Cocktails aus der Wärme flasche: Jack Lemmon in SOME LIKE IT HOT (MANCHE MÖGEN’S HEISS; USA 1959, Billy Wilder) Inhalt Editorial 5 Raphaëlle Moine Von Tisch zu Bett Analyse eines filmischen Klischees 9 Frank Kessler Eyes Wide Shut Hinter den Kulissen des Festes 21 Hans J. Wulff Bier und Blasmusik Das Fest in den Filmen Jiéi Menzels 29 Ludger Kaczmarek „When Men Get Merry“ Vom Feiern im Wald in The Adventures of Robin Hood 37 Ralf Adelmann / Judith Keilbach / Markus Stauff „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ Typisierung des Feierns und Jubelns im Fernsehsport 43 Martina Roepke Feiern im Ausnahmezustand Ein privater Film aus dem Luftschutzkeller 59 Vinzenz Hediger Das Popcorn-Essen als Vervollständigungshandlung der synästhetischen Erfahrung des Kinos Anmerkungen zu einem Defizit der Filmtheorie 67 Christine N. Brinckmann Unsägliche Genüsse 77 4 montage/av Thomas Christen (Fr)Iss und Stirb! (Verhindertes) Essen als narratives Strukturelement in Le Charme discret de la Bourgeoisie 95 Heinz-Jürgen Köhler Der Teufel hat den Schnaps gemacht ... ... um uns zu stärken: Trinken und Kämpfen in Jackie Chans Drunken Master-Filmen 107 Karin Esders Küche und Kino Von Lust und Frust des kulinarischen Films 115 Gerd Hallenberger Clemens Wilmenrod Zeichen von Esskultur 123 Pragmatik des Films Call for Papers 130 Hans J. Wulff Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen Pragmatische Grundlagen der Dramaturgie 131 Francesco Casetti Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag 155 Register der Hefte, Beiträge und Autoren aus zehn Jahrgängen montage/av (1992–2001) 174 Zu den Autoren 187 Impressum 190 Editorial „In the event of drunkenness – mine, not yours, I shall ask from you a depth of understanding that comes only from children.“ (Frank Morgan zu Mickey Rooney in The Human Comedy, USA 1943, Clarence Brown) montage/av feiert mit diesem Heft den zehnten Jahrgang ihres Erscheinens. Eine vorgezogene Feier? Sie halten zwar ein Jubiläumsheft, aber nur die 19. Aus- gabe der Zeitschrift in den Händen. Als im Oktober 1992 die erste Ausgabe erschien, haben wir, ermattet von der unerwartet langen Vorbereitungsphase, schlicht kein zweites Heft folgen lassen. Eine Vorgehensweise, die für Irritation gesorgt und Nachfragen provoziert hat. Ebenso das „av“-Anhängsel im Titel. Oftmals als prätentiöses Kürzel für ein nie eingelöstes Versprechen gedeutet (nämlich ein breiteres Spektrum von AV-Medien neben Film und Fernsehen zu thematisieren), verdankt es sich zunächst den Interventionen einer in Bayern ansässigen Zeitschrift für Ingenieurwesen, die bei Übernahme „ihres“ Titels „Montage“ mit rechtlichen Schritten drohte. Doch auf den zentralen Begriff, der ja auch das Zusammenstellen und Ver- knüpfen von Unterschiedlichem meint, wollten wir nicht verzichten. Theoreti- sche und historiographische Fragestellungen sollte montage/av präsentieren, sich für Probleme der Methodologie interessieren, interdisziplinäre Zugänge vorstellen und sowohl populärkulturelle Phänomene als auch Prozesse der Kunstproduktion und -rezeption untersuchen. Kurzum: Wir beabsichtigten, neben Frauen und Film eine zweite film- und fernsehwissenschaftliche Zeit- schrift im deutschsprachigen Raum zu lancieren. Eine Zeitschrift, die fachwis- senschaftliche Diskussionen anstößt und in die Seminare der Universitäten hi- neinträgt. (Zeitgleich erschienen dann die ersten Ausgaben von Film und Kritik und KINtop.) Einigen Heftbesprechungen entnahmen wir dann eine eher ablehnende Hal- tung. Die Zeitschrift sei Produkt eines „kargen, theorielastigen europäischen Nordens“ (filmwärts 25, 1993), das unter der „Last der Paradigmen“ (Grip, 1992/1993) zu zerbröseln scheint. „Very dry, shaken, not stirred“ – James Bond wie uns Genuss, schien anderen dieser Cocktail aus Texten ungenießbar. Die 6 montage/av unterschiedlichen Gegenstandsbereiche aus kognitiver Filmtheorie, Cultural Studies, revisionistischer Filmgeschichtsschreibung, aus Dokumentarfilm- und Fernsehtheorie waren nicht allen gleichermaßen bekömmlich. Doch ebenso wie der britische Geheimagent zeigen auch wir lieber Nabel statt Reue und machen weiter, wovon dieses Heft zum Thema Essen! Trinken! Fei- ern! wohlgelaunt Zeugnis ablegt. Wir geloben hiermit feierlich, auch in Zukunft nicht abzulassen vom Cocktail der interdisziplinären Zugänge. Und wir werden nicht darauf verzichten, den Blick über den nationalen Tellerrand zu erheben, uns übersetzend die Kost der internationalen Forschung einzuverleiben und Sie an diesem Mahl teilhaben zu lassen. Denn: „Why should we sip from a teacup when we can drink from a river?“, wie Steve Martin zu Recht gefragt hat (in Roxanne, USA 1987, Fred Schepisi). Das vorliegende Jubiläumsheft ist – ganz in diesem Sinne – ein opulentes Menü aus verschiedenen Zutaten geworden. Es vereint ganz unterschiedliche Blickwinkel, Ideen und Schreibweisen, integriert bislang sträflich vernachlässig- te Positionen wie die der psychoanalytischen Filmtheorie und ist mit einer Fülle an Filmfotos appetitlich garniert. Mit sinnlicher Leichtigkeit werden kompli- zierte Sachverhalte in Oppositionen aufgelöst. So erfolgt die theoretische Be- stimmung des Festes zwischen den Polen einer zeremoniell-rituellen und einer orgiastisch-exzessiven Ausrichtung: die gesellschaftliche und soziale Ordnung des Festes und die Unordnungs- und Verschmelzungsphantasie der Feier; die Rituale und Normen der Festgesellschaft und die Tabubrüche der Jubelnden, Betrunkenen und Maskierten; die Konditionierungen von Körper und Geist ei- nerseits und die Leiblichkeit, die Einverleibung und ein sehr irdisches Glück an- dererseits. Mehrere Autoren zeigen, wie der Darstellung festlicher Ereignisse diese Gliederung zu Grunde liegt und wie das Oszillieren zwischen den beiden Polen den Darstellungsprozess der Filme und Fernsehsendungen organisiert. Was für ein schönes Thema, sich des Spaßes zu erinnern, den das wissen- schaftliche Nachdenken (auch) machen kann. Zugleich ein guter Auftakt für neue Unternehmungen: Wir beschließen daher dieses sinnenfrohe, zuweilen auch unernste Heft mit einem Call for papers und zwei Texten zur Pragmatik des Films. Die beiden in dieser Ausgabe vorgestellten Beiträge könnten die Re- ferenzpunkte und Diskussionsgrundlage eines entsprechenden Forums in bes- ter Montage-Tradition werden, das wir im übernächsten Heft präsentieren möchten und zu dem alle interessierten Leser beizutragen herzlich eingeladen sind. Runde Geburtstage bieten aber auch Gelegenheit, endlich einmal allen zu danken: den Autoren, die uns freundlicherweise nach wie vor mit ihren Texten versorgen und auf unsere Einwände und Änderungswünsche bereitwillig rea- 10/2/2001 Editorial 7 gieren, sowie den oftmals un- oder unterbezahlten Übersetzern, deren Arbeit gemeinhin kaum Beachtung findet. Dank auch an den Schüren Verlag, der die Zeitschrift vor zwei Jahren in das Verlagsprogramm aufgenommen hat. Fortan liegt die Herstellung der Druckvorlagen nicht mehr in unseren Händen, die Bü- cherkisten sind aus unseren Wohnungen verschwunden, die Hefte müssen nicht mehr eigenhändig versandfertig gemacht werden, und unsere Computer haben die Verwaltung des Rechnungswesens weitgehend eingestellt. Häufig wurde unsere „Bilderfeindlichkeit“ bemängelt. Das „Jubelheft“ sucht dieser Kritik zu begegnen und präsentiert sich gespickt mit Filmfotos und Vi- deoprints aus Filmen und Fernsehsendungen, in denen gekocht, gegessen, ge- trunken, gefeiert wird. An dieser Stelle sei daher auch all jenen gedankt, die Bild- material zur Verfügung gestellt haben: den Autoren, Reinhard Westendorf und vor allem Peter Latta vom Berliner Filmmuseum, Stiftung Deutsche Kinema- thek, der sich sofort für das Thema des Heftes begeistern ließ, viele gute Ideen beigesteuert und Schätze für uns ausgegraben hat. Schließlich sei ganz besonders unseren Leserinnen und Abonnenten aus dem In- und Ausland gedankt: Sie haben uns durch ihr Lob und ihre Kritik geholfen, Themenvorschläge geliefert, uns auf Texte aufmerksam gemacht. Wir heben die Gläser – auf ihr Wohl! – und wünschen viel Spaß bei der Lektüre. Oder, um es mit einem der vergnügten Outlaws aus The Adventures of Robin Hood zu sagen: „To the tables, everybody, and stuff yourselves!“ ZAZIE DANS LE MÉTRO (ZAZIE, Frankreich 1961, Louis Malle) DOMICILE CONJUGAL (TISCH UND BETT, Frankreich 1970, François Truffaut) Raphaëlle Moine Von Tisch zu Bett Analyse eines filmischen Klischees In unserer Gesellschaft ist die Assoziation von Nahrung und Sexualität faktisch eine Erfahrung, sie ist in die Alltagssprache eingegangen, wird in individuellen und kollektiven Darstellungen zur Schau gestellt und in Diskursen aller Art pro- klamiert oder erklärt. Essverhalten und sexuelles Verhalten in Zusammenhang zu bringen ist gewiss kein Erbe des „bürgerlichen Denkens“ (vgl. Sahlins 1979, 210–254): Die Regeln von Tisch und Bett lassen sich quer durch alle Gesellschaf- ten vergleichen, und die Ethnologie lehrt uns, dass diese Regeln nicht nur gleich lauten können (wie bei den Guayaki-Kannibalen beispielsweise [vgl. Clastres 1972]), sondern dass auch nicht ganz so systematische Korrespondenzen immer vorhanden sind. So werden in Gesellschaften, in denen der Mensch nicht Gegen- stand des Verzehrs ist, „die verschiedenen Arten zu essen zu verschiedenen Arten des Redens über die Art und Weise, wie man miteinander schläft“ (Pouil- lon 1972, 22), und das Ganze verweist deutlich auf die Gesellschaftsstruktur. Doch diese symbolische Funktion der Nahrung, die für die Sexualität steht, sie nennt oder suggeriert, nimmt in der Konsumgesellschaft den Charakter einer bewussten, rationalen Evidenz an, weil sie sich auf das stützt, was seither aus unseren theoretischen, reflektierenden Diskursen in den allgemeinen Wort- schatz übergegangen und dort umgeformt worden ist: Oralität, Lustprinzip ..., all die Fragmente der Psychoanalyse, die ins allgemeine Bildungsgut übergegan- gen sind und die von Sprache, Malerei, Kino angebotenen Metaphern verstär- ken, rechtfertigen, erklären, weiterentwickeln, unterstreichen. Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass das Essen auf der Leinwand oft sexuell konnotiert ist und dass die dargestellte gastronomische Erfahrung für eine un- sichtbare erotische einsteht. So verweisen der italienische und der französische Titel des 1990 von Marco Ferreri gedrehten Films La Carne / La Chair (Fleisch) in vollkommener Polysemie auf die üppigen Formen seiner Heldin: Francesca ist nacheinander eine Expertin der Liebeskunst, ein mit göttlichem Appetit gesegnetes Geschöpf und... ein Kadaver, vom Geliebten eingefroren, der sie nach und nach verspeisen will. Auch die erotischen Konnotationen ge- wisser Speisen sind auf der Leinwand eine unerschöpfliche Quelle des Augen- zwinkerns, wie das Trüffelomelette und das Perlhuhn mit Morcheln, das Mada- me Sénéchal, deren erotischen Appetit und geräuschvolle Lust uns der Film 10 Raphaëlle Moine montage/av zuvor schon angedeutet hatte, in Le Charme discret de la Bourgeoisie (Der diskrete Charme der Bourgeoisie, Frankreich 1972, Luis Buñuel) ihren Gästen serviert. Es wäre sinnlos, die lange Liste jener Filme zu erstellen, in de- nen, vom schlechtesten Erotik-Antikenfilm bis zum subtilsten Autorenfilm, die Darstellung von Nahrung mit der Darstellung von Sexualität verbunden wird: Tatsächlich haben wir es mit einem echten kulturellen Stereotyp zu tun, das vom Kino in seinen Bildern durchdekliniert wird. Bei genauerer Untersuchung stellt sich indessen diese Verbindung zwischen gastronomischen und erotischen Sze- nen in zwei verschiedenen Figuren dar. Die erste, in rhetorischen Begriffen im großen und ganzen metaphorischer Art, steht unter dem Zeichen der Substituti- on: Die Tischszene ermöglicht es, sich die Bettszene zu ersparen, die außerhalb des Blickfelds bleibt. Die zweite, die man näherungsweise als Metonymie be- zeichnen könnte, spielt mit der Verdichtung sexueller und gastronomischer Darstellungen: Die Figuren auf der Leinwand „konsumieren Sex und Nah- rung“, oft exzessiv und maßlos (man denke etwa an The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover [Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, Großbritannien/Frankreich 1989, Peter Greenaway]). Was ich in diesem Artikel genauer untersuchen will, sind Bedeutung und Funktion dieser Systeme filmi- scher Übersetzung des Erotischen in Kulinarisches und umgekehrt. Tisch für Bett: eine formelhafte Sequenz Die Tischszenen, die für nicht gezeigte, der Phantasie des Zuschauers überlas- sene Bettszenen stehen, stellen metaphorisch eine erotische Situation zwischen den Essenden dar und beruhen auf inhaltlichen Ellipsen, die ausdrucksstark und symbolisch sind, aber keinerlei dramatischen Charakter haben: Schweigen und Dunkelheit über die sexuelle Praxis, doch der kulinarische Code ist da, um dar- zustellen, was nicht gezeigt wird oder nicht zu zeigen ist (vor allem der Zensur wegen). Ein fast karikaturhaftes Beispiel dafür ist Touchez pas au Grisbi (Wenn es Nacht wird in Paris, Frankreich 1953, Jacques Becker) mit der Sequenz, in der Max (Jean Gabin) und seine reiche Geliebte Betty zusammen essen. Sie beginnt mit einer Nahaufnahme des Tischs: eine Decke, eine Tasse, ein Cognac-Glas, nach dem eine Männerhand greift. Die Mahlzeit ist schon zu Ende, der Film hält nur den Rahmen, den Raum, die Dekoration fest. Kamera- schwenk: Max zieht das Glas zu sich. Er sitzt in einem teuren Sessel, und im Blickfeld taucht ein Blumenstrauß auf. Nun beginnt eine Serie von Schuss-/ Gegenschusseinstellungen des Mannes und der Frau, die ihm gegenübersitzt: Sie schaut ihn an, er holt eine Zigarette aus der Tasche, sie zündet ein Feuerzeug an, 10/2/2001 Von Tisch zu Bett 11 nähert sich ihm. Endlich sind sie im Bild vereint. Max bläst die Flamme des Feu- erzeugs aus, zieht Betty auf seinen Schoß, küsst sie lange. Dieser Kuss ist Anlass zu einer zweiten Serie von Schuss-/Gegenschusseinstellungen, die sehr nah auf- genommen sind. Dann steht die junge Frau auf, das Blickfeld wird größer. Sie geht auf eine Glastür zu. Die letzte Einstellung zeigt uns im Gegenschuss Max, der nun auch aufsteht, der Frau folgt und die Tür hinter sich schließt. Im Lauf dieser Sequenz wird kein Wort gesprochen, die gesamte Tonspur wird von sanf- ter Musik ausgefüllt. Wenn es nach dem Abblenden auf der Leinwand wieder hell wird, entdeckt der Zuschauer das Zimmer, in dem alles vollzogen wurde. Hier finden sich einige typische Verfahren und Formelemente: Der Wechsel von Schuss-/Gegenschusseinstellungen, die den Raum strukturieren, indem sie ihn aufteilen (zwischen den beiden Seiten des Tischs, dem Mann und der Frau), und in denen sich die Distanz ausdrückt, die die beiden Figuren zu überwinden haben; das Fehlen von Worten; die Tür, die dem Zuschauer vor der Nase zu- schlägt; die Abblende und die Ellipse. Gewiss, die Art zu essen, die genossenen Gerichte und Getränke sind nur noch Dekor: Der Cognac, die Zigarette und der Kaffee markieren ein zusätzliches Vergnügen am Ende des Mahls und weisen wirkungsvoll auf die gesellschaftliche Stellung der jungen Frau hin (die für die Filmhandlung durchaus nicht unwichtig ist). Wir haben es eher mit dem Raum des Essens als mit einer Essszene zu tun, aber diese relativ knappe Metaphorisie- rung ist um so interessanter, weil sie die kulturelle und kinematographische Ausdruckskraft der Verbindung Tisch/Bett beweist: Es braucht nur Spuren, Elemente des kulinarischen Codes, und man versteht. Unnötig, den gastronomi- schen Diskurs zu entfalten, um die erotische Bedeutung verständlich zu machen. Fast könnte man sagen, dass es die Situation des Paares bei Tisch ist, die die sexu- elle Szene verräumlicht. Die zahlreichen Schuss-/Gegenschusseinstellungen haben eine doppelte Funktion, wodurch dieses eher abgedroschene Verfahren auf eine spezifische Weise eingesetzt werden kann: Die Trennung der Körper bei Tisch zu zeigen und die Annäherung der Körper ... nach Tisch zu sagen. Es deutet also alles darauf hin, dass die Darstellung einer Tischszene mit Aus- sparung der Bettszene ein echtes filmisches Klischee ist, das heißt „eine Gruppe von Bildern und Klängen, die nach demselben Stileffekt erzeugt und in symboli- schem Gebrauch erstarrt sind“ (Moine 1999, 166). Formale Verfahren – hier Schuss und Gegenschuss, das Fehlen von Worten, die Ellipse am Ende –, die an und für sich keine Klischees sind, tragen zur Schaffung von Klischees im Kino bei, wenn sie immer mit dem gleichen Gefühl, der gleichen Situation und der gleichen Figur verbunden sind. „Die Tischszene für die Bettszene“ ist also zugleich die Übersetzung eines kulturellen Stereotyps auf die Leinwand und eine Art erstarrter filmischer Figur, so dass man in manchen Kinematographien 12 Raphaëlle Moine montage/av – ich denke vor allem an das populäre französische Kino der 1950er, 60er und 70er Jahre – kaum zwei Personen verschiedenen Geschlechts (Moral verpflich- tet!) bei Tisch sehen kann, ohne schon zu ahnen, dass die Speisenden in der fol- genden Sequenz zu Liebenden geworden sind! In vielen Fällen ist dieses Kli- schee ein bequemes erzählerisches Werkzeug, nicht sehr erfinderisch, aber wirkungsvoll (alles in allem ist das die Aufgabe des Klischees!). Ebenso wie die stereotypisierten Formeln der homerischen Epen, die bekanntlich Götter, Hel- den und Situationen in vergleichbaren Begriffen charakterisieren, doch je nach Gesang mehr oder weniger kurz oder ausgearbeitet sind, kennt auch die kulina- rische Metapher kurze (Touchez pas au Grisbi) und lange Formeln, wie die Sequenz, in der Tom Jones und Mrs. Waters im Gasthaus zu Abend essen (Tom Jones – Zwischen Bett und Galgen, Großbritannien 1963, Tony Richard- son). Nach der ersten Einstellung, einer Totalen der düsteren, lärmigen Gast- stube, in der man Tom und Mrs. Waters im Hintergrund, ein wenig abseits, am Tisch sitzen sieht, zeigt eine Reihe von 31 Schuss-/Gegenschusseinstellungen abwechselnd, frontal, in Nahaufnahmen die beiden Speisenden. Nach kurzem Eingreifen des Erzählers und ein paar Cembalotönen ist die Tonspur nur noch vom Geräusch der Suppe erfüllt, die die beiden essen, von den Flusskrebsen, deren Panzer sie knacken, vom Obst, dessen Saft sie schlürfen, usw. Im Lauf die- ser 31 Einstellungen vollzieht sich eine deutliche Steigerung: Das Spiel der Bli- cke wird von einer Einstellung zur nächsten ausgeprägter, und zweimal kom- munizieren die beiden von Schuss und Gegenschuss ausgeschnittenen Raumhälften direkt miteinander. Nachdem Mrs. Waters das Brustbein des Hähnchens zum Mund geführt hat, streckt sie mit dem kleinen Finger eins von dessen Enden der Kamera entgegen; in der folgenden Einstellung (im Gegen- schuss) greift Tom nach dem anderen Ende dieses Knochens, der, von einer wei- ßen Hand im Anschnitt gehalten, erscheint, und bricht es ab. Einige Augenbli- cke danach wiederholt sich der Vorgang, aber in umgekehrter Richtung: Tom reicht seiner Gefährtin eine Auster, die sie nimmt und zwischen ihren halboffe- nen Lippen hin- und herrollt, bevor sie sie hinunterschluckt. Die Nahrung beginnt vom einen zur anderen zu zirkulieren, von Schuss zu Gegenschuss – Vorspiel einer anderen Zirkulation. Und der Appetit der Figuren verwandelt sich in Gier: das Fleisch der Flusskrebse wird einfach gekaut, das dann folgende Hähnchen wird energisch gekaut, der Hammel wird mit vollen Händen ver- schlungen. Und bei der letzten Frucht beißt sich die Dame sogar in die Hand! In der 33. Einstellung ist der Raum radikal anders aufgebaut, denn die beiden Spei- senden sind gemeinsam im Bild, in Nahaufnahme, im Profil. Mit ineinander geschlungenen Armen trinken sie ein Glas Champagner. Die Musik beginnt wieder, und die Sequenz endet mit zwei Einstellungen in den Fluren des Gast- 10/2/2001 Von Tisch zu Bett 13 hauses, bis Tom und Mrs. Waters aufrecht mitten im Bild stehen, hinter einem Himmelbett, dessen Vorhänge die seitlichen Grenzen der Leinwand bilden. Sie tauschen einen Kuss, Tom löscht die Kerze. Abblende. Vom erotischen Theater sehen wir nichts. In Tom Jones ist die formelhafte Sequenz nicht nur sorgfältig ausgearbeitet, ohne die materielle Anwesenheit der Gerichte auf der Leinwand, ihre Konnotation, das Fleisch der Nahrungsmittel und die Körper der Esser zu vernachlässigen, sie wird vor allem bewusst so sehr ausgeweitet und in die Länge gezogen, dass ein echter erotischer Suspense entsteht. Was nicht erstaunlich ist in einem sehr spielerischen Film, der unermüdlich die Illusion der Darstellung wiederverwertet, parodiert und aufdeckt, worin er getreulich seiner Vorlage, dem Roman von Fielding, folgt. Wenn die gastronomische Metapher mit erotischer Konnotation hier regel- recht zur Inszenierung werden kann, so deshalb, weil sie an und für sich eine interessante Besonderheit hat, die nicht allen inhaltlichen Ellipsen zu Eigen ist. Im Unterschied zu einer Verschiebung auf ein einfaches symbolisches Bild, das nur Zeichenfunktion hat (wie etwa die Aufnahme eines Holzfeuers im Kamin, um Liebesleidenschaft auszudrücken), spielt sie die sexuelle Szene im voraus. Erzählerisch relativ willkürlich, denn sehr selten braucht der Zuschauer sie zwingend, um zu begreifen, was im Verborgenen vor sich geht, baut sie eine echte, eine Zeitlichkeit besitzende Erzählung auf: als Entsprechung tritt sie an die Stelle der erotischen Darstellung. Diese Übertragung vom Gastronomischen auf das Erotische unterliegt derselben „allgemeinen Strategie“, die Ricoeur in La Métaphore vive den verschiedenen Mechanismen assoziativer Konnotation zuschreibt: sie „suggeriert etwas anderes als das, was behauptet wird“ (1975, 122). So ist in solchen Tischszenen die erotische Konnotation (der übertragene, implizite Sinn) sicher die zweite, doch gewiss nicht die sekundäre. Während der Zuschauer auf der Leinwand der gezeigten Darstellung (der Mahlzeit) folgt, malt er sich in Wirklichkeit im Kopf die zweite, virtuelle Darstellung (die sexu- elle Szene oder allgemeiner die erotische Situation) aus und lässt diese, vom erzählerischen Standpunkt aus, vor das treten, was ihm gezeigt wird. Anders ausgedrückt und um es mit den Worten von Christian Metz zu sagen, die kon- notierte erotische Bedeutung geht über die denotierte Bedeutung hinaus, doch ohne ihr zu widersprechen oder sie zu ignorieren (Metz 1972, 154). Von einem Klischee zum anderen: Tischszenen in Serie Die Filme, in denen wiederholt Tischszenen eingesetzt werden, um die verschie- denen Etappen des Begehrens zwischen den Protagonisten zum Ausdruck zu 14 Raphaëlle Moine montage/av bringen, zeigen deutlich, dass der rote Faden die Sexualität ist: in Tristana (Frankreich/Italien/Spanien 1970, Luis Buñuel) steht die verspeiste Nahrung als parallele, immer wieder auftretende Metapher für die Beziehungen zwischen Don Lope und Tristana. Die zentrale Sequenz in diesem Netz von Assoziatio- nen ist die, in der Don Lope darauf besteht, dass Tristana, die noch lediglich sein Mündel ist, das einzige weiche Ei isst, das ihre frugale Gemüsemahlzeit anrei- chert. Widerwillig nimmt die junge Frau an. Tristanas Hand tunkt ein Stück Brot in das Ei. In einer langsamen Bewegung folgt die Kamera dem gelb gewor- denen Brotstückchen bis zum Mund der jungen Frau, die unter Tränen kaut. Dieses erzwungene Einverständnis, die abschließende Großaufnahme des Brots suggerieren die stumme Zustimmung der jungen Frau und ihre Defloration kurz darauf (in der Ellipse unmittelbar nach dieser Szene). Die Symbolik ist hier überdeutlich und die Rollen kurioserweise vertauscht, denn es ist Tristana, die das längliche Brotstückchen in das von Don Lope dargebotene Ei tunkt. Nach dieser Sequenz, die den Höhepunkt von Don Lopes Verlangen und den Über- gang zur Tat markiert, teilen die beiden Figuren keinerlei Nahrung mehr. Rund um diesen metaphorischen Angelpunkt drücken nicht weniger als zwölf Sequenzen, in denen Nahrung verspeist, geteilt, weggeworfen wird, die Macht einer schuldigen, verdrängten Sexualität aus, von dem Apfel, mit dem die Erzäh- lung beginnt und schließt und der Tristana von Saturno angeboten wird, einer emblematischen Figur mit einer unmittelbaren, nicht verdrängten Sexualität, bis zu den Lustkipferln, die ihren Namen ganz zu Recht tragen und die die junge Frau nach ihrer Amputation und der Heirat mit Don Lope einsam knabbert, von den beim Glöckner mit Appetit verspeisten migas bis zu der weggeworfe- nen Nahrung bei dem zur Quelle des Ekels gewordenen Don Lope. Die Nah- rung erfüllt so die gleiche Funktion wie die zahlreichen Krankheiten, die einen Film prägen, in dem die Sexualität omnipräsent und schuldig ist und durch mehr oder weniger beunruhigende Symptome bestraft wird (Grippe, Kniekrebs, Lun- genentzündung, Herzkrankheit), ohne dass je direkt von Erotik gesprochen wird. Nahrungskonsum und Krankheit schreiben auf je eigene Art die Sexualität in die Körper ein, doch sie drücken auch das Begehren aus, machen es auf der Leinwand lesbar, „in einem System wie dem Kino, wo die Zeichen gesehen wer- den müssen“ (Puisieux 1991, 123). In ihnen verkörpert sich das Begehren. Während Tristana ein recht komplexer Fall ist, weil Buñuel die Nahrung in ein Zeichen der erfolgreichen, verhinderten oder fehlenden Begierden aller Figuren transformiert, wird die kulinarische Metapher auf der Leinwand meist genutzt, um den Zerfall des Paares, das fortschreitende Verlöschen des Begeh- rens zu zeigen. Als Antoine Doinel in Domicile Conjugal (Tisch und Bett, Frankreich 1970, François Truffaut) die eheliche Wohnung verlässt, die dem 10/2/2001 Von Tisch zu Bett 15 Film den Titel gibt, um mit seiner japanischen Geliebten Kyoko zusammenzule- ben, kündigen drei Einstellungen das kurz bevorstehende Ende dieser Bezie- hung sehr deutlich an: • Erste Einstellung: Auf der Leinwand erscheint ein Titel: Dienstag. Kyoko, von hinten, und Antoine, der der Kamera gegenüber kniet, essen japanisch. Die junge Frau bedient ihren lächelnden Gefährten, reicht ihm eine Schüssel Reis. Während er isst, fährt die Kamera auf ihn zu. Nahaufnahme, dann wird abgeblendet. Während der Szene erklingt zweimal eine japanische Melodie. • Zweite Einstellung: Auf der Leinwand Donnerstag. Dieselbe Szenerie, das- selbe Geschehen, dieselbe, zweimal wiederholte Melodie. Antoine, leicht von oben aufgenommen, diesmal ohne Lächeln, reckt sich unter Schmerzen, wäh- rend Kyoto, immer noch von hinten aufgenommen, isst. Abblende. • Dritte Einstellung: Auf der Leinwand Samstag. Rückkehr zur frontalen Ein- stellung. Im Vordergrund Antoines Füße unter dem niedrigen Tisch. Er wird immer unruhiger. Kyoko, unerschütterlich wie die Melodie, isst und ver- schwindet aus dem Blickfeld. Abblende. Dem cinephilen Leser wird die Ähnlichkeit dieser Sequenz aus Domicile Con- jugal mit der berühmten Sequenz der Frühstücke von Kane und Emily in Citi- zen Kane (USA 1940, Orson Welles) aufgefallen sein: Die Ehe beginnt mit dem Frühstück zweier Turteltauben, voller Aufmerksamkeit füreinander; darauf folgt eine Reihe von Frühstücken, bei denen die Eheleute, auf deren Gesichtern sich die verflossene Zeit abzeichnet, in Schuss und Gegenschuss erscheinen und immer „distanzierter“ wirken. Die letzte Einstellung illustriert diese Distanz buchstäblich: Die Eheleute sind zusammen im Bild, doch in einer Totale, an bei- den Enden eines riesigen Tisches sitzend, der sie an die äußerste Rechte und die äußerste Linke der Leinwand verbannt. Die Mahlzeit des Paares ist kein verlieb- tes Festmahl mehr, sie ist alltäglich, langweilig, lästig geworden, und so kann die Entwicklung der Beziehung reduktiv-symbolisch beschrieben werden. Hier bringt das Kino ein zweites Klischee hervor, einen Abkömmling des ersten (die Darstellung des Tisches für die weggelassene sexuelle Szene): In der Tat setzen die Filme nun systematisch das ein, was Metz in seiner Grande Syntagmatique eine „Sequenz durch Episoden“ (Metz 1972, 179ff) nennt. Die erste Tischszene legt fest, worum es erotisch geht, und so kann in der Folge eine Serie von Mahl- zeiten ablaufen, die eine zweite Bedeutung haben, ohne dass auf die Entspre- chungen zwischen gastronomischem und erotischem Code noch hingewiesen werden muss. 16 Raphaëlle Moine montage/av Am Rand der Klischees: Orgien und das große Fressen Am Rande dieser Reihe stereotyper Figuren, die Nahrung und Sexualität in absentia verbinden, tauchen seit den 70er Jahren Filme auf der Leinwand auf, meist Autorenfilme, in denen das Gastronomische nicht Zeichen für das Eroti- sche ist, sondern Tischszenen und Bettszenen in einer Dynamik des Konsums und des Exzesses verschmelzen. Diese Filme, wie La grande bouffe (Das große Fressen, Frankreich/Italien 1973, Marco Ferreri) oder Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, entfalten eine wahrhafte Verdauungsob- session, die zur Regel von Leben und Tod wird. „Geschlecht“ und „Fressen“ durchdringen sich, so wie der Hintern Andreas bei Ferreri als Kuchenform dient. Diese beiden Filme konstruieren in vom Lebensmittelkonsum übersättig- ten Räumen und Zeiten Welten der Perversion, ähnlich jenen Schlössern, in denen sich einst die Libertins einschlossen, um sich nur noch den Befehlen ihrer Lust zu unterwerfen. Der Vergleich ist um so eher gerechtfertigt, als diese Werke (Nahrungs-) Grenzerfahrungen inszenieren, zusammen mit einer per- versen Sexualität. Sie erforschen die Figuren der Oralität und der Analität, und die genitalen Praktiken sind, obgleich präsent, stets mehr oder weniger unterge- ordnet: Die Frauen müssen bei Ferreri zuerst Tischgenossinnen sein, appetitlich und voller Appetit zugleich, bevor sie Bettgenossinnen werden (nur Andrea besteht die Probe). Bei Greenaway kommt Sexualität nur in der Küche oder auf dem Klo vor, und die Nahrung liefert die Waffen der zwei „Verbrechen aus Lei- denschaft“. Der Dieb tötet den Geliebten seiner Frau (der Buchhändler ist), indem er ihn mit Büchern stopft, und sie rächt sich, indem sie ihn zum Kanniba- lismus zwingt: Bei einem besonderen Mahl serviert sie ihm ihren Geliebten in Gelee. Er ist gezwungen, das Geschlecht zu essen, und eine solche Transgression kann natürlich nur mit dem Tod geahndet werden: Sie streckt ihn mit einem Revolverschuss nieder. In solchen Filmen, wo alle Praktiken, die sexuellen und die des Essens, im Bild dargestellt werden, ist nichts symbolisch, alles ist Bild, wird im Bild verkörpert. Das ist auch Pasolinis Verfahren in Salò (Die 120 Tage von Sodom, Italien/ Frankreich 1975), wo der „Zyklus der Scheiße“, Anlass eines koprophagen Fest- mahls, besser als irgendeine andere Episode des Films „durch die Zirkularität der sich selbst zeugenden Materie, da das Exkrement zur Nahrung wird [...], die Reduktion des Körpers auf die Stofflichkeit“ (Magny 1976, 194) illustriert, die Verdinglichung der Lebewesen und der Körper, die das letzte Ziel der Meister von Salò ist. Bei Pasolini wie bei Greenaway und Ferreri werden die Personen zu Körpern, die von der Nahrung zerstört werden; Körper und Nahrungsmittel verschmelzen am Ende. Der Kannibalismus ist die äußerste Stufe dieser Ver- 10/2/2001 Von Tisch zu Bett 17 dinglichung der Personen in Körper und der Körper in konsumierbare Objekte: symbolisch in Das große Fressen, tatsächlich in Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber ist es von der erotischen Erfahrung nicht zu trennen, ganz wie die Mahlzeit des buckligen Dubois in Fellinis Casanova (Italien 1976, Federico Fellini): Der Bucklige stellt sich dort als Gottesanbeterin verklei- det zur Schau, in einem Ballett mit seinem Geliebten, der als Hummel verkleidet ist. Der Tanz hört erst auf, als das geliebte Wesen verschlungen ist. Zu Unrecht, meine ich, würde man diese Inszenierungen von Perversionen des sexuellen und des Nahrungskonsums in die urwüchsige Tradition des gro- tesken Realismus stellen, wie er sich in Gargantua oder Pantagruel ausdrückt. Gewiss, die Helden Rabelais’ wie die Ferreris machen eine totalisierende Erfah- rung, doch, wie Michel Jeanneret bemerkt, [...] bei diesen euphorischen und befreienden Festmählern hieß das Schlemmen einst, den ‚niederen Leib‘ und die Instinkte zu rehabilitieren, sich in die Gemeinschaft und in die Natur einzufügen. Im Text die Urwüchsigkeit der Tischgespräche widerhallen zu lassen, hieß ihm neue Energien zuzuführen. Die Gegensätze versöhnten sich: der Wein und das Göttliche, das Niedrige und das Hohe, das Komische und das Ernsthafte vereinten sich in einer totalisierenden Vision und Schreibweise. (Jeanneret 1983, 177) Nichts von solcher Euphorie, keine neuen Energien bei den modernen Cinéas- ten! Das Niedrige und das Hohe sind zwar vereint, doch nicht versöhnt, und vor allem sind sie vereint in einem Konsum, der zu Wiederholung und Sterilität ver- urteilt ist. Das „Große Fressen“ des Kinos ist nicht ideal, sondern verzweifelt. Das Kino bietet, wie wir gesehen haben, oft das harmlose Klischee der kulinari- schen Metapher, um den sexuellen Akt auszudrücken, ohne ihn darzustellen: Diese erstarrte Figur, entstanden aus dem Zusammentreffen eines kulturellen Stereotyps und der Wahl einer filmischen Montageweise, kann bequem sein, zwar platt, aber wirkungsvoll. Doch gerade weil sie wesentlich Klischee ist, ist eine große Zahl von Spielen und Ausweitungen möglich, die dem metaphori- schen Prozess Tisch/Bett einen tieferen Sinn verleihen können. Am Gegenpol dieses Systems von einfachen oder wiederholten Ellipsen zeigen manche Filme Darstellungen, die sexuelle und Essenspraktiken verdichten. In oft monströsen Mahlzeiten, die die Teilnehmer an die Grenzen des Menschlichen bringen, erforschen sie das Unaussprechliche, das Kannibalische oder Skatologische an der Nahrungspraxis; zudem drücken sie wohl die Angst des Konsumenten (im weitesten Sinne) in den zeitgenössischen Gesellschaften aus. Doch diese Überla- gerung von Gastronomischem und Erotischem auf der Leinwand wird meist als 18 Raphaëlle Moine montage/av offene Transgression artikuliert und deshalb kann sie nicht zur rhetorischen Figur erstarren. Nichtsdestoweniger neigt sie zu Sklerosierung und Verarmung, sie tendiert dazu, mal gore, mal trash, zum Klischee einer zeitgenössischen Ästhetik zu werden: Ich denke hier besonders an die reichlich biederen Darstel- lungen perverser Kannibalen, seien es die Hannibals aller Art in amerikanischen Großproduktionen oder die unlängst von Béatrice Dalle verkörperte Vampir- Frau in Trouble every day (Frankreich 2001, Claire Denis). Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer DOMICILE CONJUGAL (TISCH UND BETT, Frankreich 1970, François Truffaut) 10/2/2001 Von Tisch zu Bett 19 Literatur Clastres, Pierre (1972) Chronique des Indiens Guayaki. Paris: Plon. Jeanneret, Michel (1983) Quand la fable se met à a table. Nourriture et structure narrative du Quart Livre. In: Poétique, Nr. 54, S. 173–189. Magny, Joël (1976) Une Liturgie du néant et de l’horreur. In : Pasolini, un cinéma de poésie, Paris : Lettres Modernes, S. 189–197 (= Etudes Cinémato- graphiques Nr. 112–114). Metz, Christian (1972) Semiologie des Films. München: Fink. Moine, Raphaëlle (1999) Stéréotypes et clichés. In: RITM, Nr. 19, S. 159–170 (Themenheft Cinéma et littérature). Pouillon, Jean (1972) Manières de table, manières de lit, manières de langage. In: Nouvelle Revue de Psychanalyse, Nr. 6, S. 9–25 (Themenheft Destin du canni- balisme). Puisieux, Hélène (1991) Sexualité et maladie: un court-circuit dans le monde fil- mique. In: Sciences sociales et Santé 9,4, S. 111–128. Ricoeur, Paul (1975) La Métaphore vive. Paris: Seuil. Sahlins, Marshall (1979) Au Cœur des sociétés: raison utilitaire et raison cultu- relle. Paris: Gallimard. Die Masken- und Kulissenwelt des Festes: FELLINI’S CASANOVA (Italien 1976) Frank Kessler Eyes Wide Shut Hinter den Kulissen des Festes Nachdem sie ihre Tochter zu Bett gebracht haben, unterhalten sich Fridolin, ein Arzt, und seine Frau Albertine über den Faschingsball, den sie am vorhergegan- genen Abend besucht hatten und der indirekt der Auslöser einer Kette seltsa- mer, verwirrender, sogar beängstigender Erlebnisse wird, die im Zentrum von Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1925) steht. Es war in diesem Jahr ihr erstes Ballfest gewesen, an dem sie gerade noch vor Karnevalschluss teilzunehmen sich entschlossen hatten. Was Fridolin betraf, so war er gleich beim Eintritt in den Saal wie ein mit Ungeduld erwarteter Freund von zwei roten Dominos begrüßt worden, über deren Person er sich nicht klar zu werden vermochte, obzwar sie über allerlei Ge- schichten aus seiner Studenten- und Spitalzeit auffallend genauen Bescheid wussten. Aus der Loge, in die sie ihn mit verheißungsvoller Freundlich- keit geladen, hatten sie sich mit dem Versprechen entfernt, sehr bald, und zwar unmaskiert zurückzukommen, waren aber so lange fortgeblieben, dass er, ungeduldig geworden, vorzog, sich ins Parterre zu begeben, wo er den beiden fragwürdigen Erscheinungen wieder zu begegnen hoffte. So angestrengt er auch umherspähte, nirgends vermochte er sie zu erblicken; statt ihrer aber hing sich unversehens ein anderes weibliches Wesen in sei- nen Arm: seine Gattin, die sich eben jäh einem Unbekannten entzogen, dessen melancholisch-blasiertes Wesen und fremdländischer, anschei- nend polnischer Akzent sie anfangs bestrickt, der sie aber plötzlich durch ein unerwartet hingeworfenes, hässlich-freches Wort verletzt, ja erschreckt hatte. Und so saßen Mann und Frau, im Grunde froh, einem enttäuschend banalen Maskenspiel entronnen zu sein, bald wie zwei Liebende, unter anderen verliebten Paaren, im Büffettraum bei Austern und Champagner, plauderten sich vergnügt, als hätten sie eben erst Bekanntschaft miteinan- der geschlossen, in einer Komödie der Galanterie, des Widerstandes, der Verführung und des Gewährens hinein; und nach einer raschen Wagen- fahrt durch die Winternacht sanken sie einander daheim zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme. (1992 [1925], 8) 22 Frank Kessler montage/av Die Anonymität des Maskenballs, vor allem aber die zeitweilige Aufhebung sozialer Normen im Karneval lädt die Atmosphäre von Anfang an erotisch auf. Doch Fridolins Wunsch, die beiden „roten Dominos“ würden „sehr bald, und zwar unmaskiert“ zurückkommen, bleibt unerfüllt, während Albertine von einem anfangs für sie reizvollen, „fremdländischen“ Unbekannten durch eine offenbar unverblümte Bemerkung erschreckt wird. So finden sich die beiden im Trubel des Festes und spielen nun ein Spiel gegenseitiger Verführung miteinan- der, das daheim seine Fortsetzung und die „schon lange nicht mehr so heiß erlebte“ Erfüllung findet. Doch dieses scheinbar glückliche Ende eines beinahe frustrierenden Abends ist nicht von Dauer. Gleich anschließend an die zitierte Passage fährt Schnitzler fort: „Ein grauer Morgen weckte sie allzubald.“ Tags darauf, in ihrem Gespräch über den Ball, rufen sie sich nicht das gemeinsam und füreinander inszenierte erotische Spiel in Erinnerung, sondern die „Schattenge- stalten“ des Festes, „und jene unbeträchtlichen Erlebnisse waren mit einemmal vom trügerischen Scheine versäumter Möglichkeiten zauberhaft und schmerz- lich umflossen“. Ein Riss hat sich aufgetan, der auch am Ende der Novelle nicht völlig geflickt werden kann. „Where the rainbow ends“ In Stanley Kubricks letztem Film Eyes Wide Shut (USA/GB 1999), der, wie es im Abspann heißt, von Schnitzlers Traumnovelle „inspiriert“ wurde – tatsäch- lich folgt der Film weitgehend seiner literarischen Vorlage –, ist die Handlung in das New York der (vermutlich) späten 1980er Jahre transponiert. Das führt natürlich zu einer Modernisierung der diegetischen Welt sowie einer gewissen „Amerikanisierung“ der Umgebung wie auch der Figuren (teilweise sehr direkt: so heißt der frühere Studienkollege der Hauptfigur, der Pianist Nachtigall im Film Nick Nightingale). Daneben gibt es, bei aller Werktreue der Adaption, noch einige subtile Verschiebungen und Hinzufügungen, die dem Handlungs- verlauf in Kubricks Film eine zusätzliche eigene Dynamik und Dichte verlei- hen.1 In der Vorweihnachtszeit werden Dr. William Harford und seine Frau Alice auf eine Party bei Harfords Patient Victor Ziegler eingeladen. Die Räume, in denen das Fest stattfindet, sind in warmes, rotgoldenes Licht getaucht, ein 1 Da es mir hier weder um das Verhältnis zwischen literarischer Vorlage und Verfilmung noch um eine Analyse von Kubricks Film selbst geht, werde ich diesen Aspekt im Folgenden ver- nachlässigen. 10/2/2001 Eyes Wide Shut 23 Abb. 1 Abb. 2 Orchester spielt Tanzmusik. Die Harfords meinen, keinen der anderen Gäste zu kennen, und so tanzen sie zunächst miteinander. Plötzlich erkennt Bill in dem Pianisten seinen früheren Kommilitonen Nick Nightingale. In der folgenden Orchesterpause unterhalten sich die beiden, während Alice die Toilette aufsucht und auf dem Weg dorthin ein Glas Champagner leert. Bei der Bar wollen sich die Harfords wieder treffen. Doch ab diesem Moment trennen sich die Wege des Ehepaars, im weiteren Verlauf der Party sieht man sie nicht mehr zusammen. Für den Rest dieses Segments alterniert Kubrick zwischen den beiden Erzähl- strängen, in denen er Bill und Alice folgt. Schon bald wird Nick von einem Kollegen fortgerufen. Überblendung: Alice von hinten, mit dem Rücken zu einem Tisch stehend, auf dem sie ihr halbvolles Glas abgestellt hat. Ein eleganter, grauhaariger Mann nähert sich und ergreift ihr Glas. Alice protestiert: „I think that’s my glass.“ (Abb. 1) Provozierend antwor- tet er: „Oh, I’m absolutely certain of it“, trinkt aus und stellt sich vor (Abb. 2). Er heiße Sandor Szavost und komme aus Ungarn. Unmittelbar nach dem ersten Bruch gesellschaftlicher Konventionen fragt Szavost Alice, ob sie Ovids Ars amandi kenne. Er erkundigt sich, ob sie allein gekommen sei, und reagiert ent- täuscht, als sie ihren Ehemann erwähnt: „Oh, how sad.“ Sie tanzen miteinander. Alice sieht Bill im Gespräch mit zwei jungen Frauen. Szavost bemerkt ihren Blick und erfährt so, dass Bill ihr Mann ist. Er stellt fest, die Ehe mache die Täu- schung zu einer Notwendigkeit für beide Seiten. Es folgt ein Gespräch zwischen Bill und den beiden Frauen, wobei sich herausstellt, dass die eine als Fotomodell arbeitet und er ihr einmal bei einer Aufnahme ein Staubkorn aus dem Auge geholt hat. Schnitt zurück auf Alice und Szavost, der ihr erzählt, früher hätten Frauen nur geheiratet, um ihre Jungfern- schaft zu verlieren und damit frei zu sein für die Männer, die sie wirklich liebten. 24 Frank Kessler montage/av Erneuter Wechsel zu Bill, der mit den beiden jungen Frauen Arm in Arm herumschlendert und sich mit ihnen unterhält (Abb. 3). Mit einem Mal hält er inne und fragt, wohin sie denn eigentlich gingen. „Where the rainbow ends“, lautet die Antwort und: Man werde ihm schon zeigen, wo das sei. An dieser Stelle werden sie von einem Mann unterbrochen, der Abb. 3 Bill in die obere Etage zu Victor Zieg- ler, dem Gastgeber, ruft. In einem großen Badezimmer liegt eine nackte junge Frau in einem Sessel. Ziegler, mit bloßem Oberkörper, erklärt, sie habe einen Speedball genommen und sei dann kollabiert. Bill kümmert sich um sie und bringt sie wieder zu sich. Zurück zu Alice und Szavost: Er erzählt ihr von Zieglers Kunstsammlung und bietet sich an, ihr die Bronzeskulpturen aus der Renaissance zu zeigen. Die Sammlung befinde sich in der oberen Etage: „You won’t be gone long.“ Umschnitt auf das Badezimmer. Ziegler trägt jetzt ein Hemd, die junge Frau, mittlerweile in eine Decke gehüllt, liegt immer noch in dem Sessel. Bill sagt, sie habe großes Glück gehabt und rät ihr, eine Entziehungskur zu machen. Er instruiert Ziegler, sie noch eine Stunde da zu behalten und dann nach Hause bringen zu lassen. Ziegler bittet Bill, über die Sache Schweigen zu bewahren. Unten tanzen Alice und Szavost noch immer. Alice fühlt sich beschwipst und will Bill suchen gehen. Szavost drängt sie erst zu bleiben, dann sagt er, er müsse sie wiedersehen. Alice lehnt ab: Sie sei verheiratet. – Nun folgt ein harter Schnitt, auch auf der Tonebene. Statt der Tanzmusik hört man nun Chris Isaaks Song Baby Did a Bad, Bad Thing. Alice und Bill stehen nackt vor einem Spiegel und küssen einander. Es folgen der Alltag, das Gespräch über die Erlebnisse des Vor- abends, schließlich der Riss. Ordnung und Exzess Aus dieser – sehr verkürzten – Beschreibung lässt sich ersehen, dass Kubrick zwar entscheidende Motive aus Schnitzlers Novelle aufgreift (die beiden Frauen, den mitteleuropäischen Verführer, die erotisierte Atmosphäre, die Lie- besnacht des Ehepaars), diese aber anders kontextualisiert und darüber hinaus weitere Elemente hinzufügt (die Szene im Badezimmer). Auch hier geht es um 10/2/2001 Eyes Wide Shut 25 unbestimmte, aber dennoch durchaus deutliche Einladungen zu erotischen Abenteuern. Doch die Bewegung verläuft genau umgekehrt: Bei Schnitzler stür- zen sich die beiden zunächst getrennt in den Faschingstrubel, um dann zueinan- der zu finden, bei Kubrick sind sie anfangs noch zusammen, gehen dann eigene Wege und entziehen sich bewusst den Avancen, die man ihnen macht. Weil es sich hier zudem nicht um einen Karnevalsball handelt, sondern um eine sehr mondäne, vorweihnachtliche Party, steht die latente Erotik in einem gewissen Gegensatz zum situativen Rahmen.2 Auch auf dieser Ebene kann man von Ris- sen sprechen, die sich in der Fassade des eleganten Festes zeigen: Die Andeutun- gen Szavosts und der beiden Frauen verweisen vage auf etwas, das offenbar anderswo stattfinden könnte, hinter den Kulissen des Fests. Die meisten Gäste scheinen davon nichts zu wissen, sie amüsieren sich mit „weit geschlossenen Augen“. Der Raum ist gewissermaßen zweigeteilt: mondänes Tanzvergnügen unten, der Ort der möglichen erotischen Begegnungen ist das Obergeschoss. Dorthin will Szavost mit Alice gehen, um die Skulpturensammlung des Haus- herren zu betrachten, dort liegt möglicherweise auch das Ende des Regenbo- gens, zu dem die beiden Frauen Bill führen wollen. Dort befindet sich aber vor allem das Badezimmer, in dem sich der Gastgeber mit einer Prostituierten auf- hält. Der Frauenakt an einer der Wände schafft die explizite Verbindung zwi- schen Kunst und Sexualität, die bei Szavosts Aufforderung an Alice, mit ihm die Renaissanceskulpturen zu betrachten, implizit bleibt. Eine solche Zweiteilung gehört offenbar – zumindest tendenziell – zum Wesen des Fests: Schon in seinen sakralen Ursprüngen bewegt es sich zwischen zwei Polen: dem Ritual, dem Zeremoniell einerseits, der Orgie, dem Exzess andererseits. Zu beiden Seiten hin ist das Fest aus dem Alltag herausgehoben, sowohl durch die formelle, strenge Ordnung des Ritus wie durch deren totale Auflösung. Die beiden Pole stellen dabei allerdings keinen unvereinbaren Gegensatz dar. Sie schaffen das Spannungsfeld, das die eigentümliche Oszilla- tion zwischen Förmlichkeit und Ausschweifung erzeugt, die das Fest charakte- risiert. So schreibt der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga: Wie steht es nun mit der Haltung und Stimmung bei heiligen Feiern? Das Wort ‚feiern‘ sagt es beinahe schon. Der heilige Akt wird gefeiert, d. h. er fällt in den Rahmen des Festes. Das Volk, das sich zu seinen Heiligtümern aufmacht, macht sich zu gemeinsamer Freudenkundgebung auf. Wei- 2 Eben dadurch wirkt das Verhalten Szavosts so provokant: Würde er auf einem Faschingsball das Glas einer ihm unbekannten Frau leeren, sähe man das eher als Teil des allgemeinen Trubels. Und auch die Unterhaltung über Ovid, den Verlust der Jungfernschaft und Ehebruch ist so eindeutig-zweideutig, dass sie bei einer vorweihnachtlichen Party ‚unpassend’ erscheint. 26 Frank Kessler montage/av hung, Opfer, heilige Tänze, sakrale Wettkämpfe, Aufführungen, Myste- rien, alles ist in den Rahmen des Festes einbezogen. Auch wenn die Riten blutig, die Prüfung des Einzuweihenden grausam, die Masken schrecker- regend sind, das Ganze spielt sich als Fest ab. Das ‚gewöhnliche Leben’ ist stillgelegt. Mahlzeiten, Gelage und allerlei Ausgelassenheit begleiten das Fest in seiner ganzen Dauer. Man mag nur an griechische oder an afrikani- sche Beispiele denken, es wird kaum möglich sein, eine scharfe Grenze zwischen Feststimmung im Allgemeinen und heiliger Erregung über das zentrale Mysterium zu ziehen. (1956, 28) In welchem Maße ein Fest sich mehr um den zeremoniell-rituellen oder um den orgiastisch-exzessiven Pol organisiert, ist von vielerlei Faktoren abhängig: Gebote und Tabus der jeweiligen Religionen, soziale Normen und Werte, histo- rische Situation usw. Es kann als eine präzise inszenierte Abfolge von Ereignis- sen organisiert sein oder die Dinge nehmen einfach ihren Lauf; es kann zur Auf- hebung sozialer Schranken dienen oder Klassen- bzw. Standesunterschiede betonen (vgl. Alewyn / Sälzle 1959). Insofern die Bewegung von einem Pol zum anderen in der Diachronie des Fests betrachtet werden kann, dürfte sie in der Regel von der Ordnung hin zu deren Auflösung verlaufen.3 Das Fest, das Kubrick zu Beginn von Eyes Wide Shut zeigt, verhält sich hierzu jedoch merk- würdig ambivalent. An der Oberfläche hält sich die Party an die gesellschaftli- chen Normen, doch parallel hierzu gibt es diesen anderen Raum der sexuellen Ausschweifung, der zwar weitgehend implizit bleibt, doch zumindest in dem Badezimmer, in dem sich der Gastgeber mit der Prostituierten befindet, kon- krete Formen annimmt. Statt einer Diachronie im Verhältnis von Ordnung und Exzess scheint es sich hier um eine Synchronie zu handeln. Damit erzeugt Kubrick gleich zu Anfang des Films eine eigentümliche narrative Doppelbödig- keit, die auch im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder Situationen schafft, in denen der Zuschauer Risse wahrnimmt (oder wahrzunehmen glaubt), hinter denen sich unvermittelt Abgründe auftun.4 3 In Schnitzlers Traumnovelle verläuft die Bewegung für die beiden Eheleute allerdings eher umgekehrt: Am Anfang herrscht die aufgelöste Ordnung des Faschingstrubels, später spielen sie eine „Komödie“ miteinander und unterwerfen sich deren Regeln. 4 So z. B. wenn die Tochter eines gerade verstorbenen Patienten Bill unvermittelt ihre Liebe gesteht oder wenn der Kostümverleiher offenbar seine Tochter prostituiert und deren Kunden erpresst (auch diese Episoden finden sich im Übrigen in Schnitzlers Traumnovelle). 10/2/2001 Eyes Wide Shut 27 Die Anonymität im Boudoir Sowohl in der Novelle als auch im Film wird das Fest zu Beginn kontrastiert mit der geheimen Orgie, zu der sich der Held mit Hilfe seines früheren Kommilito- nen Zugang verschafft. Die Atmosphäre hier ist pseudoreligiös, es herrschen offenbar strenge Regeln und Hierarchien, alles scheint einem genau festgelegten Ritual zu folgen (Abb. 4). In Schnitzlers Traumnovelle kommt es sogar angeb- lich nicht einmal zu sexuellen Handlungen. Zwar fragt Fridolin die Frau, die ihn dazu drängt zu fliehen: „Es sollte hier keine verschwiegenen Gemächer geben, in die Paare sich zurückziehen, die sich gefunden haben. Werden alle, die hier sind, mit höflichen Handküssen voneinander Abschied nehmen? Sie sehen nicht danach aus.“ Doch die Unbekannte antwortet ihm: „Vergebliche Hoffnung [...], es gibt hier keine Gemächer, wie du sie dir träumst“ (1992 [1925], 44). In Eyes Wide Shut dagegen findet die sexuelle Ausschweifung in aller Offenheit statt. Doch gleichzeitig fällt die ganze Veranstaltung in ihren überdeutlichen Anklän- gen an die Libertinage des 18. Jahrhunderts sowie der Männerphantasie von umstandslos verfügbaren Frauenkörpern merkwürdig ‚aus der Zeit‘. Dies ist keine Swinger-Party. Hier gibt es außerdem auch keine erotische Spannung, kein Spiel der Verführung, nur mechanische Geschlechtsakrobatik. In dieser Hinsicht scheint zumindest eine oberflächliche Gemeinsamkeit mit de Sade auf, von dessen Orgien Horkheimer und Adorno feststellen, „mehr noch als auf den Genuss scheint es in solchen Veranstaltungen auf seinen geschäftigen Betrieb, die Organisation anzukommen [...]“ (1971, 80). Die Dimension einer Vernunft- kritik und Entzauberung der Moralgesetze fehlt hier jedoch völlig: In diesen Boudoirs wird nicht philosophiert. Und hinter den Kulissen des Fests befindet sich – nichts. Das einzige Geheimnis ist die Identität der Personen, die sich hin- ter den Masken verbergen. Ziegler erklärt Bill später, sie seien reich und mächtig. (Man fragt sich, ob es sich nicht sogar weitgehend um dieselben handelt, die zu Beginn auf Zieglers eigener Party waren – er selbst jedenfalls war auch unter den Maskierten, genau wie die Prostituierte, die in seinem Bad kolla- bierte). Damit scheint der Hauptreiz der Orgie letztlich in der Anonymität und der Exklusivität zu bestehen. Hier feiern Mächtige ihre Macht. Wenn also die Party bei Zieglers eine Atmosphäre eigentümlicher Span- Abb. 4 28 Frank Kessler montage/av nung atmet, so vor allem, weil hier alles möglich scheint und beinahe nichts gewiss ist. Die Geheimorgie dagegen vereinbart zwar eigentlich in ihrer Organi- sation das Ritual und den Exzess, was jedoch fehlt ist das „zentrale Mysterium“. Genau deshalb wirkt sie auch so ‚aus der Zeit‘: Im Kontext einer aufgeklärten, permissiven bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft scheint sie völlig deplat- ziert. Und doch: Am Ende von Schnitzlers Traumnovelle steht das Erwachen, es beginnt ein neuer Tag mit „einem sieghaften Lichtstrahl durch den Vorhang- spalt und einem hellen Kinderlachen von nebenan“ (1992 [1925], 88). Bei Kubrick machen Alice und Bill mit ihrer Tochter Weihnachtseinkäufe, auch hier also eine Rückkehr zur Normalität einer Ehe, die gerade eine Krise überstanden hat. Aber gerade weil die Geheimorgie nicht nur Objekt einer privaten Obses- sion ist sondern auch als Bild einer ungreifbaren Macht weiterschwingt, bleibt die Frage, was man nun eigentlich gesehen hat bei den beiden Festen und den ganzen Film hindurch, „eyes wide shut“. Literatur Alewyn, Richard / Sälzle, Karl (1959) Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Reinbek: Rowohlt. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1971) Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer. Huizinga, Johan (1956) Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt. Schnitzler, Arthur (1992) Traumnovelle [1925]. Frankfurt a. M.: Fischer. Hans J. Wulff Bier und Blasmusik Das Fest in den Filmen Jiéi Menzels Menzels Filme handeln von „Heimat“, und das meint nicht allein das Dorf und die umgebende Landschaft, sondern ein alltägliches Glück und eine grundle- gende diesseitige Zufriedenheit: das Bier von der siebten Stufe, Würste frisch aus dem Rauch, Blasmusik, Zeit für ein Schwätzchen in der Sonne, die Schönheit der böhmischen Frauen – leiblich-sinnliche Erfahrungen, die das Leben hier ausma- chen und der Welt draußen fremd sind. Kaum einer der großen europäischen Regisseure hat so schwärmerisch und warm vom Dorfleben erzählt wie Menzel. Vielleicht darum sind seine Filme1 voller Feste. So oft Menschen feiernd zusammenkommen, so wenig drängt sich eine gemeinsame Phänomenologie des Feierns in den Filmen Menzels auf. Eines der umfassendsten Feste, das nahezu die Hälfte des Films einnimmt, findet in Das Wildschwein ist los statt. Dort streiten die Mitglieder des Schützenvereins und die Jagdgenossen darum, wer das Wildschwein, das am Beginn des Films erschossen wird, denn erlegt hat – und man einigt sich darauf, das Schwein in einem gemeinsamen Fest aufzuessen. Unnötig zu sagen, dass die Missstimmig- keiten des Anfangs im Fest beigelegt werden, sie gehen in Völlerei, Rausch und Musik unter. Das ganze Dorf nimmt teil, das Kollektiv kehrt zu seinen ursprünglichen Werten zurück, die dörfliche Idylle ist wiederhergestellt. Das Fest also als Strategie, Konflikte im Zusammenleben beizulegen? Es wäre irrig anzunehmen, die Feste dienten bei Menzel immer nur der ex- zesshaften Vergemeinschaftung. Manche Feste (wie z. B. in Heimat, süße Hei- mat) bringen Konflikte erst zum Ausbruch, ermöglichen es, Emotionen freizu- setzen, die sonst immer unter Kontrolle bleiben würden. Auch dies ist aber ebensowenig eine typische Dramaturgie des Festes wie das spontan sich entwi- ckelnde Geschehen im Stellwerk in Liebe nach Fahrplan, das die Obrigkeit am nächsten Morgen als „Orgie“ diffamieren und das Sanktionen nach sich zie- hen wird. 1 Die erwähnten Filme Menzels: OSTRE SLEDOVANÉ VLAKY (DDR-Titel: SCHARF BEOBACH- TETE ZÜGE, BRD-Titel: LIEBE NACH FAHRPLAN, ‡SSR 1966), POSTRIZINY (KURZGE- SCHNITTEN, ‡SSR 1980), SLAVNOSTI SN~¦EK (DAS WILDSCHWEIN IST LOS, ‡SSR 1983), VESNI‡ko, MÁ STR~DISKOVÁ (HEIMAT, SÜSSE HEIMAT, ‡SSR 1985), KONEC STARYCH ‡AS5 (ENDE DER ALTEN ZEITEN, ‡SSR 1989). 30 Hans J. Wulff montage/av Menzels Filme nehmen den Tonfall und den Rhythmus der tschechoslowaki- schen Neuen Welle auf. Und so erkennbar die Bezüge zu den anderen Neuen Wellen auch sind, hier zeigt Menzel sich einer eigenen Linie verpflichtet: Die gebrochenen Figuren, die so oft im europäischen Kino der Neuen Wellen aufge- treten sind, die sich weigern, am Fest teilzunehmen und gerade darin eine psy- chologische Krise zeigen, die an Grundlegendes rührt, fehlen in Menzels Kos- mos völlig. Unfähigkeit zum Fest deutet auf Nähe zum Tod, und um Tod drehen sich diese Filme nicht. Während die Menzelschen Figuren fast wie eine Inversion der Figurendramen der westlichen Neuen Wellen wirken, zersetzt Menzel ähnlich wie jene die große, zusammenhängende Geschichte in einen bunten Flickenteppich einzelner Szenen. Manchmal löst er sogar das Prinzip der zentralen Figur auf, erhebt ganze Kollektive in den Rang des Protagonalen. In szenischen Miniaturen werden z. B. in Das Wildschein ist los Mikroge- schichten angedeutet, konflikthafte Familienkonstellationen hingetupft, die kleinen Boshaftigkeiten und Obsessionen der Dorfbewohner skizziert. Es bleibt dabei eine Wärme und eine Sympathie mit allen Beteiligten spürbar, die die Darstellung nie in Karikatur oder Satire übergehen lässt. Immer wieder wird die Erzählung mit einer Kranfahrt unterbrochen, die das Dorf im Wald zeigt, als solle ein ironischer Mittelweg zwischen einem „Blick ins Herbarium“ und einer versöhnlichen Distanz artikuliert werden. Das Fest ist die Zusammenkunft aller, Schnittpunkt der Beziehungslinien, Engführung aller Teilgeschichten. Ein dra- maturgischer Ort eben. All diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass das Fest bei Menzel in ganz ver- schiedenen Funktionen steht und dass Feste hier keine gemeinsame Qualität haben. Es lohnt sich aber, nach tieferen Funktionen des Festes zu suchen. Das Fest ist ein Ort, an dem Menschen sich außerhalb aller Zwänge des Alltagslebens stellen. Das Fest ist Gegen-Alltag und von jenem nicht zu lösen. Entfremdung und Abhängigkeit, emotionale und materielle Armut, Leid und die Prozesse der Triebunterdrückung und -sublimierung sind für eine kurze und begrenzte Zeit ausgesetzt. Den Deprivationen des Alltagslebens ist ein Gegenalltag entgegen- gesetzt, an dem ursprüngliche Freude und Liebe zum Leben artikuliert und für den Zeitraum des Hinaustretens aus dem Alltäglichen verwirklicht werden kann. Das Fest ist eine Form, die Gutheißung der Welt in besonderem Rahmen zu begehen, heißt es in Josef Piepers Zustimmung zur Welt: Eine Theorie des Festes (1963). Die Feiernden verlassen den Rahmen der alltäglichen Routinen, der automatisierten Vorgänge und treten ein in eine Enklave der Alltagswelt. Sie feiern und zeigen darin, dass sie in der Welt sind und dass sie gern dort sind. Der Exzess des Festes steht gegen den Alltag, er „hilft, den Alltag zu bewältigen, indem er ihn bewusst macht“ (Gebhardt 1987, 53). 10/2/2001 Bier und Blasmusik 31 Werte sind in vielen Filmfesten ein unausgesprochener Subtext und verdeutli- chen die funktionalen Bezüge, die das Fest und den Alltag der Feiernden verbin- den. Filme wie Babettes Gæstebud (Babettes Fest, Dänemark 1987, Gabriel Axel) oder Chocolat (Chocolat – Verbotene Sehnsucht, F/BRD 1987, Claire Denis) treiben Askese gegen Sinneslust (vgl. Grimm 1997, 293f). Sie stel- len Lebenshaltungen einander gegenüber. Askese als Abwendung von der Welt steht dem Fest als der Zuwendung entgegen. Der Gegenpol der Sinneslust ist bei Menzel nun aber nicht die Askese, sondern die Macht. Das macht seinen Film unvergleichbar, das deutet auf ganz andere Verankerungen im ideologischen System hin.2 Das Fest verändert in beiden Fällen diejenigen, die sich einer stren- gen Moral unterworfen haben. Aber die einen üben Kontrolle am eigenen Leibe aus, die anderen stehen in gesellschaftlicher Repräsentanz. Bei Menzel dient das gemeinsame Essen und Trinken dazu, die Figuren auf sich selbst zurückzuweisen. Die Feiernden in Kurzgeschnitten kommen als Vertreter der Macht, sie üben Aufsicht aus, sie kontrollieren den Helden. Und sie könnten ihn aus seiner Aufgabe entfernen, seine ganze Existenz würde dann zusammenbrechen: Es sind die Mitglieder des Aufsichtrats der Brauerei, die wie immer jährlich den Betrieb begehen und sich Bericht erstatten lassen, wie die Geschäfte laufen. Die Begehung eröffnet den Film, der Tonfall der Erzählung kann sich ausbreiten. Die Männer zeigen deutlich, dass sie um ihre Macht wis- sen, dass sie den Verwalter der Brauerei entlassen könnten. Aber sie kommen essend und trinkend zu sich selbst zurück. Nach der Betriebsbegehung findet ein kleines Fest statt, eine Sau musste notgeschlachtet werden. Alle wissen natürlich, dass das gelogen ist, sie sind aber alle mit der Tatsache einverstanden. Sinneslust und Rausch heben gesellschaftliche Ränge und Funktionen auf. Das 2 Möglicherweise ist dieses Spannungsverhältnis in der tschechoslowakischen Filmkultur viel tiefer konventionalisiert, als es hier den Anschein hat. Erinnert sei an Jan Nemec’ Film O Slavnosti a Hostech (Vom Fest und den Gästen, ‡SSR 1965), der eine kafkaeske Parabel auf die politischen Verhältnisse vor dem Prager Frühling erzählt, sowie an das große Fest in Milos Formans Lásky jedné Plavovlávsky (Die Liebe einer Blondine, ‡SSR 1965), das eine ähnliche Groteske über die Rituale des Feierns und der Freizeit in der zeitgenössischen ‡SSR ist wie sein Horí, má Panenko (Der Feuerwehrball, dt. Verleihtitel: Anuschka, es brennt, mein Schatz, ‡SSR 1967). Dieser Film insbesondere nimmt das Format des Festes selbst als Rahmen einer Unterdrückungs- und Regulierungsapparatur, gegen die sich die Feiernden zur Wehr setzen müssen. Der Film kulminiert in einer Szene nach einem Schönheitswettbewerb, den die ausrichtenden Feuerwehrleute ausgelobt hatten: Die Mädchen, die sich zeigen sollten, sind zu schüchtern und fliehen in die Toilette. Auf dem Saal bricht ein Tumult aus: Alle äußere Ordnung des Handelns löst sich auf, die Feiernden versinken in ganz und gar gegenwärtigem Spiel, das dennoch eine Auseinandersetzung mit der Ordnung des Festes bleibt: Wenn am Ende eine füllige Mittvierzigerin zur Schönheitskönigin gekürt wird, karikiert noch die Wahl die entfremdete Dramaturgie des Balls. 32 Hans J. Wulff montage/av Fest re-integriert Menschen, die durch die Machtverhältnisse des Besitzes gegeneinander gestellt waren.3 Es geht um Werte und Wertkomplexe, die Menzel kontrastiert. Ausgerechnet das Irdische, das Diesseits, die Lust der unmittelbaren Begegnung und die Lust am eigenen Leib setzen das Ideologische der Besitzverhältnisse aus und aktuali- sieren Werte des Leibes und seiner Sinnlichkeit. Wie sehr die Figuren die Szene als Spiel durchschauen! Die Szene der Begehung der Brauerei ist nur ein Vor- spiel. Alle Bedrohlichkeit, die von ihr ausgehen könnte, ist institutionell bedingt. Die Vertreter der Macht begutachten denjenigen, der unter ihrer Macht steht. Macht artikuliert sich vor allem darin, dass sie sanktionieren kann. Das Tribunal, das im Film eingangs angelegt ist, kann aber nie bedrohlich werden, weil der Geruch des Bratens allen das Nachfolgende ankündigt. Nicht die Aus- übung der institutionellen Rolle ist das Wunschzentrum der Beteiligten, son- dern das Fest. Das macht der Film schnell deutlich. Alle Figuren sind in einem doppelten Wertebezug angeordnet – einem verord- neten und einem erwünschten. Die Ordnung der Arbeit und des Besitzes steht den Energien des Leibes und der Begegnung gegenüber. Die erstere ist die Wirk- lichkeit der sozialen Abhängigkeiten selbst, die Fragen sind ernst, die Konse- quenzen könnten die Existenz des Delinquenten gefährden. Immer aber ist sie nicht-ernst ausgelegt, wird durch minimale Äußerungen der Mitglieder des Tri- bunals entschärft. Alle spielen ihre Rollen, wissend, dass dem ersten ernsten Akt ein zweiter festlicher folgen wird. Folgerichtig machen sie die Betriebsbesichti- gung nicht, sondern sie führen sie auf, wissend, dass das eigentliche Geschehen folgen wird und dass sie schon bald die ungewohnte und nur unsicher perfor- mierte Haltung des ersten Teils aufgeben können. Da tritt sogar der eine oder andere aus der offiziellen Rolle heraus, betritt die „andere“ Sphäre, verweilt im Vorgenuss auf das, was da kommen mag. Bis hier gaben zwei Bestimmungen dem Fest bei Menzel eine unerwartete Tiefe: das Doppel von Fest und Feier und die Sozialität des Feierns überhaupt. Das Fest ist exzesshaft, die Feier kontemplativ. Die manchmal so exzesshaften Menzel- 3 Die Filme sind trotz dieser Tendenz, den Widerspruch von Kapital und Arbeit mit einer allgemeineren Geselligkeit zu versöhnen, äußerst kritisch. Zum einen sind die Filme Menzels oft historisch angelegt und nähern sich den Prozessen der Modernisierung oft ironisch an, sie als Oberflächenphänomene gegen eine eklatante Beharrungstendenz der sozialen Beziehungen stellend. Und zum zweiten sind die Repräsentanten der Macht meist Dorfbewohner und allein dadurch gegen die Einwohner der Stadt gestellt, die – wie z. B. in Heimat, süße Heimat – in die Vorgänge des Feierns nicht eintreten können. Das Menzelsche Fest ist reserviert für die Teilnehmer der Dorfgemeinschaft und abgeschottet gegen die Bewohner Prags, die eine andere Qualität von Herrschaft verkörpern als alle Dorfmächtigen; vgl. dazu Wulff 1999. 10/2/2001 Bier und Blasmusik 33 Abb. 1a–d: KURZGESCHNITTEN schen Feste sind zugleich Feiern der dörflichen Gemeinschaft. Dem Fest ist so eine tiefere Dimension eingemischt, die durch den Rausch hindurch auf eine tiefe- re Besinnung auf Werte und Bedeutungen hinweist. Man könnte die Menzelschen Feste als Strategien ansehen, der dörflichen Welt, in der die Filme fast immer ange- siedelt sind, Interessenkonflikte auszutreiben, indem sie die Lebensgemeinschaft des Dorfes als höheren Wert erfahrbar machen. Im Fest erweist sich immerhin die Sozialität des Menschen. Feste sind soziale Tatsachen4. In Kurzgeschnitten nun handelt ein unterschwelliger Subtext noch von einer dritten Bestimmung des Festes. Wiederum ist es nötig, das Fest in den Horizont der ganzen Geschichte einzubetten. Es ist die Frau des Brauereileiters, 4 Niemand käme darauf, dass es sinnvoll wäre, ein Fest allein zu begehen. Wenn jemand allein feiert, fehlen die anderen. Die Alleinfeier trägt die Abwesenheit in sich, sie ist Kennzeichen des Verlusts. Alleinfeiern sind Trauerfeiern. Einmal begegnet man in Menzels Werk (in Ende der alten Zeiten) einer einsamen Frau, die sich für ihr Fest einen Partner sucht: Die beiden verbringen eine Fest-Nacht zusammen, heimlich, aber bei sich – am nächsten Tag werden sie ihre Anstellung verlieren, aber der kleine nächtliche Ausbruch aus den Zwängen des Alltags und aus der Abhängigkeit des Berufs hat den Preis gelohnt. Doch ist dies eine Ausnahme. 34 Hans J. Wulff montage/av die das Fest bereitet. Die für das Fest und das Irdische steht. Die einen Ort des Erotischen markiert und der Fluchtpunkt eines Begehrens zu sein scheint, der sich über alle Macht jener ersten Ebene erhebt. Sie begleitet die Rolle des Man- nes und fiele mit ihm zusammen ins soziale Nichts, wenn er die Prüfung durch die Kommission nicht bestünde. Aber sie vertritt einen anderen Wert. Er ist in die Abhängigkeitsverhältnisse des Besitzes und der Ordnung der Arbeit ver- strickt und könnte darum abgestraft werden. Er ist gefährdet, weil er unter Auf- sicht arbeitet. Sie dagegen ist frei und vertritt eine andere Ordnung – die Funk- tionen des Essens, der Sinneslust, der Familie und der Schönheit. Sexualität ist bei Menzel als zärtliche Berührung ausgelegt, darum auch kann die Frau sich mehreren Männern zuwenden oder Zuwendung erfahren. Das Fest ist den Verrichtungen des Alltags entgegengesetzt. Den Routinen der Arbeit, der Last der Pflichten. Aber nicht allein das Fest steht ihm entgegen, der Alltag selbst ist mehrfach gebrochen. Durch die kleinen Geschenke, mit denen der Brauereiverwalter seine Frau überrascht. Durch das kindliche Spiel, in das die Frau manchmal verfällt, die das Gefährliche liebt. Durch Szenen, in denen momentan eine kleine Zuwendung geschieht – der die Lunge abhorchende Arzt nickt z. B. für einen kleinen verzückten Moment am Busen der Heldin ein. Die Ordnung des Besitzens ist so einer anderen Ordnung der Sehnsucht entgegenge- stellt, in der es um Sinnlichkeit, Sexualität, Kindlichkeit und Schönheit geht. Und durch das Fest zu Beginn und zu Ende des Films, das Widersprüche ver- söhnt, aber nicht aufhebt. Menzels Filme sind erdige Filme – und diese Qualität basiert auf der Entge- gensetzung von Ordnungslinien des In-der-Welt-Seins. Das Fest ist Kulmina- tionspunkt einer Konfliktlinie, an der die Geltung der einen Ordnung ausge- setzt wird und sie in jene andere umschlagen kann. Die Zustimmung zur Welt, die nach Pieper zum Fest wesenhaft dazugehört, ist bei Menzel ein Einverstan- densein mit den Sensationen des Geschmacks, des Rausches und des ästheti- schen Genusses, welche die Figuren des Menzelschen Universums am eigenen Leibe erfahren. Literatur Gebhardt, Winfried (1987) Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a.M. [...]: Lang. Grimm, Petra (1997) The Semiotics of Eating and Orality in the Movies. In: Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives. Hrsg. v. Winfried Nöth. Berlin/New York: de Gruyter, S. 291–305. 10/2/2001 Bier und Blasmusik 35 Pieper, Josef (1963) Zustimmung zur Welt: Eine Theorie des Festes. München: Kösel. Wulff, Hans J. (1999) Jiri Menzel. In: Filmregisseure. Biographien, Werkbe- schreibungen, Filmographien. Hrsg. v. Thomas Koebner. Stuttgart: Reclam, S. 465–468. Zwischen Peinlichkeit und Lüs- ternheit: Der Blick des Fest- kommitees auf die Bikinischön- heiten in DER FEUERWEHR- BALL (‡SSR 1967, Milos For- man) Robin Hood entertaining Richard the Lionheart in Sher- wood Forest (Daniel Maelise, 1839). Ludger Kaczmarek „When Men Get Merry“ Vom Feiern im Wald in The Adventures of Robin Hood Bankette, Tafelszenen und Picknicks in freier Natur gehören zu jedem ordentli- chen Abenteuerfilm. Eine für das Subgenre des Robin Hood-Films prägende Szene, die ein ausgelassenes Convivium von Outlaws und Merry Men in Sher- wood Forest zum Gegenstand hat, enthält der Farbfilm The Adventures of Robin Hood (USA 1938, Michael Curtiz & William Keighley). Ikonogra- phisch schließt diese unmittelbar an jene romantisierenden Vorstellungen vom fröhlichen Leben in einer Gemeinschaft freier, gleichwohl patriotischer und königstreuer Räuber in sylvaner Idylle an, wie sie seit dem 19. Jh. insbesondere durch Walter Scotts Roman Ivanhoe (1819) und das Gemälde von Daniel Maclise, Robin Hood Entertaining Richard the Lionheart in Sherwood Forest (1839, Nottingham Castle Museum)1 einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Der kanonische Verlauf der Robin Hood-Geschichte2 darf wohl zum narrativen Gemeingut gerechnet werden, an dem die hier angesprochene Verfilmung historisch erheblichen Anteil gehabt haben dürfte. Schon Richards (1977, 187) hat die Szenenfolge in Sherwood Forest zwischen dem Überfall auf den normannischen Steuergeldtransport und der Entlassung der gedemütigten normannischen Edlen aus der Gefangenschaft als besonders erinnerungsaktiv beim Zuschauer und damit wesentlich für den Robin Hood-Mythos herausge- stellt.3 Robins „principle of limited revolt“ bekommt in der zentralen Tisch- szene seine glänzende rhetorische Präsentation. 1 S. Abbildung auf der gegenüberliegenden Seite (Quelle: http://www.geocities. com/puckrobin/ rh/rhpaint.jpg); eine weitere Reproduktion findet sich (mit links leicht beschnittenem Aus- schnitt) in Carpenter (1995, 58). 2 Als kanonische Bestandteile von Robin-Hood-Verfilmungen dürfen auf jeden Fall angesehen werden: das Bankett bei Prinz John/Sir Guy of Gisbourne, die Personaleinwerbungen und Proben Robins (Little John, Bruder Tuck), die Robin-und-Marian-Geschichte, Szenen aus dem Leben der Merry Men, der Überfall auf den normannischen Wertsachentransport und das Bogenschützenturnier. 3 Aktuelle ikonographische Anklänge finden sich in der Waldszene mit dem französelnden Monsieur Hood – dessen Aussehen doch stark nach dem Schauspieler Errol Flynn modelliert ist – und seiner wahrlich ‚Fröhlichen Bande‘ im Animationsfilm Shrek (USA 2001, Andrew Adamson & Vicky Jenson). 38 Ludger Kaczmarek montage/av Die Rhetorik der Bilder Strukturell besteht die 8:19 Minuten lange Folge von Einstellungen, die ein Sie- gesmahl der vom erfolgreichen Anschlag auf den Geldtransport heimkehrenden Outlaws mit anschließender Beuteverteilung und Gefangenenschmähung auf einer Waldlichtung zeigen, aus zwei etwa gleichlangen Hälften: dem eigentli- chen Gastmahl der Band of Merry Men und der sich anschließenden Konversion Lady Marians (Olivia de Havilland) in ihrer emotionalen Beziehung zu Robin of Locksley (Errol Flynn). Die Waldszene korrespondiert formal und inhaltlich mit der zu Beginn des Films gezeigten Bankettszene bei Prinz John (Claude Rains) in der Großen Halle von Nottingham Castle. Funktional dient sie dazu, die Räuber und Outlaws als echte Gemeinschaft mit hehren Beweggründen und selbstlosen Zielen zu kennzeichnen, die den im Ausland gefangen gesetzten wahren König Richard loyal anerkennt, nicht aber den Usurpator Prinz John. Sie dient auch dazu, Lady Marians Gefühle zu Robin Hood zu katalysieren und nicht zuletzt durch die Neudefinition dieser erotischen Beziehung die unter- schwellig bereits bestehende Rivalität zwischen Sir Guy of Gisbourne (Basil Rathbone) – mit dem Prinz John Marian, das Mündel König Richards, verbin- den will – und Robin innerhalb der Dreiecksbeziehung so zu fundieren, dass das tödliche Fechtduell zwischen den beiden Rittern am Ende des Films eine per- sönlich-emotionale Basis bekommt und unausweichlich scheint. Somit wird im Fortgang der Waldszene ein Dreischritt des moralischen Diskurses des Film in nuce präsentiert: Von der Ostentatio, der schmähenden Fallhöhenmarkierung der normannischen Funktionäre (Sir Guy und der High Sheriff), die sich ihrer edlen Kleidung entledigen müssen, dafür Fetzen zugewiesen bekommen und derart lächerlich gewandet in einer Travestie als zerlumpte ‚Gastgeber‘ der Räu- ber fungieren müssen, wärend diese die prächtigen Gewänder der Normannen tragen, führt die Rhetorik der Bilder über die Elevatio Robin Hoods als eines Räubers von edler Gesinnung und mit hehren Motiven, der seine Thesen zu Loyalität, Verpflichtung und Verbundenheit akklamieren lässt, schließlich zur emotionalen und moralischen Conversio der schönen Normannin in ihrer Beziehung zum angelsächsischen Widerständler und Helden. Doch betrachten wir die Szenenfolge in ihrem Ablauf: Nachdem die Merry Men unter Robins Führung den normannischen Geldtransport mit den erpress- ten Steuergeldern, die angeblich für den Freikauf König Richards dienen sollen, überfallen und Sir Guy, Lady Marian sowie den High Sheriff von Nottingham und die Kammerzofe Beth in Gewahrsam genommen haben, ist es Zeit, diesen Sieg gebührend zu feiern. Der Abtransport der vornehmen und hochnäsigen Gefangenen wirft bereits ein Schlaglicht auf den Ausgang des sich anschließen- 10/2/2001 „When Men Get Merry“ 39 den Fests, indem geschickt die verba- len Bissigkeiten zwischen Robin Hood, Lady Marian und Sir Guy im Geplänkel der Niederen Minne zwi- schen Beth und Much dem Müllers- sohn gespiegelt werden. Klar ist nun: Alles wird gut, und wie man eine Bekehrungssituation filmisch effekt- voll gestaltet, zeigt die sich anschlie- ßende Szene im sonnigen Wald. Abb. 1 Das Gastmahl als Verführungsakt Das Werk ist vollbracht. Noch durchwärmt die Sonne den Wald, gibt allen Angelsachsen das glückliche Gefühl, ihr Bestes gegeben zu haben und nun sich guten Gewissens ausruhen und feiern zu dürfen. Auf einer Lichtung ist alles für das große Fest bereit: Riesige Fleischspieße drehen sich; das glänzende Fett tropft ins Feuer, jeder kennt seine Aufgabe und beteiligt sich ausgelassen tan- zend an den betriebsamen Vorbereitungen. Tische werden gedeckt, Obst und Wein in schweren Pokalen stehen bereit zur großen Inszenierung von gutem Essen, zarter Erotik und gärender Eifersucht. Rauschhaft drehen sich die Kreise der Tanzenden um Robin und Marian, vor ihnen und hinter ihnen. Auf vier Ebenen des Bildaufbaus geschieht etwas, nur die beiden sind der ruhende Pol, wenn sie gemessenen Schrittes und diskutierend – man stichelt noch gern und testet die Ernsthaftigkeit des anderen – in die Bildmitte gelangen. Robin lobt seine „happy men“, die sich durch „infinite patience, loyalty, goodness“ aus- zeichnen, doch Marian erscheinen sie eher wie eine „band of cutthroats“, eine Räuberbande eben. Robin Hood, der sich offenbar bereits beim ersten Zusammentreffen in Not- tingham Castle in Marian verliebt hat, wirbt um Vertrauen und Zuneigung der Lady, die ihn aber, sichtlich routiniert bemüht, sein Interesse an ihrer Person abzuwehren, einen Straßenräuber („saxon hedge robber“) nennt und ihn für einen schelmischen Trickster hält, der ganz auf seinen Eigennutz bedacht ist. Der Beziehungskampf zwischen den beiden wird zunächst verbal ausgefochten. Robin schwärmt von der augenblicklichen glücklichen Situation seiner Männer („This is heaven“), doch Marian pariert seine Begeisterung mit dem Vorwurf der Revolte. Während des Essens gelingt es Robin, Marians Appetit durch sein ein- ladendes Beispiel anzuregen (Abb. 1 u. 2), sie beginnt zu seinem unverhohlenen 40 Ludger Kaczmarek montage/av Abb. 2 Abb. 3 Vergnügen, gedankenverloren an der vor ihr liegenden Lammschulter zu nagen (Abb. 3). Eine Blickmontage, die an Verfahren der Commedia dell’arte orien- tiert ist und die der gestisch-mimischen Expressivität von an Stummfilmen geschulten Stars besonders entgegenkommt, ironisiert fein das Geschehen als erotischen Subtext. Die Darstellung des Verzehrs von Fleisch mit den bloßen Händen und ohne Zuhilfenahme von Besteck (sozusagen eine visuelle Symboli- sierung der Redewendung ‚Liebe geht durch den Magen‘), die Vielfalt und Menge der angebotenen Speisen und Getränke, nutzt die ganze semiotische Kla- viatur der Leiblichkeit in diesem Fest der Sinne: Haptik, Olfaktorik und Gusta- torik der Beteiligten werden mit optischer und akustischer Opulenz angespro- chen. Und je größer der Appetit Marians wird, desto mehr vergeht er dem dumpf vor sich hinbrütenden Sir Guy. Marian, ihr Tun – möglicherweise auch die in der gemeinsamen Verköstigung des Gebratenen und Gesottenen liegende erotische Komponente – erkennend, bricht abrupt ihre Mahlzeit ab und lässt das Geflügelbein vor sich auf den Teller fallen, empört und erstaunt darüber, wie sie sich hat so gehen lassen kön- nen. Robin muss sich also eine wei- tere Strategie überlegen, um sie von seinem Edelmut zu überzeugen. In der sich anschließenden Folge von Einstellungen springt er zweimal effektvoll auf den Tisch, um von dort seine ‚Tischrede‘ zu halten (Abb. 4), die zum einen ironischen Dank an den unfreiwilligen „Spender“ der Abb. 4 Speisen und Schätze, Sir Guy, erbietet 10/2/2001 „When Men Get Merry“ 41 Inhalt hat, und die zum anderen eine lautstarke Akklamation der Männer über die Verwendung des erbeuteten Lösegeldes herbeiführt. Auf diese Weise gelin- gen Robin starke Argumente für die Tadellosigkeit seines Charakters und die Ernsthaftigkeit seines Anliegens, König Richard mit dem Geld freizukaufen, und er kann endlich Lady Marian in ihrer standhaften Abwehr seiner Freund- lichkeiten erschüttern. Doch ist diese noch immer nicht völlig überzeugt. Robin muss nun versuchen, andere Emotionen Marians anzusprechen, will er sie vollends für sich und seine Sache gewinnen. In einer durch lianenähnliche Bewachsung vom Rest der Lich- tung abgetrennten, tunnelähnlichen Passage, die sie gemeinsam durchschreiten,4 zeigt er der Lady als geschickter Empathisierungsstratege wie in einer Geister- bahn die geschundenen Opfer normannischen Terrors.5 Von allen Seiten wird Robin für sein rettendes Eintreten gedankt, und als die beiden die Siechenstation verlassen haben, hat die Szene bereits ihre ganze katalytische Wirkung auf Mari- an entfaltet: Nun endlich ist sie von der makellosen Moralität Robins überzeugt und kann zugeben, wie sehr sie Mut und Selbstlosigkeit des Outlaws bewundert. Allein auf einer Waldlichtung, fern des fröhlichen Treibens der Merry Men, können die beiden nun ihre Zuneigung füreinander eingestehen und gewinnen eine emotionale Nähe, die in der körperlichen Berührung durch einen Hand- kuss gipfelt. Von nun an sind Robin und Marian ein Paar. Der Rest der Szene be- steht aus den Vorbereitungen für den Aufbruch Sir Guys und des Sheriffs, die in Lumpen und zu Fuß nach Nottingham gehen müssen. Lady Marian reitet am anderen Morgen standesgemäß zu Pferd nach Hause. Lang noch winkt Robin ihr zum Abschied nach. Festgemeinschaft vs. Habachtgesellschaft Es ließe sich zeigen, dass die Waldszene bis in die Tischordnung hinein die Szene mit dem Bankett in der Burg von Nottingham vom Beginn des Films spiegelt. Beide Szenen können als Schlüsselszenen für den politischen Grundkonflikt der 4 Der ringförmige Linksschwenk, der von den muffligen Normannen an der Festtafel durch die Elendspassage und den einsamen Wald leporelloartig zurück zur Lichtung führt, kann als Vorstudie für die Raumauflösung der initialen Caféhausszene (Rick’s Café) in Curtiz’ vier Jahre später entstandenem Film Casablanca (USA 1942) angesehen werden bzw. diese angeregt haben. 5 Spitze Zungen mögen die Frage formulieren, warum die armen Geschundenen nicht am Festmahl der fröhlichen Räuber teilnehmen – doch es ist eben die Eigenschaft von Katalysato- ren, dass sie sich nicht mit dem durchgeleiteten Material verbinden. 42 Ludger Kaczmarek montage/av Robin Hood-Geschichte angesehen werden, der darin besteht, dass die unter- drückte angelsächsische Urbevölkerung erfolgreich gegen eine anmaßende und zynische normannische Superstratschicht aufbegehrt. Dem Zuschauer wird die- ser Konflikt emotional vermittelt in Form einer klassischen Dreiecksgeschichte zwischen zwei Männern und einer Frau. Dargestellt werden Werbe- und Balz- verhalten, Abwehr, Liebesbezeugungen, verschmähte Liebe, Eifersucht sowie das tragische Ende eines der Beteiligten und das Happy Ending für die beiden anderen. Dabei wird das Hintergrundgeschehen der großen Politik bis in die zwischen- menschlichen Beziehungen hinein von dem strukturellen Gegensatz zwischen positiv besetzter Modularität und als negativ gekennzeichneter vertikaler Hie- rarchie durchzogen. In der Konvivialität der Merry Men im grünen Wald ist die- ser Gegensatz choreographiert als natürlicher Organismus von Individuen, die der pseudoliberalen Habacht-Geselligkeit ferngesteuert und seelenlos wirken- der Automaten an Prinz Johns verknöchertem Hof gegenübergestellt ist. Für das Genre der Robin Hood-Filme gewinnt die Feier im Wald in The Adventu- res of Robin Hood damit einen ikonographisch überdauernden Ausdruck. Literatur Carpenter, Kevin (Hrsg.) (1995) Robin Hood. Die vielen Gesichter des edlen Räubers. Oldenburg: bis – Bibliotheks- und Informationssystem der Univer- sitätsbibliothek. Richards, Jeffrey (1977) Swordsmen of the Screen from Douglas Fairbanks to Michael York. London: Routledge & Kegan Paul. Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ Typisierung des Feierns und Jubelns im Fernsehsport Was im Filmbusiness die Stars darstellen, sind im Fernsehen Celebrities. Im Wörterbuch schlicht als ‚berühmte Personen‘ übersetzt geht der Hinweis verlo- ren, dass sich Fernsehprominenz an das Zelebrieren, Feiern, Preisen (so die Wörterbuchübersetzungen von ‚to celebrate‘) bindet. Und tatsächlich lässt sich beobachten, dass im Fernsehen das Feiern – konventionellerweise eher als den Alltag kontrastierende und unterbrechende Praxis verstanden – auf Dauer gestellt wird. Kein Talk- oder Show-Moderator mehr, der nicht im tosenden Jubel seinen ersten Satz drei- oder viermal neu beginnen muss, um das sich nur langsam beruhigende Publikum zu übertönen… Insofern aber Feiern nur als das Besondere – Nicht-Alltägliche – zur Geltung kommen kann, müssen ständig neue Markierungs- und Überbietungsformen gefunden werden. Verstärkt noch durch die serielle Ereignisstruktur des Pro- grammflow wird dementsprechend das ausgedehnte Feiern (im Sinne eines Fes- tes) durchsetzt von punktuellen Gesten des Jubelns. Feiern wird im Fernsehen – zumindest jenseits der auf Alltagsinszenierung zielenden Darstellung von Fes- ten in fiktionalen Sendungen – als Reihung und Steigerung von Momenten zuge- spitzter Emotionen präsentiert. In besonderer Prägnanz zeigt sich dies im Fern- sehsport, der durch die Verschränkung von sportspezifischen und medialen Verfahren eine ungeheuere Vielfalt an Emotionsformen produziert. Nach eini- gen allgemeinen Bemerkungen wollen wir eine Typisierung solcher Verfahren medialen Feierns und Jubelns vornehmen. Der Fernsehsport als Medienereignis Schon die Strukturen der Sportspiele verbinden mehrere Ereignisebenen, aus denen das mediale Feiern und Jubeln Differenzierungsmöglichkeiten gewinnt.1 Beim Fußball, auf den wir uns weitgehend beschränken wollen, ist vor allem die Doppelstruktur von Teilereignis und Endergebnis von Interesse, die Erwartbar- keit und Überraschung verschränkt. Erwartbar ist, dass es am Ende des Spiels 1 Zur Unterscheidung von Sport- und Fernsehspiel siehe Adelmann/Stauff 2001, S. 154–160. 44 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av einen Sieger geben wird; je nach Ergebnis, kann das Feiern (zumindest seitens der Zuschauerinnen und Zuschauer) schon vor dem Schlusspfiff anheben. Über- raschend ist dagegen der Zeitpunkt, die Form und überhaupt das Vorkommen von zwar klar definierten, nicht aber vorhersehbaren Ereignissen wie einem Tor. Diese bieten Anlass für plötzlichen Jubel, der sich wiederum auf dem Platz und auf den Rängen ganz unterschiedlich artikuliert.2 Das Feiern im Fernsehsport profitiert von dessen Status als Medienereignis, also dem Live-Charakter und der damit postulierten Differenz von Mediendar- stellung und ‚Realität‘. Dies verleiht dem Feiern eine Institutionalisierung und Regelhaftigkeit, die außerhalb des Mediums verortet werden kann; die Formen des Feierns und Jubelns erhalten gleichermaßen Autorität und Authentizität. In der Umkehrung wird der Ereignis- (und Live-) Charakter durch Akzentuierung der spontanen und situativen Emotionen gestützt. Der Jubel fungiert häufig als potenzieller Exzess, der einen Kontrollverlust der Institution Fernsehen andeu- tet und damit sowohl einer vormedialen ‚Realität‘ als auch der Emotionalisie- rung Nachdruck verleiht.3 Für die Rezeption mag das Feiern und Jubeln zum Teil eine Stellvertreter- funktion haben, die das ‚Dabeisein‘ und ‚Mitfiebern‘ unterstützt; der verdop- pelnde Jubel vor dem Bildschirm kann vorübergehend zu einer Ablenkung vom ausgestrahlten Geschehen führen. Zugleich allerdings werden die Emotionsfor- men zu einem elementaren Teil des Mediensportereignisses, das den Zuschaue- rinnen und Zuschauern zur Beurteilung vorgesetzt wird. Die systematische Anwendung medialer Verfahren führt zu einer Differenzierung der Emotions- formen, die in einem Tableau möglicher, mehr oder weniger gelungener und adäquater Gesten ausgestellt und verglichen werden können. Nicht zufällig hat Walter Benjamin genau an der Verschaltung von Medien und Sport die Univer- salisierung des Expertentums erläutert: Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zusam- men, dass jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt. Man braucht nur einmal eine Gruppe von Zeitungsjungen auf 2 Die Struktur der Sportarten geht dabei ebenso in die Emotionsformen ein (man vergleiche das unterschiedliche Jubeln bei Radsport und Fußball) wie ihre expliziten Regeln: nach mehrjähri- gem Verbot darf das Trikot beim Torjubel jetzt wieder ausgezogen werden. 3 Dieser Kontrollverlust zeigt sich beispielsweise in Form von Koordinationsproblemen der In- stitution Fernsehen während der Übertragung des Empfangs des FC Bayern München auf dem Münchner Marienplatz nach dem Champions League-Sieg. Es gibt verwirrende Bild-Ton- Verschiebungen, fragmentarische Interviewsituationen, wechselnde Ebenen der Moderation des Ereignisses etc. 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 45 Abb. 1 und 2 Das Jubeln als media event ihre Räder gestützt, die Ergebnisse eines Radrennens diskutieren gehört haben, um sich das Verständnis dieses Tatbestands zu eröffnen. (Benjamin 1977, 155) Keinesfalls beschränkt sich diese testierende Praxis auf die Leistungen innerhalb des sportlichen Wettkampfs, sondern wird bruchlos auf die Aktionen und Gesten, die der ‚eigentlichen‘ sportlichen Leistung folgen, ausgeweitet. Wie ein Tor geschossen wird, wie es ‚im Spiel‘ bejubelt und wie es ‚nach dem Spiel‘ noch einmal kommentierend analysiert wird, liegt für das Mediensportexpertentum auf einer Ebene. Die Emotionsformen sind also keineswegs nur Reaktionen, sondern konstitu- tiver Teil des Ereignisses. Entgegen dem klassischen media event4 können des- halb auch Sendungen, die gewöhnlicherweise als nachträgliche Zusammenfas- sungen gelten (Paradebeispiel: ran), unter der Kategorie des Medienereignisses betrachtet werden. Auch sie produzieren durch die Verschränkung von vorme- dialen Strukturen (z. B. spezifischen Regeln und konkretem Verlauf des jeweili- gen Sportspiels) und medialen Verfahren (z. B. Parallelmontagen, Kommentie- rung von Spielszenen durch die Beteiligten u. v. a.) Gesten des Feierns und Jubelns, die systematisch einem urteilenden Blick ausgesetzt werden. Auch die Nachberichterstattung kalkuliert folglich mit den Emotionsformen des Ereig- nis- (und Live-) Charakters (Abb. 1 und 2). Auf die Unterscheidung von Realität vs. Medien kann in diesem Zusammen- hang alleine deshalb nicht verzichtet werden, weil sie – als operationale Diffe- renz – im Medium selbst fortlaufend reproduziert wird. Gerade beim Feiern 4 Eine solche klassische Definition ist von Daniel Dayan und Elihu Katz (1992) formuliert und am Beispiel von Krönungen, Begräbnissen etc. ausgearbeitet worden. 46 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av stellt das Fernsehen seine eigene Unzulänglichkeit aus, um auf dieser Basis die Außerordentlichkeit dessen, was wir im Fernsehen geboten bekommen, zu affirmieren. Die Zuschauer werden aufgefordert, ‚einfach nur hin zu schauen‘; es wird ihnen mitgeteilt, dass sich die Stimmung im Stadion durch Mikrofone und Kameras nur schwer vermitteln ließe. Das Medienereignis nutzt die Differenz zur ‚Realität‘, um die medial geschaffene Emotionsform zu steigern. Spezifisch für den Fernsehsport ist weiterhin, dass sich die Inszenierung auf die Logik eines Nullsummenspiels beziehen kann. Das Feiern und Jubeln wird durch Bezug auf eine negative Seite zugespitzt: Der Freude über den Sieg ent- spricht die Trauer über die Niederlage, und je überraschender, sensationeller, euphorischer der Sieg und die Feier sind, um so bitterer und schmerzvoller muss auch die Niederlage sein. Die mediale Fokussierung einer Seite der Emotionen ist dabei in erster Linie durch (vor allem nationale oder regionale) Zugehörig- keitsproklamationen geregelt. Das deutsche Fernsehen berichtete 1999 vor allem über das Entsetzen von Bayern München, das Champions League-Finale in den letzten Minuten verloren zu haben, und 2001 ausschließlich über den Jubel nach dem Gewinn der Champions League durch Elfmeterschießen. Der WDR zeigte entsprechend seines regionalen Auftrags am letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga 2001, als Bayern München erst durch ein Tor in der Nach- spielzeit vor Schalke Meister wurde, nur die verfrühte Freude und letztliche Niedergeschlagenheit der Schalker Fans. Wenn diese Zugehörigkeitsproklama- tion unterbleibt, weil etwa nationale Sender hier den Konventionen der Objek- tivitätskonstruktion folgen müssen, lässt sich ein Übergewicht der positiven Seite feststellen.5 Im Gegensatz zu den Niederlagen finden Siege eine mediener- eignishafte Verlängerung in Feuerwerken, Banketten und Empfängen. Auch wir werden uns auf die Formen und Verfahren des medialen Sportfeierns konzent- rieren. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass diese – insofern sie eben vor allem Formen der emotionalen Zuspitzung sind – in ganz ähnlicher Weise für die negative Seite der Sportemotionen Anwendung finden. Typisierung des Jubelns und Feierns Anhand der letzten Wochen der Fußballsaison 2000/2001 wollen wir im Fol- genden eine vorläufige Liste der Verfahren zusammenstellen, die genutzt wer- 5 Diese Frage kann wiederum Element einer nationalen Typisierung sein. Der mehrfache Sieger der Tour de France, Lance Armstrong, behauptet zumindest, die Franzosen würden die Verlie- rer mehr lieben als die Sieger. 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 47 Abb. 3–5 „Und sie jubeln was das Zeug hält.“ den, um in der Serialität des Fernsehsports immer wieder neu den besonderen Anlass und die besondere Ausdrucksform des Feierns plausibel zu machen. Das spezielle Augenmerk liegt darauf, wie der Exzess des Jubels herausgestrichen und dabei zugleich in die fernsehtypische Diskursivierung überführt wird. Im Einzelnen haben wir es immer mit komplexen Bild-Ton-Relationen zu tun, die wir aufgelöst haben, indem wir zuerst auf die Visualisierungen und dann auf die dominant sprachlichen Verfahren eingehen.6 1. Institutionell schematische Visualisierungen Als institutionell schematische Visualisierungen sollen die Bilder bezeichnet werden, die in klassischen media events vorherrschen. Der geplante Ablauf eines Ereignisses strukturiert die Bildproduktion: Die Torkamera erwartet überra- 6 Alle Zitate in doppelten Anführungszeichen stammen aus der Fußballberichterstattung der letzten beiden Wochen der Saison 2000/2001 der Sender Premiere World, Sat.1, ARD, WDR. Zitate in einfachen Anführungszeichen sind keine wörtlichen Zitate, sondern typisierende Formulierungen für besonders häufig anzutreffende Aussagen. Eine grobe Kenntnis der Ereig- nisse muss hier aufgrund ihrer Komplexität vorausgesetzt werden. 48 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av Abb. 6 und 7 „Dinge, die kann man gar nicht erklären.“ schende Ereignisse. Gleichzeitig gibt es Kamerastandpunkte, die gezielt Emoti- onsformen einfangen sollen: Bilder auf ausgewählte Personen mit besonderem Bezug zum Ereignis; die Hubschrauber- oder Ballonkamera mit der Aufsicht auf das Stadion; eine Zuschauerkamera, die auch die „La-ola“-Wellen einfangen kann.7 Diese medialen Anordnungen ermöglichen die Erstellung von Jubelmontagen bzw. -hierarchien: Aufnahmen vom Torschützen in der Nahen, vom Jubel der Mitspieler, der Zuschauer und der Funktionäre. Diese Spirale der Visualisierun- gen wird durch Wiederholungen, Zeitlupen und zusätzliche Kameraperspekti- ven von Tor und Jubel verdichtet. Dabei steht der Moment des Übergangs von Anspannung zum Jubel im Mittelpunkt und wird seriell vervielfältigt („Und sie jubeln was das Zeug hält“). In diesem Bilderkarussell ist häufig auch das Jubel- bild enthalten, das in der Nachberichterstattung zur exemplarischen Visualisie- rung des Ereignisses wird (Abb. 3–5). 2. Exemplarische Visualisierungen Exemplarische Visualisierungen sind Aufnahmen, die den Verlauf eines Ereig- nisses ‚auf den Punkt bringen‘ oder ihm nachträglich einen einheitlichen Sinn verleihen. Sie müssen eine ausreichende Differenzierung von den standardisier- ten Jubelbildern ermöglichen und dadurch das Einzigartige dieses Spiels reprä- sentieren. 7 Die generelle Technik- und Medienentwicklung, die sich auf die Produktionsstrategien des Fernsehens auswirkt (z. B. Zeitlupe, steady-cam u. ä.), sowie eine vormediale Einschränkung durch die Regeln der Sportart führen zu je spezifischen Jubelbildern. Dementsprechend unter- liegt auch die nachfolgende Typisierung einer historischen Begrenzung. 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 49 Abb. 8 und 9 „Da reißt es sogar den Kaiser vom Sessel.“ Der ‚irrsinnige‘ Verlauf des letzten Meisterschaftsspiels wurde beispielsweise durch Bilder gebündelt, die Torhüter Kahn zeigen, wie er die Eckfahne heraus- reißt und sich – diese wild schwenkend – auf den Rücken wirft (Abb. 6). Nur noch die Jubelszenen sind interessant und stehen als exemplarische Visualisie- rungen für das ganze Ereignis: „Oliver Kahn hat sich nicht mehr im Griff. Aber wer hat das schon?“, „unglaubliche Bilder“. Der Eckfahnenjubel wird noch einmal in Zeitlupe wiederholt. Die Spezifik dieser exemplarischen Jubel- bilder wird durch die Hervorhebung ihrer Differenz manifestiert: „Brasilianer hätten getanzt.“ Das Fernsehen sucht solche exemplarischen Visualisierungen ganz explizit und erstellt sie auch durch Vergleich, Serialisierung etc. So am vorletzten Spiel- tag: „Sind das schon vorweggenommene Meisterbilder aus dem Olympiastadion – Fragezeichen“, fragt der Kommentar nach dem Treffer der Bayern in der letz- ten Minute des vorletzten Spieltags, denn da herrschte „Jubel ohne Ende. [...] Da reißt es sogar den Kaiser vom Sessel“. Auch dieses Motiv des jubelnden Kaisers geht in Serie (Abb. 8 und 9). Am letzten Spieltag wird sein neuerlicher, aufrech- ter Jubel auf der Hamburger Tribüne wie schon in der Woche zuvor in Zeitlupe eingespielt. Seine Geste des Jubelns wird damit ‚wiederholt‘ und verbindet sich mit den ähnlichen Visualisierungen der vorherigen Woche zu einer exemplari- schen Serienaufnahme für die überraschend gewonnene Meisterschaft. Der Status exemplarischer Visualisierungen – und ihre Differenzqualität – resultiert nur selten aus der bildlichen Darstellung alleine, sondern gründet auf ihrem Diskursivierungspotenzial. Dementsprechend kann Oliver Kahn, im Nachhinein auf die Szene an der Eckfahne angesprochen, das Exemplarische der Szene erläutern: „Es war keiner zum Jubeln da, da musste halt die Eckfahne her- halten. Aber das sind Dinge, Dinge, die kann man gar nicht erklären. [...] Es sind so Emotionsmomente, ich meine, dafür, dafür spielt man Fußball.“ 50 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av Abb. 10–12 „Riesenland der Freude“ Bezeichnend ist auch, dass für den Gewinn der Europameisterschaft durch die deutsche Frauen-Nationalmannschaft ein exemplarisches Bild stehen konnte, das im Männerfußball als standardisiertes Jubelbild vollkommen geläufig ist: Claudia Müller, die Spielerin, die das Golden Goal erzielt hat, rennt mit über den Kopf gezogenem Trikot auf die Kamera zu. 3. Ausnahmebilder Ausnahmebilder sind Jubelbilder, Resultatbilder, reaktive Bilder, die nicht mehr das Ereignis selbst, sondern die dadurch ausgelöste Ausnahmesituation verdeut- lichen. Man denke nur an die von den Fans vom Leibe gerissenen Trikots der römischen Spieler nach dem Gewinn der diesjährigen italienischen Meister- schaft oder an die stundenlangen, diskursivierten Autokorsi. „Das, was sie hier sehen, liebe Zuschauer, das ist der nackte Wahnsinn“. Ausnahmebilder dokumentieren den „Wahnsinn“ und die Überschreitung der Grenzen des Spiels, wenn am Ende des letzten Spiels zur Meisterschaft die Zuschauer, der Trainer und die Ersatzbank auf den Rasen strömen (Abb. 12). 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 51 Anstelle der Verdichtung des Spiel- verlaufs tritt nun das Exzessive des Feierns und Jubelns in den Vorder- grund. Das Ereignis, so könnte man sagen, wird abstrakter: es ist nur noch adäquater Anlass für den Exzess. Das Feiern dagegen wird konkreter: es verweist nicht mehr auf seine Ursa- che, sondern präsentiert sich selbst. „Aber wen hält es jetzt noch an dem ihm zugedachten Ort?“; „Und jetzt Abb. 13 Die Kamera jubelt. hält es sie nicht mehr, sie strömen rein“ und das Stadion ist ein „einziges Riesenland der Freude“ (Abb. 10–13). In diesem Zusammenhang finden sich auch die wenigen Versuche, mit der Kamera den Jubel visuell umzusetzen und in einer wenig avantgardistischen und mehr isomorphischen Weise in den Jubel einzutauchen. In ihrem Versuch der Teilhabe kippt die Kamera weg (Abb. 13), wackelt oder zeigt extreme Untersichten, ohne allerdings eine eigene Bildsprache für das Ju- beln zu entwickeln. Zur Authentifizierung tragen auch die schlechte Tonquali- tät und die deshalb schwer verständlichen individuellen Artikulationen des Emotionalen bei. Solche Formen von Bild und Ton schaffen eine vorüberge- hende Differenz zu den angeführten institutionell schematischen Visualisierun- gen. Ausnahmebilder werden allerdings rasch normalisiert. Der Gestus, mit dem das Fernsehen das Außerordentliche konzediert, entspricht zugleich der Beteuerung, dass die Grenzen des Üblichen nur für ganz kurze Zeit ein klein wenig gelockert werden. Warum welcher Exzess zu sehen und warum er auch gar nicht gefährlich ist, wird immer gleich erklärt. „Mrr machen weiter, des gehört dazu!“ sagt der Reporter, wenn er während eines Interviews mit Sekt überschüttet wird. 4. Differenzierung zwischen Medium und Ereignis Die oben schon erwähnte Differenzierung zwischen Medium und vormedialem Ereignis steigert das Feiern durch die wechselseitige Ergänzung widersprüchli- cher sprachlicher Strategien. (a) Entgegen seiner strukturellen Omnipräsenz inszeniert die kommentierende Stimme häufig eine Differenz der Vermittlung, die zugleich als Aufmerksam- 52 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av keitssteuerung8 fungiert: „Können Sie diesen Jubel hören?“ Das Fernsehen deklariert eine Unsicherheit, ob die Verbindung zwischen Ereignis und Publi- kum adäquat zustande kommt. „Was da passiert ist, haben sie’s gesehen? Es ist unfassbar.“ Es ist vor allem der Bereich der Gefühle, der die ‚Realität‘ des Fei- erns für das Fernsehen problematisch werden lässt. ‚Waldi‘ Hartmann spricht gegenüber Franz Beckenbauer bei der Siegesfeier auf dem Münchner Marien- platz die Gefühle des Reporters und des Befragten in doppelter Vagheit an: „Du machst einen recht gefassten Eindruck, habe ich das Gefühl. Kommt das erst noch?“ Der Abschiedsgruß von Hartmann – „Feier schön“ – verstärkt noch das Eingeständnis des Fernsehens, nicht dabei sein zu können, wenn die eigentli- chen Feiergefühle kommen. Die ‚Realität‘ der Gefühle bleibt außen vor. (b) Im Gegensatz dazu kann aber auch die mediale Form des Fernsehens als die positive Seite dieser Differenz herausgestellt werden. Das Fernsehen feiert sich selbst, wenn in der Konferenzschaltung von Premiere in den ereignisreichen Schlussminuten des vorletzten Spieltages auf den defizitären Charakter des phy- sischen Besuches von nur einem Stadion hingewiesen wird: „Das ist völlig unmöglich, das ist unglaublich, so was erleben Sie nicht im Stadion, so was wie hier, erleben Sie nur in der Konferenz!“ (c) Diese beiden Strategien überlagern sich, wenn der Kommentar die Außeror- dentlichkeit des Ereignisses durch Jubelgeräusche oder ins Mikrofon schreiend bezeugen will, während sich zugleich die authentifizierende Funktion des Mas- senjubels im Stadion als Originalton in den auditiven Vordergrund drängt. Jubel oder Feiergesänge der Fans erinnern da oft an die Lachkonserve der Sitcom. Letztlich konstruiert das Fernsehen ein spannungsreiches Verhältnis zwischen einer vermeintlich negativen und positiven Differenz zum vormedialen Ereig- nis, die selbst wieder zum Medienereignis wird. 5. Sprachlosigkeit zur Sprache bringen Der erste Verdacht, das Fernsehen könne das Feiern nicht vermitteln, wird vom Fernsehen kompensiert, indem es der behaupteten Undarstellbarkeit des Fei- erns eine Form gibt. In einer Art ‚reflektierten Jubels‘ wird die Sprachlosigkeit zur Sprache gebracht – vom einfachen Paradox „Ich bin einfach sprachlos, unglaublich!“ (Mehmet Scholl) bis zum elaborierten Interview über das Unbe- 8 Altman (1987) beschreibt diese Aufmerksamkeitssteuerung auch anhand des Sportkommentars durch den Fernsehton als eine typische Eigenschaft des Nebenbeimediums Fernsehen im Unter- schied zum Film. 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 53 schreibliche: Siegesfeier in München; Reporter: „Alex, koa mer’s b’schreiben?“; Alexander Zickler: „Koa mer net b’schreiben. ’s ’s’ unbeschreiblich!“ Eine indirekte Form, die Sprachlosigkeit zur Sprache zu bringen, ist eine Art proto-poetisches Stakkato oder Stammeln: „Hier glaubt’s noch keiner richtig [...], unglaubliche Emotionen hier, die Fans weinen, blindes Geschrei [!], keiner weiß, was hier los ist.“ Nirgends wird uns folglich so schön gesagt, dass sich die Freude nicht artikulieren lässt, wie im Fernsehsport, der in den längst ‚gattungs- spezifischen‘ fragmentarischen Äußerungen und sprachlichen Fehlleistungen eine kanonische Form für die Sprachlosigkeit gefunden hat. Bezeichnend ist hier wie Oliver Kahn auf die Frage „Wird jetzt noch ein bisschen gefeiert, wenigs- tens?“ das Feiern diskursiv umstochert: „Ja, was heißt ein bisschen. Wir können auch richtig feiern, ohne dass man äh ... äh ... sich die Hucke äh ... sich die Hucke vollbläst.“ 6. Das Unsagbare sagen dürfen Wenn im Feiern und Jubeln ein diskursiver Leerraum entsteht, so kann diese Leere – wie ausgeführt – durch sprachliche Formen expliziert werden; sie kann aber auch diskursiv gefüllt werden. Zum einen spricht der Kommentar das Unsagbare banal an. Manchmal nur mit einem Ausruf: „Wahnsinn, Wahnsinn“ oder in einem Interview mit einem traurigen Schalke-Fan: „Sag mal: soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ Der Kommentar schweigt (fast) nie: „Lähmendes Entsetzten [...] das ist unvorstellbar gewesen, auf einmal war es totenstill und ganz, ganz ruhig. Weil diese Emotionen, die muss man erstmal aushalten kön- nen“ Zum anderen können Anleihen bei anderen Praxis- und Diskursfeldern das Unaussprechliche des Mediensportereignisses kompensieren. Die Dramatik der Situation rechtfertigt (oder erzwingt geradezu) Themen und Formulierungen, die ansonsten so nicht sagbar wären. Das Besondere des Augenblicks drückt sich durch die unter anderen Umständen unpassenden Artikulationsformen aus. Die religiösen Versatzstücke des Fußballs, die in Sprachspielen und metaphori- schen Anleihen bestehen, kippen dann plötzlich in einen heiligen Ernst: „Das kann man nicht erklären“. Diese Formulierung ist zumindest ein Eingeständnis der Beschränktheit des televisuellen Erklärungsvermögens, tendenziell aber schon eine Anrufung höherer Mächte. Explizit wird es in einem Interview von Hartmann. Kahn (auf die Frage, ob er denn der Fußballgott sei): „Nein, ich wä, will‚ amal was sagen. Es gibt äh, es gibt nur einen Gott; und es gibt keinen Fuß- ballgott; und dieser eine Gott, der gibt uns, äh, die Kraft alles durchzustehen, sowohl die negativen Dinge als auch die positiven Dinge. Er gibt uns die Kraft, 54 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av solche Dinge zu erreichen, aber es gibt keinen Fußballgott, es gibt nur einen Gott.“ Hartmann: „Heißt das, äh, du bist gläubig, betest du oft?“ Kahn (zögernd sich ins Gesicht fas- send): „Ja ich bin jetzt keiner, der betet, aber, äh ... ich würde mich trotzdem als gläubig bezeichnen, ja!“ Hartmann (in nachdenklich, intensi- vem Tonfall): „Olli, damit woll’n Abb. 14 „Wie haben Sie sich gefühlt?“ mer’s belassen. Gelassene, aber auch große Worte. Ich danke dir und wün- sche dir, dass du so bleibst wie du bist, […].“ Eine weitere Form des Diskurswechsels artikuliert die Ausnahmesituation des Feierns durch nationalistische und rassistische Emotionsformen, die mit den emotionalen Extremen legitimiert werden (‚heute muss das mal erlaubt sein‘). So nötigt einer der unübersichtlich vielen Masters of Ceremony während der Cham- pions League-Feier auf dem Marienplatz Sammy Kuffour, die rassistisch geprägte Rolle des Unterhaltungsclowns zu übernehmen und für die jubelnde Menge das Lied „Ich liebe Deutsche Land“ zu singen. 7. Narrativisierung Nahezu alle Beispiele dieser Liste verweisen auf eine durchgehende Narrativi- sierung des Feierns. Für das Fernsehsportfeiern sind die Formen von Jubel, Exzess und Ausnahme tatsächlich nur punktuelle Momente, die sehr schnell in Geschichten, Erklärungen und Reflexionen überführt werden: ‚Wie haben Sie sich gefühlt / was haben Sie gedacht?‘9 (Abb. 14). Die Narrativisierung findet im Rahmen einer Aktualisierung des reichen Zita- tenschatzes, einer ausdifferenzierten Statistik und einer etablierten Geschichte des Fernsehsports statt. Der Meisterschaftsjubel wird vorbereitet, indem Jubel- exzesse, wie das Aufreißen und Mitnehmen des Spielfeldrasens, vorab angekün- digt werden. Oder schlicht beim Abpfiff: „Und jetzt: – jetzt kommt der Jubel!“ Am Ende des Prozesses dient der audiovisuelle Jubel nur noch als Hintergrund für ein Fazit der abgelaufenen Bundesligasaison. 9 Schon weil das Feiern weitgehend als reaktive Praxisform mit vorausgehendem Anlass verstan- den wird, bieten sich vielfältige Relationierungen als Ausgangspunkte der Narrativisierung an (das Publikum feiert einen Spieler, weil …; der Spieler feiert mit seinem Trainer, weil … etc.). 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 55 Abb. 15 und 16 „Sie alle, sie haben es verdient.“ Oft wird das zu bejubelnde Ereignis psychologisiert und historisch kontextuali- siert: „Unglaublich, der ganze Stress, der Druck, er löst sich auf. [...] Sie alle, sie haben es verdient, und auch sie, die Fans des FC Schalke 04.“ Das Fernsehen ver- folgt insbesondere in der kontextuellen Berichterstattung eine Ethnologisierung, indem sie das Jubeln und Feiern unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Fankulturen vergleichend inszeniert. Szenen aus Kneipen, Kleingärten sowie elementare Kulturtechniken wie Essen und Trinken werden durch die ethnolo- gische Kamera beobachtet. Die Finalität des Fußballspiels ist nur eine vorläufige. So schätzt der Reporter die Emotionen der Bayern nach der Meisterschaft und mit Ausblick auf das Champions League-Finale ein: „Stimmung ist verhältnismäßig gedämpft [...], man will nicht richtig feiern.“ Und in der Nachberichterstattung zum Cham- pions League-Finale werden sofort mögliche Probleme erörtert, die auf den FC Bayern München in der nächsten Saison zukommen werden. Aber auch die schon erwähnte visuelle Dramaturgie des punktuellen Jubels nach dem Tor, wenn erst der Torschütze, die anderen Spieler, dann die Funktio- näre und das Publikum gezeigt werden, erstellt ein psychologisches und kultu- relles Tableau. Eine weitere Form der narrativen Einbindung ergibt sich aus der – schon durch die üblichen Spielstatistiken (‚ran-Datenbank‘) bekannten – mathematischen Einordnung und Verfügbarkeit von Jubel und Feier: „Jetzt kommen wir mal zu den Gefühlen am anderen Ende der Gefühlsskala.“ Indem die Narrativisierung immer auch über die Anordnung und Reihung der Ereignisse (inklusive der Formen des Jubelns) erfolgt, die selbst schon klassifi- zierte vergangene Ereignisse in Relation zu gegenwärtigen und künftigen stellt – ‚war das ihr schönster Sieg?‘ etc. –, werden die Gesten des Jubelns und Feierns mit einer Skalierung versehen. Sie haben nie einen Status an sich, sondern immer nur als Steigerungsformen anderer Bilder. 56 Ralf Adelmann, Judith Keilbach, Markus Stauff montage/av Diese Typisierungen des Jubelns und Feierns im Fernsehsport könnte u. E. einen Ausgangspunkt bilden, um die Gesten und die Skalierung des Jubelns und Feierns für das gesamte Feld des Fernsehens zu erfassen. Postscriptum anlässlich des ausgerufenen Beginns des 21. Jahrhunderts Auch Anschläge mit katastrophischen Folgen werden vom Fernsehen in For- men gebracht, die die Sprachlosigkeit zur Sprache bringen und narrative Fäden knüpfen. Dies hat – nicht zuletzt weil alles in der gemeinsamen Topologie des Fernsehens (und anderer Medien) seinen Platz findet – tiefgreifende Auswir- kungen auf das Fußballfeiern: es wird unter moralischen Vorbehalt gestellt. Der Sport generell wird jetzt einerseits als ‚Normalität‘ und ‚Alltag‘ definiert, zu dem es nach gewisser Zeit zurückzukehren gilt. Andererseits wird er mit Emo- tionen verbunden, die angesichts des Terrors als unangemessen empfunden wer- den. Die Gedenkminuten und der Trauerflor, die in das Fußballspiel integriert werden, lassen das Feiern und Jubeln eher noch zynischer erscheinen. In den verschiedenen Varianten des Fernsehsportspiel wurden aber auch gleich zwei gegensätzliche Lösungsmodelle für dieses Dilemma vorgestellt. Das eine zielt auf eine strikte Isolierung des Sports von anderen Bereichen, um so Kollisionen zu vermeiden. Im Warsteiner Stammtisch auf DSF wurde – mit starker Unter- stützung eines Münchner Medienwissenschaftlers – dafür plädiert, in der Spra- che des Sportjournalismus auf Kriegs- und Gewaltmetaphern zu verzichten; der Sport habe genug eigene Begriffe. Das zweite Modell dagegen propagiert die Synthese. Als er im ersten Bundesliga-Spiel nach den Terroranschlägen ein Tor schoss, lief Giovanne Elber langsamer als sonst an die Außenlinie, legte die bei- den Daumen der gehobenen Hände aneinander und wedelte sanft mit den Handflächen; Sat.1 vervollständigte dies durch die Überblendung auf eine Frie- denstaube. Literatur Adelmann, Ralf / Stauff, Markus (2001) Spielleiter im Fernsehsport. In: Gott- schalk, Kerner & Co. Hrsg.v. Rolf Parr & Matthias Thiele. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 154–186. Altman, Rick (1987) Television Sound. In: Television. The Critical View. Ed. by Horace M. Newcomb. Oxford u.a.: Oxford University Press, S. 566–584. 10/2/2001 „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ 57 Benjamin, Walter (1977) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro- duzierbarkeit [1934/35]. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 136–169. Dayan, Daniel / Katz, Elihu (1992) Media Events. The Live Broadcasting of His- tory. Cambridge: Harvard University Press. * * * FRANKIE, JONNY & DIE ANDEREN (Deutschland 1993, Hans-Erich Viet) Abb. aus: Hermann Lummertsheim: Das Agfa-Schmalfilm-Handbuch (1935). Harz- burg: Dr. Walter Heering Verlag, S. 14. Martina Roepke Feiern im Ausnahmezustand Ein privater Film aus dem Luftschutzkeller Wir kennen sie alle, die Momente privaten Glücks, festgehalten für das familiale Heimkino: ein Geburtstag, Onkel Ernst zu Besuch und immer wieder Hochzeit. Man sitzt und trinkt und isst und lacht und feiert. Kein Wunder, gilt es doch als Gattungsmerkmal des privaten Films, dass er dazu diene, dem Alltag enthobene, glückliche Momente im Erinnerungshaushalt der Beteiligten zu bewahren und damit zur Identitätsbildung und letztlich Stabilität der Gruppe beizutragen.1 Der Film zeichnet demnach auf, was den Menschen wichtig ist und in der wie- derholten Rezeption erinnert werden kann und soll.2 Ich möchte im Folgenden den Blick auf die Dynamik der privatfilmischen Praxis selbst lenken und sie als ein Spiel auffassen, ein Spiel, in dem es für die Beteiligten wesentlich darum geht, ihren Selbstentwurf zu verhandeln und dabei die Grenzen und Möglichkeiten ihres gemeinsamen kommunikativen Repertoi- res zu erforschen. Dieses Spiel bildet den primären Rahmen für das private Fil- men, indem es die Glücksmomente, von denen das Heimkino voll ist, wesentlich überhaupt erst produziert. Licht im Keller Die Funktionsweisen dieses Spiels will ich an einem privaten Film besonderer Art aufzeigen. Auch hier wird im Rahmen der Familie gefeiert, gegessen, geschunkelt und getrunken, doch der Ort ist ungewöhnlich, das Szenario gro- tesk: Luftalarm im Zweiten Weltkrieg. Was lässt sich über die Art und Weise sagen, wie diese Familie ihr Spiel spielt, und welches Bild entwirft sie dabei von sich selbst? Was schließlich lässt sich daraus über die Funktion sagen, die das Fil- men gerade in dieser Situation für die Beteiligten gehabt haben mag? Der Film ist knappe drei Minuten lang und in schwarz-weiß auf 16mm gedreht. Er lässt sich in vier Szenen einteilen. Der erste Teil ist im Keller eines Wohnhauses aufgenommen. Versammelt sind elf Menschen: Kinder, Frauen 1 Vgl. dazu Chalfen 1975. 2 Zu einer detaillierten Diskussion der Funktionen des Familienfilms vgl. Odin 1995. 60 Martina Roepke montage/av und Männer, von denen einer eine Uniform trägt. Man trinkt, schunkelt und prostet sich zu. Ganz kurz ist ein tanzendes Paar zu sehen. Die zweite Szene zeigt die Versammelten die enge Treppe nach oben steigen. Sie tragen Getränke und Essen, manche haben auch Jacken bei sich, zwei rauchen im Gehen. Die Kamera ist jetzt im oberen Geschoss positioniert, so dass die Menschen erst auf sie zu und dann an ihr vorbei laufen. Darauf folgt eine Sequenz von fünf Auf- nahmen, die die Akteure in unterschiedlichen Konstellationen im Bett zeigen. Und schließlich sieht man nach einem erneuten Ortswechsel, wie im Keller der Soldat und ein anderer größerer Junge in die einfachen Betten klettern. Hier endet der Film. Er entstammt einem Archivbestand, den der Süddeutsche Rundfunk 1979 in Vorbereitung einer zeitgeschichtlichen Dokumentation zusammengestellt hat. In diesem Zusammenhang gelangte auch der beschriebene Film in die Hände der verantwortlichen Redakteure. Der aufnehmende Amateur ist inzwischen ver- storben, doch 16mm-Kopien wie auch Beta-Überspielungen des Materials lie- gen noch im Archiv.3 Die Verwandtschaftsverhältnisse der Akteure sind zum größten Teil nicht bekannt, ebenso wenig der Entstehungskontext der Aufnahmen. Dass es sich überhaupt um eine Familienzusammenkunft handelt, legen der vertraute Umgang und auch das Generationenverhältnis nahe. Ein Soldat auf Heimatur- laub? Verwandtschaft zu Besuch? Die Zusammenkunft scheint nicht alltäglich, darauf lassen zumindest die elegante Kleidung der Damen wie auch die später noch näher zu beschreibende, etwas umständliche Schlafsituation schließen. Lässt sich die Frage nach dem Hintergrund dieser Zusammenkunft wahrschein- lich auch niemals wirklich beantworten,4 so ist ausgehend von dem Film doch die Art und Weise rekonstruierbar, wie die private Filmpraxis als Spiel in dieser Gruppe realisiert wurde. An wenigen Stellen, wo die impliziten Übereinkünfte der Darstellung ins Schwanken geraten, die Darstellung selbst zum Problem wird, bricht der Film auf und verrät etwas über die Dynamiken, die dieser Praxis zu Grunde gelegen haben mögen. Nicht bei Sonnenschein und nicht am Sonntagnachmittag – im Keller ist dieser Film gedreht und in der Nacht noch dazu. Für den damaligen Stand der Ama- teurtechnik war eine Aufnahme unter diesen Bedingungen kein Leichtes. Ver- langt waren zusätzliche Lichtquellen, was neben einer entsprechenden Ausrü- 3 Hans Beller und Rainer Wagner ist es zu verdanken, dass ich auf diesen Film aufmerksam wur- de. 4 Dazu wären Nachfragen bei den Akteuren notwendig. Für die Argumentation in diesem Text will ich auf diese Option verzichten und allein bei dem bleiben, was auf der Grundlage des filmischen Textes über die kommunikativen Verhältnisse zu sagen ist. 10/2/2001 Feiern im Ausnahmezustand 61 stung sachliche Kenntnisse sowie Planungs- und Aufbauzeit voraussetzte. Aufgestellte Lampen schränkten den Aktionsradius der Beteiligten zudem in einer Weise ein, dass zusätzliche Absprachen nötig gewesen sein müssen, sollten die Akteure im Bild erscheinen. Voraussetzung dafür, dass dieser Film also überhaupt an diesem Ort entstehen konnte, ist eine bestimmte Verfasstheit des praktizierenden Ensembles: die Ambitionen eines zumindest einigermaßen sachkundigen Amateurs, der die Szene arrangiert hat, sowie ein gewisser Kooperationswille der Beteiligten im Hinblick auf das Ergebnis. Daraus erga- ben sich für alle Beteiligten bestimmte Anforderungen, bei deren Umsetzung es im Hinblick auf die kommunikative Verfasstheit des Ensembles zu aufschluss- reichen Momenten kommt. So zum Beispiel in der Sequenz vom Zu-Bett-Gehen. Die Kamera hat die Gesichter nah im Bild. Die Absprache besteht offensichtlich darin, dass die Akteure vorgeben zu schlafen. Doch das Licht der Lampen steht bei dem gerin- gen Abstand wohl so stark auf den Gesichtern, dass es selbst bei geschlossenen Augen unangenehm gewesen sein muss – was man natürlich erst weiß, wenn man es einmal gemacht hat. In jedem Fall ergibt sich durch das Lichtarrangement im Moment der Auf- nahme ein Stocken in der Darstellung und damit ein – nicht eingeplanter – Aktionsraum, den die Beteiligten unterschiedlich gestalten: Eine der jungen Frauen winkt ab und dreht sich weg, die andere kneift unter Mühe die Augen zu. Ein weiteres Mädchen versucht, in der Darstellung zu bleiben beziehungsweise ihren Ausstieg aus der Darstellung zu verbergen. Mit unterdrücktem Lächeln dreht sie den Kopf ins Kissen, geradeso als träume sie. Auch ein Paar, das – noch in Oberhemd und Bluse – nur knapp in einem kleinen Bett Platz gefunden hat, unterdrückt ein Schmunzeln. Schließlich hält der Mann seine Hand über das Gesicht und bewegt die gespreizten Finger wie in einem Schattenspiel hin und her. Mit dieser Geste schützt er seine Augen, verbirgt sie aber zugleich auch vor dem Blick der Kamera und deutet schließlich mit dem Fingerspiel noch eine ganz andere Darstellungsmöglichkeit an. So verhindert das Arrangement der Szene, das Verhältnis der Lichtquelle zum Objekt, dass die Akteure ihren Auf- trag, Schlafende darzustellen, durchhalten und setzt eine eigentümliche Dyna- mik in Gang, die in der letzten Aufnahme dieser Sequenz ins Stocken kommt. Die Kamera hat nun nicht mehr die Gesichter in Nah, sondern ein Mädchen im Bett und ein Mädchen mit dem kleineren Jungen am Bett sitzend gemeinsam in Halbnah im Bild. Immer noch ist der Abstand zur Kamera nicht so groß, dass Bewegung möglich wäre, ohne Gefahr zu laufen, aus dem Bild zu geraten. Doch ist der Abstand zur Lichtquelle offensichtlich nun immerhin groß genug, um die Aufnahme rein physisch für die Akteure überhaupt erträglich zu machen. Die 62 Martina Roepke montage/av Kinder geben jetzt nicht mehr vor zu schlafen – zu dritt hätten sie wohl auch nicht ins Bett gepasst. Statt dessen blicken sie ein wenig verlegen in die Kamera. Nur das Mädchen, das vorher schon so artig sein Lachen im Kissen hatte verber- gen wollen, versucht auch in dieser Situation, die Darstellung durchzuhalten und die Aufnahmesituation zu „überspielen“, ohne dafür offensichtlich ein Konzept zu haben. Während die anderen den Blickkontakt mit der Kamera auf- nehmen, richtet sie den Blick fest auf den Boden, und man meint, ihr die Anstrengung anzusehen, die sie dies gekostet haben muss. Wie ihr Verhalten zu erklären ist – etwa durch eine Vertrautheit mit der Aufnahmesituation oder aber durch ein innerfamiliäres Weisungsgefüge – und wie es zu bewerten ist – als gekonnt oder krampfhaft: Weder um die Darstellungsmotivation noch um die Gelungenheit der Darstellung geht es hier wirklich. Für die Frage nach der kom- munikativen Verfasstheit privatfilmischer Ensembles und der ihnen eigentümli- chen Dynamiken ist an dieser Stelle allein entscheidend, dass in dem Differenzial der unterschiedlichen Darbietungen für einen Moment das außerfilmische soziale Gefüge fassbar wird, in dem diese Aufnahmen stattfinden. Ein Gefüge, das getragen ist von den unterschiedlichen Erfahrungen und Beziehungen der Beteiligten untereinander und das damit das Geschehen in der Aufnahmesitua- tion wesentlich beeinflusst. In der letzten Szene des Films setzt das Spiel dann noch einmal neu an. Wieder im Keller, weicht die Kamera bei der Aufnahme des Soldaten noch mehr zurück, so dass man ihn in voller Montur sehen kann. Lachend bereitet er sein Bett, legt sich fröhlich hinein und dreht auch sofort den Kopf ins Kissen. Vollendetes Rol- lenspiel, ohne zögernden Blick zur Kamera – um den Preis von Tiefenschärfe und Kontrast. Filmen als Spiel Irgendwo zwischen dem Vereinsfilmer, der handbuchgemäß ein 15-seitiges Skript umsetzt, und dem filmenden Familienpapa, der sich im wilden Reiß- schwenk umdreht, wenn sein Sohn im Hintergrund die Treppe hinabstürzt, zwischen Kunstwollen und situativem Exzess, findet der private Film zu seinen unterschiedlichen Formen: dem Amateurfilm, dem Familienfilm in mannigfa- chen Variationen. Für sie alle gilt, dass sie eine Freizeitbeschäftigung darstellen, der die Beteiligten in erster Linie zu ihrem Vergnügen nachgehen.5 Diese Frei- 5 Immer hat es auch Amateure gegeben, die mit ihren Produktionen Geld verdienten. Aber das soll hier zunächst einmal vernachlässigt werden. 10/2/2001 Feiern im Ausnahmezustand 63 zeitbeschäftigung ist eine Gruppenaktivität, bei der alle Teilnehmer in unter- schiedlichen und wechselnden Rollen quasi wie in einem Ensemble6 zusammen- spielen: Aufnehmende, Darstellende, Zuschauende und Vorführende. Ob im Schachklub oder in der Familie – die Zugehörigkeit zu dem Ensemble und die Art und Weise, wie es sein Spiel spielt, ist wesentlich durch die sozialen Bezie- hungen der Beteiligten sowie ihren gemeinsamen Erfahrungshaushalt bestimmt. Dabei fließen die Macht- und Kompetenzverhältnisse innerhalb der Gruppe mit ein, denn wer wann wo wen wie filmt und wann was vorführt ist unter Umstän- den nicht nur eine Frage von fachlichem Wissen und praktischem Können, son- dern möglicherweise eben auch eine der väterlichen Autorität. Doch ist das Gefüge zugleich offen und instabil: Wer eben noch posierte, läuft gleich aus dem Bild, wer nicht selbst gefilmt werden will, dreht sich eben ins Kissen oder hält mal eben seine Hand vor die Kamera – solche typischen Momente privater Filme sind Indikatoren dafür, dass Absprachen und stillschweigende Übereinkünfte über den Darstellungsmodus immer nur mehr oder weniger gelten, in Frage gestellt und unterlaufen werden können. Und analog lässt sich für die Auffüh- rung feststellen: Im Ergänzen und Erzählen des Stattgehabten und Erinnerten werden Bedeutungszuschreibungen zu einem entscheidenden Teil interaktiv entwickelt, und das „gemeinsame Bild“, das auf diese Weise möglicherweise ent- steht, ist dabei vielleicht weniger ein von allen gemeinsam getragenes als ein mit entsprechender sozialer Kompetenz und auch Macht durchgesetztes. Aus der Charakterisierung des Prozesses privatfilmischer Praxis als offen und dynamisch folgt allerdings nicht, dass privates Filmen vollkommen regellos oder „naiv“7 wäre. Es folgt zunächst einmal nur, dass es im Praxisverlauf möglicher- weise zu nicht vorhergesehenen Entwicklungen kommt und der Vollzugsmo- dus – wie oben in der Schlafszene beschrieben – häufig überhaupt erst im 6 Vgl. zur Diskussion von kommunikativen Rollen innerhalb eines familialen Ensembles Keppler 1994. 7 Richard Chalfen (1975) hat den „home mode of visual communication“ unter anderem durch ei- ne Abwesenheit von Planungsschritten spezifiziert. Menschen, so konnte er in einer empiri- schen Studie belegen, filmen zumeist einfach drauf los. Dies würde die Auffassung stützen, dass es beim privaten Filmen in erster Linie um die Teilhabe an dem gemeinsamen Tun gehe und Fragen der ästhetischen Gestaltung nachgeordnet wären, sie also ästhetisch „naiv“ sind. Gegen Chalfens Modell filmischer Kommunikation im „home mode“ ließe sich einwenden, dass die Abwesenheit von Planungsschritten vor der Aufnahme nicht bedeutet, dass Gestaltungsfragen nicht relevant wären. Vielmehr muss ihre Geltung an anderer Stelle, während der Aufnahme selbst, erst ausgehandelt werden. Chalfen zielt in seiner Analyse auf ein Modell filmischer Kom- munikation für den „reinen Familienfilm“. Der Begriff des Spieles öffnet hier den Blick für die ambitionierten Formen privatfilmischer Praxis, um gerade aus dem dynamischen Feld, das sich zwischen den unterschiedlichen – idealtypisch gefassten – Modi privaten Filmens auftut, Kategorien für die Analyse zu gewinnen. 64 Martina Roepke montage/av gemeinsamen Tun selber vorgestellt und erprobt wird. Zwischen dem Verde- cken der Augen durch die Hand und dem Wegdrehen ins Kissen, dem Aushalten der Pose am Bettrand und dem Ausstellen der großen Geste durch den Soldaten im Keller wird die Dynamik dieses Spiels fassbar: ein Verhandeln des Darstel- lungsauftrages und damit das Erproben des gemeinsamen kommunikativen Repertoires. Die schlichte Tatsache, dass nicht abgebrochen, sondern weiter probiert und arrangiert wurde, weist den Film als work-in-progress oder „Ver- suchsanordnung“ aus, bei der die gemeinsame Herausforderung unter anderem offensichtlich darin bestand, unter den gegebenen Bedingungen „Film“ zu machen. Zwischen einem: „Warum musstet ihr auch so blöd gickern!“, bis zu einem: „Du immer mit deinen Lampen!“ haben die Mitspieler durch die Teil- habe an diesem Prozess die Möglichkeit, nicht nur das dargestellte Ereignis – den Luftalarm – sondern auch den Modus seiner Inszenierung zu erinnern und, durchaus kontrovers, weiterzuverhandeln. Privates Filmen wäre in diesem Sinne ein ständiges Experimentieren und Kor- rigieren, eben eine Art Versuchsanordnung, die ihren Bezugspunkt im gemein- samen Leben der Beteiligten hat: Aus diesem schöpft es sein Material und auf dieses zielt es in der gemeinsamen Aufführung zurück. Die Teilhabe an dieser Art von Spiel gibt den Beteiligten die Möglichkeit, den Alltag nicht nur doku- mentarisch festzuhalten, sondern filmend zu transzendieren und soziale Bezie- hungen wie auch Wirklichkeitsentwürfe lustvoll, aber durchaus nicht frei von Konflikten zu entwerfen. Dabei ist dieses Spiel niemals abgeschlossen, kein ein- deutiges Bild steht an seinem Ende. Der einzelne Film schließlich ist nur ein klei- ner Moment im Prozess der Selbstverständigung des Ensembles, und er verliert seine ursprüngliche Funktion bei dessen Auflösung. Filmen und Feiern Diese Konzeption privaten Filmens als spielerische Praxis hat Konsequenzen für die Frage nach den Feiern und Festen im privaten Film. Denn wenn sich das Geschehen wesentlich erst in der Aufnahmesituation selbst organisiert, so geht es offensichtlich auch weniger oder zumindest nicht ausschließlich darum, Ereignisse abzubilden, sondern kommunikative Prozesse in Gang zu bringen, die dann noch in der Vorführung weitergeführt werden können. An dieser Stelle schließen nun die in Bezug auf den Luftschutzkellerfilm ent- scheidenden Fragen an. Denn geht man davon aus, dass Luftalarme den Alltag der Bevölkerung in jener Zeit wesentlich ausmachten, aber nicht unbedingt zu den „glücklichen Momenten“ des Lebens gehörten, an die man sich – wie etwa 10/2/2001 Feiern im Ausnahmezustand 65 an Hochzeiten – gerne erinnern will, warum wird dann überhaupt im Keller gefilmt? Und: Was macht das Filmen im Keller so geeignet für die Realisierung dieses Spiels, ist es doch – schon unter rein technischen Gesichtspunkten – offensichtlich so ungeeignet? Zunächst einmal spricht vieles dafür, dass es sich hier um gar keinen „echten“ Luftalarm handelt. Wie hätte man sich das auch vorzustellen: Die Familie sitzt zusammen, plötzlich heulen Sirenen; Papa springt auf und ruft: „Licht in den Keller, wir filmen!“? Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Naheliegender, wenn durch den Film allein auch nicht eindeutig zu belegen, ist die Annahme, dass das Ereignis nachgestellt wurde. Dies würde auch durch einen weiteren Film der Familie zum Thema Luftschutz gestützt, der teilweise die selben Akteure zeigt, diesmal beim Anprobieren der Gasmasken in fein ausgeleuchtetem Setting. Die Familie einmal bei der Luftschutzübung und einmal beim Luftalarm – das könnte bedeuten, dass hier versucht wurde, historisch spezifische Alltagserfah- rungen in die filmische Praxis mit einzubringen und dass dafür das aufwändige Arrangement in Kauf genommen wurde. Nun zeigt der Film ja aber nicht allein Menschen im Keller. Er zeigt sie sin- gend und lachend, und er zeigt in der Zu-Bett-Geh-Szene, wie der Abend nach dem Alarm weitergeht: in jedem Fall gesellig. Das Fest im Keller stellt also sowohl situativ – Ausgelassenheit in einem ansonsten durch Angst und Bedro- hung kodierten Raum – wie technisch – die Frage des Lichts im Dunkeln – einen Ausnahmezustand dar, der zumindest von diesem Ensemble offensichtlich als Herausforderung begriffen wurde. Nicht nur verselbstständigen sich die Schlaf- szenen wie beschrieben zu einem Spiel mit Licht und Schatten, der Kellerraum selbst wird durch das deutliche Ausstellen der zu konsumierenden Genussmit- tel, dann aber vor allem durch das Schunkeln und Tanzen, zu einem Schaustück dessen, wie man sich auf angenehme Weise die Zeit des Alarms vertreiben kann. Dieser Film würde also zeigen, dass die Funktion des privaten Filmens, das Produzieren glücklicher, erinnerungswerter Momente, sich selbst dann und möglicherweise erst recht dann entfalten kann, wenn die Wirklichkeit, in der er stattfindet, dieser entbehrt: in der Inszenierung einer zu dieser Zeit ganz alltägli- chen Ausnahmesituation (dem Luftalarm) zu einem dem Alltag enthobenen Moment, dem Fest im Luftschutzkeller. Privates Filmen wäre somit nicht nur ein Bewahren und Festhalten von stattgehabter Wirklichkeit, sondern hätte vor allem an der Aneignung und Gestaltung von Wirklichkeit teil – einem Prozess, in dem die historische Erfahrung des Krieges in den individuellen Erfahrungs- haushalt integriert und, für dieses Ensemble, als Fest erinnerbar wird. 66 Martina Roepke montage/av Literatur Chalfen, Richard (1975) Cinéma Naiveté. A Study of Home Movie Making as Visual Communication. In: Studies in Visual Communication 2,2, S. 87–103. Keppler, Angela (1994) Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Verge- meinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Odin, Roger (1995) Le Film de famille dans l’institution familiale. In: Le Film de famille. Usage privé, usage public. Hrsg. v. Roger Odin. Paris: Méridiens Klincksieck, S. 27–41. Vinzenz Hediger Das Popcorn-Essen als Vervollständigungshandlung der synästhetischen Erfahrung des Kinos Anmerkungen zu einem Defizit der Filmtheorie Ins Kino gehen die meisten Leute nicht nur, um sich Filme anzuschauen, son- dern auch, um zu essen und zu trinken. Wie hat die Filmtheorie bislang darauf reagiert? Gar nicht. Oder vielmehr so, als wären Kinobesucher nur Schauer und Hörer, als hätten sie keinen vollständigen Körper, keine Zähne, Speiseröhren oder Mägen, von den Gedärmen ganz zu schweigen. Man kann nachgerade von einer restorganblinden Fixierung der Filmtheorie auf Gesichts- und Gehörsinn der Kinozuschauer sprechen. Eine Kritik an dieser Fixierung ist überfällig, denn trivial ist das Essen und Trinken im Kino schon aus ökonomischen Gründen nicht: Das Wohlergehen nicht allein der amerikanischen Filmindustrie hängt zu einem guten Teil von der Bereitschaft des Publikums ab, die Betrachtung des Films mit dem Verzehr von Eis, Schokolade, Limonade und natürlich vor allem Popcorn zu verbinden. Im Gefolge der Trennung der Studios von ihren Kino- ketten in den 50er Jahren, erst recht aber mit Anbruch der Blockbuster-Ära und dem Übergang zur kostspieligen Fernsehwerbung für Filme in den Siebzigern, entwickelten die Verleiher und Kinobetreiber eine Geschäftspraxis, die sie längst über die USA hinaus ausgedehnt haben: Die Ticket-Einnahmen finanzie- ren den Film und seine Vermarktung, die Einnahmen aus dem Verkauf von Essen und Trinken alimentieren die Kinos. Nach Abzug der so genannten „nut“, eines Fixbetrags für den Unterhalt des Hauses, muss der Kinobetreiber dort zwischen 50 und 70% des Nettoeinspielergebnisses an den Verleiher abtre- ten (Cassady 1959; Donahue 1985). Den Gewinn aus dem Verkauf von Esswa- ren und Getränken hingegen kann er vollumfänglich einbehalten. Spätestens seit den 70er Jahren machen die großen Kinos in den USA größere Gewinne mit dem Verkauf von Süßwaren, Getränken und Popcorn als mit dem Verkauf von Kinotickets,1 und aus der Sicht des Kino-Buchhalters ist die Filmvorführung in 1 Genaue Zahlen: Der Anteil des Esswarenverkaufs am Gesamtumsatz der amerikanischen Kinoin- dustrie betrug 1997 rund 30%, der Anteil am Gewinn aber nahezu 50%. Die Kinokette United Ar- tists investierte beispielsweise 257,2 Millionen Dollar in Filmmieten und nahm mit dem Ticketver- kauf 446,5 Millionen ein, was einem Profit von 44,8% entspricht. Für den Ankauf von Ess- und 68 Vinzenz Hediger montage/av erster Linie ein Vorwand, um das Publikum in die Nähe der „concession stands“ zu bringen (Gomery 1992). In manchen Ländern Europas, wo die Umsätze mit Esswaren ingesamt etwas geringer ausfallen als in den USA, wird die Vorfüh- rung unterbrochen, um zusätzliche Absatzmöglichkeiten zu schaffen, so etwa in den Niederlanden oder in der Schweiz. In der Umgangssprache hat die enge Verknüpfung von Essen und Mainstre- amkino längst ihren Niederschlag gefunden: „Popcorn movie“ ist im Branchen- jargon, aber auch in der Sprache des Publikums, zum Synonym für Blockbus- ter-Filme geworden. Blockbuster sind Filme, die sich nicht nur an bestimmte Publikumssegmente richten, sondern alle Dämme zwischen Publikumsgruppen brechen lassen, möglichst viele potenzielle Kinogänger ansprechen und von Gruppen junger Leute ebenso besucht werden wie von ganzen Familien. Zum Anschauen solcher Ereignis-Filme gehört immer auch die Verköstigung im Fa- milien- und Freundeskreis,2 und die amerikanische Filmindustrie hat es nicht zuletzt im Interesse und auf Druck der Popcorn verkaufenden Kinobetreiber im Verlauf der letzten dreißig Jahre in der Konzeption, Produktion und Vermark- tung dieser Filme zur Meisterschaft gebracht (vgl. Wyatt 1994). „The hundred million-dollar-gross-picture should be commonplace“, forderte Ralph W. Pries, der Firmenchef des Popcorn-Großlieferanten Ogden Foods Anfang 1975.3 Im Juli des gleichen Jahres brachte Universal Jaws (Der weiße Hai, Steven Spiel- berg) in die Kinos, den Film, mit dem die neuere Kinogeschichtsschreibung die Blockbuster-Ära beginnen lässt. Im Kino isst allerdings nicht nur das Publikum von neueren Hollywood- Blockbustern. Auch zu den „art house“-Theatern gehörte in den USA bereits in den 30er Jahren ein Café in der Lobby, und Studiokinos in der Schweiz machen neuerdings bis zu einem Drittel ihres Umsatzes mit dem Verkauf von Getränken und Esswaren in angegliederten Bars.4 Populäre indische Filme, die meist über Trinkwaren wurden 29,3 Millionen Dollar ausgelegt; der Verkaufserlös betrug 185,1 Millionen, ein Profit von 84%; vgl. L. Wayne Hicks: Movie Theaters Casting Proctor in Support Role. In: Denver Business Journal v. 9. Mai 1997 (http://denver.bcentral.com/denver/stories/ 1997/05/12/story6.html). 2 Es lassen sich dabei, zumindest in den USA, gewisse Abweichungen zwischen den Vorlieben von Kindern und Erwachsenen feststellen: Kinder bevorzugen Schleckzeug wie Gummibären, Erwachsene neigen dem Eis zu; sowohl Kinder wie Erwachsene verzehren aber in erster Linie Popcorn und Cola. 90% der Käufer bevorzugen dabei Popcorn mit Butter; nur ein Kunde von zehn ersteht Popcorn mit Salz. Wie oben, Anm. 2. 3 Pries, Ralph W.: Prescription For Optimism: Theater Crowded By TV Sell, Concessions Feed- ing Them. In: Variety 277/9 v. 8. Januar 1975, S. 50. 4 Vgl. Weinberg, Herman G.: The Fallacy of „Art“ Theatres. In: Motion Picture Herald, 118/13 v. 30. März, S. 75. Die Angaben zu den Kinos in der Schweiz verdanke ich Frank Braun, Geschäfts- führer der RiffRaff AG, Zürich. 10/2/2001 Das Popcorn-Essen im Kino 69 drei Stunden dauern, also so lange, wie früher die großen amerikanischen Produktionen, schaut man sich ebenfalls im Familienverbund an und isst dazu. „We would leave for the cinema at around twelve“, so eine Schilderung des Kinobe- suchsverhaltens von Exil-In- dern in East Hackney, Lon- don, Ende der 60er Jahre, „my mother carrying a bag laden Abb. 1 with sandwiches, stuffed pa- rathas, drinks and a generous supply of tissues … The perfomance started promptly at two o’clock […]. We would leave the cinema somewhere after eight-thirty in the evening, exhausted, emotionally drained, but thoroughly en- tertained“ (Sardar 1998, 19f). Essen im Kino, so scheint es, gewährt kulturübergreifend Komplementärge- nüsse zum eigentlichen Filmgenuss. Das Menü variiert, der filmbetrachtungsge- bundene Appetit meldet sich konstant. Charakteristisch für die US-Film- industrie ist einzig, dass Hollywood die Herstellung von Unterhaltungsangebo- ten, die zum Kauf von Popcorn anreizen, ebenso durchrationalisiert hat wie Herstellung und Verkauf des Popcorns selbst, und dass in Hollywoods Ein- flussbereich das Publikum sein Essen in der Regel nicht selbst mitbringt. Oder vielmehr nicht mitbringen darf. In bundesdeutschen Multiplexkinos etwa findet sich nicht von ungefähr der Hinweis: „Der Verzehr mitgebrachter Speisen und Getränke ist nicht gestattet.“ Bedenkt man, wie wichtig das Essen im Kino in ökonomischer und kultureller Hinsicht ist, so drängt sich die Frage schon auf, weshalb der Zusammenhang von Filmbetrachtung und filmbegleitender Verköstigung in der Theorie bislang kaum Beachtung gefunden hat. Bei manchen Ansätzen sind die Gründe leicht auszumachen. Die klassische Filmtheorie etwa fragte nach dem Wesen der Film- kunst. Ihr Interesse galt dem Platz des Films im System der Künste und weniger seinem Platz im Speiseplan der Kinobesucher. Die kognitive Filmpsychologie untersucht neben dem Wahrnehmen und Verstehen mittlerweile auch das Erfühlen und Erleben von Filmen; Verzehren und Verdauen liegen aber immer noch jenseits ihres Gegenstandshorizonts. Schon erstaunlicher ist, dass sich die Cultural Studies nicht ums Essen im Kino gekümmert haben, handelt es sich doch ganz offenkundig um eine Aktivität des Publikums, die auch von diesem 70 Vinzenz Hediger montage/av selbst, und zwar ganz unmittelbar, als „gut“ empfunden wird. Noch viel mehr hätte das Phänomen die psychoanalytische Filmtheorie beschäftigen müssen: Mit Begriffen wie „Identifizierung“ – gemeint ist die Anverwandlung von Merkmalen des Gegenüber, ein Vorgang mit kannibalischen Wurzeln (vgl. Lap- lanche/Pontalis 1972; Freud 1974) – verfügt die Psychoanalyse über ein eigentli- ches Arsenal an Einverleibungsmetaphern, die leicht auf ihren ursprünglichen Gehalt zurückführbar wären, und auch abstraktere Konzepte wie „Regression“ drängen nachgerade darauf, nicht nur aufs Filmerleben, sondern auch auf die periphere Aktivität des Essens im Kino angewandt zu werden. Regression kommt bekanntlich in der psychoanalytischen Filmtheorie in zwei- facher Bedeutung vor: als topische Regression, d. h. als Umkehrung des Bilder- flusses im psychischen Apparat, die sich im schlafähnlichen Zustand des Filmbe- trachtens einstellt (Metz 2000), aber auch als zeitliche Regression, d. h. als spie- lerisches Zurückgehen des Subjekts auf frühere Stufen seiner Libidoentwick- lung, ebenfalls eine wichtige Dimension der Filmwirkung (Baudry 1994). Für Laura Mulvey etwa regrediert der Kinozuschauer auf die ödipale Stufe, die aufs Engste mit dem Kastrationskomplex verknüpft ist. Das Mainstream-Kino leistet Hilfe bei der Bewältigung von Kastrationsängsten, indem es dem Blick, der eben deshalb notwendigerweise männlich ist, die Frau, die Verkörperung des Penis- mangels, als Objekt eines sadistischen Voyeurismus und zugleich als Gegen- stand der fetischisierenden Überhöhung darbietet (Mulvey 1989). Für Gaylyn Studlar wiederum regrediert das Publikum noch weiter, in eine präödipale Phase und in polymorph perverse Organisation der Sexualität, weshalb der Blick auch nicht notwendigerweise männlich ist, sondern seine Geschlechterbestimmung wechseln kann (Studlar 1985). Studlars Vorgabe weiterdenkend ließe sich im Hinblick auf das Popcorn-Essen argumentieren, dass das Publikum von Main- stream-Filmen nicht nur auf eine präödipale, sondern auch auf eine prägenitale, nämlich orale Stufe der Sexualorganisation regrediert, in der „die sexuelle Lust […] überwiegend an die Reizung der Mundhöhle und der Lippen gebunden [ist], die bei der Nahrungsaufnahme erfolgt“ (Laplanche/ Pontalis 1972, 361). Die ora- len Lüste des Eis-Schleckens, Popcorn-Kauens und Schokolade-im-Mund-Zer- gehenlassens würden demnach den Fächer der Schau- und Hörlüste ergänzen, die das Kino auf seiner Textseite immer schon anbietet und denen bislang das hauptsächliche Interesse der psychoanalytischen Theorie galt.5 Bedenkt man 5 Man müsste dabei der Genauigkeit halber von einer Regression auf die oralsadistische Stufe sprechen, jene Teilstufe der oralen Phase also, die durch das Erscheinen der Zähne und die Tätig- keit des Beißens gekennzeichnet ist. So wenig der Kinozuschauer ins Spiegelstadium regrediert, 10/2/2001 Das Popcorn-Essen im Kino 71 zudem die Analogie zwischen Kinolein- wand und Mutter- brust, die von einigen Theoretikern behaup- tet wird, dann lässt sich gerade das Trin- ken im Kino auch als mimetisches Ausagie- ren verstehen: Im Sau- gen am Strohhalm des Cola-Bechers wieder- Abb. 2 holt sich das „Festsau- gen“ des Zuschauersubjekts am Bild auf der Leinwand.6 Das Essen im Kino müsste die psychoanalytische Theorie aber auch interes- sieren, weil es möglicherweise einen grundsätzlichen Mangel des Mediums anzeigt, und zwar, in dem es ihn zugleich verbirgt. Dass Kino immer schon ein synästhetischer Genuss war, hat unter anderem die neuere Forschung zum frü- hen Kino gezeigt. Schon in der Nickelodeon-Phase begleiteten alle Arten von Geräusch, Musik und Kommentar die Vorführung (vgl. Altman 1996). Die Farbe kam ebenfalls früh dazu; die Erfindung des Farbnegativs markiert in gewissem Sinne nur die Verlagerung der Farbapplikation aus dem Postproduk- tions- in den Produktionsprozess. 3D und Imax stellen auf ihre Art Versuche dar, die Kinoerfahrung zu vervollständigen, und auch die Dimension von Geschmack und Geruch wird in der Geschichte des Kinos und seiner Auffüh- rungspraxis wiederholt zum Thema. Mit dem Werbeslogan „Smelling Is Belie- ving“ lancierte John Waters vor zwanzig Jahren Polyester (New Line 1981), einen Duftfilm im Odorama-Verfahren. Die Zuschauer erhielten Rubbelkarten und waren aufgefordert, während der Vorführung an bestimmten Stellen auf ein Zeichen hin nummerierte Felder anzurubbeln, worauf das entsprechende Feld den Duft des gezeigten Gegenstandes freisetzte. Erklärt wurde das Verfahren fällt er beim Popcornverzehr auf eine Stufe zurück, in der er noch keine Zähne hatte. Gerade in der Verbindung von Eisschlecken und Zerbeißen der Waffel oder der umhüllenden Schokolade, aber auch in der Mischung aus Zergehen-Lassen und Zerkauen beim Popcorn-Essen kommt je- ne Ambivalenz der Objektbeziehung zum Ausdruck, jenes Zusammengehen von Einverleibung und Zerstörung des Objekts, die für die oralsadistische Stufe im Sinne von Abraham und Klein charakteristisch ist. 6 Gegen diese These spricht allenfalls, dass Säuglinge nicht im eigentlichen Sinn saugen, sondern die Muttermilch durch das Erzeugen von Unterdruck zum Fließen bringen. 72 Vinzenz Hediger montage/av von einem ‚Wissenschafter‘ im Vorspann anhand eines Rosenstraußes – es sollte der letzte wohlriechende Duft des Films sein.7 Polyester war keineswegs der erste Versuch im Bereich des Duft- und Geruchsfilms: Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi begleiteten in den 70er Jahren Vorführungen ihrer Experimentalfilme mit einer so genannten „Geruchsorgel“, und bereits in den 40er Jahren lassen sich in kommerziellen Kinos in den USA Experimente mit Geruchsfilmen nachweisen: So versuchte eine Kinokette in Detroit mit einem Geruchsessenz-Verfahren, die Filmerfah- rung um die olfaktorische Dimension zu erweitern.8 Allerdings war keinem die- ser Versuche nachhaltiger Erfolg beschieden. Das liegt einerseits an den Schwie- rigkeiten bei der technischen Umsetzung des Geruchsfilms. Es hat aber auch damit zu tun, dass Düfte wohl Zeichenfunktion haben können (man denke an Parfums), letztlich aber keine Zeichenstruktur aufweisen. Chemische Verfahren erlauben es zwar, Düfte unabhängig von ihrem Träger zu reproduzieren, womit eine Bedingung für ihr Funktionieren als Zeichen gegeben wäre. Düfte weisen aber keine Artikulation auf, keine bestimmte Ausdehnung und kein bestimmtes Denotat. Sie bleiben im Saal, ob das zugehörige Objekt auf der Leinwand nun noch gezeigt wird oder nicht, und sie unterscheiden sich in ihrer Struktur nicht von Düften, die sich nicht auf Objekte auf der Leinwand beziehen. Düfte und Gerüche entziehen sich mit anderen Worten, selbst in kontrollierter, reprodu- zierter Form, dem Prinzip der Montage und damit der Einbindung in die für den Filmgenuss konstitutiven Formen der Organisation von Reizen. Und so bleibt dem Film selbst im Zeitalter von Bildwelten aus dem Computer (Computer Generated Imagery/CGI) und avanciertem Sounddesign ein Mangel einbe- schrieben, ein olfaktorisches Defizit. Vor diesem Hintergrund erscheinen die oralen Genüsse des Popcorn-Ver- zehrs nicht mehr nur als fakultative Ergänzung des Lüstefächers, den das Kino gewährt. Eine gewisse Zwangsläufigkeit muss dem Essen im Kino eignen, sonst könnte die US-Filmindustrie die Umsätze an den „concession stands“ nicht mit solcher Verlässlichkeit in ihren Geschäftsplan einbeziehen. Zur Erklärung die- ses Sachverhalts lässt sich nun die Arbeitshypothese aufstellen, dass die Ge- 7 Waters' Film war nicht zuletzt eine Referenz an sein heimliches Vorbild William Castle, der für The Tingler (Schrei, wenn der Tingler kommt, Columbia 1959) Kinostühle so ausrüsten ließ, dass die Zuschauer auf Knopfdruck leichten Stromstößen ausgesetzt werden konnten. Sie sollten am eigenen Leib erfahren, welche Wirkung das Monster des Films tat, ein in der Wirbel- säule hausender Wurm; vgl. dazu auch Waters 1983. 8 Detroit Chain Extending „Smellies“; Curious Statistics on Reactions. In: Variety 141/13 v. 5. März 1941, S. 27. Für eine kleine historische Übersicht vgl. auch Burnstock (1989). 10/2/2001 Das Popcorn-Essen im Kino 73 Abb. 1–3 Wenn der Kunstwert des Kinos mit dem Nährwert einher geht: Popcorn- Tüten aus dem Quadruplex-Kino ABC in Zürich, Oktober 2001 (© der Fotoserie: Vinzenz Hediger & Alexandra Schneider). schmackserfahrungen des Essens im Kino, ein Beispiel für eine Verschiebung auf physiologischer Ebene, das olfaktorische Defizit des Films kompensieren. Weiterführende Untersuchungen zum Essen und Trinken im Kino müssten aber auch die Ebene der Interaktion mit den bestehenden textuellen Angeboten des Films einbeziehen. Ob man sie nun unter dem Gesichtspunkt der parallelen Regression, des mimetischen Ausagierens oder der Vervollständigung betrach- tet: Die Analogie zwischen dem aktiven Nachvollzug vorgefertigter Programme des Verstehens (Filmsehen) und dem Verzehr standardisierter kulinarischer Produkte (Popcorn-Verzehr) ist möglicherweise bedeutsamer, als es auf Anhieb scheinen mag. Für die theoretische Durchdringung der Prozesse der Anteil- nahme an Filmfiguren dürfte überdies der Zusammenhang von Einfühlung und Einverleibung relevant sein, der im psychoanalytischen Konzept der Identifika- tion angedacht ist. Die umfangreiche Literatur von Kochbüchern mit Rezepten von Stars kann als Quelle von symptomatischem Wert einen der Ausgangs- punkte einer solchen Untersuchung abgeben. Gewiss scheint, dass der Nahrungsmittelverzehr einen integralen Bestandteil der kulturellen Praxis des Kinos und des Kinos als Wunschmaschine darstellt. Auch wenn – oder gerade weil – Wunschmaschinen „nichts bedeuten wollen“ (Deleuze/Guattari 1974, 222), wird die Rezeptionsforschung früher oder später nicht umhin kommen, sich mit dieser Dimension der Filmwahrnehmung und des Filmgenusses ernsthaft auseinander zu setzen. 74 Vinzenz Hediger montage/av Nachtrag: Auf der Liste der 25 Filme um die das National Film Register der Library of Congress, das Verzeichnis der zum nationalen Kulturerbe der USA gehörenden Filme, alljährlich erweitert werden, dand sich im Jahr 2001 neben Werken wie APOCALYPSE NOW auch eine kurze Produktion der Chicagoer Trailer-Frima „Filmack“ aus dem Jahr 1957: Ein animieter Werbefilm, in dem ein Kinopublikum aus anthropomorphisierten Popcorn-Tüten und Cola-Be- chern in der Pause in den Kinovorraum wandert (oder vielmehr zu Musikbeglei- tung tänzelt), um Nachschub holen zu gehen. Der Titel des Werkes LET’S ALL GO TO THE LOBBY. Literatur: Altman, Rick (1996) Die Geburt der klassischen Rezeption. Die Kampagne zur Standardisierung des Tons. In: Montage/AV 5,2, S. 3–22. Baudry, Jean-Louis (1994) Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks [frz. Orig. 1972]. In: Psyche 48,11, S. 1047–75 („Die Sprache der Bilder – Psychoanalyse und Film“). Burnstock, T. (1989) Stop Making Scents. Aromarama. In: Cinema Papers, H. 72, S. 46–47. Cassady, Ralph Jun. (1959) Impact of the Paramount Decision on Motion Pic- ture Distribution and Price Making. In: Southern California Law Review 31,4, S. 150–180. Deleuze, Gilles / Guattari, Felix (1974) Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schi- zophrenie I. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Donahue, Suzanne Mary (1985) American Film Distribution. The Changing Marketplace. Ann Arbor, Mich.: UMI Research Press. Freud, Sigmund (1974) Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im See- lenleben der Wilden und der Neurotiker [1912/13]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Studienausgabe. Band IX. Frankfurt am Main: S. Fischer. Gomery, Douglas (1992) Shared Pleasures. A History of Movie Presentation in the United States. London: British Film Institute. Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand (1972) Das Vokabular der Psychoana- lyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Metz, Christian (2000) Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino [frz. Orig. 1977]. Münster: Nodus Publikationen. Mulvey, Laura (1989) Visual Pleasure and Narrative Cinema [1973]. In: Dies.: Visual and Other Pleasures. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press. 10/2/2001 Das Popcorn-Essen im Kino 75 Sardar, Ziauddin (1998) Dilip Kumar Made Me Do It. In: The Secret Politics of our Desires. Innocence, Culpability and Indian Popular Cinema. Hrsg. v. Ashis Nandy. New Dehli: Pauls Press, S. 19–89. Studlar, Gaylyn (1985) Schaulust und masochistische Ästhetik. In: Frauen und Film, H. 39, S. 15–39. Waters, John (1983) Whatever Happened to Showmanship? In: American Film 9,3, S. 55–58. Wyatt, Justin (1994) High Concept. Movies and Marketing in Hollywood. Aus- tin: Texas University Press. * * * Marilyn Monroe, Tom Ewell und eine Tüte Kartoffel- chips in THE SEVEN YEAR ITCH (DAS VERFLIXTE SIEBTE Diabolische Köche: Vincent Price und – gut getarnt – Diana Rigg in THEATRE OF BLOOD (THEATER DES GRAUENS, GB 1973, Douglas Hickox) Christine N. Brinckmann Unsägliche Genüsse On tira à la courte paille pour savoir qui serait mangé. I. Die Lende Roman Polanskis schriller, grimmiger Abenteuerfilm Pirates, eine tunesisch- französische Koproduktion von 1985, endet auf einer fast idyllischen Note: In einem Rettungsboot, allein auf weiter See, sitzt der verwitterte alte Haudegen Captain Red (Walter Matthau) mit seinem mädchenhaften Begleiter, dem Schiffsjungen Frog (Cris Campion, eine Vorahnung von Brad Pitt). Red säbelt an einer gebratenen Keule, Frog hat sich hinter ihm ins Heck gelagert. Beide sin- gen in friedlicher Eintracht „Il était un petit navire“, das Matrosenlied vom Schiffsjungen, den das Los trifft, gefressen zu werden, und der gerettet wird, da plötzlich Land in Sicht kommt. Ein, wie gesagt, idyllisches Bild, wären da nicht das Lied und ein Hai, der das Boot energisch umkreist, und wäre da nicht der Anfang des Films, auf den sich das Ende unheilvoll reimt. Auch zu Beginn waren uns die beiden Protagonisten als Schiffbrüchige begeg- net: ein kahles Floß, ein letztes zerfetztes Segel, darüber die fahle Sonne, ringsum das blaue Meer und die Dreiecksflossen des Haifischs. Captain Red liegt ent- kräftet am Mast, theatralisch in seiner roten verschossenen Samtjacke, das Holz- bein ausgestreckt auf den Planken; am Rand, als Rückenfigur, sitzt der junge Frog und angelt. Auf den ersten Blick ist die verzweifelte Lage, sind Hunger und Durst evident. Piratengeschichten haben ihre eigene Tradition, literarisch wie filmisch. Das Genre lebt von skurrilen Charakteren, von Grausamkeit, Exotik, extremen Ereignissen und Legenden, die sich um das Unwahrscheinliche und das Über- sinnliche ranken. Doch bei aller Phantastik herrscht Realismus im Detail, vor allem dort, wo es um physische Nöte geht. Brütende Hitze, eisiger Sturm, Skor- but, Schmutz, Schweiß und Blut lassen sich sehr plastisch schildern, und in die- sen Augenblicken des Taktilen gewinnen auch Essen und Trinken speziellen Wert. Die Kost des Mangels – verschimmelter Zwieback, Ratten, Kakerlaken, faules Wasser – wechselt dabei mit üppigen Gelagen, in denen Wein aus golde- nen Kannen fließt, Spanferkel und Hummer sich türmen, wenn die Seeräuber 78 Christine N. Brinckmann montage/av Beute gemacht haben. Für die Zuschauer, Zuhörer oder Leser wird verständlich, wie kostbar und gefährlich das Leben ist. Holzbeine und Augenklappen, Eisen- haken statt Hände verweisen auf den Tribut, den der Beruf des Seeräubers zollt, und wilde Gesichter sprechen von Anarchie und Entschlusskraft. Lange Wo- chen ist man auf hoher See ganz auf sich gestellt, entwickelt eine eigene Moral, die jeder für sich definiert, und innere Ressourcen zum Überleben. Abgebrühte Piraten schrecken vor nichts zurück, wenn es nötig ist, und wissen, wie man vor- geht. Kannibalismus ist in diesem Genre nicht unerhört. Captain Red richtet sich leicht benommen auf, erkennt seine Chance und nähert sich dem Jungen von hinten mit gezücktem Säbel. Doch dieser hat Glück und weiß rasch zu reagieren. An der Angel zappelt ein winziger Fisch, den Frog dem Captain herüberschwingt. Dieser greift zu und verschlingt ihn spontan, mit Angelhaken und Schnur: ein übler Happen, der sich nicht lohnt, aber auch nicht rückgängig machen lässt. Der kleine, kühle, silbrige Fisch, der Haken, die lange Schnur, alles zusammen in der Kehle des gierigen Captain – man erlebt es fas- sungslos, die eigene Fassungslosigkeit gespiegelt im Gesicht des Jungen, der schließlich die Schnur kappt und sich stoisch anschickt, eine neue Angel zu bas- teln. Einerseits scheint die Gefahr gebannt – Red sitzt wieder am Mast und leidet unter Aufstoßen –, andrerseits ist noch nichts ausgestanden, der Hunger bleibt. Der Captain beginnt zu halluzinieren, glaubt ein Schwein grunzen zu hören, schleicht erneut zum Jungen, der am Boden kniet, um einen Nagel zum Haken zu klopfen. In der Anstrengung verrutscht seine Kleidung und entblößt die Lende, die sich pfirsichfarben, reif und glatt, wie zum Anbeißen rundet. Red beugt sich nieder, um die Zähne hineinzuschlagen, obwohl auch eine erotische Regung in Frage käme. Doch Frog gelingt es, mit heiler Haut zu entschlüpfen. Auf den Mast kann ihm der Captain nicht folgen, dank seines Holzbeins – und so weiter, bis am Horizont ein Segel auftaucht und dem Treiben ein Ende setzt. Red und Frog haben nun anderes im Sinn, die eigentliche Handlung beginnt. Aber der Anfang bleibt uns im Kopf, trotz aller Turbulenzen, die folgen sol- len. Wenn sich am Ende der Zirkel schließt und man das ebenso zirkuläre Lied vom kleinen Matrosen anstimmt – das eigentlich mit der Strophe endet: „si cette histoire vous amuse, nous allons la recommencer“, die Frog und Red aber nicht singen –, ist der unvollendete Kannibalismus plötzlich wieder sehr präsent. Roman Polanski ist jedoch schlau genug, den Gelüsten Captain Reds nicht freien Lauf zu lassen, auch wenn seine Motive eher dramaturgischer als men- schenfreundlicher Natur gewesen sein mögen. Der Regisseur, von dem Andrew Sarris sagt: „His talent is as undeniable as his intentions are dubious“ (1968, 151), hat oft genug bewiesen, dass ihm nichts heilig ist – und der weitere Verlauf von Pirates, der zeigt, wie Frog auf Deck in etwas ausrutscht, das nur Durchfall sein 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 79 kann, oder wie die beiden Protagonisten in scheußlichstem Detail eine tote Ratte verzehren, sind Indiz für seine suspekten Neigungen. Mit dem Kannibalismus aber geht Polanski spielerisch und suggestiv um, nutzt ihn als Auftakt und Finale, droht mit ihm, ohne ihn konkret auszumalen oder seine assoziative Kraft zu beschneiden. Was Red und Frog weiter miteinander vorhaben, kannibalisch oder erotisch oder kombiniert, bleibt in der Schwebe. Eine enger werdende Kreisblende umschließt pittoresk und dekorativ das Boot, das in weiter Ferne treibt, bis die ganze Leinwand schwarz geworden ist. II. Das Phänomen Ähnlich dem Inzest, aber womöglich noch strikter, lastet auf dem Kannibalis- mus ein Tabu, ein Ekel, ein Grauen. Wer in unserer Gesellschaft dazu schreitet, Menschen zu verzehren, ist aus der Gemeinschaft ausgestoßen, ganz gleich, ob ihn die Not getrieben hat oder eine perverse Lust. Und wer nicht vor Gericht gestellt wird, sollte dennoch für den Rest seines Lebens an dieser Tat leiden, die unaussprechlich ist und die man nicht sühnen kann. Je nach Tatbestand nimmt sich der Kannibalismus verschieden aus. Es ist eine Sache, ob man, von Hunger getrieben, wie ein Tier über einen Artgenossen her- fällt, ihn erschlägt und verschlingt; eine andere, ob man das Opfer rituell tötet, zerteilt und verzehrt; wieder eine andere, ob man es foltert, missbraucht, ermor- det und für sich zubereitet. Zu Mord und Kannibalismus tritt im letzteren Fall der Frevel der Leichenschändung. Leichen sind eigentlich Zwischenwesen, da sie zunächst noch wie Menschen aussehen, noch Menschen sind, dann allmäh- lich, wie andere organische Materie, in Verwesung übergehen: ein Skandalon, das man den Augen entzieht, indem man sie „zur letzten Ruhe“ bestattet. Tiere dagegen sind Aas, wenn sie sterben; oder sie werden geschlachtet, als Nahrungs- mittel zerteilt und frisch gehalten. Der kannibalistische Leichenschänder ver- mischt diese Kategorien1 und macht sich am unheimlichsten aller Dinge zu schaffen, dem menschlichen Leichnam, als handele es sich um ein Tier. Nicht umsonst unterscheidet die englische Sprache zwischen dem flesh der Menschen und dem meat des Schlachtviehs2 und zieht die Grenzen dankenswert scharf. 1 Hier ist auf die berühmte Theorie der Ethnologin Mary Douglas zu verweisen, die sie in ihrem Buch Purity and Danger (1966) entwickelt hat. Douglas legt dar, dass Tabus in unscharfen kulturellen Kategorien ihren Ursprung haben und dass Objekte, die nicht zweifelsfrei zugeordnet werden können, Ekel erregen. 2 Diese Aufteilung bewahrt davor, wie im Deutschen die Verbindung von „Fleischlichkeit“ mit dem Nahrungsmittel „Fleisch“ zu betonen und damit sexuelle Gelüste mit dem Kannibalismus 80 Christine N. Brinckmann montage/av Wie kaum ein anderer Gräuel ist Kannibalismus geeignet, als unbewältigbare Schreckensvorstellung abgewehrt und verdrängt zu werden. Doch unter der Oberfläche des Bewusstseins kann er weiter sein Wesen treiben, sei es in Form der Angst, gefressen zu werden, sei es als Versuchung, der man selbst erliegen könnte, oder als unwillkommene Ahnung beim Essen, wenn das Fleisch rot und saftig ist. Merkwürdigerweise assoziiert man vor allem rohes Fleisch mit Kanni- balismus, obwohl die Kriminalgeschichte etwas anderes lehrt. In der Wissenschaft ist der Kannibalismus vor allem Gegenstand der Anthro- pologie, der Ethnologie, der Religionswissenschaft, Psychologie und Sexualpa- thologie. Hier geht es zum Beispiel darum, dass die Tabuisierung von Men- schenfleisch der Arterhaltung dient; oder darum, wie bestimmte Gesellschaften mit dem Tabu umgehen, wie weit sie Kannibalismus verleugnen oder umschrei- ben. Die Religionswissenschaft untersucht die Bedeutung der Transsubstantia- tion, bei der Brot und Wein sich in Fleisch und Blut Christi verwandeln, das die Gläubigen in sich aufnehmen; und ebenso die Pervertierung christlicher Bräu- che in Schwarzen Messen, Satanskult und Hexensabbat, bei denen Kinder geschlachtet und verspeist werden. Die Ethnologen beschreiben Vorstellungen und Bräuche bei den Indianern oder bei den Schamanen, die zum ritualisierten Genuss von Menschenopfern führen (vgl. Dadoun 1972; Eliade 1975), oder Ver- wandlungsriten, bei denen Männer zu Wölfen werden, die menschliche Beute reißen (vgl. z.B. Eisler 1951). Sigmund Freud entwickelte in „Totem und Tabu“ eine ähnliche Theorie über die Urhorde, die den Vater tötete und verzehrte, um sich seine Stärke anzueignen (1945 [1912/13], 171f). Ebenfalls auf Freud beruft sich die Psychoanalyse, wenn sie die orale Phase des Kindes als eine „kannibali- sche“ beschreibt, da es sich, in einer Mischung aus sadistischer Aggression und Libido, die Objekte seines Begehrens einverleiben will (vgl. Freud 1940 [1921], 116f). Hier setzen auch Erklärungen der Sexualpathologie zum Verhalten von Serienmördern ein, die ihre Opfer zerstückeln und konsumieren: als ein Ste- ckenbleiben auf der oralen „kannibalistischen“ Stufe, das keine andere Sexualbe- ziehung zulässt. Weitere Erklärungsmuster kreisen um intrikate Persönlich- keitsstörungen, die mit der Mutterbeziehung zu tun haben, oder um Identitäts- störungen bezüglich des eigenen Geschlechts. – Doch es kann hier nicht alles aufgearbeitet werden, das mit dem realen Phänomen des Kannibalismus in Ver- bindung steht. zusammenzudenken. Der Ausdruck „zum Fressen gern“ spricht diese Verbindung zwar deutlich aus; aber er fungiert als komische Übertreibung, die davor bewahrt, der Sache auf den Grund zu gehen; vgl. auch Sigmund Freud (1947 [1918], 141) zum „Liebesziel der oralen Organisation“, das sich später in „zärtlichem Schimpfen“ und in verschiedenen gängigen Sprachwendungen ausdrückt. 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 81 III. Generisches In der kulturellen Verarbeitung ist es auffällig, wie stark das Motiv „Kannibalis- mus“ entweder dem Märchen vorbehalten bleibt oder zum schwarzen Humor tendiert. Oft drückt sich dies bereits in der Wortwahl aus. Spricht man von „Menschenfressern“, so signalisiert man Unernst und Kinderschrecken. Men- schenfresser gehören ins Märchen, in dem sie auf wohlige Weise Furcht erregen sollen (aber die Kleinen auch in tiefe Ängste stürzen), oder in den Bereich von Comics und Animationsfilm. Dort bevölkern sie den afrikanischen Busch, wo sie sich im Baströckchen tummeln und, einen Knochen im Haar, ihren Missio- nar kochen. „Kannibalen“ dagegen sind viel seltener anzutreffen und schnell geeignet, traumatische Schocks auszulösen. Sie begegnen uns in authentischen Berichten über Extremzustände und Grenzerfahrungen, bei Hungersnöten und Kriegsausschreitungen oder, in der Sensationspresse, bei Reportagen über pathologische Delikte – wie sie Serienmörder vom Schlage eines Fritz Haar- mann oder Ed Gein begangen haben. In der Fiktion, im Spielfilm werden oft Stoffe aus der Realität aufgegriffen: Psychothriller nutzen die Details realer Verbrechen, um sie nach Bedarf auszu- schmücken und anzureichern. Man denke an die Weiterverarbeitung der Haar- mann-Story in Die Zärtlichkeit der Wölfe von Uli Lommel (BRD 1973) oder Der Totmacher von Romuald Karmakar (Deutschland 1995) und an die vielen Filme, die in der einen oder anderen Weise an Ed Gein anknüpfen,3 von Alfred Hitchcocks Thriller Psycho (USA 1960) über The Texas Chainsaw Massacre von Tobe Hooper (USA 1974) bis zu The Silence of the Lambs von Jonathan Demme (USA 1991) und ihre Anschlussprodukte. Auch Kriegs- und Dokudramen greifen notorische Vorfälle auf, etwa den Kannibalismus japa- nischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg – wie Wu Zinius eindringlicher Anti- kriegsfilm Wan Zhong (Abendglocken, China 1986) – oder die Notsituation der Fußballmannschaft, die in den Anden abstürzte und nur überleben konnte, indem sie das Fleisch ihrer ums Leben gekommenen Kameraden verzehrte – Sur- vive! von Rene Cardona (Mexiko 1976) und sein Remake Alive von Fred Mar- shall (USA 1993). Doch es ist signifikant, wie wenig Filme dieser Art insgesamt gedreht wurden, wie stark das Kino das Tabu des Kannibalismus respektiert hat. Anders gelagert und motiviert als Thriller und Erlebnisschocker sind Filme, die das Motiv des Kannibalismus aus Gründen der Subversion, als surreales „Kino der Grausamkeit“, als gnadenlose Dystopie oder gezielte Metapher ein- 3 Zum Serienmörder Ed Gein und seiner Verarbeitung in den Medien und im Spielfilm vgl. Farin/ Schmid 1996. 82 Christine N. Brinckmann montage/av setzen. Aber auch sie sind selten. Amos Vogel hat es sich in seinem 1974 erschie- nenen Buch Film as a Subversive Art zur Aufgabe gemacht, ein Kompendium filmischer Tabubrüche zu erstellen; doch das Buch enthält kein Kapitel zum Kannibalismus, obwohl es auf die Beispiele in Pier Paolo Pasolinis Porcile (Ita- lien 1968)4 und Jean-Luc Godards Weekend (Frankreich/Italien 1967) verweist, wenn auch an weit auseinanderliegenden Stellen (27f und 272). Offenbar war dieses Tabu zu randständig, die Verstöße zu selten, um eine eigene Kategorie zu eröffnen, auch wenn es bei Pasolini ebenso wie bei Godard sicherlich mehr unter die Haut geht als andere Schockelemente. Allerdings ist für Weekend anzumer- ken, dass hier dem Publikum ein Ausweg aus Grauen und Ekel angeboten wird: In der Endsequenz, als man das Kannibalen-Gericht serviert, erläutert der Koch, er habe Schweinefleisch und Geflügel beigemischt. So bleibt offen, in was seine Gäste, während die Kamera sie erfasst, gerade beißen. Nach neunzig Minuten thematischer (und formaler) Gnadenlosigkeit eine bemerkenswerte Rücksicht- nahme Godards. Inzwischen, seit Vogels Buch herauskam, ist die Zahl der Beispiele gewachsen – in dem Maße, wie die Tabubrüche im Kino zunehmen, die Zensur5 sich lockert –, und ein Film wie Peter Greenaways The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover (Frankreich/Niederlande 1989) markiert einen neuen Höhepunkt. Doch in diesem geschmäcklerischen und geschmacklosen Werk verliert das Subversive an Sprengkraft, weil der Film eine tour-de-force durch Exkremente und Obszönitäten vollführt, die uns ermüden lässt, bevor der Kannibalismus erreicht ist, und weil Greenaways apsychologische Ästhetisierung Distanz zum Geschehen erzeugt. Doch der in toto gebratene, knusprig-braune Liebhaber und seine Dekoration aus Gemüse und Kräutern sind gleichwohl eindrucksvoll, und dass Greenaway das Wort „cannibal“ als letztes zu Gehör bringt, als eine Art Krönung, zeigt, welche Wirkung er sich von dem Motiv versprach. Wieder anders situieren sich Eating Raoul von Paul Bartel (USA 1982) oder Delica- tessen von Jean-Pierre Jeunet (Frankreich 1991) – Ausgeburten des schwarzen Humors, die als Kultfilme des Makabren gelten und das Menschenschlachten und Vermetzgern amüsant finden. Abgesehen von den zuletzt erwähnten Beispielen macht nur ein Bruchteil der Spielfilme, die vom Kannibalismus handeln, ihn auch augenfällig. Fast alle be- gnügen sich damit, auf den Sachverhalt zu verweisen, ihn im Dialog zu streifen 4 Leider war mir Pasolinis Film nicht zugänglich. Aber er ist ausführlich bei Maurizio Viano (1993) beschrieben und mit Blick auf seinen metaphorischen Gehalt interpretiert. 5 Es ist interessant, dass der amerikanische Production Code, die Selbstzensur Hollywoods, den Kannibalismus nicht explizit erwähnt. Er lag wohl außerhalb der Vorstellungskraft der Zensoren – oder man wollte die Filmemacher gar nicht erst auf die Idee bringen. 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 83 oder mehr oder weniger diskret zu implizieren. Selbst Psycho, ein Film, der nicht zu den zimperlichen gehört, erlaubt es nur bei analytischer Akribie, dem Protagonisten – analog zum authentischen Vorbild Gein – zu unterstellen, er habe seine Opfer auch verspeist.6 Oft hat der Kannibalismus im Thriller die Funktion, hinter dem Schreckli- chen, das manifest gezeigt wird, noch ein Potenzial weiterer Schrecken ahnen zu lassen, sozusagen eine Bodenlosigkeit des Furchtbaren zu eröffnen. Der moderne Thriller, der hier unerschrockener, aber auch plumper vorgeht, wenn er den Frevel direkt anspricht und inszeniert, bringt sich damit um einen subti- len Effekt, eine subkutane Resonanz und metaphysische Symbolik. Bezeich- nend ist zum Beispiel, dass The Silence of the Lambs in dieser Hinsicht von seinem Anschlussprodukt Hannibal (USA 2000, Ridley Scott) übertroffen wird, in dem der Kannibale ein Gehirn brät. Die Entscheidung vieler Regisseure, Kannibalismus lieber nur zu suggerieren, soll die emotionale Eigendynamik des Phänomens nutzen, die Imagination der Zuschauer beflügeln, und sie stärkt die erzählerische Ökonomie, da die gerings- te Dosierung schon viel erreicht. Sie vermeidet aber auch Gefahren, die eine allzu augenscheinliche Inszenierung für Glaubwürdigkeit und Illusion birgt, so dass visuelle Abstinenz auch weise Vorsicht bedeuten kann. Das Medium Film steht hier vor anderen Problemen als die Literatur, die nur heraufbeschwört, nicht zeigt. Neben der Gefahr, das Publikum emotional zu überfordern und in derartigen Ekel zu stürzen, dass es das Kino verlässt, besteht auch die Gefahr, dass Abwehrreaktionen einzelner Zuschauer die Vorführung stören: Lächer- lichmachen einer Szene oder laute Spekulationen, welche Tricks und Requisiten wohl nötig waren, können in Filmen mit dichter Spannungskurve und intensiver Empathie alle Wirkung torpedieren. Auch geschieht es leicht, dass die Ver- schmelzung von Schauspieler und Rolle zerbricht, denn Essen oder Fressen ist ein sehr physischer Akt, ähnlich der Sexualität, und kann die Charakterdarstel- lung auf eine animalische Präsenz reduzieren. Ein Effekt, der manchmal, aber nicht immer erwünscht ist.7 6 Dass Hitchcocks Gedanken und Gefühle auch um kannibalische Vorstellungen kreisten, entwi- ckelt Tania Modleski (1988) am Beispiel von Frenzy. Dabei geht sie auf Psycho ein, unterstellt dem Protagonisten aber keinen solchen Frevel. Dagegen entwickelt Monika Spindler in ihrem Aufsatz „Die geheime Gier des Norman Bates“ (1996) eine dichte Motivkette aus Appetit, Es- sen, Sexualität, Ausstopfen toter Körper, offen gelassenem Verbleib der Leichen und Normans Blick aus der Küche: „Denn mit diesem Blick macht er uns zu Komplizen – lädt uns vielleicht sogar ein, an einem ganz besonderen Abendessen teilzunehmen“ (119). 7 Selbstverständlich gibt es auch filmische Situationen oder ganze Gattungen (die Pornografie), in denen die fiktionale Rolle nur Vorwand ist und es gerade um die direkte körperliche Wirkung geht. 84 Christine N. Brinckmann montage/av IV. Der Sonderfall des Horrors Horrorfilme waren im bisherigen Überblick zwar tangiert, verdienen aber eine eigene Betrachtung, wie sie auch ein eigenes Publikum anziehen, das die Angst- lust und den Schauder sucht. Konkretisierungen des Schrecklichen zählen dort zur Konvention, schließlich muss das Genre seinem Namen genügen, und es ist, wie Noël Carroll (1990) einleuchtend darlegt,8 neben dem Schauder vor allem das Gefühl des Ekels – das andere Filme tunlichst vermeiden –, das der Horror- film zu erwecken sucht. Wie geschaffen, so scheint es, für alles, was mit Leichen zu tun hat. Doch es ist festzustellen, dass der Kannibalismus auch in diesem Genre – zumindest während der klassischen Periode Hollywoods – ein Randphänomen bleibt. Zwar geht es im Horrorfilm zentral um Verstümmelung, Tötung, Gefressen- werden, doch die Täter sind typischerweise mutierte Insekten, Marswesen, Schleimklumpen, übersinnliche oder futuristische Monster aller Art, also keine Kannibalen. Untote, die ebenfalls häufig vorkommen, bilden in diesem Kreis eine ambivalente Ausnahme: durch ihre äußere Gestalt Teil der Menschheit – vor allem, wenn Schauspieler sie verkörpern –, durch ihre Vorgeschichte jedoch jenseits von ihr zu veranschlagen, da sie bereits gestorben und nicht mehr ver- pflichtet sind, sich wie Menschen zu benehmen. So kann man darüber streiten, ob Untote sich überhaupt als Kannibalen qualifizieren, auch wenn sie entspre- chende Ängste auslösen. (Dass sie ihre eigentlichen Artgenossen verschonen, macht die Dinge noch komplizierter. Doch ob Mensch oder nicht, durchforstet man den klassischen Horrorfilm, sieht man auch die Untoten fast nie beim Mahle.) Das Frankenstein-Monster zum Beispiel tötet, aber frisst nicht; der Werwolf tötet und stillt seinen Hunger als Wolf, nicht als Mensch, und ähnlich verfahren andere Wesen der Metamorphose, die in verschiedener Gestalt auftre- ten können. Graf Dracula lebt zwar vom Blut seiner Opfer, verletzt sie jedoch kaum und agiert eher erotisch als kannibalisch. Erst in der nachklassischen Zeit, in den 60er Jahren mit ihrer Lockerung der Zensur, breitet sich der Kannibalismus im Horrorfilm aus und mit ihm dessen angsterregendste Variante, der Slasher oder Splatter. Dieser ist eine Art Äquiva- lent zum Porno, ebenso obszön und in vielen Ländern verboten. Splatter setzen auf spezielle Zuschauer, die einen besonderen Kitzel suchen, und arbeiten mit Verdrängtem, mit Tabus und Urängsten: der Furcht vor und Lust auf Zerstü- ckelung, der Verwechslung oder Verquickung von Sexualität mit Aggression, der Gleichsetzung von Mensch und Schlachtvieh, der Zubereitung und dem 8 Carroll stützt sich dabei auf Douglas 1966. 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 85 Verzehr von Speisen aus Menschenfleisch. Ein berüchtigtes Beispiel und eine Art Kultfilm stellt Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre (USA 1974) dar (vgl. Brinckmann 1995). Die Grundsituation – eine Gruppe Jugendlicher strandet in der Einöde, in der Menschenfresser ihr Unwesen treiben – erlaubt es, viele Stationen des Grauens zu durchlaufen. Der Film zelebriert den Exzess. Unter anderem wird ein junger Mann unter bestialischem Quieken seiner Freundin, die bereits am Fleischerhaken hängt, auf dem Schweine-Schlachttisch zerlegt. Die Kannibalen laben sich an Wurst und Schinken; allenthalben finden sich organische Reste, vom plombierten Backenzahn bis zu Fingerknochen und unidentifizierbaren Lappen. Splatter sind derart überzogen, dass sie zwischen Ernst und Unernst oszillie- ren. Leicht schlagen sie in schwarzen Humor um, schon um dem Publikum einen emotionalen Fluchtweg zu eröffnen, und wie sie tatsächlich wirken, hängt nicht zuletzt von der Persönlichkeit der Rezipienten ab: Fritz Göttler zum Bei- spiel attestiert dem Genre eine „erfrischende Fröhlichkeit“ (1996, 176), die es mit den (oben erwähnten) Missionarswitzen verbinde. Andrerseits fungieren Splatter – wie Horrorfilme insgesamt – auch ungebrochen als Mutprobe für Teenager und andere Freunde des Mitternachtskinos, die sich dem Geschehen ganz ohne Frivolität widmen wollen. V. Die Eingeweide Einer der bekanntesten Filme des kannibalischen Zyklus ist George A. Romeros Horrorfilm Night of the Living Dead (USA 1968). Diese Billigproduktion, die praktisch über Nacht zum Kultfilm wurde, verzichtet auf Schonung der Zuschauer, verzichtet aber auch darauf, eine Innenperspektive der Menschen- fresser zu vermitteln. Vielmehr zeichnet sich der Film dadurch aus, dass er eigentlich keine Sympathiefiguren entwickelt: Unter den Opfern hätte einzig der junge Schwarze (Duane Jones) das Zeug zum Protagonisten, wäre er weniger eindimensional gezeichnet und stärker subjektiviert. Dennoch neigen wir dazu, pauschal für die belagerten Menschen – die Menschheit – Partei zu ergreifen und nur bedingt für die Zombies, die mehr oder weniger anonym, starrsinnig und einfältig gegen das einsame Haus anlaufen, in das sich die kleine Gruppe geflüchtet hat. Die Belagerten haben sich zu einem Ausbruchsversuch entschlossen, der daran scheitert, dass das Fluchtauto explodiert und ausbrennt. Das junge Paar, das für diese Mission volontiert hatte, kann sich nicht retten und kommt in den Flammen um. Im nächsten Augenblick sehen wir – vom Blickpunkt der Einge- 86 Christine N. Brinckmann montage/av schlossenen –, wie die Monster sich über die Beute hermachen. Selbst bereits halb verfault (sie kommen ja aus den Gräbern) und, wie es scheint, partiell ange- fressen, beißen sie gierig in abgerissene Menschenteile, nagen an einer Hand oder streiten sich um Eingeweide, die teils geschlürft werden, teils ins Gras glei- ten. Jede Geste drückt hier ein „endlich!“ aus, eine tiefe Erleichterung, den quä- lenden Hunger zu stillen, und zugleich die Befürchtung, nicht satt zu werden. Man beobachtet die Zombies in einer Art paralysierter Faszination; der Impuls, sie am Essen zu hindern, sie zu unterbrechen, kommt gar nicht erst auf – richti- ger scheint es, den Dingen ihren Lauf zu lassen, mögen sie noch so scheußlich sein. Sowohl die Aufbereitung der Monster, ihre Maske, wie die Gestaltung ihrer Nahrungsmittel überspannen den Bogen der Glaubwürdigkeit und des guten Geschmacks. Die Zombies sind derart hergerichtet, dass sie komisch und schau- rig zugleich wirken – schon ihre zeitlupenhafte, steifbeinige Gehweise ist eine Art Karikatur –, und die „Menschenteile“ können ja nur, wie alle Zuschauer wissen, aus Tierkörpern oder aus der Trickkiste stammen: dass ein Schauspieler tatsächlich in eine Menschenhand beißt oder in rohes Gedärm, welcher Prove- nienz auch immer, ist undenkbar. Diese Beobachtung kann der Beruhigung die- nen – man konzentriert sich auf die Darsteller, führt sich die Drehsituation vor Augen, um sich zu distanzieren, die Illusion kippen zu lassen und sich in die Analyse der Special Effects zu retten. Sicherlich gibt uns Night of the Living Dead diese Möglichkeit (der krude Inszenierungsstil hilft dabei), und es darf auch nervös gelacht werden. Zugleich jedoch bleiben die grausigen Details als Vorschläge an unsere Imagination und Empathie bestehen: Wir sind gehalten, uns vorzustellen, wie sich das rohe (oder gar angesengte?) Menschenfleisch zwischen den Zähnen anfühlt und welche Befriedigung es bietet. Gerade weil die Monster so anonym sind und zwanghaft ihren Bedürfnissen folgen, reduziert sich das Interesse auf den reinen Akt des Fressens und die animalische Sättigung. Moralische Erwägungen oder Mitleid sind nicht angezeigt, und ob man Wert darauf legt oder nicht, nun weiß man, wie es ist, wenn Zombies sich gütlich tun. Die Darstellungsweise ändert sich ein wenig in einer späteren Szene, als wir Zeuge werden, wie ein kannibalisch infiziertes Kind, ein etwa zwölfjähriges Mädchen, als Zombie wieder von den Toten aufersteht und sich über den eige- nen Vater hermacht. Hier erwächst, obwohl wir das Mädchen kaum kennen, tie- fes Grauen, denn wir verfolgen die Wandlung vom Töchterchen zur Untoten und beobachten, wie alle menschlichen Gesetze und Tabus ihre Geltung verlie- ren. Romero verfährt hier bewusst anders als zuvor: Hatte er dort im kannibali- schen Akt geschwelgt, so lässt er es hier mit einem kurzen Blick bewenden, der 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 87 nur eben gestattet zu erkennen, was sich das Mädchen ausgesucht hat: einen Unterarm für den Heißhunger. Doch die frühere Stelle wirkt selbstverständlich zurück, und die Imagination tut ein Übriges. Außerdem fehlt auch hier jede wei- tere Psychologisierung. Die Zuschauer werden mit den blanken Fakten kon- frontiert, so dass Fressen-Müssen und Gefressen-Werden als fast gleichberech- tigte Notstände koexistieren: ganz anders als im Thriller, in dem die Angst vor dem Unhold alles überlagert, die Opferperspektive stets dominiert. Romeros Film wird nachgesagt, dass er unerbittlich und nihilistisch sei und metaphorisch und politisch gelesen werden will, dass er mehr leiste als der übli- che Horrorstreifen und sich tiefer ins Bewusstsein eingrabe. Steven Shaviro, der Night of the Living Dead einer komplexen, tiefgründigen Analyse unter- zieht, sieht im Verhalten der Zombies „the rebellion of death against its capitalist appropriation [...] the zombies enact a radical refusal and destruction of value“ (1993, 84). Und: „[...] the zombies do not (in the familiar manner of 1950s horror monsters) stand for a threat to social order from without. Rather, they resonate with, and refigure, the very processes that produce and enforce social order“ (ibid., 87). Gerade weil die fiktionale Kraft des Films so fadenscheinig sei, ver- längere er sich in die reale Gegenwart der Zuschauer – zum Beispiel, wenn die Rettungstrupps, die gegen die Zombies vorgehen, sich ganz ähnlich verhalten wie die Untoten, ihnen sogar in der Körpersprache gleichen. Um solchen Analo- gien und ihrem Sinngehalt das richtige Umfeld zu geben, bilden Romeros fakti- sche Erzählweise und unverstellte Dramaturgie des Schocks angemessene Mit- tel. Doch das sind Deutungen und Wertungen, die im Nachhinein erfolgen. Während der Rezeption und wirksamer als jede politische Allegorie fungiert Night of the Living Dead als Horrorschock reinsten Wassers, in dem die Zuschauer testen können, wie viel sie aushalten. VI. Das Blut Während der Monsterfilm mit Ekel, Grusel, Schrecken und Schock operiert und häufig dank kruder Mittel besonders viel erreicht, ist sein Verwandter, der Vam- pirfilm, eher aristokratisch veranlagt. Er verfährt gern elegant und poetisch, mit einer kulinarischen Ästhetik und sanftem Grauen, das erotisch unter die Haut geht. Vampire sind zwar Kannibalen – soweit wir sie, wie oben ausgeführt, als Menschen betrachten –, begnügen sich jedoch mit Blut und, was noch wichtiger ist, laben sich an Lebenden. Wenn sie töten, so eher im Übermaß von Gier und Leidenschaft, und Leichen, deren Blut bereits stockt, interessieren sie nicht mehr. Für die Zuschauer ist die Tabuverletzung entsprechend geringer, und ent- 88 Christine N. Brinckmann montage/av sprechend stärker involvieren uns die Filme in die Perspektive der Täter, der Untoten, die nicht anders können, als Blut zu saugen, und unter dem Fluch ihres Soseins oft unendlich leiden, so dass tiefe Melancholie sie umwölkt. Unter den Vampirfilmen stellt Bill Gunns Ganja and Hess (USA 1973) eine Besonderheit dar, da er von einem afroamerikanischen Regisseur verwirklicht wurde, der zugleich eine Fülle anderer Themen und Anliegen mit einfließen ließ: das Wesen von Sucht überhaupt, nicht nur der Sucht auf Blut („ganja“ ist ein Ausdruck für Marihuana); die Exzesse einer aktiven weiblichen Sexualität; Todeswünsche der Männer; die Identität der Schwarzen in einer weißen Kultur; die Rolle des Christentums in diesem Rahmen; die Rolle der Kunst; innovative, Hollywood-Stereotypen konterkarierende Bilder schwarzer Figuren; eine aus- gefeilte afroamerikanische Ästhetik, und so weiter und so fort.9 Es geht also um mehr als eine neue Dracula-Variante. Der Film wurde mit kleinstem Budget produziert und verblüfft und verwirrt noch heute durch seine kühne, unebene Erzählweise, die elliptisch und inkonsequent anmutet, in vielen Sequenzen jedoch hohe Originalität und Intensität erreicht. (1973 überforderte Ganja and Hess sein Publikum, wurde rasch wieder abgesetzt und später als Horror-Video verhackstückt. Heute ist ein Restored Director’s Cut als DVD erhältlich,10 die ihn in liebevoller Ausstattung – inklusive einem durchgehend kommentieren- den Dialog zwischen Schauspielern, Kameramann und Produzent – für die Filmgeschichte zu retten sucht.) Bill Gunn, ein charismatischer Schauspieler, übernimmt selbst die Rolle des attraktiven Kunsthistorikers Dr. Meda, des ersten Opfers oder, genauer genom- men, Selbstopfers der verschlungenen Handlung. Er ist von dem tief religiösen Anthropologen Dr. Hess Green (Duane Jones aus Night of the Living Dead), einem Vampir wider Willen, als Mitarbeiter eingestellt worden, um For- schungen über die altafrikanische Kultur der Myrthia voranzutreiben. Dass Hess bei Vorarbeiten zu diesem Projekt mit der Sucht infiziert wurde, erfährt Meda jedoch nicht. Aus einem philosophischen, sehr persönlichen Gespräch zwischen beiden, das bis in die tiefe Nacht dauert, wissen wir bereits, dass Meda suizidale Anlagen hat, und wir ahnen auch, dass Hess frisches Blut braucht. Doch wir sind nicht vorbereitet auf die Szene, die nun vor unseren Augen abläuft. Dr. Meda sitzt, von einer ruhigen Kamera beobachtet, in der Badewanne. Wir sehen, wie er sich wäscht, in einen Handspiegel schaut, die Zahnbürste ergreift – 9 Zu Bill Gunn allgemein und seinem Film Ganja and Hess vgl. Monaco 1979, 206; Diawara 1993, 9f. 10 Erschienen bei All Day Entertainment, 1998. 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 89 lauter Alltagshandlungen, die schön fotografiert sind, aber in ihrer narrativen Relevanz zunächst im Dunkeln bleiben. Er taucht die Zahnbürste in die Wanne, neigt sich herunter und schlürft das Badewasser ein, um damit zu gurgeln: ein barbarischer Akt, der allen Gesetzen der Hygiene zuwiderläuft, in einem gepflegten Bad, dessen weiße Objekte und grünblaue Fliesen ästhetisch schim- mern. Meda steigt heraus, wobei er wie beiläufig einen Revolver mitnimmt, der auf dem hinteren Rand der Wanne lag. Er präsentiert seinen schlanken gold- braunen Körper frontal im Spiegel, zieht Bilanz; dann erfasst ihn die Kamera von der Seite, durch zwei Kerzenleuchter und einen Blumenstrauß hindurch, dessen üppiges Gelb, Rot, Grün die dunkle Haut vollends zum Glühen bringt.11 Meda richtet die Waffe gegen sich und drückt ab, stürzt auf die Fliesen, und eine Blutlache breitet sich zähflüssig und komplementärfarbig wie ein Actionpain- ting um seinen Körper aus. Die Kamera kreist um die eigene Achse. Inzwischen ist Hess im Spiegel sichtbar geworden; er beugt sich zu Meda herunter, der nun leblos daliegt, und beginnt sanft und sorgfältig das Blut aufzulecken, das immer noch nachquillt. Eine vampirische Mahlzeit, wie wir begreifen, die sozusagen frei Haus geliefert wurde und ohne Schuld, ohne Mord genossen werden darf. Die Phasen dieser Sequenz gehören eng und rasant zusammen. Sie bilden eine Ket- te von Schrecken, die mit einem nackten Mann in der Wanne beginnen, im Suizid explodieren und kannibalistisch im Blut enden – womit auch die seltsame emotio- nale Beziehung zwischen den beiden Forschern unwiderruflich beendet scheint. Sie löst sich allerdings nicht wirklich: Später wird Medas Witwe Ganja – Titelfigur des Films – die Geliebte von Hess werden (in Erfüllung der Männerphantasie, eine Frau zu teilen). Und auch Hess wird den Tod suchen und „the first recorded vampirean suicide“ (Monaco 1979, 206) begehen. Doch dies nur nebenbei. Für das momentane Zuschauererlebnis relevanter ist eine andere Parallele im Verhalten der beiden Männer: In der ersten wie in der letzten Phase sind wir jeweils gehalten, ein ähnliches Niederbeugen und Einschlürfen mitzuvollziehen – zuerst das dünne, seifige Badewasser, dann das sämige menschliche Blut, und es fragt sich, was schlimmer ist. Das erste Mal trifft uns schutzlos, während wir eine friedliche Badeszene zu betrachten glauben (erst retrospektiv wird klar, dass Meda ein Todgeweihter ist, bei dem sich Hygiene erübrigt). Das zweite Mal 11 Der Kameramann, James Hinton, erläutert im Kommentar der DVD seinen besonderen An- spruch, die verschiedenen Braun-, Schwarz- und Goldtöne der afroamerikanischen Schauspieler attraktiv auszuleuchten, um „a diversity of tonality“ zu erreichen – eine Ausleuchtung, wie sie bislang nicht üblich war. Vielmehr gab es in Hollywood wenig Bemühungen, Schwarze in ihren unterschiedlichen Teints ins Bild zu setzen; man begnügte sich allenfalls damit, sie etwas aufzuhellen, damit sie bei der für Weiße erprobten Beleuchtungspraxis nicht als reine Silhou- etten zu sehen waren; vgl. auch Dyer 1997, 89ff. 90 Christine N. Brinckmann montage/av geht tiefer, umfasst vampirische Nekrophilie – eine, wie gesagt, seltene Aus- nahme –, und der Film erspart uns keine Details: Hess muss auf alle Viere herun- ter wie ein Tier, sein Bart taucht in die Lache mit ein, und man spürt förmlich, wie das Blut auf den Kacheln stockt und kalt wird. In der Folge beider Vor- gänge, im Kontrast der Flüssigkeiten, erhöht sich die Empathie der Zuschauer und macht das Verhalten von Hess umso schrecklicher. Auch Kerzen, Blumen, Heiligenbilder, rotierende Kamera und schwelgerische Farben (sowie die Blues- Musik, die schon früher eingesetzt hat) können nicht mildern, dass wir das Blut im Mund zu schmecken meinen. Für die ZuschauerInnen von 1973 sei das Verhalten Medas anstößiger gewe- sen als der Vampirismus von Hess – jedenfalls berichtet der Kommentar auf der DVD von entsprechenden Kundgaben des Publikums: möglicherweise, weil der Schluck aus der Wanne mit den Konventionen des Alltags bricht, während der Vampirismus ein Genre definiert, das fiktional und fantastisch ist. Doch viel- leicht war das Publikum auch im Entsetzen über Selbstmord, Blut und Verzehr so erstarrt, dass es keine Zwischenrufe mehr zustande brachte, während die empörte Verblüffung über Medas Tun sich sofort Bahn brach. Oder man wurde still, weil der Zuschauerimpuls, das Tun der Charaktere zu bewerten, einer tie- fergehenden Empathie gewichen war, oder aber, weil sich unterschwellig eigene Vampirsgelüste ins fiktionale Geschehen mischten. Selbst dem Schauspieler Duane Jones war es ein Problem – wie wiederum der DVD-Kommentar berich- tet –, sich den Anweisungen des Drehbuchs zu fügen und das „Blut“ aufzule- cken; seine fiktionale Imagination war offenbar so stark, dass er sich vor dem Tomatensaft ekelte, als handele es sich um echtes Blut. VI. Drei Hände Jim Jarmuschs Dead Man von 1995 ist ein vertrackter poetischer Schwarzweiß- film, der sich wie ein Traum anfühlt, ohne als Traum ausgewiesen zu sein, oder auch retrospektiv, aus der Warte des sterbenden Protagonisten, erzählt sein könnte, ohne als letzte Rückschau deklariert zu werden. Er hat die Eigenschaf- ten, die einer solchen Bewusstseinslage entsprechen: klar und verworren zugleich, lyrisch und verstörend, hyperreal und metaphorisch. Am Schluss glei- tet William Blake (Johnny Depp) in einem Indianerkanu aufs weite Meer hinaus, umgeben von Blumen und Kultobjekten. Schon früh im Film verwundet durch eine Kugel, die zu nahe am Herzen steckt, als dass man ihn operieren könnte, trifft ihn kurz vor dem Ziel ein zweites Geschoss. Sein Freund, der Indianer Nobody (Gary Farmer), erachtet ihn schon lange als tot, auch wenn mit Blake 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 91 noch viel geschieht und er weite Distanzen überwindet, bis er die Westküste, den Ozean erreicht und stirbt. Kannibalismus ist in diesem Film marginal, jedenfalls was die Zeit auf der Leinwand oder die Dialoge angeht. Aber gerade die lakonische und beiläufige Art, in der dieser Akt gezeigt wird, verleiht ihm seine Eindringlichkeit, seine Resonanz und seinen Sinngehalt. Dead Man zehrt vom Figuren- und Situatio- neninventar des Western, ohne das Genre zu erfüllen. Er nutzt es einerseits für seine Zwecke, denn das erlaubt ein dichtes Erzählen ohne lange Erläuterungen; andrerseits ist der Film als Kommentar zu lesen, als Revision, die thematisiert, was im traditionellen Western eher verschwiegen, beschönigt oder verschoben wird. So ist die Idylle der frühen Frontier-Zivilisation bei Jarmusch ein kapita- listischer Alptraum, bei dem Habgier und Exzentrik ihre Blüten treiben bis zur Unerträglichkeit, und die Wildnis ein ambivalenter Ort, verstörend schön, aber erstarrt fotografiert, in dem niemand sich wohlfühlt, auch wenn sich manche Figuren zurechtfinden.12 Die für uns relevante Stelle ereignet sich eher spät in der Handlung. Der Kopf- geldjäger Cole Wilson (Lance Henriksen) ist engagiert worden, um den flüchti- gen William Blake zur Strecke zu bringen, der den Sohn des Fabrikbesitzers erschossen haben soll. Schon länger verfolgt er dessen Fährte, gemeinsam mit zwei Kollegen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Ein blutjunger Schwar- zer, Johnny „The Kid“ Pickett (Eugene Byrd), ist noch neugierig und beein- druckbar, auch wenn er ebenso gewissenlos und brutal zu werden verspricht wie die andern. Conway Twill (Michael Wincott), „a real good killer“, leidet unter zwanghaftem Quasseln und Tratschen, während Cole jede Unterhaltung hasst und am liebsten für sich bleibt. Cole sieht aus wie ein neurotischer General Cus- ter mit schulterlangem Blondhaar, Silberknöpfen und Armeestiefeln, Conway dagegen wie ein verlauster alter Trapper, und Johnny gefällt sich im schmucken Fantasiekostüm. Als Conway den Jungen überreden will, den unheimlichen Cole zu erschlagen, erläutert er dessen Vergangenheit mit plastischen Worten: „He fucked his parents...“ – „Both of them?“ – „Mother, father: parents. Both of them... After he killed them, he cooked them up and ate them... He fucked ‘em, he cooked ‘em up, he ate ‘em.“ Aber Johnny zaudert. Später erschießt ihn Cole ohne besonderen Grund; die Kopfgeldjäger ziehen zu zweit weiter. Doch der eigentliche Effekt steht noch aus. Sie reiten hintereinander durch den Wald. Conway schwätzt haltlos vor sich hin, beschreibt seine Vorfahren 12 Eine genaue Analyse des Films und insbesondere seiner Beziehung zum Western und zum amerikanischen Kapitalismus findet sich in Jonathan Rosenbaums elegantem BFI-Büchlein DEAD MAN (2000). 92 Christine N. Brinckmann montage/av und möchte im Gegenzug etwas über Coles Familie hören – ein heikles Thema, wie wir wissen. Aber die Leinwand wird dunkel (Jarmusch gliedert seine Narration durch Schwarz- film), die Szene scheint beendet. Dann fällt ein Schuss, noch ohne Bild. Abb.1 Drei Hände ... Aus der Schwärze zoomt Jarmusch auf Cole, der einsam, aber behaglich im Campingsessel13 am Lagerfeuer sitzt; sein Pferd steht malerisch hinter ihm im Wald. Cole nagt an etwas, das wie ein gebratenes Kaninchen aussieht, greift sich zwischen die schneeweißen Zähne, spuckt Knöchelchen aus, leckt sich die Fin- ger. Erst als er das Stück ein wenig dreht, pendelt plötzlich eine schlaffe Hand nach unten, die bereits ziemlich zerrupft und zernagt aussieht, und hebt sich für einen kurzen Moment deutlich ab: Die Schwarzweißfotografie entmaterialisiert zwar das Fleisch zu einem hellen Objekt, aber betont auch die Umrisse (Abb. 1). Jarmusch lässt uns Zeit, fordert uns durch die Dauer der Einstellung auf zu war- ten, bis visuelle Gewissheit herrscht. Besonders beunruhigend wirkt sich aus, dass nun drei Hände im Bild sind, alle etwa identisch groß. Außerdem brät am Spieß noch ein größeres Stück, das nicht näher gezeigt wird. Cole, der Menschenjäger, hat die Spezies erlegt, auf die er sich versteht, auch wenn er sich im Exemplar vergreift. Doch auch dies hat Methode. Nicht die Ein- geborenen erweisen sich in diesem Film als Kannibalen, sondern der weiße Erfüllungsgehilfe des Kapitalisten, der seinen weißen Kollegen/Konkurrenten erschießt, weil der ihn stört und um ihn pragmatisch zu fressen. Es ist eine Tat ganz frei von Erotik und humanem Gefühl (hätte er den schwarzen Jungen gebraten, sähe die Sache anders aus). Gerade diese Eindimensionalität gibt dem kannibalischen Akt seine metaphorische Note, als Illustration des kapitalisti- schen Prinzips homo homini lupus und als Beispiel für die Irrationalität und Kälte einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist. Coles Lagerfeuer ist das letzte in einer langen Reihe. Lagerfeuer bilden ein Motiv, das den Film durchzieht, und sie erfüllen alle Register zwischen unheim- lich und heimelig, wecken Assoziationen zum heimischen Herd, um den sich die Familie nach Feierabend schart, und zum Verlöschen des Lebens, das nur noch so lange flackert, wie das Feuer brennt. Jarmusch knüpft mit all diesen Situatio- 13 Rosenbaum (2000) liest Dead Man auch als Kommentar zur amerikanischen Counterculture; der „Campingsessel“, der ja schlecht ins 19. Jahrhundert und aufs Pferd passt, wäre ein weiteres Indiz für diese Interpretation. 10/2/2001 Unsägliche Genüsse 93 nen, die er variantenreich und poetisch ausarbeitet, an das klassische Western- Genre an, in dem das Lagerfeuer ein Topos ist, sei es als Ort des tückischen Überfallenwerdens, sei es als bekömmliche Rast bei Bohnen und Kaffee oder als Schauplatz tiefer Gespräche von Mann zu Mann. Man kann sich bei diesen Fil- men fragen, ob es im Wilden Westen wirklich nur Bohnen zu essen gab und ob Überfälle nicht auch kannibalistisch (oder sexuell) motiviert gewesen sein mögen. Doch die wenigsten klassischen Western gehen über verhaltene Andeu- tungen hinaus. Eine der berühmtesten authentischen Tragödien weißer Siedler auf dem Weg nach Westen, die Hungersnot am Donnerpass, die einen im Schnee stecken gebliebenen Treck zum Kannibalismus zwang, ist im Westerngenre nicht behandelt worden, wohl weil sie zu grässlich war und den Mythos störte.14 Jarmusch hat seinen Film mit den vielfältigsten Todessymbolen und Tötun- gen bestückt – kaum eine Minute, in der kein Verweis erginge, sei es durch Objekte – Knochen und Schädel, Särge, tote Tiere, der skeletthaft erstarrte Wald –, sei es durch Worte im Dialog oder manifeste Taten der Figuren. Die kanniba- lische Szene ist eingebettet in eine reiche Textur des Tötens. Motive und Tatbe- stände gibt es genug: Selbstjustiz, Rachedelikt, Notwehr, Habgier, Duell, Geno- zid, unkontrollierte Aggression, Hunger, Überlebenskampf, Imponiergehabe, Jagdinstinkt, Auftragsmord, Blutgier, Grausamkeit, Abstumpfung und Men- schenverachtung. Im Reigen dieser Motive bildet der Kannibalismus nur ein kleines Element, aber eines der schlimmsten, das uns noch lange heimsuchen und den Lagerfeuern im Western die Unschuld nehmen kann. Für Hilfe und Hinweise danke ich Philipp Brunner, Matthias Brütsch, Thomas Christen, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz, Uwe Lützen und Sandra Walser. Literatur Brinckmann, Christine N. (1995) Zur Intensität der Gewalt im Film. In: Gewalt: Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Paul Hugger & Ulrich Stadler. Zürich: Unionsverlag, S. 126–146. Buscombe, Edward (1993) The BFI Companion to the Western. New edition. London: BFI. Carroll, Noël (1990) The Philosophy of Horror, or Paradoxes of the Heart. New York/London: Routledge. 14 Vgl. das Stichwort „Donner party“ bei Buscombe (1993, 111f). Hier wird als einzige Verfilmung des Stoffes ein Fernsehspiel erwähnt. 94 Christine N. Brinckmann montage/av Dadoun, Roger (1972) Der Fetischismus im Horrorfilm. In: Objekte des Fetischis- mus. Hrsg. v. Jean-Bertrand Pontalis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 337–370. Diawara, Manthia (1993) Black American Cinema: The New Realism. In: Black American Cinema. Hrsg. v. Manthia Diawara. New York/London: Routledge & Kegan Paul, S. 3–25. Douglas, Mary (1966) Purity and Danger: An Analysis of the Concepts of Pollu- tion and Taboo. New York: Praeger. Dyer, Richard (1997) White. London/New York: Routledge. Eisler, Robert (1951) Man into Wolf: An Anthropological Interpretation of Sadism, Masochism and Lycanthrophy. London: Routledge & Kegan Paul. Eliade, Mircea (1975) Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Farin, Michael / Hans Schmid (Hrsg.) (1996) Ed Gein: A Quiet Man. München: Belleville. Freud, Sigmund (1940) Massenpsychologie und Ichanalyse [1921]. In: Gesam- melte Werke. Bd.XIII. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 73–161. – (1947) Aus der Geschichte einer infantilen Neurose [1918]. In: Gesammelte Werke. Bd. XII. Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 29–57. – (1945) Totem und Tabu [1912/13]. In: Gesammelte Werke. Bd. IX. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Göttler, Fritz (1996) Ab nach Texas. In: Farin/Schmid 1996, S. 175–179. Modleski, Tania (1988) The Women Who Knew Too Much: Hitchcock and Femi- nist Theory. New York/London: Methuen. Monaco, James (1979) American Film Now. The People, the Power, the Money, the Movies. New York/London/Scarborough: Plume. Rosenbaum, Jonathan (2000) Dead Man. London: BFI. Sarris, Andrew (1968) The American Cinema, Directors and Directions 1929–1968. New York: Dutton. Shaviro, Steven (1993) The Cinematic Body. Minneapolis/London:University of Minnesota Press. Spindler, Monika (1996) Die geheime Gier des Norman Bates. In: Farin/Schmid 1996, S. 115–119. Viano, Maurizio (1993) A Certain Realism: Making Use of Pasolini’s Film Theory and Practice. Berkeley: University of California Press. Vogel, Amos (1974) Film as a Subversive Art. New York: Random House. [Dt. Ausgabe: Film als subversive Kunst. St. Andrä-Wördern: Hannibal 1997.] Thomas Christen (Fr)Iss und stirb! (Verhindertes) Essen als narratives Strukturelement in Le Charme discret de la bourgeoisie Aperitif: Essen – allein oder gemeinsam oder gar nicht Essen gehört zu den alltäglichen Vorgängen und ist deshalb wie beispielsweise das Schlafen weder aus einer narrativen noch aus einer ästhetischen Perspektive per se interessant. „Es“ geschieht einfach. Auch wenn wir „es“ nicht sehen, neh- men wir doch an, dass „es“ stattfindet, aber zu jenen Teilen gehört, die uns nicht Abb. 1 LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE (DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE, Frankreich 1972, Luis Buñuel). 96 Thomas Christen montage/av gezeigt werden. Es gibt viele Filme, in denen wir nie den Protagonisten beim Essen zuschauen. Das gemeinsame Essen dagegen, besonders mit eingeladenen Gästen, ist zwar auch kein außergewöhnlicher Vorgang, doch er enthält mehr Variationsmög- lichkeiten, ein stärkeres filmisches und narratives Potenzial und weist weit über die bloße Nahrungsaufnahme hinaus. Gäste können sich „daneben“ benehmen, fehlen oder vorzeitig aufbrechen. Das Essen bildet hier gleichsam das Tischtuch, auf dem andere Vorgänge ausgetragen werden – vor allem ritualisierte oder sym- bolische Handlungen. Hinter einem alltäglichen Akt wird das Besondere sicht- bar, spiegeln sich Beziehungen, Herrschaftsverhältnisse, der soziale Status. Ein Spannungsfeld zwischen Alltäglichkeit und Selbstinszenierung entsteht. Die Banalität des gemeinsamen Essens wird jedoch nur selten aufgebrochen, weil etwa die Teilnehmenden sich gegenseitig den Appetit verderben, außer Rand und Band geraten, allem anderen als der Nahrungsaufnahme frönen oder sich gegenseitig mit Essen bewerfen, bekleckern, beschmutzen, erniedrigen. „Mit Essen spielt man nicht“ ist eine elterliche Ermahnung, die wohl die meisten im Kindesalter gehört und verinnerlicht haben. Sie formuliert eines jener Tabus, zu denen sich der Slapstick oder die anarchistische Komödie geradezu verpflich- tet fühlen, sie genüsslich und filmisch höchst ansprechend zu brechen. Nicht-essen-Können dagegen verweist auch im Film auf eine Notsituation – keine Nahrungsmittel mehr, Verweigerung, Krankheit – und macht den Alltags- vorgang plötzlich zu einem zentralen narrativen Element. Aber nicht erst solche Extreme können den roten Faden eines Films bilden. Auch das eher alltägliche bürgerliche Ritual einer Einladung zum Festessen ist für Buñuel ein Grundmus- ter, das in Le Charme discret de la bourgeoisie (Der diskrete Charme der Bourgeosie, Frankreich 1972) letztlich Struktur und Aussage des Films bildet. Entree: Luis Buñuels Spätwerk und die Thematisierung des Erzählens Buñuels letzte Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie neben der surrealisti- schen Provokation und dem gesellschaftskritischen Ansatz sich vermehrt dem eigenen Wesen zuwenden und auch als Meditation über Konventionen der fil- mischen Narration verstanden werden können. Damit gelingt dem Regisseur die schwierige Kombination von Analyse und sinnlicher Umsetzung dieser Analyse im Seherlebnis. Die Konventionen des Erzählsystems werden auf lustvolle Art als solche entlarvt und Selbstverständliches wird in Frage stellt. Das Besondere 10/2/2001 (Fr)Iss und stirb! 97 wirkt dabei weniger als Unzulänglichkeit, als Fehler, denn es erscheint in der Häufigkeit, in der Hartnäckigkeit der Anwendung als (wenn auch unkonventio- nelles) neues System. Le Fantôme de la liberté (Das Phantom der Freiheit, Frankreich 1974) bringt uns buchstäblich zur Verzweiflung, zumindest solange wir konventio- nelle Erwartungshaltungen aufrechtzuerhalten versuchen. Je länger der Film dauert, desto größer wird die Anzahl von losen Enden. Handlungsstränge erfah- ren keine Auflösung, der Regisseur erlaubt sich auch noch den Spaß, wider aller „Vernunft“ jeweils an der „unwichtigsten“ Stelle der Erzählung fortzufahren. Das Fehlen der Erzählhierarchie macht die Existenz von Normen und Erwar- tungshaltungen auf fast schmerzhafte Weise erfahrbar – der Film wird zum Spiel mit den Spielregeln. James Tobias charakterisiert die dominante Struktur in Le Fantôme de la li- berté als „narrative network“, das letztlich mit seiner extensiven Verzweigtheit die Erzählung selbst sprenge und damit ihre Möglichkeiten und vor allem Grenzen deutlich aufzeige (Tobias 1998/99, 13). Der in der Folge ins Zentrum meiner Über- legungen gestellte Le Charme discret de la bourgeoisie (Frankreich 1972) er- reicht das gleiche Ziel mit umgekehrten Mitteln. Er zeichnet sich durch eine zykli- sche Revision einer einzelnen Geschichte aus. Anstelle eines schwindelerregenden Ausuferns tritt ein permanentes Déjà-Vu, das zugleich als narrative Selbstreflexion und vergnügliches Spiel mit Konventionen interpretiert werden kann. Erster Gang: Wiederholtes Nichtereignis In Le Charme discret de la bourgeoisie wird das Thema des gemeinsamen Essens zum Zentrum des Films. Wie das? Wie kann eine solche Banalität zentral werden, ohne dass daraus ein Film aus der Warhol-Factory entsteht? Buñuel unternimmt eine einfache, aber folgenreiche Änderung. Der Plan der sechs Prota- gonisten, sich zu einem gemeinsamen Essen zu treffen, scheitert immer wieder. Verschiedene Gründe hindern sie daran, gemeinsam zu tafeln. Man fühlt sich an Buñuels El Angel exterminador (Der Würgeengel, Mexiko 1962) erinnert. Dort gelingt zwar das gemeinsame Essen, dafür misslingt danach jeder Versuch, den Essensraum wieder zu verlassen. In Le Charme discret de la bourgeoisie wird das Prinzip der Verhinderung eines alltäglichen Vorgangs in ein serielles ein- gebettet und damit zur dominanten Struktur. Der Film besteht, wenn wir verein- fachen und abstrahieren, eigentlich nur aus einer Aneinanderreihung dieses Vor- gangs: Man trifft sich zum verabredeten Essen, „etwas“ verhindert die Durchfüh- 98 Thomas Christen montage/av rung dieses Vorhabens, man geht aus- einander, nachdem man verabredet hat, das Versäumte nachzuholen. Und alles beginnt von vorne. Die Ge- schichte tritt permanent auf der Stelle. Ein wiederholtes Nichtereignis steht im Zentrum – worum geht es in Le Charme discret de la bour- geoisie eigentlich? Wahrscheinlich Abb. 2 Essen in prunkvoller Umge- kaum um den titelgebenden diskreten bung: großbürgerliche Rituale und Charme der Bourgeoisie, was eher Buñuels Dekonstruktion. wie eine surrealistische Wortkombi- nation wirkt. Aber immerhin sind die sechs Hauptprotagonisten unbestreitbar Vertreter des Bürgertums. Und der Film ist voll von bürgerlichen Ritualen. Wie kann ein gemeinsames Essen über- haupt einen Film füllen? Indem es nicht stattfindet, immer und immer wieder. Wiederholung und Variation sind zwei Prinzipien, die Buñuel in vielen seiner Filme zur Anwendung bringt. Hier treffen wir sie in reinster Form an: es gibt kaum etwas anderes (Abb. 2). Sorbet: Langeweile und Vergnügen Bevor wir uns diese ungewöhnliche Struktur des wiederholten Nichtereignisses genauer anschauen, greife ich zwei Punkte auf, welche die zeitgenössische Rezeption Mitte der siebziger Jahre betreffen. Ein Teil der damaligen Filmkritik reagierte ziemlich hilflos auf Buñuels drittletzten Film, Le Charme discret de la bourgeoisie. Man ahnte zwar teilweise, dass das Werk – anders als frühere Filme des Regisseurs – keine eigentliche Story besaß, und suchte nach etwas anderem. John Simons süffisanter Titel seiner Besprechung in der New York Times vom 25. Februar 1973 ist in dieser Beziehung modellhaft: „Why is the co- eatus always interruptus?“ Die Parallelisierung von Essen und Sexualität ist nicht besonders originell, zumal sie der Film selbst anbietet. Einer der Gründe für das Scheitern des Essens liegt in der Lust der Gastgeber aufeinander, woraus eine Unlust, sich den wartenden Gästen zu widmen, resultiert, was wiederum diese um die Lust bringt, Gäste zu sein, und sie zum Verlassen des Hauses der Gastgeber ohne Vollzug des Besuchsgrundes veranlasst. Doch die Frage nach dem Warum des Scheiterns ist letztlich eine vordergründige und unergiebige. „Where is the joke?“, fragt Kritiker Simon und führt an, dass etwas nur dann 10/2/2001 (Fr)Iss und stirb! 99 lustig sein könne, wenn es etwas mit der Realität zu tun habe. Das serielle Schei- tern eines gemeinsamen Essens – das wisse doch jeder – gebe es in der alltägli- chen Realität nicht. Hätte Simon sich an Buñuels Frühwerk mit Filmen wie Un Chien andalou (Frankreich 1928) oder L’âge d’or (Frankreich 1930) erin- nert, so wäre er vielleicht auf die Idee gekommen, dass der Regisseur nicht Reali- tät und Wahrscheinlichkeit als primäre Referenzen für sein Werke definiert, sondern sich vielleicht sogar ein Vergnügen daraus macht, den Zuschauer aufs Glatteis zu führen. Einer der ersten Zwischentitel in Un Chien andalou lautet „Es war einmal ...“. Statt der erwarteten Geschichte folgt etwas sehr Merkwür- diges, darunter der berühmte Schnitt durch das Auge einer Frau. Was Simon als langweilig, einfallslos, als Werk eines alten Mannes klassifizierte, der keine Ideen mehr habe, sondern nur noch mit Wiederholungen operiere, fand allerdings den Weg zum Publikum recht problemlos. Der Film ohne rechte Ge- schichte scheint andere als narrative Lüste aktivieren zu können, sicherlich die Lust am Verstoß gegen Erzählkonventionen. Vielleicht erweckt der Film aber auch so etwas wie die Lust am „Text“ per se, am Vorgang des Geschichtenerzählens an sich, der hinter dieser Null-Geschichte sichtbar wird, an deren Protagonisten mit- wirken, die noch stärker als in anderen Filmen von Buñuel über keinerlei psycho- logisches Profil verfügen, denen man ihr „Protagonistensein“ jederzeit ansieht. Aber da finden wir auch noch die schönste aller Freuden – die Schadenfreude. Buñuels „Gemeinheit“ besteht darin, dass er die Bourgeoisie aufs Essen redu- ziert und das gemeinsame Dinieren permanent verhindert. Komik entsteht, wel- che die anarchistischen Untertöne des Buñuelschen Sprengsatzes etwas mildert.1 Und Hollywoods Filmschaffende krönten diese eher komplexe Konstruktion einer Postachtundsechziger-Attacke mit der Verleihung des Academy Awards an Le Charme discret de la bourgeoisie in der Sparte „Bester fremdsprachi- ger Film“ im Jahre 1973. Zweiter Gang: Sechs (oder mehr) Protagonisten suchen ein gemeinsames Essen Der Anfang des Films weist noch keine Besonderheiten auf, die darauf hinwei- sen würden, dass nicht die eigentliche Geschichte, sondern die Variation dieser Geschichte, das Spiel mit dieser Geschichte im Mittelpunkt stehen. Einer Fahrt 1 Das unablässige Scheitern eines Vorhabens besitzt nicht nur eine tragische Komponente, son- dern ist auch ein Muster für Komik. Buster Keaton zum Beispiel versucht in One week (USA 1920) während des gesamten Films, ein Eigenheim zu bauen. Seine Beharrlichkeit trägt jedoch keine Früchte, am Ende steht er mit leeren Händen da. 100 Thomas Christen montage/av durchs nächtliche Paris schließt sich der Besuch des Ehepaars Thévenot mitsamt Schwester Florence sowie Don Rafaele Acosta, Botschafter von Miranda, bei den befreundeten Sénéchals an. Doch Madame Sénéchal ist sichtlich irritiert. Da müsse ein Missverständnis vorliegen: das Diner sei erst an nächsten Abend geplant, zudem sei der Gatte gar nicht anwesend.2 Doch einer der ungebetenen Gäste weist darauf hin, dass er sich ganz sicher sei, denn am nächsten Tag sei er selbst verpflichtet und hätte deshalb nie zugesagt. Was nun? Sénéchals und Thé- venots gehören zum Großbürgertum. Diners lassen sich nicht einfach so impro- visieren; Logistik und Personal spielen eine wichtige Rolle. Also entschließt man sich, das verpatzte Diner in einem standesgemäßen Restaurant nachzuholen. Madame Sénéchal wird dazu überredet, das Quartett zu begleiten. Mit diesen wenigen Sätzen lässt sich der narrative Kern des Films beschreiben. Alles, was folgt, sind Wiederholungen und Variationen dieser Grundgeschichte. Mangels Alternativen wird das Motiv des verhinderten Diners zum Strukturele- ment des Films. Sein Sinn erschließt sich nicht aus dem, was geschieht, sondern daraus, wie der Regisseur es schafft, diese an sich bedeutungslose, aber poten- ziell äußerst vielfältige Grundidee auf über neunzig Minuten auszuwalzen. Un- ser Interesse an der Geschichte erschöpft sich bald, wichtiger werden Konstru- iertheit von Geschichten und die Mechanismen, die ansonsten im Verborgenen wirken. Das Funktionsprinzip von Le Charme discret de la bourgeoisie er- scheint äußerst einfach: es besteht im Wunschverlangen (Dinieren) und in der Unfähigkeit, dieses Vorhaben durchzuführen. Die daraus entstehende Frustra- tion wird meistens mit in der Reformulierung des Wunsches gemildert. In der zweiten Episode lassen nicht Missverständnisse oder mangelhafte Koor- dination das Essen platzen, sondern äußere Umstände. Zu fünft sucht man das be- sagte Nobelrestaurant auf, wundert sich aber bald, dass keine weiteren Gäste zu sehen sind. Doch die Speisekarte ist verlockend. Dennoch spüren die Gäste bald, dass etwas nicht stimmt. Das Personal klärt sie darüber auf, dass ihr Patron heute verstorben sei und in einem Nebenraum aufgebahrt liege. Das mit dem Essen sei 2 Buñuel nennt als Quelle für diese Ausgangsidee ein reales Erlebnis seines Produzenten Serge Sil- berman: „Wir suchten nach einem Vorwand für eine sich wiederholende Handlung, als Silber- man uns etwas erzählte, was ihm passiert war. Er hatte Leute zu sich zum Essen eingeladen, sa- gen wir an einem Dienstag, vergaß aber, es seiner Frau zu sagen, und vergaß außerdem, dass er an diesem Dienstag woanders zum Essen eingeladen war. Die Gäste kommen also mit Blumen beladen gegen neun Uhr an. Seine Frau ist im Negligee, weiß von nichts, hat selbst schon gegessen und will ins Bett gehen. Daraus entstand die erste Szene von Der diskrete Charme der Bourgeoisie. Man brauchte das nur weiterzuentwickeln, sich verschiedene Situationen auszudenken – ohne der Wahrscheinlichkeit allzuviel Gewalt anzutun –, in denen eine Gruppe von Freunden Gelegenheit zu einem gemeinsamen Essen zu finden versucht, was ihr aber nicht gelingt. Die Arbeit war sehr langwierig.“ (Buñuel 1985, 240) 10/2/2001 (Fr)Iss und stirb! 101 kein Problem, aber nun ist den Gästen der Appetit vergangen. Nicht der Ter- min, wohl aber die Atmosphäre stimmt nicht. Man ist am falschen Ort. Dritter Gang: Wiederholungen und Variationen Abb. 3 Rien ne va plus: vergeblicher Der dritte Anlauf zum gemeinsamen Versuch, Getränke zu bestellen. Essen zwischen den Sénéchals, den Thévenots und Botschafter Acosta ist als direkten Ersatz für die Einladung zu Beginn des Films zu sehen. Diesmal scheinen die Voraussetzungen besser zu sein: der Hausherr ist anwesend, das Personal bereitet das Diner vor, doch – die Gastgeber haben anderes im Sinn, sie möchten just in dem Moment miteinander Sex haben, als die Gäste auftauchen. Also hält man sie hin und geht abenteuerliche Wege, um die Lust aufeinander befriedigen zu können. Den Gästen reißt schließlich der Geduldsfaden, sie glau- ben an ein erneutes Missverständnis und ziehen sich zurück. Als die Sénéchals nach ihrem Abenteuer im eigenen Garten wieder ins Haus schleichen, sind die Gäste weg. Dafür meldet sich ein Bischof, der bei ihnen Gartenarbeiten verrich- ten möchte. In der vierten Essensszene findet eine erste größere Variation statt. Das Kern- personal wird dabei halbiert und beschränkt sich auf die drei Frauen. Statt um Essen geht es hier um Trinken. Madame Sénéchal und Thévenot samt Schwester treffen sich in einem Café, das diesen Namen nicht verdient. Denn es gibt weder Kaffee noch Tee noch alkoholische Getränke zu konsumieren. Die Damen er- fahren dies erst eine Weile, nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hat. Er begründet das vorübergehende Ausgehen der Getränke mit der unge- wöhnlichen Nachfrage an diesem Tag. Den Zuschauer erinnert die Szene an ein Spiel, das nicht zu gewinnen ist (Abb. 3). Die fünfte Diner-Sequenz kann als Weiterführung der dritten respektive der ersten interpretiert werden. Diesmal führt nicht ein Missverständnis oder die Unlust der Gastgeber zum Scheitern des Vorhabens, sondern das Militär. Diese Störung taucht erst im letzten Moment auf, als man schon vereint am Tisch Platz genommen hat. Störungen können beseitigt werden. Man lädt die Soldaten zu Tisch, die intime Runde wandelt sich zu einer Massenversorgung. Doch da trifft der Befehl ein, das Manöver zu beginnen. Die abrückenden Militärs würden zwar den ursprünglichen Zustand wiederherstellen, doch aus den militärischen Ak- 102 Thomas Christen montage/av tionen resultieren Emissionen, die ein gemütliches Nachtessen verunmögli- chen (Abb. 4). Als Entschädigung lädt der verantwortliche Colonel die erneut um ihr Diner gebrachte Gesellschaft in sein Haus ein – nächste Woche. Abb. 4 Lästig: Das Militär stört immer Vierter Gang: Traum und wieder das Essen. Traum im Traum Missverständnis – unpassende Situa- tion – Unlust – Mangel – Störung: so könnten wir die Kette der Hinderungs- gründe für das gemeinsame Essen nennen, die Le charme discret de la bour- geoisie bislang präsentiert hat. In der sechsten Variante gibt es gar nichts zu essen, das Speisezimmer erweist sich als Theaterbühne. Wenn sich im Hinter- grund der rote Vorhang öffnet, sehen sich die Gäste einem Publikum gegenüber, das von ihnen erwartet, dass das Spiel beginnt (Abb. 5). Doch die Gäste kennen weder die Rolle, die sie zu spielen, noch den Text, den sie zu sprechen haben. Fluchtartig verlassen sie die Bühne, was das Publikum mit Buhrufen quittiert. Zum ersten Mal im Film wird hier die Distanz zur Wirklichkeit deutlich sicht- bar. Dieser sechste Versuch erweist sich als Traum oder vielmehr als Traum im Traum, denn auch Versuch Nummer sieben wird sich als Alptraum zu erkennen geben. Es kommt zu einer Neuauflage der Einladung beim Colonel. Dieser beleidigt Botschafter Acosta, wahrlich kein Mann von Ehre, doch mit Prinzi- pien. Acosta erschießt den Colonel. Hier erreicht die Variation einen Punkt, an dem die Geschichte enden könnte, weil die ursprüngliche Gesellschaft der sechs Protagonisten sich nach dem Vorfall wohl nicht mehr treffen könnte. Zum Glück erweist sich auch diese Variante als Traum, und der Film kann weitergehen. Im achten Versuch interveniert wie- derum die Außenwelt. Eher beiläufig haben wir im Verlaufe des Films er- fahren, dass die drei männlichen Haupt- protagonisten in den Drogenhandel Abb. 5 Die Bourgeoisie sucht ihre Rol- verwickelt sind, Acosta unter Miss- le – Essen vor Publikum. brauch seines diplomatischen Status. 10/2/2001 (Fr)Iss und stirb! 103 Nun schlägt aber die Polizei völlig unerwartet zu – ausgerechnet beim nächsten Versuch, ein gemeinsames Mahl einzunehmen. Der Reihe nach werden alle verhaftet, auch die Frau- en. Doch der Aufenthalt im Gefäng- nis ist nur von kurzer Dauer. Nicht ein Traum, sondern der Innenminis- ter interveniert und befiehlt die Frei- Abb. 6 Botschafter Acosta lockt das lassung. Buñuels Bourgeoisie handelt Gigot trotz Todesgefahr. zwar kriminell und unmoralisch, doch sie ist staatstragend. Fünfter Gang: Es gelingt – fast Die neunte Auflage scheint zu gelingen. Wie zu Beginn ist man bei den Sénéchals versammelt. Die Gastgeberin kümmert sich persönlich um das leckere Mahl und macht sich Sorgen, dass ihr Gigot zu stark durchgebraten sein und damit zäh werden könnte. Und tatsächlich beginnt man zu essen. Während der Zuschauer sich überlegt, ob mit dieser Variante nun das Scheitern aufgehoben sei oder wel- che Störung, welches Missgeschick wohl noch möglich sein könnte, welche Variation uns noch fehlt, zeigt uns der Film diese. Terroristen unklarer Prove- nienz dringen in das Haus und erschießen mit Maschinengewehren alle am Tisch sitzenden Personen. Botschafter Acosta hat sich Sekunden zuvor instinktiv unter den Tisch zurückgezogen und bleibt dort vorerst verborgen, geschützt durch das Tischtuch. Doch sein Heißhunger auf das wunderbare Gigot über- windet die Todesgefahr. Er greift nach einem Stück auf dem Tisch (Abb. 6), ver- rät sich so und erleidet das gleiche Schicksal wie seine Mitgäste (Abb. 7). Das Prinzip der Wiederholung greift nun auch auf die faulen Tricks über, sich aus einer solch aussichtslosen, terminalen Situation zu retten. Wiederum erweist sich das Geschehen als Alptraum des Botschafters. Dieser schickt das aufge- schreckte Personal wieder ins Bett zurück. Er selbst begibt sich in die Küche, öffnet den Kühlschrank und schneidet ein Stück Braten ab. Endlich kann er es- sen, alleine. 104 Thomas Christen montage/av Nachtisch: Utopie Buñuel weist in seinen Erinnerungen darauf hin, dass es in den Variationen Le Charme discret de la bourgeoisie darum ging, „das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen der Realität der Situation, die logisch und alltäglich sein musste, und der Häufung von unerwarteten Widerständen, die aber nie phantas- tisch oder ausgefallen wirken sollten“ (1983, 240). Die Wahl eines alltäglichen Vorgangs (Essen) reduzierte die Komplexität gründlich, sicherte aber einen genügend großen Spielraum und stellte zudem die gesellschaftliche Anbindung sicher. Die schiere Reduktion des Bürgertums auf das Essen, auf die Rituale des Dinierens, raubt ihm jedoch jegliche Relevanz und gibt es einer tödlichen Lächerlichkeit preis, wenn dieses sinnstiftende Unternehmen immer und immer wieder scheitert. Anders als andere gesellschaftskritische Filme der späten sech- ziger und siebziger Jahre wählt der Regisseur hier nicht den Weg des direkten Angriffs. Er thematisiert Machtmissbrauch, Ausbeutung, überholte und verlo- gene Moralvorstellungen und das Fehlen eines sozialen Verantwortungsbe- wusstseins nur ganz am Rande – in Einstellungsfolgen, die eher als Überleitung zwischen den einzelnen Essenszenen dienen und marginal erscheinen. Buñuel hält der Bourgeoisie nicht ihre Fehler vor, er gibt sie der Lächerlich- keit preis, indem er sie filmisch demontiert. Nichts funktioniert mehr, nicht ein- mal die einfachsten Vorgänge. Die mehrfach eingestreuten Bilder, welche die Protagonisten orientierungslos auf einer einsamen Landstrasse zeigen und auch den Schluss des Filmes bilden, weisen in dieselbe Richtung. Sie besitzen keine manifeste narrative Bedeutung, sie treiben die Geschichte nicht weiter, sondern unterstreichen die völlige Desorientierung und Bedeutungslosigkeit. Le Char- me discret de la bourgeoisie ist vielleicht als später (und diskreter) Traum vom Verschwinden des Bürgertums zu verstehen. Ironischerweise scheint dazu gar kein Umsturz nötig, da sich der Klassenfeind selbst ums Funktionieren bringt. Die Welt der Bourgeoisie in den letzten Filmen Buñuels klammert sich an eine Ordnung, die sich nicht mehr aufrechterhalten lässt. Mit sichtbarer Freude am Spiel zerstören die Filme alles, was für ein reibungsloses Funktionieren nötig wäre. Diese Dekonstruktion geht so weit, dass sie auch die Erzählstruktur selbst erfasst. Das hartnäckige Festhalten an Konventionen, das fast trotzige Jetzt-erst-Recht oder der Versuch, die Fehler und Missgeschicke einfach zu ignorieren, wirken nur noch lächerlich oder steigern sich geradezu ins Groteske. Die permanente Wiederholung des Plans zu einem gemeinsamen Essen in Le charme discret de la bourgeoisie führt nicht zur Belohnung der Hartnä- ckigkeit in der Wunscherfüllung, sondern zur Steigerung des Misserfolgs. Die 10/2/2001 (Fr)Iss und stirb! 105 Abb. 7 LE CHARME DISCRETE DE LA BOURGEOISIE (DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE, Frankreich 1972, Luis Buñuel). Modellsituation, die uns der Film zeigt, ist deutlich als eine gedankliche Kon- struktion erkennbar, als ein zum Film gewordenes Gedankenspiel. Eine diskrete Dekonstruktion der Bourgeoisie? Oder durchzieht den Film in einem eher melancholischen Subtext die Einsicht, dass Fantasie und Imagination stumpfe Waffe seien, um gesellschaftliche Verhältnisse grundsätzlich zu verän- dern – lediglich ein karnevaleskes Ventil? Literatur Buñuel, Luis (1983) Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Königstein: Athenäum [ursprünglich: Mon Dernier soupir, 1982]. – (1992) Die Erotik und andere Gespenster. Nicht abreißende Gespräche mit Max Aub. Berlin: Wagenbach [ursprünglich: Conversaciones con Buñuel, 1985]. Jansen, Peter W. et al. (1975) Luis Buñuel. München/Wien: Hanser. 106 Thomas Christen montage/av Jolly, Martine (1991) Le Charme discret de la répétition. In: Vertigo, 6/7, S. 105– 110. Kinder, Marsha (Hrsg.) (1999) Luis Buñuel’s THE DISCREET CHARM OF THE BOURGEOISIE. Cambridge: Cambridge University Press. Rosenbaum, Jonathan (1972/73) Interruption as Style: Buñuel’s Le Charme Discret de la Bourgeosie. In: Sight and Sound 41,1, S. 2–4. Simon, John (1973): Why Is the Co-Eatus Always Interruptus? In: The New York Times v. 25.2.1973 [nachgedruckt in: Kinder (1999, S. 191–195)]. Tobias, James (1998/99) Buñuel’s Net Work: Performative Doubles in the Impossible Narrative of The Phantom of Liberty. In: Film Quarterly 52,2, S. 10–22. Heinz-Jürgen Köhler Der Teufel hat den Schnaps gemacht ... ... um uns zu stärken: Trinken und Kämpfen in Jackie Chans Drunken Master-Filmen „Übe fleißig, und vergiss nicht, ab und zu ein Gläschen zu trinken.“ Wong Fei-hong ist ein chinesischer Volksheld. 1847 wurde er in Kanton gebo- ren, sein Vater war ein berühmter martial arts-Meister. Vom Lehrmeister seines Vater lernte Wong die Kunst des Kämpfens, er wurde darüber hinaus auch als Heiler berühmt: „He combined his martial arts skills with Confucian philoso- phy and a knowledge of the healing arts“, urteilt denn auch Logan (1995, 10). Wong starb 1924 im Alter von 77 Jahren. Noch zu Lebzeiten wurde er der Held von Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen und nach dem Zweiten Weltkrieg auch von Film-serials, ein „all-around Confucian role model“ (Fore 2001, 124). Und wiederum bei Logan heißt es: „This martial arts superman has dominated Cantonese entertainment since the turn of the century“ (1995, 10). 1956 wurden 25 Wong Fei-hong-Filme in Hongkong produziert, 1970 immer noch 26. Wong wurde ein „real life hero who has been exaggerated in Chinese cinema to the point of comparing him to Robin Hood in America“ (Gentry 1997, 21). Bis auf zwei Ausnahmen spielte in all diesen Filmen Kwan Tak-hing, ein früherer Kan- ton-Opern-Star, die Hauptrolle. Er war auch der Titelheld einer ab 1970 laufen- den Fernsehserie. Ab 1991 war Jet Li als Wong Fei-hong zu sehen in der von Tsui Hark produzierten (und teils auch inszenierten) Once Upon A Time in China-Reihe. Wong Fei-hong war also eine populäre und geachtete Figur, als Jackie Chan und Regisseur Yuen Woo Ping 1978 ein neuerliches Abenteuer rund um den Kämpfer drehten. Sie fanden gemeinsam mit Drehbuchautor Hsiao Lung einen irrwitzigen Kniff, um bei den Filmzuschauern erneutes Interesse hervorzuru- fen, weckten aber auch Skepsis einem modifizierten Wong gegenüber. Ihr Wong zeigt „no signs of anything that the real or the cinematic Wong would do except for having a good heart“ (ibid.). Er ist kein strahlender Held, kein mit sich im Einklang befindlicher Kämpfer, sondern ein junger aufsässiger Tunichtgut, der 108 Heinz-Jürgen Köhler montage/av in einer langen und schmerzhaften Ausbildung erst die Kunst des Kämpfens ler- nen muss – die ungewöhnliche Kampftechnik des drunken boxing. Jackie Chan urteilt rückblickend in seiner Autobiographie: Wong Fei-hong ist einer von Chinas berühmtesten Volkshelden – bewun- dert für seine Kampfkunst, seine Heilerfähigkeiten und seinen Mut. Es war deshalb ein ziemliches Sakrileg, ihn hier als jungen Taugenichts dar- zustellen. Das Publikum war zwar ein wenig irritiert, fand meinen Wong aber witzig und erfrischend. (Chan 1998, 340) Und so schuf Chan in dem an schillernden Figuren ohnedies nicht armen Kos- mos des asiatischen Actionkinos (einarmige Kämpfer, der blind swordsman) einen sehr kuriosen Helden, einen Kämpfer, der erst saufen muss, um kämpfen zu können: „Dominierte in anderen Filmen dieses Genres die fernöstliche Mys- tik und Religion, so baut der trinkfeste Meister seine Techniken nach dem Vor- bild mehrerer Götter auf, deren gemeinsames Merkmal die Vorliebe für Reis- wein bildet“, stellte seinerzeit etwas irritiert das deutsche Branchenblatt Filmecho fest (zit. n. Moser 2000, 65). Das erste Drunken Master-Abenteuer erzählt die für martial arts-Filme typi- sche Geschichte eines Lern- und Unterordnungsprozesses. Ein junger Mann, der ein guter, aber eben kein ausgezeichneter Kämpfer ist, muss die wesentlichen Din- ge der Kampfkunst erst noch lernen: Konzentration, Demut, Respekt. Der Wong Fei-hong des damals 25 Jahre alten (aber deutlich jünger wirkenden) Jackie Chan ist von diesem Ideal weit entfernt: Er ist ein echter Rüpel, er ärgert seinen Kampf- lehrer, gibt vor seinen Freunden an, neckt eine junge Dame und prügelt sich gar mit deren Mutter. Als seinem Vater, dem strengen Besitzer der Kampfschule, die Wong selbst auch besucht, dies zu Ohren kommt, schickt er den Sohn zu seinem Bruder, einem Kampfkunstmeister, dem der Ruf des gnadenlosen Schleifers vo- rauseilt. Wong versucht, dieser Prüfung zu entkommen und haut ab. Doch der Zufall (sein Schicksal?) führt ihn zu ebenjenem So Hak Yee (gespielt von Simon Yuen Siu Tin). Er kämpft erst einmal mit dem vermeintlich chancenlosen Alten, verliert natürlich und bekommt eine erste Kostprobe jener Kampfkunst serviert, die auch er lernen wird. Der struwwelhaarige Alte kämpft routiniert und mühe- los, er ist beweglich, hat Übersicht und hält den jungen Burschen mühelos in Schach. Dabei nimmt er immer wieder mal einen Schluck aus seiner Kalebasse. Kämpfen und Trinken werden zu einer harmonischen Bewegungseinheit, das Trinkgefäß mitsamt des Trageriemens wird zur Waffe bzw. zur Fessel. Der Demütigung, gegen einen besoffenen Alten zu unterliegen, folgen weite- re. Mit unnachsichtiger Härte übernimmt So Hak Yee Wongs Ausbildung und 10/2/2001 Der Teufel hat den Schnaps gemacht ... 109 dabei, so könnte man kalauern, predigt er seinem Schüler Wasser und trinkt selbst Wein: Der rotnasige alte Mann liegt in der Sonne, genehmigt sich ab und zu ein Schlückchen und lässt seinen Schüler Gleichgewichts- und Kraftübungen vollführen, die überwiegend mit Wasser zu tun haben. Auf den Rändern von vier fast mannshohen Krügen balancierend, muss Wong Wasser von einem in den anderen gießen; kopfüber an einem Gestell aufgehängt, muss er mit einer Teeschale Wasser von einem Eimer, der auf dem Boden steht, in einen anderen schöpfen, der an seinen Füßen aufgehängt ist. Eine lange, schmerzensreiche Zeit der Körperertüchtigung vergeht, bis Wong endlich das eigentliche Kämpfen üben darf. Aber irgendwann ist es soweit: Wong genehmigt sich einige Schalen Reiswein und darf sich in den Übungen der “Acht trunkenen Meister” versu- chen. Zunächst wollen ihm die Vorteile dieser Kampftechnik nicht einleuchten, und er macht Witze darüber. Doch er übt fleißig weiter, und im Kampf mit di- versen Streithähnen zeigt sich dann doch die Überlegenheit des drunken boxing. Aus Wongs Hass gegen den unbarmherzigen Lehrer wird schließlich Zunei- gung, und er ist traurig, als der Alte ihn nach einem Jahr fortschickt. Und mit sei- nem Vater söhnt sich Wong am Ende des Films auch aus: Ein Profikiller will den Vater töten, Wong kommt dazu und rettet ihn. So kurios das hier gezeigte Bild des Kämpfers, so ungewöhnlich ist auch das Bild, das der Film vom Alkoholkonsum zeichnet. Am Anfang ist Wong ein Rauf- aber eben kein Saufbold, der Alkohol gehört nicht zum Auffälligkeitsbild eines ungehobelten jungen Burschen – er wird Teil von dessen Resozialisation. Der Film etabliert ein Paradoxon, bringt Unvereinbares zusammen: die Körper- beherrschung des martial arts-Kämpfers mit dem Kontrollverlust des Trinkers, das Maßhalten mit der Maßlosigkeit, die Strenge der Körperertüchtigung mit dem Über-die-Stränge-Schlagen. Der pure Kampf als ein Versuch, einen Gegner zu besiegen, wird um ein circensisches Element bereichert, unterstrichen wird dies im zweiten Teil durch einen Kampf in einer expliziten Aufführungssituati- on vor Publikum. Drunken Master verortet die Figur des Wong Fei-hong au- ßerhalb des realistischen Erfahrungskosmos, denn natürlich geht das eigentlich nicht zusammen: Saufen und Kämpfen. Und er stellt seinen Wong Fei-hong be- wusst nicht in eine Reihe mit Kämpferfiguren wie sie etwa Chans Vorgänger in der Publikumsgunst und sein großes Vorbild Bruce Lee geprägt haben: Die nämlich hatten ihre Kampfkunst in mönchischer Abgeschiedenheit und Be- scheidenheit ausgebildet. Gefahren des Alkohols werden kaum angesprochen, hier gibt es keine Pro- bleme mit dem Trinken, sondern nur ohne: Als ihm der Wein ausgeht, bekommt So Hak Yee zittrige Hände und kann sich nicht mehr richtig gegen Angreifer 110 Heinz-Jürgen Köhler montage/av verteidigen. Wongs Rückkehr vom Einkaufen mit vollen Krügen rettet ihn. „Ich brauche halt mein Quentchen“, so der Alte. Der erste Drunken Master-Film bedeutete für Jackie Chan den Durchbruch als asiatischer Superstar und stand Pate für seine nächsten Rollen: „Chan’s clownlike characterization of [...] the mischievous kung fu kid was to stay with him for several years“ (Teo 1997, 124). 1991 drehte Regisseur und Produzent Tsui Hark Once Upon A Time In China, mit Jet Li als – nüchternem – Wong Fei-hong in der Hauptrolle. Der Film wurde ein Riesenerfolg, machte Jet Li zum Star und nach Jahren zeitgenössischer Actionfilme das period piece wieder populär. Jackie Chan, der für Once Upon A Time In China II (1992) den Song unter den Abspanntiteln sang, sprang 1994 auf den historischen Zug auf und drehte Drunken Master II mit dem Shaw Brothers-Regieveteranen Lau Kar- leung. Der kam aus alter martial arts-Filmschule und war es gewohnt, ohne Stuntdoubles und wire effects zu drehen. Mit ihm sollte ein „handgemachter“, allein durch seine Kampfkunst überzeugender Film entstehen, was auch gelang: „The Films before Drunken Master II had their moments, but no one thought Chan could perform some of his most blistering marial arts action in years“ (Gentry 1997, 110). Diese Fortsetzung nun zeigt ein etwas anderes Bild vom Trinken und vom drunken boxing. Der inzwischen 41-jährige Chan spielt wiederum (und durch- aus glaubwürdig) den etwa mittzwanzigjährigen Wong. Er lebt nach wie vor bei seinem strengen Vater, der inzwischen ein Heiler und Kräuterdoktor geworden ist und deshalb sehr besorgt um seinen Ruf. Wong ist vielleicht etwas ruhiger ge- worden, aber immer noch nicht so entspannt, wie der Vater es gern hätte. Am Anfang des Films firmieren Wong und ein Angestellter seines Vaters als ein trot- teliges Duo. Bei einer Zugfahrt verstecken sie eine Ginsengwurzel, die sie für ei- nen Patienten des Vaters gekauft haben, im Gepäck eines reichen Mannes, um sie nicht verzollen zu müssen (Reiche zahlen hier keinen Zoll). Das Päckchen mit der Wurzel wird mit einem anderen vertauscht, darin: ein wertvolles altes Jade- siegel. Diese Verwechslung gibt den Anstoß für die Geschichte. Das drunken boxing ist Wong streng untersagt. Zunächst hält er sich an dieses Verbot: Der Herausforderung durch einen Markthändler kann er gerade noch widerstehen. Zweierlei führt ihn dann aber doch zu dieser Kampftechnik zu- rück: die Abgefeimtheit der Schurken und seine übermütige Stiefmutter (Anita Mui in einer umwerfend komischen Rolle), die ihn deckt. Die Bösewichter steh- len der Stiefmutter in einem Hotel eine wertvolle Kette. Klar, dass Wong diese zurückholen will. Die versammelten Hotelgäste bieten ein ausgezeichnetes Pub- likum, und so überredet die Stiefmutter Wong dazu, eine Kostprobe des drun- ken boxing zu zeigen. Dabei verproviantiert sie ihn großzügig mit Flaschen aus 10/2/2001 Der Teufel hat den Schnaps gemacht ... 111 der Hotelbar. Doch diesem Kampf folgt ein tiefer Fall: Besoffen greift er seinen Vater an, der ihn daraufhin – und weil der Schwindel mit der versteckten Gin- sengwurzel inzwischen aufgeflogen ist – aus dem Haus wirft und nicht mehr als Sohn anerkennen will. Traurig zieht Wong von dannen. In einem Restaurant lässt er sich voll laufen, die Schurken lauern ihm auf, verprügeln Wong, der so betrunken ist, dass er sich nicht mehr wehren kann, und stellen ihn bewusstlos im Dorf aus. Sie binden ihn an einen Torbogen und hängen ihm ein Schild um: Der König des drunken boxing. Wong schwört dem drunken boxing ab. Nach dieser erlittenen Schmach und Wongs ehrlich gemeinten Vorsätzen, die Finger vom drunken boxing zu lassen, braucht es nun eine besondere Heraus- forderung, damit Wong doch wieder in seiner Spezialdisziplin kämpft. Er wird um etwas Hehres gegen müssen. In diesem Fall stellen Europäer die Herausfor- derung dar, die – zu Beginn des 20. Jahrhunderts – chinesische Kunstschätze au- ßer Landes schmuggeln wollen und die chinesischen Arbeiter in einem Stahl- werk ausbeuten. Und es geht gegen einen starken und gefährlichen Gegner, den mit den Europäern kollaborierenden Ah-jan (Johnny Lo), der eine virtuose Fußtechnik beherrscht und sich die Gegebenheiten des Stahlwerks brutal im Kampfe zunutze macht: Er schlägt Wong mit heißen Stangen und wirft ihn auf glühende Kohlen. Bei diesem übermächtigen Widersacher und den großen Schmerzen, die Wong erleidet, muss ein anderes Wässerchen her: der Industrie- alkohol, der im Stahlwerk zum Anfachen des Feuers benutzt wird. Allein Wongs Griff zum Schnaps ändert den Kampfverlauf, und der bislang gnadenlose Gegner sieht voller Respekt dem Schauspiel zu: Wong trinkt, er spuckt Feuer und atmet Blasen aus. Er ist nun unbesiegbar – und liefert sich mit Ah-jan einen Kampf, der in seiner Virtuosität im Oeuvre Jackie Chans wohl unübertroffen ist. „Mimicking the ways of a drunkard, the proponent sways back and forth to keep his […] opponent on guard“, fasst Gentry (1997, 186) das drunken boxing. Kung-Fu-Stile orientieren sich häufig an den Bewegungsabläufen von Tieren (der Kranich, der Affe), die Kampffiguren des drunken boxing gemahnen an die Bewegungen eines Betrunkenen: „One’s fingers hook into imaginary wine-cup supports, and the face freezes with the determination of the terminally potted trying to stay upright as the body sways violently“, beschreiben Hammond und Wilkins den eigenwilligen Stil (1996, 118). Die Funktion des Trinkens in Hin- blick auf den Kampf besteht darin, die Bewegungen flüssig und für den Gegner unberechenbar zu machen. Der trunkene Wong taumelt – im ersten Teil – in Po- sitionen wie „Der Trinker mit den eisernen Händen“, „Der Säufer mit dem Weinkrug im Arm“ und „Der Säufer mit dem flinken Arm, der tödliche Schläge austeilt“ oder in die besonders groteske Figur „Betrunkene Tänzerin mit dem 112 Heinz-Jürgen Köhler montage/av Abb. 1–4 Kampffiguren des drunken boxing: Jackie Chan in DRUNKEN MASTER. geschmeidigen Körper“ – „with a high-pitched voice and ladylike gestures“ (Gentry 1997, 23) (Abb. 1–4). Solche kuriosen Kampftechniken sollen den Gegner verwirren und ihn in fal- scher Sicherheit wiegen. Wer hätte schon Respekt vor einem taumelnden Gegenüber? In Drunken Master II kommt dann eine weitere Funktion des Alkohols dazu: die Unempfindlichkeit Schmerzen gegenüber. Im zweiten Teil wird das drunken boxing explizit einer anderen Kampftech- nik gegenüber gestellt, dem hung gar, „one of five southern styles of kung fu“ (ibid., 186), einer traditionellen Kampftechnik, derer sich der historische Wong Fei-hong bediente. Der von Regisseur Lau Kar-leung dargestellte Meister Fu kämpft im hung gar-Stil. Wong und Fu liefern sich einen ersten Kampf auf den Gleisen unter einem Zug, während dieser auf offener Strecke hält. Später treffen sich die beiden wieder, Wong erkennt in Fu einen Verbündeten im Kampf gegen die plündernden Europäer. Gemeinsam schlagen sie schließlich eine Gruppe mit Äxten bewaffneter Angreifer in die Flucht, was jedoch Fu nicht überlebt. Das drunken boxing wird im ersten Film als ein Stück Tradition gezeichnet, als eine nicht allzu weit verbreitete Disziplin, die ein – ziemlich kurioser – alter Mann an einen jungen weitergibt. Dieser traditionelle Aspekt wird im zweiten Teil noch verstärkt – durch einen Gegner von außen: Hier nun ist das drunken 10/2/2001 Der Teufel hat den Schnaps gemacht ... 113 boxing eine chinesische Geheimwaffe gegen böse Europäer und ihre chinesi- schen Kollaborateure. Daneben ist es eine Attraktion, die etwa eine Markthänd- lerin oder Wongs Stiefmutter vorgeführt sehen wollen. Ausschließlich im zwei- ten Teil werden die Gefahren des Trinkens angesprochen, die physisch-psychi- schen – Wahrnehmungsschwäche, Kontrollverlust – ebenso wie die sozialen – Vereinsamung, Erniedrigung. Als Wong zur Strafe, weil er entgegen das aus- drückliche Verbot doch wieder betrunken gekämpft hatte, aus dem Haus ge- worfen wird, bekommt der ansonsten eher überdreht-burleske Film eine deut- lich tragische Note. „Alkohol ist wie Wasser, es macht den Körper geschmeidig, aber man kann auch darin ertrinken“, sagt Wongs Vater, der als martial arts- Lehrer und gleichzeitig Kräuterdoktor die kämpferischen wie die gesundheitli- chen Aspekte des drunken boxing versteht. „Übe fleißig und vergiss nicht, ab und zu ein Gläschen zu trinken“, sagt – im ersten Teil – Wongs Onkel, der Bru- der von Wong Senior. Dieses Brüderpaar steht für das Paradoxon des drunken boxing, der eine repräsentiert die Gefahren, der andere die Vorzüge dieses Kampfstils. In den Filmen ist aber deutlich eine Sympathie zu Gunsten des einen markiert: Beide Brüder sind streng und unnachgiebig, So Hak Yee indes, der Meister des drunken boxing, ist auch fröhlich, warmherzig und ausgelassen. Filmographische Angaben Drunken Master Drunken Master II Internationale Alternativtitel: Drun- Internationale Alternativtitel: Drun- ken Monkey In A Tigers Eye / ken Monkey II / Drunken Fist II / Drunk Monkey / Eagle Claw, The Legend Of Drunken Master Snake Fist, Cats Paw Transkribierter chinesischer Original- Transkribierter chinesischer Original- titel: Zui quan titel: Jui Kuen II Deutscher Titel: Sie nannten ihn Deutscher Titel: Drunken Master Knochenbrecher Hongkong 1978 Hongkong 1994 Regie: Yuen Woo Ping Regie: Lau Kar-leung, Jackie Chan Buch: Hsiao Lung Buch: Edward Tang, Tong Man Ming, Yuen Chieh Chi Stuntkoordination: Yuen Woo Ping, Stuntkoordination: Lau Kar-leung, Hsu Hsia Jackie Chan Besetzung: Jackie Chan (Wong Besetzung: Jackie Chan (Wong Fei-hong), Simon Yuen Siu Tin (So Fei-hong), Ti Lung (Wongs Vater), Hak Yee) Anita Mui (Wongs Stiefmutter) Lau Kar-leung (Meister Fu) 114 Heinz-Jürgen Köhler montage/av Literatur Chan, Jackie (1998) Ein Leben voller Action. Die Autobiographie. München: Heyne. Fore, Steve (2001) Life Imitates Entertainment: Home and Dislocation in the Films of Jackie Chan. In: At Full Speed. Hong Kong Cinema In A Borderless World. Hrsg. v. Esther C. M. Yau. Minneapolis/London: University of Min- nesota Press, S. 115–141. Gentry III, Clyde (1997) Jackie Chan. Inside the Dragon. Dallas: Taylor Publi- shing. Hammond, Stefan / Wilkins, Mike (1996) Sex and Zen & A Bullet in the Head. The Essential Guide to Hong Kong’s Mind-Bending Films. New York: Fire- side. Moser, Leo (2000) Made in Hong Kong. Die Filme von Jackie Chan. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf. Logan, Bey (1995) Hongkong Action Cinema. London: Titan Books. Teo, Stephen (1997) Hong Kong Cinema. The Extra Dimensions. London: Bri- tish Film Institute. * * * Lee Marvin und Pferd, betrunken in CAT BALLOU (CAT BALLOU – HÄNGEN SOLLST DU IN WYO- MING, USA 1965, Elliot Silver- stein) Karin Esders Küche und Kino Von Lust und Frust des kulinarischen Films In Henry Jagloms Film Eating (USA 1990), dessen Stil an eine ethnographische Dokumentation erinnert, werden die weiblichen Gäste einer Geburtstagsfeier gefragt, worum es beim Essen gehe. In einer Serie von rasch hintereinander geschnittenen Nahaufnahmen äußern sich die Frauen in Statements über ihre Beziehung zum Essen: „What do you think it’s about?“ / „Love.“ / „Survival.“ / „Affection and power. And attention.“ / „It was my pal.“ / „My best friend.“ / „It kept me safe. It kept you away if I wanted you to be away.“ / „It feels like the- re’s life in the house. It feels like there’s someone to come home to ...“ / „I eat a lot of food because I’m pissed off.“ / „Food for me was like an angry lover, an abusive lover. And for the moment I got off on it and than after- wards I felt horrible.“ / „Control.“ / „Controlling my rage and control- ling anxiety.“ / „Something inside me that can’t be satisfied that always needs to be comforted and sedated.“ / „It’s the flow of life.“ / „Daddy approval.“ / „For me its quite natural.“ / „A silent companion, you know.“ / „It’s hunger, it’s satisfaction, it’s comfort.“ / „Protection.“ / „Life.“ / „Company.“ / „It’s everything.“ Das Geburtstagsfest, das eigentlich Anlass geben sollte zu genüsslichen Gau- menfreuden, ist hier von filmischen Einzelbefragungen durchbrochen, die den Interviewten Bekenntnisse über ihre Beziehung zum Essen abverlangen. Man fühlt sich erinnert an Foucaults Analyse des Bekenntnis- und Diskursivierungs- zwangs, dem die Sexualität in früheren Jahrhunderten unterlag. Das Essen wird einem filmischen Diskurs unterworfen, in dem individuelle Lust- und Schuldge- fühle und gesellschaftliche Ge- und Verbote miteinander ringen. Diesen gesell- schaftlichen Druck macht Jagloms ironischer Film deutlich. Die amerikanischen Frauen umkreisen in ihren Gesprächen und Äußerungen obsessiv das Thema des Essens, aber als schließlich der Geburststagskuchen herumgereicht wird, versagen sich alle den Genuss. Essen ist für sie eben keine natürliche, sondern eine widersprüchliche, zugleich lustversprechende und schuldbehaftete Angele- genheit, die von geschlechtsspezifischen Schönheitsidealen und puritanischer Affektbeherrschung dominiert wird. 116 Karin Esders montage/av Abb. 1 YIN SHI NAN NU (EAT, DRINK, MAN, WOMAN, Taiwan 1994, Ang Lee) Kino-Völlereien Die Ambivalenz von Lust und Schuld, Befriedigung und Verzicht prägt zahlrei- che Filme, die sich um das Essen drehen. Wenn das Kino vom Speisen, Trinken und Feiern erzählt, so oszilliert es zwischen lukullischen Augenfreuden und asketischer Zurückhaltung, opulenter Ausschweifung und melancholischer Entsagung. Insofern haben Filme über das Essen mitunter etwas Pornographi- sches: Sie versprechen alles zu zeigen und erzeugen so ein Begehren, das sie nie erfüllen können. Wenn Mr. Chu in der langen Eingangssequenz von Ang Lees Film Yin Shi Nan Nu (Eat, Drink, Man, Woman, Taiwan 1994) das Sonn- tagsessen für seine drei Töchter vorbereitet, konzentriert sich die Kamera abwechselnd auf sein Gesicht und auf seine fingerfertigen Hände. Mit präziser Geschicklichkeit enthäutet er den Fisch, entkernt die Chilischoten, zerschneidet den Speck und stiftelt das Gemüse. Keine Schuppe des Fisches und keine Faser des Fleisches entgehen der Kamera. Der begehrende Blick, der sich im porno- graphischen Film am ‚Geheimnis‘ (vor allem) des weiblichen Körpers delektiert, gilt hier den Ingredienzien eines verschwenderischen Mahls. Wie der pornographische, so erschien auch der kulinarische Diskurs lange Zeit als ein „unsprechbarer‘, trivialer, schuldbeladener Diskurs, der zu zügeln und zu zensieren war. „The subject of food,“ schrieb Roland Barthes, „connotes 10/2/2001 Küche und Kino 117 triviality or guilt“ (1961, 21). Für das Kino war die Küche ein marginaler Ort, dessen Geheimnisse allenfalls in Doris Day-Komödien, bitteren Satiren oder von routinierten Fernsehköchen offenbart werden konnten. Der Lust am Essen und der Lust am Kino haftete Trivialität an, beide wurden gern dem Bereich der niederen Instinkte oder des ‚Weiblich-Banalen‘ zugeordnet. Die Völlerei ist eine der sieben Todsünden, und die ‚Massenkunst‘ der Kinematographie erschien als nicht minder sündige Ausschweifung. Kritiker des Kinos warnten immer wieder vor der ‚schädlichen Kost‘ des Trivialfilms, vor seinen ‚verdorbenen‘ Inhalten und ‚ungesunden‘ Effekten. Filme, so scheint diese Perspektive nahezulegen, werden wie Nahrungsmittel einverleibt, und schlechte Filme verderben Körper, Geist und Geschmack. Essen wird dabei zur ergiebigen Metapher für eine als maßlos und unkritisch beargwöhnte Zuschauerhaltung. Der Theoretiker im Kino: an der Mutterbrust? Nun wurden seit den 70er Jahren mit der akademischen Erforschung des Kinos und seiner Zuschauer solche vereinfachenden Wirkungsmodelle obsolet. Gleichwohl bediente sich insbesondere die psychoanalytische Filmtheorie eines Metaphernstraußes, in dem Filmrezeption und Nahrungsaufnahme abermals eng zusammengebunden wurden. So behauptete etwa Jean-Louis Baudry, dass im Kino die ursprünglichen Bedingungen der oralen Phase wiederholt würden, in der die eigenen Körpergrenzen noch nicht von der mütterlichen Brust geschieden seien. Im Kino sauge sich der Zuschauer – wie das Baby an der Brust – an den filmischen Bildern fest und verfalle in einen lustvollen Zustand von Ein- heit und Verschmelzung (1975, 313). Ähnlich argumentierte der amerikanische Filmtheoretiker Robert T. Eberwein, wenn er behauptete, die Kinoleinwand erwecke früheste Erinnerungen und Träume an die nährende Brust und eröff- ne geradezu atavistische Erfahrungen, die mit dem Verlust des Egos einhergin- gen: Film [...] makes us babies again, and reverses the process of ego differen- tiation by plunging us back in memory to that moment of identification with the source of nutrition. Film’s overwhelming images invite a return to that state in which the ego dissolves. (1986, 53) Indem nun die beiden Filmtheoretiker die Beziehung zwischen Zuschauer und Leinwand mit der des Säuglings an der Mutterbrust vergleichen, erzeugen sie ein Konnotationsfeld, in dem sowohl das Essen als auch das Kino als eine Form der regressiven Symbiose erscheinen. Die selbstvergessene Aufnahme von Filmbil- 118 Karin Esders montage/av dern oder von Nahrungsmitteln führe demnach zu einer ebenso bedrohlichen wie lustvollen Auflösung von Grenzen: Die Grenzen des eigenen Körpers zwi- schen innen und außen, zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen. Beim erneuten Lesen der mittlerweile leicht angejahrten theoretischen Über- legungen bleibt jedoch unklar, ob der konstatierte Ich- und Kontrollverlust, die- se wonnevolle Verschmelzung als eine grundsätzlich abzulehnende Reaktion gesehen werden muss, die jedem aufgeklärt-autonomen Subjektstatus zuwider- läuft, oder ob die beiden Theoretiker nicht selbst schwanken zwischen der als lustvoll erfahrenen Kinosituation und der gleichzeitig eingeforderten kritischen Distanz zum Untersuchungsobjekt. Wie es scheint, stehen sich hier zwei wider- streitende Haltungen gegenüber, die über die Essensmetapher miteinander ver- kreuzt werden. Auf der einen Seite findet sich der kritisch-distanzierte Analyti- ker, der sich unter Berufung auf anerkannte Theorien von seinem Gegenstand abzugrenzen und einen differenzierten, wissenschaftlich fundierten Standpunkt einzunehmen hat; auf der anderen Seite der gierig verschlingende, sich dem Fluss der Bilder bereitwillig hingebende Zuschauer, der eben jenen befriedigenden Zustand von Ganzheit und Einheit zurückersehnt, den Baudry und Eberwein an der Mutterbrust imaginieren. So zeigen diese theoretischen Texte der 70er Jahre eine unaufgelöste Ambivalenz, die – gewissermaßen unbewusst (um in der psychoanalytischen Terminologie zu bleiben) – zwischen identifikatorischer Verschmelzung und kritischer Reflexion vexiert. Damit blieben auch für die psychoanalytische Filmtheorie die Lust am Kino und implizit ebenso die Lust am Essen ausgesprochen ambivalente Regungen, in denen jouissance und Schuldgefühle, symbiotischer Ichverlust und der Wunsch nach Selbstbeherr- schung miteinander im Widerstreit liegen. Doch gerade das unaufgelöste Changieren zwischen divergenten Haltungen gibt den zitierten Texten eine möglicherweise unbeabsichtigte Offenheit, die vielen vorhergehenden Kino- und Zuschauertheorien fehlt. So wurde die identi- fikatorische, distanzlose Rezeptionshaltung gegenüber dem Kino oder der po- pulären Literatur immer wieder als eine typisch ‚weibliche‘ Unterwerfungs- phantasie entlarvt, als „kitschy attitude“ belächelt (vgl. Buchwald 1991). Gerade die weinende Leserin sentimentaler Romane oder die lustvoll schluchzende Zu- schauerin von Melodramen oder Frauenfilmen erschien wegen ihrer körperli- chen Reaktionen lange als Ausbund einer falschen, weil kritik- und wider- standslosen Textrezeption. Demgegenüber weist sich eine ‚maskuline‘ Rezep- tionsposition durch eine differenzierende, reflektierende und letztlich unkör- perliche Distanz aus, die gegenüber dem Textobjekt oder dem Kinoapparat einen eindeutigen Subjektstatus einzunehmen vermag, sich damit aber auch die schwelgerische Vermengung versagt. 10/2/2001 Küche und Kino 119 Babettes Fest als Reflexion über das Kinoschauen Während in den referierten Theorien die metaphorische Betrachtung von Ess- ensaufnahme und Kinoschauen einen kritischen Impetus impliziert, lassen sich viele ‚kulinarische Filme‘ als spielerisch-reflexive Kommentare auf diesen Ana- logisierungsgestus lesen. Als ein wohlbekanntes Beispiel kann hier Babettes gæstebud (Babettes Fest, Dänemark 1987, Gabriel Axel) herangezogen wer- den. Ein Film, der den Zwiespalt von Verschmelzung und Distanz, von Lust und Frust am kulinarischen bzw. kinematographischen Genuss umkreist und ihn auf ironische Weise wendet. Babette (Stéphane Audran), Kommunardin und Chefköchin eines der besten Pariser Restaurants, dem „Cafè Anglais“, flieht 1871 aus Frankreich in ein abgelegenes Fischerdorf auf der Insel Jütland, wo sie in den Dienst von zwei älteren Schwestern tritt. Die beiden führen die Sekte ihres seit langem verstorbenen Vaters weiter, und einmal wöchentlich versammelt sich die kleine Gruppe von altgewordenen und einander mit zunehmender Missgunst beäugenden Sektierern in ihrem asketisch geführten Haus. Viele lange Jahre kocht Babette ihnen die gewünschten frugalen Mahlzeiten, die hauptsächlich aus Biersuppe, Hirsebrei und Stockfisch bestehen. Als sie schließlich in einer Lotterie 10 000 Francs gewinnt, erbittet Babette die Einwilligung der Schwes- Abb. 2–4 Die jütländischen protestan- tischen Gemeindemitglieder wollen ein entsagungsvolles und gottgefälliges Le- ben führen und verlieren so kein Wort über die ihnen servierten Köstlichkei- ten, einzig der General weiß das erlese- ne Mahl zu schätzen: BABETTE’S GÆS- TEBUD (BABETTES FEST, Dänemark 1987, Gabriel Axel) 120 Karin Esders montage/av tern, ein Gala-Diner, „un vrai dîner français“, zu Ehren des hundertsten Geburts- tags des Propstes zu kochen. Zum größten Entsetzen der beiden enthaltsamen Damen schafft die Französin die seltensten Zutaten herbei, einschließlich einer lebenden Riesenschildkröte, und bereitet ein opulentes Mahl in ihrem beschei- denen Haushalt vor. Die Gemeindemitglieder beschließen, am Essen teilzuneh- men, aber kein einziges Wort über Speis und Trank fallen zu lassen, weil sie fest davon überzeugt sind, dass nur ein entsagungsvolles Leben ein gottgefälliges Leben sei. Nachdem der Film die zölibatäre Tristesse und genügsame Be- schränktheit der jütländischen Protestanten ausführlich geschildert hat, beginnt schließlich das zauberhafte Mahl. Der einzige, der an diesem Abend das erlesene Essen zu schätzen weiß, ist der Ehrengast General Lorenz, der vor vielen Jahren schon einmal im Café Anglais gespeist hat und sich vor Verblüffung und Entzü- cken kaum halten kann (Abb. 2–4). Die zerstrittenen Alten hingegen verlieren, wie vereinbart, kein einziges Wort über die aufgetragenen Köstlichkeiten, lassen jedoch ihren Groll aufeinander fahren und finden sich am Ende zu einem skurri- len Tanz unter sternklarem Winterhimmel zusammen (Abb. 5). Die Geschichte von einer Fremden, die in ein hinterwälderisches Nest gerät, und hier mit Liebe und Hingabe der Unduldsamkeit der Gemeindemitglieder entgegenwirkt, ihre Schuldgefühle zum Schmelzen bringt und ihnen durch das gemeinsame Mahl ein neues Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörig- keit vermitteln kann, bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen Kunst und Kitsch. Der Film eröffnet einen Raum sowohl für Identifikation als auch distan- zierte Betrachtung, für reflektiertes Verstehen und lustvolle Verschmelzung. So kann die filmische Reflektion über das Essen und das Genießen in Babet- tes Fest auch als Reflektion über das Kinoschauen gedeutet werden. Die Gäste lassen sich in zwei Arten von ‚Zuschauern‘ teilen: da sind auf der einen Seite die Insulaner, die sich zunächst geringschätzig, zunehmend aber voller kindlicher Hingabe dem Essen widmen. Sie sind vergleichbar den ‚naiven‘ Zuschauern, die sich in lustvoller Verschmelzung dem Dargebotenen preisgeben und ein dis- tanzloses Wohlgefühl finden. Der General, auf der anderen Seite, hat einen ela- borierten Geschmack, er kennt die einzelnen Gerichte und Getränke, kann dif- ferenzieren, reflektieren und die Dinge beim Namen nennen. Er durchschaut jede ‚intertextuelle Referenz‘ und weiß schließlich allein an der Auswahl, der Zusammenstellung und den einzelnen Gängen die ‚Künstlerin‘ des Mahles zu benennen. Jedoch muss er an diesem Abend auch erkennen, dass ihm das einfa- che Glück der naiven Zuschauer längst abhanden gekommen ist. Von dem Rei- gen der Sektierer, ihrem Erlebnis von Gemeinschaft, bleibt er ausgeschlossen. In seiner Figur kristallisiert sich die Melancholie des distanzierten, wissenschaftli- chen Beobachters, während sich die schlichten Dörfler kritiklos beseligen las- 10/2/2001 Küche und Kino 121 sen. Die sture Einfalt der Dorfbewoh- ner wandelt sich in einträchtige Ver- bundenheit, und der Connaisseur er- weist sich als einsamer Nostalgiker. Für die Zuschauer im Kino mag nun gerade in der Beobachtung dieser unterschiedlichen Positionen ein be- sonderes Vergnügen liegen. Indem der Film Schuldgefühle, Ängste und reli- Abb. 5 Skurriler Tanz unter sternen- giöse Restriktionen in den schwelge- klarem Winterhimmel: BABETTE’S rischen Repräsentationen der kulina- GÆSTEBUD (BABETTES FEST, Däne- rischen Fülle auflöst, erlaubt er dem mark 1987, Gabriel Axel) Zuschauer sowohl eine Position der reflektierenden Distanz als auch eine narzisstische Verschmelzung mit den Bil- dern. Kunst und Kitsch, Lust und Schuld werden über die meisterliche Inszenie- rung des Festessens miteinander versöhnt. Damit spielt Babettes Fest aber auch mit einem post-bourgeoisen Hedonismus, in dem Schuldgefühle oder pu- ritanische Askese vollkommen fehl am Platze wären. Literatur Barthes, Roland (1997) Toward a Psychosociology of Contemporary Food Consumption [1961]. In: Food and Culture. A Reader. Hrsg. von Carole Cou- nihan & Penny van Esterik. New York: Routledge, S. 20–27. Baudry, Jean Louis (1986) The Apparatus: Metaphysical Approaches to the Impression of Reality in the Cinema [1975]. In: Narrative, Apparatus, Ideo- logy. Hrsg. von Philip Rosen. New York: Columbia University Press, S. 299– 318. Buchwald, Dagmar (1991) Suspicious Harmony: Kitsch, Sentimentality, and the Kult of Distance. In: Sentimentality in Modern Literature and Popular Cul- ture. Hrsg. von Winfried Herget. Tübingen: Narr, S. 35–77. Eberwein, Robert T. (1980) Reflections on the Breast. In: Wide Angle 4,3, S. 48– 53. Es ist angerichtet: Jack Nicholson in THE WITCHES OF EASTWICK (DIE HEXEN VON EASTWICK, USA 1987, George Miller) Gerd Hallenberger Clemens Wilmenrod Zeichen von Esskultur Einem gerne zitierten Bonmot zufolge, das Steve Martin zugeschrieben wird und bei Jean-Martin Büttner (1997, 13) nachzulesen ist, bedeutet über Musik zu reden dasselbe wie über Architektur zu tanzen: Es muss misslingen, wenngleich die Resultate durchaus spaßig sein können. Vergleichbares gilt, sofern es primä- rer Programminhalt ist, für das Kochen im Fernsehen. Im Fernsehen wird gelegentlich gekocht, häufiger hingegen gegessen und ge- trunken, und falls einmal die Zubereitung von Nahrungsmitteln gezeigt wird, so fällt dies oft gar nicht auf, weil entweder in einem Prominenten-Feature, das die „private Seite“ eines Medien-Stars zeigen soll, diese Person am heimischen Herd nur vorführt, dass ihr derartige Tätigkeiten nicht fremd sind, oder weil in einem fiktionalen Kontext lediglich der situative Rahmen für ein ernstes Gespräch konstruiert worden ist – Kochgespräche sind wichtige Gespräche, hier werden Geständnisse gemacht und Geheimnisse offenbart. In beiden Fällen ist es voll- kommen irrelevant, was gekocht wird, welche Zutaten dabei verwendet werden und wie mit ihnen umgegangen wird. Wenn das Kochen allerdings selbst zentra- ler Inhalt einer Fernsehsendung wird, stößt das Medium an unüberwindbare Grenzen, die umso deutlicher erfahren werden, weil allen Zuschauern der Vor- gang des Kochens vertraut ist. Abgesehen davon, dass das Hantieren mit Koch- gerät und Zutaten nur demonstriert wird, gibt es nichts zu riechen und nichts zu schmecken – und nach Abschluss des Kochens auch nichts zu essen. Fernsehen und Kochen passen schlecht zusammen, weshalb Elke Wittich in einem Beitrag für die Jungle World konsequenterweise zu einem vernichtenden Fazit gelangt: „Neben Fernseh-Skat und Andrea Nahles-Interviews gehört das abgefilmte Nahrungsmittel-Zubereiten zu den Gipfelpunkten televisionärer Ödnis“ (Wit- tich 1997). Dennoch gab und gibt es Kochsendungen in großer Zahl (zum aktuellen An- gebot vgl. Grimberg 2000). Bei näherem Hinsehen lassen sich einige derzeit be- sonders populäre Varianten ausschließen, da andere Themen und Darstellungs- formen wichtig sind. Das vorabendliche Kochduell auf VOX gibt sich zum Beispiel als Spielshow, und Alfred Bioleks Alfredissimo! bedient sich der aus fiktionalen Kontexten vertrauten Konnotation von „Kochen“ und „Intimität“, um eine televisionäre Nähe zum prominenten Star-Gast und zu Alfred Biolek 124 Gerd Hallenberger montage/av und seinem Lebensstil herzustellen. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass das Fernsehen aus Nutzersicht schon seit seinen Anfängen primär ein Unterhal- tungsmedium ist, ergibt sich Erklärungsbedarf. Wittichs Befund, das Kochen im Fernsehen sei hinsichtlich seines Unterhaltungswerts eine ausgesprochen öde Angelegenheit, ist nie widersprochen worden, dennoch sind der „Fernsehkö- che“ Legion. Pionier war der Franzose Xavier Marcel Boulestin, der in London nicht nur ein Restaurant besaß, sondern 1937 in der BBC-Produktion Cook’s Night Out auch als erster Fernsehkoch auftrat. Um nur einige Namen aus unserem Sprachraum zu nennen, haben in Deutschland (West) etwa Vico Torriani, Max Inzinger und Ulrich Klever im Fernsehen gekocht, in Deutschland (Ost) Kurt Drummer und Rudolf Kroboth. Vor allem in den fünfziger Jahren spielte dabei die didaktische Seite ihrer Vorführungen eine zentrale Rolle, denn zu dieser Zeit war es für die – in aller Regel – Hausfrau noch eine wichtige Frage, wie man aus dem Verfügbaren etwas Vorzeig- und Genießbares zaubern konnte. Die Ver- waltung des kulinarischen Mangels war auch später noch in der DDR ein The- ma, während in der BRD eher die Erweiterung der heimischen Küche um ausge- fallene Spezialitäten oder gesundheits- und kalorienbewusstes Kochen auf dem Programm stand (zur bundesdeutschen Koch- und Essgeschichte vgl. Peter- mann 1999). Die Versorgungslage hatten die DDR-Fernsehköche immer zu be- rücksichtigen, ungeachtet ihrer großen persönlichen Erfolge. Kurt Drummer kochte von 1958 bis 1983 im Fernsehen, verfasste mehrere Kochbücher, wurde 1965 sogar Chefkoch der Interhotels und kochte bei Staatsbanketten (vgl. Tre- bes 2000). Rudolf Kroboth war nicht nur im Fernsehen (1960–1972) der „Fisch- koch“ der DDR. Kroboth schrieb über und lehrte das Zubereiten von Fisch und gründete die Restaurantkette „Gastmahl des Meeres“. Das Ende seiner Fernseh- präsenz war allerdings unmittelbar mit der Versorgungslage in der DDR ver- knüpft. Die Einrichtung von Fischereischutzzonen verringerte die Fanggründe der Fischer, Fisch wurde knapp und das televisionäre Propagieren des Fischge- nusses obsolet (vgl. Schödel 2000). Unter den bundesdeutschen Fernsehköchen nimmt der erste Vertreter dieser Zunft eine herausragende Position ein: Clemens Wilmenrod. Clemens Hahn, so sein bürgerlicher Name, arbeitete ursprünglich als erfolgloser Schauspieler. Bei der Wahl seines Künstlernamens als Fernsehkoch griff er auf das Nächstliegende zurück, das dennoch etwas Besonderes verhieß. Wilmenrod – das klang außer- gewöhnlich, tatsächlich war es jedoch der Name seines Heimatdorfes im Wes- terwald. Diese Paradoxie sollte auch bestimmend für sein Wirken als Fernseh- koch sein: die Vermittlung von Nähe und Ferne, wobei das Naheliegende benutzt wurde, um Ferne zu evozieren. 10/2/2001 Clemens Wilmenrod 125 Die Karriere von Clemens Wilmen- rod war gleichermaßen erfolgreich wie tragisch. Von Februar 1953 (Bitte, in zehn Minuten zu Tisch) bis Mai 1964 trat er insgesamt 185 Mal als Fernsehkoch auf. Nachdem der NDR seine Sendung abgesetzt hatte, wurde er schwer krank und erschoss sich 1967 (vgl. Martenstein 2000; Wittich 1997). Clemens Wilmenrod war nicht Abb. 1 Clemens Wilmenrod mit nur als Fernsehstar populär. Durch Schürze eine Schürze, die eine Karikatur seines Gesichts zeigte (Abb. 1), verwandelte er sich in einen kommerziell attraktiven Markenartikel. Lange bevor der Begriff Merchandising in Deutschland geläufig wurde, publizierte Wilmenrod mehrere kassenträchtige Bücher wie z. B. Es liegt mir auf der Zunge (1954) und Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch (1956). Dass seine Fähigkeiten als Koch nicht besonders ausgeprägt waren und die Kochzunft sein Versagen beim Tranchieren von Geflügel kritisierte oder ihm generell Inkompetenz attestierte, störte die Zuschauerschaft nicht (vgl. Mar- tenstein 2000; Wittich 1997). Wilmenrod bot stattdessen etwas ganz anderes: „[...] angefangen beim koketten Menjoubärtchen über den spöttischen Augen- aufschlag bis hin zum lasziven Gigolo-Timbre in der Stimme suggerierte sein Auftreten den Beginn einer neuen Zeit“ (Neitzert 2000). Tatsächlich waren die Rezepte und vorgeführten Kochkünste, bei deren Darbeitung Wilmenrod von nicht sichtbaren Beratern angeleitet wurde, nicht besonders spektakulär. Ge- naugenommen spielte er lediglich einen Koch, dies aber auf eine sehr kompeten- te Weise. Auf den Unterhaltungswert seiner Vorführungen bedacht, reicherte Wilmenrod seine Darbietungen mit theatralischen Einlagen und kleinen Ge- schichten an: „Im Libanon gibt es mehr Spitzbuben als auf der gesamten Nord- halbkugel zusammen“ (zit. n. Wittich 1997). Bleibende Verdienste erwarb er sich jedoch auf einem anderen Gebiet. Wilmenrods eigentliche Begabung war nicht die Koch- sondern die Sprachkunst, sein besonderes Talent das Ausden- ken von Bezeichnungen. Sowohl bei der Variation von vertrauten Gerichten wie auch bei der Präsentation kulinarischer Innovationen war der Name des Ge- richts weitaus aufregender als das Gericht selbst. Geografische Verweise bei Speisen beziehen sich in der Regel auf deren Her- kunft. Selbst wenn als solche verkaufte schwäbische Maultaschen nicht in Schwaben hergestellt, verkauft und zubereitet werden (und auch anders schme- cken als in Schwaben), bleibt die Referenz intakt: nicht unbedingt dieses kon- 126 Gerd Hallenberger montage/av krete Produkt, aber die Maultasche an sich ist schwäbischen Ursprungs. Ver- gleichbares gilt für eine Vielzahl hier vertrauter Gerichte, vom Wiener Schnitzel über das ungarische Gulasch bis hin zur Peking-Ente, wobei mit der Zunahme der Entfernung die Freizügigkeit im Umgang mit Rezeptvorschriften ebenfalls zunimmt. Auch Clemens Wilmenrod arbeitete oft mit derartigen Referenzen, aber auf eine völlig andere Weise: An den zitierten Orten waren derartige Speisen völlig unbekannt. Wenn bei Wilmenrod „Arabisches Reiterfleisch“ oder ein „Venezia- nischer Weihnachtsschmaus“ zubereitet wurde, konnte man sicher sein, dass in Arabien bzw. Venedig noch nie jemand von derlei Gerichten gehört hatte (vgl. Martenstein 2000). Statt die reale Herkunft der Gerichte zu benennen, wurde mit Hilfe fiktiver Referenzen ein komplexer semantischer Raum eröffnet. Völlig unabhängig von der Echtheit der Bezeichnung konnte das „Arabische Reiter- fleisch“ die Bilder einer Karl May-Romantik evozieren und der „Venezianische Weihnachtsschmaus“ gleich zwei Sehnsüchte kombinieren – die Sehnsucht nach „Weihnachten“, dem Fest der Liebe, Familie und Harmonie, und diejenige nach dem wichtigsten Traumland der 50er und 60er Jahre, Italien. Die Gewöhnlich- keit des Signifikats unterstrich dabei die besondere Rolle des Signifikanten: Bei dem „Arabischen Reiterfleisch“ handelte es sich lediglich um eine Zuberei- tungsvariante der Frikadelle, bei dem „Venezianischen Weihnachtsschmaus“ im Wesentlichen um ein paniertes Schnitzel (vgl. ibid.). Was Wilmenrod betrieb, lässt sich als eine Variante des Spiels mit der Diffe- renz von Referent und Referenz beschreiben. Symbole können auch dann mit einer Referenz verbunden sein, wenn kein Referent existiert. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Wort „Einhorn“, das sich zwar auf ein nicht existierendes Tier, ein Fabeltier bezieht und dessen Bedeutung die der deutschen Sprache mächtigen Hörer/Leser dennoch verstehen (vgl. Eco 1977, 109ff). Wilmenrods Sprachspiele waren in gewisser Hinsicht ähnlich angelegt: In seiner Küche ging es oft um Fabel-Gerichte, aber um Fabeln, die erst hier ersonnen wurden, gleich- wohl sie auf zeitgenössischen Vorstellungen aufbauten. Tatsächlich haben das „Einhorn“ und das „Arabische Reiterfleich“ viel ge- meinsam. Im Prinzip könnte das Fabeltier auch mit der Bezeichnung „Knurtel“ und das Gericht als „Ahmadisch“ bezeichnet werden. Die gebräuchliche Be- zeichnung im Falle des Fabeltieres und die von Wilmenrod tatsächlich verwen- dete Benennung operieren jedoch anders – das Unbekannte wird durch Verwei- se auf Bekanntes und die Herausstellung einer Differenz markiert. Falls Tiere in Europa Hörner haben, sind es deren zwei – das Wort „Einhorn“ kombiniert also zwei vertraute Elemente (das Zahlwort „Eins“ und „Horn“) auf ungewohn- te Weise. Vergleichbares geschieht beim „Arabischen Reiterfleisch“. „Arabien“, 10/2/2001 Clemens Wilmenrod 127 „Reiter“ und „Fleisch“ waren für Wilmenrods Publikum natürlich vertraute Begriffe. Dass Reiter auch Fleisch essen, klang plausibel, damit auch das „Reiterfleisch“. Reiter in Arabien waren ebenfalls vorstellbar und damit war auch das „Arabische Reiterfleisch“ als Bezeichnung prinzipiell nachvollzieh- bar. An diesem Punkt endet allerdings die Vergleichbarkeit, da das „Einhorn“ zwangsläufig Referenz ohne Referenten bleibt, das „Arabische Reiterfleisch“ je- doch in Gestalt seines behaupteten Referenten in Wilmenrods Sendung als real existierend vorgestellt wurde. Wenn Wilmenrod geringfügige Rezeptvariatio- nen von Frikadelle oder Schnitzel durch seine Sprachspiele als kulinarische Exo- tika präsentierte, wurde die immer noch von manchem Mangel gekennzeichnete Nachkriegsküche zum Vorboten einer sowohl kulinarisch wie insgesamt besse- ren neuen Zeit. Auch als Urlaubsreisen, schon gar ins Ausland, für die Mehrheit der Bundesbürger noch keine Selbstverständlichkeit waren und die Bundesre- publik Deutschland keineswegs ein willkommener Partner auf allen Bühnen in- ternationaler Politik war, schuf Wilmenrod ein Stück neuer Normalität. In sei- ner Küche gab sich Deutschland bereits weltläufig und an die (kulinarische) Weltkultur angeschlossen. Und das auf eine sehr sinnliche Weise, nämlich durch Inkorporierung qua Verspeisen. Das beste Beispiel für diesen bemerkenswerten Vorgang ist eine kulinarische Erfindung, durch die sich Clemens Wilmenrod einen dauerhaften Platz in der deutschen Küche erobert hat: der Hawaii-Toast. Man nehme eine Scheibe gerös- tetes und bestrichenes Toastbrot und belege es mit einem Stück Kochschinken. Auf den Schinken lege man eine Scheibe (Dosen-)Ananas, darauf eine Käse- Scheiblette. Nachdem das Ensemble überbacken wurde, platziere man abschlie- ßend eine Cocktailkirsche in seiner Mitte (vgl. Roether 2001). Mit im Wesentli- chen sehr einfachen Zutaten (Toast, Schinken, Käse) sowie einer zeitgemäßen Andeutung von Exotik (Ananas) und modernem Lebensstil (Cocktailkirsche) entsteht ein Signifikat mit signifikantem Mehrwert. Diese kulinarische Petites- se als „Toast Hawaii“ zu bezeichnen, verwandelt Wilmenrods Erfindung in et- was völlig anderes. In der Bezeichnung schwingt nicht nur Südsee-Romantik mit, sondern auch die Versöhnung mit den vormaligen „Eroberern“ und dem anderen – „freieren“ – Leben, das diese „Eroberer“ wenigstens in der Wahrneh- mung von Teilen der Bevölkerung nach Deutschland brachten. So gesehen erscheint Clemens Wilmenrod in einem völlig neuen Licht. Er war nicht nur der erste bundesdeutsche Fernsehkoch, sondern auch ein kochender Verwandter der Schlagersänger seiner Zeit. In beiden Fällen ging es vor allem um die Eröffnung und Erschließung von Sehnsuchtsräumen. „Hingebungsvoll wurde in eine farbenfrohe Zukunft fabuliert, dem grauen Alltag zu entkom- 128 Gerd Hallenberger montage/av men“, schreibt Elmar Kraushaar über die Südsee-Schlager der 50er Jahre (Kraushaar 1983, 56). Das gleiche gilt für viele von Wilmenrods Rezepten. Der Unterschied besteht darin, dass die Schlager Schlager blieben, also alltagsbeglei- tende Kultur, während Wilmenrods Küche durch Nachkochen zu einem mate- riellen Bestandteil des (Ess-)Alltags werden konnte. Gemeinsam waren Schlager und Kochkunst die Ausnutzung der potenziellen Differenz von Referenz und Referent, wobei die Referenz wichtig war, nicht der Referent. So schreibt Kraushaar über den deutschen Schlager der 50er Jahre: Klar, dass sich der Schlager dabei um die realen Verhältnisse in der vielbe- sungenen Südsee nicht im geringsten kümmerte. Da fehlten die Worte. Doch auch hier schaffte die rege Phantasie Abhilfe: die absonderlichsten Wortschöpfungen mussten die Zeilen füllen, Hauptsache, es klang schön. „Tipitipitipso, Tillalilla, Aya tschi-ba tschi-ba Ninya Ninya, Mini mini chi chi, Hula Lula“. (Kraushaar 1983, 56) Clemens Wilmenrods „Tipitipitipso“ war der „Toast Hawaii“. Literatur Büttner, Jean-Martin (1997) Sänger, Songs und triebhafte Rede. Rock als Erzähl- weise. Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Nexus. Eco, Umberto (1977) Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Grimberg, Steffen (2000) Brutzeln für Deutschland. In: die tageszeitung, 30.12.2000. [WWW-Dokument: URL http://www.taz.de/tpl/2000/12/30.nf/ magText.Tname,a0231.list,TAZM_do.idx,0 (4.7.2001)]. Kraushaar, Elmar (1983) Rote Lippen. Die ganze Welt des deutschen Schlagers. Reinbek: Rowohlt. Martenstein, Harald (2000) TV-Koch Clemens Wilmenrod. In: Der Tagesspie- gel, 15.9.2000. [WWW-Dokument: URL http://www2.tagesspiegel.de/ archiv/2000/09/14/ak-me-12489.html (4.7.2001)]. Neitzert, Lutz (2000) Fernsehkoch Clemens Wilmenrod bittet am 16. Mai 1964 zum letzten Mal zu Tisch. SWR „Zeitwort“-Beitrag vom 16.5.2000. [WWW-Dokument: URL http://rz-home.de/~dneitzer/homepage2.htm# FERNSEHKOCH (4.7.2001)]. Petermann, Jürgen (1999) Dicke Bohnen mag doch jeder. Fünf Jahrzehnte Kochen und Essen in Deutschland. In: Der Spiegel, Nr. 20, 1999. [WWW- Dokument: URL http://www.spiegel.de/druckversion/0,1588,23153,00.html (4.7.2001)]. 10/2/2001 Clemens Wilmenrod 129 Roether, Diemut (2001) Auf Weltreise in Deutschland – beim Italiener, Türken oder Griechen an der Ecke. Global Cuisine: Vom Toast Hawaii zur Crosso- ver-Küche. In: Das Parlament, Nr. 3–4, 2001. [WWW-Dokument: URL http:// www.das-parlament.de/03-04-2001/aktuelle_ausgabe/p-a-33.html (4.7.2001)]. Schödel, Helmut (2000) Die Mauer in den Töpfen. Jeder Bissen ein Bauchschuss. Drei kurze Geschichten über das Kochen. In: Süddeutsche Zeitung, 18.11.2000 [WWW-Dokument: URL http://gallistl.purespace.de/SZ-Art/ Kochen_in_DDR.htm#Mauer_in_Topf (4.7.2001)]. Trebes, Klaus (2000) Zwei Küchen, Ein Volk. Wie TV-Köche in Ost und West mit ihrem Schaffen die deutsche Teilung verarbeiteten. In: Die Woche, Nr. 40, 2000. [WWW-Dokument: URL http://www.gargantua.com/woche/09.htm (4.7.2001)]. Wittich, Elke (1997) Arabisches Reiterfleisch. Der erste deutsche Fernsehkoch und die Folgen. Anbrennen im TV, von Wilmenrod bis zum Vox-Koch. In: Jungle World, Nr. 38, 1997. [WWW-Dokument: URL http://www.nadir.org/ nadir/periodika/jungle_world/38/30b.htm (4.7.2001)]. * * * Nach der letzten Runde: Frank Sinatra, Shirley MacLaine, Dean Martin und Martha Hyer in SOME CAME RUNNING (VERDAMMT SIND SIE ALLE, USA 1958, Vincente Minnelli) Hans J. Wulff Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen Pragmatische Grundlagen der Dramaturgie Kommunikative Konstellation Dramaturgische Arbeit ist immer in einen kommunikativen Rahmen gestellt. Modulationen des Textes sind ebenso auf das Publikum ausgerichtet wie Ent- scheidungen zur Besetzung, zur Requisite, zur verwendeten Musik. Die kom- munikative Bindung der dramaturgischen Arbeit ist ein Primum (vgl. Wulff 1999, 19ff) und stellt eine fundamentale pragmatische Rahmung des Geschehens dar. In der meist praktisch orientierten, oft recht schlichten Drehbuchliteratur herrscht der durchaus richtige und folgenreiche Konsens vor, dass die Herstel- lung von Rezeptionsaffekten dramaturgisch steuerbar sei: Die Zuschauerresonanz auf eine Geschichte ist weder unberechenbar noch ungewiss. Bestimmte Abschnitte einer Geschichte rufen ganz be- stimmte Reaktionen im Publikum hervor. (Vale 1987, 163) Es wird unbefragt davon ausgegangen, dass die affektuellen Reaktionen des Publikums auf kognitive Prozesse zurückgehen, die wiederum im Zusammen- hang mit einer präzisen Informationsvergabe stehen. Dramaturgische Arbeit ist Arbeit an der Rezeption, ist ausgerichtet auf die Steuerungsleistungen, die Ele- mente des Textes in den Prozessen der Aneignung des Textes erfüllen sollen. So sehr die Ansicht die vorliegende Literatur durchzieht, dass das Erleben des Zuschauers in Auseinandersetzung mit dem dramatischen Angebot des Textes geschieht und keinesfalls in subjektiver Beliebigkeit ist, so wenig sind aber die genaueren Zusammenhänge zwischen dramatischer Struktur und den Operatio- nen des Verstehens und des Nach- oder Miterlebens einer Geschichte im Einzel- nen beschrieben. Und vor allem die pragmatischen Voraussetzungen dieser Interaktion sind sträflich vernachlässigt. Keine Arbeit am Text kann den kom- munikativen Rahmen ganz verlassen, in den das Symbolische eingelassen ist. Das Produkt ist immer kommunikativ konstelliert, könnte man sagen. Unter einer kommunikativen Konstellation wird verstanden das Gefüge der Rollen al- ler an einem kommunikativen Handlungsspiel beteiligten Personen und Institu- tionen, auch wenn sie in der Manifestation des Handlungsspiels in Form eines 132 Hans J. Wulff montage/av Textes nicht unbedingt auftreten. Es gehört zu den Konventionen der Textsor- ten, dass sie einzelne Rollen oder ganze Rollenkomplexe der zu Grunde liegen- den kommunikativen Konstellation nicht in der Textoberfläche ausdrücken (so dass Ausnahmen auf jeden Fall eine gewisse Signifikanz haben). Ähnlich kann man die Redekonstellation als Modell dessen anführen, das ich hier zu benennen versuche – eine Redeweise, die von der Arbeitsgruppe Hugo Stegers am Institut für Deutsche Sprache (1974) vorgeschlagen wurde. Ausgangsthese war dort: Sprachliches Verhalten ist konstellationsgebunden. Rollenperformanz, Moti- viertheit, äußere Situation, psychische Bedingungen und andere Verhaltensele- mente und -bedingungen beeinflussen das sprachliche Verhalten von Kommu- nikationsteilnehmern. Als Merkmale der Redekonstellation werden genannt: Text, Sprecherzahl, Zeitreferenz, Situations- und Textverschränkung, Rang der Beteiligten (gleichberechtigt vs. privilegiert) und Macht, Vorbereitetheit, Zahl der Sprecherwechsel, Themafixierung, Art der Themenbehauptung (deskriptiv, argumentativ etc.), Öffentlichkeitsgrad. Es gab zudem Versuche, eine Typologie von Redekonstellationen auszuarbeiten (in engem Zusammenhang mit der Textsortendiskussion). Es dürfte deutlich sein, dass viele der hier genannten Be- stimmungselemente für die Kommunikation in Theater und Kino keine zentrale Rolle spielen. Derartige Modelle entstammen größtenteils der Dialoglinguistik und sind dazu gedacht, pragmatische Konditionen der Vis-à-vis-Interaktion zu beschreiben. Theater und Kino bilden demgegenüber andere Konstellationen aus, steht doch der fiktional-dramatische Text in einer komplexeren Bindung und enthält mehrere, modal deutlich voneinander unterschiedene Ebenen der kommunikativen Rahmung. Die These ist, dass dramaturgisch kontrollierte Kommunikation in einer theatralen resp. einer medialen Konstellation hervor- gebracht ist, die die phatischen Bezüge der Interaktion zwischen Drama und Zuschauer formal konstituiert und gegenüber den Formen der Alltagskommu- nikation moduliert und als Wissenstatsache immer bewusst bleibt. Die Herlei- tung der Annahme ist denkbar einfach: Audiovisuell-mediale und theatrale Tex- te sind nicht nur in einem substanziellen, sondern auch in einem formalen Sinne selbstreflexiv. Einige textuelle Mittel indizieren nun die Medialität, die Theatra- lität bzw. die Textualität des Textes selbst. Auf Grund dieser Eigenart sind au- diovisuell-mediale und theatrale Texte markiert als in einer medialen Konstella- tion stehend. Mediale Konstellationen bilden einen eigenen Typus von kommu- nikativen Konstellationen. Nun basiert die Rezeption einer Aufführung in Theater und Kino darauf, dass der Zuschauer sich für eine bestimmte Zeit einem Illusionierungsprozess aus- setzt, der gewisse begleitende und resultierende Effekte haben soll. Darum ist Verhandlung über Art und Ziel des Textes, der das Aufmerksamkeitszentrum 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 133 dieses Prozesses bilden wird, von erstem Belang. In ähnlichem Interesse spricht Veron (1985) von einem reading contract, der installiert werde [...] to provide a defined space where particular textual strategies can be actualized. The reading contract allows one to discern microstrategies, such as pedagogic discourses or complicity relationships with the reader. (dargest. n. Escudero Chauvel 1997, 101) Nach dieser Darstellung sind es unterschiedliche kommunikative und semanti- sche Beziehungen, die zwischen Sender und Empfänger installiert werden müs- sen, um Texte angemessen (also der Intention folgend) interpretieren zu kön- nen. Dazu bedient sich der Text einer Reihe von Mitteln, die die Vielfalt der möglichen Beziehungen vereindeutigen. Es gibt allerdings eine Fülle von Tech- niken, mit denen die komplexe Konstelliertheit eines Textes angezeigt wird. Die Tatsache, dass ein Text ein Glied eines kommunikativen Handlungsspiels ist, wird nicht verborgen, sondern nur mehr oder weniger stark ausgestellt. Es gibt Textsorten, für die ist die Beziehung von Kommunikator und Adressat ganz und gar zentral – dazu zählen z. B. die Fernsehansagen. Markierung und Vereindeutigung der kommunikativen Beziehung hängen oft eng zusammen, ohne dass aber eine besondere Markierung in einem festen Funktionsrahmen stünde. Vielmehr wechseln die Funktionen. So ist das Beisei- tesprechen im Theater nebst seinen Varianten im Film manchmal Teil einer Stra- tegie, einen Schulterschluss zwischen Zuschauer und Figur resp. der dramati- schen Position der Figur herzustellen. Dann reklamiert die Figur das moralische Einverständnis des Adressaten, sie nimmt ein, um gegen andere Positionen des Dramas abzuschirmen oder zu immunisieren. Beiseitesprechen kann aber auch Teil einer Spannungsstrategie sein: Wenn der Bösewicht hämisch grinsend dem Publikum seine Absichten und Pläne erläutert, nimmt das gleiche Mittel gegen ihn ein und bindet das Publikum in Spannungserwartung. Beiseitesprechen kann aber auch die Einheit der Illusion aufheben: Wenn also einer der Akteure beiseitesprechend aus seiner Rolle heraustritt und die Rolle z. B. historisch kommentiert, leistet das gleiche Mittel wiederum einen anderen Zweck. Man könnte natürlich argumentieren, man habe es mit verschiedenen Formen des Beiseitesprechens zu tun (im Rahmen moralischer Positionierung, der Informa- tionsstrategien des Textes, der Artikulation einer Metaposition). Es hängt von den kommunikativen Akten ab, die für jeweilige Textsorten im Vordergrund stehen, ob das kommunikative Verhältnis vorder- oder hintergründig ist. Ist der dominierende Akt das „Erzählen“, bildet die Erzählung den Kern des Textes, und das Verhältnis zwischen Erzähler und Zuhörer bzw. Zuschauer artikuliert sich in der Art und Weise, wie die Erzählung gebaut ist. Ist der dominierende 134 Hans J. Wulff montage/av Akt die „Einladung“ oder die „Kommentierung“ eines Geschehens, ist die Ad- ressierung des Zuschauers unumgänglich. Kommunikativer Kontrakt Nun sind die Aufführungen in Theater und Kino keine Vis-à-vis-Interaktionen, sondern stehen in einem größeren institutionellen Kontext. Vor allem sind sie Teil eines ökonomischen Tauschverhältnisses (zumindest im Regelfall), so dass es nahe liegt, die Beziehung zwischen Zuschauer und Text resp. Textproduzent (in seinen vielen institutionellen Erscheinungsweisen) in einem ökonomisti- schen Modell zu beschreiben: Es liegt ein Vertrag zwischen beiden vor, der die Beziehung sowohl als einen ökonomischen wie einen symbolischen Tausch modelliert. Der Rezipient ist auch ein Konsument. Gerade die ökonomische Dimension der Beziehung ist aus den semiotischen und kommunikationsphilo- sophischen Versuchen, die kommunikative Beziehung mittels der Vertragsme- tapher zu beschreiben, meist ausgeblendet.1 Zwischen Kommunikator und Adressat bestehe ein kommunikativer Kon- trakt, heißt es seit einigen Jahren in der pragmatischen Theorie des Films (Caset- ti 1994 sowie Casetti in diesem Heft). In einem ersten Schritt scheint es vernünf- tig zu sein, den institutionellen Rahmen der Kommunikation von der kommunikativen Beziehung zu trennen. In einem ersten Sinne liegt ein ökono- mischer und juristischer Leistungsvertrag vor, den man Verpflichtung zur tech- nisch perfekten Durchführung des Stücks oder Films nennen könnte. Dass hier ein Vertrag in einem engeren Sinne besteht, ist an der Tatsache ablesbar, dass er ins Spiel gerät, wenn Störungen und Konflikte auftreten. Diese sind gerade inso- fern interessant, weil sie unmittelbar ökonomisch-juristische Implikationen ha- ben. Auf dieser Ebene ist der „Vertrag“ zwischen Anbieter und Zuschauer tat- sächlich ein Vertrag und kann eingelöst werden oder nicht. Ist eine Filmvorführung unscharf oder ist die Tonanlage defekt, besteht ein Anspruch darauf, das Eintrittsgeld zurückzuerhalten. Findet die Aufführung bei strömen- dem Regen statt, fällt einer der Akteure krankheitsbedingt aus, sind Teile der Requisite durch Feuer zerstört: dann kann ein Diskurs über die Leistung, die er- bracht werden sollte, und den tatsächlichen Wert dessen, was angeboten wird, aufgenommen werden, der bis zur Rückforderung des Eintritts gehen kann. 1 Hier besteht ein tatsächlicher, nicht allein metaphorischer Vertrag. In der literaturwissenschaftlichen Tradition, wo bereits länger als in der Medienwissenschaft mit der Vertragsmetapher gearbeitet wird, ist dieser institutionell-ökonomische Aspekt bislang überhaupt nicht thematisiert worden. 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 135 In diesem ersten Verständnis ist es die Institution Theater oder Kino, die als Vertragspartner auftritt und eine technisch beschreibbare Leistung zu erbringen hat. Es gibt aber noch eine zweite Ebene der Bindung, die in der Kommunika- tionstheorie bedeutsam ist und auf der die Beziehung zwischen Text und Rezi- pient ebensfalls vertraglich reguliert ist. Zu diesem Vertrag gehören danach diver- se Maximen, auf die sich die Kommunikationspartner wechselseitig verpflichten. Die Konversationsmaximen von H. Paul Grice – der das Programm einer solchen Pragmatik am explizitesten formuliert und eine Fülle von Folgeüberlegungen an- gestoßen hat – sind ein Versuch, derartige Maximen zu formulieren, die der Kom- munikation – soll sie gelingen – zu Grunde liegen. Es sind recht rohe formale Vor- einstellungen, die demzufolge gelingende Kommunikation ermöglichen: • Bestimmung der Quantität: Sei so informativ wie möglich! • Bestimmung der Qualität: Mache deinen Beitrag wahr! • Bestimmung der Relation: Sei relevant! • Bestimmung der Modalität: Sei klar und deutlich! Grice selbst schränkt den Geltungsbereich der Maximen auf Szenarien der Informationsvermittlung ein (1979, 250), so dass sich eine unvermittelte Über- tragung auf die Kommunikation fiktionaler Inhalte und auf die intentional ganz anders orientierte Kommunikationssituation in Theater und Kino zunächst ver- bietet – allerdings scheint evident zu sein, dass auch diese Formen der Kommu- nikation auf Bedingungen, die selbst nicht mitgeteilt werden, fußt.2 Nun sind die Griceschen Maximen äußerst formal und bilden transzendental- pragmatische Konditionen, die jede Art der Kommunikation einlösen muss. Rom- metveit (berichtet n. Tindemans 1985, 85f) unterscheidet zwei Arten von „unent- behrlichen Bedingungen“, die in der Kommunikation eingelöst sein sollten: • diejenigen Elemente, die Konstruktion einer kurzfristigen gemeinsamen sozialen Wirklichkeit gewährleisten und die man hier situative Elemente nennen könnte; • die von ihm sogenannten Metakontrakte; sie beziehen sich auf das grundsätz- liche Warum der Kommunikation und können möglicherweise als Unterstel- lung einer zusammenhängenden Intention angesehen werden. 2 Searle (1979, 62) knüpft die Bedeutung von assertiven Aussagen an vier Bedingungen: (1) Der Sprecher bürgt für die Wahrheit der Aussage; (2) er muss in der Lage sein, Belege oder Gründe dafür anzuführen; (3) er muss selbst von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt sein; (4) die Behauptung darf nicht zu selbstverständlich sein, sie muss also zumindest minimal informativ sein. Das Fiktionale unterscheidet sich von jener Grundform allein durch die Tatsache, dass hier ein Sprecher/Autor so tut, als äußere er eine nicht-fiktionale Behauptung. Vgl. dazu Kessler (1998, 64ff), der auf dieser Grundlage die Problematik des Dokumentarischen diskutiert. 136 Hans J. Wulff montage/av Aus den Metakontrakten leitet Rommetveit recht automatisch handhabbare Kriterien ab, die ein Element, das im kommunikativen Prozess auftritt, als „pas- send und/oder zutreffend, beabsichtigt und/oder möglich“ (Tindemans 1985, 86) beurteilbar machen. Tindemans weist eindrücklich auf die Verwandtschaft der Metakontrakte zu den Rahmen aus Goffmans Rahmenanalyse (1980) hin (Tindemans 1985, 89). Rahmen sind Konstruktionen, die Leute dazu benutzen, um bestimmte Aktivitäten interpretierbar zu machen. Handlungen oder Geschehensabläufe können erst einen Sinn haben oder einen Sinn machen, wenn sie in einen Rahmen integriert werden können. Will man diese Rahmenbestimmung auf die Besonderheiten der kommunika- tiven Situation des Theaters oder des Kinos übertragen, betreffen die situativen Elemente alle Aspekte der Situation, die der erzählten Welt und den Prozessen ihrer Entfaltung äußerlich sind. Die Metakontrakte dagegen konstituieren das Verhältnis des Zuschauers zum Text und umfassen • alle semantischen Voreinstellungen, die die jeweils besondere Aufführung in den Horizont des Textwissens sowie des Wissens über die intentionalen Rah- men, in denen Texte der jeweils besonderen Art stehen, einrücken. Sie umfassen darüber hinaus • operationale Elemente, die den Umgang des Zuschauers mit dem Text resp. mit der Aufführung betreffen – die Bereitschaft zur Empathie, die Voreinstel- lung auf einen Prozess der imaginativen Affekt-Modulation, die Bereitschaft, in die moralische Evaluation eines Problems einzutreten etc. Alle Prozesse der Auswahl eines Textes aus einer Menge alternativer Angebote, Zeit zu verbringen, sind in der Situation in Kino und Theater schon beendet. Scheinbar ist die Rezeption in einem „medialen Angebotsraum“ wie dem Fern- sehen, in dem permanent Alternativtexte zur Verfügung stehen, oder in dem noch viel weiteren „Alltagsraum“ des (abendlichen) Freizeitangebotes grund- sätzlich anders gelagert als die Rezeption in einer „Aufführungsbedingung“ wie der Theater- oder Kinovorstellung. Odin (1995a, 233) macht z. B. darauf auf- merksam, dass die Geltung eines Mitteilungsvertrages in heutiger Fernsehlek- türe weitgehend ausgesetzt sei – sie gleiche eher einem „Kontakt“ als einem „Kontrakt“, heißt es dort. Der Einwand ist aber nicht stichhaltig, weil der Kon- trakt in verschiedenen Stufen erst ausgehandelt wird, wobei die Verbindlichkeit des Kontraktes immer höher ansteigt. Der Kontrakt antwortet auf eine Evalua- tion des Angebots und der angestrebten Gratifikationen. Erst wenn der Zuschauer im Durchgehen des Angebots gewiss geworden ist, was das Pro- gramm des Abends sein wird, und wenn er dazu ein Angebot gefunden hat, wel- 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 137 ches das Bedürfnis des Abends erfüllen könnte, wird der Kontrakt installiert – weil erst dann der tatsächliche und sach- oder geschichtenbezogene Informa- tionsaustausch einsetzt. Der kommunikative (oder mediale) Kontrakt ist also nur ein Element einer größeren Sequenz von Operationen, in denen die Zuwen- dung zum Text aufgebaut wird. Auch wenn die Einschränkung mechanisch argumentiert, könnte man sagen, dass ein kommunikativer Vertrag mit allen Implikationen erst dann in Kraft treten kann, wenn die Entscheidung zur Auf- nahme des kommunikativen Austauschs gefallen ist. Die Geltung dieser kommunikativen Voreinstellungen ist auch für den Text- produzenten bindend. Das Vertrauen, dass er die kommunikative und situative Kontrolle über das Geschehen hat, resultiert aus der Selbstverständlichkeit, mit welcher der Zuschauer in die Rolle des rezipierenden und den Text goutieren- den Subjekts eintritt. Wird die Leinwand zerschnitten, werden die Schaupieler mit Tomaten beworfen, werden Teile der Einrichtung zerstört, sind elementare Absprachen, die normalerweise automatisch eingehalten werden, außer Kraft gesetzt. Wie stark die Absprache ist, zeigen Versuche wie Handkes Publikums- beschimpfung, die deshalb nicht wirklich funktionieren können, weil der Zu- schauer solcher Spektakel in der kommunikativen und semantischen Rolle des Zuschauers verbleibt und dadurch die Ernsthaftigkeit der Beschimpfung aus- setzt. Gemeinhin ist die kommunikative Macht dem Textproduzenten überge- ben, und man unterstellt, dass die Elemente, die er in der Aufführung des Stü- ckes benutzt, nach solchen Gesichtspunkten wie Relevanz, Sinnhaftigkeit, funktionale Bindung verwendet werden. Gelegentlich finden sich – im Rahmen einer Spielhandlung dargestellte – Bei- spiele, wie ein Schauspieler unfähig ist, eine Rolle zu performieren. Ihm steht dann ein verwirrtes Publikum gegenüber, befangen in einer Irritation, die da- durch entsteht, dass das Verhalten des Akteurs offenkundig die Absprache, für die Zeit der Aufführung in die Rolle des Stücks einzutreten, missachtet, so dass Stücke des Bühnengeschehens nicht auf den dichten Illusionierungsprozess des Stücks bezogen werden können.3 Wie dicht die Illusionierungserwartung ist, zeigt auch eine Anekdote aus einem Moskauer Theater, das in Brand geriet. Der 3 Diese Filme sind interessant, weil sie den Schauspieler in der Spannung zwischen Leistungs- anforderung und -fähigkeit zeigen. Dass er hier als „Dienstleister“ in einem Publikumsvertrag agiert, könnte als interpretative Klammer dienen. Ein Beispiel könnte Cassavetes’ Opening Night (Die erste Vorstellung, USA 1977) sein. Ein anderes Beispiel findet sich in Die Unberührbare von Oskar Roehler (Deutschland 2000): Dort gibt es Nebenfiguren wie den Hotelportier, die aus dem Illusionierungsraum herauszufallen scheinen, weil sie ihr Spiel überziehen, es nicht dem Gesamtstil unterordnen. 138 Hans J. Wulff montage/av Clown, der das Publikum zu warnen versuchte, wurde nicht ernstgenommen, was die meisten aus dem Publikum mit dem Tode bezahlten. Zur Auslotung der Metakontrakte sind Experimentalfilme, die sich der ge- schlossenen Sinnerwartung widersetzen, aufschlussreiche Dokumente. Insbe- sondere der aleatorische Film, dessen Elemente ausschließlich durch formale Kriterien (wie Rhythmus oder Farbe) selektiert sind und der auf jede Art von Sinnzusammenhang verzichtet, steht in striktem Kontrast zu der Kontinuitäts- und Konsistenzerwartung, die aus solchen textuellen Akten wie dem Erzählen abgeleitet sind. Die in der institutionellen Situation des Theaters oder des Kinos unterstellte hohe Kontrolle, die der Sprecher über das Stück oder den Film hat, über seine semantische Dichte und über den Sinnzusammenhang aller Teile, wird hier offenbar nicht eingelöst (und gerade darin besteht der Kunstcharakter derartiger Formen). In der Kritik, möglicherweise aber auch im Zuschauergespräch finden sich immer wieder Wendungen, die den intentionalen Horizont einer Äußerung, ei- nes Handlungsteils, einer Wendung des Geschehens oder eines ganzen Textes auszuloten versuchen. Diese Diskursstücke deuten darauf hin, wie zentral die Unterstellung einer globalen Textintention für den Aufbau eines Verständnisses ist. Die Beobachtung lässt sich im Horizont der Bedeutungsanalyse von Grice interpretieren. Die schon oben erwähnten Konversationsmaximen sind die Vor- aussetzung für die von ihm sogenannte konversationelle Implikatur. Er versteht darunter einen Schluss, den der Hörer auf die Intentionen des Sprechers voll- zieht. Die Maximen regulieren diesen Prozess und sichern ihn ab. Die allgemei- ne Definition für eine konversationelle Implikatur lautet wie folgt: Wenn (oder indem) jemand sagt, dass p (oder so tut als würde er dies sagen), hat er konversationell impliziert, dass q, falls: (1) der Sprecher beachtet die Konversationsmaximen, mindestens aber das Kooperationsprinzip; (2) Die Annahme (1) ist mit dem Umstand, dass der Sprecher sagt, dass p (oder so tut als würde er dies sagen, oder es gerade mit diesen Worten tut), nur in Einklang zu bringen, wenn der Sprecher sich bewusst ist oder denkt, dass q; (3) der Sprecher denkt (und erwartet vom Hörer, dass dieser denkt, der Spre- cher denke so), dass es in der Kompetenz des Hörers liegt auszuarbeiten oder zumindest intuitiv zu erfassen, dass die Annahme (2) erforderlich ist. (Wun- derlich 1974, 329) Es entsteht also eine wechselseitige Schluss-Erwartung, die den intentionalen Horizont einer Äußerung erschließbar macht. Grundlegend ist wiederum eine 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 139 Schichtung dreier Teilintentionen, die eine reflexive Rückbindung der Intention leisten: ‚S meint etwas mit der Äußerung x‘ ist genau dann wahr, wenn S die Äußerung x vor einem Auditorium (Hörer) H tat und dabei intendierte: (1) dass in H ein bestimmter Effekt r hergestellt wird (bzw. dass H einen bestimmten Effekt r herstellt), (2) dass H denkt (erkennt) dass S (1) intendiert, (3) dass für H (1) erfüllt wird auf der Basis der Erfüllung von (2) (ibid., 330).4 Für dramaturgische Formen tritt noch eine Intention höheren Grades hinzu, die ich hier Metaintention nennen will. Sie besagt, dass der Hörer nicht nur erken- nen soll, dass er die Reaktion r zeigen soll, sondern dass er außerdem erkennen soll, dass der Sprecher dieses sein Erkennen intendiert (so auch in anderem Zusammenhang Wunderlich 1974, 330f). Diese letztere Form gehört vielleicht zu jenen ästhetischen Ausdrucksformen genuin dazu, welche die eigene Gemachtheit ausstellen und darin ein beständig mitlaufendes Kommunikations- thema verfolgen. Durch die Einbindung in die konversationelle Implikatur ist der Rekurs auf die Offenheit der intentionalen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer ein fester Teil der ästhetischen Kommunikation, zumal es bei fiktio- nalen Formen nicht um die Bedingungen der Wahrheits- oder Wahrhaftigkeits- unterstellung geht, sondern um die Evaluation der Kriterien der Folgerichtig- keit, Wahrscheinlichkeit, Plausibilität, der semantischen Dichte etc. In eine ähnliche Richtung gehen auch einige neuere Überlegungen zur Fiktio- nalitätsproblematik. Oft ist von der Rezipientenseite ausgegangen worden. Da- nach ist der Adressat der Fiktion dazu in der Lage, sich auch auf solche mögli- chen Welten einzulassen, die Glaubenssätze enthalten, welche er nicht teilt. So kann er eine Geschichte sinnvoll und „von innen her“ verstehend rezipieren, in der übernatürliche Wesen agieren, obwohl er selbst nicht an die Existenz derar- tiger Existenzen glaubt (Livingston 1996, 161). Nun hat Gregory Currie ver- sucht, diese Fähigkeit auf pragmatische Grundlagen zurückzuführen: Was in ei- ner fiktionalen Welt als „wahr“ anzusehen ist, ist danach das, was der Erzähler für „wahr“ hält (Currie 1990, 76, passim; 1995, 260ff). Der Erzähler ist für ihn der implizite Autor, eine symbolische Bezugsgröße, die im Akt der Rezeption aufgebaut wird (zur Kritik vgl. Livingstone 1996, 162f). Zu dieser Figur gehört die Unterstellung des kommunikativen Verhältnisses, möchte man fortsetzen: Weil der „implizite Autor“ nur ein Name für die unterstellte Sinnhaftigkeit und 4 Zu Grice vgl. die bei Wunderlich verarbeitete Literatur. 140 Hans J. Wulff montage/av Intentionalität der Äußerung ist. Es geht also nicht um die Unterstellung sub- jektiver Absichten, sondern um einen intersubjektiven Rahmen von Intentiona- lität. Die Äußerung, die sich konventioneller Formen bedienen muss, stehen ebenso wie die Reaktionen oder Effekte der Äußerung in einem durch die kon- versationelle Implikatur geschlossenen Rahmen (Wulff 1999, 68ff).5 Kommunikatives Vertrauen Für den kommunikativen Vertrag gibt es wie in allen Verträgen eine Vertrauens- dimension, Kommunikation ist ein „Geschäft mit Vertrauen“. Das Vertrauen in die kommunikativen und interaktiven Regeln der Situationen des Alltagslebens ist eine notwendige Bedingung gemeinsamen Handelns (vgl. Garfinkel 1963; Juchem 1988). Es ist ein Basisvertrauen, das allen Handlungen zu Grunde liegt (Juchem 1988, 110). Es ist die Voraussetzung für das, was Giddens (1990, 92) ontologische Sicherheit (ontological security) genannt hat. Es ist „the sine qua non of social life“ (Silverstone 1994, 6), und es ist die Grundlage des Kommuni- kationsvertrages zwischen den Handelnden. Die ontologische Sicherheit ist um so größer, je vertrauter die Situation für die Handelnden ist. Sicherheit und Ver- trauen sind zwei Ansichten der gleichen Tatsache. Die Vertrautheit hängt wie- derum von dem Wissen der Beteiligten über die Situation und die Möglichkeiten ihrer Bewältigung ab (vgl. Schütz 1982, 187ff). Nach Giddens sind Vertrauen und ontologische Sicherheit das Produkt einer aktiven Bindung an die Realität, einer Bindung in die Ereignisse, stereotypen Muster, Beziehungen und Institu- tionen des Alltagslebens. • Sie ist physisch und umfasst Körperpräsenz, Vis-à-vis-Interaktion, Kommu- nikation und Sprache; • sie ist kognitiv und verlangt Verstehen, Gedächtnis, Reflexivität, ein Be- wusstsein über Raum und Zeit; • sie ist affektiv, was meint, dass unsere Beziehungen zu Objekten, anderen Menschen und Symbolen in besonderer Weise ausgerichtet sich und sich in eine gewisse Anzahl von meist unbewusst errichteten (affektiven) Beziehun- gen entfaltet (Giddens berichtet n. Silverstone 1994, 5f). 5 Dieses Prinzip wird nach Walton treffend mutual belief principle genannt (Walton 1993, 150ff). Die Differenz zu den normalerweise geltenden Interpretationsweisen der Alltagswelt ist „in ge- genseitigem Einverständnis“ etabliert, und es gehört zur Fiktionalität dazu, dass der Zuschauer, Hörer oder Leser weiß, dass er sich auf belief systems einlassen muss, die nicht seine eigenen sind. 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 141 Kommunikatives Vertrauen ist also aktiv hervorgebracht und umfasst mehrere verschiedene Schichten und Arten von Bindung. Das bedeutet auch, dass es sich um eine fragile Beziehung zwischen den Kommunizierenden und dem Kommu- nikat handelt, die außer Geltung geraten oder auch aktiv aufgekündigt werden kann. Darauf wird später zurückzukommen sein. Die Vertrauensmomente sind im Falle der Theater/Kino-Zuschauer-Bindung kompliziert, weil sie nicht nur eine ontologische Absicherung des Zeichenver- kehrs vornehmen, sondern auch enger mit den besonderen Interessen der Kom- munizierenden zusammengehen. Verträge sind gemeinhin durch eine gegensei- tige Nutzen-Erwartung gesteuert. Im Falle des Vertrages, der der Situation in Theater und Kino unterliegt, ist aber nicht allein die Nutzendimension zentral, sondern auch die vorausliegende affektuelle Grundlage des Vertrages. Das Gut oder die Leistung, die vereinbart wird, ist nur darum in Nutzenkategorien zu er- fassen, weil es in unserem besonderen Fall um ein Spiel mit Erwartungsaspekten geht, die selbst nicht in den Vertrag eingehen, dennoch aber stillschweigende Ei- genheiten des Nutzens bezeichnen, den sie definieren. Angst, Wunsch und ande- re Erwartungsaffekte bilden die motivationale Voraussetzung des Vertrages selbst und bilden zugleich sein kategoriales Netz aus. Vertrauen ist zum einen eine praktische Vorausleistung, die eine kommunikative Bindung ermöglicht. Sie basiert zum anderen auf Konventionalität – sowohl hinsichtlich der Kom- munikationssituation wie auch hinsichtlich des konkreten Inhaltes einer Kom- munikation. Die Vorausleistung, die das Ensemble kommunikativer Erwartun- gen und Vertrauensleistungen umfasst, ist auf mindest drei Ebenen zu benne- nen. Aus der Sicht des Zuschauers: • Konditionen des institutionellen Rahmens: Ich bin im Theater (im Kino, kann man sinngemäß immer ergänzen), ich darf erwarten, dass das Theater das Stück zeigt, das angekündigt ist; ich bin sicher, dass ich während der Auffüh- rung nicht gefährdet oder beschädigt werde, ich darf erwarten, dass die Auf- führung so gut wie möglich realisiert wird.6 • Konditionen der Gratifikationserwartung: Ich darf zudem erwarten, dass die Inszenierung des Stücks auf mein Erleben ausgerichtet ist, dass sie mir er- 6 Die Kondition kann unter besonderen Umständen variiert werden – es kommt wiederum auf die Art von „Theater“ an, auf die der Zuschauer eingestellt ist. Ende der 80er Jahre waren im „Off“-Theater z. B. Aufführungen beliebt, in denen die Akteure auf die Zuschauer losgingen, sie mit Farbe, Mehl und künstlichem Blut bewarfen und über die Provokation in das Spiel hineinzuziehen suchten. Das setzt die Bedingung des institutionellen Rahmens nicht außer Kraft: die Zuschauer wussten um diese besonderen Aufführungsbedingungen 142 Hans J. Wulff montage/av möglichen soll, dem Geschehen lustvoll zu folgen, dass die Regeln des Dra- mas geachtet sind. • Konditionen der Moral: Und ich darf erwarten, dass die Regeln des guten Ge- schmacks nicht überschritten werden (oder zumindest nicht in einem uner- träglichen Maß), dass die Darsteller im fiktionalen Gegenüber nicht gefährdet sind, dass das Spiel also Spiel bleibt. Weil der Kontrakt konventionsabhängig ist, fächert er sich in eine ganze Reihe von Subformen auf – Fiktionalitätsverträge, Spannungsverträge, Dokumentaris- musverträge. Diese Rückbindung textueller Kommunikation in die verschiede- nen Textsorten, Modi der Referenz und Wirklichkeitshaltungen des Sprechens hat seit den siebziger Jahren mehrfach Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein besonderes Problem hat dabei die Frage dargestellt, wie Nachrichten als ‚glaub- würdig‘ angesehen sein können. Greimas und Courtès (1979, 417f) sprechen von einem contrat de véridiction, der begründen soll, warum mediale Aussagen über Realität als ‚Nachrichten‘ und und nicht als ‚Fiktionen‘ wahrgenommen wer- den. Greimas greift diesen Gedanken später wieder auf: Discourse is a fragile locus where truth and falsity, lies and secrets, are ins- cribed and read. These modes of veridiction result from the twofold con- tribution of the sender and receiver. The different positions are established only in form of a more or less stable equilibrium arising from an implicit agreement between those two actants of the communication schema. It is this tacit agreement that we chose to designate with the term veridiction contract. (Greimas 1989, 653) Ähnlich, wie Grice die Konversationsmaximen nicht als transzendentale morali- sche Bindungen der Kommunikation, sondern als ihre logischen Grundlagen ansieht, ist auch bei Greimas der kommunikative Austausch in ein Verhältnis der gegenseitigen Unterstellung gebunden, sonst könnte er nicht funktionieren. Nun bedarf es natürlich genauerer Bestimmungen, worin die Verpflichtungen bestehen, die ein derartiger Vertrag für die Vertragspartner festlegt. Wiederum ist es hier nötig, die Überlegungen auf mediale Kommunikationsbeziehungen einzugrenzen: This contract doubly binds the sender and receiver relationship by corre- lating the sender‘s persuasive function with the receiver‘s possibility-of- belief function. For discourses that base themselves on enunciating the truth, the fiduciary contract grants both a discursive status and legitimacy. (Escudero Chauvel 1997, 101) 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 143 In diesem Sinne definiert Escudero Chauvel (ibid, 101) den media contract als Voraussetzung dafür, dass der Zuschauer die präsentierte Information als ‚wahr‘ ansieht. Die Authentifizierung einer Nachricht geschieht diskursiv, auf der Basis konventioneller Markierungen, und nicht durch Verifizierung. Der Ver- trag ist ein Sonderfall der sozialen Verträge (ibid., 103) und schreibt vor allem fest, dass die Realwelt die Referenzwelt der Nachrichten ist.7 Differenzierter ist Hattendorfs Darstellung (1994, 116f). Er gibt zunächst einen kurzen und verein- fachenden Aufblick auf Casetti (1994), bevor er auf ein dokumentarfilmtheore- tisches Problem übergeht. In einem Modell, in dem die ‚Authentizität‘ des Dokumentarischen in einem pragmatischen Zusammenspiel von Text und Rezi- pient erfasst werden soll, spielt der kommunikative Kontrakt erst auf einer sehr späten Stufe eine Rolle: • Authentisierende Signale im Text, die Authentizität versprechen, produzie- ren zuschauerseitiges Interesse;8 • authentisierende Strategien des Textes stimulieren Zustimmung (consent): und erst dann, wenn beides gewährleistet ist, kommt es zur Übernahme des Vertrages (contract agreement). Hattendorf spezifiziert dabei die Bedingungen des Kontraktes so weit, dass dabei auch ein besonderer signifikativer Modus vereinbart bzw. als geltend unterstellt wird. Die Frage ist, ob das kommunikative Verhältnis logisch schon lange vorher geschlossen wird, weil ein Film als authentisch, aber auch als ideologisch verzerrt aufgefasst werden kann. Tatsächlich lässt sich eigentlich erst am Ende festellen, ob ein Film wirklich authentisch-wahrheitsgetreu berichtet hat oder nicht. Das hängt eng damit zusammen, dass der Rezipient in einem Verständigungsprozess immer damit rechnen muß, dass das Gegenüber willentlich, aus Unwissen oder verse- hentlich täuscht, lügt, verzerrt. Das heißt: Die Auseinandersetzung mit der Frage 7 Klemens Hippel weist darauf hin, dass auch Greimas den Vertrag in dieser Hinsicht durchaus nicht metaphorisch nimmt, sondern vielmehr davon ausgeht, dass der Kommunikation von „Wahrheit“ ein tatsächlicher Austausch zu Grunde liege, so dass also auch solche Implikationen des Vertraglichen wie Werterfüllung, Pflichtbindung, Sanktionierbarkeit im textuell-kommuni- kativen Verkehr gelten; vgl. Hippel 2000, 56, Anm 1. Frank Kessler hat in seinem oben bereits erwähnten Artikel „Fakt oder Fiktion“ (1999) den Akzent der Diskussion deutlich auf die Rezep- tion verschoben – es gehe danach bei der Unterscheidung Fiktion/Nonfiktion in pragmatischer Hinsicht darum, dass eine (vom Betrachter unterstellte) nonfiktionale Intentionalität die Bedingung der Möglichkeit darstelle, überhaupt sinnvoll die Frage nach Wahrheit oder Lüge des dokumentarischen Diskurses stellen zu können. Mir geht es hier aber nicht darum, diese Diskus- sion nachzuzeichnen, sondern um das Arbeiten mit der modellhaften Vorstellung des „Kontrak- tes“, um pragmatische Beziehungen der textuell vermittelten Kommunikation zu beschreiben. 8 Greimas spricht entsprechend von veridiction marks; vgl. Greimas 1989, 654. 144 Hans J. Wulff montage/av nach dem tatsächlichen Wahrheits- oder Authentizitätsgehalt eines Films ist Teil des kommunikativen Verkehrs und nicht seine Bedingung. Die Sinnunterstellung, die die Aufführung begleitet, ist komplementär. So, wie der Zuschauer erwarten darf, ein Produkt präsentiert zu bekommen, das die Vorankündigung einzulösen sucht, darf der Textproduzent erwarten, dass der Zuschauer bemüht ist, den angebotenen Sinn- und Bedeutungszusammenhang nachzuvollziehen. Besteht der Kommunikationsvertrag in der „Selbstverständ- lichkeit der reziproken Erwartungen in der Alltagswirklichkeit“ (Juchem 1988, 213, Herv. HJW), ist die gegenseitige Unterstellung erwartbaren Handelns auch in Theater und Kino für den Austausch grundlegend. Die Handelnden unter- stellen sich in den situativen Zusammenhängen der Alltagskommunikation wechselseitig die Einhaltung der Regeln und Bedingungen der Kommunikation und Interaktion sowie die Gemeinsamkeit der Deutungsmuster. Das dem Kom- munikationsvertrag zu Grunde liegende Basisvertrauen existiert nicht unabhän- gig von den handelnden Individuen: Das Basisvertrauen als unbezweifeltes Vertrauen in die Kommunikations- und Handlungsbedingungen der Alltagswirklichkeit wird durch seine reflexive Wirksamkeit nur deshalb erhalten, weil diese Bedingungen gera- de nicht als System existieren, sondern in jeder konkreten Situation auf der Basis unterschiedlicher Erfahrungen von den Gesellschaftsmitglie- dern ‚produziert‘ werden. (ibid., 237) Auch der Kommunikationsvertrag existiert nicht unabhängig von den handeln- den Subjekten, sondern wird von ihnen in jeder Situation neu ausgehandelt. Die Untersuchungen Tindemans‘ (1985) an Zuschauerinterviews zeigen nun deutlich, wie die Reziprozitätsunterstellung des kommunikativen Vertrags mit der Eröffnung von Freiräumen für die Inszenierung des Stücks einhergeht. Das „Vertrauen bezieht sich auf die Kompetenz des anderen Partizipanten, und – da- ran gekoppelt – auf das Bewusstsein, dass die Spezifität des Expedienten [d. i. des Textproduzenten] die idiosynkratische Art der Mitteilung mitbestimmt“, heißt es dort (ibid., 88). Aus dem Eingehen eines kommunikativen Vertrages re- sultiert also kein unbedingter Erfüllungsanspruch, sondern es wird die Erwar- tung einer Bemühung um Erfüllung des Vertrages abgeleitet und gleichzeitig ein Freiraum etabliert, in dem das besondere Anliegen, die besonderen ästhetischen und stilistischen Bedürfnisse des Produzenten, aber auch seine Virtuosität und seine privaten Obsessionen und Vorlieben entfaltet werden können. Gerade in dieser Differenz von vertraglicher Bindung und Varianzerwartung liegt eine be- sondere Qualität der Produzent-Zuschauer-Bindung in Theater und Kino. Eine bare Erfüllung der Zuschauererwartung wäre eine Minimal- oder sogar Unter- 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 145 erfüllung des Vertrages – die besondere, sich also vom Nur-Erwartbaren entfer- nende Ausfaltung der Geschichte oder des Dramas sind Teil des Austausches. Der Vertrag ist darum nicht vollständig symmetrisch und lässt sich nicht nur in die Vorstellung einer Tausch-Beziehung auflösen, sondern umfasst die Erwar- tung einer ästhetischen Differenz zwischen Wissen und Erfüllung. Nun komplizieren diese Beobachtungen die Frage einer Vertragsbindung der Beziehung zwischen Institution, Stück und Zuschauer aber weiter: Wenn die beiden Vertragsrollen zwar komplementär, aber nicht symmetrisch sind, ist es denkbar, dass die Kontrakte zwischen Text und Rezipient voneinander abwei- chen, und was geschieht dann? Casetti (1994) ist gerade auf diese Frage einge- gangen. Er schließt sich Greimas‘ Vorschlag, von voneinander abweichenden Verträgen auszugehen, an, und dynamisiert die Beziehung zwischen den Ver- tragspartnern weiter, indem er – ähnlich wie Juchem (s.o.) – davon ausgeht, dass Kontrakte ausgehandelt werden und nicht als kommunikative Schemata immer schon vorliegen (vgl. dazu auch Casettis Beitrag in diesem Heft). Genrekontrakt Tatsächlich gilt wohl für alle Verträge, die auf Erfüllung gerichtet sind, dass sie konditionelle Vorausannahmen enthalten, aber nicht vor dem kommunikativen Akt schon erfüllt sind. Für die Untersuchung der pragmatischen Bindungen dramaturgischer Arbeit ist diese Überlegung äußerst wichtig, weil zum Kom- plex der dramatischen Erwartungen auch – wie oben bereits erwähnt – Diffe- renzqualitäten des Produkts rechnen. Es ist evident, dass der jeweils besondere Kontrakt auf Erfüllungsbedingungen ausgerichtet ist, die eine gemeinsame Wis- sensbasis voraussetzen. Darum sind Gattungscharakt eristiken so wichtig, weil sie eine Vorfestlegung über das umfassen, was der Text leisten und an Gratifika- tionen bereitstellen kann. Sie grenzen aber nicht nur den Spielraum ein, in dem der Text entfaltet werden kann, sondern setzen auch die Vorausleistungen fest, die der Zuschauer zu erbringen hat. Zwischen Autor und Leser muss eine Ver- einbarung stillschweigend getroffen sein, die Fiktionalitätsgrad und Stimmig- keit von Geschichte und erzählter Welt festlegen (Searle 1979, 73)9 und die darum gelegentlich durch den Text nicht eingelöst werden – Erwartungen basie- ren genau auf derartigen Übereinkünften, sind nicht allein schemagesteuert (das ist ihr kognitives Zentrum), sondern haben auch eine pragmatische Grundlage. 9 Zur Kritik daran vgl. Kessler 1998, 65. 146 Hans J. Wulff montage/av Roger Odin hat die Operationen, die der Zuschauer vollziehen muss, zu bestim- men versucht. In einer ganzen Reihe von Untersuchungen hat er Faktoren iso- liert, die Gattungen wie den fiktionalen und den dokumentarischen Film, den Amateurfilm usw. als „Institutionalisierungen“ fassen, weil sie mit einem begrenzten und detailliert bestimmbaren Set von Lektüremustern koordiniert sind (Odin 1994, 39ff; 1995, 217; 2000).10 Wenn ein Zuschauer in die Lektüre eines fiktionalen Films eintritt, muss er demnach fünf Operationen vollziehen: • Er muss bereit sein, einen diegetischen Raum aufzubauen; • er muss bereit sein, eine Narrativisierung eines Geschehens zu akzeptieren und als narrative Kette von Handlungen aufzubauen; • er muss auf ein mise en phase eingestellt sein, worunter Odin einen Abgleich filmischer und diegetischer Strukturelemente versteht, die z. B. rhythmische Muster ergeben, in denen die Ereignisse repräsentiert werden, auf die der Zu- schauer sich wiederum einlassen muaa; die mise en phase ist dabei eine beson- dere ästhetische Qualität des Produkts; • er muss einen absenten Erzähler (einen Enunziator) als strukturelle Rolle im Prozess der Mitteilung der Geschichte aufbauen, auch wenn dieser nicht im Text repräsentiert ist; • er muss das erzählte Geschehen fiktionalisieren, es also als nicht auf eine äu- ßere Realität referierend ansehen (Odin 1988; ähnlich 1995a, 228f).11 Nach dieser Ansicht unterscheidet sich der dokumentarische Film nur insofern vom fiktionalen, als der Zuschauer den Erzähler als real aufbaut, so dass er die Wahrheit der Geschichte verbürgen kann. Offenbar hat Odin hier eine kommu- nikationsethische Verpflichtung zur Wahrheit im Sinn, die an Grice‘ Konversa- tionsmaximen erinnert. Odin hat das Modell mehrfach variiert (Odin 1988, 1995, 1998, 2000), hat aber daran festgehalten, dass die Differenz der Gattungen sich als „Einstellungsoperationen“ des Rezipienten festmachen ließen. Der Zuschauer ist für ihn dabei kein spezifisches Individuum, sondern eine struktu- relle Rolle in der medialen Konstellation – in seinen eigenen Worten: „the point of passage of a bundle of determinations“ (Odin 1995, 215). 10 Vgl. auch den knappen Überblick bei Casetti 1999, 257. 11 Ich homogenisiere Odins Arbeiten vielleicht unzulässigerweise. Insbesondere der Text von 1988 und der von 1995 differieren in dieser Benennung der Operationen sehr: In der ersten Fas- sung von 1988 nennt Odin noch Operationen wie Figurativisation, Monstration und Croyance, die er später modifiziert oder ganz aufgibt. Der Entwurf von 2000 schließlich nennt folgende Operationen: diegetisieren, narrativisieren, mettre en phase, die enunziative Struktur konstru- ieren, fiktionalisieren (den Modus der Darbietung als fiktional erkennen). Den Hinweis danke ich Britta Hartmann. 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 147 Es entsteht eine Reihe unterschiedlicher Modi der Bedeutungs- und Affekter- zeugung12, die zugleich die großen Gattungen des Films unterscheiden. Gattun- gen sind definiert durch den Zuwendungs- und Verarbeitungsmodus, die dem Zuschauer zudiktiert sind, nicht durch innere Konditionen oder gar durch sub- stanzielle Differenzen. Im Einzelnen unterscheidet Odin: • einen spektakulären Modus (spectacular mode), der vor allem in eskapisti- schen Filmen auftritt und im wesentlichen Ablenkung und Entzug als kom- munikative Ziele verfolgt; • einen fiktionalen Modus (fictional mode), in dem der Zuschauer versucht, sich in den Rhythmus der erzählten Ereignisse einzustimmen und mit den Fi- guren zu empathisieren; • einen energetischen Modus (energetic mode), in dem der Zuschauer primär auf die Rhythmik der Darstellung orientiert ist und für den der aktuelle In- halt sekundär ist, ein Stammbeispiel ist das Musical; • einen privaten Modus (private mode), in dem der Zuschauer zu eigenen Er- lebnissen zurückzugehen versucht, als Beispiel kann der Familienfilm dienen; • einen dokumentarischen Modus (documentary mode), in dem der Zuschauer sich über Realität informiert; • einen argumentativen Modus (argumentative mode), wie er im Lehrfilm be- dient wird und der darauf ausgerichtet ist, Lektüre als Mittel des Lernens ein- zusetzen; • einen künstlerischen Modus (artistic mode), der vor allem auf die Entzifferung der Autorenintention orientiert ist und der im art cinema und im Essayfilm gehäuft auftritt; • einen ästhetischen Modus (aesthetic mode), der auf die Oberfläche des Textes orientiert ist und der vor allem im Experimentalfilm auftritt (Odin 1994, 34–37; zusammengefasst bei Casetti 1999, 256f). Es ist deutlich, dass Modi gemischt werden können und dass die Lektüre eines Films (oder Stücks) nacheinander verschiedene Modi aktivieren kann. In der Produktion eines Films sind die Modi bekannt, und der Produzent eines Films kann in die Lektüren eingreifen, indem er im Verlauf des Films auch einen Weg durch verschiedene Zuwendungsmodi vorzeichnet. Umgekehrt ist die Fähigkeit eines Zuschauers, sich souverän zwischen Zuwendungsmodi bewegen zu kön- nen, Indiz für eine mehr oder weniger entwickelte kommunikative Kompetenz (so auch Casetti 1999, 257). Die Modi sind schließlich medienunspezifisch, auch 12 Odin (1994, 34) spricht von „un mode est une procédure spécifique de production du sens et d’affects“. 148 Hans J. Wulff montage/av wenn es Präferenzmedien gibt, die einen Modus bedienen. So ist das kommer- zielle Hollywoodkino eine ökonomische und symbolische Institutionalisie- rungsform, die den spektakulären, den fiktionalen und den energetischen Modus für große Zuschauerpopulationen bedient. Es ist deutlich, dass sich man- che Mediengemeinschaften von anderen abzugrenzen versuchen, indem sie andere Modi als gemeinhin üblich an einem Material ausprobieren, so dass der Umgang mit Filmen auch zur binnengesellschaftlichen Differenzierung und zur Abgrenzung besonderer Fan-Gemeinschaften gegen die anderen benutzt wer- den kann. Manche Modi sind in einem viel weiteren Feld symbolischer und ideologischer Ordnungen begründet und gehen über eine Film- oder Theater- gattung weit hinaus. So ist der Familienkomplex, der dem privaten Modus zuge- ordnet ist, natürlich eine fundamentale gesellschaftliche Ordnung. Ob die Überlegungen Odins so auch auf die Genres im engeren Sinne übertra- gen werden können, ist zunächst unklar, sind doch viele Genredefinitionen sub- stanziell angelegt. Beispiele wie „Melodram“, „Thriller“ oder „Horrorfilm“ deuten aber darauf hin, dass dem Genrekonzept eine affektuelle Ausrichtung des Zuschauers innewohnt (Odin 1995, 217f). Genres sind nicht allein Ge- schichten eines gewissen Typs, sondern implizieren auch Rezeptionsaffekte ei- ner jeweils besonderen Art. Gerade diese spielen in den Prozessen der Selektion oder des Präferierens eine bedeutsame Rolle, koordinieren sie doch die (mor- phologische) Größe des Genres mit (affektuellen) Effekten in der Rezeption, verkoppeln Text, Rezeptionsemotion und Gratifikation. Am Beispiel der Genrefestlegung des Produkts lässt sich also zeigen, dass und wie Genres als mehrfach orientierte transitionale Erwartungsmuster auch zum Gegenstand einer pragmatischen Bindung zwischen Text (oder Institution) und Zuschauer werden können. Schatz definiert Genres in diesem Sinne als eine Ver- ständigungsgrundlage zwischen Produzenten und Rezipienten. Er nennt dieses einen „tacit ‚contract‘ between filmmakers and the audience“ (1981, 16; ähnlich Mikos 1996; 2001). Kommunikativer Austausch, ein ökonomisches Tauschmo- dell und Konventionalisierung gehören so zusammen (vgl. Giles 1984). Man kann nun Genrewissen in seinen Funktionen beim Eintreten in eine Rezeptions- situation untersuchen und wird feststellen, dass die Formelhaftigkeit des Genre- textes nicht eng ausgelegt ist, sondern als kognitive Rahmenvorgabe dient: zum Aufbau der Erwartung an einen Geschichten- und Erzählmodus, zur Vorstruk- turierung eines Erwartungsfeldes von Figuren, Handlungen und Konflikten so- wie als Rahmen für einen erwartbaren Gratifikationstyp.13 13 Erwähnt sei die Anekdote vom Kinobesitzer, der auf der „Roten Meile“ in St. Pauli „Schweine- filme“ ankündigte und tatsächlich Filme über Haus- und Wildschweine zeigte. Ein Gericht klärte, 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 149 So, wie in der Vis-à-vis-Interaktion aus der Wiederholung von Verhalten seine Ritualisierung entsteht, die als Schemata gewusst werden und die darum erwart- bar sind, lassen sich auf allen Ebenen und in allen Formen der Kommunikation Prozesse der Schematisierung und Stereotypisierung festmachen. Insbesondere gehören auch Muster der Sachverhaltsdarstellung und Muster der Erzählung dazu, die von den Kommunizierenden wechselseitig gewusst sind und im aktu- ellen Vollzug als gewusst unterstellt werden können. Der aktuelle Äußerungs- akt umfasst das Wissen um das Erwartbare, sei es, dass es in Andeutungen und Präsuppositionen in die Äußerung einbezogen wird, sei es, dass diese gegen den Horizont des Erwartbaren inszeniert ist, um auf diese Weise eine Spannung zwi- schen Schema und Äußerung einzubeziehen, die Aufmerksamkeit produzieren kann und zugleich die Äußerung als Partie eines (semantischen) Spiels qualifi- ziert, in dem es um die differenzielle Behandlung des Schema-Wissens geht (vgl. Iser 1993, 426ff, bes. 468ff). Der Genrerahmen ist nicht fix, sondern dynamisch. Zwar darf der Zuschauer erwarten, dass der generische Charakter eines Stücks bewahrt ist, dass also ein als Melodram angekündigtes Stück melodramatisch ist, doch kann er nicht da- rauf bestehen, dass der Stoff auch melodramatisch zu Ende geführt wird. Die Beziehungsgeschichte kann schleichend in einen Thriller weiter ausgeführt sein, und gerade dieses bedingt eine hohe affektive Beteiligung des Zuschauers, so dass die Gratifikationserwartung erfüllt wird. Das Genreversprechen betrifft nur die Eingangsbedingung der Rezeption, und ein kompetenter Zuschauer weiß, dass die Durchführung des Stücks das eingangs gewählte Genre aufgeben kann. Die am Anfang gesetzten Konditionen des Vertrags gelten nur vorüberge- hend und werden im Verlauf der Rezeption evaluiert. Gelegentlich treten gene- rische Brüche im Verlauf eines Films auf, die vom Zuschauer nicht mitgetragen werden und ihn dazu bewegen, den Illusionierungsprozess zu verlassen. Ein Beispiel ist der Geisterfilm What Lies Beneath (Schatten der Wahrheit, Robert Zemeckis, USA 2000), mit Harrison Ford und Michelle Pfeiffer, der ein viel zu langes Ende hat, in welchem eine ganze Reihe von Schock-Effekten aus- gespielt wird. Die bis dahin im narrativen Modus dicht erzählte Geschichte wird durch einen attraktionellen Inszenierungs- und Erzählstil abgelöst. Ein anderes Beispiel ist Clint Eastwoods Altmännerkomödie Space Cowboys (USA 2000), der ebenfalls in der Endphase die komödiantische Inszenierung verlässt und sich dass im Kontext von St. Pauli unter „Schweinefilm“ ein anderer Erwartungsrahmen eröffnet werde und dass darum tatsächliche Schweinefilme eine Nichterfüllung des Gratifikationsver- sprechens seien, das mit der Ankündigung vollzogen worden sei – so dass die Zuschauer ein Recht hätten, den Eintrittspreis zurückzuverlangen. Mündliche Mitteilung von Klemens Hippel. 150 Hans J. Wulff montage/av zu einem ebenso naiven wie kruden amerikanischen Heldenepos verkehrt. In beiden Fällen verliert der Film seine Zuschauer (oder zumindest einen Teil der Zuschauer), weil er die Genrebindung aufgibt, ohne dass es gelänge, den Zu- schauer dazu zu bewegen, das nachfolgende Genre zu akzeptieren. Einer der mächtigsten Bezugspunkte, an dem sich die Komplementarität der Rollen von Textproduzent und -rezipient erfassen lässt, ist die symbolische Be- zugsgröße des Stars. Der Star, dessen Image einen assoziativen Hof von mögli- chen Geschichten, von sozialen Verhaltensstilen und von moralischen Entschei- dungen eröffnet und der einer der symbolgestützten Wege ist, sich in den narrativen, historischen und moralischen Kosmos einer Geschichte hineinzufin- den, ist darum auch Träger eines meist implizit bleibenden Vertrages, der schon im casting umgesetzt wird. Interessant sind die Störungsfälle, weil an ihnen etwas greifbar wird von dem Sinnvorschuss, der durch den Star in einen Film hineinge- tragen wird. Wenn Marlon Brando die Rolle des Sir William Walker in Queima- da! (auch Quemada! oder Burn!, Italien 1969, Gillo Pontecarvo) spielt, gehen mehrere Versatzstücke eines außerfilmischen, die Wahrnehmung seiner Rolle vorbereitenden Wissens darin ein: sein Spiel und seine Rolle in der Mutiny on the Bounty (Die Meuterei auf der Bounty, Lewis Milestone, USA 1961), sei- ne Ehe mit einer Tahitianerin, sein Engagement für die Indianer und andere Ein- geborenenbewegungen. Andere Images treten hinzu – seine Rolle als Rebell, eine latente Gewaltbereitschaft etc. Die Walker-Rolle in Queimada enttäuscht diese Vor-Urteile auf ganzer Linie: Brando spielt einen zynischen, kalten Agenten der Kolonialmächte. Irritation ist die Folge, die gleich mehrfach begründet ist: Da ist ein Gratifikationsversprechen nicht eingelöst worden, das aus dem Bedeutungs- horizont Brandos stammt; und da ist eine Rolle angeboten worden, die komplex ist und sich einfachen Interpretationen widersetzt, die widersprüchlich ist, so dass die Synthese einer imaginären, homogenen und einsehbaren Figur schwerfällt. Ein anderes, aktuelleres Beispiel ist John Boormans Film The Taylor of Pana- ma (Der Schneider von Panama, USA 2001), der das James-Bond-Image des zweiten Protagonisten bewusst in das Bedeutungsspiel des Films einbringt. Zwar spielt Pierce Brosnan hier einen kalten, eigennützigen, skrupellosen und zyni- schen Agenten der britischen Spionage, ihm fehlt aber die ironische Distanz der Bond-Rollen. Nun ist die Koppelung Brosnan-Bond aber so intensiv, dass sich immer wieder eine Sympathie in die Figurensynthese einschleicht, die in der Rolle nicht verankert sein kann. Vielmehr schwingt die Figurenwahrnehmung zurück auf das vom Zuschauer mitgebrachte Bond-Wissen, die Performation der Rolle nimmt die sich wieder durchsetzende Sympathie mit Brosnan-Bond als sicher ein- tretende Bewegung der Rezeption, so dass Brosnan dagegen wieder eine neue, Brosnan-Bond-inkompatible Handlung oder Äußerung setzen kann. 10/2/2001 Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen 151 Kommunikative Verträge sind Aushandlungen über den Bedeutungsrahmen, den ein gezeigtes Geschehen hat. Sie sind darum fragil, weil sie auf eine zukünf- tige Einlösung des Vertrages ausgerichtet sind. Sie stehen nicht fest und gelten nicht immer schon vor dem kommunikativen Akt, sondern werden ihn beglei- tend erst hervorgebracht. In der Ethnomethodologie spricht man darum vom Aushandeln als der Tätigkeit, die den Gang, den Modus und das Thema der Interaktion (dort meist conversation genannt) betrifft (vgl. Dieckmann/Paul 1983). 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Das theoretische Interesse gilt manchmal Grup- pen von Texten, die eine Art „Familie“ zu bilden scheinen. Bisweilen greift man auch „Idealtypen“ heraus, die man analysiert und zu „Blaupausen“, zu Richt- vorgaben für die Zuteilung weiterer Texte zum gleichen Genre erklärt. Dann wieder interessiert man sich eher für die sprachliche Gestaltung der Texte, ihre spezifischen Inhalte oder ihre Formprozesse usw. Vereinfacht gesagt, lassen sich Genres im Wesentlichen auf drei verschiedene Weisen definieren: Sie können als Instrument derKlassifikation dienen, d. h. als etwas, mit dem sich ein bestimmter Text einer größeren Gruppe von Texten zu- ordnen lässt. Sie können ferner als generatives Prinzip oder als Instrument der Herstellung verstanden werden, d. h. als etwas, das die Produktion und Rezepti- on eines Textes steuert. Und Genre lässt sich schließlich auch als Instrument des Aushandelns von Bedeutungen oder als Instrument zur Verständigung über Be- deutungen auffassen, d.h. als etwas, das Sender und Empfänger eines Kommuni- kats erlaubt, zu einer Übereinkunft – oder zumindest einer annähernden Über- einkunft – darüber zu gelangen, was ein Text aussagt oder zeigt. Ich möchte auf diese dritte Definition von Genre näher eingehen. Abgezeich- net hat sie sich schon in einer Reihe von Beiträgen anderer Theoretiker. Jim Kitses etwa spricht von Genre als einem „Bereich der Verständigung zwischen Publikum und Künstler“ (1970, 24); Colin MacArthur spricht von einem „Kode, der zwischen Filmemacher und Publikum vereinbart wird“ (1972, 20); und für Thomas Schatz schließlich ist Genre eine „Zusammenarbeit von Künstler und Publikum mit dem Ziel der Bekräftigung ihrer gemeinsamen Werte und Ideale“ 1 [Anm. d. Hrsg.:] Der vorliegende Text erschien erstmalig auf Englisch in La nascita dei generi cinematografici. Atti del V. Convegno Internazionale di Studi sul Cinema. Hrsg. von Leonardo Quaresima, Alessandra Raengo & Laura Vichi. Udine: Forum 1999, S. 23–36. Wir danken den Herausgebern, dem Verlag und Francesco Casetti für die freundliche Genehmigung zum deutschen Erstabdruck. 156 Francesco Casetti montage/av (1981, 15). Ich schließe ich mich diesen Definitionen von Genre aus einem be- stimmten Grund an. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, können wir, wenn wir Genre als Instrument der Verständigung über Bedeutungen behandeln, die kommunikative Funktion von Genres in vollem Umfang erfassen. Es ist aber ge- rade diese kommunikative Funktion, eher als bestimmte Inhalte und Formpro- zesse (wie sie die erste Definition hervorhebt) oder bestimmte Regeln der Her- stellung und der Rezeption (wie sie bei der zweiten im Zentrum stehen), welche über die Entwicklung und die Bedeutung von Genres Rechenschaft ablegt. Anders ausgedrückt: Was einen Text ausmacht, können wir erst dann ganz be- greifen, wenn wir untersuchen, wie sich die Texte an ihre Leser oder Zuschauer wenden, und wie die Leser, für sich oder als Gruppe betrachtet, Texte interpre- tieren und in ihre alltägliche Lebenspraxis integrieren, d. h.: wenn wir analysie- ren, wie Texte in einem bestimmten gesellschaftlichen Raum zirkulieren und Wirkung entfalten. 2. Die kommunikative Verständigung2 Was bedeutet „Verständigung“? Worüber verständigen wir uns? Auf welche Weise und warum? 2.1 Verständigung: Eine Definition Ganz allgemein können wir unter kommunikativer Verständigung die Ausein- andersetzung verstehen, die zwischen Teilnehmern eines kommunikativen Aus- tausches stattfindet und bei der es darum geht, was, wie und warum ausgesagt wird. Kommunikative Verständigung zielt entweder darauf ab, mögliche Unter- schiede auszuräumen oder aber sie hervorzuheben und als solche akzeptabel zu machen. Anders gesagt: Kommunikative Verständigung basiert auf einer Aus- einandersetzung, deren Zweck es ist, Unterschiede und Übereinstimmungen festzustellen; eine solche Auseinandersetzung wiederum setzt eine gegenseitige 2 [Anm. d. Übers.:] Im Original verwendet Casetti die Begriffe „processi di negoziazione“ bzw. „negotiation processes“. „Negotiation“ wird in den deutschen Übersetzungen der Schriften von Stuart Hall mit „Aushandlung“ wiedergegeben; vgl. etwa Hall 1999 [1980], 108. Casetti interes- siert sich für den besagten Vorgang aber primär im Blick auf den kommunikativen Vertrag. Er fasst die „processi di negoziazione“ weniger als Schauplatz eines Konflikts auf, denn als Bereich einer möglichen Übereinkunft, weshalb „negoziazione“ hier in Absprache mit dem Autor als „Verständigung“ übersetzt wird. 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 157 Anerkennung voraus, die es erlaubt, einen Bereich der Übereinkunft aufzu- bauen. Wir werden gleich sehen, dass sich diese Defintion um weitere Aspekte erwei- tern lässt. Den Wesenskern jedes Verständigungsprozesses bringt sie allerdings schon in dieser Form auf den Punkt: die Tatsache nämlich, dass die Teilnehmer eines kommunikativen Austauschs, ob als Gemeinschaft oder als Individuen, im Verlauf des Austauschs eine ganze Reihe von Faktoren berücksichtigen müssen, um zu einer Übereinkunft gelangen zu können – beispielsweise welchen Sinn der Aussagende zum Ausdruck bringen möchte und welchen der Empfänger aufzufassen beabsichtigt oder welche Absichten der eine verfolgt und welches die Erwartungen des anderen sind usw. In einem ersten Schritt möchte ich zunächst kurz in Erinnerung rufen, vor welchem Hintergrund die Idee der Verständigung entstanden ist. 2.2 Zum theoretischen Horizont des Verständigungsgedankens Die Aufmerksamkeit für Verständigungsprozesse erwächst aus der Einsicht – die in den 60er Jahren in der Soziologie, der Linguistik und der Semiotik um sich zu greifen beginnt –, dass Kommunikation nicht einfach in der Übermittlung von Information besteht, sondern in einer äußerst komplexen Interaktion von zwei oder mehr Beteiligten. Das heißt, dass der Sender seine kommunikative Handlung dem Empfänger nicht aufzwingt, im Gegenteil: Der Sender über- kreuzt sich in seinem Handeln mit dem Empfänger, der seinerseits für das Anfangen und die Fortführung der Kommunikation mindestens ebenso sehr verantwortlich ist wie der Sender, selbst wenn letzterer andere Funktionen zu erfüllen hat. Dass Kommunikation Verständigung bedingt, versteht sich vor allem für sol- che Theoretiker von selbst, die sich mit unmittelbaren oder Face-to-Face-Inter- aktionen beschäftigt haben. Berger und Luckmann (1966) zum Beispiel weisen mit Blick auf Dialoge da- rauf hin, dass die Gesprächsteilnehmer sich ständig und systematisch mit Vor- stellungen auseinandersetzen, die sie von sich selbst haben, von ihrem Gegen- über und von dem, was sie sagen. Goffman (1967), der direkte Interaktion in einem allgemeineren Sinne erörtert, betont, dass diese immer eine von beiden Kommunikationsteilnehmern geteilte und von beiden mitgetragene Auffassung der Situation, in der sie sich befinden, voraussetzt. Die Ethnomethodologen schließlich untersuchen ein breites Spektrum an sozialem Verhalten und heben hervor, wie Verhaltensweisen immer wieder mit Beschreibungen unterlegt wer- den, mit denen die Handelnden im Rahmen eines Spiels enger wechselseitiger 158 Francesco Casetti montage/av Kontakte sich und anderen gegenüber Rechenschaft ablegen, was sie überhaupt tun (vgl. Garfinkel 1967). Verständigung gibt es aber auch im Bereich der Massenkommunikation, ob- wohl diese Art der Kommunikation doch scheinbar linear verläuft und in der einseitigen Übermittlung von Mitteilungen besteht. Gleichwohl findet auch hier in hohem Maß Interaktion statt, wenn auch meist zeitlich und räumlich versetzt. Fernsehsender etwa machen sich von ihrem Publikum auf drei Arten ein Bild: indem sie Marktstudien betreiben, bevor ein Programm ausgestrahlt wird; in- dem sie nach der Ausstrahlung eine quantative und/oder qualitative Analyse der Einschaltquoten vornehmen; oder indem sie während der Ausstrahlung Daten wie die Anzahl eingegangener Telefonanrufe auswerten. Die Interaktion kann aber auch indirekt geschehen, etwa indem man die Publikumsreaktion durch „phatische“ Zeichen wie Applaus vom Band oder die Wiedergabe von Reaktio- nen eines Studiopublikums im Text schon vorwegnimmt. – Von besonderem In- teresse sind in diesem Zusammenhang die Beiträge von Forschern, die bei der Untersuchung der Interpretation von Medienmitteilungen darauf gestoßen sind, dass die Deutung einer Nachricht nur zum Teil vom Sender bestimmt wer- den kann. Vielmehr resultiert die jeweilige Lesart aus einem veritablen „Zusam- menstoß“ der Absichten des Senders mit den Erwartungen des Empfängers bzw. der kognitiven Orientierungen des einen mit denen des anderen oder auch der Zeichen, die der Sender verwendet, mit den Identifikations- und Erken- nungsleistungen des Empfängers. Hall (1980) spricht in diesem Zusammenhang von „ausgehandelten“ Lesarten als einem Mittelding zwischen „dominanten“ und „oppositionellen“ Lesarten. Andere bevorzugen die Ausdrücke „wider- ständige“ oder „abweichende“ Lesart, und Livingstone (1990) schließlich fasst die Dynamik, um die es hier geht, folgendermaßen zusammen: „Das Schaffen von Bedeutung aus der Interaktion zwischen Texten und Lesern ist ein Streit oder auch ein Schauplatz des Verhandelns zwischen zwei eingeschränkt macht- vollen Quellen.“ Verständigung gehört mithin zur Kommunikation, auch zur Massenkommu- nikation. Geht man davon aus, dass auch diese auf einer Auseinandersetzung be- ruht, die auf eine Übereinkunft zwischen den Kommunikationsteilnehmern ab- zielt, dann lässt sich ganz allgemein sagen, dass Verständigung die Triebkraft der Kommunikation ist (denn Interaktion ist Auseinandersetzung), und dass kom- munikatives Verhalten unauflöslich verknüpft ist mit Verständigungsleistungen (denn wir interagieren miteinander, um einander zu verstehen, ob wir nun auf einen Konsens oder Dissens hinarbeiten). 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 159 2.3 Die drei Achsen der Verständigung Zweiter Schritt: Worüber aber verständigen wir uns in der Kommunikation? Es liegt auf der Hand, dass wir uns in einem kommunikativen Austausch über die Bedeutung dessen verständigen, was kommuniziert wird. Bei der ersten Ausein- andersetzung zwischen Sender und Empfänger geht es darum, was der eine sagt oder zeigt und was der andere versteht oder mitbekommt. Wenn die beteiligten Parteien einander verstehen wollen, dann bedingt das eine Auseinandersetzung, die sich – auch dann, wenn sie in erster Linie die Unterschiede zwischen den Po- sitionen zutage fördert – letztlich um die Suche nach einem Sinn der Mitteilung dreht, der beiden Parteien einleuchtet (oder, wenn man so will, um die gemein- same Konstruktion eines solchen Sinns). Wir verständigen uns bei der Kommunikation aber auch über gewisse Muster der Interaktion. Im Hinblick auf diesen Aspekt gilt es, drei Dinge besonders her- vorzuheben. Erstens betonen wir durch Verständigung den spezifischen Hand- lungscharakter der Kommunikation in Abgrenzung zu anderen Arten des Han- delns wie etwa der Berührung. Viele der „phatischen“ Zeichen wie „Hey!“ oder „Hallo?“ signalisieren, dass hier eine Verständigung stattfindet. Zweitens verstän- digen wir uns über die Art des kommunikativen Austauschs, den wir gerade durchführen, beispielsweise darüber, dass wir nur plaudern und nicht verbindli- che Informationen austauschen. Metadiskursive Anmerkungen wie „Nimm das nicht so ernst, was ich dir jetzt sage“ sind Kennzeichen dieser Ebene der Verstän- digung. Drittens verständigen wir uns über die Zielrichtung, die wir der Interakti- on geben wollen. So machen die Sprecher während eines Gesprächs untereinander aus, wer nun mit Reden an der Reihe ist, indem sie einander ins Wort fallen. Auf diese Weise wird verhindert, dass einer der Beteiligten die Gesprächsführung al- leine bestimmt und die Konversation in einen Monolog verwandelt. Die Teilnehmer eines kommunikativen Austauschs verständigen sich aber nicht nur über die Bedeutung des Mitgeteilten und über die verwendeten Muster der Kommunikation, sondern auch über ihre jeweilige Position. Sie stimmen sich hinsichtlich ihrer persönlichen Haltungen aufeinander ab; so wird von Teil- nehmern eines Gesprächs oft die Offenlegung ihrer Meinung zum Thema einge- fordert. Sie einigen sich zudem über die Rollen, die sie zu spielen haben, also bei- spielsweise darüber, wer der wortführende Gesprächsteilnehmer ist und wer nur der angesprochene Partner oder ob jemand als verlässlicher Erzähler agiert oder als unzuverlässiger Zeuge bestimmter Sachverhalte usw. Bislang haben wir uns mit den Verständigungsvorgängen beschäftigt, die typi- scherweise zwischen Sender und Empfänger stattfinden. Deren Auseinanderset- zung bestimmt den Sinn des Mitgeteilten, die Muster der Kommunikation und 160 Francesco Casetti montage/av die Positionen, die im kommunikativen Akt vertreten werden. Wenn wir von Verständigung sprechen, können wir aber auch über die Achse Sender/Empfän- ger hinausgehen und andere Fälle einbeziehen, bei denen es um Auseinanderset- zung und Annäherung geht. Tatsächlich ist Kommunikation nicht nur eine wechselseitige Handlung, eine Interaktion. Es handelt sich auch um eine einge- bettete Handlung, eine Handlung, die in einer spezifischen Umgebung oder zu- mindest innerhalb eines bestimmen Bereichs stattfindet (vgl. Casetti 1996; Odin 1984). So gesehen verständigen sich die Teilnehmer eines kommunikativen Aus- tauschs nicht nur untereinander, sie verständigen sich, für sich selbst oder als Gruppe, auch über die Bedingungen ihres Handelns. Wer eine Neuigkeit mitzu- teilen hat, wird sich darüber Rechenschaft ablegen, wieviel Zeit er dafür zur Ver- fügung hat (und könnte beispielsweise versuchen, mit dem Empfänger eine län- gere Frist für die Mitteilung auszuhandeln); er wird sich über die technischen Möglichkeiten des benutzten Mediums Rechenschaft ablegen (bei einer mündli- chen Mitteilung gilt es etwa zu berücksichtigen, dass einen der Empfänger mög- licherweise gar nicht hört, besonders dann, wenn der kommunikative Austausch in einem lauten Lokal stattfindet); usw. Das bedeutet, dass Verständigung nicht nur entlang der Achse Sender/Empfänger verläuft, sondern auch die Achse Kommunikationsteilnehmer/kommunikative Situation tangiert. Wenn wir uns schließlich der Aktivität des Empfängers zuwenden, dann se- hen wir, dass wir uns in der Kommunikation mit etwas befassen, das wir nicht nur interpretieren müssen, sondern auch als Ressource in unserer Lebenswelt nutzen können: als kognitive Ressource, d. h. als Bereicherung unseres Wissens; als Beziehungsressource, d. h. als Mittel zur Verbesserung oder Umgestaltung persönlicher Beziehungen zu anderen; als Umgebungsressource, d. h. als Mittel, das uns hilft, unsere Zeit einzuteilen oder unseren Lebensraum auszustatten (man beachte nur, wie das Sehen eines Films für „Freizeit“ steht). Kommunika- tion verläuft demnach auch entlang einer dritten Achse, welche die Kommuni- kationsteilnehmer mit ihrer Lebenswelt verbindet. Während auf der ersten Achse – Sender/Empfänger – Übereinkunft erzielt wird und die zweite – Kommunikationsteilnehmer/kommunikative Situation – der Wahrnehmung der Möglichkeitsbedingungen der Kommunikation dient, ergibt sich auf der dritten Achse ein praktischer Nutzen der Kommunikation. Sie ermöglicht es in gewisser Weise, kommunikative Angebote in Ressourcen von existentiellem Nutzen für ihre Verwender umzuwandeln. 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 161 2.4 Verständigung und kommunikativer Vertrag Schließlich noch der dritte Schritt: Nachdem wir untersucht haben, was kom- munikative Verständigung ist und auf welchen Achsen sie verläuft, müssen wir uns noch fragen, worauf sie hinausläuft. Wir haben es bereits erwähnt: Kommu- nikative Verständigung führt zur Bestimmung einer gemeinsamen Grundlage des gegenseitigen Verstehens, egal, ob die Gesprächsteilnehmer nun miteinan- der einverstanden sind oder nicht. Man könnte diesen Gedanken noch weiter führen und den ganzen Bereich der Verständigung mit berücksichtigen. Der Zweck der Verständigung ist es, eine breite Übereinkunft aufzubauen, die es nicht nur den Gesprächsteilnehmern erlaubt, sich aufeinander abzustimmen, sondern es auch ermöglicht, die kommunikative Handlung auf die Situation auszurichten, in der sie stattfindet, und Texte den (kognitiven, beziehungs- und umgebungsbezogenen) Bedürfnissen anzupassen, die das Subjekt in seiner Lebenswelt entwickelt. Kurz: Verständigung zielt darauf ab, einen kommunika- tiven Vertrag zu schaffen (oder auszuarbeiten), auf den sich das Handeln der Kommunikationsteilnehmer stützen kann und der auch die Möglichkeitsbedin- gungen und die Funktionen der Kommunikation abdeckt. Das Vorhandensein eines solchen Vertrags bedeutet nicht, dass keine Span- nungen oder Meinungsverschiedenheiten mehr auftreten. Vielmehr lebt Kom- munikation geradezu von Konflikten. Diese finden aber ihre Rechtfertigung im Rahmen der gemeinsamen Suche nach einer Übereinkunft hinsichtlich dessen, was zu tun ist und wie und warum dies geschehen soll. Diese gemeinsame Suche dient als eine Art regulatives Prinzip, unter dem sich eine kommunikative Inter- aktion in Richtung einer gütlichen Einigung (oder in Richtung der Herstellung einer Übereinstimmung) entwickeln kann. Innerhalb dieses Rahmens kann der kommunikative Vertrag eine Vorausset- zung der Interaktion darstellen (wenn zwei Gesprächspartner miteinander spre- chen, dann setzt dies voraus, dass sie einverstanden sind, miteinander zu kom- munizieren). Ferner kann es in der Interaktion darum gehen, den Vertrag überhaupt erst zu erarbeiten (zwei Gesprächspartner verstehen sich manchmal erst am Ende einer langen und anstrengenden Diskussion). Schließlich kann der Vertrag auch nur teilweise oder nur in zurückgenommener Manier zum Tragen kommen (bei einem informellen Aufeinandertreffen improvisieren die Ge- sprächspartner oft ihre Rollen). Alles in allem kann der Vertrag zur Gewährleis- tung einer vollzogenen Verständigung dienen oder auch nur zur Unterstützung eines fortschreitenden Verständigungsvorganges. Ob der kommunikative Vertrag aber nun eine Voraussetzung oder eine Kon- sequenz des Austauschs darstellt oder ob er seine volle Wirkung entfaltet oder 162 Francesco Casetti montage/av nur abgeschwächt zum Tragen kommt: Stets ist das gegenseitige Verstehen das Ziel der Kommunikation und der Horizont, auf den wir uns zu bewegen. 3. Verständigung über Genre: Flexibilität/Starrheit Nach diesen kurzen Ausführungen zur Verständigung möchte ich nun zu den Filmgenres zurückkehren. Gemäß der Definition, von der wir ausgegangen sind, fassen wir Genres als Instrumente der Verständigung auf, die einer Über- einkunft zwischen Sender und Empfänger oder zwischen Film und Publikum Vorschub leisten. Im Umgang mit Genre-Filmen haben wir es demnach mit Verständigungsvorgängen zu tun, die ohne größere Umstände in den Abschluss eines Vertrags münden – dies im Unterschied zu Filmen, die sich der Zugehörig- keit zu einem Genre zu entziehen scheinen, wie Experimental- oder Autoren- filme (wie wir sehen werden, gilt es die Unterscheidung von Genre- und Nicht-Genrefilmen, die bis vor wenigen Jahren noch selbstverständlich war, ebenfalls neu zu überdenken). Allerdings müssen wir zunächst abklären, auf welchen Bereich sich die Ver- ständigung erstreckt. Wie also funktionieren Genres im Hinblick auf die Achsen der Verständigung? Auf welchen Ebenen leisten sie einer Übereinkunft Vor- schub? Und an welchen Punkten lassen sie der Dynamik der Verständigung ih- ren Lauf, ohne sie durch eine Übereinkunft zum Erliegen zu bringen? 3.1 Film/Zuschauer: Ein vorbereitender Vertrag Auf der Achse Sender/Empfänger oder in diesem Fall vielmehr entlang der Achse Film/Zuschauer dient Genre offenkundig als Instrument für eine gegen- seitige Abstimmung bis zur vollen Übereinkunft, jedenfalls insofern es um die Diegese geht, d. h. um die Bestimmung der primären Bedeutung auf der Ebene der erzählten Geschichte. So besteht beispielsweise, wie ich meine, kein Zweifel daran, dass der klassische Western sich auf folgende Weise darstellt und vom Publikum auch so aufgefasst wird: Als Story, die im 19. Jahrhundert im amerika- nischen Westen angesiedelt ist und auf dem Konflikt von scheinbar unvereinba- ren Positionen basiert. Dieser muss gelöst werden, indem die Positionen teil- weise miteinander versöhnt und andere, die sich nicht integrieren lassen, von der Lösung ausgeschlossen und eliminiert werden. Übereinkunft besteht ferner in Hisicht auf den Plot (die Ereignisse nehmen einen linearen Verlauf; am Ende steht die Beilegung des Konflikts) und auf die Erzählung (der Film räumt dem Blickwinkel des positiven Helden den Vorrang ein). 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 163 Eine solche Übereinkunft ist nicht notwendigerweise allgemeinverbindlich. So- ziale Gruppen und Individuen mit unterschiedlichen kognitiven Orientierun- gen oder kommunikativen Kompetenzen können unterschiedliche und wider- streitende Lesarten des gleichen Genretexts entwickeln. Darauf ist im Zusam- menhang mit Fernsehgenres schon hingewiesen worden (vgl. Liebes/Katz 1986; Casetti/Lumbelli/Wolf 1980; 1981). Vergleichbare Belege lassen sich aber auch für Filmgenres beibringen. Beispielsweise ist es, immer noch mit Bezug auf den Western, denkbar, dass in den 70er Jahren viele politisch sensibilisierte Zuschau- er in den Geschichten, die in diesen Filmen erzählt werden, eher eine Aggression der Eroberer gegen die Indianer sahen als eine Verteidigung der weißen Siedler gegen eine äußere Bedrohung. Wenn man von Verständigung spricht, ist es wichtig, die tatsächlichen Bedingungen zu analysieren, unter denen die Kom- munikation stattfindet. Es braucht sehr wenig, um ein etabliertes Gleichgewicht zu kippen, und letztlich kann hier nur lokale Feldforschung verlässliche Ant- worten liefern. Man kann aber doch sagen, dass sich ein Filmgenre durch das Vorhandensein einer weit reichenden Übereinkunft über die Bedeutung dessen kennzeichnet, was erzählt wird, sowie über die Formen des Erzählens und über die Perspekti- ve, aus der die Geschichte erzählt wird. Um welche Übereinkunft aber handelt es sich genau? Im Wesentlichen um eine vorbereitende Übereinkunft, die auf festgefügten Erwartungen beruht, sowie auf deren zuverlässiger Befriedigung durch wiederholt angebotene Einlösungen. Anders gesagt: Wenn es zu einer – wie auch immer gelagerten – Abstimmung zwischen Film und Publikum hin- sichtlich der behandelten Themen, der verwendeten Erzählverläufe und der Haltungen kommt, die zum Ausdruck gebracht werden, so zeichnet sich diese Abstimmung schon ab, bevor die beiden Pole der Kommunikation sich über- haupt gegenübertreten. So gesehen aber ist das Genre ein Instrument der Ver- ständigung, das mehr noch als es den Vollzug der Verständigung erleichtert, die- sen scheinbar steril werden lässt, stützt es sich doch auf einen Vertrag, der jeder einzelnen konkreten Interaktion von Film und Zuschauer schon vorausgeht. 3.2 Film/Zuschauer: Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit Es ist nun allerdings keineswegs so, dass ein Genre-Film ein vollkommen vor- hersehbares Ereignis darstellt, d.h. nur als erneuertes Angebot von etwas auf- tritt, das der Zuschauer bereits kennt und vorzufinden erwartet. Vielmehr ermöglicht das Vorhandensein eines vorbereitenden kommunikativen Vertrags Variationen auf der Ebene des Inhalts und der Erzählformen. Über diese Varia- tionen muss sich der Film mit seinem Zuschauer offen verständigen. 164 Francesco Casetti montage/av Es ist wichtig, das Gewicht und die Tragweite dieser Variationen zu verstehen. Ihr Gewicht hängt vor allem davon ab, welche Elemente von der Variation betroffen sind. Stilistische Variationen bleiben ohne Folgen für die generische Struktur des Films und betreffen nur die Form der Erzählung (etwa, indem sie die persönliche Handschrift eines Regisseurs zur Geltung bringen; in diesem Fall betrifft die Verständigung das Erkennen und Anerkennen von „Autor- schaft“ durchs Publikum). Axiologische Variationen beeinflussen, welche Werte der Film zum Ausdruck bringt, und rühren mitunter auch an grundle- gende Aspekte des Genres (so stellt beispielsweise das Auftreten eines moralisch zweifelhaften oder widerborstigen Helden im „modernen“, d. h. im Spätwes- tern die epischen Ursprünge der Story in Frage). Ganz allgemein können wir im Anschluss an Altman (1986) sagen, dass Variationen entweder Themen oder Erzählformen betreffen. Variationen, die nur einen dieser Aspekte betreffen, stellen keine Bedrohung für das Genre in seinen Grundzügen dar. Nur das gleichzeitige Auftreten von Änderungen auf der semantischen und auf der syn- taktischen Ebene kann die Zugehörigkeit eines Films zu einem Genre ernsthaft in Frage stellen (ibid.). Was die Tragweite der Variationen angeht, so lassen sich mindestens drei Fälle unterscheiden. Im ersten Fall führen die Variationen zu einer Spezifizierung. Spezifizierung liegt vor, wenn ein allgemeines Schema (etwa die Komödien- form) verfeinert und in ein eingeschränkteres Schema eingegliedert wird, das in einer zeittypischen Gruppe von Filmen auftritt (etwa die sophisticated comedy der 30er Jahre). Cawelti (1976) spricht davon, dass der Zuschauer sich in diesem Fall auf die Herausbildung einer „Formel“ auf der Grundlage eines „Archety- pen“ einlässt. Im zweiten Fall bewirken die Variationen eine Maskierung. Diese liegt vor, wenn Filme zwar keine der wesentlichen Züge eines bestimmten Genres aufwei- sen, wohl aber gewissermaßen dessen „Geist“ wiedergeben. Ein Beispiel dafür sind die von Rick Altman (1986, 31) erwähnten Pennsylvania-Western, eine Gruppe von Filmen aus den 30er und 40er Jahren wie Drums Along the Mo- hawk (Trommeln am Mohawk, USA 1939, John Ford), die viele Merkmale mit dem Western teilen, aber im falschen Jahrhundert angesiedelt sind, nämlich im 18., und am falschen Ort, eben in Pennsylvania. Hier stellt sich dem Zuschauer die Aufgabe, ein Genregrenzen übergreifendes Schema des Wiedererkennens zu entwickeln, welches ihm erlaubt, den Film ungeachtet seiner irreführenden Er- scheinungsform einem Genre zuzuschreiben (vgl. Cawelti 1976). Der dritte Fall ist die Aktualisierung. Aktualisierung liegt vor, wenn am Sche- ma eines Genres Veränderungen vorgenommen werden, welche den tradierten Ablauf des Schemas abwandeln, ohne an seinen ursprünglichen Gehalt zu rüh- 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 165 ren. Beispielsweise enthält die italienische Komödie der 60er Jahre so viele so- zialkritische Elemente, dass sie in den 70er Jahren der großen Familie des „cine- ma politico“, des politischen Films, zugerechnet werden kann. In diesem Fall ist der Zuschauer aufgefordert, ein neues Set von Merkmalen des Wiedererkennens zu entwickeln. Die Analyse von Genrevariationen würde es verdienen, vertieft zu werden. Eine Strömung wie der italienische Western beispielsweise legt den Schluss nahe, dass die Grenze zwischen Aktualisierung und Maskierung oft fließend ist (handelt es sich um eine neue Form des Western oder um eine Wiederbele- bung der pikaresken Komödie mit einem Schauplatz in der neuen Welt?) oder dass stilistische Variationen möglicherweise schwerwiegendere Konsequen- zen haben, als wir erwarten (bereichern Sergio Leones Barockeinsprengsel und Duccio Tessaris Ironie den Western oder korrumpieren sie ihn?). Diese weni- gen Beobachtungen zeigen aber immerhin, dass Genres nicht gänzlich auf vor- hersehbaren Entscheidungen basieren. Vielmehr lassen sie der Unvorherseh- barkeit ihren Raum. Die kanonischen, der Wiederholung unterliegenden Elemente werden mit eigensinnigen und spezifischen kombiniert, und das Publikum sieht seine Erwartungen unvermeidlicherweise von Überraschun- gen durchbrochen. Genres beruhen demnach nicht auf einem vorbereitenden Vertrag, der für den Film wie für die Zuschauer auf alle Zeiten bindend wäre. Vielmehr lässt dieser Vertrag Räume der nachfolgenden Verständigung offen, die in spezifischere Übereinkünfte münden kann. Diese Übereinkünfte kön- nen ihrerseits zu Ausgangspunkten für andere Situationen der Verständigung werden (dies ist der Fall, wenn Neuerungen Teil des Kanons werden), sie kön- nen aber auch lediglich der vorübergehenden Abstimmung dienen (etwa, wenn die Übereinkunft zwar für einen bestimmten Film gilt, aber auf das Genre als ganzes ohne Auswirkung bleibt). Eingehen muss man auf solche Übereinkünf- te aber auf jeden Fall, bilden sie doch eine notwendige Bedingung für eine grundlegendere Abstimmung zwischen dem, was auf der Leinwand passiert, und denen, die im Kinosaal sitzen. 3.3 Film/kommunikative Situation: Der intertextuelle Bezug Wenn wir von der Achse Film/Zuschauer zur Achse Film/kommunikative Situation übergehen, stellen wir fest, dass die Lage komplizierter wird. Welches sind die Elemente der kommunikativen Situation, hinsichtlich derer ein Genre- film Verständigung erzielen muss? Ich möchte drei davon behandeln: Erstens die Umstände der Vorführung des Films, insbesondere deren Zeit und Ort; zweitens den apparatus, die Apparatur des Kinos, verstanden als die ökonomi- 166 Francesco Casetti montage/av sche Maschinerie und das Produktionssystem, welche die Herstellung von Fil- men erlauben, sowie als das psychische und lebensweltliche Instrumentarium, das ihre Rezeption steuert; und drittens die Apparatur des Kinos als diskursiver Raum, d. h. alle Texte (Filme, Romane, Reportagen, Radio- und Fernsehshows usw.), welche einen bestimmten Text umgeben, einen seiner Bezugshorizonte bilden und im Text selbst unvermeidlich ihren Nachhall finden. Hinsichtlich der Umstände der Vorführung unterscheiden sich die Verständi- gungsvorgänge, die ein Genrefilm auslöst, nicht wesentlich von denen für ande- re Filme, sieht man davon ab, dass ein Genrefilm ein Verhalten der wiederholten und nicht der vereinzelten Filmbetrachtung voraussetzt. Damit ein Genre als solches zum Tragen kommt, muss man eine Vielzahl von Filmen auf dieselbe Art und Weise angeschaut haben, was der Betrachtung des einzelnen Films nicht zuletzt einen stärker rituellen Charakter verleiht (vgl. Schatz 1981). Vieldeutiger ist die Rolle des Genrefilms innerhalb der Apparatur des Kinos. Einerseits bedingen Genrefilme eine Optimierung sowohl der Produktionsma- schinerie als auch des psychischen Instrumentariums der Rezeption, die beide auf höchster Leistungsstufe operieren müssen. Andererseits scheinen gewisse Genres, wie etwa die Pornographie oder der Thriller, auf einer geradezu experi- mentellen Erkundung und Intensivierung bestimmter Prinzipien der psychi- schen Apparatur des Kinos aufzubauen, insbesondere des Voyeurismus (ein Thema, das eine eigene Untersuchung lohnen würde). Noch komplexer gestaltet sich die Beziehung des Genrefilms zum diskursiven Raum. Ich möchte bei dieser Beziehung etwas länger verweilen. Zu den unmit- telbaren Wirkungen des Genrefilms zählt es, dass er das Universum der diskur- siven Bezüge in zwei Bereiche aufteilt: In jene Texte, die zum jeweiligen Genre gehören, und in jene, die nicht dazu gehören. Während zahlreiche Genretexte diese Unterteilung mittragen, in dem sie die Genregrenzen bekräftigen, unter- laufen andere die Genregrenzen und versuchen, sich thematische oder formale Strukturen anzueignen, die für genrefremde Texte typisch sind. Sie leiten damit einen auf den diskursiven Raum bezogenen Verständigungsvorgang darüber ein, welche Elemente genrefremder Texte für eine Aneignung und Umwandlung überhaupt in Frage kommen und welche Möglichkeiten bestehen, die Genre- grenzen neu zu ziehen. Dabei besteht die Gefahr, dass der Text seine generische Identität verliert und seine kommunikative Interaktion mit dem Publikum be- einträchtigt wird (Was schaue ich mir da überhaupt an? Ein psychologisches Drama oder einen Western? Warlock von Edward Dmytryk aus dem Jahr 1959 wirft beispielsweise solche Fragen auf). Verläuft die Verständigung aber er- folgreich, kann der Film durchaus auch eine neue Übereinkunft mit dem Zu- schauer erzielen; diese schließt die neuen Genremerkmale mit ein, wobei deren 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 167 Legitimität daraus erwächst, dass der Zuschauer ungewöhnliche intertextuelle Bezugnahmen erkennt und anerkennt. 3.4 Zuschauer/Lebenswelt: Welche Funktionen erfüllt der Genrefilm? Noch komplexer stellt sich die Lage dar, wenn wir uns der dritten Achse der Verständigung zuwenden, bei der es darum geht, ein filmisches Angebot in eine Ressource für kognitive, beziehungs- und umgebungsbezogene Aktivitäten zu verwandeln. Ich will hier nur die gesellschaftliche Funktion des Genrefilms in Betracht zie- hen. Es liegt auf der Hand, dass Genrefilme dem Publikum helfen, eine ganze Reihe von Dingen zu tun. Sie dienen dazu, das Publikum mit neuen Geschichten auszustatten, zusätzlich zu den Geschichten und Diskursen, die bereits inner- halb des jeweiligen gesellschaftlichen Raumes zirkulieren (Genrefilme erfüllen eine Funktion des Geschichtenerzählens). Außerdem veranschaulichen Genre- filme mit ihren Geschichten Situationen, die wir im Alltagsleben antreffen, und mitunter zeigen sie mögliche Lösungen für Probleme auf (Genrefilme erfüllen eine Modellierungsfunktion). Ferner tragen Genrefilme dazu bei, dass eine Ge- meinschaft mit bestimmten Themen fertig werden kann, in dem sie das Publi- kum immer wieder mit diesen Themen konfrontieren (Genrefilme erfüllen eine Barden-Funktion). Und schließlich stellen Genrefilme Produkte dar, die wie- derholt konsumiert werden können und Zugang zu einer anderen, fiktionalen Welt gewähren (Genrefilme erfüllen eine rituelle Funktion). Diese vier Funktionen schließen sich keineswegs gegenseitig aus (Casetti/Vil- la 1992; Casetti/Fanchi 1996). Will der Zuschauer aber beispielsweise der Kon- sumerfahrung Vorrang geben, wird er eher die Funktion des Geschichtenerzäh- lens zum Tragen kommen lassen als die Modellierungsfunktion. Verspürt er andererseits das Bedürfnis, gewisse Routinehandlungen zu wiederholen, und hat er zugleich weniger Interesse, sich bestimmten drängenden Problemen zu stellen, wird er der rituellen Funktion den Vorzug geben und der Barden-Funk- tion weniger Beachtung schenken. Und findet eine Zuschauerin oder ein Zu- schauer alle Antworten, nach denen er oder sie sucht, in einem einzigen Film, aber nicht in anderen Filmen, die derselben Familie zugehören, dann wird er da- rauf verzichten, die Leistungen des Films mit seiner Zugehörigkeit zu einem be- stimmten Genre in Zusammenhang zu bringen usw. Ein einleuchtendes Beispiel ist der amerikanische Kriegsfilm. Nach dem Ersten Weltkrieg unterstützten Kriegsfilme die Diskussion darüber, was Konflikte zwi- schen Menschen zu bedeuten haben, und sie warfen die Frage nach der Legimität solcher Konflikte auf (Modellierungs- und Barden-Funktion). Während des 168 Francesco Casetti montage/av Zweiten Weltkriegs leisteten Kriegsfilme einen Beitrag dazu, Informationen über die Kriegsstrategie und das Geschehen auf den Schlachtfeldern zu verbreiten (Bar- den-Funktion). In erster Linie aber stellten sie eine Huldigung an den Heroismus der Soldaten dar, und sie halfen dem Publikum bei seiner Trauer um den Verlust Gefallener (rituelle Funktion). Die Kriegsfilme der 50er Jahre schließlich, insbe- sondere auch diejenigen über den Koreakrieg, beschränken sich weitgehend auf das Erzählen von Abenteuerstories (Funktion des Geschichtenerzählens). Das Beispiel des Kriegsfilms verdient es, eingehender studiert zu werden; es illustriert aber immerhin, so hoffe ich zumindest, wie stark die Verständigung über lebens- weltliche Bedürfnisse von veränderlichen Gegebenheiten abhängt. Die Verständi- gung verläuft keineswegs auf Bahnen, die für alle Zeiten festgelegt sind –vielmehr bestimmen sich die Möglichkeiten und Beschränkungen der Verständigung über Genrefilme durch den jeweiligen Moment der Aufführung, und können sogar gänzlich der persönlichen Erfahrung des Zuschauers unterliegen. 4. Genre: Verständigung und kulturelle Vorgänge Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten erscheinen Genres als komplexe Maschinen der Verständigung. Ihre Aufgabe besteht darin, die Auseinanderset- zung zwischen Film und Zuschauer zu einem produktiven Ergebnis zu führen. Ferner regeln sie Auseinandersetzungen, die das Verhältnis des Films zu ande- ren Bestandteilen der kommunikativen Situation betreffen. Schließlich erleich- tern sie es den Zuschauern auch, den Film für ihre lebensweltlichen Zwecke zu nutzen. Genrefilme beruhen zudem auf einem vorbereitenden kommunikativen Vertrag zwischen Film und Zuschauer. Zugleich zielen sie darauf ab, einen nach- folgenden Vertrag zu etablieren, der bisweilen eine längerfristige Perspektive eröffnet (etwa in Fällen, in denen man sich darauf verständigt, gewisse Variabeln in Konstanten umzuwandeln), in seiner Tragweite aber oft auch äußerst einge- schränkt bleibt (etwa im Fall der Verständigung über die spezifische Funktion jedes einzelnen Films). Meiner Meinung nach lassen sich innerhalb dieses theoretischen Grundrisses verschiedene Stränge der Analyse weiterverfolgen. So kann man beispielsweise die spezifischen Verständigungsvorgänge einzelner Filmgenres untersuchen. Der Western bringt nicht die gleichen Prozesse in Gang wie das Musical, und die Verständigung findet auch nicht auf derselben Ebene statt (abgesehen davon, dass seine Themen und seine Syntax von denen des Musicals offensichtlich ganz verschieden sind). Außerdem lassen sich die Prozesse untersuchen, die für ein Genre eher typisch oder eher untypisch sind; wir haben den Italo-Western kurz 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 169 erwähnt: Handelt es sich um einen Western oder um etwas anderes? Und schließlich kann man auch rekonstruieren, wie sich die Verständigungsvorgän- ge, die für ein Genre charakteristisch sind, historisch entwickelt haben; wir ha- ben das Beispiel des Kriegsfilms und seiner sich wandelnden Funktionen aufge- griffen. Ein ähnliches Beispiel ist die italienische Filmkomödie, die zunächst einen Beitrag zur Verständigung über Modernitätsfolgen leistete – wie beim Bei- spiel von Grandi Magazzini (Italien 1939, Mario Camerini) –, dann einen zur Verabschiedung des Neorealismus – E’primavera (Italien 1949, Renato Castel- lani) –, um schließlich auch zur Verständigung über Formen der fernsehadäqua- ten filmischen Fiktion beizutragen wie im Fall von Poveri ma belli (Ich lass’ mich nicht verführen, Italien 1956, Dino Risi). Ich habe in meinen bisherigen Ausführungen immer wieder die Reichweite und die Wandelbarkeit der genrespezifischen Verhandlungsvorgänge betont. Dazu möchte ich nun noch zwei abschließende Beobachtungen anfügen. 4.1 Genre und Produkttypologie Die erste Beobachtung betrifft das Problem der „Geburt“ von Filmgenres. Ich glaube, es ist offensichtlich, dass eine Produkttypologie nicht ausreicht, wenn man von einem System der Filmgenres sprechen will. Der Einfall, Filme nach Produktmerkmalen zu klassifizieren, taucht schon am Anfang der Filmge- schichte auf. Das zeigt sich an den Bezeichnungen, die man in den Katalogen der Produzenten und auf den Handzetteln und Plakaten zur Ankündigung von Vorführungen finden kann. Solange diese Bezeichnungen allerdings nur gebraucht werden, um den Produkttyp festzulegen, können wir nicht in einem strengen Sinn von Genre sprechen. Vielmehr haben wir es mit einer Klasse von Produkten zu tun, die auf das Vorhandensein ähnlicher, untereinander aus- tauschbarer Produkte verweist. Eine Achse von Verständigung und Überein- kunft ergibt sich nur im Hinblick auf die Bestimmung und das Wiedererkennen des jeweiligen Gegenstandes. Von Genre im eigentlichen Sinne kann man erst sprechen, wenn sich der ganze Fächer von Verständigungen und Übereinkünf- ten entfalten kann, von dem wir sprachen: Also wenn zum bloßen Wiedererken- nen des Produkts ein Vorverständnis seines Sinns und eine Vorkenntnis seiner Erzählformen hinzukommt; wenn sich ein Bündel unverkennbarer Merkmale herausbildet und zugleich erste Differenzierungen dieser Merkmale vorliegen; und wenn die kognitiven und gesellschaftlichen Funktionen des Films den spe- zifischen Bedürfnissen des Publikums Rechnung zu tragen beginnen. Eine Vorform dieser Breite des kommunikativen Handelns lässt sich bereits im frühen Kino feststellen. Man erinnert sich an den berühmten Aufsatz, in dem 170 Francesco Casetti montage/av Méliès die filmischen Ansichten, die vues, unterscheidet in Freiluft-Ansichten, wissenschaftliche Ansichten, komponierte Ansichten, und Ansichten mit Ver- änderungen (Méliès 1907). Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Film- typen beziehen sich auf ihre unterschiedlichen Produktionsweisen. Über die industriellen Kategorisierungsgründe hinaus, welche die Typologie auf einen einfachen Produktkatalog zu reduzieren scheinen, erkennt man aber unschwer auch Bezugnahmen auf ein System von Wissensbeständen, Kompetenzen und Bedürfnissen des Publikums, denen diese Filme entsprechen und die eine Grundlage für die Eigenheit der Filme bilden. Dieses System ist größtenteils aus einer früheren mediengeschichtlichen Entwicklungsstufe übernommen. So bil- den die Freiluftansichten, die vues en plein air, nach Méliès’ Einschätzung eine nahtlose Fortsetzung der Landschaftsfotografie, und der Zuschauer sollte sich zu diesen Filmen auch so verhalten wie zuvor zu den Fotografien. Außerdem muss sich das System erst noch verfestigen, weist Méliès doch beispielsweise die unterschiedlichsten Sujets als komponierte Ansichten aus. Gleichwohl zeigt sich hier ein Bewusstsein dafür, dass ein solches System nicht einfach nur eine beiläu- fige Rolle spielt, sondern eine grundlegende Voraussetzung dafür bildet, dass Genres funktionieren können und dass sie auf eine Art und Weise funktionieren können, die sie deutlich voneinander unterscheidet. 4.2 Genres zwischen Typisierungs– und Ausdifferenzierungsvorgängen Zu meiner zweiten Beobachtung: Ich habe nicht nur Wert auf die Festellung gelegt, dass Genre mit einem umfassenden Verständigungsvorgang verbunden ist, sondern auch darauf, dass es sich dabei um eine Form der Verständigung handelt, bei der sich Momente des Abschließens (etwa wenn der vorbereitende Vertrag in den Vordergrund tritt oder wenn es darum geht, einen nachfolgenden Vertrag zu etablieren, der die Angemessenheit des Films einem bestimmten Modell gegenüber sicherstellen soll) mit eher offenen Momenten abwechseln (etwa Momenten der Einschätzung verschiedener Variablen oder der Festle- gung der Funktionen, die ein Film erfüllen kann). Dieses Sich-Abwechseln verschiedener Momente führt uns geradewegs zu den grundlegenden Mechanismen der Kommunikation. Wenn wir mit einem Gesprächspartner oder einer medialen Mitteilung interagieren, nehmen wir kontinuierlich Neubestimmungen der Situation, des Themas, der Modalitäten und der Zielsetzung der Kommunikation vor. Wir schreiben jedem festgelegten Element bestimmte allgemeine Charakteristika zu, sind aber zugleich jederzeit bereit, diese Charakteristika neu zu bestimmen, wenn es die Interaktion ver- langt. Auf diese Weise „typologisieren“ wir, was wir antreffen und was wir tun, 10/2/2001 Filmgenres und Verständigungsvorgänge 171 und halten doch an der Einzigartigkeit der jeweiligen Situation und unseres Handelns fest. Daraus ergibt sich der Eindruck, dass wir zugleich eine ganz all- gemeine und ganz besondere Erfahrung machen (als ich einen Freund traf, führ- ten wir ein Gespräch wie so viele andere, und doch war es zugleich dieses einma- lige und einzigartige Gespräch). In vergleichbarer Weise verhalten wir uns auch zu unserer Umgebung. Wenn wir andere Leute ansprechen, unterziehen wir un- sere Einschätzung der Gesprächspartner, der Angemessenheit unseres Verhal- tens und des geforderten Takts unaufhörlichen Neubestimmungen, ebenso wie unsere Wahrnehmung der Welt und unsere Einschätzung von Sinn und Wesen der Aussagen, die wir bereits gehört haben. Mal bevorzugen wir dabei vorgege- bene Verfahrensweisen, mal erfinden wir unsere eigenen. Aus dieser Perspektive stellen Genres ein beispielhaftes Laboratorium von Kommunikationsprozessen dar, sowohl was die direkte als auch die vermittelte (d. h. insbesondere über Massenmedien vermittelte) Interaktion angeht. Genres sind eine Art Schule der Kommunikation, in der die Risiken des Scheiterns ab- sehbar bleiben, in der aber doch alle der erwähnten Verfahren zur Anwendung kommen. Im Einzelnen scheinen Genres zwei Verfahren besonders zur Geltung kom- men zu lassen. Einerseits ist dies die Orientierung im diskursiven Raum: Die Texte, die uns umgeben, und insbesondere die Texte der Massenmedien, bilden wohlabgezirkelte Territorien, weisen aber bewegliche Grenzen auf; die Geogra- phie der Diskurse ist genau bestimmt, verändert sich aber auch konstant. Wenn man so will, beziehen wir uns auf die „Papierwelt“, um Poppers Begriff zu ver- wenden, als wäre sie in Verzeichnissen aufbewahrt, die wir konsultieren wollen, und als würde sie zugleich einen zu erkundenden Hypertext bilden. Mit seiner beständigen Neubestimmung seiner eigenen Bezugstexte unterweist uns das Filmgenre in diesem Verfahren der Orientierung, das gerade im Zeitalter der Massenmedien von entscheidender Bedeutung ist: Es verweist uns auf bestimm- te Verzeichnisse (etwa dasjenige, das sich aus allen Western-Texten zusammen- setzt) und es lädt uns dazu ein, uns von einem Knotenpunkt eines gigantischen Hypertextes (der alle Diskurse umfasst, auf die ich mich im jeweiligen Moment beziehen kann) zum nächsten zu bewegen. Andererseits kommen in der Auseinandersetzung mit Genrefilmen auch die Verfahren zur Bestimmung unserer kommunikativen Bedürfnisse besonders zum Tragen. Wir haben bereits festgestellt, dass die Texte, mit denen wir uns be- fassen, nicht nur Gegenstände der Interpretation sind, sondern auch Ressour- cen, die sich in unserer Lebenswelt verwenden lassen. Wie aber erkennen wir unsere kognitiven Bedürfnisse? Wie unsere Bedürfnisse nach Beziehungen? Und wie gehen wir mit diesen um? Genretexte lehren uns schon durch ihre star- 172 Francesco Casetti montage/av ke Präsenz in unserem Alltagsleben, aber auch aufgrund ihrer Wandelbarkeit, wie man Texte in Ressourcen verwandelt und diese auf bestimmte Situationen anwendet. Sie unterhalten uns und bringen uns zum Nachdenken, ohne das eine gegen das andere auszuspielen. Sie bringen uns bei, wie man von der wirklichen Welt Abstand nimmt, in dem man in eine fiktionale Welt eintritt, und zugleich, wie man Lösungen, die man in einer Erzählung kennengelernt hat, auch in der wirklichen Welt zur Anwendung bringt. Sie gewähren uns das Glück der Wie- derholung (und ein Gefühl des alltäglichen Rituals), und gleichzeitig ermögli- chen sie es uns, die Einzigartigkeit jedes einzelnen Textes, mit dem wir in Kon- takt treten, zu würdigen – ohne die Angst, den jeweiligen Text zu verraten und darum bemüht zu verstehen, wie er tatsächlich angeeignet werden kann. Neben dem Spiel von Allgemeinheit und Besonderheit, das wir bereits er- wähnten, gibt es also auch ein doppeltes Spiel des Sich-Orientierens und Sich- Neu-Orientierens, des Bestimmens und Neu-Bestimmens kommunikativer Be- dürfnisse. Wenn man hier anknüpft und weitere Erkundungen und vertiefende Analysen anstellt, wird man, wie ich meine, die Bedeutung von Filmgenres in unserer Medienlandschaft in ihrer ganzen Tragweite verstehen können. Aus dem Englischen von Vinzenz Hediger Literatur Altman, Rick (1986) A Semantic/Syntactic Approach to Film Genre. In: Film Genre Reader. Hrsg. v. Barry Keith Grant. Austin: University of Texas Press, S. 26–40. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas (1966) The Social Construction of Reality. Garden City, NJ: Doubleday. [dt.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969.] Casetti, Francesco (1996) Communicative Situation. The Cinema and the Tele- vision Situation. 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Zur Analyse textueller Funktionen des Raums am Beispiel von Griffiths A Woman Scorned (S. 91–112). Stephen Lowry: Film – Wahrnehmung – Subjekt. Theorien des Filmzuschauers (S. 113–128). Frank Kessler: Filmwissenschaftliche Einführungsliteratur aus Frankreich (S. 129–134). Klemens Hippel: Parasoziale Interaktion. Bericht und Bibliographie (S. 135–150). Sabine Lenk: Das russische Kino vor der Revolution. Eine Tagung und neuere Veröffentlichungen (S. 151–155). 2/1/1993: Populärkultur / John Fiske (vergriffen) Wolfgang Beilenhoff / Hans J. Wulff: Statt eines Editorials: Populärkultur als mediale Folklore? (S. 2–4). John Fiske: Populärkultur: Erfahrungshorizont im 20. Jahrhundert. Ein Gespräch mit John Fiske (S. 5–18). 175 Register montage/av John Fiske: Elvis: Body of Knowledge. Offizielle und populäre Formen des Wissens um Elvis Presley (S. 19–51). Eggo Müller: „Pleasure and Resistance“. John Fiskes Beitrag zur Populärkulturtheorie (S. 52–66). Lothar Mikos: Liebe und Sexualität in Pretty Woman. Intertextuelle Bezüge und Erfahrungsmuster in einem Text der Populärkultur (S. 67–86). Jan Mukarovský: Versuch einer Strukturanalyse des Schauspielerischen (Chaplin in City Lights) (S. 87–93). Oksana Bulgakowa: Das Phänomen FEKS: „Boulevardisierung“ der Avantgarde. Mit einem Anhang: Charlot und die Russen (S. 94–118). Hans-Otto Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie (S. 119–141). Hans J. Wulff: Phatische Gemeinschaft / Phatische Funktion. Leitkonzepte einer pragmatischen Theorie des Fernsehens (S. 142–163). 2/2/1993: Intertextualität / Spannung (vergriffen) Naum I. Klejman: Der Aufbrüllende Löwe. Zur Entstehung, Bedeutung und Funktion einer Montage-Metapher (S. 5–34). Juri Tsivian: Caligari in Rußland. Der deutsche Filmexpressionismus und die sowjetische Filmkultur (S. 35–48). Yvonne Spielmann: Zeit, Bewegung, Raum. Bildintervall und visueller Cluster (S. 49–68). Lars Henrik Gass: Bewegte Stillstellung, unmöglicher Körper. Über „Photographie“ und „Film“ (S. 69–96). Hans J. Wulff: Spannungsanalyse. Thesen zu einem Forschungsfeld (S. 97–100). Peter Wuss: Grundformen filmischer Spannung (S. 101–116). Frank Kessler: Attraktion, Spannung, Filmform (S. 117–126). Klemens Hippel: Parasoziale Interaktion als Spiel. Bemerkungen zu einer interaktionistischen Fernsehtheorie (S. 127–145). Frank Kessler: In memoriam Christian Metz (S. 146–147). 3/1/1994 Frank Kessler / Sabine Lenk / Jürgen E. Müller: Christian Metz und die Enun- ziation. Einleitende Anmerkungen zur Übersetzung (S. 5–10). Christian Metz: Die anthropoide Enunziation (S. 11–38). Bill Nichols: Geschichte, Mythos und Erzählung im Dokumentarfilm (S. 39–60). Christof Decker: Grenzgebiete filmischer Referentialität. Zur Konzeption des Dokumentarfilms bei Bill Nichols (S. 61–82). 10/2/2001 Heftregister 176 Ulrike Hick: Die optische Apparatur als Wirklichkeitsgarant. Beitrag zur Geschichte der medialen Wahrnehmung (S. 83–96). Hans J. Wulff: Die Maisfeld-Szene aus North by Northwest. Eine situationale Analyse (S. 97–114). Karl Sierek: Spannung und Körperbild (S. 115–121). Thomas Rothschild: Bild und Geschehen (S. 122–125). Reinhold Viehoff: ... few people know what it is (S. 126–132). Peter Ohler: Zur kognitiven Modellierung von Aspekten des Spannungserle- bens bei der Filmrezeption (S. 133–141). Hans J. Wulff: Aktcharakteristik und stoffliche Bindung (S. 142–146). Georg Maas: Der Klang der Bilder. Ein Streifzug durch neue Bücher zum Thema Filmmusik (S. 147–155). 3/2/1994: NS-Film: Modernisierung und Reaktion Leonardo Quaresima: Der Film im Dritten Reich. Moderne, Amerikanismus, Unterhaltungsfilm (S. 5–22). Thomas Elsaesser: Moderne und Modernisierung. Der deutsche Film der dreißiger Jahre (S. 23–40). Klaus Kreimeier: von Henny Porten zu Zarah Leander. Filmgenres und Genrefilm in der Weimarer Republik und im Nationalsozia- lismus (S. 41–53). Stephen Lowry: Der Ort meiner Träume? Zur ideologischen Funktion des NS-Unterhaltungsfilms (S. 55–72). Irmbert Schenk: Geschichte im NS-Film. Kritische Anmerkungen zur filmwissenschaftlichen Suggestion der Identität von Propaganda und Wirkung (S. 73–98). Jörg Schweinitz: ‚Genre‘ und lebendiges Genrebewußtsein. Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung in der Filmwissenschaft (S. 99–118). Jürgen E. Müller: Intermedialität und Medienwissenschaft. Thesen zum State of the Art (S. 119–138). Wolfgang Beilenhoff: In memoriam Jurij Michajlowitsch Lotman (S. 139–140). Jurij M. Lotman: Mögliche Welten. Gespräch über den Film (S. 141–150). 4/1/1995: Neoformalismus / Fernsehen (1) Britta Hartmann / Hans J. Wulff: Vom Spezifischen des Films. Neoformalismus – Kognitivismus – Historische Poetik (S. 5–22). Kristin Thompson: Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden (S. 23–62). 177 Register montage/av Knut Hickethier: Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells (S. 63–83). Eggo Müller: Television Goes Reality. Familienserien, Individualisierung und ‚Fernsehen des Verhaltens‘ (S. 85– 106). Hans J. Wulff: Reality TV. Von Geschichten über Risiken und Tugenden (S. 107–123). Hans-Dieter Erlinger: Kinderfernsehen. Zielgruppenfernsehen, Insel im Markt oder Markt ohne Grenzen? (S. 125– 142). Alexander Schwarz: Utopie und Realität interaktiven Fernsehens. Ein Bericht aus der Praxis (S. 143–160). 4/2/1995: Fernsehen (2) Gerd Hallenberger: „Neue Sendeformen“. Thesen zur Entwicklung des Programmangebots im deutschen Fernsehen (S. 5– 20). Hans J. Wulff: Flow. Kaleidoskopische Formationen des Fern-Sehens (S. 21–39). Sasha Torres: Lesbische Migrationen, televisuelle frontiers. Northern Exposure (S. 43–62). Friedrich Krotz: ... oh Mann. Wie eine erotisch gemeinte Gameshow Männer- rolle und Geschlechterverhältnis konstituiert (S. 63–83). Angela Keppler: Person und Figur. Identifikationsangebote in Fernsehserien (S. 85–99). Britta Hartmann: Anfang, Exposition, Initiation. Perspektiven einer pragmatischen Texttheorie des Filmanfangs (S. 101–122). Norbert M. Schmitz: Der Spiegel als Symbol. Überlegungen zur modernen Formsprache in Andrej Tarkowkijs Serkalo (S. 123– 146). 5/1/1996: Filmhistoriographie Michèle Lagny: „... man kann keine Filmgeschichte ohne Filme betreiben!“ Ein Gespräch mit Michèle Lagny S. 5–22). Pierre Sorlin: Ist es möglich, eine Geschichte des Kinos zu schreiben? (S. 23–37). Paul Kusters: New Film History. Grundzüge einer neuen Filmgeschichtswissen- schaft (S. 39–60). Jens Ruchatz: Wie neu war das Kino wirklich? Ein Versuch zur Relationierung von Geschichte und Vorgeschichte des Kinos (S. 61–88). Ulrich Kriest: ‚Gespenstergeschichten‘ von Texten, die Texte umstellen. „New Historicism“ und Filmgeschichtsschreibung (S. 89–118). Nico de Klerk: Vorführkopien im Zeugenstand. Überlegungen aus dem Filmarchiv (S. 119–128). 10/2/2001 Heftregister 178 Lorenz Engell: Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung (S. 129– 153). Klemens Hippel: Mann-O-Mann. Antwort auf Friedrich Krotz (S. 154–156). 5/2/1996 Rick Altman: Die Geburt der klassischen Rezeption. Die Kampagne zur Standardisierung des Tons (S. 3–22). Karl Sierek: Chronotopenanalyse und Dialogizität. Prolegomena zu einer anderen Art der Laufbildbetrachtung (S. 23–49). Frank Kessler: Ostranenie. Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus S. 51–65). Hermann Kappelhoff: Medientheorie oder ästhetische Theorie? (S. 67–88). Ludger Kaczmarek: „Verstehen Sie Film?“ Zwei neuere deutschsprachige Arbeiten zur kognitiven Filmpsychologie (S. 89–107). Hans J. Wulff: Film & Fernsehen: Neuerscheinungen. Fünfte Ausgabe. Ein Überblick über die deutschsprachige Publizistik der Film- und Fernseh- wissenschaft (S. 111–222). 6/1/1997: Cultural Studies / David Morley David Morley: Where the Global Meets the Local. Aufzeichnungen aus dem Wohnzimmer (S. 5–35). David Morley: Radikale Verpflichtung zu Interdisziplinarität. Ein Gespräch mit David Morley über Cultural Studies (S. 36–66). Ulla Haselstein: Zur Kultur- und Mediendiskussion der Cultural Studies (S. 67–73). Peter Schneck: ‚Unity in Difference?‘. Cultural Studies als Herausforderung der Geistes-, Kultur- und Medienwis- senschaften (S. 74–82). Rainer Winter: Cultural Studies und Globalisierung. Anmerkungen zu David Morleys „Aufzeichnungen“ (S. 83–88). Lothar Mikos: Das Publikum und seine soziale Strukturiertheit. Zu Morleys Kategorie des „Haushalts“ (S. 89–96). Friedrich Krotz: Das Wohnzimmer als unsicherer Ort. Zu Morleys „Aufzeichnungen aus dem Wohnzimmer“ (S. 97–104). Udo Göttlich: Kontexte der Mediennutzung. Probleme einer handlungstheoretischen Modellierung der Medienrezeption (S. 105–113). 179 Register montage/av William Uricchio: Vom Wohnzimmer zum Desktop. Eine medienwissenschaftliche Perspektive (S. 114–118). Ralf Adelmann / Markus Stauff: Wohnzimmer und Satelliten. Die Empirie der Fernsehwissenschaft (S. 119–127). Christian Jäger: Wahrgenommenes Wahrnehmen wahrnehmen. Zur Begriffsbildung der „Autonomie des Kunstwerks“ (S. 128–148). 6/2/1997: Stars (1) Johannes von Moltke: Statt eines Editorials: „... your legend never will“. Posthume Starimages (S. 3–9). Stephen Lowry: Star und Images. Theoretische Perspektiven auf Filmstars (S. 10–35). Chris Holmlund: Leidenschaftliche Lesarten. Die Rezeption von Filmfiguren als „Fatal Attraction“ (S. 36–63). Joseph Garncarz: Warum kennen Filmhistoriker viele Weimarer Topstars nicht mehr? Überlegungen am Beispiel Claire Rommer (S. 64–92). Franz Bokel: Das Unternehmen Stuck. stars und public relations in Hitlers Deutschland (S. 93–112). Susanne Weingarten: „Body of Evidence“. Der Körper von Demi Moore (S. 113–131). Frank Kessler: Etienne Souriau und das Vokabular der filmologischen Schule (S. 132–139). Etienne Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie (S. 140–157). 7/1/1998: Stars (2) anon.: Das Mädchen der tausend Gesichter [über Florence Lawrence] (S. 4–10). Sabine Lenk: Stars der ersten Stunde. Eine Studie zur Frühzeit des Kinos (S. 11–32). Sabine Hake: Heinz Rühmann und die Inszenierung des „kleinen Mannes“ (S. 33–56). Brian Currid: „Es war so wunderbar!“ Zarah Leander, ihre schwulen Fans und die Gegenöffentlichkeit der Erinne- rung (S. 57–94). Johannes von Moltke: Heimatklänge. Die Trapp-Familie in Amerika (S. 95–122). Hans J. Wulff: Szene, Erzählung, Konstellation. Dramaturgische Analyse einer Szene aus Hitchcocks North by Northwest (S. 123–144). Peter Wuss: Originalität und Stil. Zu einigen Anregungen der Formalen Schule für die Analyse von Film-Stilen (S. 145–167). 10/2/2001 Heftregister 180 7/2/1998: Lust am Dokument Boleslas Matuszewski: Eine neue Quelle für die Geschichte. Die Einrichtung einer Aufbewahrungsstätte für die historische Kinematogra- phie (S. 6–12). Dirk Eitzen: Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus (S. 13–44). Christof Decker: Die soziale Praxis des Dokumentarfilms. Zur Bedeutung der Rezeptionsforschung für die Dokumentarfilmtheorie (S. 45–61). Frank Kessler: Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder (S. 63–78). Margrit Tröhler: Walk the Walk oder: Mit beiden Füßen auf dem Boden der unsicheren Realität. Eine Filmerfahrung im Grenzbereich zwischen Fiktion und Authentizität (S. 79–90). Christa Blümlinger: Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes. Zu Chris Markers Level Five (S. 91–104). Nico de Klerk: Nur noch wenige Stunden. Nachrichtenfilm und Technikinteresse in Amsterdamer Filmvorführungen zwischen 1896 und 1910 (S. 105–128). Jens Schröter: Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs (S. 129–154). 8/1/1999: Film als Text: Bellour, Kuntzel Dominique Blüher / Frank Kessler / Margrit Tröhler: Film als Text. Theorie und Praxis der „analyse textuelle“ (S. 3–7). Raymond Bellour: Der unauffindbare Text (S. 8–17). Raymond Bellour: Die Analyse in Flammen. (Ist die Filmanalyse am Ende?) (S. 18–23). Thierry Kuntzel: Die Filmarbeit, 2 (S. 24–84). Hermann Kappelhoff: And the Heart will go on and on. Untergangsphantasie und Wiederholungsstruktur in dem Film Titanic von James Cameron (S. 85–108). Britta Hartmann: Topographische Ordnung und narrative Struktur im klassi- schen Gangsterfilm (S. 110–133). Jane Roscoe / Peter Hughes: Die Vermittlung von „wahren Geschichten“. Neue digitale Technologien und das Projekt des Dokumentarischen (S. 134–153). 181 Register montage/av 8/2/1999: Populäre Figuren Hans-Otto Hügel: Spieler und Spion – eleganter Profi und Mann von Welt. Zur Geschichte und Einheit der Figur James Bond (S. 7–28). Heinz-Jürgen Köhler / Hans J. Wulff: Bond in Angst und Schmerzen. Szenenspannung, Szenenauflösung und die Charakteristik des Helden (S. 29–41). Margarita D. Just: Der Gral. Aus den Archiven der EON-Productions (S. 42–50). Annette Förster: Schwärmerei für einen Schatten. Musidora und das Nachleben von Irma Vep (S. 51–76). Klemens Hippel: Der menschlichste von uns allen. Die Figur des Androiden Data in Star Trek (S. 77–88). Lars Rettberg: Zu schön um wahr zu sein! Die digitale Diva Lara Croft (S. 89–110). Vinzenz Hediger: Das vorläufige Gedächtnis des Films. Anmerkungen zu Morphologie und Wirkungsästhetik des Kinotrailers (S. 111–132). 9/1/2000: Skandinavien (Gastherausgeber: Patrick Vonderau) Patrick Vonderau: Editorial (S. 4–7). Bo Florin: Europäer in Hollywood. Eine Analyse von Produktionssystemen und Filmdiskursen der zwanziger Jahre am Beispiel von Sjöström und Lubitsch (S. 8–28). Jostein Gripsrud: Mary, Doug und die Moderne. Hollywood-Stars 1924 in Norwegen (S. 29–45). Kathrine Skretting: Filmsex und Filmzensur. Die „Bettkanten“-Filme in Skandinavien 1970–1976 (S. 46–62). Torben Kragh Grodal: Die Elemente des Gefühls. Kognitive Filmtheorie und Lars von Trier (S. 63–96). Birger Langkjær: Der hörende Zuschauer. Über Musik, Perzeption und Gefühle in audiovisueller Fiktion (S. 97–124). Jan Olsson: Eine Woche kommerziellen Fernsehens. Die „Sandrews tevevecka“ vor der Einführung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Schweden (S. 125–146). Arnt Maasø: „Synchronisieren ist unnorwegisch“. (Un)synchrone Lippen vor dem Horizont der norwegischen Sprachbearbei- tungspraxis (S. 147–171). Ib Bondebjerg: Skandinavische Projekte zur Mediengeschichte. Theorien und Konzepte (S. 173–186). Göran Bolin / Michael Forsman: Medien- und Kommunikationswissenschaft in Schweden: Zergliederung oder Ko-Existenz? (S. 187–201). 10/2/2001 Heftregister 182 9/2/2000: Rudolf Arnheim Johannes von Moltke / Jörg Schweinitz: Für Rudolf Arnheim (S. 5–17). Rudolf Arnheim: Die Zukunft des Tonfilms (S. 19–32). Rudolf Arnheim: Ein Blick in die Ferne (S. 33–46). Rudolf Arnheim: Das Kino und die Masse (S. 47–54). Rudolf Arnheim: Zum Geleit [für Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel] (S. 55–57). Rudolf Arnheim: Die Verkoppelung der Medien (S. 59–63). Patrick Vonderau: Geheime Verwandtschaften? Der „Schwedenfilm“ und die Geschichte des Weimarer Kinos (S. 65–99). Peter Wuss: Ein kognitiver Ansatz zur Analyse des Realitäts-Effekts von Dog- ma-95-Filmen (S. 101–126). Lutz Nitsche: „May the Hype be with you“. Quentin Tarantino als Star-Regisseur im amerikanischen independent cinema der 90er Jahre (S. 127–153). 10/1/2001: Fernsehproduktion (Gastherausgeber: Udo Göttlich) Udo Göttlich: Editorial (S. 3–7). Eggo Müller: Globalisierung und Medien. Bericht eines ortsgebundenen Lesers (S. 9–21). John Tulloch: Das implizite Fernsehpublikum in der Soap-Opera-Produktion. Alltägliche rhetorische Strategien unter Fernsehleuten (S. 23–44). Gunther Kirsch: Produktionsbedingungen von Daily Soaps. Ein Werkstattbericht (S. 45–54). Nathalie Iványi: Alltagsmenschen als inszenatorische Ressource von Fernseh- shows. Eine Skizze produktionstheoretischer Erklärungsansätze (S. 55–70). Udo Göttlich: Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung. Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung (S. 71–90). Arnold Windeler / Anja Lutz / Carsten Wirth: Netzwerksteuerung durch Selektion. Die Produktion von Fernsehserien in Projektnetzwerken (S. 91–124). Miriam Meckel: Die Produktion von Wirklichkeit. Zur Virtualisierung von Fernsehnachrichten (S. 125–139). 10/2/2001: Essen! Trinken! Feiern! Raphaëlle Moine: Vom Tisch zum Bett. Analyse eines filmischen Klischees (S. 9–19). Frank Kessler: Eyes Wide Shut. Hinter den Kulissen des Fests (S. 21–28). 183 Register montage/av Hans J. Wulff: Bier und Blasmusik – Das Fest in den Filmen JiÍí Menzels (S. 29–35). Ludger Kaczmarek: „When Men Get Merry“. Vom Feiern im Wald in The Adventures of Robin Hood (S. 37–42). RalfAdelmann/JudithKeilbach/MarkusStauff: „Soviel Gefühle kann’s nicht geben!“ Typisierung des Feierns und Jubelns im Fernsehsport (S. 43–57). Martina Roepke: Feiern im Ausnahmezustand. Ein privater Film aus dem Luftschutzkeller (S. 59–66). Vinzenz Hediger: Das Popcorn-Essen als Vervollständigungshandlung der syn- ästhetischen Erfahrung des Kinos. Anmerkungen zu einem Defizit der Filmtheorie (S. 67–75). Christine N. Brinckmann: Unsägliche Genüsse (S. 77–94). Thomas Christen: (Fr)Iss und Stirb! (Verhindertes) Essen als narratives Strukturelement in Le Charme discret de la bourgeoisie (S. 95–106). Heinz-Jürgen Köhler: Der Teufel hat den Schnaps gemacht ... um uns zu stärken. Trinken und Kämpfen in Jackie Chans Drunken Master-Filmen (S. 107–114). Karin Esders: Küche und Kino. Von Lust und Frust des kulinarischen Films (S. 115–121). Gerd Hallenberger: Clemens Wilmenrod. Zeichen von Esskultur (S. 123–129). Hans J. Wulff: Konstellationen, Kontrakte und Vertrauen. Pragmatische Grundlagen der Dramaturgie (S. 131–154). Francesco Casetti: Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag (S. 155–173). Heftbestellungen Die Hefte 1/1/1992 bis einschließlich 7/2/1998 sind mit Ausnahme der vergrif- fenen Ausgaben 2/1/1993 und 2/2/1993 zu beziehen über: Montage/AV c/o Britta Hartmann Körnerstraße 11 D-10785 Berlin Ihre Bestellung der nachfolgenden Hefte senden Sie bitte an: Schüren Verlag Deutschhausstraße 31 D-35037 Marburg 10/2/2001 Heftregister 184 Die Beilagen Unregelmäßig hat montage/av neben den Heften auch Beilagen veröffentlicht. Die meisten Beilagen stellten die aktuelle, vor allem deutschsprachige Publizis- tik der Film- und Fernsehwissenschaft zusammen. Ausgewählte Neuerschei- nungen wurden kommentiert. Die Beilagen 1/1993 (eine von Gottfried Schlem- mer zusammengestellte Bibliographie zu Vincente Minnelli) sowie die Beilagen 1/1995 und 1/1998 sind noch greifbar. Gegen die Zusendung von einem mit DM 3,– frankierten Rückumschlag lassen wir Ihnen gerne Exemplare zukom- men. 185 Register montage/av Autorenregister Adelmann, Ralf 6/1/1997, 10/2/2001 Göttlich, Udo 6/1/1997, 10/1/2001 Altman, Rick 5/2/1996 Gripsrud, Jostein 9/1/2000 Arnheim, Rudolf 9/2/2000 Grodal, Torben Kragh 9/1/2000 Aumont, Jacques 1/1/1992 Hake, Sabine 7/1/1998 Batz, Richard 1/1/1992 Hallenberger, Gerd 4/2/1995, Beilenhoff, Wolfgang 2/1/1993, 10/2/2001 3/2/1994 Hartmann, Britta 4/1/1995, Bellour, Raymond 8/1/1999 4/2/1995, 8/1/1999 Blüher, Dominique 8/1/1999 Haselstein, Ulla 6/1/1997 Blümlinger, Christa 7/2/1998 Hediger, Vinzenz 8/2/1999, 10/2/2001 Bokel, Franz 6/2/1997 Heller, Heinz-B. 1/1/1992 Bolin, Göran 9/1/2000 Hick, Ulrike 3/1/1994 Bondebjerg, Ib 9/1/2000 Hickethier, Knut 4/1/1995 Bordwell, David 1/1/1992 Hippel, Klemens 1/1/1992, Brinckmann, Christine N. 10/2/2001 2/2/1993, 5/1/1996, 8/2/1999 Bulgakowa, Oksana 2/1/1993 Holmlund, Chris 6/2/1997 Hügel, Hans-Otto 2/1/1993, Casetti, Francesco 10/2/2001 8/2/1999 Christen, Thomas 10/2/2001 Hughes, Peter 8/1/1999 Currid, Brian 7/1/1998 Iványi, Nathalie 10/1/2001 Decker, Christof 3/1/1994, 7/2/1998 Jäger, Christian 6/1/1997 Eitzen, Dirk 7/2/1998 Just, Margarita D. 8/2/1999 Elsaesser, Thomas 3/2/1994 Engell, Lorenz 5/1/1996 Kaczmarek, Ludger 5/2/1996, Erlinger, Hans-Dieter 4/1/1995 10/2/2001 Esders, Karin 10/2/2001 Kappelhoff, Hermann 5/2/1996, 8/1/1999 Fiske, John 2/1/1993 Keilbach, Judith 10/2/2001 Florin, Bo 9/1/2000 Keppler, Angela 4/2/1995 Forsman, Michael 9/1/2000 Kessler, Frank 1/1/1992, 2/2/1993, Förster, Annette 8/2/1999 3/1/1994, 5/2/1996, 6/2/1997, 7/2/1998, 8/1/1999, 10/2/2001 Garncarz, Joseph 6/2/1997 Kirsch, Gunther 10/1/2001 Gass, Lars Henrik 2/2/1993 Klejman, Naum I. 2/2/1993 10/2/2001 Autorenregister 186 Klerk, Nico de 5/1/1996, 7/2/1998 Rettberg, Lars 8/2/1999 Köhler, Heinz-Jürgen 8/2/1999, Roepke, Martina 10/2/2001 10/2/2001 Roscoe, Jane 8/1/1999 Kreimeier, Klaus 3/2/1994 Rothschild, Thomas 3/1/1994 Kriest, Ulrich 5/1/1996 Ruchatz,. Jens 5/1/1996 Krotz, Friedrich 4/2/1995, 6/1/1997 Kuntzel, Thierry 8/1/1999 Schenk, Irmbert 3/2/1994 Kusters, Paul 5/1/1996 Schmitz, Norbert M. 4/2/1995 Schneck, Peter 6/1/1997 Lagny, Michèle 5/1/1996 Schröter, Jens 7/2/1998 Langkjær, Birger 9/1/2000 Schwarz, Alexander 4/1/1995 Lenk, Sabine 1/1/1992, 3/1/1994, Schweinitz, Jörg 3/2/1994, 9/2/2000 7/1/1998 Sierek, Karl 3/1/1994, 5/2/1996 Lotman, Jurij M. 3/2/1994 Skretting, Kathrine 9/1/2000 Lowry, Stephen 1/1/1992, 3/2/1994, Sorlin, Pierre 5/1/1996 6/2/1997 Souriau, Etienne 6/2/1997 Lutz, Anja 10/1/2001 Spielman, Yvonne 2/2/1993 Stauff, Markus 6/1/1997, 10/2/2001 Maas, Georg 3/1/1994 Maasø, Arnt 9/1/2000 Thompson, Kristin 4/1/1995 Matuszewski, Boleslas 7/2/1998 Torres, Sasha 4/2/1995 Meckel, Miriam 10/1/2001 Tröhler, Margrit 7/2/1998, 8/1/1999 Metz, Christian 3/1/1994 Tsivian, Juri 2/2/1993 Mikos, Lothar 2/1/1993, 6/1/1997 Tulloch, John 10/1/2001 Moine, Raphaëlle 10/2/2001 Moltke, Johannes von 6/2/1997, Uricchio, William 6/1/1997 7/1/1998, 9/2/2000 Morley, David 6/1/1997 Viehoff, Reinhold 3/1/1994 Mukarovský, Jan 2/1/1993 Vonderau, Patrick 9/1/2000, 9/2/2000 Müller, Eggo 2/1/1993, 4/1/1995, 10/1/2001 Weingarten, Susanne 6/2/1997 Müller, Jürgen E. 3/1/1994, 3/2/1994 Windeler, Arnold 10/1/2001 Winter, Rainer 6/1/1997 Nichols, Bill 3/1/1994 Wirth, Carsten 10/1/2001 Nitsche, Lutz 9/2/2000 Wulff, Hans J. 1/1/1992, 2/1/1993, 2/2/1993, 3/1/1994, 4/1/1995, Ohler, Peter 3/1/1994 4/2/1995, 5/2/1996, 7/1/1998, Olsson, Jan 9/1/2000 8/2/1999, 10/2/2001 Wuss, Peter 1/1/1992, 2/2/1993, Quaresima, Leonardo 3/2/1994 7/1/1998, 9/2/2000 Zu den Autoren Ralf Adelmann, geb. 1967, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Film- und Fernsehwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Kunstgeschichte, arbeitet derzeit zu den Themen Fernsehen und Neue Medien. Christine N. Brinckmann, Prof. Dr., geb. 1937, Professorin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich; Veröffentlichungen zu Filmgeschichte und Erzähltheorie, insbesondere zum Hollywood-Kino, zum amerikanischen Dokumentarismus und zur Ästhetik des Experimentalfilms; 1997 erschien der Sammelband Die antropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration (Zürich: Chronos) mit Aufsätzen aus zwei Jahrzehnten. Francesco Casetti, Prof. Dr., Prorektor der Università Cattolica, Mailand und Professor für Film- und Fernsehwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur Film- und Fernsehtheorie, u. a. Dentro lo sguardo. Il film e il suo spettatore. Milan: Bompiani 1986 (frz. Übers.: D’un regard à l’autre, 1990; engl. Übers.: Inside the Gaze, 1998), Teorie del cinema, 1945-1990. Milan: Gruppo Editoriale Fabbri, Bompiani, Sonzogno, Etas S.p.A. 1993 (1999 erschienen eine französi- sche sowie eine englische Übersetzung und zus. mit Federico Di Chio Analisi del film. Milano: Bompiani 1990; Mitherausgeber von La storia comune. Fun- zioni, forma e generi della fiction televisiva. Roma: Nuova Eri-VQPT 1992 VIRIDIANA (Mexiko/Spanien 1961, Luis Buñuel) 188 Zu den Autoren montage/av sowie von Esperienze mediali: media e mondo di vita negli anni ‘50 e negli anni ‘90. Venezia: Centro Studi San Salvador 1996. Thomas Christen, Dr. des., geb. 1954, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehr- beauftragter am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich; Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft und Psychologie an der Universität Zürich, Promotion über Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Marburg: Schüren 2001), arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt über die Geschichte der Filmwissenschaft in der Schweiz. Karin Esders, Dr., geb. 1960, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im transdiszipli- nären Lehr- und Forschungsprojekt „Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht“ an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Professur für Frau- enforschung der Universität Potsdam; Autorin von Die Kodifizierung von Weiblichkeit im amerikanischen Genrekino: Funktionen der Frau im frühen amerikanischen Westernfilm, 1896–1929 (Trier: Wissenschaftsverlag 1997), ar- beitet derzeit an einer Habilitationsschrift zum Thema „Identität, Gender, Medien – Versionen moderner Selbstentwürfe in der frühen amerikanischen Romankultur, im frühen amerikanischen Kino und im Internet“. Gerd Hallenberger, Dr. habil., geb. 1953, Dozent im Diplomstudiengang „Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung“ der Universität-GH Siegen und Leiter des deutschen Zweigs des Forschungsverbunds „Eurofiction“; zahl- reiche Veröffentlichungen zur Fernsehunterhaltung, Medienentwicklung und Populärkultur, Lehraufträge an den Universitäten Marburg, Siegen und Leipzig, beratende Tätigkeit für Fernsehsender sowie Mitglied von Nominierungskom- missionen für den 37. und 38. Grimme-Preis. Mitherausgeber der Buchreihe Fiktion und Fiktionalisierung (Köln: Herbert-von-Halem-Verlag). Vinzenz Hediger, Dr., geb. 1969, Forschungsassistent am Seminar für Filmwis- senschaft der Universität Zürich und Filmkritiker für die Neue Zürcher Zeitung; Aufsätze zu Filmtheorie und -geschichte, Autor von Verführung zum Film. Der amerikanische Kinotrailer seit 1912 (Marburg: Schüren 2001), Mitherausgeber von Home Stories. Neue Studien zu Film und Kino in der Schweiz (Marburg: Schüren 2001) und von Cinema. Ludger Kaczmarek, geb. 1953, Studium der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Deutschen Philologie und Philosophie in Münster, Historiograph der Kogni- tionswissenschaft(en) und ihrer Vorläufer; neben text- und filmsemiotischen Veröffentlichungen Aufsätze und Editionen zur Sprach- und Zeichentheorie des Mittelalters, der Renaissance und der frühen Neuzeit. 189 Zu den Autoren montage/av Judith Keilbach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissen- schaft der Freien Universität Berlin, arbeitet an einer Dissertation über Fernse- hen und Geschichte, Mitherausgeberin von www.nachdemfilm.de. Frank Kessler, Dr., geb. 1957, Dozent für Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Utrecht, Autor zahlreicher Aufsätze zu Filmgeschichte und –theorie, Mitherausgeber von KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. Heinz-Jürgen Köhler, geb. 1963, stellvertretender Leiter der Filmprogrammre- daktion bei TV Today, Hamburg. Beiträge u. a. zu: Filmklassiker (Stuttgart: Reclam 1995), Filmregisseure (Stuttgart: Reclam 1999), Movies of the Nineties (Köln: Taschen 2001), Mitarbeiter der Studie TV-Movies ‚Made in Germany‘ im Auftrag der Unabhängigen Landesanstalt für das Rundfunkwesen, Kiel. Raphaëlle Moine, agrégée de lettres, Dr., geb. 1966, Dozentin für Filmwissen- schaft an der Universität Paris 10 in Nanterre; befasst sich in ihrer Arbeit mit anthropologischen Analysen filmischer Fiktionen; Autorin von Les Genres au cinéma (Paris: Nathan 2002 [i. Dr.]), Mitherausgeberin von France/Hollywood: échanges et aller-retours (Paris: L’Harmattan 2002 [i.Dr.]). Martina Roepke, geb. 1968, Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie, Linguistik und Photographie in Tübingen und Boston, arbeitet derzeit im Rah- men des Graduiertenkollegs „Authentizität als Darstellung“ (Universität Hil- desheim) an einer Dissertation zur Geschichte des Amateurfilms in Deutsch- land, lebt in Utrecht. Markus Stauff, geb. 1968, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Film- und Fernsehwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; arbeitet über Cultural Studies und Digitalisierung von Fernsehen; Mitherausgeber von Technologien als Diskurse (Heidelberg: Synchron 2001). Hans J. Wulff, Prof. Dr., geb. 1951, Professor für Medienwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; zahlreiche Veröffentlichungen zur Film- und Fernsehtheorie und zur Populärkultur, u. a. Die Erzählung der Gewalt (Münster: MAkS Publikationen 1985), Psychiatrie im Film (Münster: MAkS Publikationen 1995) und Darstellen und Mitteilen (Tübingen: Gunter Narr 1999); Mitherausgeber von Film und Psychologie I (Münster: MAkS Publi- kationen 1990), Das Telefon im Spielfilm (Berlin: Spiess 1992) und Suspense (Hillsdale, N. J.: Erlbaum 1996).