ist ‒ was kann dann über deren Ziel, ihr Ende gesagt werden? Übertragung bedeutet, dass feststehen muss, wohin übertragen wird. ‚Wohin‘ aber meint etwas Feststehendes, einen Ort.318 Die Überlegung also stößt ein weiteres Mal auf das Problem der Adresse. Und meine Behauptung ist, dass auch Zielpunkt der Übertra- gung häufig ein Speicher ist. Dass das Wohin feststehen muss, ist ein klares Indiz; wurde doch oben gesagt, dass allein die Speicher materielle Stabilität gewährleisten können, eine Stabilität, die sie von den materiellen Dingen leihen. Dasselbe gilt für die enge Ver- knüpfung zum Ort. Auch wenn es also, etwa im Mobilfunk, auch solche Adressen gibt, die keinen festen Ort haben, muss eine Adresse immer in einen Ort auflösbar sein. 3. Übertragen als Versetzen an einen neuen geografischen Ort Ich komme hier auf das eingangs zitierte Schema zurück, das die Übertragung dem Raum und das Speichern der Zeitachse zuordnet. Das Spezifische der Übertragung ist die Überwindung räumlicher Differenzen; das Produkt wird an eine neue Stelle im Raum ver- setzt. Interessant nun ist, dass diese Raumüberwindung ‒ zumindest im Idealfall ‒ zeitfrei geschieht. Während Briefe noch eine signifi- kante Laufzeit hatten, bricht mit der Telegrafie ein Zeitalter an, das Botschaften ‒ Medienprodukte ‒ quasi instantan zustellen kann, das Telefon nutzt dies für eine Telekommunikation, die zwar große Räume überbrückt, gleichzeitig aber schnell genug ist, um ein Wechselgespräch in ‚Realzeit‘ möglich zu machen. Diese Gleichzeitigkeit / Synchronie gilt nicht für alle Medien, und ist zudem eine Idealisierung, insofern auch Telegrafen- und Telefonsignale eine gewisse Laufzeit haben; sie bewegen sich 318 Im Fall der Massenmedien, Rundfunk und Fernsehen, kann dieser Ort ein verteilter sein; ihre One-to-many-Logik ist insofern ein Sonderfall ... KAPITEL 2.4 ÜBERTRAGEN 183 deutlich unterhalb der Lichtgeschwindigkeit, und selbst die ist relevant, etwa wenn es um die Kommunikation mit Raumsonden geht. 4. Speichern als Versetzen an eine neue Zeitstelle Und völlig parallel dazu ist nun nachzutragen, was die definierende Eigenschaft des Speicherns ist. Speichern ‒ oder um genauer zu sein, Speichern_2, die materielle Beharrung ‒ überwindet den Ab- grund der Zeit. Das Medienprodukt wird versetzt an eine neue Stelle auf dem Vektor der Zeit, und ist an dieser neuen Zeitstelle verfügbar. In diesem Fall ist es die Stelle im Raum, die konstant bleibt. Die besten Speicher sind Immobilien wie die ägyptische Stein-Stele; und wo Speicher ‒ immutable mobiles ‒ im Raum versetzt werden, tritt zum Speichern immer eine Übertragung hinzu. Diese Zuordnung des Übertragens zum Raum und des Spei- cherns zur Zeit mag als überflüssige Wiederholung erscheinen; ich hebe sie noch einmal hervor, weil sie Basis und Voraussetzung für alles Folgende ist. 5. Speichern_4: Ablegen an einem Ort Dies nun bedeutet, dass die Medienfunktion des Speicherns ein weiteres Mal aufgespalten werden muss, dass es neben den drei genannten noch eine vierte Speicherfunktion gibt. Wo ein Speicher Ziel einer Übertragung ist, also als Adresse fungiert, bedeutet Speichern ‚Ablegen an einem Ort‘; und dies ist bisher in den ge- nannten Speicherfunktionen nicht enthalten. Materialität und Ort hängen eng zusammen. In gewisser Weise steigert, überbietet der Ort die Stabilität des Materiellen, denn wo Dinge ‚immutable mobiles‘, in sich stabil, aber transportierbar sind, sind Orte ‚Immobilien‘, also materiell stabil und nicht trans- portierbar. Und dasselbe gilt innerhalb des Speichers selbst. Als Speicher kann nur fungieren, was eine innere Ordnung hat, die es erlaubt, einzelne Inhalte wiederzufinden; und diese Ordnung wird in den 184 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN meisten Fällen eine topologische sein.319 Auch wenn der Speicher selbst transportierbar ist, also ist seine innere Ordnung die der Adresse; und die Alltagssprache weiß dies, wenn sie wie selbstver- ständlich von Speicheradressen spricht. 6. Rauschen und Einfluss des Mediums Im Abschnitt ‚Speichern‘ wurde gesagt, dass Speichern zwar auf materielle Beharrung abzielt, dieses aber niemals wirklich errei- chen kann, weil die Entropie auch über die stabilsten Speicher letztlich siegt. Ein völlig paralleles Phänomen nun gibt es auch im Fall der Übertragung. Hier ist es das Rauschen, das die Integrität des Signals antastet, dies hat das nachrichtentechnische Sender- Empfänger-Modell Shannons gezeigt. Und wie im Fall der Entro- pie und der Speicher geht es ums Ganze; auch das Rauschen hat die Macht, das Signal letztlich zu verschlingen. Mein Vorschlag oben war, die Entropie als eine Art selbsttäti- gen Prozessierens zu fassen; und sie als eine eigenständige Teil- funktion (Prozessieren_3) in die Modellierung des Speicherns einzubeziehen. Wenn man auch dies nun wiederholen will, müsste man das Rauschen ‒ wieder als Prozessieren_3 ‒ in die Modellie- rung des Übertragens einbringen. Und wie im Fall des Speicherns ist auch hier sicher wieder der Einfluss des Mediums (Prozessie- ren_4) mit zu bedenken. 7. Teilfunktionen Auch hier ergibt sich eine Liste von Teilfunktionen, die ich in Abb. 19, S. 185, nenne. 319 Dies gilt z. B. auch für den Bilbliothekskatalog, der Titel in symbolische Identifikatoren (Signaturen) und diese in Standorte auflöst. Und wieder wäre das menschliche Gedächtnis zu diskutieren, für das eine ‚Topologie‘ umstritten ist, weil bislang nur eine sehr grobe Aufteilung in ‚Areale‘ nachgewiesen wer- den konnte ... KAPITEL 2.4 ÜBERTRAGEN 185 ↓ Übertragen ↓ Übertragen Voraus- Übernahme eines setzung stabil konstituierten Produkts sowie einer Adresse Prozess Produkt verschieben an einen neuen geografischen Ort ↓ Resultat Produkt am neuen Ort ↓ Prozessieren_3 Rauschen, Entropie Prozess Rauschen verändert das Übertragene ‒ wider Willen ‒ qualitativ ↓ Resultat Produkt eventuell korrumpiert ↓ Prozessieren_4 Einfluss des Mediums Prozess Medium formt den Inhalt ↓ Resultat ↓ Speichern_4 Speichern als Ablegen an einem bestimmten Ort Prozess Ablegen und Fixieren am neuen Ort Resultat Produkt verfügbar an einem neuen geografischen Ort, neue Adresse ↓ ↓ Abb. 19 186 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN 8. Schluss Was für das Speichern festgestellt wurde also gilt auch für die Übertragung: Aus der Perspektive des Prozessierens sieht auch diese vertraute Medienfunktion anders aus. Dies gilt zunächst für ihren doppelten Bezug auf das Speichern; ist Übertragung einer- seits an die Stillstellung des Produkts gebunden, das heißt daran, dass das Prozessieren beendet ist (Speichern_1), so bedeutet Über- tragen gleichzeitig die Niederlegung an einem anderen Ort (Spei- chern_4). Hieraus resultiert die Aufgabe, zwei Räume zusammen- zudenken, die bis dahin völlig getrennt voneinander zu sein schie- nen: Den Raum des Textes, in dem sich das Prozessieren bewegt, und den geografischen Raum, in dem z. B. Adressen ihren Ort haben. Dies wirft Fragen auf, die ich unten aufgreifen werde.320 Zum Zweiten wird deutlich, dass es auch hier um die Organi- sation von Raum und Zeit geht, also um jene Dimension des Medi- alen, die Peters und andere ‚logistisch‘ nennen. Übertragen und Speichern auf Raum und Zeit abzubilden erscheint aufwändiger als gedacht; denn je näher man hinsieht, desto mehr löst sich die erste, sehr schlichte Zuordnung auf. Wenn Übertragung, dies war der Aus- gangspunkt, den Raum überwindet, und Speichern die Zeit, so ge- schieht dies auf der Basis ungleich schwierigerer, differenzierterer raum-zeitlicher Relationen; Speicher sind an den Raum gebunden und räumlich organisiert, Vorgänge der Übertragung verbrauchen Zeit; und gleichzeitig steht, solange diese Raum- und Zeitverhält- nisse nicht völlig geklärt sind, ein tatsächliches Verständnis der Medienfunktionen noch aus. Für die dritte Medienfunktion gilt dies umso mehr. Das Prozes- sieren hat von vornherein nicht das Privileg, auf die Seite einer der beiden Kategorien zu fallen. Raum und Zeit allerdings sind auch hier entscheidend: die Zeit, insofern Prozesse an Zeit notwendig gebunden sind; und der Raum sicherlich auch, in der Dimension der Veränderung, die sich immer an etwas ereignet. Dass der Begriff eine Weg-Metapher enthält ‒ pro-cedere heißt voranschreiten ‒, deutet zusätzlich darauf hin. Und plötzlich macht es einen neuen Sinn, wenn Sohn-Rethel darauf besteht, dass auch die Tauschhandlung „ein physischer Vorgang, eine reelle Handlung in Raum und Zeit“ sei.321 In direkter 320 Kapitel 2.8, ,Raum des Textes, Raum der Geografie‘. 321 Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, a. a. O., S. 116. KAPITEL 2.4 ÜBERTRAGEN 187 Weise gilt dies für die physische Übergabe der Ware und ihren Transport; wenn Tausch gleichzeitig und vor allem aber der Trans- fer von Eigentumsrechten ist, so ist die Frage, ob auch hier eine Logik der ‚Übertragung‘ greift. Mein letzter Gedanke zur Übertragung führt auf möglicherweise noch schwierigeres Terrain. Oben war verschiedentlich von ‚Über- setzung‘ die Rede, und McLuhan hatte die Metapher bemüht, um ein Modell für die Medien und deren Leistung, Erfahrung zu orga- nisieren, zu finden. Auch Übersetzung und Metapher ‒ metaphe- rein heißt: hinüber tragen ‒ nehmen die Übertragung in Anspruch. Wenn dies nicht Zufall oder selbst wiederum eine Metapher ist, wäre mit Serres zu fragen, ob es unterhalb und hinter den genann- ten vollständig unterschiedlichen Kulturtechniken tatsächlich eine gemeinsame Logik gibt; eine Logik der ‚Duktionen‘, wie Serres vorschlägt, die dann notwendig eine logistische wäre. Auf diese Weise bleibt auch hier viel zu denken übrig. Kapitel 2.5 PROZESSIEREN In den Abschnitten zum Speichern und zum Übertragen wurde jeweils gezeigt, dass die Medienfunktionen in Teilfunktionen geglie- dert sind. Für das Prozessieren fehlt diese Liste noch; sie soll nun ergänzt werden, weil sie für die Folgeüberlegung benötigt wird: ↓ Prozessieren ↓ Prozessieren_1 Prozesseröffnung: Verflüssigung Voraus- Übernahme eines stillgestellten, Setzung stabil konstituierten Ausgangsprodukts Prozess von fest zu flüssig ↓ Resultat Flüssig ↓ Prozessieren_2 Eingreifende Veränderung Prozess Eingr. Veränderung, Transformation ↓ Resultat Produkt verändert Prozessieren_4 Einfluss des Mediums Prozess Medium formt den Inhalt ↓ Speichern_1 Stillstellen Prozess von flüssig zu fest Resultat Fest konstituiertes, verändertes Produkt ↓ ↓ Abb. 20 Kapitel 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 1. Fragestellung Die Überlegung der vorangegangenen Abschnitte hat versucht zu klären, in welcher Beziehung die drei Medienfunktionen ‒ Über- tragen, Speichern und Prozessieren ‒ zueinander stehen. Mein Vorgehen hierbei war eher analytisch-definitorisch, indem ich ver- sucht habe möglichst klar herauszuarbeiten, wodurch die drei Medienfunktionen jeweils gekennzeichnet sind, um sie auf dieser Basis möglichst luzide voneinander abzugrenzen und in ihrer Relation zu bestimmen. Gleichzeitig ist völlig klar, dass es sich um analytische Katego- rien handelt, d. h. dass die konkreten Medienprozesse, die es zu analysieren gilt, komplexer sind, insofern sie die Medienfunktio- nen immer in Mischung enthalten, und zwar nicht nur, wie gezeigt, auf der Ebene der Teilfunktionen, sondern auch im Großen. Dies würde bedeuten, dass sich die Medienfunktionen in tatsächlichen Medienprozessen mischen oder verketten. Hieraus entsteht die Frage, wie diese Verkettung aussieht, ob jede Medienfunktion ‒ Übertragen, Speichern und Prozessieren ‒ an jede andere anschließen kann, oder ob es hier Regeln oder Restriktionen gibt. Diese Frage ist bereits aufgetaucht, als es um die Verflüssigung bzw. Verfestigung der Medienprodukte ging; auf dieser Linie ist nun ein Schritt weiter zu gehen, und ich möchte zeigen, dass die Medienfunktionen tatsächlich ein Netzwerk bilden. 2. Giesecke Die Vorstellung dieses Netzwerks übernehme ich von Michael Giesecke,322 der in seinem Buch zur Geschichte des Buchdrucks 322 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fall- studie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikations- technologien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 192 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN eher am Rand seiner Argumentation hierzu eine theoretische Überlegung anstellt. In einem Kapitel: ‚Prozessoren und Medien: Elemente der kommunikativen Welt und deren Beziehungen‘ legt er sich zunächst die Kategorien bereit: Blickt das professionelle Auge eines Medienwissenschaftlers […] auf die Welt, so erscheint sie ihm als eine Ansammlung von materi- ellen Phänomenen, die Informationen in verschiedener Weise transformieren, und von solchen, die die Informationen nicht verän- dern, sondern konstant halten, sie speichern. Die ersteren Phäno- mene werden als Informationssysteme oder als Prozessoren, die letzteren als Informationsspeicher oder als Medien bezeichnet. […] Sowohl als Medien als auch als Prozessoren kommen alle Formen der Materie in Betracht: Ton, Luft, Licht, Tiere, Menschen, soziale Gemeinschaften oder auch komplexe technische Maschinen.323 Gisecke also trennt ‚Prozessoren‘ von ‚Informationsspeichern‘ / ‚Medien‘; und sieht die ersten durch ‚Transformation‘, die zweiten durch das Konstanthalten von Informationen bestimmt. Die be- griffliche Entscheidung, nur auf der einen Seite der Unterschei- dung von ‚Medien‘ zu sprechen, wäre sicher strittig; und die dritte Medienfunktion, die Übertragung, verschwindet in Gieseckes ‚Medien‘-Begriff. Wichtiger aber ist die Tatsache, dass Giesecke ‒ völlig parallel zum hier Vertretenen ‒ die Relation und den logi- schen Zusammenhang der Medienfunktionen zu klären versucht: Struktur enthält die kommunikative Welt durch die ‒ immer gege- bene ‒ Verknüpfung dieser Elemente, der Speicher und der Prozes- soren. Dabei gehe ich von der Annahme aus, daß Prozessoren nie- mals direkt miteinander verknüpft sein können. Das Medium er- scheint, wie es auch die Geschichte dieses Begriffs nahelegt, als die unausweichliche Umwelt (‚ambiance‘) der Informationssysteme oder als Mitte, das ‚Milieu‘ zwischen ihnen. Andererseits können aber auch die Speicher nicht ohne dazwischengeschaltete Transfor- matoren hintereinander gekoppelt werden. Es macht m.a.W. nur Sinn, von Medien zu reden, wenn man zugleich auch die Prozesso- ren sieht, die an diese Medien anschließen. […] [Den Kommunika- tionswissenschaftler] interessieren […] die Wechselwirkungen oder die Rückkopplungskreise zwischen diesen Elementen. […]. Werden zwei oder mehrere Informationssysteme mittels geeigneter Speicher so zusammengeschlossen, so spricht man von Kommunikations- systemen. […] Komplexe Kommunikationsmedien, die selbst wie- 323 Ebd., S. 38f. (Hervorh. H. W.). KAPITEL 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 193 derum aus Verknüpfungen verschiedener Prozessoren und Speicher aufgebaut sind, sollen ‚kommunikative Netze‘ heißen.324 Die Terminologie, wie gesagt, ist wenig klar, und nun werden auch Milieu und Vermittler als Bestimmungen des Medienbegriffes genannt. In jedem Fall aber bleibt es bei zwei Instanzen: Giesecke fasst Speichern und Übertragen zu einer gemeinsamen Funktion zusammen; so dass sich [1.] das Prozessieren und [2.] die Funktion als Medium, Mittler oder Milieu (= Übertragen und Speichern) gegenüberstehen. Tatsächlich weiterführend jedoch und, berücksichtigt man das Entstehungsjahr des Buchs geradezu visionär, ist der Entwurf, die Medienfunktionen zu einem Netz zu verknüpfen. Speicher/Medien, sagt Giesecke, können nie direkt, sondern nur über Prozessoren an andere Speicher / Medien gekoppelt werden; Prozessoren umge- kehrt, nur über Speicher / Medien an andere Prozessoren. Auch diese Vorstellung ist sicherlich von der Erfahrung des Computers bestimmt;325 da es Giesecke aber um ein Neuverständnis des Buch- drucks geht, implizieren auch seine Begriffe den Anspruch, das Modell auf andere Medien zu übertragen. 3. Netzwerk Stellt man sich nun ein Netzwerk vor, das Prozessoren und Spei- cher/Medien auf die beschriebene Weise verbindet, so ließe sich etwa folgendes Schema entwerfen: 324 Ebd., S. 39f. (Erg. H. W.); Giesecke macht nicht klar, ob er die verwendete Terminiologie von anderen übernimmt oder selbst entwickelt; wenn er schreibt: ‚… werden als Informationssysteme […] bezeichnet‘ und ‚… spricht man von Kommunikationssystemen‘ suggeriert dies, es handele sich um eine eingeführte Terminologie; die Formulierung ‚… sollen kommunikative Netze heißen‘ und die Tatsache, dass Giesecke keine Bezüge nennt, würde für das Zweite sprechen. 325 Das Buch bekennt sich, dies wird schon im Klappentext deutlich, relativ un- kritisch zur ‚Information‘, zu Computer und Kybernetik, sowie zu bestimmten Begriffen der Systemtheorie … 194 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN P S/M S/M P Abb. 21: Netzwerk Giesecke In diesem Schema, wie gesagt, werden Speicher und Medien (Über- tragung) in Eins gesetzt. Will man dies verändern und alle drei Medienfunktionen als gleichrangig betrachten also wird man von einem zweiwertigen zu einen dreiwertigen Modell übergehen müssen. Dann allerdings wird die Sache kompliziert; vor allem tut sich das Problem auf, ob jede Medienfunktion mit jeder anderen verbunden werden kann. Giesecke hatte dies verneint und geschrieben, Prozessoren brauchten immer dazwischengeschaltete Speicher / Medien (in die er die Übertragung einschließt); und Speicher / Medien immer die Vermittlung der Prozessoren. Dies würde bedeuten, dass auch zwi- schen Speichern und Übertragen immer ein Prozessor vermitteln muss. Ich selbst hatte gesagt, dass Übertragungsvorgänge häufig in Speichern beginnen und häufig in Speichern enden. In diesem Fall wären nicht die Prozessoren, sondern die Speicher die notwendi- gen Mittler. Was ist nun richtig? Am naheliegendsten erscheint mir, dass jede Medienfunktion an jede Medienfunktion anschließen kann. Und für die Übertragung ist dies plausibel; Vorgänge der Über- tragung können an Prozessieren und Speichern anschließen, und, Beispiel wäre eine Live-Übertragung, auch an andere Übertra- gungsvorgänge. Und ebenso im Fall des Prozessierens: Was gerade prozessiert wurde, kann übertragen, gespeichert, oder sofort weiter prozessiert werden. Für das Speichern allerdings gilt dies nicht, auch wenn dies die Symmetrie des Schemas beschädigt. Speichern kann zwar an Über- tragen und Prozessieren anschließen, nicht aber direkt an einen anderen Vorgang des Speicherns. Speichern verlangt eine materi- elle Niederlegung; und eine Einschreibung in ein neues Material ist KAPITEL 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 195 nur dann möglich, wenn der Inhalt vorher ausgelesen, und das heißt übertragen und / oder prozessiert wurde. Und zudem denke ich nicht, dass die Medienfunktionen unmit- telbar aneinander anschließen. Eine Möglichkeit ist, das Produkt als Vermittler einzuschalten, in dem Sinne, wie oben gesagt wurde, dass Praktiken / Tätigkeiten immer auf Dinge, und Substantive im- mer auf Verben bezogen werden müssen.326 Aber trifft diese Vorstellung tatsächlich zu? Ist es plausibel, dass jeder Akt des Übertragens, des Speicherns oder Prozessierens von einem materiellen Produkt seinen Ausgangspunkt nimmt und in einem materiellen Produkt endet? Das Beispiel der Fernseh- Live-Übertragung würde dem widersprechen, weil hier Prozes- sieren unmittelbar in Übertragung übergeht und es kein dinghaft- materialisiertes Produkt (und keinen materiellen Speicher) als Ver- mittler gibt. Mein Vorschlag ist, dass es nicht das dinghaft-materielle Pro- dukt, sondern das stillgestellte / konstituierte Produkt ist, das als Vermittler fungiert. Ich komme also auf die oben getroffene Unter- scheidung zwischen dem Speichern als Stillstellung (Speichern_1) und dem Speichern als materielle Niederlegung (Speichern_3) zurück.327 Dieser Unterschied mag gering erscheinen, aber er ist es keines- wegs. Wenn es immer einen materiellen Speicher als Vermittler brauchte, wäre es nicht denkbar, dass Maschinen in Realzeit mit Maschinen kommunizieren und dass sich jener continuous flow of data bildet, der kennzeichnend für den gegenwärtigen Maschinen- park der Medien ist.328 Das Beispiel zeigt, dass es keineswegs trivial ist, die Medien- funktionen zu einem Netzwerk zu verbinden. Wenn es möglich sein soll, dass in diesem Netzwerk möglichst jede Medienfunktion an jede andere anschließen kann, dann muss man die Medienfunk- 326 Und möglicherweise ist es exakt dies, was bei Giesecke zur Verwirrung führt, denn bei näherer Betrachtung ist gar nicht klar, ob er tatsächlich die Medien- funktionen vor Augen hat, die hier Thema sind. So ist auffällig, dass er nicht die substantivierten Verben (Prozessieren, Speichern), sondern die Substantive (Prozessoren und Speicher) verwendet, so als gelte es, Hardwarekomponenten zusammenzuschalten. Was er ‚Speicher‘ nennt, also könnte auch für das im Speicher niedergelegte Produkt stehen. Mit der Folge, dass alle drei Medien- funktionen unter seinen Begriff des Prozessierens fielen … 327 Kapitel 2.3, ,Speichern‘, S. 168. 328 Das Problem und die genannten Begriffe werden im Kapitel 3.3, ,Telegrafie‘, eingehender diskutiert. 196 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN tionen so formulieren, dass sie tatsächlich anreihbar sind. Dies war der Grund, die Medienfunktionen oben in Teilfunktionen zu glie- dern; nur auf diese Weise kann man sicherstellen, dass sie aneinan- der zu koppeln sind. Die Medienfunktionen werden zu Modulen, zu Bausteinen gemacht. Die Formulierung allerdings suggeriert, es ginge vor allem um die Herstellung von Ordnung auf der Ebene der Theorie. Das aber ist nicht der Fall; tatsächlich geht es um Analyse; in realen Medien- phänomenen, wie gesagt, finden sich die Medienfunktionen ge- mischt; die ‚Bausteine‘ also sollen sich darin bewähren, diese empi- risch vorfindlichen Mischungen analytisch auseinanderzulegen. 4. Drei Dimensionen Hierfür möchte ich vorschlagen, die Medienfunktionen als einen dreidimensionalen Raum zu betrachten. Wo Gieseckes Netzwerk (Abb. 14), weil zweiwertig, mit den zwei Dimensionen einer flächigen Darstellung auskommt, bin ich gezwungen, für meine Darstellung das räumliche Vorstellungsvermögen in Anspruch zu nehmen. Jede der drei Medienfunktionen, dies ist mein Vorschlag, stellt eine Dimension in diesem Raum dar: Prozessieren Eingreifende Veränderung Resultat: Verändertes Produkt ○ Übertragen Überwindung des Raums, Resultat: Produkt an anderer geogr. Stelle Speichern Überwindung der Zeit, Resultat: Produkt an anderer Zeitstelle Abb. 22: Die Medienfunktionen als Dimensionen Wieder kann man der Übertragung die Achse des Raums, und der Speicherfunktion die Achse der Zeit zuordnen. Welche Achse aber KAPITEL 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 197 entspricht dem Prozessieren? Ich denke, dass es hier um Verände- rungen der Produkt-Identität geht. Die Veränderung der Produkt- Identität als eine ‚Dimension‘ anzusehen, parallel zur Überwin- dung des Raums und der Zeit, ist als Vorstellung zugegeben ziem- lich abstrakt. Während Raum und Zeit gewohnte Kategorien sind, und man sich Änderungen / Versetzungen in Raum und Zeit gut vorstellen kann, würde man denken, dass das bearbeitete Produkt doch immer dasselbe, also bei sich selbst und mit sich identisch bleibt. Das aber ist bei der Eingreifenden Veränderung gerade nicht der Fall. Änderungen auf der Achse ‚Produkt-Identität‘ also betreffen die Qualität, die innere Struktur des Produkts. Der Vektor selbst zeigt an, dass das Produkt sich in seiner Qualität verändert, neue Eigenschaften annimmt und sich in seinen Eigenschaften weiterentwickelt. Methodisch behaupte ich, dass tatsächlich nur auf diese Weise die Relation der drei Medienfunktionen adäquat modelliert werden kann. Es hilft nichts, einfach zu sagen, dass das Prozessieren etwas grundsätzlich und qualitativ ‚anderes‘ sei als das Übertragen und Speichern, weil Kittlers These ja gerade ist, dass es sich tatsächlich um gleichrangige, oder vergleichbare, oder zumindest anschluss- fähige Kategorien handelt. Will man diese These halten also wird man zeigen müssen, warum und inwiefern diese Kategorien ‒ allem Augenschein zum Trotz ‒ dennoch miteinander vergleichbar sind. Und einmal gefasst, bewährt sich die Vorstellung in ver- schiedener Hinsicht: Es entstehen Ebenen, die tatsächlich distinkt sind; dies wird deutlich, wenn man sich überlegt, was die Gemein- samkeit jeweils zweier Medienfunktionen ist: Übertragen und Speichern haben gemeinsam, dass sie die Pro- duktidentität konstant halten. D. h. sie sind durch die Negation des Prozessierens gekennzeichnet (¬P). Dies entspricht exakt der oben gefassten Bestimmung, dass Übertragen und Speichern ein jeweils konstituiertes, stillgestelltes Produkt ‒ ein Produkt mit einer stabi- len Identität ‒ voraussetzen. Speichern und Prozessieren haben gemeinsam, dass sie den Ort konstant halten; sie negieren die Raumveränderung, die die Haupt- eigenschaft der Übertragung ist (¬Ü). Speichern, insofern das Material immer an einem bestimmten Ort niedergelegt wird, das war ebenfalls eines der Ergebnisse oben. Und das Prozessieren, insofern es vor Ort und an einem bestimmten Ort geschieht. 198 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Prozessieren und Übertragen schließlich haben gemeinsam, dass sie die Zeit konstant halten (¬S), auch wenn dieser Fall ein bis- schen schwieriger ist. Prozessieren und Übertragen sind Vorgänge, und Vorgänge verbrauchen Zeit, können also nicht außerhalb der Zeit, in reiner Synchronie, operieren. Gleichzeitig aber sind sie ‒ offensichtlich ‒ Feinde der Zeit, insofern sie versuchen, ihre eigene Dauer immer weiter zu minimieren. Die Mediengeschichte hat hart gearbeitet, um mit der Telegrafie eine in pragmatischen Grenzen zeitfreie Übertragung zu erreichen. Die Evolution der Computer zielt auf ein immer schnelleres Prozessieren ab; bis zum Ideal wieder der ‚Realzeit‘, bei der die Rechenvorgänge mit dem zu Be- rechnenden Schritt halten, also pragmatisch synchron zumindest mit dem zu Berechnenden sind.329 Und gleichzeitig wird klar, dass es sich dennoch um relativ rüde Abstraktionen handelt: Prozessieren und Übertragen, wie gesagt, verbrauchen Zeit, haben empirisch also sehr wohl eine Zeitdimen- sion. Und Übertragen und Speichern prozessieren doch, wie ge- zeigt wurde, durch Rauschen und Entropie. Dies bedeutet, dass die jeweils ausgeschlossene Medienfunktion als Störgröße wieder ins Spiel kommt. An dieser Stelle also wird noch einmal wichtig, was oben zur wechselseitigen Inklusion gesagt wurde. 5. Sequenzmodell neu Meine Untersuchung, wie gesagt, zielt darauf ab, die Medienfunk- tionen so zu formulieren, dass sie anreihbare Module eines Bau- kastens bilden. Dies nicht, weil ich glaube, dass Begriffe tatsäch- lich Bauklötze sind, oder das zu Begreifende so aufgeräumt, dass es auf Bauklötze abbildbar wäre. Der Test auf Anreihbarkeit viel- mehr hat die heuristische Funktion, dass er Probleme offenlegt, die die Begriffe selbst eher verdecken. Wenn dies akzeptabel ist, ergibt sich aus dem Gesagten ein Sequenzmodell, das die Anforderung der Anreihbarkeit einiger- maßen erfüllt (→Abb. 23, S. 199). 329 Die Probleme dieser Realzeit untersucht z. B. der Band: Volmar, Axel (Hg.): Zeitkritische Medien. Berlin: Kadmos 2009. KAPITEL 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 199 Produkt → Übertragen Übertragen Verschieben a. e. neuen Ort Prozessieren_3 Rauschen Prozessieren_4 Einfluss des Mediums Speichern_3 → Produkt Ablegen am neuen Ort an neuem geogr. Ort Produkt → Speichern Speichern_4 Mat. Einschreibung, Reifizierung Speichern_2 Beharren, Bewahren Prozessieren_3 Verfall, Entropie Prozessieren_4 → Produkt Einfluss des Mediums an neuer Zeitstelle Produkt → Prozessieren Prozessieren_1 Verflüssigung Produkt aufgelöst Prozessieren_2 Eingreifende Veränderung Prozessieren_4 Einfluss des Mediums Speichern_1 → verändertes Stillstellung Produkt Abb. 23: Sequenzmodell, Medienfunktionen und Teilfunktionen 200 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN 6. Rückkehr zu Raum und Zeit Aus den so formulierten Medienfunktionen kann man tatsächlich ein Netzwerk bauen, in dem (bis auf das Speichern ans Speichern) jede Funktion an jede andere anschließen kann. Das Ergebnis allerdings ‒ dies wird man zugestehen müssen ‒ erreicht nicht die Evidenz, die das Ausgangsmodell mit nur zwei Dimensionen hatte: Wenn die Übertragung für die Überwindung des Raums steht und das Speichern für die Überwindung der Zeit, und wenn zwischen diesen beiden Achsen das Koordinatensystem aufgespannt ist, in dem alle Medienvorgänge sich abspielen,330 dann ist diese Zuord- nung überzeugend und knapp und schließt an Alltagsevidenzen an. Das Prozessieren allerdings bleibt dann unbestimmt. Denn das Pro- zessieren, wie gesagt, hat nicht das Privileg, in einer der beiden Kantschen Kategorien ‒ Raum oder Zeit ‒ eine stabile Basis zu finden. Dasselbe gilt, wenn man, wie zu Beginn vorgeschlagen wurde, zwischen Speichern / Übertragen (Fest) und Prozessieren (Flüssig) trennt. Auch diese zweiwertige Unterscheidung hat eine hohe Evidenz, und eine möglicherweise höhere als die Unterscheidung aller drei Dimensionen, insofern Verfestigung und Verflüssigung z. B. mit der Alltagserfahrung im Umgang mit Speichern korres- pondiert. Wenn dies Anreiz ist, noch ein bisschen weiterzudenken, dann ist m. E. nur eine Lösung möglich: Meine Antwort wäre, dass es sich bei den Vorstellungen, die man als evidenter empfindet, je- weils um Auszüge, um Vereinfachungen des dreidimensionalen Modells handelt. Sofern man im Rahmen der geometrischen Vor- stellung bleiben will also um verschiedene Sichten auf den Raum der drei Medienfunktionen, mit dem Effekt, dass jede Sicht be- stimmte Aspekte hervorhebt und andere dementsprechend ver- deckt. Dies kann man relativ einfach am geometrischen Modell zeigen: Giesecke [1.] hat sich entschieden, das Prozessieren dem Über- tragen / Speichern gegenüberzustellen, weil das Prozessieren, wie er sagt, die Information transformiert, während Übertragen und Speichern die Information konstant halten. Auf diese Unterscheidung kommt es ihm an. Preis ist, dass er zwischen 330 Das war der Ausgangspunkt in Kapitel 2.1, ,Relation‘, S. 120. KAPITEL 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 201 Speichern und Übertragen nicht trennen kann. Gieseckes ‚zwei- wertiges‘ Modell also nimmt gewissermaßen diese erste Ebene aus der dreidimensionalen Darstellung heraus und vernachlässigt die beiden anderen. Und ich selbst habe exakt das gleiche getan, wenn ich vorgeschlagen habe, zwischen ‚Fest‘ und ‚Flüssig‘ zu trennen. P Ü S Abb. 24: Auszug_1: Prozessieren versus Speichern / Übertragen (Giesecke) Unterscheidet man stattdessen [2.] Übertragen und Speichern, landet man beim Ausgangsmodell, das Raum- und Zeitachse kon- frontiert.331 Dies wäre ein zweiter möglicher 2-D-Auszug, und zwar, wie dargestellt wurde, ein sehr einleuchtender, weil er an physische Evidenzen anschließt. Preis, wie gesagt, ist, dass er die Dimension des Prozessierens ausschließt oder verdeckt. P Ü S Abb. 25: Auszug_2: Speichern versus Übertragen Und die dritte Möglichkeit schließlich ist, den Gegensatz zwischen Übertragen und Prozessieren zu favorisieren. Dieser Fall ist eher hypothetisch; worin der Erkenntniswert dieser Sicht besteht, kann ich nicht sagen, und praktische Verwendungen kenne ich nicht; in 331 Noch einmal Kapitel 2.1, ,Relation‘. 202 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN jedem Fall aber würde hier mit dem Speichern die Zeit unsichtbar werden: P Ü S Abb. 26: Auszug_3 (hypothetisch): Übertragen versus Prozessieren 7. Speicher Die abstrakte Visualisierung hat den Vorteil, dass sie die verschie- denen Sichten ‒ von denen zumindest zwei in der Theorie etabliert sind ‒, vergleichbar macht und aufeinander bezieht. Erst das vor- geschlagene Modell macht deutlich, dass es sich überhaupt um unterschiedliche Perspektiven handelt; es schafft einen gemein- samen Bezugspunkt, der die Differenzen plastisch hervortreten lässt. Und weiter macht das Modell klar, dass die Perspektiven ‒ als Vereinfachungen ‒ leistungsfähig sind und ihre Berechtigung haben. Wichtig, wie gesagt, sind die ersten beiden genannten Per- spektiven. Die erste (Übertragen / Speichern vs. Prozessieren), weil sie den Unterschied zwischen Fest und Flüssig akzentuiert. Übertragen und Speichern haben gemeinsam, dass sie auf ein konstituiertes Produkt angewiesen sind, und exakt dies macht ihre gemeinsame Differenz zum Prozessieren aus. Und damit bekommt einen syste- matischen Ort, was in den ersten Kapiteln auf anderem Wege er- arbeitet wurde: Prozessieren ist dadurch gekennzeichnet, dass es das Material (das Ausgangsprodukt) verflüssigt; und exakt dies will die Definition der Eingreifenden Veränderung fassen. Was als eine irreduzibel qualitative Eigenheit des Prozessierens erschien also wird ‒ jeder Strukturalist hätte seine Freude ‒ als funktionaler Kontrast zu den beiden anderen Medienfunktionen deutlich. Mein Buch wird insofern auf diese erste Perspektive bzw. Vereinfachung immer wieder zurückkommen. KAPITEL 2.6 DIE MEDIENFUNKTIONEN ALS NETZ 203 Die zweite Perspektive (Übertragen vs. Speichern) blendet das Prozessieren aus. Leistungsfähig und evident aber ist sie, weil sie eine präzise Beziehung zu Raum und Zeit herstellt. Und über ihren Raum- und Zeitbezug kann man Vorgänge in vielen Medien zu einem Netzwerk verknüpfen. Es wird deutlich, dass sich Akte der Übertragung ‒ zumindest idealisiert ‒ zeitfrei, im Präsens, vollziehen und dass sie gerade deshalb angewiesen sind auf ihr systematisches Gegenüber, die Speicher. Und allgemeiner sind Medienvorgänge angewiesen auf ein Gegenüber, das gerade nicht Vorgang, sondern (wieder ideali- siert) Stillstellung, das Ende aller Vorgänge ist. Auch diese zweite Perspektive also vereinfacht. Dennoch aber werde ich im Buch auch sie wieder aufnehmen. Und diese Perspektive ist ‒ dies sei im Vorgriff gesagt ‒ beson- ders für ein Verständnis der Computer zentral. Hier geht es um die augenfällige Evidenz, die Speicher (als materielle Niederlegung) und Prozesse / Vorgänge / Operationen aufeinander bezieht. Im Computer muss, bevor eine Operation ‒ Übertragen oder Prozes- sieren ‒ geschehen kann, ein Speicher ausgelesen werden; umge- kehrt muss jede Operation ihren Zielpunkt in einem Speicher haben. Der Grund hierfür ist einfach: Das Operieren eines Rech- ners vollzieht sich getaktet-diskontinuierlich, in Schritten; so dass der Rechner zwischen Voranschreiten und Innehalten, Operieren und Speichern, Veränderung und Zustand, Schritt für Schritt oszil- liert.332 Nimmt man dies zum Modell, müsste die eigentlich wichtige Wechselwirkung zwischen der Materialität der Speicher und den ‚immateriell‘-flüchtig-präsentischen Operationen liegen. Bei nähe- rem Zusehen und im Licht meiner ‚drei Dimensionen‘ aber ist exakt dies nicht der Fall. Dies wird zu zeigen sein. Eine Verein- fachung ist eben eine Vereinfachung, auch dann, wenn sie leis- tungsfähig erscheint. Auch deshalb erscheint es mir wichtig, das ‚Netz‘ zu rekonstruieren, zu dem sich die Medienfunktionen ver- knüpfen. 332 Dies wird im Kapitel 3.3, ,Was tut ein Prozessor?‘ näher erläutert werden. Kapitel 2.7 SUBSTITUIERBARKEIT An dieser Stelle soll eine Einzel-Überlegung eingeschaltet werden, die das Verhältnis der drei Medienfunktionen auf eine noch einmal andere Weise beleuchtet und weitere unvermutete Eigenheiten an ihnen zeigt. U. a. nämlich geht es im Verhältnis der Medienfunk- tionen um Substitution. Übertragen, Speichern und Prozessieren scheinen sich wechselseitig substituieren zu können, auch wenn dies auf den ersten Blick kontraintuitiv ist und ihrer Verkettung in meinem Phasenmodell zunächst widerspricht. Ein medientechnisches Beispiel macht dies deutlich: Der Stan- dard MPEG wurde entwickelt, weil man Musik und Bewegtbilder im Internet übertragen wollte, und es zu teuer gewesen wäre, ent- sprechend große Netzkapazitäten zu schaffen. In diesem Fall war die Lösung ein Kompressionsalgorithmus: Die Daten werden auf Seiten des Senders stark komprimiert; was verlangt, dass der Rech- ner des Nutzers sie vor Ort und in Realzeit zurückrechnet. Es wird also Prozessorleistung eingesetzt, um Übertragungskapazität zu substituieren. Ein anderes Beispiel ist der Unterschied zwischen Bücher- universum und World Wide Web. Um einen schnellen Zugriff zu gewährleisten, verteilt das Bücheruniversum Einzelexemplare auf lokale Bibliotheken. Dies setzt voraus, dass ‒ quasi auf Vorrat ‒ eine große Zahl von Einzelexemplaren produziert wird, die dann räumlich verteilt (d. h. übertragen) und vor Ort vorgehalten (ge- speichert) werden. Das WWW geht hier einen anderen Weg. Hier liegt im Idealfall nur eine einzige Kopie auf nur einem einzelnen Server. Will der Rezipient die Datei sehen, geschieht die Anferti- gung der Kopie und deren Übertragung / Zustellung auf Anfrage ‚sofort‘ und im Fall wiederholter Rezeption beliebig häufig. Dies ist möglich, weil die technische Basis des Internets extrem wenig Kopierkosten verursacht und eine instantane, massefrei-leichte und kostengünstige Übertragung erlaubt. In diesem Fall hat die Über- tragung die Herstellung von Kopien und deren redundante Spei- cherung vor Ort ersetzt. 206 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Dass hier ein regelhaft-tatsächlicher, notwendiger und allgemei- ner Zusammenhang besteht, macht Bruce Owen in seinem Buch ‚The Internet Challenge to Television‘ deutlich.333 Zur Illustration hat Owen eine dreidimensionale Grafik entworfen: Abb. 27: Zusammenhang zwischen Übertragungs-, Speicher- und Prozessorkapazität; „Bandwidth-storage-compression tradeoff“334 Die Zeichnung meint, dass es bei der Konzeption einer medien- technischen Lösung relativ wahlfrei ist, ob mehr Bandbreite, Spei- cher oder Prozessorleistung eingesetzt wird, wo auf der dreidimen- sionalen Fläche also die Lösung zu liegen kommt. Zwingend ist allein der Zusammenhang selbst, das Gesetz also, dass jede einzel- ne Medienfunktion nur auf Kosten der beiden anderen optimiert werden kann. Das Modell impliziert, dass nicht nur Übertragen und Prozessie- ren einander ersetzen können, sondern dass auch der Einsatz von Speicherkapazitäten Übertragen und Prozessieren substituieren kann. Das erscheint befremdlich, weil Speicher doch sehr anders zu funktionieren scheint. Im Beispiel der Bibliothek bereits aber war der Raumbedarf für die redundante Speicherung der Exempla- 333 Owen, Bruce M.: The Internet Challenge to Television. Cambridge MA/London: Harvard UP 2000, S. 24. 334 Ebd. KAPITEL 2.7 SUBSTITUIERBARKEIT 207 re ein Faktor; und noch deutlicher ist dies, wenn bei der Übertra- gung von Videos im Internet Puffer, also Zwischenspeicher, einge- setzt werden. Weil der Rezipient eine unterbrechungsfrei-kontinu- ierliche Darbietung erwartet, die Übertragungskapazität einen zu- verlässigen Datenstrom in Realzeit aber nicht gewährleisten kann, nimmt man Zuflucht zu der Lösung, zumindest einen Teil des Datenstroms auf dem Rechner des Rezipienten zwischenzuspei- chern. Bei einer leistungsfähigeren Übertragung könnte man auf diesen Zwischenspeicher verzichten. Und gleichzeitig macht das Beispiel klar, dass es Grenzen der Substituierbarkeit gibt. Denn wenn der Datenstrom gepuffert wird, muss der Rezipient warten, und dies ist, gerade wenn es um be- wegte Bilder geht, unangenehm. Man kann die Wartezeit also als ‚Kosten‘ verbuchen; gleichzeitig ist sie möglicherweise unange- nehmer, als der Begriff ‚Kosten‘ signalisiert. Allgemein scheint zu gelten, dass Übertragungs-, Speicher- und Prozessorkapazitäten ‒ Raum und Zeit ‒ gleichermaßen knappe Ressourcen sind; und je nachdem, welche knapper ist, kann eine technische Lösung offensichtlich auf die weniger knappe auswei- chen. Die These der Substitution ist besonders interessant, weil sie dem Augenschein widerspricht, der Übertragen, Speichern und Prozessieren als irreduzibele, qualitativ unterschiedliche Katego- rien ansehen würde; als Mechanismen, die ‒ technisch wie inhalt- lich ‒ völlig unterschiedlichen Regeln folgen. Dies aber ist offen- sichtlich nicht, oder zumindest nicht vollständig, der Fall. Kapitel 2.8 RAUM DES TEXTES, RAUM DER GEOGRAFIE 1. Intro Wenn es in diesem Kapitel um die Eigenschaften der drei Medien- funktionen geht, um ihre wechselseitige Beziehung und ihre relatio- nale Definition, dann gibt es eine weitere Beobachtung, die nun die räumlichen Verhältnisse betrifft. Sowohl für die Übertragung als auch für die Speicherung nämlich gilt, dass sie einen Raumbezug haben. Übertragen bedeutet, dass Botschaften ihren geografischen Ort wechseln; ‚Raum‘ ist hier der Raum der Geografie, und es gibt eine Adresse, die den Zielpunkt der Übertragung angibt. Gleich- zeitig haben die vorangegangenen Überlegungen gezeigt, dass auch der Speicher, und damit die Botschaft selbst ‒ der Text, das symbolische Produkt ‒ als ein ‚Raum‘ aufgefasst werden kann, in dem es eine räumliche Ordnung gibt. Auch der Speicher, wurde gesagt, verfügt über Adressen. Diese Entsprechung ist durchaus verblüffend. Was aber kann man über diese beiden Räume sagen? Was sind ihre Eigenschaften und wie sind sie aufeinander bezogen? Handelt es sich um ein tat- sächlich-physikalisches Kontinuum? Oder um eine strukturelle Entsprechung? Oder nur um eine Metapher? Und wie passt sich die dritte Medienfunktion, das Prozessieren, in diese Überlegung ein? 2. Physikalisches Kontinuum Augenfällig ist zunächst, dass die Geografie ein sehr großer, und der Raum des Textes ein sehr kleiner Raum ist. Jeder Text und jeder Speicher hat seinen eigenen geografischen Ort; diesen kann er möglicherweise wechseln (‚immutable mobiles‘, Übertragung), zu jedem einzelnen Zeitpunkt aber steht fest, wo in der Geografie der Text oder Speicher sich findet. Allerdings gilt dies nur für das 210 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN einzelne Exemplar. Liegt der Text in Kopien vor, hat jede einzelne dieser Kopien ihren eigenen Ort. Beispiel sei eine Bibliothek: Wenn ich im Katalog Berliner Uni- versitätsbibliotheken ein Buch suche, wird mir der Standort ange- zeigt, d. h. die einzelne Bibliothek mit ihrem geografischen Ort, und zudem die Signatur des physischen Einzelexemplars, die sich in einen bestimmten Regalmeter (einen Ort innerhalb dieses Ortes) auflösen lässt. Suche ich zudem einen Aufsatz, der auf Seite 28 be- ginnt, kann ich mich auch im Raum des Textes mühelos orientie- ren. Dies spricht für ein tatsächlich-physikalisches Kontinuum beider Räume. Im digitalen Universum ist dies noch wesentlich klarer. Ob ich meine eigene Festplatte durchsuche, den Server meiner Arbeits- gruppe, der im Nebenraum steht, oder das Internet, ist kaum noch ein Unterschied; auch wenn die Adressen jeweils unterschiedlich verwaltet werden, und ich selbst von den Adressen so gut wie nichts weiß, weil nur die Rechner selbst in der Lage sind, die sym- bolischen Adressen (Namen), mit denen ich umgehe, in tatsächlich physikalisch-geografische Adressen aufzulösen. Dennoch ‒ und dies ist wichtig ‒ gibt es einen einheitlichen Adressraum, der, sauber und widerspruchsfrei durchgestuft, den Raum meiner Fest- platte in das Netz von Servern einbettet, das den Globus umspannt. Dass es diesen einheitlichen Adressraum gibt, ist eine außerordent- liche Errungenschaft der Mediengeschichte; durchaus vergleichbar mit der, eine ebenfalls bruchlos-kontinuierliche Übertragungs- technik zu schaffen. In dieser ersten Hinsicht also bilden der große Raum der Geo- grafie und der kleine der Speicher einen einheitlich-kontinuier- lichen, physikalischen Raum. Der kleine der Speicher ist ‚einge- bettet‘ in den großen der Geografie, so dass sich eine quasi fraktale Mikro-Makro-Beziehung ergibt. 3. Mikro und Makro Sobald man von Mikro und Makro spricht, von Einbettung oder Fraktalen, allerdings steht eigentlich nicht mehr das räumliche Kontinuum im Fokus, sondern eine ganz andere Relation; denn nun geht es um eine strukturelle Entsprechung, die Mikro und Makro verbindet. Dass es auf beiden Ebenen ‚Adressen‘ gibt, KAPITEL 2.8 RAUM DES TEXTES, RAUM DER GEOGRAFIE 211 deutet dieses Verhältnis schon an; und selbstverständlich lassen sich weitere Entsprechungen finden; und die wichtigste betrifft ‒ wieder verblüffend ‒ das Prozessieren. 4. Prozessieren Wenn Prozessieren Eingreifende Veränderung ist, dann bewegt sich der Eingriff im Raum des einzelnen Textes. Und hieraus nun resultiert eine weitere Relation beider Räume: Prozessieren, dies wäre meine These, tut auf der Ebene des einzelnen Textes (bzw. Medienprodukts) das Gleiche, wie Übertragen im Raum der Geo- grafie. Zumindest gilt dies im Fall der Computer: Oben wurde gezeigt, dass Computer nichts als Prozesse räumlicher Umordnung leisten. Alles, was als qualitative Veränderung (Eingriff, Umwandlung, „Datenverarbeitung“) erscheint, löst sich auf der Ebene der Ma- schine in die syntaktische Umordnung von Zeichen auf. Dass es auch andere und kompliziertere Formen medialen Pro- zessierens gibt, war eine meiner Ausgangsthesen; das Setzen von Licht im Film wird sich als eine Verschiebung von Zeichen in Zeit und Raum sicherlich nicht verstehen lassen. Für den Computer aber scheint die verblüffende Entsprechung zu gelten. Eingegrenzt auf diesen Fall entsprechen sich Übertragen und Prozessieren; und Übertragen tut mit ganzen Texten, was Prozessieren mit einzelnen Zeichen tut. Der große Raum der Geografie und der kleine Raum des Textes werden in eine systematische Beziehung gesetzt. Und Operationen in diesen Räumen haben Namen: das Verschieben von Texten in der Geografie heißt Übertragen und das Verschieben einzelner Zeichen heißt Prozessieren. 5. Speichern Und deutlich ist weiter, dass auch die Teilaspekte des Speicherns sich nun genauer zuordnen lassen. Oben wurde zwischen vier Teilfunk- tionen des Speicherns unterschieden: Speichern_1 (Abspeichern / Stillstellen), Speichern_2 (Beharren / Bewahren), Speichern_3 (Ein- 212 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN schreibung in Dinge)335 und Speichern_4 (Abspeichern an einem Ort).336 Geht man von der Trennung der zwei Räume aus, betrifft Speichern_1 den Mikroraum des einzelnen Textes; das Prozessieren hört auf und im Abspeichern und Stillstellen kommt die Konstellation der angeordneten Zeichen zur Ruhe. Speichern_4, das Abspeichern an einem Ort, betrifft das Über- tragen und den geografischen Raum. Hier finden ganze Texte (Pro- dukte) Ruhe an einem neuen Ort, und es entsteht eine neue räum- liche Anordnung, nun auf der Ebene der Verteilung ganzer Texte. 6. Wie viele Ebenen? Nun ist die Frage zu klären, um wie viele Ebenen es sich bei der Mikro-Makro-Entsprechung eigentlich handelt. Wählt man zwei, könnte das Schema in etwa so aussehen: Makro Texte (Medienprodukte) verschieben Übertragen Operation im Raum der Geografie Text ablegen an einem anderen geogr. Ort Speichern_4 Ordnungsraum: Geografie, Relation von Adressen Zielort: Adresse Mikro Zeichen anordnen/verschieben Prozessieren Operation im Raum des Textes Stillstellen, Speichern_1 Zeichen ablegen an einem anderen Ort Ordnungsraum: Text Zielort: ? Abb. 28 335 Kapitel 2.3, ,Speichern‘. 336 Kapitel 2.4, ,Übertragen‘. KAPITEL 2.8 RAUM DES TEXTES, RAUM DER GEOGRAFIE 213 Eigentlich aber ist dies nicht völlig zutreffend. Denn das Schema spiegelt nicht wider, dass das Prozessieren eine Operation mit ein- zelnen Zeichen ist, dass die Stillstellung am Schluss (Speichern_1) aber eben nicht die einzelnen Zeichen, sondern den Text (das Medienprodukt) als ganzen betrifft. Zudem liegt der Zielort, an dem abgespeichert wird, ja nicht im Text selbst; Zielort und Adresse vielmehr beziehen sich auf den Speicher, der nicht nur den einen, sondern möglicherweise viele Texte enthält; und die Konsti- tution der Textidentität besteht ja gerade darin, dem Text ins- gesamt einen Ort und einen Namen zu geben. Der Speicher stellt insofern einen eigenen Ordnungsraum dar. Deshalb erscheint es sinnvoll, zwischen Makro- und Mikro- ebene eine dritte Ebene einzuziehen. Die Mikroebene wäre nun reserviert für Operationen mit einzelnen Zeichen, die innerhalb des Textes selbst ihren Ort finden, und im Verlauf des Prozessierens dort stabil stillgestellt (gespeichert) sein können, lange bevor der Text als ganzer konstituiert und stillgestellt wird. Als Resultat ergibt sich ein Schema nun mit drei Ebenen: Makro Texte (Medienprodukte) verschieben Übertragen Operation im Raum der Geografie Text ablegen an einem anderen geogr. Ort Speichern_4 Ordnungsraum: Geografie, Relation von Adressen Zielort: Adresse Meso Operation mit dem ganzen Text Operation im Raum des Speichers Text speichern, Speichern_1 Zeichenkonstellation stillstellen, Text konstituieren Ordnungsraum: Speicher Zielort: Adresse/Name im Speicher Abb. 29/Fortsetzung auf S. 214 214 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Mikro Zeichen anordnen/verschieben Prozessieren Operation im Raum des Textes Zeichen ablegen an einem anderen Ort Speichern_4 Ordnungsraum: Text Zielort: Adresse im Ordnungsraum Text Abb. 29 Die verblüffende Mikro-Makro-Entsprechung zwischen Operatio- nen mit Texten und Operationen mit Zeichen bleibt durchaus be- stehen, aber sie differenziert sich aus. Den Sprung zwischen Mikro und Makro im Auge zu behalten, wird Aufgabe für die folgenden Schritte sein; sie tatsächlich zu begreifen das Projekt einer Medien- theorie, die ihren Gegenstand auf einer strukturellen Ebene tat- sächlich durchdringt. Kapitel 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 1. Kommunikation Ziel der vorangegangenen Kapitel war es, das Prozessieren nicht mehr für sich allein, sondern in seiner Beziehung zu den beiden anderen Medienfunktionen zu betrachten, und zum Zweiten zu prüfen, ob sich, wenn man vom Prozessieren ausgeht, auch für Übertragen und Speichern neue Aspekte ergeben. Dass beide Fragen nicht trivial sind war zu vermuten; vor allem aber stellt sich heraus, dass die Antworten in hohem Maß davon abhängen, welche Autoren, Modelle und Begriffe man zur Erklärung heran- zieht. Diese Pluralität ist Reichtum und Problem zugleich; und die selbstverständliche Rede von Übertragen, Speichern und Prozes- sieren scheint die Probleme eher zu verdecken als offenzulegen. Nun geht es darum, bestimmte Ergebnisse noch einmal zusam- menzufassen, und einige zusätzliche Aspekte anzusprechen, die in der systematischen Darstellung keinen Platz hatten. Ausgangsbeobachtung war, dass Prozessieren in Spannung zu der Grundannahme steht, Medien hätten es immer mit Kommuni- kation zu tun. Wenn Kommunikation eine Relation zwischen zwei Subjekten oder quasi personalen Instanzen behauptet, geht es beim Prozessieren ‒ zumindest vorrangig ‒ um eine Subjekt-Objekt- Beziehung. Wer ein Medienprodukt prozessiert, beschäftigt sich zunächst mit diesem Medienprodukt. Eingreifende Veränderung, Operationen, Arbeit und Weiter-Bearbeitung halten fest, dass es um Objekte geht. Gegenüber ist ein Objekt, und es sind Objekte, die das Prozessieren eingreifend verändert. Sobald man von Eingriff und von Weiter-Bearbeitung spricht allerdings kehrt ein Aspekt von Kommunikation wieder, insofern man fragen kann, woher das Produkt kommt, das Gegenstand des Eingriffs ist, und wohin es geht. Dies ist durchaus Kommunikation, wenn auch eine sehr spezielle, weil sie sich nicht an einen Rezipi- enten sondern an Weiterbearbeiter richtet; Prozessieren als Eingriff scheint eine eigene Prozesskette zu etablieren, die Akte des Prozes- 216 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN sierens miteinander verknüpft. Erst das Endresultat schließlich wird an den Rezipienten übergeben und in die eigentliche ‚Kom- munikation‘ wieder eingespeist. 2. Gegenüberpositionierung Weiter war nach der Gegenüberpositionierung selbst zu fragen. Gegenüber ist das Medienprodukt, das Gegenstand der Eingreifen- den Veränderung ist. Und als zweites wurde das Medium als Gegenüber genannt, in dem der Prozessierende seinen Eingriff arti- kuliert; auch mit den Regeln, der Eigenlogik und den Widerstän- den des Mediums setzt sich der Prozessierende auseinander. Dieses Gegenüber allerdings bleibt nicht passiv. Die Regeln des Mediums vielmehr schreiben sich aktiv ins Produkt ein, und zwar möglicherweise in Spannung zur Autoren-Intention. Einschreibung nun ist Eingreifende Veränderung; so dass auch das Medium selbst, und zwar jedes Medium, und nicht nur der programm- gesteuert-automatisch-selbstständig operierende Computerprozes- sor, sowohl Gegenüber (‚Objekt‘) als auch ein ‚Subjekt‘ des Pro- zessierens ist. Die Annahme eines schlichten Subjekt-Objektver- hältnisses wird hierdurch ein weiteres Mal irritiert. Wenn die ANT die Subjekt-Objekt-Dichotomie also hinter- schreiten will und den Objekten Agency zuschreibt, würde sich dies hier bestätigen; und die Frage geht in die allgemeinere nach den verschiedenen Subjekten des Prozessierens über. Das dritte Gegenüber, das war von Bühler zu lernen, sind die ‚Gegenstände und Sachverhalte‘, auf die das Medienprodukt als ein symbolisches verweist. Dass Medienprodukte einen Weltbezug haben, ist wichtig für das Verständnis, gerade weil sich das Prozes- sieren des Computers strikt formal und syntaktisch vollzieht, und deshalb häufig als welt-frei missverstanden wird. Dieser Schein löst sich auf, sobald man die Modellbildung einbezieht, die hinter den weltfrei syntaktischen Algorithmen steht; die Überlegung, dass auch Wahrnehmungsmedien und Messgeräte prozessieren, hat dies zusätzlich klar gemacht. KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 217 3. Eingreifen, nicht eingreifen Dass zwischen Prozessieren und Kommunikation eine Spannung besteht, führt auf einen definitorischen Unterschied. Während das Prozessieren über die Eingreifende Veränderung bestimmt ist, schließen ‒ auch das war eines der Ergebnisse ‒ Speichern und Übertragen einen solchen Eingriff aus. Speichern bedeutet Still- stellung, und Übertragen setzt Stillstellung voraus; Medienproduk- te also scheinen, das war meine erste These zur Abfolge, zwischen Verfestigung und Verflüssigung zu oszillieren.337 Und gleichzeitig war auch diese Vorstellung zu relativieren: Zum einen wird man, wenn man die drei Medienfunktionen tat- sächlich in Beziehung bringen und gleichbehandeln will, von einem bipolaren zu einem dreiwertigen Modell übergehen müssen; und mein Deutungsvorschlag war, die zweiwertigen Polaritäten, die im Feld diskutiert werden, als mögliche Vereinfachungen, als Perspektiven zu betrachten.338 Und zum Zweiten, insofern das Ver- bot des Eingriffs zwar eine wichtige Definition, gleichzeitig aber auch eine Stilisierung ist. Tatsächlich sind Vorgänge der Über- tragung von Eingriffen keineswegs frei, insofern Übertragung immer technische Umformungen einschließt, und insofern der Ein- fluss des Mediums berücksichtigt werden muss; und ebenso das Rauschen in der Übertragung und im Fall des Speicherns die Entropie. Mein Vorschlag war, all dies als Formen eines selbsttätigen Prozessierens zu fassen, das nicht intendiert ist und eher von der Medienkonstellation ausgeht als von den menschlichen Subjekten, die die Vorgänge steuern. Und die Besonderheit dieser Form des Prozessierens war, dass sie Teil nicht des Prozessierens, sondern von Speichern und Übertragung ist. Systematisch bedeutet dies, dass die Medienfunktionen jeweils Einsprengsel der anderen Medienfunktionen enthalten. Die These einer wechselseitigen Inklusion irritiert die Reinheit der Definition, gleichzeitig ist sie völlig unumgänglich, und macht zudem klar, dass es neben den Medienfunktionen eine Ebene von Teilfunktio- nen gibt, die innerhalb der Medienfunktionen eigene Kräfte ent- falten. 337 Vgl. Kapitel 2.1, ,Relation‘, S. 131ff. 338 Meine Vorstellung eines ‚dreidimensionalen Raums‘ war Gegenstand in Kapitel 2.6, ,Die Medienfunktionen als Netz‘, S. 196ff. 218 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN 4. Performativität Mit etwas Risiko lässt sich der Gedanke noch weiterspinnen. Denn ohne Zweifel verändert die Kommunikation auch ‒ den Empfänger. Wenn im Umfeld des Prozessierens Performativität zu diskutieren war,339 dann hebt Performativität ja gerade hervor, dass die Botschaft den Empfängerkontext, in den sie eintritt, faktisch verändert. Hier ist es die Übertragung selbst, die als Eingreifende Veränderung wirkt; und der performative Aspekt erscheint als ein Prozessieren inner- halb der Übertragung. 5. Handlungsrollen Wenn im Abschnitt ‚Gegenüberpositionierung‘ gesagt wurde, dass das Medium einerseits als Gegenüber, als Objekt, auftritt, und andererseits als aktive Instanz Eingreifender Veränderung, als quasi handelnd, in einer subjektähnlichen Position, so ist dies Teil der sicherlich größeren Schwierigkeit, die Handlungsrollen im Umfeld der drei Medienfunktionen zu bestimmen. Auffällig ist, dass die referierten Modelle völlig unterschied- liche Handlungsrollen benennen, und dass insgesamt fast beängsti- gend viele Aktanten auftreten: Sender und Empfänger, Gegen- stände / Sachverhalte, Input und Output, das Medium; die Welt (als Referenzraum), im Fall der Wahrnehmungsmedien und Messgerä- te: die Natur; das Subjekt der Eingreifenden Veränderung, das Pro- dukt, der Text, das Archiv, der Speicher, das Zeichen. Sie alle zu einem gemeinsamen Modell zusammenzusetzen, wäre das Projekt einer Medientheorie, die ihren Namen verdient. Vielleicht aber ist mit Blick auf die Medienfunktionen hier zumin- dest etwas Ordnung zu schaffen. Das einfachste ‚Netzwerk‘ findet sich bei Bühler, der auf der waagerechten Achse Sender und Empfänger miteinander verbin- det, und diese auf der senkrechten mit dem Bezug auf die Sache, den ich ‒ praxeologisch reinterpretiert ‒ dem Prozessieren zuge- ordnet habe. In Bühlers Schema aber fehlen die meisten anderen der genannten Instanzen: und vor allem das Medium und das Archiv. Das Medium in seiner Doppelrolle, die gerade diskutiert 339 Kapitel 1.5. KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 219 wurde, als Gegenüber und als Quasi-Subjekt; und das Archiv, das vor allem in Jäger/Jarkes Vorstellung einer Transkription eine Rolle spielt. Geht man noch einmal zu Jäger/Jarke zurück, könnte man die Instanzen in folgendes Schema fassen: Archiv Archiv Entnahme Wiedereinstellen ins Archiv Ausgangs- Verändertes produkt Produkt Eingreifende Veränderung Subjekt / Instanz des Prozessierens Abb. 30: Eingreifende Veränderung als Transkription Diese Darstellung würde derjenigen Bühlers durchaus ähneln. Pro- zessieren als Eingreifende Veränderung wird eingebettet in einen Kommunikationsprozess, auch wenn dieser nicht von einem Sen- der ausgeht, sondern vom Archiv, und nicht bei einem Empfänger sondern im Archiv endet. Es wurde gesagt: Es geht darum, das Prozessieren in den Mittel- punkt zu stellen; und sobald man das tut, gerät die ‚Kommunikation‘ an den Rand; ‚Gegenüber‘ ist das Produkt, und allgemeiner das Archiv, dessen Inhalt mit dem Produkt sich verändert und das insofern der eigentliche Gegenstand der Bearbeitung ist. Vor allem aber unterscheiden sich Bühler und Jäger/Jarke im Zeitaspekt. Während Bühler (orientiert an der mündlichen Kommunikation) einen jeweils aktuellen Kommunikationsvorgang beschreibt, fokus- sieren Jäger/Jarke auf die Speicher. Was die Kommunikation angeht, kann man das Archiv als einen ‚Puffer‘ betrachten, der die Kommu- 220 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN nikationsakte zeitlich voneinander entkoppelt. Jäger/Jarke also lösen die Kommunikation aus dem Präsens heraus. Zudem wird bei Jäger/ Jarke klarer, wie die verschiedenen Kommunikationsakte aneinander anschließen. Hier ist es das Archiv, das die Kommunikationsakte zu einem Diskurs, zu Ketten, verbindet. 6. Handlungskreis Man kann den Austausch mit dem Archiv also als eine ‚Kommuni- kation‘ betrachten; wahrscheinlich geeigneter aber ist der Begriff der Interaktion. Wenn es ums Prozessieren als Eingreifende Verände- rung geht, ist Handeln immer schon impliziert. An dieser Stelle bietet sich noch einmal der Rückgriff auf Gehlens ‚Handlungskreis‘ an. Die Pointe bei Gehlen war ja, dass er auch den Umgang mit dem Produkt (die Eingreifende Verände- rung) als eine Interaktion modelliert. Dies bedeutet, dass die Ein- greifende Veränderung prozessualisiert und in radikaler Weise ver- zeitlicht wird. Ich habe es oben referiert: Es geht keineswegs um einen einzelnen Eingriff, sondern um eine Abfolge von Schritten, bei der die Zwischenergebnisse der Selbstvergewisserung und der Adjustierung der nachfolgenden Eingriffe dienen. Voraussetzung ist, dass auch die Zwischenergebnisse materiell niedergelegt und auf diese Weise zu einem Gegenüber werden. Folgt man Gehlen, oszilliert die Eingreifende Veränderung zwi- schen Lesen, Eingriff und Schreiben / Niederlegen. Und dies ändert ‒ zumindest in Ansätzen ‒ auch das allzu selbstverständ- liche Handlungsmodell, das in der Eingreifenden Veränderung steckt, insofern mit dem Lesen eine rezeptiv-passive Komponente hineinkommt. Eine ähnliche Wirkung hätten der Einfluss des Mediums, das Rauschen und die Entropie, die ihre Wirkung ebenfalls unabhängig vom handelnden Subjekt entfalten und seinen Handlungsraum, durchaus verbunden mit einem Frustrationspotential, einschränken … KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 221 7. Große Kreise, kleine Kreise Strukturell ergibt sich das Bild zweier ineinander geschachtelter Kreise. Der großen Interaktion mit dem Archiv entspricht eine ‚kleine‘, die am Produkt und in einzelnen Schritten verfährt.340 Ein weiteres Mal also Makro und Mikro. Und nun wird deutlich, dass verschiedene der oben getroffenen Mikro-Makro-Unterschei- dungen tatsächlich zusammengehören: Wenn gesagt wurde, dass es (1.) zwei ineinander geschachtelte Räume gibt, wobei die Übertra- gung den ‚großen‘ Raum der Geografie, und das Prozessieren den ‚kleinen‘ des Textes oder Medienproduktes betrifft,341 dass es (2.) auf beiden Ebenen um Lesen und Schreiben / Umschreiben geht, (3.) beim Übertragen um ganze Produkte, beim Prozessieren aber um ein Rearrangement auf der Ebene der einzelnen Zeichen, und dass schließlich (4.) zumindest im Fall des Computers beide Räume tatsächlich ineinander übergehen und gleichen organisato- rischen Regeln folgen,342 dann wird klar, dass hinter der schwirren- den Vielfalt der Ansätze, Modelle und Begriffe tatsächlich so etwas wie eine ‚Gesamtarchitektur‘ stehen könnte, oder zumindest ein Apparat von Mechanismen, der den großen Raum des Diskur- ses und den kleinen textueller Operationen tatsächlich umfasst. Ich möchte hervorheben, dass sich all dies allein dann ergibt, wenn man die Szenerie aus der Perspektive des Prozessierens betrachtet. Erst wenn man das Prozessieren einigermaßen mikro- logisch mit den beiden anderen Medienfunktionen vergleicht, ver- liert es seinen Status, etwas grundsätzlich und qualitativ ‚Anderes‘ zu sein. Es entsteht eine Ahnung, dass es tatsächlich um die An- schlüsse und die Übergänge zwischen den Medienfunktionen geht. Und dass die Medienfunktionen einen Status als Analysetool erst dann haben werden, wenn diese Anschlüsse einigermaßen geklärt sind. 8. Räume Diese Klärung steht aus und wäre sicherlich mehr, als mein Buch leisten kann. Einige Folgeüberlegungen aber scheinen mir mög- 340 Diese Vorstellung war im Kapitel 2.2, ,Gegenüber‘, schon einmal Thema (S. 139). 341 Kapitel 2.8, , Raum des Textes, Raum der Geografie‘. 342 Ebd., S. 211. 222 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN lich. Sie alle haben gemeinsam, dass es um Mediengeschichte geht, und zweitens, dass sie die Perspektive umdrehen; während man üb- licherweise Mediengeschichte verwendet, um theoretische Modelle oder Annahmen zu extrahieren, geht das Folgende von theoreti- schen Vorstellungen aus. Hypothetisch werden diese auf den Ver- lauf von Mediengeschichte projiziert, in vollem Bewusstsein, dass ein solches Vorgehen einigermaßen abstrakt, deduktiv und risiko- reich ist. Die erste betrifft noch einmal das Ineinander der beiden Räume. Wenn der Computer dadurch gekennzeichnet ist, dass er zwischen dem kleinen Raum des Textes / Medienprodukts (Eingreifende Veränderung, Prozessieren) und dem großen der Geografie (Über- tragung) eine einheitliche, anschlussfähige und kontinuierliche Ge- samtlogik errichtet, einen einheitlichen Adressraum und geschlos- sene Prozessketten, so muss ins Auge fallen, dass die Medien der Vergangenheit all dies gerade nicht leisten. Bei allen traditionellen Medien fallen Prozessieren und Über- tragen weit auseinander; dies ist Teil der Eigenlogik der Einzel- medien und jener Mediengrenzen und Medienbrüche, die oben unter dem Stichwort der Intermedialität und der Übersetzung an- diskutiert wurden.343 Weit davon entfernt, ein ‚universelles Medi- um‘ zu sein, scheint der Computer einige dieser Medienbrüche tat- sächlich zu überwinden; und zwar weniger, indem er ‒ Stichwort Multimedia ‒ immer neue Einzelmedien an sich zieht oder emu- liert, sondern vor allem, insofern er eine einheitliche Prozesslogik durchsetzt. Was bis dahin durchaus heterogen und qualitativ unter- schieden war, rückt zu einem geschlosseneren Universum zusam- men. Dass dies nur für die inneren Vorgänge des Rechners gilt, und keineswegs für den Rechner insgesamt, ist im Abschnitt zur Modellbildung, zur Nutzung und Anwendung deutlich geworden. 343 Krämer zeigt die Wirkung solcher Medienbrüche am bereits erwähnten Beispiel des schriftlichen Rechnens: Römische Zahlen erlauben die Notation von Ergeb- nissen und Zwischenergebnissen; weil man mit ihnen aber nicht rechnen kann, muss die Berechnung ein zweites Medium, der Abakus, übernehmen, der wie- derum nicht speichern und Zwischenergebnisse nicht festhalten kann. Erst die arabischen Ziffern überbrücken die Kluft. Sie führen ein Positionssystems ein, das sowohl die Notation als auch Verfahren schriftlichen Rechnens erlaubt (Krämer, Sybille: Operative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informatik. In: Schefe, Peter; Hastedt, Heiner; Dittrich Yvonne (Hg.): Informatik und Philoso- phie, Mannheim 1993, S. 69-84). KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 223 Bereits eingegrenzt auf dieses Terrain aber wäre die These einiger- maßen spektakulär. Sie impliziert, dass die Mediengeschichte die Tendenz hat, Medienbrüche zu eliminieren. Und dies scheint sowohl für Brüche in der inneren Logik der Medien zu gelten als auch für Brüche in der Logik ihrer Verkettung. Spektakulär ist diese These, weil sie der Mediengeschichte eine Tendenz und damit so etwas wie ein Telos unterstellt. Dass dies methodisch unzulässig und verboten ist, bedarf keiner Erwähnung. Dies allerdings wirft die Frage auf, wie die darunterliegenden, beobachteten mediengeschichtlichen Fakten anders zu ordnen sind und welchen Status sie ‒ außerhalb der behaupteten Tendenz ‒ haben. Zudem lässt sich die Deutung stützen über die Ökonomie. Dis- kurse, das habe ich an anderer Stelle gezeigt,344 folgen einer eige- nen Ökonomie. Es ist klar, dass Medienbrüche, gerade wenn es in den Medien um Zirkulation geht, als Widerstand wirken, und dass die Zirkulation der Zeichen ‒ ähnlich wie fließendes Wasser ‒ eigene Kräfte und eigene Gesetzmäßigkeiten entfaltet. Die Elimi- nierung von Hemmnissen muss insofern einen ökonomischen Effekt haben. Und umgekehrt kann man in den Gesetzen der Öko- nomie, in der Tendenz, die Zirkulation der Zeichen immer mehr zu erleichtern, den Motor sehen, der die Mediengeschichte in die be- schriebene Richtung drängt. Wenn John Peters gegenwärtig das Projekt verfolgt, hinter den konkreten Medienprozessen eine ‚Logistik der Medien‘ zu zeigen, und wenn verschiedene Autoren im deutschen Sprachraum an Innis anschließen und, ebenfalls unter dem Stichwort einer Medien- logistik, Phänomene des Straßenverkehrs untersuchen, um Gesetz- mäßigkeiten auch für den Zeichenverkehr abzuleiten, dann geht dies in eine ähnliche Richtung.345 All diese Ansätze haben gemein- sam, dass sie die Medien, verstanden als Zeichenverkehr, in radi- kaler Weise prozessualisieren. Mit der Folge eben, dass hervortritt, dass die Zirkulation selbst Form generiert und Macht eben auch über die statischen Dinge und die Strukturen hat.346 344 Noch einmal: Winkler, Diskursökonomie, a. a. O. 345 Vgl. z. B.: Neubert, Christoph; Schabacher, Gabriele (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft: Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: transcript Verlag 2012. 346 Dieser formgenerierenden Kraft des ‚Verkehrs‘ gehe ich in einem kurzen Auf- satz nach: Winkler., Hartmut: Spuren, Bahnen. Wirkt der Traffic zurück auf die mediale Infrastruktur? In: Neubert, Christoph; Schabacher, Gabriele (Hg.): 224 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN All dies ist ‒ zugegeben ‒ eine großmaßstäbliche Spekulation; dennoch möchte ich auf dem eingeschlagenen Weg noch etwas weiter gehen. 9. Zeitachse Denn mehr noch als mit dem Raum hat es das Prozessieren mit der Zeitachse zu tun. Wenn Prozessieren Veränderung ist, dann ereig- net sich diese an einem Gegenstand (im Raum), vor allem aber etabliert sie ein Verhältnis von Vorher und Nachher, das notwen- dig zeitlich ist. Im Großen betrifft die Zeitachse die Medien- geschichte, im Kleinen das Prozessieren, immer zugestanden, dass ich unschlüssig bin, wie der Übergang zwischen beiden zu denken ist. Prinzipiell sind alle Medienprozesse an Zeit gebunden. Gleich- zeitig etablieren die drei Medienfunktionen einen jeweils sehr unterschiedlichen Zeitbezug und unterscheiden sich in dieser Hin- sicht drastisch. Der Übertragung ist die Zeit relativ äußerlich. Übertragung verbraucht zwar Zeit, die Mediengeschichte aber hat offenbar die Tendenz [!], diesen Zeitverbrauch immer mehr zu ver- ringern. Insbesondere der Sprung vom physischen Transport der Botschaften hin zur Telegrafie, die erstmals massefrei leichte Zeichen etabliert und eine empirische Gleichzeitigkeit von Senden und Empfangen ermöglicht, macht dies deutlich: Auch im Feld der Übertragung wirkt eine Ökonomie, die kleine, leichte Zeichen favorisiert und dem Fluss der Zeichen, der Zirkulation, Priorität einräumt. Und mehr noch: Der Fluss der Zeichen, die Zirkulation, hat offenbar Macht über alle festen Strukturen; er schafft sich jene Infrastruktur, die eine naive Mediengeschichtsschreibung häufig technischen ‚Erfindern‘ und Erfindungen zuschreibt. Ganz anders der Fall des Speicherns. Auch Speichern ist ein Vorgang, der Zeit verbraucht. Im Mittelpunkt aber steht das Gegenteil, der Versuch, die Zeit stillzustellen und den Content gegen Veränderung, gegen den Fluss der Zeit zu armieren. Fragt man auch hier nach der mediengeschichtlichen Makrotendenz, stellt man verblüfft fest, dass es keineswegs diese Dauerhaftigkeit ist, die im Verlauf der Mediengeschichte zunimmt. Die Speicher Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 49-72. KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 225 vielmehr nehmen über jedes vorstellbare Maß hinaus quantitativ zu, sie werden immer kleiner und durch ihren Anschluss ans Netz immer leichter erreichbar; das erste aber ist eher ein räumlicher als ein zeitlicher Effekt, und das zweite verdankt sich vor allem einer immer größeren Integration mit der Übertragung. Die dritte Medienfunktion, das Prozessieren, kämpft ihren eige- nen Kampf mit der Zeit. Wie im Fall der Übertragung geht es auch hier zunächst darum, Zeitverbrauch zu vermindern; im Feld der Computer wurde über mehrere Jahrzehnte ‒ Stichwort Mooresches Gesetz ‒ rituell die Zunahme der Prozessorleistung gefeiert; absur- der Weise zuerst bestimmt über die Anzahl der Transistoren pro Chip,347 dann über Benchmarks, die den Zeitverbrauch für standar- disierte Aufgaben messen,348 bis sich die Debatte auf Parallelisie- rung umorientierte,349 um das Moorsche Gesetz schließlich ohne großen Umstand zu Grabe zu tragen.350 In all diesem ging es zu- nächst schlicht um den quantitativen Durchsatz, was, wenn man sich um einen medienwissenschaftlich haltbaren Begriff des Pro- zessierens bemüht, sicherlich eine schwache Bestimmung ist. 347 „Das mooresche Gesetz (englisch Moore’s law; deutsch ‚Gesetz‘ im Sinne von ‚Gesetzmäßigkeit‘) sagt aus, dass sich die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten regelmäßig verdoppelt; je nach Quelle werden 12 bis 24 Monate als Zeitraum genannt.“ (Wikipedia: Stichwort: Mooresches Gesetz, abgefragt 20.6.2013). In dieser Definition wird die Leistung nicht über den Output, sondern über die eingesetzten Mittel bestimmt. Das ist so, als ob man hervorheben würde, ein neuer Automotor sei im Vergleich zu seinem Vorgänger schwerer geworden. 348 „In computing, a benchmark is the act of running a computer program, a set of programs, or other operations, in order to assess the relative performance of an object, normally by running a number of standard tests and trials against it.“ (Wikipedia (engl.): Stichwort: Benchmark (computing), abgefragt 20.6.2013). 349 „Das Amdahlsche Gesetz (benannt 1967 nach Gene Amdahl) ist ein Modell in der Informatik über die Beschleunigung von Programmen durch parallele Ausführung. Nach Amdahl wird der Geschwindigkeitszuwachs vor allem durch den sequentiellen Anteil des Problems beschränkt, da sich dessen Ausführungs- zeit durch Parallelisierung nicht verringern lässt.“ (Wikipedia: Stichwort: Amdahlsches Gesetz, abgefragt 20.6.2013). 350 „Intel: Mooresches Gesetz gilt noch mind. 10 Jahre“ (Titel eines Beitrags von Cristian Kahle im Onlinemagazin Winfuture, 14.9.2012, http://winfuture.de/ news,72001.html, 20.6.2013). „Mooresches Gesetz ist tot“ (Titel eines Beitrags von Tizian Nemeth auf der Seite ‚Giga, Leidenschaft für Technik und Games‘, datiert vom 3.5.2010, http://www.giga.de/unternehmen/nvidia/news/mooresches-gesetz-ist-tot-nvidia- vize-uber-die-zukunft-von-prozessoren/, 20.6.2013). 226 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN Geeigneter als mediengeschichtlicher Makrotrend erscheint die Tendenz zur Verflüssigung selbst. Wenn das Computeruniversum, das war die These von Manovich, tatsächlich durch Veränderbar- keit gekennzeichnet ist, Software soft, und Datenbanken ‚dynami- scher‘ als Karteien, dann sind die Milliarden von Prozessoren, die den Alltag durchsetzen, möglicherweise ein Indiz für eine Dynami- sierung / Flexibilisierung. Die Eigenheit des Computers, dass Input und Output sich unterscheiden, erschließt ihm gesellschaftlich ständig neues Terrain und lässt ihn in gesellschaftliche Prozesse vordringen, dort, wo sie im emphatischen Sinne Prozesse sind. Gleichzeitig gibt es eine Gegentendenz darin, dass der Computer Prozesse schematisiert, und in den heterogensten Feldern immer ähnliche Typen von Schemata durchsetzt. Und Schemata sind sicher eher ein statisches als ein dynamisches Moment … Tatsache ist also, dass die drei Medienfunktionen sich in ihrem Umgang mit Zeit stark unterscheiden. Statt einem Makrotrend gibt es zweieinhalb oder drei, was die ohnehin vergröbernde Sicht zusätzlich in Frage stellt. Dennoch ist die Überlegung m. E. nicht irrelevant; und dies gilt noch mehr für die folgende, auch wenn diese ähnlich großmaßstäblich und spekulativ ist. 10. Zeichen Ich komme nun auf einen Punkt zurück, der Gegenstand bereits in der Zusammenfassung zum ersten Teil war; und zwar auf die Rolle und den Stellenwert konstituierter Zeichen. Beobachtung war, dass der Computer eine Art Extrem im Feld des Prozessierens darstellt, weil allein auf seinem Terrain (und reduziert auf sein inneres Funktionieren, unter Ausschluss des Kontexts, der Modellbildung und der ‚Nutzung‘) Prozessieren als eine rein syntaktische Manipu- lation, ein An- und Umordnen von Zeichen beschrieben werden kann. Alle anderen Medien bringen ein wesentlich breiteres Spekt- rum wesentlich komplizierterer Typen von Prozessieren ins Spiel. Basis also war ein definitorischer Unterschied zwischen Medien, die über konstituierte Zeichen verfügen, und solchen, für die dies nicht gilt. Hieraus nun ergibt sich die mediengeschichtliche Frage, wie es zu der Herausbildung distinkter Zeichen überhaupt kommt. Und ob es, in der risikoreichen Sprechweise, die ich in den vorangegange- KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 227 nen Abschnitten gewählt habe, eine ‚Makrotendenz‘ gibt, die die Mediengeschichte in diese Richtung drängt. Und in der Tat ließe sich eine solche Tendenz zumindest konstruieren. Diejenigen Medien, die über distinkte Zeichen verfügen ‒ Schrift und Druck, Zahlensystem, Mathematik, Formalsprachen und Computer ‒ stellen nicht mehr als einen Ast, eine Verzwei- gung der Mediengeschichte dar; und nicht zu jedem Zeitpunkt die avancierteste, wenn man bedenkt, dass das Universum der tech- nischen Bilder, das mit Fotografie und Film ein ganzes Jahrhundert bestimmt, sich von distinkten Zeichen explizit absetzt, und histo- risch auf Schrift und Druck reagiert. Allein der Computer ist ein relativ junger Spross dieser Logik, und auch er hadert mit sich selbst und mit seiner digital-distinkt- differenziellen Verfasstheit, wo er seinen Nutzern Bilder oder Sounds zukehrt und von ihnen ‒ Inbegriff des Analogen ‒ Joy- stick- oder Wischbewegungen [!] zur Bedienung verlangt. Auch wenn die distinkten Zeichen also nur einen sehr be- schränkten Teil des Terrains regieren, und wenn eine partikulare Logik ihr Universum bestimmt, sind sie ohne Zweifel eine Errun- genschaft. Mit den distinkten Zeichen hat die Mediengeschichte Spielmarken hervorgebracht, die eine äußerst widersprüchliche Funktion erfüllen: Als Spielmarken sind die Zeichen freigestellt für ein Probehandeln, das abgetrennt ist von den tatsächlich prakti- schen Vollzügen und von jenem Handlungsraum, in dem Handeln tatsächliche Konsequenzen hat. Und gleichzeitig sollen Zeichen eben dennoch Geltung ‒ Bedeutung, ‚Sinn‘ und performative Wir- kung ‒ haben. Dass zwischen beiden Polen eine nahezu unauflösbare Span- nung besteht, ist in der Tradition der Sprachphilosophie ‒ von der antiken Rhetorik über den Universalienstreit bis zur linguistischen Semantik und zur Theorie formaler Sprachen, von Widerspiege- lungstheorien bis hin zu radikalen Konstruktivismen ‒ ausführlich und erbittert diskutiert worden. Und gleichzeitig wurde sie niemals aufgelöst; so dass die Spannung selbst, die doppelte und in sich widersprüchliche Bestimmung, den unverrückbar stabilen Kern des Zeichenkonzeptes ausmacht. Für die Mediengeschichte bedeutet dies, dass sie ‒ auf dem einen ihrer Äste ‒ ein risikoreiches, aber ungeheuer leistungsfähi- ges Produkt hervorbringt. Der Computer erbt dieses Produkt (die distinkten Zeichen), das Projekt und alle seiner Risiken, und er löst 228 2 DREI MEDIENFUNKTIONEN es auf neue Art: In dem er die Grenze, die das Spiel umschließt, in einzigartiger Weise radikalisiert. Indem er einen inneren (Spiel-) Raum schafft, in dem die Zeichen tatsächlich nichts als Spiel- marken sind; Gegenstand formaler, rein syntaktischer An- und Umordnungsoperationen (die wir Prozessieren nennen). Und diesen abspaltet von einem zweiten, größeren, Um-Raum, in den all jene weit komplexeren, unübersichtlicheren, weniger reinen und semantisch kontaminierten Operationen fallen, die die theoretische Informatik etwas verächtlich ‚Anwendungen‘ nennt. An der Grenze zwischen beiden Räumen kehren alle Schwierig- keiten wieder, die die Geschichte distinkter Zeichen kennzeichnet: und im Kern das Problem, wie, inwiefern und warum die Zeichen ‚Geltung‘ haben. Wenn es auch in diesem Feld eine ‚Makrotendenz‘ gibt, dann wäre sie die zur Formalisierung. Formalisierung löst die inhärenten Schwierigkeiten nicht, die mit dem Konzept distinkter Zeichen verbunden sind, aber sie schafft einen einzigartig reinen Raum; einen Raum, in dem man mit den Zeichen so verfahren kann, als seien alle die genannten Probleme gelöst, oder aber als spielten sie keine Rolle. Auf diese Weise wurden völlig neue Zeichenpraxen möglich, mit unabsehbar-produktiven Effekten auch in jenen Um- Raum, den die Mechanismen, die für Computer typisch sind, gerade nicht zu kontrollieren vermögen. Spielmarken ohne Spielfeld gibt es nicht; immer muss eine Grenze zwischen Spiel und Ernst, zeichenhaftem und tatsäch- lichem Gebrauch der Dinge, definiert werden; alle Systeme distinkter Zeichen kennen diese Grenze und müssen für ihren Erhalt sorgen. Der Computer ist in der Reihe dieser medienhistori- schen Versuche ein Extrem. Und am Begriff des Prozessierens wird dies mehr als deutlich: Nur weil das Medium unverstanden ist, kann es zu einem so relativ groben Konzept der Formalisierung kommen, das das Prozessieren nur innerhalb der Grenze, als An- und Umordnen von Zeichen definiert. Mein Vorschlag, zwei bzw. drei Arten des Prozessierens zu unterscheiden, versucht hier einen anderen Weg zu gehen. Und schließlich, und nur deshalb war die Frage nach den kon- stituierten Zeichen noch einmal aufzugreifen, betrifft das Gesagte auch das Verhältnis der drei Medienfunktionen. Wenn der Com- puter (zumindest in seinem inneren Funktionieren) alles Prozessie- ren in syntaktische Operationen auflöst, in ein Rearrangieren von KAPITEL 2.9 SUMME MEDIENFUNKTIONEN 229 Zeichen, und letztlich in Akte des Lesens und Schreibens, dann heißt dies, dass das Prozessieren verschwindet. Es löst sich in die beiden anderen Medienfunktionen, Übertragen und Speichern, vollständig auf; mit der Folge, dass die Unterscheidung der drei Medienfunktionen implodiert. Es ist also gerade umgekehrt, als man denken sollte: Nicht auf dem Terrain des Computers hat das Prozessieren seinen Kern; nicht hier ist klar und eindeutig, worum es sich beim Prozessieren eigentlich handelt. Betrachtet man sein inneres Funktionieren, gibt es nicht drei, sondern nur zwei Medienfunktionen. Wenn Kittler dennoch auf dem Prozessieren beharrt, dann immer schon mit Blick auf jene andere Ebene, auf der die Trans- formationen als qualitative, als Wandel, erscheinen. Diese aller- dings betrifft nicht mehr das innere Funktionieren, und sie hat der Computer mit allen anderen Medien gemeinsam. Wenn der Computer mediengeschichtlich ein Extrem und eine Errungenschaft ist, dann weil er dieses Paradox freistellt. Er fordert einerseits dazu auf, ein Prozessieren zu denken, das auf Übertragen und Speichern vollständig reduzierbar ist; und zwingt gleichzeitig, die so gesetzte Grenze zu überschreiten und den begrenzten Innen- raum als begrenzt zu erkennen. 11. Beziehung der drei Medienfunktionen Zwischen den drei Medienfunktionen also gibt es nicht eine Bezie- hung, sondern viele. Ihr analytischer Wert besteht nicht darin, dass man sie ‒ klar und distinkt ‒ als Werkzeug verwenden könnte; sondern sehr viel eher in den Problemen, die sie aufwerfen, sobald man näher über sie nachzudenken beginnt. Das gerade gezeigte Paradox des Computers ist hierfür ein Beispiel. Die Aussicht, es aufzulösen, besteht zunächst nicht; als Paradox aber ist es ‒ wie alle guten Paradoxe ‒ wirksam; und vor allem wirksam darin, dass es selbst, quasi selbsttätig, zum Nachdenken zwingt. Gute Begriffe sind Prozessoren. Und vielleicht ist das Prozessieren in dieser Hin- sicht wirklich ein guter Begriff … 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Kapitel 3.1 VIEFS HASE Medien, Verräumlichung und Reversibilität351 „Wenn man die Welt studieren will, muss man die Welt anhalten.“ Hiroshi Sugimoto (Fotograf) 1. Intro An dieser Stelle beginnt der dritte Teil meines Buchs. Hier werde ich einige Einzelüberlegungen vorstellen, die einen etwas anderen Charakter als das bisher Erarbeitete haben. Gleichzeitig schließen sie daran an. So ist schon im ersten Teil die Bedeutung von Raum und Zeit deutlich geworden; im zweiten Teil habe ich das Verhält- nis der drei Medienfunktionen untersucht, und hier waren Raum und Zeit wieder zentral: der Raum assoziiert mit der Übertragung, die Zeit in Bezug auf das Speichern. Und auch im dritten Teil soll es um Raum und Zeit gehen. Zu- nächst wird zwischen Raum und Zeit eine Brücke geschlagen, denn Medien, und dies ist durchaus verblüffend, haben die Eigen- schaft, Zeit in Raum, und Raum in Zeit zu übersetzen. Dies ist für die Frage, in welchem Verhältnis die drei Medienfunktionen ste- hen, von einiger Relevanz. Übertragen und Speichern werden nun funktional aufeinander bezogen. Es war Bernhard Vief, der diesen Gedanken besonders klar herausgearbeitet hat, und ich wähle des- halb seine Texte zum Ausgangspunkt. Zudem kommt auch das Prozessieren wieder ins Spiel, wenn es mit Kittler um ‚Time axis manipulation‘ geht. 351 Vortrag auf der Tagung: Media Transatlantic II, Media Theory on the Move, Potsdam, 21.-24. Mai 2009. English preprint: www.uni-paderborn.de/~winkler/hase_e.pdf. Für die Ver- öffentlichung im vorliegenden Buch wurde der Text überarbeitet. 234 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Vorrangig aber, und deshalb vor allem ist die These interessant, will ich zeigen, dass das Funktionieren der Medien insgesamt von einer ‚Verräumlichung‘ abhängt: Medien können darüber bestimmt werden, dass sie Dinge dem Fluss der Zeit entreißen, um sie räum- lich zu repräsentieren. Dies haben ‒ auf jeweils unterschiedliche Weise ‒ Vief, Kittler und Krämer vertreten; auf dieser Basis stelle ich eine eigene Überlegung an; These ist, dass hier der Schlüssel für ein neues, strukturelles Verständnis der Medien liegt, und das entscheidende Kriterium, das die Medien von anderen gesellschaft- lichen Systemen unterscheidet. Das Kapitel stellt, es wurde in der Einleitung gesagt, das Kernstück meines Buchs dar, und den wich- tigsten Theoriebaustein, den es zu liefern hat. Die anderen beiden Kapitel meines Schlussteils suchen An- schluss an die Technik- und die Mediengeschichte; das eine am Beispiel des Computerprozessors, das zweite am Beispiel der Telegrafie. 2. Hase und Igel Ich beginne mit einem Text, den Bernhard Vief 2007 auf einer Tagung vorgestellt hat.352 Vief geht aus vom Grimmschen Märchen von Hase und Igel. Das Märchen selbst ist bekannt; beide wetten, wer der schnellere sei und entgegen jeder Prognose gewinnt der Igel. Der unglückliche Hase rennt, aber er hat keine Chance, der Igel ist immer schon da. Er ist dem schnellen Hasen überlegen, 352 Vief, Bernhard: Die Inflation der Igel − Versuch über die Medien. In: de Kerckhove, Derrick; Leeker, Martina; Schmidt, Kerstin (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 213-230. Einzelne Thesen überschneiden sich mit früheren Texten Viefs: - ders.: Transplantation im Digitalen – Über die anatomische Arbeit der Binär- schrift. In: Ternes, Bernd; Hofbauer, Andreas L.; Bauer, Renate (Hg.): Einfache Lösungen. Beiträge zur beginnenden Unvorstellbarkeit von Problemen der Ge- sellschaft. Marburg: Tectum 2000, S. 231-238; siehe insbes. Abschnitt 5: Geo- metrie der Zeit, ebd., S. 235ff. - ders.: Über die Unschärfe von Zeitschnitten. In: Transit (Hg.): On The Air. Kunst im öffentlichen Datenraum. Wien 1994, S. 135-158. - ders.: Digitaler Raum. In: Die Auflösung der Medien im elektronischen Raum. Kunstgespräche 1992, Eremitage in Schwaz/Tirol. transit.tiroler-landesmuseum.at/kunstgespräche/vief.html, 30.12.2007. KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 235 weil er mit seinem Lebensabschnittspartner kooperiert, weil er − tückisch − eben nicht ein Igel, sondern zwei Igel ist. Vief nun erklärt, dass in der Sphäre der Medien beide Prinzipien − das Hase- und das Igel-Prinzip − eine entscheidende Rolle spie- len. Der Hase steht für die Übertragung. Er funktioniert wie ein Brief und überwindet die Geografie, indem er seinen Körper transportiert. Dabei verbraucht er Zeit, und zwar zu viel Zeit, ge- messen am Igel. Telegramme mögen relativ schneller sein; auch sie aber brauchen Zeit für die Übertragung. Der Igel repräsentiert das ganz andere Prinzip der Gleichzeitig- keit. Die Tatsache, dass es zwei Exemplare gibt, erspart den Trans- port. Medientechnisch ist dies in der technischen Reproduktion, den medialen Kopiertechniken, realisiert. Man stellt ein paar Tau- send Exemplare her, die dann gleichzeitig an verschiedenen Orten zur Verfügung stehen; das Radio liefert seine Botschaft ebenfalls − wie der Igel − parallel auf vielen tausend Empfängern. Und Vief verallgemeinert: Das Prinzip der Übertragung ist zeit- lich. Übertragung ist an Zeit gebunden; und dies macht den Hasen langsam, auch wenn er schnell ist. Die Telegrafie etwa kann, was die reine Übertragung angeht, mit Lichtgeschwindigkeit operieren; das sind im Vakuum knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde, ein so schneller Hase, dass wir − in empirischen Grenzen − von Gleich- zeitigkeit sprechen. Versucht man aber mit einer Jupitersonde zu telefonieren, sagt Vief, wird das Problem schnell klar: Da die Frage trotz Lichtgeschwindigkeit und Vakuum etwa 20 Minuten braucht, wird die Sonde erst in 40 Minuten geantwortet haben. Das Vergnügen eines Wechselgesprächs schränkt dies stark ein. Die Druckauflage dagegen operiert wie der Igel mit der Logik nicht einer empirischen, sondern einer tatsächlichen Gleichzeitig- keit. Sie hat die Zeit abgeschüttelt. Wie aber, wird man fragen müssen, hängen beide Prinzipien zusammen? 3. Geometrie der Zeit Das privilegierte Beispiel hier, auch bei Vief, ist die Schrift. Schrift − zumindest die phonetische, westliche Schrift − ist eine Umsetzung der gesprochenen Sprache. Mündliche Äußerungen operieren sukzessive; sie produzieren einen Zeichenstrom, der zeitlich ist. Die Schrift nun setzt dieses zeitliche Nacheinander in 236 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT ein räumliches Nebeneinander um. Die Zeile ist linear; linear aber eben nicht in der Zeit, sondern im Raum. Die Dimension der Zeit wird auf eine Raumachse, die Linearität der Zeile, projiziert. Töne, schreibt Vief, sind zeitlich und bewegen sich im Fluß der Zeit. Sie gehören einer anderen Dimension an als Bilder. Bilder existieren in der Fläche und − im Falle der Skulptur − im Raum. Damit folgen sie einer Ord- nung, die in gewisser Weise mit einer zeitlichen Ordnung nicht kompatibel ist. Die Leistung des Alphabets besteht also nicht nur darin, Töne in Bilder zu übersetzen. Es geht hier ganz allgemein darum, ein zeitliches Ereignis auf eine Fläche zu projizieren − um eine Geometrie der Zeit.353 Heraklit folgend, ist der Strom der Zeit fließend: ‚Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.‘ Dem Alphabet liegt eine andere Zeitkonzeption zugrunde. Die Zeit wird hier als teilbarer Körper betrachtet, der sich in Zeitspannen und Zeitpunkte unterteilen läßt. Das ist eine Voraussetzung für jede phonetische Lautschrift, wie das herkömmliche Alphabet sie darstellt − aber auch dafür, daß man Bits durch Kupferdrähte oder Glasfaser schicken kann. Den Zeit- segmenten werden nun Flächensegmente zugeordnet: Jedem Pho- nem ein Buchstabe, jedem Zeitpunkt ein Flächenpunkt − und zwar ganz wörtlich: auf einem Blatt Papier, auf einer Magnetplatte, auf einer CD.354 Und dann kommt − fast überfallartig − der entscheidende Punkt: Und bei dieser Übersetzung von Zeit in Fläche geschieht das Un- geheuerliche: Die Zeit wird reversibel. Im Gegensatz zu Zeitpunk- ten, das klingt fast trivial, sind Flächenpunkte reversibel. Man kann zu ihnen zurückkehren, sie beliebig abtasten und ‚reproduzieren‘. Indem man Ereignisse speichert und wiederholt, kann man − vordergründig gesehen − auch zu Zeitpunkten zurückkehren, d. h., Zeit- in Flächenpunkte verwandeln und diese in Zeitpunkte zurück- verwandeln. Das aber heißt: Die Zeitpunkte werden austauschbar. Damit wird ihr zeitlicher Charakter negiert.355 Das entscheidende Stichwort ist die Reversibilität. Reversibilität steht für das Versprechen, sich von der diktatorischen Achse der Zeit zu befreien. Zeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie abläuft, und zwar unumkehrbar, irreversibel. Am deutlichsten kennzeich- net dies die Erfahrung des Todes, jene tiefe Zäsur in der Zeit, die 353 Vief, Transplantation, a. a. O. 354 Ebd. 355 Ebd. (Hervorh. H. W.). KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 237 mit keinem Mittel umgekehrt oder rückgängig gemacht werden kann.356 Und die These bei Vief ist − eine, wie ich meine, sehr weit- reichende These −, dass Reversibilität nur erreicht werden kann, indem zeitliche Vorgänge in Raum überführt werden. Eine techni- sche Übersetzungsleistung − die technische Umsetzung von Zeit in Raum − ist die Basis dafür, Reversibilität überhaupt realisieren zu können. 4. Reversibilität, Krämer Der Gedanke selbst ist nicht vollständig neu; vielmehr ist Reversi- bilität, die Möglichkeit, in die Zeitachse einzugreifen, in der Medientheorie an prominenter Stelle bereits diskutiert worden. So stellt Krämer 2004 ihre Darstellung des Kittlerschen Lebenswerks unter die Überschrift ‚Kulturtechniken der Zeitachsenmanipula- tion‘.357 Sie nimmt einen Begriff auf, der bei Kittler selbst eine Rolle spielt;358 neu allerdings ist, dass sie in diesem Konzept den verborgenen Drehpunkt des Kittlerschen Denkuniversums sieht. Medientechnik: die Umkehr von Zeitordnungen. Diese Frage [...] ist es, die ins Zentrum von Kittlers Denken führt und damit zu dem, was impulsgebend ist an seiner Weise, Mediengeschichte zu thema- tisieren. Seine Antwort zielt darauf ab, das Technische mit unserem Umgang mit Zeitlichkeit in einen konstitutiven Zusammenhang zu 356 Auf einem Bürgersteig in Frankfurt eine kleinere Menschenmenge; in der Mitte am Boden ein Mann, zwei Sanitäter und ein Notarzt bemühen sich um ihn. Auf meine Frage was passiert sei sagt jemand: „Ei, der war dood!“. 357 Krämer, Sybille: Friedrich Kittler − Kulturtechniken der Zeitachsenmanipula- tion. In: Lagaay, Alice; Lauer, David (Hg.): Medientheorien. Eine philosophi- sche Einführung. Frankfurt am Main/New York, NY, 2004, S. 201-224. 358 So etwa in dem Text: Kittler, Friedrich.: Real Time Analysis. Time Axis Manipulation. In: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 182-207 (EV: 1990). Und davor in ‚Grammophon, Film. Typewriter‘. (Auch Hase und Igel kommen bei Kittler vor, allerdings in einem etwas ande- ren Sinne: „Multitasking soll wie der Igel im Märchen den Benutzern vorspie- geln, daß nur ein einziger Igel oder Prozess läuft, vor allem aber, daß dieser Lauf oder Prozeß auch nur einem einzigen Hasen oder Benutzer zugute kommt.“ (K., F.: Protected Mode. In: ders.: Draculas Vermächtnis, a. a. O., S. 212)). 238 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT bringen. Eben diese Explikation des Technischen als Modalität von Zeitlichkeit ist der ‚springende Punkt‘.359 Krämer erläutert: Die Elementarerfahrung menschlicher Existenz − und das gilt gerade, weil der Mensch ein leibliches Wesen ist − ist die Irreversi- bilität der verfließenden Zeit. Die Technik nun ist das ‚Unterneh- men‘, genau diese Irreversibilität zu bannen. In der Medientechnik wird die Zeit selbst zu einer manipulierbaren Variablen. In der Epoche von Schrift und Buch wird die durch syntaktische Strukturen linearisierte ‚Zeit des Symbolischen‘ durch Verräum- lichung wiederholbar und ansatzweise auch umstellbar gemacht. Die Eigenart der Epoche der technischen Medien (vom Grammo- phon bis zum Computer) liegt darin, die ‚Zeit des Reellen‘, also jene Prozesse, die durch syntaktische Strukturen nicht fixierbar und also irreversibel, kontingent, chaotisch und singulär sind, als zeit- liches Geschehen speicherbar und zugleich auch manipulierbar zu machen. Datenverarbeitung nun ist jener Vorgang, bei dem durch Verfahren von Verräumlichung die Zeitordnung von Abläufen ver- rückbar und umkehrbar gemacht wird.360 Mit der Conclusio: Als Datenspeicherung wird [...] nur eine Technik akzeptiert, die mittels Verräumlichung die Voraussetzungen schafft, um das, was dieser räumlichen Anordnung eingeschrieben ist, auch anders ordnen zu können. Dies hat Konsequenzen für Kittlers Begriff der Speicherung. Speichern heißt nicht einfach Aufbewahren, sondern fällt zusammen mit dem Verräumlichen selbst. Wo immer gespei- chert wird, da muss ein Zeitprozess als Raumstruktur vergegen- ständlicht werden. Verräumlichen wird so zur Grundoperation, welche die beiden übrigen Funktionen von Datenverarbeitung, den Transport und die Verarbeitung, überhaupt erst möglich macht.361 5. Kittler Der Weg also führt zu Kittler und ins Jahr 1986 zurück; dort kom- men die entsprechenden Stellen eher unauffällig daher: Lange vor der Elektrifizierung der Medien […] standen bescheidene Geräte aus bloßer Mechanik. Sie konnten nicht verstärken, sie 359 Krämer, Friedrich Kittler, a. a. O., S. 206. 360 Ebd. (letzter Satz im Original kursiv). 361 Ebd., S. 211. KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 239 konnten nicht übertragen und haben doch Sinnesdaten zum ersten- mal speicherbar gemacht: der Stummfilm die Gesichte und Edisons Phonograph […] die Geräusche. […] Seit dieser Epochenschwelle gibt es Speicher, die akustische und optische Daten in ihrem Zeit- fluß selber festhalten und wiedergeben können. […] Was erst Phonograph und Kinematograph, die ihre Namen ja nicht umsonst vom Schreiben haben, speicherbar machten, war die Zeit: als Frequenzgemisch der Geräusche im Akustischen, als Bewegung der Einzelbildfolgen im Optischen. An der Zeit hat alle Kunst ihre Grenze. Sie muß den Datenfluß des Alltags erst einmal stillstellen, bevor er Bild oder Zeichen werden kann.362 Genau das ist die Funktion des Tonbandgeräts im Sound Processing. Schnitt und Abhörkontrolle machen das Unmanipulierbare so manipulierbar, wie das in den Künsten nur symbolische Ketten gewesen sind. […] Wenn Waters und Gilmour [Musiker der Band Pink Floyd] mit ihren Stimmen die hohen Töne von ‚Welcome To The Machine‘ nicht schafften, griffen sie einfach zu Time Axis Manipulation: Sie senkten das betreffende Bandstück beim Auf- nehmen um einen Halbton ab und hoben es beim Einkleben wieder an.363 Real Time Analysis.364 Ein Text von 1990 wird dann die programmatische Überschrift: ‚Real Time Analysis. Time Axis Manipulation.‘ tragen;365 und dort wird der Stellenwert des Arguments deutlicher: [Es] könnte der informations-theoretische Materialismus mit der These beginnen: Nur was schaltbar ist, ist überhaupt. Damit bleibt die gesprochene Sprache von vornherein außer Betracht; nach Hegels gnadenlosem Wort ist ‚der Ton ein Daseyn, das verschwin- det, indem es ist‘. Sicher, man kann auswendig lernen, um Gespro- chenes wiederzusagen oder wiederzusingen. Aber es dürfte schwer fallen, diese wiederholten Wörter in eine andere Ordnung zu brin- gen, etwa ohne jede Rücksicht auf Syntax von hinten nach vorn auf- zusagen. Genau das aber heißt Zeitachsenmanipulation, einen seri- ellen Datenstrom anders anzuordnen. […] Auf der Zeitachse laufen die Manipulationen Ordnen und Analysieren offenbar anders und schwieriger als im Raum. […] Zeitachsenmanipulation setzt also zu allererst voraus, zeitserielle Datenströme (zum Entsetzen der Philo- sophie) auf Raumkoordinaten beziehen zu können. […] Als histo- risch erste solcher Zeitmanipulationstechniken hat selbstredend die 362 Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 9f. (Schreibweise „zum erstenmal“ im Original; Hervorh. H. W.). 363 Ebd., S. 179 (Erg. u. Hervorh. H. W.), siehe auch S. 177ff. 364 Ebd., S. 166f. 365 Kittler, Friedrich: Real Time Analysis. Time Axis Manipulation. In: ders.: Draculas Vermächtnis. a. a. O., S. 182-207 (EV: 1990). 240 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Schrift figuriert. Zumal als Alphabet weisen Schriftzeichen jedem Element der zeitseriellen Redekette einen Raumplatz zu.366 Die Tatsache, dass man zumindest die erstgenannten Stellen durch- aus auch überlesen kann, macht klar, wie intelligent die Krämer- sche Deutung ist. Wo die meisten Leser Kittlers Präferenz für die Speichermedien367 auf seinen ‚Technikdeterminismus’ zurück- führen würden, liefert Krämer einen anspruchsvolleren Zugang, indem sie zeigt, dass es eigentlich um das Prozessieren geht. Speicherung wird als die systematische Basis verstanden, die Eingriffe und Manipulation allererst möglich macht. Letztlich interessant aber, das ist die Pointe der Rekonstruktion, ist nicht das Speichern sondern das Prozessieren. Klar ist damit auch die Traditionslinie, die die drei zitierten Autoren verbindet: Kittler hat das Verdienst, das Argument in die Welt gebracht zu haben (1986). 1992 greift Vief die These der Verräumlichung auf, um sie in der Folge systematisch in verschie- dene Richtungen auszubauen; Krämer, die den Viefschen Ansatz gut kennt und einen der einschlägigen Texte Viefs auf der eigenen Page veröffentlicht hat,368 macht 2004 den Vorschlag, das Kittler- sche Werk insgesamt auf den Begriff der Verräumlichung/Zeit- achsenmanipulation zu zentrieren. Was aber ist dann der Gewinn bei Vief? Sind nicht schon bei Kittler alle Elemente der These enthalten? Die Differenz besteht darin, dass Vief anders als Kittler an der Übertragung zumindest als Gegenbegriff festhält. Zeit ist bei Vief zweifach bestimmt. Einerseits geht es ‒ dies wäre Kittler, Vief und Krämer gemeinsam ‒ um Zeit, die ‚verräumlicht‘ wird, Basis dafür, dass die Daten reversibel gemacht und manipuliert werden können. Andererseits aber ist Vief auch an derjenigen Zeit interessiert, die die Übertra- gung benötigt. Nur an dieser Front macht das Bild vom Hasen und Igel überhaupt Sinn. Die Fragestellung gabelt sich damit auf, und mein Vorschlag wäre, die verschiedenen Stränge zunächst getrennt zu behandeln. Auf diese Weise mag das Problem komplizierter werden, Vief aber ist zugute zu halten, dass er es gleichzeitig tiefer legt. Setzen wir also zunächst bei der Übertragung an. 366 Ebd., S. 182f. (Hervorh. H. W.). 367 … ‚Aufschreibesysteme‘… 368 Vief, Transplantation im Digitalen, a. a. O. KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 241 6. Verräumlichung_1: Vief Geht man vom Hasen aus, ist ‚Raum‘ der geografische Raum, und Vief ging es darum, dass die Überwindung geografischer Distan- zen Zeit verbraucht. Die Alternative fand Vief im Igel-Prinzip: Der Zeitverlust kann verhindert werden, wenn nicht ein Exemplar zur Verfügung steht, sondern mehrere, die auf mehrere Orte verteilt sind. Ermöglicht wird dies durch die technische Reproduktion. Statt auf Zeit (Übertragung) setzt man nun auf räumliche Gleich- zeitigkeit; insofern kann man auch das Igel-Prinzip als eine ‚Ver- räumlichung‘ fassen. 7. Raum und Zeit Will man diesen Gedanken ausbauen und systematisieren, wird man die genannten Autoren verlassen und eine eigene Überlegung anstellen müssen. Als Startpunkt bietet sich ein Rückgriff auf Innis an, den anerkannten Spezialisten für Raum und Zeit in den Medien. Übertragung, hatte Innis gesagt, überwindet den Raum; völlig parallel will das Speichern die Zeit überwinden. überwindet Übertragen Raum Speichern Zeit Abb. 31 Der Hase nun zeigt, dass die Übertragung Zeit in Anspruch nimmt: überwindet verbraucht Übertragen Raum Zeit Speichern Zeit Abb. 32 Und klarer Weise, so kann man folgern, verbraucht das Speichern als Verräumlichung − Raum. Im Schema ergibt sich hieraus eine verblüffende, kreuzförmige Verschränkung: 242 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT überwindet verbraucht Übertragen Raum Zeit Speichern Zeit Raum Abb. 33 Dieses Schema ist neu, und scheint mir einigermaßen weitreichend zu sein. 8. Verzeitlichung Eine erste Stärke ist, dass Raum und Zeit vollständig gleichrangig/ symmetrisch erscheinen. Kann es also sein, dass beide äquivalent und wechselseitig ineinander verrechenbar sind? Dies würde be- deuten, dass man völlig parallel zur ‚Verräumlichung‘ den rezipro- ken Vorgang einer ‚Verzeitlichung‘ annehmen müsste. Auch dies ist bei Vief angelegt, der, obwohl sein eigenes Argu- ment in eine andere Richtung geht,369 ‚Verzeitlichung‘ am Beispiel der Digitalisierung von Bildern erläutert: Was passiert eigentlich, wenn [ein] Bild verzeitlicht wird? Was pas- siert mit dem Bild und mit der Zeit? Erstens, die Bildfläche wird in einzelne Punkte gerastert, und diese Punkte werden in die Form der Sukzession übertragen ‒ als Voraussetzung dafür, dass ich sie durch eine Datenleitung schicken und sie auf der anderen Seite des Globus’, auf einem anderen Kontinent, als ein Bild wieder zusammensetzen kann. Das heißt, ich übertrage Flächenpunkte ‒ das Bild existiert ja in der Fläche ‒ in etwas, das nicht Fläche ist. Ich übertrage es in Zeit- punkte, also in die Form der Sukzession, des Nacheinander. Auf der anderen Seite muss ich das Gegenteil machen, ich muß die Zeitpunkte wieder zusammensetzen in etwas, das nichts Zeitliches ist, nämlich in Flächenpunkte, um ein sinnvolles Bild entstehen zu lassen.370 Allerdings wird im Fernsehen der Binärcode schon vorbereitet. Wie 369 „In der Medientheorie hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff der Verzeitlichung des Bildes eingebürgert. Diesen Begriff der Verzeitlichung will ich in Frage stellen […]“. (Vief, Über die Unschärfe, a. a. O., S. 144). Die Gründe hierfür werden unten zu diskutieren sein. 370 Ebd., S. 144f. (im Original: das Bild). KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 243 im herkömmlichen Film muß das elektronische Bild, um laufen zu lernen, in Bild- und Zeitsegmente zerlegt werden.371 Bilder (d. h. räumliche Repräsentationen) werden digitalisiert, in- dem man sie erst in Zeilen und dann in eine lineare Abfolge binä- rer Einzelzeichen zerlegt. In diesem Sinne also ist Digitalisierung Verzeitlichung; und erst sie macht es möglich, Bilder als einen sukzessiven Datenstrom durch ein Kabel zu schicken. Wenn man also parallel zur ‚Verräumlichung‘ eine ‚Verzeit- lichung‘ zeigen kann, wäre mein Vorschlag, Zeit und Raum – zu- mindest zunächst einmal ‒ als äquivalent zu betrachten. Dann näm- lich entsteht eine Chance, die Medien insgesamt neu zu fassen: Zwänge scheinen keineswegs nur von der Zeit auszugehen, Grund für die Medien, diese durch ‚Verräumlichung‘ zu überwinden; sondern offensichtlich ebenso sehr vom Raum. Nicht nur die Zeit ist notorisch ‚knapp‘; Übertragung kann ökonomisch sein, wenn sie Zeit aufwendet, um knappen Raum, etwa für die redundante Speicherung, zu ersparen. Ist dies plausibel, wären Medien als Maschinen zu bestimmen, die zwischen Raum und Zeit souverän hin- und herwechseln, um die Zwänge der Zeit mit den Mitteln des Raums, und die Zwänge des Raums unter Einsatz von Zeit überwinden. 9. Verräumlichung_2: Speichern Sofort allerdings müssen an solch komfortablen Generalisierungen Zweifel entstehen. Denn liegen die Dinge im Konkreten nicht nach wie vor weit auseinander? Wenn gesagt wurde, dass Kittler eher auf das Prozessieren als auf das Speichern abhebt, fällt auf, dass das Prozessieren im entwickelten Schema noch gar nicht vor- kommt. Zudem differieren die Raum-Konzepte. Zwischen Kittlers Spei- chern/Prozessieren und Viefs Hasen liegt ein Maßstabssprung, wenn ‚Speichern‘ das Festschreiben von Daten an einem Ort, also eine lokale Operation meint, während ‚Übertragen‘ (Igel und Hase) gerade die Überwindung geografischer Distanzen zu fassen ver- sucht. Den Unterschied dieser beiden Räume habe ich oben bereits 371 Ebd., S. 144. 244 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT diskutiert.372 Und schließlich ist zu fragen, welcher Weg von hier aus zurück zum Kern des Igels, der technischen Reproduktion führt. 10. Zyklus Betrachten wir die Dinge näher. Wenn Kittler sagt, Speichern/Ver- räumlichung sei notwendig, um Daten aus der Zeit herauszulösen und sie ‒ Stichwort: Time Axis Manipulation ‒ umordnen und pro- zessieren zu können, so stellt die Verräumlichung offensichtlich nur einen ersten Schritt, hin zum Prozessieren, dar. Das Prozessieren selbst ist ein Prozess, der, wie das Übertragen, Zeit verbraucht. Prozessieren kann ich nur, was ich als Zeichen- komplex aufgelöst, also verflüssigt habe. Das Speichern dagegen wurde oben als eine Stillstellung beschrieben. Alles Prozesshafte kommt im Speicher zum Stillstand; der Speicher selbst ist Stase. (Weshalb Speichern hier als Verräumlichung gefasst wurde, die Raum verbraucht, nicht aber Zeit). Kennzeichnend für den Spei- cher ist seine Beharrungskraft; und das Gespeicherte wartet auf Abruf, auf Wiederverflüssigung; was erneute Übertragung oder erneutes Prozessieren bedeuten kann. Dies bedeutet, dass auf Spei- chern und Verräumlichung notwendig eine Wieder-Verzeitlichung folgt. Damit kehrt mein Argument zu jener Dialektik von Verflüssi- gung und Stillstellung zurück, die oben eines der zentralen Ergeb- nisse war.373 Was Vief als Verräumlichung und Verzeitlichung dis- kutiert, wird man sinnvoll auf die Wechselbeziehung von Verände- rung und Beharrung, Prozess und Stase beziehen müssen. 11. Zwei Wechselbeziehungen Dann allerdings fällt auf, dass es sich nicht um eine, sondern um zwei verschiedene Polaritäten handelt. Der Zyklus von Verflüssi- gung und Verfestigung wurde oben so dargestellt: 372 Kapitel 2.8, ,Raum des Textes, Raum der Geografie‘. 373 Kapitel 2.1, ,Relation der drei Medienfunktionen‘, S. 131. KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 245 Übertragen, Raumüberwindung oder Speichern, Überwind. der Zeit Ver- Verfestigung, Ver- flüssigung Stillstellung flüssigung Prozessieren, Eingr. Veränd. Produktidentität konstituiert Produktidentität aufgelöst Abb. 34: Verflüssigung, Verfestigung (Wdh. Abb. 14) Skizziert man Verräumlichung und Verzeitlichung nun in ver- gleichbarer Weise, sieht das Schema anders aus: Übertragen, Raumüberwind. oder Prozessieren, Eingr. Veränd. Ver- Ver- Ver- zeitlichung räumlichung Zeitlichung Speichern, Überwind. der Zeit Stase, verbraucht Raum Prozess, verbraucht Zeit Abb. 35: Verzeitlichung, Verräumlichung Offensichtlich also handelt es sich nicht um die gleiche Sache. Vor allem die Übertragung hat das Lager gewechselt; sie ist jetzt in die 246 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Nähe des Prozessierens gerückt. Es ist also wieder eine Frage der Perspektive, bzw. des Kriteriums, das man zur Ordnung verwendet; und je nach Kriterium ordnen sich die Medienfunktionen neu.374 Festzuhalten ist, dass Verräumlichung und Verzeitlichung, und Verflüssigung und Verfestigung in einem Zyklus verbunden und dialektisch aufeinander bezogen sind. Die Frage nach Raum und Zeit wird dadurch selbst prozessualisiert. Und es wird deutlich, dass das Mediale auch längs der Achse der Zeit, in einer Choreo- grafie festgelegter Abfolgen organisiert ist. Dies vor allem war gemeint, wenn ich eingangs gesagt habe, dass Viefs Hase einen Einblick in das strukturelle Funktionieren der Medien erlaubt. Hinter den konkreten Medienprozessen stehen offensichtlich Gesetzmäßigkeiten, die einen notwendig abstrakten Charakter haben. 12. Verräumlichung_3: Reversibilität, Probehandeln Und es gibt noch eine weitere Dimension, die ‒ auf einer ähnlich generellen Ebene ‒ für ein Verständnis der Medien wichtig ist: Schon Kittler/Krämer, vor allem aber Vief nämlich hatten, als einen Aspekt der Verräumlichung, das Stichwort der Reversibilität genannt. Der Kern wurde schon dargestellt: Während zeitliche Vorgänge irreversibel sind, erlaubt es erst der Trick der Verräum- lichung, diese eben doch reversibel zu machen; Time Axis Mani- pulation meint genau dies; die Zeitachse wird erst dann manipu- lierbar, wenn sie keine mehr ist; sondern projiziert wurde auf den Raum; Beispiel war die lineare Achse der Schrift, die im Raum dann beliebig re-arrangiert werden kann. In dieser Perspektive sind Zeit und Raum, Verräumlichung und Verzeitlichung keineswegs gleichrangig; Vief erklärt: Selbst wenn 374 Im Kapitel 2.6 habe ich vorgeschlagen drei solcher Perspektiven zu unterschei- den. Hierfür habe ich das Schema eines dreidimensionalen Raumes benutzt, den man aus der Sicht der drei Medienfunktionen jeweils unterschiedlich be- trachten kann (S. 196). In diesem Schema ist der skizzierte Unterschied bereits enthalten: Auch dort wurde gesagt, dass der Zyklus von Verflüssigung/Verfestigung das Prozessie- ren akzentuiert und die Differenz von Speichern und Übertragen zum Ver- schwinden bringt (Abb. 24, S. 201); wenn die Aufmerksamkeit sich aber auf Raum und Zeit (Verräumlichung und Verzeitlichung) richtet (Abb. 25, ebd.), fallen Übertragen und Prozessieren in eins. KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 247 auf die Verräumlichung eine Wieder-Verzeitlichung folgt (etwa um das Produkt über ein Kabel zu übertragen), ist das Entschei- dende immer schon geschehen; die Zeit ist nicht mehr die gleiche Zeit; nicht mehr vergleichbar zwingend; ihr Bann ist durch die erste Verräumlichung quasi gebrochen.375 Deshalb sieht Vief die Verräumlichung grundsätzlich privile- giert. Und dies ist die Basis dafür, dass seine Argumentation eine tiefgreifende Wendung nimmt, hin zu einer allgemeinen Theorie des Symbolischen, die, gestützt auf de Saussure und dessen Wert- theorie, die Funktionsweise zunächst des Geldes und daraus abge- leitet auch des Digitalen zu erklären beansprucht.376 Weg und Durchführung dieser Argumentation, dies sage ich offen, sind mir nicht plausibel.377 Den Kern des Arguments, die zu- grunde liegende Intuition aber würde ich teilen. Ich denke, dass es bei der ‚Verräumlichung‘ tatsächlich nicht um eine einzelne semio- tische Operation geht, die mit anderen semiotischen Operationen konkurriert, sondern letztlich tatsächlich um die Grundlagen des Symbolischen selbst. An dieser Stelle nun läuft das Argument der ‚Verräumlichung‘ auf einen Punkt zu, der mir besonders wichtig ist; und das Stich- wort selbst ist oben bereits gefallen: Ich habe an anderer Stelle den Vorschlag gemacht, das Symbolische als eine Sphäre des Probe- handelns zu definieren.378 Und Probehandeln bestimmt sich über ‒ 375 Vief, Die Inflation der Igel, a. a. O., S. 219f. 376 Ebd., S. 225ff. Der skizzierte Zusammenhang beschäftigt Vief schon seit lan- gem und er findet sich variiert in vielen seiner Texte (vgl. z. B. auch: ders.: Digitales Geld. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elek- tronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 117-146). 377 Mein Haupteinwand wäre, dass die räumliche Differenz (Übertragung, Hase) allzu schnell in die ‚reine‘ Differenz der Saussureschen Werttheorie und der In- formationstheorie überführt wird, ohne dass der Zusammenhang (und mögliche Unvereinbarkeiten) tatsächlich deutlich würden. Zudem teile ich Viefs Geldtheorie nicht, die Geld ebenfalls mit informationstheoretischen Mitteln zu beschreiben versucht, und Geld und Bits ‒ „die Bits sind reines Zeichengeld“ ‒ enger koppelt als mir dies möglich erscheint (ders.: Die Inflation der Igel, S. 229ff.; sowie ders.: Digitales Geld, a. a. O.). 378 Ich habe diesen Gedanken in einem Vortrag im Jahr 2000 erstmals vertreten (W., H.: How to do things with words, signs, machines. Performativität, Medien, Praxen, Computer. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, S. 97-112; in meinem Buch Diskursökonomie ist dies das 12. Kapitel (a. a. O., S. 215-230)); und eine systematische, wenn auch stark ver- kürzte Darstellung findet sich in meiner Medieneinführung (W., H.: Basiswissen Medien, a. a. O., S. 61-87). 248 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Reversibilität. Während das tatsächliche Handeln irreversible Folgen hat, schafft das Symbolische einen Raum, der Handlungen von tatsächlichen Folgen gezielt entkoppelt. Auf diese Weise sind Handlungen im symbolischen Raum reversibel; dies ist die Basis dafür, in der Sphäre des Symbolischen provisorisch, fiktional oder eben zur Probe zu handeln. Verräumlichung und Reversibilität haben damit einen vollständig anderen Stellenwert: In meiner Per- spektive ist es die Reversibilität, die Probehandeln von Handeln unterscheidet, und damit die Sphäre des Symbolischen von der des Tatsächlichen trennt. Innerhalb der Medienwissenschaften hat diese Definition bis- lang wenig Freunde gefunden;379 dennoch, denke ich, wird man sie stark machen müssen, weil sie Reversibilität und Verräumlichung eine zusätzliche Dimension und eine entscheidend neue Bedeutung gibt. Und für die These selbst lässt sich Unterstützung finden, denn sie ist im weiteren Feld der Kulturwissenschaften von sehr promi- nenten Autoren immer wieder vertreten worden. Ein erster Weg hin zum Symbolischen führt über den Begriff des Spiels. Hauptzeuge hier ist Huizinga, der das Spiel wesentlich über seine Abtrennung gegenüber dem Ernst der Alltagsvollzüge bestimmt.380 Das Spiel, schreibt Huizinga, sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer. Seine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bildet sein drittes Kennzeichen. […] Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne [!], die Filmleinwand [!], der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d. h. geweihter Boden; abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere eigene Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten 379 Die hauptsächliche Ursache scheint mir zu sein, dass die skizzierte Definition mit der gegenwärtig sehr dominanten These des Performativen kollidiert: Wäh- rend die Performativität thematisiert, dass auch symbolische Prozesse tatsäch- liche Konsequenzen haben, soll nun das Symbolische dadurch gekennzeichnet sein, dass es vom Tatsächlichen zielgerichtet entkoppelt ist? (Ich selbst übri- gens halte beide Thesen keineswegs für unvereinbar (W., H.: How to do things with words, a. a. O.)). Ein zweiter Grund ist sicherlich, dass semiotische Ansätze in der Medienwissenschaft allgemein wenig Konjunktur haben ... 380 Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1956 (EV: 1938). Eine konzise Zusammenfassung der Positionen findet sich in: Neitzel, Britta: Gespielte Geschichten, http://e-pub.uni-weimar.de/volltexte/ 2004/72/, S. 43-58, 26.12.2008. Auch der Bezug auf das Spiel mag zunächst kontraintuitiv erscheinen; denn haben mediale Prozesse am Ernst der Alltagsvollzüge nicht Teil? KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 249 innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen.381 Krämer entfaltet 1996 denselben Gedanken mit Bezug auf Bateson und verallgemeinert: „Wo gespielt wird, handeln wir symbo- lisch“;382 um 2005 dann, völlig parallel zur hier vertretenen Defini- tion, Spiel, Umkehrbarkeit und das Symbolische zusammenzu- führen: Worauf kann eine philosophische Reflexion des Spiels stoßen und was vermag sie offen zu legen? Es geht um Phänomen und Idee der Umkehrbarkeit. […] Es ist das symbolische Handeln, insbesondere der Gebrauch sprachlicher Zeichen, der mit der Unterscheidung zwischen einem Ding und seiner Bezeichnung, vor allem aber mit der einzig in der Sprache möglichen Verneinung, eine Welt der Um- kehrbarkeit eröffnet.383 Reversibilität spielt eine entscheidende Rolle auch bei Luhmann, der sich in einem berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Hand- lungsbegriff und den damit verbundenen Zeitstrukturen befasst.384 381 Huizinga, Homo Ludens, a. a. O., S. 17 (Hervorh. H. W.). 382 Krämer, Sybille: Die Eigensinnigkeit von Medien [1996], http://www.inf.fu- berlin.de/~ossnkopp/eignsinn.html, 20.2.1998. 383 Krämer, Sybille: Die Welt, ein Spiel? Über die Spielbewegung als Umkehrbar- keit. In: Deutsches Hygiene-Museum (Hg.): Spielen. Zwischen Rausch und Regel. Ostfildern-Ruit 2005, S. 11-19, hier: S. 15 (Hervorh. H. W.). Krämer schreibt weiter: „Wir führen unsere Existenz im Zeichen ihrer Unumkehrbarkeit. Gibt es nun Zusammenhänge zwischen der kulturellen Bedeutung reversibler Spielwelten und der existenziellen Bedeutung der Irreversibilität unseres Todes? Ist die in seinem Wiederholungscharakter wurzelnde Umkehrbarkeit von Leben und Sterben im Spiel auch eine Antwort auf die faktische Nichtumkehrbarkeit unserer gewöhnlichen Lebensvollzüge? Bildet also die spielerische Umkehrbar- keit die kulturelle Gegenwelt zu unserer existenziellen Unumkehrbarkeit?“ (Ebd., S. 16). Die Stelle ist vor allem deshalb hervorzuheben, weil Krämer in vielen ihrer Veröffentlichungen gerade die Gegenthese der Performativität ausgebaut und stark gemacht hat. 384 Luhmann, Niklas: Temporalstrukturen des Handlungssystems. In: ders.: Sozio- logische Aufklärung III, Opladen 1981, S. 126-150 (EV: 1980). Das Argument wurde oben schon angesprochen; Luhmann diskutiert zunächst die Irrever- sibilität der Zeit bezogen auf den Handlungsbegriff (ebd., S. 127ff.), um dann zu sagen: „Einen weiteren Schritt kann man tun, wenn man die Frage stellt, wie über Irreversibilität disponiert wird. Das Problem der Reversibilität / Irrever- sibilität liegt nicht primär in der Umkehrbarkeit / Unumkehrbarkeit objektiver Verläufe. Gemeint ist hier vielmehr ein Problem, das allen Sinnstrukturen im- manent ist: dass man zu Sinngehalten, die man im Verlauf des Erlebens und Handelns verlässt, indem man sich anderen zuwendet, zurückkehren kann; dass man sie in neuen Gegenwarten reaktualisieren kann […]. Die Differenz von Reversibilität und Irreversibilität [gehört] mit zu der Ordnungsleistung, die sie 250 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Eine dritte Linie schließlich betrifft den Begriff des Probe- handelns selbst. Dieser findet sich prominent bei Freud, der den Prozess des Denkens als ein Probehandeln beschreibt;385 und von dort aus bei Piaget, der das Konzept von Freud übernimmt und das kindliche Spiel als praktisches Ausprobieren/Probehandeln in den Mittelpunkt seiner Entwicklungspsychologie stellt.386 Weiter bei Bateson, der sich ebenfalls ausführlich mit dem Spiel beschäf- tigt,387 sowie etwa bei Goffman, der ausgehend vom abgegrenzten [,die Handlungssysteme‘] erbringen. Und gerade das, was sie durch Struktur- bildung der Vergänglichkeit des Moments entziehen, wird damit reversibel gemacht: Es dauert, man kann es also ändern. Anders als eine vereinfachte Ent- gegensetzung von Struktur und Prozeß es wahrhaben will, dient gerade die Strukturbildung dem Vorhalten von Änderungsmöglichkeiten, während als Prozeß die Verkettung der Ereignisse erscheint, sofern sie irreversibel wird. Strukturen dienen dem Aufbau von Reversibilität, Prozesse dem Erzeugen von Irreversibilität. Gerade umgekehrt, wie normalerweise angenommen wird, sind Strukturen also dynamischer als Prozesse“ (Ebd., S. 132f. (zweite Hervorh. H. W.)). 385 „Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen, ähnlich wie die Verschiebungen kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt.“ (Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Studienausgabe, Bd. 1, S. 447-608, hier S. 524 (EV: 1933) (siehe auch Anm. 1, ebd.)); oder, interes- santerweise mit Bezug auf Phantasie und Spiel: „Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Abfuhr (des Handelns) wurde durch den Denk- prozeß besorgt, welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung klei- nerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben. [...] Mit der Einsetzung des Realitätsprinzips wurde eine Art Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung frei gehalten und allein dem Lust- prinzip unterworfen blieb. Es ist dies das Phantasieren, welches bereits bei dem Spielen der Kinder [!] beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt die Anleh- nung an reale Objekte aufgibt.“ (Ders.: Formulierungen über die zwei Prinzi- pien des psychischen Geschehens. In: Studienausgabe, Bd. 3, S. 13-24, hier S. 20f. (EV: 1911) (Hervorh. H. W.)). 386 Piaget, Jean: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Ges. Werke, Bd. 1, Stuttgart 1996 (EV, frz.: 1959); siehe z. B. Kap. V.: „Die Entdeckung neuer Mittel durch aktives Ausprobieren“. Sowie: ders.: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Ges. Werke, Bd. 2, Stuttgart 1975 (EV, frz.: 1950). 387 „Das Charakteristische am ‚Spiel‘ ist, dass es sich dabei um einen Namen für Kontexte handelt, in denen die konstitutiven Handlungen eine andere Art von Relevanz und der Organisation besitzen als dieselben Handlungen im Nicht-Spiel haben würden.“ (Bateson, Gregory: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt am Main 1995, S. 158 (EV, am.: 1979). Siehe auch: ders.: The Message ,This is Play‘. In: Schaffner, Bertram (Hg.): Group Processes. (Josiah Macy, Jr., Foundation Proceedings, 1955). New York, NY, 1956, S. 145-242. KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 251 Raum des Theaters seine ‚Rahmen‘-Theorie der Erkenntnis und der Alltagsorientierung entwickelt.388 Reversibilität und Verräumlichung, dies ist mein Vorschlag, sind hieran anzuschließen. Wenn es plausibel ist, das Symbolische über das Probehandeln und damit über die Reversibilität zu be- stimmen, ist Reversibilität nicht mehr eine Eigenschaft der Schrift (gegenüber der gesprochenen Sprache) oder der technischen Spei- cher, sondern das entscheidende Kennzeichen, das symbolische von außersymbolischen Vorgängen trennt. Erst Reversibilität macht den spezifisch reflexiven Charakter des Symbolischen mög- lich. Aber verliert in dieser Ausweitung die Ausgangsfrage nicht jede Kontur? Ist es nicht gerade die Aufmerksamkeit für die materialen Speicher, die der Vief-, Krämer- und Kittler-These ihre Schubkraft verleiht? 13. Technische Reproduktion Kehren wir zurück zum Igel und zur technischen Reproduktion. War es doch ein Verdienst der Viefschen Überlegung, dass sie in der Lage schien, die technische Reproduktion, eine wichtige, in der Medientheorie bis dahin aber eigentümlich isolierte Kategorie, in das begriffliche Gebäude mit einzubinden. Innerhalb der angesprochenen Dialektik erscheint technische Reproduktion als ein Sonderfall. Wie kann es Sinn machen, Tausende, Zehn- oder Hundertausende von Exemplaren räumlich verteilt zu deponieren, nur um die Zeit zu sparen, die eine Über- tragung verbraucht? (Letztlich also um sofortigen Zugriff zu sichern?) Die Informationstheorie würde dies als einen Fall red- undanter Speicherung fassen, als Verstoß gegen das Gebot der 388 „Bei seinen Besuchen im Fleishacker-Zoo seit 1952 beobachtete Gregory Bate- son, daß Ottern nicht nur miteinander kämpfen sondern auch Kämpfe spielen.“ „So-Tun-als-ob. Damit meine ich eine Handlung, die für die Beteiligten eine offene Nachahmung oder Ausführung einer weniger transformierten Handlung ist, wobei man weiß, dass es zu keinerlei praktischen Folgen kommt.“ „Man geht davon aus, daß Schnitzer oder Versager ohne größeren Schaden und mit belehrender Wirkung eintreten können. Man hat es hier zu tun mit Blindläufen, Probesitzungen, Probeläufen […]“. (Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main 1977, S. 52, 60, 72 (EV, am.: 1974) (Schreibweise ‚Ottern‘ im Original)). 252 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Ökonomie; mit der Tendenz, diese Redundanz wie alle Redundanz früher oder später technisch zu eliminieren. Und die Medienentwicklung zeigt tatsächlich, dass zumindest die klassische Lösung, die Ablage materieller, redundanter Exem- plare, immer mehr an Bedeutung verliert. Beispiel sei noch einmal das WWW, das zumindest dem Prinzip nach jedes Angebot nur auf einem einzigen Server vorhält, wo es geduldig auf den Abruf durch den Nutzer (also die Übertragung) wartet; der Nutzer wird das Pro- dukt nur in Ausnahmefällen auf dem eigenen Rechner (redundant) speichern. Mediengeschichtlich also ist Übertragung an die Stelle der Speicherung getreten. Als hätte, ganz anders als im Märchen, am Ende doch noch der Hase gesiegt. Technische Basis für das WWW ist die Telegrafie, die die Produkte ‚entmaterialisiert‘ und eine Übertragung mit annähernd Lichtgeschwindigkeit möglich macht. Solange der Server also nicht, wie Vief sagte, auf dem Jupiter steht, bleibt der Widerstand der Übertragung in empirischen Grenzen gering; so gering, dass die Übertragung sich gegenüber der etablierten medienhistorischen Lösung (dem Zusammenspiel von technischer Reproduktion und räumlich verteilter, redundanter Speicherung) als überlegen er- weist. Zudem wäre einzuwenden, dass technische Reproduktion Vor- gänge der Übertragung keineswegs ersetzt. Vielmehr müssen die reproduzierten Exemplare, ehe sie räumlich verteilt zur Verfügung stehen, an diese verteilten Orte zunächst übertragen werden. Erst dann kann der Vorteil eines direkten (zeitfreien) Zugriffs greifen. Auch dies spricht dafür, dass es jeweils um eine Prozesskette, um ein Zusammenspiel von Übertragen und Speichern geht. Alles läuft insofern auf die Frage hinaus, wie das Verhältnis von Übertragen, Speichern und Prozessieren schlussendlich gedacht werden kann. Lässt sich aus dem Gesagten so etwas wie eine Con- clusio ziehen? 14. Schluss Basal, denke ich, ist diejenige Verräumlichung, die das Symbo- lische konstituiert. Hier hat Vief recht: alles was danach an Opera- tionen stattfinden mag, kann nur an Material stattfinden, das dem Kontinuum der Zeit entrissen ist und für solche Operationen bereit- KAPITEL 3.1 VIEFS HASE 253 steht. Alle Folgeoperationen finden mit symbolischem Material und im Raum des Symbolischen statt. Insofern hat dieser Typ von Verräumlichung tatsächlich ein Privileg; ihm steht keine Verzeit- lichung gegenüber, die vergleichbare Wirkung hätte. Die Zeitachse ist, wie gesagt wurde, entmächtigt, symbolische Prozesse mögen Prozesse sein (und Zeit brauchen), vergleichbar dramatisch irrever- sibel wie die Zeit außerhalb des Symbolischen ist diese Zeit nicht. Innerhalb des Raums des Symbolischen allerdings scheinen Verzeitlichung und Verräumlichung reziproke, aufeinander bezo- gene Vorgänge zu sein. Eingebunden in einen Zyklus sind sie aufeinander verwiesen; der Zyklus selbst oszilliert zwischen Pro- zess und Stase, Übertragen/Prozessieren und Speicher/Beharrung. Dieser Zyklus ist die eigentliche Maschine, die es zu begreifen gilt. Er macht Verräumlichung/Verzeitlichung und Übertragen/ Speichern/Prozessieren zu abhängigen Begriffen, deren Verhältnis nur funktional, in Relation zueinander geklärt werden kann. Zum einen, das wäre die erste Ordnungsleistung, verkettet der Zyklus die Begriffe zu einer Sequenz; sie stellen Phasen dar, die auf regelhafte Weise verbunden sind und deren Abfolge nicht will- kürlich ist. Verräumlichung zielt auf Speichern, Verzeitlichung zielt auf Übertragung oder Prozessieren ab; vom Gesamtprozess her betrachtet erscheint jede Verräumlichung/Verzeitlichung nur als ein Schritt. Zum Zweiten sei an die kreuzförmige Verschränkung erinnert: Übertragung überwindet Raum und verbraucht Zeit, Speicherung überwindet Zeit und verbraucht Raum. Raum ist hierbei doppelt bestimmt: der Raum, den die Übertragung überwindet, ist ein großer, geografischer Raum, der Raum, den der Speicher in An- spruch nimmt, (im Ideallfall) ein kleiner, lokaler. In der techni- schen Reproduktion erscheinen beide verbunden: Exemplare wer- den im geografischen Raum räumlich verteilt, das einzelne Exem- plar vor Ort funktioniert als lokaler Speicher. Zum Dritten geht es um Substitution. Übertragen, Speichern und Prozessieren, auch dies wurde oben bereits gesagt, scheinen sich wechselseitig substituieren zu können, auch wenn dies zunächst kontraintuitiv ist und ihrer Verkettung im Phasenmodell zunächst widerspricht. Dies war im WWW-Beispiel deutlich geworden, wo die Übertragung (der Hase) den Igel der technischen Reproduktion eben doch distanzierte. Raum und Zeit sind gleichermaßen knappe Ressourcen; je nachdem, welche knapper ist, kann eine technische 254 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Lösung offensichtlich auf die weniger knappe ausweichen. Die These der Substitution ist besonders interessant, gerade weil sie dem Augenschein widerspricht, der Übertragen, Speichern und Prozessieren als irreduzibele, qualitativ unterschiedliche Katego- rien ansehen würde, als Mechanismen, die ‒ technisch wie inhalt- lich ‒ völlig unterschiedlichen Regeln folgen. Und schließlich dürfte klar geworden sein, dass die These der Verräumlichung nicht eigentlich eine einzelne, kohärente These ist; vielmehr lohnt es, ihre verschiedenen Varianten zu unterschei- den. Wirklich Sinn aber, behaupte ich, macht die These erst auf dem Hintergrund der hier versuchten Systematisierung, wenn man die begriffliche Trias auf die Dialektik von Prozess und Stase zu- rückführt. Erst dann treten die entscheidenden Strukturen hervor. Ich gebe zu, dass auch dies zunächst nur einige wenige Zusam- menhänge im fraglichen Feld erhellt. Das Feld selbst aber, das sich auftut, erscheint mir tatsächlich neu. Und dies ist erstaunlich genug, bedenkt man, dass es sich um Grundbegriffe des Faches handelt. Kapitel 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? Raum und Zeit auf der Mikroebene der Chips 1. Intro Das folgende Kapitel soll klären, was Prozessieren im Computer bedeutet; und zwar nicht mehr generell auf der Ebene der Model- lierung, sondern technisch konkret auf der Ebene der Prozessoren. Die Frage ist innerhalb der Kulturwissenschaften sicher prekär. Muss ein Kulturwissenschaftler wissen, wie der Prozessor seines Computers funktioniert? Hat er/sie überhaupt die Chance dazu, wenn Prozessor-Chips heute bis zu zwei Milliarden Transistoren enthalten? Können die Kulturwissenschaften der technischen In- formatik auf deren Terrain folgen? Alle drei Fragen muss man wahrscheinlich verneinen. Wenn es im Folgenden dennoch um die Funktionsweise von Prozessoren geht, dann weil das Erkenntnisinteresse der Kultur- wissenschaften ein anderes als das der Ingenieurwissenschaften ist. Zum einen geht der Begriff des ‚Prozessierens‘, wann immer er in den Medienwissenschaften gebraucht wird, auf die Erfahrung des Computers zurück. Übertragen auf andere Medien ist er eine Metapher; Grund genug, sich für den technischen Kern, von dem sie ausgeht, zu interessieren und die Berechtigung für die metapho- rische Übertragung zu prüfen. Zum Zweiten kann man sagen, dass Computerprozessoren einen ausgesprochen privilegierten Ort im Netz der Diskurse besetzen. Prozessoren tun, was üblicherweise nur Subjekte tun: Sie handeln. Programmiert handeln sie zunächst nach Vor-Schrift, im Auftrag der Subjekte als ihre Agenten;389 gleichzeitig aber treten sie – als Agen- ten – an deren Stelle. Und sie gewinnen Agency, klarer und direkter 389 Agent und Bote sind Thema bei Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 256 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT als Latour dies für eine Anzahl anderer technischer Dinge zeigte.390 Prozessoren arbeiten mit und an Symbolen, was bis dahin ebenfalls ein Privileg der Menschen war;391 und sie formen Diskursinhalte um, ohne zu deren Kern, der ‚Bedeutung‘, den geringsten Zugang zu haben. Und schließlich fungieren sie, wieder wie die Subjekte, als Relais; sie bilden Knoten im Netz, über die die Diskurse laufen. An Prozessoren kann man studieren, dass alle symbolischen Prozesse mit Zeit zu tun haben; und wie diese mit der Räumlich- keit der Speicher und der Übertragung notwendig interagiert. Weiter, dass es neben Inhalten (Daten) immer um Steuern/Befeh- len und um Adressen geht. Und schließlich, wie es möglich war, Logik, ursprünglich ein Teil der Sprache, in Hardware zu gießen. Als man Prozessoren zu bauen begann, war man gezwungen diese Probleme auf der Ebene der Technik zu lösen, Probleme, die auf anderer Ebene m. E. keineswegs völlig durchdrungen sind. Das Machen und das reibungslose Funktionieren gingen dem begriff- lichen Verstehen voran. All dies macht Prozessoren zu einem in- teressanten Gegenstand für die Kulturwissenschaft und lässt es lohnend erscheinen, angeleitet durch die technische Informatik in die Technik ein wenig einzutauchen. Von dort aus gilt es An- schluss zu finden an jene Begriffe, in denen die Medien- und Kulturwissenschaft ihre Fragen artikuliert. In diesem Sinne geht es auch um eine Übersetzung; eine Übersetzung, die dem Übersetzten etwas hinzufügt und die technische Implementierung auch auf ihre Bedeutung befragt. 2. Materialisierte Logik Prozessoren sind Maschinen im Wortsinn;392 anders als übliche Maschinen, die es mit Energie und Materie zu tun haben, aber 390 Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Eine Einfüh- rung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 (EV, am.: 2005). 391 Werkzeug- und Symbolgebrauch bestimmen – zumindest traditionell –‚den Menschen‘ in Absetzung von der Natur. 392 „[M]achine, device, having a unique purpose, that augments or replaces human or animal effort for the accomplishment of physical tasks. This broad category encompasses such simple devices as the lever, wedge, wheel and axle, pulley, and screw (the five so-called simple machines) as well as such complex mecha- nical systems as the modern automobile. The operation of a machine may involve the transformation of chemical, thermal, electrical, or nuclear energy KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 257 operieren Prozessoren im Symbolischen: Sie formen – mit Hilfe von Energie – Zeichen/Signale in neue Zeichen um. Bei Maschinen allgemein muss man unterscheiden zwischen innerer Struktur und Laufzeitverhalten. Ihre innere Struktur erhält die Maschine im Prozess ihrer Herstellung. Dies kann man als einen Prozess materieller Einschreibung verstehen, als eine Phase der Präparation. Erst wenn diese abgeschlossen ist, kann die Nutzung der Maschine beginnen. In der Phase der Nutzung wird die Maschine selbst Einschreibungen (am Material oder an Sym- bolen) vornehmen. Beide Phasen sind sauber voneinander getrennt. Die Struktur der Maschine bestimmt das Laufzeitverhalten. Faktisch bestehen Prozessoren aus einer großen Menge von Schaltern. Diese Schalter haben die Besonderheit, dass sie Strom nicht nur schalten, sondern durch Strom auch geschaltet werden.393 In der Computergeschichte nutzte man zunächst Relais, wo ein Elektromagnet, sobald er Strom bekommt, einen mechanischen Schalter betätigt. Später Schalttransistoren, die statt mechanischer Teile sogenannte Halbleiter (Silizium) verwenden; aus Schalttran- sistoren kann man bistabile Schaltungen aufbauen, die man ‚Flip- flops‘ nennt,394 und schließlich ICs (Integrierte Schaltkreise), die eine große Zahl von Transistoren auf einem Chip zusammenfassen. Strom mit Strom zu schalten macht es möglich, die Schalter zu verketten und komplexe Strukturen aus ihnen zu errichten. Grund- lage dieser Strukturen ist die formale Logik; und der eigentliche into mechanical energy, or vice versa, or its function may simply be to modify and transmit forces and motions. All machines have an input, an output, and a transforming or modifying and transmitting device.“ (Encylopedia Britannica online: [Stichwort: Machine]), http://www.britannica.com/EBchecked/topic/ 354611/machine, 12.10.2010. 393 Die folgende Darstellung orientiert sich an: - Schiffmann, Wolfram; Schmitz, Robert: Technische Informatik. Bd. 1: Grundlagen der digitalen Elektronik. und Bd. 2: Grundlagen der Computer- technik. Berlin: Springe r 1992 (im Folgenden: Sch./Sch.). - Becker, Bernd; Drechsler, Rolf; Molitor, Paul: Technische Informatik. Eine Einführung. München: Pearson 2005. - Hoffmann, Dirk W.: Grundlagen der Technischen Informatik. München: Hanser 2010. - Richter, Christian: Einführung in Aufbau und Funktionsweise von Mikro- prozessoren (2005), http://www.ch-r.de/et/nue-atmmk-mikroprozessoren.pdf, 15.9.2010. Bei diesem beispielhaft kompakten und verständlichen Text handelt es sich um eine Semesterarbeit der TU Berlin. 394 Vgl.: Dennhardt, Robert: Die Flipflop-Legende und das Digitale. Berlin: Kad- mos 2009. 258 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Sprung hin zu den Computern, vermittelt über eine lange Ge- schichte von Rechenmaschinen, war die Entdeckung der Möglich- keit, die Funktionen der Logik zu mechanisieren.395 Die einfachsten Beispiele sind ‚Und‘ und ‚Oder‘: Schaltet man zwei Schalter in Reihe, müssen beide geschlossen sein, damit der Strom fließt; auf diese Weise kann man das logische ‚Und‘ realisieren. Ordnet man die Schalter parallel an, reicht es aus, wenn einer der beiden Schal- ter geschlossen ist, und es ergibt sich das logische ‚Oder‘. Die for- male Logik operiert mit Bedingungsgefügen; und wer Prozessoren herstellt, schreibt Bedingungsgefüge in Silizium ein. Aus Sicht der Kulturwissenschaften ist interessant, dass die formale Logik ursprünglich integraler Bestandteil der Sprache war. Innerhalb der Sprache sind es vor allem Strukturen der Syntax – Abfolge, und/oder, Wenn-dann-Bedingungen, Verweise, Verzwei- gungen, Schleifen –, die die logische Struktur tragen. Die formale Logik hat diesen strukturellen Kern aus der Sprache herausgelöst, ‚gereinigt‘ und eben formalisiert; und sie hat eine eigene Schrift, ein System für die Notation logischer Strukturen entwickelt. End- punkt der Formalisierung war der Brückenschlag zur Mathematik, in der Integration von Logik und Arithmetik, und im Kriterium der Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit, die nur die Mathematik, nicht aber die natürliche Sprache kennt. Neben den Zahlen ist also auch die Logik, wie Flusser schreibt, „ausgewandert aus dem alphanumerischen Code“.396 Der eigentliche Sprung aber, wie gesagt, trat ein, als die logi- schen Strukturen nicht mehr in Schrift, sondern nun in Mecha- nik/Elektronik umgesetzt wurden; logische Strukturen zielten nicht mehr auf ein menschliches Gegenüber ab, darauf, menschliche Gedanken, Argumentationen oder Weltbilder zu ordnen, und es war nicht mehr allein die menschliche Praxis, die sie in Bewegung versetzte: Man konnte logische Strukturen nun von Maschinen durchspielen lassen. Das Wort war Fleisch geworden und begann 395 Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 73ff. 396 Flusser, Vilém: Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code. In: Matejovski, Dirk; Kittler, Friedrich (Hg.): Literatur im Informations- zeitalter. Frankfurt am Main/New York, NY: Campus 1996, S. 9-14. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 259 unter uns zu wohnen.397 Da die Maschine das Programm ohne weiteren Eingriff ausführt, sprach man von einem ‚Automaten‘. 3. Schaltnetze Prozessoren sind Maschinen, die zwei widersprüchliche Bestim- mungen miteinander verknüpfen: Sie sollen so offen und universell wie möglich sein, anders könnte der Computer nicht zur ‚uni- versalen diskreten Maschine‘ werden.398 Und zweitens geht es darum, konkrete Probleme mit seiner Hilfe zu lösen. Dies wird möglich, indem das Programm aus der ‚universalen’ eine spezielle Maschine macht. In beiden Fällen geht es um Einschreibung: Strukturen können entweder in die Hardware oder in die Software eingeschrieben werden; und beide Formen der Einschreibung konkurrieren: Je spezialisierter die Hardware ist, desto schneller kann sie prozessie- ren. In der Geschichte der Computer wurde das Verhältnis beider Ebenen immer wieder neu definiert. Das Programm stellt die Schalter des Prozessors auf das zu lösende Problem ein. Die Schalter sind zu sogenannten ‚Schalt- netzen‘ zusammengefasst, die arbeitsteilig spezielle Funktionen er- füllen und in ihrer Gesamtheit den Prozessor bilden.399 Schaltnetze sind eine Art Blackbox; sie haben jeweils einen Eingang und einen Ausgang (oder mehrere Ein- und Ausgänge); sie rechnen den Wert, der am Eingang anliegt, um, und stellen das Ergebnis am Ausgang bereit. Das einzelne Schaltnetz kann hoch speziell und nur für eine ein- zige Funktion ausgelegt sein; Beispiel sei ein Addierer, der jeweils zwei Eingänge für die Summanden hat und am Ausgang immer die Summe bereitstellt. Die meisten Schaltnetze aber lassen mehrere Formen der Verarbeitung zu; hier wird die gewünschte Funktion 397 Lutherbibel 1912, Johannes 1:14; http://www.bibel-online.net/buch/43.johannes /1.html#1,15, 12.10.2010. 398 Turing, Alan: Über berechenbare Zahlen mit einer Anwendung auf das Ent- scheidungsproblem. In: ders.: Intelligence Service. Berlin 1987, S.17-60, hier: S. 31ff. (EV, engl.: 1937); ders.: Rechenmaschinen und Intelligenz. In: ders.: Intelligence Service. Berlin 1987, S. 147-182, S. 156ff. (EV, engl.: 1950). Die Frage, ob der Computer tatsächlich Universalität beanspruchen kann, ist viel diskutiert worden. 399 Sch./Sch., Bd. 1, S. 149ff. 260 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT gewählt, indem das Schaltnetz Steuerimpulse über einen eigenen, speziellen Eingang erhält. Schaltnetze, deren Funktion man um- schalten kann, werden Arithmetic Logic Units (ALUs) genannt.400 Das Programm also steuert, welches Schaltnetz benutzt oder welche Funktion des Schaltnetzes ausgewählt wird. Hiervon hängt ab, in welcher Weise die Eingangsdaten in die Ausgangsdaten um- geformt werden. 4. Ausführen Wichtig nun ist es, die Zeitachse mitzubetrachten. Sobald ein Pro- gramm nämlich ausgeführt wird, ist die Arbeit eines einzelnen Schaltnetzes nur ein einzelner Schritt. Die Verarbeitung im Rech- ner geschieht schrittweise, streng sequenziell; und Schritt für Schritt arbeitet der Prozessor die im Programm niedergelegten Vorschriften ab. Von Schritt zu Schritt ändert sich damit der innere Zustand der Maschine; dies gilt sowohl für die Spezifikation der logischen Struktur, d. h. die Stellung der Schalter, die die Wege für den nächsten Schritt der Verarbeitung bahnen, als auch für die Daten, die der Prozessor von außen erhält oder die Resultat vorangegan- gener Verarbeitungsschritte sind. Sobald man von einem ‚Zustand‘ spricht – dies ist interessant –, erscheint das Prozesshafte, das den Prozessor ausmacht, stillge- stellt. Und in der Tat bedeutet ‚schrittweise‘, dass der Prozessor zwischen Dynamik/Verarbeitung und Stase wechselt. Dies nun hat verschiedene Aspekte, die einzeln diskutiert werden sollen. Der erste ist, dass der einzelne Verarbeitungsschritt Zeit braucht; zwar extrem wenig Zeit, weil die elektronischen Schalter massefrei arbeiten, dennoch aber so viel Zeit, dass es einen Unterschied macht, ob eine Berechnung 4 oder 16 Schritte benötigt.401 In Rech- nern sind alle Vorgänge zeitkritisch. Was schlimm ist: Während die Berechnung läuft, ist der elek- tronische Zustand nicht stabil; es treten am Ausgang sogenannte ‚Hazards‘ auf, die dem Ergebnis in keiner Weise entsprechen.402 400 Sch./Sch., Bd. 2, S. 24ff. 401 Sch./Sch. betonen, dass z. B. Ripple Carry Addierer, Schieberegister oder Mehr-Bit-Komparatoren mehrere Takte Zeit brauchen (Bd. 1, S. 182, 194). 402 Sch./Sch., Bd. 1, S. 204f. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 261 Und noch schlimmer: Auf der Mikroebene der tatsächlichen Stromflüsse sind die Signale nicht einmal ‚digital‘: Schaltet ein Schalter um, schwingt der Strom keineswegs senkrecht hoch, son- dern mit einer empirischen Laufzeit im Nanosekundenbereich; die Flanke des Signals also ist nicht senkrecht, sondern steigt schräg an; ebenso fällt sie beim Abschalten keineswegs senkrecht ab. Ein stabiler Zustand also ist erst dann gegeben, wenn all diese analo- gen Wirrungen durchlaufen sind. Und erst dann kann der Ausgang des Schaltnetzes abgefragt werden. 5. Prozessieren / Speichern Der zweite Aspekt, der mit Blick auf die Zeit wichtig ist, ist die Einbeziehung von Speichern. Das Schaltnetz arbeitet rein präsen- tisch;403 allenfalls kann man sagen, dass die Schalterstellung selbst eine Art Speicher ist, weil sie zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte logische Struktur und eben nicht eine andere repräsentiert. Dane- ben aber sind Prozessoren auf Speicher im eigentlichen Sinn an- gewiesen, die Elemente des Programms oder Daten bereitstellen, Zwischenergebnisse festhalten und die Ergebnisse/Outputs auf- nehmen. Diese Speicher sind strikt hierarchisiert. Einige sind in den Pro- zessorchip selbst integriert; durch die räumliche Nähe sind sie schnell ansprechbar, und man verwendet Speicher, die selbst sehr schnell arbeiten. Sogenannte ‚Register‘ nehmen Daten auf, die der Prozessor sofort wieder braucht; ‚Caches‘, ebenfalls Teil des Pro- zessors, dienen als Puffer für Eingabe- und Ausgabeoperationen. Da diese Bausteine teuer sind und der Platz im Prozessor knapp, sind diese Speicher in ihrer Größe beschränkt. Der wichtigste Speicher, auf den der Prozessor zurückgreift, ist der Arbeitsspeicher. Dieser liegt außerhalb des Prozessors und ist mit diesem über ein Bündel paralleler Leitungen, den ‚Bus‘, ver- bunden. Er besteht ebenfalls ausschließlich aus Chips, enthält also keine mechanischen Teile; und er ist immer noch relativ schnell, wenn auch signifikant langsamer als Register oder Caches; weil er viel billiger ist, kann er entsprechend größer sein. Für die dauer- 403 „[E]in Schaltnetz [hält] keinerlei Zustandsinformationen. Der Ausgangswert ist nur von den Eingangsoperanden abhängig und nicht von eventuellen vorheri- gen Operationen (Gedächtnislosigkeit).“ (Richter, a. a. O., S. 15). 262 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT hafte Speicherung von Daten gibt es im Hintergrund des Rechners z. B. Festplatten. 6. Wechselwirkung Prozessoren also sind nicht nur die Schaltnetze allein; sie sind ‚Schaltwerke‘, die Schaltnetze (Systeme justierbarer Schalter) und Speicherglieder miteinander verbinden. „Allen Schaltwerken ge- meinsam“, schreiben Schiffmann/Schmitz, ist die Rückkopplung Speicherglieder → Schaltnetz und Schaltnetz → Speicherglieder. Der Ausgang der Speicherglieder wirkt auf das Schaltnetz und ein Teil-Ausgang des Schaltnetzes wirkt auf die Speicherglieder. Dadurch entsteht ein Wirkgefüge mit Kreisstruk- tur.404 Und weiter: In der DIN-Norm wird ein Schaltwerk folgendermaßen beschrieben (40300/89): ‚Schaltwerk – eine Funktionseinheit zum Verarbeiten von Schaltvariablen, wobei der Wert am Ausgang zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängt von den Werten am Eingang zu diesem und endlich vielen vorangegangenen Zeitpunkten.‘ Man kann also sagen: Der Zustand am Ausgang zu einem bestimmten Zeitpunkt hängt ab vom inneren Zustand und dem Wert am Ein- gang.405 Der jeweilige ‚Zustand‘ des Schaltwerks also ist durch die Inhalte der Speicherglieder bestimmt; und die Stellung der Schalter und die Werte am Eingang müssen zumindest so lange stabil sein, wie der Verarbeitungsschritt läuft. Und wenn oben gesagt wurde, dass der Prozessor zwischen Arbeit und Stillstand, Prozess und Stase oszilliert, so macht erst der Speicheraspekt des Prozessors – das kurzfristige Einfrieren der Schalter und die Beharrung der Spei- cherglieder – eine Stase überhaupt möglich. 404 Sch./Sch., Bd. 1, S. 237. 405 Ebd. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 263 7. Takt Nun wird deutlich, was es heißt, dass der Prozessor ‚schrittweise‘ arbeitet; und es wird wichtig, dass dem Prozessor ein Takt vorge- geben ist: „Der Übergang von einem stabilen Zustand in einen stabilen Folgezustand erfolgt synchron mit dem Taktsignal, des- halb die Bezeichnung Synchrone Schaltwerke.“406 Der Taktimpuls wird dem Prozessor von außen, von einer Art Quarzuhr geliefert; er gibt vor, wann das Schaltnetz seinen stabilen Zustand erreicht haben muss, und dient dazu, alle Vorgänge im Prozessor zu syn- chronisieren. „Durch das Taktsignal wird in äquidistanten Zeit- punkten das Wirkgefüge der Kreisstruktur unterbrochen, ange- halten (gespeichert)“,407 was es möglich macht, den zu diesem Zeit- punkt vorhandenen inneren Zustand zu lesen. Die Taktpause muß größer sein als die Signallaufzeiten durch das Schaltnetz [...]. Dann sind alle Hazards im Schaltnetz abgelaufen und der [Folgezustand] ist stabil, wenn mit der steigenden Takt- flanke, dem Abtastzeitpunkt, [das Ergebnis] in die Master-Flipflops übernommen wird.408 Erst der Takt, so könnte man sagen, macht aus dem Prozessor eine digitale Maschine. Er stanzt distinkte ‚Zustände‘ aus dem Fluss der Zeit heraus. Und erst wenn die Maschine steht, bzw. sich selbst als stehend interpretiert, kann sie sich „lesen“409 und den nächsten Ver- arbeitungszyklus beginnen. Der Takt schafft die gemeinsame zeitliche Referenz, auf die sich alle Vorgänge im Prozessor beziehen. Da es bei einer linearen Ver- arbeitung vor allem um Folgeverhältnisse geht, muss klar sein, wann ein Vorgang abgeschlossen ist; und dies umso mehr, als bestimmte Berechnungen nicht nur einen, sondern mehrere Takte brauchen, und das Programm auf sogenannte Mikroprogramme zurückgreift, die ebenfalls mehrere Takte in Anspruch nehmen. 406 Ebd. 407 Ebd. 408 Ebd., S. 238f. (im Original etwas ingenieurmäßiger formuliert: „Folgezustands- vektor Z(t n+1)“ und „Z(t n+1)“) (Hervorh. H. W.). 409 ... Ich übernehme die Formulierung aus dem Zitat ... 264 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT 8. Linear / parallel Rechner und Prozessoren folgen dem Prinzip einer strikten Linea- rität; zu jedem Zeitpunkt ist der Prozessor zunächst nur mit einer einzigen Aufgabe befasst, alle Statements des Programms werden in linearer Folge abgearbeitet. Dies schreibt die sogenannte ‚Von- Neumann-Architektur‘ vor, nach der die meisten der gegenwär- tigen Computer konstruiert sind.410 Mediengeschichtlich ist der Rechner damit ein Kind der Schrift, die ihre Zeichen ebenfalls ent- lang nur einer Raumachse reiht. Für die Computer bedeutet dies, dass eventuell riesige Quanti- täten von Daten – wie das berühmte Kamel – durch das Nadelöhr der linearen Verarbeitung gepeitscht werden müssen; für ein ein- zelnes digitales Foto können dies leicht 100 Millionen Bit sein, im Fall von hochauflösendem Fernsehen 1 Milliarde Bit pro Sekunde. Man hat dies möglich gemacht, indem man die Geschwindigkeit, mit der die Prozessoren arbeiten, kontinuierlich erhöht hat, so dass ein normaler Büro-PC gegenwärtig mit einer Taktfrequenz von ca. 3 Gigahertz (d. h. 3 Milliarden Takten pro Sekunde) operiert. Hier stößt die Weiterentwicklung an physikalische Grenzen;411 mit der Taktfrequenz (und der Dichte der Schaltungen auf dem Chip) steigt vor allem die Arbeitstemperatur der Prozessoren stark an; diese Wärme muss abgeführt werden, weshalb es Alu-Kühler, 410 „Von-Neumann-Systeme gehören nach der Flynnschen Klassifikation zur Klasse der SISD-Architekturen (Single Instruction, Single Data), im Unter- schied zur Parallelverarbeitung. Die Von-Neumann-Architektur bildet die Grundlage für die Arbeitsweise der meisten heute bekannten Computer.“ (Wikipedia: [Stichwort: Von-Neumann-Architektur], http://de.wikipedia.org/ wiki/Von-Neumann-Architektur, 2.7.2013). 411 „Der einfachste Ansatz, um die Ausführung von Befehlen zu beschleunigen ist es, die Taktfrequenz des Prozessors zu erhöhen. Da mit jedem Takt ein Mikro- schritt ausgeführt wird, bedeutet eine höhere Taktfrequenz natürlich auch mehr ausgeführte Befehle pro Sekunde. [...] Die Taktfrequenz läßt sich jedoch nicht beliebig steigern. Das hat vor allem drei Gründe: die endliche Ausbreitungs- geschwindigkeit der Signale, die begrenzte Schaltgeschwindigkeit der Tran- sistoren und die Verlustleistung [der Stromverbrauch] der gesamten Schaltung. [...] Ohne an dieser Stelle auf den genauen Aufbau [...] einzugehen, läßt sich sagen, daß die Verlustleistung [...] linear mit der Taktfrequenz [...] ansteigt. Ein [...] Transistor der mit 2 GHz schaltet setzt also doppelt soviel Leistung um, wie einer der nur mit 1 GHz schaltet. Hinzu kommt die Tendenz, die Anzahl der Transistoren in modernen Prozessoren immer weiter zu erhöhen, so daß selbst kleine Erhöhungen des Pro-Transistor-Verbrauchs zu immer höheren Verlustleistungen führen.“ (Richter, a. a. O., S. 28 (Erg. H. W.)). KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 265 laute Gebläse und inzwischen auch wassergekühlte PCs gibt. Große Serverfarmen, die eventuell mehrere Zehntausend Rechner in einer Halle betreiben, haben ein ernstes Wärme-, Energie- und Stromkostenproblem;412 und der Energieverbrauch sorgt dafür, dass die Computertechnik – ganz im Gegensatz zum sauberen Image des Digitalen – alles andere als eine ökologische Technik ist. Die Von-Neumann-Architektur also sieht eine strenge Linearität in der Abfolge vor. Betrachtet man die tatsächliche Entwicklung der Prozessoren allerdings findet man – einigermaßen verblüffend – nahezu alle Arten von Parallelität: [D]urch parallel geschaltete Operations-Schaltnetze oder durch ver- drahtete Algorithmen [kann] die Zahl der Verarbeitungsschritte zur Lösung einer bestimmten Aufgabe verringert werden. Alle moder- nen Computer nutzen diese Hardware-Parallelität in irgendeiner Form.413 So werden Schaltnetze vervielfacht, um nicht einzelne Bits, sondern, wann immer möglich, Bytes oder ‚Worte‘ parallel zu ver- arbeiten,414 der Datenbus ist bis zu 64 Bit breit, Teilaufgaben werden zeitlich parallel von Hilfsprozessoren erledigt, und – ganz banal – brauchte ein gegenwärtiger Prozessor nicht 2 Milliarden Transistoren, wenn zu jedem Zeitpunkt nur jeweils einer davon in Arbeit wäre. Organisatorisch bedeutet dies, dass all diese Vorgän- ge durch den Takt synchronisiert werden müssen, was das Zeit- management im Prozessor zu einer ernsten Aufgabe macht. 412 Ein interessantes, wenn auch spezielles Beispiel sind die Google Serverfarmen, die nach einer Schätzung weltweit mehr als 450.000 [!] Rechner enthalten. „Servers are commodity-class x86 PCs running customized versions of Linux. The goal is to purchase CPU generations that offer the best performance per dollar, not absolute performance. Estimates of the power required for over 450,000 servers range upwards of 20 megawatts, which cost on the order of US$2 million per month in electricity charges.“ (Wikipedia: Google platform; http://en.wikipedia.org/wiki/ Google_platform#cite_note-google_arch-1, 26.10.2010); ob hier die Kosten für die Klimatisierung eingerechnet wurden, geht aus dem Text nicht hervor. 413 Sch./Sch., Bd. 2, S. 66. 414 „Nun sind die Operatoren in Wirklichkeit natürlich nicht nur einfache boolsche Werte sondern binäre Zahlen, die aus mehreren Bits bestehen. Es müssen also entsprechend viele 1-Bit-ALUs parallel geschaltet werden. Die Inhalte der Register werden an den Eingang des Schaltnetzes angelegt. Jedes Bit eines sol- chen Operanden ist ein Eingangswert für eine 1-Bit-ALU. Die [...] Steuerleitun- gen sind mit jeder von ihnen verbunden, so daß alle die gleiche Operation aus- führen.“ (Richter, a. a. O., S. 15). 266 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT 9. Verräumlichung Wenn beim Arbeiten der Prozessoren Schaltnetze mit Speicher- gliedern interagieren, wenn es also jeweils um Zyklen von Pro- zessieren und Speichern geht, dann ist eine der interessantesten Fragen, wie die zeitliche Logik der Prozesse und die räumliche der Speicher vermittelt sind. Alle Speicherelemente sind 3-dimensional-solide, räumliche Anordnungen. Die Miniaturisierung und die Tatsache, dass man Bits nicht sehen kann, entziehen dies der Wahrnehmung; und ein Speicherchip, der 1 Milliarde Bit (125 Millionen Zeichen) auf- nimmt, sieht aus wie ein Käfer und ist wenige Millimeter lang. Dennoch aber findet jedes Bit, das gespeichert wird, einen tatsäch- lichen Ort im tatsächlichen 3-dimensionalen Raum. Physikalisch kombiniert jede Speicherstelle einen Kondensator, der das Bit aufnimmt, und einen Transistor, der den Schreib- und Lesevorgang schaltet.415 Diese Speicherstellen sind zu einer Matrix aus Zeilen und Spalten zusammengefasst; eine solche Matrix ist z. B. 1024 Bit breit und enthält ebenso viele Zeilen. Die elektrische Verschaltung der Matrix ist denkbar einfach: pro Zeile gibt es jeweils nur eine Leitung, die alle Speicherzellen miteinander ver- bindet, und senkrecht jeweils eine für jede Spalte. Die erste wird ‚Wortleitung‘, die zweite ‚Bitleitung‘ genannt. Soll der Inhalt des Speichers nun ausgelesen werden, geschieht dies in zwei Schritten. Zunächst wird eine Speicherzeile ‚aktiviert‘: Eine Zeile wird ausgewählt und die entsprechende Wortleitung der Matrix bekommt Strom; dies bringt die Schalttransistoren dazu, den Speicherinhalt der Zeile in einen Zwischenspeicher am Fuß der Matrix zu schreiben. In einem zweiten Schritt werden die Spalten ausgewählt, die ausgelesen werden sollen, indem man Strom auf die entsprechenden Bitleitungen gibt. Die ausgewählten Bits werden an den Ausgang des Chips übergeben. Das Speichern, also das Einschreiben von Daten, kehrt den Vorgang um. Ein- und Ausgabe im Speicher nun – dies ist wichtig – verlaufen sequenziell. Tatsächlich aber bedeutet dies, dass beim Einschrei- ben der Daten ein zeitlich-sequenzieller Datenstrom in ein räum- liches Nebeneinander umgesetzt werden muss. An der Schwelle 415 Die Funktionsweise von Speichern erklärt Wikipedia besser als die genannten Einführungen: http://de.wikipedia.org/wiki/Dynamic_Random_Access_Memory, 15.10.2010. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 267 zum Speicher also findet eine Verräumlichung statt. Zeit wird in Raum umcodiert. Beim Auslesen umgekehrt Raum in Zeit. Materiell übernehmen diese Aufgabe sogenannte ‚Schieberegis- ter‘, die hereinkommende Daten so lange weiterreichen, bis eine ganze Speicherzeile gefüllt ist.416 Die Notwendigkeit, die Logik des Seriellen in eine parallele und die des Parallelen in eine serielle umzusetzen, tritt in Prozessoren an den verschiedensten Stellen auf; so z. B. wenn Register ausgewählt oder ein bestimmter Aus- gang eines Schaltnetzes abgefragt werden sollen. Hierfür setzt man sogenannte Multiplexer und De-Multiplexer ein: „Ein Multiplexer ist ein auswählendes Schaltnetz. Über Steuereingänge wird einer von mehreren Dateneingängen auf den Ausgang durchgeschal- tet.“417 Und letztlich leistet jeder elektronische Schalter eine Ver- räumlichung: er setzt ein Ereignis (den schaltenden Strom) in einen Zustand (die Stellung des Schalters) um. Auswahl ist ein Akt, die ausgewählte Option aber eine Frage der Topologie, z. B. der konkret gewählten Leitung. Wenn der Unter- titel meines Textes ankündigt, dass es nicht ums Prozessieren all- gemein, sondern speziell um Zeit- und Raumverhältnisse geht, ist dies tatsächlich ein zentraler Punkt. Denn nun wird deutlich, dass Prozessoren keineswegs, wie man denken könnte, ausschließlich einer prozessualen Logik folgen; Prozessoren sind vielmehr Maschinen, die zwischen der Logik des Ereignisses und der der räumlichen Anordnung ständig vermitteln. In der Wechselbeziehung zwischen Schaltnetz und Speicher- gliedern (Prozess und Stase) kündigte sich dies an; erst auf der Ebene der konkreten Schaltvorgänge allerdings wird deutlich, dass hier die eigentliche Pointe liegt. 10. Refreshing Geht man ins technische Detail, sind die Verhältnisse noch kom- plizierter. So müssen die Daten, wenn sie aus dem Speicher aus- gelesen werden, elektronisch verstärkt werden, damit Ladung und Information überhaupt sicher zu identifizieren sind. Parallel wird die Information in den Speicher selbst zurückgeschrieben, weil das Auslesen die Speicherkondensatoren teilweise entleert. 416 Sch./Sch., Bd. 2, S. 207. 417 Sch./Sch., Bd. 1, S. 186 (Hervorh. H. W.). 268 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Und mehr noch: die meisten der genannten Speicher (bis auf Festplatte, SRAM und Flashspeicher, wie sie z. B. in USB-Sticks verbaut werden) sind ‚volatil‘. Das heißt, dass die Ladung keines- wegs permanent, sondern flüchtig ist, weil sich der Kondensator, auch wenn er nicht ausgelesen wird, durch Leckströme entleert; die Information also würde verschwinden. Der Speicherinhalt bleibt deshalb nur dann konstant, wenn er in kurzen Abständen aufge- frischt wird. „Dazu wird jeweils eine Speicherzeile in einem Schritt in einen auf dem Chip befindlichen Zeilenpuffer übertragen und von dort verstärkt wieder zurück in die Speicherzeile geschrie- ben.“418 Dieses Refreshing ist alle 32 Millisekunden nötig, geschieht also für den gesamten Speicher ca. 30 Mal pro Sekunde.419 Passender- weise spricht man deshalb von ‚dynamischen‘ Speichern, was das Bild von Stase und Prozess weiter differenziert. 11. Adressen Wenn Speicher als Matrix organisiert werden, dann weil jede Speicherstelle eine eindeutige Adresse braucht, unter der sie ange- sprochen werden kann. Das Netz von Wort- und Bitleitungen gewährleistet dies nach der einfachen Logik eines Koordinaten- systems; und dem Speicher ist ein Adress-Decoder vorgeschaltet, der die symbolische Adresse, die das Programm liefert, in die kon- krete Speicherstelle der Hardware übersetzt. Gleichzeitig aber stellt sich das Problem allgemeiner, und eigentlich bei allem, was der Prozessor tut: Er muss wissen, wo er im Programm steht, wo die nächste Programmzeile zu finden ist, in welchem Register ein mögliches Zwischenergebnis abgelegt wurde und wohin er den Output schreiben soll. Der Prozessor managt also nicht allein Programmbefehle und Daten, sondern parallel dazu jeweils ein komplexes System von Adressinformationen. Und in der Tat ist die Maschinensprache so aufgebaut, dass jedes Statement neben dem eigentlichen Programmbefehl auch die dazugehörigen Adress-Informationen enthält. Bestimmte Rechner sehen – bauartbedingt – eine einzige Adresse vor (hole Daten von ...; schreibe Daten nach ...); was zur Folge hat, dass eine ein- 418 Wikipedia, Dynamic_Random_Access_Memory, a. a. O. 419 Ebd.; siehe auch Sch./Sch., Bd. 2, S. 199, 203. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 269 fache Addition drei Takte, zwei für das Heranschaffen der Sum- manden und einen für das Schreiben des Ergebnisses, braucht. Sind dies wie bei den meisten heutigen Maschinen drei Adressen pro Befehl, kann dieselbe Operation in einem einzigen Takt ausge- führt werden.420 Der Preis dafür ist, dass die innere Komplexität der Maschine zunimmt. Ebenso unterscheiden sich Rechner in ihrem Adressbereich, und es gibt 8, 16, 32 und 64 Bit breite Adressen. Wie viel Bit die Adresse hat, bestimmt darüber, wie groß der Speicherbereich ist, der adressiert werden kann; alle Hardwarekomponenten – Adressbus, Adressregister, Schaltnetze – müssen die entsprechende Breite haben. 12. Steuern Die Befehle des Programms werden im sogenannten Leitwerk des Prozessors verarbeitet. Dieses holt die Befehle aus dem Speicher, lädt sie in die Ablaufsteuerung, und steuert in einem Zyklus von Holen und Ausführen das schrittweise Abarbeiten des Programms.421 Das Leitwerk ist der Chef im Prozessor, der bestimmt, was das Rechenwerk tut, und welche Daten von welcher Speicherstelle geholt werden. Jeder Steuerbefehl ist mit der Adresse der dazugehörigen Daten verbunden. Gleichzeitig aber hat jeder Steuerbefehl selbst eine Adresse, zunächst eine Adresse im Speicher, ohne die das Leit- werk ihn nicht auffinden könnte, und dann in der Ablaufsteuerung selbst, wo ein Instructionpointer auf den nächsten auszuführenden Befehl zeigt. Prozessoren also kennen drei verschiedene Arten von Daten: Steuersignale, Adressinformationen und Daten. Und mit all diesen Daten wird jeweils gerechnet, der Prozessor muss alle parallel pro- zessieren; ist ein Befehl abgearbeitet, z. B. muss der Stackpointer erhöht oder vermindert werden, und [b]ei allen Maschinenbefehlen muß sowohl eine Adreßrechnung mit dem Programmzähler oder anderen Adreßregistern als auch eine Datenrechnung mit den Operanden durchgeführt werden. Für diese 420 Ebd., S. 41f. 421 Ebd., S. 25. 270 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Adreßrechnungen wird meist eine zusätzliche ALU [Arithmetisch- Logische Einheit] vorgesehen.422 Für alle drei Arten von Daten gibt es eine eigene materielle Infra- struktur: Datenleitungen, Adress- und Steuerleitungen (Daten-, Adress- und Steuerbus) sind voneinander getrennt, (weiter gibt es Leitungen für die Stromversorgung der Komponenten);423 und häufig trennt man Daten-, Adress- und Steuerregister.424 Nur im Hauptspeicher, dies ist interessant, liegen Befehle und Daten meist nebeneinander. Worum es sich handelt, kann das Leitwerk nur über die Adressen unterscheiden. 13. Beschränkung aufs Syntaktische, Schreiben und Lesen So verblüffend es ist, was Computern leisten, so klar wird man feststellen müssen, dass alles, was Prozessoren tun und können, Operationen auf der Ebene des Syntaktischen sind. Prozessoren sind auf arithmetische und logische Operationen vollständig einge- schränkt. Auf der materiellen Ebene werden – abhängig von der Stellung anderer Schalter – Schalter gesetzt, Strom fließt, oder er fließt zu einem erwarteten Zeitpunkt nicht, es tickt eine Quarzuhr; Speicher werden ‚gelesen‘, d. h. ihre Ladung steuert das Setzen neuer Schalter, oder es wird in Speicher geschrieben. Und das eigentlich Spektakuläre ist, dass es möglich war, die Verknüpfung von Daten, Logik und Arithmetik auf diese sehr simplen Vorgänge niederzubrechen. Alles, was sich im Rechner abspielt, kann auf Vorgänge des Schreibens und des Lesens reduziert werden. Sofern man beides wieder auf rein mechanische Weise versteht: ‚Schreiben‘ als die Übertragung von Daten an einen bestimmten physischen Ort, eine Adresse, und die Stillstellung dieser Daten in einem Speicher, der die Daten, und sei es nur einen Takt lang, bewahrt. Das ‚Lesen‘ als das Auffinden von Daten an einer Adresse des Speichers, ihre Rückgewinnung und ebenfalls eine räumliche Übertragung. Das Setzen der Schalter kann man ebenfalls als eine ‚Einschrei- bung‘ fassen; und ebenso die Verknüpfung von Daten, die im Prozess des Prozessierens geschieht und ohne die es keine Verän- 422 Ebd., S. 41 (Erg. H. W.). 423 Ebd., S. 24ff. 424 Ebd., S. 30. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 271 derung gäbe. Mit der Besonderheit, dass das Geschriebene selbst zu schreiben beginnt. Die Ausführung des Programms als ein fort- währendes ‚Lesen‘ der Schalter, einer Struktur, die bestimmt, wie sie sich im nächsten Takt selbst um-, fort- und weiterschreiben, und damit verändern wird. Die Besonderheit also besteht darin, dass Schrift sich hier rekursiv auf sich selbst bezieht. Schrift schreibt sich selbst, und in jedem Zyklus ‒ rekursiv ‒ in sich zu- rück. Im Resultat bedeutet dies, dass im Fall des Computerprozessors Prozessieren in Speichern und Übertragen besteht. Bei Kittler ein gleichrangiger Begriff neben Speichern und Übertragen, löst sich das Prozessieren – aus der Nähe betrachtet – in Übertragen und Speichern auf. 14. Input / Output, Telegrafie Der Prozessor ist der zentrale Baustein des Rechners, um ihn herum gruppiert sich eine in die Tiefe gestaffelte Peripherie. Der Hauptspeicher bereits ist ein eigener Baustein; er ist auf dem Motherboard platziert und über den Bus mit dem Prozessor verbunden. Weiter hängen am Bus all diejenigen Schnittstellen, die für die Datenübertragung verantwortlich sind: die Graphikchips für die Darstellung auf dem Bildschirm, Sound, Controller für die Festplatte, und die Andienung der Stecker, die zu externen Geräten führen. All diese Bausteine haben ihrerseits wieder eine Adresse, unter der der Prozessor sie finden und ansprechen kann. In diesem Netz geht es um Kommunikation. Oder anders und besser: Da es schon im Prozessor selbst um nichts anderes geht als um das Wechselspiel von Übertragen und Speichern, setzt sich die- ses Wechselspiel nun auf neuer Ebene, außerhalb des Prozessor- chips fort. Auf diese Weise kann man ein System von Horizonten entwerfen, das von innen nach außen führt: aus der Sicht des Pro- zessors sind die Register ‚nah‘, der Hauptspeicher bereits weiter weg und die Festplatte ‚fern‘. Und es unterscheidet sich die Ge- schwindigkeit, mit der adressiert, übertragen und verarbeitet wird: Signale breiten sich im Chip typischerweise mit 50 %-70 % der Lichtgeschwindigkeit aus. Bei einer momentan durchaus möglichen Frequenz von 3 GHz dauert ein Takt nur noch 0,33 Nanosekunden. In dieser Zeit legt das Signal gerade einmal 5 bis 7 cm zurück. Bei momentanen Chipgrößen mit Kantenlängen von maximal 1 bis 2 cm 272 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT ist das noch nicht kritisch. Interessant wird es jedoch bei der äuße- ren Beschaltung. Komponenten die weiter entfernt vom Prozessor liegen (wie z. B. der Speicher), müssen zwangsläufig mit einer ge- ringeren Frequenz arbeiten.425 Im Prozessor selbst sind die Wege kurz und die elektronischen Schalter schnell; und auch die Speicherregister sind schnell, aller- dings klein, teuer und flüchtig/instabil. Je weiter nach ‚außen‘ man geht, desto drastischer nimmt die Geschwindigkeit ab.426 Die Fest- platte als ein dauerhafter Speicher bereits enthält mechanische Teile, die im Vergleich zur Elektronik geradezu atemberaubend träge sind. Und hinter einem der Stecker – dies ist die Pointe der Vorstel- lung gestaffelter Horizonte –, liegt das Internet, das letztlich selbst nichts anderes als ein System adressierbarer Speicher ist.427 15. Schluss Was nun also hat dieser Durchgang durch die Medientechnik der Prozessoren gebracht? Die erste Einsicht wäre, dass es sich um ein vollständig ‚mechanisches‘ Universum handelt. Der Computer löst alles, was er tut, in Vorgänge des Schreibens und Lesens, des Übertragens und Speicherns auf. Übertragen und Speichern sind in drastischer Weise materielle, räumlich/zeitliche Vorgänge – im Kontrast zu der verbreiteten Meinung, der Computer sei durch eine ‚Immaterialisierung‘ gekennzeichnet. Dies kollidiert mit der Vorstellung, dass Prozessieren Formver- änderung, Umformen sei. Wenn man chemische Substanzen pro- zessiert, ist dies sicher der Fall, und die Produktionstechnik kennt Formveränderungen, die tief in das Prozessierte eingreifen und die irreversibel sind. Ebenso gibt es irreversible Formveränderungen auch in der Sphäre des Symbolischen. Wenn ein Filmer sein Mate- 425 Richter, a. a. O., S. 28. 426 Zugriffszeiten auf verschiedene Speicher: - Register: < 1 Nanosekunde (= 0,000.000.001 Sek) - Cache: wenige Nanosekunden (= 0,000.000.005 Sek) - Arbeitsspeicher: 60-70 Nanosekunden (= 0,000.000.06 Sek) - Flash/USB-Stick: 250 Mikrosekunden (= 0,000.25 Sek) - Festplatte: 9 Millisekunden (= 0,009 Sek). (Wikipedia: Zugriffszeit; http://de.wikipedia.org/wiki/Zugriffszeit, 26.10.2010). 427 Siehe Kapitel ‚Der Computer – Ein Kind der Telegrafie‘. KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 273 rial entwickelt,428 ist dies ein chemischer Prozess, der das ästhe- tische Resultat mitbestimmt und der nicht wiederholt oder umge- kehrt werden kann. Und noch mehr, wenn die Gruppe „Schmelz- dahin“ Experimentalfilme in die Erde eingräbt, sie dort drei Mona- te lagern lässt, und erst dann projiziert. In diesem Fall arbeiten die Mikroben der Verrottung am ästhetischen Resultat mit.429 Spezifikum der Computer wäre, dass exakt diese Bestimmung nicht gilt. Wenn Prozessieren hier Lesen und Schreiben, Übertra- gen und Speichern ist, dann ist diese Formveränderung keineswegs irreversibel. Und das Material ist eigentlich nicht verformbar, son- dern starr elementiert und Gegenstand von Umordnungsprozessen. Das zweite Ergebnis scheint mir zu sein, dass der Prozessor dazu zwingt, das Verhältnis von Diskurs und technischer ‚Basis‘, Äußerungspraxen und technisch-medialer Infrastruktur ein weite- res Mal zu bedenken. Keineswegs nämlich geht die technische Infrastruktur den Praxen der Nutzung einfach voran: Klar ist, dass die Chips gebrannt werden, bevor der erste Strom fließt. Signifi- kanter als dies aber ist die Tatsache, dass der Prozessor sich im Vollzug des Programms sukzessive umbaut; dass die Form der Maschine abhängig ist vom Programm, und zwar nicht im Symbo- lischen, sondern auf der Ebene der Technik selbst, in der Stellung der Schalter. Und weiter abhängig von jedem Schritt des Pro- gramms, so dass Vollzug und Äußerungspraxis in die Form der Maschine zurückschreiben. Die Schrift der Computer ist die erste Schrift, die sich schreibt. Sie ist nicht nur, wie Krämer richtig sagt, eine Befehlsschrift, die ihre eigene Ausführung steuert,430 sondern sie beugt sich rekursiv auf sich selbst zurück, indem sie die Schalter setzt, die sie dann 428 „Definition of PROCESS: [...] 2a : to subject to a special process or treatment (as in the course of manufacture or film development [!])“. Webster online: process; http://www.merriam-webster.com/dictionary/process, 21.10.2010 (Hervorh. H. W.). 429 http://www.filmalchemist.de/schmelzfilms.html, 21.10.2010. 430 Krämer, Sybille: Operative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informatik. In: Schefe, Peter; Hastedt, Heiner; Dittrich Yvonne (Hg.): Informa- tik und Philosophie. Mannheim: BI-Wissenschaftsverlag 1993, S. 69-84. - dies.: Kalküle als Repräsentationen. Zur Genese des operativen Symbol- gebrauches in der Neuzeit. In: Rheinberger, Hans-Jörg; Hagner, Michael; Wah- ring-Schmidt, Bettina (Hg.): Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie 1997, S. 112-122. - dies.: Operationsraum Schrift. Ein Perspektivenwechsel im Schriftverständnis. In: Grube, Gernot; Kogge, Werner; Krämer, Sybille (Hg.): Schrift. Kulturtech- nik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink 2005, S. 13-32. 274 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT liest. Und gleichzeitig muss man das Argument begrenzen, denn der Prozess findet im Programm seine äußere Grenze. Und die Phantasie der Kybernetik, die Zyklen könnten diesen Rahmen ver- lassen und ‚schöpferisch‘werden, bleibt Phantasie. Das Dritte wäre sicherlich die herausragende Rolle der Adresse. Adressen sind zunächst ein Organisationsmittel, das den Raum des Speichers gliedert; Adressen gehören der Sphäre des Symbolischen an, sie sind Repräsentationen, die auf eine bestimmte Stelle im Raum zeigen. Gleichzeitig stellen Adressen das räumliche Ziel für die Übertragungsvorgänge dar. Sie sind Vorentwurf einer Über- tragung, die erst in der Zukunft stattfinden wird; Adressen also greifen vor, sind selbst Pro-gramm. Wenn Prozessieren bedeutet, dass der Rechner zwischen Über- tragen und Speichern ständig oszilliert, so scheint die Adresse eine der Instanzen zu sein, die zwischen Prozess und Stase (Zeit und Raum) vermitteln. In einer allgemeinen Logistik der Medien könnte der Adresse eine strategische Position zukommen. Und schließlich noch einmal die Rolle der Zeit. Der Prozessor trägt das Pro-zedieren im Namen, und es ist tautologisch zu sagen, dass alle Abläufe im Prozessor zeitgebunden und zeitkritisch sind. Zeit ist die knappste Ressource. Die verbreitete Rhetorik von Immaterialisierung und ‚Echtzeit‘ steht dem entgegen, die elektro- nischen Schalter aber brauchen Zeit, bis sie geschaltet haben, die Kondensatoren für das Laden und Entladen; und lange Leitungen mehr als kurze (!); hier schreibt der Raum in die Zeitverhältnisse zurück und räumliche Nähe, ‚Horizont‘, bekommt wieder Bedeu- tung. Die strikte Linearisierung der Von-Neumann-Architektur schafft das Nadelöhr. Die Uhr schlägt den Takt, und der Fluss im Prozes- sor ist an die Stase der Speicher gebunden. Der Prozessor muss jeweils warten, bis er sich lesen kann. Der Takt, der die Zeit quan- tisiert und zu einer Folge von ‚Zuständen‘ vereindeutigt, bremst die Maschine gleichzeitig aus. Dem allen wird durch immer mehr Geschwindigkeit, immer mehr Gigahertz (und immer mehr Küh- lung) entgegengesteuert, das aber ist ein Brute-Force-Ansatz, der notwendig zu einer Grenze kommt; andere Ansätze, wie die Paral- lelisierung, reagieren darauf und probieren neue Raum/Zeit- Verhältnisse aus. Raum und Zeit also hängen auch in der ‚immateriellen‘ Welt der Prozessoren zusammen. Die Übertragung (die Überwindung des KAPITEL 3.2 WAS TUT EIN PROZESSOR? 275 Raums) kostet Zeit, und die Überwindung der Zeit kostet Speicher- Raum. Der wichtigste Punkt allerdings scheint mir der Folgende zu sein. Zumindest aus der Sicht der Medien- und Kulturwissenschaft muss verblüffen, dass – auf einer sehr abstrakten Stufe der Be- schreibung – Prozessoren im Kleinen tun, was sich im Makroraum der Diskurse im Großen vollzieht: Diskurse (und Medien) bilden ein Netzwerk, das symbolische Ereignisse (Äußerungen) mit Strukturen bzw. Reifizierungen (Technik, Infrastruktur, Sprache, Wissen) verbindet; und Vorgänge der Übertragung auf systema- tische Weise auf ein System von Speichern bezieht. Ereignisse, Vorgänge sind zeitgebunden; sie verbrauchen Zeit und sind flüch- tig; d. h. sie wären flüchtig, würden sie sich nicht mit ihrem Ande- ren, den Speichern verbinden. Strukturen und Speicher gehorchen einer Logik des Raums; und räumlich codiert bilden sie ein Bollwerk gegen die Zeit. Sie nehmen die Beharrungskraft der 3-dimensionalen Materie in An- spruch und sorgen für Stillstellung und Kontinuierung. Vorgänge sind auf Speicher (Zeit auf Raum) und Speicher sind auf Vorgänge verwiesen. Wenn es diese Mikro-Makro-Entsprechung tatsächlich gibt, so steht bislang völlig dahin, was diese – auf der Ebene einer Analyse von Kulturtechniken – tatsächlich heißt. Hier nun sind verschie- dene Deutungen möglich: Die erste wäre, dass die Prozessoren imitieren, was ihre Konstrukteure im Umraum der Diskurse vor- finden; eine weitgehend unbewusste Imitation, weil die Mecha- nismen auf Diskurs-Ebene bislang keineswegs völlig verstanden sind, und eine Imitation, die das Imitierte auf das Level des Mechanischen reduziert und die weit komplexeren diskursiven Vorgänge sicher nicht ausschöpft. Die Prozessoren wären eine Art mimetischer Maschinen; und dies wäre umso bemerkenswerter, als der Metadiskurs, der den Status der Computer zu klären versucht, den Rechnern jede mimetische Dimension abspricht. Die zweite Deutung wäre skeptischer und würde betonen, dass die Imitation zunächst nur in einer Richtung verläuft: Rechner imitieren Diskurse, dies aber heißt keineswegs, dass die technische Implementierung das, was sich auf der Ebene der Diskurse ab- spielt, angemessen repräsentiert. Dasselbe gilt für den mit ihr ver- bundenen Begriffsapparat; denn zweifellos kann sich der Eindruck einer Entsprechung auch dem verwendeten Vokabular, den Begrif- 276 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT fen verdanken. Ist es überhaupt möglich, nötig und berechtigt, wenn es um Kommunikation außerhalb der Computer geht, von Übertragungsvorgängen und Speichern zu sprechen? Oder sitzt diese Sprechweise bereits der These auf, immer in Gefahr, Kultur auf Kulturtechniken, und diese auf Technik zu reduzieren? Je ernster man die Differenz nimmt, desto klarer treten die mechani- schen Vorgänge im Rechner und die weit komplexeren im diskur- siven Raum auseinander. Die dritte Deutung wäre ein Kompromiss; denn es wäre mög- lich, dass der mimetische Nachbau das Nachgebaute zwar verfehlt, dass es aber dennoch möglich ist, vom verfehlten (missratenen?) Nachbau zu lernen. Denn vollständig missraten kann dieser Nach- bau nicht sein, anders wäre es nicht denkbar, dass Prozessoren, in- zwischen tief in die Architektur der tatsächlichen Diskurse einge- lassen, immer mehr Funktion übernehmen. Mit Blick auf die Prozessoren ist diese Frage nicht zu entschei- den. Die Medien- und Kulturwissenschaft aber wird sie entschei- den müssen, wenn sie verstehen will, was der Ort des Computers – relational zu den anderen Medien – ist. Kapitel 3.3 DER COMPUTER ‒ EIN KIND DER TELEGRAFIE 1. Intro Etwa 40 Jahre lang waren Computer Stand-alone-Maschinen, ein- geschlossen in ihre Gehäuse, Monaden, ein Werkzeug. Dann kamen die Kabel, das ARPA- und das Internet, und die Rechner begannen zu ‚kommunizieren‘; und seitdem ist der Computer ein Medium. So – in etwa – kann man es in der überwiegenden Mehrzahl der mediengeschichtlichen Darstellungen lesen. Möglicherweise aber ist diese Sichtweise falsch. Denn zum einen war der Computer schon immer ein Medium, insofern er Symbole manipuliert, und eben nicht Materie und Energie. Vor allem aber aus einem zweiten und eher unvermuteten Grund: Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist der Computer selbst legitimer und unmittelbarer Spross der Telegrafie. Die Logik der Telegrafie hat sich in seine innere Logik eingeschrieben und seine Konstruktion von Grund auf be- stimmt. Mein Vorschlag ist entsprechend, die Perspektive umzu- kehren: Nicht allein stehende Rechner nehmen Kontakt miteinan- der auf, sondern mit der Verkabelung kommt der Rechner – riskant ‚medienontologisch‘ gesprochen – zu sich selbst, oder zumindest auf die eigene Herkunft zurück. Ob die skizzierte Sichtweise haltbar ist, macht einen Unter- schied nicht nur für die Positionierung der Rechner in der Medien- geschichte. An welchem Punkt sich welche medienhistorischen Linien schneiden, ist ein Problem auch für die Theorie, wenn es deren Aufgabe ist, die Binnenlogik der einzelnen Medien und deren prekären Zusammenhang zu entschlüsseln. Die skizzierte These verspricht an dieser Front viel: Da die Telegrafie eine Makrostruktur ist, die sich über große geografische Räume verteilt, der Rechner dagegen eine Mikrostruktur, ein lokales Arrangement von Bausteinen, eingeschlossen in ein Gehäuse, scheint die These geeignet, zwischen Makro und Mikro eine unvermutete Brücke zu 278 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT schlagen. Und wenn die Telegrafie als eine Maschine zur Über- tragung von Daten bestimmt wird, die Rechner aber über das Pro- zessieren, ergibt sich eine zweite unvermutete Brücke, nun zwischen zwei zentralen Medienfunktionen. Theoretisch, denke ich, ist dies interessant. Im Folgenden soll die These schrittweise plausibel gemacht werden, sowohl mit Blick auf bestimmte technische Funktions- weisen als auch in erweiterter, historischer Perspektive. Ich denke, dass meine These sogar zur Geschichte der Telegrafie etwas beitra- gen kann. So umfassend diese aufgearbeitet ist,431 so unabweisbar hat sie blinde Flecken, die allerdings erst dann deutlich werden, wenn man ausgehend von der Erfahrung des Computers rückwärts noch einmal in den Raum der Telegrafie fragt. 2. Interne Telegrafie In einem ersten Schritt möchte ich auf bestimmte Punkte zurück- kommen, die ich im Kapitel ‚Was tut ein Prozessor?‘ herausge- 431 Die Geschichtsschreibung reicht von zeitgenössischen Darstellungen bis in die Gegenwart; beispielhaft seien genannt: - Schellen, Heinrich: Der elektromagnetische Telegraph in den Hauptstadien seiner Entwicklung und in seiner gegenwärtigen Ausbildung und Anwendung. Braunschweig: Vieweg 1854, S. 149; verfügbar auf Google Books: http://books. google.com/books?id=XecOAAAAYAAJ, 30.11.2010. - Knies, Karl: Der Telegraph als Verkehrsmittel. Über den Nachrichtenverkehr überhaupt. München 1996 (EV: 1857) und - Zetzsche, Karl Eduard: Geschichte der elektrischen Telegraphie. Charleston, SC: Nabu Press 2010 (EV: 1877). - Beauchamp, Ken: A History of Telegraphy: Its Technology and Applications. London 2001. - Standage, Tom: Das Viktorianische Internet. Die erstaunliche Geschichte des Telegraphen und der ersten Online-Pioniere des 19. Jahrhunderts. St. Gallen/ Zürich: Midas 1999, S. 102ff. (EV, am.: 1998). Zudem gibt es Texte, die die Telegrafie als Denkanreiz für theoretische Über- legungen nutzen: - Peters, John: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication. Chicago, IL/London: University of Chicago Press 2000 (EV: 1999) oder - Czitrom, Daniel J.: Media and the American Mind. From Morse to McLuhan. Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 1984. - Ausgezeichnet auch das Stichwort ‚Telegraph‘ in: Lueger, Otto (Hg.): Lexikon der gesamten Technik. Stuttgart/Leipzig: DVA 1904; online verfügbar über: http://www.zeno.org/Lueger-1904/A/Telegraph+%5B1%5D, 01.12.2010. KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 279 arbeitet habe. Eines der Ergebnisse dort war, dass man die Vorgän- ge im Rechner selbst als eine Art von ‚Telegrafie‘ auffassen muss. Augenfällig ist zunächst, dass innerhalb des Rechners ständig Daten von A nach B verschickt werden, von der Festplatte an den Prozessor, von dort zum Bildschirm oder zu einem der Ports ... Jeder Baustein im Rechner hat eine Adresse, die es möglich macht, ihn anzusprechen und ihm Daten zu übergeben; der Hauptspeicher selbst ist in ‚Adressen‘ gegliedert, jeder Datenblock ist, wie ein Postpaket, mit einer Adresse versehen, und der Prozessor verbringt einen Gutteil seiner Zeit damit, nicht Daten, sondern Adressen zu verwalten. All dies ist eine Logik der Post, der Zustellung, der Übertragung. Und da es sich um die Übertragung von Schrift handelt, eine Logik der Tele-Grafie. Diese erste Parallele wäre kaum bestreitbar; aber reicht sie an den Kern der Funktionsweise der Rechner tatsächlich heran? Erstaunlicherweise nun gilt dasselbe auf einer prinzipielleren Ebene auch für den Prozessor selbst. Denn in der Mikrologie des Prozessors, auch dies war ein Ergebnis des Kapitels, werden Daten nicht eigentlich ‚prozessiert‘, d. h. umgeformt oder in ihrer Sub- stanz verändert, sondern es lösen sich alle Vorgänge in Einzel- schritte des Schreibens und des Lesens auf. Prozessoren bestehen aus riesigen Netzen von Schaltern, die für jeden Verarbeitungsschritt neu gesetzt werden und deren logische Struktur bestimmt, was, wenn der Arbeitstakt abgeschlossen ist, als Ergebnis der Berechnung am Ausgang anliegen wird. Während des Arbeitstakts selbst wird der Strom – quasi ‚live‘ – durch die Schaltnetze geschleust; wieder ein Vorgang der Übertragung. Er nimmt, wie die Übertragung in die geografische Ferne, Zeit in Anspruch. Und er ist flüchtig, oder besser: er wäre flüchtig, wäre Zielpunkt der Übertragung nicht immer ein Speicher, in den das Ergebnis geschrieben wird. Und ebenso werden die Daten aus Speichern gelesen. Das ‚Schreiben‘ also verbindet einen Vorgang der Über- tragung mit der Einschreibung in einen Speicher; das ‚Lesen‘ das Aufsuchen und Auslesen eines Speichers mit einer Übertragung. Das Vokabular bereits deutet an: Exakt das Gleiche tut – systematisch betrachtet – die Telegrafie. Auch hier geht es um Schreiben und Lesen, Übertragen und Speichern; denn auch die Telegrafie ist keineswegs eine Technik der Übertragung allein, sondern zwingend an die Existenz von Speichern gebunden. Zu 280 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Beginn der Entwicklung sind es menschliche Operateure, die zwischen Übertragen und Speichern vermitteln; Telegrafenbeamte lesen eine Papiervorlage (d. h. einen Speicher), um die Über- tragungsapparatur mit Texten zu füttern, am Zielpunkt schreiben andere Beamte die Botschaften auf. Beide Funktionen werden bald von der Maschinerie übernommen: 1836 wird der Telegraf mit einem Schreibmechanismus gekoppelt, der das ankommende Sig- nal auf einem Papierband notiert;432 ab 1858 werden Lochstreifen verwendet, um auch die Eingabe zu mechanisieren.433 Die zweite Parallele also wäre diese Oszillation zwischen Spei- chern und Übertragen. Wichtig hierbei ist, dass es in beiden Fällen um rein mechanische Vorgänge geht. Auch wenn im Fall der Tele- grafie Menschen involviert sind, ist keinerlei Dimension angespro- chen, die strikt an ‚den Menschen‘ und seine spezifischen Fähig- keiten gebunden wäre; Telegrafie und Computer arbeiten nur mit Signalen, auch wenn diese mehrfach umcodiert werden; Verstehen, Bedeutung, ‚Semantik‘ oder dergleichen spielen zunächst keine Rolle. Eine weitere Parallele ist die Tatsache, dass in beiden Fällen die Signale strikt linear prozessiert werden. Im Fall der Telegrafie ist dies der inneren Logik der Übertragung geschuldet; und zwar auf mehreren Ebenen. ‚Linear‘ sind zunächst die Kabel selbst, die die Landschaft durchschneiden. Ihre Länge ist durch die geografischen Distanzen bestimmt, die sie überbrücken. Um Kupfer zu sparen wählt man sie so dünn wie technisch gerade noch möglich;434 Kabel (und Verkehrswege, Kanäle) sind immer ‚schmal‘. Und ‚linear‘ ist zum Zweiten die Abfolge der Zeichen. Vorbild ist hier die Schrift, die ihre Zeichen in Zeilen ordnet, und die mündliche Sprache, die die artikulierten Laute längs der Zeitachse reiht. Dass es sich bei dieser Linearität um ein besonders striktes Ordnungssystem handelt, hat Flusser am klarsten herausgearbei- tet.435 Technisch aber ist es durchaus schwierig, Zeichen über ein Kabel zu schicken, weil die 26 Zeichen des Alphabets vom Kanal 432 Der bekannteste Schreibtelegraf wurde von Morse entwickelt. 433 Charles Wheatstone (o. A.: Morsetelegrafieseite DK5KE, http://www.qsl.net/ dk5ke/telegraf.html, 1.12.2010). 434 Je dünner die Kabel gewählt werden, desto größer ihre Dämpfung, weil der elektrische Widerstand zunimmt. 435 Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography 1985, S. 9ff. KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 281 immer noch eine gewisse ‚Breite‘ verlangen. Hier hat die Medien- geschichte verschiedene Möglichkeiten gefunden: Man kann unter- schiedliche Signale verwenden, also hohe Töne für ein ‚E‘ und tiefe für ein ‚M‘;436 was den Nachteil hat, dass die Sende- und Empfangstechnik in der Lage sein muss, diese unterschiedlichen Signale sicher zu identifizieren. Oder man kann mehrere Kanäle parallel schalten, um ein einzelnes Zeichen zu übertragen,437 was mit Blick auf die Ressourcen wenig ratsam ist. Die klassische Telegrafie hat deshalb eine wesentlich radikalere Lösung ent- wickelt. Sie kommt mit nur einem Kabel und nur einem Signal aus. Die technischen Fakten sind bekannt: Die wichtigste Erfindung im Umfeld der Telegrafie war das Morsealphabet von 1844, weil es die Signale auf die ‚schmalste‘ Variante abmagert; ‚Strom an‘ und ‚Strom aus‘; ein Vorgriff aufs Digitale, auch wenn Morse drei Zeichen (‚lang‘, ‚kurz‘ und ‚Pause‘), und nicht wie der Computer nur zwei Zeichen kennt. Der Preis ist, dass schon das einzelne Zeichen in eine Abfolge von Impulsen zerlegt werden muss, die sukzessive durch das Kabel geschickt werden. So wird bei Morse ein ‚Q‘ in vier Zeichen – lang, lang, kurz, lang – codiert, die Dar- stellung eines Buchstabens im Rechner benötigt 8 Bit. In gewissem Sinne also wird, was als Breite des Kanals nicht zur Verfügung steht, in die zeitliche Länge gezogen. Raum wird in Zeit um- codiert.438 Offensichtlich also ist es die Logik der Übertragung selbst, die eine lineare Anordnung der Zeichen erzwingt, und genauer: ein spezifischer Zwang zur Ökonomie. Die Zeichen schmiegen sich 436 Beispiel wäre der Wählton, der im analogen Telefonnetz verwendet wird und den Ziffern – dud, did, düd – jeweils unterschiedliche Tonhöhen zuordnet. Dieses sogenannte Mehrfrequenzwahlverfahren wurde 1955 von den Bell Tele- phone Laboratories entwickelt. 437 Dies beginnt in der Antike, wo man mehrere Lichtzeichen nebeneinander verwendete, um ein einzelnes Zeichen darzustellen; in der Geschichte der elektrischen Telegrafie setzt sich dies fort: „Fünf Jahre früher, als Wheatstone ein Patent auf seinen ersten, mit sechs Drahtleitungen versehenen Nadeltele- graphen nahm, im October des Jahres 1832, kam Morse auf einer Reise, die er mit dem Paketboote Sully von Europa nach Amerika machte, zuerst auf die Idee, die Eigenschaften eines Elektro-Magneten zur Telegraphie zu verwenden. Die ersten Entwürfe Morse’s mußten als unpraktisch aufgegeben werden; er versuchte nacheinander die 26 Buchstaben des Alphabets durch 26, dann durch 6 – 3 Leitungsdrähte hervorzubringen“. (Schellen, a. a. O., S. 149). 438 Der Zusammenhang wird schon Anfang des 20. Jhs. gesehen (vgl. z. B. Riepl, Wolfgang: Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Leipzig/Berlin 1913, S. 100ff.). 282 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT den Kabeln an, um den Preis, dass in der sukzessiven Übertragung für den eingesparten Raum mit Zeit gezahlt werden muss. Im Fall des Computers wird die strikte Linearität in die soge- nannte ‚Von-Neumann‘-Architektur übernommen. Die Tatsache, dass ein Computer schrittweise vorgeht, und – zumindest auf der Ebene des Prinzipiellen – zu jedem Zeitpunkt nur einen einzelnen Arbeitsschritt ausführt,439 übersetzt die Logik der Linearität ins Operative. Und auch hier besteht der Preis in der Zeit, die vergeht. All dies dürfte deutlich machen, dass die Vorgänge im Inneren des Computers der Telegrafie ähneln. Für sich genommen allerdings könnte das Argument kaum mehr als eine Strukturanalogie zwi- schen Makro und Mikro belegen. Um zu zeigen, dass die Zusam- menhänge tatsächlich weiter reichen, ist es sinnvoll nun von Mikro zu Makro wechseln; vom Computer zur Telegrafie. 3. Knoten Die Telegrafie bedeutet den wahrscheinlich tiefsten Einschnitt in der Mediengeschichte, weil sie zum ersten Mal die Übermittlung von Nachrichten vom physischen Transport löst. Dies gilt für die Fackeltelegrafen der Antike und die optischen Telegrafenlinien Chappes;440 vor allem aber für den elektrischen Telegrafen, der mit Weber und Gauß 1833 in die Welt kommt. Er übermittelt seine Botschaften mit nahezu Lichtgeschwindigkeit und revolutioniert damit das gesamte Raum-Zeit-Gefüge, das den Fluss der Informa- tionen bestimmt. Diese tiefgreifende Veränderung wurde früh erkannt.441 439 Vgl. noch einmal das Kapitel ‚Was tut ein Prozessor?‘ im vorliegenden Buch. 440 Zu den Nachrichtensystemen der Antike siehe: - Riepl, Das Nachrichtenwesen des Altertums, a. a. O.; - Kolb, Anne: Transport und Nachrichtentransfer im Römischen Reich. Berlin: Akademie 2001. Zu den optischen Telegraphen: - Beyrer, Klaus; Mathis, Birgit-Susann (Hg.): So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegrafie. Frankfurt am Main: Museum für Post und Kommunikation 1995. 441 „And Science proclaimed, from shore to shore, / That Time and Space ruled man no more.“ (Aus dem Gedicht ‚The Victory‘ von Rossiter Johnson, ge- schrieben 1872 zu Ehren von Samuel Morse. Zit. nach: Field, Cyrus W.: Laying Of The Atlantic Cable [1866], http://history-world.org/Laying%20Of% 20The%20Atlantic%20Cable.htm, 4.12.2010, das Gedicht wird in Auszügen KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 283 Die Rede von ‚Lichtgeschwindigkeit‘, Gleichzeitigkeit usf. aber ist eine rüde Abstraktion. Sie unterstellt, dass es allein um Physik und um physische Laufzeiten geht; und sobald man die Nach- richtenübermittlung näher betrachtet, lösen sich dergleichen Idealisierungen auf. Viel interessanter als die physische Laufzeit nämlich ist die empirische Zeit, bis die Nachricht ihren tatsäch- lichen Adressaten erreicht; und diese ist abhängig von der Kon- struktion des Netzes insgesamt, davon, wie viele Knoten durch- laufen werden, wie diese Knoten organisiert sind, und wie die Vorgänge der Übersetzung, die für die Nachrichtenübermittlung nötig sind. Es ist verblüffend, wie wenig die mediengeschicht- lichen Darstellungen zur Telegrafie hierzu sagen – mit der Aus- nahme von Standage, der in einem Kapitel seiner eher populär- wissenschaftlichen Darstellung eine tatsächlich logistische Rekon- struktion unternimmt.442 An den Knoten nämlich regiert nicht eigentlich die Elektrizität, an den Knoten sitzen Menschen. Sie haben verschiedene Auf- gaben: Sie nehmen 1.) die Nachricht – meist in schriftlicher Form – entgegen. Sie wählen 2.) abhängig vom Adressaten die Tele- grafenlinie aus, über die die Nachricht geschickt werden soll. Diese Funktion wird notorisch vernachlässigt; tatsächlich aber ist sie sehr zentral, weil erst die Verfügbarkeit verschiedener Linien das Netz zu einem Netzwerk macht. Sie prüfen 3.), ob die fragliche Leitung frei ist; dann ist 4.) die Nachricht zu enkodieren; d. h. der Beamte liest den schriftlichen Text ab und gibt ihn mit der Morse- taste an die Apparatur weiter. Hierbei wird die Nachricht übersetzt; und zwar aus dem Code der Schrift, die auf den menschlichen zitiert bei Standage, a. a. O., S. 25). Oder: „[D]ie natürlichen Schranken und Hemmnisse des Verkehrs liegen in Widerständen, die wir mit den Worten: Zeit und Raum zusammenfassen können, also eben in den Bedingungen, an denen das Irdische, Endliche des Menschenlebens überhaupt hervortritt. Jeder wahre Fortschritt in dem Transportwesen ist darum immer zugleich ein gelungener Act des dem Menschen innewohnenden rastlosen Strebens die Schranken seiner endlichen Natur zu mindern, Zeit und Raum zu überwinden, in denen er leben muß.“ „Bei der Natur jener Widerstände, welche der Transport über- winden muß, ist es von durchgreifender Bedeutung, daß den Personen und Sachgütern als Körpern Schwere innewohnt nicht aber den Nachrichten als solchen. [...] In der Beförderung der Nachrichten kommt höchstens die Natur des Vehikels in Betracht, das Gewicht der Emballage, in welcher dieselben überschickt werden.“ „Das Ziel wurde erreicht durch die Erfindung der elektri- schen Telegraphie.“ (Knies, Der Telegraph als Verkehrsmittel [1857], a. a. O., S. 4, 6, 18). 442 Standage, Das Viktorianische Internet, a. a. O., S. 102ff. 284 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Gebrauch ausgerichtet ist, in einen zweiten, der den Notwendig- keiten der neuen Übertragungstechnologie folgt. Dieser Code ist von Menschen beherrschbar, verlangt aber eine Spezialisierung, die über die allgemeine Alphabetisierung hinausgeht. Dieser Vor- gang der Übersetzung ist von zentraler Bedeutung. Er vermittelt zwischen der Menschen- und der Maschinenwelt und er wird – hier greife ich vor – zum Einfallstor für sehr viel weiter gehende Auto- matisierungsprozesse werden. Auf der Empfängerseite wird ein zweiter Beamter 5.) die Nach- richt zurückübersetzen, entweder indem er sie mithört, oder indem er den Protokollstreifen liest. Ziel ist wieder ein schriftlicher Text. Dieser wird 6.) dem Adressaten zugestellt, und zwar in Form eines beschleunigten Briefs. Hier, am Zielort, lokal, also regiert weiter die überholte Logik des physischen Transports durch die Post. Auch diese Darstellung allerdings ist eine Idealisierung. Sie unterstellt, dass zwischen Sender und Empfänger eine direkte Leitung besteht; tatsächlich aber mussten die Telegramme über Zwischenstationen weitergeleitet werden: Das Problem wurzelte darin, daß die meisten telegraphischen Bot- schaften nicht direkt vom Telegraphenamt des Absenders zu dem am nächsten beim Empfänger gelegenen Amt übertragen wurden, sondern über eine oder mehrere Zwischenstationen, wo sie jedes Mal neu transkribiert und dann weitergesandt wurden.443 Bezieht man dies ein, ergibt sich ein ungleich komplexeres Bild; die Vorgänge der En- und Decodierung vervielfachen sich, es werden immer mehr Menschen und immer mehr Übersetzungen involviert, und die Logik der Adressierung wird komplexer. Tatsächlich aber sind diese Vorgänge in hohem Maße struktur- relevant. So beschreibt Standage – ein sehr gutes Beispiel –, dass um 1850 die Weiterleitung von Telegrammen zwischen den loka- len Telegrafenstationen innerhalb Londons so aufwändig und zeit- raubend war, dass man diese in schriftlicher Form über Boten444 443 Ebd. (Hervorh. H. W.). 444 „Wenn viel los war, konnte es vorkommen, daß mehr Botschaften in einem Telegraphenamt eintrafen als dort bearbeitet werden konnten. So begannen sich die auf Papierstreifen transkribierten Nachrichten buchstäblich zu stapeln, anstatt sofort weitergeleitet zu werden. [...] Manche Telegraphengesellschaften stellten zusätzliche Botenjungen ein, die die Botschaften im Laufschritt durch die geschäftigen Straßen von einer Telegraphenstation zur anderen brachten – in vielen Fällen nur ein paar Hundert Meter weit. Wenn genug Botschaften KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 285 und dann über eigens installierte Rohrpostsysteme verschickte.445 Lokal also war der physische Transport schneller als die Übermitt- lung ‚mit Lichtgeschwindigkeit‘; aus dem schlichten Grund, dass man physisch eine Vielzahl von Telegrammen gleichzeitig beför- dern konnte, die Telegrafie-Logik des linearen Nacheinander also vermied. Zudem ist wichtig, dass sich an den Knoten verschiedene Medienbrüche ereignen. Die ‚Übersetzung‘ durch menschliche Operateure wird nötig, weil das Medium gewechselt wird: vom Papier zum elektrischen Signal und vice versa; bzw. vom alphabe- tischen Code der Schrift zum Morsecode und zurück. Und dasselbe gilt für die Adressierung: Zur Zeit der Telegrafie war nur der Mensch in der Lage, für eine korrekte Adressierung zu sorgen. Standage schreibt: Jedes dieser Ämter war ein riesiges Informationsverarbeitungs- zentrum – ein summender Bienenstock inmitten eines wirren Kabel- salats, ausgestattet mit pneumatischen Rohren und Hunderten Bediensteten [...]. Die großen Telegraphenämter waren sorgfältig geplant, um den Informationsfluß so effizient wie möglich zu gestalten. Meist waren die pneumatischen Rohr- und Telegraphen- verbindungen mit den Ämtern innerhalb der Stadt auf einer Etage des Gebäudes zusammengefaßt, während die Leitungen, welche die Botschaften in andere Städte trugen und sie von dort entgegen- nahmen, auf einer anderen Ebene zusammenliefen. Mit dieser Leitungskonstellation wurde erreicht, daß zusätzliche Instrumente und Telegraphisten bei Bedarf problemlos besonders stark bean- spruchten Routen zugeteilt werden konnten. Allfällige internationa- le Verbindungen waren ebenfalls zusammengefaßt. Hereinkommende Botschaften, die per Kabel oder per Rohrpost eintrafen, wurden zunächst zu den Sortiertischen gebracht, die sich auf allen Etagen befanden, um dann über das interne pneumatische zusammenkamen, war diese Methode schneller als das Weitertelegraphieren.“ (Ebd., S. 103 (Hervorh. H. W.)). 445 „Josiah Latimer Clark [...] schlug ein dampfbetriebenes pneumatisches Röhren- system zur Beförderung telegraphischer Formulare über die kurze Strecke von der Börse zum Haupttelegraphenamt vor. [...] Clark testete seine Idee erstmals im Jahr 1853, und 1854 war bereits ein unterirdisches, luftdichtes Rohr von anderthalb Zoll Dicke zwischen den beiden Telegraphenstationen verlegt. Es konnte bis zu fünf Botschaften auf einmal befördern, die auf Telegramm- formulare geschrieben [...] wurden“. „Im Jahr 1865 war die Verkehrslast bereits so stark geworden, daß die Electric Telegraph Company ihr Londoner Rohrnetz erweiterte und zusätzliche Rohrsysteme in Liverpool, Birmingham und Man- chester installierte. Ähnliche Systeme wurden 1865 in Berlin und 1866 in Paris eingeführt“. (Ebd., S. 105, 107). 286 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Rohrsystem weiterbefördert zu werden. Im Jahr 1875 beherbergte das zentrale Londoner Telegraphenamt beispielsweise 450 tele- graphische Instrumente auf drei Ebenen, die durch 68 interne pneu- matische Rohre miteinander verbunden waren. Das New Yorker Haupttelegraphenamt in 195 Broadway war nicht nur mit pneuma- tischen Rohren ausgestattet, die seine Etagen verbanden, sondern beschäftigte auch sogenannte ‚Check-girls‘, welche die Botschaften innerhalb der riesigen Arbeitsräume hin- und hertrugen. Die großen Telegraphenämter verfügten über einen Presseraum, eine Arzt- praxis, eine Wartungswerkstatt, separate Speisesäle für Damen und Herren, eine riesige Ansammlung von Batterien im Keller zur Stromversorgung für die telegraphischen Instrumente und Dampf- maschinen für den Betrieb der pneumatischen Rohre. Die Tele- graphisten arbeiteten in Schichten, um sicherzustellen, daß das System rund um die Uhr funktionierte. Stellen sie sich zum Beispiel vor, welchen Weg eine Botschaft von Clerkenwell in London nach Birmingham nahm. Nachdem sie im Telegraphenamt von Clerkenwell aufgegeben worden war, wurde sie per Rohrpost zum zentralen Telegraphenamt befördert. Dort wurden im ‚Metropolitan Floor‘ die Botschaften von und an Adres- sen innerhalb Londons bearbeitet. Auf dem Sortiertisch wurde sie der Kategorie ‚Telegramm an andere Stadt‘ zugeordnet, und so lan- dete sie – abermals durch Beförderung per Druckluftrohr – auf dem ‚Provincial Floor‘, wo sie mittels Intercity-Telegraph nach Birming- ham telegraphiert wurde. Sobald sie in Birmingham angekommen und zurücktranskribiert war, wurde sie per Rohrpost in das dem Empfänger am nächsten gelegenen Telegraphenamt geschickt und dann von einem Boten zugestellt.446 Festzuhalten also ist, dass im Knoten völlig andere Gesetze regie- ren als man der Telegrafie gemeinhin zuschreibt. Die Leitungen selbst sind elektrisch, auf dem Stand der Technik und schnell, im Knoten muss das neue Medium auf traditionelle Medien zurück- greifen; hier regieren ‚der Mensch‘ als Übersetzer, physische Zei- chenträger und der physische Zeichentransport. Mein Vorschlag also ist, die Telegrafie nicht mehr von der Leitung, sondern nun von den Knoten her zu begreifen. 446 Ebd., S. 108ff. KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 287 4. Automatisierung der Knoten Exakt an dieser Stelle nämlich wird deutlich, in welche Position der Computer mediengeschichtlich eintreten wird: Nicht der einzelne Rechner nimmt – via Telekommunikation – Kontakt mit anderen einzelnen Rechnern auf, sondern mit dem Computer wächst das Netz zu, das Netz erobert sich seine Knoten und unter- wirft sie seinem apparativen Gesetz. Dies ist der Perspektivwechsel, den mein Text vorschlagen will. Und es gibt einige Indizien, die für diese Deutung sprechen. Die einfachsten finden sich innerhalb der Technikgeschichte selbst. Die erste Funktion, die man automatisiert hat, es wurde gesagt, war die automatische Niederschrift des Signals auf Papierband. Diese findet sich bei Morse, anders als bei den technischen Vorgängern, gleich zu Beginn, also bereits 1836. In der Sache bedeutet dies eine Verschmelzung zwischen Übertragen und Speichern. Sie hatte die wichtige Konsequenz, dass aus einer zeitkritischen Aufgabe (dem Mithören und Umcodieren) eine nicht mehr zeitkritische wurde. Der Speicher, das Papierband, befreite vom Druck der Zeit und machte es möglich, die Arbeiten im Umfeld zu rationalisieren. Der erste Medienbruch, der Übertragung und Speichern trennte, war überwunden, die technische Prozesskette wuchs um ein Glied und verleibte sich die Speicherfunktion ein. Der zweite Schritt war, die Eingabe über Lochstreifen zu orga- nisieren.447 Auch hier geht es um eine Befreiung vom Zwang der Zeit: Das Herstellen der Lochstreifen wird von der Eingabe in den Übertragungskanal abgetrennt, so dass die Eingabe mit der für die Technik optimalen Geschwindigkeit laufen kann, was ebenfalls einen Rationalisierungseffekt und eine bessere Auslastung der teu- ren Leitung bedeutet. Und wieder verleibt sich die Prozesskette ein Element ein; und zwar noch deutlicher als im Fall der Niederschrift auf Papierband, insofern es beim Lochstreifen um maschinen- lesbare Zeichen geht. Die Logik der Maschinenlesbarkeit wird einzeln zu untersuchen sein; offensichtlich aber ist, dass die Pro- 447 1858 von Charles Wheatstone entwickelt (http://www.qsl.net/dk5ke/telegraf.htm, 1.12.2010). „Die Maschinen- oder Schnelltelegraphen setzen an Stelle des Handbetriebs bei der Stromsendung für die Zeichengebung den Maschinenbetrieb. Die Tele- gramme werden zuerst in besonderer Lochschrift in einen Papierstreifen einge- stanzt und der so vorbereitete Streifen wird dann mit großer Geschwindigkeit durch den Senderapparat getrieben.“ (Lueger [1904], a. a. O.). 288 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT zesskette selbst eine Eigenlogik entfaltet, und einen ökonomischen Druck, der Medienbrüche nicht zu dulden scheint und nach und nach aus der Kette verdrängt. Der Codebruch zwischen Morse- und Schriftalphabet allerdings bleibt auf dieser Stufe erhalten. Er wird erst mit den Typendruck- Telegrafen fallen, deren Geschichte 1855 mit dem Hughes’schen Telegrafen beginnt, die sich aber erst in den 1930er Jahren als ‚Fernschreiber‘ durchsetzen.448 Auf Senderseite hatten Typendruck- telegrafen Buchstabentasten, so dass man Telegramme nun im Klartext eingeben konnte. Eine komplizierte Elektromechanik setzte die Zeichen für die Übertragung in Impulse um;449 auf Empfängerseite gab das Gerät Klartext aus.450 Encodierung und Decodierung hatte nun die Apparatur übernommen. Das Morse- alphabet war obsolet und die Prozesskette wieder zwei Glieder länger; das Frontend der Apparatur war auf den Menschen zu gerückt und präsentierte eine Schnittstelle im vertrauten, alpha- betischen Code.451 Als ebenfalls hartnäckig, was die Automatisierung angeht, er- wies sich die Adressierung. Telegrafie war handvermittelt; erst ab 448 Vgl. ebd., sowie: - Weiß, J. J.: Der Typendruck-Telegraph. Winterthur: Hegner 1854, S. 19ff., online: http://books.google.com, - Schellen, a. a. O., S. 189ff. 449 Bei Hughes geschah diese Umsetzung zeitabhängig, im Sende- und Empfangs- gerät mussten deshalb zwei rotierende Scheiben (!) immer wieder synchroni- siert werden. Diese Elektromechanik war erheblich anfälliger als das System Morses; dies dürfte einer der Gründe sein, warum sich der Morsecode noch bis in den zweiten Weltkrieg halten konnte. 450 Bei einzelnen Maschinen sogar mit einer Art Fotosatz: „Der Buckingham- und Siemens u. Halske-Telegraph liefern unmittelbar Typendruck, ersterer in Blatt- form, letzterer auf lichtempfindlichen Papierstreifen durch die photographische Wirkung eines elektrischen Funkens [!]; die letzte Ausführung des Pollak u. Virágschen Apparats liefert eine Art lateinischer Kursivschrift; sie wird von einem Lichtstrahl, der durch zwei mit je einer Telephonmembran verbundene schwingende Spiegel geführt wird, auf lichtempfindliches Papier geschrieben.“ (Meyers Konversationslexikon, Stichwort: Telegraph: http://de.academic.ru/dic .nsf/meyers/139090/Telegraph, 1.12.2010); vgl. auch Lueger, a. a. O. 451 Die Entwicklung des Typendrucktelegrafen mündet 1933 in den Fernschreiber, ein außerordentlich verbreitetes und robustes System, das vor allem in der Industrie, Behörden und von der Presse (‚Ticker‘) genutzt wurde. Der Fern- schreiber verwendet für die Übertragung das ‚Internationale Telegrafenalpha- bet‘, einen digitalen 5-Bit-Code. Der Versuchsbetrieb in Deutschland begann 1926; seit den Achtzigern verlor das Medium an Bedeutung, 2007 wurde der Dienst eingestellt. KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 289 1935 werden Fernschreiber mit einer Wählscheibe ausgerüstet,452 übernehmen also eine Technologie, die im Telefonnetz seit 1908 schrittweise eingeführt wurde.453 Mit dem Selbstwähldienst wird auch dieses Glied der Prozesskette an die Maschinenwelt über- geben. Der vorläufig letzte Schritt dieser Entwicklung, das ist mein Argument, ist der Computer. Sobald er in den Knoten eintritt, ist die Prozesskette endgültig geschlossen; Daten und Adressen wer- den einheitlich formatiert, ihre Bearbeitung und Übertragung voll- ständig automatisiert; die Schaltnetze des Rechners können die Botschaft umformen wie das Durchschalten auf Adressen regeln. Und mehr noch: Es ist prinzipiell die gleiche Logik, die die Adressen innerhalb des Gehäuses (die Ansteuerung der Kompo- nenten, Hauptspeicheradressen, Ports...) und die geografischen Adressen außerhalb organisieren. Die Adresse bestimmt, auf welche Leitung durchgestellt wird; und das Gehäuse ist nicht mehr als ein ‚Horizont‘. Die Ports (die Stecker) durchlöchern Horizont und Gehäuse, und verbinden das Innere mit dem Außen. 5. Subjekttheorie Mein Vorschlag, nicht vom einzelnen Computer auszugehen, son- dern vom Netz, und den Rechner als die Maschine zu fassen, die in den Netzknoten eintritt und diesen schließt, findet eine Parallele völlig außerhalb der Technik, in der Subjekttheorie. Hier war es Flusser, der denselben Perspektivwechsel vorschlug. Während das klassische Subjekt der bürgerlichen Aufklärung sich – am deut- lichsten in der Genieästhetik – als Urheber und Quelle der Kom- munikationsprozesse verstand und das Selbstbild hatte, diese souverän zu beherrschen, macht Flusser klar, dass das Subjekt nicht mehr als ein Knotenpunkt ist, eine Art Relais, über das die Kommunikationen laufen. 452 Vgl.: Wagner, Oskar A.: Vom Drucktelegraphen zum Telex-Netz. In: PCNews, Nr. 74, 20.8.2001, http://pcnews.at/?Id=1089&Type=Htm, 25.11.2010. Bild: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0b/Telex.jpg, 4.12.2010. 453 „1908, Erstes Telefon-Selbstwähl-Ortsnetz Hildesheim in Deutschland.“ (o. A.: Geschichte der Telekommunikation von 1833 bis 1944, http://waehlamt.at/nte2/ geschichte/g1-frameset.htm, 25. 11. 10). Die Handvermittlung durch die Telekom wurde erst 2003 unwiderruflich beendet. 290 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Das zentrale Problem, das es im Hinblick auf eine dialogische Gesellschaft zu besprechen gilt, ist das der Erzeugung von Informa- tionen. Es ist jenes Problem, das in vergangenen Zeiten ‚Schöpfung‘ genannt wurde. Wie kommen Informationen, das heißt unvorher- gesehene und unwahrscheinliche Situationen zustande? [...] Infor- mationen sind Synthesen vorangegangener Informationen. [...] Menschen sind nicht Schöpfer sondern Spieler mit vorangegangen Informationen [...]. Das sogenannte ‚Ich‘ ist ein Knotenpunkt in einem Netz von dialogisch strömenden Informationen und ein Lager für durchgegangene Informationen (und zwar sowohl von ererbten als auch, zum weitaus größeren Teil, von erworbenen Informatio- nen), und an diesem Knotenpunkt entstehen unvorhergesehene, unwahrscheinliche Komputationen, neue Informationen.454 In der Folge verdankt das Subjekt alles, was es ist, der Kommuni- kation, dem Netz und den Medien. Betrachtet man nun das ‚Ich‘ als einen Knotenpunkt in einem dia- logischen Netz, dann kann man nicht umhin, die Gesellschaft als ein aus individuellen Gehirnen zusammengesetztes Übergehirn zu sehen. Und die telematische Gesellschaft würde sich von allen vorangegangenen nur dadurch unterscheiden, daß dort der Zerebral- netzcharakter der Gesellschaft bewußt wird und man somit daran- gehen kann, diese Netzstruktur bewußt zu manipulieren.455 Die Metapher eines gesellschaftlichen ‚Übergehirns‘ ist sicherlich strittig. Die Denkfigur, das Subjekt nicht mehr als autonom, son- dern nun als abhängig, als ein Relais zu denken, findet Flusser vor- gegeben in der französischen subjektkritischen Philosophie der 60er-Jahre, die er – so könnte man sagen – medienmaterialistisch zu erden versucht. Bei Flusser hat dieser Perspektivwechsel verschiedene Konse- quenzen: So ist die Kommunikation nicht mehr eine sekundäre Funktion, die zu einem selbstbezüglichen und selbstgenügsamen Subjekt quasi luxurierend hinzutritt, sondern in jedem Sinne primär.456 Zum Zweiten wird der Knoten in seinem Sosein, seiner Identität, vollständig von den Kommunikationen abhängig ge- macht, die durch ihn hindurch gegangen sind und ihm seine Form verliehen haben. Die Kommunikation, ihre Regeln und Erforder- 454 Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography 1985, S. 74, 76, 78. 455 Ebd., S. 78. 456 Hier gibt es bei allen Unterschieden eine Parallele zu Luhmann, der das handelnde Subjekt – bis dahin sicher ein Grundpfeiler der Soziologie – verabschiedet und ‚Kommunikationen‘ zur Grundeinheit von Gesellschaft erklärt. KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 291 nisse, strukturieren den Knoten durch. Auch dieses Motiv stammt aus der französischen Subjektphilosophie, genauer: aus den Argu- menten zum ‚linguistic turn‘, der Einsicht in die zentrale Rolle der Sprache, die den Menschen als sprachliches Wesen konstituiert, und ihn der Sprache gleichzeitig unterwirft. Wie aber kann es zu der genannten Parallele kommen? Geht es nicht in einem Fall um Technik und im anderen um ‚den Men- schen‘? Wenn die Subjekttheorie die Position des Menschen zu klären versucht, das Argument hier aber auf die Knoten der Tele- grafie zielt, und die Rolle der Computer in diesen Knoten? Und mehr noch: wurde nicht gesagt, dass die Technikentwicklung die Prozesskette zunehmend schließt, und das heißt: den handelnden Menschen aus den Prozessketten verdrängt? Tritt der Computer also in den Knoten an die Stelle des Menschen? Man wird sich klarmachen müssen, dass sowohl Flusser als auch die Subjekttheorie ihre Frage bereits mit Blick auf die Medien fassen. Wenn es die Netze der Kommunikation und der Sprache – also Kulturtechniken – sind, die die Position des Subjekts definie- ren, dann sind Subjekt und Technik nicht durch einen Abgrund getrennt. Die Behauptung ist entsprechend nicht die einer Substi- tution. These wäre vielmehr, dass das Netz den Knoten vorangeht, dass es Gesetze im Raum der Kommunikation gibt, die für Maschinen wie für Menschen in diesen Knoten gelten. 6. Maschinenlesbarkeit Kehren wir auf die Ebene der Technik zurück. Die Pointe des Lochstreifens, es wurde gesagt, besteht darin, dass seine Schrift für Maschinen lesbar ist. Maschinenlesbarkeit nun ist für das hier ver- folgte Argument – und für Computer und Telekommunikation allgemein – tatsächlich ein Drehglied; und wurde von den Medien- und Kulturwissenschaften, wie von der Informatik, fast durch- gängig übergangen.457 457 Es gibt weder eine Monografie, die sich diesem Thema widmet, noch taucht das Stichwort – mit Ausnahme der engl. Ausgabe von Wikipedia – in den ein- schlägigen Lexika auf. Dasselbe gilt für die bekannten Einführungen in die Technische Informatik (vgl. z. B. Schiffmann, Wolfram; Schmitz, Robert: Technische Informatik. Bd. 1: Grundlagen der digitalen Elektronik. und Bd. 2: Grundlagen der Computertechnik. Berlin: Springer 1992). 292 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Maschinenlesbarkeit meint zunächst, dass eine Information von einem Gerät an ein anderes weitergegeben werden kann. Wiki- pedia definiert eher nachlässig: Machine-readable medium: In telecommunication, a machine- readable medium (automated data medium) is a medium capable of storing data in a machine-readable format that can be accessed by an automated sensing device and capable of being turned into (practically in every case) some form of binary.458 Maschinenlesbarkeit ist an verschiedene technische Bedingungen geknüpft: Es muss einen technischen Träger geben, der die Identi- tät und Stabilität des Signals gewährleisten kann; dies gilt für gespeicherte wie für in Realzeit prozessierte Signale. Das Signal muss sich innerhalb vordefinierter technischer Grenzen halten, was eine strikte Normung verlangt;459 das Signal muss als Signal ein- deutig sein; und es muss einen Code geben, den Sende- wie Empfangsgerät teilen. Zudem braucht es eine bestimmte Komple- xität des verwendeten Codes, insofern man bei einzelnen Schalt- impulsen, mit denen ein Gerät ein anderes steuert, nicht von Maschinenlesbarkeit sprechen würde. Weiter gibt es eine implizite Anlehnung an den Code der Schrift, insofern Maschinenlesbarkeit distinkte Zeichen verlangt: Ein Faxgerät, um ein Gegenbeispiel zu nennen, steuert das emp- fangende Gerät über Telekommunikation mit Hilfe von komplexen Steuersignalen. Da es sich um ein Bild handelt, das übertragen wird, und die Maschine die übertragenen Buchstaben nicht kennt, handelt es sich nicht um Maschinenlesbarkeit; Handysignale sind maschinenlesbar nur auf der Ebene der digital übertragenen Bits, nicht aber bezogen auf die sprachliche Artikulation; Telegraf und Fernschreiber, und auch ein Webstuhl, der mit Lochkarten gesteu- ert wird, verarbeiten maschinenlesbare Daten. Maschinenlesbarkeit gehört zum Problemfeld der technischen Reproduktion.460 Und schließlich betrifft Maschinenlesbarkeit nur die Ebene des Signals, impliziert also gerade nicht die Dimension der Bedeutung. ‚Lesen‘ und ‚Lesbarkeit‘ sind insofern Metaphern. Gleichzeitig wird das Adjektiv, z. B. im Kontext von RFID oder Barcode, häu- fig verwendet, so als erübrige es sich, den Begriff zu definieren ... 458 http://en.wikipedia.org/wiki/Machine-readable, 26.11.2010. 459 ... wenn ein bestimmter elektrischer Impuls erwartet wird, wäre ein zehnfach stärkerer sicherlich problematisch ... 460 Es wäre sicherlich interessant, diese Verbindung auszuarbeiten. KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 293 Maschinenlesbarkeit ist die Voraussetzung dafür, dass man die Geräte der Telegrafie überhaupt zu einer ‚Prozesskette‘ zusam- menschalten kann. Dies zeigt sich insbesondere an jenen Knoten, die als Zwischenstationen zur Weiterleitung der Telegramme die- nen. Ursprünglich musste, wie gesagt, der Text jedes Mal nieder- geschrieben, neu transkribiert und dann weitergesandt werden. Erst die Schnelltelegrafen von Murray [1899] und Creed [1902] brach- ten hier eine Änderung, indem man dieselben Lochstreifen, wie man sie für die Eingabe brauchte, nun am Zielort auch automatisch ausgeben konnte: „Der Aufnahmestreifen gibt die Lochschrift des Senderstreifens genau wieder; er kann also im Durchgangsverkehr sofort wieder als Senderstreifen benutzt werden“.461 Dies war der entscheidende Schritt hin zu jenem continuous flow of data, auf den die Telegrafie – wie auf ein implizites Telos – kontinuierlich hinsteuert. Und nun komme ich auf meine These zurück: Erst die Maschinenlesbarkeit erlaubt es, die Medien- und Codebrüche zu überwinden, die bis dahin die Knoten der Telegrafie gekennzeichnet hatten, und die Menschen aus den Knoten Schritt für Schritt zu verdrängen. Mit dem Computer kommt diese Entwicklung zum Abschluss. 7. Schluss Der Computer, habe ich an anderer Stelle geschrieben,462 ist ein Medium, insofern er aus der Logik der Telekommunikation die radikalste Konsequenz zieht: Der Computer hat seine Besonderheit darin, dass er den Raum der Telekommunikation mit dem inneren Funktionieren der Maschine verschmilzt. Man kann die Mediengeschichte als einen Prozess zunehmender Immaterialisierung betrachten. Steht am Anfang die Kommunika- tion Anwesender, so lösen sich mit den Bildern, den Monumenten und der Schrift die Zeichen von den Körpern endgültig ab. Auf- fällig ist hierbei, dass die Zeichenträger, die Signifikanten, immer kleiner und leichter werden. Von den monumentalen Inschriften 461 Lueger, a. a. O., 1.12.2010 (Hervorh. H. W.). 462 Vgl.: Winkler, Hartmut: Medium Computer. Zehn populäre Thesen zum Thema und warum sie möglicherweise falsch sind. In: Engell, Lorenz; Neitzel, Britta (Hg.): Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur. München 2004, S. 203-213, der erste Teil meiner Summierung ist dort vorformuliert. 294 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT über die Tontafeln zum vergleichsweise leichten Papier verläuft ein Prozess, der die Materialität des Zeichenträgers (die Substanz der Signifikanten) Schritt für Schritt auszehrt. Motor dieser Ent- wicklung, selbstverständlich, ist der Zeichentransport: Zeichen wollen zirkulieren, und dies ist umso leichter möglich, wenn die Masseträgheit, die sie überwinden müssen, Schritt für Schritt immer geringer wird. Der entscheidende Punkt wird mit der Telegrafie erreicht: um 1840 lösen sich die Zeichen vom physischen Transport und können nun ‚immateriell‘ auch durch Drähte verschickt werden. Alle elek- tronischen Medien bauen diese Möglichkeit aus. Der Computer nun, dies ist der Kern meines Arguments, zieht aus diesem Prozess die Konsequenz. Er stellt ein Kontinuum her zwischen den Modi der Übertragung, der Speicherung und der Möglichkeit, Signifikanten zu prozessieren/permutieren. Bei allen anderen Medien fallen diese Modi weit auseinander, Bücher werden mit anderen Mitteln hergestellt als verteilt und gelagert, und selbst eine CD muss noch, wenn sie zirkulieren will, physisch transportiert werden. Erst der Computer schafft hier eine geschlos- sene Prozesskette, ähnlich wie das Fließband in der Industrie die heterogenen Einzelprozesse zu einer Kette verknüpft.463 Dies ist der Grund, warum die Maschinenlesbarkeit betont werden musste. Erst wenn die Zeichen maschinenlesbar sind, tritt die neue Qualität ein. Es ist also die Logik der Telekommunikation – die Logik von Transport und Zeichenzirkulation –, die hier die Macht gewinnt auch über die innere Struktur der Maschine. Im Inneren des Com- puters regiert die Telegrafie: Signifikanten werden hin- und her- geschickt, gespeichert und prozessiert/permutiert. Auf diese Weise bekommt auch die Ausgangsthese Plausibilität: Computer sind nicht ein Medium, weil sie verkabelt sind, sondern es ist umge- kehrt: weil er ein Kind der Telegrafie ist, erzwingt der Computer die Verkabelung. Er zwingt dazu, seine innere Telegrafie an die äußere Telegrafie anzuschließen; der Raum zwischen den digitalen Einzelmaschinen und der Raum innerhalb dieser Einzelmaschinen sind sich strukturell immer schon ähnlich. Eingeschränkt auf den 463 Wenn verschiedentlich von ‚Automatisierung‘ gesprochen wurde, ruft dies einen größeren Zusammenhang auf: Es wäre nötig zu zeigen wie Waren- verkehr / Logistik und Zeichenverkehr tatsächlich zusammenhängen, und an welchen Stellen sie einer vergleichbaren Entwicklungslogik und – Stichwort Rationalisierung – vergleichbaren ökonomischen Zwängen folgen. In meinem Buch ‚Diskursökonomie‘ habe ich Überlegungen hierzu angestellt (a. a. O.). KAPITEL 3.3 DER COMPUTER – EIN KIND DER TELEGRAFIE 295 Fluss der Signifikanten geht es tatsächlich um Übertragen, Spei- chern und Prozessieren. Und alles, was der Computer als Medium Neues bietet, liegt auf diesem Terrain. Zeichentransport und Tele- kommunikation drücken den Zeichen selbst ihren Stempel auf. Der Computer entsteht als ein Resultat der Telegrafie; als ein Medium, Knoten im Netz der Zeichenzirkulation. Der zweite Gedanke meiner Summierung betrifft die Unter- scheidung von Mikro und Makro. Wenn der Rechner eine lokale Mikrostruktur ist, eingeschlossen in ein Gehäuse, und die Tele- grafie eine geografisch verteilte Makrostruktur, dann impliziert meine These, dass zwischen beiden eine doppelte Verbindung besteht: zum einen eine Strukturhomologie, insofern auf beiden Ebenen die gleichen Basisfunktionen auftreten – Übertragen, Spei- chern; Lesen, Schreiben; Adressieren ... –, mit der Folge, dass man Mikro und Makro in anschlussfähigen Begriffen beschreiben kann. Und zum Zweiten schafft der Computer, über diese Entsprechung hinaus, eine tatsächliche Integration. Seit das Internet etabliert ist – und das heißt: seitdem der Computer die Netzknoten erobert und seine Position dort eingenommen hat – ist es kein prinzipieller Unterschied mehr, ob der Prozessor Daten an die lokale Festplatte oder an einen Server auf der anderen Seite des Globus‘ schickt. Die Schwelle zwischen Mikro und Makro ist eingeebnet, beide sind funktional integriert. Mein letzter Punkt schließlich betrifft die Adressen. Wenn Übertragen und Speichern die zentralen Funktionen sind, im Rech- ner wie auf der Makroebene der Telegrafie, dann kommt der Adresse eine herausragende Stellung zu. Die Adresse ist ein Ord- nungssystem, das den Raum strukturiert (auf der Makroebene der Geografie wie auf der Mikroebene des einzelnen Speichers464), sie gibt den Zielpunkt für die Übertragungsvorgänge an, und wenn sie maschinenlesbar vorliegt, ist sie exekutierbar, d. h. sie wird Teil eines Befehls, der von Automaten ausgeführt werden kann.465 Adressen sind insofern Instanzen, die zwischen der Statik des Raums (und der Speicher) und den prozessualen Übertragungs- vorgängen vermitteln. 464 Vgl. ‚Was tut ein Prozessor?‘. 465 Auch dieser Zusammenhang zwischen der Befehlslogik von Programmier- sprachen und der Automatisierung der Adressfunktion wäre weitere Über- legungen wert. 296 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Und noch mehr: Einerseits haben Adressen einen Sonderstatus, als Metadaten sind sie der Botschaft aufgeklebt wie das Adress- etikett auf einem Briefumschlag. Andererseits bieten Rechner das verblüffende Schauspiel, dass sie Adressen exakt wie Daten be- handeln: Adressen werden nicht nur parallel zu den Daten, der ‚Botschaft‘, übertragen und gespeichert, sie werden wie diese auch prozessiert, d. h. ständig umgerechnet und übersetzt.466 Beides, ihre Positionierung an der prekären Schnittstelle zwischen Stase und Prozess (Raum und Zeit) und ihr doppelgesichtiger Status als Daten und Metadaten sind bisher kaum gedacht. Ich denke, dass sich aus dem Gesagten tatsächlich eine neue Perspektive ergibt. Wenn der Computer – ablesbar an den Details seiner Konstruktion – eben nicht ein Stand-alone-Gerät ist, sondern ein Kind der Telegrafie, wenn er in die Knoten des Netzes eintritt und dort die Lücken, Code- und Medienbrüche schließt, die bis dahin Menschen als ‚Übersetzer‘ verlangten, wenn er gemeinsam mit der Telegrafie einen continuous flow of data schafft, dann könnte hier der eigentliche, qualitative Sprung liegen. Flusser hat diesen Sprung mit dem Begriff einer ‚telematischen Gesellschaft‘ zu fassen versucht.467 Ob diese ‚Zerebralnetzcharakter‘468 hat, sei dahingestellt; eher scheint es, als ob Maschinenlesbarkeit und continuous flow of data die menschlichen User in eine Art Publi- kumsposition bringen. Sicher ist, dass der Computer bestimmte Mechanismen der Kommunikation erstmals zur Anschauung bringt. Dies wird erst mit Blick auf die Telegrafie eigentlich deutlich. Er kann – wie übrigens auch die Telegrafie selbst – als eine Maschine betrachtet werden, die bestimmte Züge kommunikativer Praktiken reinsze- niert, indem er sie mimetisch nachvollzieht und in eine technische Form bringt. Dass er sie – doppelgesichtig – dabei aufs Mecha- nische reduziert, und sie gleichzeitig potenziert und erweitert, macht die Schwierigkeit aus, diesen Spiegel zu lesen. 466 Ebd. 467 Die Stelle wurde oben zitiert. 468 Ebd. Kapitel 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 1. Intro Wolfgang Ernst hat das Verdienst, immer wieder auf die Bedeu- tung der Zeit in medialen Prozessen hingewiesen zu haben; dies betrifft diejenigen Medien, die er ‚zeitkritisch‘ nennt;469 darüber hinaus aber – und dies vor allem macht seinen Beitrag theoretisch relevant – alle Medien, wenn er darauf beharrt, dass der Aspekt der Zeit und des Verbrauchs von Zeit essentiell für ein Verständnis der Medien ist.470 „Technologische Medien“, sagt der erste Satz seines Buchs, „ereignen sich unabdingbar in der temporalen Dimension, ob sie dabei nun von epistemologischer Reflexion erfasst werden oder nicht. Erst im Zeitvollzug werden sie operativ.“471 Und: „Medientheorie als Einsicht in das Wesen von Medien [?] verlangt nach der Einführung von Zeit als Kriterium ihrer Betrachtung.“472 469 Hier ist zunächst der Band ‚Zeitkritische Medien‘ zu nennen, der in Ernsts Umfeld entstanden ist (Volmar, Axel (Hg.): Zeitkritische Medien. Berlin: Kadmos 2009), und in dem er selbst einen Beitrag hat. Dort schreibt Ernst: „Die Untersuchung prozessbasierter Medien ist ein dringen- des Anliegen der Medientheorie“; und setzt einigermaßen problematisch fort: „[…] also nicht nur Medien als konkrete technologische Artefakte im Sinn zu haben [welche ernstzunehmende Medientheorie hätte sich darauf je beschränkt?], sondern ebenso den Vektor Medien, mediale Prozesse im zeitlichen Kanal. Im Vordergrund hochtechnischer [?], zeitgebender [?] Medien steht der Begriff der Prozessualität. Zeitkritische mediale Operationen sind die Signatur einer prozess- orientierten digitalen, getakteten Kultur, in der die Laufzeit von Programmen zum Maßstab ihrer Ästhetik wird.“ (Ernst, Wolfgang: Die Frage nach dem Zeit- kritischen. Ebd., S. 27-42, hier: S. 32 (Hervorh. im Original, Erg. H. W.)). 470 Ders.: Chronopoetik. Berlin: Kadmos 2012. Ein wichtiger Vorläufer dieser entschlossenen Hervorhebung der Zeit ist der Band ‚Zeitreise‘, herausgegeben u. a. von Christoph Tholen, der bereits im Jahre 1993 erschien (Tholen, Georg Christoph; Scholl, Michael; Heller, Martin (Hg.): Zeitreise. Bilder / Maschinen / Strategien / Rätsel. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1993). 471 Ernst, Chronopoetik, a. a. O., S. 15. 472 Ebd., S. 297 (Erg. H. W.). 298 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Interessiert man sich speziell für das Prozessieren, wird die Frage nach der Zeit tatsächlich zentral: Prozesse sind immer und grundsätzlich zeitgebunden; und es gibt ‒ innerhalb wie außerhalb der Medien ‒ keinen Prozess, der nicht Zeit ‚verbraucht‘. Und für das Prozessieren als Eingreifende Veränderung gilt dies verstärkt, insofern Zeit überhaupt erst sichtbar wird, wenn sich Dinge verän- dern. Veränderung, Transformation, Verwandlung und Metamor- phose unterhalten deshalb eine besonders privilegierte Beziehung zur Zeit; woraus die Frage entsteht, wie man diese Beziehung er- hellen kann. Und gleichzeitig lohnt es, verschiedene Medienkomplexe zu unterscheiden, denn Zeit und Veränderung spielen in den unter- schiedlichen Medien eine völlig unterschiedliche Rolle. So gibt es zum einen Medien, die selbst über eine Zeitachse verfügen, nur in der Zeit sich entfalten und in ihrem ganzen Funktionieren an den Ablauf der Zeit gekettet sind. Hier wären die mündliche Kommu- nikation (das Sprechen) zu nennen, Gestik und Mimik, das Theater und die Musik; unter den telekommunikativen Medien z. B. das Telefon, Tür-Kameras oder Live-Übertragungen in Radio und Fernsehen. Der zweite Block wären solche Medien, die zwar eine Zeitachse haben, diese vom Ablauf der Realzeit aber entkoppeln: Dies gilt für Tonaufzeichnung und Bewegtbilder (Film, Fernsehen, Stream- ing …); und auch für die Schrift, insofern diese eine Repräsen- tation der mündlichen Sprache ist. Hier wird jeweils ein ‚Auf- schreibesystem‘ dazwischengeschaltet, das selbst über eine Zeit- achse verfügt, bzw. diese simuliert, indem – das Stichwort oben war ‚Verräumlichung‘ – eine Raumachse dazu benutzt wird, die Signifikanten in eine lineare Ordnung zu bringen. Zum Zeitpunkt der Rezeption wird diese Anordnung wieder verzeitlicht, so dass ein neuer zeitlicher Ablauf entsteht. Noch einmal anders liegt der Fall bei Computer-Programmen; hier gibt es einen strengen zeitlichen Ablauf überhaupt erst dann, wenn das Programm ausgeführt wird; dieser Ablauf ist durch die räumliche Repräsentation des Programmcodes (einer operativen Schrift) determiniert. Auch hier ist die Reihenfolge der Statements relevant; da diese aber keineswegs linear abgearbeitet werden, fallen Verräumlichung und Verzeitlichung auseinander. Ein Son- derfall dieses Sonderfalls ist, wenn Computer für Steuerungs- KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 299 prozesse eingesetzt werden, die in Realzeit in reale Vorgänge ein- greifen … Mit Blick auf das Prozessieren ist insofern zu fragen, wie sich die Eingreifende Veränderung zu diesen verschiedenen Medien- zeiten verhält. Haben Medien, die selbst zeitlich organisiert sind, ein spezielles Verhältnis zum Prozessieren? 2. Metamorphosen auf der Ebene des Contents Sofort muss ins Auge fallen, dass Medien, die über eine Zeitachse verfügen, nichts anderes als Entwicklungen, Veränderungen, Transformationen und Metamorphosen vorführen, und zwar auf der Ebene des Contents, dessen also, was Inhalt der Darstellung ist. Zunächst im Rahmen der vorwärts drängenden Narration: Definitionen von Narrativität variieren, je nachdem ob sie von der Ebene des Erzählten oder der des Erzählens ausgehen (histoire vs. discours). In der strukturalistischen Erzähltheorie herrscht die Auf- fassung vor, daß Erzählungen (im Gegensatz zu Beschreibungen, Abhandlungen und anderen Texttypen) durch eine zeitlich organi- sierte Handlungssequenz definiert sind, in der es durch ein Ereignis zu einer Situationsveränderung kommt.473 In einem zweiten Schritt aber weit darüber hinaus, wenn man bedenkt, dass z. B. Spielfilme auch auf der Mikroebene einzelner Gesten – und letztlich von Bild zu Bild – eine Welt in Veränderung zeigen; eine gleitende Welt unablässiger Metamorphosen, weshalb Deleuze sein Kinobuch ‚Das Bewegungsbild‘ nennt.474 Meta- 473 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: [Stichwort: Narrativität]. Stutt- gart/Weimar 1998, S. 391 (Hervorh. H. W.). 474 Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (EV, frz.: 1983-85). Selbstverständlich gibt es Bild-Metamorphosen nicht erst im Film. Ein sehr frühes Beispiel zeigt John Sullivan in einem Essay; hier geht es um vorge- schichtliche Cave Art in Nord Amerika (Tennessee), mutmaßlich 2-4.000 Jahre alt. Sullivan schreibt: „Jan went a few yards and then lay down on his back on a sort of embankment in the cave. I did likewise. We were both looking up. He scanned his light along a series of pictures. It felt instinctively correct to call it a panel—it had sequence, it was telling some kind of story. There was an ax or a tomahawk with a human face and a crested topknot, like a Mohawk (the same topknot we’d just seen on the woodpeckers). Next to the ax perched a warrior eagle, with its wings spread, brandishing swords. And last a picture of a crown mace, 300 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT morphosen haben die Zuschauer schon in der Frühzeit des Kinos begeistert, etwa wenn – durch den Stopptrick – Figuren, die eben noch da waren, spurlos aus dem Bild verschwanden; in Überblen- dungen und Special Effects setzt sich dies fort, bis hin zu digitalen Effekten, für die die erwähnten ‚Transformers‘ ein Beispiel sind. Und allgemein hat der Film seine Pointe darin, dass sich alle Dinge verändern. Im Fall der zeitgebundenen Medien also ist, was ich hier Pro- zessieren nenne, auf die Ebene des Inhalts geraten. Diese Medien inszenieren Eingreifende Veränderungen nicht nur, sondern sie sind auf diese vollständig zentriert; und mit der Eingreifenden Ver- änderung – Stichwort war ‚Handlungssequenz‘ – folgen sie dem Handlungsmodell, das oben als Hintergrund diskutiert wurde. Das Handlungsmodell kehrt auf der Ebene der sprachlichen Syntax wieder; und es regiert, in unterschiedlicher Modifikation, nahezu alle zeitgebundenen Medien. Wie aber kann – rätselhaftes re-entry – das Prozessieren plötz- lich auf der Ebene des Inhalts auftauchen, wenn es doch eigentlich eine Medienfunktion, eine Bestimmung des Mediums oder eines Umgangs mit Medien war? Sind dies nicht zwei völlig getrennte Dinge? Kann man zwischen beiden überhaupt einen Übergang konstruieren? 3. Mediengesetze Der zitierte Handbucheintrag zur Narrativität meint, dass sich Erzähltheorien entweder dem Dargestellten (dem Inhalt) oder den a thing shaped like an elongated bishop in chess, meant to represent a symbolic weapon, possibly held by the chiefly elite during public rituals. It’s a ,type arti- fact‘ of the Mississippian sphere, meaning that, wherever you find it, you have the Southeastern Ceremonial Complex, or, as it used to be called (and still is by archaeologists when they think no one’s listening), the Southern Death Cult. In this case the object appeared to be morphing into a bird of prey. What did it mean? ,We don’t know,‘ Simek said. ,What it is clearly about is trans- formation.‘ Everything in it was turning into everything else.“ (Sullivan, John Jeremiah: Unnamed Caves. In: ders.: Pulphead. Notes from the Other Side of America. New York, NY: Farrar, Strauß and Giroux 2011, S. 226f. (Hervorh. H. W.). Die Stelle schlägt eine Brücke zurück zur Rolle der Metamorphose in der Magie. KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 301 Modi der Darstellung (dem Medialen) widmen.475 Wenn es nun also um deren Zusammenhang geht, ist dies ein Ansatz; und ähn- lich, wenn zu den ‚Metamorphosen‘ Ovids gesagt wurde, dass das Gewicht vom metaphysischen Gehalt (Verwandlung) auf die ästhetische Form (Narration) übergeht. Dass Content und Darstellungsform sich wechselseitig bedin- gen, ist wenig verblüffend. Der Zusammenhang zwischen beiden wird durch die Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Medien gestiftet, die regeln, auf welche Weise Medieninhalte überhaupt nur Form werden können; oder anders: Da Medien niemals universell sind, sondern immer spezifische Eigenschaften haben, auch wenn diese nicht immer offen zutage liegen, suchen sich Medien je nach ihren Eigenschaften geeignete Inhalte aus. Lessing führt dies in seinem ‚Laokoon‘ vor; und trifft die Entscheidung, dass Sprache und Erzählung ihre Stärke in der Darstellung von Verläufen/Prozessen haben, während die Skulptur einen Moment herausgreifen und anschaulich machen kann, den Prozess selbst dafür aber stillstellen muss.476 Im Kapitel zu Viefs Hasen wurde dies verallgemeinert und gezeigt, dass Medien zwischen Verräumlichung und Verzeitlichung oszillieren. Und weiter, dass es immer eine ‚erste‘ Verräumlichung gibt, die die Dinge dem Strom der Zeit entreißt und den Raum eröffnet, in dem überhaupt symbolische Operationen statthaben können. Diese nun hatte Kittler als ‚Time Axis Manipulation‘ bestimmt. Symbolische Operationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das Material, das sie der Zeit entrissen haben, auf neue Weise um- und anordnen können. Das ganze Kittlersche Argument – das war die Pointe bei Krämer – also zielt auf das Prozessieren. Innerhalb des Medialen können Medien über die Zeitachse selbst disponie- 475 „Verallgemeinernd kann man sagen, daß sich ein narrativer Text aus zwei Ebenen zusammensetzt, die eng aufeinander bezogen sind. Dabei handelt es sich um eine Abfolge von Zeichen, den Text (,discours‘), der eine Abfolge von Ereignissen, eine Geschichte (,histoire‘) repräsentiert. Die fundamentale Oppo- sition besteht also zwischen der Ebene der ,histoire‘, die ein reales oder fiktives Geschehen bezeichnet (das Was der Darstellung), und der Ebene des ,discours‘, in der das Geschehen sprachlich dargestellt wird (das Wie der Darstellung).“ (O. A.: histoire und discours, https://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/ epik/histdisc.htm, 11.8.2014). 476 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart: Reclam 1998 (EV: 1766). 302 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT ren. Auch wenn sie selbst eine Zeitachse haben, koppeln sie diese ab von den Zwängen der tatsächlichen Zeit. 4. Rückkehr der Zeit Und gleichzeitig, dies ist nun der nächste Schritt, kehrt die Zeit wieder; und mit ihr der Zwang der Zeit. Zum einen als Zeit der Aufführung, der Re-Aktualisierung, der Rezeption. Im Fall von Musik, Kino- oder Theateraufführungen diktatorisch hart, bei der Rezeption von CDs, DVDs oder Netzvideos etwas moderater, durch die Möglichkeit zu springen oder anzuhalten. Und selbst- verständlich kann man mit Medienzeiten auf vielfältige Weise spielen. Zeitgebundene Medien aber geben Rezeptionszeiten vor, und es ist unmöglich einen 90-Minuten-Spielfilm in 9 Minuten zu rezipieren. Zum Zweiten kehrt die Zeit wieder, wenn im Fall des Com- puters die einzelnen Operationen sehr schnell, die Vorgänge ins- gesamt aber dennoch lästig langsam ablaufen. Ob beim Booten oder bei rechenintensiven Operationen: Der kleine, rotierende Kreis kostet Nerven und das Medium insgesamt ist vom Ideal eines zeitfrei-instantanen Antwortverhaltens weit entfernt. Und drittens schließlich, insofern alle Medienprozesse Zeit brauchen. Und dies ist der wahrscheinlich relevanteste Punkt. Wenn sogar das Speichern ein Prozess ist, der Zeit konsumiert, entsteht die Frage, wie dieser ‚Verbrauch‘ von Zeit in ein Ver- ständnis der Medien integriert werden kann. Auch das Problem, wie Inhalt und Mediengesetze hinsichtlich der Zeit zusammen- hängen, ist weiter offen. 5. Computer Der Fall des Computers erscheint, betrachtet man ihn näher, noch komplizierter: Er spaltet die Zeitachse auf in die Phase der Pro- grammierung und eine zweite Phase, in der das Programm ausge- führt wird. Die Phase der Programmierung dient der Präparation; ähnlich wie beim Schreiben Produktion/Präparation und Rezeption vollständig getrennt werden, mit dem produktiven Effekt, dass das Schreiben vom Druck der Realzeit entlastet und unter ein eigenes KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 303 Zeitgesetz gestellt wird. Und ähnlich, wie man ein Werkzeug oder eine Maschine erst bauen muss, ehe man sie benutzen kann; was bedeutet, dass der Nutzen aufgeschoben ist, und in der Phase der Präparation zunächst nur Mühe und Kosten anfallen. Programme formulieren eine Metamorphose vor, die sich tatsächlich erst in der Ausführungszeit vollzieht.477 Zum Zweiten ist für den Computer typisch, dass die Ausführung an eine Maschine übergeben, also automatisiert wird; und auch das ist für sein Zeitregime relevant. Am Prozessieren selbst ist – zu- mindest unmittelbar – kein menschliches Subjekt mehr beteiligt; und der Eingriff der Eingreifenden Veränderung läuft ohne menschliche Eingriffe ab. Im Fall des Computers gibt es insofern nicht nur, wie dies bei allen Medien der Fall ist, zwei Räume: den des Contents, der ein symbolischer Raum und von tatsächlichen Konsequenzen ent- koppelt ist, und den zweiten der medialen Prozesse, des Umgangs mit Medien und Zeichen, der ein außersymbolischer, realer Raum ist und der auch die ‚Medienfunktionen‘, Übertragen, Speichern und Prozessieren, umfasst. Der Computers spaltet den symbo- lischen Raum in sich auf, indem der Content (das Programm) selbst einen Medienprozess anstößt und einen eigenen Umgang mit Medium und Zeichen steuert. Dies könnte in der hier verfolgten Perspektive die entscheidende Besonderheit der Rechner sein: Einerseits ist unstrittig, dass es sich um ein ‚Prozessieren‘ handelt; und gleichzeitig ist es hier der Content selbst, der prozessiert. Das Programm (Content) steuert die Maschine und ihren konkreten Ablauf und damit alle Ver- wandlungen, die sich zwischen Input und Output ereignen. Noch einmal: Selbstverständlich haben auch andere Medien- maschinen Inhalte in Bewegung versetzt. Der Projektor den Film; und in gewissem Sinne der Leser die Zeile. Und beide Vorgänge, es wurde gesagt, kann man als ein ‚Prozessieren‘ betrachten: Den Projektor im Sinne jener technischen Prozessketten, die das Signal immer wieder ‚übersetzen‘ und dabei – zwangsläufig – eingreifend 477 Auch hierfür gibt es interessante Ausnahmen wie das Sound-Synthese-Pro- gramm ‚SuperCollider‘, das es erlaubt, in Echtzeit nicht nur die Klänge zu ver- ändern, die das Programm produziert, sondern – in bestimmten Grenzen – auch das Programm selbst. Präparation und Ausführung sind hier nicht mehr zuver- lässig zu trennen. 304 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT verändern; den Leser, insofern sein nachvollziehendes Verstehen/ Nachdenken sicher ebenfalls eine Eingreifende Veränderung ist.478 Meine Behauptung ist dennoch, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt. Beim Projektor wie beim Leser nämlich ist gerade das, was am Prozessieren Eingreifende Veränderung ist, der Wahrnehmung weitgehend entzogen. Dies ist beim Computer – zumindest potentiell – anders; seine Besonderheit ist, dass er das Prozessieren, das sonst ein äußerer Umgang mit den Inhalten ist, auf dem Terrain des Symbolischen re-inszeniert. 6. Rekursive Einverleibung Meine These ist insofern die einer in Stufen gesteigerten Rekursion oder Einverleibung. Die erste Rekursion wäre diejenige des Sym- bolischen selbst, die Tatsache also, dass ein bestimmter Bereich der materiellen Welt abgetrennt wird, um Signifikanten (Spiel- material) zu gewinnen und mit Signifikanten Sachverhalte der 3-D- soliden Realität verdoppeln,479 darstellen und d. h. ‚re-präsentieren‘ zu können. Eine zweite Stufe wird erreicht, sobald es sich um zeitgebun- dene Medien handelt.480 Hiermit werden auch Vorgänge, Prozesse repräsentierbar; ein besonders wichtiger Schritt, weil eigentlich erst dies die Möglichkeit eines Probehandelns eröffnet. In beiden Fällen kann man von einer Rekursion sprechen, insofern die Signi- fikanten die Realität verdoppeln und sich als Re-präsentation auf die Realität zurückbeugen. Zeitgebundene Medien allerdings bleiben auf die Darstellung, die Repräsentation und die (probeweise) Wiederaufführung dieser Vorgänge beschränkt.481 Diese Medien erlauben es auf der Inhalts- ebene Realvorgänge/Metamorphosen zu simulieren; und das Medi- um insgesamt erlaubt, – Stichwort: Time Axis Manipulation – die verschiedensten Eingriffe ins symbolische Material. Die Ebene des 478 „So, the other day, what you said, I processed it. You know, your feelings.“ (Toni Soprano in der Serie ,The Sopranos‘, 5. Staffel, 12. Folge, 11:48). 479 … wenn auch sicher nicht im Sinne der berüchtigten ‚Widerspiegelung‘ … 480 Die Trennung, die ich hier vorschlage, ist rein analytisch. Ich behaupte nicht, dass historisch zunächst Sachverhalte und erst dann Prozesse zeichenhaft dar- gestellt worden sind. 481 Besonders deutlich im Fall des Theaters, der Performance und des fiktionalen Films ... KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 305 Inhalts und die zweite Ebene des Eingriffs von außen aber bleiben getrennt; die zweite, der Eingriff von außen, erscheint am Produkt selbst nur als Resultat,482 und bleibt entsprechend opak. Die dritte Stufe rekursiver Einverleibung besteht darin, dass das, was bis dahin ein Eingriff von außen war, nun auf die Ebene des Contents geholt wird, und als Programm in Bewegung versetzt, ‚operativ‘ gemacht, und damit selbst zum Aktanten wird. Im Resultat heißt das, dass das Symbolische immer mehr von dem an sich zieht, was ihm sonst äußerlich wäre. Und der Haupt- effekt dieser Entwicklung ist, dass damit immer neue Dinge – eben weil symbolisch repräsentiert – der Anschauung und der Reflexion zugänglich werden. Im Computer wird Content, was bis dahin eine ‚Medien- funktion‘ ist. Praktiken des Umgangs mit Medien werden einver- leibt und symbolisch repräsentiert. Das Prozessieren selbst wird Gegenstand der Beobachtung. Und mit ihm nahezu alle Aspekte, die hier diskutiert wurden, und insbesondere der Umschlag von Zeit in Raum und von Raum in Zeit. Die Dialektik von Verräum- lichung und Verzeitlichung, die die Medien regiert, wird damit – zumindest der Möglichkeit nach – transparent und der Anschauung zugänglich gemacht. 7. Verstehen Was aber heißt ‚transparent‘? Gegenwärtige Computer sind alles andere als transparent, und gerade Kittler hat immer wieder beklagt, dass die Entwicklung von Hard- und Software die Nutzer Schritt für Schritt davon abdrängt, überhaupt ein strukturelles Ver- ständnis dessen zu erreichen, was sich im Rechner abspielt. Nach wie vor liegt die Programmierung der ‚Programmable Media‘ in der Hand einer Riege von Spezialisten, völlig vergleichbar den Massenmedien, wo ebenfalls Programm-Macher die Programme machen. Und Nutzer nutzen Programme, programmieren sie aber nicht. Aber was meint dann Anschauung und Transparenz? Zunächst einmal, wie gesagt, dass das Prozessieren auf die Ebene des Con- 482 Selbstverständlich kann ich einem Film ansehen, dass er geschnitten wurde. Den Vorgang selbst aber kann ich nur beobachten, wenn ich einen Cutter beobachte … 306 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT tents übergeht, und in der Sphäre des Symbolischen re-präsentiert wird. Dies ist eine Voraussetzung für Verstehen; denn rekursive Einverleibung – dies, denke ich, ist die Pointe des Symbolischen – eröffnet die Möglichkeit der Reflexion. Der gesamte Diskurs, der den Computer zu verstehen versucht, von der Presse bis hin zur Medientheorie, arbeitet letztlich am gleichen Projekt, die naheliegende, rein instrumentelle Nutzer- perspektive hinter sich zu lassen und die Praktiken einer weit- gehend blinden ‚Anwendung‘ zu durchdringen. Nur scheinbar aber geht es darum, den Computer selbst zu ver- stehen, auch wenn dies für sich genommen sicher eine würdige Aufgabe ist. Eigentlich ist der Computer ein Schauplatz, eine neue – auch nach 75 Jahren Computerentwicklung immer noch neue – symbolische Praxis, die neue Dinge auf eine neue Weise repräsen- tierbar macht. Und im Zentrum dieses Neuen steht das Prozessie- ren selbst. Als eine Modellierung dessen, was vorher ein Umgehen mit Medien war. Als die reflexive Darstellung einer Praxis, die bisher mit Medien möglich, aber nicht in Medien, und vor allem nicht im Vollzug beobachtbar war. Meine These ist, dass die Computer nicht mehr wie der Film Vorgänge in der Welt, sondern das Arbeiten der symbolischen Systeme selbst der Reflexion zugänglich machen. Dies wäre für mich der entscheidende Unterschied zwischen der Repräsentation von Zeit und Bewegung auf der Ebene des Contents, wie sie die traditionellen, zeitgebundenen Medien bieten, und den Rechnern, die das Prozessieren selbst zum Gegenstand machen. 8. Schalten braucht Zeit Aber geht es überhaupt um ein ‚Verstehen‘? Sicherlich hat der Computer, gerade auf der Ebene seiner Zeitbehandlung, weitere Eigenschaften, die ein Verstehen nicht gerade begünstigen. Dies hebt vor allem Wolfgang Ernst in seiner Chronopoetik hervor; und ich will zumindest einige der Punkte, die er anführt, kurz referie- ren. Der erste Aspekt ist, dass Medien eine jeweils eigene Logik und damit auch eine ‚Eigenzeit‘ haben, die mit dem Zeitverständnis der Menschen, die sie nutzen, nicht von vornherein kompatibel ist. Das menschliche Zeitverständnis und jede Vorstellung von ‚Geschich- KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 307 te‘ vielmehr sind durch Medientechnologien mitformatiert; inso- fern, sagt Ernst programmatisch, ist „Geschichte als Form der tem- poralen Modellierung von technischen Medienexistenzen [unan- gemessen]“ und es gilt gerade umgekehrt „dem Geschick medien- induzierter Zeitprozesse [zu folgen]“.483 Zum Zweiten ist auffällig, dass Medientechnologien die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit unterlaufen. Dies gilt für den Film, der die Trägheit des visuellen Apparats ausnutzt, um aus stehenden Bildern die Illusion von Bewegung zu generieren; vor allem aber wieder für den Computer, insofern dessen „[z]eitkriti- sche Phänomene […] in einen infrazeitkritischen Bereich kleinster Momente [fallen], die subliminal am Werk sind“.484 Der dritte Punkt nun ist der zentrale: Ernst hat immer wieder hartnäckig darauf bestanden, dass Schalten Zeit braucht. „Jedes Schalten einer diskreten Information konsumiert ein minimales Zeitintervall, mit dem buchstäblich zu rechnen ist.“485 Dies ist zunächst ein empirischer Fakt; sicherlich lästig, weil sich diese Schaltzeiten addieren, und ein Schmerz für diejenigen, die von einer ‚immateriellen‘ Informationsverarbeitung träumen. Ernst aber macht hieraus eine völlig anders geartete, theoretische Pointe, indem er zeigt, dass es überhaupt erst die Delay time ist, die das Digitale ermöglicht: Delay time trifft den Kern des binären Zeitwesens: Verzögerungs- zeit meint die Schaltzeit beim Bipolartransistor, die vom Anlegen eines Steuersignals vergeht bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Kol- lektorstrom 10 % des Maximalwerts [?] erreicht. Digitale Medien sind wesentlich zeitkritisch, denn die Grundlage der binären Signal- verarbeitung, die Flipflop-Schaltung, zerhackt die Zeit und erinnert damit an den etymologischen Kern der ‚Zeit‘ selbst: das Abteilen.486 Sicherlich kann man Unterscheidungen auch im Raum treffen, etwa in dem man Grenzen zieht, dies hat Siegert in einem wichti- gen Text zu Gattern und Zäunen beschrieben.487 Wenn man die 483 Ernst, Chronopoetik, a. a. O., S. 16. 484 Ebd., S. 26. 485 Ebd., S. 18. Oder an anderer Stelle: „Schaltung als Operation verbraucht Zeit – ein Parameter, der in der philosophischen Syllogistik und Aussagenlogik lange vernachlässigt wurde.“ (Ebd., S. 362). 486 Ebd., S. 305 (Erg. u. Hervorh. H. W.). 487 Siegert, Bernhard: Türen. Zur Materialität des Symbolischen. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Nr. 1/10, 2010, S. 151-170. 308 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT Unterscheidung trifft, wenn man also entscheidet, aber ist dies ein irreduzibel zeitlicher Vorgang: Auch die Systemtheorie identifiziert jenes zeitkritische Moment, das bei jeder binären Schaltung im Spiel ist. Die Form einer Aussage als Grenze trennt beide Seiten so, daß man nur auf einer Seite zu beobachten oder zu handeln beginnt und die andere Seite nicht erreichen kann – ‚es sei denn, indem man die Grenze überschreitet, d. h. indem man Zeit verbraucht‘. Die eindeutige Unterscheidbarkeit von zwei Zuständen geschieht nicht im abstrakten Idealraum, son- dern notwendig in der Welt, also in der Zeit – etwa in Form von Flipflop-Schaltungen; sie ist das zeitkritische Herz binärer Informa- tionsverarbeitung. Niklas Luhmann betont, ‚dass die Markierung temporalisiert werden muss, dass also der ganze Kalkül ein Kalkül ist, der Zeit in Anspruch nimmt. […] Die „marks“ […] werden nebeneinander und übereinandergesetzt nach bestimmten Regeln (…). Aber das funktioniert nur als Sequenz von Operationen, also nur in der Zeit.‘488 Unterscheiden also meint eine Tätigkeit, das Treffen einer Ent- scheidung; und keineswegs zufällig kommt Ernsts Argument bei der Systemtheorie Luhmanns an, der oben im Zusammenhang mit den ‚Temporalstrukturen des Handlungssystems‘, der Irreversibi- lität der Zeit und dem Entscheiden zitiert wurde.489 Altgriechisch κρίνειν heißt „scheiden, absondern, trennen, unterscheiden“490, und dies zeigt an, dass und warum Ernsts zeit-kritisches Projekt die Zeit und ihre Irreversibilität tatsächlich zur Grundlage für ein Ver- ständnis des Computers und des Medialen macht. „Der Computer […] ist nicht schlicht eine symbolverarbeitende Maschine, sondern in seinen radikal zeitkritischen Weisen mithin eine komplexe Zeitmaschine.“491 Die Tatsache, dass Schalten Zeit verbraucht, bindet den Computer an das ‚Reale‘ zurück. Kein Problem hat der Digitalcomputer mit der Verarbeitung von Daten, die ihrerseits schon symbolisch, also diskret kodiert waren, etwa [mit] alphabetische[n] Texte[n]. Anders sieht es aus, wenn physikalische Zeitprozesse Gegenstand von Computerrechnung werden sollen, also die hinsichtlich der Vertäuung von Sein & Zeit tatsächliche Welt. Anteil an deren temporaler Indexikalität, oder 488 Ernst, Chronopoetik, a. a. O., S. 303, Ernst zitiert zunächst George Spencer Brown, Laws of Form, und dann Luhmann. 489 Kapitel 2.3, ,Speichern‘, S 172ff. 490 Griechisch-Deutsches Schul-Wörterbuch. Leipzig: Teubner 1882, S. 476. 491 Ernst, Chronopoetik, a. a. O., S. 298f. KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 309 anders ausgedrückt: Anteil am Zeitreal hat der Computer allein auf der Ebene seines eigenen Zeitvollzugs.492 Der Sonderfall zeitkritischer Prozesse, eines Prozessierens ‚in Echtzeit‘, wenn Computer also dazu eingesetzt werden, reale Vor- gänge zu messen, zu quantisieren, zu berechnen oder zu steuern, macht die ‚Vertäuung‘ besonders deutlich. „Die industrielle Pro- zesssteuerung versteht unter dem Zeitkritischen schlicht die Recht- zeitigkeit.“493 Das aber greift sicher zu kurz: Vielmehr spitzt […] [der Begriff der zeitkritischen Medien] zu, daß die medialen Operationen unter Bedingungen der digitalen Signal- verarbeitung in strikt vorgegebenen Zeitfenstern prozessiert werden müssen, um überhaupt zu gelingen und damit eine Aussage über- haupt erst zustande kommt.494 Und letztlich geht es darum, die Linearität des Prozessierens selbst abzusichern: „Why does computation require energy?“, fragt Ernst mit Neil Gershenfeld, „Because there must be some irreversibility to ensure that calculations go forward (from inputs to outputs) and not in reverse.“495 An dieser Stelle setzt die Überlegung auf der Physik und der Irreversibilität der Thermodynamik auf.496 Für das Prozessieren bedeutet dies, dass die Zeitachse noch einmal dramatisch an Bedeutung gewinnt. Sie wird im wörtlichen Sinne entscheidend. Und auch wenn ich einige der Grund- annahmen Ernsts nicht teile,497 meine ich, dass seine Chronopoetik die Frage nach dem Prozessieren tiefer legt, und dass jede Über- legung zum Prozessieren seinen Ansatz aufgreifen sollte. Und schließlich gibt es noch eine weitere Parallele: Auch wenn Ernst die Zeit in den Mittelpunkt stellt, bezieht er diese, exakt wie ich dies im vorliegenden Buch immer wieder versucht habe, zurück auf den Raum. [D]er Raum des Archivs (des Gedächtnisses) und die Aktualität von Gegenwart [sind] nicht mehr strikt getrennt, sondern gegenseitige Extremwerte. ‚Alle umlaufenden Theorien, die zwischen histori- scher und elektronischer Zeit wie zwischen Aufschub und Gleich- 492 Ebd., S. 299 (Erg. u. Hervorh. H. W.). 493 Ebd., S. 17. 494 Ebd., S. 29 (Erg. H. W.). 495 Ebd., S. 298. 496 Ebd. 497 Zu nennen wären hier die Neigung, Technik auf Hardware zu reduzieren, oder – notorisch – das ‚Technische Apriori‘. (Ebd., S. 305). 310 3 OPERATIONEN IN RAUM UND ZEIT zeitigkeit unterscheiden wollen, sind Mythen‘ […]; damit erledigt sich ein Großteil jener gegenwärtigen Analysen zur sogenannten Medienzeit, die Raum durch Zeit vollständig vernichtet sehen: Das mag für die Trägheit der menschlichen Wahrnehmung weiter gelten, nicht aber für das Zeitgespür der Medien selbst, das Raum und Zeit […] dynamisch relativiert.498 In diskreter Signalverarbeitung sind Speichern und zeitkritischer Moment notwendig verschränkt.499 Zwischen Raum und Zeit besteht eine notwendige Wechsel- wirkung, und diese zumindest auf dem Terrain der Medien einiger- maßen zu verstehen, ist das eigentliche Projekt. Dass sich diesem Verstehen Schwierigkeiten entgegenstellen, beschreibt Ernst plausibel. Der ganze Ansatz seiner ‚Chronopoetik‘ aber, das wird auf 430 Seiten deutlich, zielt darauf ab, einem solchen Verstehen näher zu kommen. Es ist insofern alles andere als gleichgültig, ob „technologische Medien […] in [ihrer] tempo- ralen Dimension […] von epistemologischer Reflexion erfasst werden oder nicht.“500 9. Schluss Meine eigene Überlegung steuert diesem Projekt die Erkenntnis bei, dass es sich beim Prozessieren um eine besondere Operation auf der Zeitachse handelt. Erst wenn man die Ebenen trennt und Transformationen auf der Ebene des Contents von der Eingreifen- den Veränderung absetzt, also von Transformationen, die mit medialem Material stattfinden, wird deutlich, inwiefern der Com- puter an der Front der Zeitbehandlung eine Neuerung ist. Meine These, wie gesagt, ist die einer schrittweisen rekursiven Einverleibung, die nun das Prozessieren selbst ergreift und zum Gegenstand symbolischer Repräsentation, der Anschauung und potentiell eben der Reflexion, macht. Über das Prozessieren nach- 498 Ebd., S. 20 (Erg. u. Hervorh. H. W.). 499 Ebd., S. 301. „,Mathematik“, sagt Ernst an einer anderen Stelle „hat für Brouwer […] restlos in ihrer Tätigkeit aufzugehen, für Hilbert dagegen auf dem Papier.‘ In der tätigen Rechenmaschine vollzieht sich die Verschränkung beider Weisen: des abstrakten mathematischen Zeichenraums und der Maschinentätigkeit.“ (Ebd., S. 325; E. zit. v. Hilgers). Und auch Hase und Igel kehren bei Ernst noch ein- mal wieder (Ebd., S. 385ff.). 500 Die Stelle wurde eingangs zitiert: Ernst, Chronopoetik, a. a. O., S. 15. KAPITEL 3.4 ZEITGEBUNDENE UND ZEITKRITISCHE MEDIEN 311 zudenken also heißt nicht mehr als diesem Weg, und möglicher- weise, sieht man von der heideggernden Formulierung ab, „dem Geschick medieninduzierter Zeitprozesse [zu folgen]“.501 501 Ebd., S. 16 (Erg. H. W.). 4 AUSGANG Ist Prozessieren ein sinnvoller Terminus? Gibt es die dritte Medienfunktion? Vergleichbar und gleichwertig mit Übertragen und Speichern? Gehört der Begriff in das Basis-Set medienwissen- schaftlicher Konzepte hinein, obwohl die Theorie ihn bislang ver- nachlässigt hat? Ist er ausreichend präzise bestimmt? Obwohl sie eigentlich der Ausgangspunkt waren, will ich mir diese Fragen ‒ nun zum Schluss ‒ noch einmal stellen. Beginnen wir mit der letzten. Präzise bestimmt ist der Begriff sicher nicht. Und dies ist keine Frage des guten Willens oder einer heroischen Anstrengung; ‚Prozessieren‘ vielmehr hat das strukturelle Problem, dass sich die klare Bestimmung, die der Term im Fall des Compu- ters hat, sobald er metaphorisch auf andere Medien appliziert wird, verliert. Und bei näherem Hinsehen erweist sich auch die klare Bestim- mung als keineswegs klar: Wie ich gezeigt habe, löst sich auf der Ebene der Computerchips alles, was als qualitative Veränderung der Daten erscheint, in Vorgänge des Schreibens und Lesens, in Übertragen und Speichern auf. Ausgerechnet im Fall des Compu- ters also gibt es kein Prozessieren. Und entsprechend nicht drei, sondern nur zwei Medienfunktionen. Wenn man dennoch von Pro- zessieren spricht, ist dies eine Verkürzung. Man wechselt auf jene generalisierte Ebene, die eben nicht die Mikrologie und Exaktheit der Prozessoren, sondern die Anwendung und die augenfällige Differenz zwischen Input und Output meint. Exakt damit aber hat der metaphorische Gebrauch schon begonnen … Insofern macht der Begriff ‒ paradox ‒ fast mehr Sinn in Bezug auf die anderen Medien. Hier gibt es vielfältige Formen Ein- greifender Veränderung, die tatsächlich irreversibel sind und die Qualität des Prozessierten verändern. Klar definiert aber ist der Term auch hier nicht, denn offensichtlich stehen auch hier viele Klärungsprozesse aus. So wird man klären müssen, ob Prozessieren nur materielle Ein- griffe meint oder ob man z. B. die Rezeption einbeziehen soll, die die Materialität des Signals zwar unberührt lässt, eine Nachbear- beitung des Rezipierten aber sicherlich einschließt. Und allgemein gilt die Frage immer dort, wo mediale Inhalte in Köpfen prozessiert werden, also für die Fälle einer ‚mentalen Verarbeitung‘, die man aus einem sinnvollen Medienverständnis sicher nicht heraus- rechnen kann. 316 4 AUSGANG Hiermit ist ein zweites Problem eng verbunden. Es wurde gesagt, dass der Begriff des Prozessierens produktionslastig ist und seine größte Evidenz dort hat, wo an und mit Medien gearbeitet wird. In fast allen seiner Verwendungen schleppt er Konnotationen von Produktion, Arbeit und Verarbeitung mit. Bezogen auf die Medienprozesse insgesamt bedeutet dies eine Asymmetrie: So scheint sich auf Seiten des Senders nicht nur die Äußerungsmacht zu konzentrieren, Grundlage dafür, den Sender als Träger von Agency, als aktiv handelnd, und den Empfänger als passiv empfan- gend zu definieren.502 Vielmehr scheint auch das Prozessieren un- gleich verteilt. Dies mag plausibel sein, weil die großen Medien- institutionen sicherlich auch hier besonders viele Möglichkeiten an sich ziehen; irritierend bleibt es für den Begriff selbst, der mit dem Handlungsmodell eine Machtdimension mit übernimmt. Diese, das muss man klar sagen, steht dem Anschein seiner ‚technischen Neutralität‘ deutlich entgegen. Und ebenso dem Versuch, die Frage nach dem Subjekt des Prozessierens einzuklammern.503 Offensicht- lich also erübrigt sich auch im Feld des Prozessierens die Frage nach Agency und Machtdifferenzen nicht. Die Soziologie, so könnte man mit etwas Ironie sagen, rollt einen Begriff von hinten auf, der ihr explizit entgegengesetzt war und beanspruchte, ohne sie auszukommen.504 Ein drittes, ebenfalls ungelöstes Problem besteht darin, dass bei näherem Zusehen auch die beiden anderen Medienfunktionen ihre Eindeutigkeit einbüßen. Die Erkenntnis, dass die Medienfunktio- nen sich wechselseitig enthalten, dass man Teilfunktionen frei- stellen muss, die eigentlich jeweils ins Feld der anderen Medien- funktionen gehören, muss die Trias insgesamt irritieren. Dies wirkt auf jede der Medienfunktionen, und eben auch auf das Prozessie- ren zurück. Offensichtlich also ist der Begriff des Prozessierens mit einer Anzahl ungelöster Probleme behaftet und von vielfältigen Wider- sprüchen durchzogen. Da sie ungelöst sind, wird man kaum von einem wohldefinierten Begriff sprechen können. Gleichzeitig aber, denke ich, gibt es keinen Begriff, und schon gar keinen im Werk- zeugkasten des Faches, für den nicht das gleiche gilt. Nahezu alle Begriffe schleppen ähnliche ungelöste Probleme mit sich. 502 Selbstverständlich wurde diese Zuordnung vielfältig kritisiert … 503 Kapitel 1.9, ,Handeln ohne Subjekt‘. 504 Der Vorbehalt Kittlers gegen die Gesellschaftswissenschaften ist notorisch. 4 AUSGANG 317 Ich meine deshalb, dass man ‒ trotz aller Einwände ‒ mit dem ‚Prozessieren‘ dennoch arbeiten kann. Allerdings nur dann, wenn man bereit ist, genau hinzusehen und sich den Problemen, die auf- tauchen, zu stellen. Die Begriffe, die man einsetzt, zu befragen, gehört zur Selbstdisziplin kulturwissenschaftlicher Fächer. Und da Begriffe Werkzeuge des Denkens sind, hängen hiervon auch die inhaltlichen Ergebnisse ab, das also, was das Fach an seinem Gegenstand, den Medien, aufdecken kann. So kommt es darauf an, das Prozessieren von den gröbsten Ver- kürzungen zu befreien, und an erster Stelle von der unhinterfragten Computer-Konnotation, in der sich Medienmaterialismus und der Wunsch up to date zu sein, Wissen und Halbwissen mischen. Als ein Computer-Term passt der Begriff nicht auf die anderen Medien. Und wo er Metapher bleibt, ist er zu weich und zu wenig prüfbar. Stark scheint mir der Begriff dort zu sein, wo er Fragen stellt. Dass Prozessieren ein Medienbegriff ist, der vom Paradigma der ‚Kommunikation‘ Abstand nimmt, ist interessant genug. Dass sich der Prozessierende dem Medium gegenüber befindet und mit dem Material (und dem Medium) anstatt mit einem Kommunikations- partner interagiert, dass es in medialen Prozessen um Ordnungen geht, um die Anordnung, die Umordnung und Neuordnung von Material ‒ all dies ist in den meisten Bestimmungen des Medialen sicher unterbelichtet. Und ebenso die Achse der Zeit. Prozessieren ist immer Prozess, und entsprechend ohne Zeitdimension nicht zu denken. Dies lenkt den Blick darauf, dass auch die anderen beiden Medienfunktionen eine Zeitdimension haben; Übertragen verbraucht Zeit, und Spei- chern spaltet sich in Stillstellen und Bewahren auf, um seine eigene prekäre Zeitstruktur zu errichten. Für den Raum, es wurde gezeigt, gilt das gleiche. Übertragen überwindet den Raum, den das Speichern verbraucht; alle drei Medienfunktionen relationieren Zeit und Raum auf jeweils eigene, spezifische Weise. Hinter der Trias der drei Medienfunktionen steht offensichtlich die allgemeinere Frage, wie Medien sich in Raum und Zeit situie- ren, wie sie selbst mit Raum und Zeit umgehen und welche Raum- und Zeitverhältnisse sie schaffen. Hier zeichnen sich die Konturen einer Medienwissenschaft ab, die es noch nicht gibt. Vielleicht ist es tatsächlich möglich, die Medien im Sinne einer ‚Logistik‘ neu zu verstehen. Einer Medienlogistik, die Übertragen, Speichern und 318 4 AUSGANG Prozessieren, ebenso wie Akte und Reifizierungen, Wandel und Beharrung, Prozess und Stase, und schließlich: Raum und Zeit auf eine regelhafte Weise aufeinander bezieht. Die andere Seite ist, den Begriff des Prozessierens am Beispiel weiterer Medien konkret zu erproben. Der dritte Teil meines Buchs macht Schritte in diese Richtung, und es erweist sich, dass im Konkreten die Dinge fast ebenso kompliziert liegen. Zwischen den konkreten Medienprozessen und den Begriffen, die sie begreifen sollen, liegt eine Kluft, und da die mediengeschichtlichen Fälle eine Art Einspruchsrecht haben, bleibt auch hier nur die Option, die Begriffe entsprechend zu schärfen. Das Prozessieren scheint mir die Art und Weise zu erweitern, in der über Medien bislang nachgedacht wird, und gleichzeitig bleibt hier ein ganzes Universum zu denken übrig. Mitten im Zentrum des Fachs macht das Prozessieren ein neues Feld auf. LITERATURVERZEICHNIS Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. In: Ges. Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. −: Negative Dialektik. In: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Assmann, Aleida: Schrift und Gedächtnis − Rivalität oder Allianz? In: Faßler, Manfred; Halbach, Wulf (Hg.): Inszenierungen von Informa- tion. Gießen 1992, S. 93-102. −: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Huber, Jörg; Müller, Alois Martin (Hg.): Raum und Verfahren. Basel/ Frankfurt am Main 1993, S. 133-155. −; Assmann, Jan: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Merten, Klaus; Schmidt, Siegfried J.; Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommuni- kationswissenschaft. Opladen 1994, S. 114-140. −; Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kultu- rellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991. −; Assmann, Jan; Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Ar- chäologie der literarischen Kommunikation. München 1993, S. 265-283 (EV: 1983). Assmann, Jan: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten. München 1991. −: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders.; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9-19. −; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988. Baecker, Dirk (Hg.): Probleme der Form. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Bartz, Christina; Jäger, Ludwig; Krause, Marcus; Linz, Erika (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen [Einleitung]. Mün- chen: Fink 2012. Bateson, Gregory: The Message ,This is Play‘. In: Schaffner, Bertram (Hg.): Group Processes. New York, NY, 1956, S. 145-242. −: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt am Main 1995 (EV, am.: 1979). Baudry, Jean-Louis: Le dispositif. Approches métapsychologiques de l’impression de réalité. In: Communications, Nr. 23, 1975, S. 56-72; dt.: ders.: Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat. In: Riesinger, Robert F. (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster: Nodus 2003, S. 27-39. Beauchamp, Ken: A History of Telegraphy: Its Technology and Applica- tions. London 2001. Becker, Bernd; Drechsler, Rolf; Molitor, Paul: Technische Informatik. Eine Einführung. München: Pearson 2005. 322 LITERATURVERZEICHNIS Beil, Benjamin; Engell, Lorenz; Schröter, Jens; Schwaab, Herbert; Wentz, Daniela: Die Serie. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 7, 2/2012, S. 10-16. Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript Verlag 2006. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro- duzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (EV: 1936). Beyrer, Klaus; Mathis, Birgit-Susann (Hg.): So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegrafie. Frankfurt am Main: Museum für Post und Kommunikation 1995. Bonacker, Thorsten; Römer, Oliver: (Post)Moderne. In: Baur, Nina; Korte, Hermann; Löw, Martina; Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2008, S. 355-372. Brown, Bill: A Sense of Things: The Object Matter of American Litera- ture. Chicago, IL: UCP 2004. − (Hg.): Things. A Critical Inquiry Book. Chicago, IL: UCP 2004. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Gustav Fischer 1934. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Ge- schlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (EV, am.: 1993). Campe, Rüdiger: Technik im Geist. Kommentar zu Geoffrey Winthrop- Young. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 2, Dez. 2008, S. 133-138. Claus Pias: Der Verdacht ist das Medium. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.3.2000. Czitrom, Daniel J.: Media and the American Mind. From Morse to McLuhan. Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 1984. de Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissen- schaft. Berlin 1967 (EV, frz.: 1916). Deleuze, Gilles: Das Bewegungsbild. Kino 1. Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1990 (EV, frz.: 1983-85). Dennhardt, Robert: Die Flipflop-Legende und das Digitale. Eine Vorge- schichte des Digitalcomputers vom Unterbrecherkontakt zur Röhren- elektronik 1837-1945. Berlin: Kadmos 2009. Döring, Jörg: Ovids Orpheus. Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996. −; Thielmann, Tristan (Hg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Dis- kussion. Bielefeld: transcript Verlag 2009. Dotzler, Bernhard J.: Papiermaschinen. Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik. Berlin: Oldenbourg Akademie 1996. −: Prozessieren. In: Roesler, Alexander; Stiegler, Bernd (Hg.): Grund- begriffe der Medientheorie. München: Fink 2005, S. 214-218. −; Schüttpelz, Erhard; Stanitzek, Georg: Die Adresse des Mediums. Einleitung. In: Andriopoulos, Stefan; Schabacher, Gabriele; Schumacher, Eckhard (Hg.): Die Adresse des Mediums. Köln: Dumont 2001. LITERATURVERZEICHNIS 323 Duden online: Eintrag Algorithmus. http://www.duden.de/rechtschreibung/Algorithmus, 23.4.2013. Ecker, Gisela (Hg.): Umordnungen der Dinge. Königstein: Helmer 2000. − (Hg.): Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen. Königstein: Helmer 2001. −; Breger, Claudia; Scholz, Susanne (Hg.): Dinge, Medien der Aneig- nung, Grenzen der Verfügung. Königstein: Helmer 2002. Ellestrom, Lars (Hg.): Media Borders, Multimodality and Intermediality. Houndmills (UK): Palgrave 2010. Encyclopedia Britannica online: Eintrag Data Processing. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/1516440/data-processing, 14.9.2010. −: Eintrag Information Processing. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/287847/information-processing, 18.1.2011. Encylopedia Britannica online: Eintrag Machine. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/354611/machine, 12.10.2010. Enzensberger, Hans Magnus: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch, Nr. 20, März 1970, S. 159-186. Ernst, Wolfgang: Chronopoetik. Berlin: Kadmos 2012. −: Die Frage nach dem Zeitkritischen. In: Volmar, Axel (Hg.): Zeitkritische Medien. Berlin: Kadmos 2009, S. 27-42. Field, Cyrus W.: Laying Of The Atlantic Cable [1866]. http://history-world.org/Laying%20Of%20The%20Atlantic%20Cable.htm, 4.12.2010. Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris (Hg.): Kulturen des Performativen. Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 7, H. 1., Berlin 1998. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Photographie. Göttingen: Euro- pean Photography 1983. −: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photo- graphy 1985. −: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: Immatrix 1987. −: Digitaler Schein. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 147-159. −: Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code. In: Matejovski, Dirk; Kittler, Friedrich (Hg.): Literatur im Informations- zeitalter. Frankfurt am Main/New York, NY: Campus 1996, S. 9-14. Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psy- choanalyse. In: Studienausgabe, Bd. 1, S. 447-608 (EV: 1933). −: Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. In: Studienausgabe, Bd. 3, S. 13-24 (EV: 1911). Füger, Wilhelm: Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensionen eines klärungsbedürftigen Konzepts. In: Helbig, Jörg 324 LITERATURVERZEICHNIS (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären For- schungsgebiets. Berlin: Schmidt 1998, S. 41-54. Gehlen, Arnold: Zur Geschichte der Anthropologie. In: ders.: Anthropo- logische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Reinbek: Rowohlt 1961 (EV: 1957). Geoghegan, Bernard Dionysius: After Kittler: On the Cultural Techniques of Recent German Media Theory. In: Theory Culture Society, published online 12 August 2013, S. 1-17. Gibson, James J.: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München/Wien/Baltimore, MD: Urban & Schwarzenberg 1982 (EV, am.: 1979). Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/New York, NY, 1995 (EV, engl.: 1984). Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommuni- kationstechnologien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main 1977 (EV, am.: 1974). Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn. Zur Psychophysiologie des Sehens. München: Kindler 1966 (EV, am.: 1966). Griechisch-Deutsches Schul-Wörterbuch. Leipzig: Teubner 1882. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt am Main: Fischer 1999 (EV: 1992). Hall, Stuart: Kodieren, Dekodieren. In: Adelmann, Ralf u. a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Konstanz: UVK 2001, S. 105-124 (EV: 1973). Hartmann, Frank: Produzieren und Prozessieren von Bildern. Ein Essay über Fotografie als Übersetzungsspiel. In: Rundbrief Fotografie, Vol. 13, Nr. 3, 2006, S. 17-20. http://www.medienphilosophie.net/texte/fotografie.html, 18.1.2011. Hartmann, Frank: Vom Reproduzieren zum Prozessieren von Bildern. In: Medienimpulse, Nr. 56, Juni 2006, S. 20-22. www.mediamanual.at/mediamanual/themen/pdf/medien/56_Hartmann- Vom_Reproduzieren.pdf, 18.1.2011. Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers. Frankfurt am Main/New York, NY: Campus 1993. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metz- ler 2003. Hoffmann, Dirk W.: Grundlagen der Technischen Informatik. München: Hanser 2010. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philo- sophische Fragmente. In: A., Th. W.: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981 (EV: 1947). Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Ham- burg 1956 (EV: 1938). LITERATURVERZEICHNIS 325 Hutter, Michael: Neue Medienökonomik. Neue ökonomische Bibliothek. München: Fink UTB 2006. Innis, Harold A.: The Bias of Communication. Toronto/Buffalo, MN/London: University of Toronto Press 2006 (EV, am.: 1951). −: Empire and Communications. Lanham, MD, 2007 (EV: am.: 1950). Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve 1979 (EV, frz.: 1977). Jäger, Ludwig: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: ders.; Stanitzek, Georg (Hg.): Transkribieren. Medien/ Lektüre. München: Fink 2002, S. 19-41. −; Jarke, Matthias; Klamma, Ralf; Spaniol, Marc: Transkriptivität. Operative Medientheorien als Grundlage von Informationssystemen für die Kulturwissenschaften. In: Informatik Spektrum 31, 1, 2008, S. 21- 29. Kahle, Christian: Intel: Mooresches Gesetz gilt noch mind. 10 Jahre. In: Winfuture, 14.9.2012. http://winfuture.de/news,72001.html, 20.6.2013. Keil, Reinhard: Von der Zeichentransformation zur Wissensarbeit. Digi- tale Medien eröffnen neue Potenziale für die Wissensarbeit. In: For- schungsforum Paderborn, Nr. 4, 2001, S. 12-17. −: Medienqualitäten beim eLearning: Vom Transport zur Transformation von Wissen. Bibliothek Forschung und Praxis 31, 1, 2007, 2007, S. 41- 50. −: Das Differenztheater. Koaktive Wissensarbeit als Selbstorganisation. In: Bublitz, Hannelore u. a. (Hg.): Automatismen. München: Fink 2010, S. 205-230. Kindlers Literatur Lexikon: Eintrag Metamorphoseon Libri. In: Bd. 8, München: DTV 1986. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 - 1900. München: Fink 1985. −: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. −: Literatur und Literaturwissenschaft als Word Processing. In: Stötzel, Georg (Hg.): Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vor- träge des Deutschen Germanistentages 1984. Berlin/New York, NY, 1985, 2. Teil. −: Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine. In: ders.: Dracu- las Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 58-80 (EV: 1989). −: Protected Mode. In: ders.: Draculas Vermächtnis, a. a. O., S. 208-224 (EV: 1991). −: Real Time Analysis. Time Axis Manipulation. In: ders.: Draculas Ver- mächtnis, a. a. O., S. 182-207 (EV: 1990). −: Vorwort. In: ders.: Draculas Vermächtnis, a. a. O., S. 8-10. −: o.T. [Vorwort zum Buch: Aufschreibesysteme; unveröff. Manuskript 1983]. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 1/2012, S. 117-126. 326 LITERATURVERZEICHNIS −; Tholen, Georg Christoph (Hg.): Arsenale der Seele. Literatur- und Me- dienanalyse seit 1870. München: Fink 1989. Kloock, Daniela; Spahr, Angela: Medientheorien. Eine Einführung. Mün- chen: Fink 1997. Knies, Karl: Der Telegraph als Verkehrsmittel. Über den Nachrichtenver- kehr überhaupt. München 1996 (EV: 1857). Kolb, Anne: Transport und Nachrichtentransfer im Römischen Reich. Berlin: Akademie 2001. Krajewski, Markus: Vom Servant zum Server. Die Herrschaft der stum- men Diener und elektronischen Gehilfen. In: Arch+ 205, 2012, S. 20- 25. Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988. −: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert. Berlin/New York, NY: de Gruyter 1991. −: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Perspektiven des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. −: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frank- furt am Main: Suhrkamp 2008. − (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004. −: Operative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informa- tik. In: Schefe, Peter; Hastedt, Heiner; Dittrich, Yvonne (Hg.): Informatik und Philosophie. Mannheim: BI-Wissenschaftsverlag 1993, S. 69-84. −: Die Eigensinnigkeit von Medien. http://www.inf.fu-berlin.de/~ossnkopp/eignsinn.html, 20.2.1998 (EV: 1996). −: Sprache und Schrift oder: Ist Schrift verschriftete Sprache? In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, Nr. 15.1, 1996, S. 92-112. −: Kalküle als Repräsentationen. Zur Genese des operativen Symbol- gebrauches in der Neuzeit. In: Rheinberger, Hans-Jörg; Hagner, Michael; Wahring-Schmidt, Bettina (Hg.): Räume des Wissens: Reprä- sentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie 1997, S. 112-122. −: Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unter- scheidung von Medien und Form. In: Siemon, Dieter (Hg.): Rechtshisto- risches Journal 17. Frankfurt am Main: Löwenklau 1998, S. 558-574. http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/medium/kraemer2.html, 30.12.2007. −: Friedrich Kittler − Kulturtechniken der Zeitachsenmanipulation. In: Lagaay, Alice; Lauer, David (Hg.): Medientheorien. Eine philoso- phische Einführung. Frankfurt am Main/New York, NY, 2004, S. 201- 224. −: Technik als Kulturtechnik. Kleines Plädoyer für eine kulturanthropolo- gische Erweiterung des Technikkonzeptes. In: Kornwachs, Klaus (Hg.): Technik – System – Verantwortung. Münster: Lit 2004, S. 157-164. LITERATURVERZEICHNIS 327 −: Die Welt, ein Spiel? Über die Spielbewegung als Umkehrbarkeit. In: Deutsches Hygiene-Museum (Hg.): Spielen. Zwischen Rausch und Regel. Ostfildern-Ruit 2005, S. 11-19. −: Operationsraum Schrift. Ein Perspektivenwechsel im Schriftverständnis. In: Grube, Gernot; Kogge, Werner; dies. (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink 2005, S. 13-32. −: Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen. In: Strätling, Susanne; Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München: Fink 2005, S. 75- 84. −: Die Schrift als Hybrid aus Sprache und Bild. Thesen über die Schrift- bildlichkeit unter Berücksichtigung von Diagrammatik und Karto- graphie. In: Hoffmann, Thorsten; Rippl, Gabriele (Hg.): Bilder. Ein (neues) Leitmedium? Göttingen: Wallstein 2006, S. 79-92. −: Operative Bildlichkeit. Von der ,Grammatologie‘ zu einer ,Diagramma- tologie‘? Reflexionen über erkennendes ,Sehen‘. In: Hessler, Martina; Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld: Transcript 2009, S. 94-121. −: Notationen, Schemata und Diagramme. Über ‚Räumlichkeit‘ als Dar- stellungsprinzip. Sechs kommentierte Thesen. In: Brandstetter, Gabriele; Hoffmann, Frank; Maar, Kristen (Hg.): Notationen und choreographisches Denken. Freiburg/Berlin/Wien: Rombach 2010, S. 29-45. −; Bredekamp, Horst (Hg.): Bild – Schrift – Zahl. München: Fink 2003. −; Bredekamp, Horst: Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursi- vierung der Kultur. In: dies., Bild – Schrift – Zahl, a. a. O., S. 11-22. −; Cancik-Kirschbaum, Eva; Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie 2012. −; Wulf, Cristoph (Hg.): Theorien des Performativen. Paragrana, Inter- nationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 10, H. 1, Berlin 2001. Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (EV, frz.: 1974). Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Den- ken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt am Main: Fischer 1965 (EV, am.: 1942). Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 (EV, engl.: 1999). −: Technology is Society Made Durable. In: Law, John (Hg.): A Sociol- ogy of Monsters? Essays on Power, Technology and Domination. Lon- don/New York, NY: Routledge 1991, S. 103-131. −: Die Logistik der immutable mobiles. In: Döring/Thielmann, Medien- geographie, a. a. O., S. 111-144 (EV, am. 1987). 328 LITERATURVERZEICHNIS −: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Belliger/Krieger, ANThology, a. a. O., S. 259-307 (EV, am.: 1986/90). −: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Eine Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 (EV, am.: 2005). Law, John: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie: Ordnung, Strategie und Heterogenität. In: Belliger/Krieger, ANThology, a. a. O., S. 429- 446 (EV, am.: 1992). Leistert, Oliver: From Protest to Surveillance – The Political Rationality of Mobile Media: Modalities of Neoliberalism. Frankfurt am Main: Lang 2013. −: Mobile Media: Protest and Surveillance. On the Political Rationality of Ubiquitous Individual Connectivity. http://digital.ub.uni-paderborn.de/hs/content/titleinfo/555530, 2.7.2013. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (EV, frz.: 1964). Leschke, Rainer: Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien. Konstanz: UVK 2010. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart: Reclam 1998 (EV: 1766). Lueger, Otto (Hg.): Lexikon der gesamten Technik. Eintrag Telegraph. Stuttgart/Leipzig: DVA 1904. http://www.zeno.org/Lueger-1904/A/Telegraph +%5B1%5D, 1.12.2010. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (EV: 1984). −: Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie. In: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen 1993, S. 126-150 (EV: 1980). Lutherbibel 1912. http://www.bibel-online.net/buch/43.johannes/1.html#1,15, 12.10.2010. Macho, Thomas: Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität. In: Baecker, Dirk; Kettner, Matthias; Rustemeyer, Dirk (Hg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion. Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 99-117. −: Zeit und Zahl. Kalender- und Zeitrechnung als Kulturtechniken. In: Krämer/Bredekamp, Bild – Schrift – Zahl, a. a. O., S. 179-192. Mahr, Bernd: Das Wissen im Modell. In: KIT-Report Nr. 150, TU Berlin, Dezember 2004. http://www.tu-berlin.de/fileadmin/fg53/KIT-Reports/r150.pdf, 19.4.2013. Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge, MA: MIT 2001. Maresch, Rudolf: Kommunikation ‒ Medien – Macht. In: Telepolis, 26.5.1999. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/2/2879/1.html, 15.8.2009. LITERATURVERZEICHNIS 329 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz 1972 (EV: 1867). Maye, Harun: Kulturtechnik. In: Bartz, Christina; Jäger, Ludwig; Krause, Marcus; Linz, Erika (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen. München: Fink 2012, S. 142-148. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. ‚Understanding Media‘. Düsseldorf/Wien 1968 (EV, engl.: 1964). Merriam Webster Online Dictionary: Eintrag Trajectory. http://www.merriam-webster.com/dictionary/trajectory, 6.5.2013. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Eintrag Narrativität. Stutt- gart/Weimar 1998, S. 391. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Eintrag Poiesis. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 429-430. Meyer, Ursula: Die andere Philosophiegeschichte. Aachen: Ein-Fach-Ver- lag 2007. Meyers Konversationslexikon: Eintrag Telegraph. http://de.academic.ru/dic.nsf/meyers/139090/Telegraph, 1.12.2010. Mitchell, William J.: Ziegel oder Bits? In: Iglhaut, Stefan; Medosch, Armin; Rötzer, Florian (Hg.): Stadt am Netz. Mannheim: Bollmann 1996, S. 64- 70. Nanz, Tobias; Siegert, Bernhard (Hg.): Ex Machina. Beiträge zur Ge- schichte der Kulturtechniken. Weimar: VDG 2006. Neitzel, Britta: Gespielte Geschichten. http://e-pub.uni-weimar.de/volltexte/2004/72/, S. 43-58, 26.12.2008. Nemeth, Tizian: Mooresches Gesetz ist tot. In: Giga, Leidenschaft für Technik und Games, 3.5.2010. http://www.giga.de/unternehmen/nvidia/news/mooresches-gesetz-ist-tot-n vidia-vize-uber-die-zukunft-von-prozessoren/, 20.6.2013. Neubert, Christoph; Schabacher, Gabriele (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft: Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: Transcript 2012. o. A.: Geschichte der Telekommunikation von 1833 bis 1944. http://waehlamt.at/nte2/geschichte/g1-frameset.htm, 25.11.2010. o. A.: histoire und discours. https://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/histdisc.htm, 11.8.2014. o. A.: Intermediale Transformation. http://elearn.hawk-hhg.de/projekte/medialeproduktion/pages/lehrmodule/int ermediale-transformation.php, 20.1.2011. o. A.: Schmelzdahin. http://www.filmalchemist.de/schmelzfilms.html, 21.10.2010. o. A.: [Homepage des Graduiertenkollegs Automatismen]. http://www.uni-paderborn.de/institute-einrichtungen/gk-automatismen/, 10.6.2012. o. A.: Morsetelegrafieseite DK5KE. http://www.qsl.net/dk5ke/telegraf.html, 1.12.2010. 330 LITERATURVERZEICHNIS o. A.: Werbespot Bitburger, 2013. http://www.youtube.com/watch?v=PFmbLOj_Rc0, 7.5.2013. o. A.: Werbespot McDonald‘s: Los Wochos, 2013. http://www.youtube.com/watch?v=z1eeEYR XpCE, 7.5.2013. Online-Lexikon ITWissen: Eintrag Algorithmus. http://www.itwissen.info/definition/lexikon/Algorithmus-algorithm.html, 22.7.2014. Ovid: Metamorphosen. München 1981. Owen, Bruce M.: The Internet Challenge to Television. Cambridge, MA/ London: Harvard UP 2000. Paech, Joachim: Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität. Stuttgart: Metzler 1994. −: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Helbig, Jörg (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines inter- disziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Schmidt 1998, S. 14-30. −; Schröter, Jens (Hg.): Intermedialität – Analog/Digital: Theorien, Methoden, Analysen. München: Fink 2007. Palmer, Jason: Chemical computer that mimics neurons to be created. In: BBC News. http://news.bbc.co.uk/2/hi/8452196.stm, 11.1.2010, 19.4.2013. Parikka, Jussi: Afterword: Cultural Techniques and Media Studies. In: Theory, Culture & Society, published online 12 August 2013, S. 1-13. http://tcs.sagepub.com/content/early/2013/08/12/0263276413501206. Pawley, Martin: Architektur im Kampf gegen die neuen Medien. In: Igl- haut, Stefan; Medosch, Armin; Rötzer, Florian (Hg.): Stadt am Netz. Mannheim: Bollmann 1996, S. 27-38. Peters, John Durham: Calendar, Clock, Tower. In: Stolow, Jeremy (Hg.): Deus in Machina. Religion and Technology in Historical Perspective. New York, NY: Fordham University Press 2013, S. 25-42. http://web.mit.edu/comm-forum/mit6/papers/peters.pdf, 3.3.2010. Peters, John: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communica- tion. Chicago, IL/London: University of Chicago Press 2000 (EV: 1999). Piaget, Jean: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. In: Ges. Werke, Bd. 2, Stuttgart 1975 (EV, frz.: 1950). −: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. In: Ges. Werke, Bd. 1, Stuttgart 1996 (EV, frz.: 1959). Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Stuttgart: UTB 2002. Reber, Ursula: Formenverschleifung. Zu einer Theorie der Metamor- phose. München: Fink 2009. Richter, Christian: Einführung in Aufbau und Funktionsweise von Mikro- prozessoren (2005). http://www.ch-r.de/et/nue-atmmk-mikroprozessoren.pdf, 15.9.2010. Riepl, Wolfgang: Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Leipzig/Berlin 1913. LITERATURVERZEICHNIS 331 Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie: Eintrag Ausdruck. Bd. 1, Darmstadt: WBG 1971, S. 653-662. −: Historisches Wörterbuch der Philosophie: Eintrag Form. Bd. 2., Darm- stadt: WBG 1972, S. 974-1031. −: Historisches Wörterbuch der Philosophie: Eintrag Prozeß. Bd. 7, Darm- stadt: WBG 1972, S. 1543-1562. Robben, Bernard: Der Computer als Medium. Eine transdisziplinäre The- orie. Bielefeld: transcript Verlag 2006. Schellen, Heinrich: Der elektromagnetische Telegraph in den Haupt- stadien seiner Entwicklung und in seiner gegenwärtigen Ausbildung und Anwendung. Braunschweig: Vieweg 1854. Schieder, Siegfried: Die gestaltende Kraft von Sprachbildern und Meta- phern. Diss., Uni Trier 2006. ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2010/598/pdf/Schieder_13102006.pdf, 9.5.2013. Schiffmann, Wolfram; Schmitz, Robert: Technische Informatik. Bd. 1 und 2, Berlin: Springer 1992. Schmandt-Besserat, Denise: Before Writing. Vol. 1: From Counting to Cuneiform. Austin 1992. Schneider, Birgit: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei. Zürich/Berlin: Diaphanes 2007. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. II, Zürich 1977 (EV: 1844). Schröter, Jens: Das TechnoSubjekt der Geschichte. Verschiebungen einer Teleologie. http://www.gradnet.de/ papers/pomo99.papers/Schroeter99.htm, 15.8.2009. −: Intermedialität. http://www.theorie-der-medien.de/text_druck.php?nr=12, 7.2.2013. Schubert, Hans-Joachim u. a.: Pragmatismus. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2010. Schüttpelz, Erhard: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechni- ken. In: Engell, Lorenz; Siegert, Bernhard; Vogl, Joseph (Hg.): Kultur- geschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). Weimar: Univer- sitätsverlag 2006, S. 87-110. −: Die medientechnische Überlegenheit des Westens. Zur Geschichte und Geographie der immutable mobiles Bruno Latours. In: Döring/Thiel- mann, Mediengeographie, a. a. O., S. 67-110. Serres, Michel: Hermes III. Übersetzung. Berlin: Merve 1992 (EV, frz.: 1974). Siegert, Bernhard: Cacography or Communication? Cultural Techniques in German Media Studies. In: Grey Room, No. 29, New German Media Theory, Fall 2007, S. 26-47. http://www.jstor.org/stable/20442774, 12.8.2013. −: Was sind Kulturtechniken? Beschreibung des Lehr- und Fachgebietes. 332 LITERATURVERZEICHNIS http://www.uni-weimar.de/medien/kulturtechniken/kultek.html (o.j.), 14.2.2007. −: Türen. Zur Materialität des Symbolischen. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Nr. 1/10, 2010, S. 151-170. −: Cultural Techniques: Or the End of the Intellectual Postwar Era in German Media Theory. In: Theory Culture Society, published online 21 August 2013. http://tcs.sagepub.com/content/early/2013/08/21/0263276413488963. Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform. Versuch über den gesell- schaftlichen Ursprung des ‚reinen Verstandes‘. In: ders.: Warenform und Denkform. Aufsätze. Frankfurt am Main/Wien: EVA 1971 (EV: 1961). Spielmann, Yvonne: Intermedialität als symbolische Form. In: Ästhetik und Kommunikation, Nr. 24, 1995, S. 112-117. Standage, Tom: Das Viktorianische Internet. Die erstaunliche Geschichte des Telegraphen und der ersten Online-Pioniere des 19. Jahrhunderts. St. Gallen/Zürich: Midas 1999 (EV, am.: 1998). Stanitzek, Georg: Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung. In: Jäger, Ludwig; ders. (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München: Fink 2002, S. 7-18. Stephan, Achim: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorga- nisation. Paderborn: Mentis 2007 (EV: 1999). Sullivan, John Jeremiah: Unnamed Caves. In: ders.: Pulphead. Notes from the Other Side of America. New York, NY: Farrar, Strauß and Giroux 2011. Tholen, Georg Christoph; Scholl, Michael; Heller, Martin (Hg.): Zeitreise. Bilder / Maschinen / Strategien / Rätsel. Basel/Frankfurt am Main: Stroem- feld 1993. Tischleder, Babette Bärbel: The Literary Life of Things: Case Studies in American Fiction. Frankfurt am Main/New York, NY: Campus 2014. Turing, Alan: Rechenmaschinen und Intelligenz. In: ders.: Intelligence Service. Berlin 1987, S. 147-182 (EV, engl.: 1950). −: Über berechenbare Zahlen mit einer Anwendung auf das Entschei- dungsproblem. In: ders.: Intelligence Service. Berlin 1987, S. 17-60 (EV, engl.: 1937); Vief, Bernhard: Digitales Geld. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1991, S. 117-146. −: Digitaler Raum. In: Die Auflösung der Medien im elektronischen Raum. Kunstgespräche 1992, Eremitage in Schwaz/Tirol. transit.tiroler-landesmuseum.at/kunstgespräche/vief.html, 30.12.2007. −: Über die Unschärfe von Zeitschnitten. In: Transit (Hg.): On The Air. Kunst im öffentlichen Datenraum. Wien 1994, S. 135-158. −: Transplantation im Digitalen – Über die anatomische Arbeit der Binär- schrift. In: Ternes, Bernd; Hofbauer, Andreas L.; Bauer, Renate (Hg.): Einfache Lösungen. Beiträge zur beginnenden Unvorstellbarkeit von Problemen der Gesellschaft. Marburg: Tectum 2000, S. 231-238. LITERATURVERZEICHNIS 333 −: Die Inflation der Igel − Versuch über die Medien. In: de Kerckhove, Derrick; Leeker, Martina; Schmidt, Kerstin (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Biele- feld: Transcript 2008, S. 213-230. Vismann, Cornelia; Weitin, Thomas (Hg.): Urteilen / Entscheiden. Mün- chen: Fink 2006. Vogl, Joseph: Medien-Werden: Galileis Fernrohr. In: Archiv für Medien- geschichte, Nr. 1, 2001, S. 115-123. Volmar, Axel (Hg.): Zeitkritische Medien. Berlin: Kadmos 2009. Wagner, Oskar A.: Vom Drucktelegraphen zum Telex-Netz. In: PCNews, Nr. 74, 20.08.2001. http://pcnews.at/?Id=1089&Type=Htm, 25.11.2010. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2005 (EV: 1922). Webster online: Eintrag Process. http://www.merriam-webster.com/dictionary/process, 21.10.2010. Weiss, Eric M.: The Long Trajectory. The Metaphysics of Reincarnation and Life after Death. Bloomington, IN: iUniverse 2012. Weiß, J. J.: Der Typendruck-Telegraph. Winterthur: Hegner 1854. Wikipedia: Eintrag Amdahlsches Gesetz. http://de.wikipedia.org/wiki/Amdahlsches_Gesetz, 20.6.2013. Wikipedia: Eintrag Dynamic Random Access Memory. http://de.wikipedia.org/wiki/Dynamic_Random_Access_Memory, 15.10.2010. Wikipedia: Eintrag Google Platform. http://en.wikipedia.org/wiki/Google_platform#cite_note-google_arch-1, 26.10.2010. Wikipedia: Eintrag Mooresches Gesetz. http://de.wikipedia.org/wiki/Mooresches_Gesetz, 20.6.2013. Wikipedia: Eintrag Von-Neumann-Architektur. http://de.wikipedia.org/wiki/Von-Neumann-Architektur, 2.7.2013. Wikipedia: Eintrag Zugriffszeit. http://de.wikipedia.org/wiki/Zugriffszeit, 26.10.2010. Wikipedia, engl.: Eintrag Benchmark (computing). http://en.wikipedia.org/wiki/Benchmark_(computing), 20.6.2013. Wikipedia, engl.: Eintrag Machine-readable. http://en.wikipedia.org/wiki/Machine-readable, 26.11.2010. Wikipedia, engl.: Eintrag Process Philosophy. http://en.wikipedia.org/wiki/Process_philosophy, 14.9.2010. Wikipedia, engl.: Eintrag Process Theory. http://en.wikipedia.org/wiki/Process_theory, 14.9.2010. Wikipedia, engl.: Eintrag Process. http://en.wikipedia.org/wiki/Processing, 14.9.2010. Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. Mün- chen: Boer 1997. 334 LITERATURVERZEICHNIS −: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. −: Basiswissen Medien. Frankfurt am Main: Fischer 2008. −: How to do things with words, signs, machines. Performativität, Medien, Praxen, Computer. In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink 2004, S. 97-112. −: Medium Computer. Zehn populäre Thesen zum Thema und warum sie möglicherweise falsch sind. In: Engell, Lorenz; Neitzel, Britta (Hg.): Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur. München 2004, S. 203-213. −: Spuren, Bahnen. Wirkt der Traffic zurück auf die mediale Infra- struktur? In: Neubert, Christoph; Schabacher, Gabriele (Hg.): Verkehrs- geschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 49- 72. Winthrop-Young, Geoffrey: Cultural Techniques: Preliminary Remarks. In: Theory Culture Society 30, Nr. 3, 2013, originally published online 18 August 2013, S. 3-18, http://tcs.sagepub.com/content/30/6/3. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. Nr. 1, 2010, Schwerpunkt: Kulturtechnik. Zetzsche, Karl Eduard: Geschichte der elektrischen Telegraphie. Charles- ton, SC: Nabu Press 2010 (EV: 1877). Zheng, Yu; Zhou Xiaofang (Hg.): Computing with Spatial Trajectories. New York, NY: Springer 2011.