Jg. 22 H. 1 2022 € 13,- NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Christoph Borbach / Max Kanderske (Hrsg.) NAVIGIEREN Zugänge zu Medien und Praktiken der Raumdurchquerung Borbach/Kanderske: Navigieren durch heterogene Räume ä Müller: Vom Zurechtfinden im Raum ä Akerman: Itineraries, Guidebooks, Maps ä Pfaffenthaler: Relationale Örtlichkeit und relationale Zeitlichkeit ä Boersma: Me- diatisierte Wahrnehmung, infrastrukturiertes Wasser, situiertes Wissen ä Kirsten: Navigating Hike&Fly ä Höltgen: Hardwhere – Softwhere ä Adscheid: Vom Navigator zum Navigierten ä Schwesinger: Raumlose Räume und ortlo- se Objekte ä Scholz: Sensormedien-Milieus und Technoökologien der Wahrnehmung ä Hägerstrand: Was ist mit den Menschen in der Regionalwissenschaft? ä Thielmann: Die Datalität von Situationen ä Sprenger: Navigationen und Relationen ä Sievert/Schüttpelz/Loffeld/Schröter: Analog/Digital Jg. 22, H. 1, 2022 NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften Christoph Borbach / Max Kanderske (Hrsg.) NAVIGIEREN NAVI GATIONEN ä Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften IMPRESSUM HERAUSGEBER: TITELBILD: Prof. Dr. Jens Schröter Ausschnitt aus: United States Army. Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft Air Corps, United States Army. Corps Lennéstr. 1 Of Engineers & Geological Survey, 53113 Bonn (Hauptherausgeber) U. S. T. B. (1924) Aeronautical strip maps of the United States. Washing- Christoph Borbach und Max Kanderske ton, D.C.: Air Corps. Abgerufen unter Team »Science, Technology and Media https://www.loc.gov/item/2009582531/ Studies« [11.04.2022]. Universität Siegen Herrengarten 3 DRUCK: 57072 Siegen UniPrint, Universität Siegen Erscheinungsweise zweimal jährlich Prof. Dr. Benjamin Beil Institut für Medienkultur und Theater universi – Universitätsverlag Siegen Meister-Ekkehart-Str. 11 Am Eichenhang 50 50937 Köln 57076 Siegen REDAKTION FÜR DIESE AUSGABE: ISSN 1619-1641 Christoph Borbach / Max Kanderske UMSCHLAGGESTALTUNG Wir bedanken uns bei Hendrik Bender UND LAYOUT: für seine Expertise bei der Zähmung Christoph Borbach / Max Kanderske widerspenstiger Textverarbeitungspro- (für diese Ausgabe) gramme. Christoph Meibom und Susanne Pütz (Originaldesign) Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Pro- jektnummer 262513311 – SFB 1187. Erscheint unter der Creative Commons Lizenz CC-BY-SA Christoph Borbach / Max Kanderske (Hrsg.) NAVIGIEREN Zugänge zu Medien und Praktiken der Raumdurchquerung INHALT EINLEITUNG Christoph Borbach und Max Kanderske Navigieren durch heterogene Räume: Wegfindungen jenseits des Nautischen .......................................................... 5 I HISTORIOGRAPHIEN Susanne Müller Vom Zurechtfinden im Raum: Eine kurze Mediengeschichte des Navigierens ............................................. 35 James R. Akerman Itineraries, Guidebooks, Maps: Guiding Travelers in the Early United States, 1783-1845 ............................ 51 Manfred Pfaffenthaler Relationale Örtlichkeit und relationale Zeitlichkeit: Zum Problem der Evidenthaltung von Karten.............................................. 77 II ETHNOGRAPHIEN Asher Boersma Mediatisierte Wahrnehmung, infrastrukturiertes Wasser, situiertes Wissen: Entwurf einer Praxistheorie der nautischen Navigation ............................... 95 Karina Kirsten Navigating Hike&Fly: Soziotechnonatürliche Praktiken und Netzwerke alpinen Navigierens zu Fuß und in der Luft ................................................................................. 119 III TECHNOGRAPHIEN Stefan Höltgen Hardwhere – Softwhere: Eine Archäologie der/als Navigation durch Strukturspeicher ..................... 139 Daniela Adscheid Vom Navigator zum Navigierten: Zur Delegation navigatorischer Arbeit an technische Objekte .................. 163 NAVIGATIONEN NA VIG IEREN Sebastian Schwesinger Raumlose Räume und ortlose Objekte: Akustische Transfers zwischen Land und Meer .......................................... 179 IV THEORIEN Sebastian Scholz Sensormedien-Milieus und Technoökologien der Wahrnehmung: Navigieren in/mit ›more-than-human‹ Infrastrukturen ............................... 199 Torsten Hägerstrand Was ist mit den Menschen in der Regionalwissenschaft? Übersetzung des Vortrags »What about People in Regional Science?« von 1969 ...................................................................................................... 219 Tristan Thielmann Die Datalität von Situationen: Zur Aktualität von Torsten Hägerstrand .................................................... 239 Florian Sprenger Navigationen und Relationen: Eine medientheoretische Skizze und ein interplanetarisches Beispiel ........ 243 V EPILOG Johannes Sievert, Erhard Schüttpelz, Otmar Loffeld, Jens Schröter Analog/Digital: Eine Diskussion ........................................................................................... 257 Autorinnen und Autoren...................................................................................... 269 NAVIGATIONEN 2 NA VIG IEREN EINLEITUNG NAVIGATIONEN NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME Wegfindungen jenseits des Nautischen V O N C H R I S T O P H B O R B A C H U N D M A X K A N D E R S K E ABSTRACT Der Beitrag spannt ein Koordinatensystem auf, in welchem die Bedeutung der Na- vigation für unsere aktuelle Medienkultur als Topos, Technik, Forschungsfeld und Praktik kartiert wird. Dreh- und Angelpunkt ist die Produktivität des Navigations- begriffs selbst, die dem Beitrag strukturell wiederholt zugrunde gelegt wird, um durch unterschiedliche Räume zu navigieren: Durch die (historische) Signifikanz von Techniken und Praktiken der Navigation für gegenwärtige Medienkulturen und ubiquitäre Standards; durch die medienkulturwissenschaftliche Forschung zum Themenfeld; und durch den Textraum dieser Zeitschriftenausgabe. Zentralen Stel- lenwert nimmt hierbei unsere Auflistung ein, was das Navigieren auf basaler Ebene charakterisiert. Unsere grundlegenden Prämissen lauten, 1.) dass einstige analoge Kulturtechniken des Navigierens nunmehr nach digitaler Medienkompetenz verlan- gen, 2.) dass sich das Navigieren begrifflich, praktisch und technologisch irreduzibel – aber meist verborgen oder implizit – in unsere aktuelle Medienkultur eingeschrie- ben hat und 3.) dass der Anwendung des Navigationsbegriffs für eine Multiplizität von Umwelten keine Metaphorik innewohnt, da sich ihre epistemischen Prinzipien in heterogenen Räumen als funktional erweisen. KEYWORDS: Navigationsmedien, Mediengeografie, Mobilities, Praxeologie, Navi- gational Turn 0. ROUTEN DURCH DEN RAUM: MEERE, DATEN, TEXTE Abb. 1: Eigener Screenshot von der Webseite https://de.wikipedia.org/wiki/Medienwissen- schaft vom 11.08.2021. »Medienwissenschaft – Wikipedia. Zur Navigation springen [...]«. Bevor der Wi- kipedia-Eintrag zum Lemma »Medienwissenschaft« inhaltlich wird, wird der Userin ein Zurechtfinden durch den Artikel hindurch angeboten, um eine Orientierung über die Struktur des Textes zu bekommen sowie ein Wissen zu erlangen, wie sich NAVIGATIONEN NA VIG IEREN CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE der Weg durch den lexikalischen Eintrag hindurch gebahnt werden kann, welche textuellen Sprünge möglich sind, welche Lese-Routen gewählt werden können. Na- vigation – das erlaubt hier auf einer strukturellen Ebene eine Ordnung, eine textu- elle Wegfindung, eine Orientierung im und durch den Textraum der Webseite. So sehr der Screenshot aus der alltäglichen Medienpraxis entlehnt ist, ebenso ist das darin Enthaltene programmatisch. Es verweist jenseits seines konkreten Schrifttexts auf einen größeren Kontext: Navigation ist längst kein Unikum profes- sionalisierter Schifffahrer:innen mehr (etymologisch navigare für das Führen eines Schiffes). Navigation ist vielmehr als Topos, Technik und Praxis zu einem zentralen Element unserer aktuellen Medienkultur avanciert. Durch Webseiten oder allge- meiner: durch den digitalen Informations- und Datenraum hindurch finden Techni- ken und Praktiken der Wegfindung Anwendung, die begrifflich explizit als Naviga- tion bezeichnet werden. Und das, obgleich das physikalische Trägermedium nicht länger Meereswasser, sondern infrastrukturelle Netzwerktechnik ist, und im infor- mation space nicht länger mit analogem Oktanten, Lotdraht oder Chronometer na- vigiert wird, sondern mittels digitaler Medientechnik. Navigation in unserer postdi- gitalen Medienkultur benennt nicht länger nautische Spezialfertigkeiten, sondern erlaubt ebenso eine Orientierung durch Datenmeere wie das www. »How do we navigate in once-again uncharted waters?«1 fragte bereits der am Xerox Palo Alto Research Center (Xerox PARC) beschäftigte Informatiker und Pi- onier des intuitiven user interface Alan Kay und transferierte damit als ein Begründer des Konzepts ›Computer als Medium‹2 Fragen der Wegfindung in das computeri- sierte Informationszeitalter und den digitalen Datenraum. Dass Fragen von Routen und Routings (Wegfindungen von Daten von einer Quelle zu einer Senke) für den digitalen Raum begrifflich den Navigationsbegriff bemühten, erscheint umso nach- vollziehbarer in dem Kontext, dass der Cyberspace bereits früh mit urbaner Meta- phorik und Imagination belegt worden ist, d.h. der digitale Raum als tendenziell entmaterialisierter und barrierefreier, grenzenloser und internationaler Stadtraum interpretiert wurde. Hierfür stehen exemplarisch die teils aktivistischen Cyber- space-Medienkunstprojekte »De digitale Stad« in den Niederlanden oder »Interna- tionale Stadt Berlin«, beide Mitte der 1990er Jahre gegründet, ein; ebenso das Pro- jekt »City of News« des Media Labs des MITs oder das Onlinemagazin »Telepolis«. Und auch als Sujet fand der Cyberspace als digitaler Stadtraum popkulturelle Ver- wertung, beispielsweise im Film »Hackers« von 1995 oder bereits im bekannten Science-Fiction-Roman »Neuromancer« von William Gibson (1984). Überhaupt sind die geografischen Terminologien für den global vernetzten Datenraum für die- sen charakteristisch, wie es auch der »Atlas of Cyberspace« dem Namen nach und 1 Kay: »User Interface«, S. 131. 2 In Anlehnung an den gleichnamigen Sammelband: Bolz u.a.: Computer als Medium. NAVIGATIONEN 6 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME in seiner Selbstbeschreibung offenbart: »This is an atlas of maps and graphic re- presentations of the geographies of the new electronic territories of the Internet, the World-Wide Web and other emerging Cyberspaces.«3 Vor diesem Hintergrund es ist mehr als naheliegend, dass der Begriff der Na- vigation hier – im Falle des Cyberspace – bereits früh genutzt wurde. Bezeichnend ist dabei vielmehr, dass sich zeigt, dass der Begriff allgemein Praktiken der Wegfin- dung und Orientierung bezeichnet, gleich in welchem natürlichen, technischen, dis- kursiven oder medialen environment: Ganz gleich in welcher Umwelt ein Raum durchquert wird, das Navigieren wird praktiziert und explizit. Es ist dementspre- chend weniger der Begriff der Navigation, der als Metapher fungiert, wenn er für eine Heterogenität von Räumen gleichermaßen Funktionalität entfaltet, sondern vielmehr der Begriff des Raums, dem eine Metaphorik innewohnt. Diesseits aller Metaphorik benennt das Navigieren auf basaler Ebene eine Wegfindung durch Räume, so heterogen diese Räume auch sein mögen. Wie steht es aber nun – den eingangs abgebildeten Screenshot auf Metaebene zum Ausgangs- punkt nehmend – um das Verhältnis von Medienwissenschaft und Navigation? Um uns an einer Antwort auf diese Frage zu versuchen, nutzen wir im Folgenden die Produktivität des Navigationsbegriffs selbst – nämlich, dass er relativ, d.h. skalierbar und für jegliche Räume anwendbar ist – und legen diesen dieser Einleitung struktu- rell wiederholt zugrunde, um durch drei verschiedene Räume zu navigieren: 1.) den medienkulturhistorischen Raum der Signifikanz von Fragen des Naviga- tionellen, 2.) den diskursiven Raum der geisteswissenschaftlichen Forschung zur Naviga- tion, 3.) den Textraum dieser Zeitschriftenausgabe. 1. NAVIGIEREN DURCH DIE MEDIENKULTURELLE RELEVANZ DER NAVI- GATION Das Navigieren als Kulturtechnik blieb bis in das 20. Jahrhundert hinein auf einen engen Nutzungskontext beschränkt – die professionalisierte Seefahrt – und entfal- tete erst allmählich im 18. und 19., massiv im 20. Jahrhundert Alltagsrelevanz für zivile Akteure zur freizeitlichen und beruflichen Ziel- und Wegfindung mit je spezi- fischen Medienpraktiken. Historisch war die zeitgeografische Erweiterung individu- eller »day« oder »week paths«4 je ein Effekt differenter Transport-Technikentwick- lung, die Personen, Artefakte und Zeichen beschleunigter zu übertragen erlaubten 3 Dodge/Kitchin: »An Atlas of Cyberspace«. 4 Hägerstrand: »Survival and Arena«; u. ders.: »What about people in regional science?« – siehe auch die Übersetzung des Beitrags in dieser Ausgabe. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 7 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE und damit Fragen der individuellen Navigation über Mediengrenzen hinweg dring- lich werden ließen – sei es beim Fahrrad als »Medium der Landerschließung« in den USA zum Ende des 19. Jahrhunderts5 oder dem Automobil6. Aber Technikentwicklung ist nicht nur die Bedingung für größere Mobilität, sondern ebenso ist es neben der ›Entdeckung der Freizeit‹ in der Moderne eben jene gesteigerte und beschleunigte Mobilität, die für zielsichere Wegfindung und Selbstverortung kultur- und medientechnische Fragen und Antworten virulent wer- den ließ: Von der kulturtechnischen Praktik des kooperativen Produzierens und individuellen Lesens analoger Karten als »Raummedien«7 bis zur medientechni- schen Selbstverortung des Subjekts durch seine digitalen »Nahkörpertechnolo- gien«8: Durch miniaturisierte, in Smartphones integrierte Module für globale Navi- gationssatellitensysteme9 in Verbundschaltung mit algorithmisierter Wegfindung im »Geobrowsing«10 wird das postmoderne Subjekt zum Homo Mobilis11 aufgrund der Smart Devices, mit welchen er sich umgibt – ein Homo Mobilis, dessen Mobilität aufgrund von Transporttechniken jedoch potenziell immer weniger körperliche Aktivität erfordert, wie es bereits Paul Virilio dem postmodernen Subjekt dysto- pisch bescheinigte12. Um die Relevanz der Navigation für 1.) eine techniknahe ›materialistische‹, als auch 2.) eine kulturtechnikaffine, soziologisch-praxeologisch bzw. anthropologisch inspirierte ›praxisnahe‹ Medienforschung darzulegen, bedarf es keiner weitreichen- den Herleitung – zu naheliegend sind die diskursiven Verflechtungen. 1.) Einerseits ist davon auszugehen, dass tendenziell jede medientechnische Entwicklung auch ihren Niederschlag in sich verändernden Techniken der Naviga- tion fand, mithin navigatorische Verwendung erfuhr. So könnte behauptet werden, dass jedes (historische) Medium der Kommunikation auch als ein Medium der Na- vigation interpretiert und genutzt worden ist.13 Hierzu wollen wir drei medienar- chäologisch interessante Fallbeispiele anführen. Beispielsweise begründete funk- technische Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht allein das Radio als Kommunikations- und Unterhaltungsmedium, sondern erfuhr ebenso Optimierung und Operationalisierung zu Zwecken der Navigation. Das Cover dieser Ausgabe 5 Lommel/Thielmann/Schulz: »Das Fahrrad«. 6 Thielmann: »Der ETAK Navigator«. 7 Dünne: »Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix«. 8 Kaerlein: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. 9 Borbach: »Reduced to the Max«. 10 Abend: Geobrowsing. 11 Mark Wächter: »Der Homo Mobilis«. 12 Virilio: »Das dritte Intervall«. 13 Im Sinne von Judd Case oder Ned Rossiter, die genuine »logistical media« identifizieren (Case: »Logistical Media«; Rossiter: »Logistical Media Theory«), ließen sich entsprechend auch »navigational media« als eigene Kategorie medienkultureller Objekt- und Prozesslo- gik bezeichnen. NAVIGATIONEN 8 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME führt dies programmatisch vor Augen: Insbesondere in den 1920er und 1930er Jah- ren, schwerpunktmäßig in der Seefahrt und der US-amerikanischen Luftfahrt, gal- ten Radiosender nicht exklusiv als Orte der Übertragung von Rundfunk, sondern formten gerichtete Radiostationen ein Netzwerk, mit dem sich sichere Wegfindung in der Luftfahrt auch bei schlechten Sichtverhältnissen realisieren ließ. Diese navi- gatorische Infrastruktur der s.g. Funkfeuer (radio beacons) etablierte im Luftraum der USA eine Praxis der »radionavigation« und des »beam flying«, die bei schlechter Sicht die Sinne von Pilot:innen um 1930 neu priorisierte, insofern zielsichere Weg- findung über das menschliche binaurale Hören qua Stereoeffekt vorgenommen wurde: Gemäß der eigenen relativen Position zu Radiostationen befanden sich Pi- lot:innen in je anderen acoustic spaces, die indexikalisch mit territorialen Räumen korrespondierten und die Navigation durch den auditiven mithin eine Navigation im Georaum bedeutete. Dafür wurden von einer Unterabteilung der United States Army eigene Pläne herausgegeben, die – unüblich für Karten – ebenso sonische Räume kartierten, durch welche es zu fliegen galt. Auf dem Cover dieses Hefts ist als ein kartografisches Beispiel aus dem Jahr 1924 das Gebiet zwischen New York und Philadelphia abgebildet.14 Ein zweites Beispiel wäre das Speichermedium Au- diokassette, das gemeinhin vorrangig als Musikmedium Aufmerksamkeit von For- schenden erfuhr. Ebenso wurde es aber zu Zwecken der Navigation funktionali- siert, wie die nunmehr historische »cassette navigation« offenbart. Qua Kopplung (dead reckoning) zwischen Kassettenlaufwerk und Tacho war die Kassettennaviga- tion ein ephemeres System der automobilen Wegfindung, deren Halbwertszeit not- wendigerweise begrenzt war, da – ähnlich wie bei der Kartografie, deren Wert sich an ihrer Aktualität bemisst – es auf verbalen Kommentierungen der zu fahrenden Strecke auf Basis der bereits absolvierten Distanz beruhte – und folglich versagte, sobald eine ideale Verkehrsroute nicht mehr befahrbar war (wie im Falle von Bau- stellen oder neuen Straßen).15 Als drittes Beispiel ließe sich die Fotografie ins navi- gatorische Feld führen, die neben ihrer epistemischen Funktion in den Naturwis- senschaften, ihrer Qualität als privates Erinnerungsmedium u.v.m., auch als Dokumentationsmedium der Wegfindung durch den Raum Verwendung erfuhr. Sog. Photo-Auto Guides16 realisierten im frühen 20. Jahrhundert eine spezifisch analoge, fotorealistische Führung von meist tages- oder wochenendtouristischen Personen(gruppen) auf dem Fahrrad oder mit frühen Automobilen. 2.) Andererseits – im Sinne einer Kulturtechnikforschung – ist davon auszuge- hen, dass Praktiken der Navigation weitreichende Konsequenzen für unsere aktu- 14 Zur »radionavigation« vertiefend siehe auch Rankin: »The Geography of Radionavigation and the Politics of Intangible Artifacts«. 15 Hier zeigt sich eine Besonderheit navigatorischer Medien: ihr spezifisches Zeitverhältnis zum Raum. Sie bedürfen eines kontinuierlichen Updates, sobald sich räumliche Gegeben- heiten ändern; andernfalls sind sie – wie im Falle alter Karten – allenfalls noch von histo- rischem, nicht aber navigatorischem Wert. 16 Thielmann: »Die bewegte Mediengeschichte des Fotofahrtenführers«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 9 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE elle Medienkultur evozierten. So sind nicht weniger als ubiquitäre und global wirk- same Standardisierungen von Zeit und Raum (bspw. die GMT, die Greenwich Mean Time) Bedingung und Resultat von Kulturtechniken der Navigation. Dieses rekursi- ves Prinzip ist für Kulturtechniken – wie es neben den basalen Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens das Navigieren ist – programmatisch. Denn um zielsicher über die globalen Ozeane zu schiffen, benötigt es nicht nur ein Wissen um das Ziel und den Weg dorthin, sondern auch fortwährend der eigenen Position. Für die Astronomische Navigation (Wegfindung auf Basis von Stern- und Sonnen- beobachtung mit Sextant, Oktant, Chronometer usw.) war es dementsprechend irrelevant über situierte Ortszeiten oder gar womöglich divergente Lokalzeiten zu verfügen, sondern es galt, situierte Uhrenzeiten im globalen Maßstab miteinander zu synchronisieren. Um zu wissen, an welcher tropischen Südseeinsel man ange- landet war, war es folglich wichtig, exakt zu wissen, wie spät es gerade nicht nur auf dieser Insel, sondern zur selben Zeit am geografisch bekannten Heimathafen war, von welchem aus die Reise begonnen wurde. Und so kann beispielsweise auch der »Längenunterschied zwischen Copenhagen und Hamburg« schlicht Ergebnis ei- ner chronometrischen Zeitmessung sein.17 Oder mit Bernhard Siegert kommen- tiert: Dass das Problem der Längengradbestimmung an die oberste Stelle der Agenda von Kosmographen, Instrumentenmachern und Mathemati- kern seit dem 16. Jahrhundert rückte, hängt unmittelbar mit der Raum- revolution der frühen Neuzeit zusammen. Diese Raumrevolution war technisch bedingt durch den Entwurf und Bau hochseetauglicher Schiffe und durch neue Techniken und Instrumente der Navigation.18 Wenn unser Verständnis von Zeit eines einer synchronen Zeit ist und dieses wie- derum kultur(technik)historisch untrennbar mit Praktiken der Navigation verstrickt ist, erweist sich unser Konzept von Zeit als Effekt der Navigation. Dass im Navigatori- schen Fragen des Raums immer auch Fragen der Zeit betreffen, gilt nicht nur his- torisch für Längen- und Breitengrade und deren chronometrische Bestimmung, sondern auch für mikroterritoriale und mikrotemporale Zeit-Raum-Regime des Postdigitalen. Noch immer sind exakte Verortungen und Praktiken des Positioning irreduzibel Techniken genuin mikrozeitlicher Messungen: Globale Navigationssa- tellitensysteme (GNSS für global navigation satellite system) messen nicht etwa räumliche Distanzen per se, sondern bestimmen primär Zeitdifferenzen (zwischen im Weltraum befindlichen Satelliten und terrestrischen miniaturisierten Empfän- gern), um aus diesen gemäß der Laufzeiten von Signalen qua Trilateration Aussagen 17 Schumacher: »Chronometrische Bestimmung des Längenunterschiedes zwischen Copen- hagen und Hamburg«. 18 Siegert: »Längengradbestimmung und Simultanität in Philosophie, Physik und Imperien«, S. 283. NAVIGATIONEN 10 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME über geoterritoriale Positionen treffen zu können. Gemessen wird Zeit, errechnet die Position – unsichtbar in der Blackbox von ›Navis‹ und Smartphones. Diese Form der ›delegation of work‹ an medientechnische Artefakte darf aber nicht verwechselt werden mit einem Obsoletwerden von Kulturtechniken der Na- vigation. Vielmehr verlangen Kulturtechniken der Navigation heutzutage nach an- deren Kompetenzen als beispielsweise vor 100, 200 oder 300 Jahren. Zumeist mag die digitale Selbstverortung nicht mit einer vom Subjekt ausgeführten Zeitmessung einhergehen – denn diese findet auf Chiparchitekturen statt –, dennoch verlangt sie nach navigationsspezifischen Kulturtechniken, die nunmehr Medienkompetenz ver- langen. Diese navigatorischen Medienpraktiken können ›vor Ort‹ und ›in der Situa- tion‹, d.h. auf der Mikroebene untersucht werden. Navigation ist damit insbeson- dere für Methoden der Soziologie und eine praxeologische und anthropologische Medienforschung – auch in historischer Perspektive – zugänglich. Auch zeigt sich die (medien-)kulturelle Signifikanz navigatorischer Praktiken begrifflich an der »Steuerung« bzw. der »Kybernetik«. Beim Steuern handelte es sich ursprünglich um das Führen des Ruders eines Schiffes, d.h. die (manuelle) Fest- legung der Fahrtrichtung bzw. des Kurses, welche Aufgabe des Steuermanns (κυβερνήτης, kybernetes) war. Die Kybernetik als ›Kunst des Steuerns‹ ist etymo- logisch demnach sehr konkret in der navigatorischen Praxis der Nautik situiert, nämlich am Steuer eines Schiffs. Im erweiterten Wortsinn wurde der Begriff des Steuerns später insgesamt für Prozesse der Koordination, Herrschaft und Leitung verwendet, insofern wohnt ihm heutzutage in seiner begrifflichen Erweiterung ein immanent gesellschaftliches und politisches Moment inne. Eine Praktik der Naviga- tion wurde mithin zum Begriff, dieser Begriff namensgebend für eine Wissenschaft der Mess- und Regeltechnik mit universellem Anspruch und bezeichnet heutzutage auch alltagssprachlich Praktiken und Technologien der (logistischen) Steuerung, mitunter auf Distanz, die unsere Medienkultur auszeichnen. Diese begriffliche Machtreferenz der Navigation – wie am Fallbeispiel des Be- griffs Kybernetik programmatisch – verweist zudem auf ihre immanent politische Dimension, auch insofern begrenzte Zugänge zu Apparaturen und Technologien über In- und Exklusion zur Navigation – und damit über die Möglichkeit zielsicherer Raumdurchquerung – entscheiden. Das gilt in historischer Perspektive für teure Chronometer und Karten wie heutzutage für die jederzeit mögliche (wenn auch unwahrscheinliche) erneute Limitierung des NAVSTAR GPS auf die Nutzung durch das US-amerikanische Militär. Gleichzeitig definieren und limitieren legale Struktu- ren die Möglichkeitsräume navigatorischer Praxis. Hier rückt gegenwärtig zum ei- nen die legale Ausgestaltung des Verkehrs- bzw. Luftraums im Hinblick auf semi- autonom navigierende Drohnen und Fahrzeuge19 in den Fokus, zum anderen der Einsatz geopolitischer Restriktionen, die Navigationsvorgänge temporär einschrän- ken. In Zeiten von Grenzschließungen, der Umleitung von Menschen-, Güter- und 19 Für eine medienkulturwissenschaftliche Betrachtung autonomer Fahrzeuge siehe Spren- ger: Autonome Autos; zur legalen Einhegung von Drohnenpraktiken siehe Bender/Burk- hardt: »Reinventing drones«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 11 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE Finanzströmen tritt die Frage technischer Machbarkeit zunehmend hinter Macht- fragen zurück. Nahm William Rankin noch an, dass mit dem Primat der Koordinate im Zuge des Aufkommens lokativer Medien das Territorium an Bedeutung verlie- ren werde20, erleben wir heute eine zunehmende Reterritorialisierung, die sich in etablierte und emergente Navigationsformen gleichermaßen einschreibt. Statt eine ontologische Seinsbestimmung der Navigation zu wagen und zu fra- gen, was Navigation ist, legen wir im Folgenden ein paar heuristische Prämissen zugrunde, was Navigation im Vollzug charakterisiert, d.h. was das Navigieren aus- zeichnet: Raumbezogenheit. Auch wenn es prima facie redundant erscheinen mag, muss fest- gehalten werden: Medien der Navigation sind grundlegend durch ihre Raum- bezogenheit im Sinne einer Referentialität charakterisiert. Dies erklärt zudem ihr Verhältnis zur historischen Zeit: Sie bedürfen einer kontinuierlichen Aktu- alisierung, die mit den Veränderungen der Räume korrespondiert, durch wel- che navigiert werden soll, damit sie sich in der Praxis als funktional erweisen. Das gilt für die Kartierung natürlicher Veränderungen in Flussläufen ebenso wie für Straßen, Inhaltsverzeichnisse oder Soundscapes. Ein Straßenplan von Berlin aus dem Jahr 1900 dient heutzutage nicht länger als Medium der Navi- gation aufgrund mangelnder Referentialität zum urbanen Territorium. Diese Zeitdimension wird insbesondere bei digitalen Karten kritisch, wo echtzeitli- che Daten kontinuierlich kartiert werden – bspw. Verkehrsaufkommen –, was wiederum Auswirkung auf mögliche Routen und Fahrzeiten hat. Diese raum- bezogene Verdatung zu Zwecken der Navigation erlangt durch die Ubiquität von Sensoren eine neue Ebene, wenn sogar Neigungswinkel, Beschleunigung, Ausrichtung usw. von Smartphones detektiert werden. Adaptivität. Navigation war von ihrem nautischen Ursprung her nicht auf konkrete Instrumente und Praktiken limitiert, sondern referierte allgemein auf eine He- terogenität von Körper- und Kulturtechniken und Apparaturen der Bestim- mung des eigenen Standorts, des Ziels und des Wegs zu diesem. Aus diesem Grund konnte jede neue Mobilitätstechnik den Navigationsbegriff für sich fruchtbar machen. So taucht er bereits in der Frühphase der Luftfahrt explizit für Wegfindung in der Luft auf21, später für automobile Navigation usw. Der Begriff der Navigation ist mithin definitorisch nicht restriktiv auf Einzelmedien oder singuläre Praktiken beschränkt, sondern verweist auf Netze und Koope- rationen der Verkettung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Navi- gation ist mehr mit der (menschlichen und/oder maschinellen) Bewegung durch den Raum an sich verknüpft als mit Einzelmedien oder -praktiken. Der Begriff ist mithin weder praxis-, noch technikdeterminiert und wird für jede neue körpertechnische, medientechnische und mediale Bewegungsform neu ausgehandelt – ganz gleich in welchem räumlichen Environment. 20 Rankin: After the Map. 21 Bacon: The Dominion of the Air. NAVIGATIONEN 12 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME Skalierbarkeit. Navigiert werden kann sowohl im Mikro- als auch im Makrobereich: durch Mikrochiparchitekturen, Blockschaltbilder, architektonische Innen- räume, Landkarten und Territorien globalen Ausmaßes; durch akustische, vir- tuelle und geografische Räume; durch Listen, molekulare Datenlandschaften, Archive, Bibliotheken, Städte und Protokolle; durch Flussdeltas, Wüsten und menschliche Körper22. Die Navigation eint dabei in jedem dieser heterogenen Räume, dass alle ihre drei epistemischen Prinzipien anwendbar sind bezie- hungsweise anwendbar sein müssen, wenn tatsächlich navigiert werden will: echtzeitliches Wissen um den eigenen Standort, das Ziel und den (sich mitun- ter fortwährend ändernden) Weg zu diesem Ziel. Multiplizität. In diesem Sinne stellen sich zielgerichtete Bewegungen durch den Raum als das Ergebnis einer Vielzahl von navigatorischen Leistungen dar, die parallel oder seriell auf verschiedenen Skalierungsebenen zu erbringen sind, etwa wenn Autofahrer:innen ihr Fahrzeug auf der Mikroebene durch lokal be- grenzte, komplexe Verkehrssituationen lenken, während sie auf der (kartogra- fisch vermittelten) Makroebene ihr Ziel ansteuern. Rezente lokative Medien wie autonome Fahrzeuge, AR-Interfaces oder Indoor-Navigationsapps tragen dieser Multiplizität Rechnung, indem sie qua Integration zusätzlicher Sensorik möglichst viele Skalierungsebenen adressieren bzw. operativ einen möglichst nahtlosen Übergang zwischen den Skalierungsebenen gewährleisten.23 Standardisierung. Navigation verlangt nach Standardisierungen von Raum und Zeit, einem Bezugssystem und Bezugsgrößen, durch welche navigiert werden kann: Referenz- oder Fixpunkte, mithin invariable standardisierte Größen, Maßstäbe und Normierungen wie das British National Grid (BNG); oder temporale und geografische Standards wie die Greenwich Mean Time (GMT), das GPS-Karten- datum oder Längen- und Breitengrade. Diese Standardisierungen von Raum und Zeit im mitunter globalen Maßstand normieren den Globus in historischer Perspektive, wobei diese Normierungen einer Tendenz der immer feineren Skalierung in Mikrobereichen folgt.24 Diese Standardisierungen entfalten vor allem infrastrukturelle Wirkmächtigkeit und sind Bedingungen für internatio- nale Kooperationen. Somit führte die Reise durch den Raum im 19. Jahrhun- dert zu Synchronisationsleistungen, die sich von heterogenen Lokalzeiten ver- abschiedete, wie sie Wolfgang Schivelbusch titelgebend für seine Geschichte der Eisenbahnreise als »Industrialisierung von Raum und Zeit«25 bezeichnete. Dennoch ist davon auszugehen, dass Medientechnologien der Navigation für sich spezifische, insgesamt also heterogene Temporalitäten ausprägen. Navi- gatorische Praktiken innerhalb von Kulturräumen greifen bei der Zielfindung 22 Siehe bspw. Mezger u.a.: »Navigation in surgery«. 23 Siehe bspw. Kanderske: »Kranke Karten und elektronische Horizonte«. 24 Siehe bspw. das gegenwärtige Zeitsystem GPS-Zeit (GPST) oder die zunehmende navi- gationelle Datenakquise durch und mit modularen Sensoren. 25 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 13 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE auf Adressierungssysteme zurück, die ebenfalls das Ergebnis vorhergehender Standardisierungsprozesse sind. Das gilt für Gebäude und Räume, die durch Haus- und Zimmernummern eindeutig adressierbar und so zum Navigations- ziel werden können, ebenso wie für Internetseiten, die ohne das Domain Name System (DNS) und die dahinterliegenden IP-Adressen unauffindbar blie- ben. Differenz. Medientechniken der Navigation unterscheiden sich von denen der Kom- munikation bzw. sind ein Spezialfall von diesen. Kommunikationsmedien bil- den tendenziell eher Prinzipien der Kongruenz ab: Botschaften sollen mög- lichst invariant an mehreren Orten und Zeiten inhaltlich gleich zur Verfügung stehen. Medien der Navigation sind vornehmlich Medien der Messung, ge- nauer: der Messung von Unterschieden – seien dies Zeitdifferenzen bei der Laufzeit von Signalen wie im Falle globaler Satellitennavigationssystemen oder bei Echoloten, Entfernungen zu bekannten Fixpunkten, Abweichungen von Ideallinien, Koordinaten usw. oder ganz allgemein: dem Wissen um die Diffe- renz von gegenwärtigem Ort und Zielort. Delegation. Eine Kulturgeschichte der Navigation ließe sich schwerlich als eine der Extension, aber als eine der fortschreitenden Delegation formalisieren. Damit einhergehend sollte nicht das Verschwinden der Navigation als Kulturtechnik, sondern könnte eine Verschiebung der Technikkompetenz behauptet wer- den, beispielsweise weg vom Gebrauch von Sextanten oder Oktanten, Loglei- nen und Ferngläsern hin zum Umgang mit digitalen Karten. Die Delegation von vormals genuin menschlichen Kulturtechniken der Navigation an technische Objekte (»Navis«) kann als eine Tendenz zur Automatisierung der Verortungs- und Wegfindungspraktiken beschrieben werden. Vor dem Hintergrund dieser Kompetenzverschiebung bzw. ›delegation of labour‹ wird 1.) dem »Navigator« bzw. »Navi« eine ähnliche Etymologie zuteil wie dem »Computer« und zeigt sich 2.), dass die Automatisierung der Navigation aktuell höchst brisant ist – und bleiben wird. Verwiesen sei hier allein auf das s.g. autonome Fahren, das nicht nur Fragen nach der Sicherheit solchermaßen delegierter Navigations- vorgänge virulent werden lässt, sondern auch die Beschäftigung mit dem Wert mikronavigatorischer Arbeit herausfordert, setzt doch die Entwicklung der be- nötigten Machine Learning-Modelle wie selbstverständlich die exploitative, da unentgeltliche, Sammlung sämtlicher Fahr- bzw. Navigationsdaten der zur ei- genen ›Flotte‹ gehörenden Fahrzeuge voraus. Fragen nach Politiken und Lo- gistiken der Navigation sind damit medienkulturwissenschaftlich zukunfts- trächtig und nachhaltig. Kooperative Verfasstheit. Als den Bewegungsvorgang an- und begleitende und somit zeitkritische Praxis, deren Scheitern gravierende Folgen nach sich ziehen kann, fordert Navigation ihre kooperative Bewältigung geradezu heraus. Die zuneh- mende Delegation vormals kooperativ zwischen Fahrzeugführer:in und Kar- tenleser:in verfertigter Alltagsnavigationen an Navigationsgeräte darf nicht dar- über hinwegtäuschen, dass in der See-, Luft- und Raumfahrt nach wie vor NAVIGATIONEN 14 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME grundsätzlich kooperativ, d.h. mittels eines Netzwerks aus on-board Steuer- leuten, Lots:innen und externen Leitstellen navigiert wird. Diese von Charles Goodwin für den nautischen Kontext nachgewiesene ›ko-operative‹ Verfasst- heit navigatorischer Vorgänge expliziert sich gegenwärtig im Phänomen der ›social navigation‹-Apps und des ›Fleet Learnings‹ autonomer Fahrzeuge. Im/Mobilität. Navigationsmedien lassen sich hinsichtlich ihrer Im/Mobilität differen- zieren: Während Karten oder Smartphones mit den Navigierenden Schritt hal- ten, sind Funkfeuer, Leitkabel oder Wegweiser fest in die Umgebung eingelas- sen. Navigatorische Praktiken entfalten sich innerhalb von Netzwerken, an denen verschiedenste mobile und stationäre Navigationsmedien und -infra- strukturen beteiligt sein können. Navigieren bedeutet somit zugleich das Zu- rechtfinden innerhalb dieses Netzwerks, schließt mithin die ständige Vermitt- lung zwischen den beteiligten Medien bzw. zwischen mitgeführten und vorgefundenen geografischen Wissensbeständen ein. Selektion. Die Wahl des Navigationsmediums hat nicht nur Einfluss auf die Ausge- staltung der Raumdurchquerung, sondern wirkt sich darüber hinaus maßgeb- lich auf die Wahrnehmung und Interaktion mit der Umgebung während der Fortbewegung aus: Navigation auf Basis analoger Karten unterscheidet sich von der Raumwahrnehmung und -aneignung durch navigatorische Praktiken wie beispielsweise dem oben erwähnten »beam flying«. Es ist davon auszuge- hen, dass der Raum nicht in Gänze navigatorisch operationalisiert wird, son- dern selektiv mit navigatorischen Marken versehen wird, um Orientierung und Wegfindung zu gewährleisten. Räumliche Inskription. Die selektive Anreicherung des Environments um Wegwei- ser, Steinmarkierungen und Leuchttürme, aber auch um die digitalen Markie- rungen rezenter AR-Interfaces, lässt sich als räumliche Inskription bzw. als Ker- bung im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari verstehen.26 Gleichzeitig schreiben sich die mit der Wegfindung verwobenen Bewegungspraktiken in den Raum ein, indem die Navigator:innen materielle oder symbolische Spuren hinterlassen, die beim erneuten Navigieren entlang der gleichen Route selbst zu nützlichen semiotischen Ressourcen werden können. Die navigatorische Praxis bedingt also Einschreibungen in die Umwelt und setzt diese gleichzeitig voraus. Umweltlichkeit. Navigationstechniken sind aufgrund ihrer realweltlichen Rückbin- dung an ökologische Umgebungen spezifisch physikalisch situiert: die roboti- sche Navigation auf dem Mars unterscheidet sich von terrestrischer roboti- scher Navigation; aber auch die Navigation im Luftraum, die sich vornehmlich auf elektromagnetisch operierende Navigationssysteme stützt, unterscheidet sich von submariner Navigation. Im Meer, wo elektromagnetische Wellen nur 26 Deleuze/Guattari: »1440 – Das Glatte und das Gekerbte«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 15 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE sehr begrenzt übertragen werden, kommt als Konsequenz seiner physikali- schen Umgebung (man könnte auch sagen: als Konsequenz der physikalischen Mediumsökologie) der akustische Kanal zum Einsatz – wie beim Echolot oder dem Sonar, dem sound navigation and ranging. Ebenso ist die Initialphase des NAVSTAR GPS als Technologie nur in Rückbindung ihres praktischen Einsat- zes im Feld, d.h. seiner ökologischen Situierung zu verstehen: in der Wüsten- umgebung des Golfkriegs zeitigte GPS-Positioning veritable Ergebnisse in Er- mangelung natürlicher Fixpunkte. Navigationsmedien sind mithin Konsequenz ihrer ökologischen Situierung und prägen je spezifische Medienökologien aus. Navigationsmedien erweisen sich in der Praxis, d.h. im Vollzug als genuine Umweltmedien. Durch die massive Expansion von Sensormedien und deren Integration in Umwelten, sind auch die Zukünfte der Navigation vor diesem Hintergrund von Interesse für weitere Forschungen. Intentionalität. Navigiert wird nicht zufällig oder unbeabsichtigt – ganz gleich, wer oder was navigiert oder wer oder was navigiert wird. Navigation findet zweck- beziehungsweise (ziel-)gerichtet statt. Wenn kein Ziel der Raumdurchquerung identifiziert werden kann, kann auch nicht navigiert werden. Anders als das Surfen im www oder das Flanieren auf einem Pariser Boulevard – beides Wei- sen der Raumdurchquerung, die zu anderen Formen der Raumwahrnehmung und des sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen usw. Weltzugangs führen – ge- schieht das Navigieren erstens hin zu einem klaren Zielort oder zumindest Zielobjekt und zweitens aus einer (wie auch immer gearteten) Intention her- aus: Als freizeitliche Aktivität (Tourismus), aus politischen oder kolonialisti- schen Motiven, als Form der Arbeit, mithin ökonomisch-kapitalistisch inten- diert, zum Nahrungserwerb, als Teil militärischer Operationen, … Praxis. Navigation ist ›praktisch‹: sie wird von ihrer und aus der Praxis heraus be- stimmt. Das zeigt sich emblematisch an den medialen Repräsentationen und Formalisierungen der Navigationspraxis, beispielsweise den Liniennetzplänen der Londoner Ubahn von Henry Charles Beck der frühen 1930er Jahre, die als programmatisch für visuelle Repräsentationen öffentlicher Verkehrsnetze gel- ten können. Diese verzeichnen einen Shift von der topografischen zur topolo- gischen Darstellung, gemäß der Praxis von Bahnfahrer:innen: Nicht die geogra- fische Exaktheit oder Realität der im besten Sinne ›praktischen‹ Netzpläne ist für diese von Bedeutung, sondern lediglich die Netzbeziehung zwischen den einzelnen Stationen für das Ein- und Umsteigen von Mitfahrer:innen während der Fahrt durch den Raum. Aus der Praxis des Bahnfahrens heraus sind die Netzpläne in ihrer Topologie entstanden und »ermöglichen« – wie Sebastian Gießmann ihnen ganz grundsätzlich attestiert – »Bewegungen von Passagieren, insbesondere beim Umsteigen zwischen Stationen«27. 27 Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge, S. 271. Gleiches ließe sich für Netzpläne fest- halten, die nicht dem Transport von Dingen und Personen, sondern der Datenübertra- gung dienen. NAVIGATIONEN 16 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME Rekursivität. Hier am Fallbeispiel (Becks Verkehrspläne) zeigt sich das rekursive Prinzip von Medien als Kulturtechniken der Navigation exemplarisch: Sie sind Konsequenz der Praxis, spielen aber in das praktische Feld zurück, insofern sie Praktiken neu formatieren. Dieses rekursive Prinzip gilt auch für die oben er- wähnten Beispiele der Standardisierung von Raum und Zeit zu Zwecken der Navigation. Für eine zielgerichtete Navigation bedurfte es einer Vereinheitli- chung der Welt in räumlicher und zeitlicher Dimension – bedingt durch die Praxis der Navigation. Die aus der Praxis evozierten Standards (und ihre Me- dien) veränderten wiederum die Praktiken der Navigation, womit sie ein zir- kuläres Prinzip animieren, an dessen Ausgangspunkt weder Apparaturen noch Praktiken als determinierende Konstanten anzusetzen sind. Körperlichkeit. Navigation findet zuvörderst innerhalb eines Bezugssystems statt, das von den eigenen Körperachsen aufgespannt wird. Der Körper ist dabei nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes ›richtungsweisend‹, sondern diente über weite Strecken der Geschichte auch als Maß der Raumquantisierung – man denke an die historischen Längenmaße von Elle und Schritt und den in der Antike mit der Landvermessung betrauten Berufsstand der Bematisten (Schrittzähler). Das zum Navigieren notwendige ›sich-in-Bezug-setzen‹ mit dem Environment ist darüber hinaus eine sinnliche Operation, die keinesfalls auf den visuellen Abgleich von Terrain und Karte beschränkt bleibt, wie der Gebrauch akustischer Interfaces28 oder die von sämtlichen Sinnen Gebrauch machenden polynesischen Navigationspraktiken belegen. Navigationsmittel müssen – wie im Fall von Karte oder Smartphone – durch Bewegungen mit dem eigenen lokalen Bezugssystem in Einklang gebracht werden, Positions- und Routeninformationen werden häufig erst mit ihrer Übersetzung in relati- onale Richtungsangaben wie ›links‹ oder ›rechts‹ wirkmächtig. Anders gewen- det: Navigieren ist eine Körpertechnik, denn um zu Navigieren, bedarf es einer spezifischen Positionierung des Körpers in Relation zum Navigationsmedium einerseits und zur Umgebung andererseits. Die Navigation innerhalb virtueller Umgebungen (Spiele, Websites) macht dabei ebenso von Körperindizes Ge- brauch wie robotische Wegfindungsalgorithmen, bei denen der nichtmensch- liche Navigator die eigene Position im Raum konsequent als Koordinatenur- sprung für die Modellbildung verwendet, mithin den übrigen Raum in Relation zum eigenen Körper kartiert.29 28 Exemplarisch sei hier auf das Unterwasserschallsignalwesen verwiesen, siehe bspw. Bor- bach: »Navigating (through) Sound« oder ders.: »A Wall of Sound«. 29 Kanderske/Thielmann: »Simultaneous Localization and Mapping«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 17 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE 2. NAVIGIEREN DURCH DAS MEDIENKULTURWISSENSCHAFTLICHE FELD Bevor Fragen des Navigationellen im medienkulturwissenschaftlichen Feld30 viru- lent werden konnten, bedurfte es zunächst jener ›Entdeckung des Raums‹ als kul- turelle Größe und geisteswissenschaftlichen Forschungsgegenstand31, die schließ- lich in der Rede von einem paradigmatischen Spatial Turn gipfeln sollte. Die Besinnung auf Raumfragen wird im medienwissenschaftlichen Kontext dabei zu- nächst als Reaktion auf eine (vermeintliche) Raumvergessenheit der klassischen Me- dientheorie lesbar, die sich in bekannten Formulierungen wie Marshall McLuhans »global village«, Paul Virilios »Verschwinden des Raums« oder Vilém Flussers »Ende der Geografie« ausdrückt. Nach einer daran anschließenden Phase intensiver Be- schäftigung mit sog. Geomedien32, ist in einem dritten Schritt die Fokussierung der Navigation nur konsequent und folgerichtig. Denn Navigation als Kultur- und Me- dientechnik eint beides: Sie hat einerseits einen dezidierten Raumbezug, insofern sie eine Orientierung und Zielfindung in geografischen und virtuellen Räumen qua Routen, Infrastrukturen, Hyperlinks usw. beschreibt. Und sie wird andererseits mit und über Geomedien realisiert. Die folgende Tour durch die Medienkulturwissenschaft und daran angren- zende Forschungslandschaften ist keinesfalls als erschöpfender Überblick über die Navigationsforschung beabsichtigt, vielmehr soll es um drei Dinge gehen, nämlich 1) unterschiedliche disziplinäre Zugänge zu beleuchten und auf ihre historische oder potentielle Nützlichkeit für die medienkulturwissenschaftliche Navigationsfor- schung hin zu befragen; 2) zentralen Motiven und Theorielinien der Navigations- forschung nachzuspüren um letztlich 3) den Leser:innen eine Verortung der Bei- träge innerhalb des Feldes zu ermöglichen. Ausgehend von dem vermeintlichen Rätsel der Besiedelung geografisch isolier- ter Pazifikinseln, rückte spätestens seit den 1970er Jahren die mikronesische/poly- nesische Navigation in den Fokus der anthropologischen und ethnografischen For- schung.33 Traten diese Arbeiten noch explizit mit dem Anspruch an, offensichtlich gut funktionierende, jedoch bis dahin undokumentiert gebliebene Navgationsme- dien- und Praktiken nicht nur zu beschreiben, sondern auch selbst anzuwenden, ist bei rezenteren ethnografischen Arbeiten eine Fokusverschiebung zu beobachten: Die Beschäftigung mit der navigatorischen Praxis wird hier zu einer Linse, die den Blick auf andere Desiderata – etwa die Folgen von Austeritätspolitik34 – schärfen soll, der Medienbezug tritt mithin deutlich zurück. Ein in dieser Hinsicht seltener Spagat gelang Edwin Hutchins, dessen wegweisende Studie Cognition in the Wild 30 Zu verweisen wäre auf die für den deutschsprachigen Raum grundlegenden Bände: Gün- zel: Topologie; Döring/Thielmann: Spatial Turn; Günzel: Raumwissenschaften. 31 Programmatisch hierfür Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. 32 Siehe bspw. Lapenta: »Geomedia« oder McQuire: Geomedia. 33 Siehe Lewis: We, the Navigators (1972) oder Gladwin: East Is a Big Bird (1970). 34 Bear: Navigating Austerity. NAVIGATIONEN 18 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME auf ethnografischen Forschungsaufenthalten an Bord eines Schiffes der US-Navy beruht. Seine Begriffe der ›distributed cognition‹ und ›co-operation‹ sind nicht nur aus der Beobachtung arbeitsteiliger Navigationsleistungen gewonnenen, sondern strahlen auch in die Navigationsforschung zurück, wie jüngere Arbeiten zur ko- operativen Verfertigung von Luftlagebildern im Zweiten Weltkrieg35 bzw. von ope- rativen Luftaufnahmen36 zeigen. Auch die eingangs erwähnten polynesischen ›Landfindungspraktiken‹ haben sich tief in die Mediengeschichte (auto)mobiler Navigationsgeräte eingeschrieben, stand doch die namensgebende ETAK, eine als navigatorische Hilfskonstruktion an- genommene, während der Fahrt an der eigenen Position vorbeigleitende Insel, Mo- dell für den ›egozentrischen Darstellungsmodus‹37 des ETAK-Navigators, dessen Interface wiederum als Blaupause aller gegenwärtigen Navigationsgeräte verstan- den werden kann. Aus geografischer Perspektive stellt sich die Geschichte der Navigation für eine lange Zeit als deckungsgleich mit der Kartografiegeschichte dar. Bemerkenswert ist dabei, dass neben den zu erwartenden detailreichen historischen Arbeiten zu den Karten physischer Räume38 bereits früh der digitale Raum als Ort von Navigations- und Kartierungsvorgängen in die Untersuchungen einbezogen wird39. Als für die Navigationsforschung besonders relevant hat sich hier der kartografische Praxis Turn – die Verschiebung des Fokus auf die Kartennutzung – erwiesen: Ging es vor- mals in erster Linie um die ontologische Bestimmung dessen, was eine Karte ist – man denke an die Formel »the map is not the territory« (Alfred Korzybski) und ihre Erwiderung »the map is the territory« (Bernhard Siegert) – so tritt nun in den Vor- dergrund, was Karten tun bzw. was mit Karten getan wird. Dieser Wechsel in der Forschungsperspektive korrespondiert mit einem Wandel innerhalb des Praxisfel- des selbst, den Valerie November et al., als Übergang von einer rein mimetischen, auf Ähnlichkeitsbeziehungen fußenden Kartennutzung hin zu einer navigatorischen Kartennutzung charakterisieren. Der navigatorischen Praxis kommt hier eine emi- nente Bedeutung zu, negiert sie doch die Unterscheidung zwischen physischer und Humangeografie, indem sie physische und soziale Umgebungsparameter gleicher- maßen in die Wegfindung einbezieht. Zu ähnlichen Schlüssen gelangen auch Rob Kitchin und Martin Dodge, die in ihrem programmatischen Artikel »Rethinking Maps« festhalten, dass Karten grundsätzlich im Moment ihrer Nutzung entstehen: »maps emerge in process through a diverse set of practices.«40 Nimmt man diese 35 Borbach/Thielmann: »Arbeiten am Luftlagebild«. 36 Bender/Kanderske: »Co-operative aerial images«. 37 Vgl. Thielmann: »Der ETAK Navigator«. 38 Beispielhaft sei hier verwiesen auf die Arbeiten von James R. Akerman, der auch in diesem Band vertreten ist. 39 Dodge/Kitchin: An Atlas of Cyberspace. 40 Kitchin/Dodge: »Rethinking Maps«, S. 340. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 19 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE Feststellung ernst, so muss kartografische Forschung zugleich Kartennutzungsfor- schung sein, sich mithin notwendigerweise mit den Praktiken der Navigation aus- einandersetzen. Es verwundert daher nicht, dass sich in der Erforschung navigato- rischer Alltagspraxis Geografie und Ethnomethodologie die Hand reichen. So bemerkte bereits Harold Garfinkel: It is not possible to read from the map the work of following the map in a way finding journey. The traveller’s work of consulting the map is an unavoidable detail of lived, ongoingly, in-its-course, first time through, travelling body’s way-finding journey that the map is consulted to get done.41 Die Stärke des ethnomethodologischen Zugangs liegt dabei insbesondere in der Öffnung schwer zugänglicher Interaktionsphänomene, wie etwa Barry Browns und Eric Lauriers Untersuchung zum sozialen Verhalten autonomer Fahrzeuge de- monstrieren.42 Einen wichtigen Beitrag zur Theoretisierung von Wegfindungsprozessen leis- tete Michel de Certeau, der in seiner berühmten alltagssoziologischen Studie Kunst des Handelns zwischen Orten und Räumen differenziert: Stellen erstere eine »mo- mentane Konstellation von festen Punkten«43 dar, eine möglicherweise stabile Mo- mentaufnahme relativer Objektpositionen, so werden letztere erst durch Handlun- gen hervorgebracht. Räume tragen für de Certeau daher bereits einen Index des Navigatorischen, denn sie entstünden, »wenn man Richtungsvektoren, Geschwin- digkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt«44. Auf Grundlage dieser Differenz werden zwei zentrale räumliche Erzählungen der Alltagsnavigation beschreibbar: die Karte als bildhafte Ortsbeschreibung und die Wegstrecke als An- einanderreihung von Handlungen im Raum. De Certeaus Diagnose einer zuneh- menden Loslösung geografischer Orte von den sie ursprünglich strukturierenden alltäglichen Raumpraktiken hat sich dabei als wenig tragfähig erwiesen. Rezente ge- ografische Arbeiten gehen vielmehr davon aus, dass der apollinische Blick auf die Karte und mit ihm die Idee grafisch repräsentierter Territorien der »verkörperten Subjektivität«45 von GPS-Navigationspraktiken weiche. Insbesondere fotografische Raum- und Navigationspraktiken sind nach wie vor entlang von Wegstrecken strukturiert, sei es in Form der »performativen Kartogra- fien« interaktiver Smartphone-Navigation46 oder in Form automobiler Foto- 41 Garfinkel: »«Ethnomethodology’s Program, Working Out Durkheim’s Aphorism«, S. 130. 42 Brown/Laurier: »The Trouble with Autopilots: Assisted and Autonomous Driving on the Social Road«. 43 de Certeau: Kunst des Handelns, S. 345. 44 Ebd. 45 Vgl. Rankin: After the Map. 46 Siehe Verhoeff: Mobile Screens, S. 145. NAVIGATIONEN 20 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME fahrtenführer. Wie Nanna Verhoeff konstatiert, könne bei diesen Navigationsprak- tiken von einem Primat der Karte keine Rede sein, denn: »fixed maps do not dictate the itinerary, but rather maps and views evolve and emerge along the way«47. Die von Tristan Thielmann in diesem Kontext getroffene Feststellung, dass aus praxeo- logischer Perspektive »eine Analyse kartografischer und navigatorischer Praktiken die klassische Trennung zwischen Kartenproduzenten und Kartennutzern auf[löse]«48, aktualisiert nicht nur die Figur des Prosumenten für den kartografi- schen Kontext, sondern erweist sich darüber hinaus als zentral für all jene selbst- verortenden Navigationsmedien, die während ihres Gebrauchs fortlaufend ihre Umgebung kartieren. Solchermaßen ›navigierende Medien‹ stellen aufgrund ihrer veränderten technischen Grundlagen – man denke an maschinelle Objekterken- nung und ›simultaneous localization and mapping‹-Algorithmen – die Immutabilität des Kartenmaterials in Frage und tarieren das Verhältnis zwischen Kartierung, Lo- kalisierung und Navigation neu aus. Der Herausforderung einer sich zunehmend auf Softwareebene abspielenden Medienentwicklung begegnet die Navigationsfor- schung dabei nicht nur durch die Beschäftigung mit den informatischen Grundlagen konkreten Wegfindungsalgorithmen49, sondern auch durch die Fruchtbarmachung medienkulturhistorischer Kontinuitäten. So gelangt beispielsweise William Uricchio zu einer überzeugenden Darstellung kamerabasierter Augmented Reality-Wegfin- dung, indem er die Praxis der Kennzeichnung und Auffindung von Wegen als anth- ropologische Konstante bestimmt: Die Anreicherung von Environments um virtu- elle Marker, wie sie die AR-Navigation vorsieht, erscheint hier als letztes Glied einer Menschheitsgeschichte der Umgebungsmarkierung und Spurensuche, die sich vom Fährtenlesen über die antike Mnemotechnik der Loci-Methode bis hin zu den wegbegleitenden Narrativen touristisch erschlossener Pfade erstreckt.50 Aus der Vorgängigkeit navigatorischer Praxis vor ihren Gegenständen folgt, dass Navigationsgeschichte nicht als reine Technikgeschichte formuliert werden kann und der medienkulturwissenschaftliche Gehalt einer solchen Geschichts- schreibung zwangsläufig gering ausfallen muss. Dieser Schluss deckt sich mit einer kursorischen Bestandsaufnahme des entsprechenden Teilfeldes: Elektrotechniken und Technologien der Navigation standen oft im Fokus technikhistorischer For- schungen. Diese mitunter sehr detaillierten Arbeiten beschäftigten sich vornehm- lich exklusiv mit einzelnen Navigationsverfahren und banden diese nicht an medi- enkulturrelevante Fragestellungen und Medienkulturgeschichten rück. D.h. Technikgeschichten erweisen sich als fundierte Ressourcen für die Beschreibung 47 Verhoeff: Mobile Screens, S. 145. In diesem Kontext ist auch der Begriff der »screen na- vigation« von Interesse, mit dem Verhoeff die gegenwärtigen bildschirmbasierten Naviga- tionspraktiken bezeichnet. 48 Thielmann: »Fotofahrtenführer«, S. 149. 49 Siehe bspw. Kanderske/Thielmann: »Simultaneous Localisation and Mapping«. 50 Uricchio: »Augmenting Reality«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 21 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE einzelner Techniken und Technologien, in ihnen werden die vorgestellten Techni- ken aber selten in größere Geschichtslinien gestellt oder kontextualisiert, noch wird ihre Bedeutung für gegenwärtige Praktiken der medialisierten Wegfindung darge- legt.51 Navigatorische Praxis wurde und wird – ähnliche wie das Schachspiel – in ver- schiedenen Fachbereichen als Gradmesser für kognitive Leistung verwendet. So ist die Ratte im Labyrinth ebenso sinnbildlich für behavioristische Forschung gewor- den, wie Claude Shannons elektrische Maus »Theseus« für das maschinelle Lernen, stellte sie doch einen Versuch dar, navigatorische Praktiken zu formalisieren und letztlich zu automatisieren.52 Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent, dass sich seit dem Anbeginn des Computer- bzw. Informationszeitalters mit den Möglichkeiten nicht-menschlicher, maschineller Navigation beschäftigt und darüber publiziert wurde. Den gegenwärtigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die in erster Linie als von Machine Learning-Modellen zu erbringende Leistung verhan- delte Automatisierung automobiler Navigationsvorgänge dar. Indem die Navigati- onstechnik zum Herzstück des dabei entstehenden »mobile spatial media ecosys- tem«53 wird, rücken Fragen des Automobil- und Interfacedesigns, der öffentlichen Technikerprobung und der staatlichen Regulierung ebenso in den Fokus der Navi- gationsforschung, wie die Rolle menschlicher Akteur:innen innerhalb zukünftiger Navigationsvorgänge.54 Über die genannten Theorielinien hinaus existieren Einzelmediengeografien, die sich mit navigatorischen Vorgängen innerhalb von und in Bezug auf spezifische mediale Räume auseinandersetzen. Exemplarisch seien hier Arbeiten zu digitalen Spielen genannt55, die mitunter Navigation als zentrale spielerische Praktik positi- onieren, indem sie das Medium Spiel als grundsätzlich ›hodologisch‹, d.h. wegförmig bestimmen56. Mit dem Aufkommen von Google Maps und anderen standortbasierten Emp- fehlungsdiensten gewinnt das Konzept der Plattform für das Navigieren – hier in 51 Programmatisch hierfür sind bspw. die Arbeiten von Fritz Trenkle, der sich als Funktech- niker auf die Geschichte des deutschen Radars spezialisierte; siehe bspw. Trenkle: Die deutschen Funk-Navigations- und Funk-Führungsverfahren bis 1945; ders.: Die deutschen Funkpeil- und -Horch-Verfahren bis 1945; ders.: Die deutschen Funkführungsverfahren bis 1945; ders.: Die deutschen Funklenkverfahren bis 1945. 52 In den letzten Jahrzehnten machte auch der Schleimpilz mit seiner Fähigkeit, durch kom- plexe Labyrinthe zu navigieren, von sich reden. Zum Einsatz von Schleimpilzen bei der Modellierung navigatorischer Vorgänge siehe bspw. Tero u.a.: »Physarum solver«; zur Modellierung logistischer Netzwerke auf Basis des Pilzwachstums siehe bspw. Tero u.a.: »Rules for Biologically Inspired Adaptive Network Design«. 53 Alvarez Leon: »How cars became mobile spatial media«, S. 370. 54 So geht Sam Hind von einer Verschiebung von ›navigatorischen‹ hin zu ›supervisorischen‹ Aufgaben aus, siehe Hind: »Digital navigation and the driving-machine«. 55 Siehe bspw. Flynn: »The Navigator’s Experience«; Debus: »Video Game Navigation«; Ash: »Teleplastic technologies«. 56 Vgl. Günzel: »Raum, Karte und Weg im Computerspiel«. NAVIGATIONEN 22 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME der passiven Form des ›Navigiert-werdens‹ – an Relevanz.57 Denn der Übergang zu ›navigatorischen Plattformen‹58 löst die Opposition von vermeintlich objektiver Basiskarte und ›subjektiven Layern‹ auf; die geografische (Nutzer-)Datensammlung dezentralisiert sich, während die Informationen anschließend im Hinblick auf die wirtschaftlichen Interessen der Plattformen und ihrer Werbetreibenden rezentra- lisiert werden.59 Die von Tristan Thielmann u.a. unter dem Begriff der »Googliza- tion of Space« zusammengefasste Personalisierung digitaler Räume durch (Social Media-)Plattformen bei gleichzeitiger Reterritorialisierung des Netzes durch Geo- referenzierung60, erscheint hier als eine in erster Linie durch algorithmische Filte- rung bedingte Zersplitterung und Einschränkung navigatorischer Möglichkeits- räume. Eine dezidiert navigationelle Reformulierung dieser Befunde entwickelt auch die Bildwissenschaft: Ausgehend von Harun Farockis Feststellung eines Paradig- menwechsels im Bereich techno-politischer Visualität – von der Montage hin zu frei navigierbaren digitalen Räumen und Bildern – entwerfen Doreen Holert und Tom Mende in der Einleitung zu ihrem Special Issue »Navigation Beyond Vision« das pes- simistische Bild eines gegenwärtigen techno-ontologischen Dilemmas des Naviga- tionellen:61 Der Wechsel von (stabilen) repräsentationalen Karten zu mutablen Na- vigationsinterfaces, in die sich eine Vielzahl von Temporalitäten, Räumen, und Machtverhältnissen einschreibe, bringe dabei Formen ›navigatorischer Herrschaft‹ hervor, gegenüber denen Desorientierung als befreiendes Moment erlebbar wird. Navigationsinterfaces lassen so Fragen nach den Bedingungen algorithmischer Bild- und Kartenproduktion, nach ihren Politiken und Machtverhältnissen virulent wer- den, auch und gerade, weil sie ihre Wirkung gleichermaßen in Bezug auf On- und Offline-Räume entfalten: The ensuing existential condition or technè could be named ›naviga- tional‹. As a techno-ontological predicament, the navigational is opera- tive in virtual and offline environments, as well as in the deep-layered relations of power and desire inherent to orientation and movement.62 57 Zur Bedeutung von Plattformen für das autonome Fahren siehe bspw. Hind u.a.: »Making the car ›platform ready‹«. 58 November u.a.: »Entering a Risky Territory«, S. 583. 59 Vgl. Plantin: »Google Maps as Cartographic Infrastructure«, S. 499. 60 Vgl. Thielmann u.a.: »Dwelling in the Web«. 61 Vgl. Mende/Holert: »Editorial: ›Navigation Beyond Vision, Issue One‹«. 62 Ebd. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 23 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE 3. NAVIGIEREN DURCH DIESE AUSGABE In gewisser Weise ist der eingangs abgebildete Screenshot für uns emblematisch und wir verwenden das Bild als Ausgangspunkt für eine Frage nach dem Verhältnis von Medienwissenschaft und Navigation oder genauer: als Ausgangspunkt dessen, wie Fragen des Navigationellen von Medienwissenschaftler:innen verhandelt wer- den. Obgleich diverse Medienkulturwissenschaftler:innen im- oder explizit zur Na- vigation forschen, gibt es vergleichsweise wenig thematische Überblicksliteratur, die diese Ansätze bündelt. Wir wollen nun diese Leerstelle nicht füllen, indem wir eine Überblicksdarstellung zusammenzustellen versuchen, die den Anspruch hat, Navigation entweder medienhistorisch oder medienontologisch oder medientheo- retisch oder medienthnografisch usw. möglichst vollständig zu beleuchten, sondern wollen – genau umgekehrt – Schlaglichter in die Bereiche des Navigationellen wer- fen, die für Medienkulturwissenschaftler:innen relevant sind. Dementsprechend geht diese Ausgabe nicht von den Gegenständen (Medien), Körper- oder Kultur- techniken (Praktiken) oder Umwelten (Räumen) der Navigation aus, sondern mo- delliert das Erkenntnisinteresse nach den Zugängen. Strukturell unterscheiden wir in dieser Ausgabe zwischen historiografischen, ethnografischen, technografischen und (medien-)theoretischen Zugängen zur Na- vigation. Während die historiografischen Zugänge den historisch-epistemischen Be- dingungen und Vorgeschichten des aktuellen Navigierens nachspüren und mediale Konstellationen im historischen Wandel ›aus der Distanz‹ untersuchen, setzen die ethnografischen Zugänge mit ihrer Feldforschung buchstäblich ›vor Ort‹, ›in der Si- tuation‹ und den Handlungen der beteiligten Akteure an und fokussieren auf den menschlichen, körperlich individualisierten Anteil der Navigation. Während die technografischen Zugänge insbesondere die technische Verfasstheit der Navigation jenseits ihrer Subjektspezifik untersuchen und sich damit dem nicht-menschlichen Anteil der Navigation materialitätsnah widmen, verfolgen die eher theoretischen Zugriffe auf das Navigieren die kulturellen, gesamtgesellschaftlichen und mitunter politischen Implikationen, Logiken und Konsequenzen von Techniken der Naviga- tion, vornehmlich auf Makroebene und in je gegenwartsbezogener Perspektive. Den mitunter fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Perspektiven auf das Navigatorische sind wir uns bewusst. Dennoch halten wir diese Setzung für funktional, insofern eine derartige ›Ordnung des Diskurses‹ ähnliche Perspektiven bündelt, die jeweils zugangsspezifische Aspekte in den Fokus rücken, die wiederum anderen Zugängen nicht kontrastierend gegenüber-, sondern vielmehr komple- mentär zur Seite gestellt werden. Durch diese Struktur treten verschiedene Per- spektiven auf Fragen des Navigationellen hervor und der Sachverhalt erscheint im- mer wieder in einem anderen Licht. Die Wahl des Zugangs trifft mithin bereits Vorentscheidungen darüber, was bei der Analyse des Navigationellen sichtbar wer- den kann – und was verborgen bleiben muss. Was sämtliche Beiträge eint, ist ein dezidierter Raumbezug. So wird mit einem produktiven orthografischen Fehler – ›Hard-‹ und ›Softwhere‹ – techniknah nach NAVIGATIONEN 24 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME den Orten und Räumen von Hard- und Software gefragt (Stefan Höltgen). Die ar- chitektonischen, prämedialen Prozessarchitekturen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts63 finden so ihr technologisches Äquivalent in den Prozessorarchitek- turen des späteren 20. und 21. Jahrhunderts, wie es bereits Friedrich Kittler in sei- ner »Stuttgarter Rede über Architektur« beschwor: »All die Probleme, mit denen Städtebauer seit alters und Urbanisten seit neuestem gerungen haben, kehrten mi- niaturisiert wieder: vom Problem der kürzesten Verbindung bis zu dem der kreu- zungsfreien Streckenführung.«64 Ebenso kann ein ethnografischer Zugang zur (al- pinen) Navigation aufzeigen, dass es vornehmlich die situierten räumlichen, meteorologischen Bedingungen sind, die neben den verwendeten technischen Ge- rätschaften die Ausgestaltung des Navigierens ko-konstituieren: »Die ideale Linie, von der wir annehmen, dass sie der Navigation vorgängig sei, ist hier Effekt jener navigatorischen Praktiken, in denen sie sich konkretisiert« (Karina Kirsten in diesem Band). Dass das territoriale Environment der Navigation Möglichkeiten des Navi- gierens restriktiv limitiert, gilt insbesondere, wenn sich die räumliche Entfernung zwischen Erde und Mars in Prozesstechniken robotischen Navigierens einschreibt und damit die Möglichkeiten und Grenzen von Medientechnik und Territorium in gegenseitiger Abhängigkeit stehen (Florian Sprenger). Die Zeitdimension der Navigation wird dabei in unterschiedlichen Zugängen virulent. So ist die Arbeit an der Aktualität von Karten in historischer Perspektive am Fallbeispiel des Militärgeografischen Instituts in Wien (Manfred Pfaffenthaler) ebenso als kritisch für die Karte als funktionales Navigationsmedium zu bewerten, wie es in Gegenwartsperspektive die Dauer von Fahrten in der Flussschifffahrt ist, wenn es um Zeitvorteile gegenüber Konkurrent:innen geht – was mitunter finanzi- elle Gewinne oder Einbußen bedeutet (Asher Boersma). Ebenso stellt die Mobilität des Ziels der Navigation eine Herausforderung dar, die der fortwährenden Aktua- lisierung des Kurses bedarf (Sebastian Schwesinger); auch übertragen ubiquitäre Sensormedien ihre aktuellen Environments fortwährend in Daten und Datenland- schaften, um echtzeitlich im Sinne Friedrich Kittlers ›unser Lage zu bestimmen‹ (Se- bastian Scholz). Auf anderer Ebene wird Zeit zur kritischen Qualität von Navigati- onsmedien, wenn diese gemäß Laufzeitmessung Distanzen sonisch bestimmen und so für eine Verzeitlichung des (submarinen) Raums konstitutiv sind (Daniela Ad- scheid). Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass Zeit im Kontext navigatorischer Praxis – unabhängig von den Eigenlogiken der in Anschlag gebrachten Messtechni- ken – häufig Arbeitszeit ist. Das gilt ebenso für der Wegfindung vorgelagerte Arbei- ten an privatwirtschaftlich (James Akerman) oder in staatlichem Auftrag hergestell- ten und evidentgehaltenen Karten (Manfred Pfaffenthaler), wie für den militärischen Dienst britischer Piloten im Zweiten Weltkrieg, die bei der Planung 63 Jany: »Operative Räume«. 64 Kittler: »Stuttgarter Rede über Architektur«, S. 97. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 25 CHRISTOPH BORBACH / MAX KANDERSKE ihrer Zielanflüge auf den Bomber’s Baedecker zurückgreifen konnten (Susanne Mül- ler). Wie Torsten Hägerstrands »Tagespfade« eindrücklich illustrieren, bleibt auch die Alltagsnavigation – in Form des Pendelns – eine eng auf die (Lohn-)Arbeit be- zogene Praxis, bei der Ausmaß und Freiheit unserer Bewegungen durch die Not- wendigkeit, rechtzeitig am Arbeitsplatz zu erscheinen, entscheidend limitiert wer- den. Die Beiträger:innen entfalten ein weites Panorama unterschiedlichster Umge- bungen, innerhalb derer Menschen, Dinge und Zeichen navigieren und navigiert werden. Kam das nordamerikanische Projekt der fortgesetzten Landnahme gen Westen noch mit Karten und Beschreibungen der physischen Umgebung aus (James Akerman), werden im Kontext der Binnenschifffahrt auch rechtliche, soziale und ökonomische Ordnungen zu umweltlichen Navigationsbedingungen (Asher Bo- ersma). Während ›soziotechnonatürliche‹ Umgebungen des alpinen Gleitschirm- flugs (Karina Kirsten) und ›assemblierte Sensormedien-Umwelten‹ (Sebastian Scholz) unterstreichen, dass Vermessungs- und Navigationspraktiken sich simultan in gesellschaftlichen, technischen und natürlichen Räumen vollziehen können, mit- hin eine Neubewertung des Mensch-Maschine-Natur-Verhältnisses herausfordern, demonstriert Stefan Höltgen, dass auch in völlig anderen – da innerhalb der Technik angesiedelten – Umgebungen navigiert wird. Dennoch evoziert seine Beschreibung von Strukturspeichern, »in denen die Architektur als mikroelektronisches Dia- gramm eingefroren ist, durch das es in ähnlicher Weise zu navigieren gilt wie durch makrologische Stadträume« (Stefan Höltgen in diesem Band), ein allen Umwelten und Skalierungsebenen gemeinsames navigatorisches Vokabular von Wegen, Orten und Adressen. Abgerundet wird die Ausgabe von einem Klassiker des Feldes sowie von einem Diskussionsbeitrag. Der erstmalig in deutscher Übersetzung veröffentlichte Vor- trag »What about People in Regional Science?«, in dem Torsten Hägerstrand 1969 sein Konzept der Zeitgeografie erörterte, ist nicht nur für die Betrachtung physi- scher Bewegungsmuster im wahrsten Sinne des Wortes wegweisend: Wie Tristan Thielmann in seinem Nachwort darlegt, ist das von Hägerstrand entwickelte be- griffliche Instrumentarium von ›Prismen‹, ›Pfaden‹ und ›Reichweiten‹ auch für die Erforschung digitaler Räume und Navigationsvorgänge ausgesprochen nützlich, er- laubt es doch die Formulierung eines »qualitativen anthropozentrierten Datenver- ständnisses«65. Der Diskussionsbeitrag von Johannes Sievert, Erhard Schüttpelz, Otmar Loffeld und Jens Schröter erörtert die Analog/Digital-Differenz. Diese er- weist sich sowohl für eine mit der Ubiquität sensorbasierter ›smart devices‹ kon- frontierte Medienwissenschaft als auch für die Navigationsforschung als relevant, 1.) aufgrund der bereits entfalteten Nähe zwischen Navigations- und Messtechnik und 2.) aufgrund der durch automatisierte Messungen möglich gewordenen Expan- sionen (Innenräume, Weltall) und Delegationen (Roboternavigation, autonomes Fahren) des Navigationellen. 65 Tristan Thielmann in diesem Band. NAVIGATIONEN 26 NA VIG IEREN NAVIGIEREN DURCH HETEROGENE RÄUME Die hier versammelten Beiträge zeigen, dass eine medienkulturwissenschaft- lich orientierte Annäherung an das Navigieren notwendigerweise die verschiede- nen Motive und Intentionen der Akteure, ihre Milieus, Umwelten und Räume sowie die kultur-, körper- und medientechnische Ausgestaltung synthetisierend miteinan- der in Beziehung setzen sollte. So werden nicht allein die medientechnischen und medienpraktischen Aspekte des Navigationellen reflektierbar, sondern zeigen sich deren Verflechtung mit Fragen des Sozialen, Politischen, Kulturellen, Ökonomi- schen oder Gesellschaftlichen. Alle Beiträge eint die medienkulturwissenschaftliche Analyse der technischen Formatierung und subjektiven Ausgestaltung der (wie auch immer) strukturierten Raumdurchquerung von Signalen, Dingen oder Personen – so heterogen diese Räume auch sein mögen: Flussdeltas, Mikrochips, Meere, der Cyberspace, die Alpen, Sensordatenlandschaften oder die Marsoberfläche. LITERATURVERZEICHNIS Abend, Pablo: Geobrowsing. Google Earth und Co. – Nutzungspraktiken einer di- gitalen Erde, Bielefeld 2013. Alvarez Leon, Luis F.: »How cars became mobile spatial media: A geographical po- litical economy of on-board navigation«, in: Mobile Media & Communication, Jg. 7, Nr. 3, 2019, S. 362-379. 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KEYWORDS: Tourismus, Blindflug, Cyberspace, Mediengebrauch, Raumnahme 1. DIE KUNST DES STEUERNS Das Navigieren oder die Schifffahrtskunde, so steht es seit dem 18. Jahrhundert in beinahe jeder Enzyklopädie, ist »die Lehre von den wissenschaftlichen Hilfsmitteln, ein Schiff sicher über See zu führen und seinen Ort jederzeit zu bestimmen [...] Werkzeuge sind: der Kompaß, das Log, das Lot und die Seekarten«; zur astrono- mischen Verortung dienen »nautische Tafeln, die logarithmischer, trigonometri- scher und astronomischer Art sind«.1 Ähnlich wie hier in Meyers Großem Konversa- tionslexikon (1905) steht es auch in der Oekonomischen Encyklopaedie von Krünitz (1773-1858): Die Instrumente, welche ein Schiffer gebraucht, sind der Kompaß, das Log, und ein Höhenmessungs-Instrument, außer dem Reiszeuge, den Seekarten, den Landtafeln, der Perspektive oder Gucker etc. [...] Mit Hülfe der benannten Instrumente findet nun der Seefahrer die Richtung und die Schnelligkeit seines Laufs, ferner den Punkt, auf dem sich sein Schiff befindet.2 1 Meyers Großes Konversationslexikon: Navigation (Art.), S. 473. 2 Oekonomische Encyklopaedie: Schifffahrtskunde (Art.), S. 275f u. 279f. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN SUSANNE MÜLLER Noch im neuesten Brockhaus-Online hat sich an der Beschreibung wenig geändert. Ergänzt wird das Navigieren als ein Zurechtfinden im ozeanischen Raum bei gleich- zeitiger Benutzung eines Schiffes lediglich durch Luft- und Weltraum und die ent- sprechenden Fortbewegungsmittel.3 Stellt man nun den enzyklopädischen Texten zum Navigieren die im Sprach- gebrauch üblichen Bedeutungsebenen gegenüber, dann tut sich eine Leerstelle auf. Seit langem schon sind neben das Navigieren im engeren Sinne, d.h. im Zusammen- hang mit Flugzeugen oder (Raum-)Schiffen, Techniken getreten, die eine Verortung in imaginären, ideengeschichtlichen oder virtuellen Räumen ermöglichen. Um zu zeigen, wie aus der ursprünglichen, nautischen Spezialfähigkeit eine Medienge- brauchsform geworden ist, werden nachfolgend drei Nebenschauplätze des Navi- gierens aufgesucht. Diese sind unterschiedlich weit von der enzyklopädischen Be- deutung entfernt; gleichsam zeigen sie, dass es aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive heraus sinnvoll ist, das Navigieren auf ein allgemeines ›Zurechtfinden im Raum‹ zu erweitern. Das erste Beispiel betrifft das Navigieren in literarischen bzw. textuellen Räu- men. Hiermit sind Textsammlungen und Bibliotheken gemeint, aber auch einzelne Werke, in denen das Navigieren eine zentrale Rolle spielt. Diese Form der Naviga- tion ist wahrscheinlich so alt wie die eigentliche Kunst, ein Schiff zu steuern. Da es sich dabei jedoch im weitesten Sinne um ein Zurechtfinden im Datenmeer handelt, ist sie gleichsam hochaktuell. Eine zweite Bedeutungsebene liegt in der Etablierung technischer Navigationsmittel in der Populärkultur. Schon seit dem frühen 19. Jahr- hundert reisen Tourist:innen, ausgestattet mit Reiseführern und Kartenmaterial, durch Europa und die ganze Welt. Diese Werke sind so präzise, dass ihr Gebrauch als eine Form der Navigation bezeichnet werden kann. Drittens wird das Augen- merk auf das Navigieren in s.g. virtuellen Räumen gelegt. Insbesondere seit der Wende zum 21. Jahrhundert haben sich diese Umschreibungen für das Zurechtfin- den im World Wide Web oder in virtuellen Spielwelten so verfestigt, dass der all- gemeine Sprachgebrauch kaum andere Begriffe dafür kennt. 2. NAVIGIEREN IN TEXTEN Im Jahr 1851 lässt Herman Melville seine Leser:innen daran teilhaben, wie ein ein- beiniger, von einer fixen Idee besessener Kapitän allen technischen Errungenschaf- ten auf dem Gebiet der Navigation abschwört. Kurz bevor seine Mannschaft mit dem weißen Wal Moby Dick kämpft, zerschmettert Ahab seinen Quadranten. Mi- nuten vorher noch sitzt er im Bug seines Beibootes, »das Gerät wie ein Sterngucker am Auge«4, um den Moment abzupassen, in dem die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht. Mittels Bleistiftnotizen auf seiner Beinprothese bestimmt er die Position des Schiffes. Kurz darauf kippt die Stimmung. »Wo ist Moby Dick?« murmelt Ahab, 3 Brockhaus-Online: Navigation (Art.). 4 Melville: Moby Dick, S. 803. NAVIGATIONEN 36 NA VIG IEREN VOM ZURECHTFINDEN IM RAUM den Blick noch immer zur Sonne gewandt und betrachtet nachdenklich den Qua- dranten in seiner Hand: Armseliges Spielzeug! Kinderei hochmütiger Kapitäne, die Welt tut sich etwas zugute auf deine feine Kunst; doch was kannst du denn Großes? Du vermagst mit knapper Not den armseligen Punkt anzugeben, wo du dich selber auf diesem weiten Gestirn zufällig findest, du und die Hand, die dich hält; sonst nichts!5 Ahab zerstört das wichtigste Navigationsinstrument seiner Zeit und navigiert fortan mit Log und Kompass. Dabei beachtet er jedoch nicht, dass die Instrumente schon viel zu lange den Elementen auf hoher See ausgesetzt waren. Nachdem ein Gewit- ter die Ausrichtung der Kompassnadel verändert hat, reißt nun auch noch die Log- leine.6 Trotz allem (oder gerade deshalb) trifft der Kapitän, der sich nur noch auf seine Intuition verlässt, am Ende auf den weißen Wal. Das ist nicht nur Weltliteratur, sondern zugleich eine Chronik über die Navi- gationstechniken des 19. Jahrhunderts. Melville kennt das Leben der Walfänger, denn er hat es selbst gelebt als er zwischen 1841 und 1844 als Seemann auf unter- schiedlichen Schiffen angeheuert hat. Seine ersten schriftstellerischen Erfolge beru- hen auf diesen Reisen. Auf einem Walfangschiff trifft Melville auf Henry Chase, der ihm einen Bericht mit den Erinnerungen seines Vaters Owen Chase zukommen lässt.7 Letzterer war als erster Steuermann des Schiffes Essex im Jahr 1819 von Nantucket aus mit 20 Mann Besatzung zum Walfang aufgebrochen. Das Schiff er- leidet 1820 mitten im Pazifik Schiffbruch, nachdem es von einem riesigen Wal an- gegriffen worden ist. Vier Monate später können nur noch acht Besatzungsmitglie- der gerettet werden.8 Melville macht aus dem Moment, in dem die Essex von einem riesigen Pottwal versenkt wird, eine der Schlüsselszenen seines Romans. Zweifelsohne trägt Moby Dick, zusammen mit vielen anderen Schriften, die das Navigieren thematisieren, im 19. Jahrhundert zu einer Popularisierung der Welt- meere bei. Doch die Wahlverwandtschaft zwischen dem Erzählen und dem Navi- gieren geht tiefer, denn nicht nur in Geschichten, sondern auch in Bibliotheken und Diskursen kann man verloren gehen wie in einem echten Ozean. In solchen medi- alen Konstellationen sind also Orientierungsstrategien gefragt, die dem Navigieren nicht unähnlich sind und die schon lange mit Begriffen aus der Seefahrt umschrieben werden. Eine »nautische Daseinsmetaphorik« nennt Hans Blumenberg das: Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im Ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen 5 Ebd., S. 804f. 6 Vgl. ebd., S. 833. 7 Vgl. Chase: Tage des Grauens und der Verzweiflung (1821). 8 Vgl. Klein: Owen Chase, Walangriffe und ›Moby Dick‹, S. 48ff. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 37 SUSANNE MÜLLER [...] Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompass und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen. Oft dient die Vorstellung der Gefährdungen auf der hohen See nur dazu, die Behaglichkeit und Ruhe, die Sicherheit und Heiterkeit des Hafens vorzustellen, in dem die Seefahrt ihr Ende finden soll.9 Auch Nikolaus Wegmann beschäftigt sich in seiner Studie Bücherlabyrinthe mit see- fahrerischen Begriffen, die die Recherche und Lektüre von Texten umschreiben. Das reicht vom ›Segel setzen‹ als Ausdruck für den Aufbruch zu einem noch zu schreibenden Text [...] bis zur Gleichsetzung des Autors mit dem Seefahrer [...] Zum Schiff gehört der Schiffbruch [...] Schönwet- tersee ist schließlich nicht alle Tage. Die Wellen können aus allen Rich- tungen anschlagen, die Winde so stark sein, dass der eigene Kurs nicht zu halten ist.10 Das sind vertraute Begrifflichkeiten, denn wirklich jede Recherchearbeit, insbeson- dere die in einer Bibliothek, bedarf einer Navigationskunst. Und es ist kein Geheim- nis, dass oft gerade da navigiert werden muss, wo im engeren Sinne nicht gereist wird. Eines der frühesten und zugleich unterhaltsamsten Beispiele bildet der engli- sche Ritter Johann von Mandeville, der – angeblich – am Michaelistag im Jahre 1322 zu einer langen Fahrt aufbricht. Der der Reise zugrundeliegende Text navigiert seine Leser:innen mühelos über die Weltmeere, vom Orient über Afrika bis ins Amazonasgebiet und auch auf so manche Südsee-Insel. Der Erzähler berichtet über Einäugige, Hundsköpfige, Segelohrige, Schweineschnäuzige, Zweiköpfige, Großfü- ßige, Gehörnte und Geschnäbelte.11 Dabei ist es umstritten, ob Mandeville jemals bis ans Mittelmeer gekommen ist. Viel wahrscheinlicher ist, dass er die heimische Bibliothek nie verlassen hat, diese aber mit größtem Kenntnisreichtum zu benutz- ten gewusst hat. Umgekehrt lehrt uns die Geschichte der ›großen Entdeckungen‹, dass auch echte Reisen immer einer ideengeschichtlichen Nachbereitung bedürfen. Als beispielsweise Kolumbus nach einer sehr realen, allerdings fehlgeleiteten Navi- gationsleistung die ›Neue Welt‹ findet, macht er sie umgehend mit der alten kom- patibel, indem er versucht, »das von ihm vorgefundene Land ohne Unterschied hin- sichtlich Wahrheit oder Fiktionalität den Berichten des Marco Polo, des fiktiven mittelalterlichen Weltreisenden John de Mandeville oder den Prophezeiungen der Medea-Tragödie des Seneca und der Bibel kommensurabel zu machen«.12 Auch er 9 Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 9. 10 Wegmann: Bücherlabyrinthe, S. 209. 11 Vgl. Mandeville: Von seltsamen Ländern und wunderlichen Völkern. 12 Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten, S. 23. NAVIGATIONEN 38 NA VIG IEREN VOM ZURECHTFINDEN IM RAUM muss also die Navigation im realen Raum mit einer Navigation durch das Weltwis- sen seiner Zeit abgleichen, um sie nachvollziehbar zu machen. Und noch während das passiert, geht die alte Welt über in die Neuzeit. Wenn also Kapitän Ahab mit den Worten »Fluch über dich, Quadrant«13 auf das nautische Wissen seiner Zeit verzichtet und dem Fortschrittsoptimismus und der Technikgläubigkeit abschwört, dann koppelt er sich nicht nur von den im Uni- versum des Walfangs gültigen Techniken und Narrativen ab, sondern wird gleich- sam zum Repräsentanten eines gewissen Unbehagens. Gerade im späten 19. Jahr- hundert macht sich ein diffuses Misstrauen über bestimmte Begleiterscheinungen der Moderne breit. Während die Welt, auch die der Navigationsgeräte, immer technischer wird, wird dem homo faber, der »seine Emanzipation von der Natur mittels Wissenschaft und Technik als säkularen Fortschritt gefeiert hatte«14 klar, dass er sich ohne Umschweife in andere, nun aber technische Abhängigkeiten be- geben hat. Das betrifft auch das Navigieren, und zwar unabhängig davon, ob man es als technische Fertigkeit oder als Mediengebrauchsform betrachtet. Letztlich ›macht‹ das Navigieren nämlich nichts anderes als Möglichkeitsräume zu eröffnen und zu strukturieren. Somit ist es Bedingendes und Einschränkendes zugleich und damit immer schon medial. 3. NAVIGIEREN MIT TEXTEN Im Jahr 1781 bricht ein Aufklärer aus Berlin zu einer ›ozeanischen Entdeckungs- reise‹ der anderen Art auf und treibt das Durchmessen des Raumes auf die Spitze. Sein Name ist Friedrich Nicolai, er ist Verleger, Historiker und Autor; seine ›Terrae incognitae‹ sind Deutschland und die Schweiz. Der Titel seiner umfangreichen ›Messung‹ lautet Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781.15 Auch Nicolai ist ein Navigator – denn er reist übers Land, indem er es buchstäblich und gründlich durchmisst. Unter anderem deshalb wird sein Werk oft als ›früher Baedeker‹ bezeichnet.16 Doch eigentlich sind Nicolais Schriften für ein Reisehandbuch viel zu umfangreich; mit zwölf Bänden mutet der Autor seiner Le- serschaft einiges zu.17 Dennoch erregen die Bücher beträchtliches Aufsehen, denn Nicolai navigiert nicht nur durch den terrestrischen Raum, sondern auch durch sämtliche soziale Schichten; er beschreibt nicht nur Wege und Routen, sondern wendet sich kulturellen, religiösen, gelehrten und wirtschaftlichen Verhältnissen zu. Nicolais Ausarbeitung, der man anmerkt, dass sie in erster Linie mit Fleiß und Ausdauer zu Ende gebracht worden ist, deckt verschiedene Bedeutungsebenen des 13 Melville: Moby Dick, S. 805. 14 Bauer: Das ›lange‹ 19. Jahrhundert, S. 79f. 15 Vgl. Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Berlin u. Stettin (1783-1796). 16 Vgl. Jäger: Reisefacetten der Aufklärungszeit, S. 274. 17 Vgl. ebd. S. 274-276. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 39 SUSANNE MÜLLER Navigierens ab. Erstens navigiert auch er, wie schon so viele Reisebuchautor:innen vor ihm, durch die gesamte verfügbare Literatur zum Thema. Dass sein Werk durch diese Recherchen mit einer gewissen Unlesbarkeit belastet wird, nimmt er in Kauf. Der angestrebte Nutzen rangiert eindeutig vor der ästhetischen Annehmlichkeit.18 Zweitens navigiert Nicolai auch im eigentlichen Sinne, denn er hat es sich zur Auf- gabe gemacht, den Raum tatsächlich zu durchmessen. Er verwendet technische In- strumente, wie Karten und einen Kompass, aber auch einen Wegmesser, den er an seinem Reisewagen angebracht hat. Sobald er die Kutsche verlässt, misst ein Schrittzähler den zurückgelegten Weg. Was wie eine unfreiwillige Parodie auf die Weltreisenden der Epoche wirkt, ist der Versuch, nicht nur ferne Länder und Oze- ane zu erfassen, sondern auch das vermeintlich Naheliegende einer geografischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beobachtung zu unterziehen.19 Die ge- sammelten Daten notiert Nicolai in einer Art Logbuch, wobei es wie auf hoher See vorkommt, dass Entfernungen und Geschwindigkeiten die einzigen Angaben sind. Alle anderen Informationen, so es sie gibt, gehen unter der Exaktheit der Aufzeich- nung verloren.20 Drittens, und das ist an dieser Stelle entscheidend, verkörpert Nicolai einen neuen Typus des Reisenden – nämlich den des bürgerlichen Vorausreisenden. Er reist und schreibt, weil er sich dazu berufen fühlt, die Vorurteile und die Unwissen- heit der Nach-ihm-Reisenden zu beseitigen. Und in dieser Hinsicht ähnelt er tat- sächlich Karl Baedeker, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf ähnlich gründliche Weise Mitteleuropa durchmisst und die Rolle des Vorausreisenden bis zur Perfektion hin ausfüllt. Baedeker weiß beispielsweise, dass der Harz, »der nörd- lichste Gebirgszug Deutschlands [...], ungefähr 28 Stunden lang und 8-12 Stunden breit« ist. »Eine Woche wird völlig genügen, um alle sehenswerthen Gegenden zu durchwandern.«21 Seine Beschreibung des Cimetière du Père-Lachaise im Band Paris (1864), die er auf eigene Faust recherchiert und erlaufen hat, zieht sich über 16 Buchseiten und liest sich wie eine textgewordene Karte voller Landmarken: Im Hauptweg r. Pradier († 1852), berühmter Bildhauer, Sarcophag von Sandstein, oben in der Nische seine Marmorbüste; von seinen Schülern errichtet. Bei Etienne links hinab [...] Jacque Delille († 1813), der Dich- ter des ›homme des champs‹ der ›Jardins‹ u.a., große Tumba [...] *Hin- ter Delille: Bellini († 1835), der Componist der Norma, der Puritaner u.a. Opern.22 18 Vgl. Martens: Ein Bürger auf Reisen, S. 562ff. 19 Vgl. Jäger: Reisefacetten der Aufklärungszeit, S. 279. 20 Vgl. Piechotta: Erkenntnistheoretische Voraussetzungen, S. 106ff. 21 Baedeker: Deutschland und der Oesterreichische Kaiserstaat (1844), S. 474. 22 Baedeker: Paris (1864), S. 134. NAVIGATIONEN 40 NA VIG IEREN VOM ZURECHTFINDEN IM RAUM Karl Baedeker nennt seine frühen Reiseführer im Untertitel Handbüchlein für Rei- sende, die sich selbst leicht und schnell zurecht finden wollen.23 Diese Reisenden, die man bald darauf Tourist:innen nennen wird, wollen das Zurechtfinden im Raum, das Navigieren also, selbst in die Hand nehmen. Dafür brauchen sie keinen Quadran- ten, kein Log und nicht mal mehr einen Kompass – ihr einziges Navigationsinstru- ment ist der Baedeker. Die Beschreibungen darin sind so präzise, dass sie nicht nur umstandslos zum sehenswerten Ziel führen, sondern alle weiteren Orientierungs- maßnahmen überflüssig machen. Der Umstand, dass es auf den Spuren der Voraus- reisenden für die Touristen nichts Neues mehr zu entdecken gibt, hat dem Baede- ker und allen anderen touristischen Reiseführern viel Kritik eingebracht. »Man reist, um die Welt zu sehen«, schreibt 1873 der Philosoph und Autor Johann Eduard Erd- mann, und zwar bestenfalls, indem man überprüft, was andere bereits gesehen und erzählt haben.24 Jedoch, so Erdmann, fehlt den Reisenden die notwendige Zeit, die wesentlichen Dinge wahrzunehmen. »Heute spart man sie und sieht darum Nichts.«25 Sein Fazit lautet daher: »Vor lauter Eile sieht man nichts, vor lauter Bä- deker lernt man nichts, vor lauter Feinheit spricht und hört man nichts.«26 Diese Kritik ist so alt wie der Tourismus selbst. Interessant daran ist, dass sie mit dem ›Nicht-Sehen‹ den Kern des Navigierens am Beginn des 20. Jahrhunderts trifft. Denn navigiert wird inzwischen nicht mehr nur zu Wasser und zu Land, son- dern zunehmend auch in der Luft. Die ersten Pilot:innen fliegen noch auf Sicht – doch das Aufrechterhalten der Sichtkontrolle ist in einem sich schnell bewegenden Flugzeug nahezu unmöglich. Es funktioniert nur, wenn man sich – ganz wie die tou- ristisch Reisenden – von Landmarke zu Landmarke bewegt. Doch während die ei- nen dafür kritisiert werden, den ›Zwischenräumen‹ abseits der Sehenswürdigkeiten nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken, werden die anderen für ihre Navigati- onsleistung bei gleichzeitigem Nicht-Sehen gefeiert. Wie tief die hier angedeuteten Zusammenhänge zwischen dem touristischen und fliegerischem Navigieren und (Nicht-)Sehen gehen, zeigt ein ›Baedeker‹ aus dem Jahr 1944. Die Stadt Mainz, so ist hier zu lesen, befindet sich am linken Rhein- ufer, direkt gegenüber der Main-Mündung. Two main-line railway bridges cross the Rhine at Mainz and lead to Frankfurt/Main and to Mannheim. The town has an inland harbor and is one of the largest transshipment centres on the Upper Rhine. The 23 Die Formulierung steckt beispielsweise im Untertitel des Baedekers Belgien (Koblenz, 1839). Hier heißt es auf der Titelseite: »Handbüchlein für Reisende, die sich selbst leicht und schnell zurecht finden wollen. Mit einer Karte und einem Plane des Schlachtfeldes von Belle-Alliance«. 24 Erdmann: Lustreisen und Reiselust (1873), S. 6. 25 Ebd., S. 18. 26 Ebd., S. 20. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 41 SUSANNE MÜLLER industries of Mainz include engineering, wagon building, and shipbuild- ing. The town is the principal centre of the Rhine wine trade and of the German champagne industry.27 Über die Deutsche Hauptstadt erfährt man u.a., dass sie die drittgrößte Stadt der Welt ist. Berlin [...] is not only the political and economic administrative centre of Germany, but ranks also as the most important industrial and manu- facturing city on the Continent of Europe [...] The chief industrial areas lie firstly, to the North-west, including Spandau, Siemensstadt, Wed- ding, Tegel, and Reinickendorf, and secondly, to the South and South- east including Marienfelde, Tempelhof, and Johannisthal.28 Das ist ein merkwürdiger Fokus für einen Baedeker. Allerdings handelt es sich um keinen normalen Reiseführer und der Herausgeber des Buches ist auch nicht das berühmte Verlagshaus in Leipzig, sondern das britische Ministry of Economic Warfare. Der vollständige Titel lautet: Bomber’s Baedeker. A Guide to the Economic Importance of German Towns and Cities. Das Buch enthält eine Liste mit allen wich- tigen gewerblichen und kommerziellen Zielen für Bombenangriffe in deutschen Städten. Minutiös werden, wie in jedem Reiseführer, Orientierungspunkte, wie Flüsse und Küstenlinien, Verkehrsknotenpunkte, wie Eisenbahnstrecken und Auto- bahnen, aufgeführt und die Standorte kriegswichtiger Standorte aufgezählt. Der Bomber’s Baedeker soll die Bomberpiloten als Navigationshilfe dabei unterstützen, möglichst umstandslos alle kriegswichtigen Ziele in den deutschen Städten zu fin- den und zu treffen. Der Ausbau der Navigations- und Ortungssysteme in der Luftfahrt einerseits und der fehlende Bezug zu allem, was die Bomberpiloten nicht sehen, andererseits hat in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs wesentlich konkretere Auswirkungen auf die europäischen Großstädte als das Nicht-Sehen der in dieser Zeit ausbleibenden Tourist:innen. Der Zusammenhang ist dennoch offensichtlich: Sowohl beim touristischen Reisen als auch beim Abwerfen von Bomben geht es um das Auffinden von Zielen im weitesten Sinne. Bei beiden Formen der Raumdurch- querung wird ein Stück Sicht-Kontrolle abgegeben für den Preis, sich orientieren und bestimmte Ziele erreichen zu können. Der Baedeker wie auch der Bomber’s Baedeker sind somit Navigationsinstrumente, die das Zurechtfinden im Raum erst ermöglichen. 27 Enemy Branch (Hrsg.): Bomber’s Baedeker (1944), S. 459. 28 Ebd., S. 1. NAVIGATIONEN 42 NA VIG IEREN VOM ZURECHTFINDEN IM RAUM 4. NAVIGIEREN IM VIRTUELLEN RAUM Im Jahr 1984 ›erfindet‹ William Gibson den Cyberspace, indem er den Begriff in seinem Roman Newromancer für die Vorstellung eines von Computern erzeugten Raums verwendet.29 Es heißt, er hätte die Geschichte um den arbeitslosen Hacker Case auf einer alten, mechanischen Reiseschreibmaschine aus dem Jahr 1937 ge- schrieben. Hinsichtlich der Informationsverarbeitung ist das ungefähr so weit weg von den heute üblichen Schreibgeräten wie das zu dieser Zeit in den Kinderschuhen steckende ARPANET vom text- und bildbasierten World Wide Web, das erst fünf Jahre später seinen Siegeszug antritt. Doch selbst diese Vorstellung überspringt Gibson einfach und projiziert seine Protagonisten direkt in eine virtuelle Realität, in der Hacker ihr Gehirn mit einer ›Matrix‹ verbinden können. In den nächsten zwei Jahrzehnten setzt sich der Begriff ›Cyberspace‹ für die neuen Erfahrungsräume durch, die sich vermehrt in alle Lebensbereiche drängen. Jahre später lässt Gibson verlauten: Als ich das Wort ›Cyberspace‹ prägte, war der Cyberspace dort und alles andere hier. Ich denke, das hat sich im Laufe meines Schreibens umgekehrt. Heute ist der Cyberspace im wahrsten Sinne des Wortes hier.30 ›Hier‹ ist er auch schon im August 1994, als eine Handvoll Wirtschaftslobbyist:innen der US-Amerikanischen Clinton-Regierung unter dem Titel Cyberspace and the American Dream eine Magna Carta for the Knowledge Age verfassen.31 In diesem Do- kument rufen sie ein neues Zeitalter, nämlich das der Daten, Bilder und Symbole, aus. Sie prognostizieren, dass »Regierungen, Staaten und Verwaltungen, [als] die letzten Bollwerke bürokratischer und zentralistischer Art, geschliffen«32 werden. Zwei Jahre später kommt Gegenwind aus einer anderen Richtung, als John Perry Barlow als Reaktion auf den Telecommunication Reform Act der US-amerikanischen Regierung eine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace verfasst. In dieser vertei- digt er den neuen Raum als die ›Heimat des Geistes‹. »Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr«, schreibt Barlow. »Der Cyberspace liegt nicht inner- halb Eurer Hoheitsgebiete.«33 Aus heutiger Sicht wirken beide Dokumente überraschend naiv, denn schon wenig später war es staatlichen Behörden problemlos möglich, »einen Großteil po- litisch unliebsamer Kommunikation [...] zu blockieren, den Zugriff auf Websites mit brisantem Inhalt zu sperren oder die Kommunikation von Unternehmen, Kunden 29 Vgl. William Gibson: Neuromancer (1984). 30 Zit.n. Meißner: Der Erfinder des Cyberspace (2008). 31 Esther Dyson u.a.: Cyberspace and the American Dream (1994). 32 Maresch: Hard Power/Soft Power, S. 239. 33 John Perry Barlow: Unabhängigkeitserklärung (1996). NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 43 SUSANNE MÜLLER und Staatsbürgern auszuspähen.«34 Interessant ist jedoch die Art und Weise, wie über die Erschließung virtueller Räumen kommuniziert wird. Die Autor:innen der Magna Carta for the Knowledge Age betrachten die Eroberung des Cyberspace als klassische Landnahme, »die das historische Beispiel westwärts ziehender Siedler- tracks als heroische Tat wiederholt oder sogar überbietet«.35 Und Barlow konstru- iert den Cyberspace als einen konkreten Raum, in der ›Ortsfremde‹ immer ›Ein- wanderer‹ bleiben. Zudem bemühen beide Dokumente, wie schon die Titel offenbaren, nationale Mythen. Die Ausnahme-, Sonder- und Vorrangstellung, die Amerika unter den Völkern und Nationen dieser Welt einnimmt; [...] die Einmaligkeit der amerikanischen Verfassung, die dem Einzelnen den uneingeschränkten Anspruch auf Freiheit, Eigentum und Glück garantiert [...]; und der Pi- onier- und Entdeckergeist, der Amerikaner seit Jahrhunderten aus- zeichnet: all diese amerikanischen Merkmale und Eigenschaften sind es, die nach Ansicht der Autoren Amerika zu dieser neuen ›Land- und Raumnahme‹ prädestinieren.36 Die Parallelen, die sich hier wiederum zum europäischen Denken finden lassen, sind kaum zufällig, denn es wiederholen sich die alten Vorstellungen vom Gegensatz zwischen Land und Meer. Der heute zu Recht umstrittene Staatsrechtler Carl Sch- mitt schreibt in seinen Texten Land und Meer sowie Der Nomos der Erde ganz ähnlich über die Ozeane, wie es später über den Cyberspace getan wird: Das Meer kennt keine [...] sinnfällige Einheit von Raum und Recht, von Ordnung und Ortung [...] In das Meer lassen sich auch keine Felder einsäen und keine festen Linien eingraben. Die Schiffe, die das Meer durchfahren, hinterlassen keine Spur.37 Erst als die großen Seereiche sich bis in den ozeanischen Raum ausgedehnt hatten, »wurde auch auf dem Meere Sicherheit und Ordnung hergestellt«.38 Nichts weni- ger als eine Raumrevolution, durch die sich sämtliche Raumvorstellungen, Maß- stäbe, Dimensionen und Ordnungen verschieben, ist die Eroberung der Ozeane durch die Navigatoren der Neuzeit nach Schmitt gewesen.39 34 Maresch: Hard Power/Soft Power, 240. 35 Ellrich: Die Realität virtueller Räume, S. 95. 36 Maresch: Hard Power/Soft Power, S. 240. Maresch bezieht sich in diesem Zitat auf die ›Magna Carta ...‹ – jedoch gilt das in Teilen ebenso für Barlows Unabhängigkeitserklärung. 37 Schmitt: Der Nomos der Erde, S. 13. 38 Ebd., S. 15. 39 Vgl. Schmitt: Land und Meer (1942), S. 56f. NAVIGATIONEN 44 NA VIG IEREN VOM ZURECHTFINDEN IM RAUM Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint es, als würde sich nicht nur die Ge- schichte der Raumnahmen wiederholen, sondern auch die Begriffe, mit denen dar- über gesprochen wird. Nur geht es eben nicht mehr um die Grenze zwischen Land und Meer, sondern um die zwischen Land und Datenmeer. Dass hierfür die altbe- kannten Wörter verwendet werden, ist jedoch naheliegend. Das griechische cyber bezeichnet die Kunst zu Steuern oder eben zu Navigieren. Verbunden mit space vom lateinischen spatium, deutet das auf einen Raum hin, den es noch zu entdecken und zu erobern gilt, auf nichts anderes als das Datenmeer also. William Gibson hatte für Mediengebrauchsformen, die diese Raumerkundung nach sich ziehen, noch keine eigenen Begriffe erfunden. »Einige Jahre später«, so schreibt Harun Maye, »ist es aber kaum noch vorstellbar, diese Bewegung nicht als Surfen zu bezeichnen.«40 Das Surfen, so Maye weiter, ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem Navigieren. Wäh- rend Surfen am ehesten »eine scheinbar mühelose Bewegung auf der Informations- welle und durch die Rechnerarchitektur«41 umschreibt, wird das Navigieren als zielgerichteter und geregelter empfunden. Es findet von Punkt zu Punkt statt, ist aber letztlich nichts anderes als ein Zurechtfinden im Raum, der nunmehr virtuell bzw. digital ist. Um sich hier zu verorten und zu orientieren bedarf es keiner Raum- und Fahrzeuge, keiner Instrumente, wie Kompass oder Logscheit. Erforderlich sind vielmehr Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien. Damit wird das Orientie- ren in virtuellen Räumen zur Kulturtechnik für alle, die nicht in der analogen Welt zurückbleiben wollen. 5. MEDIENGEBRAUCHS- UND ERKENNTNISFORM »Im heutigen Athen«, berichtet Michel de Certeau, »heißen die kommunalen Ver- kehrsmittel metaphorai. Um zur Arbeit zu fahren oder nach Hause zurückzukehren, nimmt man eine ›Metapher‹ – einen Bus oder einen Zug.«42 Tatsächlich hat das griechische Μεταφοραί genau diese beiden Bedeutungen: Transportmittel und Me- tapher. Ihre theoretische Entsprechung findet diese Doppeldeutigkeit unter ande- rem bei Ivor Armstrong Richards, in dessen Interaktionstheorie Metaphern immer über mindestens zwei Bestandteile verfügen: den Topic Term (also den eigentlichen Begriff für eine Sache) und den Vehicle Term (die uneigentliche bildliche Umschrei- bung für eine Sache).43 Metaphern entstehen, so Richards, weil Menschen gemein- same Merkmale zwischen Topic Term und Vehicle Term ausmachen können. Sie die- nen »als Austausch und Verkehr von Gedanken« und sind somit »eine Transaktion zwischen Kontexten«.44 Nimmt man Richards wörtlich, dann ließe sich also resü- mieren, dass das Navigieren in jeder Hinsicht metaphorisch ist – es ist nicht nur an 40 Maye: Surfen (Art.), S. 568. 41 Ebd., S. 567. 42 Certeau: Kunst des Handelns, S. 215. 43 Richards: Die Metapher (1936), S. 33ff. 44 Ebd., S. 55. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 45 SUSANNE MÜLLER ein Fahrzeug im weitesten Sinne gebunden, sondern wird in vielen Lebensberei- chen anders verwendet als es die Definitionen in den meisten Wörterbüchern ver- muteten lassen. Wenn wir uns durch imaginäre Räume, durch Geschichten und Textsammlungen, durch Spielewelten und virtuelle Räume bewegen und das navi- gieren nennen, dann ist es auf den ersten Blick naheliegend, von einer metaphori- schen Übertragung zu sprechen. Auf den zweiten Blick steht dem allerdings die Frage entgegen, wie die zielge- richtete Bewegung mittels Verortung und Orientierungsstrategien insbesondere im s.g. Cyberspace sonst genannt werden soll. Das Durchqueren dieser Räume wird ja schon deshalb mit nautischen Begriffen umschrieben, weil der virtuelle Raum selbst eine Metapher ist. Deswegen ist es wenig zielführend, diesen Text mit der Erkenntnis enden zu lassen, dass das Navigieren in seinen heutigen erweiterten Be- deutungskontexten vornehmlich eine Übertragung ist. Vielmehr handelt es sich beim Navigieren um einen medienwissenschaftlichen Schlüsselbegriff, weshalb ab- schließend zwei Betrachtungsweisen vorgeschlagen werden, die die in diesem Text aufgeführten Bedeutungskontexte umfassen und – aufeinander aufbauend – das Navigieren im Sinne einer medienkultur-geschichtlichen Betrachtungsweise greif- bar machen. Wird erstens davon ausgegangen, dass Verkehrsmittel und auch Navigations- hilfen immer schon mediale Techniken sind bzw. immer schon Medialität aufwei- sen, dann ist das Navigieren im Sinne eines Zurechtfindens im Raum nie etwas an- deres als eine Form des Mediengebrauchs gewesen. Tatsächlich sprechen wir heute vom Navigieren, wenn wir uns mittels irgendwelcher Verortungssysteme in einem irgendwie umgrenzten Raum orientieren wollen. Die Art des Raums, die Frage ob er fest oder flüssig, virtuell oder echt ist, ist dabei gar nicht wesentlich – denn jeder Raum, durch den navigiert werden kann, ist zumindest ein Möglichkeitsraum und es bedarf bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten, diesen zu erschließen; sei es nun der Umgang mit Kompass, Log und Seekarte, die deutliche stärker verbreitete Fä- higkeit sich in diskursiven Räumen zu verorten und zu orientieren, die sehr popu- läre Fähigkeit mittels Reiseführern aber auch mittels moderner Satellitennavigati- onssysteme Städte, Landschaften oder Kontinente zu durchqueren oder die Fähigkeit, im World Wide Web nicht verloren zu gehen. Wenn zweitens das Navigieren immer schon medial und immer schon von be- stimmten kulturellen Konventionen abhängig ist, dann hat die Art und Weise der Raumdurchquerung auch Einfluss darauf, wie dieser Raum verstanden und wahrge- nommen wird. Das gilt für literarische oder diskursive Räume wie auch für den Luftraum, den Ozean oder den Cyberspace. Somit ist das Navigieren nicht nur eine Technik zum Durchqueren von Räumen, sondern gleichsam eine Erkenntnisform. Jeder Art, sich durch einen Raum zu bewegen, so heißt es bei Karl Schlögel, kann auch eine Art der Raumwahrnehmung zugeordnet werden. Jede Bewegungsform hat ihre spezifische Sichtweise, ihr Privileg, jede vermutlich auch ihren historischen Ort und ihre historische Konjunktur. Jede bringt ihr spezifisches Genre und ihre spezifische Rhetorik hervor: NAVIGATIONEN 46 NA VIG IEREN VOM ZURECHTFINDEN IM RAUM Arten des Schreibens, Berichtens, Darstellens, Systematisierens, jede hat ihre eigenen Hilfs- und Auskunftsmittel.45 Wer navigiert, verlässt sich zumeist auf Instrumente – diesen, und nicht unbedingt der Umgebung, gilt die Aufmerksamkeit. Das Navigieren ist abzugrenzen von an- deren Erkenntnisformen, wie dem ›Schippern‹ auf dem Ozean, dem ›Stöbern‹ im Büchermeer, dem ›Flanieren‹ in der Großstadt oder dem ›Surfen‹ im World Wide Web. Wer den Ozean mittels gezielter Navigation überquert, wird weniger Aben- teuer erleben als die Mannschaft um Käpt’n Ahab (hat dafür aber auch wesentlich höhere Überlebenschancen). Wer die Bibliothek gezielt nach einzelnen Titeln ab- sucht, wird schnell das Gesuchte finden – aber alle Nachbarschaften und Zufalls- funde übersehen. Wer die Großstadt mit dem Baedeker abscannt, wird bald alle Sehenswürdigkeiten entdeckt haben, aber vielleicht nie das ›Wesentliche‹ der Stadt. Wer den Luftraum im Instrumentenflug bezwingt, sieht wenig von der Welt unten, hat aber unter Umständen auch keine Probleme damit, Bomben ins Nichts zu wer- fen. Und wer durchs World Wide Web navigiert anstatt zu surfen, fühlt sich nicht so schnell verloren, wird aber auch nicht viel Überraschendes entdecken, sondern in erster Linie das Erwartete finden. Nicht nur Kolumbus wusste auf seiner Fahrt nach Indien/Amerika ganz genau, was er finden würde – auch in den sozialen Me- dien der Gegenwart erweist sich die Suche nach der Bestätigung dessen, was man ohnehin schon zu wissen glaubt, zunehmend als problematisch. Somit liegt gerade beim Navigieren im vermeintlichen Scheitern immer auch die Chance, anders und mehr zu sehen als gedacht. Und es sind gerade diese Widersprüchlichkeiten, die das Navigieren zu einem interessanten Gegenstand medienwissenschaftlicher An- schauung machen. LITERATURVERZEICHNIS Barlow, John Perry: Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Davos (Februar 1996). Unter: https://www.heise.de/tp/features/Unabhaengigkeitserklaerung- des-Cyberspace-3410887.html – abgerufen am 16.06.2021. Bauer, Franz J.: Das ›lange‹ 19. 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Whether serving migrants or tourists, travelers’ maps of course supported geographical comprehension of a territory unfamiliar to a reader, but, like the texts they often accompanied they also promoted an image of the place described, its vastness, its wealth, and its potential for »civilization.” The emergence of a viable American map trade responded especially to the growing market for information about the country west of the Appalachian Mountains and efforts to incorporate western territories into the national geographical identity. Examining in turn early river guidebooks, maps for migrants, and maps for tourists, this chapter argues that the complex motivations for travel in the early United States and the size, complexity, and rapid evolution of the transportation system posed navigational challenges that promoted innovations in map and guidebook de- sign and format. KEYWORDS: travel maps, guidebooks, migration, tourism, United States 1. INTRODUCTION Thomas Hutchins’ 17841 Historical Narrative and Topographical Description of Loui- siana, and West-Florida was among the first regional guides published in an inde- pendent United States. Though much of its text was historical and geographical, the book was written to promote American interest in East and West Florida (still in Spanish hands) and the Mississippi Valley (partly American and partly Spanish). Hutchins promised to provide »directions for sailing into all the bays, lakes, har- bours and rivers on the north side of the Gulf of Mexico, and for navigating between the islands situated along the coast, and ascending the Mississippi River,« as well as 1 Except where noted, the dates cited in the text or in parenthetical narratives are the dates of publication of the first edition of a title. I have not troubled to provide further details of later editions except where relevant. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN JAMES R. AKERMAN a description of »the climate, soil, and produce whether animal, vegetable, or min- eral.«2 Notably, Hutchins’ book offered information and advice about territories beyond the boundaries of the United States agreed in the Treaty of Paris (1783). It thus began a stream of US publications meant to persuade politicians, investors, and migrants of the benefits of the conquest, settlement, and development of a Transappalachian West. Most also included practical advice, geographical, logistical, and navigational, migrants and other travelers needed to take possession of the continent – in the process, of course, dispossessing its Native inhabitants. Mapping occupies a significant role in these texts, though one that has been little studied, and mostly in respect to single works.3 But not all of these works included maps. Though Hutchins, for example, made several important contributions to western American cartography, notably the New Map of the Western Parts of Virginia (1778)4 and Plat of the Seven Ranges of Townships (1796),5 his Historical Narrative does not include a single map. An author’s or publisher’s decision to take on the effort and expense of includ- ing a map in their travel guides and narratives reflected their judgment, we must presume, that it added sufficient value to justify the cost. A map’s contribution to navigation (or wayfinding) was a consideration, but not only that. Travelers’ maps of course supported geographical comprehension of a territory unfamiliar to a reader, but, like the texts they often accompanied they also promoted an image of the place described, its vastness, its wealth, and its potential for »civilization.« The emergence of a viable American map trade in the last decades of the eighteenth century and the first decades of the nineteenth responded both to an expanding market anxious for information about the western country and the imperative to incorporate western territories into a national geographical identity. In this respect the role of maps for travelers in the expansion and development of the nation in the Transappalachian West deserves particular attention. The ability of American authors and publishers to include maps in guidebooks and similar publications for western travelers in the early United States before the Anglo-American War of 1812-15 was limited, as American commercial map pub- lishing was in its infancy. Only after the war was the American map trade sufficiently developed and the market for travelers’ guides sufficiently large to allow publishers 2 Hutchins: An Historical Narrative and Topographical Description of Louisiana, and West- Florida, title page. 3 The most comprehensive accounts of American commercial cartography for this period are: Ristow: American Maps and Mapmakers; Schulten: Mapping the Nation and Brueck- ner: The Social Life of Maps in America, 1750-1860. 4 Published when he was still an officer in the British army in Hutchins: A Topographical Description of Virginia, Pennsylvania, Maryland, and North Carolina. 5 Hutchins et al.: Plat of the Seven Ranges of Townships. NAVIGATIONEN 52 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS to include maps in their guidebooks more purposefully and innovatively.6 The out- come of the war surely stimulated this growth, as it enabled a flood of non-native migration into the Great Lakes region and the Mississippi Valley. Geographically speaking, the Anglo-American-Indian War of 1812 was essentially a border war, though with existential implications for Native communities, the United States, and British Canada. The peace that followed set both British Canada and the United States on parallel courses of territorial expansion to the west—at the expense of Indigenous peoples, whose power east of the Mississippi was greatly diminished nearly eliminated by the conflict and related wars in both the old north- and south- west.7 The war extinguished the United States’ aspirations for control of the lower St. Lawrence River and its estuary, but it confirmed its control of the southern shore of the Great Lakes and adjacent territories. Most importantly, it eliminated competition from European powers for control of most of the Mississippi water- shed. Publication of American travelers’ guides and maps was at first centered in Philadelphia, seat of travel mapping pioneer John Melish and where Henry Schenk Tanner and Samuel Augustus Mitchell were the most prominent map publishers in the later 1820s-1840s. Several New York publishers, including David Burr, John Disturnell, and Joseph Hutchins Colton, also entered the market during the period, and other centers had emerged as well in New Haven, Albany, Buffalo, Baltimore, Boston, Pittsburgh, and Cincinnati, many of them serving distinctly regional mar- kets. The major Philadelphia and New York publishers each issued a great diversity of guidebooks, gazetteers, and directories, along with general maps and atlases of the United States and the world, school geographies and wall maps. By the 1840s they published both under their own names and created maps for individual authors and other publishers, lending a consistency of style to maps across genres. Maps labeled for use by travelers were issued separately, folded in their own bindings or incorporated into narrative and descriptive guidebooks, gazetteers, and other for- mats. They grew both in variety and number during this period, but until the great annexations of far western lands in the late 1840s, the geographical scope of these publications was roughly bounded in the west by territories that would become the states on the far bank of the Mississippi River, from Louisiana to Minnesota. Within this geographical frame, commercially published American travelers maps and guides witnessed, promoted, and supported the steady expansion of the United States Public Land Survey; the establishment of territories and new states along the Great Lakes and on the western bank of the Mississippi; the construction of the Erie Canal and of its Midwestern siblings that linked Great Lakes to the Ohio and Mississippi valleys; the emergence of Buffalo, Pittsburgh, Louisville, Cincinnati, New Orleans, Cleveland, Detroit, Toledo, Chicago, and St. Louis as entrepots of 6 See Brückner: The Social Life of Maps in America, 1750-1860; Ristow: American Maps and Mapmakers. 7 Gilpin: The War of 1812 in the Old Northwest; Taylor: The Civil War of 1812. Bickham: The Weight of Vengeance; Stagg: The War of 1812. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 53 JAMES R. AKERMAN settlement and growth anchoring U.S. control and development of the western waterways; and the coming of the steamboat and the first American railroads. While we cannot say that these travelers’ maps and guidebooks created this first American West, their role in encouraging migration to and within the United States and in shaping American’s conception of the Transappalachian West was consider- able. Wayfinding and other practical advice was an important element of this broadly expansionist and colonialist mapping. The motivation to migrate and to set- tle depended on the assurance that the necessary travel was practical, though diffi- cult, and that the rewards for doing so outweighed the uncertainties and difficulties of the journey. As with modern guidebooks and maps for travelers, the promotion of travel and navigation went hand in hand. The geographical subjects of these guides and maps in the early republic were eclectic. Samuel L. Mitchell—not to be confused with Samuel Augustus Mitchell— published the earliest American urban guidebook, A Picture of New-York, in 1807, complete with a small plan of the city.8 Guidebooks written for travelers to fash- ionable resorts at Saratoga Springs and Niagara Falls were already common in the 1830s and 1840s.9 Map titles and guidebook text reached out to migrants, tourists, business, and vicarious travelers. But from the late eighteenth century to about 1845 mapping (with or without accompanying guidebooks) for travelers and mi- grants to Transapplachian states and territories—particularly those in what we now call the Midwest—were the most prolific. 2. THE FIRST WESTERN TRAVEL GUIDES AND MAPS Unsurprisingly, the earliest of these guides and maps related to Kentucky, Tennes- see, and Ohio, which became the first Transappalachian states in 1792, 1796, and 1803, respectively. John Filson’s The Discovery, Settlement, and Present State of Ken- tucke (1784)10 epitomizes the eclectic mix of elements found in many works for migrants and travelers published over the next several decades: a historical narra- tive of the progress of the territory from the time of its first white settlement; gen- erally optimistic assessments of the economic and agricultural potential of the ter- ritory for further settlement and development; an account of personal experiences; and practical guidance for migrants and other travelers. Filson’s map (Figure 1), published eight years before Kentucky became a state, was the first map published in the independent United States designed explicitly to encourage and enable mi- gration.11 In support of the traveler, Filson’s map delineates several internal roads and trails, as well as »the road from the old settlements in Virginia to Kentucke 8 Mitchell: A Picture of New-York. 9 For example, Parsons: A Guide to Travelers Visiting the Falls of Niagara, successively en- larged under various titles; and De Veaux: The Travellers’ Own Book to Saratoga Springs, Niagara Falls and Canada. 10 Filson: The discovery, settlement, and present state of Kentucke. 11 Nebenzahl: »Filson Map Re-examined«. NAVIGATIONEN 54 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS thro’ the Great Wilderness« (now known as the Wilderness Road through Cum- berland Gap on the boundary between Virginia and Kentucky). These are identified as »cleared« and »uncleared« roads in the map’s legend. Wide, navigable rivers seem to flow through the territory in great abundance, and Filson extols the efficacy of river travel to migration and internal communication: The beautiful river Ohio, bounds Kentucke in its whole length, being a mile and sometimes less in breath, and is sufficient to carry boats of great burthen…. And in its course it receives numbers of large and small rivers, which pay tribute to its glory. The only disadvantage this fine river has, is a rapid, one mile and a half long, and one mile and a quarter broad, called the Falls of Ohio…. Excepting this place, there is not a finer river in the world for navigation by boats. Besides this, Ken- tucke is watered by eight smaller rivers, and many large and small creeks, as may be easily seen in the map…. These rivers are navigable for boats almost to their sources, without rapids, for the greatest part of the year.12 In support of travel both overland and by waterway an appendix to the volume lists the »stages and distances between Philadelphia and the Falls of the Ohio; from Pittsburg to Pensacola and several other places.« Figure 1: John Filson, The discovery, settlement, and present state of Kentucke (Wilmington: James Adams, 1784). Courtesy of the Newberry Library. 12 Filson: The discovery, settlement, and present state of Kentucke, p. 12-15. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 55 JAMES R. AKERMAN The title of a Short Description of the Tennassee Government (1793) declares that Daniel Smith wrote the 20-page tract »to accompany and explain a map of that country.«13 Here too, rivers are described as important travel routes. In an appar- ent appeal to river navigators, Smith adopted the highly unusual practice of enu- merating the width of rivers at their various point along their courses. The text explicitly addresses the map in its favorable assessment of navigation on Tennes- see’s rivers: From the face of the map it appears, that this country is well intersected by rivers, and most of those rivers are navigable by large boats; some of them by sea vessels…. Duck river is navigable in boats about 90 miles. The waters of the Harpeth, Cany-fork, Stones, Roaring, and Red river have uniformly a gentle current towards the mouth, whence they are all navigable in boats for a considerable distance. In a word, no spot can be marked in that country, that is more than 20 miles from a boat- able stream, so great are its advantages of water-conveyance.14 While wayfinding on land routes is supported in both these volumes by marking of roads on both maps, both maps and guides make a point of emphasizing the relative ease and extent of river travel. In the first three decades of the nineteenth century, the importance of travel by water to and in the West was made clear by the great interest eastern states had in canal projects, of which the Erie Canal (opened in 1824) is the most famous. Travel maps devoted exclusively to roads met with little success. Christopher Colles’s ambitious plan for A Survey of the Roads of the United States of America (1789), modeled on similar publications popular in eighteenth- century Britain, mapped the sequence of roads from Williamsburg, Virginia through Georgetown, Baltimore, Philadelphia, New York, and into the Hudson Valley and western Connecticut. But Colles managed to publish only 83 of the proposed 100 sheets.15 In 1802 and 1804, the prominent Philadelphia publisher Matthew Carey issued an atlas and guide to the same route, the Traveller’s Directory, by S. S. Moore and Thomas Jones. But again, the reception of this publication apparently did not seem to justify the expense of further republication. Despite the foundational im- portance of roads and turnpikes to inter-regional travel, few specialized maps, at- lases, and guidebooks to specific land routes were published before the 1840s. Riv- ers, however, were another matter. 13 Smith: A short description of the Tennassee government; republished with an enlarged text in 1796 as A short description of the state of Tennessee. 14 Smith: A Short Description of the State of Tennessee, p. 26-27. 15 Colles: Proposals for Publishing a Survey of the Roads of the United States of America and Colles: A Survey of the Roads of the United States of America. NAVIGATIONEN 56 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS 3. RIVER GUIDES The Ohio River was the great interior highway of the West in the first decades of the century. Guidebooks and maps devoted to the navigation of the Ohio and the lower Mississippi River appeared shortly after 1800 and demand for them remained robust well past midcentury. The high level of navigational detail in these early river guides and the rough state of many surviving examples betray an extensive reliance on them; the river waters were treacherous, full of shoals, dangerous currents, and other hazards that troubled even the most experienced pilots. Pittsburgh was the main point of embarkation, and it was there that bookseller Zadok Cramer created and published The Navigator, a simple mile-by-mile set of navigating instructions on the Ohio and Mississippi Rivers from Pittsburgh to New Orleans. River travel in those days was dominated by flatboats, large box-shaped rafts or barges that were difficult to steer around shoals and other river obstructions, but which could carry large cargoes. Keel boats, somewhat smaller craft, were more easily piloted, but more expensive to build. Much of the downstream traffic—for until the age of steam only keelboats operated by skilled hands could navigate upstream—was un- dertaken by merchants and migrants with little experience with river craft or navi- gation. These were Cramer’s market. The main substance of the text concerned practical navigation. The earliest editions consisted mostly of simple instructions indicating the best course down- river; identifying islands and good landing places; and warning of sandbars, obstruc- tions, and other hazards. From the 1814 (eighth) edition comes this guidance on the Ohio, near Loggstown [Logstown], Pennsylvania, 18½ miles from Pittsburgh: Here is a large sandbar running up from the left shore and approaches near the right, and between the head of it and the right shore are large logs, the first of which keep to the right, the second and third are op- posite each other; you may go between these, and as soon as you are past them, incline to the middle of the river.16 The first two editions, both published in 1801 and titled The Ohio Navigator, carried the traveler only from Pittsburgh to the mouth of the Ohio. Cramer added the Mississippi navigation from there to New Orleans in 1802. At first, a single straight vertical line on the margin of the text block noted the local distances between places distances downstream from Pittsburgh. 16 Cramer: The Navigator. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 57 JAMES R. AKERMAN Figure 2: Zadok Cramer, The Navigator (Pittsburgh: Cramer, Spear, and Eichbaum, 1814). Courtesy of the Newberry Library. Maps did not make their appearance until the fifth edition of 1806, covering only the lower Mississippi at first, with the addition of the Ohio in 1808. Cramer’s hum- ble wood-engraved maps were hardly elegant (Figure 2), but they were functional and, it seems, reliable. Cramer claims that his Ohio maps were produced by actual survey and the Mississippi by a combination of survey and consultation with existing charts.17 The symbolic repertoire of the maps was not explained but is easily un- derstood. A white centerline indicates the preferred channel. Islands were num- bered successively as encountered on a downstream system (his innovation). Cross-hatched grey areas represent sandbars and shoals. Other symbols and type- set text identify settlements, forts, individual plantations or farmsteads, and the oc- casional larger town. The maps and the navigational content are in close corre- spondence, though with some limitations. Most places mentioned appear both on map and text, but the maps relating to specific blocks of text might be separated 17 Yost (ed.): The Ohio and Mississippi Navigator of Zadok Cramer: Third and Fourth Edi- tions. Cramer acknowledges a chart of the Mississippi from the mouth of the Ohio to Natchez given him by Mr. Charles Wilkins of Kentucky, other material supplied by a Mr. Chambers of Cincinnati, and other charts taken from an »actual survey« from Natchez to New Orleans, Cramer: The Navigator, introduction. NAVIGATIONEN 58 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS by one or two pages. The maps in the 12 confirmed editions published between 1801 and 1824 were little changed, despite the fact the courses of the rivers them- selves were highly volatile. Text could and did change, but the woodcuts are not easily modified, steadily degrading their value as navigational tools.18 The popularity of The Navigator was bound to inspire imitators and successor publications. Samuel Cumings’ Western Pilot saw 17 iterations edited by Cumings and his successors from 1822 to 1847. The arc of the publication of Cumings’ guide coincided with the blossoming of steamboat traffic on the Mississippi and Ohio. Steamboats opened the river passage to travelers—tourists, we may now call them—who focused on the pleasures of the passing scenery and the novelty of river travel, rather than on navigation. The introduction to Conclin’s New River Guide or Gazetteer (1848) represented it as a »book for all travellers,« noting that »the travelling community has long demanded a book that would point out to them as they passed up or down over Western waters, the different localities, and give some account of their history, population, commerce, pursuits, etc... and the char- acter of the country in the interior.«19 Despite their persistence, by the end of the 1820s river guides had ceded their prominence to guides and maps that offered a wider geographical scope and a more complex picture of American routes of travel. The pacification of the Canadian bor- der and opening of the Erie Canal in 1825 cleared the way for American coloniza- tion of northwestern New York and the southern shores of the Great Lakes. Fur- ther south, the National Road, the Pennsylvania Canal, and the Chesapeake and Ohio Canal eased travel across the Allegheny and Cumberland Mountains, while other north-south canals linked the Great Lakes to the Ohio Valley.20 Almost as soon as these canals were built they were challenged by railroads, which spread across the Midwest as far as and beyond the Mississippi by the end of the 1850s. None of these developments, however, diminished importance of the turnpike and common road as effective routes of overland trade and travel, both local and long- distance. Quite the contrary, the itineraries and maps in travelers’ guides from the 1820s to the 1850s reflect the multiplicity of and competition among different modes of travel, as well as their rough integration. 18 One exception is this small modification of Mississippi map No. 4 near islands 57 and 58. Associated text inearlier editions warn navigators to stay to the right of these islands, as indicated on the map, and warn of a sandbar on the left bank to be avoided. Later editions identify this sandbar as a suitable landing place and mention a small alternative channel to the left of the islands that provides access to and exit from this landing. 19 Conclin: New River Guide or Gazetteer, p. 4. There were seven editions published be- tween 1848 and 1855, published in Cincinnati, first by H.S. & J. Applegate, then by J. A. & U. P. James. 20 These include the Ohio and Erie Canal (built 1825-32) which, in effect, connected the Portsmouth, on the Ohio with Cleveland; Miami and Erie Canal (1825-45), which linked Cincinnati and western Lake Erie at Toledo; the Wabash and Erie Canal (opened in part 1843) from Terre Haute, Indiana, to a junction with the Miami and Erie Canal; and the Illinois and Michigan Canal, a link from Chicago to the Illinois River, which opened in 1848. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 59 JAMES R. AKERMAN The motivations for travel were also becoming more complicated. Mapmakers and guidebook publishers like Conklin found that their products had to appeal not only to migrants but also to tourists. Guidebooks and maps for travelers made little distinction between the two groups. Rightly concluding that the practical needs of both groups were essentially the same, publishers adopted titles that cited both »tourists« and »emigrants,« or neutrally addressed »travelers.« 4. GENERAL TRAVELERS’ MAPS AND GUIDES General guidebooks, covering the entire country or larger swaths of it, offered guidance to multiple destinations and itineraries, providing comprehensive infor- mation about major routes, whether by water, road, or (in time) rail. They incor- porated variable quantities and types of text, including tabular itineraries, descrip- tions of towns and other localities, practical travel information (what to bring, what to expect, modes of travel, and costs), and, in many instances, historical sketches. Descriptive text was organized either geographically or alphabetically, in the man- ner of a gazetteer. Melish’s Travelers’ Directory (1814) was the archetype: a balance of descriptive text and itineraries, accompanied by general map providing an overview of the United and its transportation system, formatted and bound in a convenient package only 16 cm. high (Figure 3). The first 32 pages offer a brief »Geographical descrip- tion of the United States,« organized from north to south, then west, accompanied by four small maps of the vicinities of Boston, New York, Philadelphia, and Balti- more/Washington, reproduced from Melish’s earlier works. A second section, numbering 100 pages, consists of tabular itineraries covering the entire country, beginning with the major cross-country routes, followed by shorter routes orga- nized by state and territory. The accompanying fold-out map of the United States, printed on »bank-note« paper for durability, was no mere afterthought, but was meant to supplement the wayfinding information of the itineraries, reinforcing them through graphic representation, and with the index, adding flexibility to the estab- lished routes described by the itineraries.21 21 Melish: The Travellers’ Directory through the United States. NAVIGATIONEN 60 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS Figure 3: John Melish, The Travelers’ Directory (Philadelphia: Melish, 1814). Courtesy of the Newberry Library. The most important innovator in American travel map publication in the 1820s and 1830s was H. S. (Henry Schenk) Tanner. Originally an engraver working for Melish and others, by the mid-1820s he was established as a publisher of general and trav- elers’ maps, atlases, and guidebooks. His 1825 map, The Traveller’s Guide: Map of the roads, canals and steam boat routes of the United States, advertises that it was specifically »designed for the use of travellers«. (Figure 4) A dense network of turn- pikes (marked by hashed double lines) and »common roads« (marked by hollow lines); bold numbers along each route segment indicate the distances between towns. Major canals (marked with solid lines) are similarly treated. Steamboat routes on navigable rivers, canals, or coastal waters, receive special attention in 22 tabular itineraries enclosed in a cartouche on the lower right corner of the map. To facilitate comparison of these tables with the map, Tanner refers each listed place name to an alphanumeric index provided on the outer margins of the map. It may be inferred that Tanner expected the map, which folded to pocket size, could be effectively used to address most travelers’ navigational needs without additional supporting text. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 61 JAMES R. AKERMAN Figure 4: Henry Schenk Tanner, The Traveller’s Guide: Map of the roads, canals and steam boat routes of the United States (Philadelphia: H. S. Tanner, 1825). Source: David Rumsey Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford Libraries. By the early 1830s, the growing complexity of the national transportation network justified Tanner’s decision to publish a substantial textual accompaniment to his large travelers’ map, titled The American Traveller. He approached this text as sys- tematically as he did his maps. The work was arranged according to an unusual gazetteer format, which listed states, major cities and towns, canals, and railroads in a single alphabetical sequence. (Hence »Albany« followed »Alabama.«) Descrip- tions of major cities and towns were followed by tabular itineraries of routes lead- ing from them; maps of several of the largest cities also accompany their entries. Tanner provided tabular itineraries also for each railroad and canal in their turn in the alphabetical sequence. Smaller places were simply listed in alphabetical se- quence, although each was indexed to the map by a number corresponding to a rectangular »rhomb« (quadrilateral) on the map. For example, Monticello, Missis- sippi could be found in rhomb 296 and Monticello, Alabama in rhomb 301. Tanner’s greatest rival in this market during the 1830s and 1840s was Samuel Augustus Mitchell, whose publications relied more extensively on maps made by others. In 1832 Mitchell issued the first edition of his large folded map, Mitchell’s Traveller’s Guide through the United States (Figure 5), prepared by James Hamilton NAVIGATIONEN 62 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS Young, with whom Mitchell had a long working relationship.22 Its publication his- tory closely paralleled Tanner’s comparable map: it was initially issued separately under its own cover, but after 1834, it was also published with a booklet, The Prin- cipal Stage, Steam-boat, and Canal Routes in the United States.23 The booklet con- sisted almost entirely of tabular itineraries, arranged by state; unlike Tanner’s Amer- ican traveler, it included no local maps. It made up for this in depth. The 1836 edition (986pp.) contained 534 itineraries, of which 478 were stage routes, 33 were rail or canal routes, and the remainder composite long-distance routes. Figure 5: S. Augustus Mitchell, Mitchell’s Traveller’s Guide through the United States (Philadel- phia: A.A. Mitchell, 1832). Source: David Rumsey Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford Libraries. By 1850, the national route network of stage, water, and rail routes had indeed grown so dense and interconnected, that readers must have required great con- centration to follow the maps effectively. Several publishers abandoned the model set by Tanner by publishing maps and guidebooks that mostly ignored roads, in- stead focusing on steamboat routes, canals, and railroads. One example, Pratt’s 22 Young: Mitchell’s Travellers guide through the United States. 23 Mitchell: The Principal stage, steam-boat, and canal routes in the United States. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 63 JAMES R. AKERMAN River and Railroad Guide (1848), depicts a national transportation network in transi- tion. It did not include a general map of the United States, but featured 26 small maps, primarily of sections of the »Mississippi, Missouri, Ohio, Illinois and Hudson Rivers,« but with attention to the growing supplement of »connecting lines of rail- road between Boston and New Orleans« (Figure 6).24 A year earlier (New York, 1847) John Doggett had published a general map of the United that showed only working railroad lines as an accompaniment to his United States Railroad & Ocean Steam Guide.25 Still more specialized maps and guides to railroads followed the rapid growth of the rail network in the 1850s. This, and American political expan- sion to the Pacific coast rendered a pocket sized comprehensive national map and/or guidebook to all stage, rail, and water routes, more and more impractical. The general guide pioneered by Melish, Tanner, and Mitchell persisted into the 1850s, but effectively disappeared after the Civil War. Figure 6: John William Orr, Pratt’s River and Railroad Guide (New York: F.M. Pratt, 1848). Courtesy of the Newberry Library. 24 Pratt: Pratt’s river and railroad guide. 25 »Map of the United States of America to accompany Doggett’s rail road guide« in Dogget: Doggett’s United States railroad and ocean steam navigation guide. NAVIGATIONEN 64 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS 5. MAPPING FOR MIGRANTS Before the mid-1840s, the great majority of guides and maps targeted at migrants focused on what we now call the Midwest.26 Though the majority of works in this category were created by map and geographical publishers in major eastern cities, the impetus for publication and much of the content often came from local resi- dents, the recently transplanted, or from easterners with vested interests in the territories in question. The expansion of the American map trade in the intervening years meant that the author-entrepreneurs of the West were less reliant on their own mapmaking skills and resources. For his Letters from Illinois (Philadelphia, 1818), Morris Birkbeck turned to John Melish to produce two custom maps. A general map by Melish shows the route of Birkbeck’s journey of 1817, from Nor- folk, Virginia to southern Illinois, where he intended to found, with fellow Quaker and agricultural reformer George Flower, a semi-utopian farming and pastoral community for English migrants.27 In addition to documenting Birkbeck’s journey they would have served to show how readers could themselves follow him to Illi- nois, serving both the promotional and practical goals of the publication. A second larger-scale map (Figure 7), »English Prairie,« further supported these goals, show- ing the location of the proposed settlement relative to the southern Illinois entrepot and government land office at Shawneetown, on the Wabash River and the con- necting waters of the Ohio River. This map, like many travel maps of the Midwest, prominently featured the grid of the U.S. Public Land Survey, the system by which most American land west of the Appalachians was subdivided and sold to settlers and land speculators. For potential migrants, the presence of the survey grid on maps had both iconic and practical significance carrying equal weight with routes of travel. The expanding grid was copied nearly verbatim from General Land Office publications issued by general commercial publishers such as Carey & Lea, and made its way in some form into nearly every travel publication. The maps of the »bounty lands« in western Illinois set aside for veterans of the recent war, published by Nicholas Bid- dle Van Zandt and Edmund Dana in 1818 and 1819, respectively,28 were meant 26 In general, Ohio, Indiana, Illinois, Michigan, Wisconsin, and adjacent Transmississippi of parts of Minnesota, Iowa, and Missouri. 27 See Birkbeck: Letters from Illinois. In the previously published account of his journey to Illinois, Birkbeck wrote that »A kind friend put into my hands, just before our departure, a series of geographical works, lately published by Mr. Mellish of Philadelphia.« (Birkbeck: Notes on a journey in America). 28 Nicholas Biddle Van Zandt’s »A general plat of the military lands, between the Mississippi & Illinois Rivers from the official surveys and drawn upon a scale of four miles to the inch,« in Van Zandt: A full description of the soil, water, timber, and prairies; and Edmund Dana’s »Map of the military bounty lands in the state of Illinois, from actual survey, by Edmund Dana & John McDonald, who surveyed the land,« in Dana: A description of the Bounty Lands in the State of Illinois. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 65 JAMES R. AKERMAN both to inspire migration and to orient potential migrants to the district.29 Van Zandt was a former federal surveyor, and his highly detailed map shows topo- graphic details down the sectional level, gleaned from original Land Office survey plats and notes. Dana’s map is much smaller and appears to be based more directly on the 1818 land office plat of the bounty lands by John Gardiner, which was used directly in land transactions. Two thirds of Van Zandt’s 127-page text consists of descriptions of the topography, soil, climate, and vegetation of each 36-square mile township, apparently digested from Land Office field notes. Travel instructions, in- cluding several itineraries are also provided. Figure 7: John Melish, »English Prairie,« in Morris Birkbeck, Letters from Illinois (Philadelphia: Mathew Carey, 1818). Courtesy of the Newberry Library. The frontier of surveyed land is clearly visible on most of these maps. Though set- tlement was effectively limited to what was surveyed, the implication of the obvi- ously unfinished grid on the maps, reinforced by accompanying text, was that new territory was almost continuously opening to non-natives. John Farmer adjusted 29 As it turned out, much of the charters to parcels were bought up by speculators from veterans who did not intend to redeem them. NAVIGATIONEN 66 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS the scales and orientations of his several guides and maps to Michigan and Wiscon- sin territories published between 1826 and 1836 to accommodate the expansion of the Public Land Survey in the territories in the form of county governments. The earliest of these, Map of the Surveyed Part of the Territory of Michigan on a Scale of 8 miles to an Inch (1826),30 included only what is now the southeastern part of the state, within forty miles of Detroit. An »improved« version of this map on the same scale appeared in 1829 incorporating the more recently surveyed southwestern part of the state.31 Anticipating the needs of market traveling north and west, in 1830 Farmer published a third map, larger in geographical scope but smaller in scale, embracing the whole of Michigan Territory, adopting an unusual odd north- eastern orientation to embrace the Upper Peninsula and Wisconsin (then a part of Michigan Territory; Figure 8).32 Figure 8: John Farmer, Improved Map of the Territories of Michigan and Ouisconsin (pronounced Wisconsin) (New York: J.H. Colton & Co., 1836). Courtesy of the Newberry Library. Similarly, Henry Abel’s Traveller’s & Emigrants Guide to Wisconsin & Iowa (1838), features a »Map of the settled part of Wisconsin,« prepared by J. H. Young and published by S. Augustus Mitchell. Like John Farmer’s early maps of Michigan, it emphasizes only the portions of the new territories that were settled enough to be 30 Farmer: An improved map of the surveyed part of the Territory of Michigan on a scale of 8 miles to an inch. [1826] 31 Farmer: An improved map of the surveyed part of the Territory of Michigan on a scale of 8 miles to an inch. [1828] 32 Farmer: Map of the Territories of Michigan and Ouisconsin on a scale of 30 geographical miles to an inch. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 67 JAMES R. AKERMAN formed into counties. An inset at upper left, however, shows the full extent of the two territories as then defined, anticipating future growth of non-native settlement. The geographical framing of the map is mindful as well of the migrant’s need for information about the eastern approaches to the territory by including northern Illinois, northwestern Indiana, and much of Lake Michigan. Finally, it prominently marks two proposed railroads that would afford transportation from Lake Michigan and the then under construction Illinois and Michigan Canal into the interior of the territories from the east.33 More comprehensive maps of Midwestern states appeared in the 1830s and 1840s, produced with a high level of detail, suitably large for hanging on a wall, but accompanied by equally ambitious books. The career of John Mason Peck’s maps of Illinois was typical of these developments. A Baptist missionary and antislavery activist, Peck’s itinerant preaching gave him intimate knowledge of much central and southern Illinois and adjacent Missouri and reason to promote settlement of the region. His Guide for Emigrants Containing Sketches of Illinois, Missouri, and the adjacent parts (1831), was accompanied by a small anonymous map of the »West- ern States« that merely showed the outlines of the states, lakes, and rivers, plus the two canals under construction in Ohio.34 Dissatisfied with the quality of maps of Illinois available for travelers »issued by publishers in eastern cities,« he engaged the help of prominent surveyor and politician, John Messinger, to prepare an entirely new map based on General Land Office surveys and local observation. A first draft of sorts still modest scale of 1:1,600,000, was published in Cincinnati by Doolittle and Munson in 1835.35 To bring a still larger map on the scale of 10 inches to the mile to fruition he turned to the New York publisher, J. H. Colton. Peck and Messinger’s New sectional map of the State of Illinois was published as a separate folded map in 1836, appearing in several further editions all the way to 1869. Similar large scale »sectional« maps of rapidly colonizing Midwestern states and territories were published in the 1840s and 1850s by several publishers, including Farmer and Milwaukee publisher Silas Chapman who issued maps of Minnesota, Iowa, Illinois, and Wisconsin.36 A copy of the 1855 edition of Chapman’s map of Wisconsin in the Newberry Library (Figure 9) demonstrates the value of the delin- eation sectional boundaries to potential migrants or investors. A series of annota- tions along the western edge of the map describe what was apparently a recon- naissance of lands along the Mississippi and St. Croix rivers all the way to Lake 33 Abel: Traveller’s & Emigrants Guide to Wisconsin & Iowa. 34 Peck: A Guide for Emigrants Containing Sketches of Illinois, Missouri. 35 Messinger/Peck: A new map of Illinois and part of the Wisconsin Territory. 36 Chapman: Chapman’s New Sectional Map of Minnesota; Chapman: Chapman’s New Sec- tional Map of Illinois; Chapman: Chapman’s New Sectional Map of the State of Iowa. NAVIGATIONEN 68 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS Superior, at the site modern twin cities of Duluth, Minnesota and Superior, Wis- consin.37 Figure 9: Silas Chapman, Wisconsin, a Sectional Map with the Most Recent Surveys (Milwau- kee: S. Chapman 1855). Courtesy of the Newberry Library. By this time, national and regional publishers were actively publishing maps and guides in support of migration still farther west. Guides to the American colonies in Texas with maps appeared in the years before its declaration of independence in 1836. The first guide and map encouraging American migration to Oregon were published by Hall J. Kelley in 1830 for the Oregon Colonization Society.38 The re- sponse of commercial map and guidebook publishers to the discovery of gold in California was nearly instantaneous and voluminous.39 Specialized guides and maps for the territories of the western Great Plains would not be far behind. 37 Chapman: Wisconsin: A Sectional Map with the Most Recent Surveys. The referenced Newberry Library copy is G 10902 .163 38 Kelley: A geographical sketch of that part of North America called Oregon. This was the first of several such productions by Kelley in the 1830s. See Wheat, Mapping the Trans- mississippi West, 1540-1861, vol. 2, p. 98. 39 See Wheat: Mapping the Transmississippi West, 1540-1861, vol. 3, pp. 49-91. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 69 JAMES R. AKERMAN 6. TOURISTS, TOURS, AND DESTINATIONS Though migration remained the primary motivations for travel map publication for the Middle and Far West until 1860, specialized maps and guidebooks specifically intended for recreational and leisure travel steadily grew in number in the 1830s- 1850s. The pacification of the Canadian frontier opened the gates to the develop- ment and settlement of northwestern New York, but also to tourists drawn from the major urban centers on the Atlantic coast to Niagara Falls and other inland resorts. The completion of the Erie Canal in 1825 accelerated these trends, and by the 1830s and early 1840s, Niagara was the subject of several specialized guides, some of which included maps.40 The Niagara region was also one of several high- lights of guidebooks and maps devoted to an emerging »fashionable« northern tour out of New York, Boston, and other eastern centers, which also described the spa towns of Saratoga Springs and Ballston Springs, Lake George, Lake Champlain, the Hudson River, the Finger Lakes, the White Mountains, the Adirondacks, and the Canadian St. Lawrence Valley. Some guidebooks focused exclusively on this tour or its elements, while others coupled it with further tours to the west from Buffalo and the other port cities of Lake Erie. The literature devoted to this region (with some notable exceptions farther west and south) constituted the mainline of Amer- ican tourist publishing before the Civil War, and incorporated both indifferent and highly innovative cartography. Figure 10: Theodore Dwight, The Northern Traveller (New York: G. & C. Carville, 1828). Cour- tesy of the Newberry Library. 40 For example, Parsons: A Guide to Travelers Visiting the Niagara Falls; De Veaux: The Falls of Niagara; Orr: Pictorial Guide to the Falls of Niagara. NAVIGATIONEN 70 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS Theodore Dwight’s Northern Traveller, published for the first time in 1825, was the most successful of these early northern guidebooks, and the most innovative in its use of cartography (Figure 10). The 406-page third edition (1828) consisted of ten narrative itineraries offering guidance on modes of travel and descriptions of points of interest, towns, and accommodations, along popular (»From New-York to Ni- agara,« »From New-York to the springs,« etc.), as well as five chapters on major cities.41 Tabular itineraries, most importantly for the Erie Canal, were scattered throughout the book. There were nineteen one-page engraved maps: a general map showing the scheme of the main routes and their branches described by the itineraries and eighteen sectional maps organized around portions of the Hudson River, Erie Canal, Lakes George and Champlain, the St. Lawrence River, and the Connecticut Valley. Though centered on the navigable rivers and canals that fea- tured in the state-of-the art transportation technology of the day, the simple and uniformly executed maps also marked intersecting and parallel roads, such as those linking the spas to the Upper Hudson Valley and Lake George. The Hudson River leg of the northern tour spawned a several separate guide- books and maps oriented to steamboat excursionists, sometimes supplemented with descriptions of the Erie Canal or north to the St. Lawrence Valley via the Champlain Canal (opened in 1823). The market was sufficiently large by the early 1830s to support rival publications by William Cammeyer, George Fowler, and Thomas Morrison. These were strip maps, mounted either on elongated strips of paper, but all folding to a convenient and portable size inside cloth or heavy paper covers. All three also show the roads that paralleled the river, as well as connecting routes radiating from the river to Saratoga and Ballston Springs, cities and towns off the map, and other places of interest to travelers (Figure 11).42 Figure 11: Thomas Morrison, A Map of the Hudson River (Philadelphia: Morrison, 1845). Source: David Rumsey Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford Libraries. 41 Dwight: The Northern Traveller. 42 Cammeyer: A new map of the Hudson River; Fowler: Fowler’s new map of the Hudson River; Morrison: Morrison’s North River traveller’s companion. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 71 JAMES R. AKERMAN John Disturnell ascended to a leading place among publishers serving the Eastern tourist market during the 1840s, developing titles with varying regional coverage, all of which incorporated elements of the northern tour. These included The New- York State Guide (1843), The Western Traveller (New York, 1844), The Northern Traveller (1844), The Eastern Tourist (1848), Summer Arrangements: Guide through the Middle, Northern, and Eastern states (1848), and O. L. Holley’s Picturesque Tour- ist (1844). New editions of several of these guides were still being published in the 1860s. The cartographic content of these works varies, with the emphasis put on small size and low cost in all except Holley’s book. Not all of these publications included large compliments of maps. The Western Traveller (1844), for example fo- cused on travel in western New York, including the Finger Lakes, Niagara, Lake Ontario, and beyond as far as Chicago. Only 15 cm. tall and 90 pages in length, most of it was devoted to descriptions of routes and the towns along them. It lin- gers only in the Niagara region, the subject of the guide’s only maps and illustra- tions: a plan of the vicinity of the Falls, map of the Niagara »strait« and three views. The narrative portion of the guide is organized geographically and at least one copy, in the Newberry Library, documents how travelers used this narrative as a record of their progress. This copy has more than forty penciled annotations of them, doc- umenting a trip made by a party of tourists in the summer of 1844.43 These include notes about costs and times of departure for boats that correct the printed infor- mation and the dates when the travelers passed through specific localities. A note (p. 45) next to the description of Canandaigua indicates that the travelers visited there »on our return from Niagara, June 28, 1844.« These annotations, we must presume, were made by tourists who were lived comfortably and could afford such a journey in an era when most of the middle and working classes lacked the re- sources, let alone the leisure time to make such journeys unless they themselves were migrating. In the mid-1840s leisure travel, like leisure itself, was a luxury, and before the Civil War and the coming of railroad travel guidebooks reaching out to tourists remained confined to northeastern subjects and river guides. 7. CONCLUSION After the annexations of the late 1840s the guidebooks and maps for travelers to the Far West proliferated, but the publication of travelers’ aids for use in the Old Northwest, adjacent states, and points farther east remained undiminished. There were nevertheless significant changes in their content and character. Already by the end of the 1850s, the standard general guides and maps for travelers published in the United States had become dominated by railroad timetables supplied by the railroads themselves. This shift to railroads became even more pronounced after the Civil War as the railroad network rapidly expanded to nearly 200,000 miles by 43 Disturnell: The Western Traveller. The Newberry Library, Ayer 138 .N7 .D614 1844. NAVIGATIONEN 72 NA VIG IEREN ITINERARIES, GUIDEBOOKS, MAPS 1900. New commercial publishers such as Rand McNally entered the market with great success by focusing on railroad maps issued either under their own name or in promotional pamphlets and guidebooks issued by the railroads themselves. Interestingly, though the railroad system offered travelers many new choices of routes and destinations, the fixed route of the railroad and its speed lessened passenger interest in navigation. The travelers’ guides of the first half of the nine- teenth century required close reading of navigational narratives and itineraries cross-referenced with generalized maps of route choices. Railroads made travelers captive audiences, who took little active interest in navigation. For wayfinding all they needed was a general map of a railroad or rail network and an accurate time- table. To be sure, this was true to some extent for earlier generations of stagecoach passengers and canal and steamboat passengers. But while these modes of trans- portation competed with each other and railroads were young, travelers were faced with more complex choices. They had to be more self-reliant in their naviga- tional choices, and more attentive to the passing landscape. Both the complexity of travel maps in this earlier era and the size and detail of accompanying navigational text reflected this self-reliance. BIBLIOGRAPHY Abel, Henry I.: Traveller’s & Emigrants Guide to Wisconsin & Iowa accompanied with a new and improved map of the territories, Philadelphia, PA 1838. Bickham, Troy: The Weight of Vengeance: The United States, the British Empire, and the War of 1812, New York, NY 2012. Birkbeck, Morris: Letters from Illinois, Philadelphia, PA 1818. Birkbeck, Morris: Notes on a journey in America, from the coast of Virginia to the Territory of Illinois, Philadelphia, PA 1817. Brueckner, Martin: The Social Life of Maps in America, 1750-1860, Chapel Hill NC 2017. 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Die Frage nach entsprechenden Karten-Up- dates ist dabei aber keine, die nur moderne Navigationssysteme betrifft, sondern vielmehr eine, die der Kartennutzung generell eigen ist. Im vorliegenden Beitrag wird deshalb der Praxis der Evidenthaltung am Beispiel des k. u. k. militär-geogra- phischen Institutes nachgegangen, die sich in historischer Perspektive als sehr auf- wendig darstellt. Dabei wird auch darauf eingegangen, dass der Kartengebrauch räumliche Verhältnismäßigkeit (Maßstab) ebenso voraussetzt wie zeitliche, d.h. dass das Wiederfinden in der Karte ihre Aktualität zur Bedingung hat. KEYWORDS: Landesaufnahme, Kartografie, Referentialität, Medientechnik, Orien- tierung 1. EINLEITUNG Die Praktik der Navigation umfasst ein Ensemble von meist technisch verfassten Maßnahmen zur Bestimmung des Standortes und zum Halten des Kurses. Dabei ist die Bestimmung des Ortes immer eine relationale, die nur unter Zuhilfenahme be- stimmter Medien bewerkstelligt werden kann.1 Diese relationale Örtlichkeit ist zu- gleich auch Bedingung dafür, dass wir uns in der Welt zurechtfinden und uns mit anderen über sie austauschen können.2 Karten gehören zu jenen Medien, die Na- vigation ermöglichen und sie tun dies, indem sie Orte zueinander in Beziehung setz- ten. Mittels kartografischer Inskriptionen können zwei Punkte miteinander verbun- den werden, deren Beziehung der Wegstrecke zwischen zwei konkreten Orten in der Welt entspricht.3 1 Zum Aspekt des Relationalen der Navigation siehe auch den Beitrag von Florian Sprenger in diesem Band. 2 Absolute Örtlichkeit ist dagegen nur in der eigenen Leiblichkeit zu finden, sie hat etwas Exklusives, das mit niemanden geteilt werden kann. Vgl. Böhme: Leib. 3 Zu den ersten für den Gebrauch bestimmten Karten zählen Itinerare. Eine der bekann- testen dieser Itinerare ist die Tabula Peutingeriana, eine kartografische Darstellung des römischen Verkehrsnetzes aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n.Chr. Sie umfasst die Britischen Inseln, den Mittelmeerraum und den Nahen Osten und erstreckt sich wei- ter bis nach Indien und Zentralasien. Die Karte ist stark schematisiert und entspricht eher einem Topogramm, als einer topografischen Landkarte im modernen Sinn. Einer der NAVIGATIONEN NA VIG IEREN MANFRED PFAFFENTHALER Karten sind Medien der Verhältnismäßigkeit. Sie sind gekennzeichnet durch das Verhältnis der einzelnen Punkte zueinander und durch ihr Verhältnis zum ab- gebildeten Territorium. Ihr Maßstab drückt das Verhältnis zwischen der abgebilde- ten Größe und ihrer Entsprechung in der Welt aus. Analog zur Abbildung der räum- lichen Wirklichkeit finden wir in Karten aber auch eine relationale Zeitlichkeit. Sie sind Momentaufnahmen eines Terrains, die einer ständigen Revision bedürfen, soll ihre Aktualität gewährleistet bleiben. Im Moment ihrer Entstehung sind Karten be- reits veraltet, zumal das grafische Festhalten des Raumes nicht das Voranschreiten der Zeit verhindert. Diesem Umstand wird im vorliegenden Beitrag Rechnung ge- tragen, der sich dem Problem der Evidenthaltung am Beispiel der kartografischen Praktiken des k. u. k. militär-geographischen Instituts (in Folge als MGI abgekürzt) widmet.4 Evidenthaltung gehörte zu den Kernaufgaben jeder kartenproduzierenden Ein- richtung, wie etwa auch Wilhelm Wiesauer, Leiter der »Karten-Evidenthaltungs- Abtheilung«5 des MGI, 1901 feststellte: Karten sind Momentbilder der Erdoberfläche. – Die fortschreitende Cultur, theilweise auch zerstörende oder neubildende Elementare-Er- eignisse ändern jedoch rasch die Oberfläche, so dass nach verhältnis- mäßig kurzer Zeit die Bilder veralten. Soll die Kartographie den Anfor- derungen des Fortschrittes entsprechen, muss sie diesem Umstande Rechnung tragen und ihre Werke so rasch und vollständig, aber auch so genau als möglich ergänzen und berichtigen. Damit sind die Anforde- rungen an eine zeitgemäße Evidenthaltung der Detailkarten im allge- meinen gekennzeichnet.6 Gerade in historischer Perspektive stellt sich die Evidenthaltung als sehr aufwendi- ges Unterfangen dar, weshalb große kartografische Anstalten auch eigene Abteilun- gen zur Evidenthaltung ihrer Kartenwerke unterhielten. Der erste Teil des vorlie- genden Beitrags bietet einen gerafften Überblick über die habsburgischen Hauptzwecke der Tabula Peutingeriana war, die Relation der einzelnen Punkte innerhalb des Netzes darzustellen, was sich vor allem in der Angabe der Entfernung zwischen den Orten widerspiegelt. Die Straßen sind als rote Linien verzeichnet, die in Etappen (Tages- märsche) unterteilt sind, die mithin Tagespfaden im Sinne Torsten Hägerstrands entspre- chen; siehe hierzu den Beitrag von Hägerstrand in diesem Band. Zusätzlich wurden wei- tere Informationen, wie Pferdewechselstationen oder markante Landschaftspunkte, wie Leuchttürme, angeführt, die zur weiteren Orientierung dienten. Vgl. Rathmann: Tabula Peutingeriana. 4 Das Institut wurde bis 1888 als k. k. Militärgeographisches Institut bezeichnet. Von 1888 bis 1918 war seine offizielle Bezeichnung k. u. k. Militärgeographisches Institut. Vgl. Mess- ner: »Das Wiener Militärgeographische Institut«, S. 206. 5 Die Rechtschreibung von institutionellen Eigennamen richtet sich im Folgenden nach de- ren Originalschreibweise. 6 Wiesauer: »Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen In- stitutes«, S.114. NAVIGATIONEN 78 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT Landesaufnahmen und eine kurze Vorstellung des MGI. Im zweiten Abschnitt wird die Organisation der Evidenthaltung beschrieben, die ein sehr aufwendiges Unter- fangen darstellte und deshalb einer Vielzahl von Akteuren bedurfte. Im abschlie- ßenden Teil wird auf die Praxis der Evidenthaltung genauer eingegangen, bei der es eine Balance zwischen Genauigkeit der Aufnahme und Schnelligkeit der Durchfüh- rung zu finden galt. Die Akkuratesse der Karte beruht dabei auf ihrer Referentiali- tät, d.h. auf ihrer engen Beziehung zum abgebildeten Territorium. Abschließend führt dieses Kapitel zurück zur Navigation und zur Frage nach dem Kartenge- brauch, für deren Beantwortung die relationale Zeitlichkeit der Karte zentral ist. 2. DIE HABSBURGISCHEN LANDESAUFNAHMEN UND DAS K. U. K. MILI- TÄR-GEOGRAPHISCHE INSTITUT7 Möglichst umfassendes Wissen über den zu beherrschenden Raum zu generieren, ist ein zentrales Anliegen moderner Staatlichkeit. Für die staatliche Verwaltung war die Kartografie zunächst ein Mittel der Durchdringung und Aneignung des Territo- riums, um sich so den Zugriff auf unterschiedliche Ressourcen zu sichern.8 Die gro- ßen staatlichen Landvermessungsprojekte können – wie Gugerli und Speich für die Schweiz herausgearbeitet haben – demnach auch zurecht als »Nukleus der zentra- len Verwaltung« bezeichnet werden.9 In der Habsburgermonarchie fällt der Beginn der großen staatlichen Vermessungsprojekte in die zweite Hälfte des 18. Jahrhun- derts. Im Zuge dieser neuen kartografischen Herausforderungen konnte die Mili- tärkartografie deutlich an Bedeutung gewinnen. Unmittelbar nach Ende des Sieben- jährigen Krieges 1763, der für Kaiserin Maria Theresia den endgültigen Verlust Schlesiens bedeutete, wurde der Generalquartiermeisterstab10 beauftragt, eine kartografische Aufnahme der Länder der Monarchie durchzuführen.11 Das bereits im darauffolgenden Jahr begonnene Vermessungsprojekt wurde 1787 nach 23 Jah- 7 Die Ausführungen zur habsburgischen Landesaufnahme und zur österreichisch-ungari- schen Militärkartografie in diesem Unterkapitel überschneiden sich mit einem bereits publizierten Aufsatz: Pfaffenthaler: »Triangulation politischer Einflusssphären«. 8 Wichtige Impulse für die staatliche Kartographie gingen von Frankreich aus, wo bereits 1750 mit einer vollständigen Landesaufnahme unter der Leitung von César François Cas- sini de Thury begonnen wurde. Die nach ihm benannte Carte de Cassini stellt eines der bedeutendsten modernen Kartenwerke dar, da darauf zum ersten Mal das gesamte Ter- ritorium eines Staates auf der Grundlage moderner Aufnahmemethoden dargestellt wird. Die Carte de Cassini – auch Carte de France genannt – beruht dabei auf umfassender Triangulierung, die durch topographische Detailaufnahmen ergänzt wurde. Vgl. Dörflin- ger/Wagner/Warwik: Descriptio Austriae, S. 28. 9 Vgl. Gugerli/Speich: Topografien der Nation, S. 20. 10 Beim Generalquartiermeisterstab handelt es sich um die oberste Militärführung. 11 Ausschlaggebend für die getroffene Entscheidung war die Überzeugung, dass der Verlauf künftiger militärische Konfrontationen wesentlich von der Verfügbarkeit verlässlicher Kar- ten bestimmt werden wird. Vgl. Hofstätter: Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahme. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 79 MANFRED PFAFFENTHALER ren des Vermessens und Kartenzeichnens erfolgreich beendet. Mit seinem Ab- schluss war die Monarchie auf 3.589 Kartenblättern, die allesamt strenger Geheim- haltung unterlagen, vollständig aufgenommen.12 Diese erste umfassende Landes- aufnahme kann als Teil einer Reihe von organisatorischen Maßnahmen und Reformen verstanden werden, die von Maria Theresia und ihrem Mitregenten und Nachfolger Joseph II. angestoßen wurden, um die Effizienz der Staatsverwaltung zu steigern.13 Gleichzeitig verweist der Umstand, dass die erste Landesaufnahme wie auch die darauffolgenden nach den jeweiligen Regenten benannt wurden, auf die Bedeutung und Symbolkraft dieser Unterfangen. So folgten der sogenannten Jo- sephinischen Landesaufnahme auch noch eine zweite und dritte Aufnahme, die als Franziszeische bzw. Franzisco-Josephinische Landesaufnahmen bezeichnet wur- den.14 Das Militär erschien als die richtige Einrichtung zur Durchführung der Landes- aufnahme, zumal es über die personellen Ressourcen und die entsprechende orga- nisatorische Struktur verfügte, um einen solch umfangreichen Auftrag auszuführen. Trotz der unternommenen Anstrengungen wies die erste Landesaufnahme einige Mängel auf, wobei einer der größten das Fehlen einer zusammenhängenden Trian- gulierung war. Unter Kaiser Franz I. erfolgte daher auch der Beschluss, das gesamte Territorium der Monarchie erneut aufzunehmen. Die sogenannte Franziszeische Landesaufnahme begann 1808 und endete erst nach über 60 Jahren im Jahr 1869.15 Die lange Aufnahmedauer mag sich aus den Kriegen und politischen Umbrüchen jener Zeit erklären, zugleich verweist sie aber auch auf den enormen Aufwand ei- nes solchen Unternehmens. In die Zeit der zweiten Landesaufnahme fällt nun auch die Gründung des MGI im Jahr 1839, das zwei Jahre später in das für das Institut neu errichtete Gebäude am Wiener Glacis einzog (vgl. Abb. 1). Das MGI ging ursprünglich aus der Zusam- menlegung des Mailänder Instituto Grafico Militare16 und der Wiener Topogra- phisch-Lithographischen Anstalt hervor. Neben technischen, ökonomischen und organisatorischen Gründen, wie etwa der Erleichterung der Aufsicht durch den Ge- neralquartiermeisterstab, sprachen auch politische und strategische Überlegungen für die Zusammenführung der beiden Institute in Wien. Ein derart wichtiges Institut 12 Von der Aufnahme ausgenommen waren Tirol und die Österreichischen Niederlande, da von diesen schon entsprechende Karten existierten. Vgl. Hofstätter: Beiträge zur Ge- schichte der österreichischen Landesaufnahme, S. 36. 13 Zu den Maßnahmen und Reformen zählten etwa auch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht oder die Erstellung des Katasters zur Erfassung von Gemeinde- und Grund- stücksgrenzen, die u.a. steuerlichen Zwecken diente. 14 Vgl. Dörflinger/Wagner/Wawrik: Descriptio Austriae, S. 38; Hofstätter: Beiträge zur Ge- schichte der österreichischen Landesaufnahme, S. 35ff. 15 Vgl. Dörflinger/Wagner/Wawrik: Descriptio Austriae, S. 31f. 16 Das Institut geht auf eine Gründung Napoleons I. zurück und wird 1814 vom österreichi- schen Generalquartiermeisterstab übernommen. Vgl. Messner: »Das Wiener Militärgeo- graphische Institut«. NAVIGATIONEN 80 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT wie das Mailänder sollte nicht so nahe an der Grenze der Monarchie fortbestehen, da bei einer überraschenden Invasion der Verlust des Instituts und der dort ver- sammelten Karten drohte.17 Wie die beiden bisher genannten Landesaufnahmen zeigen, wurden groß an- gelegte Kartierungsprojekte auf höchster Ebene entschieden. Es entsprach darüber hinaus der Logik der zentralen Verwaltung, das neugegründete MGI in Wien anzu- siedeln. Die dritte Landesaufnahme, die sogenannte Franzisco-Josephinische Lan- desaufnahme, schloss nun unmittelbar an die zweite an. Mit Leitung und Organisa- tion der Vermessung wurde das MGI betraut, das das Aufnahmeprojekt nach nur 18 Jahren (1869-1887) abschließen konnte. Spätestens mit der dritten Landesauf- nahme erlangte das MGI den Ruf eines Instituts von Weltrang, das über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinaus Anerkennung fand. Immer wieder wurden in Wien zivile und militärische Gäste aus dem Ausland empfangen, die sich über die Arbeit des MGI ein Bild machen wollten.18 Die beiden wichtigsten Kartenwerke, die vom MGI herausgegeben wurden, waren die Spezialkarte 1:75.000 und die Ge- neralkarte 1:200.000. Wie die Evidenthaltung dieser Kartenwerke organisiert war und welchen Herausforderungen die beteiligten Akteure zuweilen begegnen muss- ten, wird in Folge besprochen. Abb. 1: Gebäude des MGI (1887) (Quelle: Wien Geschichte Wiki (DYN.cristian), Bildrechte: CC BY-NC-ND 4.0). 17 Vgl. Messner: »Das Wiener Militärgeographische Institut«, S. 254f. 18 Vgl. Hofstätter: Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahme, S. 104; Messner: »Das Wiener Militärgeographische Institut«, 281f. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 81 MANFRED PFAFFENTHALER 3. ORGANISATION UND DURCHFÜHRUNG DER EVIDENTHALTUNG Die Karten-Evidenthaltungs-Abtheilung des MGI wurde 1860 gegründet und be- stand zunächst aus drei Offizieren (Hauptleuten). Vor der Errichtung dieses neuen Ressorts, wurden die Agenden der Kartenberichtigung durch den Institutsarchivar besorgt, der auch für die Revision des Kartenbestands zuständig war. Den Anstoß zur Gründung der Abteilung gab der k. k. Generalquartiermeisterstab, der noch im selben Jahr die Instruction für die Evidenthaltung der Communicationen herausgab.19 Dem Titel dieser Dienstanweisung zufolge, galten die Anstrengungen zur Evident- haltung zunächst den Verkehrswegen (»Communicationen«) der Monarchie, zumal die Aktualität der Karten kaum mit dem raschen Ausbau des Straßen- und Eisen- bahnnetzes mithalten konnte. Gerade die Erweiterung des Bahnnetzes, die um die Jahrhundertmitte im vollen Tempo voranschritt, stellte eine besondere Herausfor- derung dar.20 So gewann die Notwendigkeit der Evidenthaltung mit dem Grad des zivilisatorischen Fortschritts zunehmend an Dringlichkeit, wie auch Zeitgenossen betonten. Dazu nochmal der Leiter der Karten-Evidenthaltungs-Abtheilung, Wil- helm Wiesauer: »Der Evidenthaltung von Detailkarten ist […] ein reiches Feld be- ständiger und emsiger Arbeit geboten. Sie wird umso intensiver sein, je größer und reichhaltiger die culturelle Entwicklung eines Staates ist, je reger die Thätigkeit in allen Zweigen des Lebens sich entfaltet.«21 Mit dem Beginn der dritten Landesaufnahme 1869 ging eine Reorganisation des MGI einher, was für die Karten-Evidenthaltungs-Abtheilung zunächst eine per- sonelle Aufstockung auf acht Mitarbeiter (davon drei temporär) bedeutete. Im Jahr 1874 kamen sechs weitere Mitarbeiter dazu, die mit Revisionsarbeiten betraut wurden.22 Neben der personellen Erweiterung wurde auch eine Änderung der 19 Vgl. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, S. 60f. 20 So wurde etwa das letzte Teilstück der Bahnstrecke zwischen Wien und Triest 1857 ge- schlossen. Als wichtige Etappe auf dem Weg zur durchgehenden Verbindung zwischen Wien und Adria galt auch die Eröffnung der Semmeringbahn im Jahr 1854. 21 Wiesauer: »Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen In- stitutes«, S. 118. Gerade bei militärischen Karten ist die Aktualität von großer Wichtigkeit, wie auch der Kommandant des MGI, Christian Ritter von Steeb betonte, indem er aus- führte: »Die Evidenthaltung der Kriegskarten ist von größter Bedeutung. Bei dem raschen Culturfortschitte der Gegenwart veralten Karten sehr schnell. Die Zeiten sind vorbei, wo man – wie noch vor 35 Jahren – eine Karte fürs Leben kaufte, sorgefältig aufgespannt und adjustiert für den Gebrauch aufbewahrte. Wir sind jetzt gewöhnt, im Bedarfsfalle die neu- este Auflage der Karte zu beziehen, welche thunlichst bis zum letzten Moment richtigge- stellt sein soll.« Vgl. Steeb: »Die Kriegskarten«, S. 147. 22 Vgl. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, S. 63. Die Reorganisation des MGI brachte eine Untergliede- rung in folgende Abteilungen: 1. Direction und Kartenverschleiss, 2. Topographie, 3. Li- thographie, 4. Kupferstich, 5. Pressen, Galvanoplastik und Buchbinderei, 6. Photographie, 7. Karten Evidenthaltung, 8. militärische Zeichnung, Triangulirung- und Calcul-Bureau. Vgl. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, S. 19. NAVIGATIONEN 82 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT operativen Verfahren angestoßen, die sich in Folge als überaus effizient erweisen sollte. Per Anordnung wurden nun auch zivile Behörden dazu verpflichtet alle »Ver- änderungen im Communications-Netz« an das MGI zu berichten. Diese Anordnung betraf zunächst nur die Forstbehörde, doch sie wurde bereits 1875 auf weitere Behörden bis hinab zur Gemeindeebene ausgedehnt.23 Die Bedeutung der Einbin- dung der zivilen Behörden kann kaum überschätzt werden. Obwohl das MGI auf umfangreiche militärische Ressourcen zurückgreifen konnte, die gerade im Hinblick auf die personelle Ausstattung jene von privaten Kartenanstalten bei weitem über- trafen, konnte die Evidenthaltung der Karten nicht alleine bewerkstelligt werden. Es bedurfte des gesamten staatlichen Verwaltungsapparats, der die Monarchie bis in die entferntesten Winkel durchdrang, um das Kartenbild derselben auf aktuellem Stand zu halten. Dazu wurde 1877 auch ein weiteres Dienstbuch mit dem Titel Instruction für die Evidenthaltung der Communicationen in den Kartenwerken des mili- tär-geographischen Institutes veröffentlich und zugleich sämtlichen relevanten Be- hörden die Blätter der Spezialkarte (inkl. eines Zeichenschlüssels) zur Verfügung gestellt, die ihren Amtsbereich umfassten.24 So wurden mit den ausgegebenen In- struktionen nicht nur die staatlichen Kräfte gebündelt, sondern auch das Organisa- tionsprinzip der Evidenthaltung auf den Kopf gestellt. Die Veränderungen des Ter- rains wurden nicht mehr Top-down erfasst, sondern nach dem Prinzip Bottom-up von jenen aufgenommen, die vor Ort waren. Dazu zählten vor allem auch die Bau- ämter, die den jeweiligen Bezirkshauptmannschaften unterstanden. Obwohl die Verkehrswege der Monarchie die Karten-Evidenthaltungs-Abthei- lung im besonderen Ausmaß beschäftigten, wurden die übrigen topografischen Ver- änderungen nicht vergessen. Die aufzunehmenden Elemente wurden dabei nach der Intensität ihrer Veränderung geordnet und in folgende Gruppen unterteilt: 1. Communicationen, 2. Örtlichkeiten, einzelne Objecte und Namen, 3. Culturen, 4. politische Grenzen, 5. Gewässer und Weichlandflächen.25 Bemerkenswert an dieser Aufzählung ist, dass sie, mit Ausnahme des zuletzt genannten Punkts, ausschließlich durch Menschen verursachte Veränderungen um- fasst. Das hat damit zu tun, dass sich das aufgenommene Terrain – sieht man von katastrophalen Naturereignissen einmal ab – kaum änderte. Nicht die lange Sicht der erdgeschichtlichen Transformation ist hier von Interesse, sondern die mensch- liche Tätigkeit, die das Gelände in unterschiedlichem Ausmaß verformt, wie etwa 23 Die Anordnung wurde von höchster Stelle verfügt und vom k. k. Reichs-Kriegsministe- rium, dem k. k. Ministerium des Inneren, dem k. k. Finanzministerium und dem des kö- niglich ungarischen Communications-Ministeriums erlassen. Vgl. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, S. 61f. 24 Vgl. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, S. 62. 25 Vgl. Wiesauer: »Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen Institutes«, S.114-118. Unter Culturen wurden hier landwirtschaftliche Nutzflächen sub- sumiert, wie z.B. Weingärten oder Wälder. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 83 MANFRED PFAFFENTHALER auch 1901 attestiert wurde: »Die einzelnen Terrain-Gegenstände und -Theile än- dern sich nach Zeit und Raum verschieden, stark cultivierte oder industriereiche Landschaften rascher und umfassender, reine Ackerbau- oder wenig cultivierte Ge- biete langsamer und geringer.«26 Die im letzten Punkt der Aufzählung angeführten Gewässer und Weichflächen ändern sich dagegen auch ganz ohne Zutun des Men- schen. Ihr Wandel wurde aber solange nicht berücksichtigt, bis »durch menschliche Thätigkeit Stabilität für längere Zeit« geschaffen wurde, womit im Wesentlichen Regulierungsmaßnahmen gemeint waren.27 Es kann an dieser Stelle also festgehal- ten werden, dass die Praxis der Evidenthaltung eine nachgängige ist, die mit den Veränderungen ihrer Entsprechungen in der (Kultur-)Landschaft kaum mithalten konnte. Erst wenn für Stabilität im Voranschreiten der Zeit gesorgt war, ergab es für die Akteure Sinn, die Aufnahme zu aktualisieren und damit die Referentialität der Karten zu stärken. Der für die Beobachtung der Veränderung relevante Zeit- horizont war durch das menschliche Tun bestimmt. Alle darüberhinausgehenden länger dauernden Veränderungen überschritten diesen Horizont und waren für die Orientierung im Gelände nicht mehr von Belangen.28 Die Aktualisierung der Karten erfolgte auf Grundlage periodischer Mitteilun- gen, die von den staatlichen Verwaltungsbehörden vierteljährlich ans MGI geschickt wurden.29 Dadurch entstand ein reger Schriftverkehr zwischen den Behörden im engeren und zwischen Zentrum und Peripherie im weiteren Sinn. Am Wiener Insti- tut wurden die eingehenden Informationen zusammengeführt und entsprechende Aktualisierungen am und im Kartenbild der Monarchie vorgenommen. Das MGI kann somit im Sinne Bruno Latours als centre of calculation verstanden werden, da dort aus verteilten Informationen zentralisiertes Wissen wird, im konkreten Fall Herrschaftswissen über Raum und Territorium.30 Neben den zivilen Behörden wa- ren selbstredend auch sämtliche Organe des Militärs dazu verpflichtet, über alle Veränderungen des Terrains zu informieren, die bei Manövern, Übungen oder Rei- sen augenfällig wurden. Schließlich wurden noch private Vereine und interessierte Privatpersonen dazu angehalten, an das MGI zu berichten.31 Auf der Grundlage der eingehenden Information wurden allein im Jahr 1881 630 Aktenstücke von der Kar- ten-Evidenthaltungs-Abtheilung bearbeitet, die 2.500 »Evidenz-Correcturen« zur 26 Ebd., S. 114. 27 Ebd. 28 Die hier angestellten Überlegungen beziehen sich auf topografische Karten, die zur Ori- entierung dienen. Für andere Karte, insbesondere für thematische Karten, können diese nur im eingeschränkten Maß gelten. 29 Vgl. Anonym: »Bericht über die Leistungen des k. u k. militär-geographischen Institutes im Jahr 1893«, S. 31. Einsendetermine waren der 1. Januar, 1. April, 1. Juli, 1. Oktober des jeweiligen Jahres. 30 Vgl. Latour: Science in Action; Latour: »Drawing Things Together«. 31 Vgl. Anonym: »Bericht über die Leistungen des k. u k. militär-geographischen Institutes im Jahr 1893«, S. 31. NAVIGATIONEN 84 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT Folge hatten.32 Diese bereits beachtliche Zahl an Nachträgen und Berichtigungen sollte aber in den nächsten Jahrzehnten deutlich steigen. So wurden im Jahr 1893 allein in der Spezialkarte 15.462 Korrekturen vorgenommen, die auf insgesamt 163 Kartenblättern ausgeführt wurden, was durchschnittlich 95 Korrekturen pro Blatt bedeutete.33 Wie gezeigt wurde, war die Evidenthaltung der Kartenwerke des MGI ein überaus aufwendiges Unterfangen, das der Mitarbeit einer Vielzahl von Akteuren bedurfte. Der große Aufwand ist letztlich dem Umstand geschuldet, dass es hier um nicht weniger als die Herstellung von Wirklichkeitsreferenz geht. Vollständige und flächendeckende Referentialität konnte dabei aber nur als Ideal gelten, dem man sich anzunähern versuchte. Solange sich die Landvermesser im Terrain beweg- ten, blieb ihr Erfahrungshorizont ein terrestrischer, der sich zwischen Basislinien und festen Messpunkten erstreckt: Die Triangulation der Erdoberfläche erlaubt le- diglich ein diachrones Kartenbild und erst die Loslösung der Geodäsie von ihrer Erdverankerung ermöglicht ein synchrones Kartenbild. Das bedeutet aber nicht, dass durch den Einsatz von Satelliten auf feste Bodenstationen verzichtet werden kann, sondern lediglich, dass die Vogelperspektive der Satellitengeodäsie eine syn- chrone Aufnahme erlaubt.34 4. REFERENTIALITÄT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT Wie alle Karten sind auch die vom MGI produzierten Karten Momentaufnahmen eines Terrains, die auf das dargestellte Gelände referieren, und wie alle Karten – sofern es sich um topografische Karten handelt – dienen auch die Karten des MGI vorrangig der Orientierung. Damit aber Orientierung mittels Karten funktioniert, muss zunächst Korrespondenz bestehen zwischen »dem zu begehenden Territo- rium und seiner kartografischen Darstellung«, wie Sybille Krämer betont.35 Diese Korrespondenz ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir unseren eigenen Stand- ort in der Karte wiederfinden. Der operative Gebrauch der Karte im Vollzug der Selbstverortung macht die Karte erst zum Medium, das zwischen Kartennutzer:in- nen und Terrain vermittelt.36 Dabei »ist die Botschaft der Karte geprägt durch Re- ferenz«, wie Krämer ebenfalls hervorhebt.37 Referentialität ist ein wesentliches Merkmal der Karten und Bedingung der Kartennutzung. Sie setzt die Karte mit der Welt in Beziehung und gibt den Kartennutzer:innen die Möglichkeit, sich selbst in 32 Vgl. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, S. 63. 33 Vgl. Anonym: »Bericht über die Leistungen des k. u k. militär-geographischen Institutes im Jahr 1893«, S. 31f. Die Spezialkarte umfasst insgesamt 752 Blätter. 34 Vgl. Kanderske/Thielmann: »Simultaneous Localisation and Mapping«. 35 Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 307. 36 Vgl. ebd. 37 Ebd. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 85 MANFRED PFAFFENTHALER dieser zu verorten. Die besondere Bedeutung der Referentialität wird vor allem dann deutlich, wenn Karten altern, d.h. ihre eigene Zeitlichkeit nicht mehr der Ak- tualität des abgebildeten Territoriums entspricht.38 Es ist die Aufgabe der Evident- haltung, die Referentialität der Karte über die Zeit zu retten und so ihre Aktualität zu bewahren. Wie dies technisch umgesetzt wurde, wird in Folge gezeigt. Die Karten-Evidenthaltungs-Abtheilung trug wesentlich zum guten Ruf der Kartenwerke des MGI bei, doch blieben ihre Leistungen oft im Hintergrund, wie in folgenden Ausführungen – nicht ohne wehmütigen Unterton – festgestellt wird. Diese Arbeit der Evidenthaltung von Karten drängt sich öffentlich wenig hervor, ja die wenigsten erkennen sie überhaupt, und doch wirkt sie am eifrigsten mit, den guten Ruf, solcher Karten zu erhalten, welche von Haus aus einer genauen Landesaufnahme entstammen. So wie auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit ideale Ziele aber kaum erreich- bar sind, so hindern auch in dieser Richtung Rücksicht auf Ökonomie von Zeit, Kraft und Mittel, wenigstens das Mögliche voll zu gewinnen.39 Das Zitat verweist nochmal darauf, dass man sich dem Ideal der flächendeckenden Referentialität und dauerhaften Aktualität lediglich annähern konnte. Zwar waren die Ambitionen des MGI in dieser Hinsicht groß, doch in der Praxis bestimmte der ökonomische Umgang mit den vorhandenen Ressourcen das Handeln. Die Evident- haltung der Karten sollte möglichst vollständig, genau und rasch erfolgen. Diese drei Prinzipien gerieten aber oft miteinander in Konflikt, denn Vollständigkeit und große Genauigkeit bedeuteten immer auch einen längeren Durchführungszeitraum.40 So versuchte man zunächst durch Reambulierung – die wiederholte Begehung des Territoriums – die Karten auf den neuesten Stand zu bringen. Dabei verglichen die Mappeure die Aufnahmsblätter der Spezialkarte mit dem Terrain und zeichneten sie, wo nötig, zur Gänze neu. Der kleine Maßstab der Aufnahmsblätter von 1:25.000 ermöglichte einen relativ genauen Abgleich und eine detaillierte Neuauf- nahme. Da das Verfahren der Reambulierung aber sehr zeitaufwendig war, sah man davon ab und führte die Kartenrevision ein. Bei der Revision mussten die Mappeure ebenfalls ins Feld, um die Blätter der Spezialkarte, die zu diesem Zweck auf 1:50.000 vergrößert wurde, mit dem Gelände abzugleichen. Der entscheidende Vorteil war nun aber, dass die Veränderungen des Terrains in die bereits bestehen- den Kartenblätter eingetragen werden konnten. Doch auch die Kartenrevision ging nicht in dem erwünschten Tempo voran. Mittels der vorhandenen Ressourcen konnten pro Jahr maximal acht Blätter der 752 Blätter umfassenden Spezialkarte revidiert werden, womit ihre vollständige Revision rund 90 Jahre in Anspruch ge- 38 Ebd. 39 Wiesauer: »Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen In- stitutes«, S.118. 40 Vgl. ebd., S. 119. NAVIGATIONEN 86 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT nommen hätte. Den entscheidenden Fortschritt in Richtung höheres Aufnahme- tempo – d.h. schnelle Datenakquise – brachte letztlich nur die Einbindung der zivi- len Behörden, wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde. Nun wur- den die Mappeure des MGI nur mehr in Ausnahmefällen ins Feld geschickt, um sich vor Ort ein Bild zu machen (vgl. Abb. 2).41 Abb. 2: Mappeure des MGI samt Ausrüstung (Quelle: Anno, mit freundlicher Genehmigung von der Österreichischen Nationalbibliothek). Wie der Instruction für die Evidenthaltung der Kartenwerke des militär-geographischen Institutes aus dem Jahr 1884 zu entnehmen ist, waren alle zur Anzeige gebrachten Nachträge und Berichtigungen nach Möglichkeit mit Situationsplänen und Skizzen 41 Wiesauer: »Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen In- stitutes«, S. 119f. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 87 MANFRED PFAFFENTHALER oder Oleaten42 zu belegen. Die Situationspläne sollten im Maßstab 1:25.000 ver- fasst werden, was auch dem Maßstab der ursprünglichen Aufnahmsblätter der Spe- zialkarte entsprach. Konnten die Evidenzkorrekturen trotz detaillierter Informati- onen nicht vorgenommen werden, wurde der Fall beim Generalstab vorgemerkt, der bei nächster Gelegenheit (z.B. bei Truppenübungen) für entsprechende Abklä- rung zu sorgen hatte. Erst wenn sich eine solche Gelegenheit nicht ergab, wurden Offiziere entsandt, um die betreffenden Angaben vor Ort zu prüfen und die Nach- besserungen vorzunehmen.43 Dazu finden sich in der genannten Instruktion fol- gende Dienstanweisungen: In zweifelhaften Fällen hat das Institut sich mit den betreffenden Civil- oder Militär-Behörden direct ins Einvernehmen zu setzen und der An- frage eine Oleate beizulegen, welche alle zur Aufklärung nöthigen De- tails enthält. Fälle, welche in dieser Art nicht aufgeklärt werden können, sind von der Karten-Evidenthaltungs-Abtheilung des Institutes vorzu- merken, und von diesem dem Chef des k. k. Generalstabes (alljährlich im Monat März) unter Beilage der nöthigen Oleaten oder Kartenblätter nachzuweisen, um die entsprechenden Erhebungen gelegentlich [bei, sic!] Generalstabs-Reisen, Recognoscirungen für Landesbeschreibungs- Zwecke u. dgl. vornehmen zu können. In besonders dringenden und wichtigen Fällen kann das Institut […] Officiere zur Berichtigung an Ort und Stelle entsenden.44 Die eingesandten Informationen wurden sorgfältig geprüft und ggf. weiterverarbei- tet, d.h. auf die jeweiligen Kartenblätter übertragen. Bis 1893 wurden alle Verän- derungen in die originalen Aufnahmsblätter im Maßstab 1:25.000 eingezeichnet. Von den solcherart evidentgestellten Aufnahmsblättern wurden Kopien angefertigt, die als Grundlage für die Aktualisierung der übrigen Kartenwerke des MGI dien- ten.45 Durch diese Vorgehensweise ging aber leider auch die Originalität der ur- sprünglichen Aufnahmsblätter verloren. Zusätzlich sorgte der häufige Gebrauch für eine starke Abnutzung der »höchst wertvollen« Unikate.46 Mit 1893 änderte sich diese Praktik und man ging dazu über, zunächst die Aufnahmsblätter zu kopieren 42 Oleate sind transparente Zeichenblätter (auch Ölblätter genannt), die über bereits beste- hende Karten gelegt werden konnten und so alle Veränderungen des jeweiligen Karten- blattes auf einen Blick sichtbar machten. Oft enthielten Oleate auch weitere Informatio- nen und Erläuterungen. 43 Vgl. Anonym: Instruktionen für die Evidenthaltung der Kartenwerke des militär-geogra- phischen Institutes, S. 9. 44 Ebd. 45 Aufgrund des relativ kleinen Maßstabes der originalen Aufnahmsblätter der Spezialkarte, stellte die Übertragung der Korrekturen in andere Kartenwerke, wie etwa der General- karte 1:200.000 oder der Übersichtskarte 1:750.000, kein Problem dar. 46 Wiesauer: »Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen In- stitutes«, S. 121. NAVIGATIONEN 88 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT und dann die Evidenzdaten einzutragen, was aus heutiger Perspektive deutlich sinn- voller erscheint. Solche Kopien wurden in Folge als Evidenzblätter bezeichnet. Sie enthielten die vorzunehmenden Nachträge und Berichtigungen sowie die entspre- chenden Quellenangaben zu den jeweiligen Änderungen. War ein Evidenzblatt mit den eingezeichneten Veränderungen und Quellenangaben vollgefüllt, wurde eine neue Kopie des originalen Aufnahmsblattes verwendet. So gab es zu den veröffent- lichten Kartenblättern mitunter mehrere, fortlaufend nummerierte Evidenzblätter, in denen die Veränderungen in chronologischer Reihung vermerkt waren. Aber auch dieses Vorgehen hatte einen entscheidenden Nachteil: Die Kopien der Auf- nahmsblätter waren noch nicht evidentgestellt, weshalb die fortlaufenden Evidenz- blätter allesamt ihren Ausgangspunkt in der ursprünglichen Aufnahme bzw. in der Zeit vor 1893 fanden.47 Neben der Organisation war also auch die technische Umsetzung der Evident- haltung enorm aufwendig. Es galt die Verfahrensweisen immer wieder anzupassen und nach Möglichkeit mittels technischer Neuerung zu optimieren. So wurde der zuletzt beschriebene Nachteil bereits 1896 behoben, indem von den neu aufge- nommenen Sektionen nun nur mehr evidentgestellte Kopien verwendet wurden, die zuvor mittels Fotolithografie vervielfältigt worden waren.48 Nach sorgfältiger Prüfung und erfolgreicher Übertragung der Evidenzkorrekturen auf die Druckplat- ten, konnte das entsprechende Kartenblatt neu aufgelegt werden. Vom MGI wur- den ausschließlich evidentgestellte Blätter neu ausgegeben bzw. veröffentlicht. Diese enthielt am unteren Rand das Datum des letzten Nachtrages in das Evidenz- blatt, womit die Karte datiert und ihre Aktualität bestätigt war. Die Veränderungen der Spezial- und Generalkarte wurden darüber hinaus im öffentlichen Teil der Mitt- heilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts bekanntgegeben, was eine wei- tere Kontrolle der Evidenthaltung darstellte.49 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Kartenproduktion des MGI einer Vielzahl einzelner Schritte folgte, die mit der Vermessung im Feld und der Aufnahme der Geländebeschaffenheit begann. Daran schloss der aufwendige Prozess der Reinzeichnung und der Erstellung der Aufnahmsblätter an. Nach der Übertragung dieser Blätter auf Druckplatten aus Kupfer oder Stein wurden sie ver- vielfältigt und veröffentlicht. Damit war die Kartenproduktion aber nur vorläufig zu Ende, denn wenn Karten zur Orientierung dienen sollen, müssen sie auf aktuellem Stand gehalten werden. Nimmt man diese Vorgabe ernst, darf ihr Herstellungspro- zess keinen Abschluss finden, sondern muss ein kontinuierliches Unterfangen blei- ben. Dass die Aktualität der Karte Voraussetzung für erfolgreiches Orientieren ist, 47 Vgl. ebd., 121f. 48 Vgl. ebd., 122. Zu Recht merkt der Leiter der Karten-Evidenthaltungs-Abtheilung an: »Die Evidenz-Exemplare der Aufnahmsblätter und Karten, auf Leinwand aufgezogen, geben ein höchst wertvolles Material ab, das alle Veränderungen in einer Landschaft chronologisch geordnet enthält; es ist dies für geographische oder culturhistorische Detailforschung im- merhin von Bedeutung und wissenswert.« Ebd. 49 Vgl. ebd., 123f. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 89 MANFRED PFAFFENTHALER ist auf den ersten Blick naheliegend. Doch wie funktioniert die für die Navigation so wichtige Kartenutzung nun tatsächlich und was hat die Aktualität der Karte mit der titelgebenden relationalen Zeitlichkeit zu tun? Darauf soll nun am Ende dieses Aufsatzes eingegangen werden, wobei zur Beantwortung der gestellten Fragen die medientechnischen Überlegungen zur Kartenutzung von Sybille Krämer zentral sind. Karten haben eine repräsentative und eine mediale Funktion. In ihrer reprä- sentativen Funktion referieren Karten auf ein konkretes Territorium; in ihrer me- dialen Funktion vermitteln Karten zwischen Kartennutzer:innen und dem begehba- ren Raum.50 Das Verhältnis zwischen Karte und Territorium wird dabei durch den Maßstab eindeutig bestimmt. Die Beziehung zwischen Kartennutzer:innen und Karte ist dagegen deutlich komplizierter, da der Kartengebrauch – wie oben bereits erwähnt – die Selbstverortung der Nutzer:innen notwendig macht. Die Vorausset- zung für die Selbstverortung der Kartennutzer:innen ist die Indexikalität der Karte, d.h. die Karte muss einen eindeutigen räumlichen und auch zeitlichen Bezug zum Territorium haben, der es den Nutzer:innen erlaubt, sich gemäß der Prämisse the map is the territory in der Karte genauso wie im Gelände wiederzufinden. Krämer beschreibt diese Selbstverortung als indexikalische Identifikation: »Mit dieser inde- xikalischen Identifikation der eigenen Position wird der Kartennutzer zum Bestand- teil der Karte. Es ist die Stelle in der Karte, die nicht einfach nur ein externes Ter- ritorium repräsentiert, sondern vielmehr den Kartennutzer präsentiert.«51 In diesem Moment der Selbstverortung vollziehen sich laut Krämer zwei entschei- dende Transformationen: 1. die Transformation von Repräsentation in Präsenz: »Aus der Repräsentation von Örtlichkeit auf der Karte erwächst die Präsenz eines begehbaren Raumes für den Kartennutzer.«52 2. Die Transformation des eigenen »individuellen Standort[es] in der Welt in eine generalisierbare Position innerhalb der Karte«.53 Diese kognitive Übersetzungsleistung, die es ermöglicht, uns selbst als Punkt innerhalb eines Koordinatensystems zu lokalisieren, ist entscheidend für die Navigation. Ganz egal ob beim klassischen Kartengebrauch mit Kompass und Karte oder via Smartphone und GPS, die Übersetzungsleistung bleibt dieselbe, ob- wohl die Voraussetzungen durch die moderne Standortbestimmung deutlich einfa- cher sind (oder auch komplexer, je nach Standpunkt).54 Die oben beschriebenen Transformationen setzen Referentialität voraus. Durch ihre Referentialität werden Karte und Welt zueinander in Beziehung gesetzt. Diese Beziehung wird aber mit dem Alter der Karten zunehmend schwächer. Nach 50 Vgl. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 307. 51 Ebd., S. 310. 52 Ebd., S. 309. Krämer Spricht in diesem Zusammenhang von der »Transformation des ob- jektiv anschaulichen Raumes in einen subjektiv begehbaren Raum«. Ebd., S. 310. 53 Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 310. 54 Zur digitalen Kartografie und zur GPS-Nutzung vgl. Buschauer/Willis: Locative Media; Borbach: »Reduced to the Max«. NAVIGATIONEN 90 NA VIG IEREN RELATIONALE ÖRTLICHKEIT UND RELATIONALE ZEITLICHKEIT und nach schwindet ihre Referentialität, womit die Bindung der Kartenzeichen ans Territorium allmählich verloren geht. Die Selbstverortung der Kartennutzer:innen ist nicht mehr möglich, da die Transformation von Repräsentation in Präsenz nicht mehr funktioniert. Denn repräsentieren heißt eben immer auch vergegenwärtigen und diese Vergegenwärtigung hat einen räumlichen und einen zeitlichen Aspekt. Bei der Benutzung veralteter Karten treten demnach immer auch Inkonsistenzen auf, deren Ursachen darin liegen, dass die oben erwähnten Transformationen nicht funktional sind. Denn, im Gegensatz zum gefrorenen Koordinatensystem der Karte, bewegen wir uns mit der Zeit fort. Die in diesem Beitrag beschriebenen umfangreichen Anstrengungen der Evi- denthaltung dienen letztlich dazu, die Kartennutzung weiter zu ermöglichen. Ana- log zur relationalen Örtlichkeit, die die Bestimmung eines Ortes nur durch Bezug- nahme auf andere Orte oder die eigenen Position möglich macht, können wir also auch von relationaler Zeitlichkeit sprechen. Soll die Karte als Medium funktionieren, das zwischen Terrain und Kartennutzer:innen vermittelt, müssen alle derselben Zeit angehören.55 Der Bezugspunkt ist dabei immer die Zeit der Kartennutzer:in- nen, nach der sich die Karte auszurichten hat, damit die Selbstverortung möglich bleibt. Relationale Zeitlichkeit bedeutet also zunächst, dass zwischen Territorium und Karte nicht nur ein enges räumliches, sondern auch ein enges zeitliches Ver- hältnis besteht, das sich in der Aktualität der Karte spiegelt. Und es bedeutet wei- ter, dass im Kartengebrauch die aktuelle Zeit der Kartennutzer:innen jene Instanz ist, nach dem dieses Verhältnis bewertet wird. Das macht den/die Kartennutzer:in zum räumlichen und zeitlichen Bezugspunkt, nach dem sich der Wert einer Karte gerade auch als Medium zur Navigation bemisst. LITERATURVERZEICHNIS Anonym: »Bericht über die Leistungen des k. u k. militär-geographischen Institutes im Jahr 1893«, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Institutes, Jg. XIII, 1893, S. 3-54. Anonym: Instruktionen für die Evidenthaltung der Kartenwerke des militär-geogra- phischen Institutes, Wien 1884. Anonym: »Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Kartographie in den österreichischen Staaten«, in: Mittheilungen des k. k. Militär-Geographischen Institutes, Jg. I, 1881, S. 5-82. Böhme, Gernot: Leib. Die Natur, die wir selbst sind, Frankfurt a.M. 2019. Borbach, Christoph: »Reduced to the Max. Medienminiaturisierung als Erfolgsge- schichte am Beispiel der GPS-Empfänger«, in: Ruf, Oliver/Schaffers, Uta 55 Krämer beschreibt die Medialität der Karte u.a. wie folgt: »Wenn wir Karten als vermit- telnde, dritte Instanz zwischen Menschen und Territorium betrachten, so entfaltet sich ihre Medialität allein im Aktionsfeld einer triadischen Relation zwischen Mensch, Karte und Territorium.« Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 318. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 91 MANFRED PFAFFENTHALER (Hrsg.): Kleine Medien. Kulturtheoretische Lektüren, Würzburg 2019, S. 35- 57. Buschauer, Regine/Willis, Katharine S. (Hrsg.): Locative Media. Medialität und Räumlichkeit – Multidisziplinäre Perspektiven zur Verortung der Medien, Bielefeld 2013. Dörflinger, Johannes/Wagner, Robert/Wawrik, Franz: Descriptio Austriae. Öster- reich und seine Nachbarn im Kartenbild von der Spätantike bis ins 19. Jahrhun- dert, Wien 1977. Gugerli, David/Speich, Daniel: Topografien der Nation. 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NAVIGATIONEN 92 NA VIG IEREN I I ETHNOGRAPHIEN NAVIGATIONEN NA VIG IEREN MEDIATISIERTE WAHRNEHMUNG, INFRA- STRUKTURIERTES WASSER, SITUIERTES WISSEN Entwurf einer Praxistheorie der nautischen Na- vigation V O N A S H E R B O E R S M A ABSTRACT Ausgangspunkt dieses Artikels sind zwei Ethnographien über maritime Navigation – eine von Laura Bear und die andere von Penny McCall Howard –, die beide von Edwin Hutchins’ Cognition in the Wild (1995) ausgehen, aber gegenseitig nicht auf- einander Bezug nehmen. Ziel des Beitrags ist es, diese beiden Perspektiven mit meinen eigenen Feldforschungserfahrungen zur Binnenschifffahrt zusammenzu- bringen und auf diese Weise die Konturen einer Praxistheorie der Navigation sicht- bar zu machen, die Hutchins zentrale Frage – »Wo bin ich?« – hinter sich lassen kann. Denn die komplexe Aufgabe lautet nicht, sich selbst, sondern irgendetwas anderes in Relation zur eigenen Position immer wieder neu zu lokalisieren. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Medien, durch die Akteur:innen auf Distanz halten, was sonst zusammenstoßen würde und verbinden, was voneinander entfernt ist, auch weil Medien ermöglichen, zwischen wechselnden Maßstäben und in unter- schiedlichen Temporalitäten zu operieren. Somit wird deutlich, wie sich Infrastruk- tur und Navigation in einer Welt, in der sich alles bewegt und neu arrangiert, immer wieder wechselseitig bedingen. KEYWORDS: Schiffe, Feldforschung, Fluss, Meer, Risiko 1. THEORIE DURCH ETHNOGRAPHIE Navigation ist eine Praxis. Ohne Berücksichtigung der praktischen Dimension ist eine Theorie eher ein philosophisches Unterfangen – oder sie behandelt Motive und Angelegenheiten, die keiner Beobachtung im Feld bedürfen. Um eine neue Theorie der nautischen Navigation zu skizzieren, werde ich hier aktuelle Ethnogra- phien über Navigation auf dem Meer, in Deltas und auf Flüssen zusammenbringen. Lange Zeit stellte Edwin Hutchins’ Cognition in the Wild (1995) für Projekte wie meines einen »obligatory passage point« dar, um einen in der Praxistheorie gängi- gen Begriff zu verwenden.1 Und auch für diesen Artikel ist das Buch programma- tisch, obgleich es – wie ich argumentieren werde – das nicht länger sein sollte. Ich werde dies auf Basis zweier Ethnographien erörtern, Laura Bears Navigating Aus- terity (2015) und Penny McCall Howards Environment, Labour and Capitalism at Sea 1 Callon: »Some Elements of a Sociology of Translation«, S. 204. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN ASHER BOERSMA (2017), die ich in Bezug zu meiner eigenen Feldforschung2 zur Binnenschifffahrt in Westeuropa setze.3 2. KOLLISIONEN VERMEIDEN Die Binnenschifffahrt zwischen dem niederländisch-belgischen Rhein-Maas- Schelde-Delta und dem deutschen Rhein ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung, obwohl nur wenige Menschen auf den Schiffen arbeiten. Zudem wird diese Gruppe immer kleiner, was auf zwei Faktoren zurückzuführen ist, die sich gegenseitig be- dingen: Die Mediatisierung4 der Arbeit und die depopulation des Steuerhauses.5 Aufgrund neuer technischer Entwicklungen und Standards gleicht der Aufbau des Steuerhauses mittlerweile einer Leitstelle beziehungsweise einem Kontrollraum. Diese beiden Orte, das Steuerhaus und die Leitstelle, sind damit medienethnogra- fische Studienobjekte par excellence. Die Ähnlichkeit von Steuerhäusern und Leitstellen ist kein Zufall, sondern Er- gebnis einer wohldurchdachten Strategie der niederländischen staatlichen Infra- strukturbehörde Rijkswaterstaat. Diese fachte die Verbreitung von Technologien der Leitstellen in die mobilen Steuerhäuser geradezu an.6 Die Leitstellen der Bin- nenschifffahrt befinden sich stationär in Häfen und an stark befahrenen Kreuzungen entlang des dichten Wasserstraßennetzes in den Niederlanden. Sie wurden Anfang der 1980er Jahre mit der Absicht gegründet, Wasserstraßen effizienter und sicherer zu nutzen, ohne dabei die Kapazität des gesamten Wasserstraßennetzes durch die Verbreiterung bestehender Wasserwege oder das Graben neuer Kanäle erweitern 2 Boersma: »Mediatisation of Work« und ders.: »Follow the Action«. 3 Bear berichtet über Seeschiffe, die den Hugli zwischen den Docks von Kalkutta und dem Golf von Bengalen befahren und McCall Howard über Fischerboote auf den Meeren nord- westlich von Schottland. Die oben genannten drei Ethnographien sind also geografisch weit verstreut und befassen sich vordergründig mit verschiedenen Schiffstypen und un- terschiedlichen Navigationspraktiken. Diese Vielfalt ist von Vorteil, da die Kontraste das Verständnis von Navigation bereichern. Dennoch sind die Unterschiede nicht so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, da in Flussmündungen und Häfen diese Arten der Navigation regelmäßig aufeinandertreffen. 4 Indem ich ›Mediatisierung‹ statt ›Medialisierung‹ schreibe, möchte ich mich nicht notwen- digerweise in einer Debatte innerhalb der deutschen Medien- und Kommunikationswis- senschaft positionieren (vgl. Hickethier: »Mediatisierung und Medialisierung der Kultur«), sondern dem Begriff folgen, der im englischen Diskurs üblich ist (vgl. Couldry/Hepp: »Conceptualizing Mediatization«). Im Vergleich zu letzterem definiere ich sie jedoch als eine greifbarere, lokale Praxis: Mediatisierung ist der Prozess, bei dem Informationen, die sich auf die unmittelbare Umgebung beziehen, zunehmend durch mediale Vermittlung an die Betrachter:innen herangetragen werden, wobei diese Informationen durch elektroni- sche Schnittstellen dargestellt werden. In diesem Prozess werden die Medien in die sen- sorische Wahrnehmung der Umwelt eingebettet, indem sie die Sinnesfähigkeiten des Menschen übersetzen und erweitern. 5 Vgl. Boersma: »Mediatisation of Work«. 6 Vgl. ebd. NAVIGATIONEN 96 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION zu müssen. Obgleich die nautischen Leitstellen mit ihrer hochmodernen technolo- gischen Einrichtung teuer aussehen, waren sie vielmehr Ergebnis eines ökonomi- schen Sparplans und des Aufstiegs des New Public Managements – eine Entwick- lung, die ich als »behavioural turn in infrastructuring« bezeichne.7 Die Leitstellen ermöglichen immer kleinere Abstände zwischen den Schiffen, die zunehmend schneller wurden und dramatisch an Größe zunahmen. In der Schifffahrtswelt sind diese Leitstellen bekannt als VTS-Zentren, was für Vessel Tracking Services steht. Diese sind gemeinhin auf den Seeverkehr ausgerichtet, wo noch mehr als in der Binnenschifffahrt die Autonomie der Kapitän:innen und damit letztlich auch ihre Verantwortung entscheidend ist. Auch wenn die Leitstellen der niederländischen Binnenschifffahrt eine aktivere Rolle einnehmen, tragen die Schiffer:innen noch im- mer die Hauptverantwortung. Die meisten Mitarbeiter:innen in Leitstellen sind selbst ehemalige Kapitän:innen und für sie ist die Figur des bzw. der am Steuer quasi uneingeschränkt navigierenden Kapitän:in unantastbar. Wie ließe sich die Navigation auf diesen Binnenwasserstraßen definieren? Zahl- reiche Beobachtungen an Bord von Schiffen über einen Zeitraum von vier Jahren hinweg (2015-18), bringen mich zu der Annahme, dass die Binnenschifffahrt grund- legend durch eine Wiederholung der folgenden drei Schritte unter sich fortwährend ändernden Bedingungen charakterisiert ist: 1.) die Bewahrung des Abstandes zwi- schen Schiffsrumpf und Flussbett, 2.) die Bestimmung der aktuellen Position und 3.) die Verbindung der aktuellen Position mit einer Position in unmittelbarer Zu- kunft. Insgesamt ergibt sich dabei ein Bild der Navigation, welches Schiffer:innen trotz aller vermeintlicher Souveränität und Autonomie, tief verstrickt in sozio-ma- terielle Agencements zeigt.8 In einem ersten Navigationsakt erfolgt das ordering9 von Schiffsrumpf und Flussbett, das von der Berücksichtigung des jeweils aktuellen Wasserstands, dem 7 Ebd. In ähnlicher Weise war der Aufstieg von Autobahnleitstellen in Großbritannien in den 1990er Jahren Resultat begrenzter Mittel, die nicht ausreichten, um das Straßennetz zu erweitern, so die Soziologin Rachel Gordon (Interview 2.7.19, zur Ethnographie von Au- tobahnleitstellen vgl. Anderson/Gordon: »Government and the (Non)Event«). 8 Vgl. Gherardi: »Has Practice Theory Run Out of Steam?«. Mit dem Begriff Agencement werden die besonderen Verbindungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in einer bestimmten Praxis beschrieben. Wie Gherardi hervorhebt, liegt der Vorteil von Agencement gegenüber ›Assemblage‹ (oder ›Gefüge‹), in der ausdrücklichen Bezugnahme auf das Element der Handlungsfähigkeit (agence oder agency), das ein be- stimmtes Agencement hat. 9 Das Konzept des »ordering« von Lucy Suchman erklärt dies am besten. Ein ordering be- steht aus »lokalen Interaktionen von Teilnehmern« (vgl. Suchman: »Centers of Coordina- tion«) und ist besonders geeignet, sowohl den zeitlichen als auch den räumlichen Aspekt der Organisation von Mobilität zu erfassen. Wie in der Luftfahrt oder im Eisenbahnver- kehr gibt es auch in der Binnenschifffahrt viele kritische Ereignisse, bei denen eine raum- zeitliche Kontrolle erreicht werden muss. Mehr als ›Anordnungen‹, ›Konstellationen‹ oder ›Netzwerke‹ betonen orderings einen notwendigen raumzeitlichen Eingriff, sowohl bei der Schaffung von Distanz als auch bei der Annäherung. Ich erweitere Suchmans Begriff, in- dem ich orderings sowohl aus der mobilen als auch aus der immobilen Perspektive unter- suche, in Leitstellen und an Bord von Schiffen. Die Übersetzung mit ›Ordnungen‹ wäre an NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 97 ASHER BOERSMA Tiefgang des Schiffs und der Breite der Schifffahrtsstraße abhängt. Eine Vielzahl der Schiffe verfügt über ein Echolot. Dies ist besonders bei Niedrigwasser und beim Transport schwerer Fracht wichtig, da das Schiff dann tiefer liegt und der Abstand zwischen Rumpf und Flussbett geringer wird. Andernfalls können sich Schiffer:in- nen an den Fahrrinnen orientieren, die durch Bojen gekennzeichnet und auf digita- len Karten markiert sind. Die Fahrrinnen werden durch häufiges Ausbaggern und regelmäßige Inspektionen durch staatliche Überwachungsschiffe beständig befahr- bar gehalten. An bestimmten flacheren Stellen des Rheins loten die nationalen Schifffahrtsbehörden permanent die Wassertiefe des Flusses aus und teilen diese den Wasserstraßenbenutzer:innen als ›geringste gemessene Tiefe‹ mit. Der zweite Schritt der Navigation ist die Bestimmung der aktuellen Position, was aufgrund der Vertrautheit der Schiffer:innen mit dem Fluss und den zahlreichen visuellen Markierungen am Flussufer im Vergleich zur Seeschifffahrt eine relativ leichte Aufgabe ist. Dies zeigt sich am offensichtlichsten während der Schichtwech- sel, wenn die neuen Schiffer:innen die Treppe zum Steuerhaus hinaufsteigen. Tags- über schauen sie bei guter Sicht zuallererst durch das Panoramafenster des Steuer- hauses; nachts oder bei dichtem Nebel fragen sie die sich bereits am Steuer befindlichen Schiffer:innen und orientieren sich, indem sie auf den Bildschirm schauen, auf dem die Flusskarte und die aktuelle GPS-Position angezeigt wird. Die Verbindung der aktuellen Position mit der künftigen Destination – der dritte Schritt der Navigation bei der Binnenschifffahrt – verlangt keine besondere Planung. Bei der Navigation als »situated action«10 geht es darum, wie man um seichte Stellen und durch die Biegungen und Strömungen des Flusses selbst navi- giert und an anderen Schiffen (und Objekten wie Brücken oder Schleusen) vorbei- manövriert.11 In niederländischen Gewässern, weltweit einer der befahrensten Wasserwege, sind zudem steuerbordseitige Vorbeifahrten erlaubt, was zu einem noch diffuseren Verkehrsmuster führt. Abgesehen von vereinzelten Baggerschiffen oder ankernden Schiffen ist alles in Bewegung. Daran lässt sich kaum etwas ändern, da ein fahrendes Schiff erst nach mehreren Kilometern zum Stillstand gebracht wer- den kann. Die fortwährende Bewegung und die begrenzten Interventionsmöglich- keiten sind eine zentrale raumzeitliche Dimension der Binnenschifffahrt, die von den Akteuren verlangt, ständig das nächste ordering vorherzusehen. Die Positionen anderer Schiffe werden durch ein Agencement nachvollziehbar gemacht, welches das optische Sichten der Wasserlandschaft, das Abhören des lo- kalen UKW Funks, das Lesen von AIS und Radar-Bild beinhaltet. Nur durch diese dieser Stelle unproduktiv, da sie wieder statisch ist. Ich spreche nicht von sozial-techni- scher Ordnung, sondern von den orderings als »the mundane reproduction of everyday activity«, in der »the social world is reiterated.« (Suchman/Gerst/Krämer: »›If You Want to Understand the Big Issues, You need to Understand the Everyday Practices That Con- stitute Them‹«) 10 Siehe Suchman: Human-Machine Reconfigurations. 11 Bauarbeiten an Schleusen oder Brücken oder mitunter auch schlechtes Wetter können zwar alternative Routen erforderlich werden lassen, von welchen es allerdings nicht allzu viele gibt. NAVIGATIONEN 98 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION Kombination bekommt man eine Übersicht von in der Nähe befindlichen Objekten. Das AIS (ein Automatic Identification System) ist ein Geolokalisierungssystem, das über Funksignale Namen, GPS-Standorte, Abfahrts- und Zielort eines Schiffes aus- tauscht, die auf einer digitalen Karte eingezeichnet werden. Dieser Austausch von Positionen geschieht allerdings nicht häufig genug, um auf Basis dieser Informatio- nen allein navigieren zu können. Dennoch erlaubt es einen Überblick über den Ver- kehr jenseits der eigenen Sichtweite, auch hinter Flussbiegungen, deren Uferbö- schungen das bordeigene Radar blockieren. Bisher hatten nur Leitstellen mit ihren überlegenen landgestützten Radarnetzwerken Zugang zu solchen Informationen. Die Verbreitung des AIS wurde vom niederländischen Staat subventioniert bevor es obligatorisch wurde.12 Sobald sich Schiffer:innen außerhalb des Gebiets einer Leitstelle befinden, machen sie ihre eigenen Positionen nachvollziehbar, indem sie über UKW-Funk ihre Absichten kommunizieren und Überholmanöver vorschla- gen. Mit Hilfe des AIS wissen sie, wen sie über die geteilte Frequenz adressieren können, da die Schiffsnamen auf ihren kartografischen Interfaces angezeigt werden (vgl. Abb. 1 und Abb. 2). Abb. 1: Zwei Monitore im Steuerhaus eines großen Schubbootes (das sechs Schubleichter schiebt). Links ist das Radar, rechts eine nautische Karte, die mit AIS überlagert ist. In der oberen rechten Ecke ist außerdem die aktuelle Geschwindigkeit von 12,4 Kilometern pro Stunde 12 Dies erlaubte dem Ministerium für Infrastruktur und Umwelt im Jahr 2015 zu argumen- tieren, dass Leitstellen mit weniger Personal auskommen könnten. Das markierte einen Umbruch, an dem Leitstellen – zunächst installiert als kostensenkende Maßnahme – selbst zu teuer wurden (vgl. van Haegen: »Beantwoording vragen van het lid Bashir (SP) inzake onveilige situaties op de vaarwegen door onderbezetting bij verkeersleiding Rijkswater- staat«; für Details siehe Boersma: »Mediatisation of Work«). NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 99 ASHER BOERSMA dargestellt, die anderen Schiffen über AIS mitgeteilt wird. Das Radar und die mit AIS überlagerte Karte haben unterschiedliche Maßstäbe: Das Radar ist so eingestellt, dass es den unmittelbaren Navigationsraum anzeigt; die Karte zeigt an, welche Schiffe sich nähern. (eigenes Foto) Abb. 2: Diese Abbildung ist im selben Schubboot wie in Abb. 1 entstanden. Sie zeigt das Steu- erhaus mit Blick über die Schulter des Steuermanns. Seine Hand ist am Steuer, die drei Regler zeigen, dass die drei Motoren auf dieselbe Leistung eingestellt sind. Die beiden Monitore von Abb. 1 befinden sich – hier nicht sichtbar – rechts vom Steuermann. Ein dritter Monitor zeigt dieselbe AIS überlagerte Karte wie in Abb. 1 an, die jedoch auf einen anderen Maßstab einge- stellt ist, um Verkehrsmuster vorherzusehen und die begrenzte Manövrierfähigkeit eines Schub- bootes durch präventive Anpassung von Geschwindigkeit und Position zu kompensieren. (eige- nes Foto) Andere Schiffe in die Planung einzubeziehen ist eine Sache, ihnen aus dem Weg zu gehen eine andere. Um von einer gegenwärtigen Ordnung in die gewünschte Zu- kunft zu navigieren, wird ein anderes Agencement notwendig. Die Verbindung zwi- schen beiden Agencements – Nachvollziehbarkeit gewährleisten und Kollisionen vermeiden – wird durch die Schiffer:innen ermöglicht. Im Steuerhaus können sich mehrere Personen befinden, aber für die Dauer einer Schicht ist lediglich eine Per- son für die Verbindung beider Gefüge zuständig. Das Steuerungsagencement ent- faltet sich im Zusammenspiel von Fluss, Rumpfform, Steuerrad und (mit diesem hydraulisch verbundenen) Schiffsruder und dem Motordisplay (mit der Anzeige des Kraftstoffverbrauchs als wichtigem Parameter). Dazu kommen die Regler der Mo- toren, die die Schiffsschrauben antreiben – die meisten modernen Schiffe verfügen zudem über verstellbare Schiffsschrauben im Vorderbereich, so genannte Bug- strahlruder. Ebenso wird die Ladung einbezogen und wie diese verteilt ist, was NAVIGATIONEN 100 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION durch Messgeräte überwacht wird. Schließlich bekommen die Schiffsführer:innen Rückmeldungen von Matros:innen an Deck (durch Kommunikation über die interne Funkfrequenz), obwohl Überwachungskameras zunehmend Matros:innen erset- zen, besonders wenn es um die Kollisionsvermeidung in Schleusen geht. Viele die- ser Komponenten sind unabhängig von Schiffer:innen digital miteinander gekoppelt; andere Elemente wiederum werden aus Sicherheitsgründen unabhängig voneinan- der betrieben. So entsteht ein komplexes Netzwerk von Agencements, in das die Schiffer:innen tief eingebettet sind.13 Dadurch gerät die besondere Rolle, die den Sinnesorganen der Schiffer:innen zukommt, allzu leicht aus dem Fokus. Ihre Beobachtungsgabe ist nämlich wesentli- cher Bestandteil der Navigation und dient ihnen dazu, die Umgebung und die auf dem Fluss in Bewegung befindlichen Objekte z.B. für Ausweichmanöver in einem Wechselspiel ihrer Sinne und der technischen Medien an Bord beständig zu lokali- sieren, zu klassifizieren oder zu überwachen.14 Wie Judith Willkomm zeigt, geht es dabei nicht allein um medial vermittelte Wahrnehmung, sondern um eine Sensibili- sierung und Schulung der Sinne in Kombination mit und Ergänzung zur medialen Beobachtung.15 Es findet ein permanenter Abgleich zwischen der sensorischen Be- obachtung und der medial vermittelten Information statt, der sowohl die Wahrneh- mungsfähigkeiten als auch die Medienkompetenz der Schiffer:innen verbessert und erweitert. Somit lassen sich viele Phänomene auf dem Fluss parallel und sowohl mit als auch ohne Medientechniken überprüfen und ggf. verifizieren.16 Eine Ausnahme- situation oder große Herausforderung stellt das Navigieren im Nebel dar, da es hier nahezu zu einer vollständigen Abhängigkeit von medientechnischen Verfahren der Detektion kommt. Auf dem Fluss gibt es – im Gegensatz zum Kanal – keine langen geraden Weg- strecken, kein beständiges Wasservolumen und keine ebenen Flussbetten. Auf grundlegender Ebene bedeutet dies, dass der Navigation in dieser Umgebung eine kurze Zeitperspektive innewohnt, in welcher gegenwärtige Umstände derart ma- nipuliert werden, um eine gewünschte unmittelbare Zukunft zu erreichen. 13 Man könnte diese Tatsache als Argument gegen die Souveränität der Schiffer:innen an- führen, aber das ist nicht der Punkt. Es ist natürlich nicht die Aufgabe des Ethnographen, gegen lang gehegte Überzeugungen aus dem Feld zu argumentieren. Solange die Ak- teur:innen im Feld diese Vorstellung reproduzieren, ist sie lebendig, unabhängig von den soziotechnischen Verflechtungen. Wie später deutlich wird, ist das Ideal der Souveränität und nicht die souveräne Praxis in den verschiedenen in diesem Artikel diskutierten For- men der Schifffahrt präsent. 14 Vgl. Willkomm: »Mediatisierte Sinne und die Eigensinnigkeit der Medien«. 15 Vgl. Willkomm: Tiere – Medien – Sinne: Eine Ethnographie bioakustischer Feldforschung. 16 Vgl. Willkomm/Boersma: »Hearing Like an Animal«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 101 ASHER BOERSMA 3. DURCH DIE WIDERSPRÜCHE DES FELDES NAVIGIEREN Wie verhält sich diese Analyse der Schifffahrt auf den Wasserstraßen Nordwesteu- ropas zu anderen praxistheoretischen Beschreibungen der nautischen Navigation? Bei der Definition der nautischen Navigation gibt es eine unumgängliche Monogra- phie: Cognition in the Wild von Edwin Hutchins (1995), die auf Feldforschungsauf- enthalten an Bord mehrerer Schiffe der US-Marine basiert. Hutchins zeigt ein detailliertes Verständnis der kollektiven Praktiken auf See. Seine Publikation erreichte viele Wissenschaftler:innen nicht zuletzt durch das da- mals neu etablierte Feld der Workplace Studies, in dem allerdings nur wenig Inte- resse an nautischen Praktiken bestand. Viele verwiesen auf das Buch – darunter auch Lucy Suchmans bahnbrechender Text »Centers of Coordination« von 1997 – , doch selbst wenn sie sich für Mobilität interessierten, ging es eher um Bahn-, Luft- und Stadtmobilität.17 Das Hauptinteresse galt eigentlich der technologisch vermit- telten Koordinationsarbeit und den kleinteiligen Schritten, in denen komplizierte Aufgaben erledigt werden. Mobilität wurde als dynamische, raumzeitliche Praxis erst mit dem Aufkommen der Mobility Studies – und das heißt: erst fast zwei Jahr- zehnte später – wirklich zu einem weit verbreiteten Thema und Erkenntnisinte- resse. So konnte es passieren, dass Hutchins Buch von außen als die klassische Mo- nographie zum Thema wahrgenommen wurde, obwohl es ironischerweise die meisten Forschenden aus anderen Gründen lasen. Nachdem es mir so oft empfoh- len worden war, erstaunte es mich, dass sich Cognition in the Wild während meiner Studien zur nautischen Mobilität als derart wenig brauchbar erwies. Bis ich Laura Bears Navigating Austerity von 2015 gelesen hatte, dachte ich vor allem, es läge an mir und erwartete, dass sich der Zusammenhang zwischen meinen Beobachtungen und dem Buch in einer späteren Forschungsphase herstellen würde. Laura Bear hat jahrelang Feldforschung am Hugli betrieben. Der Hugli ist ein indischer Fluss, durch den alle Waren aus Ostindien und Nepal transportiert wer- den müssen, um die Häfen von Singapur und Colombo, und von dort aus die Welt zu erreichen. Erst in ihrem fünften Kapitel geht Bear auf die eigentliche Navigation ein, nachdem sie sich die Zeit genommen hat, zu zeigen, welche politische und ökonomische Geschichte des Huglis die organisatorische und kommerzielle Dyna- mik geprägt hat, die die Navigation einschränkt, zum Teil sogar gefährdet. In Bezug auf Hutchins schreibt sie, dass »[m]ost forms of navigation cannot be understood by a sole focus on technical skill and utility.«18 Die eigentliche Pointe spart sich Bear für eine Fußnote auf, die ich hier vollständig zitieren will: This makes Hutchins’s analysis of navigation problematic: he focuses on a context for navigation that is purified of its usual contradictions—that is, the making of profit and manipulation of technical objects and data 17 Vgl. Harper/Hughes: »What a f—ing system!«; Heath/Luff: »Collaboration and Control«; Gras u.a.: Faced with automation; Sanne: Creating Safety in Air Traffic Control. 18 Bear: Navigating Austerity: Currents of Debts Along a South Asian River, S. 131. NAVIGATIONEN 102 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION in relation to a recalcitrant world. It is only because he chooses such a context that his discussion of navigation can remain one about cognitive practices and devices. His contexts helps to produce his theory that ultimately technologies, including that of navigation, are simply part of a project of cognition, a human will to know certain things and achieve certain crystallizations of practical knowledge about the world.19 Obwohl klar ist, dass die von Hutchins untersuchte Schifffahrt nicht vom Gewinn- streben im direkten Sinne angetrieben wird, ist auffällig, dass er sein Feld ohne die üblichen Widersprüche darstellt.20 Da jedes Feld, in dem sich Forscher:innen be- wegen, seine Widersprüche, Ideosynkrasien und Eigenheiten hat, lässt sich die Ab- wesenheit dieser Darstellungen vermutlich wie folgt erklären: Zu jener Zeit war die US-Marine Hutchins Arbeitgeberin und daher war der Großteil der für den Feldzugang notwendigen Legitimationsarbeit bereits getan. So stellte sich Hutchins eine dreifache Herausforderung von Anfang an erst gar nicht. Erstens ist es schwierig, Zugang zu Arbeitsorten zu erlangen, wo die Sicherheit vieler Menschen auf dem Spiel steht. In diesem Sinne unterscheidet sich die Schiffs- brücke nicht von einer anderen Leitstelle, denn der Zugang zu beiden Orten wird in höchstem Maße reguliert. Zweitens stellt die Mobilität eines Schiffes für sich al- lein schon eine Herausforderung für die Forschenden dar: Sobald der Ort der Feld- forschung betreten wurde, ist es schwer, diesen wieder zu verlassen. Der Zugang muss also für die Dauer einer ganzen Fahrt oder zumindest einer Etappe gewährt werden. Im Falle der Seeschifffahrt bedeutet dies ein Leben an Bord unter Einsatz knapper Ressourcen und die Eingliederung in eine geschlossene Gemeinschaft.21 Zudem ist es drittens für Anthropolog:innen nahezu unmöglich, militärische Prak- tiken uneingebunden und unabhängig zu untersuchen.22 19 Ebd. S. 216. 20 Allerdings könnte behauptet werden, dass die US-Marine die Infrastrukturarbeit liefert, die als Voraussetzung für globale Profiterzielung im Sinne der US-amerikanischen imperi- alen Interessen gilt. 21 Über einen Zeitraum von vier Monaten hinweg verbrachte Hutchins insgesamt 11 Tage an Bord (Hutchins: Cognition in the Wild, S. 22). Das erscheint nicht viel, wie er selbst einräumt (ebd.), aber ist wahrscheinlich dennoch mehr als irgendjemand sonst zugestan- den bekommen hat und er konnte daher dennoch eine Fülle von Daten produzieren. In- tensiviert wurde dies durch eine in den Workplace Studies übliche Forschungspraxis: Das Anfertigen von Videoaufnahmen, die erst später transkribiert und ausführlich ausgewertet wurden. 22 Die akzeptierte Differenzierung ist eine zwischen »an anthropology for and an anthropo- logy of the military« (Lutz: »Anthropology in an Era of Permanent War«, S. 374), doch auch bei letzteren bleiben die Forscher:innen zwischen Empathie und Kritik gefangen (vgl. Mohr/Refslund Sørensen/Weisdorf: »The Ethnography of Things Military – Empathy and Critique in Military Anthropology«). NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 103 ASHER BOERSMA Eine von Hutchins Aufnahmen zeigt zwei Besatzungsmitglieder, die über Hut- chins’ Anwesenheit auf dem Schiff diskutieren. Es gebührt Anerkennung, dass Hut- chins eine solche Textstelle wiedergibt. Das ältere Besatzungsmitglied sagt in die- ser: He’s studying navigation on big ships. He’s the guy, he makes computer programs for teaching stuff. Like they got a big computer program thing they use in ASW school to teach maneuvering boards. It’s all comput- erized. He is the one that makes it. He is the one who makes things like that. He’s a psychologist and anthropologist. Works for the navy. He’s a PhD. Makes all kinds of strange things.23 Offensichtlich lag die Legitimität von Hutchins’ Forschung in ihrem vermeintlichen Anwendungsbezug begründet, der die Bedingungen des Feldes und seiner beo- bachteten Menschen unmittelbar betraf und ändern konnte. Es bleibt zu vermuten, dass solche Darstellungen der Forschung Bestrebungen des Autors folgen, den Zweck der eigenen Forschung zu erklären. Wie dies geschah, wird jedoch nicht erwähnt. Auch wenn in einer so strengen hierarchischen Struktur vielleicht weniger Fragen gestellt werden, dokumentierte Hutchins mehrere solcher Fälle, in welchen Besatzungsmitglieder die Gründe seiner Anwesenheit auf dem Schiff besprachen – und immer erläuterte es ein höhergestellter Offizier einem Untergebenen. Tat- sächlich nutzte Hutchins diese hierarchische Struktur sogar explizit, um sich in diese einzufügen und viele der Besatzungsmitglieder, mit denen er interagierte »were also aware that I [Hutchins] had lunched at least once in the captain’s quarters, an honor reserved for visiting VIPs.«24 Wie dies mit seinem Ziel zusammenhängt, ein »colleague and a friend«25 zu sein, obgleich er selbst im Steuerraum versuchte, »not to participate, but only observe«26, bleibt unklar. Es gibt hier also Umstände, die ausgelassen, ja ignoriert worden sind. Hutchins fährt fort und schreibt, dass »[m]any aspects of the military culture go unreported here because I am not confident about their organization and meaning on the basis of such a short exposure.«27 Daher wurde das von Hutchins gewählte Forschungsfeld nicht nur durch die Militärorga- nisation von Widersprüchen befreit – »purified of contradictions«, wie Bear schrieb –, Hutchins selbst entschied sich dazu, absichtlich einiges an Kontext wegzulassen. Genau aus diesem Grund konnte es zu einer ›bereinigten‹ oder ›von Wider- sprüchen befreiten‹ Darstellung der Navigation kommen. Was in dieser Hinsicht als Umweg angesehen werden könnte – die Art der Recherche, die man betreibt, wenn die eigene Anwesenheit auf Misstrauen stößt und/oder eingeschränkt wird – 23 Hutchins: Cognition in the Wild, S. 23. 24 Ebd. S. 22. 25 Ebd. 26 Ebd. S. 25. 27 Ebd. NAVIGATIONEN 104 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION wird oft zur Grundlage eines neuen und produktiven Verständnisses des Feldes. Bear schließt sich letztlich Lots:innen an Bord von Seeschiffen an, aber alles – die Form der Wasserstraße, die Verkehrsmuster, der Druck auf die Lots:innen – ergibt lediglich Sinn, weil sie von der lokalen Schifffahrtsbehörde in einem Archiv ›geparkt‹ wurde, von dem angenommen wurde, es würde allein bedeutungslose Dokumente enthalten – aber schließlich entscheidende Informationen bereithielt. Wie bei Hut- chins beginnen die zentralen Publikationen der Workplace Studies dort, wo unein- geschränkter Zugang zum Feld bereits gewährt worden ist. Diese stützen sich zwar auf ethnographische Methoden, verschweigen dabei aber weitgehend die entschei- dende Sozialisation im Feld selbst, da sie sich nicht die Reflexivität des anthropolo- gischen Zugangs zunutze machen. Es erstaunt daher nicht, dass die Workplace Stu- dies als wissenschaftliche Disziplin kaum die alltäglichen Politiken von Arbeitsbedingungen mitreflektieren. Eine Forscherperson, die auf Seeschifffahrt und küstenseitige Verkehrskoordination spezialisiert ist, und im Bereich der ›Hu- man Factors‹ arbeitet, erzählte mir, sie habe ihren einzigen Feldforschungsaufent- halt an Bord eines Seeschiffs aus ihren Veröffentlichungen herausgehalten, da die Daten »too messy« waren, verunreinigt durch komplizierte und »beunruhigende« Sozialdynamiken an Bord (Interview, anonymisiert, vom 17.07.2018). Für Bear gründen sich die üblichen Widersprüche in »the making of profit and manipulation of technical objects and data in relation to a recalcitrant world.«28 Selbstredend ist die US-Marine durch den Staat, der sie finanziert und dessen (kom- merzielle) Interessen sie beschützt, tief in den globalen Kapitalismus eingebunden, aber dies bestimmt vielleicht nicht jede noch so kleine Entscheidung bei der Navi- gation eines Schiffes, wie es vielleicht sonst der Fall wäre. In Bears Forschung auf dem Hugli – wie auch in meiner eigenen Arbeit sowohl zur Binnenschifffahrt auf dem Rhein als auch zur Regulierung der Seeschifffahrt – übertrumpfen die Bestre- bungen, Kosten zu senken und Geschwindigkeiten zu erhöhen, alles andere. Bei dieser Aufgabe spielt das Ufer eine entscheidende Rolle29, wie ich im Folgenden darlegen will. 28 Bear: Navigating Austerity, S. 216. 29 Nicht nur für die Navigation auf Flüssen spielen die Akteur:innen an der Küste eine ent- scheidende Rolle. Außer in und rund um Hafenanlagen, wo Hafenlots:innen verbindlich sind, scheint es als würden Schiffskapitän:innen recht große Freiheit und Autonomie be- sitzen, alltägliche Entscheidungen meist hunderte von Meilen von der Küste entfernt zu treffen – dennoch ist der externe Druck beträchtlich. Ein Kapitän eines sehr großen Con- tainerschiffs (klassifiziert als New Panamax oder Neopanamax), der eine große Verant- wortung trägt und sämtliche Entscheidungen bezüglich Sicherheit und Navigation selbst treffen darf, berichtete beispielsweise in einem Interview, dass die Reederei seinen Treib- stoffverbrauch in Echtzeit kontrolliert (Interview, anonymisiert, 1.4.2021). Von Foucault ist das erste, was wir über Überwachung wissen, dass die, die überwacht werden, dies wissen und internalisieren (vgl. Foucault: Überwachen und Strafen). Treibstoffverbrauch ist das Ergebnis von Navigationsentscheidungen: Er hängt von der Route und von der Fahrtgeschwindigkeit ab. Wenn also der Treibstoffverbrauch ein gemeinsames und zent- rales Anliegen ist, kann das Verständnis dieser besonderen Form der Navigation nicht allein auf Beobachtungen an Bord beruhen. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 105 ASHER BOERSMA 4. EINE DAZWISCHENLIEGENDE FRAGE »Where am I?« sollte die zentrale Frage des Navigierens sein, zumindest laut Hut- chins.30 Bear allerdings entgegnet dem, dass es in der Navigation eigentlich zwei Fragen gebe. Die erste ist nach wie vor die Frage Hutchins’, aber die zweite lautet: »How can I make a profit in shortest amount of time?«31 Im Fall der westeuropäi- schen Binnenschifffahrt ist die erste Frage, wie oben beschrieben, aufgrund der Vertrautheit mit der engen Flusswasserlandschaft im Vergleich zur offenen See ver- gleichsweise leicht zu beantworten. Die Profitfrage hat eine ähnliche Prominenz, aber in meinem Feld gibt es eine dazwischenliegende Frage: Wo sind die anderen Schiffe? Diese Frage kann auf zwei Arten beantwortet werden: Die erste bezieht sich auf die fortwährende Verbindung zwischen aktueller Position und jener in unmit- telbarer Zukunft und betrifft vornehmlich – wie oben ausgeführt – die Vermeidung von Kollisionen. Die zweite Möglichkeit, wie Schiffer:innen die Frage beantworten, besteht darin, ihre Konkurrent:innen auf den Wasserwegen zu lokalisieren, was eng an die von Bear eingeführte Frage der Profitmaximierung geknüpft ist. Dies kann durch eine Episode aus dem Feld veranschaulicht werden, die von William, dem Skipper und Eigner des Containerschiffs Sunrise (anonymisiert, Feldnotiz 30.3.17), als Geschichte erzählt wird. Dafür ist es notwendig zu wissen, dass aus Sicht der Schiffer:innen die Einführung von pflichtmäßigem AIS für die Binnenschifffahrt – seit 2012 im Hafen von Antwerpen, seit 2014 auf dem gesamten Rhein und seit 2016 auf allen niederländischen Wasserstraßen – höchst umstritten war. Wie bereits er- wähnt, subventionierte Rijkswaterstaat die Installation von Transpondern, obgleich die Sorgen der Schiffer:innen nicht der Investition in die technische Ausrüstung gal- ten, sondern vielmehr Fragen der Privatsphäre betrafen, wie mir ein Politikberater mitteilte (Interview 8.6.15). Nun konnten Schiffer:innen permanent getrackt wer- den und die solchermaßen generierten Informationen waren nicht nur staatlichen Behörden, sondern einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Dienste wie das popu- läre, kommerzielle MarineTraffic stellen die AIS-Signale auf einer digitalen Karte dar und bieten die Möglichkeit, eine Anzahl ausgewählter Schiffe zu verfolgen. Die nie- derländischen Schiffer:innen forderten, dass die AIS-Informationen nicht der Öf- fentlichkeit zugänglich gemacht und nicht zur Durchsetzung des Schifffahrtsrechts, wie z.B. der vorgeschriebenen Ruhezeit, verwendet werden dürfen. Der nieder- ländische Staat willigte in beide Forderungen ein, was Schiffer:innen jedoch nicht daran hindert, ihre Daten und die Daten lokalisierter Schiffe an Dienste wie Mari- neTraffic zu senden. Ein anderer Schiffer sagte, dass Frachtmakler (freight broker) diese Informationen nutzen, um Fahrten und Ladung miteinander zu kombinieren, von denen er wiederum profitieren könnte (Feldnotiz 27.11.16). Auch Angehörige an Land nutzen diese Informationen, um zu erfahren, wo sich ihre Lieben auf den 30 Hutchins: Cognition in the Wild, S. 12. 31 Bear: Navigating Austerity, S. 131. NAVIGATIONEN 106 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION Wasserwegen aufhalten. An Bord können Schiffer:innen offizielle AIS-Daten nut- zen, die in ihre nautischen Karten eingezeichnet sind. William von der Sunrise sagte, dass er von Schiffer:innen weiß, die einen illegalen Schalter eingebaut haben, um ihr AIS abzuschalten. Dabei geht es nicht nur um die Privatsphäre, sondern auch um den Wettbewerb. William: »Wenn mehrere Schiffe am selben Ort laden müssen, zum Bei- spiel von einem Seeschiff, bekommt derjenige, der zuerst ankommt, seine Ladung zuerst, die anderen müssen mehrere Stunden warten. Man weiß oder ahnt, dass man auch auf dem Weg dorthin ist (außerdem kennt man sich untereinander). Wenn man sich dann zum Schlafen hin- legt (was nach dem Fahrzeitgesetz eine Mindestlänge von 6 Stunden hat, das weiß jeder), kann das andere Schiff versuchen, einen einfach zu überholen, und das kann dazu führen, dass man einen Tag verliert. Für diejenigen, die pro Reise gechartert werden, ist das wirklich wichtig.« (Feldnotiz 29.3.17) Nachvollziehbar zu sein und andere nachvollziehen zu können, ist hier nicht allein eine Sache der Navigation, sondern auch des Aufeinandertreffens von Regulierung und Markt. Wenn sich Schiffer:innen entscheiden, die Ruhezeiten nicht einzuhalten, sondern weiterzufahren, riskieren sie nicht allein körperlichen und psychischen Schaden, sondern auch viel härtere Sanktionen als mit einem ›fehlerhaften‹ AIS- Signal erwischt zu werden. Für den letzten Fall gibt es eine 24-stündige Frist, in welcher Reparaturen ohne zentrale Erfassung durchgeführt werden dürfen, sodass Schiffer:innen immer vortäuschen können, sich innerhalb dieser 24-Stundenfrist zu befinden.32 Schiffer:innen riskieren hohe Bußgelder, wenn sie die vorgeschriebe- nen Ruhezeiten ignorieren; auf frischer Tat ertappt, kann einem Schiff die Weiter- fahrt verboten werden und das Fälschen der Ruhe- und Fahrtzeiten im Fahrtenheft stellt eine Straftat dar. Hier wird der Markt gleichzeitig als ein ordering sichtbar und durch Überwachung spürbar, weil das AIS alle Konkurrent:innen auf einer digitalen Karte zeigt. Dieses Agencement hängt jedoch vom detaillierten Wissen der Schif- fer:innen um größere Schiffsflotten ab und davon, wie sich die Vorschriften in be- 32 Die internationale Regulierung der nautischen Fahrtzeit beinhaltet die Dokumentation der Fahrzeit pro Schiffer:in in einem von einer zentralen Stelle ausgegebenen roten Buch und unregelmäßigen Inspektionen lokaler Behördern. In diesem Buch wird die Bewegung des Schiffs zeitlich erfasst, ebenso werden die Aktivitäten jedes Besatzungsmitglieds regis- triert. Die erforderliche Mindestanzahl zusammenhängender Ruhestunden ist sechs pro 24 Stunden und über die Dauer einer Woche hinweg beträgt sie die Hälfte der Zeit, so- dass sich 84 notwendige Ruhestunden ergeben. Da es an Bord der Schiffe jedoch keine automatischen Fahrtenschreiber gibt, können die Schiffer:innen dokumentieren, was auch immer die Vorschriften verlangen und tatsächlich aber anders handeln. Dies ist ein sehr heikles Thema, bei dem sich keiner der Schiffer:innen im Gespräch mit mir sicher fühlte. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 107 ASHER BOERSMA stimmten Bewegungsmustern niederschlagen. Das Navigieren der Schifffahrtsstra- ßen wie auch das Navigieren der Entscheidungen bezüglich Fahrgeschwindigkeit und Ruhezeiten sind sich gegenseitig bedingende Praktiken. 5. JEDEM FELD SEINE EIGENE FRAGE? Penny McCall Howard verfasste eine Ethnographie der Schifffahrt unter dem Titel Environment, Labour and Capitalism at Sea (2017), auf die ich beim Schreiben dieses Artikels eher zufällig stieß. Bear wird in dieser nicht zitiert, was darauf hindeutet, dass eine wissenschaftliche Diskussion darüber, wie sich Navigation in der Praxis ausgestaltet, noch aussteht. Natürlich hat die mikro- und polynesische Navigation bereits reichlich Aufmerksamkeit erhalten.33 Demgegenüber gibt es – wie McCall Howard feststellt – bisher keinen Diskurs zu westlicher Navigation, einfach weil diese bisher kaum Gegenstand ethnographischer Forschungen war.34 McCall Howard beschreibt die Praktiken schottischer Fischer:innen, in die sie selbst während ihrer Feldforschung komplett eintauchte.35 Mehr noch als Bear ar- gumentiert sie gegen Hutchins, da seine »generalisations about Western navigation practices are like observing the walking practices of a US Army drill squad and using them to generalise about Western walking practices.«36 Spannenderweise fand sie bei Hutchins ein Bruchstück des organisatorischen Kontexts, welches erklären könnte, weshalb er navigatorische Praktiken so anders verstanden hat. Hutchins zitiert einen Navigator: »You can go into San Diego by eye. But legally, you can’t.«37 Daraus schlussfolgert sie, »[t]he elaborate navigation procedures Hutchins de- scribes may be a greater reflection of the processes of accountability within the US Navy and between the US Navy and American society as a whole, than they are about finding position at sea.«38 Es könnte sein, dass es eine Divergenz zwischen der Navigation mit Instrumenten (GPS, Radar) und der Rechenschaftspflicht der Navigation (Bleistiftzeichnungen in Seekarten) gibt, wie man aus Laleh Khalilis Si- news of War and Trade von 2020 ableiten kann. Sie interessiert sich nicht primär für 33 Siehe Gladwin: East is a Big Bird und Lewis: We, the Navigators: The Ancient Art of Land- finding in the Pacific. Seitdem liegt der Fokus meistens auf den mikro- und polynesischen skills, mit weniger formalisierten Plänen zu navigieren und sich an alle äußeren Umstände anzupassen, denen man bei Fahrten begegnet. Dies wurde lange als ein an-thropolo- gischer Spiegel westlichen Wissens angesehen, »at the very moment when it was about to be snuffed from existence« (Turnbull zit. n. Suchman: Human-Machine Reconfigura- tions: Plans and Situated Actions, S. 25). 34 McCall Howard: Environment, Labour and Capitalism at Sea, S. 121-122. 35 Obwohl sie selbst bereits eine erfahrene Seefahrerin war, bevor sie Anthropologin wurde, siehe ebd., S. 10. 36 Ebd., S. 122. 37 Hutchins zit. n. ebd., S. 123. 38 Ebd. NAVIGATIONEN 108 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION die Praktiken der Schifffahrt und arbeitet nicht ethnografisch im engeren Sinne, aber sie beschreibt gelegentlich, was sie beobachtet hat: In the wheelhouse of the freighters on which I travelled, Admiralty Charts corresponding to our coordinates were spread on a table and updated every hour with a notation in pencil tracing our sea route. The wheelhouse abounded with electronic devices, and the captain and his officers directed the ship using global positioning systems (GPS) and ra- dar. Nevertheless, the conventions of seafaring – at least for this ship- ping company – required that the ship’s officers regularly update these gorgeous charts.39 Das Intervall der Positionsupdates auf der Papierseekarte legt in der Tat nahe, dass unmittelbare Navigationsentscheidungen durch andere Medientechnologien ge- troffen werden. Zumindest deutet dies darauf hin, dass verschiedene Navigations- medien in unterschiedlichen Temporalitäten arbeiten. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, wie schnell die Aktualisierung erfolgt und wer sie vornehmen muss – das Radar aktualisiert sich selbst im Gegensatz zum Einzeichnen der eigenen Position auf einer Karte (vgl. Abb. 1 und Abb. 2). Zurück zu McCall Howard: sie schlägt vor, Hutchins’ zentrale Frage in »where is that?« umzuformulieren.40 Während ihrer Feldforschung gab es nie eine Situation, in der die Fischer:innen ihre Position – so wie bei Hutchins beschrieben – mit Hilfe von Karten oder GPS-Kartenplottern bestimmen wollten. In der Regel wissen die Fischer:innen ständig, wo auf dem Meer sie sich befinden. Die klassische Situation, in der man dies nicht weiß, ist die, wenn man von unten auf das Deck oder in das Steuerhaus kommt. Um diese Frage dann zu beantworten, nutzt man keine Me- dien, sondern fragt die schon anwesenden Besatzungsmitglieder, wo man gerade ist, so McCall Howard. Ebenso erging es mir auf den von mir besuchten Schiffen. Bei der Schifffahrt in Küstennähe und um Inseln herum gibt es oftmals visuelle Mar- kierungspunkte. McCall Howard macht es zu einer relationalen Frage, die eine ähn- liche, aber noch radikalere Wendung als mein bereits erwähntes ›Wo sind die an- deren?‹ darstellt, insofern sie Hutchins’ Frage vollständig ersetzt. Ihre Frage ist nicht allein eine räumliche, sondern auch eine zeitliche. Die Fischer:innen, die sie beo- bachtete, hatten in GPS-Kartenplotter investiert, die nicht allein die gegenwärtige Position anzeigten, sondern zudem die bereits gefahrene Route. In einem ihrer ein- drücklichsten Beispiele beschreibt sie, wie sie am Steuer stehend versucht, über die Funkfrequenz zu einem anderen Kapitän den Ort zu rekonstruieren, an dem dieser derart viele Garnelen gefangen hat. Bei der Frage ›Wo ist das?‹ geht es um viel mehr als eine GPS-Position, da das Schiff zwar an einem Ort ist, die Fangnetze 39 Khalili: Sinews of War and Trade: Shipping and Capitalism in the Arabian Peninsula, S. 31- 32. 40 McCall Howard: Environment, Labour and Capitalism at Sea, S. 118. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 109 ASHER BOERSMA jedoch irgendwo anders. Daher sind Echolote in diesem Prozess von ebenso ent- scheidender Bedeutung. In diesem Fall sind sie eingebunden in ein Agencement, das nicht wie bei westeuropäischer Binnenschifffahrt primär darauf bedacht ist, Trennungen möglichst gering zu halten, sondern eines, das Verbindung zum Mee- resboden sucht, wann immer die Beschaffenheit des Grundes dies zulässt, wenn- gleich Schleppnetzfischerei nicht immer im Kontakt mit dem Meeresgrund prakti- ziert wird.41 Betrachtet man McCall Howards Studie – bis heute neben Bears Arbeit eine der bedeutendsten Ethnographien zur Navigation – wird deutlich, dass sich Navi- gation als situierte Praxis erweist, wobei die vielen lokalen und situierten Variablen und Unterschiede eine Generalisierung navigatorischer Praktiken schwer machen. Navigation ist eine lokative Praxis – so viel ist klar. Lots:innen auf dem Hugli navi- gieren durch raumzeitliche Einschränken durch die Gezeiten und ein Zusammen- spiel von Erosion und Sedimentation in Relation zum Spielraum unter dem Kiel. Schiffer:innen der Binnenschifffahrt navigieren durch dichten Verkehr während sie versuchen, Tiefgang bei niedrigem Wasserstand (aufgrund von extremer Dürre) zu bekommen. Fortwährend lautet die mitunter komplexe Aufgabe nicht, sich selbst, sondern irgendetwas anderes – dies können auch Fische und Krustentiere sein – in Relation zur eigenen Position zu lokalisieren.42 6. RISIKO AUF DEM WASSER, PROFIT AN LAND In diesem vorletzten Abschnitt möchte ich ein Element beleuchten, das in allen oben erwähnten Feldforschungen – so unterschiedlich sie sein mögen – fortbesteht und auch in anderen Studien benannt worden ist: embodiment.43 Was skills angeht, so sind diese nur schwer auf eine individuelle Ebene zu reduzieren, da sie in »com- munities of practice«44 erlernt werden, oftmals in kollektiv zu bewältigende Aufga- ben integriert sind und einer dichten Koordination bedürfen – wie Hutchins und viele andere Workplace Studies seit den 1990er Jahren gezeigt haben. Ashley Carse beschreibt, wie Lots:innen auf dem Panamakanal damit ringen, ein ›Gefühl‹ für die neue Generation riesiger Schiffe zu bekommen, die dreimal so groß sind, wie sie es gewohnt waren.45 Genau genommen zeigen alle diese Studien – ebenso wie meine 41 Das ist meine Interpretation. McCall Howard bezieht sich auf Marcel Mauss und fokussiert sich auf »understanding technologies in the context of the techniques they are used in« (ebd., S. 126), welche von »›marks‹ [highly individual visual orientation and spatial under- standing] and memorised compass courses to radar, radio and computerised satellite and sonar instruments« reichen (ebd., S. 127). 42 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Florian Sprenger aufgrund medientheoretischer Überlegungen; siehe Sprenger in diesem Band. 43 Siehe bspw. Pálsson: »Enskilment at Sea« und Carse: »The Feel of 13,000 Containers«. 44 Lave: »Situated Learning in Communities of Practice«. 45 Siehe Carse: »The Feel of 13,000 Containers«. NAVIGATIONEN 110 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION eigene –, dass die Mediatisierung des Steuerhauses, die Digitalisierung der Instru- mente und die Automatisierung der Steuerung embodied skills keinesfalls überflüssig machen. Recht elegant beschreibt McCall Howard, wie Akteure des Feldes »tech- niques to extend the body and its senses«46 entwickelten. Sie zeigt, wie das Spüren des Wassers durch die Kabel des Netzes, um ›die Tiefe zu fühlen‹47, Teil einer gan- zen Reihe sensorischer Techniken ist, zu denen ebenso Technologien wie GPS- Kartenplotter zählen. Der Trick besteht darin, sich selbst in einen Agencement zu integrieren, um zu lernen, »how to anticipate, understand, deflect and control the motions, tensions and forces involved in working at sea instead of simply being sub- jected to them«.48 Obwohl die Märkte auf Schiffer:innen angewiesen sind, werden die Risiken körperlicher Arbeit in der Regel nicht von großen kommerziellen Unternehmen getragen. Erlebt wird dies in der Praxis an Bord, wenn »market orderings« in ris- kanten »navigational orderings« resultieren49, oder – wie in Abschnitt 4 beschrie- ben – wenn das ordering des Marktes regulatorische orderings übertrumpft, was in persönlichem Risiko resultieren kann.50 In Navigating Austerity ist das Eingehen von Risiken keine individuelle Entschei- dung, sondern das Ergebnis von systemischen Nachlässigkeiten und Defiziten, die in einem »Austerity Timespace« münden.51 Wie es ein am Boden zerstörter Lotse ausdrückte, dem ein Unfall zur Last gelegt wurde: »You are dealing with the con- sequences of things that are destined to happen already before you start to do things.«52 Was die skills betrifft, so fand Bear heraus, dass diese kulturell an das Verständnis von Risiko gebunden sind, weil institutionell die »invocation of skill, in- dividuality and the excitement of danger« dominieren. In der Praxis ist demgegenüber die Fähigkeit von Lots:innen gemeint »to overcome the omissions and contradictions created by predictive technologies and work practices that tie together the conflicting rhythms of trade and capital generation on a recalcitrant 46 McCall Howard: Environment, Labour and Capitalism at Sea, S. 89. 47 Ebd., S. 95. 48 Ebd. S. 100. Die »extension« des Körpers ist ein komplizierter Prozess, bei dem immer die Gefahr besteht, sich zu viel zuzumuten und plötzlich überlastet zu werden, was McCall Howard »over-extension« nennt, siehe ebd., S. 97. 49 Boersma: »Follow the Action«. 50 Bereits in Hutchins’ Studie wurde deutlich, dass diese rechtlichen und finanziellen Risiken auch nach der Rückkehr an Land ein Thema bleiben. Mittels Instrumenten in den Hafen von San Diego zu navigieren und dabei jedes Detail zu dokumentieren, ist nicht allein ein Ausdruck von Rechenschaftspflicht, sondern auch von Risiko, da der bereits oben er- wähnte Navigator mit den Worten zitiert wird: »Boy, you better have everything covered here, because they are going to try to hang the captain. They will try to hang him. Unless he can prove with data that everything he did was right.« (Hutchins 1995, 38) Was er hier ›tat‹, ist das, was andere unter seiner Aufsicht und mit seiner Zustimmung durchgeführt haben. 51 Bear: Navigating Austerity, S. 130. 52 Ebd. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 111 ASHER BOERSMA river.«53 Wenn Dinge schief laufen, stellen behördliche Untersuchungen lediglich fest »if the pilot was at fault«.54 Das ist die Kehrseite von dem, was Lots:innen als ihre »heroic, individual agency« verinnerlicht haben.55 Auch in meinem Feld konnte ich beobachten, dass die Entscheidung für schwere körperliche und finanzielle Ri- siken als Souveränität der Schiffer:innen interpretiert und als Ideal gefeiert wird, ohne dabei die äußeren Zwänge in Betracht zu ziehen, die zu diesen riskanten Handlungen führen. Auch McCall Howard begegnet Fischer:innen, die Risiko als persönliche Qua- lität, als Test ihrer Charakterstärke interpretierten statt als Marktlogik.56 Zu wel- chem Risiko die Schiffer:innen auch ermutigt wurden, die Gewinne fielen meist den Eigentümer:innen zu, die i.d.R. nicht Bestandteil der Besatzung waren. Insgesamt kann geschlussfolgert werden, dass »exploitation is embodied in the social structure of fisheries.«57 In der Alltagspraxis bedeutet dies, dass »constant pressure and com- petition encouraged poor vessel maintenance, boats staying out in bad weather, crew pushing past the limits of fatigue«.58 Auch auf den Flüssen, auf welchen ich meine Feldforschung betrieb, führten die extremen »working hours […] to crew exhaustion and falling asleep at the wheel«; obgleich es wahrscheinlicher zu sein scheint, dass Fischer:innen in Unfälle verwickelt werden: » [i]t was not uncommon for boats to smash headlong into completely familiar rocks, cliffs and islands.«59 Dabei ist es wichtig festzuhalten: »These wrecks had nothing to do with navigation problems or being ›lost‹ – these boats would have passed these hazards hundreds of times before and known exactly where they were.«60 Gezeiten, Sedimentation und Erosion, Strömungen, Wellenhöhe oder Wetter lassen sich schwer stabilisieren. Ungleich mehr als bei der landbezogenen Logistik bilden sie allerdings die entscheidenden in Bewegung befindlichen Elemente, des- sen Berücksichtigung die Basis für Mobilität – und damit für Profit – auf dem Wasser ist. Der Rhein scheint hier eine Ausnahme zu bilden, aber Jahrhunderte des Infra- strukturierens61 hatten nur wenig (positive) Auswirkungen auf die extrem niedri- gen Wasserstände, die Schiffer:innen dort 2018 vorfanden, die wahrscheinlich 53 Ebd., S. 135. 54 Ebd., S. 136. 55 Ebd., S. 140. 56 McCall Howard: Environment, Labour and Capitalism at Sea, S. 189ff. 57 Ebd., S. 167. 58 Ebd., S. 190. Investitionen in neues Material bedeutet Aufrüstung, nicht Verbesserung der Sicherheit. Oder wie es ein bedeutender Informant von McCall Howard darlegt: »›New boat engines now have so much torque that if the net gets caught then the whole boat is dragged under‹, Alasdair told me. ›A new one went recently like that, they had second- hand lifejackets. A Polish guy died.‹« (ebd.) 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Den Begriff verwende ich in Anlehnung an Star/Geoffrey: »How to Infrastructure«. NAVIGATIONEN 112 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION durch den Klimawandel und extreme Dürre verursacht wurden.62 Das Wissen um diese kritischen Schwankungen ist die Grundlage für eine Risikoeinschätzung. Es erlaubt den Rheinschiffer:innen, die Beladungskapazität der Schiffe auszureizen, selbst wenn diese das überschreitet, was rechtlich als sicher für den jeweiligen Was- serstand deklariert ist. Im Gegensatz zur Rheinschifffahrt gibt es auf dem Hugli staatliche Bemühungen, die Tiefenschwankungen des Flusses genauer zu messen und somit eine Verringerung des formalen Mindestabstands zwischen Schiff und Flussbett zu ermöglichen. Hierdurch können mehr Schiffe während eines bestimm- ten Gezeitenfensters abgefertigt werden.63 Auf dem Rhein sind die staatlichen Messregime also sicherheitsorientiert und Verstöße erfolgen aus privaten Profit- motiven. Auf dem Hugli sind hingegen die staatlichen Messungen gewinnorientiert und ein sicherheitsorientiertes Navigieren wird durch die einzelnen Akteure erfor- derlich. 7. NAVIGIEREN IST INFRASTRUKTURIEREN Die Spielräume zu kennen, die die entscheidenden Schwankungen erlauben, und diese navigatorisch auszunutzen, ist eine Angelegenheit von Medien – da sie auf Distanz halten, was sonst zusammenstoßen würde und verbinden, was von einan- der entfernt ist. Entscheidende Informationen werden nicht allein von externen staatlichen Institutionen bereitgestellt, sondern zunehmend auch an Bord und zwi- schen Schiffen produziert, indem ein ständiger Austausch über das, was sie messen und detektieren, stattfindet. Dies geschieht in informellen Prozessen wie verbalem Austausch, aber auch formell über das AIS. Bisher wurden nur die flachsten Stellen, die Schwellen im Fluss, täglich von wenigen staatlichen Patrouillenschiffen gemes- sen. Relativ neu ist ein System namens Covadem bei dem die Erhebung von Fluss- daten durch reguläre Schiffe der niederländischen Handelsflotte erfolgt. Es ist eine Initiative, die die wichtigsten Marktteilnehmenden der Binnenschifffahrt vereint und der sich seit 2020 auch die Staatsbehörde Rijkswaterstaat angeschlossen hat. Cova- dem ermöglicht die Vernetzung der Echolote vieler Schiffe. Erwartet wird, dass extreme Niedrigwasserstände immer häufiger auftreten.64 Darum hat vor kurzem Rijkswaterstaat seinen internationalen Partner:innen vorgeschlagen, dass die Mes- sungen des Netzwerks für den gesamten Fluss in Echtzeit allen Schiffen auf dem Rhein zur Verfügung gestellt werden sollten. Hier deutet sich ein Umbruch des situativen Wissens an Bord über die Wassertiefe auf Flüssen an. Denn das Flussbett 62 Vgl. Boersma: »Follow the Action«. 63 Vgl. Bear: Navigating Austerity, S. 131ff. 64 Vgl. Kempmann/Roux: »›Act now!‹ over laagwater en de gevolgen daarvan voor de Rijnvaart«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 113 ASHER BOERSMA gestaltet sich bei den neuen Niedrigwasserständen so schnell um, dass die mündli- chen Überlieferungen65 über die tiefsten Pfade innerhalb der Fahrrinne nicht mehr mithalten können und das früher genutzte Erfahrungswissen nicht mehr ausreicht. An diesem aktuellen, innovativen Beispiel der Vernetzung der Echolote zeigt sich, dass sich Infrastruktur und Navigation gegenseitig bedingen. Die Navigation ist nicht nur eine Auswirkung der Infrastruktur, sondern die Infrastruktur wird zu ei- nem großen Teil durch die Navigation gestaltet. Es geht um mehr als die Messung und Verteilung von Informationen. Navigieren ist Infrastrukturieren, was wiederum den Navigationsmöglichkeiten Gestalt gibt. Das einfachste Beispiel ist der Grund eines Flusses, einer Flussmündung oder eines Meeres. Mit den Erosions- und Sedi- mentationsmustern, die ihre Schiffsschrauben (und Fangnetze) als eine Folge der Routen, die sie nehmen, hinterlassen (die mitunter detaillierter als die institutionell vorgegebenen Fahrrinnen sind), üben die Schiffe oft größeren Einfluss auf die Ge- stalt der Wasserstraßen aus, als die für diese Gestaltung vorgesehenen Schwimm- bagger. Die Infrastruktur ist keine externe Vorbedingung für die Schifffahrt. Selbst in ihrer verfallenen Form, wenn Nachlässigkeit und Profitstreben wie auf dem Hugli dominieren, können sich die Lots:innen ihrer infrastrukturbildenden Rolle nicht ent- ziehen, da ihre Navigationsentscheidungen Teil der zerstörerischen Zyklen von Erosion und Sedimentation sind. Wenn Schiffe auf dem Rhein neue Wege graben, manchmal langsam, manchmal abrupt, schränken sie auch ihre Navigationsmöglich- keiten ein, indem sie an anderer Stelle Sandbänke schaffen. Vielleicht noch tiefgrei- fender strukturieren McCall Howards Fischer:innen das Meer. Nicht nur, indem sie ihre Netze über den Meeresboden schleppen – das ist vielleicht eher so, wie ein Traktor das Land umpflügt –, sondern auch, weil sie Teil einer Fischereiquoteninf- rastruktur sind, die mehr ist als nur (inner-)staatliche Behörden, die das aquatische Leben quantifizieren und regulieren. Die Fischer:innen infrastrukturieren die Fisch- bestände der Meere, da die Menge, die Art, und die Lokation der von den Fi- scher:innen gefangenen Arten der Festlegung der Quoten zugrunde liegen. Dieses und die anderen Fallbeispiele aus den hier besprochenen Ethnographien zeigen gleichzeitig auch auf, dass nautische Navigation durch Leitstellen, Fischfangquoten oder Infrastrukturbürokratien in terrestrische Agencements eingebettet ist. Dabei sollte allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass eine terrestrische Perspek- tive lange Zeit unser Verständnis von Ozeanen, Seen und Flüssen dominiert hat66, obwohl terrestrische und maritime Agencements einander bedingen und sich ge- genseitig durchdringen. Die Schleppnetzfischerei selbst und die Entleerung der Meere von aquati- schem Leben weisen zudem auf ein größeres Phänomen hin. Schiffe sind die Haupt- akteure in einem weiteren agencement von »environing technologies«, die über die 65 Dies ist eigentlich ein langsamer Prozess, in dem »newcomer« en passant von »oldtimern« lernen, vgl. Lave: »Situated Learning in Communities of Practice« und Boersma: »Media- tisation of Work«. 66 Siehe Steinberg/Peters: »Wet ontologies, fluid spaces« und dies.: »The ocean in excess«. NAVIGATIONEN 114 NA VIG IEREN ENTWURF EINER PRAXISTHEORIE DER NAUTISCHEN NAVIGATION Infrastruktur hinaus ihre Umgebung formen und beeinflussen.67 Letztere wird in diesem Fall als die Handlungen und Strukturen verstanden, die eingerichtet wur- den, um bestimmte Arten von (Transport-)Aktivitäten zu ermöglichen und langfris- tig zu stabilisieren. Offensichtlich formen fast alle Interaktion zwischen Mensch und Technik unsere Umgebung sowohl auf alltägliche als auch auf dramatische Weise. Deshalb gelten diese Überlegungen auch für die mechanisierte Mobilität an Land – auch Autos schaffen Pfade auf dem Asphalt, die die Möglichkeiten des Manövrierens beeinflussen und zu neuen Reparatur- und Instandhaltungsprozessen führen –, ob- wohl dort die Dinge nicht so instabil oder veränderlich sind wie auf und im Wasser. Nautische Navigation basiert darauf, die eigene Position in Relation zu etwas anderem zu definieren – seien es Schiffe, Fahrrinnen, Naturschutzgebiete, Wettbe- werber:innen, überschwemmte Steine, Sandbänke, Küsten, Ufermauern, Fisch- schwärme, staatliche Autoritäten, Strömungen, Gezeiten usw. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sehr wenige von diesen Entitäten beständig sind. Um in dieser Unbeständigkeit navigieren zu können, braucht es mediatisierte Wahrnehmung, inf- rastrukturiertes Wasser und situiertes Wissen. Diese hier beschriebenen Methoden der Positionsbestimmung als neue Grundlage für weitere Forschungen anzuneh- men, bringt alles wieder in – dahintreibende, ausweichende, umleitende – Bewe- gung. LITERATURVERZEICHNIS Anderson, Ben/Gordon, Rachel: »Government and the (Non)Event: The Promise of Control«, in: Social & Cultural Geography, Jg. 18, Nr. 2, 2017, S.158-177. Bear, Laura: Navigating Austerity: Currents of Debts Along a South Asian River. Palo Alto 2015. Boersma, Asher: »Follow the Action: Understanding the Conflicting Temporalities of Ships, River, Authorities and Family Through Distributed Ethnography«, in: Mobilities, Jg. 15, Nr. 5, 2020, S. 661-676. Boersma, Asher: »Mediatisation of Work: A History of Control Room Practice«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Jg. 12, Nr. 2, 2018, S. 113-132. Braidotti, Rosi: Metamorphoses: Towards a Feminist Theory of Becoming, Cam- bridge 2002. 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Aus navigatorischer Per- spektive bildet diese noch junge alpine Sportart insbesondere in ihrer kompetitiven Wettbewerbsform ein äußerst erkenntnisreiches Untersuchungsfeld, um den sozi- otechnischen Bedingungen von Navigation im alpinen Raum nachzugehen. Ath- let:innen müssen nicht nur eine Strecke entlang vorgegebener Ortspunkte bewäl- tigen, sondern zugleich durch anspruchsvolles alpines Gelände navigieren. Die Wahl der richtigen Weg- und Flugstrecke generiert sich hierbei aus einem vielschichtigem Handlungskomplex, indem strategische Vorausplanungen und situatives Reaktions- vermögen mit Geo- und Outdoor-Technologien innerhalb eines logistischen Ver- sorgungsnetzwerks ineinandergreifen. Vor diesem Hintergrund fragt der Beitrag nach der navigatorischen Spezifik von Hike&Fly-Wettrennen und den Praktiken und Netzwerken, die das Navigieren in alpinem Gelände zu Fuß und in der Luft ermög- lichen. Alpines Navigieren – so die zentrale Erkenntnis des Beitrags – bedingt im Bereich von Hike&Fly eine Assemblage aus Körper, Technologie und Umwelt. KEYWORDS: Paragliding, Technologie, Körper, Natur, soziotechnische Praktiken 1. EINLEITUNG Hinter dem Anglizismus ›Hike&Fly‹ verbirgt sich eine Form des Paraglidings, das Gleitschirmfliegen mit Bergsteigen verbindet. Statt per Auto, Bus oder Seilbahn Flugstartplätze in den Bergen zu erreichen, nehmen Hike&Fly Sportler:innen meh- rere Stunden Aufstieg in Kauf, um abgelegene Plätze an Berggipfeln zu erreichen und zu mehrstündigen Thermik- und Streckenflügen aufzubrechen. Im Freizeit- wie Wettbewerbsbereich wird Hike&Fly entweder als Tagestour oder mehrtägi- ges/-wöchiges Biwakrennen durchgeführt. Bei professionellen Hike&Fly-Wettbe- werben muss eine festgelegte Strecke innerhalb einer vorgegebenen Zeit absolviert werden. Das erste und mit 10-13 Renntagen immer noch umfangreichste Rennen dieser Art sind die Red Bull X-Alps (www.redbullxalps.com), die seit 2003 alle zwei NAVIGATIONEN NA VIG IEREN KARINA KIRSTEN Jahren stattfinden und 2021 bereits ihre 10. Ausgabe feierten.1 Aus navigatorischer Perspektive bildet die noch junge alpine Sportart des Hike&Fly insbesondere in ih- rer kompetitiven Wettbewerbsform ein äußerst erkenntnisreiches Untersuchungs- feld, um den soziotechnischen Bedingungen von Navigation im alpinen Raum nach- zugehen. Athlet:innen der X-Alps müssen nicht nur eine Strecke entlang vorgegebener Ortspunkte, sogenannten Wendepunkten, bewältigen, sondern zu- gleich durch anspruchsvolles alpines Gelände navigieren, um diese Wendepunkte zu erreichen. Hike&Fly in Form eines mehrtägigen, kompetitiven Rennens in freiem alpinen Gelände durchzuführen, ist einerseits nur durch die Entwicklung von digi- talen und mobilen Geo- und Outdoor-Technologien wie GPS Tracker, Flugcompu- ter, GIS-Plattformen sowie ultraleichten Bekleidungs- und Ausrüstungsmaterialien möglich geworden. Anderseits kann solch ein Rennen nicht allein, sondern aus- schließlich mithilfe eines mobilen logistischen Versorgungsnetzwerks durchgeführt werden. Vor dem Hintergrund dieser Abhängigkeitsverhältnisse fragt der Beitrag nach der navigatorischen Spezifik von Hike&Fly-Wettrennen und den soziotechnonatür- lichen Praktiken und Netzwerken, die das Navigieren in alpinem Gelände zu Fuß und in der Luft ermöglichen. Alpines Navigieren – so die zentrale Erkenntnis des Beitrags – bedingt im Bereich des sportlichen Hike&Fly-Wettstreits eine As- semblage aus Körper, Technologie und Umwelt. Diese Assemblage wird in einem ersten Schritt anhand der Bewegungs- und Versorgungspraktiken beleuchtet, be- vor in einem zweiten Schritt der Technologisierung dieser Praktiken nachgegangen wird. Die soziotechnischen Netzwerke, in die diese Praktiken eingewebt sind, ope- rieren nicht nur an der Schnittstelle menschlicher und maschineller Möglichkeiten, sondern im steten Rückbezug zu den ephemeren, äußeren Umweltfaktoren, soge- nannten ›natürlichen‹ Umweltbedingungen, durch die Hike&Fly Athlet:innen navi- gieren müssen. Mit dem Begriff des ›Soziotechnonatürlichen‹ fasse ich diese As- pekte als eine sich wechselseitig bedingende Einheit zusammen und beziehe mich auf die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Mensch, (alpiner) Natur und Tech- nologie als ko-konstituierend zu betrachten ist. Weder ›Mensch‹, ›Natur‹ noch ›Technik‹ sind a priori voneinander zu trennen, sondern vielmehr durch kulturelle, technologische und ökologische Verflechtungen miteinander verwoben. Unserer Beziehung sowohl zu (alpiner) Natur als auch zu Technologie sowie den Funktionen und Werten, die wir aus beiden ziehen, geht immer schon eine mediatisierte und technologisierte Vermittlung voraus. 1 Inzwischen nimmt die Anzahl von Hike&Fly Wettbewerben jedes Jahr stetig zu. Auch wenn die Mehrheit dieser Wettbewerbe weiterhin in europäischen Hochgebirgen, allen voran den Alpen, ausgetragen wird, finden mit dem Wanaka Hike&Fly in Neuseeland (www.wanakahikefly.nz), den X-Red Rocks in den USA (www.xredrocks.com) und den UAE Hike&Fly Dubai International Championship (www.uaehikeandfly.ae) erstmals auch Rennen außerhalb Europas statt. NAVIGATIONEN 120 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY 2. BEWEGUNGS- UND VERSORGUNGSPRAKTIKEN Gleitschirmfliegen, auch Paragliding genannt, nimmt seine Anfänge zwar bereits in den 1960er Jahren, setzt sich aber erst mit der technischen Entwicklung der Gleit- schirme in den 1980er Jahren als eigenständige, vom Fallschirmspringen unabhän- gige Sportart durch. Den ersten Versuch, die Alpen von Frankreich bis Slowenien im Biwakmodus zu überqueren, unternimmt 1992 Didier Favre noch im Drachen, einem mit Stoff überspannten Flügel, der gegenüber dem Gleitschirm zu dem Zeit- punkt technisch ausgereifter ist.2 Favier scheitert allerdings bereits beim Start. Erst im dritten Anlauf gelingt ihm im Sommer 1993 die Überquerung, für die er insge- samt drei Monate benötigt.3 Die erste Durchführung der Red Bull X-Alps im Jahr 2003 markiert den Beginn der heutigen Paraglidingform des Hike&Fly, das sich in- zwischen zu einer vom freien Fliegen unabhängigen Disziplin entwickelt hat. Orga- nisiert von der österreichischen Medienagentur zooom productions GmbH (www.zooom.com) im Auftrag der Red Bull GmbH, rahmt die X-Alps eine medien- wirksame Vermarktungs- und Spektakelkultur, die den Rennverlauf actionreich vor alpiner Kulisse in Szene setzt. Längst basiert das Geschäftsmodell des bekannten Energydrinkherstellers nicht mehr nur auf dem Getränkevertrieb, sondern hat in die Bereiche des Sportmanagements und der Medienproduktion Einzug gehalten. Zwar haben die X-Alps das Hike&Fly im Freizeit- und Wettbewerbsfliegen populär gemacht und dem Event selbst zum Status einer inoffiziellen Hike&Fly-Weltmeis- terschaft verholfen, allerdings erkennt die Fédération Aéronautique Internationale (FAI) Hike&Fly nicht als offizielle Wettkampfdisziplin des Paragliding an.4 2 Das etwas ältere Drachenfliegen, auch Hängegleiter genannt, gehört wie das Gleitschirm- fliegen zu den motorlosen Luftsportarten, die technische Handhabung und höheren Ge- schwindigkeiten des Drachenfluggeräts sind jedoch aufwendiger und risikoreicher. Para- gliding hat sich erst in den letzten 20 Jahren zu der logistisch unkomplizierteren Flugform entwickelt. 3 Favre: La Vagabond des airs. 4 Von der Fédération Aéronautique Internationale (FAI) anerkannte Paragliding-Disziplinen sind das Streckenfliegen (Cross Country), das Punktlanden (Paragliding Accuracy) und die Gleitschirmakrobatik (Aerobatics) (siehe FAI-2021). Dem steht die »Genussfliegerei« ge- genüber, die sich zwar klar vom Wettkampffliegen abgrenzt, aber ebenso riskante und akrobatische Flugmanöver anstrebt (Stern: Stil-Kulturen, S. 47f.). Die fehlende Verbands- zugehörigkeit der X-Alps ist immer wieder Anlass für Kritik an den privatwirtschaftlichen Interessen von Red Bull und den intransparenten Auswahlkriterien der Teilnehmer:innen. Zugleich hatte dies für die Ausgabe 2021 pandemiebedingt zur Folge, dass sich die Renn- organisation um den Status einer Spitzensportveranstaltung bemühen mussten, um den Wettbewerb durchführen zu dürfen. Am 19. April wurde dieser Status gewährt (XAS- 2021). NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 121 KARINA KIRSTEN Abb. 1: »Streckenführung der Red Bull X-Alps 2021« (Red Bull X-Alps | The Race: »Route 2021«, www.redbullxalps.com/the-race/route.html, zuletzt abgerufen am 28.10.2021). Bei den X-Alps müssen Athlet:innen eine Strecke von 800-1.200 km quer durch die Alpen absolvieren. Startpunkt ist stets Salzburg. Erstmals endete die Strecke 2021 nicht wie die Ausgaben zuvor in Monaco, sondern in Zell am See (siehe Abb. 1). Die Streckenführung der X-Alps 2021 umfasste 12 Wendepunkte, die entweder per Hand signiert oder innerhalb eines festgelegten Radius in vorgegebener Rich- tung durchflogen oder – falls Fliegen nicht möglich ist – durchschritten werden mussten.5 Die Wendepunkte lagen entweder in bekannten Tourismusgebieten wie beispielsweise dem Achental (TP04), der Tiroler Zugspitz Arena (TP05) und der Aletsch Arena (PT07) oder auf namenhaften Berggipfeln wie unter anderem dem Gaisberg (1287 m / TP01), Salzburgs Hausberg, dem Mont Blanc (4807,73 m / TP09) oder dem Piz Palü (3900 m / TP10). Für die Bewältigung der Strecke stand den Teilnehmer:innen eine festgelegte Anzahl an Tagen zur Verfügung: Vom Start am 20. Juni bis zum Ende am 03. Juli um 11:30 Uhr umfasste diese im Jahr 2021 insgesamt 13 Tage.6 Dabei war an jedem Wettbewerbstag ab 22:30 Uhr bis 05:00 Uhr am Folgetag eine generelle Ruhephase (»rest period«) einzuhalten, wobei erst ab 06:00 Uhr und nur bis 21:00 Uhr geflo- gen werden durfte.7 Mithilfe eines sogenannten »night pass«, den alle Athlet:innen erhielten, konnte die Ruhepause einmalig außer Kraft gesetzt werden und unter 5 XAR-2021, 9.1. 6 XAR-2021, 3.11 und 3.12. 7 XAR-2021, 5.1 und 9.2. NAVIGATIONEN 122 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY Einhaltung der Flugverbotszeiten die Route fortgesetzt werden.8 Einen zusätzli- chen, zweiten night pass erhielten zudem die drei Erstplatzierten des Prologren- nens, das drei Tage vor dem Start am 17. Juni ausgetragen wurde.9 Grundsätzlich ist die Fortbewegung ausschließlich zu Fuß oder im Gleitschirm erlaubt, wobei keine körperliche Unterstützung oder Transporthilfen genutzt wer- den dürfen und stets die eigene Ausrüstung mitzuführen ist. Laut Regelwerk um- fasst die Ausrüstung: Gleitschirm, Gurtzeug inklusive Protektoren und Notfall- schirm, Helm, LED Handfackel, Smartphone, Flugcomputer inkl. Variometer (»Primary Tracking Device«), Spot oder Garmin inReach Satelliten-Messenger (»Se- condary Tracking Device«) zuzüglich eines weiteren GPS-Geräts (»GPS Logger«), LVS-Gerät10, Schaufel, Lawinensonde und geeignete Wanderschuhe. Optional kann die von der Rennleitung gestellte Action Camera, in der Regel eine GoPro 9, benutzt werden.11 Die Geoinformationen aus dem Primary und Secondary Tra- cking Device bilden den »Live Track Log«, der für das offizielle 3D Livetracking genutzt wird. Der GPS Logger dient der Rennleitung als »Back Up Log«, um Regel- verstöße wie Luftraumverletzungen, das Nichteinhalten der Ruhepause oder unzu- lässige Beförderungen zu überprüfen und das Strafmaß festzulegen.12 Während die direkte Streckenführung 2021 mit 1.238 km angegeben ist, sind die tatsächlich zurückgelegten Wegstrecken der Athlet:innen mehr als doppelt so lang. Die drei Erstplatzierten Chrigel Maurer (SUI1), Patrick van Känel (SUI2) und Simon Oberrauner (AUT2) benötigten durchschnittlich 2.370 km, um das Ziel zu erreichen und legten diese Strecke im Durchschnitt in acht Tagen und 19 Stunden zurück. An dieser Differenz lässt sich bereits eine wichtige navigatorische Spezifik dieser Sportart erkennen. Die Bewältigung der Strecke erfolgt nicht entlang der kürzesten Verbindung zwischen Wendepunkten, wie sie in der Karte als Luftlinie eingezeichnet ist. Diese Luftlinie stellt eine abstrakte Größe dar, die jeglichen Bezug zur konkreten Umgebung und den tatsächlichen Bewegungsformen und Weglinien missen lässt. Es wird also nicht einfach eine abstrakte Direktlinie ›nachgegangen‹ beziehungsweise ›abgeflogen‹. Vielmehr ergibt sich die tatsächliche Wegführung aus einer sorgfältigen Prüfung möglicher Wege und Pfade und eines ausführlichen Studiums potentieller Gelände-, Wetter- und Windsituationen, die mit einer situa- tiven Anpassung an die tatsächlichen Bedingungen vor Ort sowie unterwegs ein- hergeht. Durchschnittlich steht der tatsächlich zu Fuß zurückgelegten Wegstrecke (19,2%) eine viermal so lange Luftstrecke gegenüber (80,8%). Rennentscheiden- 8 XAR-2021, 9.4. 9 XAR-2021, 9.4 und 9.5. 10 LVS ist ein elektronisches Lawinenverschüttetensuchgerät, das eingeschaltet in regelmä- ßigen Abständen ein Funksignal absendet. 11 XAR-2021, 4.5-4.7. 12 XAR-2021, 6.1-6.9. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 123 KARINA KIRSTEN der Faktor ist das Wetter, insbesondere die Windverhältnisse und thermischen Ab- lösungen (Thermikentwicklungen) bestimmen darüber, ob und wie weit geflogen werden kann. Mit durchschnittlichen Geschwindigkeiten von 30-60 km/h sind Ath- let:innen in der Luft wesentlich schneller als zu Fuß (nur 4-5 km/h).13 Doch dies mindert nicht den Anteil, den der gelaufene Weg an der generellen Fortbewegung hat. Auch wenn zu Fuß effektiv weniger Kilometer zurückgelegt werden können, hat das Laufen einen ausschlaggebenden Anteil an dem Erfolg der sich anschließen- den Flugphasen. Ein langer und beschwerlicher Aufstieg über mitunter abseitige, steile Pfade, matschiges Eis oder schmale Krater bringt im Idealfall eine günstigere Ausgangsposition ein als ein Start vom nächstgelegenen Hügel. Ein erhöhter Start- platz am Berggipfel begünstigt die für das Gleitschirmfliegen entscheidende Voraus- setzung, die Umgebung genau, direkt und weitläufig beobachten und die tatsächli- chen Ortsbedingungen einschätzen zu können. Je höher dabei die eigene Blickposition ist, desto umfassender können die äußeren Umweltbedingungen er- fasst werden. Die sorgsame Beobachtung von Wolkenbildungen, Luftströmen, Vö- geln oder anderen Paraglider:innen gibt Aufschluss über Wettersituationen, Wind- verhältnisse, thermische Ablösungen und damit potentielle Navigationswege. Ähnlich der social navigation hilft auch bei Hike&Fly das Studium vorheriger Hand- lungen und Pfade anderer – in dem Fall vorheriger Weg- und Flugbahnen von Mensch und Tier – dabei, sich im Raum, dem physischen von Berg und Luft, zu- rechtzufinden.14 Stets ausgerichtet auf Wetter, Wind und Thermik geben diese na- türlichen Bahnen nicht nur Orientierungshilfen, sondern fließen in die eigene Ent- scheidung ein, wohin als nächstes gelaufen und geflogen wird. In Thermiken erreichen Pilot:innen schnell Höhen von 2-3.000 m (ü.d.M.), bei starken Auftrieben sogar bis über 4.000 m, was zwischen Thermikflügen weite Streckenflüge ermöglicht. Da Thermiken aber meist erst in den Vormittagsstunden einsetzen, wenn sich der Boden allmählich erwärmt hat, ist ein früher und niedriger Start für die Pilot:innen wenig lohnenswert, weil sie Aufwinde nicht ausreichend nutzen zu können und Gefahr laufen, nicht nur zu schnell wieder hinabzugleiten, sondern mitunter auch unterhalb der Baumgrenze oder gar ganz zurück im Tal zu landen. Dicht bewaldete Gebiete erschweren dann ein sicheres Landen und den erneuten Aufstieg. Den Flugphasen gehen aus diesem Grund – vor allem in den frühen Morgenstunden eines Renntages – lange Aufstiege in alpinem Gelände vo- raus, um bis zur Bildung erster Thermiken eine ideale Startposition zu erreichen. Die Fortbewegungen zu Fuß und in der Luft sind im alpinen Raum also stets in die Vertikale ausgerichtet. Ob zu Fuß am Berg oder im Gleitschirm kreisend in der Thermik, der Höhengewinn ist Grundvoraussetzung für Hike&Fly. Um voranzu- kommen und weite Strecken fliegen zu können, müssen Athlet:innen gewisserma- ßen erst ›Höhe machen‹. Erreichen sie diese Höhen am Berg oder in der Luft, zielen 13 XAN-2021a. Die maximal gemessene Geschwindigkeit während des Rennens wurde bei Simon Oberrauner (AUT2) mit 75km/h gemessen (XAN-2021e). 14 Zu social navigation siehe Munro u.a.: Social Navigation of Information Space. NAVIGATIONEN 124 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY sie aber nicht auf eine direkte Tal- und Gipfelüberquerung. Der kürzeste Flugweg verspricht auch hier nicht als Erste:r anzukommen. Talüberquerungen bleiben ris- kante Manöver, bei denen schnell Windabrisse oder Talwinde drohen, die von der geplanten Route abbringen oder ganz zu Boden reißen können. Stattdessen durch- und umfliegen die Athlet:innen Täler und Gipfel möglichst in Berghangnähe und orientieren sich auf Sicht am Gelände. Auch während des Flugs ist die direkte Be- obachtung der Umgebung wichtig, um über die weitere Routenwahl zu entschei- den. Vor diesem, wenn auch etwas verkürzt dargestellten Hintergrund wird deut- lich, dass die tatsächliche Wegführung im Hike&Fly aus einem navigatorischen Handlungskomplex heraus erfolgt. Athlet:innen greifen zwar auf topographische und meteorologische Karteninformationen zurück, doch in diesen reduzieren sich die Wendepunkte auf die Funktion von »successive signposts«, an denen sich Navi- gation und Fortbewegung nur übergreifend ausrichtet.15 Zentraler für die Naviga- tion ist es, die Fortbewegung in Einklang mit den ephemeren Umwelteinflüssen von Wetter und Wind und den daraus folgenden veränderten Fortbewegungsmöglich- keiten zu bringen. Zwischen den Wendepunkten besteht die Herausforderung, die ideale Linie zu finden. Diese verspricht aber nicht unbedingt den kürzesten Weg oder führt am schnellsten zum nächsten Wendepunkt. Vielmehr entsteht diese Li- nie aus einem Netzwerk navigatorischer Praktiken und physischer Bewegungen heraus, an denen menschliche Fähigkeiten (sehen und beobachten), natürliche Um- weltfaktoren (Wetter und Wind) und technologische Elemente ko-konstitutiv, situ- ativ und zielorientiert ineinanderwirken. Die beschriebenen navigatorischen Über- legungen und Umsetzungen konfigurieren sich in einem soziotechnonatürlichen Netzwerk, das darauf ausgerichtet ist, eine Linie zu finden, die sich aber erst im Nachhinein als soziotechnische Spur ihrer vorausgehenden navigatorischen Bedin- gungen erkennbar und in ihrem Erfolg (gefunden) oder Scheitern (verfehlt) bewert- bar zeigt. Die ideale Linie, von der wir annehmen, dass sie der Navigation vorgängig sei, ist hier Effekt jener navigatorischen Praktiken, in denen sie sich konkretisiert. Sie geht der Navigation logisch voraus und bleibt faktisch ihr Effekt. Dies stellt die Teams der Athlet:innen vor logistische Herausforderungen, denn die stete Fortbe- wegung zu Fuß und in der Luft sowie die situative Wegführung bedingen eine Mo- bilität der beteiligten Personen und Versorgungsprozesse. Viele der navigatorischen und logistischen Praktiken müssen sich in Biwakren- nen in Bewegung organisieren. Das stunden- und tagelange Unterwegssein in alpi- nem Gelände kann nur über ein gut organisiertes Versorgungsnetzwerk aufrecht erhalten werden, in dem sich verschiedene Aufgaben wie Essen, Wasser, Kleidung, Tourenplanung, Wetterauswertung und elektronische Gerätewartung auf ein Team aus mehreren Helfer:innen verteilt. Je größer die Teams sind, desto spezifi- scher verteilen sich diese Aufgaben und Tätigkeiten auf die einzelnen Teammitglie- der: Während ein stationäres Mitglied Wetterdaten auswertet und Tagesprognosen 15 November u.a.: »Entering a Risky Territory«, S. 586. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 125 KARINA KIRSTEN liefert und sich ein halb-stationäres Teammitglied um Verpflegung, Wäsche und Übernachtungslager kümmert, begleiten zwei bis vier Teammitglieder die Athlet:in auf der Strecke. Sie transportieren Material und versorgen die Athlet:in mit Essen und neuer Kleidung, insbesondere beim Wechsel zwischen Fußmarsch und Flug- phase. Die X-Alps schreiben keine autonome Verpflegung vor, sondern erlauben den Athlet:innen explizit in Teams anzutreten. Laut Regelwerk besteht ein Team aus Athlet:in und »supporter«, wobei letzterem als feste Ansprechpartner:in spezifische Rechte und Pflichten zukommen, so zum Beispiel das Benutzen eines eigenen Gleit- schirms.16 Eine Unterstützung durch weitere Helfer:innen ist nicht ausgeschlossen. Im Gegensatz zur Athlet:in dürfen diese auf motorisierte Transportmittel zurück- greifen (mit Ausnahme motorisierter Flughilfen). Je nach finanziellen Möglichkeiten sind die Teams mit Wohnmobilen und/oder Kleinbussen sowie PKWs unterwegs. Die Wohnmobile oder Kleinbusse bilden das logistische Zentrum, in dem nicht nur geschlafen, gekocht und gewaschen wird, sondern auch physiotherapeutische Be- treuung, Routenplanung und -verfolgung vorgenommen werden. So gesehen zent- rieren sich in dem logistischen Zentrum immer wieder Unterkunft, Verpflegung und Navigation bevor sie sich über die Strecke zur Athlet:in verteilen. Je weiter das Rennen fortschreitet, d.h. je weiter die Athlet:innen in abgelegene Hochgebirgsbe- reiche vordringen, desto dezentraler verteilen sich die Versorgungsprozesse und – infrastrukturen über das Gelände. Während das logistische Zentrum die Nähe zu infrastrukturellen Einrichtungen wie Wasserversorgung, Supermärkte und Tank- stellen wahren muss, verteilt sich die weitere Versorgung auf kleinere motorisierte Transportmittel (Kleinbusse und PKW) und letztlich auf Verfolgungen zu Fuß. Wenn die Athlet:innen zum Flug starten, besteht die Herausforderung der räumlich verteilten Mitglieder schließlich darin, zum Versorgungszentrum zurückzukehren und die Verfolgung aufzunehmen, um die weitere Verpflegung zu gewährleisten. Sind die Athlet:innen erst in der Luft, können sie bei guten Bedingungen über 200 km am Tag, meist mit Zwischenlandungen, fliegen. Eine Verfolgung auf Sicht oder entlang der geplanten Route ist angesichts der Geschwindigkeiten und situa- tiven Anpassung der Route für die Teams nicht möglich. Auch sie müssen ihre Ver- folgung permanent modifizieren und mit der Route der Athlet:innen und den Zu- gangsmöglichkeiten vor Ort situativ abstimmen. Dafür sind die Teams auf die Geoinformationen der Tracking-Geräte angewiesen, die die Athlet:innen mitführen und die über eine Arc GIS-Plattform als Livetracking aufbereitet werden. Bevor im nächsten Abschnitt diese (Geo-)Technologien näher betrachtet werden, lässt sich aus den bisherigen Ausführungen Hike&Fly navigatorisch als ein interdependenter Komplex aus Mensch-Natur-Technologie beschreiben, in dem das Zusammenspiel menschlicher, natürlicher und technologischer Elemente (oder Akteure) eine spe- zifisch alpine Navigationsfähigkeit konstituiert, die sich von der Navigation in ande- ren natürlichen, technologischen, sozialen und architektonischen environments 16 XAR-2021, 2.7 und 2.9. NAVIGATIONEN 126 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY maßgeblich unterscheidet. Inwiefern Technologien hierbei spezifisch in die naviga- torischen Praktiken einwirken, wird im Folgenden anhand von Ausrüstung und Livetracking deutlich. 3. DIE TECHNOLOGISIERUNG NAVIGATORISCHER PRAKTIKEN Alpine Outdoor-Aktivitäten erfreuen sich in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit. Neben tradierten Freizeit- und Bergsportarten wie Skifahren und Wan- dern haben insbesondere Mountainbiking, Wildwasser-Kanu, Hochgebirgstouren, Klettern und Paragliding an Popularität gewonnen. Die steigende Nachfrage hat technologische Neuerungen befördert, von denen auch die junge Disziplin des Hike&Fly profitierte. Ultraleichte, transparente sowie isolierende Bekleidungen und robustes, spezialisiertes Schuhwerk sind zentrale Bestandteile einer Hike&Fly- Ausrüstung.17 Noch entscheidender allerdings wirkt sich die Fabrikation von Gleit- schirm und Gurtzeug samt Sitz und Protektor aus. Während die Athlet:innen bei den ersten X-Alps 2003 noch 12-16 kg an Ausrüstung tragen mussten, hat sich das Gepäck dank der Entwicklung schmaler Gleitschirme und kleiner, leichter Gurt- zeuge bis 2021 auf 6-8 kg reduziert.18 Schmale Gleitschirme erfordern ein erhöhtes Maß an Konzentration auf Handling und äußere Umgebung, da die geringere Schirmfläche anfälliger auf Windveränderungen reagiert. Das freie Fliegen im Wett- kampfmodus, allen voran das mehrtägige Biwakrennen der X-Alps, stellt eine kör- perlich und kognitiv anspruchsvolle Tätigkeit dar. Auf lange, anstrengende Berg- marsche in zum Teil steilem Gelände folgen mitunter stundenlange Gleitschirmflüge, bei denen die Athlet:innen eine große Menge an Geoinformatio- nen sammeln und analysieren müssen, um fortlaufend zu entscheiden, wie und wo- hin sie fliegen. Einen Teil der Informationen beziehen sie aus der direkten Beobach- tung der Umgebung und anderer Pilot:innen, Vögel, Wolken und alpinen Geländebeschaffenheit wie Hangneigung, Exposition und Vegetation. Während diese Aspekte nur durch den Sehsinn gewonnen werden können, sind weitere zum Fliegen wichtige Informationen nur mittels elektronischer Geräte zu erfassen und einzubeziehen. Zu diesen gehören unter anderem Position, Peilung, Geschwindig- keit über Grund, Geschwindigkeit aufsteigender Luft (Thermik) und Gleitgeschwin- digkeit relativ zur Luft wie zum Boden.19 Für das Erlangen dieser Informationen häufig eingesetzte Geräte sind kleine, handliche Flugcomputer wie der FlyMaster, der mit einem benutzerfreundlichen und sensorbasierten Flight Decision Assistance System ausgestattet ist.20 Dieses bildet auch bei den X-Alps das zentrale Navigationsinstrument in der Luft, das die 17 Zu Schuhwerk als Akteur innerhalb von Outdoor-Aktivitäten siehe Barratt: »Vertical worlds« und Parsons/Rose: Invisible on Everest. 18 XAN-2021d. 19 Für eine detaillierte Darstellung siehe Janssen u.a: Gleitschirmfliegen. 20 Gomes u.a.: »Ubiquitous Ambient Intelligence«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 127 KARINA KIRSTEN für die aktuelle Flugphase (Start, Thermik, Strecke, Landung) nötigen Informatio- nen dank integrierten Funktionen wie GPS, Variometer, 3D-Luftraumdarstellung und Livetracking korrekt, eindeutig und zum richtigen Zeitpunkt anzeigt. Ange- sichts der äußeren Umweltfaktoren und erschwerten Nutzungsbedingungen muss der Flugcomputer eine Reihe an Anforderungen erfüllen: Einerseits muss das Gerät klein, leicht, widerstandsfähig, unter direktem Sonnenlicht sichtbar und einfach zu bedienen sein; niedrige wie hohe Temperaturen als auch niedrigen Druck aushalten und eine Laufleistung von mehreren Stunden haben. Da für die Kontrolle des Gleit- schirms stets beide Hände benötigt werden, muss zudem der Wechsel zwischen den Flugmodi und die Anzeige der entsprechend dem Modus nötigen Informatio- nen automatisch erfolgen.21 Diese gleitschirmspezifischen Ausrüstungen wirken sich entscheidend auf die Berg- und Flugfähigkeit der Athlet:innen aus. In der Anwendung greifen die spezifi- schen materiellen Eigenschaften und technologischen Funktionalitäten mit den na- türlichen Umweltbedingungen und den menschlichen Fortbewegungsformen der- art ineinander, dass leistungsfähige technologisch augmentierte ›Hike&Fly-Körper‹ im Sinne Haraways entstehen.22 In dieser Perspektive nimmt Technologie eine pro- thetische Erweiterung des Körper vor. Im progressiven Sinn der Science und Tech- nology Studies gehen Körper und Technologie hier nicht nur eine soziotechnische Fusion ein, vielmehr bringen sie sich gegenseitig hervor.23 Zugleich lässt sich aus einer kritischen Perspektive feststellen, dass der technologische Fortschritt von Flugcomputern und Gleitschirmen menschliche Sinne abschwächt und eine höhere Risikobereitschaft befördert.24 Zugleich schärfen die Technologien die navigatori- sche Fähigkeit gerade durch eine verstärkt technisch vermittelte Wahrnehmung der äußeren Umgebung und eigenen Fortbewegung in als auch mit derselbigen. Darüber hinaus bildet Hike&Fly eine zutiefst körperliche Praxis. Die langen Aufstiege, Fußmärsche, Flugphasen und die mitunter harten Starts und Landungen fordern die körperliche Verfasstheit der Athlet:innen heraus und hinterlassen ihre Spuren in Form von Muskelkater, Blasen, blauen Flecken oder Verstauchungen. Während körperliches Unbehagen oftmals als Störung der Einheit von Körper und Umwelt interpretiert wird,25 ist bei technisierten Outdoor-Praktiken wie Hike&Fly 21 Ebd., 296ff. 22 Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. 23 Dixon/Whitehead: »Technical trajectories«; Hansen: New Philosophy for New Media. 24 Siehe u.a. Ingold: »Culture on the ground«. Beide Perspektiven, die progressive wie kriti- sche, sind in den Diskussionen rund um die 10. Austragung der X-Alps wiederzufinden. Während die Rennorganisation die fusionistische Einheit von Technologie und Körper fei- erte (XAN-2021c und XAN-2021f), reagierte das Publikum online immer wieder kritisch auf riskante und als ›breathtaking‹ bezeichnete Start- und Landemanöver (XAN-2021b). 25 Michael: Reconnecting Culture, Technology and Nature; Michael: »These boots are made for walking«. NAVIGATIONEN 128 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY ein gewisses Maß an körperlichem Leid integraler Bestandteil der Erfahrung.26 Diese Körperlichkeit steht aber nicht im Widerspruch zur Technologisierung des Sports, sondern sie trägt vielmehr die Grenzen des körperlich Möglichen zur Schau, die letztlich erst durch den technologischen Einsatz als eine intensive Körper-Um- welt-Einheit erfahrbar werden können. Die stete und schnelle Fortbewegung der Athlet:innen in alpinem Terrain stellt nicht nur die Teams vor navigatorische und logistische Herausforderungen. Im Ge- gensatz zu Großveranstaltungen populärer Bergsportarten wie Ski oder Rennrad verfügen Nischenevents wie die X-Alps nicht über die Möglichkeit einer konstanten Live-Übertragung. Während Fernsehanstalten oder Sportstreamingdienste über Standleitungen verfügen, die eine mediale Übertragung auch in abgelegenen Gebie- ten sicherstellen, greifen die X-Alps auf Intermediäre wie Google und Facebook zurück, um mithilfe von und über deren Plattformen vom Rennverlauf zu berichten: Live-Berichte von der Strecke (während des Aufstiegs, von Startplätzen und (zu- gänglichen) Wendepunkten), Tageszusammenfassungen (Zusammenschnitte aus Aufnahmen des Helikopter-Filmteams), Updates, Bilder und Videos zum Rennver- lauf werden dabei parallel auf Social Media Plattformen veröffentlicht. Neben dieser verteilten Berichterstattung können die Athlet:innen über das Livetracking dauer- haft verfolgt werden. Genutzt wird dafür eine Arc GIS Plattform, auf der die Geo- daten der Streckenführung und des Live Track Log aus dem Primary und Secondary Tracking Device der Athlet:innen eingespeist werden. Grundlage der Plattform bil- det ein 3D Mesh der Erdoberfläche, auf das Satellitenbilder der Alpen projiziert werden. Diese Texturierung ermöglicht eine Online-Navigation durch das 3D-Ter- rain, indem Berge, Täler und Flüsse erkennbar werden und eine Routenverfolgung der Athlet:innen möglich wird. Die Online-Anwendung bietet hierfür drei verschie- dene Ansichten, die unterschiedliche Navigationsoptionen bereithalten: 2D- und 3D-Luftbildansichten (Abb. 2.1 und 2.2), durch die User frei navigieren können; eine 360°-Avatar-Ansicht (Abb. 2.3) und eine 3D Cockpit-Perspektive im Stil eines Ego-Shooters, die zwar keine freie oder 360°-Navigation bietet, dafür aber eine Tonebene, die das Grundrauschen beim Fliegen und die Vario-Töne im Steigen imi- tiert (Abb. 2.4). Über ein Dashboard sind neben News Updates auch die Daten der Athlet:innen, ihre aktuelle Fortbewegungsform (laufen, fliegen oder ruhen), Ge- schwindigkeit, Höhe und GPS-Position einsehbar und in der 2D- und 3D-Luftbild- ansicht individuell ein- oder ausblendbar. Es können damit sowohl die Wege aller Athlet:innen gleichzeitig als auch nur einzelne ausgewählte angezeigt werden. 26 Verschiedene Arbeiten zeigen dies bereits exemplarisch an anderen Outdoor-Sportarten auf. Zum Parkour siehe Saville: »Playing with fear«; zum Rennradfahren siehe Spinney: »A place of sense«; zum Klettern Barrat: »Vertical worlds«; zu Paragliding und Snowboarding siehe Stern: Stil-Kulturen. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 129 KARINA KIRSTEN NAVIGATIONEN 130 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY Abb. 2.1-4: »2D und 3D Navigationsansichten im Livetracking« (Red Bull X-Alps | Live Tracking, http://www.redbullxalps.com/live-tracking.html/, zuletzt abgerufen 05.07.2021). Die jeweiligen Fuß- und Luftwege der Athlet:innen sind in der Plattform über ver- schiedene farbige Linien dargestellt. Entsprechend Ingolds Linienverständnis ziehen sich diese Linien wie »threads« (Fäden) durch das 3D-Gelände und erzeugen für die Dauer ihrer Anzeige (in der Avatar und Cockpit-Ansicht lösen sich die Linien wieder auf) ein »meshwork« (Geflecht) in- und übereinander verwobener Linien.27 Sinnbildlich für die oben beschriebene Navigationsleistung verknüpfen die Linien also nicht einfach die Wendepunkte, sondern generieren sich aus den Trackingda- ten der Athlet:innen und damit aus dem zu einem Datenfluss übersetzten und kom- primierten Handlungskomplex heraus. Für Athlet:innen, Teams und Rennleitung hat dies navigatorischen Mehrwert: Die Livetracking-Plattform gerät im Sinne von Abends und Atteneders Geomediatisierungskonzept zur zentralen Vermittlungs- instanz, die eine mehrdimensionale Navigation zwischen Mensch(en) und Ort(en) im alpinen Raum zulässt.28 Die über die Plattform sichtbar werdenden Weglinien der Athlet:innen ko-konstituieren nicht nur die medialen, logistischen und naviga- torischen Praktiken der Teams, Rennorganisationen und des Publikums vor Ort, sondern wirken ebenso auf die sich in Führung befindenden Athlet:innen aus und auf die navigatorischen Praktiken der Verfolger:innen zurück. Insofern erzeugen die über die Plattform ablaufenden Geomediatisierungsprozesse nicht nur eine navi- gierbare alpine Welt, sie steuern darüber hinaus die zur Navigation nötigen sozio- technischen Interaktionen und Praktiken und eröffnen für das Publikum eigene na- vigatorische Handlungsspielräume. Doch im Vergleich zu dem Mehrwert, den die Plattform für Teams und Rennleitung bereithält, beschränkt sich der Nutzungsspiel- raum für ein Online-Publikum auf eine rein mimetische Dimension, die zum physi- 27 Ingold: Lines, S. 75-84. 28 Abend/Attenender: »Geomediatisierung«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 131 KARINA KIRSTEN schen Georaum der Alpen nur eine repräsentative Ähnlichkeit wahrt und die sozi- otechnonatürliche Komplexität von Hike&Fly auf eine eindimensionale Liniendar- stellung reduziert.29 Was es heißt Hike&Fly zu betreiben, bleibt über die GIS Platt- form unzugänglich. 4. FAZIT: HIKE&FLY ALS SOZIOTECHNONATÜRLICHE NAVIGATIONSFÄ- HIGKEIT Im Bereich von Outdoor-Aktivitäten zeigt sich auf markante Weise wie im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie Menschen durch materielle Artefakte ›technologi- siert‹ werden.30 Nicht erst mit dem Aufkommen digitaler Technologien lassen sich alpine Praktiken und Erfahrungen als hybride Körper-Technologie-Natur-Assemblages betrachten, die durch technologische Neuerungen ko-konstitutiv hervorgebracht werden. Gipfelbesteigungen und Alpenüberquerungen waren stets in soziotechni- sche und technonatürliche Netzwerke eingesponnen, in denen Messinstrumente, Kletterausrüstung oder Dokumentationsmedien alpine Praktiken als »technologi- cally mediated embodied practice«31 mitkonstituierten.32 Voraussetzung dafür, dass sich Hike&Fly als eine eigene Paraglidingform, wenn auch nicht als offiziell an- erkannte FAI-Disziplin, durchsetzen konnte, waren insbesondere technologische Entwicklungen im Bereich der Ausrüstung und Navigation. Neben leichteren und robusteren Materialien für Gleitschirm, Gurtzeug und Bekleidung haben vor allem die Weiterentwicklung kleiner und leistungsstarker Flugcomputer wie der FlyMas- ter und die Einführung von Livetracking-Plattformen neue Wettkampfmöglichkei- ten für das freie, unmotorisierte Fliegen eröffnet. In dem Sinn führen die Neuerun- gen im Bereich der Bergsteiger- und Paraglidingausrüstung nicht nur historische Traditionen fort, sondern formen auch entscheidend die körperlichen Vorausset- zungen und navigatorischen Fähigkeiten, die es für den sportlichen Hike&Fly-Wett- streit braucht. Alpines Navigieren in diesem Kontext ist also mehr als ein ›Ablaufen‹ bezie- hungsweise ›Abfliegen‹ einer vorgegebenen Strecke innerhalb einer bestimmten Zeit. In ähnlicher Weise zur Nautik bedingen externe Umwelteinflüsse auch die alpine Routenwahl und Fortbewegung. Die sich stetig verändernden Wetter-, Wind- und Geländebedingungen wirken sich entscheidend auf den Weg und die Art der Fortbewegung aus. Die soziotechnonatürliche Spezifik von Hike&Fly besteht dabei im Zusammenspiel geplanter und situierter navigatorischer Handlungen im Sinne Suchmans.33 Auf der Basis topografischer Informationen und Wetter- und 29 November u.a.: »Entering a Risky Territory«, S. 586. 30 Siehe u.a. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women; Latour: We Have Never Been Mod- ern; Michael: Technoscience and Everyday Life; White/Wilbert: Technonatures. 31 Barrat: »Vertical worlds«, S. 397. 32 Den Alpinismus prägte insbesondere in seinen Anfängen eine doppelte Orientierung aus Naturerleben und (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis. Siehe Peskoller: BergDenken. 33 Suchman: Plans and Situated Actions. NAVIGATIONEN 132 NA VIG IEREN NAVIGATING HIKE&FLY Windprognosen werden verschiedene mögliche Routenszenarien (›scripts‹) ent- worfen, in denen multiple Umweltsituationen imaginiert werden. Angesichts der Länge, Dauer und Komplexität der Aktivität würde dies allerdings eine Vielzahl an Umweltkonstellationen und Navigationssituationen umfassen, die nur begrenzt umfänglich vorausschauend geplant werden können. Navigieren im alpinen Ge- lände stellt daher eine kognitive Höchstleistung dar, bei der permanent technische Informationen, sinnliche Eindrücke und natürliche Bedingungen vor Ort miteinan- der in Einklang gebracht werden müssen. Hierfür bilden Hike&Fly Athlet:innen ein komplexes Wissen aus, das sich sowohl aus langjähriger praktischer Erfahrung und explizitem Wissen um die Geländebeschaffenheiten und Ortsbesonderheiten in Ab- hängigkeit von Tages- und Jahreszeiten zusammensetzt als auch in einem sogenann- ten »Spürsinn«, einem situativen Erkennen und Nutzen thermischer Ablösungen, aufgeht.34 Die Routenszenarien und geplanten Navigationshandlungen gehen folg- lich in einem praktischen (Vor-)Wissen auf, das zusammen mit dem sorgsamen Be- obachten der natürlichen Umgebungsverhältnisse und situativen Erspüren von Thermiken entscheidenden Anteil an der Fähigkeit hat, in der jeweiligen Situation adäquat reagieren und navigieren zu können. Es verwundert daher nicht, dass insbesondere lokale Athlet:innen aus den westlichen Alpenländern bei den X-Alps besonders erfolgreich sind. Möglich wird dies durch ein implizites (Orts-)Wissen, das sich sowohl in die technologisierte als auch verkörperte Navigationsleistung einschreibt. Grundsätzlich zeichnet Hike&Fly Athet:innen die Fähigkeit aus, Umwelt als mehrdimensionale Größe zu erfassen: als technische Dateneinheit (Gelände-, Wetter- und Winddaten), sinnliche Wahrneh- mungseinheit (sehen, beobachten, spüren) und verkörperte Wissenseinheit (alpine Besonderheiten). Im alpinen Navigieren kompetitiver Hike&Fly-Wettbewerbe ver- schränken sich diese Einheiten zu einer Körper-Technologie-Natur-Assemblage, in- dem die Erkenntnisse aus den Wetterprognosen, Winddaten und topografischen Karten mit einem impliziten Erfahrungswissen abgeglichen und an den direkten Be- obachtungen der natürlichen Gelände-, Wind- und Wetterverhältnisse vor Ort aus- gerichtet werden. Diesen Hike&Fly Handlungskomplex in seinen soziotechnona- türlichen Praktiken und Netzwerken nachzuverfolgen, erfordert eine ganz eigene navigatorische Leistung. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – SFB 1187. 34 Stern: Stil-Kulturen, S. 48. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 133 KARINA KIRSTEN LITERATURVERZEICHNIS Abend, Pablo/Atteneder, Helena: »Geomediatisierung«, in: Bork-Hüffer, Ta- bea/Füller, Henning/Straube, Till: (Hrsg.): Handbuch Digitale Geographie: Welt – Wissen – Werkzeuge, Paderborn 2021, S. 50-59. Barrat, Paul: »Vertical worlds: Technology, hybridity and the climbing body«, in: Social and Cultural Geography, Jg. 12, Nr. 4, 2011, S. 397-412. doi.org/10.1080/14649365.2011.574797. Dixon, Deborah/Whitehead, Mark: »Technical trajectories: old and new dialogues in geography and technology studies«, in: Social & Cultural Geography, Jg. 9, Nr. 6, 2008, S. 601-611. doi.org/10.1080/14649360802320560. 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NAVIGATIONEN 136 NA VIG IEREN I I I TECHNOGRAPHIEN NAVIGATIONEN NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE Eine Archäologie der/als Navigation durch Strukturspeicher V O N S T E F A N H Ö L T G E N ABSTRACT Speichertechnologien, die Informationen über Zeiträume sichern, stellen nur eine Form der Speicherung in Medien dar. Die Architektur und Struktur von Medien- technologien selbst kann als Strukturspeicher betrachtet werden; sie besitzt eigene Möglichkeiten der Sicherung und benötigt spezifische Techniken der Bewahrung. Der Beitrag versucht solche Strukturspeicher zu definieren, indem der Begriff his- torisch, technologisch und linguistisch hergeleitet wird. Im zweiten Teil werden verschiedene Strukturspeicher diskutiert und Formen ihrer operativen Preserva- tion vorgestellt. Insgesamt werden dabei Fragen verhandelt, wie sie auch für das Navigieren essenziell sind, insofern auf Wege, Orte, Adressen usw. fokussiert wird – allerdings nicht im geographischen Makro-, sondern technologischen Mikroraum. KEYWORDS: Speicher, Struktur, Medienarchäologie, Informatik, CPU »Ganz offensichtlich wird die Information im Rechner in struktureller Weise gespeichert.« (Heinz von Foerster) 1. EINLEITUNG Von der Vielfalt vergangener Speichertechnologien sind heute, folgt man dem Spei- chertheoretiker Horst Völz, nur noch vier Arten übrig geblieben: die Magnetbän- der, die Festplatten, DRAM-Speicher und Flashspeicher.1 Mit der enormen Ver- günstigung, Verkleinerung und Verbesserung (in Hinblick auf Haltbarkeit) der Flashspeicher, geraten die ersten drei Speicherarten weiter ins Hintertreff – was sich im Personalcomputerbereich bereits deutlich zeigt. Datenspeicher, wie die ge- nannten, bilden die technischen Realisationen jenes scheinbar scharf abgegrenzten Pols Speicherung der Medienfunktionstrias. Es scheint jedoch einiges dafür zu spre- chen, dass eine kategoriale Abgrenzung dieser Funktionen bei Annäherung des 1 Nicht vergessen werden dürfen hierbei natürlich die papiernen Speicher, auf denen in Form von Scribbles, Zeitschriften und Daten- und Programmlistings immer schon gespei- chert wurde. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN STEFAN HÖLTGEN (technischen wie historischen) Blicks aufweicht. Dies stellt zwar nicht die Makro- funktionen der Verarbeitung, Übertragung und Speicherung2 von Informationen in- frage, zeigt allerdings auf der Mikroebene Formen neuer Medienfunktionen und neue Blickweisen auf alte Technologien, bei denen letztlich »alles«3 als Speicher gesehen werden kann. Der nachfolgende Beitrag möchte diese Überlegung einerseits im Begriff des Strukturspeichers theoretisch fundieren und dazu Konzepte von Verarbeitung, Spei- cherung und Übertragung an linguistische und diagrammatische Konzepte von Struktur(ierung), Ort und Weg koppeln. Zum anderen sollen diese Überlegungen an konkreten historischen und kontemporären Beispielen praktisch dargestellt wer- den. Im Zentrum steht dabei der LSI-Baustein 4004, den die Firma Intel am 15. November 1971 auf den Markt gebracht hat und der als der erste Mikroprozessor der Technikgeschichte 2021 seinen 50. Geburtstag feierte. Der Intel 4004 wird aus diesem Anlass als ein spezifischer Strukturspeicher herausgegriffen; zuvor werden andere technische Strukturspeicher (Elektronikbaukästen, Murmelcomputer, me- chanische Computer) vorgestellt, welche verschiedene Eigenschaften struktureller Speicherung realisieren. Die Frage, wie sich Speicherstrukturen selbst speichern (also über Zeiträume hinweg übertragen) und damit bewahren/konservieren las- sen, bildet den Ausblick der Überlegungen. Damit widmet sich dieser Beitrag ins- gesamt Fragen, wie sie auch für das Navigationelle von Relevanz sind – insofern Orte, Wege, Pfade, Adressen, Adressierbarkeiten und Strukturen im Fokus stehen –, allerdings in einem Raum, in dem Navigation selten explizit wird: dem technolo- gischen Mikroraum. 2. WAS IST SPEICHER? Während die Informationsübertragung Raumräume miteinander verbindet, über- brückt deren Speicherung Zeiträume. Bei genauerer Überlegung zeigt sich, dass damit bereits jede Übertragung auch einen Speicherungsvorgang darstellt, denn während Information übertragen wird, vergeht Zeit. Ein Ziel der Entwicklung von Übertragungstechnologien war und ist daher die Minimierung dieses unintendier- ten Zeitverlustes, dem jedoch physikalisch-bedingte Grenzen gesetzt sind.4 Tech- nische Informationsspeicherung machte aus dieser Not eine Tugend, als sie aus der Übertragungstechnologie hervorging, denn »[e]ine Verzögerung von Informationen muss nicht zwingend stören, sondern kann genauso gut eine positive Eigenschaft sein, denn durch sie werden aus Übertragungssystemen dynamische Speicher.«5 Solche Verzögerungsspeicher, wie z. B. Quecksilber- oder Drahtspeicher bilden 2 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 519. 3 Völz: Speicher als Grundlage für alles. 4 Keine Information kann schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden. 5 Maibaum: »Lumped Lines«, S. 147f. NAVIGATIONEN 140 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE die frühesten Binärspeicher für Computersysteme. Sie basieren auf den physikali- schen Eigenschaften der Speichermedien (etwa der Verzögerung, mit der ein akus- tischer Impuls durch einen aufgewickelten Draht läuft). (Vgl. Abb. 1) Abb. 1: Drahtspeicher (Medienarchäologischer Fundus, eigenes Foto). Im 20. Jahrhundert entstehen in rascher Abfolge weitere Speichertechnologien, die sich nach drei Kategorien ordnen lassen: nach der Speicherdauer, nach der Speicher- geschwindigkeit und dem Energieverbrauch, der für die Speicherung nötig ist. Je nach- dem, welcher dieser Parameter der bestimmende oder begrenzende Faktor ist, werden die Speicher als Kurzzeit- oder Langzeitspeicher, innerhalb oder außerhalb von Medien eingesetzt, sind mit kleinem oder größerem Aufwand lesbar, be- schreibbar oder löschbar und können wahlfrei oder nur seriell adressiert werden. Die Adressierbarkeit von Speicherinhalten ist ein entscheidendes Kriterium für ihren Einsatz in Computertechnologien. Speicher erhalten durch technische Ergän- zungen (»Randelektronik«6) neben der in ihnen gespeicherten Information eine Me- tainformation über den Speicherort, also die Adresse, unter welcher eine Informa- tion in ihnen abgelegt ist. Diese Adressierbarkeit ist, wie die Frage, ob diese Adressen linear vorgegeben sind oder vom Medium berechnet werden können, ein entscheidendes Kriterium für die »Mächtigkeit«7 eines Systems (wenn dieses Sys- 6 Völz: »Informations- und Speichertheorie«, S. 231-234. 7 Haigh: »Von-Neumann-Architektur«, S. 133f. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 141 STEFAN HÖLTGEN tem Berechnungen anstellen können soll). Die Adressierbarkeit gespeicherter In- formationen sorgt für deren (im messtechnisch-topografischen Sinne8) Lokalisier- barkeit, gibt ihnen einen Ort, der sich bestimmen lässt.9 Die arbiträre Verbindung von Adresse und Information macht aus dem Vorgang der Speicherung einen struk- turalen Prozess. Durch die Zeitverzögerung gleicht das Abrufen einer adressierbaren Informa- tion aus dem Speicher dem Abschreiten eines Weges von der Senke zur Quelle des gespeicherten Datums. Solche Wege, die die Information dabei zurücklegt – tech- nisch realisiert als Busse und Leitungen, diagrammatisch beschrieben als Daten- pfade und -flussdiagramme –, wären auch topografisch darstellbar. Eine solche Wegbeschreibung bliebe allerdings notwendig unvollständig, denn die Errungen- schaft des speicherprogrammierbaren Computers ist es, solche Topografien nicht bloß statisch, sondern dynamisch her- und zur Verfügung zu stellen. Dabei stellt sich die konkrete Ausgestaltung eines Pfades durch eine ihn aktivierende Operation her. Das Bild einer solchen Struktur wäre damit die Architektur als technische Struk- tur10 – diese sagt aber nichts über ihren konkreten Sinn aus, denn sie bildet bloß den Möglichkeitsraum11 aller verfügbaren Pfade. Die konkrete Realisation entfaltet sich hingegen erst zur Laufzeit des Systems und kann zum Beispiel in der messtech- nischen Erfassung der aktivierten Leitungen und Bauteile zu einem spezifischen Zeitpunkt Auskunft über die jeweilige Medienfunktion geben – »computer archi- tecture […] is both structure and process.«12 Auf diese Weise zeigt sich ein solcher Möglichkeitsraum dadurch, dass er eine konkrete Menge von Schaltungswegen realisierbar macht (und alle anderen aus- schließt), ebenfalls als eine Form des Speichers, die Völz bei seiner eingangs zitier- ten Aufzählung noch unberücksichtigt lässt, die aber wohl einen Großteil der auch heute noch genutzten technischen Speicher umfassen würde. Dieser Strukturspei- cher erweitert die Speichertheorie, die nach dem knowing what (Daten) und dem 8 Topographie verstanden als »Ortsbeschreibung, die Lehre vom begrifflichen und mess- technischen Erfassen, analogen und digitalen Modellieren und Darstellen des Georaums, seiner Objekte und ihrer Bezüge (z. B. topographische Objekte, Reliefformen).« (http://txt3.de/strukturspeicher1, 09.06.2021) 9 Höltgen: »JUMPs durch exotische Zonen«, S. 120-125. 10 Der Medienarchäologe Wolfgang Ernst verwendet die Begriffe »Struktur« und »Architek- tur« synonym: »Architecture refers to physical building materialities and to structural con- ditions, the arché.« (Ernst: »Towards a Museology«, S. 49) Die terminologische wie me- dienarchäologische Gleichursprünglichkeit führt er auf Überlegungen Walter Seitters zurück: »Man muß architektonisch sehen, das heißt lesen. Ein Buch ist etwas anderes als ein Faden der Erzählung. Das lateinische Wort für Architektur heißt Struktur. Struktura- lismus – besser: Strukturalistik heißt: daß man architektonisch sieht. In unserer Zeit muß das extra versucht werden.« (Seitter: »Das politische Wissen«, S. 60. zit. n. Ernst: »M.e- dium F.oucault«, S. 84.) 11 von Hilgers: »Zur Einleitung«, Ss. 9, 19, 23. 12 Ernst: »Towards a Museology«, S. 50. NAVIGATIONEN 142 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE knowing how (Algorithmen) ein Konzept des knowing where erforscht: Nämlich die konkreten Räume und Orte der Datenspeicher und wie diese mikro-logistisch or- ganisiert sind. Die Strukturen, mit denen, in denen und durch die gespeichert wird, erhalten aus dieser Perspektive den Status eines spatiologischen Aprioris der Spei- cherung – und erweisen sich mithin als eine strukturelle, architektonische Bedin- gung der Navigation im technologischen Mikroraum, die überhaupt erst über die Effizienz technologischer (Speicher-)Systeme bestimmt. 3. DAS SPEICHERN DER SPEICHER: STRUKTURSPEICHER-BEGRIFFE Strukturspeicher sind also konkrete Verschaltungswege für Informationen. Diese stellen als Möglichkeitsraum eine endliche Menge an Pfaden zur Verfügung, können darüber hinaus aber selbst entweder fix/strukturiert oder flexibel/strukturierbar sein. Beide Eigenschaften werden bereits in der Literatur zu Strukturspeichern beschrie- ben. Zuerst taucht der Terminus »Strukturspeicher« in der Lernmatrixtheorie Karl Steinbuchs um 1956 auf: Bei den »Strukturspeichern« werden die elektrisch angebotenen Infor- mationen in Strukturänderungen starrer Körper umgesetzt. Zu den Strukturspeichern gehören demnach alle Anordnungen, die von ferro- magnetischem oder ferroelektrischem Verhalten Gebrauch machen, ebenso Speicher, welche die Schwärzung photographischer Schichten ausnutzen. Strukturspeicher haben den großen Vorzug, von dauernder Energiezufuhr unabhängig zu sein und hohe räumliche Speicherdichten zu ermöglichen.13 Steinbuch beschreibt hier Magnetkernspeicher, also Datenspeicher, bei denen die Speicherung durch eine Umstrukturierung magnetischer Eigenschaften erreicht wird: In Magnetspeichern kippen die magnetischen Zustände durch den Einfluss ei- nes von außen angesetzten Magnetfeldes (Barkhauseneffekt14) in die eine oder die andere Richtung (Hysterese15) und lassen sich so als distinguierbare Speicherzu- stände definieren. Die auf diese Weise generierten Speicherungen sind oft sehr dauerhaft. Hier werden allerdings Inhalte als Strukturveränderungen gespeichert; die so erzeugten Strukturen selbst sind dabei irrelevant und können daher auch la- tent bleiben. Sobald allerdings die speichernden Systeme nicht (mehr) verfügbar und damit die Speicherinhalte nicht mehr (mit diesen) auslesbar sind, ändert sich die Situation und die latente Speicherstruktur gerät selbst in den Fokus der Preser- vation, um über die Strukturänderung des Speichersubstrates die Speicherinhalte 13 Steinbuch: Automat und Mensch, S. 106; zuvor bereits in: Steinbuch: Elektrische Gedächt- nisse, S. 9. 14 Völz: »Informations- und Speichertheorie«, S. 237-240. 15 Ebd., S. 242-245. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 143 STEFAN HÖLTGEN wiederzugewinnen. Bei Ringkernspeichern (vgl. Abb. 2) kann dies zum Beispiel mit- tels Ferrofluid-Visualisierung geschehen. Abb. 2: Siemens S2002, 1000-Bit-Ferritkernspeicher (2 x 20 x 25 Bit), 2-mm-Kerne (ca. 1960). (eigenes Foto) Steinbuchs Definition von Strukturspeicher, verstanden als (reversible) Struktur zum Speichern, greift die Fachliteratur in seiner Nachfolge auf16, um damit eine dedi- zierte Speichergattung zu kategorisieren. Winfried Hahn schreibt 1971 in seinem Elektrotechnik-Praktikum für Informatiker: Bei Strukturspeichern letztlich wird von der Tatsache Gebrauch ge- macht, daß bei manchen festen Körpern durch elektromagnetische Fel- der, Elektronenbestrahlung u. ä. die Struktur in umkehrbarer Weise veränderlich ist. Die bekannteste umkehrbare Änderung dieser Art ist die ferromagnetische Hysterese, die die Grundlage für Magnetband-, Magnettrommel- und Ferritkernspeicher bildet, die z. Z. wichtigsten Speicher datenverarbeitender Anlagen.17 Zwanzig Jahre später ist der Begriff in der Elektrotechnik und technischen Informa- tik schließlich lexikalisiert und der Strukturspeicher damit in den Kanon technischer Datenspeicher aufgenommen: »Zur Realisierung digitaler Speicher bzw. der Zu- 16 Wenngleich ohne die von Steinbuch intendierten Anwendungen in einer Lernmatrix mit bedingten Reflexen (Steinbuch: Automat und Mensch, S. 172). 17 Hahn: Elektronik-Praktikum, S. 121f. NAVIGATIONEN 144 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE griffsmöglichkeiten zu den einzelnen Speicherzellen wurden erfolgreich mechani- sche (Strukturspeicher, Lochband, Bewegung von Medien) […] u.a. Wirkprinzipien untersucht.«18 Mitte der 1970er-Jahre19 erfährt der Begriff innerhalb der Informatik jedoch eine Neubedeutung: Datenflussrechner20 speichern Programme in Form von Da- tenflussdiagrammen in globalen Strukturspeichern.21 Hier sind es nun die virtuellen Datenstrukturen selbst, die gespeichert werden – allerdings in konventionellen RAM-Bausteinen, die in den Datenflussrechnern verbaut sind. Es handelt sich also um Software, die Struktur-Information beschreibt. 1993 findet eine weitere, ähnliche Neubesetzung des Begriffs statt, als der In- formatiker Ingolf Grieger den Strukturspeicher als »ein[en] konzeptionell arbeits- platzunabhängige[n] Speicherbereich für Strukturnetzwerke«22 definiert. In diesem können »graphische Daten, die in Einheiten genannt Strukturen, organisiert sind […], miteinander hierarchisch in Beziehung stehen und bilden dann ein Struktur- netzwerk. Jede Struktur ist durch einen eindeutigen von der Anwendung spezifi- zierten Strukturnamen gekennzeichnet.«23 Hier werden also Strukturbeschreibun- gen gespeichert, um grafische Daten später wieder zur Verfügung zu stellen (z.B. zur Ansicht zu bringen). Abermals wird hier mit Strukturspeicher eine in Soft- ware/Daten kodierte Struktur gemeint. Unter diesem Verständnis ist der Begriff bis heute innerhalb der grafischen Datenverarbeitung einschlägig geblieben. Gemein ist allen dreien Strukturspeicher-Konzepten, dass entweder die Um- strukturierung von Substrat als Speicher genutzt wird oder strukturelle Beschrei- bungen konventionell gespeichert werden. Ist im ersten Fall die dabei entstehende materielle Struktur selbst irrelevant, so genügt im zweiten Fall das Speichern der funktionsäquivalenten Strukturbeschreibung, um diese später virtuell zu rekonstru- ieren. 2018 scheint Horst Völz beide Konzepte in seinem Begriff des Strukturspei- chers zusammenzuführen: Für technische Strukturspeicher gibt es hauptsächlich drei Varianten, die als PLD (programmable logic device, ähnlich dem FPGA = field- 18 Rhein/Freitag: Mikroelektronische Speicher, S. 2. 19 Ackerman: A Structure Memory. 20 Datenflussrechner stellen eine alternative Architektur gegenüber den heute zumeist im- mer noch gebräuchlichen Von-Neumann-Rechnern dar. Das Grundprinzip der Daten- flussrechner basiert auf der parallelen Verarbeitung von Informationen durch gleichzeiti- ges Ausführen von Maschinenbefehlen in Threads. Datenflussrechner benötigen keinen Programmzähler (der die serielle Abarbeitung kontrolliert) und keinen zentralen Speicher für Programm und Daten. Anstelle dessen residieren aktuelle Daten als Nachrichten, die in Registern zwischengespeichert werden. Das Konzept wurde Mitte der 1970er-Jahre entwickelt; einige Computer sowie Programmiersprachen, die nach dem Datenflussrech- nerprinzip verfahren, wurden entwickelt (vgl. Ungerer: Datenflußrechner, S. 11-15.) 21 Ebd., S. 72. 22 Grieger: Graphische Datenverarbeitung, S. 233. 23 Ebd., S. 166. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 145 STEFAN HÖLTGEN progammable gate array) bezeichnet werden. Sie leiten sich allgemein aus einer Reihenschaltung von AND- und OR-Matrizen ab. Dabei wer- den n Eingangs- und m Ausgangssignale benutzt. Bei der üblichen (Mas- ken-)Programmierung werden Dioden eingefügt oder weggelassen [...]. Dadurch sind n verschiedene Funktionen programmierbar. Aus dem PLA [programmable logic array, SH] entsteht ein PROM, wenn die AND-Matrix als Address-Encoder festgelegt wird. Je nach der Kombi- nation der n Eingänge wird ein programmiertes (gespeichertes) Signal der Wortbreite m ausgegeben. Für Redundanzfreiheit (Vollständigkeit) muss dabei m = n gelten. Die dritte Variante ist ein PAL (pro- grammable array logic). Bei ihr stehen die verfügbaren Ausgangssignale fest, sie werden mittels programmierbarer Eingangssignale ausgege- ben.24 Abb. 3: PLDs: PLA, PROM, PAL.25 Mit solchen Speichern sind sowohl Informationen (PROM) als auch das Speicher- wissen (PLA, PAL) über Strukturierungsprozesse selbst speicherbar geworden. Sie verdoppeln damit die Grundeigenschaften der Rechenmaschine, die nun nicht mehr allein ihre Daten (Rechenwerte) und ihr Programm (Rechenplan), sondern auch ihre eigene Architektur (Rechenwerk) disponibel hält. Heinz von Foerster sieht die zentrale Eigenschaft adaptiver Rechnersysteme darin, dass sie die Fähigkeit besit- zen prinzipiell alle Berechnungen auf Basis eines Mechanismus durchführen zu kön- nen, ohne die Ergebnisse (knowing that) bereits vorliegen zu haben. In diesen Me- chanismen ist das Prozesswissen (knowing how) selbst kondensiert und »in struktureller Weise gespeichert«.26 24 Völz: »Informations- und Speichertheorie«, S. 235f. 25 Ebd., S. 236. 26 Von Foerster: »Gedächtnis ohne Aufzeichnung«, S. 134. NAVIGATIONEN 146 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE 4. SPEICHERN ALS STRUKTURALISTISCHE TÄTIGKEIT Der Strukturbegriff, wie er von den hier zitierten Technikern genutzt wird, be- schreibt ein Gefüge aus miteinander verbundenen Elementen: Zu einer Struktur gehört »1. die Menge bzw. Klasse von Elementen, die als Strukturelemente fungie- ren, 2. das System syntaktischer Regeln, die die Ordnungseinheit […] definierbar und erzeugbar macht, und 3. die Gesamtheit der über der Strukturbasis, diese re- petierend, bildbaren Muster bzw. Pattern. Offensichtlich handelt es sich semiotisch um ein iconisches (Rahmen-)System«.27 Wie bei der Adressierung von Informatio- nen im Speicher bereits beschrieben (und wie sich im Begriff der Adresse schon andeutet), »kann man die Zeichenbegriffe [und damit die Struktur] auch topolo- gisch (bzw. zeichentopologisch) erklären«28: Voneinander getrennte Elemente werden zueinander in Beziehung gesetzt und diese Beziehung lässt sich topogra- fisch darstellen. Entlang der Struktur (Graph, Operand, Leiterbahn, die zwei mate- rielle oder immaterielle Objekte miteinander verbinden) bewegen sich die zugehö- rigen Informationen. Es findet also eine Trennung von Speichersubstrat und Speicherinhalt statt – eine Dichotomie, die an das strukturalistische Paradigma der Trennung von Form und Inhalt erinnert. Deleuze sieht »[d]as Lokale oder die Stellung«29 als wichtiges Erkennungskri- terium für den Strukturalismus. Bei dieser Stellung »handelt [es] sich nicht um einen Platz in einer realen Ausdehnung, noch um Orte in imaginären Bereichen, sondern um Plätze und Orte in einem eigentlich strukturellen, das heißt, topologischen Raum.«30 Dieser Raum wird konstituiert durch Zeichen: »In Wirklichkeit gibt es keine Struktur außerhalb dessen, was Sprache ist, und sei es auch eine esoterische oder sogar eine nicht verbale Sprache. […] Die Dinge selbst haben nur insofern Struktur, als sie einen schweigenden Diskurs abhalten, welcher die Sprache der Zeichen ist.«31 Der Strukturbegriff des Strukturalismus geht aus der Sprachwissenschaft her- vor – und die moderne Sprachwissenschaft wiederum aus dem Strukturalismus. Mit der Beschreibung der Beziehung von Wort (Signifikant) und Bedeutung (Signifikat) überführte Ferdinand de Saussure und in seiner Folge die strukturale Linguistik, die Semiotik und alle anderen strukturalen und poststrukturalen Schulen das Denken in einen mentalen Bewegungsprozess – eine Mnemotechnik32 – und eine semioti- sche Beziehungsarbeit, die suchend die Verbindungen abschreitet, an welche Epis- teme gekoppelt sind oder wurden. Von dieser Methode sind auch die Formal-, Na- tur- und Technikwissenschaften bestimmt. Ob Mathematik (Mengen und deren 27 Bense »Struktur«, S. 104. 28 Bense »Raum, semiotischer«, S. 80. 29 Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus?, S. 15. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 8. 32 Wenz: »Linguistik/Semiotik«, S. 213. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 147 STEFAN HÖLTGEN Abbildungen), Physik (Raumzeitstruktur), Chemie (Strukturformeln), Logik (Junk- toren), Elektrotechnik (Schaltungen), Informatik (Flussdiagramme, Strukturbäume) usw.: Sie alle besitzen Strukturkonzepte und -begriffe, die dem ursprünglichen Ge- danken folgen, dass Sinn »notwendig und einzig aus der Stellung hervorgeht«33. Ebenso basiert das Konzept des Strukturspeichers, der seinen Sinn als Zei- chensystem und (operatives) Diagramm entfaltet, auf – nun aber in Materie kon- densierter – Kopplung: Abb. 3 zeigt schematisch, wie dieses Diagramm organisiert ist: Durch Dioden-Matrizen werden Wege für den Spannungsfluss freigegeben (1) oder gesperrt (0), mithin wird der mögliche Weg des Spannungsflusses materiell vorbestimmt und die Möglichkeit der Signal-Navigation dadurch limitiert. Der Sinn dieser Flusssteuerung liegt in der Herstellung von Schaltnetzen, bestehend aus AND- und NOT-Gattern, mit denen sich jede mögliche logische Struktur generie- ren lässt.34 Der ursprüngliche Bezug zur Sprache, der in den technischen Beschrei- bungen von Schaltlogik oft unerwähnt bleibt35, zeigt sich in ihrer Äquivalenz zur Aussagenlogik deutlich: Seit Aristoteles ist Logik ein Werkzeug zur Sprachanalyse. Über die Programmierung von FPGA-Strukturen mit Hilfe von Tools wie VHDL (Very High Speed Integrated Circuit Hardware Description Language) oder Verilog wird diese linguistische Basis als linearisierte Mnemotechnik wieder les- und schreibbar. Mit diesen Sprachen können logische Schaltnetze entworfen aber auch simuliert werden; Schaltnetze, die als – faktische oder hypothetische – Lagepläne auf Signalebene der operativen Wegfindung systematisch vorgeschaltet sind. 5. DIE GESTELLE DER MAKROSTRUKTUREN Computer sind Apparate, die aus Theorie hervorgegangen sind – genau genommen aus formalsprachlichen Beschreibungen mathematischer Probleme: Als das Dia- gramm einer universellen Rechenmaschine bei Alan Turing oder als symbolischer 33 Ebd., S. 15. 34 Höltgen: »Logik«, S. 54. 35 Diese Tradition reicht bis zu Claude Shannons erstmaliger Formulierung der Schaltlogik als Schaltalgebra zurück. Ebenso Konrad Zuse, der im selben Jahr (1937) seinen Compu- ter Z1 baut: »Für die Beschreibung der Schaltungen hat Zuse eine eigene graphische Dar- stellung erfunden und die logische Beschreibung hat er Bedingungskombinatorik genannt. Erst später hat er entdeckt, daß diese nur ein anderer Name für die Aussagenlogik war.« (Rojas u.a.: »Konrad Zuses Plankalkül«, S. 216) NAVIGATIONEN 148 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE »Plankalkül«36 bei Konrad Zuse: Beide beschreiben ein Gestell37, das aufgrund sei- ner arithmetischen, logischen und algorithmischen Fähigkeiten alles Berechenbare berechnen kann. Turing formulierte den Rechenvorgang als Anweisung (imperativ) an die Maschine, Zuse erklärte der Maschine (funktional-deklarativ), wie ein Prob- lem zu lösen ist. Während die Turingmaschine eine Idee geblieben ist (die aufgrund ihrer Langsamkeit zu unpraktisch und aufgrund ihres unendlichen Speichers zu ide- alistisch gedacht war), leitete Zuse seinen Plankalkül aus der konkreten Implemen- tierung seiner mechanischen und elektromechanischen Computer ab. Im Plankalkül finden sich deshalb strukturelle Beschreibungen von Computerfunktionen, die sich wiederum in Hardware (der Logistischen Maschine) sublimieren lassen sollten. Die strukturelle Beschreibung der Maschine und die Struktur der Maschine wur- den damit funktional äquivalent; und dennoch fehlt der sprachlichen Beschreibung gegenüber der physischen Maschine dasselbe wie dem Wort gegenüber dem ihn bezeichnenden Gegenstand: Die Materialität, die räumliche Konkretisierung, die bei operativen Medien stets eine raumzeitliche »Vergegenwärtigung«38 ist. In bei- den ist jedoch etwas gespeichert, das über ihr Speichervermögen selbst hinausgeht: Ihre Architektur, die jenen genannten Möglichkeitsraum der Informationsspeiche- rung, -übertragung und -verarbeitung abbildet, aus dem sich erst im operativen Zu- stand zu einem definierten Zeitpunkt eine der Möglichkeiten als Wirklichkeit reali- siert. Diese Variabilität, die die inoperative Hardware nur andeuten kann, lässt sich in ihrer sprachlichen Beschreibung mental in Vollzug setzen. In Zuses Plankalkül hießen Variable in diesem Sinne »variable Strukturzeichen«39, denn in Computern operiert »technische Semiotik«, wie Max Bense darlegt: Deren »mechanische Se- mantik wird an den Zustandsänderungen verifiziert, die der Text in einer wirklichen oder gedachten Maschine hervorruft, und auf diese Weise ebenfalls formalisier- bar.«40 Die sukzessive Verkleinerung von Rechnerstrukturen (Moore’s Law) und die »Dissimulation«41 der Computer (Ubiquitous Computing) haben auch dazu ge- führt, dass diese Architekturen aus dem Blick geraten sind. Ein Blick in die Ge- schichte der Technologie zeigt aber schnell, dass sich gerade an der Struktur der Rechenapparate und Computer Episteme ablesen lassen, die eine ganz andere als 36 Als früheste höhere Programmiersprache verfolgt Zuses Plankalkül zunächst das Ziel die konkrete maschinensprachliche durch eine abstraktere symbolische Beschreibung einer logistischen Maschine zu ersetzen – eine Maschine, die er selbst nie gebaut hat. Erst 2000 haben Raúl Rojas und seine Kollegen einen Compiler für den Plankalkül geschrieben, der herkömmliche Digitalcomputer zu einer solchen logistischen Maschine macht (Rojas u.a.: »Konrad Zuses Plankalkül«). 37 Gestell als gedachte technische Struktur im Sinne Heideggers (Heidegger: »Die Frage nach der Technik«, S. 21f.) 38 Ernst: Signale aus der Vergangenheit, S. 169f. 39 Bauer/Wössner: »The ›Plankalkül‹ of Konrad Zuse«, S. 679. 40 Baumgärtner: »Sprache und Automat«, zit. n. Bense: »Semiotik, technische«, S. 95. 41 Ernst: »Towards a Museology«, S. 56. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 149 STEFAN HÖLTGEN die ökonomische oder bürokratische Geschichte der Computer erzählen könnten. An zwei konkreten Beispielen sei dies exemplifiziert: Abb. 4: Halbaddierer aus Zuses Z1 (links), Kosmos LOGIKUS (Mitte), Module für die Magnavox Odyssey (rechts). (links und Mitte: Fotos des Heinz-Nixdorf-MuseumsForums, Paderborn, rechts: eigenes Foto) Erstes Beispiel: Konrad Zuses Computer Z1, gebaut zwischen 1935 und 1937, führt seine Rechenarchitektur als dreidimensionale mechanische Maschine vor – »the di- gital became architectural, in the sense of three-dimensional material structure.«42 Der Nachbau von 1995 (Abb. 4 links) lässt die raumgreifende Apparatur, die Zuse in seiner Berliner Wohnung aufgebaut hatte, kaum noch erahnen, kondensiert die Funktionen allerdings adäquat auf die kompakteren Maße eines Museumsexponats. Die Maschine ist funktional klar strukturiert. Die Mechanik der Z1 realisiert die Möglichkeit des Computers als bewegliche Struktur – dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die funktionale Emulation von Z1-Komponenten als interaktive Anima- tion43 ihrer physikalischen Mechanik realisiert ist, deren Struktur äquivalent (s. o.) in linearem Code implementiert wurden. Durch die Auseinandersetzung mit der Struktur der Z1 hat Raúl Rojas offenbart, dass in der Architektur sogar mehr steckt, als Zuse seinerzeit intendiert hatte: Die Z1 ist im Prinzip turingvollständig; über einen Hack lassen sich ihre Rechenoperationen und Speichersysteme so verwen- den, dass Schleifen und bedingte Sprünge ausgeführt werden können. Da die Z1 über keine symbolische Programmiersprache verfügt, konnte diese Möglichkeit al- lein aus ihrer physikalischen Struktur abgeleitet werden. Zweites Beispiel: Videospiel-Plattformen benötigen nicht notwendigerweise eine CPU oder Software, damit man auf ihnen unterschiedliche Spiele spielen kann. Rudimentäre Frühformen solcher Geräte realisieren unterschiedliche Spiele allein mit Hilfe von Strukturveränderungen: Spielcomputer wie Logikus (1968, Abb. 4, Mitte) basieren auf einer variablen Verdrahtungslogik/Logikverdrahtung, bei der die 42 Ebd., S. 51 43 Von den Simulationen auf der Webseite des Zuse-Archivs lassen sich derzeit nur noch die WebGL-Anwendungen aufrufen: http://txt3.de/strukturspeicher2, 09.06.2021 (die Java- und Flash-Applikationen sind aus Alters- und/oder Sicherheitsgründen nicht aktivierbar). NAVIGATIONEN 150 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE Signalflüsse über Patchkabel auf den Oberseiten/-flächen des Gerätes gesteckt wer- den.44 Mithilfe von Schiebeschaltern an der Vorderseite können die jeweils zehn Reihen mit An/Aus-Signalen versehen werden; über die Kabelstruktur, die zwischen den Reihen etabliert wird, realisiert sich ein konkreter Algorithmus. Ergänzbare Zeitgeber ermöglichen zusätzlich die Programmierung von getakteten seriellen und parallelen Operationen. Dadurch, dass sich über Drähte prinzipiell mehrere dieser Spielcomputer kaskadieren lassen, und mit diesen grundlegende logische Funktio- nen implementierbar sind, ließe sich ein turingvollständiges System aus ihnen kon- struieren. Das Spiel (das hier »Wissen vermittel[n]«45 heißt), wird dabei als (mate- rialisierter) Spaghetticode auf der Oberfläche der Spielcomputer gespeichert und wäre damit Softwire. Anders sieht es bei der zur selben Zeit entwickelten Odyssey- Spielkonsole von Magnavox aus, die 1972 auf den Markt kam. Hier stehen die Spiele bereits im Möglichkeitsraum der Konsolenelektronik fest; sie müssen bloß noch durch geeignete Hardwire fertiggestellt werden (Abb. 4, Rechts). Dies erfolgt mit- tels kleiner Steckmodule, die nichts anderes als eine Leiterbahnstruktur (Jumper) enthalten. Die mit der Konsole ausgelieferten zwölf Spiele (auf je zwei Seiten von sechs Modulen) verschalten die Konsolenelektronik so, dass unterschiedliche Steu- erungs- und Anzeigenereignisse stattfinden. Im Prinzip ließen sich durch bloße Per- mutation der 44 Modulkontakte (unter Berücksichtigung der elektrischen Definiti- onen der einzelnen Kontakte) weitere Spiele entdecken46, die bereits latent in der Konsolenelektronik vorhanden sind. Die hier vorgestellten Makrosysteme zeigen deutlich die strukturalen Zusam- menhänge zwischen Architektur und Rechenfähigkeiten, zwischen Verdrahtung und Operativität oder – allgemeiner formuliert – zwischen Wegfindung und Wirk- mächtigkeit der Systeme: Die materiellen Begrenzungen und Formatierungen der Möglichkeit des Navigierens auf Signalebene prägen je spezifische Räume des Spielens und Rechnens aus. In ihnen wird spielerisch sowohl die historische wie auch die epistemologische Entwicklung von Rechnern greifbar47 und sichtbar. Rechen- prozesse zeigen sich hier als mechanische Veränderungen – sowohl der rechnen- den Strukturen als auch anhand der Bewegung von Signalen. Mit der Entwicklung der Mikroelektronik verschwinden diese Strukturen in elektronischen Schaltgat- tern auf Halbleiterbasis; aus den Schaltern, Wippen, Gestängen und Zahnrädern werden Dioden und Transistoren, durch die Elektronen als Informationsentitäten gelenkt – navigiert – werden. 44 Sie stellen damit auch Modelle früher Patchkabel-programmierter Computer wie Co- lossus, ENIAC oder OPREMA dar. 45 Steinbuch: »Zum Geleit«. 46 Dies ist bereits geschehen: Das Spiel Tannhauser Gate wurde zum Beispiel 2019 als Spiel Nr. 13 von einem Game-Hacker entwickelt (http://txt3.de/strukturspeicher3, 09.06.2021) 47 Solche Systeme werden als unconventional computing auch für gegenwärtige und künftige Anwendungen erforscht (Adamatzky: Collision Based Computing). NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 151 STEFAN HÖLTGEN 6. MIKROSTRUKTUREN Aber auch hier wird von Beginn an noch von Architekturen, »digital architec- tures«48, gesprochen; diese meinen den Gesamtaufbau der Rechner, der einem be- stimmten Grundprinzip folgt (Harvard, von Neumann, Datenflussrechner-Archi- tektur usw.), oder die zentralen Recheneinheiten. Diese Mehrdeutigkeit des Architektur-Begriffs ist semiotisch begründbar: Im Allgemeinen sind z.B. die Kommunikationskanäle oder Kommunika- tionsnetze eines städtischen Systems (Straßen, Energienetze, Informa- tionsnetze) durch Zeichensysteme markiert und ausgezeichnet. […] Als triadisches Objektsystem ist das urbane System als solches archi- tektonisch stets konstituiert über dem (symbolischen) Repertoiresys- tem seiner metrischen bzw. parametrischen Maßverhältnisse, dem (in- dexikalischen) Richtungssystem seiner energetischen und kommunikativen Netzwerke und der Schließungswege und dem (ico- nischen) Rahmensystem des umbauten bzw. bebauten Raumes.49 Von daher weisen die oft geäußerten Assoziationen von »close-up phtographs of microchip circuits with bird’s-eye views of a city«50 auf die beiderseits vorhandenen Gemeinsamkeiten des strukturierten Informationsflusses hin. Raummetaphorik, das liegt schon im Übertragungsbegriff der Metapher (μεταφέρειν) begründet51, verdoppelt geradezu den strukturalen Sinn von Sprache als Informationstransport- system: »Es lassen sich Raummetaphern in diesem Zusammenhang nachzeichnen, die digitale Räume als hochkomplexe Systeme vergleichbar mit Karten und Städten beschreiben.«52 Um Chipstrukturen an die Oberfläche zu holen und wieder sichtbar zu ma- chen, ist allerdings medienarchäologische Stratifikation53 gefragt: In einem aufwän- digen Prozess, bei dem einem in Kunststoff verpackten Chip mit chemischen und physikalischen »Grabschaufeln«54 auf den Leib gerückt wird, wird dessen Struktur 48 Ernst: »Toward a Museology«, S. 49. 49 Bense: »Architektursemiotik«, S. 17. 50 Ernst: »Toward a Museology«, S. 70. Z.B. hier: »Computer Chips Look Like Intricate Cit- ies«, http://txt3.de/strukturspeicher4, 09.06.2021. 51 Die Technikwissenschaften, insbesondere die Informatik, bedient sich systematisch der Metaphorik zur Umschreibung und ›Verschlagwortung‹ komplexer Prozesse (Busch: »Metaphern«). Die Reisemetapher der Navigation findet sich diesbezüglich zum Beispiel in Erörterungen zu Theorien von Netzwerken (die abermals metaphorisch beschrieben sind) Anwendung (Büchel: »Praktische Informatik«, S. 239). 52 Wenz: »Linguistik/Semiotik«, S. 219. 53 Lang: »Archäologie«, S. 30. 54 Jan Engelmann spricht von der »Grabschaufel der Medienarchäologie« (Engelmann: »Ak- tenzeichen Foucault«, S. 225), die hier einmal im facharchäologischen Sinne zu verstehen wäre. NAVIGATIONEN 152 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE endlich wieder sichtbar. Deren Layer müssen mit weiteren chemischen und foto- grafischen Operationen separiert werden, um schließlich die »Archiv-Tektonik«55 des Chips erkennbar werden zu lassen, die zeigt, wie der Rechner in seinem Kern aufgebaut ist. Am Beispiel der CPU Intel 4004 kann dies gezeigt werden (vgl. Abb. 5 – wenngleich die Unmöglichkeit, in die hier gedruckten Bilder hineinzuzoomen, schnell vor Augen führt, dass selbst dieser erste Mikroprozessor, der auf (nur!) quadratmetergroßem Papier entworfen wurde56, schon enorme Komplexität auf kleinstem Raum verdichtet). Abb. 5: Fotografie des Intel 400457 (links), Übergelagertes Funktionsschema des Intel 400458 (rechts). Eine CPU ist ein semiotisches Design-Objekt im Sinne Benses: Sie ist nicht bloß ein passiver Wegweiser, der den Signalweg vorgibt, sondern »ein System, das aus ei- nem Träger und aktualen Zeichen besteht.«59 Die aktualen Zeichen in der Intel- 4004-CPU befinden sich jedoch gefroren (hartverdrahtet) im Mikroprogramm, zu dem ein Befehlsregister und -dekoder gehört (vgl. Abb. 6). Daneben enthält die CPU Speicher in Form von Registern (neben dem Programmzähler sowie drei 12-Bit- Stacks für Rücksprungadressen, einen Akkumulator, einen Zwischenspeicher und 16 4-Bit-Register die als Indexregister gepaart werden können). Die Arithmetisch-Logi- sche Einheit (ALU) bildet das rechnende Herzstück des Prozessors: Alle Kompo- nenten sind über einen 4-Bit-Datenbus miteinander verbunden und werden über einen 4-Bit-Steuerbus in ihrer Zusammenarbeit koordiniert. Die Befehle der 4004 sind allerdings 8 Bit breit und sie kann sogar mit 12-Bit-Adressen (vier Kilobyte) speichern; hierzu müssen die CPU-internen Befehls- und Adressmodi mit Multiple- xern erweitert werden. 55 Ernst: »Toward a Museology«, S. 75. 56 http://txt3.de/strukturspeicher5, 09.06.2021 57 http://txt3.de/strukturspeicher6, 09.06.2021 58 http://txt3.de/strukturspeicher6, 09.06.2021 59 Bense: »Design-Objekt, semiotisches«, S. 24. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 153 STEFAN HÖLTGEN Abb. 6: Opcode-Matrix des 4004 als rekonstruiertes Schaltdiagramm.60 Der Aufbau der 4004 ist, gerade wegen ihrer Bedeutung für die Mikrocomputer- Geschichte, weithin bekannt; es existieren zahlreiche Aussagen der Entwickler61, technische Entwicklungsunterlagen62, Datenblätter63 und Fotografien des ge- schlossenen64 und geöffneten65 Chips. Die Strukturen der 4004 sind nahezu per- fekt archiviert und bewahrt. Sie könnte jederzeit neu aufgelegt werden, sofern sich noch ein Hersteller findet, der die 2250 Transistoren und anderen Bauteile in PMOS-10-Mikrometer-Technologie fertigen kann. Seit der Entwicklung der LSI- und VLSI-Technologie sind jedoch unüberschaubar viele Bausteine erfunden und gefertigt worden, denen nicht dieselbe archivarische Aufmerksamkeit wie Mikro- prozessoren im Allgemeinen66 und Intels 400467 im Besonderen zuteil wurde. Für all diese müsste, sofern sich noch Exemplare von ihnen finden lassen, jener oben dargestellte stratigrafische Prozess nachvollzogen werden, um deren Strukturen sichtbar und erfahrbar zu machen. 7. SCHLUSS: SPEICHER-MEMORIALS An dieser Stelle kehren wir zum Strukturspeicher zurück. Völz definierte ihn als einen Speicher, in welchem Strukturen angelegt (gespeichert) werden können. Diese Strukturen können alle Arten von digitalelektronischen Bausteinen sein. Die von Völz vorgestellten Strukturspeicher lassen sich als eine Form von Struktur-RAM sehen, in denen Strukturen angelegt und wieder gelöscht werden können. Mit Hilfe von FPGAs lassen sich beispielsweise beliebige logische Schaltnetze generieren und 60 http://txt3.de/strukturspeicher7, 09.06.2021. 61 http://txt3.de/strukturspeicher8, 09.06.2021. 62 http://txt3.de/strukturspeicher9, 09.06.2021. 63 http://txt3.de/strukturspeicher10, 09.06.2021. 64 http://txt3.de/strukturspeicher11, 09.06.2021. 65 http://txt3.de/strukturspeicher12, 09.06.2021. 66 http://txt3.de/strukturspeicher13, 09.06.2021. 67 http://txt3.de/strukturspeicher14, 09.06.2021. NAVIGATIONEN 154 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE replizieren – auch jene der Intel-4004-CPU68. Hierzu bedarf es allerdings der Vor- lagen, die in eine Beschreibungssprache übersetzt werden müssen (wobei nicht sel- ten unbekannte Features und Design Flaws entdeckt werden69), um daraus eine funktionsäquivalente FPGA-CPU zu generieren. Diese ist allerdings selten homo- top zu ihrer Vorlage. Demgegenüber stellen fixierte Strukturen (ROM- und RAM- Bausteine, TTL-Bausteine, CPUs, …) Struktur-ROMs dar – nicht veränderbare Strukturspeicher, in denen die Architektur als mikroelektronisches Diagramm ein- gefroren ist, durch das es in ähnlicher Weise zu navigieren gilt wie durch makrolo- gische Stadträume. Gerade vor einem historiografischen und archäologischen Hin- tergrund erscheint es sinnvoll einen solchen fixierten Aufbau eines Bausteins, seine Mikroarchitektur, als Monument zu betrachten, das in seiner Architektur (Bau- weise, Bauteile, …) gleichermaßen auf seine Historiografie wie auf seine Funktion als Möglichkeitsraum verweist. Aus ihr ließe sich mit Hilfe einer »Archäologie [ver- standen als] eine Raum- wie auch eine Zeitwissenschaft, in der räumlich und zeitlich die ›Dinge in der Welt‹ verknüpft werden«70 Technikgeschichte ablesen, die alle Dimensionen eines solchen medientechnischen Objektes berücksichtigt und nicht allein auf mit bloßem Auge sichtbare Monumente beschränkt bliebe. Es bedürfte nun allerdings zusätzlich ihrer Operativierbarkeit, um dieses Ver- ständnis von »structure as process«71 zu erlangen. Diese kann auf unterschiedliche Weise erfolgen: Sofern der Baustein vorhanden und funktionstüchtig ist, lässt er sich in ein operatives Setting (re-)implementieren: Für Intels 4004 existieren einige Implementierungsvorschläge, die vom Nachbau des Busicom-Tischrechners72 bis hin zur Einbettung der CPU in ein Arduino-Shield73 reichen. Dies erfordert jedoch die Erhaltung des Gehäuses, womit der Chip weiterhin unsichtbar bliebe. Daneben existieren Simulatoren, die die Signalflüsse auf der Chipoberfläche als Computer- grafik animieren74, und Emulatoren, die entweder die CPU in einem historischen Setting75 oder in einer virtuellen Umgebung76 emulieren. Diese Option besitzt alle Vor- und Nachteile einer Software-Nachbildung von Hardwarekomponenten: Es können nur solche Eigenheiten der Originalhardware emuliert werden, die den Programmierer:innen auch bekannt sind. Die Emulationstiefe und -genauigkeit ist dabei stets begrenzt und verfährt meistens nach dem Prinzip der Ausgabeadäquanz 68 http://txt3.de/strukturspeicher15, 09.06.2021. 69 Für den Intel 4004 sind im Verlaufe seiner Übersetzung in Verilog einige Design Flaws entdeckt worden: http://txt3.de/strukturspeicher16, 09.06.2021. 70 Lang: »Archäologie«, S. 42. 71 Ernst: »Toward a Museology«, S. 55. 72 http://txt3.de/strukturspeicher17, 09.06.2021. 73 http://txt3.de/strukturspeicher18, 09.06.2021. 74 Für drei Mikroprozessoren existieren bereits solche Simulationen unter http://txt3.de/strukturspeicher13, 09.06.2021. 75 http://txt3.de/strukturspeicher19, 09.06.2021. 76 http://txt3.de/strukturspeicher20, 09.06.2021. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 155 STEFAN HÖLTGEN zwischen Original- und emuliertem System. Die Emulation erlaubt allerdings auch Veränderungen, Erweiterungen und Ergänzungen, die das Originalsystem nicht zu- lassen würde.77 So kann beispielsweise beliebig viel virtueller RAM-Speicher er- gänzt oder ein wesentlich höherer Takt, als im Originalsystem möglich wäre, hinzu programmiert werden. Damit gerät die Emulation zu einem epistemischen Objekt, das es erlaubt, computerarchäologisch mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Technikgeschichte zu spielen. Abb. 7: Diskreter Nachbau des NE555 (links, eigenes Foto), Fotografie eines NE55578 (rechts). Softwareemulationen ermöglichen so zwar Operativerhaltung durch Aufhebung der Hardware in die Virtualität von Software, sie vermögen jedoch nicht die mani- feste Struktur, die in ihnen gespeichert ist, zu bewahren. Dreidimensionale Chiplay- outs werden durch sie in zweidimensionale Programmcodes transkribiert. Um die- sem Verlust an Struktur zu begegnen, bieten sich andere Möglichkeiten an: Bausteine können als funktionale Schaltgatter real oder virtuell nachgebaut werden. Für CPUs, wie die MOS 650279 oder den Timerchip NE555 (Abb. 7), existieren Nachbauten, die die Originalstruktur mit diskreten Bauteilen (Transistoren) imple- mentieren. Eine Möglichkeit Digitaltechnik regelrecht räumlich nachzubauen, bie- ten virtuellen Welten wie das Spiel »Minecraft«. Hierin kann mit Hilfe spieleigener Signalverarbeitungstechnologien (Redstone, Kolben oder Trichter) eine (virtuell) begehbare Rechnerarchitektur konstruiert werden, mit denen die Strukturen der Vorlage nachgeahmt werden kann (aber nicht muss) (Abb. 8). 77 Höltgen: OPEN HISTORY, S. 195-201. 78 http://txt3.de/strukturspeicher21, 09.06.2021. 79 http://txt3.de/strukturspeicher22, 09.06.2021. NAVIGATIONEN 156 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE Abb. 8: Speicherwerk der Intel-4004-CPU in Minecraft80 (r. u.: Handkompass zur Navigation). Die damit erstellten Konstruktionen wären sogar lauffähig. Dass sie in Operation allerdings nur einen Bruchteil der Geschwindigkeit des Originals an den Tag legen und (verglichen mit der Größe des Avatars) gigantische Ausmaße aufweisen, kann einerseits als Hinweis auf den experimentell-analytischen (toy computing81) Zugang zur implementierten Technologie verstanden werden. Auch eine »Minecraft«-Welt ist bloß eine archaeological map, ein Datenraum, »der nicht physikalisch gebunden ist, sondern erst im Bezug auf ein Erkenntnisinteresse der Archäologen geschaffen wird.«82 Andererseits rufen die gigantischen virtuellen Rechnerbauten in »Mine- craft« aber auch eine »computer-aided historical imagination«83 der frühen Com- puter und Mainframes auf – Rechner, die von ihren Nutzer:innen tatsächlich begeh- bar waren (wie etwa Grace Hoppers Debugging im Harvard Mark II84 oder die Arbeiten der DDR-Ingenieure in der OPREMA85 dokumentieren). Das Durchwan- dern solch virtueller, operativer und interaktiver Rechnerstrukturen verwirklicht damit zugleich eine Mnemotechnik wie es eine Archäologie ermöglicht (im ur- sprünglichen Sinn des Wortes als Redaktion), denn alles, was gesehen und beschrit- ten werden kann, kann über den »Minecraft«-Avatar auch verändert werden. Eine so erstellte Computerwelt lässt sich wiederum abspeichern und auf einem anderen Computer in »Minecraft« laden und nutzen.86 Die Operativität ist eine emulierte, deren Ausgaben nicht mehr symbolisch, sondern ikonisch in Form eines 80 Screenshot des Entwurfs: http://txt3.de/strukturspeicher23, 09.06.2021 81 Höltgen u.a.: »Toy Computing«. 82 Lang: »Archäologie«, S. 34. 83 Ernst: »Toward a Museology«, S. 68. 84 http://txt3.de/strukturspeicher24, 09.06.2021. 85 Winkler: »Oprema«, S. 9. 86 Die Intel-4004-Speicherarchitektur aus Abb. 8 und Abb. 9 kann unter diesem Link geladen werden: http://txt3.de/strukturspeicher25, 09.06.2021. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 157 STEFAN HÖLTGEN operativen Diagramms erfolgt. Letztlich stellt jede Übertragung eines Strukturspei- chers auf ein anderes System oder Substrat eine strukturalistische Tätigkeit dar, die zeigt, wie tief sich der Strukturalismus in unser technisches Denken eingeschrieben hat – so tief, dass die Sprache regelrecht in Materie sublimiert ist. Die »Computer- aided architectural reconstruction«87 mit »Minecraft« ist damit zuletzt spielerisches Computer-aided Design. Der Computer wird dabei zum Archiv und Museum seiner selbst, wie Wolfgang Ernst und Friedrich Kittler erinnern: »archaeology proposes a museologcial scenario in this specific sense of computer architecture […] not simply [..] computer-augmented museum space and interactive virtual collections. In a shift away from simple interface metaphors, virtual reality can be applied in a different way; it allows us ›to enter [and to navigate, SH] the architecture of digital media‹88«.89 Abb. 9: Speicherwerk der Intel-4004-CPU in Minecraft – von innen (Bildmitte: Avatar des virtu- ellen Archäologen). 87 Ernst: »Toward a Museology«, S. 63. 88 Kittler: »Museums on the Digital Frontier«, S. 77. 89 Ernst: »Toward a Museology«, S. 56. NAVIGATIONEN 158 NA VIG IEREN HARDWHERE – SOFTWHERE LITERATURVERZEICHNIS Ackerman, William B.: A Structure Memory For Data Flow Computers. (Master Thesis) Laboratory for Computer Science, Massachusetts Institute of Technol- ogy, 1977. Auch unter https://dl.acm.org/doi/10.5555/889796. Adamatzky, Andrew (Hrsg.): Collision-Based Computing, London 2002. Bauer, F. L./Wössner, H.: »The ›Plankalkül‹ of Konrad Zuse: A Forerunner of To- day’s Programming Languages«, in: Communications of the ACM, Vol. 17, No. 7 (July 1972), S. 678-685. 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NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 161 VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN Zur Delegation navigatorischer Arbeit an techni- sche Objekte V O N D A N I E L A A D S C H E I D ABSTRACT Der Artikel wirft zu Beginn die Frage nach einer ›Navigations-Vergessenheit‹, durch die zunehmende Delegation körperlicher und kognitiver Navigations-Arbeit an Me- dientechniken, auf, die im Folgenden anhand eines Ausschnittes der Geschichte akustischer Tiefenmessung nachgezeichnet wird. Fokussiert werden dabei zwei be- deutende Entwicklungsschritte des Behm’schen Echolots, die Schallstärkenmes- sung und die Laufzeitmessung von Schallwellen, die im Kontext technischer und ökologischer Aspekte deskribiert werden. KEYWORDS: ›Navigations-Vergessenheit‹, Arbeit, Delegation, Behm’sches Echo- lot 1. ›NAVIGATIONS-VERGESSENHEIT‹ Wer heutzutage mit dem Auto, zu Fuß oder dem Fahrrad von A nach B gelangen möchte, muss nur die Zieladresse ›ins Navi‹ oder eine Karten-App eingeben und dank Software und digitaler Geo-Datenbanken wird man zum Zielort navigiert.1 Durch die Entwicklung und Einführung satellitenbasierter Navigationsgeräte für die zivile Nutzung, die Miniaturisierung und Vergünstigung ihrer Empfängertechnolo- gie, spätestens jedoch seitdem Smartphones mit integrierten GNSS-Modulen2 weitverbreitete und nicht mehr wegzudenkende smart devices des täglichen Ge- brauchs vieler Menschen geworden sind, ist eine eigenständige aktive Orientierung und Wegfindung im Raum in unserer Alltagspraxis nahezu obsolet geworden. Na- vigation in eben diesem aktiven Sinne ist zusehends zu einer genuinen Medienpraxis und -technik avanciert und verschwindet als solche zunehmend aus unserer be- wussten Wahrnehmung. Dies soll im Folgenden mit dem Begriff der ›Navigations- Vergessenheit‹ beschrieben werden, die sich darauf begründet, dass vormalige Kul- turtechniken der Navigation nun auf technologische Medien ausgelagert bezie- hungsweise übertragen wurden, d.h. an diese delegiert worden sind – und damit 1 Vertiefend zur Dimension digitaler Datenbanken in Theorie und Praxis siehe Burkhardt: Digitale Datenbanken. Spezifisch zur Nutzungsdimension digitaler Karten siehe Abend: Geobrowsing. 2 GNSS steht als Abkürzung für Global Navigation Satellite System. Vertiefend zur Medien- geschichte von GPS-Empfängern siehe Borbach: »Reduced to the Max«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN DANIELA ADSCHEID nunmehr Medientechniken darstellen. Bruno Latour zeigte diese Form der ›delega- tion of labour‹ bekannterweise programmatisch am Fallbeispiel des Türschließers als einem technischen Artefakt, das eine vormals genuin menschliche Tätigkeit als nicht-menschlicher Akteur übernahm.3 Besonders anschaulich lässt sich diese De- legationsleistung an technische Geräte vor dem Hintergrund der Navigation am Beispiel der Autofahrt verdeutlichen. Während in der Zeit vor der inzwischen weit- verbreiteten Nutzung von Navigationsgeräten der oder die (Bei-)Fahrer:in gleich- zeitig ›Navigator:in‹ mit Faltkarte auf dem Schoß war und aktiv die Karte mit der Umgebung sowie die Ausrichtung der Papierkarte (North-Up-Darstellung) mit der Fahrtrichtung abgleichen musste, wird heute bei der Nutzung digitaler Navigations- systeme weitestgehend die Head-Up-Darstellung genutzt.4 Während bei der North- Up-Ausrichtung, der Bezeichnung entsprechend, der Norden konstant oben auf der Kartendarstellung ist, richtet sich bei der Head-Up-Darstellung die Kartenan- zeige nach der Fahrt- bzw. Bewegungsrichtung aus.5 Moderne Navigationssysteme bieten zudem meist weitere Hilfestellungen wie automatische Straßen- und Spuransichten, Entfernungsangaben, Symbole und, nicht zu vergessen, die Möglich- keit der Sprachausgabe. Man muss nur noch ›dem Navi folgen‹: Der oder die Navi- gator:in ist technisches Gerät geworden.6 Navigationspraktiken wandeln sich in Medientechniken, Orientierung erfordert keine Mühe, keine Aufmerksamkeit – und damit nicht zuletzt keine ›Arbeit‹ mehr. Zweifelsohne hat der Begriff der ›Na- vigation‹, der in seinem Ursprung zunächst lediglich »Schifffahrt« [zum Lateinischen navis für »Schiff«] bedeutete, im alltäglichen Sprachgebrauch eine immense Bedeu- tungserweiterung bzw. -verschiebung erfahren.7 Ursprüngliche bezeichnete er im weiteren Sinn das Führen eines Wasser-, Luft- oder Raumfahrzeugs von einem Ausgangsort auf bestimmtem Weg zu einem Zielort, ein- schließlich der dazu erforderlichen Mess- und Rechenvorgänge zur Be- stimmung des augenblicklichen Standortes (Ortung) und des Kurses.8 3 Johnson [Latour]: »Mixing Humans and Nonhumans Together«. 4 Die Begriffe ›North-Up‹, ›Head-Up‹ und ebenso ›Course-Up‹ werden vorwiegend in der Seefahrt verwendet, um die Kartenausrichtung in Bezug auf den gefahrenen Kurs zu be- schreiben. 5 Tristan Thielmann beschreibt diesen Wandel als ›mobile Egozentrik‹ und diskutiert in die- sem Zusammenhang auch bereits die Delegation von Gedächtnisleistungen an das Navi- gationsgerät, siehe Thielmann: »Der ETAK Navigator«, S. 204. 6 Ein ähnliches kultur- und medienhistorisches Narrativ der Übertragung vormals genuin menschlicher Fertig- und Fähigkeiten auf nicht-menschliche Akteure illustrierte Markus Krajewski nicht am Beispiel der Navigation, sondern für den Fall der (Selbst-)Bedienung, siehe Krajewski: Der Diener. 7 Hierzu ausführlich der Beitrag von Susanne Müller zur Mediengeschichte des Navigierens in diesem Heft. 8 Brockhaus: »Navigation«. NAVIGATIONEN 164 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN Während dem Begriff der ›Navigation‹ in seiner ursprünglichen Bedeutung bzw. im nautischen Kontext somit ein klar praktischer und handlungsorientierter Ansatz in- newohnt – bei dem Ortung und Orientierung als aktive Prozesse zu verstehen sind, die auf konkrete Handlungen und spezielles Wissen zurückgreifen, mithin Arbeit erfordern – werden wir heutzutage bspw. durch Städte (Schilder/Stadtpläne), Kauf- häuser (Lagepläne/Wegweiser), Bibliotheken (Signaturen) sowie digitale ›Räume‹ geleitet, oft unter dem Begriff ›Navigation‹. Diese Verschiebung von der aktiven navigatorischen Praktik hin zu einer nahezu passiven und extrinsischen Orientie- rung erweitert den Begriff zum einen, während es gleichsam zu einer Entwertung navigatorischer Handlungen führt. Der Begriff hat, so meine Annahme, eine Ver- schiebung von der menschlichen Aktivität hin zu ihrer Passivität erfahren: Vorma- lige Arbeit menschlicher Akteure im navigatorischen Kontext ist einer ›Navigations- Vergessenheit‹ gewichen. Dieser These wird im Folgenden an Hand der Entwick- lung des s.g. Behm’schen Echolots9 nachgegangen. Obwohl auch in der (See-)Schiff- fahrt inzwischen elektronische sowie speziell satellitenbasierte Systeme als Naviga- tionstechniken eine zentrale Rolle spielen und weiter an Bedeutung gewinnen, sind im maritimen Kontext ›traditionelle‹ navigatorische Verfahren nach wie vor zentra- ler praktischer und diskursiver Bestandteil. Papierseekarten und ebenso technische Objekte wie bspw. Kompass, Fernglas, Zeitmesser, Barometer, etc., aber auch Handlote sind nach wie vor zentrale und teils verpflichtende Ausrüstungsgegen- stände und ihre Handhabung heute noch Teil der Ausbildung in Berufs- und Sport- schifffahrt.10 Auch wenn die modernen Echolotverfahren in der Seeschifffahrt die navigatorische Praktik im Sinne körperlicher Arbeit ersetzt haben und Handlotun- gen nur noch im Falle technischer Störungen durchgeführt werden, wird in der Seeschifffahrt bis heute vor allem in küstennahen Gewässern auf analoge Mess- und Rechenvorgänge zurückgegriffen. Dies hat mehrere Gründe. Ein erster und wesentlicher Faktor, der hinsichtlich navigatorischer Praktiken im Maritimen von besonderer Bedeutung ist, besteht – im Kontrast zum Straßenverkehr – in der Tatsache, dass das Meer nur sehr bedingt ›Verkehrsschilder‹ oder in den Raum integrierte Orientierungshilfen kennt. Zwar gibt es in Küstennähe und Binnengewässern (See-)Schifffahrtszeichen – deren Be- deutung erschließt sich jedoch nur durch explizit erlerntes Wissen. Demgegenüber kann Orientierung im alltäglichen Straßenverkehr weitestgehend impliziten oder alltäglichen Wissensbeständen zugeschrieben werden. Ein weiterer Aspekt mag mit der natürlichen Umgebung von Schiffen – Wasser, Salz, Luft, etc. – zusammenhän- gen, die auch heute noch eine Herausforderung für elektronische Bauteile darstellt und dadurch eine hohe Anfälligkeit für Störungen birgt. Zudem lässt sich mitunter eine gewisse ›Traditionsverbundenheit‹ innerhalb maritimer Strukturen nicht von der Hand weisen. Selbst nach der Entwicklung von Echoloten und Echographen 9 Das s.g. Behm’sche Echolot verdankt seinen Namen dem deutschen Physiker und Akus- tiker Alexander Behm (1880-1952), der ein erstes funktionales Echolot konzipierte und bauen ließ und dieses nach sich selbst benannte. 10 Vgl. hierzu in Bezug auf Lotungsverfahren: Geomar u.a.: Die Tiefe hören, S. 5. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 165 DANIELA ADSCHEID wird im Handbuch für die Schiffsführung von 1956 mit Hervorhebung darauf verwie- sen, »daß die Decksmannschaften in der Handhabung des Handlots und der Lotma- schine geübt werden!«11 Da, wie dieses Beispiel zeigt, handwerkliche Navigations- praktiken im maritimen Kontext parallel zur Entwicklung von Medientechniken fortgeführt wurden, eignen sie sich hervorragend für eine Kontrastierung hinsicht- lich der Un- und Sichtbarkeit von Arbeit im Kontext der Navigation. Obwohl ›das Meer‹ im Zusammenhang mit dem spatial turn, oder genauer, mit dem bei Kraus und Winkler beschriebenen oceanic turn12, auch als Verkehrsraum zunehmend an Bedeutung gewinnt, gibt es bislang verhältnismäßig wenige Arbei- ten, die dezidiert auf nautische Navigationspraktiken fokussieren13 und diese in ei- nen medienkulturellen Kontext setzen. Viele Ansätze widmen sich der Bedeutung des Meeres und seiner Kultivierung14 unter anderem mit Hilfe oder am Beispiel der Seeschifffahrt, während die Entwicklungen der konkreten Praktiken und ihre Aus- bildung hin zu Medientechniken – die zum Teil maßgeblich zu dieser ›Domestizie- rung‹ des Meeres beigetragen haben – oft eine eher untergeordnete Rolle innerhalb der (medien-)kulturellen Betrachtung spielen. Dieser Artikel fokussiert daher an- hand eines Ausschnitts der Mediengeschichte des Behm’schen Echolots, als ein Baustein navigatorischer Orientierungstechnik, die Delegation (vor allem körperli- cher) Navigationsarbeit an das ›Navigationsmedium‹ und nimmt dabei auch die In- skription seiner natürlichen Umgebung in den Blick.15 Dazu werden primär zwei Entwicklungsschritte beziehungsweise methodische Ansätze, die in diesem Kontext und medienkulturell von besonderem Interesse zu sein scheinen, hervorgehoben. Beide Ansätze finden sich dabei in Patenten von Alexander Behm wieder: 11 Krauß/Berger: Handbuch für die Schiffsführung, S. 70, Herv. i. Orig. 12 Mit dem Begriff ›oceanic turn‹ beschreiben Kraus und Winkler eine differenziertere Aus- prägung des spatial turns und ein damit verbundenes verstärktes wissenschaftliches Inte- resse am Meer als einem historisch nicht zu vernachlässigendem Raum. Bei Kraus und Winkler geht dies mit der Forderung einher, ein ausschließlich terrozentrischs Weltbild in Frage zu stellen. Vgl. Kraus/Winkler: »Weltmeere«, S. 11f. 13 Konkrete Beschreibungen finden sich bspw. bei Siegert: »Längengradbestimmung und Si- multanität in Philosophie, Physik und Imperien« in Bezug auf das Längengradproblem bzw. die Entwicklung des Chronometers; Hutchins: Cognition in the Wild, S. 49-174 hinsicht- lich diverser navigatorischer Methoden und Anordnungen in ihrer Anwendung; und Bor- bach: »Epistemologisches Reverse Engineering«, speziell zum Echolot. 14 Vgl. bspw. Parry: The Discovery of the Sea; Steinberg: The Social Construction of the Ocean; Klein/Mackenthun: Das Meer als kulturelle Kontaktzone; Kraus/Winkler: Welt- meere. 15 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Entwicklungsgeschichte der akusti- schen Tiefenmessung, wie bei den meisten technischen Entwicklungen, keine lineare ist. Es gab diverse Ansätze, die teilweise parallel und unabhängig von einander erforscht und erprobt wurden. Vgl. hierzu v.a. Drubba/Rust: »Die Entwicklung der akustischen Meeres- tiefenmessung«. Eine vollständige Abbildung ist an dieser Stelle nicht möglich. NAVIGATIONEN 166 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN 1 Der Ansatz, die Tiefe des Meeres mit Hilfe der Stärke reflektierter Schallwellen zu messen.16 2 Der Ansatz bzw. der Übergang, die Meerestiefe durch die Laufzeit17 von Schallwellen zu messen.18 Anschließend wird versucht, die Frage nach einer ›Navigations-Vergessenheit‹ im Kontext navigatorischer Arbeit zu fassen. In diesem Zusammenhang versprechen gerade nautische Ansätze einen Mehrwert zu liefern, da in diesem Bereich aktive und passive Ortungs- und Orientierungstechniken sowohl parallel als auch koope- rativ Anwendung finden. 2. VON DER UNSICHTBARKEIT ZUR SICHTBARKEIT DES MEERESGRUN- DES Das Lot gehört seit jeher zu den wichtigsten und bekanntesten Navigationsinstru- menten der Schifffahrt. Älteste Nachweise über Lotungspraktiken stammen aus Ägypten zur Zeit etwa 2040 v. Chr.19 Verschiedene Formen von Handloten (bspw. Blei- bzw. Senklote, Drahtlote oder Lotstäbe) wurden viele Jahrhunderte lang vor allem in küstennahen Gewässern zur unmittelbaren Überprüfung der Wassertiefe und damit zur Vermeidung von Grundberührungen eingesetzt. Durch die an Senk- loten angebrachte Lotspeise (bspw. Talg) konnten zudem Bodenproben entnom- men werden.20 Als Referenz ermöglichte die Kombination aus Wassertiefe und charakteristischer Sedimentbeschaffenheit erfahrenen Schiffern dadurch auch bei unsichtigem Wetter eine relativ genaue Standortbestimmung. Erst ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr das Lot, unter anderem »gefördert durch die Vorbe- reitung der Verlegung des ersten transatlantischen Seekabels zwischen Nordame- rika und Europa«21, eine Bedeutungserweiterung als Instrument zur strukturierten Vermessung ozeanischer Tiefen. Es trug dadurch folgend in seiner weiterhin me- 16 Vgl.: Behm: »Einrichtung zur Messung von Meerestiefen und Entfernungen und Richtun- gen von Schiffen oder Hindernissen mit Hilfe reflektierter Schallwellen«. 17 Verfahren zur Zeitmessung akustischer Signale im Wasser waren schon zuvor im Einsatz. Da es jedoch nicht möglich gewesen war, Kurzzeitmessungen von Schallresonanzen durchzuführen, konnten nur große Wassertiefen gemessen werden. Dadurch war ihr Ein- satz für die Navigation in Küstenbereichen quasi unbrauchbar und dienten vornehmlich der Erforschung und Vermessung des Meeres im Allgemeinen. 18 Vgl. Behm: »Anordnung zur Bestimmung von Meerestiefen und sonstigen Entfernungen unter Wasser« und Behm: »Kurzzeitmesser«. 19 Vgl: Geomar u.a.: Die Tiefe hören, S. 4. 20 Auf die genauen Methoden, ihre kulturspezifischen Differenzierungen und zeitlichen Ent- wicklungen kann an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden. Hierzu u.a. Sauer: »Anfänge der Großschiffsnavigation in Nordeuropa«, S. 231ff. 21 Wolfschmidt: »Von Kompaß und Sextant zu Radar und GPS«, S. 53. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 167 DANIELA ADSCHEID chanischen Form zu einer beginnenden systematischen Beschreibung des Meeres- grundes und zur Begründung der Ozeanographie bei, 22 stellte doch der Grund der Ozeane eine zu jener Zeit ebenso unbekannte Größe dar wie andere Planeten, wie es Matthew Maury 1857 programmatisch formulierte: »Up to that time, the bottom of what sailors call ›blue water‹ was as unknown to us as is the interior of any of the planets of our system«23. Aber auch, wenn ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Handlot zur Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens durch den Einsatz dampfbetriebene Lotmaschinen erweitert wurde und systematisch Tiefseelotun- gen zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt wurden, blieb das Verfahren so- wohl zeit- als auch arbeitsintensiv und forderte ein relativ hohes Personalaufkom- men: Für das Aufholen des Lotes wurden motorisierte Winden eingesetzt. Das Lot benötigte 33 ½ Minuten zum Grund in 4.456 m Wassertiefe, die 12 PS-Dampfwinde dann ca. 4 Stunden, um es wieder heraufzuzie- hen. […] Das Schiff musste für Stunden auf Position gehalten werden. […] Darüber hinaus war ruhige See beim Loten unbedingte Vorausset- zung.24 Durch die nach wie vor aufwendigen und langwierigen Praktiken der einzelnen me- chanischen Messungen, blieben Tiefseekarten ein Mosaik einzelner, oft invalider, Datenpunkte, die in Tiefenkarten möglichst kohärent zusammengesetzt werden mussten. Erst durch den Einsatz akustischer Verfahren und dem damit verbunde- nen qualitativen wie quantitativen Anstieg der Messungen erfuhr die wissenschaft- liche Profilierung des Meeresbodens einerseits eine ›Verdichtung der Beschrei- bung‹25, andererseits konnten die valideren Daten und schnelleren Messungen maßgeblich zur Sicherheit der Schifffahrt beitragen. Zwar gab es bereits historisch ältere Überlegungen und Ansätze, ozeanische Tiefen durch Verfahren der Zeitmessung akustischer Signale zu erfassen, allen vo- ran sind hier die Frei- oder Fall-Lote zu nennen, die Torpedos zu Boden sinken ließen und bei Grundberührung detonierten,26 die Problematik, die sich jedoch vor 22 Bereits zuvor setze die Mediengeschichte des Echolots an, die konkret 1822 mit einer Ausschreibung der L’Academie royale des Sciences in Paris beginnt dennoch erst, vor al- lem durch das Titanic-Unglück 1912, 90 Jahre später Hochkonjunktur erfährt. Zwar gab es in der Zwischenzeit einige parallele und voneinander unabhängige Ansätze, auf die ent- wickelten Verfahren bzw. Experimente kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter einge- gangen werden. Hierzu u.a.: Drubba/Rust: »Die Entwicklung der akustischen Meerestie- fenmessung« S. 388ff. 23 Maury: Explanations and Sailing Directions to Accompany the Wind and Current Charts, S. 114. 24 Geomar u.a.: Die Tiefe hören, S. 5. 25 Hierzu v.a. Höhler: »›Dichte Beschreibungen‹«, S. 30ff. 26 Für genaue Beschreibung des Verfahrens vgl. Drubba/Rust: »Die Entwicklung der akusti- schen Meerestiefenmessung« S. 329. NAVIGATIONEN 168 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN allem für navigatorische Zwecke, mit oberster Priorität der Sicherheit in flachen Gewässern und der damit einhergehenden Notwendigkeit exakter Messungen ergab, beschreibt Behm im Patentantrag Einrichtung zur Messung von Meerestiefen und Entfernungen und Richtungen von Schiffen oder Hindernissen mit Hilfe reflektierter Schallwellen vom 22. Juli 1913 wie folgt: Zur Messung von Meerestiefen und Entfernungen unter Wasser ist wie- derholt vorgeschlagen worden, die Zeit zu bestimmen, welche zwi- schen Abgabe eines akustischen Signals und der Ankunft des Echos hie- rauf liegt. […] Da die Schallgeschwindigkeit unter Wasser etwa 1435 m pro Sekunde [Herv. d. Verf.] beträgt, war dieses Verfahren nur bei sehr großen Wassertiefen oder Entfernungen anwendbar, während es bei geringen Distanzen vollkommen versagt.27 Die Schalleigenschaften des Wassers stellten für Behm zu diesem Zeitpunkt somit den limitierenden Faktor für das Verfahren der der Schalllaufzeit im Kontext navi- gatorischer Anwendung dar. 2.1 SCHALLSTÄRKEMESSUNG Behm fokussierte in seiner Forschung daher zunächst einen anderen Ansatz, den der Schallstärkemessung. Ziel seiner Arbeit war es, die Intensität des vom Grund reflektierten Schalls zu messen und dadurch die Tiefe zu bestimmen. Dazu schreibt er in seinem Patentantrag von 1913 weiter: Diese Mängel [die bisherige Unanwendbarkeit der Zeitmessung, Anm. d. Verf.] sucht die vorliegende Erfindung zu beseitigen, indem sie 1. ei- nen Schallstärkemesser (Sonometer) benutzt […] und indem sie 2. Nicht die zwischen der Abgabe und Wiederankunft des Signals verstri- chene Zeit zugrunde legt, sondern die mit der Entfernung abnehmende Stärke des Echos mißt.28 Das Verfahren eliminiert damit die Zeit als quantitatives Moment der Messung und lenkt den Fokus auf die physikalisch qualitativen Eigenschaften des Schalls in Rela- tion zur Quantität des Raumes beziehungsweise seiner Distanz. Dazu wird vom Geber mittels einer druckwasserbetriebenen Unterwassersirene oder Knallkapsel eine Schallwelle ausgesendet, die vom Meeresboden als Echo an den im Schiffskör- per (a) in einen Trichter (k) eingelassenen Empfänger (c) reflektiert wird. Der Emp- fänger (Abb. 1) enthält ein Sonometer und ist mit einer Stimmgabel (n) durch eine Stange (m) mit dem Aufnahmekörper (l) verbunden. Trifft das Echo nun auf den 27 Behm: »Einrichtung zur Messung von Meerestiefen und Entfernungen und Richtungen von Schiffen oder Hindernissen mit Hilfe reflektierter Schallwellen«, S. 1. 28 Ebd., S. 1, Herv. d. Verf. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 169 DANIELA ADSCHEID Aufnahmekörper wird eine ›Vibration‹ durch die Stange an die Stimmgabel weiter- geleitet, die diese in Schwingung versetzt und das an ihr befestigte Glaskügelchen (o) zum Ausschlagen bringt. Mit Hilfe eines Mikroskops oder Aufnahmeapparats (p) lässt sich der Ausschlag beobachten oder aufzeichnen und dadurch die Meerestiefe indirekt ablesen. Durch eine Eichung der Stimmgabel besteht dabei zudem auch die hypothetische Möglichkeit einer direkten Ablesung der Meerestiefe.29 Abb. 1: Empfänger Schallstärkemessung (Quelle: Behm, Alexander: Patentschrift 282009, 1913). In weiteren Versuchsreihen und Experimenten, die sich nicht mehr ausschließlich mit den qualitativen Eigenschaften des Schalls als Transportmittel von Information, sondern ebenso mit der qualitativen Beschaffenheit der zu übertragenden Informa- tion, dem Meeresgrund, auseinandersetzten, wurde deutlich, dass sich hierin der limitierende Faktor dieses Ansatzes begründet. Denn »[d]ie Abschwächung der Schallstärke hängt […] nicht nur von der Wassertiefe, sondern auch von der Be- schaffenheit des Meeresbodens ab«30. Die Tatsache, dass Steine, Felsen, Sand und Schlamm etc. unterschiedlich ›klingen‹, beziehungsweise Schallwellen unterschied- lich stark absorbieren und damit den ausgesendeten Schall nicht gleichermaßen als Echo reflektieren, machte das Konzept der Schallstärkemessung unbrauchbar. Dennoch oder gerade deswegen ist dieser Entwicklungsschritt von enormer Be- deutung innerhalb der medienkulturellen Betrachtung des Echolots. Zum einen wird hier erstmals ein Verfahren entwickelt, welches im Rahmen der Meerestie- fenmessung akustische Signale nahezu simultan in optische Zeichen übersetzt, zum 29 Ebd., S. 2. 30 Geomar u.a.: Die Tiefe hören, S. 13. NAVIGATIONEN 170 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN anderen ist es das erste Konzept seiner Art, welches die körperliche Arbeit voll- ständig an eine Maschine zu delegieren versuchte und damit der Inhalt der Medi- entechnik, in Form seines Outputs, erstmals sichtbarer wurde, als die navigatori- sche Praktik selbst. In diesem Sinne ließe sich auch die folgende grundlegende Aussage Marshall McLuhans auf das Echolot anwenden: »The environmental is al- ways invisible. Only the content is noticed«31, denn uneinsichtige Meerestiefe wurde nunmehr symbolisch darstellbar, da in optisch wahrnehmbare Zeichen überführt. Interessant an dieser Stelle ist, dass der Aspekt der enormen Reduktion körperlicher Arbeit weder in diesem, noch in den folgenden Patentanträgen explizit herausgestellt wird. Erst in späteren Schriften über seine Erfindung hebt Behm die- sen Vorteil ausdrücklich hervor. In seinen Patentanträgen selbst bezieht sich der Erfinder ausschließlich auf die technischen Akteure unter Einbindung ihres natürli- chen Umfeldes und die Vorzüge für die Schifffahrt im Allgemeinen. Dem Aspekt der Reduktion physischer Arbeit wird zu diesem Zeitpunkt keine erwähnenswerte Bedeutung beigemessen, was Rückschlüsse auf die Bedeutung menschlicher Ar- beitskraft zuließe. Eine dritte Perspektive, die diesem gescheiterten Ansatz – be- ziehungsweise grundsätzlich jeder gescheiterten Technologie – elementare Bedeu- tung beimisst, begründet sich ebenfalls in der Betrachtung des Mediums als environment. Wenn man McLuhan auch hier folgt und annimmt, »[that] each tech- nology creates a unique environment. The content of each new environment is the old environment«32, bedeutet dies für die Fortführung der Entwicklung des Echo- lots, dass der gescheiterte Ansatz der Schallstärkemessung mit allen technischen und natürlichen Akteuren (auch oder gerade den limitierenden!) – jedem Stein, je- dem Sandkorn – als (methodischer) Inhalt Bestandteil und Akteur-Netzwerk des weiterentwickelten und erfolgreichen Verfahrens des Echolots und seines environ- ments ist. 2.2 (KURZ-)ZEITMESSUNG Behm kehrte folgend zur bereits bekannten, jedoch bisher nur für ›große‹ Tiefen realisierbaren Laufzeitmessung von Schall zurück und arbeitete an einem Verfah- ren, diese für flache Gewässer so zu optimieren, dass sie für navigatorische Zwecke ausreichend exakt und zuverlässig funktionierte. Für eine Messung bei einer Schall- geschwindigkeit im Wasser von etwa 1.435 Metern pro Sekunde bedeutet dies, dass die Messdauer bei einer Wassertiefe von 3 Metern nur 1/250 Sekunde betra- gen darf. Behm hingegen visionierte und konstruierte schließlich ein Verfahren, das es sich zur Aufgabe stellte, auch lediglich 1m Wassertiefe sicher zu loten: »Bedenkt man, daß ein für die Schiffahrt brauchbares Lotverfahren die Wassertiefe auf min- desten 1m genau angeben muß, für welche die Echozeit 1/750 Sekunde beträgt, so 31 McLuhan: »Brief an David I. Segal vom 24. September 1964«, S. 31. 32 Ebd., S. 31. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 171 DANIELA ADSCHEID ergibt sich, daß die Zeit auf 1/10000 Sekunde genau zu messen ist, wenn man noch 1m Wassertiefe sicher loten will«33. In seinem Patentantrag Anordnung zur Bestimmung von Meerestiefen und sonsti- gen Entfernungen unter Wasser von 1916 schlägt Behm zum Arrangement der Mess- instrumente zunächst vor, den Geber vom Empfänger durch die Schachtwände des Schiffskörpers selbst so voneinander zu trennen, daß die ausgesandten Schallwellen in zwei verschiedene Gruppen zer- legt werden. Die vom Meeresboden reflektierten Wellen, das rückkeh- rende Echo, erreichen den Empfänger ungehindert und können ihn deshalb entsprechend stark erregen, während infolge der durch die Schachtwände bewirkten gegenseitigen Abschirmung von Geber und Empfänger die direkt fortgepflanzten Schallwellen nur verhältnismäßig schwach den Empfänger beeinflussen.34 In diesem Verfahren wird das Schiff selbst zum apparativen Bauteil, selbst Teil der apparativen Entwicklung, seines Mediums, insofern als dass es zu einer gewünsch- ten Störquelle in Form einer Abschirmung nicht erwünschter Schallwellen einge- setzt wird. Bei der Wahl der Schallquelle bezieht Behm ebenfalls das Schiff selbst, sowie dessen natürliche Umgebung, als nicht-menschliche Akteure in seine Über- legungen ein und richtet seine Aufmerksamkeit dabei vor allem auf die notwendige Widerstandsfähigkeit des Empfängers für den Einsatz an Bord: Wenn man eine recht kräftige Schallquelle verwendet, so erzielt man als Hauptvorteil, daß der Empfänger nicht nur gegen mechanische Stö- rungen, sondern auch gegen schwächere Stöße und Geräusche unemp- findlich wird, wodurch erst einwandsfreie [sic!] Aufnahmen ermöglicht werden. Alle Erfordernisse werden erfüllt, wenn als Schallsignal ein kräftiger Gewehrschuss verwendet wird […]. Die gleiche Wirkung kann aber auch durch die Detonation einer Sprengkapsel erzielt wer- den, […].35 Zwar zeigen sich auch in diesem Ansatz wieder qualitative Überlegungen hinsicht- lich des Schalls, diese beziehen sich hier jedoch nicht auf die Messbarkeit der Tiefe, sondern einzig auf die Anforderungen und Eigenschaften des Akteur-Netzwerkes, in dem operiert wird. 33 Behm: »Die Entstehung des Echolots«, S. 962. 34 Behm: »Anordnung zur Bestimmung von Meerestiefen und sonstigen Entfernungen unter Wasser«, S. 1-2. 35 Ebd., S. 2. NAVIGATIONEN 172 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN Abb. 2: Schematische Darstellung des Behm’schen Echolotverfahrens (Quelle: Behm, Alexander: »Die Entstehung des Echolots«, S. 967). Hinsichtlich der quantitativ zeitlichen Messung verlagert sich der Fokus auf einen zusätzlichen Akteur: eine Referenz-Stimmgabel. Diese wird auf 1.500 Schwingun- gen pro Sekunde geeicht, was pro Schwingung, bei einer Schallgeschwindigkeit im Wasser von etwa 1.500 Metern pro Sekunde, einem Meter entspricht – und somit Behms bereits oben genanntes Ziel apparativ realisieren sollte, auch 1m Meeres- tiefe sicher auszuloten. Zu Beginn der Messung wird dafür parallel zum abgehenden Schuss das schreibende Gerät ausgelöst, wodurch die Schwingung der Stimmgabel auf einem fortlaufenden Papierstreifen chronographisch linear zur Darstellung ge- langt. Eine zweite Stimmgabel – an der wie auch schon bei der Schallstärkemessung ein Glaskügelchen befestigt ist – wird durch den abgehenden Schall ebenfalls in Schwingung versetzt. Durch ein Mikrofon als Verstärker wird der Empfänger durch das eintreffende Echo derart erregt, daß das Glaskügelchen […] kräftigere, von den vorherigen deutlich un- terscheidbare Schwingungen ausführt und die Niederschrift ungefähr NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 173 DANIELA ADSCHEID wie in Abb. 3 aussieht. Der Punkt a' zeigt den Augenblick des Schallab- gangs, b' das Eintreffen der stärkeren reflektierten Schwingungen. Der Zeitabstand a' bis b' gibt ein Maß für die zu messende Entfernung.36 Abb. 3 Niederschrift der Lotung (Quelle: Behm, Alexander: Patentschrift 310690, 1916). In einer späteren Ausführung wurde der Anzeigeapparat mit einer in Tiefenmetern geeichten Doppelskala versehen, die eine direkte Ablesung der Tiefenmeter er- möglichte. Dadurch wurde die unmittelbare optische Darstellung der akustischen Schwingung in eine mittelbare Anzeige konvertiert. 3. NAVIGATION ›AUF KNOPFDRUCK‹ Diese Ausführungen am Beispiel des Echolots markieren den Umbruch einer phy- sischen, körperlich arbeitsaufwendigen hin zu einer technischen, für Menschen we- niger arbeitsintensiven Navigation. Beide Verfahren, sowohl das der gescheiterten Stärkemessung als auch der Laufzeitmessung, verfolgen den Ansatz materielle, me- chanische Methoden, die – wie oben beschrieben – einen hohen zeitlichen und körperlichen Aufwand sowie umfängliches Personal beanspruchten, durch Medien- techniken ›auf Knopfdruck‹ beziehungsweise durch einen Schalthebel37 zu erset- zen. Zwar scheint dem zu investierenden körperlichen Arbeitseinsatz in der Kon- zeption des Echolots keine besondere Bedeutung beigemessen worden zu sein, in seinem Artikel Das Behm - Echolot von 1921, der in Teilen eher einer Werbe- annonce des neuen ›Must-haves‹ für den maritimen Haushalt anmutet, weist Behm jedoch ausdrücklich auf die Reduktion beziehungsweise vollständige Delegation physischer Arbeit an ein technisches Objekt hin: 36 Ebd., S. 2, Herv. i. Orig. Die Bezeichnungen a' und b' in Bezug auf Abb. 3, sind so im Original angegeben. In Abb. 3 werden Ab- und Eingang des Schalls durch a1 bzw. b1 dar- gestellt. 37 Behm: »Das Behm-Echolot«, S. 244. NAVIGATIONEN 174 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN In der Bedienung erfordert das Behm-Echolot keinerlei körperliche Ar- beit und braucht sich der Lotende nicht dem Einfluß der Witterung aus- zusetzen.38 Was dies bei Nacht und Nebel in Unwetter und Sturm be- deutet, vermag jeder Seemann leicht zu beurteilen. Durch die bequeme Handhabung […] wird man mit dem Behm-Echolot viel häufiger und lieber loten als mit den mechanischen Methoden [...].39 Behm tangiert hier drei wesentliche Faktoren, die medienkulturell von besonderer Bedeutung sind. Mit dem ersten Punkt wird explizit die Delegation körperlicher Arbeit in die neue Navigationstechnik bestimmt. Der zweite Aspekt bezieht die natürlichen Akteure der Umgebung des Mediums und seiner Benutzer:innen aus- drücklich in die Betrachtung ein, während der dritte Punkt auf die Benutzer:innen- freundlichkeit fokussiert. Was Behm hier beschreibt, lässt sich – vor allem in Bezug auf die Un- und Sichtbarkeit von Arbeit sowie hinsichtlich der Annahme einer ›Na- vigations-Vergessenheit‹ – anhand des Paradox of the Twin Travelers erläutern, wel- ches Bruno Latour in seinem Aufsatz Trains of Thought – The Fifth Dimension of Time and its Fabrication erläutert. Auf der einen Seite gibt es die Zwillingsschwester, die sich mit Hilfe einer Axt mühsam den Weg durch einen dicht bewachsenen Dschun- gel freischlägt. Ihr Körper wird dabei von den Strapazen gezeichnet und sie wird ihr ganzes Leben lang jede Minute dieser Tortur erinnern. Latour kommentiert dies mit den Worten: »The reason she will remember it is that each centimeter has been won over though a complicated ›negotiation‹ with other entities […]«40. Ihr Zwil- lingsbruder reist dahingegen währenddessen mit dem Zug, in der klimatisierten ersten Klasse des TGVs, zu einer Konferenz. »He will not remember anything except having boarded the train instead of coming by plane. […] The trip for him was like nothing«41, kommentiert Latour. In Analogie zum Echolot lässt sich das Vergessen der Arbeit somit durch die Konvertierung involvierter Entitäten und Ak- teure vorakustischer Methoden (Dunkelheit, Nebel, Unwetter, Sturm aber auch Seile, Gewichte, Winden, etc.), die im Wortlaut Latours als ›full mediators‹ be- schrieben werden können, zu ›well-aligned intermediaries‹ erklären. Durch einen definierten Input, einen Kopfdruck, wird ein definierter Output, die Anzeige der Tiefe auf einer Skala, erzeugt, während sich der eigentliche Lotungsprozess der Sichtbarkeit entzieht. Die Weiterentwicklung der akustischen Tiefenmessung verlagerte ihren Schwerpunkt in den folgenden Jahren auf die Optimierung der Schallquelle, denn die Grenzen des bisherigen Verfahrens lagen auf der Hand: Durch den Einsatz von Knallkapseln und Patronen konnten zwar innerhalb kurzer Zeit viele Einzellotungen 38 Vgl. hierzu Abb. 2, die den Anzeigeapparat im Kartenhaus bzw. auf der Kommandobrücke abbildet. 39 Behm: »Das Behm-Echolot«, S. 247. 40 Latour: »Trains of Thought«, S. 175. 41 Ebd., S. 175. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 175 DANIELA ADSCHEID auf Knopfdruck durchgeführt werden, ein automatisiertes, quasi-fortlaufendes Lo- tungsverfahren war jedoch, unter anderem durch den hohen Materialaufwand, nicht möglich. Der spätere Wechsel vom hörbaren Schall zur Verwendung von Ult- raschall ermöglichte letztlich nicht nur vollautomatisierte Messungen in ebenso zeitlich hoher Frequenz, er ist auch akustisch für das menschliche Ohr nicht wahr- nehmbar. Das Echolot eliminierte damit nicht nur die körperliche Arbeit vorakustischer Lotungsmethoden: Durch den ›verstummten Knall‹ entzieht sich die Lotung und ihre inskribierte Historie vollständig der menschlichen Wahrnehmung. Die an die Navigationstechnik delegierte Arbeit ist heute nur noch in Form einer Zahl auf dem Display sichtbar: Einer Zahl, die für sich stehend jedoch lediglich einen vertikalen Messwert anzeigt und erst in kooperativer Praktik zu einer Selbstverortung im Raum führt. 4. FAZIT: VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN Habe ich eingangs die Annahme einer zunehmenden, medienhistorisch begründe- ten ›Navigations-Vergessenheit‹, durch eine Verschiebung von aktiver hin zu passi- ver Verortung, aufgestellt, lässt sich diese – am Fallbeispiel des Behm’schen Echo- lots – nachzeichnen. Während unter Einsatz vorakustischer Verfahren einzelne Lotungen einen oft stundenlangen, arbeitsintensiven und körperlich anstrengenden Prozess bedeuteten, konnte das später realisierte Echolot Tiefenmessungen buch- stäblich ›auf Knopfdruck‹ realisieren: Ein Knopfdruck, der die körperliche Arbeit ebenso zum augenscheinlichen Verschwinden brachte wie das heutige Tippen auf ›Navis‹ oder ›digitaler Wegweiser‹ Kulturtechniken der Navigation vergessen ma- chen.42 Im heutigen Sprachgebrauch kann ›Navigation‹ als übergreifendes Konzept der Orientierung und Wegfindung in diversen Kontexten beschrieben werden. Da- bei scheint es bei der alltäglichen und beinahe inflationären Verwendung des Be- griffs keine Unterscheidung zwischen aktiver (Selbst-)Verortung und passiver (Fremd-)Verotung zu geben. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausfüh- rungen stellt sich die Frage, ob nicht genau die Verschiebung, von handlungs- und praktikbasierter Orientierung hin zu einer passiven Lokalisierung durch Medien, die Navigation als solche, als aktivitäts-fordernde und -einfordernde Kulturtechnik, in Vergessenheit geraten lässt und Orientierung zunehmende zu einem konsumierba- ren Produkt wird. Durch die Delegation praktischer Navigationsarbeit an Medien- techniken wird der Mensch zunehmend selbst zum Delegierten der Navigations- beziehungsweise Orientierungsmedien – er wird vom Navigator zum Navigierten. 42 Danke an Christoph Borbach für die schöne Formulierung. NAVIGATIONEN 176 NA VIG IEREN VOM NAVIGATOR ZUM NAVIGIERTEN LITERATURVERZEICHNIS Abend, Pablo: Geobrowsing. Google Earth und Co. – Nutzungspraktiken einer di- gitalen Erde, Bielefeld 2013. 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NAVIGATIONEN 178 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Akustische Transfers zwischen Land und Meer V O N S E B A S T I A N S C H W E S I N G E R ABSTRACT Am Beispiel eines akustischen Tarnkappen-U-Boots des Zweiten Weltkriegs the- matisiert der Beitrag das Zusammenspiel von Absorption und Reflexion als konsti- tutive Pole der akustisch basierten nautischen Navigation. Mithilfe akustischer Sig- nale wurden und werden subaquatische Umgebungen erschlossen und deren Begrenzungen und Objekte sichtbar gemacht und kartiert. Im Gegensatz zur me- dienwissenschaftlich prominent beschriebenen Funktion der Raumüberwindung durch akustische Medien wie bspw. durch das Radio legt der Artikel den Fokus auf die raumerzeugende Funktion nautischer akustischer Medien und untersucht die dafür notwendige diagrammatische Konzeption des Akustischen in Transduktions- ketten. Diese bilden die materielle und epistemische Grundlage nicht nur für die friedliche akustisch-mediale Konstruktion des Meeres als Transitraum, sondern auch für das militärische hide & seek der atlantischen Kriegführung. Das Denken in und die Arbeit an Transduktionsketten ermöglichte die Engführung von raumakus- tischer Forschung und Wasserschallforschung im Zweiten Weltkrieg, weshalb der Artikel sich auch als Beitrag zu einer Verflechtungsgeschichte terrestrischer und maritimer Raumvorstellungen wie Wissensformen versteht. KEYWORDS: Raumakustik, Unterwasserakustik, Absorption, Reflexionsfreiheit, Transduktion, Schallortung »It’s a little dangerous When you come treading by me Hide and seek delirium Where do you think you’ll find me?« (Alexandra Savoir, »Howl« 2020) 1. EINLEITUNG Man kann es getrost der Dominanz eines territorial geprägten Geschichtsverständ- nisses anlasten, dass der historischen Bedeutung maritimer Räume erst in den letz- ten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die in diesem Zuge geäu- ßerte Kritik an einer Terrazentrizität der historisch arbeitenden Disziplinen ließ das NAVIGATIONEN NA VIG IEREN SEBASTIAN SCHWESINGER Meer als einen vergessenen Raum aufscheinen, gegen dessen vermeintliche Ge- schichtslosigkeit und Leere es vorzugehen gelte.1 Auch wenn Autor:innen wie Ale- xander Kraus und Martina Winkler dieser heterotopen Häresie2 grundsätzlich zu- stimmen, haben sie doch ebenso deutlich auf die darin fortgeschriebene Dichotomie von Land und Meer hingewiesen, die ihrer Meinung nach problematisch ist, weil sie beide Pole universalisiert und generalisiert; und daraus folgend außer- stande ist, die Verzahnung von terrestrischen und maritimen historischen Räume zu entbergen.3 Dieser Artikel versteht sich als Beitrag zu einer solchen Verflechtungsge- schichte, die sich aus den wissenschaftlichen Anstrengungen speist, Wissen und Technologien zwischen maritimen und terrestrischen Räumen transferieren zu können. Die Akustik erscheint hier als geeignete Grenzgängerin, die sich mit der Erforschung von Luft- und Wasserschall über die Eigenheiten beider Medien der Ausbreitung von Schwingungsphänomenen hinwegsetzt und die Transfermöglich- keiten von Wissensbeständen und ihren potentiellen Anwendungsfeldern zu Land und zu Wasser bis in die Gegenwart auslotet. Damit steht eine den Polen von Land und Meer korrespondierende Dualität von Raum und Zeit zur Disposition, die in ihrer Wechselseitigkeit auch die vermeintliche erstere Opposition aufzulösen ver- mag. Die Bedeutung des Akustischen für die Nautik ist seit der Wende zum zwan- zigsten Jahrhundert zentral geworden und – wie am Beispiel der Echolotung an anderer Stelle in dieser Ausgabe nachvollziehbar wird – von dem Willen getrieben, Raum- und Ortswissen durch die Ausnutzung zeitbasierter Effekte akustischer Phä- nomene darstellbar zu machen. Während die Ursprünge akustischer und elektroa- kustischer Kommunikationstechnologien in ihrer raumüberwindenden Funktion auch zur See bereits breit rezipiert wurden4, sind die raumerzeugenden akustischen 1 Die Programmatik dieser Ansätze bringt der einflussreiche Text von John R. Gillis bereits im Titel Taking History Offshore auf den Punkt. Vgl. Gillis: »Taking History Offshore«. 2 Damit soll die Provokation, die im Anzweifeln der Heterotopie, der Andersartigkeit ma- ritimer Räume liegt, verdeutlicht werden, wiewohl Foucault nie das Meer, sondern allein das Schiff für dessen heterotopes Imaginationsarsenal seit der Neuzeit in Anschlag bringt, wenn er schreibt, dass »das Schiff ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort [...]. Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin.« (Foucault: »Andere Räume«, S. 46) Auch wenn die vor allem eurozentrische Historizität dieser Bestimmung nur unzureichend re- flektiert scheint, ist Foucault der hier verfolgten Argumentation einer konstitutiven Navi- gationsunsicherheit weitaus näher, als es seine Rezeption im Rahmen eines oceanic turn vermuten lässt. 3 Vgl. Kraus/Winkler: »Weltmeere«, S. 11ff. Welche politische Dimension diese Unterschei- dung annehmen kann, ist nicht erst mit der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideo- logie erkennbar geworden, die auch Völkerrechtler wie Carl Schmitt mit der historischen, rechtlichen und kulturellen Gegenübersetzung von Land und Meer vorbereitet bzw. aka- demisch begleitet haben. Beispielhaft vgl. Schmitt: Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 4 Die Kommunikation zur See durch akustische bzw. Radiosignale ist nicht nur Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit NAVIGATIONEN 180 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Technologien, die einer soziotechnischen Konstruktion der unsichtbaren Unter- wasserwelt und ihrer navigationellen Beherrschung überhaupt erst Vorschub leis- teten, weniger präsent. Dieser Artikel möchte deshalb die Raumzeitlichkeit des Akustischen und deren Bedeutung für die Navigation als nicht nur raumvermitteln- der, sondern ebenso raumerzeugender Praxis herausstellen, indem er sich den Be- dingungen der akustisch-medialen Navigationsformen widmet und das Zusammen- spiel von akustischer Reflexion und Absorption als dessen mediale conditio sine qua non untersucht. Am vermeintlich randständigen Phänomen eines Tarnkappen-U- Boots des Zweiten Weltkriegs wird das Denken in und die Arbeit an Transdukti- onsketten als operativ-epistemische Voraussetzung des Navigationellen exemplifi- ziert. 2. AUFTAKT. EIN U-BOOT WIRD GEFUNDEN Als sich 1998 ein Schleppnetz eines Fischerbootes im Ärmelkanal an einer unmar- kierten Stelle am Grund verfing, war die Aufmerksamkeit der hauptsächlich privat operierenden Wrackjäger geweckt. Die finale Aufklärung erfolgte allerdings erst zehn Jahre später durch eine Tauchexpedition an dieser vielbefahrenen Stelle in- mitten des Kanals südöstlich der Isle of Wight. Die Expedition und die parallele Archivarbeit wurde durch ein Filmteam um Crispin Sadler begleitet und zur Doku- mentation Stealth Sub in der erfolgreichen Reihe Deep Wreck Mysteries verarbei- tet.5 Wie der Titel bereits verrät, war dieser Fund eines bisher nicht verzeichneten U-Bootwracks deshalb außergewöhnlich, da es sich dabei um ein kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Marine erfolgreich eingesetztes Tarn- kappen-U-Boot handelt. Die Unterwasserkameraaufnahmen des Wracks bieten ein bizarres Bild: In 55m Tiefe liegt ein U-Boot der deutschen 7er Baureihe, der mit knapp 700 ausge- lieferten Stück umfangreichsten Produktionsserie im Zweiten Weltkrieg, hier in der späten Version VII C. Skurril ist dessen Anmutung allerdings aufgrund seiner Ober- fläche. Unter den Ablagerungen, die das Meer seit dessen Aufgrundliegen hinter- lassen hat, zeichnet sich eine glatte Gummioberfläche ab, die das gesamte Äußere des Bootes umschließt. An einigen Stellen haben sich Teile davon gelöst, stehen vom U-Boot ab und geben ihre Beschaffenheit preis. Die Außenhaut besteht aus aufgeklebten Gummimatten, die eine untere perforierte Schicht und eine obere glatte Schicht aufweist (siehe Abb. 1). vermittelt worden, wie sich am Namen Guglielmo Marconi nachvollziehen lässt. Vgl. Ha- gen: Das Radio; Das unsichtbare Netz. 5 Vgl. Stealth Sub. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 181 SEBASTIAN SCHWESINGER Abb. 1: Unterwasserkameraaufnahmen der Außenhaut von U 480 im Rahmen der dokumentier- ten Tauchexpedition 2008.6 Von dieser seltsamen Beschichtung versprach sich die deutsche Marine, unentdeckt auf ›Feindfahrt‹ zu gehen, unortbar durch die gegnerischen Linien zu navigieren und unbehelligt in von ihnen kontrollierten Gewässern Schiffe zu vernichten. Unter dem Codenamen Alberich wurde bereits seit Kriegsanfang daran gearbeitet, die Anpei- lung durch die alliierte ASDIC-Technologie7 zu verhindern. Das von der britischen Anti-Submarine Division bereits gegen Ende des Ersten Weltkrieges entwickelte und stetig verbesserte Verfahren zur aktiven Schallortung stellte sich als die größte Be- drohung eines erfolgreichen deutschen U-Boot-Krieges heraus. Alberich sollte die deutsche Antwort auf ASDIC sein. Als U 480 am 14. August 1943 bei der Deutsche Werke Kiel AG vom Stapel lief, war es unter nicht geringem Mehraufwand mit der speziellen Alberich-Gummi- außenhaut versehen worden. Nach der standardisierten Ausbildungs- und Test- phase bei Inbetriebnahme eines Bootes erfolgte Ende Mai 1944 im Skagerrak eine Erprobung der Alberich-Tarnung, bei der sowohl die Funktionalität als auch die Materialsicherheit, z.B. bei Tieftauchversuchen sichergestellt wurde. Zu Beginn der alliierten Invasion noch vor Norwegen zur Abwehr stationiert, wurde es bald nach dem Landungserfolg der Alliierten in Frankreich für den Operationsraum im Är- melkanal vorbereitet.8 Der Ärmelkanal war zu dieser Zeit bereits vollständig – zur See wie zur Luft – unter der Kontrolle der alliierten Streitkräfte. Laut dem Marine- Historiker Axel Niestlé standen den 36 deutschen U-Booten, die für den Einsatz 6 Stealth Sub, TC 4:24/4:35 (UK Version), Copyright: Mallinson Sadler Productions. 7 Die Bezeichnung ASDIC bezieht sich auf die für die britische Anti Submarine Division (ASD) erfolgte Forschungsarbeit, aus der intern der Gebrauch ASDics für die dabei her- gestellten Gerätschaften als Deckname wurde. Der Begriff ASDIC wurde später offiziell für die Aktivsonarortungstechnologie verwendet. 8 Vgl. Rössler: Die Sonaranlagen der deutschen Unterseeboote, S. 135. NAVIGATIONEN 182 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE im Ärmelkanal abkommandiert werden konnten, mehrere hundert Schiffe der Al- liierten gegenüber, die allein für die Bekämpfung der U-Boote vorgesehen waren.9 In dieses Gebiet brach U 480 von Brest aus zu seinem zweiten Fronteinsatz unter der Führung von Oberleutnant zur See Hans Joachim Förster auf. Am 21. August entdeckte die deutsche Besatzung ein einzelnes Schiff, die kanadische Corvette HMCS Alberni. Diese sank nach einem Torpedotreffer innerhalb kürzester Zeit mit mehr als der Hälfte ihrer Besatzung in die Tiefe. Der überlebende wachhabende Offizier Frank Williams bestätigte, keinerlei Anzeichen eines U-Boots in ihrer Nähe über die Sonar- und Radarortung erhalten zu haben.10 Innerhalb von weiteren vier Tagen versenkte die Mannschaft von U 480 noch drei weitere Schiffe, den Minen- sucher HMS Loyalty, das Versorgungsschiff SS Fort Yale und den Nachschubfrach- ter SS Orminster. U 480 ging nach jedem Abschuss direkt auf Tauchstation. Die alliierten Schiffe konnten das U-Boot mit ihren Ortungsgeräten allerdings nicht er- fassen. Förster führte dazu in seinem Kriegstagebuch am 25. August 1944 aus: Horchverfolgung dauert bis 22 h. [...] Häufig liegt Kolbendampfmaschi- nen-Jäger mit ganz geringen Umdrehungen (gestoppt) direkt über dem Boot. Jede Kleinigkeit bei ihm war dann im Boot [...] mit bloßem Ohr zu hören. Dabei brüllende Asdic-Impulse. [...] [Ich bin] der Überzeu- gung, daß Gegner mit Asdic Boot nicht erfaßt hat, deshalb ohne Entfer- nungsmessung nur auf Horchpeilung angewiesen (und das sicher auch noch sehr ungenau wegen des guten Zustandes, in dem Boot sich be- findet) war. Zum größten Teil schreibe ich das Nichterfaßtwerden des Bootes dem Schutz durch Alberich zu.11 Erst Mitte September tauchte U 480 vor der Westküste Irlands wieder kurzfristig auf und funkte an die Kommandoleitung. Im enigmaverschlüsselt sicher geglaubten, aber von den Alliierten abgefangenen und in Bletchley Park entzifferten Funk- spruch, tauchte die Bezeichnung Alberich auf, mit der die Alliierten zunächst nicht viel anfangen konnten. Zwar hatten die Verhöre mit deutschen Überlebenden von U-Boot-Abschüssen bereits seit 1941 Informationen zutage gefördert, dass mit ei- ner Gummiummantelung der Boote versucht wurde, die britische ASDIC-Ortung zu verhindern12, aber zum einen waren die Bemühungen als nicht praxistauglich 9 Vgl. Stealth Sub, TC 8:40-9:09 (Deutsche Version). 10 Vgl. Stealth Sub, TC 16:23-16:30 (Deutsche Version). Mittels Radar, das zu dieser Zeit bereits im Einsatz war, ließen sich aufgetauchte U-Boote aufspüren. 11 Zitiert nach Rössler: Die Sonaranlagen der deutschen Unterseeboote, S. 135. Die Bemer- kung, dass das Boot in einem guten Zustand und deshalb auch bei Horchpeilung kaum zu orten sei, liegt zu einem gewissen Teil auch an der dämmenden Wirkung, die die Gum- mihaut Alberich für Geräusche aus dem Inneren des U-Boots nach draußen hatte. 12 Vgl. »Report of Interrogation of Survivors of ›U 574,‹ a 500-Ton U-Boat, Sunk at About 0425 on 19th December, 1941, in Position 38° 15’ N. and 17° 16’ W., 28.12.1941« in: TNA ADM 219/542 »Interrogation of U-Boat Survivors, and Summary of U-Boat Tactics. Index to British Intelligence Reports«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 183 SEBASTIAN SCHWESINGER bzw. gescheitert beschrieben worden und zum anderen wurden sie nicht unter ihrem Codenamen Alberich erwähnt.13 Allerdings reichte ein wenig Germanistik- wissen aus, um von der Benennung nach einer germanischen Mythenfigur auf die Funktion des Einsatzmittels schließen zu können. Der insbesondere von Richard Wagner im Ringzyklus prominent inszenierte Alberich versucht, in der Sage den Schatz der Nibelungen vor allem mithilfe der Fähigkeit zu beschützen, sich durch einen Mantel unsichtbar machen zu können und so Angreifer zu täuschen. Allein diese Bezeichnung verriet, dass der deutschen Marine doch noch der Durchbruch bei der Gummibeschichtung von U-Booten zur ASDIC-Abwehr gelungen sein musste. U 480 und seiner Besatzung war indes kein weiterer erfolgreicher Frontein- satz beschieden. Nach einer aufwendigeren Erneuerung der Ummantelung in Nor- wegen lief U 480 Anfang Januar 1945 wieder aus. Die Alliierten konnten erneut einen Funkspruch abfangen und entschlüsseln, der den genauen Auftrag und den Operationsraum des U-Boots enthielt. Sie verlegten daraufhin die Konvoilinien im Ärmelkanal und verminten die alten Konvoibojen, an denen sich U 480 in Position brachte. Die dokumentierte Tauchexpedition konnte letztlich aufklären, dass das U-Boot durch eine detonierte Seemine und nicht – wie bis dahin vermutet14 – nach feindlicher Aufspürung durch Wasserbomben am 24. Februar 1945 ohne Überle- bende sank. 3. ZIELE UND WEGE FINDEN. HIDE & SEEK IN DER ATLANTISCHEN KRIEGFÜHRUNG Diese historische Episode soll den Ausgangspunkt für eine Betrachtungsumkehr bieten, mittels der den Bedingungen des Navigationellen peu a peu auf den Grund gegangen werden soll: Anstatt die Perspektive des Zielsuchenden einzunehmen, soll die Betrachtung vom Ziel ausgehen. Unterstellt man der Navigation als zu- nächst raumvermittelnder Praxis zwei grundlegende Fragen, so lässt sie sich in der kombinatorischen Mitte zwischen Orientierung und Zielfindung bzw. Zielerrei- chung einordnen: Erstens, wo bin ich? Zweitens, wo ist mein Ziel und wie komme ich dorthin?15 Es ist unstrittig, dass für den Fokus auf das Ziel die zweite Frage entscheidend ist, wobei die Verortung des Ziels immer in Relation zur Selbstveror- tung erfolgt und entsprechend auf äquivalente Techniken und Praktiken zurück- greifen muss, um Selbst und Ziel in einem geteilten Raum, wie er sich bspw. über 13 Vgl. z.B. »Report on the Interrogation of Survivors From U67, Sunk on 16 July 1843, Lt. Kuhn, Navy Department, Office of the Chief of Naval Operations, Washington, 16.8.1943, O.N.I. 250 – G/Serial 16«, File 5711651; »›U 135‹ Interrogation of Survivors, November 1943« in: TNA HS 8/767 »Anti-Submarine Campaign. Interrogation of U-Boat Survivors«. 14 Der U-Boot-Historiker Eberhard Rössler geht noch 2006 von einem Abschuss aus. Vgl. Rössler: Die Sonaranlagen der deutschen Unterseeboote, S. 135. 15 Vgl. Hutchins: Cognition in the Wild, S. 12ff. NAVIGATIONEN 184 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE eine Karte vermittelt, zu organisieren. Im vermeintlichen Normalzustand der Na- vigation ist das Ziel kartiert, weshalb die eigene Ortsbestimmung in diesem Bezugs- system die einzig notwendige Bedingung darstellt, um ein standardisierbares Hand- lungsprogramm der Zielerreichung in Gang zu setzen. Ein Ziel, das sich zu entziehen versucht, stellt hingegen eine Herausforderung für die Navigation, mithin deren potentielle Verhinderung dar. Entsprechend ließe sich sagen, dass im Hide & Seek der atlantischen Kriegführung die zielseitige Dimension der Navigation exzes- siv wird. Das Problem der Navigation, ihr Anstoß und ihr Fokus verschieben sich in diese Richtung. Die Zielorientierung ist zwar kein neues Phänomen der Navigation, doch scheint der Erfolg von Techniken der Orientierung und Selbstverortung den Pol der Zielfindung und -erreichung als nachrangig oder abgeleitet auftreten zu las- sen. Doch gilt für die Geschichte dieser Medientechniken von Sonar bis GPS eher die umgekehrte Binsenweisheit, dass das Ziel der Weg ist, da vor allem im militäri- schen Hintergrund der (Weiter-)Entwicklung vieler dieser heute zivil genutzten Technologien maßgeblich in Kategorien des targeting gedacht wurde. Woran lässt sich nun der Exzess festmachen, der diese Betrachtungsumkehr für die Archäologie des Navigationellen plausibilisiert? Zum einen werden Ziele problematisch, indem sie mobilisiert werden. Ähnlich der eigenen Positionsbestim- mung müssen frei flottierende Ziele stetig im Bezugssystem kartiert werden. Ten- denziell wird das mit zwei Variablen ausgestattete Navigationssystem dadurch komplexer, da neben Raumgrößen nun auch der durch Mobilität ausgelösten Vari- abilität mit einer Zeitgröße Sorge getragen werden muss: Die Karte trägt damit den zeitlichen Index eines mobilen Ziels. Mobile Ziele erfordern es entsprechend, die eigene Verortung in einen direkteren und abhängigeren Bezug zum Ziel zu setzen. In diesem Sinne wird das routing vom Ziel ausgehend zur eigenen Position sinnfällig, da sich bspw. auch ohne die eigene Ortsveränderung die Distanz zum Ziel verän- dern kann. Man kann dies durch die Verschiebung der routing-Komponente bezüg- lich der beiden Grundfragen der Navigation deutlich machen. Es hieße jetzt zuerst: Wo ist das Ziel gerade? Und erst darauffolgend: Wie erreiche ich es, eingedenk meiner eigenen Position? Der Exzess der Zieldimension im atlantischen U-Bootkrieg lässt sich zum an- deren an der Einführung von Noise festmachen. Unter Noise soll jede Form der Undifferenzierbarkeit und des daraus folgendes Nicht-Wissens bzw. Nicht-Bestim- men-Könnens verstanden werden.16 Am Anfang einer jeden Navigation steht eine konstitutive Unsicherheit über den räumlichen Bezug aller Beteiligten, der in navi- gatorische Basisarbeit überführt wird, sei es die eigene Verortung oder die Zielver- ortung, die als Ausgangssituation für das folgende routing dient. Die in diesem Schritt hinzukommenden Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Bezugssystems – wie bspw. die Wandelbarkeit des Terrains, die Abhängigkeit vom Wetter oder der Detailgrad von Karten – führen zu verschiedenen Umweltbeobachtungen und 16 Für eine eingehendere Auseinandersetzung des Verhältnisses von Noise und Navigation siehe den vom Autor mitherausgegebenen Band van Dijk u.a.: Navigating Noise. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 185 SEBASTIAN SCHWESINGER letztlich in Kombination mit der Eigen- und Zielmobilität zu einer Iteration des ge- samten Navigationsprozesses. In Form des Hide & Seek werden an eben jener Stelle der Zielfindung, die die Navigation nicht nur in Gang setzt, sondern die Ite- ration aufrechterhält, und dementsprechend Teil der navigationellen Praxis ist, Strategien eingesetzt, um den Prozess zu stören bzw. gänzlich zu verhindern. Diese sollen die Territorialisierung maritimer Räume konterkarieren. Anhand der Ver- knüpfung von Akustik und Zielfindung lässt sich zeigen, wie die Transformation von Zeit- in Raumgrößen der Hoffnung einer terrestrisch konzeptualisierten Raumbe- herrschung zugrundeliegt, in deren medial-epistemischer Bedingtheit allerdings die Gegenstrategien angelegt sind. In diesem Sinne arbeitet sich das technologische Wettrüsten der atlantischen Kriegführung an den Grundlagen der Navigation als gleichzeitig raumerzeugender wie raumvermittelnder Praxis ab. Jede Navigation vermittelt nicht nur einen vorhandenen Raum über die Synchronisation mit einem Bezugssystem, sondern die eingesetzten Techniken und medialen Praktiken der Navigation erzeugen stetig ihren eigenen Operationsraum. Die navigationellen Me- dien bieten dabei ex negativo ebenso die Techniken zur Verhinderung der Naviga- tion. Die durch sie erzeugten Sichtbarkeiten erschaffen gleichzeitig die Möglichkeit der Unsichtbarkeit. Diese Techniken schaffen keine auditive oder visuelle Reprä- sentation eines Territoriums, sie projizieren eine territoriale Ordnungsvorstellung und ein damit verbundenes Beherrschungsphantasma auf maritime Gefilde.17 Die medialen Grundlagen dieser Projektion offenbaren sich als Sollbruchstellen im wechselseitigen Ringen um Ortung und Tarnung. Im navigationellen Sinne lässt sich die militärische Ortung von feindlichen Ob- jekten als ein Versuch verstehen, diese Objekte aus ihrer umweltlichen Eingebun- denheit herauszuheben bzw. herauszufiltern, sie als Ziele zu isolieren und ansteu- erbar zu machen bzw. stetig verfolgbar zu halten. Zwei akustische Verfahren sind hierfür geschichtlich in der U-Boot-Kriegführung relevant geworden. Das Pas- sivsonar folgt der Logik der Substitution der Sinne. Analog zu den Horchposten an Land wird über die Ausstattung von Schiffen und U-Booten mit Unterwassermik- rophonen, sog. Hydrophonen, eine auditive Überwachung des umgebenden un- durchsichtigen Unterwasserraums ermöglicht. Durch die im Vergleich zur Luft er- höhte Schallleitfähigkeit von Wasser sind Motorengeräusche über größere Entfernungen zu hören. Schulungsdokumente belegen allerdings den immensen Hörbildungsaufwand, der zur Orientierung und Zielfindung in einer vieltönigen Umgebung nötig war.18 Auch für die U-Bootbewaffnung wurden akustische De- tektionsmöglichkeiten ausgenutzt. Sogenannte akustische Torpedos waren ge- räuschgesteuerte Waffensysteme, die ihre Ziele nach deren frequenzabhängiger Lautstärke detektieren und ihre Navigation entsprechend ausrichten konnten.19 17 Vgl. Siegert: »The Map Is the Territory«. 18 Vgl. San Francisco Maritime National Park Association: »Historic Naval Sound and Video«. Hier finden sich Digitalisate diverser historischer Hörschulungs-Schallplatten für den mili- tärischen Passivsonarbetrieb. 19 Vgl. Gebauer/Krenz: Marine-Enzyklopädie, S. 448. NAVIGATIONEN 186 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Beim Aktivsonar hingegen werden akustische Impulse in die Umgebung aus- gesendet und deren reflektierter Rückwurf für die Ortung von feindlichen Objek- ten benutzt. Das von den Briten entwickelte ASDIC-System verwendete zur Ziel- findung dieses Verfahren (vgl. Abb. 2). Abb. 2: ASDIC-Anzeigeeinheit um 1944 im Deutschen Technikmuseum Berlin.20 Dabei wird der Effekt ausgenutzt, dass U-Boote – ob im Wasser schwebend oder am Meeresboden liegend – akustische Signale (anders) reflektieren (als ihre Umge- bung). Über die Laufzeit, die ein ausgesendetes und reflektiertes Signal bis zu seiner Rückkehr benötigte, ließ sich – wie bei einer Echolotung – aufgrund der angenom- menen Schallausbreitungskonstante in Wasser überdies die Entfernung abschätzen. Die richtbaren Hydrophone erlaubten darüber hinaus auch eine fortführend ge- nauer werdende Ortsbestimmung. Um auf der anderen Seite diesen akustischen Zielfindungsverfahren zu entge- hen, waren hauptsächlich zwei Möglichkeiten gegeben. Im navigationellen Sinne las- sen sich beide als Maskierung verstehen, die im ersten Fall durch eine Multiplizie- rung potentieller Ziele und im zweiten Fall durch eine Verschmelzung mit der Umgebung, d. h. eine akustische Camouflage, erzeugt wird. Bei beiden Varianten wird die Raumerzeugung der Zielsuchenden manipuliert, um den Navigationspro- zess zu stören bzw. zu unterbinden. Das Nachrichtenmittel-Versuchskommando der deutschen Marine entwickelte zur Täuschung von Verfolgern Schwebekörper, 20 ÄDA - DÄP: »ASDIC display in Berlin Museum of Technology«, Copyright: CC BY-SA 3.0. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 187 SEBASTIAN SCHWESINGER die aus den U-Booten ausgestoßen werden konnten. Unter der Bezeichnung Sieg- linde firmierte bspw. ein Täuschkörper, der ein mit »etwa 4-6kn fahrendes U-Boot älterer Bauart vortäuschen sollte und ca. 2 km weit zu hören war«21. Während derartige Geräte eine Horchpeilung mittels passivem Sonar fehlleiten sollten, wur- den unter dem Decknamen Nebelbold bzw. Bold auch Täuschkörper gegen eine aktive Sonarortung entwickelt. Grundlage hierfür war die experimentelle Erkennt- nis, dass Gasblasenwolken im Wasser ein ähnliches Reflexionsverhalten für Schall- wellen einer bestimmten Frequenzbreite aufweisen wie feste Schwimmkörper. Die entwickelten Schwebekörper enthielten Kalziumhydrit, das den ausgestoßenen Kä- fig in Wasser für bis zu 45 min lang eine Wolke aus Wasserstoffbläschen produzie- ren lassen konnte. »Bereits 3 bis 5 derartige Käfige ergaben in ca. 20 m Wassertiefe über mehr als eine halbe Stunde ein besseres Echo als ein U-Boot in Bug- oder Hecklage zum ortenden Schiff.«22 4. ORTE OHNE ZEIT Vor allem in der aktiven Sonarpeilung und deren Abwehr wird die raumzeitliche Dimension des Akustischen als navigationelle Grundlage deutlich. So banal sie klin- gen mag, ist die Feststellung entscheidend, dass die Verfahren der Kartierung wie der Ortung zu dieser Zeit vornehmlich akustische sind. Sie basieren darauf, der zeitbasierten Ausbreitung von Schall Rauminformationen abzugewinnen. Die Transformation von Zeit in Raum ist das Fundament für die territorial verstandene Aneignung des Maritimen, d.h. der Transformation einer terra incognita in ein ope- rating environment.23 Die erfolgreiche Entwicklung der dafür notwendigen Tech- niken überkreuzte sich im kriegerischen Wettrüsten zur See mit einem bedeuten- den Strang der raumakustischen Forschung, der unter den Auspizien einer objektiven experimentellen Wissenschaft vom Gegenteil getrieben war, nämlich zur Vermessung von akustischen Raumeffekten den Raum zunächst zum Ver- schwinden zu bringen. An diesem Berührungspunkt beider Forschungsstränge las- sen sich die akustischen Forschungsgeschichten von Land und Meer zur Nutzung für navigationelle Praktiken verzahnen. Mit Kriegsbeginn 1939 wurde das Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsfor- schung (HHI) in Berlin für kriegsrelevante Forschungen eingespannt. Seit dessen Gründung 1929 leitete Erwin Meyer, der gleichzeitig Professor an der TH Berlin- 21 Rössler: Die Sonaranlagen der deutschen Unterseeboote, S. 143. 22 Ebd. 23 Vgl. »A Symposium: The Ocean as the Operating Environment of the Navy (Office of Naval Research), June 1958«, File 2800472/2800473. Diese Gegenüberstellung soll unter- streichen, dass das Meer erst als territorialisierbar, sozusagen in seiner terrestrischen Po- tenz verstanden und diesem Raumparadigma unterworfen werden musste, um es als Operationsraum zu erschließen. Diese ideengeschichtliche Aneignung lässt sich nicht von der Geschichte der Medien und Techniken dieses Beherrschbarmachungsphantasmas lö- sen. NAVIGATIONEN 188 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Charlottenburg war, dort die Abteilung für Akustik. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre entstanden weltweit reflexionsarme Räume zur Schaffung von Freifeldbedin- gungen für die akustische Ausmessung von Materialien und Objekten unter Labor- bedingungen.24 Die dabei noch heute gebräuchliche Verwendung und Anordnung von stoffüberzogenen Schluckstoffkeilen aus porösem Material geht auf die For- schungen einer Gruppe um Erwin Meyer zurück, die zur Einrichtung eines solchen Raumes am HHI bis 1939 erfolgten (vgl. Abb. 3).25 Abb. 3: Photo eines nachhallfreien Raums mit Schluckstoffkeilen am HHI 1939.26 Die internationale Bekanntheit von Meyer auf dem Gebiet der Luftschallabsorption führte mit Eintritt des Krieges zur Forschung an der Abwehr akustischer Unter- wasserschallortung am HHI im Auftrag des Oberkommandos der Kriegsmarine. Das HHI erforschte bereits disziplinübergreifend elektrische, elektromagnetische sowie akustische Schwingungsphänomene in den vier Bereichen Hochfrequenz- technik, Fernsprech- und Telegraphentechnik, Akustik und Mechanik. Meyer galt auch später, während seiner Zeit als Professor und Leiter des Dritten Physikali- schen Instituts in Göttingen nach dem Krieg, als Pionier und Verfechter übergrei- fender Schwingungsforschung. Mithilfe der dort errichteten Versuchsanlagen er- forschte er mit seinem Team Analogien zwischen elektromagnetischen Wellen und 24 Vgl. von Fischer: Das akustische Argument, S. 74ff. 25 Vgl. Meyer u.a.: »Eine neue Schallschluckanordnung hoher Wirksamkeit und der Bau eines schallgedämpften Raumes«. 26 Meyer u.a.: »Eine neue Schallschluckanordnung hoher Wirksamkeit und der Bau eines schallgedämpften Raumes«, S. 361, Copyright: S. Hirzel Verlag. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 189 SEBASTIAN SCHWESINGER Schallwellen in Luft und Wasser.27 Für die Forschungen zur Abwehr der aktiven Sonarpeilung während des Zweiten Weltkriegs übertrug Meyer seine Erkenntnisse zu Luftschallschluckstoffen auf die Gestaltung und Anordnung von frequenzabhän- gig unterschiedlich großen »dreieckigen Gummiprismen von 1 cm Dicke auf der zu tarnenden Zielfläche, wobei die Spitzen in Richtung der auftreffenden Schallwelle zeigten«28. Am Standort Pelzerhaken des Nachrichtenmittel-Versuchskommandos wurden Unterwasserschall-Versuchsbecken errichtet und mit den unter dem Decknamen Fafnir geführten »Drachenzähnen« aus Gummi ausgekleidet.29 Die akustischen Resultate waren äußerst zufriedenstellend, aber die sehr strömungsan- fällige Anordnung eignete sich analog zur Verwendung für Luftschall am ehesten für die Auskleidung von Messbecken, weniger für die Beklebung von U-Boot-Außen- häuten (vgl. Abb. 4). In der Einleitung zu einem 1952 veröffentlichten Artikel zur Wasser- schallabsorption rekapitulierte Erwin Meyer freimütig die kriegsbedingten Forde- rungen an die Gestaltung von Schallschluckstoffen für U-Boote: Die schiffbaulichen Anforderungen an solche Stoffe sind außeror- dentlich groß, u.a. werden eine geringe Schichtdicke, ein sehr geringes Gewicht, eine möglichst glatte Oberfläche, sowie eine starre, jeden Seegang und jede Fahrtgeschwindigkeit aushaltende Befestigung an der Bordwand verlangt. Der Lösungsweg ist durch diese Forderungen vor- gezeichnet. Wenn überhaupt, kann eine Lösung nur in einem Schall- schlucker gefunden werden, der nach dem Resonanzprinzip arbeitet; denn nur in diesem Falle ist es möglich, mit Schichtdicken auszukom- men, die einen Bruchteil der vorkommenden Wellenlängen betragen und außerdem die anderen schiffbaulichen Bedingungen erfüllen.30 Die bereits weiter oben erwähnte weitläufige Forschung zur akustischen und me- chanischen Wirkung von Gasentwicklungen und -ausbreitungen unter Wasser hatte neben der schallreflektierenden Eigenschaft von größeren Gaswolken ebenso die schallabsorbierende Wirkung von kleinen Gasbläschen aufgrund ihrer Resonanzfä- higkeit bestätigt. In der Folge entwickelte die Arbeitsgruppe von Meyer eine 2 mm dicke gelochte Gummifolie zum Auftrag auf die U-Boot-Außenhaut, die von einer ebenso dicken Deckfolie überzogen wurde und dadurch in sich die Luftbläschen gewissermaßen einschloss, die abgestimmt auf die Frequenzen der ASDIC-Ortung deren Schallenergie absorbieren konnten (vgl. Abb. 5). 27 Vgl. Guicking: Erwin Meyer, S. 20ff. 28 Rössler: Die Sonaranlagen der deutschen Unterseeboote, S. 127. 29 Vgl. Koch: Geschichtliches über Pelzerhaken (2. Teil), S. 147. 30 Meyer/Oberst: »Resonanzabsorber für Wasserschall«, S. 149. NAVIGATIONEN 190 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Abb. 4: Photo eines mit Schluckstoffrippen ausgekleideten Wasserschallmessbeckens.31 Abb. 5: Schematische Abbildung eines Resonanzabsorbers an einer U-Boot-Außenwand.32 31 Kuhl: »Über Messungen in einem schallschluckend ausgekleideten Wasserschall-Messbe- cken«, S. 141, Copyright: S. Hirzel Verlag. 32 Ebd., S. 151, Copyright: S. Hirzel Verlag. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 191 SEBASTIAN SCHWESINGER Für das Verständnis der hier tragenden Analogisierung von Luft- und Wasserschall- phänomenen ist der Begriff der Transduktion bzw. Transduktionskette notwendig, wie ihn unter anderen Stefan Helmreich und Douglas Kahn geprägt sowie Trevor Pinch und Karin Bijsterveld als Leitbegriff für den Science & Technology Studies- Zweig der Sound Studies vorgeschlagen haben.33 Die Schallerzeugung, -ausbreitung und -aufnahme lässt sich hierbei unabhängig vom Ausbreitungsmedium als eine Kette mechanischer Anregungen – akustischer Transduktionen – verstehen. Grundlegend ist hierfür ein diagrammatisches Verständnis von Schall, das in der ge- ometrischen Raumakustik bis heute epistemische Wirkung entfaltet.34 Die Schall- ausbreitung wird darin als ausgreifendes Strahlenbündel konzipiert: Von einer Quelle ausgehend breiten sich einzelne Schallstrahlen aus und werden transfor- miert, während sie ein Medium durchqueren oder sobald sie auf Gegenstände oder ähnliche Hindernisse treffen, bis sie entweder verklingen oder von einem Empfän- ger aufgenommen werden. Für die Raumakustik ist diese Schallkonzeption ebenso elementar wie für die aktive Sonarortung und -abwehr. Zur Zielfindung sendet das Aktivsonar einen gerichteten Schallimpuls aus. Folgt man diesem Impuls entlang seiner Ausbreitungsrichtung an einer Stelle der ersten Wellenfront, ergibt sich ein idealisierter Pfeil, der den Weg des Schallimpulses darstellt. Mittels dieser Konzep- tion des Schallimpulses als Klangstrahl lässt sich die Transformation des Impulses auf seinem Weg als Transduktionskette analysieren und informationell ausbeuten. Dafür werden bestimmte auf die Impulsausbreitung einwirkende Parameter als Fil- tereffekte einer jeden Transduktion bzw. eines bestimmten Transduktionsab- schnittes konzipiert und als konstant angenommen. Das sind bspw. die empirisch gemittelte Abschwächung des Schallimpulses während seiner Fortpflanzung in Meereswasser oder die statistischen Absorptions- und Streuungsgrade, die Schal- limpulse aufweisen, wenn sie auf den Meeresboden treffen. Dadurch lässt sich eine statistische Erwartung formulieren, in welcher Qualität und Intensität aus der Un- terwasserumgebung zurückgeworfene Schallimpulse wieder beim Impulsaussender ankommen sollten, die dort mittels Hydrophonen aufgenommen und vom ASDIC- Operateur interpretiert werden. Bei der Aufnahme eines intensiven Rückwurfs liegt der Rückschluss nahe, dass sich dieser dem Auftreffen auf eine metallische und deshalb stark schallreflektierende Außenhaut eines U-Boots verdankt; aus der Rich- tung und Laufzeit des Schallstrahls lassen sich so Rückschlüsse auf die Position des Bootes ziehen. Umgekehrt versuchen Absorber wie Alberich solche Rückschlüsse durch eine Manipulation an dieser Stelle der Transduktionskette zu unterdrücken. Indem sie eine Reflexion des Schallstrahls dadurch abschwächen, dass sie ausrei- chend Schallenergie binden, wird der Rückwurf entweder gänzlich unterdrückt o- der derart gefiltert, dass er dieselbe Beschaffenheit wie ein Rückwurf der natürli- chen Umgebung aufweist. Die erfolgreiche technische Umsetzung bzw. 33 Vgl. Helmreich: »An Anthropologist Underwater«; Kahn: Earth Sound Earth Signal; Pinch/Bijsterveld: »New Keys to the World of Sound«. 34 Vgl. Kuttruff: Room Acoustics, S. 101ff; zur epistemischen Dimension des Diagrammati- schen vgl. Krämer: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. NAVIGATIONEN 192 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Anwendung dieses Denkens in Transduktionsketten zum sounding out maritimer Umgebungen führt, wie bereits angedeutet, zur raumerzeugenden Aneignung ei- nerseits, bietet aber auch die Blaupause zur manipulativen Arbeit an diesen Trans- duktionsbedingungen des Ausleuchtens oder Aushorchens. Dieser transduktiven Manipulation durch den Resonanzabsorber unter dem Decknamen Alberich waren für einen raschen Erfolg allerdings äußerliche Hürden auferlegt. Bereits im Juni 1941 wurde mit U 67 das erste U-Boot mit der neuen Gummibeschichtung versehen. In der Versuchsanstalt Pelzerhaken und in Erpro- bungsfahrten wurde die Haltbarkeit der Klebstoffe und Folien erprobt.35 Die akus- tische Wirkung der Gummibeschichtung war überzeugend, die Wirkung des Kleb- stoffs indes nicht. Die Entwicklung eines geeigneten Klebers und Auftrage- verfahrens nahm derart viel Zeit in Anspruch, dass trotz ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit bis zum Ende des Krieges gerade einmal eine Handvoll U-Boote mit einer Alberich-Haut beklebt worden waren.36 Nach dem Kriegsende wurde die Forschung sofort von den Alliierten aufgegriffen. In einem abenteuerlichen road trip fuhr ein alliierter Transporter mit Erwin Meyer auf der Ladefläche von Berlin bis nach Thüringen, um die heimlich angefertigten Abschriften zum Alberich-Projekt aus dem Versteck auf dem Dachboden des schwiegerelterlichen Hauses zu holen und der alliierten Kriegsmarine zur Verfügung zu stellen.37 Die mittlerweile freige- gebenen Akten der British Navy zeugen bis in die 1970er Jahre hinein von der Wei- terentwicklung reflexionsfreier U-Boot-Beschichtungen auf Grundlage der deut- schen Kriegsforschung.38 Auch wenn gegenwärtig andere – smarte – Materialien konzipiert und erforscht werden, ist diese Anwendungshoffnung nicht weniger prä- sent. So prangt über dem Text eines Online-Artikels vom März 2020, in dem die University of Southern California ihre neuesten Forschungsergebnisse zu smarten akustischen Materialien vorstellt, ein computergeneriertes Bild eines futuristischen Stealth-U-Boots, das sinnbildlich für die Anwendungsmöglichkeiten sogenannter »acoustic metamaterials« steht.39 Auch im Forschungsartikel selbst wird nicht ge- geizt mit derartigen Andeutungen: »[T]he present paradigm may find broad engi- neering applications, ranging from noise control and audio modulation to sonic ca- mouflage.«40 35 Vgl. Koch: Geschichtliches über Pelzerhaken (2. Teil), S. 147. 36 Vgl. Rössler: Die Sonaranlagen der deutschen Unterseeboote, S. 139. 37 Berichtet von Dieter Guicking, dem Schwiegersohn Erwin Meyers, in einer Unterhaltung mit dem Autor im Jahr 2019; geschildert nach Meyers persönlicher Erzählung. 38 Vgl. z.B. TNA ADM 341/17 »Materials Department Papers presented at the IEP B-62 Workshop on Acoustic Coatings (29 – 31 January 1979)«. 39 University of Southern California: »Future Sound ›Computer‹ Using New Acoustic Smart Material Inspired by Shark Skin«. 40 Lee u.a.: Sharkskin-Inspired Magnetoactive Reconfigurable Acoustic Metamaterials, S. 1. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 193 SEBASTIAN SCHWESINGER 5. ABSORPTION UND NAVIGATION Die herausgestellte wissenschaftshistorische Verknüpfung der transduktiven Mani- pulation im Rahmen der Alberich-ASDIC-Abwehr und der Forschungsgeschichte nachhallfreier Laborräume macht die navigationshemmende Strategie ersterer als eine Unterbindung der Transformation von Zeit- in Rauminformationen deutlich. Schalltote Räume, die keine akustische Information über die Laufzeit und Intensität von Reflexionen vermitteln, zeitigen keine Raumwirkung. Sie erzeugen das akusti- sche Paradox raumloser Räume. Das Ideal eines solchen akustischen Labors ist das sogenannte Freifeld, eine in alle Richtungen unbegrenzte offene Umgebung.41 Die Simulation der Grenzenlosigkeit wird über die nahezu vollständige Absorption an den Wänden angestrebt. Dem Paradigma eines raumlosen Raums analog versuchte die Forschung zur Alberich-Haut, aus dem U-Boot ein ortloses Objekt zu machen. Die Arbeit an der zugrundeliegenden Transduktionskette der Zielfindung zielte da- rauf ab, das Objekt dadurch zum Verschwinden zu bringen, indem es dem naviga- tionellen Verfahren der Raumerzeugung entzogen, d.h. enträumlicht wurde. Im Rahmen einer jeden Navigation gibt es keine Objekte, die keinen Ort haben bzw. umgekehrt, gibt es Objekte nur, weil sie einen Ort haben. In diesem Sinne wird die Absorption als akustische Figur zur Gegenspielerin einer jeden Navigation, weil sie keine Antwort mehr auf die vor jedem routing zu klärenden Fragen zulässt: Wo bin ich bzw. wo ist mein Ziel? Wo akustische Medien benötigt werden, um navigieren zu können, braucht es Rückwürfe oder Emissio- nen, um den navigationellen Operationsraum zu erzeugen. Reflektierende oder selbstschwingende Grenzflächen erzeugen die notwendige Differenz, die Meeres- böden, Felsen, Seetiere und -pflanzen oder Boote, kurz: Grenzen, Hindernisse und Ziele erscheinen lassen. Diese Territorialisierung des Meeres, die Vergegenständli- chung seiner Grenzen und Ränder, bringt das Meer selbst zum Verschwinden, in- dem es ex negativo als operables navigationelles Terrain freilegt wird. Die Absorp- tion bildet die epistemische Kehrseite dieses transduktiven Paradigmas. In einem Freifeld ließe sich dergestalt schlicht nicht navigieren. LITERATURVERZEICHNIS »A Symposium: The Ocean as the Operating Environment of the Navy (Office of Naval Research), June 1958«; File 2800472/2800473; Records Relating to Elec- tronic Equipment Design, Modification, and Installation, 1942-1966; Records of the Bureau of Ships, 1940-1966, National Archives at College Park, College Park, MD. ÄDA - DAP: »ASDIC display in Berlin Museum of Technology«, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29087111, 02.12.2021. 41 Vgl. von Fischer: Das akustische Argument, S. 73f. NAVIGATIONEN 194 NA VIG IEREN RAUMLOSE RÄUME UND ORTLOSE OBJEKTE Das unsichtbare Netz. Guglielmo Marconi – Pionier der drahtlosen Kommunikation (Deutschland 2011, Regie: Axel Engstfeld). Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. Gebauer, Jürgen/Krenz, Egon (Hrsg.): Marine-Enzyklopädie, Berlin 1998. Gillis, John R.: »Taking History Offshore. 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Kraus, Alexander/Winkler, Martina: »Weltmeere. Für eine Pluralisierung der kultu- rellen Meeresforschung«, in: dies. (Hrsg.): Weltmeere. Wissen und Wahrneh- mung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 9-24. Kuhl, Walter: »Über Messungen in einem schallschluckend ausgekleideten Wasser- schall-Messbecken«, in: Acustica, Jg. 2, Akustische Beihefte 3, 1952, S. 140- 144. Kuttruff, Heinrich: Room Acoustics, Abingdon/New York 2009. Lee, Kyung Hon u.a.: »Sharkskin-Inspired Magnetoactive Reconfigurable Acoustic Metamaterials«, in: Research, 2020, 1-13. Meyer, Erwin u.a.: »Eine neue Schallschluckanordnung hoher Wirksamkeit und der Bau eines schallgedämpften Raumes«, in: Akustische Zeitschrift, Jg. 5, Nr. 6, 1940, S. 352–364. Meyer, Erwin/Oberst, Hermann: »Resonanzabsorber für Wasserschall«, in: A- custica, Jg. 2, Akustische Beihefte 3, 1952, S. 149-170. Pinch, Trevor/Bijsterveld, Karin: »New Keys to the World of Sound«, in: dies. 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Entwicklung, Erprobung, Einsatz und Wirkung akustischer Ortungs- und Täuschungseinrich- tungen der deutschen Unterseeboote, Bonn 2006. San Francisco Maritime National Park Association: »Historic Naval Sound and Video«, https://maritime.org/sound/, 02.12.2021. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 2011. Siegert, Bernhard: »The Map Is the Territory«, in: Radical Philosophy, Jg. 169, 2011, S. 13-16. Stealth Sub (UK 2008, Deutsche Version 2009, Regie: Crispin Sadler). TNA [The National Archives] ADM 341/17 »Materials Department Papers pre- sented at the IEP B-62 Workshop on Acoustic Coatings (29 – 31 January 1979)«. »›U 135‹ Interrogation of Survivors, November 1943« in: TNA HS 8/767 »Anti- Submarine Campaign. Interrogation of U-Boat Survivors«. 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Die Implementierung von Sensoren in nahezu allen Lebensbereichen ist beteiligt an der Errichtung ›unwahr- nehmbarer‹ und zugleich permanent prozessierender Infrastrukturen der Ver/Or- tung und Bewegung – mithin von Navigation. Sensoren erzeugen Relationen und (re)konfigurieren Zeit- und Raumverhältnisse ebenso wie Selbst- und Umweltver- hältnisse. Sie sind daran beteiligt, ›more-than-human‹ Infrastrukturen entstehen zu lassen, deren onto-epistemologische Relevanz kaum zu überschätzen ist. Der Bei- trag stellt (vorläufige) Überlegungen zu einer ›medialen Onto-Epistemologie des Sensors‹ zur Diskussion und situiert Sensor-Medien-Milieus als Teil eines umfassen- den Übergangs: als sukzessives ›Medien-Werden‹ von Umwelten bei gleichzeitigem ›Umweltlich-Werden‹ von Medien. Zum Verständnis von technoökologischen Sen- sormedien-Milieus bedarf es – so die These – zunächst einer Beschreibung als Me- dien, um in der Folge deren konstitutive Funktion für die Entstehung und Ausbrei- tung gegenwärtiger ›more-than-human‹ Infrastrukturen zu begreifen. Die medientheoretische und technoökologische Konzeptionalisierung von Sensing- Operationen erlaubt es, mit und in derartigen ›medianaturecultural‹ Mileus zu na- vigieren. KEYWORDS: Sensormedien, Technoökologie, Navigation, Infrastruktur, ›mediana- turecultural‹ Milieus NAVIGATIONEN NA VIG IEREN SEBASTIAN SCHOLZ 1. INTENSIVE UND EXTENSIVE SENSORMILIEUS Das ist das Merkmal unserer Zeit: Dass der Zugriff auf die Dinge zunehmend schwerer wird. Dass die Benenn- barkeit schwerer wird. Dass die Rekonstruktion angesichts ständiger Überschreibung geradezu ein Ding der Unmöglichkeit wird. (Max Dax1) Sensoren sind überall. Sie operieren weitgehend unbemerkt im Hintergrund, ent- weder lokal oder weiträumig vernetzt, meistens aber – nicht zuletzt dies stellt ihre epistemologische Besonderheit im Zusammenhang mit Medientechnologien und Kulturtechniken der Navigation dar – beides zugleich: Sensoren dringen in persön- lichste Lebensumstände und intimste Selbstverhältnisse ebenso ein wie sie zugleich in informationelle Austauschprozesse im planetarischen Maßstab eingebunden sind. Stärker noch: Sensortechnologien machen derlei Prozesse nicht selten allererst möglich. Unabdingbar ›glokal‹, also lokal am Ort der Messung situiert, dabei selbst jedoch (häufig) mobil und global vernetzt, sind Sensoren in einem fundamentalen Sinne Medien der Subjektivierung sowie der Selbst- und Fremdverortung in einem Georaum, welchen sie gleichzeitig auf je spezifische Weise mithervorbringen und über Verfahren der Navigation beherrschbar werden lassen. Anhand von Sensor- medien tritt besonders deutlich jener Umstand einer gleichzeitigen Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raums hervor, der charakteristisch für ein zeitge- nössisches Verständnis onto-epistemologischer Zusammenhänge ist. Mit ihren je- weiligen Umwelten und miteinander vernetzte Sensoren bilden die technische Grundlage und Voraussetzung navigationeller Praktiken – sei es im Falle individuel- ler Orientierung oder Routenplanung mithilfe des Smartphones oder im globalen Zusammenhang der Planung und Aufrechterhaltung von Lieferketten ›just-in-time‹: Zeit- und Raumaspekte werden über Techniken der ›Sensornavigation‹ ausgehan- delt bzw, durch ebendiese überhaupt erst spezifisch adressier- und damit aushan- delbar gemacht.2 Die Implementierung von Sensoren als Querschnittstechnologie vollzieht sich bekanntlich in nahezu allen nur denkbaren Lebensbereichen – von satellitengesteu- erten Überwachungstechnologien, militärischer Navigation, industriellen und logis- tischen Kommunikations- und Produktionszusammenhängen, agrikulturellen Pro- duktionsprozessen, urbanen Infrastrukturen und Verkehrsströmen, kollektiver und individueller Mobilität bis zu vermeintlich privaten, personalisierten ›Smart Devices‹ 1 Dax: Dissonanz, S. 17 [Eintrag Samstag, 27. Juni 2009]. 2 Dabei ist jedoch längst nicht immer ausgemacht, welcher Anteil dem menschlichen Sub- jekt als Verhandlungspartner zukommt bzw. ob dieser, um im Bild zu bleiben, überhaupt dauerhaft mit am Verhandlungstisch Platz nimmt. Das Delegieren von Navigationen an autonom operierende Instanzen wird am Beispiel ›selbstfahrender Autos‹ sinnfällig, be- schränkt sich jedoch keineswegs auf diese. Vgl. hierzu die Beiträge in Sprenger 2021. NAVIGATIONEN 200 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG der Selbstüberwachung, Selbstorganisation, Selbstoptimierung, der Selbstorientie- rung und -verortung – um nur einige der zentralen Anwendungsbereiche zu nen- nen. Das private Smartphone, die stets und eng am Körper getragene Smartwatch oder das Fitnessarmband, selbst subkutan zu tragende Sensoren zur Messung der Glukosekonzentration bei Diabetes, das vernetzte Auto oder das ›smarte‹ Zuhause ohnehin: Derlei Medienprozesse der Subjektivierung, Selbstverortung und konti- nuierlichen Arbeit am Selbst sind ebenso abhängig von Logiken der permanenten, iterativen Zustandsmessung durch Sensoren wie das reibungslose Funktionieren ei- ner globalisierten Wirtschaft oder Maßnahmen der Krisenbekämpfung, sei es die pandemische Gesundheitskrise oder die in ihrem Maßstab weitaus unüberschau- bare Klimakrise.3 Sensormedien sind beteiligt an der Errichtung und Instandhaltung kaum wahr- nehmbarer und zugleich unverzichtbarer materieller Infrastrukturen. Bei letzteren handelt es sich keineswegs um ›passiv‹ oder ›neutral‹ Daten prozessierende Kom- munikationskanäle, vielmehr verflechten sich in derlei Infrastrukturen materielle, soziale, politische, ästhetische und epistemologische Problemstellungen, über die nicht weniger als Fragen nach Teilhabe und Agency, epistemische Ordnungen, Handlungsprogramme und Projektionen spekulativer (nachhaltiger) Zukünfte ver- handelt werden. Innerhalb dieser hochdynamischen Infrastrukturen werden über- dies Bereiche des Organischen und des Technischen, des Humanen und des Nicht- humanen sowie des (vermeintlich) Natürlichen und des Kulturellen auf eine Weise aneinander gekoppelt beziehungsweise miteinander vermischt, dass dabei biopoli- tisch relevante technoökologische ›Milieus‹ entstehen.4 Solche Milieus haben nicht zuletzt – wie etwa Michel Foucault, der den Begriff aus den Zusammenhängen der Biologie5 herauslöst und auf andere Bereiche er- weitert, für die moderne Stadt im 18. Jahrhundert beschrieben hat6 –, die Aufgabe, »die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren«7. Es geht also darum, »ein Milieu im Zusammenhang mit Ereignissen oder Serien von Ereignissen 3 So argumentiert etwa auch Benjamin Bratton unlängst in seinem Plädoyer für eine ›posi- tive biogovernmentality‹ in post-pandemischen Zeiten: Anstelle einer reflexhaften Ab- wehr übermäßiger Surveillance durch Sensing-Technologien sei es notwendig, auf ein Recht »to be tested, measured, modeled« (S. 45) zu pochen. Post-pandemische Politik könne für die Ebene des Sensing Lehren aus den Erfahrungen der Pandemie ziehen, sofern – in einem fundamental navigationellen Sinne – eingesehen werde, dass »what the sensing layer is sensing is not just the presence of a virus but movement across the uneven surfaces of global society« (ebd,); vgl. Bratton: The Revenge of the Real. 4 Zur Genealogie des Milieubegriffs und dessen Verhältnis zum Konzept des Environments vgl. die umfassende Studie von Florian Sprenger: Epistemologien des Umgebens. 5 Vgl. Canguilhem: Die Erkenntnis des Lebens. 6 Zur Relevanz des Milieubegriffs Foucaults für heutige Zusammenhänge posthumanisti- scher Biopolitik vgl. Lemke: The Government of Things. 7 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, S. 37. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 201 SEBASTIAN SCHOLZ oder möglichen Elementen zu gestalten, Serien, die in einem multivalenten und transformierbaren Rahmen reguliert werden müssen«8. Die Verknüpfung eines Raums (im Falle Foucaults des »Sicherheitsraums« im 18. Jahrhundert) mit einer »Serie möglicher Ereignisse«, mithin der Verweis des Räumlichen »auf das Zeitliche und das Aleatorische«, bringt ein spezifisches Milieu hervor, das »der Träger und das Zirkulationselement einer Wirkung« ist: »Das Milieu wird folglich das sein, wo- rin die Zirkulation zustande kommt.«9 Es ist demnach definiert durch Wirkungen, »die auf all jene gerichtet sind, die darin ansässig sind«10. Schon im auf den städtischen Raum beschränkten Beispiel Foucaults setzt sich das Milieu heterogen aus einem Ensemble von »natürlichen Gegebenheiten« und »künstlichen Gegebenheiten« zusammen.11 Gegenwärtige Konstellationen medien- basierter und sensortechnisch in-formierter Infrastrukturen intensivieren das Milieu einerseits über die Einbeziehung weitaus zahlreicherer (potentiell ›aller‹12), immer granularer bestimmter Elemente natürlicher und künstlicher Ensembles; gleichzei- tig extensiveren sie das Milieu mittels Konnektivität und Skalierbarkeit ebendieser Milieuelemente bis auf planetares Niveau. Die Navigation zwischen intensiven und extensiven technoökologischen Milieus betrifft, so soll im Folgenden dargestellt werden, die Frage nach Sensormedien-Umwelten ganz unmittelbar. Für deren Be- schreibung bedarf es zunächst einer Konzeption von Sensoren als Medien, um als- dann deren konstitutive Funktion für ein Navigieren in und mit den erwähnten Mi- lieus und ›more-than-human‹ Infrastrukturen zu beschreiben sowie abschließend die Bedeutung von ›sensing cultures‹ im Hinblick auf eine umfassende (Techno)Ökolo- gisierung des Denkens zumindest anzudeuten. 8 Ebd., S. 40. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 41. 11 Ebd., S. 41f. 12 Zum Aspekt des Strebens nach ›Restlosigkeit‹ in zahlreichen und sehr unterschiedlichen Projekten ›um 1900‹ vgl. Markus Krajewski: Restlosigkeit. Schon in den dort besproche- nen Planungen allumfassender oder weltumspannender Operationen geht es um Strate- gien der Krisenbewältigung, in denen zeitgenössische Grenzen der Erkenntnis sondiert, sichtbar und operabel gemacht werden. Zur Problematisierung der Grenzen der Erkennt- nis nicht im Weltmaßstab, sondern im Kleinsten ›um 1900‹ vgl. Scholz: Epistemische Bil- der. NAVIGATIONEN 202 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG 2. SENSORMEDIEN UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHNRNEHMUNG Die wahre Ordnung der Natur ist die Ordnung, die wir technisch in die Natur hineinlegen. (Gaston Bachelard13) Hochadaptiv in ihrer Funktionalität, multifunktional hinsichtlich ihrer Gebrauchspo- tentiale, divers bezüglich ihrer technischen und materiellen Verfasstheit, haben Sen- sormedien demgemäß Einfluss auf politische wie ethische, ökonomische wie öko- logische, soziale wie kulturelle Sachverhalte und Entscheidungsprozesse. Assemblierte Sensormedien-Umwelten, so soll vor diesem Hintergrund deutlich gemacht werden, verbinden nicht allein Menschen und Dinge in neuartiger Weise. Sie verflechten überdies Raum und Zeit mit humanen wie nicht-humanen Agenten und Materialitäten in einem Ausmaß und einer Intensität ineinander, die ein neuer- liches Nachdenken über Mensch-Maschinen-Verhältnisse, die Automatisierung von Perzeption, die Herausbildung von spezifischen Wahrnehmungs- und Affektökolo- gien14, sowie neue Verbindungen von ›NatureCultures‹ und ›MediaNatures‹ not- wendig macht, wenn jene relationalen und affektiven Kartographien angefertigt werden sollen, deren neuartige Machtverhältnisse, Rosi Braidotti zufolge, aus einer gegenwärtigen geopolitischen, postanthropozentrischen und »medianaturecultu- ral« Weltordnung hervorgehen.15 Der Blick auf die vernetzten Technoökologien der Sinne und des ›Sensing‹ hilft nicht allein, überkommene Auffassungen von ›Natur‹ und ›Kultur‹ in Frage zu stel- len, sondern ebenso binäre Unterscheidungen von ›physischem‹ und ›virtuellem‹ Raum. Ihre Virulenz für die in jüngster Zeit vielfach ins Feld geführten relationalen Ontologien wie für ein Verständnis zeitgenössischer Navigationen in hybriden Öko- logien16 und in ›more-than-human‹ (an)aisthetischen Milieus soll mit dem vorlie- genden Beitrag heraus- und zur Diskussion gestellt werden. Als eher programma- tisches Plädoyer denn analytische Fallstudie verstanden, soll am Beispiel von ›Sensormedien-Milieus‹ vor Augen geführt werden, inwiefern derart technisch zu- gerichtete, responsive Medienumwelten Navigationen in und durch sensorisch un- zugängliche Raum-Zeit-Verhältnisse ermöglichen und damit nicht zuletzt Selbstver- hältnisse und grundsätzliche Orientierungen in lokalen und globalen Raum-Zeit- Konfigurationen prekär werden lassen. 13 Bachelard: Der Neue Wissenschaftliche Geist, S. 108. 14 Vgl. hierzu den instruktiven Essay von Marie-Luise Angerer: Affektökologie. Angerer iden- tifiziert zahlreiche noch eingehender »zu befragende Umschlag-Momente« (S. 48f.), von denen ausgehend der Versuch zu unternehmen sei, »einer voranschreitenden medien- technischen Infra(re)strukturierung gerecht zu werden, die zu einem immer dichteren Relationsgefüge von Umwelt, Technologien, Sozialem und Psychischem führt« (S. 47f.). 15 Vgl. Braidotti: »The Critical Posthumanities«. 16 Vgl. hierzu die Beiträge in Witzgall u.a.: Hybride Ökologien. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 203 SEBASTIAN SCHOLZ Sensoren bestimmen also ganz buchstäblich unsere ›Lage‹, so könnte man – in Abwandlung des bekannten medientheoretischen Diktums Friedrich Kittlers17 – für zeitgenössische Sensormedien-Umwelten konstatieren, denn Sensoren umgeben ›uns‹, wie wir uns gleichermaßen mit diesen umgeben und uns damit gleichzeitig mit kaum überschaubaren »planetarischen« Infrastrukturen vernetzen.18 Ohne Sensoren ›läuft‹ in sensormediensaturierten Realitätszusammenhängen buchstäb- lich ›nichts‹ (und niemand) mehr. Gerichtete Bewegung und Orientierung im (post- digitalen) Raum – ob gehend, fahrend oder fliegend – kommt unweigerlich zum Stillstand, sobald Sensormedien ihren Dienst versagen und ein schneller Zugriff auf alternative Medien analoger Navigation nicht möglich ist. Datenraum und physika- lischer Raum sind über Medien der Navigation auf eine Weise miteinander verbun- den, die im Falle ihres Versagens zu Stillstand, Unfall oder Orientierungslosigkeit führt: ›Navigare necesse est‹ – das vielzitierte, auf die Schifffahrt als solche bezo- gene antike Diktum, erfährt im Postdigitalen, so hat es den Anschein, ein nicht min- der existenziell anmutendes ›Update‹. Navigation durch intensive und extensive Milieus scheint ohne die Ubiquität von Sensormedien weder machbar noch eigent- lich denkbar. Und doch blieben Sensortechnologien als zentrale zeitgenössische Agenten des Navigationellen, der Wissensproduktion und -zirkulation und der Herausbil- dung menschlicher und nichtmenschlicher Infrastrukturen im planetarischen Maß- stab seitens der Medien- und Kulturwissenschaft lange merkwürdig unbeforscht. Häufig allenfalls am Rande erwähnt als notwendige Komponente von ›Smart Ob- jects‹ und ›Smart Devices‹ im Zuge der Beschäftigung mit dem so genannten ›Inter- net der Dinge‹, bleibt der mediale Status von Sensortechnologien bzw. die Tatsa- che, dass es sich bei Sensoren überhaupt um Medien handelt, weitgehend unterbelichtet – sei es, weil man Sensoren eben nicht für Medien hält oder aber so selbstverständlich als technische Medien begreift, dass dies keiner weiteren Kon- zeptionalisierung wert scheint19. Beiden Varianten entgeht somit notwendiger- 17 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 3: »Medien bestimmen unsere Lage, die (trotzdem oder deshalb) eine Beschreibung verdient.« 18 Zur Denkfigur des ›Planetarischen‹ (nicht zuletzt in Absetzung vom ›Globalen‹) vgl. aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive die Beiträge in Bergermann u.a.: Das Planetarische. Hans-Christian von Herrmann hat herausgearbeitet, mit welcher Vehemenz im 20. Jh. insbesondere Technik in einem planetarischen Maßstab gedacht wird und zur absoluten Metapher im Sinne Blumenbergs wird. So konzipiert verleihe das Planetarische der Tech- nik den Stellenwert eines übergeordneten, letzten Bezugsrahmens, welcher den Orien- tierungswert anderer Maßstäbe in Frage stellt und letztlich nivelliert; vgl. Herrmann: »Der planetarische Maßstab«. 19 Eine wichtige Ausnahme stellt hierbei die »medien- und praxistheoretische Annäherung« dar, die Tristan Thielmann unternimmt (vgl. Thielmann: Sensormedien), wenn er nach- drücklich darauf hinweist, dass Sensormedien gerade deshalb eine der großen Herausfor- derungen der Medienwissenschaft des 21. Jh. seien, weil diese jeweils eindeutige Verwen- dungskontexte unterminierten und sich klassischen Anwendungsdifferenzierungen in klar NAVIGATIONEN 204 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG weise – gewollt oder ungewollt – das Potenzial einer eingehenderen Auseinander- setzung mit Sensormedien als Instanzen, die massiv in Raum- und Zeitverhältnisse, Selbst- und Umweltverhältnisse eingreifen beziehungsweise diese auf je spezifische Weise rekonfigurieren oder überhaupt erst hervorbringen. Noch einmal auf Kittler zurückgreifend ließe sich also, so die These, behaupten, Sensormedien bestimmten unsere Lage, ›die (trotzdem oder deshalb) eine Beschreibung verdient‹. Pervasiv hinsichtlich ihrer Funktionsweisen und zunehmend ubiquitär bezüg- lich möglicher Einsatzfelder und Gebrauchspraktiken, bilden vernetzte Mikrotech- nologien der Detektion jeweils aktualer Zustände, der Datenextraktion so- wie -transmission komplexe mediale Infrastrukturen aus, deren onto- epistemologische Relevanz mit einem lakonischen Verweis auf die Etablierung von ›Smart Devices‹ und die Konnektivität eines ›Internet of Things‹ nur unzureichend beschrieben ist. Dabei ist aufgrund seiner überraschend vielfältigen Verfasstheit und Erscheinungsform der Sensor als materielles Artefakt von Interesse; wichtiger aber im Hinblick auf dessen Wirkmacht erscheint dessen Funktion als Relais in einem raumzeitlich vernetzten Gefüge. Die Relevanz von Sensoren als Medien, die eine Rede von ›Sensormedien‹ allererst rechtfertigt, weist über deren instrumentellen Charakter und die damit verbundenen technischen Affordanzen weit hinaus, wenn man ernst nimmt, in welch elementarer Weise Sensormedien einige zentrale As- pekte der Perzeption jenseits des menschlichen Wahrnehmungsspektrums re-arti- kulieren und problematisieren. Der Umstand, dass Medien, gängigen Auffassungen der Medientheorie zu- folge, auf jeweils spezifische Weise Ereignisse mit-teilen und sich dabei stets jeweils spezifisch selbst als Ereignis mit-kommunizieren, trifft auf Sensormedien jedenfalls in eminenter Weise zu. Auch und insbesondere Sensoren machen in gegenwärtigen medientechnisch durchdrungenen Infrastrukturen – um eine in der Medienwissen- schaft einschlägige und vielzitierte Formulierung dieses Axioms aufzugreifen und anzupassen – »lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden«.20 Auch das Medien- Werden von Sensoren unterwirft die Sinne einer Denaturierung, indem es Wahr- nehmung quasi-experimentell zur Disposition stellt; es erzeugt überdies eine grundlegende Selbstreferenz, wenn Sensoren ihre Umwelt und sich selbst detek- tieren und kommunizieren; es rekonfiguriert nicht zuletzt ein anästhetisches Feld, da die Frage, was – und unter welchen Bedingungen – Sensoren eigentlich wahr- nehmbar machen, die möglicherweise noch drängendere Frage aufwirft, was dem abgetrennten gesellschaftlichen Teilbereichen entzögen: »Durch Sensoren verändern sich vor allem die Gewichtungen in der medialen Erfassung und Wahrnehmung der Umwelt und mithin unser Menschenbild« (S.9). 20 Engell/Vogl: »Vorwort«, S. 10. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 205 SEBASTIAN SCHOLZ Sensor aufgrund seiner Beschaffenheit und Konfiguration eigentlich entgeht, entge- hen soll bzw. zwangsläufig entgehen muss.21 Wenn ›unsere‹ gegenwärtige technologische Bedingung zunehmend von Kul- turtechniken des ›sensing‹, ›detecting‹, ›extracting‹, ›monitoring, ›tracing‹ oder ›tra- cking‹ geprägt ist, so sind Sensormedien entscheidend beteiligt am »neue[n] Dispo- sitiv transformatorischer Technologien«22. Der Übergang von (in der Terminologie Gilbert Simondons23) ›geschlossenen Maschinen‹ zu ›offenen Maschinen‹, also tech- nischen Ensembles und Verbünden und zum Netzwerk, wird ergänzt, erweitert und transformiert durch »die rasch voranschreitende Einbettung in die digitale, in- formations- und rechenintensive Umweltlichkeit neuer Medien und in automati- sche Umgebungstechnologien«24. Technoökologien der Wahrnehmung von und in mediatisierten, responsiven Umwelten errichten und mobilisieren ein umfassendes nicht-anthropozentrisches, ›more-than-human‹ Sensorium, das in anderen Kontex- ten längst aufgeworfene Fragen zu überkommenen Vorstellungen einer ›natürli- chen Welt‹ (als Rohstoff, Ressource oder romantisierend als unberührtes, schüt- zenswertes, ›natürliches‹ Habitat) sowie die Kritik der ontologischen Spaltung in Natur und Kultur, Natur und Technik, Fragen von Handlungs- und Wirkungsmacht nachhaltig verschiebt und damit als Frage nach der Beschreibbarkeit einer ›Con- temporary Condition‹25 umso nachdrücklicher wieder aufwirft. Die gegenwärtige Situation verlangt ohne jeden Zweifel eine umfassende in- terdisziplinäre Auseinandersetzung mit ihren technoökologischen und onto-episte- mologischen Voraussetzungen und Herausforderungen, ganz zu schweigen von den theoretischen, ästhetischen und politischen Implikationen des ineinander ver- schränkten Prozesses eines ›Umweltlichwerdens‹ von (Medien)Technologie und eines ›Medienwerdens‹ von Umwelten. Die Medienwissenschaft könnte zu dieser gemeinsamen Anstrengung beitragen, indem sie Grundlagen für ein Verständnis von Sensoren als Medien entwickelt, was, wie bereits deutlich geworden sein sollte, mehr ist als ein technischer Begriff des Sensors als (Mess-)Instrument – zumal im Sinne einer anthropozentrisch argumentierenden, bloß instrumentellen Erwei- terung des sinnlichen Vermögens. Fortwährende Transformationen im Bereich der 21 In einem Text über Galileis Fernrohr, auf den hier Bezug genommen wird, weist Joseph Vogl die genannten Aspekte der Denaturierung, Selbstreferenzialisierung und Anästheti- sierung als jene drei Elemente aus, über welche sich ein Rahmen entwerfen ließe, »in dem sich Mediengeschichte über die Ereignisse eines je diskontinuierlichen Medien-Werdens konstituiert« (S. 123); vgl. Vogl: »Galileis Fernrohr«. 22 Hörl: »Die technologische Bedingung«, S. 15. 23 Vgl. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte. 24 Hörl: »Die technologische Bedingung«, S. 14f.; zur Genealogie eines postklassischen techno-ontologischen Denkens der ›offenen Maschine‹ bei Simondon vgl. auch Hörl 2008. 25 Vgl. hierzu die Essayreihe gleichen Titels bei Sternberg Press, exemplarisch verwiesen sei hier auf den programmatischen Einführungsessay von Geoff Cox und Jacob Lund: The Contemporary Condition. NAVIGATIONEN 206 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG unter anderem von Luciana Parisi so genannten »technoecologies of sensation«26, d.h. deren technische, onto-epistemologische und infrastrukturelle Möglichkeitsbe- dingungen, sind über einen derart verkürzten Medienbegriff kaum einzuholen. Es sind aber eben diese Technoökologien, die Sensormedien mitkonstituieren, in die Sensormedien eingreifen, in die sie eingehen und aus denen sie zugleich hervorge- hen. Von besonderem Interesse ist im Zusammenhang des Navigierens das er- wähnte Spannungsfeld zwischen einerseits individuellen User:innen mit ihren je- weiligen mobilen ›sensing devices‹, welche gleichermaßen ihre jeweilige Umwelt und sich selbst (etwa Position, Beschleunigung, Bewegung, Neigung etc.) ›wahr- nehmen‹. Andererseits sind es jene mediatisierten und miteinander vernetzten Umwelten, in welchen Sensoren unablässig lokale Datenmengen produzieren und prozessieren, aus denen dann durch Extraktion, Kombination, Skalierung und Kon- textualisierung letztlich relevante Informationen zum Zustand bzw. zur Zustands- veränderung innerhalb der jeweiligen Umwelt hergestellt werden können. Die (mobile wie stationäre) Verteilung und Verkoppelung von Sensormedien liefert Messungen lokaler und jeweils aktualer Zustände in heterogenen Umwelten; sie verbindet physikalische Räume und Datenräume auf eine Weise, die, in der Diktion Deleuzes und Guattaris, ›glatte Räume‹ mit dem Ziel ihrer Beherrschbarkeit ›kerbt‹, aber jederzeit über die Neuvernetzung unterschiedlicher Umwelten der Glättung des dergestalt gekerbten Raums offensteht. Vermessene, verdatete und damit ›gekerbte‹ Räume und unbestimmte, intensive ›glatte‹ gehen in einer solchen Koppelung ineinander über, beide Räume existieren »nur wegen ihrer gegenseiti- gen Vermischung […]: der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt«.27 Bildet bei Deleuze / Guattari der Ozean als ar- chetypischer ›glatter‹ Raum den Ausgangspunkt, der über Navigationsverfahren stetig ›gekerbt‹ wird und dessen Kerbung (etwa durch Einteilung in Längen- und Breitengrade) gleichzeitig die Voraussetzung für weitere Navigationen und mithin Kerbungen darstellt, erstreckt sich die Logik der Kerbung und Glättung durch Sen- sornavigation inzwischen auf Räume aller Art. Potentiell jeder noch so kleine Raum, so scheint es, kann über Verfahren des Micro-Sensing als zu kerbender Raum defi- niert werden und in der Folge dem Zugriff des Navigationellen zugänglich gemacht werden. Von Sensormedien durchdrungene respektive allererst als epistemische Ob- jekte erzeugte Räume sind somit beispielhaft für jene von Mark B. Hansen wieder- holt diagnostizierte originäre »environmental condition«28, die gegenwärtig eine der zentralen onto-epistemologischen Herausforderungen darstellt. Es ist folglich 26 Vgl. Parisi: »Technoecologies of Sensation«. 27 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 658. 28 Hansen: »Ubiquitous Sensation«, S. 84. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 207 SEBASTIAN SCHOLZ dennoch wichtig, Sensoren in ihrer jeweiligen objekthaft-materiellen oder techno- logischen Verfasstheit zu beschreiben; zugleich erscheint es wenig sinnvoll, diese isoliert und abgekoppelt von den jeweiligen Umwelten ihres Einsatzes zu verhan- deln. Vielmehr ließen sich Sensormedien als maßgebliche Elemente jener Renais- sance und Fortschreibung medienökologischen Denkens auffassen, die etwa Erich Hörl als das Paradigma einer allgemeinen »Ökologisierung des Denkens und von Theorie«29 beschrieben hat, unter deren Vorzeichen »eine radikal relationale, onto-epistemologische Erneuerung vorangetrieben«30 werde. Über eine solche »Dissemination des Ökologischen«31 vollziehe sich eine Ablösung überkommener, zwangsläufig »beschränkter« Auffassungen von Ökologien der Natur zugunsten ei- ner Technoökologie. Diese öffne sich auf diese Weise für ein prozessuales Verständ- nis von Environmentalität. Die fortschreitende Redistribution von Agency über eine Ausdifferenzierung, Modularisierung und Rückkopplung von sowohl Bio- als auch Geotechnologien, die sich nicht zuletzt mittels Sensormedien vollzieht, lässt En- vironmentalität als Problem in den Vordergrund treten »and prioritizes it like never before«32, wie Hörl an anderer Stelle bemerkt: »the concept of ecology designated primarily the other side of technics and of mind, […] has now begun to switch sides within the nature/technics divide, undoing the sutures that bound it to nature«33. Sensoren sind dabei Teil einer jeden Medienökologie und selbst ganz buch- stäblich ›environmental‹. Erst die enge materiell-diskursive Verschmelzung von Me- dien und Environments zu wahrhaft ›medianaturecultural‹ (Braidotti) Milieus bringt solcherlei dynamisch-prozessuale, fluide und hybride Technoökologien sinnfällig hervor – und motiviert zugleich deren diskursive Adressierung durch Interdiszipli- nen wie ›Material Ecocriticism‹, ›Ecomaterialism‹ oder ›Environmental Humani- ties‹.34 Die aisthetischen, medien- und onto-epistemologischen Herausforderun- gen durch die Implementierung von Sensoren im planetarischen Maßstab wie im (vermeintlich) intimen, privaten Gebrauch im Sinne einer Subjektivierungstechno- logie konstituiert ein Problemfeld zeitgenössischer technologischer ›Sensing-Cul- ture‹, das erst noch geduldig und ausdauernd zu kartieren wäre. Eine Medienwis- senschaft auf der Höhe ihrer Zeit kann sich einer derartigen Paradigmenverschiebung kaum verschließen. 29 Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«, S. 35. 30 Ebd. 31 Ebd., 42. 32 Hörl: »Introduction to general ecology«, S. 9. 33 Ebd., S. 2. 34 Für einen Überblick und eine weitere Differenzierung des Felds vgl. Emmett/Nye: The Environmetal Humanities. NAVIGATIONEN 208 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG 3. VERSCHRÄNKUNGEN: ENVIRONMENTALISIERUNG DER MEDIEN / ME- DIALISIERUNG DES ENVIRONMENT An ecology properly understood can be nothing other than a technology. (Jean-Luc Nancy35) Responsive Medienumwelten sind vor diesem Hintergrund nicht verstehbar als vor- gängig vorliegende, passiv-umgebende Räume, aus denen mithilfe von Sensorope- rationen die erforderlichen Daten bloß extrahiert, wie ein Schatz gehoben oder wie eine ›natürliche Ressource‹ gefördert werden müssten. Medienumwelten und Umweltmedien bringen sich gleichsam in einem Prozess gemeinsamen Werdens gegenseitig hervor, wie unter anderem Jennifer Gabrys herausgearbeitet hat: »The becoming environmental of computation then signals that environments are not fixed backdrops for the implementation of sensor devices, but rather are involved in processes of becoming along with these technologies.«36 Netzwerke des ›Sensing‹ sind demnach nicht bloß instrumentelle Detektoren von bereits vorhandenen Daten, sie führen vielmehr in vorhandene Umwelten nicht einfach Technologien der Messung ein, sie produzieren jeweils neu Entitäten, Environments und die mannigfaltigen Beziehungen zwischen ebendiesen. Mit und durch diese technoökologischen Kopplungsprozesse emergieren Umwelten, Rela- tionen und Wahrnehmungsoptionen. Sensormedien operieren mit, an und durch Materialitäten und Energien und transformieren diese im Zuge dessen. Sie fungi- eren so als »exchangers between earthly processes, modified electric cosmos, hu- man and nonhuman individuals«37. Es geht dabei, wie Gabrys überzeugend zeigt, um nicht weniger als das Projekt einer ›programmability‹ des Planeten durch ›en- vironmental monitoring‹ im Sinne neuer Konfigurationen oder Technogeographien »that concretize across technologies, people, practices, and nonhuman entities«38. Sensormediensaturierte Umwelten mit dem Ziel besserer Kontrolle und Program- mierbarkeit als Artikulation eines Machbarkeitsparadigmas bedürfen dabei jener bereits angesprochenen spezifischen Infrastrukturen und Konnektivitäten, um nicht bloß »detached objects for our subjective sensing and contemplation« zu sein, son- dern in der Tat »processes in and through which experience, environments, and subjects individuate, relate, and gain consistency«39. Computergestützte, vernetzte Sensoren sind zwar distinkte Objekte, ihre Relevanz jedoch entfaltet sich vor allem dann, wenn der Fokus von den Relata auf die Relationen schwenkt, auf die »shifting media formations that traverse hardware and software, silicon and glass, minerals 35 Nancy: The Sense of the World, S. 41 36 Gabrys: Program Earth, S. 9. 37 Ebd., S. 13. 38 Ebd., S. 4 39 Ebd., S. 9. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 209 SEBASTIAN SCHOLZ and plastic, server farms and landfills, as well as the environments and entities that would be sensed«40. Um in, durch und mit Umwelten zu navigieren, so zeigt sich, müssen diese auf vielfältige Weise ›ins Verhältnis gesetzt‹ werden – zu sich selbst, zueinander, zu messbaren Zuständen, übergeordneten Infrastrukturen und unter- liegenden Materialitäten, gegebenenfalls zum Bereich menschlicher Wahrneh- mungs- und Erkenntnisfähigkeit und vielem mehr. Die (technologische) Ermögli- chung von Relationalität bildet mithin die Voraussetzung für Sensing-Operationen wie für jegliche Form der Navigation.41 Überall dort, wo ubiquitäre und pervasive Mikrotechnologien des Sensing zum dominanten Medium der Erkenntnisproduktion avanciert sind, tragen sie maßgeb- lich dazu bei, Wahrnehmung zu problematisieren und werfen die Frage auf, welche Rolle dem menschlichen Sensorium innerhalb der Konfiguration einer ›more-than- human‹ Technoökologie überhaupt zukommt. Sensoren sind dabei funktional zunächst einmal nichts anderes als devices that typically translate chemical and mechanical stimuli such as light, temperature, gas concentration, speed, and vibration across ana- logue and digital sensors into electrical resistors and voltage signals. Voltage signals further trigger digital circuits to output a series of con- versions into zeros and ones, which are processed to form readable measurements and data.42 Die zahlreichen Übersetzungs- und Umcodierungsprozesse, die hier angeführt werden, setzen an elementaren Stimuli an und überführen diese in mehreren Schritten in eine intelligible Form. Die Stimuli sind dabei zeitgebunden, das heißt, sie ereignen sich im Moment der Detektion, und lokal, das heißt sie finden kontrol- liert an einem Ort der Messung statt, der zuvor durch die Anbringung eines Sensors als solcher definiert wurde. Gemessen wird jeweils ein aktueller Zustand, der über Wiederholung des Vorgangs und Vergleich der Ergebnisse Aufschlüsse über Verän- derungen des Zustands erlaubt. Was als »Auflösung« (›resolution‹) des Sensors be- zeichnet wird, ist die kleinstmögliche Veränderung, die ein solcher innerhalb seiner Umgebung detektieren kann und somit abhängig ist von dessen Empfindlichkeit (signal-to-noise ratio), aber ebenso von den Möglichkeiten des (digitalen) Outputs, an den er angeschlossen ist. Sensoren generieren auf diese Weise ganze Datenban- ken, wobei die erzeugten Daten entsprechend aufbereitet werden müssen, um ef- fizient Wirkung zu entfalten: 40 Ebd., S. 4. 41 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Florian Sprenger im vorliegenden Heft, der Navigation zutreffend als »Praxis des Umgangs mit Relationen« fasst. 42 Ebd., S. 8. Für eine ausführlichere Diskussion der Analog/Digital-Differenz siehe den Bei- trag von Sievert/Schüttpelz/Loffeld/Schröter in dieser Ausgabe. NAVIGATIONEN 210 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG By sensing environmental conditions as well as detecting changes in en- vironmental patterns, sensors are generating stores of data that, through algorithmic parsing and processing, are meant to activate re- sponses, whether automated or human-based, so that a more seam- less, intelligent, efficient, and potentially profitable set of processes may unfold.43 Die Entwicklung sehr kostengünstiger, kleiner und leichter und dennoch hochsen- sibler Mikrosensoren hat die Anwendungsmöglichkeiten in den letzten Jahren – weit über den industriellen, militärischen oder experimentellen Kontext in For- schungseinrichtungen hinaus – exponentiell vergrößert. Sensoren sind in vielen Fäl- len nicht nur ein Massen-, sondern sogar ein Wegwerfprodukt geworden. Miniatu- risierung, Verfügbarkeit, Kosteneffizienz und einfache Handhabung haben dafür gesorgt, dass, vergleichbar anderen Beispielen aus der Mediengeschichte, den Sen- soren Potenziale der Demokratisierung, aktivistischer Partizipation, Teilhabe an Wissen etc. zugeschrieben werden.44 Neben den physikalischen Eigenschaften ei- ner Umgebung (Licht, Bewegungen, Gravitation, Feuchtigkeit, Temperatur, mag- netische oder elektrische Felder etc.), können elektrochemische oder Biosensoren organische oder anorganische Stoffkonzentrationen ermitteln. So kommen im Be- reich des Bio-Sensing vermehrt lebende Bakterien zum Einsatz, etwa um durch diese Toxinkonzentrationen messen zu lassen und in messbare Signale umzuwan- deln.45 Der Aspekt einer umfassenden Informatisierung, Berechen- und Program- mierbarkeit resoniert mit der bereits erwähnten Konstellation eines planetaren ›Stack‹ im Sinne Benjamin Brattons. Es sind nämlich nicht zuletzt Sensoren, die eben diese Konstellation über kontinuierliches Feedback konstituieren und navigationell ›am Laufen halten‹. Bratton zufolge bilden die sensorbasierten Feedbackloops »a cloud of machine sensation, each listening or looking or feeling or smelling some- thing about the world or about the Users in the world, or both at once«46. Menschli- che User wären in diesem Falle gleichermaßen Subjekte und Objekte von Sensing- Prozeduren und – als Teil einer »new architecture of algorithmic governance«47 – 43 Ebd. 44 Zu Anwendungsoptionen etwa beim so genannten ›Citizen Sensing‹ und anderer DIY- Projekte vgl. Gabrys: How to Do Things with Sensors. 45 Vgl. Dincer u.a.: »Disposable Sensors in Diagnostics, Food, and Environmental Monitor- ing«. 46 Bratton: The Stack, S. 340 [kursiv i.O]. 47 Ebd., S. 337. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 211 SEBASTIAN SCHOLZ »sometimes piloting it and sometimes piloted by it«48. Bratton entwirft die konzep- tionelle Figur des ›stack‹ – »both an idea and a thing«49 – um ein Bild der gegen- wärtigen politischen Geografie zu entwerfen und die politischen Rationalitäten al- gorithmischer Regierung zu beschreiben. Die Ebenen des ›Stack‹ aus Hardware, Software und Networks integrieren und konfigurieren unterschiedliche Technolo- gien vertikal in eine modulare und interdependente Ordnung. Der ›Stack‹ ist »an accidental megastructure, one that we are building both deliberately and unwit- tingly and is in turn building us in its own image«50, so der vermutlich meistzitierte Satz aus Brattons umfangreicher Studie. So nützlich das planetarisch gedachte Bild einer ›accidental megastructure‹ und das Label des ›Stack‹ sicherlich sind, die tota- lisierende Tendenz erlaubt notwendigerweise keine genauere Analyse der beteilig- ten Elemente, der medialen Translationsprozesse, des jeweiligen Objektstatus‘, der vermeintlichen Auflösung desselben im Vernetzungsvorgang bzw. des materiell-dis- kursiven Werdens von ›environmental media‹ und ›mediated environments‹, die einen solchen ›Stack‹ technoökologisch grundieren. Vernetzte mediatisierte Environments überschreiten das menschliche Maß in zwei Richtungen: als planetarischer ›Stack‹ bleiben sie sinnlich uneinholbar; als Pro- duzenten von Daten auf der mikrologischen Ebene unterschreiten sie die mensch- liche Wahrnehmungsschwelle zwangsläufig. Die Qualität von Luft oder Wasser, das Wachstum oder der Pestizidgehalt von Pflanzen, biochemische Abläufe, das Ab- schmelzen eines Gletschers, die Desertifikation einstmals fruchtbarer Landschaf- ten, Migrationsbewegungen, evolutionäre Anpassung oder gleich das Verschwinden von Arten, das Steigen des Meeresspiegels oder die Konzentration von Säure oder Mikroplastik in den Ozeanen sind – aus unterschiedlichen Gründen – der direkten Wahrnehmung entzogen. Responsive Umwelten, in denen unablässig Sensoren Zu- stände messen, gegebenenfalls speichern und als Daten prozessieren, beschleuni- gen die Ablösung romantischer Naturbegriffe durch nicht-natürliche Technoökolo- gien, solche der Wahrnehmung einbegriffen. Um also überhaupt ökologisch verantwortliche Entscheidungen treffen, auf empirischer Grundlage politische Ziele formulieren und entsprechende Maßnah- men einleiten zu können, bedarf es paradoxerweise zunächst einer Denaturalisie- rung des vermeintlich ›Natürlichen‹. Das ist selbstverständlich mit Blick auf die ex- perimentellen Wissenschaften keine neue Erkenntnis, die Möglichkeit direkter Beobachtung war schon immer deutlich eher die Ausnahme als die Regel.51 Doch intensiviert sich dieses Erkenntnisproblem vor dem beschriebenen Hintergrund ei- ner veränderten technologischen Bedingung, in dem sich mehr und mehr für rele- vant erachtete Prozesse in den Bereich des Nicht-Phänomenalen verlagern. Mark 48 Ebd. S. 340; [kursiv durch Verf.]. 49 Ebd., S. 5. 50 Ebd. 51 Ausführlich zum Problem der Beobachtbarkeit durch ›Sichtbarmachung‹ unsichtbarer (und damit unsicherer) Dinge vgl. Scholz: Das Epistemische Bild. NAVIGATIONEN 212 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG Hansen charakterisiert die technologische Ausgangslage für das 21. Jahrhundert wie folgt: Human experience is currently undergoing a fundamental transfor- mation caused by the complex entanglement of humans within net- works of media technologies that operate predominantly, if not almost entirely, outside the scope of human modes of awareness (conscious- ness, attention, sense perception, etc.).52 Was für Hansen die Medientechnologien unserer Zeit sind, ist dabei nicht be- schränkt auf bestimmte technische Objekte oder Anwendungen, sondern be- schreibt eine vorherrschende Tendenz, nach welcher Medien »operate at micro- temporal scales without any necessary – let alone any direct – connection to human sense perception«53. Wo die Aufzeichnungsmedien der vergangenen knapp zwei Jahrhunderte (Fotografie und Film) als Einschreibungen physikalischer Spuren ten- denziell leichter mit menschlichen Wahrnehmungsmodi in Einklang zu bringen wa- ren, verhält es sich mit der Aufzeichnung jetzt grundlegend anders, diese vollziehe sich nämlich vollständig ›subexperientially‹, denn »twenty-first-century media not only resist any form of direct synchronization but question the viability of a model of media premised on a simple and direct coupling of human and media system«54. Die komplexen Kopplungen von Maschinen mit Maschinen, Menschen mit vernetz- ten Maschinen oder Systemen oder Menschen miteinander über Medien sorgten so für ›complexifications‹, denn trotz ihrer konstitutiven Unzugänglichkeit und ge- nuin hybriden Adressierungen beeinflussten diese ›unser‹ sensorisches Dasein in signifikanter Weise, indem sie »directly shape the sensory continuum out of which perception and memory arise«55. Die Medien der Gegenwart fokussieren nicht län- ger auf (menschliche) Erfahrung als deren Inhalt, »what they actually mediate is the technical condition of mediation itself«56. Was immer also wahrnehmbar wird, wird längst im Unwahrnehmbaren statt- gefunden haben, als mikrotemporales Ereignis an einem unzugänglichen (Un)Ort. Ein weiterer medialer Übersetzungsschritt ist notwendig, um die gemessenen Sig- nale mit der menschlichen Signalverarbeitung zu synchronisieren und über ein In- terface verfügbar werden zu lassen.57 Die gegenwärtige Lage also, und mit ihr die Frage des Navigationellen, ist entschieden heterotop und heterochron, ihre Raum- 52 Hansen: Feed Forward, S. 5. 53 Ebd., S. 37. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 38. 56 Ebd., S. 43. 57 Zur medialen Logik und interfacebasierten Ästhetik der »Verfügung« vgl. Distelmeyer: Machtzeichen. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 213 SEBASTIAN SCHOLZ zeitlichkeit »expands to a multitude of times that overlap and that cannot be resol- ved into one, simple designation such as ›new‹ or ›old‹«58 Das auf den ersten Blick paradoxe ›Sensing‹ extrem langsamer59, »hyperphänomenaler«60 environmentaler Prozesse mittels mikrotemporal operierender, immer lokal und aktual Schnitte o- der Kerben setzender Sensormedien, die zugleich in den planetarischen Stack ein- gebunden sind wie sie diesen hervorbringen und navigierbar machen, verdeutlicht die Asynchronizität von wahrnehmbarer Zeit und eigenzeitlicher »Tempor(e)alität« der Medien.61 4. FLUCHTPUNKTE: SENSORMILIEUS UND (TECHNO)ÖKOLOGISIE- RUNG DES DENKENS Es wäre eher, als würdet ihr in einem Strom Einschnitte vornehmen, indem ihr versucht, das Gewimmel all die- ser verknäulten Bewegungslinien mit Sensoren zu orten. (Bruno Latour: Wo bin Ich?62) Der erwähnten Ubiquität und Pervasivität sensorbasierter technischer Systeme steht noch immer eine erstaunliche Unterreflektiertheit hinsichtlich des materiellen und medialen Status‘ des Sensors gegenüber. Sensormedien operieren in weiten Teilen anästhetisch, d.h., so hat es den Anschein, ihre mikrotechnologischen Zu- griffe auf und Eingriffe in Ökologien der Wahrnehmung von Körperzuständen, Pro- duktionsprozessen und ›medianaturecultural‹ Milieus bleiben so lange kaum be- merkt wie der Sensor störungsfrei Daten sammelt bzw. generiert, mithin so lange wie automatisiert ablaufende Prozesse der datenbasierten Ver- und Enträumli- chung reibungslos einem instrumentellen Funktionsprimat unterworfen werden können. Erst als Medien im vollen Sinne des Begriffs ernstgenommen, erscheinen zeitgenössische Sensormedien-Konstellationen jedoch als hochpotente Kulturtech- niken der Wissensproduktion, der Standardisierung und letztlich einer umfassen- den Ökologisierung der Wahrnehmung. In ähnlicher Weise erfordern auch das zeit- liche Operieren in und Navigieren durch Mikrobereiche/n jenseits menschlichen Wahrnehmungsvermögens verstärkte Reflektion auf Fragen der Kalibrierung, Ska- lierung und Translation, wo immer menschliches Vermögen notwendigerweise in onto-epistemologische Konstellationen mit Perzeptionen tritt, deren vornehmliche Eigenschaft es ist, gerade nicht human, sondern ›more-than-human‹ zu sein. 58 Vgl. Parikka: »A slow contemporary violence«, S. 9. 59 Vgl. Nixon: Slow Violence. 60 Vgl. hierzu Morton: Hyperobjects; Waldenfels: Hyperphänomenalität. 61 Vgl. Ernst: Chronopoetics. 62 Bruno Latour: Wo bin Ich?, S. 118. NAVIGATIONEN 214 NA VIG IEREN SENSORMEDIEN-MILIEUS UND TECHNOÖKOLOGIEN DER WAHRNEHMUNG Das Spannungsverhältnis etwa mikrotechnologischer Messungen an einem je- weiligen Ist-Zustand mit dem Ziel, mittels der unwahrnehmbaren Mikrotemporali- tät des Sensors, seiner ›Zeitgabe‹, möglichst zutreffende Aussagen zu hyperphäno- menalen Zeitabläufen wie Klimawandel und anderer Formen einer ›slow violence‹ ableitbar zu machen63, wäre erst noch medienhistoriographisch einzuholen und medienepistemologisch zu grundieren. Das fortlaufende Prozessieren im mensch- lich nicht-wahrnehmbaren Bereich gemessener Aktualitätszustände, deren auto- matisierter Abgleich mit vordefinierten Normalzuständen als modus operandi von Sensormedien, wird zunehmend leitend für immer zahlreichere politische Hand- lungsfelder. Gleichzeitig wirft eben jene Virulenz des Delegierens von Daten- bzw. Wissensproduktionen an Sensormedien zahlreiche aistethische und onto-episte- mologische Fragen auf. Dem sensorgestützten Navigieren durch ›Krisen‹ aller Art, welche die zeitgenössische Lage bestimmen oder zu bestimmen scheinen, wäre aus medienwissenschaftlicher Perspektive zunächst mit einer Problematisierung des navigationellen Potentials derartiger ›Technoökologien des Wissens‹, der innerhalb dieser und durch diese entstehenden Milieus und ihrer raumzeitlichen Implikatio- nen zu begegnen. Die variablen materiellen Gegebenheiten einer unüberschaubaren Vielzahl von Sensoren (vom Transistor bis zum Kristall, vom Satellitensystem bis zum magnesi- umbasierten essbaren Sensor in landwirtschaftlichen Erzeugnissen) in den unter- schiedlichsten Anwendungsbereichen (vom intimen körperlichen Nahverhältnis zum ›wearable device‹ bis zum ›remote sensing‹ von sowohl lokal begrenzten ›en- vironments‹ als auch einer auf das Planetarische ausgedehnten Bio- oder Noosphäre) sowie deren ›materiell-diskursive‹ Verfasstheit sind in höchstem Maße beteiligt an der Erzeugung medialer Milieus, aus denen sie gleichzeitig selbst her- vorgegangen sind. Der vorliegende Beitrag versteht sich dementsprechend als tentativer Aufruf zu einem intensivierten gemeinsamen Nachdenken über die Grundlagen einer ›me- dialen Onto-Epistemologie des Sensors‹. Die Etablierung von Sensormedien-Um- welten als Teil eines umfassenden Paradigmenwechsels hinsichtlich eines zeitge- nössischen technoökologischen Denkens als ›Medien-Werden‹ von Umwelten bei gleichzeitigem ›Umwelt-Werden‹ von Medientechnologien zu beschreiben, mag ein erster Schritt in diese Richtung sein. Assemblierte Sensormedien-Umwelten verbinden nicht allein Menschen und Dinge in neuartiger Weise. Sie verflechten überdies Raum und Zeit auf neuartige Weise mit Diskursen und Materialitäten, aus denen – intensiv wie extensiv – Milieus hervorgehen, in denen ›wir‹ »ansässig sind«, wie es bei Foucault hieß, die ›wir‹ jedoch gerade einmal im Ansatz zu begreifen begonnen haben. Die Navigation durch hybride und vernetzte, ›more-than-human‹ Technoökologien, die Virulenz ebendieser für einen Begriff von den zeitgenössi- 63 Einige Überlegungen hierzu finden sich in Parikka: »A Slow, Contemporary Violence: Damaged Environments of Technological Culture«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 215 SEBASTIAN SCHOLZ schen Wahrnehmungsumgebungen, deren Entstehungs- und Möglichkeitsbedin- gungen selbst nicht wahrnehmbar sind, bildet womöglich einen entscheidenden Fluchtpunkt für die Ökologisierung (nicht allein) medien- und kulturwissenschaftli- chen Denkens. LITERATURVERZEICHNIS Angerer, Marie-Luise: Affektökologie. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen, Lüneburg 2017. Bachelard, Gaston: Der Neue Wissenschaftliche Geist, Frankfurt a.M. 1988 [1934]. Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entangle- ment of Matter and Meaning, Durham/London 2007. Bergermann, Ulrike u.a. (Hrsg.): Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im Postglobalen Zeitalter, München 2010. Braidotti, Rosi: »The Critical Posthumanities; or, IS MEDIANATURES to NA- TURECULTURES as ZOE IS to BIOS?«, in: Cultural Politics, Volume 12, Issue 3, 2016, S. 380-390. Bratton, Benjamin: The Stack. On Software and Sovereignty. Cambridge, MA/Lon- don 2015. 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Übersetzung des Vortrags »What about People in Regional Science?« von 1969 V O N T O R S T E N H Ä G E R S T R A N D 1 Da es das erste Mal in der Geschichte der Regional Science Association ist, dass die Rede ihres Vorsitzenden auf einer ihrer europäischen Konferenzen gehalten wird, will ich diese Gelegenheit zum Anlass nehmen und einen Blick in die Vergangenheit werfen, um eine mögliche Differenz in Schwerpunktsetzung und Tonfall zwischen den europäischen und nordamerikanischen Treffen zu bestimmen. Meiner Ansicht nach gibt es einen Unterschied, wenn ich auch keine statistischen Beweise dafür vorlegen kann. Sieht man sich die Tagungsberichte der sechziger Jahre an, so ent- steht der Eindruck, dass es die Mitglieder:innen in diesem Teil der Welt vorgezogen haben, sich eher Anwendungsfragen als Fragen der reinen Theorie zu widmen. Wir in Europa scheinen die Regionalwissenschaft in erster Linie als eines der möglichen Mittel zur Beratschlagung von Politik und Stadtplanung verstanden zu haben. Ich möchte diesem Ansatz weiter folgen und schlage vor, dass Regionalwissenschaft- ler:innen sich eines Problems annehmen, das in Diskussionen zwischen Planer:in- nen, Politiker:innen und Straßendemonstrant:innen immer mehr in den Vorder- grund rückt: nämlich das Schicksals des einzelnen Menschen innerhalb einer zunehmend komplexer werdenden Umwelt, oder, wenn man so will, die Frage nach der Lebensqualität. Das Problem ist ein praktisches und für die Erschaffer:in- nen rein theoretischer Modelle daher eine ›harte Nuss‹, die es zu knacken gilt. Nun, fällt das Problem überhaupt in den Bereich der Regionalwissenschaft? Ich denke schon. Ein Forstökonom bemerkte neulich, dass sich die »Forstwirtschaft mit Menschen befasst, nicht mit Bäumen.« Wäre es ebenso nicht präziser zu sagen, dass es in der Regionalwissenschaft geht es um Menschen statt bloß um Orte? Und so sollte es – nicht nur aus Anwendungsgründen heraus – auch sein. Da sich die Regionalwissenschaft als eine Sozialwissenschaft definiert, kommt ihren Annahmen über den Menschen ebenfalls wissenschaftliche Relevanz zu. Allerdings gehen die Meinungen der Regionalwissenschaftler:innen in Bezug auf Konzeptionen von menschlicher Lebensqualität auseinander. In seiner Vorsitzendenrede von 1962 re- sümierte Ullman, dass das »Problem fortbesteht, Städte so zu gestalten, dass sie Skaleneffekte und weitere Vorteile der räumlichen Konzentration nutzen, während 1 Der Autor gehörte der Abteilung für Sozial- und Wirtschaftsgeographie der Universität Lund, Schweden, an. Die Literaturverweise dieses Beitrags erfolgen gemäß des Originals von Torsten Hägerstrand. Personengruppen werden im Beitrag gegendert. Die engli- schen Originalzitate wurden ins Deutsche übersetzt. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN TORSTEN HÄGERSTRAND sie gleichzeitig eine optimale Lebensqualität bieten«.2 Diese Formulierung deutet auf einen Glauben an »Lebensqualität«, sowohl als lohnendes Problem für die For- schung als auch als Ziel der Stadtplanung, hin. Lowry klang in seiner Rede von 1967 skeptischer, zumindest was die Vorstellung eines möglichen Optimums in der Raumplanung betraf: »Es wirkt so als seien Menschen in der Lage, scheinbar glei- chen Nutzen aus unterschiedlichsten Umgebungen zu ziehen, zumindest solange die Mechanismen der Umgebung nachvollziehbar und ihre Reaktionen auf individu- elle Unternehmungen vorhersehbar sind.« Der nächste Satz schränkt die hinter die- ser Aussage stehende Überzeugung jedoch ein, wenn er anmerkte: »Wenn unsere Städte zu trostlos werden, ziehen wir uns in die Vororte zurück und ersetzen die Annehmlichkeiten von Museen und glänzenden Lichtern durch Gartenarbeit.«3 Wie sich regelmäßig feststellen lässt, schlagen Ökonomen nur zu gerne vor, wir könnten unsere Probleme lösen, indem wir einfach an einen anderen Ort zie- hen. In der Theorie – und oft auch in der Praxis – ist das bequem, doch die Idee impliziert zwei Dinge: erstens, dass es einen erstrebenswerten Ort gibt, an den man ziehen kann; und zweitens, dass es unerheblich ist, dass einige dabei zurück- gelassen werden müssen. Geld zu verdienen und wünschenswerte Dinge zu finden, für die man es ausgeben kann, ist ein grundlegender Bestandteil von Lebensqualität, und die Regionalwissenschaft kann eine Menge zu diesem Thema sagen. Gleichzei- tig ist es wichtig, dass es einen einfachen Zugang zu Schulen, anderen Bildungsein- richtungen, Universitäten, Bibliotheken, Theatern und Konzertsälen, Ärzten und Krankenhäusern, Sicherheitsbehörden, Spielplätzen, Parks, ja sogar zu Stille und sauberer Luft gibt. In regionalwissenschaftlichen Publikationen finden sich kaum In- formationen zu der Lage und Dimensionierung solcher Elemente in Bezug auf die räumliche Verteilung menschlicher Bedürfnisse. Vielleicht passen die damit verbun- denen Probleme sogar besser in den engeren Rahmen der Spezialisierungsfor- schung oder Operations Research. Ich halte das jedoch nicht für gute Forschungs- politik. Die Summe dieser Elemente ist regional von zu großer Bedeutung, als dass es vernünftig wäre, sie vollständig in die Hände von Menschen zu legen, die sie vornehmlich von innen heraus betrachten. Ich werde diesen Punkt nicht weiter ausführen, und es ist nicht meine Absicht, auf einer derart praktischen Ebene zu bleiben. Lassen Sie mich stattdessen die Frage aufwerfen, welche Grundannahmen Regionalwissenschaftler:innen vom Menschen haben. Haben die Bemühungen, wirtschaftlichen Problemstellungen mit räumlichem Realismus und Allgemeingültigkeit zu begegnen, auch menschlichen Realismus und Allgemeingültigkeit in Fragen der räumlichen Organisation gebracht? Es ist schwer, eine Antwort darauf zu finden, da »Modelle, die menschliches Ver- halten auf den Raum abbilden, nahezu ausschließlich auf das wahrscheinliche Ver- halten von Massen ausgerichtet waren«, wie Isard und Reiner dargelegt haben.4 2 Ullman: »The Nature of Cities Reconsidered«. 3 Lowry: »Comments on Britton Harris«. 4 Isard/Reiner: »Regional Science«. NAVIGATIONEN 220 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? Diese Modelle großer Menschenmassen werden oft angeführt, ohne dabei explizite Aussagen über die angenommene soziale Organisation und Technologie zu treffen, die auf der Mikroebene existiert, auf welcher das Individuum versucht, seine Lage zu bewältigen. Es kann durchaus sein, dass es bei einer bestimmten Flächengröße einer Re- gion, die weit über der täglichen Reichweite ihrer Bevölkerung liegt (zumindest was die Mehrheit dieser Menschen betrifft), keinen Unterschied macht, welche Formen die Mikroanordnungen zufällig angenommen haben. Ein solcher Mangel an Sensiti- vität wäre allerdings an sich schon ein Problem für die Analyse. Nichts wirklich All- gemeingültiges kann über Gesetzmäßigkeiten ausgesagt werden, wenn nicht her- ausgefunden wurde, inwieweit diese trotz organisatorischer Unterschiede auf der Mikroebene invariant bleiben. Lassen Sie mich zur Veranschaulichung auf die große Anzahl von Studien zum Verbraucher- und Pendlerverhalten hinweisen. Nur in ei- nem Fall fand ich die einfache Aussage, dass in »dem betreffenden Fall der Mann das Habitat durchquert, um Arbeit gegen Geld einzutauschen, und die Frau das Habitat durchquert, um dieses Geld gegen Nahrung und andere Wertgegenstände einzutauschen.«5 Es ließe sich argumentieren, dass ein Fall dieser Art eine spezielle Lösung ist, die für einen bestimmten Kulturraum und eine bestimmte Epoche ty- pisch ist. Was ist aber mit einem Fall, in dem sowohl Mann als auch Frau Arbeit gegen Geld eintauschen? Oder wie wäre es, einen Großteil der Einzelhandelsbe- triebe ganz abzuschaffen, indem man Wohnungen mit Kühlschränken und Lager- räumen neben ihren Briefkästen ausstattet und diese von fahrenden Lieferfahrzeu- gen ohne Anwesenheit der Kund:innen befüllen lässt? Da wir wissen, dass soziale Rollen neu definiert werden können und dass Fachleute des physischen Vertriebs an neuen technischen Ansätzen arbeiten, wäre es durchaus interessant zu bestim- men, inwieweit Änderungen in den Grundannahmen auf Haushaltsebene die Prin- zipien der Theorie der zentralen Orte oder jene von Verkehrsmodellen beeinflus- sen würden. In einem anderen Problembereich ist es unbestreitbar, dass es grundlegende direkte Verbindungen zwischen der Mikrosituation des Einzelnen und den großräu- migen Gesamtfolgen gibt, die es zu erforschen gilt. Ich meine damit die Migration. Trotz des intuitiven Gefühls aller Forschenden innerhalb des Feldes, dass mikro- umweltliche Faktoren für die Entscheidung zum Fortgehen ausschlaggebend sind, beinhalten fast alle Modelle lediglich die Extrapolation aktuellen Massenverhaltens. Diese Beobachtungen genügen, um zu veranschaulichen, dass es ein rein theoreti- sches Argument dafür gibt, den einzelnen Menschen in seinem situativen Umfeld genauer unter die Lupe zu nehmen. Das zu tun, würde unsere Fähigkeit verbessern, das Verhalten von Elementen im kleinen und großen Maßstab miteinander in Be- ziehung zu setzen. Dabei zu versagen, ist eine weit verbreitete, grundlegende Schwäche sämtlicher Sozialwissenschaften. Die von Isard und Reiner formulierte Verpflichtung des Regionalwissenschaftlers, sich »auf die lokative Dimension 5 Fox/Kumar: »The Functional Economic Area«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 221 TORSTEN HÄGERSTRAND menschlicher Aktivitäten«6 zu konzentrieren, sollte ein Ausgangspunkt sein, der so vielversprechend ist wie die meisten anderen – oder vielleicht sogar vielverspre- chender –, um das Probleme anzugehen, einen Zusammenhang zwischen beiden Enden der Skala herzustellen. Die anfängliche Aufgabe besteht meiner Meinung nach darin, ungenaue Denk- prozesse zu beseitigen, die uns konzeptionell dazu verleiten, mit Menschen ebenso zu verfahren, wie wir es mit Geld oder Gütern tun, sobald wir von Gesamtmengen ausgehen. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, möchte ich von einem Erlebnis berichten, das kaum einzigartig sein kann. Als ich drei oder vier Jahre alt war, wollte mein Vater mir die Prinzipien des Bankwesens beibringen und wir marschierten zur örtlichen Bankfiliale, um das, was ich in meiner Sparbüchse angesammelt hatte, einzuzahlen – einschließlich einer stark glänzenden Silberkrone. Am nächsten Tag bestand ich darauf, zurück zur Bank zu gehen, um sicherzustellen, dass die Leute mein Geld wirklich bewacht hatten. Der Angestellte war sehr verständnisvoll und zeigte mir die vollständige Menge an Münzen. Aber die glänzende Krone war nicht unter ihnen und blieb unauffindbar. Ich beschied, dass Sparkassen nicht das tatsäch- liche Geld sparen. Anzunehmen, dass Banken sich um die Identität von Münzen kümmern sollten, war primitive Ökonomie. Ist es fortgeschrittene oder primitive Sozialwissenschaft, die Identität von Menschen im Laufe der Zeit auf die gleiche Art und Weise zu ignorieren? Denn das ist es, was wir in den meisten Fällen tun, wenn wir eine Po- pulation als Masse von Teilchen behandeln, die nahezu frei austauschbar und teilbar sind. Es ist üblich, alle möglichen Segmente der Bevölkerungsmasse zu erforschen – seien es die Arbeiterschaft, Pendler:innen, Migrant:innen, Kund:innen, Tourist:in- nen, Fernsehzuschauer:innen, Mitglieder:innen von Organisationen usw. – wobei jedes Segment weitgehend isoliert von den anderen untersucht wird. Wie einer meiner Studierenden es ausdrückte: »Wir betrachten die Bevölkerung als aus ›Di- viduen‹, anstelle von Individuen bestehend.« Natürlich können wir uns nicht auf jedes einzelne Individuum innerhalb der Gesamtheit konzentrieren. Wir müssen es den Historiker:innen überlassen, sich mit den Lebensläufen ausgewählter Persön- lichkeiten zu beschäftigen. Aber auf dem Spektrum zwischen Biografie und aggre- gierter Statistik existiert eine zu erforschende Grauzone: ein Bereich, dem die prin- zipielle Vorstellung zugrunde liegt, dass Menschen ihre Identität im Laufe der Zeit bewahren, wo das Leben eines Individuums sein wichtigstes Vorhaben ist und wo das Verhalten der großen Masse diesen Tatsachen nicht entkommen kann. Aus dem Interesse am Individuum folgt, dass wir besser verstehen müssen, was es für einen Ort bedeutet, nicht bloß räumliche, sondern auch zeitliche Koor- dinaten zu besitzen. Solange das Hauptaugenmerk einer Standortanalyse auf dem Warenumschlag liegt, mag es sinnvoll sein, die Zeit zu eliminieren, indem man sie in Transport- und Lagerkosten verbirgt. Aber es ist kaum sinnvoll, so zu verfahren, 6 Isard/Reiner: »Regional Science«. NAVIGATIONEN 222 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? wenn der Faktor Mensch ins Spiel kommt. Wenn in einem allgemeinen Gleichge- wichtsmodell beispielsweise vorausgesetzt wird, dass jedes Individuum eine Viel- zahl von Rollen spielt, so wird gleichzeitig implizit zugegeben, dass die Lage im Raum im Grunde nicht vom Fluss der Zeit trennbar ist. Natürlich spielt ein Indivi- duum mitunter verschiedene Rollen im gleichen Augenblick, aber in den meisten Fällen schließen diese Rollen einander aus. Sie müssen innerhalb einer bestimmten Dauer, zu bestimmten Zeitpunkten und an bestimmten Orten, mit bestimmten Gruppen anderer Individuen und Ausrüstungsgegenständen ausgeübt werden – und sie müssen in nicht austauschbaren Folgen aneinandergereiht werden. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass die Zeit dem Einzelnen kein Entkommen lässt: Er kann nicht für einen späteren Einsatz eingelagert werden, ohne dass Prob- leme für ihn selbst oder die Gesellschaft entstehen. Solange ein Individuum lebt, muss es jeden Punkt der Zeitskala passieren. Nicht jeder Punkt im Raum verlangt dasselbe von ihm; er muss sich nur irgendwo in einer Umgebung aufhalten, die zumindest die Minimalbedingungen für sein Überleben gewährleistet. Aber dieses ›irgendwo‹ ist immer maßgeblich mit dem ›irgendwo‹ des Augenblicks zuvor ver- bunden. Sprünge einer Nicht-Existenz sind nicht zulässig. Zu argumentieren, dass die Zeit ebenso berücksichtigt werden müsse wie der Raum, bedeutet nicht not- wendigerweise, dass die Erforschung von Veränderung und Entwicklungstenden- zen Vorrang vor der Untersuchung von Gleichgewichten und Dauerzuständen ha- ben solle.7 Es bedeutet in erster Linie, dass die Zeit von entscheidender Bedeutung ist, wenn es darum geht, Menschen und Dinge für das Funktionieren in sozioöko- nomischen Systemen zusammenzubringen – unabhängig davon, ob diese einem langfristigen Wandel unterworfen sind oder in etwas verharren, das als Dauerzu- stand beschrieben werden könnte. Was ich mir vorstelle, ist die Einführung eines Zeit-Raum-Konzepts, das uns dabei helfen könnte, eine Art sozioökonomisches Netzmodell zu entwickeln. An das Modell ließe sich die Frage richten, welche For- men von Netzmustern realisierbar sind, wenn die Fäden des Netzes (d.h. die Indi- viduen) nicht über ein vereinbartes Maß an ›Lebensqualität‹ hinaus strapaziert wer- den dürfen. Und wenn ich von einem Netzmodell spreche, ist das nicht bloß ein metaphorischer Ausdruck, sondern soll darauf hindeuten, welche Art von Mathe- matik für seine Umsetzung benötigt würde. Lassen Sie mich diese Ideen auf eine zwanglose Art und Weise und in wohl unausgereifter Manier veranschaulichen. Ich werde mich nicht mit einer Forschungsmethode befassen, sondern betone viel- mehr einen Standpunkt, indem ich die Konturen eines Modells andeute, das derzeit untersucht wird. Sie werden sehen, dass verschiedene altbekannte Konzepte dabei mit neuen Aufschriften versehen und in neuen Kombinationen arrangiert werden können. Im Zeit-Raum beschreibt das Individuum einen Pfad, der mit dem Punkt der Geburt beginnt und am Punkt des Todes endet. (Unbelebte Dinge folgen ebenfalls Zeit-Raum-Pfaden, deren Charakteristik hier ausgeklammert wird, obwohl sie für 7 Stewart: »Discussion: Population Projection«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 223 TORSTEN HÄGERSTRAND das vollständige Netzmodell ebenfalls benötigt werden.) Das Konzept des Lebens- pfades (oder von Teilen davon, wie etwa dem Tagespfad, Wochenpfad etc.) kann grafisch leicht dargestellt werden, wenn wir uns darauf einigen, den dreidimensio- nalen Raum auf eine zweidimensionale Fläche oder sogar eine eindimensionale Insel zu reduzieren und die Senkrechte für die Repräsentation der Zeit zu verwenden. In einem Garten Eden, in dem das Leben so unterhaltsam ist, dass wir nicht einmal das Bedürfnis nach regelmäßiger Ruhe verspüren, mit einem durchgängig angeneh- men Klima, allgegenwärtigen, von selbst nachwachsenden Früchten und keinerlei sozialen Verpflichtungen, könnte dieser Pfad einen wahrhaft zeit-räumlichen Zu- fallsweg beschreiben. In einer eher irdischeren Umgebung kann das nicht so sein, auch wenn einige Aussteiger:innen uns etwas anderes glauben machen wollen. Un- ter der Annahme, dass das weitere Überleben die erste Priorität derjenigen ist, die sich bereits auf ihrem Lebenspfad befinden, muss also eine Art Anti-Zufallspro- grammierung stattfinden. Als Robinson Crusoe sich allein auf seiner Insel wiederfand, konnte er sich sei- nen Programmplan ohne Rücksicht auf ein bereits existierendes sozioökonomi- sches System ausgestalten. Er hatte die natürlichen Ressourcen zur freien Verfü- gung und konnte diese im Rahmen einer spezifischen Menge biologischer und technischer Randbedingungen weiterentwickeln. Ein Individuum, das in eine beste- hende Gesellschaft einwandert – sei es durch Geburt oder Zuzug –, befindet sich in einer völlig anderen Lage. Es wird unverzüglich feststellen, dass die Menge po- tenziell möglicher Handlungen durch die Gegenwart anderer Menschen sowie durch einen Irrgarten kultureller und rechtlicher Regeln massiv eingeschränkt ist. Auf diese Weise werden die Lebenswege in einem Netz von Zwängen gefangen, von denen einige durch physiologische und physische Notwendigkeiten auferlegt werden, andere durch private oder gemeinschaftliche Entscheidungen. Durch die Gesellschaft können zudem Einschränkungen verhängt werden, die sich gegen den Willen des Einzelnen richten.8 Ein Individuum kann sich von diesen Zwängen nie- mals befreien. In einer bedrängenden Lage auszuwandern, bedeutet, ein bekanntes Muster von Einschränkungen durch ein weitgehend unbekanntes zu ersetzen. Und da er ein zukunftsorientiertes Tier ist, versucht der Mensch wahrscheinlich nicht nur die derzeitige Situation, sondern auch die voraussichtliche Situation in Bezug zu seiner Lebensperspektive und die seiner Familienangehörigen zu setzen. Mir fallen verschiedene Möglichkeiten ein, das sozioökonomische Netz zu un- tersuchen. Eine besteht darin, stichprobenartig Lebenswege zu erfassen. Biolog:in- nen empfanden dies vor langer Zeit als zweckdienlich, während sie das weltweite System der Vogelberingung entwickelten. In Staaten mit einem ständig aktualisier- ten Melderegister wäre es (nach der Computerisierung) möglich, Wege zwischen Wohnungen in großem Maßstab abzufragen. Es sind bereits einige Experimente in 8 Vining: »An Outline of a Stochastic Model«. NAVIGATIONEN 224 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? diese Richtung durchgeführt worden.9 Aber es wäre schwierig, tief genug zu gra- ben, um die wirklich entscheidenden Ereignisse aufzudecken. In ähnlicher Weise ließen sich die Kurzzeitpfade, d.h. Tage und Wochen, durch Beobachtung oder eine Tagebuchmethode erfassen. In beiden Fällen riskiert man jedoch, sich in einer Be- schreibung dessen zu verlieren, wie sich das Massenverhalten als Summe tatsächli- chen individuellen Verhaltens entwickelt, ohne dabei zu den wesentlichen Hinwei- sen auf die Funktionsweise des gesamten Systems vorzustoßen. Mir scheint der Versuch vielversprechender, jene Zeit-Raum-Mechaniken der Einschränkungen zu bestimmen, die festlegen, wie Pfade kanalisiert oder blockiert werden. Einige Au- toren glauben, dass diese Beschäftigung mit negativen Determinanten möglicher- weise die sicherste Art der Sozialwissenschaft sei. Daher werde ich auf den folgen- den Seiten den Gegenstand ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Einschränkungen betrachten. Auch wenn viele Einschränkungen als allgemeine und abstrakte Verhaltensre- geln formuliert sind, können wir ihnen eine ›physische‹ Form im Sinne einer Lage im Raum, einer räumlichen Ausdehnung und einer zeitlichen Dauer geben. Selbst eine allgemeingültige Regel wie »Du sollst nicht töten« bedeutet, dass eine Menge von Pfadkonfigurationen nicht erlaubt ist – außer im Krieg und im Verkehr. Es wäre schier unmöglich, eine umfassende Klassifizierung von Einschränkungen – verstan- den als Zeit-Raum-Phänomene – zu erstellen, jedoch drängen sich drei große Grup- pen von Beschränkungen unmittelbar auf. Die erste ließe sich vorläufig als ›Fähig- keitsbeschränkungen‹ beschreiben, die zweite als ›Kopplungsbeschränkungen‹ und die dritte als ›Autoritätsbeschränkungen‹. ›Fähigkeitsbeschränkungen‹ sind diejenigen, die die Aktivitäten des Individu- ums aufgrund seiner biologischen Konstitution und/oder der zur Verfügung stehen- den Werkzeuge beschränken. Manche Einschränkungen haben eine vorwiegend zeitliche Ausrichtung und zwei Umstände sind in diesem Zusammenhang von über- wältigender Bedeutung: die Notwendigkeit, in regelmäßigen Abständen eine Min- destanzahl von Stunden zu schlafen und die Notwendigkeit, in ebenfalls vergleichs- weise regelmäßigen Abständen zu essen. Beide Bedürfnisse legen die Grenzen fest, innerhalb derer andere Aktivitäten als ununterbrochene Operationen stattfinden können. Andere Einschränkungen sind überwiegend entfernungsorientiert und er- möglichen es infolgedessen, die Zeit-Raum-Umgebung eines Individuums in eine Reihe ›konzentrischer‹ Röhren oder Ringe der Erreichbarkeit aufzuteilen, deren Radien von seiner Bewegungs- oder Kommunikationsfähigkeit abhängen und von den Bedingungen, die es an einen Rastort binden. Die innere Röhre bzw. der innere Ring deckt jenen kleinen Raumbereich ab, den ein Individuum mit seinen Armen von einer festen Position aus erreichen kann, etwa von seinem Platz an einer Ma- schine oder einem Schreibtisch. Dieser Bereich folgt ihm wie ein Schatten, wenn sich das Individuum bewegt. Zwei solche Röhren können niemals vollständig zur Koinzidenz gebracht werden, auch wenn sie bei der Fortpflanzung, beim Stillen, 9 Jakobsson: »Omflyttingen i Sverige 1950-1960«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 225 TORSTEN HÄGERSTRAND sowie bei einigen Formen von Spiel und Kampf annähernd übereinstimmen müs- sen. Hilfsmittel können diese Röhre erweitern, aber üblicherweise nur minimal; Nahrung muss auf irgendeinem Weg in regelmäßigen Abständen in die Röhre ge- bracht werden. Die zweite Röhre ist durch die Reichweite von Stimme und Auge als kombi- nierte Kommunikationsmittel definiert. Dieser Bereich lässt sich nicht trennscharf abgrenzen, aber es ist klar, dass seine praktische Größe zwischen einem normalen Wohnzimmer und einer Versammlungshalle bzw. ihrem Gegenstück im Freien, der Agora der griechischen Stadt, variiert. Historisch betrachtet hatte diese apparate- lose Röhre eine enorme Bedeutung für die jeweiligen Formen der sozialen, politi- schen, militärischen und industriellen Organisation. Erst mit der Einführung des Lautsprechers wurden große politische Kundgebungen im Freien durchführbar. Ich bin mir sicher, dass wir noch weit davon entfernt sind, die lokativen Konsequenzen der nächsten Reichweitenerhöhung dieser Röhre (d.h. Telekommunikation) zu ver- stehen, die diese einst so enge räumliche Begrenzung völlig aufgebrochen hat. Man hört die unterschiedlichsten Meinungen über die zukünftigen Möglichkeiten, per- sönliche Treffen an einem Tisch durch Fernsehbildschirme zu ersetzen. Die Zahl an Reisen, die Funktionsträger:innen heutzutage unternehmen, deutet darauf hin, dass ein Durchbruch in Bezug auf diese neuen Verhaltensmuster weiterhin auf sich warten lässt. Diese beiden Arten von Zeit-Raum-Abteilen wurden in geringem Maße bereits systematisch von Biolog:innen, Psycholog:innen und Soziolog:innen untersucht. In erster Linie sind sie jedoch Gegenstand des angewandten Interesses von Architekt:innen, Ingenieur:innen und Arbeitsökonom:innen geblieben. Die nächste Röhre innerhalb der Hierarchie führt uns direkt in das Feld der Regionalwissenschaft. Menschen benötigen eine Art Heimatbasis, wenn auch nur vorübergehend, in der sie sich in regelmäßigen Abständen ausruhen, persönliche Gegenstände aufbewahren und für den Empfang von Nachrichten erreichbar sein können. Sobald ein solcher Ort erst einmal eingeführt ist, kommt man nicht umhin, darüber nachzudenken, wie sich die Zeit mit dem Raum in einem unteilbaren Zeit- Raum vermischt. Angenommen, jede Person benötigt eine regelmäßige Mindestan- zahl von Stunden pro Tag, um zu schlafen und ihren Geschäften in der Heimatbasis nachzugehen. Entfernt sie sich, so gibt es eine eindeutige Grenzlinie, die sie nicht überschreiten darf, wenn sie vor Ablauf einer Frist zurückkehren muss. Daher muss jeder in seinem täglichen Leben räumlich auf einer Insel existieren. Selbstverständ- lich hängt die tatsächliche Größe der Insel von den verfügbaren Transportmitteln ab, aber das ändert nichts am Prinzip. Verbesserungen in der Verkehrstechnik haben die Größe der Insel im Laufe der Jahrhunderte beträchtlich erweitert. Der Reichweitenunterscheid zwischen ei- nem Fußgänger und einem Autofahrer ist enorm. Für den Flugreisenden zerfällt die Einheit in einen Archipel kleinerer Inseln rund um die in Reichweite befindlichen Flughäfen. In der Luft ist er in einer schmalen Zeit-Raum-Röhre ohne Öffnungen gefangen und existiert daher im Grunde nicht an den geografischen Orten, über die NAVIGATIONEN 226 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? er hinwegfliegt. Während der Ära primitiverer Verkehrstechnologien war die Be- völkerung in Bezug auf die tägliche Reichweite nahezu homogen. Heute können die Unterschiede zwischen Gruppen innerhalb desselben Gebiets sowie die Unter- schiede zwischen Gebieten beträchtlich sein. An den meisten Tagen ist die tatsäch- liche Größe der Insel eines Individuums viel kleiner als die potentielle Größe, die durch seine Bewegungsfähigkeit begrenzt wird. Zu den Zwecken der Bewegung weg von der Heimatbasis gehören der Gang zur Arbeit, das Sammeln von Waren, das Treffen anderer Menschen etc. Sehen wir uns den erreichbaren Zeit-Raum- Bereich genauer an, so stellt sich heraus, dass es sich nicht um einen Zylinder, son- dern um ein Prisma handelt. Es hat nicht nur eine geographische Grenze; es hat Zeit-Raum-Wände an allen Seiten (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Tagesprismen. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 227 TORSTEN HÄGERSTRAND Je nachdem, wo die Aufenthalte sich befinden und wie lange sie fortwähren, können sich die Wände des Prismas von Tag zu Tag ändern. Es ist jedoch unmöglich, dass das Individuum außerhalb dieser Wände auftaucht. Jeder Aufenthalt an einem Hal- tepunkt bedeutet, dass das verbleibende Prisma in einem bestimmten Verhältnis zur Verweildauer schrumpft. Ein achtstündiger Aufenthalt an einem Arbeitsplatz kann dazu führen, dass das verbleibende Prisma vollständig verschwindet, wenn dieser Haltepunkt in maximaler Entfernung von der Heimatbasis liegt. Ein ziemlich normaler Umstand für einen Wochentag in einer westlichen Gesellschaft wäre ei- ner, in dem das verbleibende Prisma in drei Teile zerfällt: einen morgens vor der Arbeit, einen in der Mittagspause und einen am Abend nach der Arbeit. Unabhängig von der Lage und Länge der Aufenthalte innerhalb des Tagesprismas wird der Pfad eines Individuums immer eine ununterbrochene Linie ohne Rückwärtsschleifen in- nerhalb des Prismas bilden. Es kann keinen Punkt innerhalb des Zeit-Raums mehr als einmal passieren, sondern muss sich stets an irgendeinem Punkt befinden. Im Laufe seines Lebens lenkt es seinen Pfad durch eine Reihe von Tagesprismen, deren Radius während der früheren Lebensjahre wächst und im fortgeschrittenen Alter schrumpft. Das Leben wird zu einer astronomisch großen Reihe kleiner Ereignisse, von denen die meisten gewohnheitsmäßig ablaufen und nur einige entscheidende Wegpunkte darstellen. Abb. 2: Bündelung mehrerer Pfade. Der Pfad innerhalb des Tagesprismas wird in ausgeprägtem Maße von ›Kopplungs- beschränkungen‹ bestimmt. Diese legen fest, wo, wann und für wie lange das Indi- viduum sich anderen Individuen, Werkzeugen und Materialien anschließen muss, um zu produzieren, zu konsumieren und Geschäfte zu tätigen. Natürlich sind hier die Uhr und der Kalender die obersten Anti-Unordnungs-Mittel. Eine Gruppierung NAVIGATIONEN 228 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? mehrerer Pfade können wir als ›Bündel‹ bezeichnen (vgl. Abb. 2). In der Fabrik bilden Menschen, Maschinen und Materialien Bündel, durch welche Einzelteile ver- bunden und getrennt werden. Im Büro verbinden und trennen ähnliche Bündel In- formationen und leiten Nachrichten weiter. Im Geschäft bilden Verkäufer und Kunde ein Bündel zum Warentransfer und im Klassenraum bilden Schüler und Leh- rer ein Bündel, um Informationen und Ideen zu übertragen. Bündel werden also gemäß verschiedenen Prinzipien gebildet. Viele folgen vorgegebenen Zeitplänen, häufig den gleichen, und das Wochentag für Wochentag. Dieses Prinzip, das sowohl in der Fabrik als auch der Schule besteht, wirkt gemeinhin über den Kopf des be- teiligten Individuums hinweg. Dessen Freiheit liegt in der Wahl der Arbeit oder des Arbeitsplatzes. Danach muss es der Choreografie ihres Vorgesetzten gehorchen, solange es diese vertragliche Vereinbarung aufrechterhalten möchte. Das Schulkind hat jedoch in der Regel nicht die freie Wahl. Und immer müssen sich Familien ver- pflichtenden Stundenplänen anpassen. Geschäfte, Banken, Ärzte und Friseure können innerhalb der Geschäftszeiten frei nach Belieben in Anspruch genommen werden. Viele Tätigkeiten, insbesondere jene in leitenden Positionen von Firmen und Organisationen, erfordern es, dass im Vorfeld nach einer Art Trial-and-Error-Prinzip Bündel gebildet und örtlich fixiert werden. Heutzutage verbringt ein Heer von Verwaltungsangestellten und Sekrä- ter:innen seine Arbeitszeit damit, andere Menschen für zukünftige Besprechungen zusammenzubringen. Je mehr Möglichkeiten der Teilhabe in Mode kommen, desto stärker wird dieser Geschäftsbereich expandieren. Die Tatsache, dass Termine im- mer weiter in die Zukunft rücken, weist auf eine zunehmende Belastung hin. Ein Mensch, der sich einen großen Handlungsspielraum erhalten möchte, muss seine Zeitplanung auf die kommenden 12 bis 18 Monate ausdehnen. Während der nach Abzug der äußeren Ansprüche und der damit verbundenen Reisenotwendigkeiten übrigbleibenden Zeit, sind die mit Familienmitgliedern und Freunden gebildeten Bündel Gegenstand der privaten Organisation. Private Organisation bedeutet je- doch nicht, dass die Bündel völlig außerhalb der allgemeinen sozialen und rechtli- chen Kontrolle liegen. Bündel neigen dazu, eng miteinander verflochten zu sein, da Individuen, Mate- rialien und Informationen auf eine geordnete Art und Weise zwischen ihnen ver- kehren müssen. (Die Grundlagen der dichtesten Packung wären im Kontext der Netzplantechnik ein interessanter Forschungsbereich.) Ein an seine Heimatbasis gebundenes Individuum kann nur an Bündeln teilnehmen, deren beide Enden sich innerhalb seines Tagesprismas befinden und die so im Raum liegen, dass es Zeit hat, sich vom Ende des einen Bündels zum Anfang des nächsten zu bewegen. So kann beispielsweise ein Patient, dessen Arbeitszeit sich mit der Sprechstunde seines Arz- tes überschneidet, letzteren nicht aufsuchen, ohne vorher bei seinem Arbeitgeber eine entsprechende Erlaubnis einzuholen, bei der Arbeit zu fehlen. Es ist auch klar, dass eine Automobilbesitzer:in aufgrund des freien Zugriffs auf ihr Verkehrsmittel eine wesentlich größere Freiheit besitzt, weiter voneinander entfernte Bündel zu NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 229 TORSTEN HÄGERSTRAND kombinieren als eine Person, die zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln rei- sen muss. Der Unterschied betrifft weniger die Frage nach der Geschwindigkeit als vielmehr des Zeitverlusts an Endstationen und Knotenpunkten (vgl. Abb. 3). Eine weitere Art von Bündel verdient einige beiläufige Kommentare. Telekom- munikation ermöglicht es Menschen, (beinahe) ohne Zeitverluste durch Reisen an Bündeln teilzunehmen. Radio und Fernsehen sind in diesem Zusammenhang in ers- ter Linie von Interesse, da sie Zeit von anderen Aktivitäten abziehen. Jeder und jede kann sich nach Belieben in das Bündel ein- oder ausschalten. Dem Telefon kommt jedoch aus der Perspektive gesellschaftlicher Organisation eine große Bedeutung zu. Es ist wahr, dass ein Anruf, insbesondere wenn es um die Vereinbarung zukünf- tiger Treffen geht, viel Zeit sparen kann. Gleichzeitig ist das Telefon aber auch ein hervorragendes Instrument, um andere Aktivitäten zu unterbrechen. Das Gesamt- ergebnis ist in manchen Fällen also fraglich. Vor diesem Hintergrund erscheint die Teilnahme an einem weltweiten Telefonnetz als zweifelhaftes Vergnügen, verges- sen doch viele Menschen allzu oft die unterschiedlichen Lokalzeiten rund um den Erdball. Die dritte Familie von Einschränkungen, auf die ich eingehen möchte, bezieht sich auf die zeit-räumlichen Aspekte von Autorität. Die Welt ist mit Einrichtungen gefüllt, die wir ›Herrschaftsbereiche‹ oder ›Domänen‹ nennen können. Diese Be- griffe sind im Wesentlichen räumlich. Ich möchte jedoch vorschlagen, den Domä- nenbegriff so zu definieren, dass er eine zeit-räumliche Einheit meint, innerhalb de- rer Dinge und Ereignisse unter der Kontrolle eines bestimmten Individuums oder einer Gruppe von Individuen stehen. Aus Perspektive der Herrschenden scheint der Zweck von Domänen (es handelt sich bei diesen um nahezu natürliche Phäno- mene, denn viele Tiere besitzen ebenfalls Domänen) darin zu bestehen, natürliche und künstliche Ressourcen zu schützen, die Populationsdichte zu beschränken und Behälter zu bilden, innerhalb derer eine effiziente Anordnung von Bündeln gewahrt bleibt. Im Zeit-Raum erscheinen Domänen als Zylinder, deren Inneres entweder überhaupt nicht oder nur auf Einladung hin oder lediglich nach einer Art von Zah- lung, Zeremonie oder Kampf zugänglich ist. Einige kleinere Domänen sind nur durch unmittelbare Macht oder Traditionen geschützt, etwa ein Lieblingsstuhl, eine Sandhöhle am Strand oder ein Platz in einer Warteschlange. Andere, von unter- schiedlicher Größe, haben einen starken rechtlichen Status: das Haus, das Grund- eigentum, das Firmengelände eines Betriebs oder Instituts, die Gemeinde, der Landkreis, das Bundesland und der Staat. Viele von ihnen sind von langer, nahezu permanenter Dauer, wie Staaten, britische Universitäten und japanische Unterneh- men. Andere sind nur temporär wie ein Platz im Theater oder eine Telefonzelle am Straßenrand. Folglich existiert eine Hierarchie von Domänen (vgl. Abb. 4) und aus manchen gibt es kein Entkommen. Diejenigen, die Zugang zu Macht in einer übergeordneten Domäne haben, verwenden diese häufig, um die Menge an Handlungen zu be- schränken, die innerhalb untergeordneter Domänen zulässig sind. Manchmal kön- NAVIGATIONEN 230 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? nen sie untergeordnete Domänen auch dazu verpflichten, Einschränkungen zu be- seitigen oder gewisse Aktivitäten gegen ihren Willen zu ermöglichen. Entschei- dungsträger:innen in Domänen auf gleicher oder nahezu gleicher Ebene können sich nicht gegenseitig Befehle erteilen. Sie müssen sich durch Handel, Verhandlun- gen oder (in brachialen Fällen) durch Invasion und Kriegsführung beeinflussen. Zu- gang zur Macht innerhalb einer Domäne zu erhalten, ist ein Problem, dass auf ver- schiedene Arten gelöst werden kann, von denen nur einige im herkömmlichen Sinne als wirtschaftlich zu bezeichnen sind. Abb. 3: Wechselwirkung von Beschränkungen. Die drei Gruppierungen von Einschränkungen (d.h. Fähigkeit, Kopplung, Autorität) interagieren auf vielfältige Weise; direkt und offensichtlich, aber auch auf weniger leicht wahrnehmbare Art (vgl. Abb. 4). Lassen Sie mich zur Veranschaulichung ei- nige Fälle diskutieren. Es ist offensichtlich, dass ein Beruf mit niedrigem Einkommen im Vergleich zu einem Beruf mit höherem Einkommen Zugang zu weniger oder untergeordneten Domänen bietet. Das Unvermögen, eine Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes zu mieten, mag zunächst unmittelbar zu langen Pendelzeiten führen, kann aber auch weniger offensichtliche Auswirkungen wie Eingriffe in die für andere Aktivitäten zur Verfügung stehende Zeit, nach sich ziehen. Es kann durchaus sein, dass die geringe Teilnahme an kulturellen Aktivitäten seitens weiter Teile der Bevölkerung weniger mit mangelndem Interesse zu tun hat als vielmehr mit den einander ausschließenden zeit-räumlichen Orten des Arbeitens, Wohnens und der kulturellen Aktivitäten. Selbst in Ländern, in denen die medizinische Ver- sorgung kostenlos ist, erhält eine beträchtliche Anzahl von Menschen nicht den ihnen zugedachten Anteil. Die Gründe dafür könnten ähnlich gelagert sein. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 231 TORSTEN HÄGERSTRAND Abb. 4: Hierarchie von Domänen. Von besonderem Interesse im Hinblick auf komplexe Interaktionen sind die abhän- gigen Mitglieder von Familien. Sofern ein Elternteil nicht einen Großteil des Tages darauf verwendet, es von Ort zu Ort zu bringen, hat das Kind ein kleines Ta- gesprisma. Das bedeutet, dass Umfang und Qualität der lokalen Ausbildungsein- richtungen und alle Arten von sozialen Kontakten in der Nachbarschaft langfristige Auswirkungen auf die Lebenspfade haben, da sowohl die Ausbildung als auch freundschaftliche Beziehungen als Schlüssel wirken, mit denen im weiteren Verlauf des Lebens die Tore zu gewissen Domänen geöffnet oder geschlossen werden kön- nen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wirkt sich die Art und Weise, wie die Dinge für das Kind geregelt werden, auch auf die räumliche Struktur der Bevölkerungszusam- mensetzung und des Arbeitsmarktes aus. Anderson, der über die Lage von Wohn- vierteln schreibt, weist darauf hin, dass »viele größere Familien, die jetzt in der Vor- stadt leben, an zentralere Orte ziehen könnten, wenn zufriedenstellendere Vorkehrungen für die Versorgung der Kinder berufstätiger Mütter getroffen wür- den.«10 Bedeutsam für interregionale Beziehungen sind das Entstehen und der Wegfall von Arbeitsplätzen im Verhältnis zu den Auswirkungen des Lebenspfadsystems auf die Prismenentfernung. Wie Self festgestellt hat, ist es zunächst »[…] falsch, über regionale Gleichgewichte allein im Sinne der Zahl von Arbeitsplätzen zu sprechen, wo doch ein besserer Anhaltspunkt die Bandbreite an Arbeitsplätzen ist…«11 Wenn das Ausbildungsangebot und das Spektrum der Arbeitsplätze unter einem zeitlichen Betrachtungswinkel nicht zusammenpassen, ergibt sich also unweigerlich die Not- wendigkeit der Migration. Selbstverständlich ist Migration nicht zwingend eine schlechte Sache, es sei denn, sie beeinträchtigt den Lebensstandard in den Aus- und/oder Einreisegebieten. Der Zeitablauf einander ergänzender Ereignisse spielt 10 Anderson: »Social and Economic Factors«. 11 Self: »Regions: The Missing Link«. NAVIGATIONEN 232 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? hier ebenfalls eine Rolle. Es lassen sich Fälle finden, bei denen es zu starker Abwan- derung kommt, obwohl es über das Jahr hinweg ein Gleichgewicht zwischen den verfügbaren neuen Arbeitsplätzen einerseits und der Nachfrage nach Arbeitsplät- zen andererseits gibt. Arbeitsmöglichkeiten können sich auch zu anderen Zeiten des Jahres ergeben als genau dann, wenn eine Gruppe ungeduldiger junger Men- schen die Schule abschließt und nach Arbeit sucht. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch im Hinblick auf Wohnungen machen. Der Einfluss von Migration ist nicht auf die Umziehenden und ihre Angehörigen beschränkt: es gibt auch Auswirkungen auf die sie umgebende Situation. Ein Auswanderer löst ein etabliertes Netzwerk ein Stück weit auf und entfernt eine gewisse Menge an Fähigkeiten, Informationen und Kaufkraft. Das bedeutet nicht, dass die Situation durch Migration immer ver- schlimmert wird. Sie kann die Situation verbessern, etwa im Falle der verbleiben- den Population eines vormals überfüllten ländlichen Gebiets, die nun zusätzliche Ellenbogenfreiheit genießt. Darüber hinaus kann der Zuwanderer positive oder ne- gative externe Effekte verursachen. Es gibt sicherlich Fälle, in denen Migration For- men annehmen kann, die Gemeinschaften durcheinanderbringen. Ich nehme an, dass wir sehr wenig über das günstigste Verhältnis zwischen dem beständigen und dem beweglichen Teil einer Population wissen. Eine Gesellschaft besteht nicht aus einer Gruppe von Menschen, die eine Wo- che im Voraus gemeinsam entscheidet, was zu tun ist. Sie besteht in erster Linie aus hochgradig institutionalisierten Macht- und Handlungssystemen. Ein Großteil der Domänen und der in ihnen enthaltenen Bündel besitzen eine Position im Raum, eine Dauer in der Zeit und eine Zusammensetzung, die bewusst oder gewohnheits- mäßig vorgegebenen Organisationsprogrammen folgt, die ohne besondere Rück- sicht auf die Individuen etabliert werden, die zufällig in diese Systeme eintreten und die notwendigen Rollen für Teile ihrer Lebenspfade spielen. Ein Unternehmen, eine Universität und eine Regierungsbehörde sind gemäß einer Ordnung strukturiert, die selbst dann als zeit-räumliches Muster existiert, wenn keine Menschen dort sind. Gleiches gilt für die Vielzahl von Barrieren und Kanälen, die durch die Gesetz- gebung, Verwaltung (z.B. Besteuerung), Berufseintritte, Höchstgeschwindigkeiten auf Straßen oder Bauvorschriften entstehen. Insgesamt ist dies aus Sicht des Einzel- nen ein enormes Labyrinth, gegen das er oder sie wenig unternehmen kann. Na- türlich gibt es innerhalb des Systems eine langsame Antwort auf die Reaktionen der Menschen und das bedeutet, dass sich der Satz an Domänen und Bündeln über lange Zeiträume hinweg verändert. Man könnte vielleicht sagen, dass Technologie, die die Fähigkeitsbeschränkungen verändert, die treibende Kraft ist. Domänen und Bündel verändern so ihre Position im Zeit-Raum. Neue Einheiten werden geboren, bestehende gewinnen an Größe, schwinden dahin oder sterben. Da jedoch so viele Domänen einen starken rechtlichen Status und folglich eine lange Lebensspanne haben (wie beispielsweise Grundbesitz oder Gemeindegrenzen) und die üblicher- weise hohe Nutzungsdauer von Gebäuden eine starke Einschränkung darstellt, er- scheinen Reaktionen (aus Perspektive des gesamten Systems) als lokal begrenzt und NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 233 TORSTEN HÄGERSTRAND nicht besonders zielgerichtet. Es genügt festzustellen, dass die lokalen Verwaltungs- einheiten trotz der durch ein verbessertes Verkehrswesen ermöglichten Reichwei- ten ihre mittelalterlichen Größenordnungen mehr oder weniger beibehalten ha- ben. Im politischen Leben setzt sich so eine Bauernhof-Haltung gegenüber dem Domänenproblem fort, die in starkem Gegensatz zu der differenzierten Raumauf- fassung steht, die die Industrie tendenziell besitzt. Aus Zeit-Raum-Perspektive betrachtet, sehen wir somit das Zusammenspiel zweier unterschiedlicher Systeme. Das eine ist die vornehmlich zeitorientierte Kette individueller Lebenspfade, die die Bevölkerung eines Gebietes und die diese begleitenden Fähigkeitsbeschränkungen ausmachen. Das andere ist die eher raum- orientierte Menge an Beschränkungen durch Domänen und Bündel, auf die der Ein- zelne seinen Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zugreifen kann oder nicht. Die Bevölkerung bildet eine Art Verkehrsfluss innerhalb eines Straßennetzes mit üblicherweise rostigen Toren. Lose Enden von Lebenspfaden müssen entweder neue Wege und Domänen entdecken – vor Ort oder nach der Auswanderung in großzügigere Gebiete – oder sie verschwinden. Ich denke es ist richtig zu sagen, dass das System der Domänen in Bezug auf Waren- und Geldströme wesentlich besser verstanden wird als in Bezug auf Personenströme. Sozialwissenschaftler:in- nen wissen sehr wenig über die Wechselwirkungen von Beschränkungen, wie sie sich aus der Sicht des Lebenspfades eines Individuums darstellen. Im Großen und Ganzen werden Menschen als Teile von Handlungen betrachtet, die in jeder Do- mäne isoliert ausgeführt werden und nicht als Wesen, die sich die Bedeutung ihrer Pfade zwischen bzw. durch Domänen hindurch erklären müssen. Es mag durchaus sein, dass in dem Maße, in dem wir als Optimierer die Effizienz bei der Nutzung von Bündeln von Menschen, Maschinen, Materialien und Informationen innerhalb der Domänen schätzen, auch umso mehr lose Enden, die nicht mehr wissen, wie sie weitermachen sollen, innerhalb des Bevölkerungsstroms auftauchen. Bis an die Grenzen hochgerechnet, hat die Problematik der Lebenswege zwischen Domänen gewisse seltsame, sogar abstoßende Aspekte. Wenn die Herztransplantation zu ei- nem chirurgischen Standardeingriff wird, dann wird eine anhaltend hohe Unfallrate im Verkehr und in der Industrie notwendig sein, um das Gleichgewicht zu halten. Zum Konzept von Lebensqualität würden Menschen sehr unterschiedliche Meinungen äußern. Dennoch glaube ich nicht, dass es eine unmögliche Aufgabe wäre, eine weitestgehend konsensfähige Liste von Dingen zu erstellen, die für das Überleben, den Komfort und die Zufriedenheit von grundlegender Bedeutung sind. Das Individuum, das seinen Lebenspfad als einen 80-Jahres-Plan sähe, benötigte eine charakteristische Verteilung dieser Dinge entlang der Zeitachse. Eine Betrach- tung der einfachsten dieser Dinge zeigt, dass es je nach Fall notwendig oder wün- schenswert ist, Zugang zu Folgendem zu haben: durchgängig zu Luft und zu einer Wohnung, mehrmals am Tag zu Nahrung, zu einigen täglichen und wöchentlichen Freizeitaktivitäten, zu Spiel und Ausbildung in der Kindheit, zu Arbeitsplatzsicher- heit und weitergehender Bildung in unregelmäßigen Abständen während der Kar- riere, zu Unterstützung im Alter und jederzeit freier Zugang zu Verkehrsmitteln, NAVIGATIONEN 234 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? relevanten Informationen und medizinischer Versorgung. Zugang bedeutet jedoch wesentlich mehr als die simple Gegenüberstellung von Gütern und Regionen belie- biger Größe. Zugang bedingt eine zeit-räumliche Position, die es den Lebenspfaden erlaubt, die erforderlichen Umwege zu machen. Darüber hinaus umfasst er die Konstruktion physischer, rechtlicher, ökonomischer und politischer Barrieren, die dazu dienen, allen ihren vollen Anteil an den genannten fundamentalen Notwendig- keiten bereitzustellen. Die Untersuchung der Lebensqualität benötigte eine um- fangreiche politikwissenschaftliche Komponente; allerdings eine, die nicht zögert, sich auch mit den Mikromanifestationen der Macht zu befassen. In diesem letzteren Bereich gibt es direkte Verbindungen zwischen der Makro- und Mikroebene – Ver- bindungen, die in der Regionalwissenschaft bisher weitestgehend unerforscht ge- blieben sind. Wie ich bereits erwähnt habe, verwenden diejenigen, die in gewissen Domänen Zugang zu Macht haben, viel ihrer Energie innerhalb ihres Zuständig- keitsbereichs darauf, Handlungen in tieferliegenden Domänen Beschränkungen auf- zuerlegen (oder manchmal auch zu beseitigen). Zumindest solch höheren Kreise wie nationale, regionale und kommunale Regierungen und manchmal auch große Organisationen neigen dazu, dies auf formalistische Weise zu tun, ohne großes Ver- ständnis für die zeit-räumlichen Wechselwirkungen mit der betroffenen Bevölke- rung. Selbst die besten Absichten produzieren daher häufig fragwürdige Ergebnisse. Angesichts der Liste an Bedürfnissen und ihrer statistischen Lebensgeschichte wäre es die Aufgabe des Analytikers, herauszufinden, welche die Lebensqualität befördernden Dinge unter verschiedenen Grundannahmen bezüglich der techni- schen, ökonomischen und sozialen Organisation in welchem Umfang gleichzeitig erzielbar wären. Und da nach der Geburt jede:r sich an irgendeinem Ort befinden muss, sollte auch jede:r berücksichtigt werden: vom Kind bis zum Entrepreneur. Das bedeutet etwa, dass die Berechnung des Bedarfs an medizinischer Versorgung als eine Ableitung des Gesundheitszustandes der Gesamtbevölkerung zu sehen ist, und nicht als Funktion einer ermittelten Nachfrage. Ich spreche von einem Zeit- Raum-Netzmodell im Sinne eines Stroms von Lebenspfaden, die durch vorgege- bene Fähigkeiten gesteuert werden und sich durch ein System äußerer Einschrän- kungen bewegen, wobei diese zusammen Wahrscheinlichkeitsverteilungen für das Eintreten gewisser Situationen für das Individuum ergeben. Ein solches Modell sollte prinzipiell auf alle Aspekte der Biologie anwendbar sein, von Pflanzen über Tiere bis hin zum Menschen. Obwohl einige Tierarten Bauten aufrichten, Domänen verteidigen und eine soziale Hierarchie besitzen, ist es nur der Mensch, der in ho- hem Grad zwischen verschiedenen Einschränkungen wählen und – indem er die Anzahl seiner Nachkommen beschränkt – sogar die Größe des Bevölkerungs- stroms kontrollieren kann. Die Wahl der Einschränkungen war schon immer eine unsystematische Angelegenheit, eher ein natürlicher Prozess als ein planerischer Vorgang. Geschichte und Kulturanthropologie zeigen, dass es möglich ist, unter ei- ner enormen Vielfalt einschränkender Systeme zu leben, selbst wenn diese aus Sicht des individuellen Überlebens und Wohlergehens mit spezifischen Nachteilen einhergehen. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 235 TORSTEN HÄGERSTRAND Der eklatante Nachteil der so genannten entwickelten Industriegesellschaft war und ist vielleicht immer noch das Armutsproblem, d.h. die Tatsache, dass große Gruppen von Menschen weiterhin am Rande des Verhungerns oder zumindest un- terhalb dessen leben, was für Menschen mit einem Sinn für Gerechtigkeit ein ak- zeptabler Standard zu sein scheint. Systematische Untersuchungen der Armut, die in Großbritannien gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen, führten schließlich zur Idee des Wohlfahrtsstaates. Selbst die durchdachtesten Modelle des Wohl- fahrtsstaates sind – vermutlich aufgrund ihrer begrenzten ursprünglichen Zielset- zungen – nicht gut darauf vorbereitet, mit jenen neuen Formen von Armutsprob- lemen fertig zu werden, die dazu tendieren, alle zu betreffen: darunter fallen z.B. hässliche Landschaften, Einsamkeit bei gleichzeitiger Überbevölkerung, Entfrem- dung von essenziellen Entscheidungen in Arbeit und Gesellschaft etc. Es scheint, dass die Schwerpunkte unserer praktischen Probleme sich von der Verteilung des Geldes zur physischen Verteilung der Nutzung von Raum und Zeit verschieben. Neurath schlug vor einigen Jahrzehnten vor, dass wir Märkte und Finanzen und die gesamte Verrechnung des Geldes als eine Institution wie jede andere betrachten sollten – wie Bestattungsriten, Gold, Rudern oder Jagen. Geld als eine historisch gegebene Institution zu betrachten, beinhaltet keinen Einwand gegen seinen Gebrauch – ob- wohl solche Einwände bestehen können –, sondern einen Einwand ge- gen die Anwendung von Argumenten, die im Bereich der höheren Buchhaltung Gültigkeit besitzen, auf die Analyse sozialer Probleme und des menschlichen Glücks im Allgemeinen.12 Wenn wir uns nun das andere methodologische Extrem ansehen, also umherlaufen, um Menschen nach ihren Vorlieben und Abneigungen zu befragen, kommen wir auch nicht viel weiter. Zunächst einmal brauchen wir eine Methode, um die Funk- tionsweise großer sozio-umweltlicher Mechanismen ergründen zu können. Für mich ist klar, dass ein physikalischer Ansatz, der eine Untersuchung der Art und Weise beinhaltet, wie Ereignisse in einem zeit-räumlichen Rahmen ablaufen, in die- ser Hinsicht zu Ergebnissen führen muss. Um realistisch zu sein, müssten unsere Modelle der Tatsache Rechnung tragen, dass das Individuum unteilbar und seine Zeit begrenzt ist. Darüber hinaus müssten wir anerkennen, dass das Individuum in seinem Umgang mit dem Raum nicht nur die Entfernung berücksichtigt, sondern auch einen starken (und vielleicht logisch notwendigen) Drang besitzt, den Raum in klar abgrenzbare Gebiete zu gliedern. Ich habe bereits erwähnt, dass die Wahl der Beschränkungen immer ein Stück- werk gewesen ist. Selbst in theoretischen Studien haben Sozialwissenschaftler:in- nen dazu tendiert, die meisten von ihnen entsprechend den verfügbaren Erfahrun- gen für selbstverständlich zu halten. Mit einem geeigneten Verfahren zur 12 Neurath: »Foundations of the Social Sciences«. NAVIGATIONEN 236 NA VIG IEREN WAS IST MIT DEN MENSCHEN IN DER REGIONALWISSENSCHAFT? Gruppierung von Einschränkungen mittels zeit-räumlicher Begriffe, ließe sich viel- leicht darauf hoffen, ihre scheinbar enorme Vielfalt auf eine handhabbare Menge herunterzubrechen. Simulation kommt mir als eine Möglichkeit der Analyse in den Sinn, zumindest solange bis grundlegendere mathematische Werkzeuge verfügbar werden. Relativ genaue Simulationen sollten unsere Fähigkeit verbessern, ganze Systeme zu überblicken und dabei helfen, die beträchtliche Trial-and-Error-Kom- ponente im Anwendungsbereich zu reduzieren. Eine rein theoretische, ja sogar künstlerische Befriedigung der Regionalwissenschaftler:in bestünde dann in der Fä- higkeit, völlig fiktive Gesellschaften zu erfinden, die jedoch immer noch auf realisti- schen Grundprinzipien beruhten. Die technologischen Vorhersagen, die uns heut- zutage erbauen und oft – zumindest oberflächlich – so vielversprechend erscheinen, schreien geradezu nach Mitteln, um die Auswirkungen auf die soziale Organisation und damit die Auswirkungen auf einen gewöhnlichen Tag eines ge- wöhnlichen Menschen abzuschätzen. Übersetzt von Christoph Borbach und Max Kanderske. LITERATURVERZEICHNIS Anderson, Theodore R.: »Social and Economic Factors Affecting the Location of Residential Neighborhoods«, in: Papers and Proceedings of the Regional Sci- ence Association, Vol. 9, 1962, S. 161-170. Fox, Karl A./Kumar, T. Krishna: »The Functional Economic Area: Delineation and Implications for Economic Analysis and Policy«, in: Papers of the Regional Sci- ence Association, Vol. 15, 1965, S. 57-85. Harris, Britton: »The City of the Future: The Problem of Optimal Design«, in: Pa- pers of the Science Association, Vol. 19, 1967, S. 185-195. Isard, Walter/Reiner, Thomas A.: »Regional Science: Retrospect and Prospect«, in: Papers of the Regional Science Association, Vol. 16, 1966, S. 1-16. Jakobsson, A.: »Omflyttingen i Sverige 1950-1960«, in: Meddelanden från Lunds Universitets Geografiska Institution, Avhandlingar, 59, 1969. Lowry, Ira S.: »Comments on Britton Harris« [3], in: Papers of the Regional Science Association, Vol. 19, 1967, S. 197-198. Neurath, Otto: »Foundations of the Social Sciences«, in: International Encyclopedia of Unified Science, Vol. 2, No. 1, Chicago: University of Chicago Press, 1944. Self, P.: »Regions: The Missing Link«, in: Town and Country Planning, Vol. 36, 1968, S. 282-283. Stewart, J. Q.: »Discussion: Population Projection by Means of Income Potential Models«, in: Papers and Proceedings of the Regional Science Association, Vol. 4, 1958, S. 153-154. Ullman, E. L.: »The Nature of Cities Reconsidered«, in: Papers and Proceedings of the Regional Science Association, Vol. 9, 1962, S. 7-23. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 237 TORSTEN HÄGERSTRAND Vining, Rutledge: »An Outline of a Stochastic Model for the Study of the Spatial Structure and Development of a Human Population System«, in: Papers of the Regional Science Association, Vol. 13, 1964, S. 15-40. NAVIGATIONEN 238 NA VIG IEREN DIE DATALITÄT VON SITUATIONEN Zur Aktualität von Torsten Hägerstrand V O N T R I S T A N T H I E L M A N N Welche Bedeutung hat Torsten Hägerstrand für die digitale Geographie und die Theorie navigatorischer Praktiken? Sein 1969 gehaltener Vortrag »What about Pe- ople in Regional Science?« war nicht nur einflussreich für die Etablierung der Regi- onalwissenschaften als sozialtheoretisches Unterfangen,1 sondern auch für die Ent- wicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie in Verbindung zur Sozial- und Transportgeographie.2 Mit diesem Beitrag hat Hägerstrand eine eigenständige For- schungsagenda zur Untersuchung von Mensch-Umwelt-Interaktionen initiiert, die auch heute noch von Bedeutung ist.3 Für die Medienwissenschaft ist insbesondere sein diagrammatisches Verständ- nis räumlichen Handelns von Interesse, durch das ein medienpraxeologisches Ver- ständnis von Navigation etabliert wurde,4 welches sich prägend auf die theoreti- schen Ansätze zur Analyse räumlicher Daten ausgewirkt hat.5 Nach diesem Verständnis erscheint uns die »prozessuale Landschaft«6, die uns während der Be- wegung im Raum umgibt, dioramatisch – »als ein durchscheinendes Bild, vor dem der Alltag abläuft«7. In seinem Vortrag, der 1970 als Aufsatz erschien, wird erstmals die neue For- schungsrichtung der Zeitgeographie vorgestellt, welche die zeitliche Dimension räumlichen Alltagshandelns beschreibt. Zentral für diesen Ansatz ist die physische Mobilität, die jeweils durch Verkehrs- und Kommunikationsmittel begrenzt oder erweitert wird. Diese Mobilität – häufig als Physikalismus kritisiert – wird als Trajektorie beschrieben, durch die sich Lebenssituationen aneinanderreihen:8 »Im Zeit-Raum beschreibt das Individuum einen Pfad, der mit dem Punkt der Geburt 1 Vgl. Thrift: »Torsten Hägerstrand and Social Theory«. 2 »That is to say, its apparent physicalism helps animate and extend the ideas of actor-net- work theorists like Latour and Mol, into the kinds of questions that human – or more specifically in this case transport – geographers might want to ask about the world. It helps make social theoretical calls for recognising the concreteness of the material world analytically relevant.« (Latham: »Diagramming the Social«, S. 706.) 3 Vgl. Stenseke: »All-Ecology«. 4 Vgl. Latham: »Diagramming the Social«. 5 Vgl. McCann: »The Nordic Contribution to Regional Science«. 6 Sörlin: »Hägerstrand as Historian«. 7 Kramer: »›Alles hat seine Zeit‹«, S. 89f. 8 »The concept of path (or trajectory) was introduced in order to help us to appreciate the significance of continuity in the succession of situations.« (Hägerstrand: »Diorama, Path and Project«, S. 323.) NAVIGATIONEN N A VIG IEREN TRISTAN THIELMANN beginnt und am Punkt des Todes endet. (Unbelebte Dinge folgen ebenfalls Zeit- Raum-Pfaden […].)«9 Die Vorstellung eines Lebenspfads – dass alle »constituents of the environment as a path of becoming« zu verstehen sind –, hat der Anthropologe Tim Ingold später populär gemacht.10 Navigation – und das betrifft auch die Navigation in virtuellen Welten – zeugt demnach davon, dass wir nicht nur als »erdgebundene Wesen«11 an Orten leben, sondern dass sich das Leben entlang der Bewegung durch und um Orte, von Orten weg und zu Orten hin abspielt. In diesem Sinne zeichnet sich auch ein »Rastort«12 durch die bewegte körperliche Erfahrung einer »Bewanderung«13 aus, mittels deren sich die menschliche Existenz nicht als ortsgebunden, aber als ortsverbindend, als Leben nicht an Orten, sondern entlang von Pfaden entfaltet. Der Umherziehende ist demnach instanziiert in einer Welt von Wegen ohne festes Ziel. Diese situationsbezogene analytische Vorstellung einer Praxeologie der Navi- gation reüssiert gegenwärtig in den Science and Technology Studies wie auch in der Medienhistoriographie.14 Doch Hägerstrands Beitrag »What about People in Regional Science?« liefert nicht nur einen Beitrag für die Medien- und Raumforschung. Hägerstrand erlaubt uns, über das kulturhistorische Verständnis von Ingold hinaus, ein anthropologi- sches Verständnis von Daten zu entwickeln, bei dem jedes Individuum eine Daten- spur erzeugt. Je nachdem welche Skalierung man wählt, erstreckt sich dieser Da- tenpfad auf das gesamte Leben oder auch nur einen kurzen Moment. Dabei transagieren menschliche und nicht-menschliche Pfade, und es kann zu einer Bün- delung mehrerer Pfade kommen, wenn der Datenverlauf einer Softwareanwen- dung mit der Trajektorie der menschlichen Bewegung im Raum in einer wechsel- seitigen Beziehung steht, bspw. beim »Autonomen Fahren« oder der Nutzung eines Fitness-Trackers. Die Verflechtung mehrerer Pfade kann dabei als Indiz für Hand- lungsmacht und die Datenintensität einer Situation dienen. Die Idee der Prismen, die entlang einer Trajektorie unterschiedlich große Raum-Zeit-Wände einziehen und damit die Pfadmetaphorik erweitern, ist zwar noch stark von der Bedeutung optischer Medien und Sinne geprägt, die das jewei- lige Wahrnehmungs- und Handlungsfeld bestimmen – das Konzept lässt sich aller- dings nutzen, um ein qualitatives anthropozentriertes Datenverständnis zu begrün- den. Denn auch die Datenreichweite wird in jüngeren Jahren bedeutender und 9 Hägerstrand: »Was ist mit den Menschen in der Regionalwissenschaft« in diesem Band. 10 Ingold: »Being Alive«, S. 9. 11 Ebd., S. 146. 12 Hägerstrand: »Was ist mit den Menschen in der Regionalwissenschaft« in diesem Band. 13 Ingold: »Being Alive«, S. 148. Im Original ist hier von einer »perambulatory movement« die Rede. 14 Vgl. Singh et al.: »Getting ›There‹ from the Ever-Changing ›Here‹«; Thielmann: »Die be- wegte Mediengeschichte des Fotofahrtenführers«. NAVIGATIONEN 240 N A VIG IEREN DIE DATALITÄT VON SITUATIONEN weittragender empfunden als dies im Alter der Fall ist, bspw. wenn es um die Re- levanz sozialer Medien und Kontakte für die Adoleszenz geht. Auch bei der Analyse digitaler Spuren ist die Bezugnahme auf Hägerstrand da- her nach wie vor von Relevanz, wenn man die Navigation entlang bzw. quer durch digitale Datenfelder als Bewegung von einer Situation in die nächste begreift.15 Dies trifft auch auf die digitale plattformbasierte Navigation zu, wie Bruno Latour unter Verweis auf Torsten Hägerstrand und Harold Garfinkel darlegt: The experience of navigating through profiles available on digital plat- forms is such that when you move from one entity – the substance – to its network – the attributes – you don’t go from the particular to the general, but from particular to more particulars. In other words, the notion of a ›context‹ might be as much an artifact of navigational tools as is the notion of an ›individual‹ […].16 Entscheidend sind insgesamt drei zentrale Aspekte, durch die Hägerstrand als zu- kunftweisend für die medienwissenschaftliche Forschung gelten kann: (1.) Hägerstrands zeitgeographisches Verständnis hat schon vor der Etablie- rung der Akteur-Netzwerk-Theorie dargelegt, wie menschliches Handeln in ein Netzwerk eingebunden ist, durch das sich die Unterscheidung von menschlichen und nicht-menschlichen (Daten-)Pfaden relativiert.17 (2.) Sein pragmatischer An- satz zur Analyse der primär materiellen Dimensionen menschlicher Existenz ver- bindet mediales Handeln mit situativen Raumpraktiken und ist damit maßstabsbil- dend für eine medien- wie raumwissenschaftliche Analyse von Navigation. Daraus folgt (3.), dass Hägerstrands Bedeutung für die Spatial Data Analysis vor diesem Hintergrund noch etwas grundsätzlicher zu betrachten ist. Bislang hat sich die Analyse von Datenpraktiken auf den Prozess der Datafizie- rung fokussiert – insbesondere im Kontext der Diskussionen um Big Data. So wie sich das Forschungsprogramm der Medienwissenschaft auf die Paradoxien und Ir- reduzibilitäten von Medialität konzentriert,18 ist daher eine Datenwissenschaft auf- gefordert, die Datalität von Situationen in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen. Hier kann Hägerstrand einen Beitrag dazu leisten, ein qualitatives Datenverständnis zu etablieren, das die individuellen Datenpraktiken in Verbindung und in den Bün- delungen zu anderen nicht-menschlichen, automatisierten oder auch autonom ab- laufenden Datenprozessen analysierbar macht. 15 Vgl. Rieder: »Big Data and the Paradox of Diversity«. 16 Latour et al.: »›The Whole is Always Smaller Than Its Parts‹«, S. 599. 17 Vgl. Thrift: »Torsten Hägerstrand and Social Theory«, S. 338. 18 Vgl. u.a. Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 241 TRISTAN THIELMANN LITERATURVERZEICHNIS Hägerstrand, Torsten: »Diorama, Path and Project«, in: Tijdschrift Voor Economi- sche En Sociale Geografie, Vol. 73, Nr. 6, 1982, S. 323-339. Ingold, Tim: Being Alive: Essays on Movement, Knowledge and Description, Lon- don/New York, NY 2011. Kramer, Caroline: »›Alles hat seine Zeit‹ – die ›Time Geography‹ im Licht des ›Ma- terial Turn‹«, in: Weixlbaumer, Norbert (Hrsg.): Anthologie zur Sozialgeogra- phie, Wien 2012, S. 83-105. Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: dies. (Hrsg.): Medium, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 73-94. Latham, Alan: »Diagramming the Social: Exploring the Legacy of Torsten Häger- strand’s Diagrammatic Landscapes«, in: Landscape Research, Vol. 45, Nr. 6, 2020, S. 699-711. 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Stenseke, Marie: »All-Ecology – Hägerstrand’s Thinking about Human-Environ- ment Interactions«, in: Landscape Research, Vol. 45, Nr. 6, 2020, S. 687-698. Thielmann, Tristan: »Die bewegte Mediengeschichte des Fotofahrtenführers: ein Co-Motion-Picture«, in: Ghanbari, Nacim/Otto, Isabell/Schramm, Sa- mantha/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Kollaboration. Beiträge zu Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit, Paderborn 2018, S. 147-180. Thrift, Nigel: »Torsten Hägerstrand and Social Theory«, in: Progress in Human Ge- ography, Vol. 29, Nr. 3, 2005, S. 337-340. NAVIGATIONEN 242 N A VIG IEREN NAVIGATIONEN UND RELATIONEN Eine medientheoretische Skizze und ein inter- planetarisches Beispiel V O N F L O R I A N S P R E N G E R ABSTRACT Der Beitrag stellt im ersten Teil drei Vorschläge vor, mit denen Navigation medi- entheoretisch gefasst werden kann: Als eine Praxis des Umgangs mit Relationen; als eine Praxis des Umgangs mit Nicht-Wissen; und als eine Skalierungspraxis. Die- ses relationale Verständnis von Navigation dient im zweiten Teil als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit der Navigation autonomer Maschinen, die in der Lage sind, sich an ihre Umgebung zu adaptieren. Im dritten Teil wird dies auf das Beispiel des Marsrovers Perseverance angewendet. Navigation wird so als Modus des Als- Ob innerhalb einer Virtualität möglicher Relationen zur Umgebung verständlich. Navigation wird so medienkulturwissenschaftlich verortet und als skalierbare und relationale Praxis analysierbar. KEYWORDS: Marsrover, Raumfahrt, Robotik, Navigation, Virtualität 1. Navigation ist eine Praxis des Umgangs mit Relationen. Wer navigiert, weiß, wo er, sie oder es sich befindet, nur aus dem medial ver- oder kulturtechnisch ermittelten Verhältnis zu anderen Objekten (Wänden, Sternen, Satelliten, Straßenschildern) oder durch Repräsentationen dieser Relationen auf imaginären, geographischen oder digitalen Karten. Wer navigiert, orientiert sich also durch ein Ins-Verhältnis- Setzen und bewegt sich durch den Bezug auf diese Verhältnisse, die sich mit jeder Bewegung verändern. Verhältnisse und Relationen sind die Sache von Medien. (Kul- tur-)Techniken und Medien der Navigation ermitteln über die Messung von Relati- onen das Verhältnis der Relata und verorten sie in ihrem Verhältnis zueinander. Navigation ist mit einem relationalen Konzept des Raums verknüpft, weswegen die Angabe einer Lage oder Position die Angabe eines Bezugspunkts oder Bezugssys- tems voraussetzt. So wird es möglich, die Relata auch dann in Relation zu bestim- men, wenn sich die Relata bewegen. Navigation wird, in anderen Worten, durch die Bewegung erschwert, die sie ermöglicht. Dies betrifft die räumliche Achse der Navigation auf doppelte Weise, weil sich das Objekt selbst bewegt und sich dadurch zugleich die Relationen zu seiner Umgebung ändern. Auch auf der zeitli- chen Achse ist das navigierende Objekt nicht unabhängig von seinen Relationen. Bestimmbar und berechenbar müssen nicht nur gegenwärtige, sondern auch ver- gangene und zukünftige Orte sein, zwischen denen sich das Objekt bewegt und einem Pfad folgt. Die Relationen des Navigierens sind also nicht gegeben, sondern NAVIGATIONEN N A VIG IEREN FLORIAN SPRENGER werden beständig neu bestimmt und dabei von den Maßen der Medien hervorge- bracht. Navigation ist eine Praxis des Umgangs mit Nicht-Wissen. Ort und Bewegung eines Objekts können aus physikalischen Gründen nie zugleich bestimmt werden. Daher ist das Wissen über Relationen immer unsicher. Navigation projiziert not- wendigerweise die eigene Position in eine zu erreichende Zukunft. Ob man dort ankommt, ist ungewiss. Das Nicht-Wissen der Navigation betrifft also sowohl die Bestimmung des eigenen Orts als auch die Projektion der Bewegung. Navigation bedeutet daher, den eigenen Ort, den Pfad zum Ziel oder das Ziel selbst beständig zu korrigieren. Praktiken der Navigation operieren mit Feedbackschleifen und Re- kursionen, die eine Aktualisierung des Wissens über die eigene Position mit dem Horizont des Nicht-Wissens über die eigene Bewegung koppeln. Die navigierende Bewegung im Raum ist ständig vom Problem der Verifizierung des Wissens bzw. Nicht-Wissens begleitet, das Navigation zugrundeliegt: die Kollision ist eine Form der Konsolidierung dieses Wissens, denn sie bricht die Bewegung ab und definiert damit zumindest eine Dimension des Ortes des navigierenden bzw. navigierten Objekts. Navigation ist eine Skalierungspraxis. Sie kann die Bewegung durch ein Zimmer, eine Stadt oder einen Kontinent umfassen. Aber auch wenn sie stets Relationen nutzen, sind navigatorische Verfahren der Relationierung nur bedingt skalierbar – die Position der Sterne hilft nicht, wenn ich den Weg zum Seminarraum suche und das Wissen um die Position von Türen in einem Gebäude ist bei einer Reise in ein anderes Land wenig hilfreich. Navigation setzt also ein Wissen um die Skalen der relevanten Relationen voraus – und unter Umständen die Fähigkeit, unterschiedli- che Navigationsskalen so zu verbinden, dass Navigation auch über Skalenwechsel hinaus erfolgreich ist. Man muss, in anderen Worten, den Maßstab jeder Karte ken- nen, die man zur Navigation nutzen will, d.h. ihre Relationen zu den kartografierten Objekten. Quer durch die Stadt zu fahren, das Rad abzustellen, ein Buch in der Bibliothek zu finden und sich dann auf einen Stuhl zu setzen, umfasst Navigations- praktiken auf unterschiedlichen Skalierungsebenen, deren Wechsel nicht bewusst sein mögen, die aber mitunter sehr unterschiedliche Fähigkeiten, Kulturtechniken und Medien erfordern. 2. Welchen Bedingungen unterliegt Navigation, wenn der Akteur, der navigiert, kein Mensch ist, der oder die sieht und hört, Entfernungen schätzt und Medien der Na- vigation nutzt? Wenn Maschinen sich selbst bewegen, müssen auch sie Relationen hervorbringen, um sich eigenständig im Raum zu orientieren und ein Ziel anzusteu- ern. Dabei spielen die drei eingangs vorgestellten Dimensionen von Navigation eine zentrale Rolle. Im Folgenden soll daher maschinische Navigation an einem Beispiel skizziert werden, das mehrere Millionen Kilometer vom nächsten Menschen ent- fernt ist: dem Marsrover Perseverance. Da dieser mit vergleichsweise einfacher NAVIGATIONEN 244 N A VIG IEREN NAVIGATIONEN UND RELATIONEN Technik ausgestattet ist, die zudem sehr gut dokumentiert ist, bietet sich dieses Beispiel zur Annäherung an Navigationsverfahren an, die auch von autonomen Au- tos, Drohnen und Robotern jeglicher Art genutzt werden. Keine Maschine hat von sich aus Informationen über die räumlichen Relatio- nen, in denen sie steht. Um ihr dennoch Navigation zu ermöglichen, gibt es unter- schiedliche Lösungen: Ein Roboter kann sich mittels Trial-and-Error so lange durch einen gegebenen Raum bewegen, bis er sein Ziel erreicht hat (etwa wie ein einfa- cher robotischer Rasenmäher oder Staubsauger, der im vorgegebenen Zeitraum durch den Raum fährt und an jeder Wand die Richtung wechselt). Ein Roboter kann über eine vorprogrammierte Karte und einen Pfad zum Ziel verfügen, so dass er lediglich seine Route nachkorrigieren und anhand der Karte seinen Ort prüfen muss. Doch die eigentliche Herausforderung für robotische Navigation sind Robo- ter, die nichts über ihren Ort und nichts über ihre Umgebung wissen, aber auf de- ren Unsicherheit zeitkritisch reagieren sollen, um autonom zu navigieren. Dabei müssen alle drei Dimensionen von Navigation technisch operationalisiert werden. Diese Herausforderung von Navigation bei radikalem Nicht-Wissen stellt sich gegenwärtig überall dort, wo immer leistungsfähigere Maschinen sich autonom durch Umgebungen bewegen, seien es Roboter, Drohnen oder selbstfahrende Au- tos. Im Gegensatz zu menschlichen Navigator:innen können solche Maschinen sich nicht auf Bezugspunkte im Außerhalb verlassen, sondern sind sowohl mit der Un- sicherheit über ihre eigene Position als auch mit der Unvorhersagbarkeit von des- sen Dynamik konfrontiert. Eingesetzt werden zur Lösung dieses Problems zahlrei- che Technologien für unterschiedliche Skalen des Navigierens: GPS und digitale Karten, Entfernungs-, Geschwindigkeits-, MEMS-, Lage- und Beschleunigungs- sensoren sowie Lidar-, Radar- oder Kamerasensoren, deren Daten mittels Filteral- gorithmen zu virtuellen Modellen der Umgebung zusammengesetzt werden. Angesichts der Vielfalt dieser Relationierungsverfahren ist etwa ein (semi-)au- tonomes Auto stets auf mehreren Skalenebenen zugleich mit Navigationsverfahren beschäftigt: auf strategischer Ebene mit der kartografischen Navigation zwischen zwei geographischen Orten, auf der taktischen Ebene mit dem Erkennen der je- weiligen Situation etwa einer Straßenkreuzung und auf der operationalen Ebene mit der Navigation im eigenen Nahfeld zur Vermeidung von Kollisionen, zum Spur- halten oder zum Einparken.1 Selbst wenn das Fahrzeug über Kartenmaterial und GPS verfügt, sind diese Verfahren für Fahrmanöver zu ungenau und vor allem nicht dynamisch genug, um ein operationsfähiges Modell der Fahrzeugumgebung zu er- stellen. Auf der strategischen Ebene werden Routen berechnet, auf der taktischen Ebene virtuelle Umgebungsmodelle erzeugt und auf der operationalen Ebene das Fahrzeug manövriert. Ein (semi-)autonomes Auto muss sich auf diesen drei Ebenen in Relation setzen und benötigt dazu die genannten Technologien. Um sich in den komplexen Umgebungen des Straßenverkehrs zu bewegen, muss ein autonomes Fahrzeug also kontinuierlich die Zustände – Form, Position 1 Vgl. Matthaei/ Maurer: »Autonomous Driving. A Top-Down-Approach«, S. 155-167. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 245 FLORIAN SPRENGER und Bewegung – der umgebenden Objekte registrieren und sich selbst in Relation zu ihnen lokalisieren.2 Es hat keinen Zugriff auf einen Blick von außen, sondern muss seinen eigenen Ort und mögliche Reaktionen auf seine Umgebung auf allen drei Operationsebenen immer wieder neu berechnen. Da sowohl das Fahrzeug als auch andere Verkehrsteilnehmer:innen mobil sind, verändern sich die Umgebungs- relationen ständig. Weil das Fahrzeug nicht wissen kann, an welcher Position es sich aktuell befindet, sind ihm weder sein Ort noch sein Verhältnis zu anderen Objekten oder Akteuren gegeben. Seine Umgebung muss vielmehr durch technische Verfah- ren der Sensorik, der algorithmischen Filterung und der Datenauswertung sowie eine feingliedrige Motorik hervorgebracht werden, um die Relationen des Fahr- zeugs zu seiner Umgebung zu bestimmen. Die technische Herausforderung be- steht, anders gesagt, in einem sicheren Umgang einerseits mit der Unsicherheit des autonomen Systems über seine Umgebung sowie andererseits mit der Unvorher- sagbarkeit des Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer:innen. Navigation bedeutet für ein autonomes System also Sicherheit im Umgang mit dieser doppelten Unsi- cherheit (des Systems über seinen eigenen Zustand wie der Umgebung). 3. Am 18. Februar 2021 landet der fünfte NASA-Rover mit dem Namen Perseverance im Jezero-Krater auf dem Mars.3 Mit seinen Fähigkeiten, Löcher zu graben, Steine zu pulverisieren, Spektralanalysen zu erstellen und mittels einer integrierten Drohne Luftaufnahmen zu machen, soll Perseverance an Stelle des Menschen eine Umgebung erkunden, die uns auf radikale Weise unzugänglich ist. Die Aufgabe von Perseverance ist es, das Gebiet des Kraters zu erkunden. Dazu verfügt der Rover über drei Navigationsmodi, die für unterschiedliche Situa- tionen geeignet sind. Alle drei Modi unterliegen einer Reihe von Einschränkungen: Erstens sind jedes Risiko und Verschleiß zu vermeiden, weshalb jeder Schritt aus- führlich geplant wird und der Rover sich täglich nur wenige Meter bewegt. Zwei- tens ist nur sehr einfache Technik für die Nutzung auf der strahlenbelasteten Ober- fläche des Mars geeignet, weshalb der Rover nur über einen langsamen Prozessor 2 Autonom meint an dieser Stelle die Ausstattung eines Autos mit Fahrassistenzsystemen, die Aufgaben des Fahrers übernehmen (von adaptiven Abstandshaltern über Notbremsas- sistenten bis hin zu Autopiloten). Die Verfeinerung und Durchsetzung dieser Systeme ge- schieht schrittweise, während vollständig fahrerlose Autos derzeit nur in Prototypen exis- tieren. Autonomie bedeutet also, Christoph Hubig folgend, die Erweiterung der dem semi-autonomen Fahrzeug eigenen Kapazitäten der Wahl der Mittel für ein gegebenes Ziel (operative Autonomie) bis hin zur Wahl unterschiedlicher Zwecke für ein Ziel (stra- tegische Autonomie), jedoch nicht die Anerkennung und Rechtfertigung von Zielen (ethi- sche Autonomie). Vgl. Hubig: »Die Kunst des Möglichen III. Grundlinien einer dialekti- schen Philosophie der Technik«, S.131f. 3 Zum Überblick über diese Mission vgl. Williford u.a. »The NASA Mars 2020 Rover Mission and the Search for Extraterrestrial Life«, S. 275-308 sowie Clancey: Voyages of Scientific Discovery with the Mars Exploration Rovers 2012. NAVIGATIONEN 246 N A VIG IEREN NAVIGATIONEN UND RELATIONEN und keine Laser-, Lidar- oder Sonarsensoren verfügt. Stattdessen operiert er so- wohl zur Navigation als auch zur Sammlung und Analyse von Proben mit optischen Kameras sowie Beschleunigungs- und Bewegungsmessern. Drittens schließlich braucht ein Signal von der Erde zum Mars je nach Entfernung zwischen vier und zweiundzwanzig Minuten. Da das bestehende Satellitennetzwerk auch für andere NASA-Projekte genutzt wird, ist eine Datenübertragung nur einmal am Tag mög- lich. Abb. 1: Nasa-Rover Perseverance (Quelle: NASA). Der Rover ist also auf sich selbst gestellt. Er ist dabei trotz der Entfernung zur Erde kein isolierter Roboter, sondern kann als ausführender Bestandteil eines interpla- netarischen Akteurs-Netzwerks verstanden werden, das unter anderem aus dem Deep Space Network und dem Mars Reconnaissance Orbiter, aber auch 16 Fahre- rInnen und 400 WissenschaftlerInnen besteht, die täglich im Jet Propulsion Labora- tory in Pasadena damit beschäftigt sind, die gesammelten Daten – und über nichts anderes als digitale Daten vom Mars verfügen wir – auszuwerten. Diese Einschränkungen setzen den Rahmen für die drei Navigationsmodi, die im Vergleich zu avancierten irdischen Robotern zwar vergleichsweise simpel, aber gerade deswegen geeignet sind, um einige der Bedingungen (semi-)autonomer ro- botischer Navigation zu skizzieren. Um sich in der unbekannten und uns unerfahr- baren Umgebung des Mars zu bewegen, sind Perseverance und das Team auf der Erde in allen drei Modi darauf angewiesen, diese Umgebung mit einer Reihe von Sensoren aufzubereiten und aus den gesammelten Daten Modelle zu erstellen, mit- tels derer mögliche Routen durch das Gelände als virtuelle Möglichkeiten berech- net werden. Diese Modelle sind die Grundlage aller drei Navigationsmodi. Wie je- der Roboter muss Perseverance für die Bewegung in einer unbekannten Umgebung die umgebenden Objekte registrieren und sich in Relation zu ihnen verorten. Er hat NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 247 FLORIAN SPRENGER keinen Zugriff auf einen Blick von außen und weiß nie, wo er sich befindet. Sein Verhältnis zur Welt wird von sensoalgorithmischen Verfahren erzeugt, die Sensor- daten mittels Filteralgorithmen zu Umgebungsmodellen zusammensetzen. Der erste Modus ist die blind navigation. Mittels des eigens entwickelten Inter- face des Rover Sequencing and Visualization Program (RSVP) werden durch die Fusion aller Sensordaten dreidimensionale Visualisierungen des Rovers in seiner Umge- bung erzeugt, mögliche Pfade sowie unterschiedliche Positionen des Rovers simu- liert und textbasierte Befehle gesendet.4 Von der Erde aus wird in RSVP ein Ziel festgelegt und der Rover fährt exakt den vorgegebenen Weg, also z.B. 2,20 Meter geradeaus und dann nach einer Drehung um 30 Grad 70 Zentimeter geradeaus (der Rover kann keine Kurven fahren und sich nur auf der Stelle drehen, um ungleich- mäßigen Verschleiß der Räder zu vermeiden). Mit Methoden der Koppelnavigation (dead reckoning) und der Odometrie, bei denen durch die Achsendrehung, die Be- wegungsrichtung und die Geschwindigkeit der erreichte Ort bestimmt wird, loka- lisiert sich der Rover. Das Problem dabei: Je nach Geländestabilität können die Rä- der durchdrehen, so dass sich der Kurs während der Fahrt ändern kann. Der Rover schätzt also nur, wo er am Ende zu stehen kommt und ob er sein Ziel erreicht hat. Dieser Navigationsmodus ist daher lediglich für bereits bekanntes und ungefährli- ches Terrain geeignet. Die zweite Navigationsmöglichkeit basiert auf der sogenannten Visual Odo- metry.5 Ein grober Pfad zu einem Ziel wird von der Erde aus festgelegt, aber der Rover korrigiert während der Fahrt die genaue Route, indem stereoskopische Auf- nahmen der Umgebung verglichen werden. Dieser Modus ist zwar deutlich langsa- mer als blindes Fahren, aber genauerer und sicherer, weil der Rover auch vorab nicht identifizierte Hindernisse, Gefälle und Unebenheiten erkennt. Allerdings ist er nur für Gelände geeignet, das ausreichende Merkmale, Kontraste und Texturen etwa in Form von prägnanten Felsen aufweist. In diesem Modus hält der Rover nach maximal einem Meter an und macht ein Foto. Mittels algorithmischer Filter (in diesem Fall einer Weiterentwicklung des Ex- tended Kalman Filter) werden die zu unterschiedlichen Zeitpunkten von unter- schiedlichen Positionen aus aufgenommenen Bilder bzw. digitalen Daten miteinan- der verglichen, indem eindeutig identifizierbare Marker und Korrelationen bestimmt werden. Die Überlagerung der Bilder ergibt Wahrscheinlichkeitswerte 4 Vgl. Wright u.a.: »Driving on Mars with RSVP. Building Safe and Effective Command Se- quences«, S. 37-45. 5 Vgl. Maimone u.a.: »Two Years of Visual Odometry on the Mars Exploration Rovers«, S. 169-186; Yousif u.a.: »An Overview to Visual Odometry and Visual SLAM. Applications to Mobile Robotics«, S. 289-311 sowie Johnson: »Robust and Efficient Stereo Feature Track- ing for Visual Odometry«, S. 39-46. Entwickelt wurde dieses Verfahren von Moravec: Obstacle Avoidance and Navigation in the Real World by a Seeing Robot Rover und Matthies: Dynamic Stereo Vision. Visual Odometry ist eine lokale Navigationsleistung, während SLAM-Verfahren eine Karte erzeugen. Der Vorzug der Odometrie im Vergleich zu SLAM besteht darin, dass die Daten über gefahrene Distanzen leichter integriert wer- den können. NAVIGATIONEN 248 N A VIG IEREN NAVIGATIONEN UND RELATIONEN für die Positionen und Konturen von Objekten sowie das Gelände. So kann der Rover sowohl seine eigene Position lokalisieren als auch potentiell gefährlichen Ob- jekten ausweichen und Stellen vorhersagen, an denen er vom Kurs abkommen oder steckenbleiben könnte. Der Rover ist in der Lage, diese Berechnungen eigenständig zu leisten, um in komplexem Gelände an der vorgegebenen Route orientiert, ihr aber nicht blind folgend, möglichst exakt zu einem vorgegebenen Marker zu fahren. Abb. 2: Traversability-Karte (Quelle: Carsten/Rankin/Ferguson/Stentz 2007). Der dritte Modus Autonav wurde erstmals 2013 vom Vorgängerrover Curiosity ver- wendet, um unbekanntes Gelände zu durchqueren, für das die Teams auf der Erde kein Bildmaterial hatten. Bei diesem Modus wird lediglich ein Ziel vorgegeben und der Rover versucht, autonom den besten Pfad zu finden.6 Dieses Verfahren besteht aus zwei Schritten: Im ersten Schritt wird aufbauend auf den Daten der Visual Odometry eine Gefahrenkarte der Umgebung erzeugt. Die Bildpaare aller Kame- ras werden durch Sensordatenfusion zu einem Modell zusammengefügt, das mittels eines sogenannten occupancy grid in Quadranten unterteilt wird, die etwa so groß wie die Räder des Rovers sind. Jeder Quadrant erhält mittels des Algorithmus Ge- stalt (Grid-based Examination of Surface Traversability Applied to Local Terrain) einen Wahrscheinlichkeitswert für ein Hindernis, ein Gefälle oder eine Unebenheit und wird in rot, gelb oder grün als Kategorien der traversability klassifiziert.7 Diese Ge- fahrenkarte wird im zweiten Schritt zur Datengrundlage des sogenannten Approxi- mate Clearance Evaluation-Algorithmus (ACE), der aus der dreidimensionalen Karte 6 Vgl. Abcouwer u.a.: »Machine Learning Based Path Planning for Improved Rover Naviga- tion«, S. 1-9. 7 Vgl. Biesiadecki/Maimone: »The Mars Exploration Rover Surface Mobility Flight Software. Driving Ambition«, S. 1-15; Atikah/Bade: »Path Planning Algorithm in Complex Environ- ment. A Survey«, S. 31-40 sowie Helmick u.a. »Terrain Adaptive Navigation for Planetary Rovers«, S. 391-410. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 249 FLORIAN SPRENGER alle möglichen Pfade und Positionen extrahiert.8 Im Vergleich zu den Vorgänger- modellen erlaubt dieser Algorithmus auch, über kleine Objekte zu fahren, während bisher um jedes potentiell gefährliche Objekt eine unbefahrbare Zone in der Größe des Rovers gelegt wurde. Hier kommt ein neuer Modus der Virtualisierung ins Spiel, denn in diesem Schritt wird eine Pluralität möglicher Welten technisch operationalisiert. Der Algo- rithmus berechnet mögliche Pfade, indem er einen baumförmigen Graphen erstellt, dessen Äste Optionen unterschiedlicher Fahrtrichtungen angeben. Der erste Ab- schnitt umfasst 14 Ausrichtungen des Rovers (incl. Umkehren), gefolgt von zwei Abschnitten mit jeweils elf Ausrichtungen, denen für je drei Meter gefolgt wird. Der Rover berechnet also für die vorgesehene Strecke von sechs Metern pro Runde 1694 mögliche Pfade (14x11x11). Jedem Pfad wird anhand der Gefahrenkarte und ihren Wahrscheinlichkeitswerten ein Kostenfaktor zugeteilt und die Liste möglicher Pfade anhand dieser Kosten geordnet. Der Pfad mit der geringsten Gefahr wird ausgewählt. Der Rover fährt aber nicht den ganzen Pfad, sondern nur das erste Manöver – entweder einen Meter geradeaus oder die erste Drehung – und wie- derholt den Vorgang, bis er am Ziel angekommen ist. Der Vorteil dieses Navigationsmodus liegt in der Autonomie des Rovers, der sich unabhängig von der Erde an sein Ziel begibt und dabei auch unbekanntes Ge- lände durchqueren kann. Aufgrund der benötigten Rechenzeit ist dieser Modus zwar der langsamste, kann dafür aber kontinuierlich zwischen zwei Kommunikati- onsfenstern mit der Erde durchgeführt werden. Allerdings können Sand und kleine, spitze Steine dabei nur unzureichend erkannt werden – dafür braucht es weiterhin menschliche Augen und Erfahrung im »visual judgement«9. Dieser Modus ist also nur für bestimmtes Gelände geeignet, spart dort aber viel Bandbreite, die zur Über- mittlung wissenschaftlicher Daten genutzt werden kann. In allen drei Modi wird jeder Schritt – ob vor Ort oder auf der Erde – vorab durchgespielt. Navigation ist für den Rover also zunächst ein Proberaum des Als- Ob. Im Virtuellen wird anhand eines Modells oder auch einer künstlichen Sandbox auf der Erde die Bewegung auf dem Mars durchgespielt. Das Spielen ist hier durch- aus wörtlich gemeint: Um möglichst sicher zu navigieren, müssen unterschiedliche Optionen möglichen Verhaltens verglichen und gegeneinander aufgewogen werden – ob algorithmisch vom Rover selbst oder mit Hilfe von Simulationen, dem Test- parcours und Diskussionen auf der Erde. Jeder Aktion des Rovers geht eine Vielzahl virtueller Als-Obs voraus. Er verfügt also stets über eine Alternative zu dem, was er tut. Er könnte zumindest potentiell eine andere Aktion wählen, auch wenn die Voraussetzungen zur Entscheidung für eine Aktion klar definiert sind. Diese Alter- nativität ist die Bedingung für die operative Autonomie des Roboters, die ihm eine basale eigenständige Navigation ermöglicht. Im Modus semiautonomer Navigation 8 Vgl. Otsu u.a.: »Fast approximate clearance evaluation for rovers with articulated suspen- sion systems«, S. 768-785. 9 Vgl. ebd. NAVIGATIONEN 250 N A VIG IEREN NAVIGATIONEN UND RELATIONEN verfügt der Rover über keine einzelne, determinierte Lösung für die Durchquerung eines Geländeabschnitts, sondern über eine Vielzahl von Optionen mit unterschied- lich wahrscheinlichen Zuständen oder Ergebnissen. Aufgrund dieser Vielfalt und der in ihr enthaltenen Relationen ist er in der Lage, in unterschiedlichen Umgebungen zu navigieren. Abb. 3: Fast Approximate Clearance Evaluation (Quelle: Otsu/Matheron/Ghosh/Toupet/Ono 2019, S. 780). Der Rover ist keine Reiz-Reaktions-Maschine, sondern hat einen Ort und eine Zeit im Verhältnis zur Welt, ohne dass er je Zugriff auf die Realität hätte. Zugriff auf die Welt hat er nur durch ein virtuelles Modell dieser Welt, das die Berechnungsgrund- lage möglicher Navigation in der Welt ist. Deswegen ist er darauf angewiesen, stän- dig mit der Welt zu interagieren, um sich in ihr zu verorten. Er ist rekursiv an die Welt gekoppelt, um sich in virtuellen Welten durch die Welt zu bewegen. Ohne ein Verhältnis zur Welt wäre er zu all dem nicht in der Lage. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 251 FLORIAN SPRENGER 4. Am Beispiel des Rovers zeigt sich also, welche Rolle die drei eingangs erläuterten Aspekte von Navigation für autonome Systeme spielen: Sie verfügen erstens über nichts anderes als sensorische (und damit unspezifische) oder sensoalgorithmische (und damit probabilistische) Relationen zu ihrer Umgebung. Bei besonders avan- cierten Systemen werden diese Daten zu virtuellen Modellen zusammengesetzt, die wiederum als Karten dienen und Optionen der Navigation durchzuspielen er- lauben. Aber auch eine einfache Entfernungsmessung durch einen Infrarotsensor stellt eine Relation her. Die Verfahren der Relationierung operieren zweitens auf der Grundlage von Nicht-Wissen, denn der Rover verfügt stets nur über Wahr- scheinlichkeiten für mögliche Objekte und Pfade an ihnen vorbei. Auch eine Kolli- sion gibt lediglich die Information, dass etwas im Weg steht. Schließlich beziehen sich Navigationsverfahren drittens immer auf eine spezifische Skalierungsebene. Perseverance navigiert im Nahfeld und plant im Autonav-Modus die nächsten Me- ter, die auf einer Umgebungskarte mit einem weiter entfernten Tagesziel abgegli- chen werden. Operativ sind die Navigationsmodi durch ihre Skalengebundenheit unterschieden, auch wenn sie miteinander verknüpft werden können. Mit seinen sensoalgorithmischen Verfahren allein wäre Perseverance aber nicht in der Lage, ein entferntes Ziel zu erreichen – dafür sind die Operatoren und geographische Karten auf der Erde nötig. Die Navigation autonomer Maschinen, so wird hier deutlich, besteht aus viel- schichtigen und sehr unterschiedlichen Verfahren, die die Maschine in ein Verhältnis zur Welt setzen, ohne jemals einen direkten Zugang zur Welt zu haben. Diese Ver- fahren sind nicht in der Lage, die Welt als Repräsentation zu operationalisieren, können aber vorgegebene repräsentationale Karten nutzen bzw. durch ihre Bewe- gung eine Karte erstellen.10 Die Navigationen autonomer Maschinen sind relatio- nale Verfahren des Umgangs mit Nichtwissen auf getrennten Skalen. Und das wie- derum bedeutet, dass die Einführung dieser Technologien, der Umgang mit ihnen etwa im Straßenverkehr oder bei der Erkundung des Mars, mit einer Beschäftigung mit ihrer Probabilistik, ihrer sensoalgorithmischen Virtualität und ihrem Verhältnis zur Welt einhergehen sollte. Diese Maschinen machen keinen Unterschied zwi- schen einem Straßenschild und einem Menschen. Wenn sie aber Interaktionsräume eröffnen, in denen Menschen mit Maschinen zusammentreffen, rekonfigurieren sie die Bedingungen der Bewegung aller Akteure in diesen Räumen und damit die Mög- lichkeit des Zusammentreffens oder der Kollision. Die Zukunft der Navigation ist relational, unsicher und noch nicht endgültig skaliert. 10 Vgl. Kanderske/Thielmann: »Simultaneous localization and mapping and the situativeness of a new generation of geomedia technologies«, S. 118-132 sowie Sprenger: Epistemolo- gien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher Environments 2019, S. 484-497. 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Das Diskussionspapier zirkulierte in der PTB und wurde mir mit der Frage überreicht, ob das Argument medienwissenschaftlich oder medientheoretisch re- levant sei. Nach einer Prüfung des Manuskripts konnte ich die Frage bejahen, allerdings gelang es mir trotz hartnäckiger Adressierung nicht, dem Autor – der laut eigenem Be- kunden in den 1960ern einen Ruf an die spätere Gesamthochschule und Universität Siegen abgelehnt hatte, und später jahrelang in China als Gastprofessor tätig war – eine längere Fassung zu entlocken. Dafür war Otmar Loffeld vom Zentrum für Sensorsysteme der Universität Siegen (ZESS) so freundlich, den Text zu kommentieren und auf diesem Wege auch zu differenzieren. Damit war die Ausgangsbasis für eine Diskussion geschaf- fen worden, die interessante und kontroverse Fragen aufwirft, von denen ich nur eine anschließend skizziert habe. Jens Schröter hat diese Diskussion seinerseits kommen- tiert. DIE WELT DER NATUR UND DIE DIGITALE MEDIENWELT (Johannes Sievert, PTB Braunschweig) 1. Zuvorderst ist »digital« das Antonym zu »analog«. Wenn »analog« den kontinuierli- chen Charakter physikalischer variabler Größen und ihrer Messungen und Berech- nungen kennzeichnet, beschreibt der Begriff »digital« den diskontinuierlichen, dis- kretisierten Charakter eines Wertesatzes solcher Größen. Die Vorgänge in der unbelebten Natur sowie alle Prozesse in der Biosphäre laufen augenscheinlich in analogen Skalen ab. Allerdings sieht es anders aus, wenn wir uns in den Bereich der Mikrobiologie, des Agierens der Nerven und Gene, und in das Feld der Quanten- physik begeben. Alle Sinne der Lebewesen jedoch sprechen ausschließlich auf ana- loge Signale an, oder genauer, sie wirken analog auch dann, wenn sie Digitales dank NAVIGATIONEN N A VIG IEREN SIEVERT / SCHÜTTPELZ / LOFFELD / SCHRÖTER ihrer Auflösungsträgheit nicht mehr als solches erkennen können, beispielweise bei der Kinematografie. Und auch in der Technik steht das analoge Signal als zu mes- sende Größe am Ursprung, oder kennt jemand einen primär digitalen Sensor? 2. In den frühen Jahren der Automatisation der Messtechnik, d.h. in den Jahren vor etwa 1970, wurden ausschließlich analoge Übertragungsverfahren angewandt. Der sprunghafte Wandel in den technischen Möglichkeiten verschiedener Prozesse, der Datenübertragungen, der statistischen Auswertungen, der Modellberechnungen komplizierter elektro-mechanischer Maschinen, der Berechnungen elektromagne- tischer, thermischer und mechanischer Felder, der Wettervorhersagen, der Bild- gebung in der Medizin, der Optimierungen von parameterabhängigen Prozessen, kurz gesagt der abrupte Fortschritt nahezu sämtlicher physikalischen, chemischen und technischen Artefakte ist allein auf die Einführung digitaler Techniken zurück- zuführen, und er war immens. Dies mag eine Erklärung dafür sein, dass das mensch- liche Sprachverhalten in dieser Beziehung in den inflationären und vielfach unschar- fen Gebrauch des Begriffs »digital« verfiel. 3. Allerdings mit der bereits erwähnten Ausnahme, die für Messungen von Naturgrös- sen die Regel geblieben ist. Am Anfang stehen keine digitalen Sensoren, sondern Analog-Geräte. Wenn es also keine digitalen Sensoren gibt, wie erhält dann das primär analog zu messende Signal seine digitale Kodierung? Da sich das Digitale ausschließlich im Elektrischen abspielt, benötigen wir für alle Umwandlungen zu- nächst Wandler (transducer), mit deren Hilfe die nicht-elektrischen Messgrößen ins Elektrische überführt werden. Dies eröffnet ein weites und enorm wichtiges Feld der Sensorentwicklung, mit den Parametern Empfindlichkeit, Linearität und Minia- turisierung als Zielgrößen. Dabei geht es um die Wandlung von Länge, Volumen, Masse, Licht, Strömungsgeschwindigkeit von Gas und Flüssigkeit, Temperatur, Wärmemengen, Druck, Kraft, Drehmoment und Anderem in elektrische Größen. Erst danach agiert der Analog-Digital-Wandler (A/D-Converter, ADC) und wird ge- folgt von Übertragung und Auswertung mit Algorithmen. Und am Ende erfolgt großenteils die Rückführung und Anpassung an die Fähigkeiten der menschlichen Sinne durch digital/analoge Wandlung in analoge oder scheinbar analoge Signale wie beim digitalen Fernsehen. NAVIGATIONEN 258 N A VIG IEREN ANALOG/DIGITAL 4. Das digitale Regime ist also kein »Medium der Natur«, sondern ein Medium zwi- schen der bereits in Analogsignale umgewandelten natürlichen Welt und der Welt der menschlich-animalischen Sinne. Digitalisierung ist nicht alles, und sie ist allem Anschein nach nicht unsere Brücke zur »Natur« der naturwissenschaftlichen Grö- ßen. Um die Relevanz dieses Kommentars für die Sensortechnik einzuschätzen, habe ich Ot- mar Loffeld (Siegen) um einen Kommentar gebeten. Er kommentierte den Text von Jo- hannes Sievert in einer Mail vom 27. Januar 2020 an den Verfasser dieser Zeilen wie folgt: KOMMENTAR VON OTMAR LOFFELD AD 1. Die letztgestellte Frage (kennt jemand einen primär digitalen Sensor) ist nicht ein- deutig zu beantworten: Die Antwort hängt davon ab, in welcher Kleinteiligkeit der Sensor betrachtet wird: Zum einen gibt es viele Sensoren, die als Ausgangswerte nur diskrete Werte (binär: ja/nein, 1/0) liefern. Dies tun sie zwar basierend auf einer scheinbar analogen Messung, aber selbst ein einfacher durch Licht induzierter Pho- tostrom zeigt bei schwachem Licht in Form des »Shotnoise« oder Photonenrau- schen, die quantisierten Eigenschaften des Lichts als Photonen: die Photonen fallen quasi als stochastischer Ankunftsprozess auf den Sensor ein, nicht alle gleichzeitig, sondern als Poisson’scher Zählprozess. Ein Vergleichsbild ist der beginnende Re- gen, bei dem jeder Regentropfen eine Ladung darstellt, erst bei großen Nieder- schlagsmengen ergibt sich das Bild eines zeit- und wertkontinuierlichen Flusses. In diesem Sinne ist die Aussage oben problematisch. Jeder zählende Sensor wäre ein primär diskreter Sensor… AD 2. Man müsste hier vielleicht unterscheiden zwischen der mathematischen Beschrei- bung von physikalischen Problemen und der technischen Berechnung, bzw. simu- lativen Beschreibung. Zur Definition von »analog« und »digital« nur soviel: NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 259 SIEVERT / SCHÜTTPELZ / LOFFELD / SCHRÖTER »Analog« stellt die sprachlich unscharfe Beschreibung eines Phänomens dar, wel- ches in kontinuierlicher (nicht abzählbarer) Zeit geschieht und Werte aus ei- nem kontinuierlichen (nicht abzählbaren) Wertevorrat annimmt. »Digital« als ebenso unscharf bezeichnet Beschreibungen mit zeitdiskreter (abzähl- barer) Zeitachse und einem wertdiskreten (abzählbaren) Wertevorrat. Hierzu allerdings eine Differenzierung: 1. Unzweifelhaft ist sicherlich, dass die Beschreibung zeit- und wertkontinuierli- cher physikalischer Phänomene (analoge Welt) durch Differentialgleichungen und deren Lösungsinstrumentarium deutlich arrivierter und geschlossener ist, als die Beschreibung durch Summen. Im Sinne des modellhaften Verständnis- ses der Welt ist dies ein unschätzbarer Vorteil. 2. Dennoch stimmt die obige Aussage im Sinne der numerischen Berechenbar- keit und der numerisch simulativen Modellbildung. Integrale löst jeder Rechner durch Summenapproximation, die unter gewissen Randbedingungen sogar exakt ist, so dass wert- und zeitdiskrete Verfahren (digitale Verfahren, digitus: der Finger als Begriff für die Abzählbarkeit von Werten und Zeiten) der analo- gen Beschreibung und der beobachtbaren Welt exakt entsprechen. AD 3. Wichtig ist hier zu verstehen, dass diese Umsetzung eigentlich zweischrittig erfolgt: 1. Erster Schritt ist die Zeitdiskretisierung durch Abtastung. Dieser Vorgang kann unter Beachtung des Shannonschen Abtasttheorems fehlerfrei und eindeutig umkehrbar erfolgen. Es handelt sich um eine lineare Operation. Ausgang ist ein zeitdiskretes aber wertkontinuierliches Signal. 2. Zweiter Schritt ist die Amplituden- oder Wertquantisierung: der wertkontinu- ierliche Abtastwert wird in einen diskreten Wert umgewandelt. Dieser Vor- gang ist prinzipiell nicht linear und fehlerbehaftet, es entstehen sogenannte Quantisierungsfehler. Es wäre noch hinzuzufügen, dass der »scheinbar analoge« Primärsensor eigentlich schon aufgrund der physikalischen Quantisierung ein wertdiskreter und zeitdiskre- ter Sensor ist, dessen analoge Ausgangsgrößen nur aufgrund gewisser integrieren- der Eigenschaften und der Trägheit beobachtet werden. Eigentlich stellt ein analo- ger Primärsensor damit bereits einen ersten diskret/kontinuierlichen Wandler dar. Ich vermeide das Wort Digital/Analog-Umwandlung. AD 4. Dies hängt schlussendlich davon ab, wie wir die Brücke interpretieren: Interpretieren wir die Brücke im Sinne eines methodischen Verständnisses der Na- tur, so bleibt die analoge Beschreibung der Schlüssel. NAVIGATIONEN 260 N A VIG IEREN ANALOG/DIGITAL Interpretieren wir die Brücke im Sinne einer quantitativen Beschreibung, Modellie- rung und simulativen Prädiktion, benötigen wir die »digitale« Welt. Folgen wir allerdings der physikalisch elementaren Beschreibung durch Quanten und Teilchen, sind die ersten beiden Aussagen falsch und richtig zugleich. Dies liegt m.E. daran, dass jedes diskrete Ereignis aufgrund einer gewissen Un- schärfe immer mit einer Auftrittswahrscheinlichkeit versehen ist, dies gilt so- wohl für Zeit als auch Wert. Damit sind selbst wahrscheinlich sichere Ereig- nisse empirisch schwer zu interpretieren und nur im Sinne von Erwartungswerten nützlich. KOMMENTAR VON ERHARD SCHÜTTPELZ: Alles in allem scheint mir Otmar Loffelds Stellungnahme die Ausgangsthesen von Johannes Sievert zwar zu differenzieren, aber auch zu bestätigen. Meine erste me- dientheoretische Reaktion auf das Argument von Johannes Sievert war etwas an- ders gelagert, denn mir schien der Text als Positionsbestimmung der Gegenwart zugleich eine Aussage über die Vergangenheit der Mediengeschichte zu beinhalten. Wenn Johannes Sievert recht hat, dann bilden die digitalen Medien keinen Bruch mit der sozialen und der soziotechnischen Welt, die sie ins Leben gerufen hat, aber sie bilden einen auffälligen Kontrast zur Welt der Medienerfindungen im späten 19. Jahrhundert. Der Unterschied zwischen den vielen analogen Medienerfindungen des 19. Jahrhunderts und den digitalen Medienerfindungen des 21. Jahrhunderts zeigt sich vor allem im Umgang mit Störungen. In analogen Medien hatten die Inge- nieure und Nutzer mit all den elektromagnetischen Größen zu tun, die z.T. noch direkt aus der alten Welt der »Imponderabilien« stammten, die sich erst nach und nach in die Technik und Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts transfor- mieren liessen (Schwerkraft, Elektrizität, Magnetismus, Lichtbrechungen, Äther). In den Unglücksfällen der Belichtung von Fotografien, im Rauschen und Knacken der Telephonleitungen, in den atmosphärischen Störungen des Radios und der Fernsehübertragungen manifestierten sich technische Störungen nicht nur als na- turwissenschaftliche Größen, sondern auch als kosmische Kräfte »von außerhalb«, zumindest aus einem Außenraum der Gesellschaft. Alle diese Störungen können sich auch in digitaler Form manifestieren, sollte man meinen. Aber die digitalen Me- dien spielen sich in einem Innenraum der elektronischen Datenverarbeitung ab, sie bestehen aus EDV. »Daten« sind zur Verarbeitung vorbereitete Zeichen; und die digitalen »Glitches« sind vor allem Stockungen und Verzerrungen der Datenverar- beitung und werden auch als solche behandelt und hingenommen, nicht als Mani- festationen kosmischer Kräfte. In diesem Sinne verweisen sie auf keine externe »Natur« mehr, und entsprechen auch keiner naturwissenschaftlichen Natur, son- NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 261 SIEVERT / SCHÜTTPELZ / LOFFELD / SCHRÖTER dern sind soziosemiotische Aushandlungen, die beim Manifestwerden von »Glit- ches« auch als solche empfunden werden, zumindest von den Profis oder den »digtial natives«. Es kann sein, dass man das alte Bewusstsein der medialen Periphe- rie gegenüber Naturkräften erst einmal lernen muss, um sie zu verstehen, und dass dieses historische Bewusstsein irgendwann fehlt. Die digitale Datenverarbeitung kennt kein Außen mehr. Zugespitzt formuliert, stellt sich die Frage, ob ein Lied wie »Radioland« von Kraftwerk in der digitalen Welt noch möglich ist, und ob es von den Generationen unserer Studierenden überhaupt noch verstanden werden kann. »Radioland« (von der Langspielplatte »Radio-Aktivität«, 1976) dient als emblemati- sche musikalische Verdichtung für einen Weltzustand, in dem die Signale der Tele- kommunikation noch selbst als ein Durchschlagen kosmischer Kräfte (in Form von Schatten, Strahlungen, Rauschen, Flimmern, Knistern, Geräuschsalven u.v.a.m.) er- scheinen konnten und diagnostiziert wurden. Die analogen Medienerfindungen der 1880er bis 1920er spielten in der Erwar- tung eines Außenraums, der auf den Innenraum durchschlug. Die digitalen Medi- enerfindungen spielen in einem Innenraum der Kompressionsverfahren und der Datenverarbeitung, der bei Störungen vor allen anderen Bewältigungsversuchen die Frage aufwirft, warum die richtige Datenverarbeitung nicht gelingt oder wann sie sich wieder zurückmeldet. In gewissem Sinne wird in den digitalen Medien die Karte tatsächlich zum Territorium, und das nicht nur für Drohnenpiloten, die nie- mals ein Flugzeug besteigen, sondern auch bei Auto-Insassen, die zwei Navigations- geräte gleichzeitig laufen lassen, um dann ad hoc abzuwägen, welchem Ratschlag sie bei der jeweils nächsten Entscheidung den Vorzug geben. Die analogen Medi- enerfindungen versetzten ihre Bewohner in einem Raum der technischen Erfahrung naturwissenschaftlicher Größen; die digitalen Medien schirmen uns von dieser Er- fahrung ab und hinterlassen uns abwechselnd irritiert und »comfortably numb«, im- mer aber geduldig genug, der Datenverarbeitung den ersten Stellenwert bei der Entscheidungsfindung einzuräumen. Johannes Sievert erklärt warum. Der Kom- mentar von Otmar Loffeld deutet allerdings darauf hin, dass sich diese Beziehung auch wieder ändern kann. Die technische Entwicklung der Beziehung zwischen Sensorsystemen und digitalen Medien ist nicht abgeschlossen und kann den vo- rübergehenden historischen Kontrast eines Tages grundlegend relativieren. Wie Friedrich-Wilhelm Hagemeyer vor vielen Jahren aphoristisch zusammenfasste: Ein Spezifikum der Technik jedoch ist es, daß theoretische Probleme auch auf andere Weise, als durch die theoretische Lösung verschwin- den können.1 1 Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten, S. 86. NAVIGATIONEN 262 N A VIG IEREN ANALOG/DIGITAL KOMMENTAR VON JENS SCHRÖTER 1. A/D ist historisch I: Zunächst ist es interessant, dass die Diskussion um den Unterschied von analog und digital, die schon einmal um 2004 und 2005 eine gewisse Konjunktur hatte2, nun erneut aufflammt. Armin Nassehi diskutiert etwa 2019 öffentlichkeitswirksam die ›digitale Gesellschaft.‹3 Das mag man als unscharfe Begriffsverwendung kritisieren, es weist aber auch daraufhin, dass das Begriffspaar zu bestimmten Zeitpunkten offenbar als besonders relevant empfunden wird. Man kann jedenfalls zeigen, dass es erst kurz nach 1945, v.a. im Feld der so genannten Kybernetik, auftaucht und plötzlich als wichtig er- scheint.4 Dass es jetzt wieder in aller Munde ist, mag an der allseits beschwo- renen Digitalisierung liegen. Es scheint irgendeinen Wandel zu geben, der viele Menschen betrifft – und nun möchte man wissen, was es mit dem Digitalen auf sich hat. Doch Nassehi versucht zu zeigen, dass diese Digitalisierung nicht einfach vom Himmel fällt, sondern Wurzeln in außertechnischen, sozialen Ge- gebenheiten hat – oder doch zumindest, dass die digitalen technologischen Verfahren so erfolgreich sind, weil sie zu gegebenen sozialen Mustern gut pas- sen.5 So bemerkt auch Schüttpelz, dass »die digitalen Medien keinen Bruch mit der sozialen und der soziotechnischen Welt, die sie ins Leben gerufen hat [bil- den], aber sie bilden einen auffälligen Kontrast zur Welt der Medienerfindun- gen im späten 19. Jahrhundert.« D.h. eigentlich sind die analogen Technolo- gien, wie etwa die Schallplatte und das Tonband die seltsame historische Ausnahme – was aber impliziert, dass Gesellschaft dem Digitalen schon immer näherstand. War das diskret abzählbare Geld nicht immer schon ein zentraler Code? War das Zählen nicht immer schon eine fundamentale Operation des Digitalisierens? Und das Messen seine analoge Vorbereitung? Die Säule eines Quecksilberthermometers ändert kontinuierlich seine Höhe, an der Skala kann dann ein gerundeter diskreter Wert abgelesen werden. 2. A/D ist nicht nur eine technische Unterscheidung: Es sieht so aus, dass diese Unterscheidung ursächlich aus computer-technischen Zusammenhängen her- vorgegangen ist, aber dann eine Nützlichkeit in vielen anderen Zusammenhän- gen entfaltet hat, eben weil sie zu gegebenen sozialen und auch epistemischen Vorkommnissen passt. Diese anderen Verwendungen des Begriffspaars sind nicht unbedingt unschärfer als die technische Verwendung. So hat etwa Nelson Goodman 1968 in seinem Buch Languages of Art Bild und Text so unterschie- 2 Vgl. Schröter/Böhnke: Analog/Digital; Pflüger: Wo die Quantität in Qualität umschlägt. 3 Vgl. Nassehi: Theorie der digitalen Gesellschaft. 4 Vgl. mein Vorwort in Schröter/Böhnke: Analog/Digital. 5 Ähnlich wie Beniger: Control Revolution, den Nassehi aber problematischerweise mit keinem Wort erwähnt. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 263 SIEVERT / SCHÜTTPELZ / LOFFELD / SCHRÖTER den: Das Bild besitzt ein ›analoges syntaktisches Symbolschema‹ im Unter- schied zum Text, der ein ›digitales syntaktisches Symbolschema‹ aufweise.6 Bilder verfügen über kein klar definiertes Repertoire diskreter Basischaraktere – anders als der Text, nämlich das Alphabet. Dies ist, bei allen Schwierigkeiten, immer noch die beste mir bekannte Unterscheidung von Bild und Text. In der Soziologie hat u. a. Niklas Luhmann mit der Unterscheidung operiert: »Struk- turelle Kopplungen übersetzen analoge Verhältnisse in digitale.«7 Weitere z. T. sehr elaborierte Auseinandersetzungen, etwa in der Philosophie, liegen vor.8 Allerdings kann man fragen: Was hat man davon, Sachverhalte so aufzuglie- dern? Was wird dadurch sichtbar? Warum macht man das überhaupt? 3. A/D tritt immer in Konstellationen auf: Johannes Sievert führt bemerkenswer- terweise die »Kinematografie« als Beispiel für Digitalität auf, eine Einordnung, die vielen Medien- und Filmtheoretiker:innen zunächst befremdlich vorkom- men mag. Aber er hat insofern recht, als die Reproduktion der Bewegung in der Kinematografie auf ihrer Zergliederung in 24 Schnitte pro Sekunde beruht. Das ist umso bemerkenswerter, weil sich erstens hierbei selbst um ein Beispiel handelt, welches nicht auf einer Quantisierung und dann Umwandlung in binä- ren Code beruht. Das reine Prinzip der Zergliederung in Basiseinheiten genügt – ebenso wie beim Text nach Goodman. Kinematografie ist also ein Beispiel, welches darauf verweist, dass es digitale Operationen auch außerhalb von computernahen, technischen (Meß-)verfahren gibt. Zweitens ist jeder ein- zelne Kader – wenn man von der irregulären und nicht gerasterten Körnung des fotografischen Filmmaterials absieht – selbst ein analoges Foto. Ist die Ki- nematografie nicht also ein hybrides System? Und wie Sievert richtig bemerkt, wird jedes digitale Signal am Ende wieder in einen analogen Fluss übersetzt, um wahrnehmbar zu sein. Ist also dann nicht mindestens jede digitale Techno- logie auch analog (wenn auch nicht jede analoge auch digital – wie z. B. der Schallplattenspieler)? Treten nicht immer nur Konstellationen des Analogen und des Digitalen, des Messens und Zählens in verschiedenen Formen auf? Müsste man also nicht, statt immer analog und digital einander gegenüberzu- stellen oder gar – völlig unsinnig – historisch klar aufeinanderfolgen zu lassen, einerseits von der Koexistenz verschiedener analog/digital-Konstellationen und andererseits deren ungleichzeitigen, parallelen, sich evtl. gegenseitig ver- schiebenden historischen Wandlungen ausgehen? Wäre die Beschreibung die- ser Konstellationen nicht die eigentlich interessante und noch zu leistende For- schungsaufgabe? Dabei sind diese Konstellationen sind nie nur technisch – sie umfassen auch die soziologischen, philosophischen, populären, künstlerischen Praktiken und Diskurse der Diskretisierung und Kontinuierung. 6 Vgl. Goodman: Languages of Art, S. 159-164. 7 Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 39. Siehe auch ebd., S. 53: »Das Medium muß (digital) eine gewisse Körnigkeit und (analog) eine gewisse Viskosität aufweisen.« 8 Vgl. Galloway: Laruelle, S. 51-72. NAVIGATIONEN 264 N A VIG IEREN ANALOG/DIGITAL 4. A/D und die Natur. A/D ist historisch II. Sievert bemerkt: »Das digitale Regime ist also kein ›Medium der Natur‹, sondern ein Medium zwischen der bereits in Analogsignale umgewandelten natürlichen Welt und der Welt der menschlich- animalischen Sinne. Digitalisierung ist nicht alles, und sie ist allem Anschein nach nicht unsere Brücke zur ›Natur‹ der naturwissenschaftlichen Größen.« Die »Natur«, was immer diese auch genau sei, scheint nicht digital zu sein, insofern, wie Sievert betont (kritisiert von Loffeld), da die Eingangsgrößen ana- log gemessen und dann digitalisiert werden. Aber was ist mit ihrer Quantelung auf fundamentaler Ebene (sicher, für die Raumzeit und die Gravitation steht ein solcher Nachweis weiterhin aus)? Und bedeutet der Welle/Teilchen-Dua- lismus nicht erneut, dass man es eher mit einer analog/digital-Konstellation zu tun hat? Wie dem auch sein. Wie von Sieverts Aussage, dass »das digitale Regime kein ›Me- dium der Natur‹« zu jener von Schüttpelz - »Die digitale Datenverarbeitung kennt kein Außen mehr« – übergeleitet werden kann, ist mir allerdings schleierhaft. Die digitale Datenverarbeitung kennt ein ökologisches Außen, ihren Rohstoff- und Stromverbrauch. Die von Loffeld zu Recht erwähnte digitale Simulation muss mit empirischen Daten abgeglichen und an ihnen geprüft werden. Digitale Störungen können auf grundlegende physikalische Störungen der Apparaturen hinweisen (und ganz wie in der ›analogen‹ Popmusik zu eigenen Ästhetiken führen, z. B dem ›Glitch‹). Schließlich – Sievert betont: »Digitalisierung ist nicht alles« – gibt es Gren- zen des Berechenbaren, entweder weil es prinzipiell nicht berechnet werden kann oder weil Berechnungen viel zu lange dauern (Verschlüsselungen, z. B. RSA, können darauf basieren).9 Wo es aber Grenzen gibt, ist ein Außen. Die digitale Datenver- arbeitung hat Grenzen – und genau an diesen Grenzen setzen die Bemühungen um Quantencomputer an.10 Diese könnten Probleme lösen, die für klassische Compu- ter nicht lösbar sind, wie etwa die Simulation von Quantensystemen. Sie könnten die genannten Verschlüsselungen brechen. Wie verhält sich nun das Quantencomputing zu der Unterscheidung zwischen analog und digital? Diese Frage spielt in Einführungen zum Quantencomputer zu- nächst wenig bis gar keine Rolle.11 Quantencomputing hält sich nicht an das zent- rale Prinzip der so genannten Digitalisierung, nämlich die binäre Kodierung, die bis- her für Computer wegweisend war.12 Zumindest in dem Sinne, dass ein 9 Vgl. Harel: Computers Ltd. 10 Vgl. zum Folgenden Ernst et al.: Der Quantencomputer und Schröter et al.: Quantum Computing. 11 Diese Frage wird z. B. weder bei Djordjevic: Quantum Information Processing noch bei de Lima Marquezino et al.: A Primer on Quantum Computing erwähnt. 12 Es gab allerdings schon immer auch Computer mit anderen als binären Strukturen, der ENIAC etwa war dezimal, in der UdSSR gab es in den späten 1950er Jahren Versuche mit ›ternären‹, also basal dreiwertigen Computern (vgl. mein Vorwort in Schröter/Böhnke: Analog/Digital). Aber diese Systeme hatten einfach mehr als zwei Basiswerte – das ändert NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 265 SIEVERT / SCHÜTTPELZ / LOFFELD / SCHRÖTER bestimmtes Qubit gleichzeitig 0 und 1 sein kann bzw. in einem Übergang zwischen diesen Zuständen, sind »Quantum computers […] analog devices«, wie Mark Frie- sen, Robert Joynt und M.A. Eriksson im Jahr 2002 behaupteten.13 Martin Warnke argumentiert weiter: »Ich ziehe das Geheimnis der Teilchen vor, die Wellen sind, und muß daher den Schluß ziehen, daß Quantencomputer keine Digital- sondern Analogrechner sind. . . . [Ein Quantencomputer] evolviert eben, nachdem man ihn präpariert hat, um am Ende seinen finalen Zustand einer Messung zur Verfügung zu stellen.«14 Doch anstatt den Quantencomputer als ein rein analoges Phänomen zu betrachten, beschreiben Friesen, Joynt und Eriksson auch »pseudo-digital quan- tum bits«, die auf der Notwendigkeit einer Quantenfehlerkorrektur beruhen. Im gleichen Sinne vertritt Rajendra K. Bera die Ansicht, dass ein Aspekt des Quanten- computers is that the process of error correction has an essential digital character to it, even though a qubit can be in a continuum of possible states. Error detection involves the performance of a series of binary valued quan- tum measurements. Then these bit values provide an instruction for an error detection step, which involves a discrete rotation of a specific state. This digital character derives from the fact that any error which the environment can cause on a single qubit acts in a subspace orthog- onal to the state space of the coded qubit itself.15 Im Quantencomputing können verschiedene Vorteile des analogen und des digita- len Rechnens kombiniert werden – wieder eine Konstellation: As physical entities, computing machines are subject to the laws of ther- modynamics. We know, e.g., that analog devices can be much faster, while generating less heat, than digital devices. This is because it costs a lot of time and energy to shape, maintain, and then move around a digital signal [Achtung: Das Außen!, J. S.]. But our preference for digital computers is because it provides better error control and ease of pro- gramming at the expense of speed.16 Die Fähigkeit von Quantencomputern, Aspekte des Analogen und Digitalen zu kombinieren, hat das deutsche Bundesministerium für Forschung und Bildung kürz- lich dazu veranlasst, ein großes Forschungsprojekt (insgesamt 12,4 Millionen Euro von 2021 bis 2025) zum digital-analogen Quantencomputing zu fördern. nichts an der klaren Getrenntheit der Basiswerte. Quantencomputer werfen, in gewisser Hinsicht, diese klare Getrenntheit über Bord. 13 Friesen et al: Pseudo-digital Quantum Bits. 14 Warnke: Quantum Computing, S. 167. 15 Bera: The Amazing World of Quantum Computing. S. 250. 16 Ebd., S. 185. NAVIGATIONEN 266 N A VIG IEREN ANALOG/DIGITAL Quantencomputing und Technologien für Quantencomputer werden in den nächsten Jahrzehnten einen wichtigen Stellenwert in der wirt- schaftlichen Wertschöpfungskette einnehmen. Gleichzeitig eignen sich die derzeit verfügbaren technischen Methoden noch nicht für eine schnelle Skalierung von digitalen Chiparchitekturen, da hier die Anfor- derungen an die Fehlerkorrektur der Rechenprozesse einen hohen Grad an simultaner Kontrolle über eine große Anzahl an Qubits voraus- setzen. Digitale Quantencomputer kommen somit kurz‐ bis mittelfris- tig für applikationsspezifische Anwendungsfälle nicht in Frage. Im Ge- gensatz zu den konventionellen digitalen Ansätzen, bei der der Rechenprozess aus einer bestimmten Abfolge digitaler Gatter besteht, erfolgt bei analogen Prozessen die Berechnung über kontinuierliche Wechselwirkung zwischen den Qubits. Diese analogen Ansätze sind weniger universell aber auch weniger fehleranfällig.17 Mit Quantencomputern wird der Unterschied zwischen analog und digital neu konstelliert, aber offenbar nicht überflüssig. Vielleicht ist das nun plötzlich neu ent- flammte Interesse18 an der analog/digital-Unterscheidung auch ein Ausdruck dieser Verschiebung. Also ist Schüttpelz zuzustimmen, Hagemeyer hat recht. Am Ende entscheiden Technologien, was wir für theoretische Probleme haben. LITERATURVERZEICHNIS Beniger, James: The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge, MA u.a. 1986. Bera, Rajendra K: The Amazing World of Quantum Computing, Singapur 2020. De Lima Marquezino, Franklin/Portugal, Renato/Lavor, Carlile: A Primer on Quan- tum Computing, Cham 2019. Djordjevic, Ivan B.: Quantum Information Processing, Quantum Computing, and Quantum Error Correction. An Engineering Approach, London u.a. 2021. Ernst, Christoph/Schröter, Jens/Warnke, Martin: »Der Quantencomputer – ein zu- künftiger Gegenstand der Medienwissenschaft?«, in: MEDIENwissenschaft, Nr. 2/3, 2020, S. 30-50. Friesen, Mark/Joynt Robert J./Eriksson, M.A.: »Pseudo-digital Quantum Bits«, 15.8.2002, https://arxiv.org/abs/quant-ph/0208105, letzter Zugriff 6.11.2021. 17 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Projekt DAQC (Digital-Analoge Quanten- computer), https://www.quantentechnologien.de/forschung/foerderung/quantenprozes- soren-und-technologien-fuer-quantencomputer/daqc.html. Siehe auch Parra-Rodriguez et al.: Digital-Analog Quantum Computation. 18 Vgl. Galloway/Geoghegan: Shaky Distinctions. Siehe schon Galloway: 10 Theses. NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 267 SIEVERT / SCHÜTTPELZ / LOFFELD / SCHRÖTER Galloway, Alexander: 10 Theses on the Digital, Bochumer Kolloquium Medienwis- senschaft, https://mediarep.org/handle/doc/14956, 09.05.2012, letzter Zugriff 6.11.2021. Galloway, Alexander: Laruelle. Against the Digital, Minneapolis/London 2014. Galloway, Alexander/Geoghegan, Bernard: »Shaky Distinctions: A Dialogue on the Digital and the Analog«, in: E-flux Journal 121, Oktober 2021, https://www.e- flux.com/journal/121/423015/shaky-distinctions-a-dialogue-on-the-digital- and-the-analog/, letzter Zugriff 6.11.2021. Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indian- apolis u.a. 1968. Hagemeyer, Friedrich-Wilhelm: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik, Dissertation, TU Berlin 1979, http://weisses-rau- schen.de/hero/hagemeyer/hagemeyer_dissertation.pdf) Harel, David: Computers Ltd. What they really can’t do, Oxford u.a. 2000. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992. Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019. Parra-Rodriguez, Adrian et al.: »Digital-Analog Quantum Computation«, in: Physi- cal Review A, Jg. 101, Nr. 2, 2020, https://doi.org/10.1103/Phys- RevA.101.022305. Pflüger, Jörg: »Wo die Quantität in Qualität umschlägt. Notizen zum Verhältnis von Analogem und Digitalem«, in: Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen (Hrsg.): HyperKult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Me- dien, Bielefeld 2005, S. 27-95. Schröter, Jens/Böhnke, Alexander (Hrsg.): Analog/Digital – Opposition oder Konti- nuum. Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004. Schröter, Jens/Ernst, Christoph/Warnke, Martin: »Quantum Computing and the Analog/Digital Distinction«, in: Grey Room, Nr. 86, 2022, S. 28-49. Warnke, Martin: »Quantum Computing«, in: ders./Wolfgang Coy/Georg_Christoph Tholen (Hrsg.): HyperKult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Me- dien, Bielefeld 2005, S. 151-169. NAVIGATIONEN 268 N A VIG IEREN AUTORINNEN UND AUTOREN Daniela Adscheid ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienkul- turwissenschaft der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Verkehrs- und Medienstrukturen der Seeschifffahrt und Medien der Navigation. Dissertations- thema: ›Von Kolumbus zum Online-Sailor – Verkehrsmedien und Medienverkehr.‹ James R. Akerman promovierte an der Pennsylvania State University in Geogra- phie. Er ist Direktor des Hermon Dunlap Smith Center for the History of Carto- graphy der Newberry Library und dort Kurator für Landkarten. Er ist Autor zahl- reicher Studien über die sozialen und politischen Aspekte der Kartographie, des Transports und der Reisekartographie sowie der Geschichte der Atlanten. Zu den von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlungen gehören Mapping Nature across the Americas (mit Kathleen Brosnan, Chicago 2021), Decolonizing the Map (Chicago 2017), The Imperial Map (Chicago 2009), Maps: Finding Our Place in the World (mit Robert Karrow, Chicago 2007), und Cartographies of Travel and Navigation (Chicago 2006). Er hat mehrere Ausstellungen kuratiert oder mitkuratiert, zuletzt Crossings: Mapping American Journeys (2022). Seit 2002 hat er die Entwicklung von drei großen Projekten im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften geleitet: Historic Maps in K-12 Classrooms; Make Big Plans: Daniel Burnham’s Vision of an American Metropolis; and Mapping Movement in American History and Culture. Asher Boersma ist wissenschaftlicher Koordinator der DFG Forschungsgruppe Mediale Teilhabe an der Universität Konstanz. Er promovierte an der Universität Siegen im Fach Medienwissenschaft mit einer Ethnographie über nautische Medi- entechnologie und Mobilität in Westeuropa. Derzeit beschäftigt er sich mit 1) inf- rastrukturellen Praktiken der Europ äisierung am Beispiel von Rheinschiffer:innen, die in den 1990er Jahren erstmals die Donau mit Hilfe lokaler Lots:innen befuhren und 2) der preußischen Förderung der Dampfschifffahrt auf dem Rhein im 19. Jahr- hundert. Er vergleicht diese als ein ›Infrastrukturieren des Empires‹ mit der heuti- gen russischen Öffnung der Nordostpassage mit Hilfe von nuklearen Eisbrechern. Christoph Borbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Science, Technology & Media Studies der Universität Siegen. Zuvor war er wissenschaftli- cher Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Junior Fellow am Kolleg »Medienkulturen der Computersimulation« (MECS) an der Leuphana Universität Lüneburg und als Lehrbeauftragter u.a. an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Burg Giebichenstein Kunsthochschule (Halle/Saale) und der Universität Wien tätig. Er forscht zu Mediengeschichte, -theorie und Epistemologie digitaler Kulturen. NAVIGATIONEN N A VIG IEREN AUTORINNEN UND AUTOREN Torsten Hägerstrand (*1916 in Moheda, Gemeinde Alvesta; † 3. Mai 2004 in Lund) war ein schwedischer Humangeograf, dessen bekanntesten Arbeiten in den Bereichen Migration, kulturelle Diffusion und Zeitgeografie angesiedelt sind. Der gebürtige und in Schweden lebende Hägerstrand war Professor für Geografie an der Universität Lund, wo er 1953 mit einer Arbeit zu Innovationswellen promoviert wurde. Seine Forschungen haben dazu beigetragen, Schweden und insbesondere Lund zu einem wichtigen Zentrum innovativer kulturgeographischer Arbeiten zu machen. Über seine Studenten beeinflusste er auch die Praxis der Raumund Stadt- planung in Schweden. Max Kanderske ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Science, Tech- nology & Media Studies der Universität Siegen. Im Rahmen seiner Forschungen in- nerhalb des Teilprojekts »Navigation in Online/Offline-Räumen« des SFB »Medien der Kooperation« verfolgt er sein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel »Rau- schende Karten. Eine praxeologische Untersuchung selbstlokalisierender Inter- faces«. Seine Beschäftigung mit den Technologien und Praktiken der Navigation konzentriert sich auf die robotische Navigation autonomer Fahrzeuge und semi- autonom agierender Haushaltsroboter. Kontakt: Max.Kanderske@gmail.de. Karina Kirsten ist wissenschaftliche Koordinatorin des SFB 1187 »Medien der Ko- operation« an der Universität Siegen. Sie studierte Film- und Medienwissenschaft in Marburg und Paris und promovierte 2020 mit einer genrehistorischen Arbeit an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsinteressen verorten sich im Be- reich der Genreforschung, Medienkonvergenz und mobilen Medien. Gegenwärtig forscht sie zum Einsatz mobiler Medientechnologien im alpinen Bergsport und ih- ren Auswirkungen auf Raum, Mobilität und alpiner Kultur. Ihre Dissertation er- schien 2022 unter dem Titel Genresignaturen im Spiegel ihrer Zeit. Susanne Müller ist Akademische Mitarbeiterin am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Im Jahr 2012 erschien Ihre Dissertationsschrift Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945 im Campus- Verlag. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die (populäre) Medienkulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zudem forscht sie zur Technikgeschichte des 19. Jahr- hunderts, zur Geschichte des Erfindens, zur medialen Praxis des Formatierens. Kontakt: susanne.mueller@uni-potsdam.de Manfred Pfaffenthaler ist Lehrbeauftragter für Erkenntnis- und Wissenschafts- theorie am Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Hu- manities der Universität Graz. Zuvor war er Post-Doc am Graduiertenkolleg »Das NAVIGATIONEN 270 N A VIG IEREN Reale in der Kultur der Moderne« der Universität Konstanz, wo er an einem For- schungsprojekt zur Staatlichkeit und visueller Kohäsion in den Wissenschaften der Habsburgermonarchie gearbeitet hat. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen: gem. mit Gutmeyr, Dominik: »Co-Optation and Autonomy of the Photographic Object. On Ethnographic Photography in the Russian and Habsburg Empires«, in: Pichler, Robert al. (Hrsg.): From the Highlands to Hollywood. Multidisciplinary Per- spectives on Southeast Europe, Wien/Köln/Weimar 2020, S. 181–198; gem. mit Göderle, Wolfgang (Hrsg.): Dynamiken der Wissensproduktion. Räume, Zeiten und Akteure im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2018. Sebastian Scholz ist Medienwissenschaftler und Assistant Professor an der Vrije Universiteit Amsterdam (NL). Zu seinen Interessensgebieten in Forschung und Lehre gehören die Bereiche Medienhistoriographie und Medienarchäologie, zeit- genössische Medienästhetik und Biopolitik, die historische Verschränkung von Me- dien- und Wissenschaftsforschung, sowie mediale Zusammenhänge von Sichtbar- keit und Sichtbarmachung. Aktuell bilden Überlegungen zu Sensormedien in technoökologischen Medienumwelten den Forschungsschwerpunkt. Scholz ist un- ter anderem Mitherausgeber der Bände »Raum – Wissen – Medien. Zur raumthe- oretischen Reformulierung des Medienbegriffs.« (transcript 2012) und »TATORT Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers.« (Campus 2010) Zuletzt er- schien die Monographie »Epistemische Bilder. Zur medialen Onto-Epistemologie der Sichtbarmachung« (transcript 2021; verfügbar im Open Access unter: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5303-8/epistemische-bilder/). Sebastian Schwesinger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr- und For- schungsbereich Kulturtechniken und Wissensgeschichte am Institut für Kulturwis- senschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinem Promotionsprojekt unter- sucht er die Entwicklungsstränge der raumakustischen Modellierungs- und Simulationspraktiken, ihre medialen Transformationen und epistemischen Konzep- tionen des Gefüges von Raum und Klang. Er ist Mitbegründer und Co-Organisator des Berliner Forschungsnetzwerks KlangDenken/Sonic Thinking. Florian Sprenger ist Professor für Virtual Humanities an der Ruhr-Universität Bo- chum. Er forscht zur Geschichte künstlicher Umgebungen, virtuellen Objekten und robotischer Navigation. Tristan Thielmann ist Professor für Science, Technology and Media Studies an der Universität Siegen und Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereichs 1187 »Medien der Kooperation«, an dem er mit den Teilprojekten A03 »Navigation in Online-/Offline-Räumen« und P01 »Wissenschaftliche Medien der Praxistheorie« beteiligt ist. 2018 wurde Tristan Thielmann für seine besonderen Verdienste zur NAVIGATIONEN NA VIG IEREN 271 AUTORINNEN UND AUTOREN Erforschung der Navigationsgeschichte zum Associate Fellow des Royal Institute of Navigation ernannt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Mediengeogra- phien, Ethno- und Technomethodologien, Medien-, Sozial- und Technikgeschichte, Navigation Studies sowie kulturelle Kartographien. NAVIGATIONEN 272 N A VIG IEREN