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Dirk Günthers und Frank Klötgens "Die Aaleskorte der Ölig" oder: Der tiefe Sinn des Banalen. Ein Kombinationsabenteuer

Abstract

Der Preisträger des Pegasus-Wettbewerbs 1998 erzählt in 20 Szenen (Bild plus kurzer Text) den Verkauf eines Aales. Die Leser müssen zuvor selbst entscheiden, aus welcher Perspektive sie eine bestimmte Szene sehen wollen, zur Auswahl stehen: der kindliche Erzähler, die Ölig, Fischverkäufer Hohmann, der Aal, die Kinder der Siedlung. Der Gag dieser technischen Raffinesse (es bestehen rund 6,9 Milliarden Variationsmöglichkeiten) entschädigt allerdings nicht für die Banalität der Geschichte und die Ästhetik des Hässlichen, der Bilder wie Text offensichtlich verpflichtet sind. Erscheint das Ganze auf den ersten Blick als schnell erschöpfter Witz, dessen Multimedialität und Effekthascherei der milliardenfachen Permutation die Jury zu einer recht zweifelhaften Entscheidung verführt zu haben scheint, so stößt die hartnäckigere Lektüre auf interessante Sinnebenen unter der Oberfläche. Die aufdringliche sexuelle Aufladung vieler Szenen und die seltsam gebrochene Erinnerung der Ölig an die Familienharmonie ihrer Kindheit geben einigen psychoanalytischen Spekulationen Raum. Diese lassen - die Leser müssen hier zwischen zwei angebotenen Lesarten wählen - zum einen eine Spielform des Electra-Komplexes aufscheinen, in der der Kauf des Aales, der als Verschiebung des Phalluswunsches den verlorengegangenen Vater repräsentiert, die nachträglich vorgenommene Heirat bedeutet. Zum anderen kann der Text auch so gelesen werden, dass die Ölig die psychischen Folgen eines kindlichen Missbrauchs aufzuarbeiten versucht. Da sie dies innerhalb ihres Verdrängungsparadigmas versucht, das den Phallus durch den Aal ersetzte und die Aggression auf dessen Verzehr umlenkte, kollidiert ihr Unterfangen mit den etablierten sozialen Normen, die gegen die sodomitische Begierde die Ausrichtung auf den Mann setzen. Aus dieser Perspektive wird das seltsame Verhalten des Fischhändlers verständlich, der im Aal den Konkurrenten tötet (sein Phallus contra Aal), um anschließend sich selbst als libidinöses Objekt anzubieten... Trägt man dem Unernst Rechnung, der die "Aaleskorte" insgesamt begleitet, wird man ihren Endsinn jedoch nicht in der Psychoanalyse vermuten, sondern in der Metareflexion auf das eigene Medium. Scheint das Ganze zunächst eine Übertreibung der Navigationsvielfalt (dem genuinen Merkmal des Hypertextes) zu sein, erweist es sich schließlich als Apotheose der linearen Form. Statt in der Unverbindlichkeit der kombinatorischen Offenheit sich zu erschöpfen, praktiziert es im Gegenteil das Prinzip der konnotativen Offenheit, wie es aus der Printliteratur bekannt ist. Nachdem die Rezension so in wiederholten, spiralförmigen Tiefenbohrungen die Geschichte entwickelt hat, die die Autoren, bewusst oder nicht, in ihrem Geflecht absurder, abstoßender und banaler Bild-Text-Einheiten versteckten, wird abschließend die ästhetische Seite der "Aaleskorte" diskutiert. Die Erörterung geht aus von einem zuvor entwickelten Kriterienkatalog für die Bewertung digitaler Literatur und behandelt sowohl Aspekte der Multimedialität und Technik-Ästhetik wie der 'Linkpolitik' und Bildschirmästhetik.


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Simanowski, Roberto: Dirk Günthers und Frank Klötgens "Die Aaleskorte der Ölig" oder: Der tiefe Sinn des Banalen. Ein Kombinationsabenteuer. In: Dichtung Digital. Journal für Kunst und Kultur digitaler Medien, Jg. 1 (1999-08-18), Nr. 3, S. 1-32. DOI: http://dx.doi.org/10.25969/mediarep/17308.
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