MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews herausgegeben von Malte Hagener · Angela Krewani Karl Riha · Burkhard Röwekamp Jens Ruchatz · Yvonne Zimmermann in Verbindung mit Andreas Dörner · Thomas Elsaesser · Jürgen Felix Andrzej Gwóźdź · Knut Hickethier Jan-Christopher Horak · Anton Kaes · Friedrich Knilli Gertrud Koch · Hans-Dieter Kübler Helmut Schanze · Gottfried Schlemmer · Matthias Steinle Margrit Tröhler · William Uricchio Hans J. Wulff · Siegfried Zielinski MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews Begründet von Thomas Koebner und Karl Riha Herausgeber_innen: Malte Hagener (Marburg), Angela Krewani (Marburg), Karl Riha (Siegen), Burkhard Röwekamp (Marburg), Jens Ruchatz (Marburg), Yvonne Zimmermann (Marburg) Redaktion: Vera Cuntz-Leng (verantwortlich) und Lydia Korte Mitarbeit: Elisabeth Faulstich, Dorian Lummel Beirat: Andreas Dörner (Marburg), Thomas Elsaesser (Amsterdam), Jürgen Felix (Blieskastel), Andrzej Gwóźdź (Katowice), Knut Hickethier (Hamburg), Jan-Christopher Horak (Pasadena), Anton Kaes (Berkeley), Friedrich Knilli (Berlin), Gertrud Koch (Berlin), Hans-Dieter Kübler (Werther), Helmut Schanze (Siegen), Gottfried Schlemmer (Wien), Matthias Steinle (Paris), Margrit Tröhler (Zürich), William Uricchio (Cambridge/Mass.), Hans J. Wulff (Westerkappeln), Siegfried Zielinski (Berlin) Kontakt: Redaktion MEDIENwissenschaft Philipps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Straße 6A 35039 Marburg Telefon: (0 64 21) 282 5587 Telefax: (0 64 21) 282 6993 E-Mail: medrez@staff.uni-marburg.de Website: http://www.medienwissenschaft-rezensionen.de Eine Veröffentlichung der Philipps-Universität Marburg. MEDIENwissenschaft erscheint vierteljährlich im Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, 35037 Marburg, Telefon (0 64 21) 6 30 84, Telefax (0 64 21) 68 11 90. WWW: http://www.schueren-verlag.de, E-Mail: info@schueren-verlag.de Das Einzelheft kostet € 18,00, das Jahresabonnement € 60,00 . Anzeigenverwaltung: Katrin Ahnemann. ISSN 1431-5262 © Schüren Verlag GmbH, Marburg 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen. Gemäß § 10 des hessischen Pressegesetzes sind wir zum Abdruck von Gegendarstellungen – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – verpflichtet. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Printed in Germany. 241 Editorial Liebe Leser_innen, einmal mehr halten Sie eine Doppelausgabe der Zeitschrift in Händen, die sich aus einem personellen Wechsel in der Redaktion ergeben hat. Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Dr. Stefanie Klos und Lena Liebau bedanken, die im Sommer andere berufliche Herausforderungen ange- nommen haben. Für die Zukunft wünschen wir beiden alles Gute. Nach mehr als dreijähriger Abwesenheit ist Dr. Vera Cuntz-Leng in ihre Funktion als leitende Redakteurin zurückgekehrt. Unterstützt wird sie nun von Lydia Korte M.A., die den Weg von der Universität Siegen zu uns nach Marburg gefunden hat und derzeit ihre Dissertation zu Praktiken und Ästhetik des Selfies vorbereitet. Wir wünschen Ihnen entspannte Feiertage, bleiben Sie gesund, Ihre Herausgeber_innen 242 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Inhalt Perspektiven Medien der Immunität: Konturen eines medienwissenschaftlichen Forschungsfeldes Olga Moskatova & Sven Grampp ...................................................................247 Neuerscheinungen: Besprechungen und Hinweise Im Blickpunkt Wolfgang Ernst: Geistervorlesung: Techniknahe Analyse in Zeiten der Pandemie Anne Ulrich .................................................................................................... 269 Medien / Kultur Drew Ayers: Spectacular Posthumanism: The Digital Vernacular of Visual Effects Lucas Curstädt ............................................................................................... 272 Berenike Jung, Klaus Sachs-Hombach, Lukas R.A. Wilde (Hg.): Agency postdigital: Verteilte Handlungsmächte in medien- wissenschaftlichen Forschungsfeldern Alisa Kronberger ............................................................................................. 274 Christian Bonah, Anja Laukötter (Hg.): Body, Capital, and Screens: Visual Media and the Healthy Self in the 20th Century Charmaine Voigt ............................................................................................ 276 Ingo Cornils: Beyond Tomorrow: German Science Fiction and Utopian Thought in the 20th and 21st Centuries Rolf Löchel .....................................................................................................277 Theresa Eisele: Szenen der Wiener Moderne: Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen Günter Helmes ................................................................................................ 279 Rayner García Hernández: Medienpolitik in Kuba: Zur Transformation kultureller und sozialer Aspekte Hans-Dieter Kübler ........................................................................................281 Sammelrezension Fake News Ralf Hohlfeld, Michael Harnischmacher, Elfi Heinke, Lea Sophia Lehner, Michael Sengl (Hg.): Fake News und Desinformation: Herausforderungen für die vernetzte Gesellschaft und die empirische Forschung Christian Schicha, Ingrid Stapf, Saskia Sell (Hg.): Medien und Wahrheit: Medienethische Perspektiven auf Desinformation, Lügen und „Fake News“ Hans-Dieter Kübler ........................................................................................283 Inhaltsverzeichnis 243 Buch, Presse, Druckmedien Jörn Ahrens (Hg.): Der Comic als Form: Bildsprache, Ästhetik, Narration Barbara Margarethe Eggert ............................................................................286 Lukas Etter: Distinctive Styles and Authorship in Alternative Comics Barbara Margarethe Eggert ............................................................................288 Anja Meyer: Images of Traumatic Memories: Intersections of Literature and Photography in the Novels of Riggs, Safran Foer and Seiffert Gianna Schmitter ...........................................................................................290 Peter Weibel: Enzyklopädie der Medien: Band 4: Literatur und Medien. Expansion der Sprachkunst ins visuelle und technische Feld. Ausgewählte Schriften von Peter Weibel Frank Haase ...................................................................................................292 Szenische Medien Ivo Eichhorn: Kritik und Reproduktion der Ideologie im Theater der Gegenwart Yana Prinsloo .................................................................................................294 Leon Gabriel: Bühnen der Altermundialität: Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis Inga Bendukat ................................................................................................296 Hanna Heinrich: Ästhetik der Autonomie: Philosophie der Performance-Kunst Susanne Schwertfeger ......................................................................................298 Florian Malzacher: Gesellschaftsspiele: Politisches Theater heute Yana Prinsloo .................................................................................................300 Claudia Tobin: Modernism and Still Life: Artists, Writers, Dancers Anna-Lena Weise ...........................................................................................302 Fotografie und Film Stephan Ahrens (Hg.): Vom Klang bewegt: Das Kino und Ludwig van Beethoven Hans J. Wulff..................................................................................................304 Christian Alexius, Lucas Curstädt, Björn Hayer: Paolo Sorrentino: Das Werk eines Ästheten Christian Kaiser .............................................................................................306 Christian Alexius: Den Glauben an die Welt mit dem Wahnsinn bezahlen: Reflexionen zum postklassischen Kino Wolfgang Schlott .............................................................................................308 Neil Archer: Cinema and Brexit: The Politics of Popular English Film Sarah Heinz ................................................................................................... 310 244 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Jane Birkin: Archive, Photography and the Language of Administration Sophie Mayr ................................................................................................... 312 Nathalie Dietschy: The Figure of Christ in Contemporary Photography Matthias Kuzina ............................................................................................ 313 Glen Donnar: Troubling Masculinities: Terror, Gender, and Monstrous Others in American Film Post-9/11 Drew Bassett .................................................................................................. 315 Oliver Fahle: Theorien des Dokumentarfilms zur Einführung Martin Janda ................................................................................................. 317 Jörn Glasenapp (Hg.): Kontinuität im Wandel: Begegnungen mit dem Filmemacher Wim Wenders Andreas Becker ............................................................................................... 318 Michael Grisko, Günter Helmes (Hg.): Biographische Filme der DEFA: Zwischen Rekonstruktion, Dramaturgie und Weltanschauung Barbara von der Lühe ..................................................................................... 322 Felix T. Gregor: Die Un/Sichtbarkeit des Kapitals: Zur modernen Ökonomie und ihrer filmischen Repräsentation Hanna Prenzel ............................................................................................... 325 Wolfgang Hagen: Neudasein: Essays zur sozialen Epistemologie der Smartphone-Fotografie Evelyn Runge ................................................................................................. 327 Barbara Hales, Valerie Weinstein (Hg.): Rethinking Jewishness in Weimar Cinema Jan-Christopher Horak ................................................................................... 329 Andreas Hamburger, Gerhard Schneider, Peter Bär, Timo Storck, Karin Nitzschmann (Hg.): Jean-Luc Godard: Denkende Bilder Christian Kaiser ............................................................................................. 331 Erin Franziska Högerle: Asian American Filmfestivals: Frames, Locations, and Performances of Memory Dagmar Brunow ............................................................................................ 333 Christina Irrgang: Hitlers Fotograf: Heinrich Hoffmann und die nationalsozialistische Bildpolitik Jan-Christopher Horak ................................................................................... 335 Christian Keßler: Gelb wie die Nacht: Das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute Julian Körner ................................................................................................. 337 Michael Raine, Johan Nordström (Hg.): The Culture of the Sound Image in Prewar Japan Nadine Soraya Vafi ......................................................................................... 339 Carl Plantinga: Alternative Realities Drew Bassett ..................................................................................................340 Douglas Pye (Hg.): V. F. Perkins on Movies: Collected Shorter Film Criticism Christoph Hesse ..............................................................................................342 Inhaltsverzeichnis 245 Jelena Rakin: Film Farbe Fläche: Ästhetik des kolorierten Bildes im Kino 1895-1930 Christian Kaiser .............................................................................................344 Sarah E. S. Sinwell: Indie Cinema Online Maribel Cedeño Rojas .....................................................................................346 Étienne Souriau: Das filmische Universum: Schriften zur Ästhetik des Kinos Martin Janda .................................................................................................348 Jan Uelzmann: Staging West German Democracy: Governmental PR Films and the Democratic Imaginary, 1953-63 Peter Ellenbruch ............................................................................................. 350 Elizabeth Ward: East German Film and the Holocaust Michael Karpf ................................................................................................ 351 Kristopher Woofter, Will Dodson (Hg.): American Twilight: The Cinema of Tobe Hooper Ivo Ritzer ...................................................................................................... 353 Sammelrezension: Prekarität im Film Francesco Sticchi: Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/Extinction Gabriel Bortzmeyer: Le Peuple précaire du cinéma contemporain Guido Kirsten ................................................................................................. 356 Hörfunk und Fernsehen Eve Bennett: Gender in Post-9/11 American Apocalyptic TV: Representation of Masculinity and Feminity at the End of the World Rolf Löchel .....................................................................................................360 Vincent Fröhlich, Sophie G. Einwächter, Maren Scheurer, Vera Cuntz-Leng (Hg.): Serienfragmente Sebastian Stoppe ............................................................................................. 362 Dominik Maeder, Herbert Schwab, Stefan Trinkaus, Anne Ulrich, Tanja Weber (Hg.): Trump und das Fernsehen: Medien, Realität, Affekt, Politik Christian Schicha ............................................................................................364 Stefania Marghitu: Teen TV Florian Krauß ................................................................................................ 367 Bridget Rubenking, Cheryl Campanella Bracken: Binge Watching: Motivations and Implications of Our Changing Viewing Behaviors Marie Zarda .................................................................................................. 369 246 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Digitale Medien Christopher Bartel: Video Games, Violence, and the Ethics of Fantasy: Killing Time Martin Janda ................................................................................................. 371 Philipp Bojahr: Visuelle Montageformen des Computerspiels Sebastian Stoppe ............................................................................................. 373 Jean Burgess, Nancy K. Baym: Twitter: A Biography Jan Hinnerk Freytag ....................................................................................... 375 Benjamin Krämer: How to Do Things with the Internet: Handlungstheorie online Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 376 Martin Lorber, Felix Zimmermann (Hg.): History in Games: Contingencies of an Authentic Past Iris Haist ........................................................................................................ 378 Ole Nymoen, Wolfgang M. Schmitt: Influencer: Die Ideologie der Werbekörper David Jagella .................................................................................................380 Thomas Poell, David Nieborg, Brooke Erin Duffy: Platforms and Cultural Production Kevin Pauliks .................................................................................................382 Autorinnen und Autoren.......................................................................384 Perspektiven 247 Perspektiven Olga Moskatova & Sven Grampp Medien der Immunität: Konturen eines medienwissenschaftlichen Forschungsfeldes Von der Virologie zur Immunologie ken des Immunen auskommen. Ob Viren sind schon seit Längerem For- Plastiktrennwände, Abstandsmarkie- schungsgegenstand in der Medi- rungen, Gesichtsmasken oder digitale enwissenschaft. Spätestens mit den Bildschirme – die biopolitischen und Entwicklungen des Web 2.0. und den diskursiven Reaktionen auf die Ausbrei- damit verbundenen Formen des Teilens tung von COVID-19 haben eindrück- und Verbreitens von Bild-, Text- und lich gezeigt, dass Medien eine zentrale Tonmaterial ist die biologische Meta- Rolle für den Schutz und die Herstel- 1 pher des Viralen gängig. Mit ‚Com- lung sicherer Abstände erfüllen. Wir puterviren‘ als Bezeichnung für die möchten diese Lage zum Ausgangs- Computer-Malware wird ebenfalls auf punkt nehmen, um grundsätzlich nach das semantische Feld der krankma- der protektiven Funktion der Medien chenden Ansteckung verwiesen (vgl. zu fragen. Plädiert wird insbesondere Parikka 2007). Viren betreffen dabei dafür, die Schutzfunktion im Rahmen nicht nur die mediale Grundoperation immunologischer Theoriemodelle des Übertragens (vgl. Krämer 2008, zu diskutieren, genauer: Medien der Immunität zu untersuchen und als ein S.138-159), mithin wird auch die medienwissenschaftliches Forschungs- Sozialität als ein Prozess gegenseitiger feld anzuregen. Das ist zum einen des- Ansteckung beziehungsweise anstek- halb von Interesse, weil die Virologie kender Übertragung der Ideen, Verhal- – ganz im Gegensatz zur Immunologie tensweisen, Ideologien et cetera erklärt – im medien- und kulturwissenschaft- (vgl. Tarde 2003). Mit der Corona- lichen Milieu bereits etabliert ist. Zum Krise, die der Virologie der Medien anderen lassen sich entlang der Immu- zu einer neuen Popularität verhilft, ist nitätstheorien Strukturlogiken des indes ebenso deutlich geworden, dass Schützens differenzieren, die sich für symbolische wie materielle Anstek- kungsprozesse nicht ohne gegentei- 1 Erstaunlicherweise wird Schutz in der lige Operationen des Abschirmens, Konzeption der „pandemic media“ (Keidl Schützens und Abwehrens und damit et al. 2020) – einer der ersten medien-wissenschaftlichen Publikationen zur nicht ohne die Diskurse und Prakti- Corona-Krise – übersehen. 248 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 die systematische Beschreibung medi- turtheoretische Ansätze der Immu- aler Vorgänge eignen. nität vorgestellt. Entlang Espositos Vor diesem Hintergrund fällt auf, politisch-philosophischer Immunolo- dass in der Medientheorie zwar die gie sollen wesentliche Kernprobleme Übertragung, Speicherung und Ver- des Immunitären identifiziert und auf arbeitung als elementare Medienope- medienwissenschaftliche Implika- rationen verstanden werden, aber die tionen befragt werden. Im nächsten Relevanz der Medien für den Schutz Schritt setzen wir Sloterdijks kulturge- von Lebewesen zumeist vernachlässigt schichtliche Genealogie von Immun- wird (vgl. Cuntz 2020, S.170). Obwohl sphären mit diesen Strukturlogiken auf der einen Seite kanonische medien- in Beziehung, um dergestalt die rele- theoretische Positionen – von Benjamin vanten technisch-medialen Aspekte über Kracauer bis hin zur premedia- herauszuarbeiten. Im dritten Schritt tion – den Medien psychotechnische werden medientheoretische Konzepte, Schutzfunktionen zusprechen und auf die sich explizit oder implizit mit der anderen Seite Sicherheits- und medialen Schutzfunktionen befassen, Überwachungsdiskurse Schutz und anhand charakteristischer Mechanis- Abschirmen thematisieren, hat dies men des Immunen systematisch ausdif- bis dato selten zu einer systemati- ferenziert. Dementsprechend werden schen Auseinandersetzung mit medi- medientheoretische Positionen ausge- alen Immunitätsfunktionen geführt, hend von Problemen (1) des Schließens geschweige denn zur Einsicht, dass und Öffnens über solche (2) der Dosie- Schützen zu den medialen Basisopera- rung bis hin zu (3) der Individualisie- tionen zu zählen ist. Ausnahmen bilden rung und Personalisierung diskutiert, hier die Arbeiten von Michael Cuntz um so zentrale Facetten und Desiderate (2020) und insbesondere die von Peter eines medientheoretischen Zugriffs auf Sloterdijk (2004). Während Cuntz sich immunitäre Schutzfunktionen aufzu- dafür ausspricht, Medien als Schutzmi- zeigen. lieus zu untersuchen (vgl. Cuntz 2020, S.170f.), hat Sloterdijk eine umfas- sende Kulturgeschichte ausgehend von Immunitätstheorien der Konstruktion technisch-medialer Immunität ist ein verzweigtes diskur- Immunsphären entworfen und damit sives Feld, das medizinische, juristi- eine der medienaffinsten Theorien der sche, biopolitische und technologische Immunität vorgelegt. Problemstellungen bündelt. Als biolo- Um daran anschließend das For- gische Metapher für gesellschaftliche schungsfeld „Medien der Immunität“ Prozesse stellt das Immunsystem einen abzustecken, geht vorliegender Beitrag dominanten Bezugspunkt dar, um in drei Schritten vor: Zunächst werden materielle und symbolische Differen- einschlägige philosophische und kul- zen im Spätkapitalismus zu reflektieren Perspektiven 249 (vgl. Haraway 1991, S.204). Es liefert Erkenntnis- und Abwehrmechanismus spezifische Modelle, um das Verhältnis aufgefasst, der auf der Unterscheidung von Schutz und Bedrohung, Fremdem von Selbst und Nicht-Selbst basiert und Eigenem auf kollektiver wie indi- (vgl. H araway 1991, S.204; Tauber vidueller Ebene zu denken. Zugleich ist 2018, S.2). Damit sind Schutz, Indivi- immunitas ein zentraler Topos aktueller dualität und Autonomie zentrale Prä- politischer Philosophie: Von Derrida missen der biomedizinischen Modelle, (2003), Esposito (2004b; 2013) und die erst in den letzten Jahrzehnten Lorey (2011) wurden Macht- und eine Revision erfahren und zugunsten Herrschaftslogiken auf ihre je spezi- ökologisch-symbiotischer wie integra- fischen Schutzmechanismen und die tiver Immunvorstellungen verschoben damit einhergehenden Ein- und Aus- werden (vgl. Tauber 2018, S.2-5). Das schlüsse befragt. Wenn philosophische Immunsystem wird hier – entgegen Auseinandersetzungen mit Immuni- des älteren, selbstidentitären Modells tät auf ihre medienwissenschaftliche – als ein interdependentes Verhältnis Anschlussfähigkeit untersucht werden zwischen dem Lebendigen und seiner sollen, so hilft es zunächst zu markieren, Umgebung verstanden, das durch eine dass sie ihrerseits auf biologisch-medi- für das Lebendige produktive Toler- zinische Immunitätsmodelle Bezug anzspanne gegenüber dem Fremden nehmen. Diese haben eine bestimmte gekennzeichnet ist (vgl. ebd., S.4-11). Diskursgeschichte, die insofern für uns In diesem Zusammenhang hat der relevant ist, als das Feld der medien- italienische Philosoph Roberto Esposito wissenschaftlichen Fragemöglichkeiten eine diskursprägende philosophische dadurch ausgerichtet wird. Auseinandersetzung mit immunitären Biomedizinische Konzepte der Logiken vorgelegt. Er perspektiviert Immunität gehen auf das 19. Jahrhun- Immunität biopolitisch und identifi- dert zurück, wobei sie virologisch-epi- ziert sie als missing link zwischen Leben demiologisch grundiert sind und das und Politik in Foucaults Überlegungen Immunsystem als ein ‚Abwehrsystem (vgl. Esposito 2006, S.24). Laut Espo- von infektiösen Bedrohungen‘ und sito ist die Herausbildung immunitä- ‚Invasionen von außen‘ konzipieren rer biopolitischer Herrschaftsformen (vgl. Mutsaers 2020, S.29ff.). Ihnen insbesondere für die Moderne charak- ist somit eine kriegerisch-militärische teristisch (vgl. Esposito 2004b; 2013). Metaphorik eingeschrieben, deren geo- Diese zeichnet sich durch die Bildung politische Implikationen sie für Über- von Immunisierungs-dispositiven aus, tragungen in politische Philosophien sodass unsere gegenwärtige Lage durch prädestinieren. Noch in den dominan- ein Immunitätsparadigma bestimmt ten Immunitätsmodellen des 20. Jahr- ist (vgl. Esposito 2013, S.58f.). Zwar hunderts ist diese Vorstellung präsent. weist jede Gesellschaft ein Schutzbe- Das Immunsystem wird dort als ein dürfnis auf, so argumentiert der italie- 250 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 nische Philosoph, doch dieses hat – vor Seite weist die Impfung eine anti-iden- dem Hintergrund von Globalisierung, titäre Logik und Topologie der Her- Migrationsbewegungen und Terroris- einnahme auf (vgl. Lorey 2011, S.12). mus – solche Ausmaße erreicht, dass Schutz fungiert pharmakologisch nicht das ursprünglich juridische und medi- durch Zerstörung oder Ausgrenzung zinische Modell auf sämtliche gesell- des Bedrohlichen, Fremden und Äuße- schaftliche Teilbereiche ausgedehnt ren, sondern durch neutralisierende wurde (vgl. ebd., S.58). „Positivierung des Negativen“ (Espo- So geartete Immunitätsdiskurse sito 2004b, S.153). durchziehen spezifische Topologievor- Darüber hinaus verknüpft Esposito stellungen, die die Unterscheidung zwi- biopolitische und juridische Aspekte, schen Selbst/Nicht-Selbst als Problem womit er das Immunitätsparadigma von Innen/Außen und der Grenz- als ein Problem von Individuum und ziehung fassen. Esposito zeigt, dass Gemeinschaft adressiert. Esposito Immunisierung Schutz und Bedro- verweist auf den gemeinsamen Wort- hung, Eigenes und Fremdes, Innen stamm von communitas und immunitas, und Außen, Gesundheit und Krankheit nämlich den munus, der unter anderem auf aporetische Weise aneinanderbin- „Pflicht“, „Gabe“ und „Schuld“ bedeu- det. Einerseits installiert die Immuni- tet (Esposito 2004a, S.14). In Verbin- sierung diese Grenzen. Andererseits dung mit ihren lateinischen Präfixen dementiert die immunitäre Impfung, im- (‚ohne‘) und com- (‚mit‘) zeigt die die im Anschluss an Derrida als Logik gemeinsame Wurzel an, dass immunitas des phármakon beschrieben wird, genau und communitas in einem widerstrei- diese Grenzziehung. Zu erreichen ist tenden Verhältnis zueinanderstehen. der Schutz vor äußerer Bedrohung Denn communitas erfährt bei Espo- gerade dadurch, dass eine kleine Dosis sito eine spezifische gabentheoretische des Bedrohlichen inkorporiert wird Konturierung. Diese unterwandert ein (vgl. Esposito 2004b, S.175-178; Lorey possessives Verständnis des Gemeinen: 2011, S.12). Die aporetische Struktur Munus ist „die Gabe, die man gibt, weil des Immunitären verknüpft auf diese man geben muß und nicht nicht geben Weise identitäre und anti-identitäre darf“ (ebd., S.13). Die Gemeinschaft Funktionsmechanismen: Auf der einen leitet sich so aus der geteilten Verpflich- Seite impliziert die Logik der Grenz- tung zum Geben (nicht zum Nehmen) ziehung, des Aufbaus von Barrieren beziehungsweise der Gegenseitig- und der Abwehr des Kontakts, der keit des Gebens ab (vgl. ebd., S.14). Ansteckung und Vermischung (vgl. Sie basiert auf Verlust und Schuld, Esposito 2013, S.59) eine (selbst-)iden- nicht auf Gewinn oder Eigentum. titäre physische und symbolische Rei- Vor diesem Hintergrund erscheint die nigungsarbeit, die auf Ausschluss und anti-gemeinschaftliche, privilegierende Abschließung zielt. Auf der anderen Dimension der immunitas. Immun ist Perspektiven 251 derjenige, der von der Verpflichtung gungen zentrale medienwissenschaft- des Gebens befreit ist, der kein Amt hat liche Problemstellungen formulieren und so von den Leistungen gegenüber – und zwar nicht nur in Bezug auf die anderen entlastet ist (vgl. ebd., S.12). Pandemie: 1) Im Anschluss an Espo- „Immune is he or she who breaks the sito lässt sich untersuchen, wie Medien circuit of social circulation by placing an der Produktion von reinen sozialen himself or herself outside it“ (Esposito oder individuellen Körpern betei- 2013, S.59). In diesem Modell stellt das ligt sind und durch welche materiell- Gemeinsame selbst das Risiko dar, auf symbolische Verfahren sie identitäre das Immunisierung und die modernen Grenzbildungen in Gang setzen oder Immunitätsdispositive antworten (vgl. unterwandern. Es geht um die prinzi- Esposito 2004b, S.11; 2004a, S.25). pielle Frage nach Öffnungs- und Schlie- Eine Gemeinschaft, die nicht auf das ßungsprozessen. 2) Die pharmakologische Eigene, sondern auf Alterität aufbaut Struktur der Immunität legt wiederum (vgl. Esposito 2004a, S.16), beinhal- nahe, die Schutzfunktion der Medien tet die Notwendigkeit des Exponiert- als ein dynamisches Spannungsver- seins und damit auch die Möglichkeit hältnis zu denken, das zwischen Aus- zur Selbst- und Grenzauflösung (vgl. schluss und Hereinnahme oszilliert und ebd., S.18). Moderne Immunisierung in Form einer „negative[n] Dialektik“ ist damit letztlich ein Projekt der Indi- (Esposito 2004b, S.129) funktioniert. vidualisierung: Individuen sind vom 3) Espositos zeitdiagnostische These Kontakt und vor der „Ansteckung der zur anti-kommunitären Funktion der Relation“ (ebd., S.26) des Gemeinen Immunisierung ist insbesondere für geschützt, die ihre Identität und Gren- die Untersuchung der medialen Ent- zen bedrohen. wicklungen prädestiniert, die zur Indi- Espositos biopolitischer Fokus vidualisierung und Personalisierung auf Immunität ist für die Analyse des Mediengebrauchs führen. Damit von aktueller Corona-Krise und der werden Schutzmedien zu modernen Rolle der Medien in dieser produktiv. „Egotechniken“ (Sloterdijk 2004, Bd. 3, Seine Ausführungen liefern indes nur S.584), die sich so auf das aporetische wenige Hinweise, wie sich immuni- Verhältnis zwischen Gemeinschaft und täre Strategien konkret technologisch Individuum beziehen lassen. und medial äußern können – etwa in Form biotechnologischer Entwick- lungen, Überwachungs- und Sicher- Mediensphären der Immunisierung heitstechnologien, Bildung von Gated Während Espositos medienwissen- Communities, Terrorismusabwehr oder schaftliches Potenzial erst explizit des Aufbaus medialer Schutzmauern gemacht werden muss, weist Peter wie Antivirenprogramme. Gleichwohl Sloterdijk in seinen Überlegungen lassen sich mit Blick auf seine Überle- zur Immunität, die er in seiner Sphä- 252 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 ren-Trilogie (2004, Bd. 1-3) entfal- morphologisch-räumlich konturiert. tet, den Medien einen prominenten Schutzsphären sind also nicht nur Platz zu. Seiner anthropologischen technisch-mediale, sondern zugleich Prämisse zufolge ist der Mensch psycho- und technosoziale Innen- darauf angewiesen, sich Schutzsphä- Räumlichkeiten. ren beziehungsweise Immunsysteme Es dürfte nicht überraschen, dass zu errichten, und zwar mit Hilfe von eine solch groß angelegte Studie Medien und Techniken (vgl. ebd., Bd. unzählige Medien zu integrieren 1, S.25). Die Trilogie widmet sich der vermag. Der Sphärenbegriff und die kulturgeschichtlichen Herausbildung Morphologie des Runden legen nicht von protektiven Innenräumen und zuletzt Medien des Umhüllenden Sphären, die unterschiedliche Ska- und Umgebenden nahe, die durch die lierungen haben: Mikrosphärologie unterschiedlichen Skalierungsebenen der Blasen, Makrosphärologie der von Kleidung und Raumfahrtanzü- Globen und die mittlere Ebene der gen über Wohnungen und Tempel Schäume. bis hin zu materiell-symbolischen Diese Sphärologie stellt rund- Environments und Semiosphären artige, umhüllende Räumlichkeiten reichen können. Nichtsdestotrotz legt in den Vordergrund, die zugleich Sloterdijks Trilogie weder eine Syste- asymmetrisch-polarisierte, in sich matisierung der Medien des Immu- differenzierte Erfahrungs- und Erleb- nen noch der immunitären Medialität nisformen ausbilden (vgl. ebd., S.28, vor. Viel häufiger nutzt die Trilo- S.45). Statt die menschliche Daseins- gie sprachliche, visuelle, skulpturale weise wie Heidegger ausgehend von und architektonische Kulturerzeug- der Zeit zu konzipieren, wird sie auf nisse als historisch-philosophische Raumbildung hin perspektiviert, die Reflexionsquellen sphärologischer durch eine Innen-Außen-Unterschei- Konstruktionen, deren Typologie dung strukturiert ist: „Sphären sind beziehungsweise Systematik erst zu immunsystemisch wirksame Raum- erstellen wäre. Konkrete Medien wie schöpfungen für ekstatische Wesen, Bücher, Radio, Porträtbilder, Spiegel, an denen das Außen arbeitet“ (ebd., Masken, Interfaces wechseln sich in S.28). Diese sind konstitutiv instabil der Trilogie mit Untersuchungen zur und bedürfen so immer wieder der Medialität ab – etwa des Übertra- Bearbeitung und Aufrechterhaltung gens, Ansteckens, Austausches oder (vgl. ebd., S.48). Kulturgeschichte Synchronisierens. Doch statt eine und Mediatisierung entwirft Sloter- solche Typologisierungs- und Syste- dijk demnach als Herstellung fragiler matisierungsarbeit der Trilogie zu Innerlichkeit in einem ungeschützten, leisten, scheint es uns zielführender, offenen Außen. Subjektivität wird im zunächst einmal zentrale Anschluss- Zuge dessen selbst sphärisch und so möglichkeiten der Sphärologie an Perspektiven 253 medienwissenschaftliche Theoriebil- Die Mikrosphärologie der Blasen dung aufzuzeigen. Diese wird in ein (2004, Bd. 1) berührt Medien bezie- Verhältnis zu Forschungsfragen und hungsweise Mediatisierungsformen, Strukturlogiken gesetzt, die ausge- die intime, dyadisch strukturierte hend von Esposito erarbeitet wurden: Innerlichkeiten und Näheverhält- So ist die immunologische nisse konstituieren. Ihre Skalierung Medialität der Sphären von ihrer ist die psychologische Mikroebene jeweiligen Skalierung abhängig. Die ausgehend von der ersten Schutz- Globen (2004, Bd. 2) entwerfen eine sphäre, dem Mutterleib, und der kosmologisch-theologische Kultur- nachfolgenden Herausbildung von geschichte der Globalisierung und intimen (Ersatz-)Sphären. Während beleuchten, wie größere Gemein- die konkrete Schutzfunktion der im schaften auf eine Identität und Vor- ersten Buch vorgestellten Medien stellung von Eigenem eingestimmt und Medialisierungsarten nicht werden. Die „Instrumente der poli- immer unmittelbar einsichtig ist, liegt tischen Immunologie“ (2004, Bd. der immunitätstheoretische Einsatz 1, S.66) können von Sprachen und der Blasen klar in seiner anti-identi- sozialisierenden Massenmedien über tären Konzeption des Individuums räumlich-territoriale Grenzbildungen und damit auch implizit des Immu- und Einmauerung bis hin zu religiös- nologischen, da das Selbst bi- und weltanschaulichen Ritual-, Sinn- und multipolar aufgespannt sowie durch Ausdruckssystemen, den sogenannten Intersubjektivität und Zwischen- „semiosphärischen Glocken“ (ebd., räumlichkeit gekennzeichnet ist. S.60), oder symbolisch-ideologischen Der Band Schäume (2004, Bd. 3) Ansteckungs- und Kollektivierungs- ist schließlich deshalb von Interesse, logiken reichen. Entscheidend ist die weil er die Mikro- und Makrosphä- Aufmerksamkeit dafür, in welchem rologien der beiden ersten Bände ver- Verhältnis Innen und Außen, Eige- bindet und das Verhältnis zwischen nes und Fremdes gesetzt werden – Individuum und Gemeinschaft the- und zwar sowohl mit Blick auf ihre matisiert. Schaum dient Sloterdijk medienhistorische Variabilität bezie- dabei als sphärisches Bild, um die hungsweise Operativität als auch auf soziale Topologie einer modernen die theorieninternen Grundannah- Immunisierung zu beschreiben, die men der Trilogie. Diese thematisiert ohne massiven Einsatz von Medien- gleichermaßen selbstidentitäre Topo- technologien nicht denkbar wäre. logien der Isolierung und Abschot- Jede einzelne Blase stellt im Schaum tung (vgl. ebd., 2004, Bd. 3, insb. Kap. eine kleine autonome Zelle dar, eine 1) als auch Topologien der Inklusion in sich gewendete Innerlichkeit, die des Außen in das Innen (vgl. ebd., Bd. aber an mehreren Seiten an eine 1, S.56). andere monadische Zelle anschließt 254 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 (vgl. ebd., S.56). Die räumliche oder auch „connected isolation“ (ebd., Topologie der Schäume zeichnet eine S.577). Medien weisen damit die post-monosphärische, azentrische, Funktionsweise einer Schaumzellen- pluralisierte Sozialität aus ko-isolier- wand auf: Denn die Wand trennt und ten, aber dennoch nachbarschaftlich verbindet zugleich. Medien sind hier flexibel angeschlossenen Einzelbla- ‚psychische Lüftungen‘, die den Grad sen aus. Schäume kann als Geschichte der Abdichtung und Immunisierung moderner Individualisierung gelesen nach Bedarf dosieren und kommuni- werden, die insbesondere den bereits täre Elemente hereinlassen (vgl. ebd., von Esposito betonten Zusammen- S.578). hang von immunitas und communi- Obwohl Sloterdijk wiederholt tas umkreist. Individualisierung ist vorgeworfen wurde, einer Ideologie demnach ein Ergebnis des moder- der Abschottung und des fremden- nen Immunisierungsparadigmas. Die feindlichen Eigenen zuzuarbeiten Lebensweise des Einzelnen zeichnet (vgl. Cuntz 2020, S.172, Sutherland sich in der Moderne durch die „Nicht- 2019, S.209ff.), bietet seine Trilogie Mitarbeit beim Gemeinschaftswerk“ ambivalente, dekonstruktiv-korrek- (ebd., S.536) aus, das von Isolations- tive Figuren an: das dyadische offene bedürfnissen getragen ist. Medien Selbst, die neutralisierende Inklusion erfüllen vor diesem Hintergrund des Negativen oder auch die sozi- zugleich kommunitäre wie immuni- ale Ko-Fragilität der immunisierten täre Funktionen: Auf der einen Seite Schäume. Solche Ambivalenzen sind entspringen technische Immunräume kein Zufall, vielmehr sind sie dem beziehungsweise Schutzsphären einer Schutz selbst inhärent. Während laut Grenzziehungspraxis, die auf Exklu- Cuntz Medien als Schutzmilieus sivität angelegt sind (vgl. ebd., S.538). nach zwei Modellen gedacht werden Die Abgrenzung ermöglicht „Kom- können, nämlich nach „dem Modell munikationsabbrüche und Umwelt- der Filterung, Übersetzung, Immuni- verneinung“ (ebd., S.544). Derart sierung, also einer dosierten und/oder fungieren Medien als „Egotechni- selektiven Durchlässigkeit“ (2020, ken“ (ebd., S.584). Damit sphärische S.172) auf der einen und nach „dem Schutzräume allerdings nicht zum Modell der radikalen Isolation und Erstickungsraum werden, benötigen Abschottung“ (ebd.) auf der anderen sie Weltanschlüsse, die wiederum Seite, soll hier vielmehr vorgeschla- Medien ermöglichen und so Insu- gen werden, dass es sich dabei weni- lierung und Isolation abschwächen. ger um alternative Modelle handelt, Moderne mediatisierte Einzelapart- sondern um die pharmakologische ments sind für Sloterdijk der perfekte Struktur des Schutzes selbst. Dem- architektonische Ausdruck für die entsprechend lässt sich über Sloter- Schaumtopologie der „Ko-Isolation“ dijk hinausgehend resümieren: Die Perspektiven 255 Dosierung der schützenden Mediati- Semiosphären der Öffnung und sierung bestimmt, ob ein Schutzmi- Schließung lieu beziehungsweise eine Sphäre als Beginnen möchten wir unsere ein Refugium oder als Selbsteinsper- medientheoretische Explikations- rung, Gift oder Medizin fungiert. reihe mit semiotischen Konzepten, Obwohl beide Ansätze – die die sich kritisch mit Grenzbildungen Sphärologie der Immunsysteme wie als Differenzoperation und Schwel- die Schutzmilieus – die Grundprä- lenphänomen auseinandersetzen. misse teilen, dass das Lebendige Medien sind an der Grenzziehung für die eigene Existenz technische zwischen Eigenem und Fremdem, Objekte und Mediatisierungspro- Innen und Außen beteiligt und lassen zesse benötigt, unterscheiden sie sich sich auf identitäre und anti-identitäre doch in ihren Konzeptionen schüt- Dynamiken der Subjektivierung und zender Dynamiken und topologischer Kollektivierung hin befragen. Immu- Figuren. Während die Topologie nitäre Grenzziehungen funktionieren des Runden per se eine Schließung dabei nicht nur durch das Etablieren konnotiert, liegt dem Konzept der materieller Schutzsphären und -bar- Schutzmilieus eine komplexe Topo- rieren, sondern erstrecken sich auch logie aus Faltungen, Taschen, Nischen auf symbolisch-ideologische und und Beuteln zugrunde, die die semiotische Produktionen des Eige- Schutzmilieus bereits im Organismus nen und Fremden. Medien transpor- selbst beginnen lässt beziehungsweise tieren Weltbilder, Vorstellungen über von einer Ineinanderfaltung verschie- (Un-)Reinheit der Kulturen und dener, sich in der Wirkung aufheben- formen Diskurse der Ethnizität oder der oder verstärkender Schutzmilieus Nationalität, die gesellschaftliche ausgeht (vgl. ebd., S.170f., S.174). Gruppen xenophobisch ‚klimatisie- An letzteres Konzept anschließend ren‘ (vgl. Sloterdijk 2004, Bd. 2) und lassen sich zum einen konkrete Ope- politisch-kulturelle Abschottungen rationen ausdifferenzieren – etwa begünstigen können. Nicht zuletzt Distanzschaffen, Filtern, Abschotten, zeichentheoretische Medienkon- Selektieren, Regulieren, Stabilisie- zepte wie Serres semiotische Theorie ren, Durchlassen. Zum anderen wird des Eigentums (2009) und Lotmans deutlich, dass über den Unterschied Konzept der kulturellen Semiosphäre zwischen Schutzmedien und einer (1990; 2010) greifen diese identitä- spezifisch immunologischen Perspek- ren und anti-identitären Logiken auf. tivierung auf Schutzfunktionen von In Serres Theorie des Eigentums Medien genauer nachgedacht werden (2009), die zugleich eine semiotische muss. Medienökologie ist, geht es um zei- chenhafte Aneignungsgesten, mit deren Hilfe etwas Gemeines in etwas 256 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Eigenes verwandelt wird. Menschen immunitär, weil sie einen exkludie- und Tiere ähneln sich darin, dass sie renden Abgrenzungsmechanismus durch Markierungs- und Beschmut- impliziert: Das Angeeignete ist nur zungsakte Territorien beanspruchen für den Beschmutzenden rein, für und sich Räume aneignen. Während alle anderen wird es zum Schmut- Hunde und Tiger mit Urin oder zigen, das die gemeine Lebensweise Exkrementen ein Revier abstek- verhindert und damit letztlich das ken, bauen Menschen auf blutigen Eigentum selbst zum Gegenstand Überresten Städte auf, besticken ihre des Schutzes macht (vgl. ebd., Taschentücher mit Initialen oder S.9). Okkupieren ist exkludieren. nehmen den öffentlichen Raum mit Insbesondere dann, wenn Aneig- politischen Abzeichen wie Fahnen nungsgesten sich auf Lebens- und oder Hakenkreuzen in Besitz (vgl. Wohnräume richten (vgl. ebd., ebd., S.7). Eigenes entsteht dabei S.18-23), werden so Fragen der sowohl durch schwach-semiotische (selbstidentitären) Zugehörigkeit Prozesse, etwa Spurenbildung mit aufgeworfen und verhandelt. körpereignen Ausscheidungen, als In Serres weich-semiotischer auch durch stark-semiotische Zei- Verschmutzungstheorie geht es chensysteme wie Bilder und Spra- demnach um Bildung von ‚Semio- che.2 Obwohl Serres nicht explizit sphären‘ des Eigenen und Reinen. die Schutzfunktion des Lebendigen ‚Semiosphären‘ ist eine Begriffsprä- thematisiert, ist seine semiotische gung von Juri Lotman. Semiosphäre Eigentumstheorie für immunitäre umfasst die Gesamtheit der kultu- Logiken relevant: So lässt sich das rellen Texte und Zeichensysteme, moderne, selbstidentitäre Immu- wobei sie „zugleich Ergebnis und nitätsparadigma von der Idee des Voraussetzung der Entwicklung Eigentums und eines possessiven einer Kultur“ darstellt (2010, S.165). Selbstverhältnisses nicht trennen Das Verhältnis zwischen umge- (vgl. Esposito 2006, S.36-40). Denn bender Semiosphäre und den Zei- Serres Theorie einer Transformation chensystemen in dieser, konzipiert des Gemeinen in das Eigene, das Lotman in Analogie zur Reziprozi- heißt die Negation des Kommu- tät von lebendigem Organismus und nitären, ist strukturäquivalent zum Milieu (vgl. Lotman 1990, S.289f.), Errichten von Zäunen oder Mauern mit der die Biologie und Evoluti- und anderen Verschließungsmecha- onstheorie des 19. Jahrhunderts die nismen (vgl. Serres 2009, S.19, S.22). Vorstellung eines isolierten Organis- Diese aneignende Transformation ist mus aufgaben (vgl. Sprenger 2019, S.10). Neben der Untersuchung der 2 Zum Unterschied zwischen starken und schwachen Zeichen vgl. Didi-Huberman internen Organisation und Ent- 1999, S.196. wicklungsdynamik der Semiosphäre Perspektiven 257 befasst sich Lotman mit ihrer grenz- beziehungsweise Semiosphären bildenden und einheitsstiftenden (ebd., S.292). Die Grenze ist hier- Funktion. Die Eigenständigkeit und bei ambivalent, Trennung und Ver- Einheitlichkeit der Semiosphäre bindung zugleich: „sie ist der Ort, entsteht erst durch ein Abgren- wo das ‚Äußere‘ zum ‚Inneren‘ wird“ zungsverhältnis (vgl. Lotman 2010, (Lotman 2010, S.182). Lotman sieht S.173). Mit der Differenz von Innen in diesem Kontakt der Semiosphären und Außen gehen auch Unterschei- keinen Verfall der kulturellen Rein- dungen zwischen eigen und fremd, heit, vielmehr wird für ihn dadurch sicher und gefährlich, harmonisch Innovation ermöglicht (vgl. ebd., und chaotisch, kultiviert und bar- S.183f.). Die simple Grenze zwi- barisch einher (vgl. ebd., S.174). schen benachbarten Semiosphären Während für Lotman die binäre weicht damit Hybridisierungs- und Einteilung der Welt eine basale und Kreolisierungsmodellen (vgl. ebd., mithin welt- und kulturbildende S.190). Operation ist (vgl. ebd., S.174), zeigt So verstanden denkt Lotman die Färbung des Außen als poten- die Grenze als Schwelle, an der sich ziell bedrohliches und abzuweh- Innen und Außen überlappen. Die rendes Fremdes immunitäre Züge: Ambivalenz zwischen Identitärem „Jede Grenze oder Membran […] und Anti-Identitärem, zwischen hat die Funktion, das Eindringen zu Abschottung und Öffnung erinnert erschweren und das, was von außen nicht nur an das Modell von Slo- kommt, zu filtern und in etwas terdijks Schaumzellenwand, son- Inneres umzuformen“ (ebd., S.187). dern findet sich auch bei Luhmann, Obwohl Lotman die Semiosphäre Grusin, Kracauer und Benjamin. tendenziell als einen abgeschlosse- Medien beziehungsweise Zeichen- nen Raum zeichnet, der durch die systeme sind in all diesen Fällen Grenze Individualität bekommt (vgl. Instrumente der Abgrenzung und des Lotman 1990, S.289), weist er ihr Schutzes (seien es Systeme, Sphären, nicht ausschließlich identitäre, tren- Filmleinwände oder Bildschirme) nende und schließende Wirkweisen und gleichzeitig der Öffnung und zu. Vielmehr lässt die Grenze als Zugänglichkeit (sei es durch Irrita- Filter und Membran Öffnung und tionssteigerung, Antizipation von Austausch zu und berührt damit Zukunft und/oder Affektkontrolle). die eher mit der Impfung verbunde- Neuere immunologische Konzepte nen Elemente des Anti-Identitären. und diverse Medientheorien haben Der Kultursemiotiker konturiert die somit eine gemeinsame Stoßrich- Grenze so als einen „Puffermecha- tung: Medien erfüllen nicht einfach nismus“ und eine „Übersetzungs- Schutz-, Abwehr-, Identitätsstif- vorrichtung“ zwischen den Sprachen tungsfunktionen durch eindeutige 258 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Differenzsetzungen. Der Clou an zu köpfen, das sie spiegeln“ (ebd.). Medien der Immunität besteht statt- Hier ist die widerstrebende Dop- dessen darin, dass sie immer sowohl pelstruktur dosierender Immuni- Öffnungs- als auch Schließungsme- sierung sehr plastisch vorgeführt: chanismen organisieren, um so über- Der Film ist einerseits ein Medium haupt erst angemessen immun zu der Distanzierung von potenziell machen. traumatisierenden Ereignissen (zu nennen wären etwa Kriegsfilme, KZ-Aufnahmen oder Attentat- und Medientheorien der Pharmakologie Amokbilder nach 9/11). Anderseits Sollte es zutreffen, dass pharma- macht der Film diese Ereignisse, vor kologischer Schutz nicht durch denen er schützen soll, zuallererst Zerstörung oder Ausgrenzung des zugänglich. Ganz ähnlich fungiert fremden Bedrohlichen, sondern der Film bei Walter Benjamin als durch dosierte Inkorporierung ope- Reizschutz, in diesem Fall vor den rativ ist, dann ist dieser Aspekt Überforderungen durch die schnell- der Immunologie hochgradig lebige Moderne. Zentrale These ist anschlussfähig an medientheoreti- hierbei, dass das per se nicht fixier- sche Positionen. Die naheliegendste bare Bewegungsbild des Films einen Verbindung bietet wohl Siegfried ‚Chock‘ hervorruft. Mittels dieser Kracauers Interpretation des Medu- Form dosiert zerstreuender Reize sen-Mythos in seiner Theorie des wird der Zuschauer ‚trainiert‘, mit Films. Im Mythos verwendet Per- den Anforderungen der modernen seus einen polierten Schild, den (Großstadt-)Welt besser umzuge- Athena für ihn angefertigt hat, um hen. Somit ist eine kontemplative ihn vor der Gorgonen-Medusa zu Rezeptionsform zugunsten einer zer- schützen, deren unmittelbare Sicht streuten Wahrnehmung verabschie- jeden in Stein verwandeln würde. det und der filmische ‚Chock‘ „durch Der Schild schützt indes nicht nur, gesteigerte Geistesgegenwart auf- sondern spiegelt die Medusa wider gefangen“ (Benjamin 2002, S.378). und wirkt so als vermittelndes, spie- Der Film, genauer die Rezeption vor gelähnliches Gerät. Kracauer bezieht der Filmleinwand, dient somit für sich in seiner Filmtheorie auf diesen Kracauer wie für Benjamin als phar- Mythos, um die Schutzfunktionen makologischer Schutzschild. der „Filmleinwand“ zu erläutern, Das Konzept der Premediation und nennt diese „Athenes polier- lässt sich als transmediale Erweite- ter Schild“ (Kracauer 2019, S.394). rung solcher Vorstellungen fassen. Solche filmischen Eindrücke „sollen Richard Grusin sieht die Aufgabe den Zuschauer befähigen – mehr der Massenmedien mit und seit der noch: dazu antreiben –, das Grauen Zäsur, die durch die Anschläge vom Perspektiven 259 11. September 2001 in den USA angetan gewesen zu sein. In seinem gesetzt worden sei, in der perma- Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft nenten Ausbuchstabierung zukünf- nimmt er an, dass es für gesell- tiger Ereignisse zum antizipierenden schaftliche Kommunikationssysteme Abbau möglicher Irritationen. Damit wie Wissenschaft, Ökonomie oder sollen die Rezipienten insbesondere Massenmedien notwendig ist, sich „by perpetuating an almost constant, von der sie umgegeben Welt durch low level of fear“ (Grusin 2010, S.2) strikte Selektion abzukapseln.3 Diese auf weitere Anschläge affektiv vor- Operation „wirkt wie ein Panzer, der bereitet werden. Aufgrund solch […] verhindert, daß die Gesamtreali- eines antizipierenden Ausgreifens in tät der Welt auf die Kommunikation die Zukunft werden wir, so Grusin, einwirkt“ (Luhmann 1998, S.114). affektiv und kognitiv dafür gewapp- Ohne solche Abschottung gibt es net. Das heißt, dass Premediation keine Anschlusskommunikation, Angst durch Induzieren von Angst ohne diese strikte Differenz zwischen abwehrt. Medien haben aus dieser System und Umwelt gibt es keine Perspektive eine Schutzfunktion Etablierung, Entwicklung und Stabi- gegenüber zukünftigen Ereignissen, lisierung kommunikativer und somit die durch die medialen Szenarien zu letztlich gesellschaftlicher Prozesse. gegenwärtigen und mithin bereits Obwohl Luhmann die System- vergangenen Ereignissen gemacht Umwelt-Differenz nach dem Modell werden. Premediation schützt des- der Abschottung zu konzipieren halb nicht nur vor zukünftigen scheint, wie die ‚Panzer‘-Metapher Außenweltreizen, die auch ohne sie unterstreicht, täuscht dieser Ein- existieren werden, vielmehr schützt druck. Das wird an den Stellen sie vor dem, was durch sie selbst erst deutlich, an denen die Immunologie denkmöglich gemacht wird. explizit ins Spiel kommt. Es gibt laut Ein besonders relevantes phar- Luhmann Immunsysteme in diversen makologisches Immunitätskonzept stammt von Niklas Luhmann, dessen 3 Luhmann unterscheidet drei Ebenen Texte seit Langem in der Medien- der Kommunikation (vgl. 1998, S.78ff.). Erstens gibt es interaktive Kommunika- theorie rezipiert werden, jedoch tion (Partygespräche oder auch Telefo- kaum mit Bezug auf seine Immuno- nate), zweitens institutionelle (in Banken, logie (vgl. Luhmann 1995, S.565ff.; Universitäten, Schützenvereinen) und drittens ausdifferenzierte Gesellschaftssy- 1984, S.371ff., S.504ff.). Das ist inso- steme, wie Wissenschaft, Ökonomie oder fern misslich, als gerade die Kopp- Recht. Erst hier bilden sich autopoetische lung von Luhmanns Immunologie Systeme mit einer klar zu identifizierenden Basiscodierung, die die Kommunikations- mit seinen facettenreichen Medien- systeme von anderen Systemen auf Dauer bestimmungen produktiv zu machen differenziert. Für unsere Rekonstruktion der Immunologie ist die letztgenannte ist. Luhmann scheint von Panzern Kommunikationsebene die entscheidende. 260 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 gesellschaftlichen Teilsystemen. Um stem, das eine besondere schützende Anschlusskommunikation für und im Funktion für alle anderen Teilsysteme System wahrscheinlicher zu machen, übernehmen soll. Dieses beobach- bedarf es Präventivmaßnahmen, tet nicht nur alle anderen Systeme wobei die Ausbildung eines Immun- nach Maßgabe der systemspezifi- systems im System eine besonders schen Binärcodierung, nämlich legal/ zentrale ist. Aufgrund systeminterner illegal, und regelt somit Handlun- Kommunikationskonflikte werden gen und Kommunikationsofferten. „generalisierbare Lösungen“ (Luh- Durch die Zunahme der Komplexität mann 1995, S.565) ausgebildet, also gesellschaftlicher Verhältnisse in der Regeln und Normen, wie in Zukunft Moderne und die damit einherge- mit ähnlichen Konflikten umgegan- hende Ausdifferenzierung autonom gen werden könnte. Beispiele hierfür operierender Teilsysteme nimmt die sind Gesetzgebungsmaßnahmen für Diskrepanz zwischen diversen Regeln den Eigentumsschutz, Falsifikations- und Normen der unterschiedlichen methoden in der Wissenschaft oder Systeme zu. Dem Rechtssystem auch Axiome einer Habermas’schen kommt dabei die Rolle zu, für solche Diskursethik. Damit wird eine Systemkonflikte möglichst universelle „Überschußkapazität für künftige und gleichzeitig variable‚ „‚friedliche‘ Fälle“ (ebd., S.566) generiert, die die Lösungen“ (ebd., S.161) zu finden Komplexität des jeweiligen gesell- und für die Zukunft bereit zu halten. schaftlichen Teilsystems steigert, Das Rechtssystem hat so gesehen um für künftige Problem- und Irri- nicht nur ein internes Immunsystem, tationsfälle besser gerüstet zu sein. vielmehr wird das Rechtssystem zum Ein soziales Immunsystem schließt alle gesellschaftlichen Teilsysteme demnach nicht alles aus, unterdrückt koordinierenden Immunsystem. nicht Konflikte oder verhindert Irri- Vor dem Hintergrund der vielfäl- tationen, sondern ganz im Gegenteil: tigen Medienbegriffe Luhmanns (vgl. Es impft das System, indem interne 1998, S.190ff.) lässt sich in diesem Konflikte und Widersprüche, die Zusammenhang insbesondere zu durch äußere Irritationen zustande seinem funktionalen Medienbegriff kommen, zugelassen und generali- ein facettenreicher medientheoreti- siert werden. Diese Form der ‚Imp- scher Bezug herstellen. Dieser besagt, fung‘ erhöht die Möglichkeit der dass alles, was Kommunikation wahr- Verarbeitung von Außenreizen und scheinlicher macht, als Medium fun- damit der Stabilität wie der Erweite- giert (vgl. Luhmann 2001). Deshalb rung des Systems. können auf den ersten Blick sehr Luhmann entfaltet solch eine unterschiedliche Dinge und Phäno- Vorstellung der sozial-symbolischen mene Medien sein. Sprache etwa stei- Immunologie vor allem am Rechtssy- gert die Möglichkeit des Verstehens Perspektiven 261 – und ist genau deshalb ein Medium. des jeweiligen Teilsystems aufgrund Verbreitungsmittel wie Fernsehen, der gesteigerten Variabilität erhöht. Zeitungen oder das World Wide 2) Das Immunsystem des Rechts Web sind wiederum Medien, weil sie ist ein herausragendes System, weil die Erreichbarkeit erhöhen; während es die Stabilität von gesellschaftli- symbolisch generalisierte Medien chen Teilsystemen garantiert oder wie Wahrheit, Geld oder Macht als zumindest wahrscheinlicher macht. Medien bezeichnet werden, weil sie Das Rechtssystem ist somit Voraus- den Erfolg kommunikativer Offerten setzung für die Etablierung, Stabi- wahrscheinlicher machen. lisierung und Institutionalisierung Ausgehend von dieser Medienbe- von Verbreitungsmedien in Form stimmung lässt sich auf unterschied- von Post, Rundfunksystemen oder lichen Ebenen der Zusammenhang digitalen Plattformen – und damit von Medien und Immunologie kon- letztlich auch Bedingung für die turieren.4 Fünf Anschlussoptionen Etablierung eines Teilsystems, das seien knapp angeführt: 1) Immunsys- Luhmann Massenmedien nennt (vgl. teme kann es nur geben, wenn das Luhmann 1996). 3) Dies gilt ebenso Medium Sprache existiert, das heißt, für symbolisch generalisierte Medien wenn kommunikative Negationsope- wie Wahrheit, Geld oder Recht. Aus rationen möglich sind. Das Medium diesen können sich Wissenschafts-, Sprache ist also Bedingung für die Wirtschafts- oder Rechtssysteme nur Ausbildung von Immunsystemen. deshalb langfristig etablieren, weil Da sich das Immunsystem beson- sich Immunitätssysteme innerhalb ders sprachlich ermöglichten Nega- der Teilsysteme ausbilden. 4) Das sich tionsoperationen zuwendet, wird in der Moderne ausdifferenzierte Teil- wiederum die Anschlussfähigkeit system der Massenmedien operiert mit der Basalcodierung Information/ 4 Wichtig ist hier, dass Luhmann mit sei- nen diversen Medienbegriffen die Ebenen Nicht-Information und sucht dem- wechselt, von einer materiellen Ebene der entsprechend die Umwelt permanent Verbreitungsmedien über die funktionale nach Informationen ab. Die Infor- Bestimmung eines Mediums und einem gesellschaftlichen Teilsystem (Massen-) mationen sind – wie in der mathe- Medien bis hin zur Medium/Form- matischen Informationstheorie von Bestimmung, wo es ganz universell um Möglichkeitsbedingungen für Kommu- Shannon und Weaver – desto höher, nikation und Wahrnehmung geht. Wie je unwahrscheinlicher sie sind bezie- sinnvoll es jeweils ist, etwas als Medium hungsweise je höher ihr Neuigkeits- zu verstehen, kommt dementsprechend auf das Frageinteresse und den jeweiligen wert ist. Luhmann zufolge hält uns Fall an. Deshalb sind die hier entfalteten das System Massenmedien „wach“; Optionen notwendigerweise selektiv, zu erzeugt es doch „eine ständig erneute einer knappen Rekonstruktion der unter- schiedlichen Medienbegriffe Luhmanns Bereitschaft, mit Überraschungen, (vgl. Grampp 2016, S.195ff.). ja mit Störungen zu rechnen“ (ebd., 262 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 S.10). So gewendet wäre das System noch scheint die Beziehung zwischen Massenmedien ein besonders zentra- communitas und immunitas in diesem les gesellschaftliches Immunsystem, Kontext eine spezifische Problemati- und zwar nicht durch ‚generalisierte sierung dieser Strukturlogiken nach Lösungsoptionen‘ für Unerwarte- sich zu ziehen. So stellt sich insbeson- tes, Anderes, Widersprüchliches, wie dere im Dialog zwischen Espositos im Fall des Rechtssystems, sondern und Sloterdijks Immunitätstheorien genau umgekehrt: durch permanente die Frage, inwiefern Medien durch Suche nach Unerwartetem, Anderem, Individualisierung schützen und Widersprüchlichem. Das System mithin, ob allen individualisierenden Massenmedien sucht also permanent Medien automatisch immunitäre die Irritationen durch die Umwelt, Schutzfunktion zukommt. Während um so die eigene Identität zu stabi- uns eine generelle Gleichsetzung lisieren. Pharmakologisch gewendet von Personal- und Individualme- formuliert: Die dosierte Öffnung dien mit Schutzmedien wenig pro- nach außen schützt das System vor duktiv erscheint, so ist umgekehrt seiner Auflösung im Außen, garan- von Interesse, welche Spezifikatio- tiert diese doch die Fortsetzbarkeit nen und Differenzen hinzukommen der systemspezifischen Operationen. müssen, damit der Bezug zu immu- nitären Logiken zu aussagekräftigen Erkenntnissen führt. Medientheorien der Individualisie- Sloterdijk bietet diesbezüg- rung und Personalisierung lich erste Anknüpfungspunkte. Er Der starke Fokus auf das Spannungs- bezeichnet Medien, die individuelle verhältnis zwischen Gemeinschaft Mikrosphären herauszubilden, als und Individuum, das in unterschied- „egotechnisch“ (Sloterdijk 2004, Bd. lichen Philosophien der Immunität 3, S.586, S.588). Neben Lese- und reflektiert wird (vgl. Esposito 2004b; Schreibtechniken wie Tagebuchfüh- Lorey 2011; Sloterdijk 2004, Bd. 3), ren bezieht er sich auf akustische legt es nahe, Medien und Medien- Medien, die zwischen Immunisie- theorien der anti-kommunitären rung und Resozialisierung oszillieren Individualisierung sowie Ent- und können (vgl. ebd., S.592-595). Wäh- Resozialisierung nachzugehen. rend Radios immunitär-kommuni- Damit sind wieder Aspekte selb- täre Individualphonotope darstellen, stidentitärer und anti-identitärer die vor der privaten Isolation der Grenzbildungen sowie pharmako- Einzelapartments durch Anschluss logischer Dosierung und Inkor- an die Gruppenklänge psychoimmu- porierung berührt, insofern alle nologisch schützen, lösen tragbare immunitären Strukturlogiken eng akustische Kopfhörer-Medien Indi- miteinander verflochten sind. Den- viduen aisthetisch aus der Gruppe Perspektiven 263 heraus (vgl. ebd., S.592f.). Als „Insu- Hosokawa mit dem iPod befasst, lationstechnik“ (ebd., S.594) bilden beschreibt dagegen den Prozess Kopfhörer-Medien „individualisierte der aisthetischen Individualisie- Soundblasen“ (ebd., S.593), die wie rung durch portables Musikhören akustische Tauchanzüge und „audi- beziehungsweise Kopfhörer expli- tive Egosphären“ (ebd., S.595) funk- zit als akustische Privatisierung des tionieren und im öffentlichen Raum öffentlichen Raumes (vgl. Bull 2012, immunisieren. Die unterschiedliche S.529). Der Begriff Privatisierung Raumsituierung der akustischen konnotiert neben der Abgrenzungs- Medien geht mit unterschiedli- geste auch eine possessive Beziehung chen Schutzfunktionen einher: dem zum öffentlichen Raum. Vergleich- Schutz vor zu viel Individualisierung bar mit Michel Serres semiotischer im Privaten, das heißt vor den nega- Eigentumstheorie lässt sich darin tiven Effekten der Immunisierung eine Aneignungsgeste erkennen, bei selbst, auf der einen und dem Schutz der Öffentliches-Gemeines zum vor dem Fremden im Öffentlichen privaten Eigentum erklärt wird. So auf der anderen Seite. bemerkt auch Jonathan Sterne mit Isolation und akustische Abschot- Blick auf die Geschichte des indivi- tung sind dabei häufige Topoi in der dualisierten Musikhörens, dass dieses Diskursgeschichte portabler mobiler das akustische Feld zum Privatei- Medien, die durch ihre miniaturi- gentum eines bourgeoisen Subjekts sierte Form per se auf individuelle transformiert hat (vgl. Sterne 2003, Nutzung angelegt sind (vgl. Weber S.160). Für Bull ist akustische Pri- 2008, S.21ff.). Indem portable vatisierung Bestandteil eines kom- mobile Medien die simple Trennung modifizierten Verhältnisses zur Welt, in private und öffentliche Räume dem eine Negation des Anderen unterwandern beziehungsweise diese eingeschrieben ist (vgl. Bull 2012, Räume ineinander verschränken, S.534). Anders als Hosokowa per- setzen sie das Individuum in ein spektiviert Bull diesen Prozess expli- Verhältnis zum Gemeinschaftlichen, zit als schützende Abschottung und was sie für Fragen der Immunisie- Isolation in der Öffentlichkeit, bei rung relevant macht. Nicht zufäl- dem durch Verweigerung der Inter- lig bemüht sich Shuhei Hosokawa aktion und Kommunikation ein in seinem kanonischen Text „Der Gefühl der Sicherheit und Kontrolle Walkman-Effekt“ (1993), den im entstehen soll (vgl. ebd., S.534). Die Jahre 1980 eingeführten Walkman akustische Blase ist eine Pufferzone, von den Vorwürfen der Kommuni- die das Unerwünschte ausblenden kationslosigkeit und Weltverweige- und herausfiltern soll. Bull referiert rung freizusprechen. Michael Bull, dabei auf Topologien des Runden, der sich knapp eine Dekade nach um den Prozess als einen mental- 264 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 physischen separatistischen Akt des Erscheinungsweise des Kapitalis- „gating“ und „zoning“ zu bestimmen mus verstanden: Dass Rundfunk auf (ebd., S.536). Allerdings wäre es zu heimische Übertragung und indi- einfach, dem Autor kulturkritisches viduelle Nutzung angelegt ist, stellt Ressentiment vorzuwerfen. Vielmehr laut Williams keine technische Not- benutzt er ein Vokabular, das auf wendigkeit dar, sondern bietet eine immunitäre Logiken verweist: Den Antwort auf die widersprüchlichen Abgrenzungsakt charakterisiert Bull Bedürfnisse und sozialen Transfor- zugleich als eine Form der Selbst- mationen des Kapitalismus: Auf der ermächtigung, lustvollen Kontrolle einen Seite erzwingen die kapitali- und Selbstmodulation, welche ihre stischen Arbeitsbedingungen eine eigenen strukturellen Formen der höhere Mobilität und erfordern neue Toxizität hervorbringen (vgl. ebd., soziale Organisations- und Integra- S.530f.). Diese reichen von psychi- tionsformen; auf der anderen Seite scher Abhängigkeit bis hin zu phy- begünstigen der relative Zuwachs sischer Hörbeeinträchtigung und an Freizeit und höhere Löhne eine Hörverlust. Das iPod-Hören wird Privatisierung des Lebens und die derart zu einer Frage des dosierten Aufwertung des Familienlebens, Umgangs und mithin zu einem Akt was wiederum neue Kommunikati- Benjamin‘schen Übens (vgl. ebd., onsformen erfordert (vgl. ebd., S.24, S.536), wobei Distinktion und Ent- S.26f.). In Affinität zu Sloterdi- fremdung, Verbindung und Isolation, jks (2004, Bd. 3) Beschreibung des Stille und Klang, Kontrolle und Kon- mediatisierten Apartments erfüllt der trollverlust ineinander gefaltet sind. heimelige Rundfunk bei Williams Obwohl Michael Bull nicht zugleich separatistisch-schützende Raymond Williams Konzept der wie resozialisierende Funktionen „mobilen Privatisierung“ erwähnt, (vgl. W illiams 1975, S.27). Ent- bringt der Ausdruck die mit mobi- scheidend ist, dass die mobile Pri- len Medien verbundene Verschrän- vatisierung eine isolativ-immunitäre kung von Mobilität und Abgrenzung Subjektivierungsweise produziert, prägnant auf den Punkt. In seinem die dem Außen gegenüber dediziert Buch Television: Technology and Cul- feindlich gestimmt und konsumka- tural Form (1975) verbindet Willi- pitalistisch geformt ist (vgl. Williams ams mit Radio und Fernsehen zwei 1983, S.16). Während Fernsehen eine scheinbare paradoxe Tendenzen des Form der virtuellen Mobilität zwi- modernen urbanisierten Lebens: „at schen protektivem häuslichem Raum once mobile and home-centered“ und riskanter ökonomischer Welt (Williams 1975, S.26). Die schüt- (vgl. Groening 2013, S.62) erlaubt, zende Dimension der medialen schließen Williams Überlegungen Privatisierung wird hierbei als eine zur mobilen Privatisierung auch phy- Perspektiven 265 sische Mobilität und Transportmittel Filmen, Hören von Musik oder die wie Autos sowie soziale Mobilität ein Partizipation auf Social Media – (vgl. Williams 1985, S.188f.). Willi- Inhalte erreichen heute die User_ ams betrachtet diese Mobilitätsfor- innen vermittelt über Personalmedien men als Weisen der Einkapselung wie Smartphone oder Tablet sowie – als „windowed shell“ (1985, S.188) über Plattformen, die auf Basis der beziehungsweise „a shell which you Datafizierung des User_innenverhal- can take with you“ (1983, S.16). tens das Medienangebot personalisie- Diese Ausweitung der mobilen Pri- ren. Die klassische expertenbasierte vatisierung von Telekommunikation Gate-Keeper-Struktur der Medien auf Transport prädestiniert Williams weicht dabei einer Empfehlungs- Konzept für die Analyse zeitgenössi- logik, die durch Algorithmen und/ scher mobiler beziehungsweise por- oder durch andere User_innen ange- tabler Medien und wird in diesem trieben wird (vgl. van Dijck/Poell/ Zusammenhang häufig rezipiert (vgl. de Waal 2018, S.40ff.). Während die Groening 2013). Zahlreiche digitale Personalisierung des post-televisuel- tragbare Medien wie Smartphone, len Konsums auf Streaming-Platt- Laptop oder Tablet verschränken formen bereits explizit als eine Form Individualisierung mit Mobilität und der mobilen Privatisierung diskutiert werden in Bussen, Zügen, U-Bahnen wird (vgl. Maly-Bowie 2019), schürt oder Flugzeugen für akustische, visu- die anti-kommunitäre Dimension elle, ludische oder pathische Medien- des digitalen Konsums und der Par- nutzungen verwendet. Häufig filtern tizipation viel häufiger den Verdacht dabei die Kopfhörer ablenkende aku- digitaler Kokonisierung und symbo- stische und visuelle Phänomene der lischer Immunisierung. Insbesondere Umgebung heraus und sollen ein die Debatten um Filterblasen und Minimum an Immersion ermögli- Echokammern umkreisen das Pro- chen (vgl. Mücke 2019, S.149). blem der ideologischen „Autopro- Solche Formen der aisthetischen paganda“ (Pariser 2012, S.22), aus mobilen Privatisierung gehen heute der die Zementierung des eigenen nicht selten mit einer algorithmi- Weltbildes, das Herausfiltern von schen Personalisierung einher, die unbequemen Meinungen sowie die eine zusätzliche Form der individu- Bestärkung identitärer, populistischer ellen konsumkapitalistischen Kon- und rassistischer Meinungsoasen als trolle verspricht. Zahlreiche digitale Folgen der Personalisierung resultie- Phänomene haben die Logik der ren. Solche Filterblasen lassen sich Massenmedien in Richtung Indivi- im Anschluss an Lotman als Semio- dualisierung und Personalisierung sphären der Abschottung begreifen. vers choben: Ob das Lesen der Nach- Eng miteinander verzahnen sich richten, Schauen von Serien oder dabei virologische und immunologi- 266 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 sche Prozesse. Immunisierung unter- stisch gefärbtem Humor finden so bricht auf sozialen Medien nicht auf Herabsetzung, Othering und Vor- etwa deren virale Logik, sondern stellungen der Reinheit basierende, speist sich aus dieser: Über affektive immunisierende Subjektivierungs-, Ansteckungslogiken in Form von aber auch Kollektivierungsprozesse hate speech, Angst, Stolz oder rassi- statt. Literatur Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier- barkeit [1936/1939].“ In: ders.: Medienästhetische Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S.351-383. Bull, Michael: „IPod Culture: The Toxic Pleasures of Audiotopia.“ In: Pinch, Trevor/Bijsterveld, Karin (Hg.): The Oxford Handbook of Sound Studies. Oxford: Oxford UP, 2012, S.526-543. Cuntz, Michael: „Literarische Modellierungen von Schutzmilieus. Rousseau, Bioy Casares, Houellebecq.“ In: Ladewig, Rebekka/Seppi, Angelika (Hg.): Milieu Fragmente: Technische und ästhetische Perspektiven. 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Multimedial wird es dann, wenn schulpolitische Stellungnahmen (etwa in den Text integrierte QR-Codes die zur Gefährdung der Privatheit oder der Leser_innen auf die Begleit-Website Allianz der Universität mit der Digital- des Buches (www.geistervorlesung.de) wirtschaft), vor allem jedoch themati- leiten. Dort finden sich unter anderem siert und performiert er die medialen hochinteressante Videos, welche die Bedingungen von ‚Online-Lehre‘ – so technisch gestützte Verschriftlichung reflektiert das Buch als „multimediales der Vorlesung vor Augen führen. Projekt“ (S.7) etwa die Möglichkeiten Grundlage des Buches ist offen- und Grenzen der Verschriftlichung sichtlich nicht das Ernst’sche Manu- eines auf Kopräsenz angelegten, jedoch skript, sondern die Audiospur seines nur als Digitalisat verfügbaren universi- Vorlesungsdigitalisats, die von einer tären Lehrformats. Spracherkennungssoftware in einen Die Kapitelüberschriften des von schriftlichen Text verwandelt wurde. Thomas Fecker und David Friedrich, Wie stark bearbeitungsbedürftig der Ernsts studentischen Mitarbeitern, sprachliche Rohstoff dieser Soft- herausgegebenen Bandes verzeichnen ware ist, wird in den Videos deutlich. die zwölf Termine im Sommersemester Die Betrachter_innen hören Ernsts 2020, an denen die jeweilige Vorlesung Stimme und können gleichzeitig mit- ins Netz hochgeladen wurde. Im Text lesen, was das Programm ‚versteht‘. 270 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Dass es dabei zu durchaus amüsanten terleben kann. Dieser Schock sei „im Stilblüten wie „marsch ohne gluten“ Unbewusstsein der bisherigen abend- (für Marshall McLuhan) oder „metho- ländischen Kultur noch nicht verar- den miami“ (für Metonymie) kommt, beitet“ (S.17), daher sei es Aufgabe ist weniger wichtig als der Eindruck, der Medien wissenschaft, diesen immer dass hier einer lernenden Entität über wieder aufs Neue heraufzubeschwören. die Schulter gesehen werden kann, die Im Zuge der Pandemie entzaubert alles Gehörte in Schrift verwandelt, Ernst etwa die vermeintliche ‚Liveness‘ ohne es wirklich zu verstehen. Oder des Videostreamens. Auch hier sitzt doch? Im Buch finden sich insgesamt der technotraumatische Geist in der zehn Passagen, die in diesem recht Maschine: Die Notwendigkeit des unverständlichen Rohzustand belassen Zwischenspeicherns führe bei digita- wurden und deren Inhalt sich erst beim len Video-Konferenzen zwangsläufig Ansehen beziehungsweise Anhören der zur Asynchronität, welche sich etwa bei Videos erschließt. Beim ersten Mal Chorproben bemerkbar gemacht habe. ist der performative Effekt enorm, wie Es sei daher schlichtweg falsch, von hier computerbasierte Spracherken- Gegenwart oder Liveness zu sprechen. nung sichtbar gemacht wird. Man fragt Außerdem verwandelten Videokonfe- sich allerdings bei den weiteren Pas- renzen laut Sibylle Krämer Personen in sagen, welcher ‚Erkenntnisfunke‘ (ein „Zeichen für Personen“ (S.30). Beides Ernst’sches Lieblingswort) nun noch nährt die These, dass Präsenz in diesen überspringen mag, zumal es dann doch Zusammenhängen neu, kybernetisch etwas mühsam ist, vor lauter Medium gedacht werden müsse – es gelte, den noch die Botschaft zu verstehen. Begriff aufzulösen in die jeweiligen Ernst geht es um eine program- sensorischen oder interaktiven Bau- matische Einübung in die radikale steine, die für den Gegenwartseindruck Medienarchäologie (vgl. S.68) anhand verantwortlich sind (vgl. S.90). Außer- einer an Friedrich Kittler orientierten dem handle es sich bei Videokonfe- medialen Lagebestimmung zu Beginn renzen um Schaltungen, die nicht auf der Pandemie. Das bedeutet eine Dialog, sondern auf Befehl und Kon- stete Erinnerung an die technischen trolle angelegt seien (vgl. S.72) und Eigenlogiken – etwa von Interfaces, daher auch nicht die situative Eigendy- Zoom-Konferenzen und Digitalisaten, namik universitärer Präsenzlehre simu- informiert von der abendländischen lieren könnten. Philosophie, der Ingenieurswissen- Dies sind nur einige der „medien- schaft und der in den USA sogenann- epistemologischen Impressionen“ ten „German Media Theory“. Zentral (S.45), mit denen sich Ernst an einer ist der Begriff des ‚Technotraumas‘, „Lagebestimmung in Echtzeit“ (S.85) der jenen Schock bezeichnet, dass etwa versucht. Sie werden eingeordnet in die Stimme eines Toten medial wei- die Technik- und Kulturgeschichte des Im Blickpunkt 271 Medialen vom Vokalalphabet bis zur Nachbereitung machen. Insofern bleibt Fernsehübertragung, verharren selbst das Buch dem Charakter der Vorle- jedoch im Andeutungsstatus. Zu man- sung als einem intellektuellen Anre- chem hätte man gerne mehr erfahren, gungsraum durchaus treu. Es ist ein etwa zum Verständnis von WLAN als kluger, manchmal vielleicht etwas zu „funktechnischer Noosphäre“ (Teil- programmatischer Beitrag zur medi- hard de Chardin), die obendrein eine enwissenschaftlichen Reflexion des neue Chronosphäre ins Homeoffice Wandels universitärer Lehre in der bringe (S.108). Hier müssen sich die Pandemie. Leser_innen selbst mit der genann- ten weiterführenden Literatur an die Anne Ulrich (Tübingen) 272 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Medien/Kultur Drew Ayers: Spectacular Posthumanism: The Digital Vernacular of Visual Effects New York: Bloomsbury Academic 2019, 247 S., ISBN 9781501373824, EUR 34,55 Gilles Deleuze und Felix Guattari stemologische Fragen der digitalen gelten als wichtige Vordenker des kriti- Bildproduktion und Ästhetik erweitert. schen Posthumanismus und das, obwohl Hierbei geht es Ayers nicht einfach um eine solche Verbindung eigentlich eine die besondere Eigenart digitaler Bilder, umgekehrte ist. Eher ist es der kritische die in der Produktion posthumaner Posthumanismus, der Einfluss auf das Körper so etwas wie eine posthumane Denken von Deleuzianer_innen wie Erfahrung reflektieren. Ihm geht es auf beispielsweise Rosi Braidotti genom- Basis der These, dass Technologien und men hat, und nicht umgekehrt. Blickt Bilder auch den Sinnesapparat modu- man auf diese Verbindung, lassen sich in lieren (vgl. S.207), um eine dem Film der Tat dezidierte Gedankenübergänge innewohnende posthumane Eigenart, erkennen: Vom corps sans organes über die dabei hilft, posthumane Erfahrun- das Modell des Rhizoms bis hin zur gen zu konstruieren (vgl. S.8). Seine anti-anthropozentrischen Epistemolo- Kernthese um den Begriff des „posthu- gie lassen sich bei Deleuze und Guat- man vernacular“ (S.1) bündelt sich also tari zahlreiche motivische Einschläge in einer Art Einführung in die potenzi- finden, die durch den kritischen Posthu- ell posthumane Existenz (vgl. S.11), die manismus in einen anti-teleologischen, in ihren Möglichkeiten durch VFX- anti-humanistischen und anti-essen- und CGI-Bilder vervielfacht wird. tialistischen Rahmen gehoben werden So wie die akademische Tradition des können. Nun stellt sich die Frage, wel- kritischen Posthumanismus die Stabili- ches Interesse die Filmtheorie an dieser tät, Produktion und Authentizität von Verbindung anmeldet, schließlich ist menschlichen Körpern in Frage stellt, Deleuze auch in der Film- und Medi- so tut dies das digitale Bild auch. Zwar enwissenschaft ein mittlerweile tradier- erläutert Ayers anhand unterschiedli- ter theoretischer Bezugspunkt. cher analoger Filmbeispiele (prominent Eine nach eigenen Angaben chao- vertreten ist David Cronenbergs Dead tische und unsaubere Antwort (vgl. Ringers [1988]), dass das Potenzial zur S.148) auf diese Frage liefert Drew Fragmentierung und Neubildung von Ayers, der die Schnittstelle zwischen Körpern (und damit das Potenzial zur kritischem Posthumanismus und posthumanen Erfahrung) schon seit deleuzianischer Filmtheorie um epi- Anbeginn der Montage existiere (vgl. Medien / Kultur 273 S.115), es aber erst die Dominanz der Obwohl Ayers seine These auf ‚digitalen Logik‘ brauchte, um neue, Miriam Hansens Überlegungen zum posthumane Wahrnehmungsmodelle, Classical Hollywood aufbaut, ist der hybride Körper und Verkörperungen deleuzianische Denkansatz nicht zu zu produzieren. übersehen. Denn auch Ayers begreift Die zentrale Einsicht dieser Arbeit das Kino als denkenden Akteur, als ein besteht folglich darin, das Digitale und anderes Gehirn – nur, dass er sich dieser den kritischen Posthumanismus aus- These mehr oder weniger als Axiom gehend vom Bestreben zur radikalen bedient, ohne den theoretischen Hinter- Erneuerung des traditionell humani- grund mit größerer Akribie zu erläutern. stisch-cartesianischen Denkens (vgl. Nachdenken über den Film meint bei S.49) in einem unmittelbaren Zusam- Deleuze in erster Linie ein Nachden- menhang zu denken: „The image itself ken über Bilder, um auf die Rückseite becomes a posthuman hybrid, and it der Sprache zu gelangen und die Krise renders visible a cultural logic of infor- der Philosophie zu bewältigen. Deleuze mationalism, one that domesticates geht es um das Ausloten des Sicht- und the threat of dissolution of the human Sagbaren, um das Verhältnis von Aktua- and fantasizes about a digital utopia“ lität und Virtualität in Korrelation zur (S.137f.). Diese Grundannahme wird Linearität und Simultanität. Doch diese im Laufe des Buches an unterschied- theoretische Nachlässigkeit ist eher zu lichen Fallbeispielen testiert. So greift verschmerzen als die Reproduktion des Ayers Walter Benjamins Metapher vom blinden Flecks des kritischen Posthu- Chirurgen auf, um die Funktion und manismus. Denn dieser, wie auch Ayers Wirkungsweise sogenannter virtual Buch, nimmt die Utopien des techno- actors (vgl. S.68) zu untersuchen. Oder logischen Posthumanismus auf eine aber er blickt auf die Verkörperung zu leichte Schulter – Ayers bezeichnet verstorbener Schauspieler_innen durch diese als „folk philosophy“ (S.2) – und digitale Agenten. Die These lautet hier, ignoriert das den Utopien zugrunde- dass das digitale Kino in seiner Über- liegende marktökonomische Bestreben. setzung des Profilmischen in Code Oder anders ausgedrückt: Ayers fügt der weniger den nahtlosen Entkörperungs- Schnittstelle Deleuze/kritischer Posthu- fantasien technologischer Post- und manismus zurecht die filmtheoretische Transhumanist_innen Recht gibt, son- Problematik um die digitale Bildpro- dern den Körper – postcartesianisch duktion hinzu. Doch damit springt neu strukturiert (vgl. S.76) – Fantasien er einen Schritt hinter Deleuze und von Entkörperungen und Wiederbe- Guattari zurück, die sich bekanntlich hauptungen des Körpers aussetzt und auch noch mit einem anderen Thema darin das formt, was er die posthumane beschäftigt haben: Kapitalismus. Eigenart nennt: das Ende des humanis- tischen Subjekts. Lucas Curstädt (Bonn) 274 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Berenike Jung, Klaus Sachs-Hombach, Lukas R.A. Wilde (Hg.): Agency postdigital: Verteilte Handlungsmächte in medienwissenschaftlichen Forschungsfeldern Köln: Herbert von Halem 2021, 261 S., ISBN 9783869625027, EUR 32,- Angesichts der gegenwärtigen Bedeu- geber_innen zunächst medientheoreti- tung von Konzepten „medial vermittel- sche Ansätze im Anschluss an die ANT ter Handlungsmacht“ (S.7) einerseits sowie posthumanistische und neo- und des als obsolet deklarierten Begriffs materialistische Perspektiven, die das des ‚Digitalen‘ (S.10) andererseits, Konzept der Agency umkreisen, und ergibt sich für die Herausgeber_innen gelangen schließlich zu drei Dimen- des vorliegenden Sammelbandes der sionen von Medialität (semiotisch- synthetische Titel Agency postdigital. kommunikativ, technisch-apparativ und Auf produktive Weise gelingt es den sozial-institutionell), auf die sich die Beiträgen, unterschiedliche Medien- Beiträge in Bezug auf die Frage verteil- konfigurationen hinsichtlich der Frage ter Handlungsmacht ausrichten. Dabei nach verteilter Handlungsmacht auf- verliert sich die gesuchte Programmatik zusuchen und zu vermessen, wobei es etwas in immer wieder neu ansetzenden weniger um grundlegende Ausformu- Aufzählungen von Medienb egriffen, lierungen des Agency-Begriffs für die was jedoch insgesamt der Qualität Medienwissenschaften geht, als viel- der sonst konzisen Einleitung keinen mehr um ganz spezifische Verteilungen Abbruch tut. Etwas verwunderlich mag von Handlungsmacht in ebenfalls ganz die Bindung und damit Lokalisierung spezifischen, in den Beiträgen exem- von Agency ‚an‘ spezifische Entitä- plarisch herangezogenen postmedialen ten erscheinen. Entitäten seien laut Medienbereichen. Die breit angeleg- der Herausgeber_innen „anhand ihrer ten Befragungen des Potenzials des Agency bestimmbar“ (S.30). Posthu- Schlüsselkonzepts ‚Agency‘ erstrecken manistische und neomaterialistische sich, ausgehend von den Transmedia Ansätze, auf welche die Herausgeber_ Character Studies, Fan Studies, der innen rekurrieren, rücken allerdings „Debatte um die Autonomie techni- Agency in ein ‚Dazwischen‘ von Begeg- scher Systeme“ (S.88) und den Game nungsmomenten vermeintlicher Enti- Studies, über medienwissenschaftliche täten und verstehen sie nicht als deren ‚Schauplätze‘ wie das digitale Bild des attributive Eigenschaft (vgl. bspw. „kinematografischen Apparats“ (S.158) bestimmt Karen Barad in Verschrän- und das digitale Archiv, hin zu queer/ kungen [Berlin: Merve, 2015] Agency feministischen und medium-netzwerk- als „eine Sache des Intra-agierens, des wissenschaftlichen Perspektiven. Inkraftsetzens“ (S.51), eine Möglich- Einleitend skizzieren die Heraus- keit, Intra-Aktionen zu erreichen). Medien / Kultur 275 Lukas R.A. Wilde eröffnet den und Spielindustrie gestellt werden muss Band mit einem Beitrag, der sich im und dies mit einer Infragestellung des Umfeld der sogenannten Transmedia Konzepts von Autor_innenschaft ein- Character Studies bewegt und charak- hergeht. Olga Moskatova umkreist in terisiert darin Figuren wie das Euro- ihrem, meines Erachtens besonders papark-Maskottchen Ed Euromaus als lesenswerten Beitrag, die Agentiali- „actual intentional being“ (S.48) mit tät von (digitalen) Bildern mit Hilfe autonomer Handlungsmacht. Nicht nur neomaterialistischer Zugänge. Geli bei Wilde wird der Begriff der Assem- Mademli spürt die Bedeutungsver- blage von Gilles Deleuze und Félix schiebungen von Agency in Bezug auf Guattari zu einem zentralen Konzept das Dispositiv des digitalen Archivs ernannt, um die relationalen Verflech- auf. Vor dem Hintergrund der komple- tungen zwischen Medientechnologien, xen Frage nach queer/feministischen Institutionen, Figuren und anderen Zukünftigkeiten lokalisiert Christiane Akteur_innen beschreiben zu können. König post/digitale Agency „in [...] Ebenso analysiert Nicolle Lamerichs situierten, verklebenden Schnitten“ das System Fandom als „socio-tech- (S.200). Was genau mit dieser ‚klebri- nological assemblage[...]“ und „socio- gen Praxis‘ des Schneidens gemeint sein technological imaginar[y]“ (S.69), die könnte, hält sich allerdings auch nach durch Narrative Gestalt annehmen. Königs Darstellung und Kommen- Lamerichs geht es damit nicht zuletzt tierung exemplarisch herangezogener um die Einbindung nicht-menschlicher queer/feministischer und queer-of-color- Entitäten, wie Objekte, Algorithmen Projekte versteckt. Entlang der ANT und fiktionale Figuren in die Assem- und mittels Latour‘scher Begriffe ent- blage. Auch Christoph Ernst widmet wirft Sven Grampp schließlich ein sich in seinem Beitrag spezifischen Theoriegerüst, um sein Plädoyer für nicht-menschlichen Akteur_innen, den eine Medium-Netzwerk-Wissenschaft autonomen Waffensystemen (AWS). zu stützen. Mit Blick auf Mensch-Maschine- Insgesamt stellt der Band nicht nur Interaktionen bei AWS stellt Ernst die interessante und facettenreiche Ausein- Bedeutung spekulativer Imaginationen andersetzungen mit unterschiedlichen zukünftiger Waffensysteme heraus. Manifestationen und Verteilungen von Ivan Girina eröffnet mit seinem Beitrag Agency in postdigitalen Medienberei- eine Perspektive auf das Agency-Kon- chen vor, sondern regt darüber hinaus zept im Kontext der Game Studies und auch zu weiterführenden Befragungen macht überzeugend deutlich, inwiefern des Potenzials von Agency in medien- die Frage nach Agency in Videospielen wissenschaftlichen Forschungsberei- vor dem Hintergrund eines politischen, chen an. sozialen und kulturellen Beziehungsge- flechts zwischen Spiel, Spieler_innen Alisa Kronberger (Köln) 276 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Christian Bonah, Anja Laukötter (Hg.): Body, Capital, and Screens: Visual Media and the Healthy Self in the 20th Century Amsterdam: Amsterdam UP 2020 (Media Matters), 348 S., ISBN 9789462988293, EUR 115,- Die Herausgeberschrift Body, Capital, deos. So passt sich das Buch perfekt in and Screens ging aus der Konferenz die Reihe „Media Matters“ der Amster- „The Healthy Self as Body Capital: dam University Press ein, die den Fokus Individuals, Market-based Societies auf die Verflechtungen von Materialität and Body Politics in Visual Media in und Performativität in alten und neuen the Twentieth Century Europe“ hervor, Medien legt. Auch geografisch geht der die im Februar 2017 an der Université Sammelband einen weiten Weg von der de Strasbourg stattfand. Der Schlüs- ehemaligen DDR über Österreich nach selbegriff ‚body capital‘ und gleich- Frankreich, in das Vereinigte König- zeitiger roter Faden der Publikation reich, über Kanada und die USA. Glo- wird von den Herausgeber_innen im bale Institutionen wie die UNESCO, bourdieu‘schen Sinne als kulturelles, die WHO, aber auch das Deutsche soziales und humanes Kapital ver- Hygiene Museum Dresden (DHMD) standen, das hinter einem besseren, spielen aller Erwartung nach wesent- gesünderen und individuellen Leben liche Rollen in diesem Buch. Zwei großes wirtschaftliches Potenzial ver- Unterthemen stellen die Herausgeber_ mutet. Die Historikerin vom Max- innen in ihrer Einführung allerdings Planck-Institut für Bildungsforschung vor, die sich dann leider nicht in der in Berlin, Anja Laukötter, und der Kapitelstruktur wiederfinden lassen. Medizinhistoriker und Gesundheits- Im Themenbereich „Perspectives on wissenschaftler von der Université de time and space (and their hierarchies)“ Strasbourg, Christian Bonah, erstellen geht es unter anderem Bonah um den den Sammelband mit dem Ziel, „to Einfluss von Cinéma Verité auf die Sexu- understand better the role that modern alaufklärung im französischen öffent- visual mass media have played in the lich-rechtlichen Fernsehen um 1968. shift in health paradigms over the span Die kanadische Kommunikationswis- of two centuries“ (S.21). Die Darstel- senschaftlerin Zoë Druick untersucht lungen erstrecken sich von 1890 bis hingegen die biopolitischen Abgründe 2016. Die beiden Wissenschaftler_ in UNESCO Filmen der 1940er und innen, die bereits zuvor in Co-Auto- 1950er Jahre. Das zweite Themenfeld renschaft veröffentlichten, verbinden elf „Screens and markets/capital“ umfasst Beiträge, die auf der Mikroebene visu- sechs Beiträge, darunter Laukötters elle Kommunikationsformen analysie- Artikel über Sexualaufklärungsfilme ren. Dabei bearbeiten die Autor_innen der frühen 1960er Jahre der DDR, was dokumentarische Filme, Lehrfilme und als ihr Spezialgebiet bezeichnet werden Fernsehformate ebenso wie Amateurvi- kann. Der finale Beitrag untersucht die Medien / Kultur 277 mediale Darstellung des Zika-Virus im deutschsprachigen Raum erst selten Jahr 2016 durch die Bedingungen der Anwendung. Inhaltliche Bezüge zwi- Datafizierung. Beschreibende Filmsze- schen den Kapiteln werden leider ver- nen und illustrierende Screenshots in nachlässigt und bleiben Aufgabe der fast allen Kapiteln holen die Leser_ Leser_innen. Ein umfassendes Register, innen ideal ab und ziehen sie in die „in- bestehend aus Sach-, Personen-, Werks- depth case studies at the intersection of und Ortsindex, erleichtert jedoch den film and media studies, social and cul- Zugang zur Publikation. Hervorzu- tural history of the body“ (S.32) hinein. heben ist noch die unverwechselbare Den Herausgeber_innen gelingt Covergestaltung des Künstlers Sascha es, strategische Gesundheitskommu- Kürschner, ein Kassenzettel mit dem nikation und Medienwissenschaft Titel „feeling real“. zu vereinen. Diese interdisziplinäre Forschungsperspektive f indet im Charmaine Voigt (Leipzig) Ingo Cornils: Beyond Tomorrow: German Science Fiction and Utopian Thought in the 20th and 21st Centuries Suffolk: Boydell & Brewer 2020 (Studies in German Literature Linguistics and Culture, Bd.214), 322 S., ISBN 9781640140356, EUR 89,39 Ingo Cornils’ Studie Beyond Tomorrow das Nibelungenlied (zwischen 1200 und will dem englischsprachigen Publikum 1210) gemeint ist. Wichtiger noch sei einen Überblick über Geschichte und die „unique history“ (S.38) Deutsch- Entwicklung der deutschen Science- lands. Namentlich der Nationalsozia- Fiction bieten (vgl. S.1) und dabei lismus, die „traumatic defeats“ (ebd.) in zugleich erkunden, wie ihre „distinct den beiden Weltkriegen und die Spal- cultural identity“ (ebd.) etwas zum glo- tung in zwei Staaten mit konträren balen Zukunftsdiskurs beitragen kann politischen Systemen gäben deutschen (vgl. ebd.). Eine ihrer Besonderheiten Debatten über mögliche Zukünfte bestehe darin, dass sich in ihr immer ihren „distinctive flavor“ (ebd.). wieder Einf lüsse deutscher „natio- Der Band ist in zwei Hauptab- nal myths“ (S.83) – insbesondere von schnitte unterteilt, dessen erster die Goethes Faust (1808, 1832) und des Diskurse der utopischen Ideen, der „national epic Die Nibelungen“ (S.82) Futurologie und der fiktionalen Uto- – niederschlagen, wobei mit letzterem pien in Literatur und Film behandelt 278 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 sowie abschließend ihr Zusammenwir- und das feministische Neugermanien ken erörtert (vgl. S.15-74). Im zweiten gegenüberstehen. Auch werden nicht weit umfangreicheren Teil stellt Cornils etwa Bertha von Suttners Zukunfts- „key works“ (S.13) vorrangig der lite- romane Das Maschinenalter (1889, ab rarischen, aber auch der cineastischen der dritten Auflage von 1899 unter Science-Fiction in Deutschland seit dem Titel Das Maschinenzeitalter) und dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor Der Menschheit Hochgedanken (1911) (vgl. S.75-228). Dabei interessiert er beleuchtet, sondern nur ihre Bespre- sich insbesondere für in den Werken chung von Kurd Laßwitz’ Roman Auf verhandelte naturwissenschaftliche und zwei Planeten (1897) erwähnt (vgl. technische Fragen. Anderes, wie etwa S.88). soziale und gesellschaftliche Entwürfe Noch weniger als Geschlechter- oder die fiktionalen Geschlechterver- fragen interessieren Cornils Erzähl- hältnisse, wird hingegen weitgehend strategien oder literarästhetische vernachlässigt. Hinsichtlich ersterer Experimente beziehungsweise Fragen bildet Cornils Auseinandersetzung mit der Bauten, der Kameraführung oder Werner Illings marxistischem Roman der Schnitttechnik. Zu den wenigen Utopolis (1930) eine Ausnahme, dem Ausnahmen zählt der 1927 entstandene er wenig überzeugend bescheinigt, er Film Metropolis mit seinem bekannter- komme ohne „revanchist or antide- maßen „expressionist style“ (S.106) und mocratic stance“ (S.112) aus. Immer- die Fernsehserie Raumpatrouille (1966), hin räumt Cornils ein, „its ruler has to in deren „visual style“ der Autor „a con- exercise dictatorial powers“ (ebd). scious to Bauhaus clarity and trans- Die in den behandelten Werken parency“ (S.125) ausmacht. Gänzlich entworfenen Geschlechterverhältnisse unbeachtet lässt Cornils Romane, die spielen erst in einigen wenigen Analy- sowohl sprachlich oder erzähltechnisch sen jüngerer Science-Fiction von Frauen experimentell wie auch feministisch eine gewisse Rolle, wie etwa in derje- sind, wie etwa Sophie Behrs Ida&Laura nigen von Karen Duves Roman Macht (1997) und Norma Desmond (2000) von (2016), den Cornils unter die „Social Marlene Streeruwitz. Satires“ (S.193) subsumiert. Ihn vor- Neben solchen Absenzen und nehmlich als solche zu lesen, wird dem Schwächen sind auch einige For- dezidiert feministischen Werk aller- malia zu monieren. So sind Cornils dings kaum gerecht. Immerhin erkennt Quellenangaben nicht immer präzise. aber auch Cornils in ihm ein „strong Zu einem fast halbseitigen Zitat aus feminist statement“ (S.201). Unerwähnt August Bebels „Die Frau im Sozialis- bleibt hingegen die bedeutendste femi- mus (The Woman in Socialism)“ (S.22) nistische Utopie aus der Zeit der ersten wird nicht etwa die seitengenaue Quelle Frauenbewegung: Helene Judeichs angegeben, sondern nur das Kapitel ebenfalls satirisch angelegtes Stück genannt. Davon abgesehen lautet der Neugermanien (1903), in dem sich anno deutsche Titel Die Frau und der Sozialis- 2075 das maskulinistische Absurdistan mus (1879), der englische Titel Woman Medien / Kultur 279 Under Socialism (1904) beziehungsweise These, die zudem kaum auf die vor 1933 Woman and Socialism (1910). entstandenen Werke Anwendung fin- Insgesamt hätte der Autor seine den kann. Dennoch dürfte seine Arbeit These, die deutsche Science-Fiction für die englischsprachigen German habe aufgrund des Nationalsozialismus, Studies einige Anknüpfungspunkte für der Kriegsniederlage und der deutschen eine – wie zu hoffen ist – verstärkt ein- Teilung einen ‚Sonderweg’ beschritten, setzende Forschung zum Thema bieten. anhand der einzelnen Werke klarer herausarbeiten können. Dies ist eine Rolf Löchel (Marburg) Theresa Eisele: Szenen der Wiener Moderne: Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 165 S., ISBN 9783525358238, EUR 25,- Die Autorin Theresa Eisele legt in ihrer men wie Authentizität, Ethnologie, Studie einen irritierend weiten Begriff Primitivismus, Antisemitismus oder von Wiener Moderne zugrunde, sind Antifeminismus sowie deren Verbin- doch die von ihr vorgestellten, der dungen entwickelt. Diese Studie näm- Sache nach ohne erkenntnisfördernden lich orientiert sich dem expliziten (vgl. Grund gegen den Zeitpfeil verhandel- S.10-15) Anspruch wie umfangreicher ten ‚Artefakte‘ aus Film, Theater und Textpassagen nach an diversen wis- Fotografie in den Jahren 1873, 1890 senschaftlichen Usancen insbesondere und 1924 entstanden. methodischer, struktureller und sti- Nicht minder irritiert die Gat- listischer Art und ist von daher auch tungsbezeichnung ‚Essay‘ für diese mit daran zu messen. Diese Orientierung hohem theoretischen Anspruch und ist auch an dem gut 25 Seiten langen modischer Terminologie auftretende Quellen- und Literaturverzeichnis Studie, die einigermaßen vollmun- sowie an der immerhin drei weitere Sei- dig vorgibt, die „Wiener Geschichte ten umfassenden Auswahlbibliografie der Moderne […] im engeren Sinne“ über „Artefakte, Authentizität, Wien (S.20) zu durchmessen und dabei um 1900“ und die drei ‚Artefakte‘ selbst mehrheitlich ausgesprochen plakative, zu ersehen: Das sind der Spielfilm Die sprunghaft entwickelte Thesen zu The- Stadt ohne Juden (1924), die „schauspie- 280 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 lenden Körper[]“ (S.11) in der Posse Die ten der Unterschiede zwischen Hugo Klabriaspartie (1890) und die Fotoserie Bettauers gleichnamiger Romanvorlage Wiener Typen, deren Nr. 16 den Titel (vgl. S.29f.), dem Drehbuch und Hans Hausjude. Hand’ ln (1873) trägt. Karl Breslauers Film wünschenswert Bei genauerem Hinsehen erweist gewesen. sich das Quellen- und Literatur- Argumentativ und interpretato- verzeichnis zudem als nach den risch hingegen tun sich erhebliche Hauptkapiteln untergliederter Anmer- Zweifel auf, so beispielsweise, wenn kungsapparat. Der ist jedoch ausge- Felix S altens Porträt-Sammlung Das sprochen benutzerunfreundlich. Es gibt österreichische Antlitz (1909) vorschnell keinerlei Verweise zwischen Fließtext ein a-historisches, ontologisierendes und Apparat, sodass man gezwungen Denken unterstellt wird. Auch die ist, diesen obendrein ‚bleiwüstenartig‘ unter dem Vorwurf einer „gewisse[n] gesetzten Apparat wie einen Fließtext »Physio-Manie«“ (S.53f.) stehende Aus- zu lesen und sich von ihm aus auf die einandersetzung mit Texten von Béla Seiten- und Stellensuche in den Kapi- Balázs (u.a. Der sichtbare Mensch [1924]) teln begeben muss. überzeugt nur stellenweise. Angemes- Die Verfasserin verfolgt das Ziel, sen bedacht werden nämlich nicht die anhand der genannten Artefakte in der ersten Hälfte der 1920er Jahre „Bildwelten des Jüdischen in der zen- gegebenen film- und damit ausdrucks- traleuropäischen Moderne“ zu „histo- technischen Möglichkeiten sowie die risieren und sie […] miteinander lesbar zeitgenössischen Rezeptionsdisposi- zu machen“ (S.11). Dabei soll es nicht tive. Auch die in diesem Zusammen- um den ‚Wahrheitsgehalt‘ beziehungs- hang erhellenden, um Kunstfähigkeit weise die sogenannte ‚Echtheit‘ dieser kreisenden Debatten über Stumm- und ‚Bildwelten‘ gehen, sondern um deren Tonfilm nachfolgender Jahre geraten ‚Wirklichkeit‘ beziehungsweise Wirk- nicht in den Blick. Das hat Folgen für samkeit: Wer hält sie „wann warum für die Filmanalyse. Zwar fällt hier immer wahr“ (S.12) und erzielt damit – beab- wieder das Stichwort ‚Stummfilm‘, sichtigt, in Kauf genommen, unbe- doch spielt das dann in der Beschrei- merkt oder ungewollt – welche Art bung, Analyse und Bewertung des zur von Wirkung? Rede stehenden Films (vgl. S.33-50 Die Studie ist meist dann informa- und S.65) allenfalls eine untergeord- tiv und in dieser Hinsicht zu begrü- nete Rolle. ßen, wenn sie Faktisches rund um die Wie in diesem filmanalytischen ‚Artefakte‘ zusammenträgt. Das gilt Teil fallen auch in den Kapiteln zu insbesondere mit Blick auf die weni- den anderen Beispielen zuweilen ein ger erforschten Untersuchungsobjekte sich sachlich gebendes, doch faktisch Die Klabriaspartie (bzw. deren Insze- suggerierendes Sprechen („1940 trat nierung in Wien) und Wiener Typen. Hans Karl Breslauer in die NSDAP Mit Blick auf Die Stadt ohne Juden wäre ein“ [S.65]), ein sehr loser Umgang allerdings ein genaueres Herausarbei- mit Begrifflichkeiten (bspw. ursprüng- Medien / Kultur 281 lich, natürlich, authentisch) sowie eine ‚historisieren‘ (s.o.), sie tut auch nicht Urteilspraxis auf, die von der Gegen- das, was einen gehaltvollen Essay aus- wart her denkt. Von daher verfehlt die zeichnet: prüfen und abwägen. Studie unterm Strich nicht nur das selbst gesetzte Ziel, die ‚Artefakte‘ zu Günter Helmes (Schärding) Rayner García Hernández: Medienpolitik in Kuba: Zur Transformation kultureller und sozialer Aspekte Hamburg: Avinus 2020 (Edition Medienkulturforschung), 409 S., ISBN 9783869380995, EUR 32,- (Zugl. Dissertation an der Bauhaus-Universität Weimar, 2020) Kuba, Gesellschaft und Staat, haben Dissertation herauszuarbeiten, wel- – nicht erst seit der sozialistischen chen kulturellen und sozialen Wandel Revolution von 1959 – viele Umbrü- die Digitalisierung seit etwa 20 Jahren che, Krisen, Reformphasen und in Kuba bewirkt oder die Nutzer_innen Rückschläge erfahren, bestimmt von mit ihr vorantreiben. Er hat dazu, wie den politischen Machtverhältnissen, er schreibt, Presseberichte ausgewertet, den ökonomischen Ressourcen, den informelle Gespräche geführt und „par- Unterstützungen, Beeinf lussungen tizipatorisch“ „Medienpraktiken“ und und Restriktionen von außen. Die den „Medienkonsum der kubanischen zaghaften Reformansätze in der Nach- Nutzer im öffentlichen Raum bis zum Castro-Zeit mit vorsichtigen Locke- Jahr 2018“ (S.31) untersucht. rungen für den privatwirtschaftlichen Vor allem hat Hernández die hie- Sektor und die zögerliche Annäherung sige einschlägige Theoriediskussion an die USA unter Obama, sind von umfassend und gründlich aufgearbeitet, den Sanktionen der Trump-Regierung, sodass seine umfangreiche Arbeit über aber auch vom Ausbleiben der Subven- weite Strecken eine Rekapitulation die- tionen Venezuelas abgewürgt worden ser Debatte ist. Dass Kuba noch weit- und haben für neuerliche Stagnation hin ein (recht prekäres) Schwellenland und Krise gesorgt. In diese Presche ist mit extremen Widersprüchen ist und China nicht uneigennützig gesprungen. sich nur unzulänglich mit postmoder- In diesen instabilen Koordinaten sucht nen Kategorien messen lässt, erwähnt der kubanische Autor Rayner García der Autor zwar oft im Nachgang zum Hernández in seiner überarbeiteten theoretischen Vorspann und auch zwi- 282 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 schen den Zeilen, aber ihm gelingt es schaftlichen Selbstständigen, von nicht, dafür ein adäquates theoretisches Händler-_innen und Künstler_innen, Konzept zu entwickeln. Anhaltender Musiker_innen und Medienproduzent_ Mangel, doppelte Währung (erst innen, die CDs und DVDs handeln kürzlich abgeschafft), schlichte Staats- und herstellen, Parabolantennen bauen läden für den rationierten täglichen und Leitungen für WLAN anzapfen, Bedarf und attraktive (der Mehrheit SIM-Karten für Handys verhökern, unzugängliche) Geschäfte für breite- Internetcafés eröffnen und für zeitweise ren Konsum mit der Devisenwährung meist noch teuren Zugang ins Internet (CUC) haben eine Gesellschaft des sorgen. Dazu beschreibt Hernández Selbstbastelns und -reparierens (vgl. unzählige Projekte und spontane Akti- S.117) entstehen lassen, mit zahlreichen onen, ohne sie hinreichend zu belegen, informellen, privaten und privatwirt- ihre Größenordnungen, Verbreitungs- schaftlichen, vor der Partei- und Staats- grade und -dauer zu charakterisieren, kontrolle und Zensur versteckten oder ebenso wie er jeweils beliebige Daten von ihr geduldeten Sektoren bis hin zu dafür aufbietet, für deren Gültigkeit er Schwarzmärkten einerseits sowie mit keine Quellen nennt und die daher frag- propagandistisch hochgelobten und würdig bleiben. So behauptet er, dass subventionierten Offerten andererseits. 1995 die Telefondichte nur fünf Prozent Dies gilt auch für mediale und digitale für Institutionen und Haushalte betrug, Innovationen, besonders seit den 1992 aber in den „kommenden Jahren“ unter verfolgten Plänen zur Informatización der Ägide des staatlichen Telekommu- de la Sociedad Cubana (vgl. S.81). Dazu nikationsunternehmens ETECSA und beschreibt Hernández gleich eingangs durch die Digitalisierung bis zu 99,1 drei herausragende Projekte zur digi- Prozent erhöht wurde (vgl. S.101). Für talen Gesundheitsinformation, zur kul- 2018 führt er „etwa“ 1.651 „öffentliche turellen Teilhabe und zu einer digitalen Räume“ (darunter 673 Wi-Fi-Hotspots, Enzyklopädie. In jedem der sechs Kapi- 207 Internetcafés und 771 Internetcafés tel kommt er auf weitere einschlägige in Hotels, Jugend-Computer-Clubs und Maßnahmen der kubanischen Institu- Dienststellen des Unternehmens Correos tionen zu sprechen. de Cuba) an, in denen die kubanische Doch sein politisch-analytisches Bevölkerung Zugriff zum Internet Interesse gilt den informellen Produk- und zu den offiziell erlaubten Internet- tions- und Kommunikationsaktivitäten diensten habe. Doch zugleich betont er in den zivilgesellschaftlichen Sektoren. mehrfach, dass die Mehrheit der Kuba- Theoretisch unterstellt er einen wach- ner_innen aus technischen oder finan- senden kulturellen Konsum, der seine ziellen Gründen – 2018 kostete eine Digitalisierung fordert und vorantreibt Stunde Internetzugang über den Pro- (wie auch umgekehrt). Praktisch sind vider Nauta 1,5 CUC (etwa 2 Euro) bei es die launischen Lockerungstests des einem durchschnittlichen Monatsgehalt Regimes sowie die diversen Aktivi- zwischen 20 und 40 Euro (vgl. S.105) täten und Initiativen von privatwirt- – keinen Internetzugang hat oder sich Medien / Kultur 283 die Jungen und Pfiffigen lieber Netz- Kulturdynamik“ greift und „neue sozi- werke mit eigenen Mitteln basteln, um ale Strukturen und Durchdringungs- die (vorwiegend amerikanischen) Spiel- räume“ hervorbringt, die „mit einer filme, Serien und Computerspiele zu Individualisierung von Wissensentste- nutzen, die ihnen gefallen, oder an die hung und Weltmodellen einhergehen“ Informationen zu kommen, die ihnen und „kulturelle Räume mit wandel- das Regime verweigert (vgl. S.109). So baren heterogenen Qualitäten“ (S.377) dürfte es gewiss noch dauern und auch gestalten, wie der Autor am Ende hofft. nicht definitiv ausgemacht sein, bis und ob die vom Autor erwartete „neuartige Hans-Dieter Kübler (Werther) Sammelrezension Fake News Ralf Hohlfeld, Michael Harnischmacher, Elfi Heinke, Lea Sophia Lehner, Michael Sengl (Hg.): Fake News und Desinformation: Herausforderungen für die vernetzte Gesellschaft und die empirische Forschung Baden-Baden: Nomos 2020, 361 S., ISBN 9783848760138, EUR 79,- Christian Schicha, Ingrid Stapf, Saskia Sell (Hg.): Medien und Wahrheit: Medienethische Perspektiven auf Desinformation, Lügen und „Fake News“ Baden-Baden: Nomos 2021, 391 S., ISBN 9783848779338, EUR 79,- Nimmt man den Publikationsausstoß politischen Essays“ (S.14) möglichst über ‚Fake News‘ als Maß, steht diese sachlich und deskriptiv die „mit ‚Fake Problematik hoch im Kurs. Gleich News‘ verbundenen Herausforderungen zwei Sammelbände aus dem Nomos- für die vernetzte Gesellschaft“ (ebd.) Verlag gilt es zu begutachten: der eine, skizzieren will und dazu historische initiiert und herausgegeben von Kom- Entwicklungen, Begriffsklärungen, munikationswissenschaftler_innen an markante Beispiele, soziale Verbreitung der Universität Passau, der „mit inter- und Bewertung sowie Eindämmungs- disziplinären Beiträgen, mit aktuellen maßnahmen aufzeigt; der andere als empirischen Studien und gesellschafts- Dokumentation der Tagung „Medien 284 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 und Wahrheit. Medienethische Per- eher eine Rückbesinnung auf die tra- spektiven auf ‚Fake News‘, Künstliche ditionellen, anerkannten Tugenden des Intelligenz und Agenda-Setting durch Journalismus angeraten: Sorgfalt, Ehr- Algorithmen“ der Fachgruppe Kom- lichkeit und Wahrhaftigkeit, gründ- munikations- und Medienethik der liche Recherche, Distanz gegenüber DGPuK in Zusammenarbeit mit dem Politik und Wirtschaft. Netzwerk Medienethik und in Koope- Dementsprechend unterschiedlich ration mit der Akademie für politische thematisch orientiert und rubriziert Bildung in Tutzing, der die normati- sind die jeweils 18 Beiträge. In dem ven und grundlegend philosophischen Reader aus Passau gruppieren sie sich Fragen um Wahrheit ins Zentrum in fünf Abschnitte: Im ersten werden rückt und damit den ‚analytischen Begriffsklärungen (etwa die Relation Blick‘ durch interdisziplinäre Ansätze zwischen allgemeiner Desinformation erweitern möchte. In den praktischen und ‚Fake News‘), historische Entwick- Auswirkungen fokussieren sich beide lungen und Episoden im Journalismus Bände auf den Journalismus im engeren (wie die Nach-Trump-Ära) und theo- nachrichtenbezogenen oder auch im retische Einordnungen (wie framing- weiteren Sinne, indem Unterhaltungs- Konzepte) thematisiert. Danach folgen formate und Social-Media-Veröffent- Beispiele aus der Unternehmenskom- lichungen einbezogen werden, wollen munikation, der Propaganda im Ukra- aber auch durch medienpädagogische ine-Konflikt und den Funktionen von Anstöße das Publikum sensibilisieren sozialen Netzwerken im Syrienkrieg. und aufklären. Die beiden nachrangig Der dritte Abschnitt kümmert sich angeordneten Kategorien des Titels, um die Beurteilung von Glaubwürdig- nämlich Künstliche Intelligenz und keit und die Erkennbarkeit von ‚Fake Agenda-Setting durch Algorithmen, News‘ durch das Publikum. Im vierten werden fast gar nicht thematisiert. Abschnitt werden Verbreitung, Fol- Neue Funktionen und Aufgaben gen und Wirkungen von ‚Fake News‘ für den Journalismus in der aufge- etwa in der Bundestagswahl 2017, heizten Netzgesellschaft reklamieren allgemein in der Politik und in der Ralf Hohlfeld, Michael Harnischma- Selbstthematisierung der Presse sowie cher, Elfi Heinke, Lea Sophia Lehner bei Verschwörungsmythen diskutiert. und Michael Sengl in ihrer Einleitung: Schließlich beschäftigen sich die letz- Über das Paradigma des gatewatching ten vier Beiträge im fünften Abschnitt hinaus, das längst das traditionelle mit „Maßnahmen zur Korrektur und gatekeeping abgelöst habe, müsse er sich Eindämmung von Falschnachrichten“ zum gateadvising (weiter)entwickeln, (S.297ff.), etwa durch ein ‚strategisches also zum Beraten des Publikums, um Diskursmanagement‘, durch fact che- „frühzeitig mit Faktenchecks, Richtig- cking, endlich durch Förderung von stellungen und fundierten Recherchen Kritikfähigkeit und Medienkompetenz. gegensteuern zu können“ (S.13). Aus Im medienethischen Reader begin- medienethischer Sicht wird dagegen nen die fünf Abschnitte mit dem ersten Medien / Kultur 285 über Wahrheit, und zwar als philoso- gemeinhin unberücksichtigt und unkri- phisches Thema, in der Kulturindustrie, tisiert. Viele von ihnen haben sich zwi- in der Ethik der öffentlichen Kommu- schenzeitlich in die Büsche geschlagen nikation und in digitalen Öffentlich- oder gar das ideologische Mäntelchen keiten, besonders unter feministischen gewechselt, der rechte Markt ist offen- Vorzeichen. Danach folgen im zweiten bar ohne die mächtigen Protagonisten Teil theoretische Einordnungen und nicht mehr lukrativ: Medien und Macht begriffliche Klärungen mit diversen bedürfen mithin der Interessenssymbi- theoretischen Referenzen. Im dritten ose. Auf der anderen Seite: Wer sich Teil werden empirische und gesell- warum von Falschmeldungen und Fil- schaftspolitische Fallstudien etwa bei terblasen im Publikum beeinflussen lässt der Bearbeitung von Bildern, in der oder von ihnen sogar abhängt, ist eben- politischen Kommunikation und bei falls noch nicht hinlänglich soziodemo- Bewertungen der Flüchtlingsdebatte grafisch erfasst. Im Reader aus Passau aufgeboten. Noch einmal wird das stellt Hohlfeld eine empirische Online- Thema ‚Wahrheit‘ im vierten Abschnitt befragung mit zwei Phasen im Juli 2017 aufgegriffen, diesmal im journalisti- und Januar 2020 vor (vgl. S.179ff.): Pro- schen Kontext, und zwar bei Online- band_innen mit höherer Bildung und Inhalten, am Fall des Journalisten höherem Alter sowie mit geringerer Relotius, bei Roboterjournalismus Mediennutzung, zumal von Online- und erneut als allgemeines Phänomen. Medien, können ‚echte Nachrichten Schließlich behandeln die drei letzten von falschen‘ besser unterscheiden als die Beiträge im fünften Abschnitt Wahr- gegenteilige Populationsauswahl. Auch heitsfragen und die Bildung von Filter- die eher links Orientierten und politisch blasen in der Online-Kommunikation stärker Engagierten schneiden besser ab beziehungsweise in sozialen Medien. als bürgerlich-konservative und weniger So wichtig und aufschlussreich die engagierte Teilnehmer_innen. Insge- Studien im Einzelnen sein mögen, so samt hielten sich alle selbst für kaum lange die Seite der Produktion von Des- beeinflussbar, nur die anderen sind es informationen und die dahinter stehen- – was die Kommunikationswissenschaft den Interessen nicht gründlich genug als Second oder Third-Person-Effekt erforscht sind und so lange die Rezipi- kennt. Woher solche Einstellungen und ent_innen nicht ebenfalls hinreichend Haltungen kommen, welche sozialen differenziert werden, bleiben ‚Fake und individuellen Faktoren dafür ver- News‘ zunächst nur ein analytisches antwortlich sind, kann natürlich eine Phänomen. Man erinnere sich: Donald ad-hoc-Befragung nicht eruieren. Lang- Trump beschimpfte ständig die noch fristigere Studien sind mithin sowohl in einigermaßen seriösen (US)-Medien der Produktion wie in der Rezeption und sogar einzelne Vertreter_innen von von ‚Fake News‘ erforderlich und wün- ihnen als ‚Fake News‘, die gesamten schenswert. parteigängerischen und rechten Medien blieben in der öffentlichen Diskussion Hans-Dieter Kübler (Werther) 286 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Buch, Presse, Druckmedien Jörn Ahrens (Hg.): Der Comic als Form: Bildsprache, Ästhetik, Narration Berlin: Christian A. Bachmann 2021, 336 S., ISBN 9783962340490, EUR 36,- Gerade in letzter Zeit ist ein Zuwachs des Comics sowie dessen Eigenlogik an wissenschaftlichen Publikationen zu vernachlässigen. Generell sieht zu Comics zu verzeichnen, in denen Ahrens den Comic als eine Medien- die Gemachtheit von Comics und form, „deren ästhetische, narrative und deren spezif ische Materialität im repräsentative Kompetenzen erst noch Zentrum stehen – oft geschieht dies auszuloten wären“ (S.9). Eine Theorie im Vergleich mit Film und Literatur, des Comics müsse, um die verschie- wie zum Beispiel in dem von Hans- denen Varianten des Mediums zu klas- Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin sifizieren und zu analysieren, gerade Feyersinger, Véronique Sina und Jan- „nach der Form des Comics [...] fra- Noël Thon herausgegebenen Band gen und diese [...] reflektieren“ (S.10), Die Ästhetik des Gemachten (Berlin: De fordert Ahrens, wofür „verstärkt auf Gruyter, 2018). Hier reiht sich auch Ansätze aus der Bildwissenschaft und die von Jörn Ahrens herausgegebene den Visual Culture Studies zurückzu- Publikation ein, die auf eine gleichna- greifen“ (S.26) sei. „Ausdruck, Aufbau mige Tagung zurückgeht, die im Jahr und Wirkungsästhetik“ sieht er in der 2019 an der Justus-Liebig-Universität gegenwärtigen, primär unter „Akzen- Gießen stattgefunden hat. tuierung der Narrationsebene“ (S.15) „Geht man von Literatur und Film stattfindenden Forschung nicht ausrei- aus, so bewegt sich zwischen diesen chend berücksichtigt und wenn, dann beiden medialen Spielarten mediie- „bei Verwendung unzureichender Ana- rend der Comic, indem er aus beiden lyseinstrumentarien“ (S.12). Die von Medienkontexten Eigenschaften auf- ihm vereinten Beiträge sieht er hierbei greift und in eine ihm eigene, spe- als „Prolegomena zu Themen, [...] die zifische Medialität übersetzt“ (S.8), unterschiedlichste formale Aspekte des konstatiert Ahrens im Vorwort und Comics berühren“ (S.26). Angesichts problematisiert im Folgenden daher, des angestrebten Schulterschlusses „die Medialität des Comics auf andere mit Bildwissenschaft und den Visual Medienformen zu beziehen“ und die- Culture Studies ist es allerdings irritie- sen dadurch den Status von „konzepti- rend, dass unter den zehn Autor_innen onellen Leitmedien“ (ebd.) zu verleihen nur eine Person vertreten ist, die sich und den „mediale[n] Eigensinn“ (S.19) mit viel gutem Willen diesen akade- Buch, Presse und andere Druckmedien 287 mischen Disziplinen zuordnen lässt. nem Beitrag zur „ligne froide“ im Werk Hierfür mag es gute Gründe geben, von Chris Ware (vgl. S.99-126) sowie doch erfährt man diese nicht. Kirsten von Hagen, die auf eine kom- Auch wenn Ahrens letztlich die plexere Denkweise in Bezug auf die „Ref lexion auf die formgebenden ligne claire plädiert und dies anhand der Bedingungen einer Eigenlogik des „Reflexion über Bildlichkeit [...] und Mediums Comic“ (S.27) anstrebt, Bildmedien [...]“ (S.128) im Werk von ziehen einige der Beitragenden gleich- Stéphane Heuet exemplifiziert. wohl – und mit Gewinn – Vergleiche Dass unter den zehn Beitragenden zu anderen Medien: So zeigt beispiels- nur drei Frauen sind, ist bedauerlich. weise Arno Meteling die „formale Dieses Geschlechterungleichgewicht Schnittmenge“ (ebd.) zum literarischen ist jedoch erst recht für die Comic- Subgenre der Lyrik auf (vgl. S.75-98), Beispiele zu konstatieren, denn es während Monika Schmitz-Emans am werden mit Ausnahme der von Frahm Beispiel von Richard F. Outcaults The erwähnten Gail Simone (vgl. S.69) Yellow Kid (1895) die Nähe des Comics und Maya Brazilai (vgl. S.64) aus- zum Theater analysiert und sich mit der schließlich Produkte von männlichen „Rollenhaftigkeit“ (S.301) von Comic- Comicschaffenden besprochen. Auch charakteren und „Inszenierungsmodi in Bezug auf die zitierte Forschungs- des Comics“ (S.303) auseinandersetzt. literatur ist ein Ungleichgewicht fest- Dieser Beitrag ergänzt Christina zustellen. So spricht Frahm in seinem Meyers Ausführungen, die anhand Beitrag zu „Comics als Unform“ (vgl. der von 1896 bis 1897 erschienen S.33-74) zwar durchaus kritisch von Serie McFadden’s Row of Flats, für die der „männlich dominierten Comic- Outcault (Zeichnung) und Townsend Theorie“ (S.62), führt diese jedoch (Text) kooperierten, unter anderem fort, indem er die Comicwissen- Parallelen zwischen „Comictableau“ schaftlerinnen ohne Nennung ihrer (S.152) und Vaudeville herausarbeitet. Beiträge in eine Fußnote ‚verbannt‘ Schwerpunktmäßig befasst Meyer sich (vgl. S.72). Hinzu kommt auf formaler anhand dieses Beispiels jedoch mit dem Ebene, dass im Band sehr uneinheit- Geflecht von „Popularisierungsdyna- lich gegendert wird – hier hätte man miken“ (ebd.) und „Diskriminierungs- sich ein vereinheitlichendes Lektorat praktiken“, wie etwa „herabwürdigend gewünscht. und verächtlich gemeinten Typisie- Generell überzeugt der Band den- rungen“ (S.159) im ausgehenden 19. noch durch seine Perspektivenvielfalt Jahrhundert. Die Eigenlogik des sowie durch Querverbindungen zwi- Mediums fokussieren neben Ahrens, schen einzelnen Aufsätzen wie bei Ole Frahm, Frank Thomas Brinkmann, Meyer und Schmitz-Emans. Joachim Trinkwitz und Lukas R.A. Wilde auch Thomas Becker mit sei- Barbara Margarethe Eggert (Linz) 288 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Lukas Etter: Distinctive Styles and Authorship in Alternative Comics Berlin/Boston: De Gruyter 2021, 390 S., ISBN 9783110693522, EUR 99,95 Die Marginalisierung der visuellen Maus (1980-1991; The Complete Maus. Ästhetik ist grundsätzlich sympto- New York: Pantheon, 1996), Alison matisch für eine Comicwissenschaft, Bechdels Serie Dykes to Watch Out die methodisch und theoretisch eher For (1983-2008; The Essential Dykes in den Philologien und der Medien- to Watch Out For. London: Jonathan wissenschaft als in der Kunst- und Cape, 2008) und Jason Lutes Berlin- Bildwissenschaft verwurzelt ist. Auch Trilogie (1996-2018; Berlin: City of wenn in den letzten Jahren Wissen- Light. Montréal: Drawn & Quar- schaftler_innen wie beispielsweise terly, 2018). Diese werden bezüglich Benoît Berthou und Jacques Dürren- „drawing style, the visual quality of matt (Style(s) de (la) bande desinnée. letters, the combination of text and Paris: Classique Garnier, 2019), Hilary image, and the composition of panels Chute (Disaster Drawn. Cambridge: on a page“ (S.29) analysiert. Farbe als Harvard UP, 2016) und Hannah Mio- visuelle Komponente bleibt bei Etter drag (Comics and Language. Jackson: unberücksichtigt, da es sich bei allen University Press of Mississippi, 2013) Beispielen um schwarz-weiße Comics die Auseinandersetzung mit stilis- handelt, ein weiteres Merkmal vieler tischen Aspekten in ihre Forschung alternativer Comics (vgl. S.39), das inkorporierten, konstatiert Lukas auf deren Ursprung „in a self-publis- Etter in Distinctive Styles and Author- hed and countercultural comics past“ ship in Alternative Comics zurecht „the (S.184) verweist. visual element has traditionally been Etter setzt mehr auf Tiefe denn auf somewhat neglected in comics ana- Vollständigkeit, wenn er dem nach- lyses” (S.29). In seinem Buch nimmt geht, was Hilary Chute als „subjec- sich Etter dieses Desiderats an und tive presence of the maker“ (Graphic fokussiert die Forschungsfrage, wie Women. New York: Columbia UP, S.11) die Produktionsästhetik alternativer bezeichnet. So fokussiert er für Maus Comics und paratextuelle Ref lexi- die einheitlich konzipierte gleich- onen über deren Schöpfer_innen das wohl mit unterschiedlichem Duktus rezeptionsästhetische Konstrukt von gezeichnete Physiognomie der Mäu- Autor_innenschaft beeinflussen und seköpfe der anthropomorphen Prota- eine „auteurgraphy“ (S.2) konstitu- gonist_innen sowie deren typifizierte ieren. Etter offeriert close-readings Darstellung von Emotionen. Etter dreier seriell entstandener alternati- arbeitet hierbei sowohl die „motivic ver US-amerikanischer Comics, die unity in stylistic diversity“ als auch die inzwischen zum Kanon der Comic „intra-oeuvre variety“ (S.185) heraus, Studies zählen: Art Spiegelmans Opus die sich aus der vergleichenden Lek- Buch, Presse und andere Druckmedien 289 türe in Spiegelmans Werk ergibt. Für Augen, dass die Einheitlichkeit des die textlastige Comicstripserie Dykes Stils ein zirkuläres Konstrukt ist, „that to Watch Out For analysiert Etter we as readers piece together based on exemplarisch „the intricate network of the knowledge of singular authorship“ intertextual and intericonic references“ (S.186). Leider verhindern die sehr (S.122), das Bechdel, deren Stil sich klein geratenen Abbildungen bisweilen über die Jahre hinweg kontinuierlich eine ad hoc Nachvollziehbarkeit bis ins weiterentwickelt hat, auch in anderen Detail. ihrer autobiografischen Comics auf- Der im Schlusskapitel formulierten greift. Metalepse und mise-en-page Einladung, die kritische Auseinan- werden hierbei als bildrhetorische Stil- dersetzung des Konnex von Stil und mittel aufgezeigt, die mannigfaltig ein- Publika fortzuführen, kann man nur gesetzt werden, um die vierte Wand zu mit Nachdruck zustimmen. Unbedingt durchbrechen und die fiktive Welt des gilt dies auch für einführende Litera- Strips mit der extradiegetischen Welt tur, stellt diese doch die Weichen für der Rezipierenden zu verweben. Berlin die Analyse von Comics und deren hingegen wird von Etter als metare- (Nicht-)Wahrnehmung als ein von der flexiver „stylistic showroom“ (S.183) Bildästhetik dominiertes Medium. Es vorgeführt, in dem Lutes bei gleichblei- bleibt zu hoffen, dass Etter sich hier bender Strichstärke die Bandbreite von weiterhin einbringt. Die Comics Stu- „page layout, cartoonish physiognomy, dies brauchen Beiträge, die Theorie- detailed landscape“ (S.186) Revue pas- bildung und künstlerische Forschung sieren lässt, variiert und interpretiert. miteinander zu verbinden wissen und Etters punktuelle Tiefbohrungen methodisch weitere Wege aufzeigen ermöglichen einen frischen Blick auf können. die kanonisch gewordenen Beispiele. Zugleich führt er überzeugend vor Barbara Margarethe Eggert (Linz) 290 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Anja Meyer: Images of Traumatic Memories: Intersections of Literature and Photography in the Novels of Riggs, Safran Foer and Seiffert Göttingen: V&R unipress 2020 (Interfacing Science, Literature, and the Humanities, Bd.14), 173 S., ISBN 9783847111634, EUR 27,99 (Zugl. Dissertation an der Universität Verona, 2017) Das gut ausgewählte Korpus von Anja vorzufindenden Etappen werden kurz Meyers überarbeiteter Dissertations- besprochen (ut pictura poesis, Roland schrift besteht aus den Romanen The Barthes, der pictorial turn). Anschlie- Dark Room (2001) von Rachel Seif- ßend wird auf den Einfluss der Foto- fert, Miss Peregrine’s Home for Peculiar grafie auf die Literatur eingegangen Children (2011) von Ransom Riggs (Émile Zola) sowie auf die Faszination und Extremely Loud and Incredibly Close und Kritik des neuen Mediums (Edgar (2005) von Jonathan Safran Foer. In Allen Poe vs. Charles Baudelaire). In diesen Romanen ist sowohl die Foto- den darauffolgenden Unterkapiteln grafie auf unterschiedliche Weise prä- konzentriert sich die Autorin auf die sent, wie auch die Auseinandersetzung Fotografie als perfektes Medium, um mit traumatischen Ereignissen wie gegen das Vergessen anzukämpfen und dem Holocaust und 9/11 (die Figuren die Vergangenheit festzuhalten. Im gehören jeweils der 1., 2. oder 3. Gene- englischsprachigen Raum geht diese ration an). Deswegen liegt der Arbeit Faszination für die Fotografie auf das folgende Hypothese zu Grunde: „the viktorianische Zeitalter zurück, doch combination of photographs and verbal auch in zeitgenössischen Romanen text, declined into different modalities spielt das Erinnerungspotenzial eine of representation, becomes the most große Rolle bei der Verwendung von suitable literary instrument to evoke Fotografien. Dabei wird besonders das and capture memories of trauma and Potenzial des Geisterhaften, auf das loss. In this context, the reader emerges unter anderem schon Walter Benjamin as an active participant in the process und Barthes hingewiesen hatten, aus- of fiction-making, as the act of reading geschöpft. In einem dritten Moment becomes a renewed act of witnessing“ des theoretischen Rahmens wendet die (S.11). Autorin sich der Trauma-Forschung zu Das erste Kapitel besteht aus einem und erinnert daran, dass die Begriffe zwar sehr kompletten, aber manchmal ‚punctum‘ und ‚Trauma‘ eine gemein- etwas zu vorhersehbarem theoretischen same etymologische Wurzel besitzen: Rahmen. Zuerst wird ein geschicht- Es handelt sich um eine physische licher Blick auf die Beziehung zwi- Wunde. Darüber hinaus ist die Litera- schen Text und Wort geworfen. Die tur seit jeher ein privilegierter Ort der in fast jeder intermedialen Studie Trauma-Darstellung, welche über dafür Buch, Presse und andere Druckmedien 291 typische Erzählweisen verfügt (Frag- nur evoziert, was einen Einfluss auf den mentation, unterbrochene Chronologie, Erzählstil hat (unpersönlicher, deskrip- Darstellung der Sinnkrise). Abgesehen tiver Stil mit ‚Zoom-Bewegungen‘). von der Literatur, die als Therapiemit- Der Text von Miss Peregrine’s Home for tel eingesetzt wird, spielt die Fotografie Peculiar Children weist im Gegensatz im Kontext der postmemory (Marianne über 40 alte, vom Schriftsteller ent- Hirsch) eine wichtige Rolle als ‚points deckte und gesammelte Fotografien of memory‘ (Hirsch) beziehungsweise auf, welche das narrative Gerüst bilden ‚punctum‘ (Barthes). Erstaunlicher- und dessen Präsenz auf diegetischer weise führt die Autorin erst jetzt die Ebene von den Figuren motiviert Intermedialitätsforschung ein. wird. In Extremely Loud and Incredibly Der zusammenfassende Stil der Close erweitert sich der gesamte Text in Autorin liest sich schnell und erlaubt Richtung einer neuen Visualität (Prä- es, einen guten Überblick zu bekom- senz von Fotografien und Verwendung men, der jedoch manchmal nicht alle der Typografie, um Sinn zu stiften). theoretischen Debatten und Komple- Dadurch thematisiert der Schriftstel- xitäten miteinbezieht. Die ‚klassischen‘ ler die textuelle Grenze, um Trauma Referenzen sind vorhanden, aber eine darzustellen, und er fordert die Leser_ Aktualisierung der bibliografischen innen auf, auf eine persönliche Art und Referenzen mancher Forschungsfelder Weise das Trauma des Protagonisten wäre wünschenswert (z.B. wird nur mitzuerleben. mit dem Aufsatz Irina Rajewskys [vgl. Im Allgemeinen wäre es inte- „Intermediality, Intertextuality, and ressant gewesen, eine tiefergehende Remediation: A Literary Perspective Interpretation der Auswirkungen der on Intermediality.“ In: Intermédialités/ Intermedialität auf die Lesart und Intermedialities 6, 2005, S.43-64] gear- Sinnkonstruktion vorzufinden, ebenso beitet, obwohl sie diesen in späteren wie eine komparatistischere Analyse. Veröffentlichungen überarbeitet und Leider fehlt dem Werk ebenfalls ein erweitert). Auch ist zu bemängeln, dass Fazit. Ausgehend von der in den letzten Meyer keine umfängliche Revision der Jahren wachsenden Zahl an Veröffent- Romane, die mit Fotografien arbeiten, lichungen zur intermedialen Beziehung zur Diskussion stellt. In diesem Sinne zwischen Literatur und Fotografie, wäre fehlen zum Beispiel Referenzen der es interessant gewesen, die Analyse zu Avant-Garde, welche für die Foto-Text- vertiefen. In der vorliegenden Form bie- Beziehung von äußerster Wichtigkeit tet besonders der erste Teil des Buches ist. Auch entwickelt die Autorin keine eine gute Übersicht über die verschie- eigenen Konzepte, sondern arbeitet mit denen Forschungsfelder und richtet sich schon vorhanden Kategorien, um die somit eher an Studierende. Der zweite drei Romane zu analysieren. Teil kann ebenfalls Intermedialitäts- The Dark Room ist der einzige Spezialist_innen interessieren. Roman, der keine mediale Kombina- tion aufweist; die Fotografien werden Gianna Schmitter (Paris) 292 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Peter Weibel: Enzyklopädie der Medien: Band 4: Literatur und Medien. Expansion der Sprachkunst ins visuelle und technische Feld. Ausgewählte Schriften von Peter Weibel Berlin: Hatje Cantz 2021, 650 S., ISBN 9783775738736, EUR 40,- Seinem Selbstverständnis nach sieht Benjamin Lee Whorf (Linguistik) oder sich der Künstler, Ausstellungskura- Claude Elwood Shannon (Mathematik, tor, Kunst- und Medientheoretiker Elektrotechnik) und anderen auseinan- Peter Weibel mit der Publikation sei- dersetzte und zugleich verstand, solche ner Schriften in der Tradition Denis Ansätze für das Verständnis moderner Diderots und der von ihm mitheraus- Sprach-Kunst fruchtbar zu machen. gegebenen Encyclopédie ou Dictionnaire Dies ist auch der größte gemein- raisonné des sciences, des arts et des métiers same Nenner, der die Texte, die in (1751-1780). In Tradition der Aufklä- diesem vierten Band der Enzyklopädie rung wollen die Weibel‘schen Texte der Medien versammelt sind, verbindet. ihrerseits als „ein durchdachtes Wörter- Es ist der pädagogisch-aufklärerische buch der Wissenschaften, Künste und Impetus des Ausstellungskurators Wei- Handwerke“ verstanden werden. Im bel, der die „Beziehungen der experi- vorliegenden Band seiner ausgewähl- mentelle Literatur zur Linguistik, ten Schriften geht es um Wort-Kunst, Logik und Naturwissenschaft, zu Pro- Sprach- und Literaturwissenschaft, grammiersprachen und den technischen „Materialien, Maschine und Medien“ Medien“ (S.42) aufzeigen und erläutern (S.39). möchte, um so neue Denk-Wirklich- Aus der Vielzahl an Texten, die keiten auch einem breiteren Publikum in der Zeit zwischen 1965 bis heute zugänglich zu machen. Beispielhaft zu veröffentlicht wurden, sollen ein paar nennen sind: „Philosophie als Sprach- wenige herausgehoben werden, weil sie kritik. Sprachkritische Epistemologie beispielhaft verdeutlichen, wie Weibel in Österreich um 1900“ (1983), „Der den Konnex zwischen Literatur und freie Fluss der Laute und Zeichen. Medien reflektiert und als Medien- Dominik Steigers biometrische Texte Künstler sein Verständnis in multime- und wilde Zeichnungen“ (1974/1982), diale Codierungen umzusetzen sucht. „Sprache, Wirklichkeit und Denken. Beeindruckend sind die frü- Oswald Wieners automatentheore- hen Texte wie „Wozu Avantgarde?“ tische Perspektive“ (2007), „Elfriede (1965) oder „Eine Kette schweigsamer Jelineks mediale Montagen. Literatur Abschwörungen – zur Lyrik Friederike im elektronischen Zeitalter zwischen Mayröckers“ (1965), die zeigen, wie Massenmedien und Subjektaussagen“ intensiv sich Weibel schon in jungen (2007). In diesem Zusammenhang zu Jahren mit neuen Theoriewelten eines erwähnen sind auch die zahlreichen Max Bense (Informationsästhetik), Vorworte und Begleittexte zu diversen Theodor W. Adorno (Philosophie), Ausstellungen. Buch, Presse und andere Druckmedien 293 Für den frühen Medien-Künstler selbst, rückten in den Brennpunkt des Weibel steht seine „Kontext-Theorie der Interesses, wurden das Material der Kunst“ (1971), deren Programmatik für Dichtung einer ‚schweigsamen Spra- sein weiteres Wirken grundlegend ist: che‘. Die Membran wurde durchstoßen“ „Auf der Suche nach Strukturen hin- (S.80). ter der sprachlichen, nach den Zusam- In diesem Sinne ist es eine span- menhängen zwischen sprachlichen nende Zeitreise in die jüngste Ver- und anderen Strukturen beschäftige gangenheit von wissenschaftlicher ich mich also mit dem Kontext von Theoriebildung und künstlerischer Aus- Texten, d.h. mit dem, was normaler- einandersetzung, zu welcher die Texte weise nicht in den poetischen Kalkül Weibels einladen. Und mit einer gewiss einbezogen wird, und trieb dabei immer romantisierenden Wehmut darf bei der mehr von Vers und Satz ab ans Ufer Lektüre der Texte beobachtet werden, der Medien, zum Werkzeug der Lite- wie lebendig das intellektuelle Leben ratur (Schreibmaschine, Feder, Papier), im letzten Jahrhundert in Theorie und ins Wesentliche der Literatur, der Praxis war. Ob wir uns aber – wie einst Kommunikation. […] Kontexte wur- Diderot – am Vorabend einer (medien- den wichtiger als Texte, Verfahren der technischen, gesellschaftspolitischen Kodifikation und nicht die Botschaft oder philosophischen) Revolution selbst, Methoden der Erforschung und befinden, kann nach der Lektüre des nicht das Gefundene, die Bedingungen Buches nicht beantwortet werden. der Kultur und nicht die Kultur, das System der Werte und nicht die Werte Frank Haase (Basel) 294 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Szenische Medien Ivo Eichhorn: Kritik und Reproduktion der Ideologie im Theater der Gegenwart Berlin: Neofelis 2020, 112 S., ISBN 9783958082472, EUR 12,- Theater ist eine träge Ausdrucksform, des ‚Spiegelstadiums‘ als Erkennt- gebunden an die Produktionsbedin- nisprozess bekannt. Der Philosoph gungen einer Aufführung, an die überträgt die Spiegelmetapher auf das Anwesenheit von Zuschauer_innen Theater und beschreibt die Theater- und an die (sterblichen) Körper der funktion als (ideologische) Wiederer- Akteur_innen. Inwiefern es politisch kennung/Verkennung/Anerkennung wirken kann, ist eine theaterwissen- der Theatergemeinschaft am Beispiel schaftliche Dauerdebatte. von Carlo Bertolazzis und Bertolt In den 1990er Jahren sorgte die Brecht (vgl. S.37). Ausrufung des Postdramatischen Thea- In Anlehnung daran interessiert ters durch den Theaterwissenschaftler sich Eichhorn für die Irritation und die Hans-Thies Lehmann für eine erneute Brechungen, die dieser fiktive Moment Diskussion über die (politische) Funk- der Gemeinschaftsbildung im Theater tion des Gegenwartstheaters als einer- erfahren kann. Der Autor plädiert für seits experimentell-transformative und Momente der (Um-)Brüche und Ent- andererseits selbstbezogene künstle- Individualisierung (Michel Pêcheux) rische Praxis. Mit dem Essay Kritik als Gegentendenzen zu politischen und Reproduktion der Ideologie im The- ‚Faschisierungsprozessen‘. Hierfür ater der Gegenwart knüpft der Thea- bedient er sich am Instrumentarium terwissenschaftler Ivo Eichhorn an Althussers und argumentiert mit dem die polarisierende Diskussion an. Der Begriff der Ideologie. Nach Althusser ehemalige Student der Angewandten beschreibe der Begriff das Verhältnis Theaterwissenschaft Gießen diskutiert von Menschen zu ihren realen Exi- im Rahmen der Reihe „Relationen – stenzbedingungen, welche sich in Essays zur Gegenwart“ das Verhältnis Ritualen, Praxisformen und staatli- von Politik und Theater in marxisti- chen Apparaten materialisiere. Diese scher Tradition. Prozesse könnten im Theater irritiert Sein Beitrag ist eine theaterwis- werden. senschaftliche Re-Lektüre des franzö- Ausgangspunkt von Eichhorns sischen Philosophen Louis Althusser Essay ist seine Kritik am Gegenwarts- und dessen Ansätze zum Theater. Alt- theater, welches eine problematische, husser ist durch seine Erweiterung der „mystifizierte“ (S.17) Beziehung zur marxistischen Ansätze durch die Psy- Politik unterhalte. Dagegen helfe nur choanalyse und Jacques Lacans Begriff das Bewusstsein dafür, dass das Theater Szenische Medien 295 nicht nur ein Repräsentationsmodell, chung dieses Feldes, indem ihr The- sondern auch ein Produktionsort von aterspiel als Versuchsanordnung das Effekten sei. Er fordert eine Abkehr Publikum konfrontierte und (immer von der Vorstellung einer direkten wieder) spalte. politischen Wirkmächtigkeit und Eichhorns Thesen zu den Produk- Wirksamkeit und verlangt eine Aus- tionseffekten überzeugen. In seinem einandersetzung mit der Heteronomie Essay weist er mehrfach auf den Bedarf der Politik (vgl. S.60). Er stellt die nach einer kritischen Auseinanderset- Erfahrung eines heterogenen Publi- zung mit dem Theaterapparat und den kums als (politische) Öffentlichkeit ins Theatertraditionen hin. Seine Ausfüh- Zentrum (s)einer ideologiekritischen rungen konzentrieren sich auf philoso- Theaterarbeit. phische, marxistische Fragestellungen. Als Beispiel aus der gegenwärtigen Stellenweise neigt er allerdings zu Theaterpraxis verwendet der Autor die einer diskutierbaren Generalisierung, Arbeit der Gießener Alumni She She wenn er zum Beispiel das ‚bürgerliche Pop Oratorium. Kollektive Andacht zu Theater‘ als Teil des kulturellen ide- einem wohlgehüteten Geheimnis (2019). ologischen Staatsapparats definiert, Einerseits, so Eichhorn, laufe das welches an den Reproduktionsver- Gegenwartstheater Gefahr, bestehende hältnissen teilhabe (vgl. S.35f.). Zur Ideologien zu reproduzieren, anderer- Freien Theaterszene in Deutschland, seits könnte durch das (Theater-)Spiel innerhalb derer She She Pop wirken, ein Möglichkeitsraum entstehen, wel- positioniert sich der Autor nicht. cher Distanz und Brüche gegenüber Auf knapp 100 Seiten gelingt es dem temporären Gemeinschaftsge- Eichhorn, die Frage nach dem ‚Warum fühl und gegenüber den „herrschaft- Theater?‘ durch eine althuser‘sche Posi- lich produzierten Normalverhältnissen“ tionierung zu ergänzen. Die benann- (S.34) erfahrbar mache. Ideologie, so ten Leerstellen sind daher nicht als Eichhorn und Althusser, sei weniger Manko aufzufassen. Sie sind produk- „als von Unterwertungsagenturen aus- tive Anschlussstellen für weitere Dis- geführte Disziplinierung“ (ebd.), denn kussionen. als ein umkämpftes Feld zu verstehen. She She Pop gelänge die Sichtbarma- Yana Prinsloo (Mainz) 296 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Leon Gabriel: Bühnen der Altermundialität: Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis Berlin: Neofelis 2021, 354 S., ISBN 9783958083288, EUR 41,- (Zugl. Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2017) Das Buch Bühnen der Altermundiali- erster Linie Repräsentation als Abbild tät: Vom Bild der Welt zur räumlichen bedeute. Raum werde hierbei als Con- Theaterpraxis beginnt mit einem Para- tainer gedacht, der nach außen hin digmenwechsel der abendländischen abgeschlossen ist. Das diesem Denken Philosophie im 20. Jahrhundert: Die entsprechende Theater sei das einer Vorstellung der Welt als Ganze ist Weltbühne, auf der alles, was in dieser ins Schwanken geraten. Die Idee Welt als Ganze geschehe, zur Darstel- vom Subjekt, als Bezugsmitte dieser lung kommen könne. Gabriel hinge- zu erschließenden und vermeintlich gen entwickelt eine Theorie von Theater objektivierbaren Welt, wird infrage jenseits seiner Abbildungsfunktion als gestellt. Dieser Wandel stehe, wie der räumliche Praxis der Altermundialität Theaterwissenschaftler Leon Gabriel und führt uns vermittelt durch meh- betont, im Zusammenhang mit dem rere philosophische Positionen (Martin Zustand, zu dem die Globalisierung Heidegger, Hannah Arendt, Maurice als totale Vereinheitlichung der Welt Blanchot, Jean-Luc Nancy, Jacques bei gleichzeitigem Auseinanderbrechen Derrida) an das Ende des Sinn-Hori- von sinnstiftenden Zusammenhängen zonts der neuzeitlichen Vorstellung geführt habe. In seinem Buch arbeitet von der Welt als Ganze hin zu einer Gabriel die Folgen und Chancen eines Welt als Geteilte. Gabriel verweist hier Denkens jenseits von Universalität und auf Nancy: „Wenn die Welt von ihrer Homogenisierung hin zum Erfahrbar- Aufteilung oder Teilung bestimmt machen der Heterogenität von vielen ist, durch die sie ihre eigene Differenz Welten heraus und erörtert dessen Aus- ermöglicht und vollzieht, so ist zweitens wirkungen auf die szenischen Künste eine Welt nie nur eine Welt und auch in den letzten zehn bis 15 Jahren. mehr als eine andere Welt, sondern sie Anspruch des Buches sei es hierbei, eine ist ‚immer die Pluralität der Welten: Theatertheorie der De-Ontologisierung Konstellation, deren Kompossibili- der unter dem Zeichen der als Vielheit tät identisch mit dem Zersplittern ist, verstandenen Welt(en) und Bezugnah- Kompaktheit eines Puders aus absoluten men zwischen diesen zu entwickeln Splittern‘“ (S.221). Aus der Vielheit der (vgl. S.11). Welten ergibt sich eine Bezüglichkeit Zu Beginn der Arbeit beschreibt zum ‚Anderen‘, die nicht als binäre Dif- Gabriel, inwiefern mit der Darstel- ferenz, sondern mit Derrida gesprochen lung der Welt als Bild eine Vorstellung als partage gedacht wird, als zwischen- von Sichtbarkeit einhergehe, die in menschliche Teilung des ‚Hier‘ mit Szenische Medien 297 den ‚Anderen‘, in dem wir uns von dem uns damit nicht nur eine alternative ‚Anderen‘ berühren lassen. Die zentrale Perspektive auf szenische Künste und These Gabriels ist, dass im Theater der ihrer Auseinandersetzung mit Welt- Altermundialität im Sinne einer Kritik lichkeit mit Bezug zum ‚Anderen‘, am Sichtbarkeitsregime und jeder Form sondern ermöglicht das Denken einer von Totalisierung immer Momente des sich ständig auffächernden und nicht Nichtdarstellbaren, Nichtsichtbaren zählbaren Pluralität von Welten, die und sich jeder Ordnung Entziehenden Bezug aufnehmen zu Welten, Denk- vorhanden bleiben. Seine darstellungs- und Seinsweisen, die wir so noch politische Analyse konkretisiert er nicht kennen oder denken können anhand künstlerischer Arbeiten der (vgl. S.318-320). Der Titel des Buches Gegenwart, die sich mit Fragen des lässt sich somit als Wortspiel zwischen (Nicht-)-Erscheinens sowie dem Affi- Alterität und Mundialität, also Viel- ziert- und Berührtwerden durch den heit von Welten, lesen. Auch wenn, wie Anderen auseinandersetzen (Rimini sich kritisch anmerken ließe, Gabriel Protokoll, Antonia Baehr, Romeo mit seiner Analyse in konkreten The- Castellucci, Tino Sehgal, Walid Raad aterbeispielen verbleibt und den The- und Kate McIntosh). In einer dezi- aterraum nicht verlässt, entwirft er in dierten und anregenden Betrachtung seiner Arbeit das Denken einer Ethik der Inszenierungen arbeitet Gabriel im der Asymmetrie, bei der der Anders- Besonderen den sich darin vermitteln- artigkeit des ‚Anderen‘ Rechnung den, nicht vermittelbaren Rest heraus. getragen wird (vgl. S.288). Der darin Dieses Nicht-Sichtbare, das Gabriel formulierte Anspruch lässt sich als auch als Singuläres umreißt, öffnet das Anstoß für eine Praxis der Altermun- Theater hin zu einem ‚Anders-Denken‘, dialität verstehen, die über das Theater das sich auf das beziehe, was nicht im hinausreicht: Inwiefern lässt sich eine nach Sinnhaftigkeit strebendem Den- soziale Praxis der Verschränkung der ken aufgehe und nicht in einer neuen Welten, der Nichtvereinbarkeit bei Ontologie aufzuheben sei (vgl. S.134). gleichzeitiger Bezüglichkeit gegenüber Gabriels Buch ist voraussetzungs- dem ‚Anderen‘ und der darin liegen- voll, theoretisch anspruchsvoll und den Verantwortung nicht nur im The- führt uns an die Grenzen des abend- ater, sondern auch in der alltäglichen ländischen Verständnisses von Sein Gegenwart lebbar machen? und die theaterpraktischen Bear- beitungen dessen heran. Er eröffnet Inga Bendukat (Frankfurt am Main) 298 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Hanna Heinrich: Ästhetik der Autonomie: Philosophie der Performance-Kunst Bielefeld: transcript 2020, 356 S., ISBN 9783837652147, EUR 39,- Ästhetik der Autonomie: Philosophie in den 1980er Jahren immer weiter auf der Performance-Kunst – gleich mit „binäre Opposition[en]“ (S.66) zuspitz- dem Titel ihres Buches setzt Hanna ten, die soziale wie auch kunstspezi- Heinrich sich sowohl in Beziehung fische Themen befragten. So wurde zum bisherigen Diskurs der Gattung unter anderem die Beziehung zwischen (unweigerlich denkt man an die Ästhetik Gesellschaft und Individuum, Unmit- des Performativen [Berlin: Suhrkamp, telbarkeit und medialer Vermittlung, 2004] von Erika Fischer-Lichte), mar- Publikum und Kunstwerk sowie von kiert aber ebenso die Neuartigkeit ihres Kapital zu Kunst fokussiert. Insbeson- Ansatzes: Nicht die Nähe zur thea- dere das Verhältnis von ‚männlich‘ und tralen Aufführung oder die Abgren- ‚weiblich‘ und damit ebenso die Rolle zung zu materialbasierten Werken des des Patriachats wurden zum Untersu- performativen Mediums sind Aus- chungsgegenstand. Auf der Schwelle gangspunkt, sondern dessen (kunst-) zwischen eben diesen „dichotome[n] philosophische Anbindung. Auch der Pole[n]“ (S.121) agiert die Perfor- Begriff der ‚Autonomie‘ ist hier alterna- mance-Kunst, macht sie nicht nur tiv gesetzt: Gemeint ist eben nicht die sichtbar, sondern arbeitet vor allem an seit der Antike installierte Abkopplung der Überschreitung beziehungsweise der Kunst vom Leben, stattdessen geht Auflösung der Grenzen und Hierar- es um die „Autonomie des Menschen“ chien. Die Autorin zeigt auf, dass dies (S.21), denn genau hierzu soll laut als Appell an den einzelnen Menschen Heinrich die Performance-Kunst dem zur Transformation verstanden werden Wesen nach beitragen. kann. Die Autorin benennt Performance Aus den grundlegenden kunstphi- als ein „Schwellenphänomen“ (S.315), losophischen Bezügen zur Antike ent- zu dessen Kennzeichen Unbestimmtheit wickelt Heinrich im zweiten Abschnitt und Ambivalenz gehören. Folgerichtig die Fruchtbarmachung entsprechender verzichtet sie daher auf eine dezidierte Positionen der Moderne für die Per- Definition, sondern umreißt die Kunst- formance. Die Theorien Georg W.F. form durch spezifische Merkmale. Dies Hegels, Friedrich Nietzsches, Martin wird en passant während eines umfang- Heideggers und Alain Badious sowie reichen und international orientierten Michel Foucaults werden ergebnisori- historischen Überblicks geleistet. In entiert zusammengefasst. Dabei ist eine diesem ersten Abschnitt der Publika- gewisse Vorkenntnis der komplexen tion arbeitet Heinrich ebenfalls heraus, Ansätze sicher hilfreich, auch wenn die wie sich diese Marker entsprechend Autorin die Inhalte zielgerichtet und der gesellschaftlichen Entwicklungen nachvollziehbar aufarbeitet. Die Ergeb- Szenische Medien 299 nisse aus diesen überzeugenden Analy- schaftspolitischen Relevanz ebenso wie sen werden zu funktionalen Kategorien dem transformativen und appellativen verdichtet, um diese im Anschluss kri- Ansatz der Gattung zum Schluss abge- tisch in Beziehung zur Performance leitete (Bewertungs-)Maßstab einer zu setzen. Heinrich weist hier eben- „‚gelungenen‘ Performance-Kunst“ falls auf die Grenzen des Transfers (S.315) kann dabei als qualitativer hin, was nicht minder erhellend ist: So Begriff sicherlich Anlass zur weiteren bestimmt beispielsweise letztendlich Diskussion bieten. trotz Hegels geforderter „Dialektik Insgesamt greift Ästhetik der Auto- zwischen dem Allgemeinen und dem nomie weit über die bisher tradierten Besonderen“ (S.139) dann doch das Grenzen der wissenschaftlichen Allgemeine seine Sichtweise, und es Bearbeitung von Performance-Kunst herrscht das Primat „des männlichen hinaus. Das Benennen und sorgfältige Prinzips vor dem weiblichen“ – und es Ausdifferenzieren der philosophischen ist gerade dieser Umstand, der „explizit Grundlagen und Verbindungen sowie von Performance-Künstlerinnen ange- insbesondere die Entwicklung von fochten wird“ (S.139). Kategorien und deren exemplarische Die Tragfähigkeit der Katego- Anwendung füllen dabei eine For- rien erweist sich in der vertiefenden schungslücke. Aufgrund des interdiszi- Zusammenführung von Performance plinären Charakters und der fundierten und Kunstphilosophie in den letz- Auswahl der künstlerischen Arbeiten ten Kapiteln. Dafür ergänzt Hein- ist dieser Band für viele Fachbereiche rich zeitgenössische Positionen, unter interessant und wertvoll. anderem von Sybille Krämer und Die- ter Mersch. Der dabei aus der gesell- Susanne Schwertfeger (Kiel) 300 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Florian Malzacher: Gesellschaftsspiele: Politisches Theater heute Berlin: Alexander Verlag 2020, 164 S., ISBN 9783895815133, EUR 15,- Was ist der Kern von Theater? Der der Debatte, ein „parteiisches“ Plädoyer Bühnenbildner Richard Southern ver- eines Theaterpraktikers und der Ver- glich diese Suche in den 1960er Jahren such einer Standortbestimmung eines mit dem Schälen einer Zwiebel. Sobald Suchenden in „einer suchenden Gesell- man sich von der Vorstellung von Thea- schaft“ (S.16). ter als Aufführung eines Bühnenstoffes Malzacher arbeitet sich an aktuellen oder eines Maskenspiels befreit hätte, buzzwords ab, die ihm gleichzeitig als wären die nächsten Schichten deut- Kapitelüberschriften dienen: „Reprä- lich schwerer abzulösen: „Wenn man sentation“, „Identitätspolitiken“, „Par- unbarmherzig weitermacht, müßte tizipation“, „Kunst und Aktivismus“. dem Schauspieler Kostüm und Maske In dem schmalen Band gelingt ihm genommen werden. Entfernt man damit nicht nur ein Best-of aktueller diese, fallen vermutlich zwei einzelne Stimmen der Theaterlandschaft, son- Stücke auseinander, in deren Inne- dern auch eine agonistische Auseinan- rem sich nichts befindet; diese beiden dersetzung mit spaltenden Debatten Stücke wären der Schauspieler und zu repräsentativen und identitätspoli- der Zuschauer. Nimmt man diese aus- tischen Fragen. Seine Überlegungen zu einander, dann gibt es kein Theater den Begriffen der Partizipation und der mehr“ (Die sieben Zeitalter des Theaters. Immersion fallen allerdings kurz und Gütersloh: Mohn, 1966). weniger präzise aus. Für Southern zeigt sich der (Zwie- Seine kulturtheoretischen Beo- bel-)Kern im Verhältnis zwischen bachtungen reichert Malzacher mit Zuschauer_innen und Akteur_innen. diversen Beispielen aus den letzten Auch Max Herrmann, Gründer dreißig Jahren des Gegenwartsthea- der deutschen Theaterwissenschaft, ters an. Er erwähnt die vieldiskutierte beschrieb den Ur-Sinn des Theaters Schwarzkopie von Mittelreich in Regie als soziales Spiel, in dem alle Teilneh- von Anta Helena Recke (2019); aktivi- mer_innen sind. stische Theaterformen wie die des Zen- Den Begriff der Gesellschaftsspiele trums für politische Schönheit oder schlägt jetzt der Kurator, Dramaturg des Peng!-Kollektivs; Reflexionen von und Theaterkritiker Florian Malza- Formen des Theaters als Tribunal, wie cher in seiner Auseinandersetzung mit sie Theatermacher wie Milo Rau oder politischen Formen des Gegenwarts- Jonas Staal vorschlagen. theaters in An- und Abgrenzung zu Ausschlaggebend für die Inhalte postdramatischen Theaterformen, zur seiner älteren Publikationen wie Not tagesaktuellen Politik und zum Politi- Just a Mirror: Looking for the Political schen vor. Seine materialgeleitete Stu- Theatre of Today (2015) und sein kri- die ist eine Neu- und Re-Interpretation tisches Denken ist das Prinzip des Szenische Medien 301 Agonismus, welches auf die franzö- Alltagssituationen die (ungewollten) sische Politikwissenschaftlerin Chan- Zuschauer_innen (im brecht‘schen tal Mouffe zurückgeht: „Theater kann Sinne) zur Ref lexion ihrer Hand- ein Raum sein, in dem ein spielerischer lungsmöglichkeiten anregen (vgl. Agonismus Widersprüche nicht nur am S.65). Viertens: Er diagnostiziert unter Leben hält, sondern vor allem erlaubt, „KünstlerInnen und Publikum einen sie frei zu artikulieren“ (S.15). starken Wunsch nach einem Theater Zur andauernden und vielstim- […], das drängende politische Fragen migen Debatte trägt Malzacher nach nicht nur aufgreift, sondern selbst zu dem agonistischen Prinzip mehrere einem öffentlichen Raum wird, in dem Thesen bei, die es weiter zu diskutie- Ästhetik und Ethik kein Widerspruch ren gilt. Erstens: Er lehnt die essenti- sind“ (S.15). alistische Suche nach dem Theaterkern Für Malzacher kann Theater die eher ab und stellt die Wirkung von „Trennlinie zwischen Kunst und Politik Theater als einen Störungsmoment überschreiten oder verwischen, spiele- und ein Gesellschaftsspiel ins Zen- risch unterlaufen oder gar durchlöchern trum seiner Argumentation. „Theater – niemals aber ignorieren“ (S.118). ist eine Konstruktion, die Wider- Der Autor zeigt eine klare Haltung: sprüche von Kunst und Politik nicht Politisches Theater ‚lebt‘ von einem nur aushält, sondern von ihnen lebt“ „Aufeinandertreffen gegnerischer Posi- (S.111). Zweitens: Eine Qualität von tionen“ (S.142) im öffentlichen Raum. Theater ist für ihn die Überlagerung Sein Text ist eine dichte Studie sowie von Fiktion und Realität (vgl. S.147). ein Plädoyer für die Erfahrung und das Drittens: Die Übernahme von thea- Aushalten von Unversöhnlichkeit im tralen Mitteln kann auch in anderen Theater. Kontexten Störungsmomente evozie- ren und durch die Dekonstruktion von Yana Prinsloo (Mainz) 302 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Claudia Tobin: Modernism and Still Life: Artists, Writers, Dancers Edinburgh: Edinburgh UP 2020, 288 S., ISBN 9781474455138, GBP 80,- (Zugl. Dissertation an der University of Bristol, 2015) Der Begriff der Moderne – seit dem Erweiterung des Anwendungsbereiches 19. Jahrhundert verwendet, um die auf transkultureller und disziplinärer Gegenwart von der Vergangenheit zu Ebene (vgl. S.3ff.). Als Einstieg die- trennen, und als Epochenterminus für nen Paul Cézanne und zeitgenössische eine Zeit der Umbrüche stehend – wird Äußerungen zu dessen Stillleben. Aus- im Allgemeinen mit Geschwindigkeit gehend von D. H. Lawrences Feststel- assoziiert. Dass sich vor diesem Hin- lung „nothing is really statically at rest“ tergrund jedoch auch Debatten entwi- (S.5) entwickelt Tobin ihre Betrachtung ckelten, die sich mit der Darstellung moderner Stillleben als Erfahrung von Bewegungslosigkeit beschäftigten, vibrierender Stille. Den Begriff der zeigt Claudia Tobin in ihrer Monografie Vibration stellt sie als wichtigen, aber Modernism and Still Life. In vier Kapi- übersehenen Faktor moderner Ästhe- teln widmet sich Tobin in einem inter- tik vor, der sich im Spannungsverhält- disziplinär angelegten Rahmen dem nis zwischen Ruhe sowie potenzieller Stillleben des frühen 20. Jahrhunderts Bewegung befinde und so zu einer in Malerei, Literatur, Tanz, Skulptur gesteigerten Wahrnehmung führe (vgl. und Dichtung. Dabei bezieht sie mehr S.17). und weniger bekannte Persönlichkeiten Virginia Woolf (Kap.1) kreiert wie Virginia Woolf, Ben Nicholson dieses „vibrational model of atten- sowie Charles Mauron und Margaret tion“ (S.41) mithilfe von Insekten und Morris in ihre Analyse ein. Sie löst das beschreibt den Kunstkritiker Roger Fry Stillleben von seiner negativen Konno- als Kolibri-Falkenmotte, die „quivering tation innerhalb der Gattungshierarchie yet still“ (S.48) in seiner Kunstbetrach- der Kunstgeschichte ab (vgl. S.2) und tung agiert habe, wodurch er gleichzei- betrachtet es stattdessen als „inter-dis- tig innig absorbiere und auf paradoxe ciplinary space or mode“ (S.4). Weise distanziert bleibe. Auch in der Ihren Ausgangspunkt nimmt die modernen Tanzpraxis lässt sich diese Publikation in einem kurzen Abriss rastlose Bewegungslosigkeit finden. Bei der Etymologie des Terminus Stillle- Margaret Morris (Kap.2) entwickelte ben in verschiedenen Sprachen. Hier sich der Körper unter dem Einfluss der zeigt sich das Paradoxon unbewegter Skulptur als „almost-but-not-quite- Abbildung, die zugleich das Leben still“ (S.85) zur „sculpture in motion“ in all seiner Vitalität präsentiert, aus (S.100), die sich mit ihrem Kerne lement der Tobin ihre Inspiration zieht (vgl. der aktiven Ruhe (vgl. S.107) nahtlos in S.2f.). Die Autorin strebt dabei keinen den Komplex des bewegten Stilllebens historischen Überblick an, sondern eine einfügt. Szenische Medien 303 Einen wiederkehrenden Aspekt S tevens auf. Als Erste generiert sie eine bildet die Verarbeitung gattungsge- Untersuchung Charles Maurons Aesthe- schichtlicher Merkmale des Stilllebens tics and Psychology (1935) vor dem Hin- in der modernen Kunstproduktion. tergrund des Stilllebens (Kap.4) und Eine der meistverwendeten stellt die geht damit lohnend über ihren eigent- Verbindung zu meditativer und spiri- lichen Fokus hinaus. Neben einem Ver- tueller Praxis dar. Das zeigt sich beson- weis zur grundlegenden Literatur des ders deutlich am Beispiel der britischen Stilllebens (Sybille Ebert- Schifferer, Malerei der 1920er bis 1930er Jahre Charles Sterling), zur Moderne sowie (Kap.3), die versuchte, das Gefühl der dem Konzept der Vibration (Linda Verzauberung in der Welt der Alltags- Dalrymple Henderson), wird ein objekte zu erneuern (vgl. S.151). Her- breites Feld ästhetischer Positionen vorzuheben ist Winnifred Nicholsons behandelt. Es werden sowohl Roger Behandlung des Lichtes zur Darstel- Frys Betrachtungen zum Formalismus lung des Sakralen im Blumenstillleben. der modernen Kunst, Rudolf Steiners Tobin liefert eine gelungene Überlegungen zur Eurythmie als auch Abhandlung mit originellem Zugang. Johann Joachim Winckelmanns anti- Durch die Verwendung des Stilllebens kes Schönheitsideal miteinander ver- als Modus schafft sie, obwohl sich das handelt, wodurch sich der Band trotz Stillleben auf unterschiedliche Weise guter Lesbarkeit nicht für Einstei- in den Werken der Künstler_innen ger_innen eignet. Tobin beweist, dass manifestiert, eine Vergleichbarkeit das moderne Stillleben über die bloße der Disziplinen untereinander. Dabei Abbildung unbelebter Natur hinaus- zeigt Tobin Berührungspunkte der geht und zeichnet so ein vibrierendes ästhetischen Konzepte europäischer Bild der Moderne. und amerikanischer Künstler wie der Bloomsbury Group und Wallace Anna-Lena Weise (Kiel) 304 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Fotografie und Film Stephan Ahrens (Hg.): Vom Klang bewegt: Das Kino und Ludwig van Beethoven Berlin: Bertz + Fischer 2020 (Deep Focus, Bd.33), 116 S., ISBN 9783865053367, EUR 15,- Beethoven und das Kino: Natürlich Die Beiträge bereiten das so kom- geht der Komponist vorbelastet in die plexe Thema wie eine kaleidoskopische Begegnung mit Film hinein – mehr als Sammlung von Einzelblicken auf. Die anderthalbdutzend Biopics entstanden kleine Sammlung solle „jene spezi- bislang. Der Mythos des ertaubenden fische Verbindung zwischen der Musik Musikers ist bis heute eine faszinierende Beethovens und dem Film“ (S.11) Vorstellung. Der Name Beethoven nachspüren als ein besonderes Aneig- spielte in musikästhetischen und nungsverhältnis, heißt es im Vorwort. kunstpolitischen Diskursen vor allem Allerdings verweigert der Band einen des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Aufriss des riesigen Feldes. Die Frage, Rolle. Darüber hinaus gehört ein Teil welche Effekte die Nutzung von Bee- der Werke zum populären Musikwissen thoven-Stücken (oder Ausschnitten) und wurde bereits in vielen Filmen ein- im Rahmen ‚normaler‘ Filmmusik hat, gesetzt, sodass ihnen ein diffuser Kranz gehört in einen anderen Kontext als die narrativierter Bedeutungen zugewiesen (realistische oder fingierende) ‚Biogra- wurde. fisierung‘ von Person und Werk, ebenso Pünktlich zum Geburtstagsjahr wie die Nutzungen der tradierten liegt mit dem vorliegenden Band ein Images des Komponisten (oder einzel- Versuch vor, sich der ganzen Breite der ner Werke) im politisch-ideologischen Beethovenrezeption im Kino anzuneh- Diskurs ihrer Zeit ein anderes Korpus men. Grundlage ist eine erstaunliche von Belegen erforderlich machen als Menge an Filmen, die Beethoven die Darstellungen von Aufführungen selbst als Thema und Figur enthal- im Kino und vor allem im Fernsehen. ten. Geradezu unübersichtlich ist die Beethoven-Filme gehören selbst einem Menge der Scores, die auf das Œuvre fast 200-jährigen Diskurs an, sind Teil zurückgreifen (vgl. als erster Auf- der Rezeptionsgeschichte des Œuvres, blick Medienwissenschaft: Berichte und übersetzen das Vorgefundene in die Papiere, 189, 2020). Ein Verzeichnis aktuellen kulturellen Kontexte: Nicht der Konzertfilme ist noch nie erstellt um das Bewahren, sondern um das worden. Der Band muss sich also in Erschließen geht es. Und oft geht es ein weitgehend unerschlossenes Gebiet gar nicht um Biografie oder Werk, son- vorwagen. dern um verallgemeinerte Images (und Fotografie und Film 305 vielleicht um den – semantischen oder che; er streift zwar die Frage, ob darge- ästhetischen – „Mehrwert“ [S.86], den stelltes Musizieren die Grenze zwischen man gewinnt, wenn man auf Beethoven „Score und diegetischem Musizieren“ zurückgreift). (S.22) streife, ohne dem weiter nachzu- Im Band steht eine Überlegung zur gehen, obwohl diese Frage ein grund- Ambivalenz der Beethoven-Bilder im legendes Problem der Konstitution des deutschen Film der NS-Zeit, die die Diegetischen ist. Auch Michael Ufers Autorin Emily Dreyfus als „Indizien Artikel zu „Beethovens filmischer Inti- für unterschwellig andauernde Ängste mität“ berührt die Neuorientierung von und Spannungen“ liest, „die der Natio- Musik im Umfeld der Filmerzählung nalsozialismus vergebens zu verdrängen als kontextuellen Effekt von Persona- suchte“ (S.61). Dass der Beethoven- lisierung und affektiver dramatischer Topos auch in der Zeit der „Vergangen- Aufladung – aber er nimmt ‚Intimität‘ heitsbewältigung und -politik“ (S.63) nicht als dramaturgisch-rezeptionalen der jungen BRD ein Thema war, das Effekt, sondern als eine der Musik nicht nur in filmischer Auseinanderset- selbst innewohnende Qualität wahr zung (etwa in Mauricio Kagels Ludwig (vgl. S.32). Schließlich steuert Philipp van [1970]), sondern auch in der Praxis Schwarz einen Beitrag zum in Film- der Aufführungen und ihrer medialen und Musikwissenschaft weitgehend Verbreitung, im kritischen Diskurs des unbeachteten Genre des Konzertfilms Feuilletons, sogar in TV-Diskussionen bei, am Beispiel dreier Filme aus den präsent war, wird von Dörte Schmidt 1950ern und 1960ern (die fernsehhisto- diskutiert. Durchgängige Medienre- rischen und musikkulturellen Kontexte flexivität ist demzufolge eine Antwort der Filme aber missachtend). auf die Umstrittenheit Beethovens in Ein Kernproblem, auf das alle Filme der BRD-Öffentlichkeit jener Zeit. zur Aneignung der Werke Beethovens Bemerkenswert ist ein Artikel zur stoßen, ist die Frage nach der Rolle des Rolle von Beethoven-Stücken im (poli- ‚Werks‘ als genuiner Formgröße des tischen) Dokumentarfilm von Fabian musikalischen Schaffens und Perfor- Tietke, der auf die Leistung derartiger mierens. In welchem Sinne kann es eine Musiknutzungen zu sprechen kommt Rolle spielen, wenn in der Filmmusik und die Frage danach aufwirft, wie den nur kurze Phrasen des zu Grunde lie- Stücken dadurch „zusätzliche Bedeu- genden Werks genutzt werden (oft auf tungsebenen“ (S.91) zuwachsen, die wenige markante Takte beschränkt, die ihrerseits in die Rezeptionsgeschichte fast wie ‚akustische Signets‘ funktionie- der Stücke einwandern (können). Jasper ren)? Wohnt Werken eine eigene ästhe- Stratils Überlegungen zur Bedeutung tische Qualität inne, die als „Intimität“ des Hörens in den Beethoven-Biopics ein idealisiertes „Antefakt“ (S.32) des – ein interessantes Thema, das in die aufgeführten Werks bleibt? Oder ist filmsemiotische Problematik der synäs- es plausibel, der Musik Beethovens thetischen Darstellung der Taubheit im eine „Ursprünglichkeit“ zuzuordnen, Film angrenzt – bleibt an der Oberflä- als Menge von „Impulse[n], aus denen 306 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 die Musik hervorgeht“ die „stets offen allen Aneignungen zu bewahren und zutage“ (S.94) treten? Es sind diese dif- den Filmen den Anspruch auf eigene fusen Behauptungen einer der Musik ästhetische Autonomie zu verweigern. (und nur ihr) innewohnenden formalen All dieses deutet darauf hin, dass ein ästhetischen Ausdrucks- und Rezep- integraler Ansatzpunkt, den Musik- tionsqualität, die – trotz vieler Anre- film als Ausdrucksform einer eigenen gungen und oft übersehener Beispiele, synthetischen Kunstform zu fassen, die Vom Klang bewegt auch bietet – die weiterhin das Kernproblem der Film- Lektüre des Bandes irritieren. Sie ist musikforschung bleibt. verbunden mit einem wenig explizierten Anspruch, die Einheit des Werks in Hans J. Wulff (Westerkappeln) Christian Alexius, Lucas Curstädt, Björn Hayer: Paolo Sorrentino: Das Werk eines Ästheten Marburg: Büchner 2020, 174 S., ISBN 9783963171895, EUR 22,- Im August 2020 haben Christian (2001) erste Langfilme vor, erlangte Alexius, Lucas Curstädt und Björn mit La grande bellezza (2013) eine Hayer den ersten deutschsprachigen, Oscar-Auszeichnung und fällt ganz rein Paolo Sorrentino gewidmeten generell in eine seit 2008 anhaltende Band veröffentlicht – gerahmt von den Phase des italienischen Films, in der kurz zuvor beziehungsweise danach dieser nach einem „viel geschmähte[n] erschienen englischsprachigen Bän- italienische[n] Kino der 1980er und den über den italienischen Regisseur: 1990er Jahre“ (S.14) wieder interna- Russell J. A. Kilbourns The Cinema of tional gewürdigt wird. Die Autoren Paolo Sorrentino: Commitment to Style führen dies auf die schlechte Verfüg- (New York: Columbia UP, 2020) und barkeit der frühen Filme Sorrentinos in Annachiara Marianis Paolo Sorrentino’s Deutschland und auf die späte Verfüg- Cinema and Television (Bristol/Chicago: barkeit englischsprachiger Forschungs- Intellect, 2021). literatur sowie auf ein zunehmendes Auch die Autoren konstatie- Abrücken der Filmwissenschaft von der ren, dass der späte Zeitpunkt solch Autorentheorie und einen eher in die einer Veröffentlichung verwunderlich Vergangenheit des italienischen Films scheint: Immerhin dreht Sorrentino gerichteten Blick der deutschen Film- seit 1994 Filme, legte ab L’uomo in più wissenschaft zurück. Fotografie und Film 307 Davon nehmen sie selbst indes in (S.49) der Figuren – als „Schlüsselmo- drei Essays Abstand – und gerade den mente […], die allerdings weder rein Blick in die Vergangenheit kritisieren affirmativ noch rein sarkastisch einge- sie dort, wo er mit Vorwürfen ein- setzt werden“ (S.57), wobei sich eine hergeht: Sorrentino drehe „schlechte Ambivalenz auch bei den mehrdeutig Kopie[n] oder Remake[s] früherer konnotierten Figuren finden lasse. Filme“ (S.17). Ihren ihrerseits etwas Auch Alexius arbeitet mit der polemischen Vorwurf, dass es sich dabei Ambivalenz und verhandelt in „Der lediglich um „nostalgisch verklärte[] Humanismus, die Masken und das Urteil[e]“ (S.17) handle, können sie Ideal wahrer Schönheit“ das komplexe zwar an keiner Stelle beweisen, aller- Verhältnis von Maske und Gesicht – als dings ermöglichen sie durchaus einen Bedeutungsträger – vor dem Hinter- differenzierten Blick auf die Ästhetik grund des Kuleschow-Effekts und einer – oder den von Curstädt verhandelten Gefühlsansteckung, um die mediale „ästhetische[n] Überschuss“ (S.125) – Reproduktion von Gesichtern in einer der Filme Sorrentinos, wobei in erster auf das Gesicht fixierten Gesellschaft Linie eine „Ambivalenz als ästhetische in den Blick zu nehmen und zwischen Signatur im Werk des italienischen Fotografie und Großaufnahme Schön- Filmemachers“ (S.22) herausgearbeitet heit und Humanismus als zentrale wird. Elemente im Werk Sorrentinos zu Die Essays nehmen jeweils das schildern. Werk Sorrentinos hinsichtlich drei In „Anthropomediale Szenen, die unterschiedlicher Themenschwerpunkte filmische Geste und der ästhetische in den Blick, kreisen aber vor allem um Überschuss“ lässt Curstädt abschlie- La grande bellezza. Generell liegen die ßend auf Basis deleuzianischer Film- Stärken in der Herausarbeitung von theorie und unter Rückgriff auf Vilém Qualitäten, weniger in der Zurückwei- Flussers Gesten (1994) die Kamera als sung abfälliger Stimmen: Denn auch „ambivalenteste, aber erste Instanz“ der Vorwurf der Misogynie ist mit dem (S.136) von des Films „ganz eigene[r] Verweis auf das bloße Reproduzieren mediale[r] Materialisierung (von eines Blicks misogyner Filmfiguren Welt)“ (S.136) erscheinen, da die keinesfalls automatisch vom Tisch. „Relation von Welt, Film, Mensch Mit dem Essay „Vom Guten und und Weltprojektion im Werk Sorren- Wahren“ legt Hayer den ersten Text vor, tinos einen ästhetischen Überschuss der „[s]owohl antike als auch moderne produziert, der […] die Kunsthaftig- Sichtweisen“ (S.28) der Schönheit in keit seiner Filme ausmacht“ (S.135). Sorrentinos Filmen wiederfindet und Neben den Gesten der Kamera nimmt Pathos dort zwischen „Affirmationen Curstädt auch die Gesten des Abgebil- und Brechungen“ (S.31) erblickt. Beide deten, vor allem der Hauptfigur aus La Elemente schildert Hayer – auch grande bellezza in den Blick, die sich anhand des Glaubens oder der „Such- als Modernist ironisch in der Postmo- bewegung nach der eigenen Identität“ derne bewege. 308 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Der Band bietet einen ersten dabei insbesondere der Blick auf Ambi- deutschsprachigen Überblick über das valenzen – was einer vorschnellen Beur- Werk Sorrentinos und denkt vor allem in teilung der Filme Sorrentinos vorbeugt. Curstädts Beitrag filmtheoretische Kon- zepte weiter. Gemeinsamer Nenner ist Christian Kaiser (Hannover) Christian Alexius: Den Glauben an die Welt mit dem Wahnsinn bezahlen: Reflexionen zum postklassischen Kino Baden-Baden: Nomos 2020, 92 S., ISBN 9783848766000, EUR 24.- Ein Überblick über die gravierenden modernen Kinos aufgezeigt wird. Unter Veränderungen, denen das Hollywood- Verweis auf Quentin Tarantino, David kino als komplex erzählter Film in den Lynch und die Coen-Brüder, in deren vergangenen fünfzig Jahre ausgesetzt Filme „Konventionen des klassischen war, leitet die Untersuchung mit dem Hollywoodstils und solche des Inde- auf den ersten Blick irritierenden Titel pendent- oder internationalen Auto- Den Glauben an die Welt mit dem Wahn- renfilms“ (S.13) miteinander verbunden sinn bezahlen ein. Für dieses Unterneh- worden seien, entwickelt Alexius unter men setzt Christian Alexius auf eine Bezugnahme auf Thomas Elsaesser und methodisch und inhaltlich abgesicherte Malte Hagener (Film Theory: An Intro- dreistufige Vorgehensweise. Einleitend duction through the Senses. New York/ definiert er den Begriff ‚komplex‘ als London: Routledge, 2015) seine erste Abweichung von den Konventionen des These. Sie fußt vor allem auf der Kate- klassischen Hollywoodfilms, wobei er gorie der mindgame movies, die eine als Grundlage für seine Untersuchung „paradox anmutende […] Vereinigung“ die Monografie The Classical Hollywood (S.13) der klassischen und modernen Cinema: Film Style and Mode of Pro- Bildtypen seien. duction to 1960 von David Bordwell, Die zweite These bringt die Digi- Janet Staiger und Kristian Thompson talisierung und deren Einwirken auf (London: Routledge, 2006) nimmt. den komplex erzählten Film ins Spiel. Außerdem verweist er auf Publikati- Veranschaulichen ließe sich, so A lexius, onen, in denen der Normenbruch des deren Umsetzung am Einf luss von klassischen Erzählens unter Hinweis Videospielen auf Filme, „die nach Bord- auf Gilles Deleuze (Das Bewegungs- well eine ‚multiple-draft narrative‘ auf- Bild, Kino 1. Frankfurt am Main: Suhr- weisen“ (S.14). Danach können wie in kamp, 1997) an fünf Merkmalen des Lola rennt (1998) die Prota gonist_innen Fotografie und Film 309 „durch eine vorgegebene Levelstruktur sich in eine Maschine des Unsichtbaren zum Ziel“ gelangen, „wobei der eigene zu verwandeln und davon zeugen, „wie Tod für sie wie in einem Videospiel, das Gehirn zu unserer Welt geworden nicht das Ende bedeutet“ (S.15). ist“ (S.37). Die dritte These bezieht sich bei Im dritten Kapitel setzt sich Ale- Alexius auf komplex erzählte Filme, in xius mit Deleuzes Begriff von Katho- denen die auftretenden Akteur_innen lizität unter zwei Schwerpunkten psychisch krank sind und eine dadurch auseinander: Weltbejahung als Macht hervorgerufene verzerrte Wahrneh- des modernen Films und die Relevanz mung der Welt entwerfen. Ein solches des Glaubensproblems für das digi- Krankheitsbild weise eine der Figuren tale Kino. Es sind spezifische Über- in Fight Club (1999) „als Manifestation legungen, die unter Absicherung auf einer multiplen Persönlichkeit“ (S.15) Josef Früchtls Abhandlung Vertrauen auf. Daran lasse sich unter Verweis auf in die Welt: Eine Philosophie des Films Patricia Pisters „das verstärkte Eindrin- (Paderborn: Wilhelm Fink, 2013) zur gen in die mentalen Welten der Haupt- Einsicht gelangen, dass „der moderne figuren erkennen“ (ebd.), ein Vorgang, Film den Menschen den Glauben an den Alexius als Referenzpunkt bezeich- die Welt zurückgeben kann, ein phi- net, bei dem die gezeigten Bilder nicht losophisches Konstrukt [ist], das sich mehr „die profilmische Welt, sondern nicht exakt wissenschaftlich nachwei- das Gehirn der Figuren, vergleichbar sen lässt“ (S.53). dem digitalen Film“ (ebd.) darstellen. Das abschließende Kapitel ist der Die Folge davon sei „das Ende der minutiösen Analyse des Spielfilms des von Deleuze proklamierten Kraft des südkoreanischen Filmregisseurs Park modernen Kinos, … uns Menschen Chan-wook I‘m a Cyborg, But That‘s den Glauben an die Welt wiederzu- OK (2006) – im Filmindex leider nicht geben“ (S.15f.). Den Preis für dessen aufgelistet –, als ein Beispiel für die Wiedererlangung stelle für Deleuze Umsetzung von Psychiatrie als Topos, die ‚Konfrontation mit dem Wahnsinn‘ gewidmet. Der Hauptdarsteller hält sich dar, die im Film der letzten Jahrzehnte für einen Cyborg, der mit unterschied- stattfinde. lichen elektronischen Geräten kommu- Das zweite Kapitel wertet die ‚Insze- nizieren kann und nach einem Versuch, nierungen des Wahnsinns‘ im postklas- sich selbst unter Strom zu setzen, in einer sischen Kino unter drei Aspekten aus: a) psychiatrischen Anstalt landet. Alexius mindgame movies, unter Umsetzung des vergleicht in seinen Ausführungen an von Elsaesser verwendeten Verfahrens zahlreichen thematisch vergleichbaren als Spiel mit der Hauptfigur des Films; Spielfilmen Kernstrategien unter Rück- b) unter Verweis auf Spielfilme von koppelung an die Figur des Cyborgs. Luis Buñuel, Ingmar Bergmann, Alain In seinem Resümee gesteht Ale- Resnais und Orson Welles; c) wie auch xius, dass seine Untersuchung „keine sogenannte produktive Pathologien, die allumfassende Studie des postklas- als neuro-images das Kino befähigen, sischen Kinos seit den 1990er Jahren“ 310 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 (S.81) anstrebe. Stattdessen sei das Ziel render Interpretationen, mit denen der „die Analyse und Interpretation kom- Autor auf interpretatorisch vergleich- plex erzählter Spielfilme und deren barem Niveau umgeht, gelingt es ihm Fokus auf psychisch kranke Figuren leider nicht, eine stringent formu- aus unterschiedlichen Blickwinkeln: lierte Aussage vorzulegen. Eine also narratologisch, filmhistorisch, -theore- im Detail spannende Untersuchung tisch und -philosophisch“ (S.81). Auf- mit einer reichen Auswahl an Filmen grund der Fülle von unterschiedlichen aus dem sogenannten postklassischen Untersuchungsaspekten gelingen Ale- Kino, in dem der Topos ‚Wahnsinn‘ xius immer wieder kongeniale Ein- überraschenderweise immer seltener blicke in theoretisch weiterführende umgesetzt wird. Ansätze, mit einer Einschränkung: Aufgrund der Vielzahl konkurrie- Wolfgang Schlott (Bremen) Neil Archer: Cinema and Brexit: The Politics of Popular English Film London/New York: Bloomsbury 2021 (Cinema and Society Series, Bd.41), 287 S., ISBN 9781501351334, GBP 76,50 The cover of Neil Archer’s excellent and transnational investment and dis- study on cinema and Brexit features tribution. a screenshot from Sam Mendes’ Sky- This interplay of the local and the fall (2012), the movie that brought us global in recent English popular film is James Bond’s origin story as well as at the heart of Archer’s study. His hypo- his renewal as a distinctively English thesis is that recent English-centred hero of resilience and strength. Loo- film productions represent specific ideas king out from a rooftop over a Lon- of ,England’ by constructing narratives don skyline covered in Union Jack of nation and national identity, both at flags, we see Daniel Craig’s Bond home and abroad, while appealing to from behind, framed by a rising sun, both domestic and global audiences. and inviting us to share his physical In this construction and representation and ideological perspective. While of national myths, these films are rele- this opening suggests national roots, vant for understanding Brexit, Archer the Bond franchise is also a global claims, while Brexit is a framework for commodity, featuring global locations making sense of the films in return. In Fotografie und Film 311 his study, Archer is less interested in exceptionality, and return. It discusses how (or even whether) English popular recent films about the King Arthur cinema ,mirrors’ Brexit, understood as myth, such as The Kid Who Would be a broader period of hostility towards the King (2019), films about the Second EU, and he is wary of constructing all World War like Darkest Hour (2017), too literal causalities between films and as well as the Bond franchise in an social contexts. Rather, he looks at what innovative analysis of Skyfall. Chapter popular cinema ,,often refracts, misre- four continues this assessment of sto- presents or simply doesn’t show“ (p.6). ries of national resilience by means of The national narratives of these films two biopics about English scientists, are therefore ,,at once consistent with The Theory of Everything (2014) and The and problematically disjointed from Imitation Game (2014). The following its actual contexts“ (p.7), and Archer two chapters concentrate on the trans- explores these paradoxes in six chapters national and European context of genre that sometimes only imply Brexit as a parody and family films, using examp- context for analysis. les like Aardman’s Early Man (2018) Archer talks about English, rather or the Paddington movies (2014 and than British cinema, as English votes 2017). Archer consistently shows that determined Britain’s exit from the EU, production and reception contexts out- but he equally considers how difficult line a new sense of ,,European English it is to say what ,English’ cinema really f ilms“ that demonstrate the ,,self- is in a differentiated discussion in the defeating nature of isolationist national introduction. His corpus primarily approaches“ (p.35). consists of films produced and released Archer uses a theoretical frame- before 2016, the year of the referendum, work rooted in film and cultural stu- with the 2012 London Olympics ope- dies, rather than asking why Britain ning ceremony as its starting point, and voted to leave the EU or how indivi- it ends three years after the referendum. dual viewers might have received the After a concise introduction and a films as pro- or anti-leave. His qua- first chapter on film politics and the litative close readings of the films are ,soft power’ of English cinema, the convincing, detailed, and embedded second chapter focusses on humour within research on trans/national within the comedy genre of the holiday cinema, popular culture, and global film, e.g. Absolutely Fabulous: The Movie movie production, and they tackle a (2016) or Mr. Bean’s Holiday (2007). number of recent movies that have not Archer discusses the construction of yet received a lot of academic atten- differences between the English and tion. This innovative, well-written, ,Europeans’ and the role of populist and carefully prepared book may thus and nativist attitudes. Chapter three be seen as an early intervention in the deals with the epic and its mobilization emerging field of Brexit studies. of mythic archetypes concerned with nation building and stories of resilience, Sarah Heinz (Wien) 312 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Jane Birkin: Archive, Photography and the Language of Administration Amsterdam: Amsterdam UP 2021, 222 S., ISBN 9789463729642, EUR 99,- Der vorliegende Band wendet sich an Archive“ (1986) ausführlich dargestellt. die verschiedenen Nutzer_innen von Im Unterschied zu Sekula oder ande- Archiven und beschreibt deren vielge- ren Theoretiker_innen wie Susan Son- staltige Arbeitsweisen: Forscher_innen, tag interessiert sich Birkin aber nicht die in Archiven recherchieren, Archi- für gesellschaftliche Umbrüche, die var_innen, die Bestände aufarbeiten etwa mit staatlicher Überwachung oder und bildende Künstler_innen, die sich der Vermessung und Normierung des an den Funktionen von Archiven – der menschlichen Körpers einhergingen. Konservierung, der Katalogisierung und Sie sieht das Pariser Polizei-Archiv als vielem mehr – abarbeiten oder selbst Katalog oder Enzyklopädie, in einer archivarische Praktiken verwenden. Das Tradition stehend mit illustrierten spiegelt auch den Background der Auto- Pflanzenbestimmungsbüchern aus dem rin wider, die als Designerin, bildende 17. Jahrhundert oder August Sanders Künstlerin, Kuratorin und Forscherin gigantischem Foto-Projekt Menschen des tätig ist. Birkins Interesse gilt vor allem 20. Jahrhunderts (u.a. München: Schir- dem Zusammenspiel von Fotografie mer/Mosel, 2010). und Archiv. In fünf Kapiteln und einem An all diesen Beispielen gilt Birkins Nachwort erzählt sie anschaulich von der Aufmerksamkeit dem Zusammenspiel Geschichte des Fotoarchivs und spannt von Fotografie und Beschreibungstext. dabei den Bogen bis zu fotoarchivari- Hier findet sich auch der Anknüp- schen Praktiken des Alltagslebens im 21. fungspunkt zum dritten Bestandteil Jahrhundert. Die Fotografie dient ihr als des Buchtitels, der „language of admi- Metapher für das Archiv schlechthin, nistration“. Unter dieser versteht Bir- „as it parallels ideals of stasis, preserva- kin einerseits die Hilfssprache, mit der tion, storage of information for future archivarische Bestände beschrieben use“ (S.28). werden, andererseits die Sprache der Im ersten Kapitel, das einen histori- Administration per se, „the systems schen Überblick bietet, zeigt Birkin, wie and techniques of institutional spaces“ die Fotografie seit der zweiten Hälfte des (S.12). 19. Jahrhunderts auch als Werkzeug zur Das dritte Kapitel befasst sich aus- Kategorisierung diente. Das gewählte führlich mit der Frage, wie Fotografien Beispiel des Pariser Polizei-Archivs mit und archivarische Bestände im Kata- den Fotografien von Alphonse Bertillon log so beschrieben werden können, dass und Francis Galton, die zur Erkennung diese Beschreibungen die Bilder erset- und Unterscheidung einer kriminellen zen können. Als theoretischer Rahmen Typologie dienen sollten, wurde bereits dienen Erwin Panofskys ikonogra- von Allan Sekula in „The Body and the fisch-ikonologische Bildbeschreibung Fotografie und Film 313 und Roland Barthes‘ drei Botschaften Ekphrasis als „the verbal representation der Fotografie (vgl. Barthes, Roland: of visual representation“ (Heffernan, „Rhetorik des Bildes.“ In: Stiegler, James A.W.: „Entering the Museum of Bernd [Hg.]: Texte zur Theor ie der Words: Browning’s ‚My Last Duchess‘ Fotografie. Stuttgart: Reclam, 2010, and Twentieth-Century Ekphrasis.“ In: S.78-94; Panofsky, Erwin: Ikonogra- Wagner, Peter [Hg.]: Icons – Texts – Ico- phie und Ikonologie: Eine Einführung notexts: Essays on Ekphrasis and Inter- in die Kunst der Renaissance. Köln: mediality. Berlin: De Gruyter, 2012, DuMont, 1996). Sowohl Barthes als S.262-280, S.262), ist sie aber definitiv auch P anofsky unterscheiden mehrere überzeugend. Bedeutungsschichten beim Betrach- Auch die Auswahl von Birkins ten eines Bildes oder einer Fotografie. Fallbeispielen ist durchweg überzeu- Birkin stellt folgerichtig die Frage, wel- gend und innovativ – wenn man von ches Vorwissen die Betrachter_innen B ertillon/Galton einmal absieht. Zahl- benötigen, um das Gesehene adäquat in reiche Beispiele aus der bildenden Kunst den Beschreibungstext zu überführen. aber auch der Populärkultur (Mad Men, Die daraus resultierenden Katalogtexte James Bond usw.) betten das doch recht können – so Birkin – als Ekphrasis trockene Thema der Katalogbeschrif- gelesen werden. Diese Argumenta- tungen in einen breiteren Kontext. tion mag zur Diskussion einladen, bei einem weitgefassten Verständnis von Sophie Mayr (Wien) Nathalie Dietschy: The Figure of Christ in Contemporary Photography London: Reaktion Books 2020, 338 S., ISBN 9781789142082, GBP 40,- Die Kunsthistorikerin Nathalie Diet- et Gilles, Hiroshi Sugimoto und Joel- schy umreißt in ihrer Monografie die Peter Witkin, um nur einige Namen noch junge Geschichte der säkularen zu nennen. Das empfehlenswerte Christusdarstellung in der zeitgenös- Buch enthält Beispiele aus Bettina sischen Fotokunst. Analysiert werden Rheims’ bekanntem Zyklus I.N.R.I. Bildbeispiele aus dem Who’s who der (1997), verweist aber auch auf weniger performativen Kunst beziehungs- populäre Fundstücke wie Max Kand- weise der inszenatorischen Foto- holas Serie The Last Seven Words of grafie: Marina Abramović, Vanessa Christ (1997) oder Cui Xiuwens Sanjie Beecroft, David LaChapelle, Pierre (2003). 314 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Dietschy widmet sich zunächst der Seven Bible Scenes als Inbegriff eines Mediengeschichte der fotografischen humanen Menschenbilds zu nennen Christus-Repräsentation, die bis ins (vgl. S.193ff.). 19. Jahrhundert zurückreicht: Henry Es finden sich in dem Buch viele Fox Talbots The Head of Christ from a Belege dafür, wie affin das Medium Painting on Glass (1839) sowie Johan der Fotografie seit seiner Erfindung Carl Enslens Face of Christ Superimpo- zur Repräsentation der Christusfigur sed on an Oak Leaf (1839) stammen aus ist, wie umstritten aber gleichzeitig jener Zeit. Das erste Bild, das als Foto- Formen der Ästhetisierung sind. Die grafie von Jesu rezipiert wurde, war die Geschichte der säkularen Christus- Negativwiedergabe dessen Gesichtsab- Figuration ist somit geprägt durch die drucks auf Secondo Pias‘ Fotografie des Ambivalenz von künstlerischer Aus- Turiner Grabtuchs von 1898 (vgl. S.39). druckskraft und zum Teil schwieriger Die fotografische Tradition einer Dar- Rezeption durch die Öffentlichkeit. Ein stellung der weiblichen Christusfigur ganzes Kapitel mit dem Titel „Provo- beginnt bereits in den 1880er Jahren cation and Scandal“ beschäftigt sich in Form von Kreuzigungsbildern (vgl. daher mit der Problematik der Wir- S.150). Im 20. Jahrhundert mündet die kungsrealität (vgl. S.230ff.). künstlerische Popularisierung dieser Die Autorin bringt die multifunk- Figur in einen eigenen Bildkosmos. tionale Rolle der Christusdarstellung Typischerweise offenbart sich in der Fotokunst der Gegenwart auf die mediale Inszenierung der Chri- den Punkt: „[I]t reflects the person, stusdarstellung als fotografische Re- the position and the preoccupations of Inszenierung, ohne dass diese von der the artist in a self-portrait; it conveys Autorin explizit als solche benannt an image of a society’s transformations wird. Dietschy betrachtet die histo- and tensions; and it challenges viewers rischen Bedingungen und Formen […] to respond to this mirror by taking fotografischer Inszeniertheit, wobei a good look at themselves“ (S.306). die Abendmahlsikonografie oft eine Dietschy dokumentiert eindrucksvoll, zentrale Rolle spielt. Dieses spezielle mit welchem Elan genuin religiöse Motiv durchzieht wie ein roter Faden Sujets von der Fotokunst innerhalb die betreffende künstlerische Fotografie und außerhalb Europas und der USA der letzten Jahrzehnte. Exemplarisch adaptiert wurden. ist Rauf Mamedovs fünfteilige Serie Last Supper (1998) aus dem Zyklus Matthias Kuzina (Walsrode) Fotografie und Film 315 Glen Donnar: Troubling Masculinities: Terror, Gender, and Monstrous Others in American Film Post-9/11 Jackson: University Press of Mississippi 2020, 238 S., ISBN 9781496828583, USD 20,22 According to Glen Donnar in Troubling gence, and law enforcement institutions Masculinities, after the original 9/11 which threatened male-identity. World attacks, which eviscerated America’s Trade Center (2006) represents the paternalistic and potent self-image, experience of living inside a terror America fell back on reassuring Hol- event and „formally and narratively lywood narratives and violent terror as works to restore normative masculinity a plot device became more prevalent. through the restitution of male agency And like the 1950s science fiction […] through the re-masculinization and B-movies, which reflected anxieties militarization of uniformed masculi- about the nuclear age and communism, nity“ (p.26). Donnar examines the ten- once again unknown and unknow- sions between private and professional able ‚terror-Others‘ and giant monsters aspects of male identity via the father/ started disassembling American life. police officer figure and the symbolism However, unlike previous eras when of uniforms. However, World Trade Cen- masculinity and the American way of ter doesn’t depict the ‚terrorist-Other‘ life were under threat and the com- as it only deals with the aftermath at petent military could neutralise the ground-zero, which undermines the alien Other (The Thing [1951]); or in the reassertion of normative uniformed 1980s, when the pushback against femi- masculinity as „masculinities are per- nism was led by the muscular heroes of formed and defined in relation to and Arnold Schwarzenegger and Sylvester interaction with others, including Other Stallone, finding redemption through and alternative masculinities“ (p.63). violence (The Predator [1987]); recent The threat of the Other cannot be remo- re-assertions of American masculinity ved by simply absenting it. have been confused and conflicted. Donnar then moves from disaster The bulk of Troubling Masculini- movie to science fiction/horror in the ties is taken up by a thorough, detailed giant monster film Cloverfield (2008), and fascinating textual analysis of four which shows „how the violent eruption films released between 2005 and 2010 of terror overwhelms less-than-ordinary at the height of the conflicts in Iraq [author’s emphasis] non-professional and Afghanistan, which according to everymen“ (p.26). To a lesser extent, Donnar, „directly depict encounters he looks at the home-invasion film The with ‚terror threats‘ against articulations Strangers (2008), which explores the of America“ (p.24). shame and emasculation of the over 9/11 was a colossal failure of profes- civilised male. Cloverfield ’s amateur, sional competence in military, intelli- found-footage aesthetic, filmed by one 316 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 of the male characters, Rob, locks him (p.141) and posits Neville as both savi- into the masochistic victim-perspective our and monster. proposed by Carol J. Clover, which The final chapter focuses on The „undermines notions of the supposed Kingdom (2007), which follows the coherence and stability associated with investigation by an FBI team sent to the controlling male look“ (p.99; cf. Saudi Arabia to identify the perpetra- Men, Women and Chainsaws: Gender tors of a terrorist attack on an Ameri- in the Modern Horror Film. Princeton: can oil company’s housing compound. Princeton UP, 1992). Donnar believes The film morphs jarringly from a police that fears of national-masculine ina- procedural, in which the team is emas- dequacy are displaced onto the prota- culated by restrictions imposed by the gonist. Rob „most transgresses against Saudis, to an action-war revenge fantasy American myths of masculinity“ revising the shame of 9/11. Unfortu- (p.100) and must be punished for his nately, the cathartic violent retribution inadequacy. „fails to reinvigorate protective-profes- In many respects the Will Smith sional-paternal masculinity […] being star vehicle I am Legend (2007) is the the same as, America’s dark mirror, the most complex film that Donnar dis- monstrous terrorist“ (p.28) and may cusses as notions of race and star-per- even make matters worse. sona as well as masculinity have to be Donnar makes a convincing argu- taken into account. As the last survivor ment about these films that their reas- of a virus induced zombie apocalypse, sertions of masculinity and national Smith as Robert Neville, a father/sol- identity remain incoherent, and anxie- dier/scientist is striving to find a cure. ties about the ‚terror-Other‘ remain However, its closure „rather than reas- unrelieved, across genres in Hollywood suring, leaves the twinned restorations cinema post 9/11. of professional-paternal masculinity and nation unsettlingly incoherent“ Drew Bassett (Köln) Fotografie und Film 317 Oliver Fahle: Theorien des Dokumentarfilms zur Einführung Hamburg: Junius 2020, 264 S., ISBN 9783960603139, EUR 16,90 In Zeiten von ‚Mainstream’-Medien auf digitalen Plattformen ziruklieren- und ‚alternativen‘ Medien, von News dem Dokumentarismus spannt: War und Fake News spricht der Begriff des das filmische Dokument zu Beginn Dokumentarfilms die Hoffnung auf der filmhistorischen (audio-)visuellen eine filmisch vermittelte, unantastbare Aufzeichnung noch ein Produkt Ein- Wahrheit an; eine Wahrheit, die durch zelner, weichte sich die monolithische das objektive Festhalten und ebenso Machtkonstellation durch neue techni- objektive Wiedergeben der Wirklich- sche Aufzeichnungsmethoden auf und keit garantiert werden kann. Was sich wurde demokratisiert. Dass ausgerech- hinter dem Begriff Dokumentarfilm net aus dieser Demokratisierung eine jedoch im filmtheoretischen Diskurs Quelle demokratischer Erosion entste- tatsächlich verbirgt, referiert O liver hen würde, lässt sich schließlich nur Fahle in dieser Einführung in die auf die gesellschaftliche Nutzung der Dokumentarfilmtheorie. gegebenen Technik und auf das zentrale Fahle präsentiert in kurzer, aber Problem des Dokumentarfilms – der prägnanter Weise die knapp 100 Jahre Darstellung von Wirklichkeit/Wahr- überspannenden Überlegungen diver- heit – zurückführen. Fahle verweist ser Filmtheoretiker_innen. Dabei nutzt daher häufig auf Theoretiker_innen, die er sich gebende Gelegenheiten, diese dem Dokumentarfilm nicht lediglich theoretischen Ausführungen noch mit einen wirklichkeitsabbildenden, son- eigenen Gedankengängen anzurei- dern wirklichkeitsbildenden Habitus chern. Damit erfüllt das Buch zwar zuschreiben. Der Begriff des Doku- den Anspruch, gezielt die skizzierten mentarfilms erweist sich hierdurch als Theorien von spezifischen Theoretiker_ deutlich schillernder, als es von einer innen nachzuschlagen. Aufgrund der erhofften Wirklichkeit abbildenden und historischen Formbarkeit des Doku- damit Wahrheit vermittelnden Instanz mentarfilmbegriffs, die neben gesell- zu erwarten wäre. schaftlichen auch durch technische Die Theorien, die Fahle präsen- Einflüsse verantwortet ist, empfiehlt tiert, dienen dabei nicht lediglich einer sich dieses Buch jedoch vor allem als Abbildung der historischen, filmwis- Lektüre eines sich entwickelnden Den- senschaftlichen Auseinandersetzung kens über das Dokumentarische, der mit dem Dokumentarfilm. Sie lassen Herstellung von (vermeintlicher) Evi- – besser: müssen – sich als Anleitung denz und der Rezeption filmisch trans- für eine medienkritische Auseinander- portierten Wissens. Eine solche Lektüre setzung von (vermeintlich) dokumenta- ist dabei umso empfehlenswerter, da rischen Filmen lesen, um Produktion, Fahle auch anhand der filmtechnischen Methodik, Präsentation und schließ- Entwicklung den Bogen zu heutigem, lich Rezeption zu hinterfragen; oder 318 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 verständlicher: um Medienkompetenz tigen Archiv auffindbaren Materials in einer so mediatisierten Umwelt zu ‚Wirklichkeit’ zusammenstückeln kann, erlangen, in der jede_r mit dem Smart- um diese ebenso einfach zu verbreiten. phone ‚Wirklichkeit’ abfilmen oder mit (freier) Software aus einem reichhal- Martin Janda (Marburg) Jörn Glasenapp (Hg.): Kontinuität im Wandel: Begegnungen mit dem Filmemacher Wim Wenders München: edition text + kritik 2021, 251 S., ISBN 9783967075625, EUR 29,- Der vorliegende von Jörn Glasenapp ständige Arbeiten, deren Motive und herausgegebene Band ist das Ergebnis Diskussionsfelder überschneiden sich intensiver Beschäftigung des Lehr- aber, so dass quer über die Einzelbei- stuhls für Literatur und Medien an der träge hinweg größere Motivfelder und Otto-Friedrich-Universität Bamberg Zusammenhänge erschlossen werden, mit Wim Wenders’ Werk. Konkret etwa Wenders’ gewandelter Umgang gehen die Beiträge auf eine Online- mit der amerikanischen Kultur, seine Tagung am 7. und 8. August 2020 Medienkritik (mit Bezügen unter zurück, die anlässlich des 75. Geburts- anderem auf Michel Foucault, Roland tags von Wenders stattfand und bei Barthes, Niklas Luhmann, Theodor der der Meister selbst live zugeschal- W. Adorno, Georg Wilhelm Fried- tet war. Die verschiedenen Formen rich Hegel), die Musikalität der Filme und Ebenen der Auseinandersetzung (Popkultur), seine Orte (Butte, Wes- sind Ausdruck einer lebendigen aka- ternszenerien, Städte) und natürlich die demischen Diskussionskultur, die neue film- und kunstgeschichtlichen Bezüge, Perspektiven auf den Autorenfilmer vor allem die zur amerikanischen Male- Wenders eröffnet. Die Neuverortung rei (Andrew Wyeth, Edward Hopper). spannt vor allem den Bogen zwischen Hier wurde gemeinsame Kärrnerarbeit den frühen Filmen und den jüngeren geleistet, was sich in dem stimmigen Arbeiten. Bereits ausgiebig erforschte Chor der Beiträge zeigt. Klassiker wie Der Himmel über Berlin Glasenapp eröffnet den Band mit (1987) werden daher konsequenterweise zwei Aufsätzen über „Wim Wenders’ wenig behandelt, was dem Band gut und Peter Handkes Roadmovie-Minia- tut. Die Aufsätze sind natürlich eigen- tur 3 amerikanische LP’s“, deren Musika- Fotografie und Film 319 lität, die eine Signatur auch der späten dahingestellt, aber dass dieser medien- Werke sein wird, genau wie die Zusam- reflexive Aspekt in Wenders‘ Werk eine menarbeit mit Handke: „Die alltägli- wichtige (narrative) Funktion hat, ist che deutsche Umgebung soll dadurch offensichtlich, genauso wie die Fas- resonanzfähig gemacht werden, dass ihr zination des Bildkünstlers Wenders eine akustische Dosis ‚Amerika‘ inji- an den neuen Sehtechniken Video, ziert wird, auf dass man ‚Amerika‘ dann 3D-Film: „Das Sehen, der Sinn, der auch auf den Bildern sehen kann bzw. uns für Wenders wie für Adorno von zu sehen vermeint“ (S.18). Diese medi- den anfangs beschriebenen Fernsehbil- alen Interferenzen sind es, die auch die dern genommen wird, soll sich im Kino jüngeren Arbeiten von Wenders prägen regenerieren. Bei Wenders findet dies und die Modelle und Kompositions- häufig auf einer doppelten Ebene statt: ideen der späten Filme in nuce enthal- auf der formal-ästhetischen für den ten. Wenders‘ Blick auf den Alltag ist Zuschauer wie auf der diegetischen für medial getränkt, wie Glasenapp zeigt, seine Figuren“ (S.87). Diese Dopplung so etwa durch Harvey Mandels Gitar- geht sogar bis zum Regisseur, der in rensound, der über Bilder von München einem Werbespot selbst auftrat, der in gelegt wird: „Schafft es Mandel, das einem Corona-Kurzfilm für den RBB ‚Millionendorf ‘ an der Isar zu ‚ameri- an der Schreibmaschine sitzt und der kanisieren‘, oder ist der Widerstand, auch einige Cameo-Auftritte hat bezie- den die bayerische Landeshauptstadt hungsweise sich als Off-Kommentator selbst an ihrer gesichtslosen Peripherie in seinen Dokumentarfilmen als Sub- gegenüber ihrer akustischen Transfor- jekt stets mit thematisiert. mation leistet, zu groß?“ (S.28). In dem Weitere Beiträge setzen dann einen Folgebeitrag stellt Glasenapp Wenders Schwerpunkt auf die amerikanische stilistisch in das slow cinema, den itali- Kultur und die Darstellung einiger enischen neorealistischen Film Roberto Motive. Sven Weidner untersucht Rossellinis, wobei natürlich die großar- etwa Hotels und Motels bei Wenders, tige Kameraarbeit Robby Müllers ihre das heißt spezifische Schauplätze und Handschrift hinterlässt. Räume: „Das Motel ist sehr wahr- Julian Weinert untersucht Chris scheinlich eine jener Institutionen, die Petits Radio On (1979) im Verhält- am wenigsten mit dem Wandel der Zeit nis zu Wenders’ Roadmovie-Trilogie Schritt halten oder sich neuen Trends Alice in den Städten (1974), Falsche und Tendenzen anpassen mussten. Ihrer Bewegung (1975) und Im Lauf der Zeit Architektur nach sind Motels amorphe (1976). Golnaz Sarkar Farshi nähert Gebilde, zeitlos, unterschiedslos, mit- sich diesen Arbeiten mit Niklas Luh- hin gesichtslos, ausgelegt in erster Linie mann sowie den Bezügen zum Neuen auf Funktionalität. [...] Es oszilliert Deutschen Film, und Mirjam Schmitt zwischen pragmatischer wie gleich- fragt nach den Schnittmengen mit der förmiger Architektur, Funktionalität, Kritischen Theorie. Ob ein Filmema- Desillusion und Anonymität, also reiner cher der bessere Medienkritiker ist, sei Pragmatik einerseits und Verdächtigem, 320 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Enigmatischem, Undurchschaubarem, Abbild einer profilmischen Wirklich- Gefahrvollem andererseits“ (S.93). keit und zugleich kulturgeschichtliches Natürlich gehört Foucaults Konzept der Bildzitat ist, eine Verbildlichung des Heterotopie hierher –, dass darin narra- amerikanischen Mythos als Mythos tive Potenziale liegen, macht Weidner seiner Bilder und als attraktive Kino- überzeugend deutlich. ästhetik, die den Repräsentations- Glasenapps dritter Beitrag im charakter und die Künstlichkeit ihrer Band über Don’t Come Knocking (2005) Bilder zur Schau stellt und dabei ihre betreibt eine faszinierende geografische eigene zeichenhafte Leuchtkraft ent- Spurensuche nach Butte, einem Ort, faltet“ (S.192f.). Das sind tatsächlich der beide Seiten des amerikanischen sehr spannende Perspektiven auf diese Traums versinnbildlicht. Überhaupt Filme. Amerika wird zu einem kine- werden Geschichten von Wenders matografischen Imaginationsort, wobei weniger erzählt als ‚sichtbar‘ gemacht – Nostalgie, Wehmut und Melancholie landschaftlich, symbolisch, zeitlich. Zu manchmal in humoreske Szenen kip- Beginn reitet Howard (Sam Shephard) pen. vom Set weg, genauso wie Wenders Katharina Stahl nimmt den Buena die übliche Dramaturgie verlässt. Orte Vista Social Club (1997) als Musik(- erzählen sich so selbst, wenn man sie dokumentation) in den Blick. Die Ein- lässt. Im Kern stehen bei Wenders dann sichten Stahls liefern wichtige Impulse die ikonografischen Orte der Moderne. und Ansätze für eine Sichtweise auf So führt er uns laut Glasenapp in jene die Inszenierung von Männlichkeit bei Gespensterstadt Butte mit „insgesamt Wenders und dessen Umgang mit Kli- knapp 100 ghost signs, mit Pinsel an schees: „vielmehr begleitet die Kamera die Wände der historischen Bauwerke den Zigarre rauchenden Compay angebrachten (Werbe-)Schriftzügen Segundo auf seinen Ausflugsfahrten im also, deren deiktischer Appell inso- Oldtimer und zeigt Omara Portuondo fern ins Leere läuft, als die Produkte als Zentrum singender Kubaner*innen und Dienstleistungen, auf die verwie- – womit gängige Klischees bezüglich sen wird, schon längst nicht mehr zu des globalen Südens nicht hinterfragt, bekommen sind“ (S.172). sondern vielmehr als authentische Ein- Matthias Hurst führt diese Linie in drücke des kubanischen Alltags repro- seinem Beitrag „Don’t Come Knocking duziert werden“ (S.115). und der lange Abschied vom Ameri- Felix Lenz setzt souverän Wenders’ kanischen Traum“ weiter, indem er und Terrence Malicks Alterswerke in den genretypischen Linien mit einer Bezug und untersucht Zeitfiguren, Diskussion der Sekundärliteratur (und geteilte Vorbilder, den Überlegungen Wenders’ Aussagen) folgt und dann Hegels und denen des Ethnologen zum Fazit kommt: „Wenders’ Inszenie- Arnold van Gennep folgend. So wer- rung und die Kameraarbeit von Franz den Kameraarbeit, Figuren, Erzähl- Lustig erzeugen eine filmische Textur, bögen, der Umgang mit Gegenwarten die in postmoderner Doppeldeutigkeit und zeitlichen Parallaxen und die Fotografie und Film 321 Frauenfiguren bei Wenders argu- einer systematischen Reflexion ein, um mentativ zusammengeführt, die ans dann zum Fazit zu kommen: „Man Traumhafte randenden Bildwelten kann also sagen, dass Wenders seinen Andrew Wyeths als Bezugsgröße, so Zuschauern in Die schönen Tage von in Every Thing Will Be Fine (2015): Aranjuez sowohl die kinematografische „Die Umgebung des Unfalls, in der Entgrenzung des theatralen Bildraums die Illustratorin Kate mit ihren bei- als auch die Rückwendung der siebten den Söhnen lebt, imitiert in Form und Kunst auf die Urszene des Schauspiels Farbe des Hauses, in Konturen der vor Augen führt. Er blendet die beiden Wirtschaftsgebäude und Gemarkun- poetischen Verfahren des scenic writing, gen der Landschaft Wyeths Malwelt. verkörpert durch den Schriftsteller am Hierdurch erschließt Wenders lücken- Schreibtisch, der auf die Bühne vor sei- los einen malerischen Kosmos“ (S.213). nem Fenster blickt, und des stage pain- Kunstvoll werden von Lenz die sub- ting ein, das die Filmemacher mittels tilen intermedialen Erzählstrategien Ausstattung, Ausleuchtung und Auf- in Wenders’ Farbfilmen beschrieben. nahme betreiben“ (S.234). Dabei steht So liefert er ein Modell, das sich auf wieder das Stilmittel des unmittelbaren andere Filme Wenders’ anzuwenden Erzählens über Orte im Fokus, die Dar- lohnen würde. stellung der Topoi, die ein dem ‚litera- Katharina Rajabi rückt Michelan- rischen Erzählen‘ adäquates Verfahren gelo Antonioni und die Fotografie in bilden, sowie das verzeitlichte Bild. den Fokus, indem sie Palermo Shooting Der sorgfältig edierte Band bietet (2008) mit Roland Barthes liest und uns eine Orientierung vor allem in Wen- auch Alice in den Städten neu erschließt. ders‘ frühen und neueren Arbeiten auf Petra Anders untersucht das Thema höchstem Niveau und liefert präzise disability. Damit beleuchtet sie ein und fundierte Analysen von Einzel- unseres Wissens bislang wenig beach- werken, die zeigen, wie weit Wenders’ tetes Motivfeld in Wenders’ Werk, Schaffen in die Künste ausstrahlt. nämlich die behinderten Figuren, die Dabei erschließen die Autorinnen und sich, wie Anders zeigt, wie ein narrati- Autoren gerade die intermediale Seite ves Netz über Wenders’ Schaffen legen seiner Filme und eröffnen so neue Kon- und deren Sicht- und Erlebnisweisen texte, und so begegnen uns Wenders’ er eine filmpoetische Würde verleiht. Filme in diesem Band auf eine frische Matthias Bauer behandelt schließ- Weise. lich die Themenfelder Szenografie, Bildraum und Schauraum. Er setzt mit Andreas Becker (Tōkyō) 322 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Michael Grisko, Günter Helmes (Hg.): Biographische Filme der DEFA: Zwischen Rekonstruktion, Dramaturgie und Weltanschauung Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020, 226 S., ISBN 9783960233534, EUR 19,- Zu den beliebtesten Filmen zählen gehen. Mit zwei Beiträgen über seit den Anfängen des Kinos Biopics, DEFA-Kinderfilme ist Horst Schäfer ein Filmgenre, das sich sowohl mit vertreten: In seinem Text „Ein Hans Schicksalen berühmter, historischer Röckle in London. Helmut Dziubas oder zeitgeschichtlicher Personen als Karl Marx-Film Mohr und die Raben auch nicht bekannter Persönlichkei- von London (1969)“ setzt sich Schä- ten beschäftigt, deren ungewöhnlichen fer mit inhaltlichen Aspekten der Lebensläufe aus der Sicht von Film- Verfilmung des gleichnamigen Kin- produzent_innen, Autor_innen und derbuches von Vilmos und Ilse Korn Regisseur_innen Vorbildcharakter im auseinander. Zur Resonanz der Pro- Sinne einer gesellschaftlichen Rele- duktion bei den DEFA-Verantwort- vanz haben. Einleitend schildern die lichen und bei der Filmkritik bleiben Herausgeber des Sammelbandes die nach der Lektüre Fragen offen. Hin- grundlegenden Faktoren, welche bio- gegen finden sich in Schäfers Text grafische Filme und deren Bedeutung „Ein Wilhelm Tell aus Hamburg? kennzeichnen; über 40 Biopics produ- Bernhard Stephans Ernst Thälmann- zierte die DEFA von 1946 bis 1993 Film Aus meiner Kindheit (1975)“ auf- (vgl. S.10). Die wichtigste erkenntnis- schlussreiche Zitate zeitgenössischer, leitende Frage der Buchbeiträge lautet, durchweg positiver Filmkritiken. Jana „ob innerhalb bestimmter politisch- Mikota, einzige Autorin des Bandes, gesellschaftlich kontextualisierter, kritisiert in ihrem Beitrag „Weibli- aktueller Zeiträume bestimmte bio- che Radikalität unerwünscht? Carl graphische Profile, bestimmte Hand- Balhaus‘ Nur eine Frau (1958) und lungsfelder und bestimmte vergangene Ralf Kirstens Wo andere schweigen Zeitspannen bevorzugt wurden“ (S.11). (1984)“ am Beispiel der Filme über Im Fokus der neun Autor_innen die in der DDR hochgeehrten Frau- stehen Filme, welche in der Sekun- enrechtlerinnen Louise Otto Peters därliteratur bisher kaum berücksich- (Balhaus, 1958) und Clara Zetkin tigt wurden. Die Auswahl der Werke (Kirsten, 1984) exemplarisch die ermöglicht einen aufschlussreichen Kontinuität stereotyper, ambiva- Einblick in die Produktionsweise lenter Darstellungen von Frauen im der DEFA und die Entwicklung des DEFA-Film: Deren „Bedeutung für DDR-Films, wobei die Autor_innen geschichtlich-gesellschaftliche Ent- der zehn Texte von teils sehr unter- wicklungen“ (S.52) werde in beiden schiedlichen Forschungsfragen aus- Filmen durch die Hervorhebung tra- Fotografie und Film 323 ditioneller Schemata wie der Rolle als an Alexander von Humboldt (1960) Ehefrau und Geliebte stark relativiert. und Siegfried Schönfelders Humboldt In Jürgen Schwiers Text „Sport und Ehrungen (1969) – schildert Grisko Antifaschismus. Werner Seelenbinder den allmählichen „Wandel von der in Helmut Spieß‘ Film Einer von uns Humboldt-Hagiographie zur Staats- (1960)“ geht es um die von der DEFA Hagiographie“ (S.84). Biopics über margina l isier te Spor t themat ik . Künstler zählten zu den wichtigsten Schwier kritisiert insbesondere die DEFA-Produktionen, wenngleich stereotype Zuspitzung der Charak- nicht alle an der Kinokasse erfolgreich tere und der Storyline dieses Biopics waren. Mit einem fast vergessenen über die historische Figur des Rin- Werk, das erheblich von politischen gers Werner Seelenbinder. Mit zwei Vorgaben beeinflusst war, beschäftigt frühen DEFA-Produktionen befasst sich Günter Rinke. Rinkes Analyse sich Guido Altendorfs Beitrag „Wolf- zeigt indessen die komplizierten nar- gang Schleifs Die blauen Schwerter rativen Grundmuster des Films, auch (1949) und Georg C. Klarens Sem- als „Rückblickendes Erzählen“ (S.104) melweis – Retter der Mütter (1950)“: bezeichnet. Der Film sei, so Rinke, Altendorf geht von der These aus, dass kein „bloßes Propagandamachwerk“ diese Filme ästhetisch und inhaltlich (S.112), vielmehr werde der Dichter „nahtlos“ (S.17) an die Tradition der Erich Weinert dem Publikum als in den Jahren von 1939 bis 1944 ent- vielschichtige Persönlichkeit nahege- standenen Biopics der Ufa anknüpften. bracht (vgl. S.113). Günter Helmes‘ Entstanden vor der Formalismus- Beitrag „‚Ich bin kein Bundschuher, Debatte der 1950er Jahre und vor der ich will nicht die Welt anzünden wie „Implementierung der Doktrin des ihr, ich will malen‘. Bernhard Ste- ‚Sozialistischen Realismus‘“ (S.31), phans Jerg Ratgeb-Film Jörg Ratgeb, sollten diese DEFA-Filme auch für Maler (1977)“ ist eine detaillierte ein westdeutsches Publikum attrak- Filmanalyse, welche sich, ausgehend tiv sein (vgl. S.30). Michael Grisko von der ausführlichen Schilderung des geht in seinem Beitrag „Der Sozia- Produktionsprozesses des Films, den lismus braucht kluge Köpfe. Alex- handelnden Personen und den leiten- ander von Humboldt und die DEFA den Motiven des Streifens widmet. von 1960 bis 1989“ vom jeweiligen Als Fazit stellt Helmes fest, dass trotz zeithistorischen Kontext der Film- anschaulicher Darstellung der Biogra- produktionen aus und weist nach, fie des Malers dessen Antagonisten, dass Dokumentar- und Spielf ilme die weltlichen Herrscher und deren „populäre Rezeptionslinien ausbil- Herrschaftsmechanismen, ungenannt den“ (S.71). In seiner vergleichenden und vage bleiben: Analogieschlüsse Analyse von Rainer Simons Spielfilm auf die politische Situation in der Die Besteigung des Chimborazo (1989) DDR hätte sich der Film, so Helmes, mit zwei DEFA Dokumentarfilmen „im (kunst-)politischen Klima der – Karl Grass‘ Kosmos – Erinnerungen DDR der ausgehenden 1970er Jahre 324 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 nicht […] erlauben können“ (S.174). schildernde Leben hinaus den Prota- Im Kontext der Kulturpolitik und gonisten als exemplarisches Beispiel der Büchner-Rezeption der DDR für die gesellschaftlich-politischen analysiert Tim Weber in seinem Verhältnisse seiner Zeit dazustellen“ Artikel einen weiteren Künstlerfilm: (S.222). „Die letzten drei Jahre. Lothar War- Die sehr lesenswerten Beiträge die- nekes Georg Büchner-Film Addio, ses Sammelbandes tragen unbedingt Piccola Mia (1979)“. Weber will zei- zum Wissen und zur Reflexion über die gen, dass Büchner durch den DDR- DEFA und ihre Filme bei. Deutlich Staatsbetrieb ideologisch in Anspruch werden der Wandel der DDR-Film- genommen wurde: Büchner wurde als politik ebenso wie die Schwierigkeit revolutionärer Vordenker der sozia- der Filmschaffenden, eigene Konzepte listischen Idee „eine Identifikations- zu verwirklichen. Gerade der Blick auf figur […] für das Publikum in der unbekanntere Werke zeigt, wie sehr ehemaligen DDR“ (S.200). Vor dem sich unter dem Einfluss der politischen Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklungen auch die ideologischen Fallada-Rezeption in beiden deut- und inhaltlichen Prämissen biografi- schen Staaten entwickelt Michael scher Filme in der DDR wandelten: Töteberg seine Schilderung der Sollten die Protagonisten zunächst schwierigen Genese und Ausführung „eine Vorbildfunktion für die Gegen- eines von der DEFA langgehegten wartsgesellschaft“ (S.16) haben und Planes eines Films über den in der aktuelle Geschichtsbilder bestätigen, DDR nicht unumstrittenen Schrift- so waren gegen Ende der DDR auch steller Hans Fallada, der mit der „Tra- „gebrochene Biographien jenseits des dition des historischen Künstler- und im Sozialismus gerne vorgeführten Dichterfilms im DDR-Kino radikal“ ‚Positive Helden‘ […] leinwandfähig“ (S.220) brach: Die DEFA befreite (ebd.). sich „von der ideologischen Vorgabe, jede Filmbiographie habe über das zu Barbara von der Lühe (Berlin) Fotografie und Film 325 Felix T. Gregor: Die Un/Sichtbarkeit des Kapitals: Zur modernen Ökonomie und ihrer filmischen Repräsentation Bielefeld: transcript 2021, 310 S., ISBN 9783837654899, EUR 49,90 (Zugl. Dissertation an der Universität zu Köln, 2019) In seiner vielschichtigen und erkennt- Mit seiner kenntnisreichen Analyse nisreichen Monografie widmet sich von Kluges neunstündigem Essay- Felix T. Gregor der filmischen Reprä- film Nachrichten aus der ideologischen sentation moderner Ökonomie und Antike – Marx / Eisenstein / Das Kapi- geht der Frage nach, wie unsichtbare tal (2008) argumentiert der Autor für und immaterielle Funktionsweisen des die Aktualisierung fragmentarischer, modernen Kapitalismus im Film sicht- essayistischer Filmformen zur Sicht- bar werden. Diesem komplexen Sach- barmachung überlagerter Dispositive verhalt begegnet Gregor in seiner 2019 des Kapitalismus. abgeschlossenen Dissertation, indem Anhand von vier „Einzeldispo- er Möglichkeiten filmischer Sichtbar- sitiven des Kapitalismus“ (ab S.108) machung des Kapitalismus anhand – „Körper und Subjekt“, „Raum und von detaillierten und aufschlussrei- Zeit“, „Macht und Durchdringung“ chen Analysen zeitgenössischer Filme und „Krise und Exzess“ –, die den (Harun Farocki, Alexander Kluge, zweiten Teil untergliedern, werden Ulrich Seidl, Kiyoshi Kurosawa, unterschiedliche Dimensionen des Johannes Naber, Jennie Livingston) immateriellen Kapitalismus und seiner untersucht, die er mit einer Vielzahl ästhetischen Mittel und Verfahren im soziologischer, medientheoretischer, Film beschrieben. Entlang der Kate- politik- und kulturwissenschaftlicher gorie „Körper und Subjekt“ widmet sich sowie marxistischer Referenzen ver- Gregor der verkörperten Performativi- bindet. tät im flexiblen Kapitalismus. Filme wie Das Konzept des Dispositivs Nicht ohne Risiko (2004) von Farocki, (Michel Foucault, Gilles Deleuze, Paris is burning (1990) von Livingston Giorgio Agamben), mit dessen Hilfe oder Petzolds Yella (2007) verschränkt die „Dispositive des Kapitalismus als Gregor mit Ulrich Bröcklings sozio- (filmisch-)mediale Netze seiner Sicht- logischer Studie Das unternehmerische barkeit“ (S.69) betrachtet werden, ist Selbst: Soziologie einer Subjektivierungs- der zentrale theoretische Rahmen der form (Frankfurt am Main: Suhrkamp, Arbeit. Im ersten Teil diskutiert Gregor 2007), mit Judith Butlers Überlegun- anhand filmhistorischer Beispiele, wie gen zu vergeschlechtlichten Subjekti- Hans Richters Die Inflation (1928), die vierungsprozessen und performativen filmische experimentelle Übersetzung Handlungen in kapitalistischen Gesell- der Auswirkungen des finanzökono- schaften. Wie die Veränderung und mischen Systems auf das Individuum. Auflösung einer finanzkapitalistischen 326 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Arbeitsrealität sich in filmischen Ver- kulant_innen im Film angeboten. fahren der Raum-Zeit-Konstruktion Gregor widmet sich – und das ist niederschlagen, wird anhand von eine beeindruckende Leistung seiner spezifischen Chronotopoi (Michail Arbeit – dem vielschichtigen und teils Bachtin) des modernen Kapitalismus unscharfen Untersuchungsgegen- gefasst: „kapitalistische Distinktion“ stand der filmischen Repräsentation in Wall Street (1987), „Simultanität des Immateriellen und Unsichtba- und Simulation“ in Zeit der Kannibalen ren im modernen Kapitalismus. Lei- (2014) sowie „Reflexion“ in Master of der entstehen durch die Komplexität the Universe (2013). Das Kapitel „Macht und Unübersichtlichkeit des Themas und Durchdringung“ widmet sich kapi- einige methodische Unklarheiten. Dies talistischen Subjektkonstruktionen der betrifft etwa die Herleitung der vier gegenwärtigen Ökonomie und fragt, Untersuchungsfelder, der „Einzeldis- „wie Macht in ihren Durchdringungs- positive des Kapitalismus“, die den momenten medial erfahrbar und sicht- Hauptteil der Arbeit gliedern. bar gemacht werden kann“ (S.196). Mit Neben aktuellen Publikationen Bezugnahme auf Foucaults Machtver- wie Sarah Attfields Class on Screen: The ständnis werden Farockis Leben – BRD Global Working Class in Contemporary (1990) sowie Filme von Seidl analysiert. Cinema (London: Palgrave, 2020) oder Im letzten Kapitel „Krise und Exzess“ Francesco Sticchis Mapping Precarity wird Anahita Razmis Video-Instal- in Contemporary Cinema and Television lation Iranian Beauty (2013) als eine (Berlin: Palgrave, 2021) ist Gregors Sichtbarmachung der Verschwendung facettenreiche Monografie mit prä- und Entwertung von Geld gelesen und zisen, spannenden Filmanalysen ein die Frage aufgeworfen, inwieweit Luxus wichtiger und wegweisender Beitrag als ein Akt des Widerstands verstanden zum brisanten Untersuchungsfeld der werden kann. filmischen Verhandlung von Neolibe- Die Bandbreite der untersuch- ralisierungs- und Flexibilisierungspro- ten Filme hätte ebenso eine Lesart zessen durch die Prekarisierung von zu Symbolen des Kapitalismus wie Arbeit und Leben. Geld, Banken, Börsen, modernen Unternehmensangestellten oder Spe- Hanna Prenzel (Potsdam) Fotografie und Film 327 Wolfgang Hagen: Neudasein: Essays zur sozialen Epistemologie der Smartphone-Fotografie Berlin: Kulturverlag Kadmos 2021, 186 S., ISBN 9783865992314, EUR 19,90 Es gibt Bücher, bei denen der Titel Ernst Kapp, Georges Canguilhem und Freude auslöst, sie zu lesen. Neudasein: Martin Heidegger versteht und dessen Essays zur sozialen Epistemologie der Fotografie er als „widerstandslose[s] Smartphone-Fotografie von Wolfgang Versprechen auf Präsenz“ (S.57) bei Hagen ist so ein Titel. Doch dann anästhetischer Qualität (vgl. S.122ff.) schreckt der erste Eindruck des Inhalts- und Selbst-Referenzialität auffasst: verzeichnisses ziemlich ab, mit diesem „‚Fotografieren‘ mit dem Smartphone Buch wirklich Zeit verbringen zu wol- ist ein wichtiger ökonomischer und kul- len: Es erwarten die Lesenden teilweise tureller Treiber seines techno-sozialen fünf Unterkapitel pro Doppelseite (z.B. Ökosystems“ (S.123). S.84f.), Kapitel-Nummerierungen Vor allem Hagens Exkurse zu verfügen dementsprechend über vier Kapps These der „Organprojectio- Hierarchieebenen, und ein Sach- und nen“ ([sic]; S.71) und deren Rezeption Personenregister fehlt leider, das helfen etwa im Spiritismus (vgl. S.77f.) oder könnte, den Überblick zu behalten – die zu Dürers Selbstbildnis als anthropo- Pedanterie der Unterkapitel samt teils metrischer Vorfahr des Digital-Selfies kryptischer Überschriften (u.a. „Keine („Das Dürer-Selfie“, S.151ff.) lesen Katzenkiste“, S.29; „Kein ‚Zeug‘, das sich organisch: Die Lesenden spüren, verschleißen kann“, S.91; „Es tippt dass diese Themen dem Autor Spaß mich“, S.121) tragen nicht zum Lese- machen und am Herzen liegen. Hin- fluss bei. gegen sind Passagen, die der titelge- In sechs Kapiteln widmet sich benden Smartphone-Fotografie und Hagen der Genese des Smartphones zur hier vor allem Selfies gewidmet sind, digitalen Kamera: Von der Entwicklung von einem kulturpessimistischen Ton der Quantenphysik „als Voraussetzung durchzogen, der – zusammengefasst für alle heutigen Silizium-Foto-Sen- – digitale Fotografie marginalisiert, soren“ (S.15, S.19ff.) über die „selbst- die Fotografierenden abwertet und der technologische Ökosensorik des Idee folgt, die Fotografierenden foto- Smartphones“ (S.16, S.95ff.) bis zum grafierten nur, um sich ihrer eigenen Selfie als Spiegel Albrecht Dürers (vgl. Präsenz zu versichern (vgl. u.a. S.124). S.17, S.143ff.) schlägt der Lüneburger Auch wirken Sprachspiele wie „Zwi- Professor für Medienwissenschaft (wis- schengesicht“ (S.115) statt Interface, senschafts-)historische und (technik-) „Zelltelefon“ beziehungsweise „Zell- philosophische Bögen. Dabei überwiegt fon“ (S.99) für das englische cell phone, eine negativ-kritische Haltung gegen- „Selbstgesicht“ für Selfie oder „Dop- über dem Smartphone, das der Autor pelkreuz“ (S.165) statt hashtag seltsam als Organ-Projektion in Anlehnung an bemüht – um nicht zu sagen: altbacken 328 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 – statt locker-ironisch: Selfie und Hash- Insgesamt hinterlässt Neudasein tag sind längst im Duden angekommen einen ambivalenten Leseeindruck. – Zwischengesicht und Selbstgesicht Einerseits bietet es eine beeindruckende nicht: vermutlich aus guten Gründen. Vielfalt theoretischer, philosophischer, Das Doppelkreuz übersetzt der Duden wissenschafts- und technikhistorischer mit Rautezeichen, primär allerdings Positionen, andererseits bleibt man als „Versetzungszeichen zur Erhö- etwas ratlos zurück: Kulturpessimismus hung eines Tones um zwei Halbtöne“ schön und gut, darauf bauen ja ganze (www.duden.de). Aber was zählt schon Verlagsprogramme auf – aber leider der heutige Duden – Hagen findet im bietet Hagen darüber hinaus keine Grimm‘schen Wörterbuch das ‚Selbst- positiven Anknüpfungspunkte an, wie gesicht‘ und befindet es als „eine sehr beispielsweise Katrin Tiidenberg, die treffende deutsche Übersetzung von Selfies als Mittel des visuellen Empo- Selfie“ (S.144) – denn Selfie, „so könnte werments etwa bei Frauen interpretiert man mutmaßen, sei eine verschliffene (vgl. Rezension zu Katrin Tiidenberg: Wortfügung aus den beiden engli- Selfies: Why We Love (and Hate) Them, schen Worten Self und Face“ (S.144). in: MEDIENwissenschaft: Rezensionen, Nur stimmt das gar nicht, wie Hagen 3/2019, S.329f.). Grundsätzlich fehlt letztlich selbst zugibt: Das Wort selfface Hagens Werk der Blick in jüngere findet er zwar nicht im Oxford English internationale Literatur zu Selfies, und Dictionary, die Nutzung des Wortes letztlich muss man auch konstatieren, Selbstgesicht für Selfie jedoch sehr pas- dass auf internationalen Fachtagungen send, als „Wort für die Visionen […], das Selfie schon längst nicht mehr „the die man von sich selbst haben kann“ latest craze“ ist. Liegt dieser Eindruck (S.144). Mehr noch: „Smartphone- daran, dass die Kapitel eins, drei und Fotos sind so gesehen immer ‚Selbsties‘ vier überarbeitete Versionen früherer [sic!], weil sie Teil einer selbstbezüg- Veröffentlichungen – zwischen 2002 lichen Diskurspraxis sind“ (S.147). und 2019 –, und nur Kapitel zwei und Obwohl Hagen an keiner Stelle Gün- fünf als „Originalarbeiten für diesen ther Anders erwähnt, meint man doch Band“ (S.186) in der editorischen Notiz dessen Vorstellung des Menschen als ausgewiesen sind? Oder ist das dieses „Hofzwerg des eigenen Maschinen- Altdasein – eine der analogen Welt ver- parks“ (Die Antiquiertheit des Menschen, haftete Haltung, aus der dieses Buch Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der geschrieben wurde? zweiten industriellen Revolution. Mün- chen: C.H. Beck Verlag 1956, S.25) Evelyn Runge (Köln) zwischen den Zeilen zu erkennen. Fotografie und Film 329 Barbara Hales, Valerie Weinstein (Hg.): Rethinking Jewishness in Weimar Cinema New York: Berghahn 2021, 355 S., ISBN 9781780208726, USD 145,- Waren Siegfried Kracauer und Lotte sches Konstrukt, mit anschließender Eisner, beide assimilierte Juden, in Coda und Bibliografie. ihren Standardwerken nicht gewillt, Die ersten zwei Essays von Maya jüdische Filmemacher_innen zu iden- Barzilat und Margit Fröhlich behan- tifizieren, vielleicht weil die Nazis deln die Typisierung der jüdischen diese Identifizierung zur antisemi- Filmschaupieler Henrik Galeen und tischen Ausgrenzung instrumenta- Alexander Granach im deutschen lisierten, versucht seit einigen Jahren Film, wobei der Beweis von Barzilat die Filmwissenschaft, das Jüdische im betreffend Galeens Image auf einer deutschen Film Weimars zu definieren, einzigen Rolle in Der Golem (1913) unter anderem Ofer Ashkenazis Weimar beruht. Kelly Wallach stellt anhand Film and Modern Jewish Identity (Lon- der Biografie Maria Orskas fest, jüdi- don: Palgrave, 2012). Ashkenazi stellte sche Schauspielerinnen würden eher die These auf, dass jüdische Regisseur_ als Vamps typisiert, während Jüdinnen innen ihre Figuren einer doppelten meistens von dunkelhaarigen Nicht- Kodierung unterzogen, um jüdischen Jüdinnen verkörpert wurden; auch Zuschauer_innen zu erlauben, die in hier muss die Autorin sich auf lediglich den Filmen behandelten Diskurse als einen erhaltenen Film beschränken. In ‚jüdisch‘zu verstehen, während nicht- den letzten zwei Essays des ersten Teils jüdische Zuschauer_innen andere The- werden die Fälle des offen jüdischen men wahrnahmen. Chargenspielers Siegfried Arno und Ashkenazi wird wiederholt in der des verdeckten Filmpublizisten A lfred vorliegenden Anthologie von Barbara Rosental, genannt Aros, von Mila Hales und Valerie Weinstein Rethin- Ganeva beziehungsweise Ervin Mala- king Jewishness in Weimar Cinema kaj behandelt. zitiert. Der Einführung von Hales Diese Dichotomie zwischen offener und Weinstein folgend, erlaubt die und verschleierter jüdischer Sichtbar- Vorstellung von jewish difference eine keit strukturiert auch den zweiten Teil, Kodierung von Personen und Dar- der mit Philipp Stiasnys Analyse von stellungen als jüdisch oder nicht (vgl. E.A. Duponts Zwei Welten (1930) con- S.5). Die Herausgeberinnen struktu- tra Wilhelm Thieles Die Drei von der rieren die 15 Essays in ihrem Band Tankstelle (1930) beginnt. Valerie Wein- in drei Teile: 1) Jüdische Sichtbarkeit stein stellt das Plädoyer für Schwulen- auf und hinter der Leinwand, 2) Die rechte in Anders als die Anderen (1919) Kodierung und Entschlüsselung der in Zusammenhang mit den Rechten jüdischen Unterschiedlichkeit (diffe- jüdischer Bürger_innen. Lisa Silver- rence), 3) Das Jüdische als antisemiti- man liest G.W. Pabsts Die freudlose 330 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Gasse (1925) als einen Film ohne offene Dagegen geht es in den folgenden jüdische Personen, obwohl das Pelz- Essays von Christian Rogowski und tragen der weiblichen Figuren Regina André-Benjamin Seyfert zu Ludwig Rosenow und Lia Leid als jüdisch mar- Bergers Der Meister von Nürnberg kiert wird. Einer doppelten Kodierung (1927) beziehungsweise zu Robert unterliegen auch die Verwechslungsko- Siodmaks Brennendes Geheimnis (1933) mödien der Schauspielerin Franziska um antisemitische Reaktionen der Gaal, deren Filme zum Teil noch im Kritik einerseits und anderseits um Dritten Reich gezeigt worden sind, die den Versuch der jüdischen Filmema- aber immer gesellschaftliche Außensei- cher, Antisemitismus zu umgehen, terinnen spielte. indem man jüdische Zeichen entfernt Problematisch ist der dritte Teil. und nicht-jüdische Schauspieler_innen Hales geht der von antisemitischen einsetzt. Zum Schluss vergleicht Ash- Kreisen verbreiteten Unwahrheit nach, kenazi zwei Fassungen von Die Geier- die Juden würden bewusst Syphilis im wally (1920, 1940) und Peter Voss, der ‚Volkskörper‘ verbreiten, und bespricht Millionendieb (1931, 1944), um aufzu- verschiedene medizinische Filme, die zeigen, wie das Jüdische in den Nazifil- Syphilis bekämpften. Da sie aber keinen men gesäubert wurde. Aber ist Duponts direkten Beweis für Antisemitismus in Peter Voss ein Abenteuerfilm oder doch den Filmen findet, bedient sie sich einer nicht eher eine musikalische Posse, die, Kreislogik: „Syphilis was historically angelehnt an die Struktur des jüdischen coded as Jewish, particularly by antise- Kabarets, wenig mit anderen Fassungen mites. Therefore, antisyphilis films, even gemein haben? In der Coda beschreibt when they do not explicitly refer to Jews, Cynthia Walk zwei von ihr mitfinan- resonate with those historical discour- zierte Filmrestaurierungen jüdischer ses and reenforce antisemitic notions“ Filme. (S.229). Brook Henkel bespricht den Dieses Buch ist wichtig aufgrund Dokumentarfilm von Hanns Walter der Fragen, die es stellt, doch muss man Kornblum Die Grundlagen der Einstein- fragen, ob nicht einige Autor_innen schen Relativitätstheorie (1922), der von ihre Hand überreizt haben? Wenn antisemitischen Filmkritiker_innen Antisemit_innen einen Film angreifen, heftig angegriffen wurde, wirft dem liegt die Schuld dann bei den Opfern? Film aber vor, er hätte weder Einsteins Bekenntnis zum Judentum erwähnt, Jan-Christopher Horak (Pasadena) noch Antisemitismus angeprangert. Fotografie und Film 331 Andreas Hamburger, Gerhard Schneider, Peter Bär, Timo Storck, Karin Nitzschmann (Hg.): Jean-Luc Godard: Denkende Bilder Gießen: Psychosozial-Verlag 2020 (Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie, Bd.17), 148 S., ISBN 9783837930115, EUR 24,90 Im Dezember 2020 ist Jean-Luc die Filme Godards der 1990er/2000er Godard 90 Jahre alt geworden. Passend Jahre nahezu keinen Raum ein. Dafür dazu ist auch das Interesse an Person erhalten zumindest die jüngsten Lang- und Werk neu entflammt. Neben Bert filme Le livre d‘ image (2018) und Adieu Rebhandls Biografie Jean-Luc Godard: au langage (2014) je ein Kapitel: Joa- Der permanente Revolutionär (Mün- chim F. Danckwart präsentiert etwa chen: Hanser, 2020) ist hierzulande Godards letzte Arbeit auf adäquate noch Band 17 aus der Reihe „Im Dia- Weise als Erfahrungsraum jenseits des log: Psychoanalyse und Filmtheorie“ Intellekts, wobei das Filmpublikum als anzuführen, in dem elf Autor_innen mitwirkender Teil einer Performance mit unterschiedlichen Schwerpunkten erscheint. durch Godards Schaffen führen: Nach Hatte sich der von Fabienne Liptay der Einleitung Andreas Hamburgers und Thomas Koebner herausgegebene führt zunächst Wilfried Reichart in Band Jean-Luc Godard (München: edi- seinem Aufsatz „Au contraire – Zu tion text + kritik, 2010) aus der Reihe Jean-Luc Godard“ entlang der bio- „Film-Konzepte“ dafür eingesetzt, grafischen Daten prägnant durch alle vor allem auch randständige Arbei- Schaffensphasen Godards, wobei viel ten Godards in den Blick zu nehmen, Faszination und wenig Distanz anzu- scheint Jean-Luc Godard: Denkende treffen ist. Danach folgen in zehn Bilder mit vergleichsweise traditionel- Kapiteln Analysen einzelner Filme ler Auswahl nun eher für Einsteiger_ oder überschaubarer Schaffensperio- innen und Neulinge geeignet, bietet den, wobei meist bestimmte Motive, Godard-Erfahrenen hingegen wenig Themen oder Strukturen ins Zentrum Neues. Das gilt auch für manch zen- gerückt werden. Verlegte sich schon trale Thesen: Gerhard Schneider stellt Rebhandl auf den häufig gewählten etwa hinlänglich bekannte Störungen, Ansatz, schwerpunktmäßig beson- Brüche und Diskontinuitäten in À ders auf das quasi kanonisierte Werk bout de souffle heraus – findet aber mit Godards vor 1968 einzugehen, so gilt psychoanalytischem Blick in Jacques diese Fokussierung auf die Nouvelle- Lacans Spiegelstadium einen span- Vague-Filme in diesem Band umso nenden Interpretationsansatz, mit dem mehr: Sechs der zehn Texte konzent- Reflektiertheit des Films und Reak- rieren sich auf die Filme bis 1967 – zwei tion des Publikums präzise analysiert davon auf À bout de souffle (1960) –, und werden. Und Dietrich Stern nimmt in den folgenden vier Texten nehmen den vielbeachteten Musikeinsatz zum 332 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Anlass, über den ähnlichen Prozess textualisierungen, Leitmotive und von Einfühlung und Enttäuschung zu Strukturen, etwa zwischen Bande sprechen, kann dabei aber auch den à part (1964) und Masculin, féminin Zitat-Charakter der Musik nachvoll- (1966), heraus, die mit dem Œuvre gut ziehbar herausarbeiten. Auch Andreas vertraute Leser_innen bereits kennen Jacke geht auf die Diskontinuität – in dürften – wobei Gerhard Middings Alphaville (1965) – ein, um damit auch Verortung des späten Godards in der ein teils problematisches Frauenbild Filmlandschaft der 1980er Jahre eine Godards anzusprechen, mit dem eine enorme Bandbreite knapp und treffend Fetischisierung zugleich entlarvt wie abbildet –, bringen überhaupt die Texte erfüllt wird. Eine interessante Posi- mit psychoanalytischer Grundierung tion bezieht im Zusammenhang mit originelle Perspektiven ein. Dennoch Godards häufiger kritisierten Frauen- werfen die dort teils verhandelten sub- bildern Katharina Leube-Sonnleitner, jektiven Seherfahrungen die Frage auf, die in ihrer Untersuchung von Le mépris wie verallgemeinerbar sie letztlich sind: (1963), in dem sie eine potenzielle Gerhard Schneider schneidet diesen „Metapher der psychoanalytischen Punkt an, wenn er etwa von „meine[n] Situation“ (S.64) gegeben sieht, einen inneren Jump Cuts als Zuschauer – wie „empathisch[en] und liebevoll[en]“ ich hoffe auch als ‚verallgemeinerbarer‘ (S.57) Umgang mit der von Brigitte Zuschauer“ (S.53) spricht. Bardot verkörperten Figur ausmacht: Insofern bekannte Streitfragen wie Unter Rückgriff auf das aktive und das Frauenbild differenziert aufgegrif- passive Begehren von Zuschauerinnen, fen, psychoanalytische Perspektiven wie es von der Filmwissenschaftlerin gewählt und jüngste Filme Godards Teresa de Lauretis angenommen wird trotz traditioneller Schwerpunktset- (vgl. Alice Doesn’t: Feminism, Semiotics, zung eingebunden werden, ist der Band Cinema. Bloomington: Indiana UP, insgesamt trotz Ausarbeitung schon 1984), stellt sie eine Alternative zur vielfach hervorgehobener Eigenarten Annahme eines männlichen Blicks à der Filme auch für erfahrene Godard- la Laura Mulvey vor. Exegeten durchaus von Interesse. Arbeiten die eher filmtheoretischen Texte meist Entwicklungslinien, Kon- Christian Kaiser (Hannover) Fotografie und Film 333 Erin Franziska Högerle: Asian American Filmfestivals: Frames, Locations, and Performances of Memory Berlin/Boston: de Gruyter 2021 (Media and Cultural Memory, Bd.28), 336 S., ISBN 9783110693546, EUR 89,75 (Zugl. Dissertation an Goethe-Universität Frankfurt, 2020) Die kulturwissenschaftliche Gedächt- Selbstdarstellung und Präsentation des nisforschung befindet sich derzeit in Festivals, in Print-Publikationen oder ihrem medial turn, einem sich langsam Online-Auftritten. vollziehenden Paradigmenwechsel, der Högerles Arbeit beruht auf drei Prä- die mediale Verfasstheit des kulturellen missen: der medialen Verfasstheit von Gedächtnisses und seine Medienspezifik Gedächtnis, seiner Transkulturalität anerkennt. Dazu gehört nicht nur, die und seinen gesellschaftlichen Auswir- Materialität von Medien zu berücksich- kungen (seinem social life in Anlehnung tigen, sondern ihren industriellen Kon- an Konzepte von Mikhail Bachtin und text aus Produktion, Distribution und Arjun Appadurai): Kulturelles Gedächt- Rezeption. Seit einigen Jahren kristal- nis bedarf der ständigen Zirkulation lisiert sich mit den Production Studies und Rezeption. Filmfestivals geraten in innerhalb der Medienwissenschaft ein diesem Ansatz zu Orten, an denen sich neues Forschungsfeld der ,Distribution kulturelles Gedächtnis ausformt bezie- Studies‘ heraus, das sich der Zirkulation hungsweise an denen es zirkuliert. Die von Medien widmet. Da Filmfestivals Arbeit nimmt damit Filmfestivals als zentrale Knotenpunkte der Filmzirku- Erinnerungsorte in den Blick und unter- lation darstellen, verortet sich die Arbeit sucht diese bezüglich ihrer Funktion für von Erin Högerle somit an einer hoch- das kulturelle Gedächtnis im Spannungs- gradig aktuellen, relevanten Schnittstelle feld von Lokalisierung und Mobilität. zwischen der Gedächtnisforschung und Festivals, wie die in der Arbeit der Film- beziehungsweise Medien- untersuchten Fallbeispiele des San wissenschaft. Die vorliegende Arbeit Diego Asian Film Festivals (SDAFF) untersucht asiatisch-amerikanische und des CAAMFests in San Francisco, Filmfestivals in den USA als Arena für sind memory-Aktivisten, die einen Bei- die Mediatisierung, Konstruktion und trag zur performativen Herstellung von Zirkulation von kulturellem Gedächtnis. Gedächtnis leisten. Im Falle von iden- Dies erfolgt im Zuge der Programmie- titätsbasierten Filmfestivals wie diesen rung der Filme, in Themenreihen, der geschieht dies nicht zuletzt mit dem kuratorischen Rahmung, rahmenden Ziel des community building und des Presseveranstaltungen oder Podiums- empowerment, wie beispielsweise – wie diskussionen, in der Wahl der Festi- in der vorliegenden Arbeit gezeigt wird val-Schauplätze und deren Interaktion – der Asian American Community. Dabei mit den dort gezeigten Filmen, in der werden die Beispiele zu theoretischen 334 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Objekten, anhand derer Högerle reflek- dessen Eigendarstellungen und Promo- tiert und prägnant die Grundlagen ihrer material (Kataloge, Presseerklärungen, Argumentation entwickelt. Ethnische Flyer) als Mittel der Selbstdarstellung. Minderheiten-Festivals werden zu Orten Dieser Ansatz macht deutlich, wie das geteilten Gedächtnisses um Migration Festival selbst den Versuch einer Rah- und das Leben in der Diaspora. So zeigt mung und Steuerung von Bedeutungs- die Arbeit überzeugend die Rolle von produktion unternimmt. Wenn auch Filmfestivals als Schnittstellen für die eine solche Rahmung und Lenkung Ausformung von lokalem, nationalem nie komplett gelingt, so prägt sie doch und transnationalem Gedächtnis. entscheidend die dominante Lesart des In ihrer Argumentation verknüpft Festivals. Auch hier ist es zu bewun- Högerle Erkenntnisse der New Film His- dern, wie reflektiert Högerle mit den tory mit denen der medialen Gedächt- von ihr gewählten methodologischen nisforschung. Indem sie den industriellen Ansätzen umgeht. Auch die Wahl der Kontext von Produktion, Distribution Fallstudien überzeugt, waren bislang und Rezeption in ihre Überlegungen mit Asian American Filmfestivals im Kon- einbezieht, gelingt es ihr, die methodi- text identitätsbasierter Filmfestivals schen Begrenzungen rein textzentrierter weitgehend unerforscht. Analysen (textual analysis) zu überwinden. Die vorliegende Dissertation be sticht Mit ihrem Verständnis von Festi- durch ihren sicheren, souveränen valorten als mise-en-scène der Gedächt- Umgang mit Terminologien und Kon- nisproduktion und als Arenen ihrer zepten. Högerle demonstriert umfas- Aushandlung entwickelt Högerle sende Kenntnisse der einschlägigen eigenständig ein Modell, das sich für kulturellen Gedächtnisforschung die Filmfestivalforschung zukünftig ebenso wie der filmwissenschaftli- nutzbar machen lässt. So bringt sie chen Forschung, insbesondere neuerer nicht nur Forschungserkenntnisse aus Trends in der Filmfestivalforschung. So der Filmwissenschaft und der kultu- besteht die Pionierleistung der Disser- rellen Gedächtnisforschung zusammen, tation in der souveränen Neuordnung sie ergänzt diese um ihre eigene Feld- und Aneignung vorhandener Positio- forschung, die sie 2016 beim SDAFF nen in der Wissenschaftsliteratur, die und 2017 beim CAAMFest durchge- Högerle für ihre Fragestellung nutz- führt hat. bar macht. Diese Arbeit legt nicht nur Mit ihrer prägnanten Analyse der einen bedeutenden Grundstein für die Selbstdarstellung von Festivals und zukünftige Filmfestivalforschung, sie ihrer Rhetorik vermag die Arbeit eine legt auch überzeugend dar, welch ent- entscheidende Forschungslücke zu scheidende Rolle die Zirkulation und schließen. Hier nimmt Högerle eine Distribution für die Konstruktion unse- sinnvolle Abgrenzung vor. So unter- res audiovisuellen Gedächtnisses spielt. sucht sie nicht die Rezeption des Fes- tivals in der Presse, sondern analysiert Dagmar Brunow (Växjö) Fotografie und Film 335 Christina Irrgang: Hitlers Fotograf: Heinrich Hoffmann und die nationalsozialistische Bildpolitik Bielefeld: transcript 2020, 246 S., ISBN 9783837653052, EUR 39,99 (Zugl. Dissertation an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, 2018) Christina Irrgangs Dissertation Hoff- Kontextualisierung missverstanden manns Bildindustrie: Eine medien- beziehungsweise ihrer ursprünglichen analytische Beobachtung gibt in ihrer Intention entsprechend rezipiert wer- veröffentlichten Form Auskunft über den. Nichtsdestotrotz beobachtet Irr- den Fotografen Heinrich Hoffmann, gang in ihrer ‚Revision‘, dass einzelne der es in der Zeit des faschistischen Propaganda-Fotos, sowie Fotoreihen Terrors zu unglaublichem Reichtum Hoffmanns, immer wieder in Ausstel- brachte, indem er durch einen Exklu- lungen und historischen Buchpublika- sivvertrag als Adolf Hitlers Leibfoto- tionen als Beweismaterial herangezogen graf in zahlreichen Buchpublikationen werden. Steht das fotografische Bild den Mythos Hitler propagierte und im Mittelpunkt ihrer Analyse, so geht damit die Gewaltherrschaft zwölf Jahre es in Hitlers Fotograf auch darum, die lang begeistert unterstützte. Der Name „mediale Industrialisierung des seriellen Heinrich Hoffmann war schon vor der Umgangs mit Bildern“ (S.30) heraus- Geschichtsschreibung zum National- zustellen. sozialismus in engen Zusammenhang Im ersten Kapitel „Zur Popularität mit Hitler gebracht worden, über- des Mediums Fotografie im Kontext raschend ist dennoch die bloße Zahl von Avantgarde und Nationalsozia- der Hoffmann‘schen Publikationen, lismus“ fasst Irrgang die Entwicke- ihre Verbreitung und ihr Nachleben lung der fotografischen Avantgarde in einem angeblich demokratisierten und des Bildjournalismus in der spä- Nachkriegsdeutschland. ten Weimarer Republik zusammen. Irrgang beginnt ihre Analyse mit Dabei stützt sie sich auf die theoreti- einem Politikum. Im Jahr 1994 wird schen Erkenntnisse von unter anderem die Wander-Ausstellung Hoffmann & László Moholy-Nagy, der ein neues Hitler – Fotografie als Medium des Füh- technologisches Sehen mit der Kamera rer-Mythos nach ihrer Eröffnung im und den Gebrauch der Bildserie, um Münchner Stadtmuseum von Berlin Bildnarrative zu erzeugen, thema- und Saarbrücken abgesagt, trotz der tisierte. Das Aufkommen von Foto- durchaus kritischen Sicht des Kurators archiven als wirtschaftlich effizien te Rudolf Herz. Es lag die Befürchtung Medienverteilungssysteme kommt vor, die Bilder Hoffmanns hätten wenig dem angeblich inhärenten Wahrheits- von ihrer faschistoiden Aussagekraft charakter des fotografischen Bildes verloren und könnten ohne ausgiebige Hoffmanns zu Gute, um „[d]as Volk 336 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 durch sich selbst visuell anzusprechen Gestaltungsmittel seines Führerbildes und bilddidaktisch in die nationalso- diskutiert: „Er rückte das Gesicht, die zialistische Ideologie einzubeziehen“ Hände und die Augen beziehungsweise (S.66). den Blick als konstitutive Bildkatego- In dem 100 Seiten umfassenden rien in den Fokus“ (S.95). Wie im Film zweiten Kapitel „Heinrich Hoffmanns komme es zu einer genauen Regie der Unternehmen als Bildindustrie“ wer- Blicke in den Fotos zwischen Hitler, den die Hoffmann‘schen Fotobände den Sehenden und den Betrachter_innen, chronologisch seziert und auf ihren die den Rezipient_innen durch das Bild ideologischen Inhalt hin untersucht, und von Bild zu Bild führe und eine dabei werden nicht nur Veränderungen intime Beziehung etabliere, welche zum in der Bildgestaltung Hitlers von Band Handeln des Objekts im Sinne des Sub- zu Band analysiert, sondern auch von jekts (Hitler) animiere. einer Auflage zur anderen desselben Im letzten kurzen Teil ihres Bandes Bandes. So werden Titel wie Hitler „Nachbildung“ beschreibt Irrgang, wie wie ihn keiner kennt (1933) ebenso wie Hitlerbilder Hoffmanns ungehindert Jugend um Hitler (1935), Hitler in Ita- im demokratischen Nachkriegsdeutsch- lien (1938) und andere, durch ein close land kursierten. Dabei unterscheidet sie reading verschiedener Auflagen auf zwischen faktischem, illustrativem und ihr Führerbild hin untersucht, wobei affirmativem Gebrauch. Während der es der Autorin weniger um ästhetische faktische Gebrauch die Fotos Hoff- Fragen als vielmehr um einen Ver- manns als Beweismaterial instrumenta- gleich der heroisierenden Inhalte mit lisiert, zum Beispiel bei den Nürnberger der furchtbaren Wirklichkeit des Drit- Kriegsverbrecher-Prozessen, werden ten Reiches geht. Als einziger auto- die Fotos in den Geschichtsbüchern risierter Anbieter von fotografischen als Illustrationen gebraucht, und in Führerporträts, der völlig unabhängig rechtsgerichteten Verfälschungen der vom Goebbels‘schen Propagandami- Geschichte affirmativ eingesetzt. Mit nisterium agiert, kann Hoffmann über anderen Worten, die Macht der Hit- die Zeit sein kleines Fotounternehmen lerbilder Hoffmanns bleibt bis heute in einen Betrieb mit eigenem Verlag, unvermindert. Bildagentur und hunderten von Mitar- Dies ist ein wichtiges Buch für beiter_innen expandieren; bis 1945 gab Fotohistoriker_innen und für Histo- Hoffmann mehr als 60 Bildbände her- riker_innen des Dritten Reiches, auch aus, die fast alle extrem hohe Auflagen wenn die Beweisführung mit Internet- erlangten und Hoffmann ein persön- Anhang etwas umständlich ist und die liches Vermögen von neun Millionen Autorin sich an manchen Stellen im Reichsmark bescherten (vgl. S.88). Dickicht der verschiedenen Auflagen Eine wichtige ästhetische Erkenntnis verliert. zur Wirksamkeit des Hoffmann‘schen Schaffens liefert Irrgang, wenn sie die Jan-Christopher Horak (Pasadena) Fotografie und Film 337 Christian Keßler: Gelb wie die Nacht: Das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute Berlin: Martin Schmitz 2020, 352 S., ISBN 9783927795884, EUR 35,- Der Begriff giallo (ital. gelb) geht auf tive Bewertung der Filme vor. Dies die markanten gelben Umschläge von trägt zu einem kurzweiligen Lesever- Kriminalromanen zurück, die von gnügen bei, das an seine vorangegan- dem Mailänder Verlagshaus Monda- genen Veröffentlichungen anschließt. dori erstmals 1929 publiziert wurden. Gleichwohl schmälert dies nicht den Inzwischen ist dieser Begriff jedoch Wert dieser umfassend recherchierten untrennbar mit einem Genre des vor- und reich bebilderten Zusammenstel- nehmlich italienischen Kinos verbun- lung. den, das in den 1960er Jahren entstand In fünf Kapiteln, die meist ein Jahr- und in den 1970ern mit einer Fülle zehnt umfassen, stellt Keßler aus einer an Produktionen seinen Höhepunkt filmhistorischen Perspektive den giallo hatte. Diesem Genre hat der Filmjour- vor. Begonnen wird mit Mario Bavas nalist Christian Keßler nun mit Gelb La ragazza che sapeva troppo (1963), der wie die Nacht ein Nachschlagewerk zusammen mit Sei donne per l ’assassino mit 253 Filmtiteln gewidmet. Keßler (1964) maßgeblich zur Konzeption zufolge steht der giallo für „jene typisch des giallos beitrug. Dass eindeutige italie nische Spielart des Thrillerkinos, Abgrenzungen zu weiteren Genres die sich von der klassischen angelsäch- nicht immer möglich sind, stellt Keßler sischen dadurch unterscheidet, dass sie unter anderem an Michelangelo Anto- nicht der Ratio das Wort redet (oder nionis Blow-Up (1966) dar. dem, was für Ratio ausgegeben wird), Der Hochphase des giallos von sondern der Irratio, die der Natur des 1970-1979 wird mit 129 vorgestellten Menschen ebenso zu eigen ist wie Filmen besondere Aufmerksamkeit der tägliche Harndrang“ (S.5). Eine gewidmet. Während die Filmproduk- akademische Aufbereitung des giallos tionen in den folgenden Jahrzehnten im Genrediskurs oder als filone, wie abnahmen und hier mitunter einer kri- dies exemplarisch in der Dissertation tischeren Bewertung unterzogen wer- Formelkino: Medienwissenschaftliche den, finden sich unter den aktuellen Perspektiven auf die Genre-Theorie und Titeln auch drei gialli, die außerhalb den Giallo (Bielefeld: transcript, 2014) Italiens produziert wurden. Der hier- von Peter Scheinpflug erfolgte, bleibt für bereits von Marcus Stiglegger vor- an dieser Stelle aus, ist jedoch auch geschlagene Begriff des ‚Global-Giallo‘ nicht die Intention dieser Monogra- (vgl. Grenzüberschreitungen: Exkursio- fie. Keßler versammelt Hinweise zur nen in den Abgrund der Filmgeschichte. Produktion und Distribution, erzählt Berlin: Martin Schmitz, 2018, S.139), vereinzelt persönliche Anekdoten und zu welchem auch frühere Produktio- nimmt dabei wiederholt eine subjek- nen wie Brian de Palmas Dressed to Kill 338 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 (1980) zählen, bleibt indessen unbe- (fehlenden) Verfügbarkeit ergiebig; viele rücksichtigt. der hier genannten Filme sind zwar Der Aufbau des Nachschlagewerks bereits auf DVD oder Blu-ray verfüg- ist übersichtlich gestaltet: Jeder bespro- bar, einige warten allerdings noch auf chene Film wird auf ein bis zwei Seiten eine (Wieder-)Veröffentlichung. Dass vorgestellt und mit mindestens einer diese bei einigen der hier besprochenen Abbildung versehen. Hier handelt es Titel zudem durch die Indizierung oder sich vornehmlich um originalsprachige Beschlagnahmung weiterhin erschwert Filmplakate, die regelmäßig durch wird, obwohl es sich beispielsweise bei Aushangfotos und DVD-Cover ergänzt Tenebrae (1982) „um ein Meisterwerk, werden. Neben der Nennung des Origi- um einen von Argentos besten Filmen“ naltitels werden (sofern vorhanden) die (S.244) handelt, bleibt diskussionswür- deutschen Verleihtitel, der Name des dig. Regisseurs sowie ein Erscheinungsda- Auch wenn Keßler seine Filmlieb- tum angegeben. Die Filminhalte wer- linge als solche kennzeichnet, erhalten den nur umrissen. Ein abschließender die subjektiv weniger gelungenen Pro- „Filmtitel-Index“ erlaubt ein schnelles duktionen die gleiche Aufmerksam- Auffinden der besprochenen Filme; keit, sodass auf eine Kanonisierung auf einen entsprechenden Regie-Index ausgewählter Filme verzichtet wird. wurde leider verzichtet. Wenngleich der Autor anmerkt, keine In den Ausführungen wird zudem Vollständigkeit anzustreben, zeigt ein die Bedeutung einzelner Regisseure her- Vergleich mit der bereits vergriffenen vorgehoben, was auch im Kontext wei- Chronologie von Denny Corso (Giallo terer akademischer Tätigkeiten relevant – Die Farbe des Todes: Eine umfassende sein könnte. Während beispielsweise zu Chronologie. Hille: MPW, 2007) oder Dario Argento und Lucio Fulci in den dem Filmverzeichnis von Peter Schein- vergangenen Jahren bereits deutschspra- pflug, dass mit Gelb wie die Nacht das chige Sammelbände und Monografien bislang umfassendste Nachschlagewerk publiziert wurden, lässt sich bei Keßler zum giallo zusammengetragen wurde auch die Bedeutung weiterer Regisseure und auch einem Vergleich mit internati- wie Mario Bava oder Sergio Martino onalen Publikationen wie Italian Giallo herauslesen, die hierzulande kaum in Movies (Rom: Profondo Rosso, 2013) den Blick filmwissenschaftlicher Arbei- von Antonio Bruschini und Antonio ten genommen wurden. Hinsichtlich Tentori standhält. der Filmpublizistik und -distribution sind die wiederholten Angaben zur Julian Körner (Bremen) Fotografie und Film 339 Michael Raine, Johan Nordström (Hg.): The Culture of the Sound Image in Prewar Japan Amsterdam: Amsterdam UP 2020, 223 S., ISBN 9789089647733, EUR 99,- Michael Raines und Johan Nordströms bekannte – nationale Rezeptionsge- Herausgeberschrift setzt sich im Sinne schichte sowie auf die praktische und von Thomas Elsaessers Begriff der theoretische Auseinandersetzung japa- „media-interference“ (S.9) mit dem nischer Filmemacher_innen, die sich, frühen Filmton in Japan und des- im Gegensatz zur westlichen Ausein- sen intermedialer Natur auseinander. andersetzung, der Komplexität dieser Raine und Nordström zeigen im Ein- neuen medialen Eigenschaft annahmen leitungsteil auf, inwiefern die verschie- und vor allem in der Nachkriegszeit denen Tonmedien, die bereits vor dem kritisch, unter Einbezug der koloni- Aufkommen der part-talkies Ende der alistischen, imperialistischen Politik 1920er und Anfang der 1930er Jahre der Zwischenkriegszeit, auf die Ton- sowie während der Etablierung des filmentwicklung zurückblickten (vgl. full-talkies existierten, einen Einfluss S.26ff.). ausübten. Beide Autoren bemängeln, Die einzelnen Beiträge beleuch- dass der Großteil der bisher publizier- ten verschiedene Tonmedien und ten westlichen Fachliteratur die Ton- -praktiken sowie deren Einfluss auf filmentwicklung Japans simplifiziert die Filmästhetik, die einerseits in und ahistorisch dargestellt und sich der japanischen Filmtradition des hauptsächlich auf die exotische Rolle Stummfilms und andererseits im des benshi konzentriert habe, wie sie technologischen Fortschritt verankert unter anderem am Beispiel von Noël war. Sasagawa Keiko legt dar, dass Burchs Erörterungen des frühen japa- die sogenannten kouta-Filme (Filme nischen Tonfilms veranschaulichen mit populären Songs) weit mehr als (vgl. S.30f.). Hierbei sei die Komple- ein temporäres Phänomen im Kontext xität hinsichtlich der Produktion, der des Großen Kantō-Erdbebens waren, technischen Ausstattung der Kino- denn sie reflektierten die tiefliegende säle und der sozialen Verankerung des Beziehung zwischen Bild und Ton Tonfilms verloren gegangen (vgl. S.30). und hinterfragten deren eindeutige Das Radio und die Musikindustrie Gegenüberstellung. Hosokawa Shuhei spielten laut Raine und Nordström eine erläutert die historische Bedeutung des maßgebliche Rolle für die Entwick- populären japanischen Liedes für die lung des japanischen Tonfilms, wozu Titelmelodien von Filmen. Im Gegen- die ökonomischen, technologischen, satz zur Situation in Hollywood war industriellen und politischen Umstände diese Beziehung zunächst einseitig in unmittelbarer Verbindung standen. und entwickelte sich erst im Laufe Die Autoren werfen zudem ein Licht der 1930er Jahre zu einer gegenseiti- auf die – im Westen bislang kaum gen Wechselwirkung. Niita Chie the- 340 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 matisiert die Beziehungen zwischen schließlich betont Itakura Fumiaki Radio und Film, wobei eiga monoga- die Unabdingbarkeit, bei Restaurie- tari (Filmgeschichten) oder eigageki rung und Projektion der Filme die (Filmdramen) im Radio, gesprochen ursprünglichen Seitenverhältnisse des von benshi oder Filmschaffenden, die Filmbildes, die sogenannten „early tal- Interaktion maßgeblich begründeten. kie frame[s]“ (S.201), zu berücksichti- Ueda Manabu setzt sich mit den unter- gen, um die von den Regisseur_innen schiedlichen Wiedergabesystemen bei intendierte Filmstilistik zu erschlie- Kinovorführungen auseinander und ßen. beschreibt, wie das Aufkommen des Alle Aufsätze gewähren einen ver- Tonfilms im Verlauf der 1930er Jahre tieften und differenzierten Einblick die architektonische Ausstattung der in die Entstehungsgeschichte des inner- und außerstädtischen Kino- japanischen Tonfilms, welcher in der säle beeinflusste. Michael Raine ver- Verflechtung mit den zeitgenössischen anschaulicht in seinem Aufsatz, dass musikalischen Medien und eingebettet der Tonfilm zwar auf den Widerstand im ökonomischen, politischen, techno- der benshi stieß, jedoch seitens der logischen und soziologischen Kontext Kritiker_innen, der Zuschauer_innen zu verstehen ist. Es werden sowohl die und der Kinoinhaber_innen großen Ästhetik wie auch die Produktions- Enthusiasmus hervorrief und der ben- und Rezeptionsgeschichte in vielfäl- shi bald zum Objekt der Nostalgie tiger Manier kritisch evaluiert. Raines wurde. Johan Nordström bietet eine und Nordströms englischsprachiger umfassende Erörterung der Rolle des Sammelband – einige der Aufsätze Filmstudios P.C.L. hinsichtlich der erscheinen in erstmaliger Übersetzung Wichtigkeit von Musik im Tonfilm, aus dem Japanischen ins Englische – ist welche sich auf ästhetischer wie auch ein unabdingbarer Beitrag zur histo- auf werbebedingter Ebene äußerte und rischen Aufarbeitung des japanischen tief in der intermedialen, audiovisu- Tonfilms, der sich in seiner Vielfältig- ellen Kultur Japans verwurzelt war. keit und intermedialen Verwobenheit Nagato Yohei arbeitet die verloren jenseits der westlichen Dominanz eta- gegangene Signifikanz des vermutlich bliert hat. ersten japanischen Talkies Hometown (1930) von Kenji Mizoguchi auf. Und Nadine Soraya Vafi (Zürich) Fotografie und Film 341 Carl Plantinga: Alternative Realities New Brunswick: Rutgers UP 2021, 158 S., ISBN 9780813599816, USD 17,95 If a book could have a soundtrack, then sive possibilities of these advances for Alternative Realities by Carl Plantinga example, the use of different film stock would have Bohemian Rhapsody by in The Wizard of Oz (1939). The Rea- Queen: „Is this the real life? Is this lists, on the other hand, believed that just fantasy? Caught in a landslide, No what is special and important about escape from reality.“ Plantinga’s pre- movies is their relationship to the real mise is that even the most fantastical world. The Revelationists drew ele- of films must be grounded in quotidian ments from both theories, believing reality to ensure the spectator accepts stylist techniques, which depart from its verisimilitude, verisimilitude being everyday sight, can reveal reality as it „the subjective impression that a movie, truly is. scene, setting, character or story is real Plantinga goes on to discuss diffe- or believable“ (p.21). The world created rent types of realism. Objective rea- must be consistent and believable. He lism provides a plausible rendition of says that all films including documen- some aspect of the real world, whereas taries are dependent on the expressive subjective realism provides a plausibly vision of the film-maker, that all films accurate rendition of the way a charac- create „worlds, that they are products of ter experiences that world. Psychologi- the human imagination and that film is cal, scenic, narrative, and perceptual a composite medium not only photogra- realism are what makes something phic“ (ibid.). seem real to us, which may, however, In his first chapter, Plantinga gives not seem real to others. Realism is also an overview of film theory as it relates used to designate movies with social to realism. Movies in the beginning, concerns or those that use certain sty- as they recorded everyday events, were listic or formal techniques like hand- associated with realism and authenti- held cameras. city but there was doubt that this new His next chapter deals with how medium could create art. The Forma- even effects-heavy superhero and fan- lists believed that only the departure tasy/science f iction movies remain from the duplication of reality allowed firmly rooted in quotidian reality. If the the creative expression of the film- Hulk lands from a great height without maker. That each technological deve- a loud thud and a momentary shaking lopment, for instance, colour or the of the camera, we simply do not believe advent of sound, which brought the he can do it. „We bring our real-world movies closer to the recording of rea- perceptual, cognitive and social skills lity, moved the medium further away to bear on the experience of fictional from art, but they ignored the expres- worlds“ (p.42). Fictional characters 342 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 such as in The Guardians of the Galaxy what it seems in Shutter Island (2010), (2014) must also be depicted as having a the existence of alternative worlds in recognisable internal life with feelings, The Matrix (1999) and the twist ending goals, and desires to ground the fantasy that demands a wholesale reinterpreta- in reality. tion of what has come before in Planet Plantinga then looks at how movies of the Apes (1968). can approximate someone else’s subjec- Finally, by looking at documenta- tive reality. He does this by focussing ries as diverse as Harlan County, U.S.A. on subjective narration, which is not (1976), which is traditional in its use intersubjective and does not follow the of photographic images to record mee- conventional notions of verisimilitude, tings relating to a strike at a coal mine, specifically in dreams (Inception [2010]) to The Act of Killing (2012) where Indo- and memories (Wild Strawberries nesian murderers re-enact their crimes, [1957]). These worlds are portrayed as Plantinga concludes that no film, inclu- experienced by an individual through ding documentaries, can produce a the use of particular framing devices, transparent, unmediated recording of close-ups distorting lenses, distorted reality and that all documentary film- sound among others. Psychoanalyti- making involves the work of the human cal film theorists argue that films, in imagination. any case, can be analysed the same way I can whole-heartedly recommend dreams can. this concise, informative and well-writ- The next chapter, „Ruptured Rea- ten book. It’s part of Rutgers University lities“, looks at how film creates nar- Press’ Quick Takes series on movies rative worlds „in which the viewers‘ and popular culture and I look forward assumptions can be subtly or decisively to reading more of them. undermined“ (p.89). The author covers the gradual disclosure that all is not Drew Bassett (Köln) Douglas Pye (Hg.): V. F. Perkins on Movies: Collected Shorter Film Criticism Detroit: Wayne State UP 2020 (Contemporary Approaches to Film and Media Studies), 507 S., ISBN 9780814346433, USD 34,99 Victor F. Perkins (1936-2016) war der senschaft erst etablierte. An der Grün- wohl letzte Klassiker der Filmwissen- dung der ersten filmwissenschaftlichen schaft, das heißt einer Filmkritik, die Institute in Großbritannien war er sich seit den 1970er Jahren als Wis- maßgeblich beteiligt, ab 1978 lehrte er Fotografie und Film 343 selbst an der Universität Warwick. In alarmierenderes Indiz ist, dass es in der neu entstandenen Disziplin blieb deutscher Sprache nicht einmal einen er allerdings ein genialer Außenseiter. Wikipedia-Eintrag zu Perkins gibt. Abhandlungen, in denen mehr von Auch in der englischsprachigen Welt Semiotik und Psychoanalyse als von finden seine Texte heute nur selten noch irgendeinem Film die Rede ist, hat er Erwähnung. Was umso bedauerlicher nie verfasst. Wenn er sich auch von ist, als Perkins nicht nur ein scharf- Frankreich inspirieren ließ, war seine sichtiger Filmzuschauer und ebenso Quelle nicht die später so genannte scharfsinniger Kritiker, sondern auch French Theory, sondern das französische ein guter Schriftsteller war. Er schrieb Kino sowie die Filmkritik der frühen mit leidenschaftlichem Interesse, ohne Cahiers du Cinéma. Schon der Titel der den Anspruch auf Objektivität preiszu- von ihm 1962 gegründeten Zeitschrift geben. Selbst nach Jahrzehnten im aka- Movie deutet an, dass es nicht um die demischen Betrieb blieb seine Diktion Leinwand als Spiegel der Gesellschaft elegant, präzise und unprätentiös. Zur oder um geheime Inschriften und „théorie courante“ (S.246) hielt er höflich unterdrückte Wünsche gehen sollte Abstand. Was er zu sagen hatte, teilte (wie in der ebenfalls treffend betitelten er „in ordinary language uncluttered by Zeitschrift Screen, die in den 1970er jargon“ mit (so Herausgeber Douglas Jahren zu einer Art Leitmedium der Pye auf S.7). Filmwissenschaft avancierte), sondern Die vorliegende Sammlung von um Filme, die als solche zu begreifen Filmkritiken und kleineren Aufsät- ihm Ansporn genug war; unbeschadet zen aus über fünfzig Jahren, grob nach der Frage, ob sie als Kunst oder Unter- Epochen und Themen sortiert und haltung angesehen werden mögen. dezent kommentiert, macht endlich Programmatisch auch der Titel seines auch Texte leicht zugänglich, die bisher einzigen Buches: Film as Film (Lon- nur in wenigen Bibliotheken (und kei- don: Penguin, 1972). Der Untertitel neswegs im Internet) zu finden waren. wiederum, Understanding and Judging Wenngleich manche Einlassungen, Movies, verweist auf eine eigentümlich etwa zur misslichen Lage der Filmpro- pädagogische Tradition der britischen duktion im Großbritannien der 1960er Filmtheorie, der auch Perkins verbun- Jahre, nur mehr historisches Interesse den blieb; im Unterschied zur franzö- beanspruchen, bleibt die Lektüre alle- sischen würde man sie eher mit einer mal erfrischend. Die Polemik gegen Lehrergewerkschaft als etwa mit der die Filme der British New Wave mag Bohème assoziieren. heute in mancher Hinsicht ungerecht In Deutschland ist Perkins weit- erscheinen; unberechtigt ist sie nicht: hin unbekannt geblieben, selbst in der Perkins weist en détail nach, worin er Filmwissenschaft. Das oben erwähnte die Schwächen jener Filme erkennt, von Buch, einst zu Recht als ein Werk denen er darum sagt, sie hätten wohl klassischer Filmtheorie gelobt, wurde ein neues Thema, jedoch bei weitem nie übersetzt. Ein inzwischen noch noch keinen Stil gefunden. 344 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Zu den beeindruckendsten Texten übrigens wie den Strukturalismus kriti- dieses Bandes zählt eine zeitgenössische sierte er David Bordwells Konzept der Besprechung von Alfred Hitchcocks Filmwahrnehmung. Diese Adaption Psycho (1960). Wer aber meint, Perkins kognitivistischer Psychologie nannte er sei ein „auteurist at heart“ (so Foster ein „all-clocks-and-no-clouds model“ Hirsch im Vorwort zu einer Neuaus- (S.254), dem er nachwies, inwiefern gabe von Film as Film [Cambridge: Da und warum die schematische Unter- Capo, 1993]), wird vom Autor selbst scheidung von expliziten und implizi- eines Besseren belehrt. Perkins’ Kritik ten Bedeutungen im Film keinen Sinn der auteur-Theorie ist indes zugleich ergibt. eine ihrer strukturalistischen Neuaus- Perkins gehörte keiner Schule an legung (durch Peter Wollen): Dem pro- und war auch nie erpicht darauf, selbst klamierten Tod des Autors folgte die eine zu gründen. Er war Filmkritiker Geburt der Leser_innen, die sich selbst als Filmkritiker. Die sorgfältig edierte virtuell zu Filmemacher_innen auf- Anthologie all der scheinbar kleinen schwangen. Dass er die feministische Texte lässt ihn als solchen erstmals in Kritik geflissentlich beiseite ließ, bleibt voller Größe in Erscheinung treten. Perkins’ vielleicht einziges, jedenfalls auffälligstes Versäumnis. Ebenso scharf Christoph Hesse (Berlin) Jelena Rakin: Film Farbe Fläche: Ästhetik des kolorierten Bildes im Kino 1895-1930 Marburg: Schüren 2021, 296 S., ISBN 9783741003448, EUR 29,90 (Zugl. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, 2021) Die Dissertation von Jelena Rakin Arbeit können Leser_innen bereits aus befasst sich mit applikativen Farbver- Rakins Beitrag „Lust an der Palette“ fahren der 1890er bis 1920er Jahre, kennen, der im von Jörg Schweinitz wobei in vier Oberkapiteln, die weit- und Daniel Wiegand herausgegebenen gehend auch eine chronologische Band Film Bild Kunst: Visuelle Ästhetik Abfolge der behandelten Phänomene des vorklassischen Stummfilms (Mar- wahren, unterschiedliche Farbverfah- burg: Schüren, 2016) enthalten ist, auf ren und Themenschwerpunkte verhan- den sich Rakin mehrfach bezieht. Dort delt werden. Einen kleinen Teil der war unter anderem noch Evelyn Echles Fotografie und Film 345 Aufsatz „Ornamentale Oberflächen“ Hand- und Schablonenkolorierung in zu finden, der wiederum in Echles „Trickfilme[n] und Féerien“ (S.69) ein Dissertation Ornamentale Oberflächen: und nimmt dabei vor allem Hybrid- Spurensuche zu einem ästhetischen Phä- komposite in den Blick, die kolorierte nomen des Stummfilms (Marburg: Schü- Schwarzweiß-Aufnahmen mit Mehr- ren, 2018) eingegangen ist, die Rakin fach- und Doppelbelichtungen in somit ebenfalls am Rande aufgreift und die geschichteten Filmbildern koppeln: sich im Hinblick auf die Untersuchung Farbe erscheint dabei etwa als Teil der des vorklassischen Stummfilms (und Trickeffekte oder der Selbstreflexion, der lange unberücksichtigten Fläche) wobei als zeitgenössische Impulse der mit Rakins Arbeit auf wertvolle Weise Féerien „die vermeintliche Objektivi- ergänzt. tät des Positivismus“ (S.123) und „die Rakin schildert eingängig das Affinität zum Übernatürlichen, Magi- Phänomen der Stummfilmfarbe als schen und Märchenhaften“ (S.124) mit- Markierung einer „Schnittstelle zwi- gedacht werden. schen ästhetischen Vorlieben des 19. Im dritten Oberkapitel rücken Jahrhunderts und ästhetischen Prä- dann mit dem Schwerpunkt der Scha- ferenzen der Moderne“ (S.17) und blonenkolorierung – und des Hand- behandelt ihren Untersuchungsge- schiegl-Verfahrens – die „Diskurse genstand entsprechend im Kontext am Übergang von kunstgewerblicher der „visuellen Kultur um 1900“ (S.19) zu industrieller Produktion“ (S.126) insgesamt unter der Berücksichtigung sowie Ornament-Kompositionen wie der „intermedialen, kulturellen, techno- in Segundo de Chomóns Kiriki, acro- logischen und ökonomischen Faktoren“ bates japonais (1907) im Kontext von (ebd.). Den Anfang macht ein Kapitel Art nouveau, Art déco und Jugendstil in zum Serpentinentanzfilm, in dem die den Blick. Die Beziehung von Weib- Handkolorierung unter Berücksich- lichkeit, Mode und dem Dekorativen tigung der Duplizität des Bildes, des oder Floralen wird dabei ebenso vor „Verhältnis[ses] des Bildträgers und der dem Hintergrund des Warenfetischs Darstellung“ (S.38), untersucht wird: analysiert wie auch der schablonen- Fläche und Tiefe, Farbe und Materi- kolorierte Stummfilm als Luxusge- alität oder die „Frau als Fläche für die genstand, der sich als „erleichterte[] Farbe“ (S.54) sind zentrale Punkte des serielle[] Form der Einfärbung […] in Kapitels, das verglichen mit dem fol- die Vielfalt der Reproduktionsmecha- genden deutlich theoretischer gehalten nismen“ (S.194) einreihe, aber noch ist und kunstphilosophische, bildwis- einer „Vorstufe der Mechanisierung“ senschaftliche Positionen verständlich (ebd.) verhaftet sei. Vollends um die rekapituliert und für die Stummfilm- „serielle Produktion und Instrumen- farbe fruchtbar macht. Das Folgekapi- talisierung der Farbästhetik im Sinne tel geht dagegen vor allem mit sechs einer kapitalistischen Vermarktungs- Einzelanalysen entsprechender Filme logik“ (S.195) geht es dann im letz- zwischen 1897 und 1907 auf die ten Kapitel: Hier werden Werbefilme 346 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 wie Changing Hues (1922) oder Émile material im digitalen Zeitalter“ (S.241) Cohls Trickfilm Le peintre néo-impres- – geschlagen wird. sioniste (1910) im Kontext eines Booms Ein sinniges wie prägnantes Glossar synthetischer Farben und Farbpaletten rundet die originelle und nicht allein untersucht. Dabei gerät von Künstlern aus filmwissenschaftlicher Perspektive wie Alphonse Allais über Kasimir höchst aufschlussreiche – sowie reich- Malewitsch, Alexander Rodtschenko haltig und fast ausschließlich farbig oder Marcel Duchamp die Fläche in illustrierte – Arbeit gelungen ab. Ein- der Moderne in den Blick, mit dem ziger Wermutstropfen der beachtlichen es sich dann auch dem absoluten Film Veröffentlichung ist der Verzicht auf die Walter Ruttmanns nähern lässt, ehe Übersetzung zahlreicher französisch- über Paul Sharits oder Tacita Dean ein sprachiger Passagen. Bogen in die Gegenwart – und ihre Rückbesinnung auf „das analoge Film- Christian Kaiser (Hannover) Sarah E. S. Sinwell: Indie Cinema Online New Brunswick: Rutgers UP 2020, 204 S., ISBN 9781978814691, EUR 27,50 Mit dem Aufkommen von Online- unterwandert dieser die in der Bran- Streaming und Video-on-Demand- che etablierte Verwertungsstrategie Diensten sowie der Veröffentlichung des windowings, da die Zeitspanne von Filmen am selben Tag auf DVD, zwischen der Kinopremiere und der On-Demand und in Kinos werden Veröffentlichung auf DVD und/oder Indie-Filme zunehmend online konsu- Streaming deutlich reduziert oder gar miert (vgl. S.2). Die mit diesem Phä- eliminiert wird (vgl. S.25ff.). Ande- nomen einhergehende Schließung von rerseits befördert dieser die Illusion, lokalen Videotheken und die Verände- jederzeit Zugang zu einer scheinbar rung ihres eigenen Konsumverhaltens unendlichen Filmsammlung zu haben motivierten Sarah E. S. Sinwell, die (vgl. S.29). Tatsächlich hängt jedoch wachsende Online-Präsenz von Indie- die Verfügbarkeit der Filme vom häufig Produktionen zu untersuchen (vgl. S.1). wechselnden Bestand der Filmkataloge Im ersten von vier Kapiteln „Indie der Anbieter ab (vgl. S.27). via Instant Viewing: Now Streaming Im zweiten Kapitel „Simultaneous on Netflix und Hulu“ steht der sofortige Release Strategies: Soderbergh and the Zugriff auf Indie-Filme über Netflix Screening Room“ vertritt die Autorin und Hulu im Vordergrund. Einerseits die These, dass Indie-Produktionen Fotografie und Film 347 die Strategien der gleichzeitigen Ver- von qualitativ hochwertigen Indie- öffentlichung anders einsetzten als Hol- Filmen zu positionieren (vgl. S.66f.). lywood: Während unabhängige Filme Wie Sinwell am Beispiel von Four Eyed gleichzeitig im Kino, On-Demand und Monsters (2005) und Girl Walks into auf DVD veröffentlicht werden, können a Bar (2011) verdeutlicht, lassen sich es sich Hollywoodfilme mit größeren Parallelen zwischen den Abhängig- Budgets leisten, diese Veröffentlichun- keitsverhältnissen der 1990er Jahre zu gen zeitlich aufzufächern und sukzes- Miramax und Fox Searchlight sowie sive vom Absatz zu profitieren (vgl. aktuell zu Konzernen wie Google, S.47). Lexus und American Express beob- Die Experimentierfreudigkeit des achten, die unabhängige Online-Filme Regisseurs Steven Soderbergh mit sponsern (vgl. S.84). Dies führt zu einer verschiedenen Formen der Filmpro- paradoxen Situation, in der das DIY- duktion, des Filmvertriebs und der Modell des Selbstvertriebs sich zwar Medienkonvergenz stellen ein beson- gegen das Hollywood-Vertriebssystem ders hervorzuhebendes Beispiel für richtet, jedoch verkennt, dass Google einen kreativen Umgang mit den ver- und YouTube den eigenen Konzern- änderten Gegebenheiten in der Film- hierarchien folgen (vgl. S.85). industrie dar. Sein Film Bubble (2005) Im vierten Kapitel „The Fourth konnte zeitgleich mit der Kinovorfüh- Screen: Sundance, Shorts, and Cell rung als DVD gekauft oder auch on- Phones“ werden Webserien wie The Art demand angeschaut werden (vgl. S.55): of Seduction (2006) und Green Porno laut Soderbergh ein Versuch, gegen die (2008-2010) in den Fokus genommen, Filmpiraterie anzukämpfen (vgl. S.53). die für Mobiltelefone konzipiert wurden The Girlfriend Experience (2009) wurde und auf der Website Sundance Channel On-Demand uraufgeführt (vgl. S.55). beziehungsweise SundanceTV ausge- Unsane (2017) wurde mit dem iPhone strahlt wurden (vgl. S.88f.). Die Film- gedreht, und Mosaic (2018), ein Thriller produktion für Mobiltelefone hat unter und eine Miniserie für HBO, verfügte anderem stilistische und ästhetische über eine interaktive Movie-App (vgl. Folgen: Sie sind kürzer, farbenfroher, S.56). haben kaum oder keinen Dialog, eine Im dritten Kapitel „DIY Distri- einfachere Handlung und mehr Nah- bution: YouTube, Four Eyed Monsters, aufnahmen wegen der kleineren Bild- and Girl Walks into a Bar“ wird ergrün- schirme (vgl. S.91, S.96 und S.104). Die det, wie der digitale Filmvertrieb auf erfolgreiche Serie Green Porno erfuhr YouTube unabhängigen Filmemacher_ eine zusätzliche Verwertung als Buch innen einen Raum für Vorführungen und ‚exklusive‘ DVD. Darüber hinaus jenseits des Kinos und DIY-Vertriebs wurde sie 2015 im Theater aufgeführt, eröffnet und wie die Google-Tochter und dies ist in einer Dokumentation gleichzeitig diese Entwicklung nutzt, festgehalten, was Sinwell zufolge an um sich als Vermittlerin des ‚guten die Konvergenz von Film, Fernsehen, Geschmacks‘ und Online-Vertreiberin Musik und Theater erinnert (vgl. S.103). 348 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Indie Cinema Online hat eine sich werte Bestandsaufnahme der Entwick- so dynamisch verändernde Branche als lungen im Bereich des Indie-Films aus Gegenstand, dass darauf hingewiesen der Perspektive der Produktion, des werden muss, ob das Dargelegte noch Vertriebs und der Rezeption. aktuell ist (vgl. z.B. S.101). Das Buch vermittelt eine kompakte und lesens- Maribel Cedeño Rojas (Siegen) Étienne Souriau: Das filmische Universum: Schriften zur Ästhetik des Kinos Paderborn: Wilhelm Fink 2020, 183 S., ISBN 9783770564361, EUR 39,90 Bei dem vorliegenden Buch handelt es und ästhetisches Phänomen, das auch sich um die Sammlung aller Schrif- psychosoziale Effekte hervorruft, dekli- ten, die Étienne Souriau über die Jahre niert. hinweg zum Thema Film verfasst hat. Das Spektrum der thematischen Abzüglich der Einleitung von Her- Bereiche von Film ist bei Souriau weit ausgeber und Übersetzer Guido Kirs- und zeugt von einer Neugier gegen- ten und abschließender Lobrede von über vielfältiger Ansatzpunkte für Christian Metz fasst das Buch lediglich die Filmforschung. So lässt sich seine 150 Seiten Souriau’schen Text. Dieser komparative Ästhetik (vgl. S.67-96), in geringe Umfang lässt sich damit erklä- der Souriau Film gegen andere Kunst- ren, dass Souriau kein ausgewiesener formen kontrastiert, als Ausblick auf Filmwissenschaftler war, sondern Phi- eine kommende Intermedialitätsfor- losoph. Als Ontologe und Ästhetiker schung erkennen. Ebenso finden sich interessierte er sich offensichtlich für die empirische Psychologie und von ihr den Film als bewegtes Abbild von Sein abgeleitete Methoden (vgl. S.121-124) bei gleichzeitigem Nicht-Sein. Das als auch soziologische (vgl. S.129-132), macht sich besonders in der Betrach- technische (vgl. S.133-137) und kultu- tung der „verschiedenen Existenzwei- relle Betrachtungen (vgl. S.153-155). sen […] des filmischen Universums“ Zudem widmet sich Souriau mit dem (S.56) kenntlich, während der er mit Tier im Film (vgl. S.139-151) einem der ihm angeschlossenen Gruppe von Thema, das in den letzten Jahren stär- Forscher_innen des Institut de Filmo- ker in den Fokus der Filmwissenschaft logie der Sorbonne Film als technisches gerückt ist. Fotografie und Film 349 Diese Breite des Themenspektrums eher dem Zeitgeist als der Übersetzung geht leider auf Kosten einer tieferge- Kirstens geschuldet ist. Überhaupt sind henden Behandlung der einzelnen die Mühen Kirstens nicht ausreichend Themen. Metz bezeichnet Souriaus zu loben. Nicht nur hat er die einzelnen Texte daher treffend als „Diskussions- verstreuten Texte zusammengetragen beiträge“ (S.176), die offensichtlich eher und übersetzt (zwei bereits von Frank zum Weiterdenken anregen, denn die Kessler erstellte Übersetzungen für Leser_innen vor vollendete (theore- montage AV hat Kirsten überarbeitet), tische) Tatsachen stellen sollen. Dass er stellt der Schriftensammlung zudem dieser Anstoß zum Weiterdenken eine sehr lesenswerte, kenntnisreiche erfolgreich war, lässt sich natürlich nicht Einleitung voran, die den Werdegang nur an den Monografien Marie-Thérèse und die philosophische Ausrichtung Poncets über den Animationsfilm (vgl. Souriaus skizziert und damit dessen L‘esthétique du dessin animé. Paris: Nizet, Denken über Film im Vorfeld kontex- 1952) und Amédée Ayfres über Reli- tualisiert. gion im Film (vgl. Dieu au cinéma: pro- Sicherlich bieten die Texte Souriaus blèmes esthétiques du film religieux. Paris: noch immer Denkanstöße, doch die Presses Universitaires de France, 1953) meisten filmtheoretischen Erkennt- ablesen, zu denen Souriau ebenfalls in nisse sind über die Jahrzehnte von dieser Sammlung zu findende Vorworte anderen Wissenschaftler_innen aktua- verfasst hat. Vielmehr lässt sich dieses lisiert, erweitert und präzisiert worden. Weiterdenken des Films daran ablesen, Daher dürfte diese Schriftensammlung dass die Filmwissenschaft durch ihre zuvorderst für ein an der Geschichte Beharrlichkeit eine weitläufige akade- der Filmwissenschaft und Filmthe- mische Institutionalisierung erfuhr. orie interessiertes Publikum lesens- Ein Verdienst von Souriau und seiner wert sein. Ob dies ausreicht, auch ein Gruppe von Forscher_innen am Institut deutschsprachiges Publikum zu einem de Filmologie ist es sicherlich, durch ihr Wiederentdecken des Souriau’schen Bestreben der Professionalisierung der Werks – wie es Kirsten vor allem im Filmwissenschaft und dem Standardi- französischsprachigen Raum erkennt – sieren des Sprechens über Film mittels zu motivieren, bleibt fraglich. Hierzu geeignetem Vokabular ein Verständnis wäre es jedenfalls hilfreich gewe- für die Ernsthaftigkeit der Disziplin zu sen, diese Schriftensammlung als frei zementieren. zugänglichen Titel anzubieten, wie es Souriaus Begeisterung für Film, die meson press mit Souriaus philosophi- nicht von wissenschaftlicher Distan- schem Buch Die verschiedenen Modi der ziertheit geprägt ist, springt dabei den Existenz (Lüneburg: meson press, 2015) Leser_innen an mancher Stelle ins Auge, gehandhabt hat. wenn ans Pathetische grenzende For- mulierungen verwendet werden – was Martin Janda (Marburg) 350 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Jan Uelzmann: Staging West German Democracy: Governmental PR Films and the Democratic Imaginary, 1953-63 New York: Bloomsbury 2020 (New Directions in German Studies), 351 S., ISBN 9781501368585, USD 35,95 Nach Werken wie Tim Bergfelders Zeit sowie der Produktionsbedingun- International Adventures: German Popu- gen und -methoden im Kontext der lar Cinema and European Co-Productions PR-Filme immer näher an das tatsäch- in the 1960s (New York: Berghahn, liche Filmmaterial heran. Schließlich 2005) oder Framing the Fifties: Cinema werden in den fünf Hauptkapiteln des in a Divided Germany von Sabine Hake Buchs ausgesuchte Filme analysiert, und John Davidson (New York: Berg- wobei jene ausgewählten Werke für hahn, 2007) ist es einmal wieder ein bestimmte Themenkomplexe stehen, im angelsächsischen Raum erschiene- die Adenauer und seine Regierung nes Buch, das bei der Erforschung des werbewirksam als ihre politischen bundesdeutschen Kinos der hiesigen Erfolge ans Volk gebracht wissen woll- Filmwissenschaft um eine Nasen- ten – Uelzmann nennt diese „Stability länge voraus ist – wenn auch hier nur Discourse“, „Cold Warrior Discourse“, bezüglich eines kleinen, dafür aber sehr „Reconciliation Discourse“, „The Dis- spezifischen Ausschnitts der Filmge- course of Connectedness“ und „Father schichte. of the Nation Discourse“. Jan Uelzmann untersucht in Staging Innerhalb dieser Annäherung vom West German Democracy die PR-Filme, größeren historischen Kontext hin zu die von der Regierung Adenauer zwi- den konkreten Filmgestaltungen wird schen 1953 und 1963 zur Auswertung nicht nur gezeigt, wie gradlinig (und in Kinos und bei politischen Veran- etliche Widersprüche der jungen BRD staltungen in Auftrag gegeben wur- ignorierend) Adenauer seinen Plan der den. Dabei konzentriert er sich auf die Westanbindung verfolgte, sondern sogenannten ‚Kanzlerfilme‘ und die auch, wie zum Zwecke der Erstellung filmische Repräsentation von Konrad der PR-Filme die Produktionsgesell- Adenauer. Dieser bisher weitgehend schaft (Neue) Deutsche Wochenschau unbeachtete Corpus wird hiermit erst- als de facto regierungstreuer Medienka- mals systematisch betrachtet – und das nal ausgenutzt wurde. Hierzu rekur- auf der Basis umfassender Recherchen riert Uelzmann sowohl umfassend in etlichen einschlägigen deutschen auf den aktuellen Forschungsstand Archiven, sowohl bezüglich des Film- zur bundesdeutschen Wochenschau- als auch des Aktenmaterials. landschaft der 1950er und 1960er Dabei baut der Autor sein Buch Jahre als auch auf viele, in den Archi- hochgradig systematisch auf und arbei- ven gefundene Korrespondenzen der tet sich über einen Nachvollzug der damals Beteiligten. Dadurch wird soziopolitischen Lage der Adenauer- deutlich herausgearbeitet, wie ver- Fotografie und Film 351 strickt Regierungspressearbeit und belegen, mit welchem Kalkül (und oft (letztlich von der CDU gegründete) mit klandestinen Methoden) die PR- privatwirtschaftliche PR- und Filmfir- Filme finanziert, geplant und produ- men angelegt waren. Die detaillierten ziert wurden. Filmanalysen zeigen schließlich, wie Staging West German Democracy ist Adenauer als Kanzler bezüglich der ein Buch für alle, die sich im Rahmen genannten Diskurs-Aspekte auf eine der zeithistorischen und/oder der film- damals hochaktuelle Weise und nach historischen Forschung für die junge amerikanischem PR-Muster inszeniert Bundesrepublik interessieren; auch wurde. Dabei zeigt Uelzmann eine ein Buch, um innerhalb der Fernseh- hohe Analysesensibilität hinsichtlich forschung detaillierter zu verstehen, der Filmbilder, der Montage und der warum der PR-verwöhnte Macht- Kommentarspuren der Filme, wodurch mensch Adenauer Probleme mit der die werkimmanenten Inszenierungsas- kritischen Berichterstattung der ARD pekte stringent interpretiert werden. hatte und Anfang der 1960er Jahre ver- Darüber hinaus werden aber auch in suchte, seinen eigenen Fernsehsender den Analysekapiteln weiterhin viele aufzubauen. Archivdokumente herangezogen, die Peter Ellenbruch (Duisburg-Essen) Elizabeth Ward: East German Film and the Holocaust New York: Berghahn 2021, 264 S., ISBN 9781789207477, EUR 129,50 Jeffrey Herf konstatierte 1997 in sei- in East German Film and the Holocaust nem Buch Divided Memory: The Nazi nun erstmalig in den Fokus und zeigt, Past in the Two Germanys: „While some dass der Holocaust nicht nur kein fil- East German novelists and filmma- misches Tabu darstellte, sondern ein kers addressed anti-Semitism and the dauerhaft präsentes Thema war (vgl. Holocaust, these issues remained on S.217). Ward untersucht dabei anhand the margins of East Germany’s official von neun ausgewählten Filmen aus der anti-fascist political culture“ (Cam- Produktionszeit der Deutschen Film bridge: Harvard UP, 1999, S.160f.). AG (DEFA) zwischen 1946 und 1989, Diese marginalisierte Geschichte der wie DDR-Filmemacher sich unter filmischen Auseinandersetzung mit fortwährend verändernden politischen, dem Holocaust in der Erinnerungs- sozialen und erinnerungskulturellen kultur der DDR rückt Elizabeth Ward Bedingungen mit der Vernichtung der 352 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 europäischen Jüdinnen und Juden aus- Ware (1966), Gottfried K olditz‘ Das einandersetzten. Tal der sieben Monde (1967), Kurt Jung- Wards Arbeit stützt sich dabei Alsens Die Bilder des Zeugen Schatt- nicht nur auf die detaillierte Analyse mann (1972), Frank Beyers Jakob der der Repräsentation des Holocaust und Lügner (1974), Siegfried Kühns Die der verfolgten Jüdinnen und Juden, Schauspielerin (1984) sowie Michael sondern ordnet die Filme zugleich Kanns Stielke, Heinz, fünfzehn (1987) mittels der Auswertung archivarischer untersucht. Quellen in ihren sozio-politischen Ward stellt in ihrer Arbeit her- Kontext ein, um Kontinuitäten und aus, dass diese Filme nicht allein ein Brüche in der Darstellung der Ver- Medium staatstragender antifaschis- nichtung historisch nachzuzeichnen: tischer Narrative waren, sondern „Situating the films within their dome- zugleich für die Filmemacher die stic release context allows us to under- Möglichkeit boten, andere, zumeist stand the broader political, social and abseitige Fragen der Erinnerung cultural debates unfolding at the time an den Holocaust und den Zweiten of the films‘ production and release Weltkrieg öffentlich zur Debatte zu and also avoids the danger of viewing stellen. Die Filme eröffneten damit DEFA – or even the GDR – as homo- einen Diskursraum für Themen, die geneous and unchanging“ (S.6f.). Sie in der offiziellen Erzählung und der eröffnet damit zweierlei Perspektiven: Erinnerungskultur der DDR kaum Einerseits schärft sie den Blick für die einen Platz fanden: „the failure of the ästhetischen und narrativen Formen antifascist resistance (Sterne, Jakob der der Präsentation des Holocaust in der Lügner), ideologically indifferent prot- je konkreten Gegenwart der Filmpro- agonists (Stielke, Heinz, fünfzehn), cha- duktionen, andererseits rekonstruiert rismatic perpetrators (Lebende Ware), sie die Transformation der mnemo- crimes of sexual assault (Das Tal der praktischen Auseinandersetzung mit sieben Monde) and the complicity of und die Darstellung des Holocaust the wider population in everyday acts anhand des narrativen Films in der of antisemitism (Ehe im Schatten, Die DDR. East German Film and the Holo- Bilder des Zeugen Schattmann, Die caust folgt dabei einer chronologisch Schauspielerin)“ (S.220f.). Ward bietet angelegten Analyse von ebensolchen jedoch keine Revision der bisherigen Filmproduktionen, deren Handlung DDR-Filmgeschichte in Bezug auf zwischen 1933 und 1945 spielt und die den Holocaust, sondern verkompliziert Themen wie Ausgrenzung, Verfolgung vielmehr das Bild des ostdeutschen und Vernichtung von Jüdinnen und Holocaust-Films. Sie kann zeigen, Juden zentral im Plot verankern (S.8). dass sich die filmische Auseinander- Nacheinander werden Kurt Maetzigs setzung mit der Verfolgung und Ver- Ehe im Schatten (1947), Konrad Wolfs nichtung von Jüdinnen und Juden im Sterne (1959) und Professor Mamlock Spannungsfeld zwischen politisch legi- (1961), Wolfgang Luderers Lebende timierten Narrativen und kritischen Fotografie und Film 353 respektive marginalisierten Deutun- the parameters of the class-based gen dieser unmittelbaren Vergangen- victim-victor framework of comme- heit bewegen. „While filmmaking in moration“ (S.3). the GDR was organized according to East German Film and the Holocaust vertical structures, the film studio, the ist für jene interessant, die sich mit der production companies […] and indi- filmischen Aufarbeitung der Vergan- vidual directors often maintained a genheit beziehungsweise deren Mög- considerable degree of independence lichkeiten und Grenzen beschäftigen. over the subject matter“ (S.216). Wie Denn Ward zeigt in ihrer Relektüre in anderen nationalen Kontexten gab bedeutender DEFA-Produktionen, es auch in der DDR kein alleinig vor- dass sich das ostdeutsche Kino und – herrschendes filmisches Narrativ des im Falle von Jung-Alsens Die Bilder Holocaust. „East German filmmakers‘ des Zeugen Schattmann – Fernsehspiel treatment of Jewish persecution was in Bezug auf den Nationalsozialismus complex and contradictory“ (S.221). nicht einfach auf Geschichten antifa- Denn der ostdeutsche Holocaust- schistischen Widerstands begrenzen Film unterlag – im Gegensatz zur fil- lässt, sondern eben auch einen Raum mischen Vergangenheitsbewältigung für die fortlaufende Auseinanderset- in Westdeutschland – einer anderen zung mit der Vernichtung der europäi- sozio-politischen Rahmung: „Rather, schen Jüdinnen und Juden eröffnet. the equivalent public and scholarly debates in the GDR were shaped by Michael Karpf (Weimar) Kristopher Woofter, Will Dodson (Hg.): American Twilight: The Cinema of Tobe Hooper Austin: University of Texas Press 2021, 312 S., ISBN 97831477322833, USD 55,- In der anglophonen Medienwissen- zweitens immer dann, wenn sie den schaft werden auch 2021 weiter auteu- Blick hinaus über den tradierten Kanon ristische Sammelbände publiziert. spätbürgerlicher Legitimationsideolo- Produktiv sind sie immer dann, wenn gie und die Dominanz ihres Midcult erstens Subjektivität nur als fraktales zu werfen bereit sind. Provisorium, nicht als kohärent-essen- Allzu oft als one hit wonder diffa- tielles Konzept, gedacht wird, und miert, wird Tobe Hooper mit Ameri- 354 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 can Twilight von seiner Alma Mater in Krise, Kollaps und Katastrophe, nun ein überfälliges Denkmal gesetzt. Tumult, Tod und Terror, ausdifferen- Freilich, würden Feuilleton wie Wis- ziert in a) Kritik an Kapitalismus und senschaft nicht gleichermaßen noto- Konsumerismus, b) Darstellung von risch von Midcult regiert, The Texas Dysfunktionalität und Destruktion der Chainsaw Massacre (1974) wäre stets patriarchalen Kernfamilie, c) Entwurf in allen Bestenlisten der sowohl ästhe- instabiler Räume, deren Unheimlich- tisch komplexesten als auch historisch keit aus dem Verschleifen der Schwelle einflussreichsten Filme aller Zeiten zwischen Organischem/Anorgani- vertreten. So jedoch ist das Denkmal schem, Privatem/Öffentlichen resultiert ein Grabmal geworden, denn erst nach und d) Hybridisierung von Horror und Hoopers Tod 2017 beginnen die Eulen Humor zum Epistem – das Furchtbare der Minerva einmal mehr erst mit der ist immer nur vor der Folie des Fröhli- einbrechenden Dämmerung ihren Flug. chen zu fassen. Die Dämmerung, American Twi- Hoopers apokalyptisch-anarchische light, das ist Metier dieses cinéaste Sensibilität manifestiert sich auch und maudit gewesen, weit über das Ketten- gerade in seinen drei Auftragsarbeiten sägenmassaker hinaus. Bereits mit dem für das unabhängige Exploitation-Pro- psychedelischen Hippie-Avantgarde- duktionsstudio der Cannon von Golan/ film Eggshells (1969) – in dem analog Globus: dem Space-Vampir-Camp zu Chainsaw Massacre kein Tropfen Lifeforce (1984), dem 1950er Jahre Blut über die Leinwand fließt – erweist B-Movie-Remake Invaders from Mars Hooper sich nicht nur als Pionier des (1985) und The Texas Chainsaw Massacre Independent-Kinos, während seine 2 (1986), Hoopers vielleicht radikalstem gegenkulturellen Protagonist_innen Film – er lässt die Tragödie als Farce mit alternativen Lebensformen expe- wiederkehren. Auch einer der lohnens- rimentieren, bleibt kein dialektischer wertesten Essays in American Twilight Zweifel daran, dass währenddessen von widmet sich den Cannon-Filmen: „It is den USA in einem imperialistischen likely that Hooper’s pictures for Golan Krieg das Sein zum Tode gefeiert wird. and Globus have been overlooked and Post-Chainsaw forciert Hooper in Eaten misinterpreted not only because they Alive (1976) und The Funhouse (1981) were Cannon releases, but also because eine autoreflexive Ästhetik der Artifizi- they are horror movies from the 1980s, a alität, inszeniert mit Salem‘s Lot (1979) decade in the genre’s history that many eine der ersten Stephen King-Verfil- critics and scholars regard with disdain. mungen als neoklassisches ‚American Eighties horror, the story goes, traded Gothic‘, um im MGM-Blockbuster the gritty realism and radical politics of Poltergeist (1982) dann das ‚Reaganite 1970s horror for glossy commercialism Entertainment‘ (Andrew Britton) und and reactionary conservatism […] This seinen Spielbergismus mit dessen eige- is especially true of Hooper’s three films nen Waffen zu subvertieren. Zentrales for the company, which, cleverly remi- Thema Hoopers bleibt stets eine USA xing earlier horror and sci-fi movies, Fotografie und Film 355 not only expose the monstrousness ebenso wie den Arbeiten eines von of 1980s capitalism and conservatism Beginn an politisch erzkonservativen, in the United States and abroad, but wenn auch inszenatorisch höchst ver- also demonstrate their absolute centra- sierten Mavericks wie John Carpenter. lity to the director’s cinematic canon“ Mag dieser Bias etwas undifferenziert (S.161). Ähnliche Argumente werden sein, mit Stuart Gordon, Frank Henen- überzeugend in American Twilight für lotter, John McNaughton oder William Hoopers Episoden zu TV-Serien wie Lustig die ‚Dark Stars‘ der 1980er Jahre The Equalizer (1988) oder die direct-to- schlicht ignorieren und gerade auch video-Produktion The Toolbox Murders dem späteren Hooper kaum gerecht (2004), ja selbst für seinen stilbilden- werden, steht doch außer Frage, dass den Musikvideo-Clip zu Billy Idols Horror heute höchstens noch sympto- Dancing with Myself (1983) gebracht. matischen Wert zur Diagnose der alles Allein, einige detailliertere Analysen nivellierenden Kraft der Kulturindus- zu Hoopers Mise-en-scène, seinen Stea- trie im Mainstream der Minderheiten dicam-, seinen Chiaroscuro-, seinen besitzt. Umso mehr lohnt ein Blick in Farbkontrastinszenierungen wären American Twilight, der Distinktion im hier wünschenswert gewesen. Domi- Genre ermöglicht und ästhetisch-kri- nique Legrand hatte es vorgemacht in tische Kraft (Hoopers Remake von The seiner kleinen Monografie Les territoires Toolbox Murders als avantgardistische interdits de Tobe Hooper (Paris: Leval- Dekonstruktion von Hollywood, Stadt lois-Perret, 2017). wie System) von zynischer-reaktionärer Filmwissenschaftler wie Robin Beliebigkeit (Michael Bays Remake von Wood, einst frühester Apologet von The Texas Chainsaw Massacre als High- Hooper, haben oft betont, wie dem Definition-Konsumterror) scheidet. Horrorgenre nach den 1970er Jahren Nachdem im ‚Neuland‘ des World Wide und den häufig fernab Kaliforniens Web bereits seit einiger Zeit an einer unabhängig produzierten Indepen- Re-Evaluation von Hooper gearbeitet dent-Filmen Hoopers, aber insbeson- wird, bleibt auf ein Wachsen der Tobe dere auch George A. Romero, Larry Hooper Appreciation Society zu hoffen, Cohen, Jeff Lieberman und Wes Craven nicht nur in cinéphilen Zirkeln, son- jede ästhetische wie ideologiekritische dern auch in der Wissenschaft, selbst Strategie abhandengekommen sei. Es wenn die Zeichen dafür nicht gutstehen regierten seitdem allein die Imperative mögen. Midcult stirbt zuletzt. der Kulturindustrie, in den diversen Slasher- und Torture-Porn-Franchises Ivo Ritzer (Bayreuth) 356 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Sammelrezension Prekarität im Film Francesco Sticchi: Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/ Extinction New York: Palgrave Macmillan 2021, 261 S., ISBN 9783030632601, EUR 95,95 Gabriel Bortzmeyer: Le Peuple précaire du cinéma contemporain Paris: Hermann 2020, 236 S., ISBN 9791037003331, EUR 26,- Darstellungen von Prekarität im Kino Antonio Negri, Maurizio L azzarato, sind im Begriff, ein neues Forschungs- Christian Marazzi und Roberto Cicca- feld zu konstituieren. So hat sich relli Elemente zur Analyse der Gegen- kürzlich das internationale Cinematic wart, deren Grundzüge als extraktiver Precarity Research Network gegrün- Kapitalismus, Neoliberalismus und det, dessen Co-Initiator Francesco Prekarisierung beschrieben werden Sticchi auch eine der ersten Monogra- (vgl. S.10-17). fien zu dem Thema veröffentlicht hat. Als drei große affektive Chrono- In Mapping Precarity in Contemporary topoi der Prekarität diagnostiziert Cinema and Television entwickelt er Sticc hi Angstzustände (anxiety), einen theoretischen Rahmen, der von Depression und Vertreibung/Auslö- Konzepten des russischen Literatur- schung (extinction). Ihnen ordnet er theoretikers Michail Bachtin, von Filme und Serien zu, die jeweils Aspekte affekttheoretischer und spinozistischer eines dieser Chronotopoi in den Vorder- Filmtheorie und von Grundannahmen grund rücken. Im ersten Teil analysiert der sogenannten Italian Theory geprägt er die amerikanische Komödie Sorry ist. Bachtins Konzepte des Chronoto- to Bother You (2018), die sozialrealis- pos und der Dialogizität strukturieren tischen Dramen I, Daniel Blake (2016) seine Film- und Serienanalysen, die und La Loi du marché (2015), Andrea um eine Charakterisierung affektiver Arnolds coming-of-age-Film Fish Tank Raumzeitkonf igurationen bemüht (2009), Sion Sonos Himizu (2011) und sind (vgl. S.4f.). Filmrezeption ver- die Serie Black Mirror (2011-) als unter- steht Sticchi als körperliche Erfah- schiedlich konfigurierte Chronotopoi rung, die nicht nur eine Anklage der anxiety. Manche von ihnen haben von Ungerechtigkeiten, sondern auch mit Genderfragen zu tun, andere mit eine ethische Transformation und Prekarisierungen der Arbeitswelt, wie- neue Konzepte hervorbringen könne der andere mit neuartiger Ausbeutung (vgl. S.3f. und S.26f.). Zudem liefern im Zuge der Algorithmisierung des Vertreter des Post-Operaismus wie digitalen Kapitalismus. Fotografie und Film 357 Der zweite, der depressiven Raum/ der Zerstörung der Lebensgrundlagen Zeit-Konstellation gewidmete Teil dis- durch Naturkatastrophen im Zeichen kutiert drei Filme von Kelly R eichardt des Anthropo- oder Kapitalozäns in als Chronotopoi des prekarisierten Beasts of the Southern Wild (2012) sowie Nordwestens der USA, außerdem La – einerseits in Form des prison-indus- terra dell ’abbastanza (2018) und Non trial complex, andererseits als schei- essere cattivo (2015), die jeweils in der ternder Prozess der Desegregation –in Peripherie von Rom angesiedelt sind den Serien Show Me a Hero (2015) und und im Gewand des Crime-Genres Orange Is the New Black (2013-2019). selbstzerstörerische Entscheidungen Methodisch wirft das Buch die der soziogeografisch marginalisier- Frage auf, inwieweit sich der Begriff ten Protagonist_innen thematisieren. der Prekarisierung als gemeinsamer Hinzu kommen die Verhandlung der Nenner der sehr heterogenen Themen sogenannten Gig- oder Performance- eignet. Die Filmauswahl wirkt biswei- Ökonomie und ‚emotionaler Arbeit‘ len, als habe der Autor als interessant in Sorry We Missed You (2019), Arábia befundene Werke retrospektiv unter (2017) und Deux Jours, une nuit (2014) das Thema subsummiert, statt umge- sowie der vergeschlechtlichten Pre- kehrt induktiv anhand einer breite- karisierung von Reproduktions- und ren Auswahl zu untersuchen, wie ein Sorgearbeit in Roma (2018) und La spezifischeres Thema (etwa Migration camarista (2018). Jia Zhangkes A Touch oder gig economy) in verschiedenen Fil- of Sin (2013) und Ash is Purest White men verhandelt wird. Bezüglich der (2018) schließlich versteht Sticchi als Begriffsarbeit stellt sich die Frage, ob Beispiele eines Kinos, das soziale Ver- die ‚Chronotopoi‘ nicht ebenso gut – werfungen im heutigen China analy- ohne Verlust analytischer Schärfe, aber siert und dabei Peripherien und urbane unter Gewinn größerer Allgemein- Ruinen zur affektiven Umwelt macht, verständlichkeit – als ‚Anordnungen‘ in der Fragmentierung und der Mangel oder ‚Atmosphären‘ bezeichnet wer- an klaren Lebensentwürfen die domi- den könnten. Bezüglich des ‚Dialogis- nanten Muster bilden (vgl. S.164). mus‘ wiederum besteht eine doppelte Den dritten, als „Vertreibung/ Gefahr: Erstens tendiert Sticchi zur Auslöschung“ identifizierten Chrono- metaphorischen Rede (so werden etwa topos-Komplex erkennt der Autor auf die oppositionellen Vorstellungen von verschiedene Weise realisiert in Parasite Weiblichkeit im Kapitel zu Fish Tank (2019), in tödlichen Grenzregimen und zur „dialogical confrontation between rassistisch motivierter Ausgrenzung the physicality of the group of young in Mediterranea (2015), Wind River dancers and Mia’s one“ [S.64]); zwei- (2017), Junction 48 (2016) sowie in der tens changiert das Konzept zwischen durch Prekarisierung verunmöglich- dialogischen Konstellationen – a) auf ten Kindheit in A Ciambra (2017) und der Ebene der Diegese, b) auf der Ebene The Florida Project (2017). Spielarten der Narration (etwa zwischen ver- desselben Chronotopos sieht Sticchi in schiedenen Episoden derselben Serie) 358 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 und c) auf der Ebene der Relation von in seinen Filmen durchdekliniere, die Zuschauer_in und Film. Sieht man von aber auch in anderen neueren Werken solchen Unklarheiten ab, ist S ticchi ein zu finden seien. schönes und an vielen Stellen erhel- Der erste Hauptteil von Le Peuple lendes Panorama mit interessanten précaire du cinéma contemporain, das Einzelbeobachtungen zur Prekarität Kapitel „Réalisme et Republique“, dis- in zeitgenössischen Filmen und Serien kutiert Filme von Abdellatif Kechiche, gelungen. Bruno Dumont, Jean-Charles Hue Der französische Filmwissenschaft- und Rabah Ameur-Zaïmeche vor dem ler Gabriel Bortzmeyer hat mit Le Peu- Hintergrund einer Charakterisierung ple précaire du cinéma contemporain ein des französischen Realismus in der Buch vorgelegt, das analytisch genau, Literatur des 19. und frühen 20. Jahr- philosophisch und historisch informiert hunderts. Eine dort herrschende Tem- und vorzüglich geschrieben ist. Kon- peratur-Metaphorik ordnet die Wärme zeptuell im Zentrum steht bei ihm die den unteren Schichten, die Kälte dage- Kategorie des ‚Volkes‘ – ein Begriff, der gen der Bourgeoisie zu. Gleichzeitig in Frankreich, anders als in Deutsch- etabliert sich die Sprache als Prisma land, keine völkischen Konnotationen der Differenzen: Soziolekte in ver- hat, sondern die Heterogenität der schiedenen Abstufungen werden in von der Elite abgegrenzten populären der Literatur zur Markierung gesell- Klassen bezeichnet. Im ersten Teil schaftlicher Zugehörigkeit schlecht- des Buchs konturiert Bortzmeyer das hin. Dieses Erbe sieht Bortzmeyer Konzept mit Blick auf einschlägige auch im Film am Werk, wobei er Texte von Pierre Rosanvallon, Ernesto Unterschiede des neueren Kinos zum Laclau, Jacques Rancière und anderen. poetischen Realismus der 1930er Jahre Die Grundfrage lautet: Welche spezi- herausarbeitet, der die literarische Tra- fischen Figurationen des Volkes zeich- dition erstmals in Filmdialoge über- nen sich in zeitgenössischen Filmen ab? setzte. Während Jean Renoir, Marcel An die methodische Hinführung Carné und andere eine Theatralisie- zu den Begriffen des Volkes und der rung und Poetisierung der populären Figuration schließen drei analytische Sprechweise wählten (vgl. S.78), habe Teile unterschiedlichen Gewichts an. sich die Kluft zwischen gehobenem Der erste, dem chinesischen Filmema- Französisch und dem Sprechen der cher Jia Zhangke gewidmete Teil dient Prekarisierten in aktuellen Filmen teilweise noch der Exemplifizierung vertieft. Blieb die Grammatik ehedem des Problems, zieht aber auch ein Fazit weitgehend intakt, ist nun eine Radi- in Hinblick auf Jias Figurationen des kalisierung der Abweichung zu beo- Volkes: Stets würden bei ihm zwei For- bachten: bei Kechiche in Form einer men des Volkes überblendet, ein altes reduzierten Lexik (und daher großer und ein neues, ein proletarisches und Redundanz) und eines Exzesses von ein prekäres, ein integriertes und ein Einschüben (wie „t’as vu“, „inch’allah“, exkludiertes – Oppositionen, die Jia „laisse tomber“); bei Dumont – der das Fotografie und Film 359 Volk oft in der Figur des Idioten per- verzichten die Werke aus den Jahren sonifiziert – in Form einer Konden- zwischen 2011 und 2014 weitgehend sierung (Vokale werden verschluckt) auf Erläuterungen. Die Akephalie der und eines Fehlens mancher Wortka- neo-demokratischen Bewegungen, die tegorien (etwa Adverbien); bei der von in der Besetzung von Plätzen und der Hue porträtierten Gemeinschaft der Ablehnung des Repräsentationssy- Jenischen durch ähnlich extensive Ein- stems ihren Ausdruck findet, schlage schübe wie bei Kechiche, eine auf die sich so in der Form der Filme nieder. Subjekt-Prädikat-Objekt reduzierte In seinen Analysen von Stefano Savo- Syntax sowie häufige Wiederholungen nas Tahrir (2011), Peter Snowdons The von Phrasen und Sätzen; bei Ameur- Uprising (2013), Sylvain Georges Vers Zaïmeche schließlich, dessen Filme Madrid: The Burning Bright (2014) und Bortzmeyer als soziologische oder S ergei Loznitsas Maidan (2014) arbeitet archäologische Studien der Banlieue Bortzmeyer präzise heraus, wie dieses liest, durch eine größere Freiheit in der verbindende Prinzip jeweils ganz unter- Aktualisierung der soziolinguistischen schiedliche Ausprägungen annimmt. Tradition des Naturalismus und daher Im Fazit blickt der Autor zum eines abgeschwächten Sozialdetermi- einen auf die Figur der illegalisier- nismus oder -fatalismus. ten und klandestinen Migrant_in als Im zweiten Hauptteil „Peuple révo- extreme Ausformung der Prekarisie- lutionnaire“ untersucht Bortzmeyer rung, die mit den zuvor diskutierten essayistische Filme, die Protestbe- nur in einem virtuellen Verhältnis wegungen und Platzbesetzungen in stehe (vgl. S.225). Zum anderen stellt der revolutionären Sequenz der frü- er in einer Tabelle die Attribute des her 2010er Jahre dokumentieren (die ‚modernen Volkes‘ denen des ‚postmo- Rebellionen und Revolutionen in der dernen Volkes‘ gegenüber. Insgesamt arabischen Welt, die Occupy-Bewe- hat Bortzmeyer ein überzeugendes und gung, den ukrainischen Euromaidan). inspirierendes Buch geschrieben, dem Hier bedient sich der Autor marxistisch eine – aufgrund der anspruchsvollen inspirierter Dokumentationen und Agi- Sprache wohl nicht ganz einfach zu tationsfilme aus den 1930er und 1970er bewerkstelligende – Übersetzung sehr Jahren als Kontrastfolie. Während diese zu wünschen wäre. massiven Gebrauch von einer autori- tativen Kommentarstimme machten, Guido Kirsten (Potsdam) 360 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Hörfunk und Fernsehen Eve Bennett: Gender in Post-9/11 American Apocalyptic TV: Representation of Masculinity and Feminity at the End of the World New York: Bloomsbury 2020, 224 S., ISBN 9781501366536, EUR 39,50 Susan Faludi stellte 2007 die These auf, Its Pitfalls“, „The Prince Hal Narrative“, dass Männer und Frauen in den USA „Patriarchal Conspiracy and Female nach den Anschlägen vom 11. Septem- Victims“ sowie „Twenty-First-Century ber 2001 innerhalb kürzester Zeit auf Female Weapons“ unterteilt. Da „mas- ihre traditionellen Rollen zurückgewor- culinity and the relationship between fen worden seien (vgl. The Terror Dream: men“ in einschlägigen Serien „major Fear and Fantasy in Post-9/11 Ame- concerns“ (S.189) seien, wohingegen rica. New York: Metropolitan Books, ein „general lack of close relationships 2007). Schuld daran seien nicht zuletzt between women“ (ebd.) konstatiert wer- Medien, Unterhaltung und Werbung, den müsse, richtet sie einen besonderen die nach 9/11 Männlichkeitsvorstel- Fokus auf männliche Charaktere, ihre lungen, die Kernfamilie und „redome- Beziehungen untereinander und auf die sticated feminitiy“ (S.3) propagierten, Konstruktion von Männlichkeit. wie sie zur Zeit des Kalten Krieges Anhand der beiden Serien The Wal- herrschten. Eve Bennetts Studie Gender king Dead (2000-) und Heroes (2006- in Post-9/11 American Apocalyptic TV 2010) beleuchtet Bennett im ersten untersucht nun, ob Faludis Feststel- Teil idealisierte Männlichkeitsformen. lung auf postapokalyptische TV-Serien Wie die Autorin zeigt, greift The Wal- zutrifft und fortschrittliche Gender- king Dead das Männlichkeitsideal des Rollen, wie sie etwa in den unmittelbar Cowboys auf und lässt seine männ- vor und um 2000 entstandenen Serien lichen Charaktere äußere und innere Buffy the Vampire Slayer (1997-2003) Konflikte austragen, die aus Western und Xena: Warrior Princess (1995-2001) bekannt sind. Des Weiteren messen die zu finden waren, einem „anti-feminist Figuren der Serie Männlichkeit daran, backlash“ (S.5) zum Opfer fielen. Ihr inwieweit die männlichen Charaktere Untersuchungskorpus besteht aus 25 Frauen beschützen können. Auch darin US-amerikanischen TV-Serien nicht- gleichen sie Western. Scheitern in The realistischer Genre (Science-Fiction, Walking Dead entsprechende Versuche Fantasy, Horror), die zwischen 2002 der Männer, wird in Heroes die „male- und 2012 erstmals ausgestrahlt wurden. superhero-rescues-damsel-in-distress Bennett hat ihre Untersuchung in die trope“ (S.50) ein ums andere Mal vier Kapitel „Heroic Masculinity and gebrochen. Zudem hadern „‚ordinary’ Hörfunk und Fernsehen 361 men“ (S.51) in beiden Serien mit ihren wie Fringe (2008-2013), Falling Skies Geschlechterrollen oder fühlen sich (2011-2015) und Bionic Woman (2007) von Frauen unterdrückt. Angesichts die vergeschlechtlichte Dynamik zwi- der Apokalypse versuchen sie, zu einer schen patriarchalen Verschwörungen „traditional and ‚authentic‘ form of mas- und ihren weiblichen Opfern. Dabei culinity“ (ebd.) zurückzukehren. Doch sticht vor allem zweierlei ins Auge: schlagen ihre Versuche einer „remascu- Zum einen sind es in der Regel Väter, linization“ (S.52) fehl. die ihre Töchter zu Opfern machen, Im zweiten Abschnitt befasst sich zum anderen sind die Angehörigen Bennett zwar ebenfalls mit Männlich- der konspirierenden Organisationen keitskonstruktionen, geht aber unter zumeist weiß, männlich und gehören dem sich auf William Shakespeares der „middle upper class“ (S.107) an. Königsdramen beziehenden Stich- Im letzten Abschnitt zeigt die wort des ‚Prince Hal Narrative‘ Vater/ Autorin anhand der fünf Serien Sohn-Beziehungen in den Serien Jericho Firefly (2002-2003), Fringe, Caprica (2006-2008), Battlestar Galactica (2004- (2009-2010), Bionic Woman und Ter- 2009) und Supernatural (2005-2020) minator: The Sarah Connor Chronicles nach. In der Prince-Hal-Trope drängt (2008-2009), dass Frauen, so stark der heldenhafte Vater seinen Sohn sie – zumeist aufgrund technischer angesichts apokalyptischer Verhält- oder genetischer Eingriffe – auch sein nisse, in seine Fußstapfen zu treten. Ist mögen, stets für einen männlichen Jerichos Interpretation des Prince-Hal- Boss arbeiten, dessen Kommando sie Narrative „unambiguosly triumphant“ unterstehen und der ihnen gegenüber (S.61), so ist in Battlestar Galactica das zugleich eine Vaterrolle einnimmt, Gegenteil der Fall. Der Sohn Adamos wenn er nicht sogar ihr leiblicher Vater verweigert sich dort am Ende sogar der ist. Übernahme der heldischen Rolle, die Ihre vielschichtige, differen- jener zuvor einnahm. zierte und detailreiche Analyse der Da Mutter/Tochter-Beziehungen in Geschlechterkonstruktionen der Serien den Serien nicht zuletzt darum keine führt Bennett zu dem überzeugenden Rolle spielen, weil die Mütter zumeist Schluss, dass diese die Problematik her- abwesend sind, befasst sich die Auto- kömmlicher Geschlechterrollen zwar rin in den letzten beiden Kapiteln mit durchaus erkennen, sie aber nicht wil- Vater/Tochter-Beziehungen. Im drit- lens oder nicht fähig sind, sich Alterna- ten Kapitel dekonstruiert Bennett ins- tiven vorzustellen. besondere anhand der Serie Dollhouse (2009-2010), aber auch an Beispielen Rolf Löchel (Marburg) 362 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Vincent Fröhlich, Sophie G. Einwächter, Maren Scheurer, Vera Cuntz-Leng (Hg.): Serienfragmente Wiesbaden: Springer 2021, 426 S., ISBN 9783658299507, EUR 49,99 Fernsehserien – gleich ob sie ein epi- wird, „dass Länge, Folgenanzahl und sodisches oder serielles Erzählformat Einstellung von Serien als Normie- aufweisen – sind im Gegensatz zu rungskategorien oder Qualitätsmerk- einem Film ein offen angelegtes For- male nur wenig Aussagekraft besitzen“ mat. Das Genre ist dabei divers und (S.5). Der Fragmentstatus bleibt also in reicht von der Seifenoper, die tatsäch- erster Linie ein gefühlter. Gleichwohl lich als zunächst endloses, immer weiter schieben die Herausgeber_innen eine erzähltes Format gilt, bis hin zur vom etwas versteckte Begriffsklärung hin- production value mit Kinoproduktionen terher, wenn sie das Verhältnis von einer vergleichbaren ‚Event‘-Serien. Nicht einzelnen Folge zu einer Staffel und immer jedoch bekommen Serien vom mehrerer Staffeln zu einem Ganzen Publikum den erhofften Zuspruch, diskutieren. Auch wenn Serien sich was in der Regel zur Absetzung des nicht wie einzelne Filmwerke verhalten, Werks führt. Hier setzt das vorliegende so fehlt offensichtlich bei Serienfrag- Buch an, in dem sich das Herausge- menten „das Ende, das die endgültige ber_innen-Quartett mit „exemplarisch Deutungshoheit den Rezipienten über- ausgewählten Serien, die als unvollen- gibt; es fehlt der abschließende Rahmen det gelten und/oder frühzeitig abgesetzt (S.6). wurden“ (S.2) befasst. Dabei stehen die Die Herausgeber_innen formu- Herausgeber_innen bereits in der Ein- lieren abschließend drei Aspekte, die leitung vor einem Dilemma: Woran in Bezug auf die untersuchten Seri- erkennt man, dass Serien tatsächlich enfragmente von Bedeutung sind: unvollendet sind? Der Klärung dieser die Gründe für das vorzeitige Ende Frage entzieht sich der Band geschickt (Ökonomie), die fragmentarische unter Verweis auf das Ziel, dass „der Serie selbst (Inhalt) und ihr Nachleben vorliegende Band in seiner Gänze (Kontext). Im Buch folgen sodann 23 aufzeigen und unterstreichen [soll], Kapitel zu jeweils einer als fragmenta- dass frühzeitig abgesetzte und als risch erkannten Serie. Die naturgemäß unvollendet empfundene Serien einen subjektive Auswahl erscheint geradezu großen, wenn nicht sogar den größe- eklektisch, reicht sie von ALF (1986- ren Teil der Fernsehserienlandschaft 1990) über Battlestar Galactica (1978- ausmachen, aber ihre Häufigkeit sich 1979), Police Squad! (1982) oder Sense8 entgegengesetzt zu ihrer wissenschaft- (2015-2018) bis hin zu Twin Peaks lichen Betrachtung verhält“ (S.3). Mit (1990-1991). Interessanterweise fin- dieser Vermeidung einer Kategorisie- det sich mit Kanzleramt (2005) auch rung macht es sich das Buch ein wenig eine deutsche Serie in der Auswahl. leicht, auch wenn darauf hingewiesen An die von den Herausgeber_innen Hörfunk und Fernsehen 363 formulierte Dreiteiligkeit der bedeut- hier wahrscheinlich den Begriff reboot samen Aspekte halten sich nicht alle bemühen). Beitragenden, was jedoch der Qualität Das alles ist jedoch kleine Kri- der Beiträge insgesamt nicht schadet. tik auf hohem Niveau. Insgesamt ist Gleichwohl driften einige Beitragende den Herausgeber_innen und Beiträ- zuweilen in ihrer Argumentation vom ger_innen ein sehr erhellender Band eigentlichen Untersuchungsobjekt ab, zu fragmentarischen Serien gelungen, wenn etwa Markus Kügle in seinem der eine Forschungslücke füllt und auch Beitrag zu ALF ausführlich über die zu anschließender Forschung animiert. Begrifflichkeiten von Cliffhanger und Auffällig ist tatsächlich, dass einige Finalecliff diskutiert. Damit verlässt der hier vorgestellten Fragment-Serien er bereits früh im Beitrag den Aus- doch nicht ‚einfach so‘ endeten, sondern gangspunkt – nämlich den tatsächlich in der einen oder anderen Weise eine völlig verunglückten Cliffhanger in der Fortsetzung fanden. Dies war bei den letzten Episode der vierten Staffel, um obigen Beispielen ein Genrewechsel hin nach einem großen Bogen schließ- zu Fernseh- beziehungsweise Kinofil- lich doch noch auf die Fortsetzung men. Doch gab es auch Sequel-Serien, im Fernsehfilm Project ALF (1996) die den fragmentarischen Faden wieder zurückzukommen. Vielleicht wäre aufnahmen, um dann selbst fragmenta- es gerade hier vorteilhafter gewesen, risch zu bleiben wie etwa bei Battles tar sich noch stärker mit der offensicht- Galactica, welche sogar mehrere Rein- lichen Diskrepanz zwischen Serie karnationen in den 2000er Jahren her- und Film auseinanderzusetzen, was vorbrachte, oder aber Twin Peaks, der das Setting und die Story betrifft. sowohl ein Kinofilm als auch eine Serie Das Prägende der Serie, nämlich der im Jahr 2017 folgten (welche mitunter Konflikt zwischen dem anarchischen auch als dritte Staffel bezeichnet wird). Außerirdischen und seiner boden- Dies wäre durchaus ein Anlass für ständigen, wenn nicht zuweilen fast eine anschließende Forschung, die sich spießigen Gastfamilie, den Tanners, weniger auf einzelne Serien bezieht, ist im Film nicht existent und führt sondern auf offensichtlich häufig zu einer grotesken Karikatur des ALF- auftretende strukturelle Gemein- Charakters. Wesentlich stärker an das samkeiten. Im Nachwort des Bandes Untersuchungskorsett der Heraus- geben die Herausgeber_innen auch gebenden hält sich da etwa Wieland Anstoß hierzu. Angesichts der Serien- Schwanebeck, der sich in seinem renaissance, die insbesondere durch die Beitrag zu Police Squad! ebenfalls mit Streaming-Anbieter momentan voran- dem Genrewechsel zwischen Sitcom getrieben wird, ist schließlich anzuneh- und Film auseinandersetzen muss, men, dass auch zukünftig viele Serien wo das Nummernhafte der Slapstick- über einen fragmentarischen Status Comedy beibehalten wurde und teil- nicht hinauskommen werden. weise ganze Pointen wiederverwendet wurden (in heutiger Zeit würde man Sebastian Stoppe (Leipzig) 364 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Dominik Maeder, Herbert Schwab, Stefan Trinkaus, Anne Ulrich, Tanja Weber (Hg.): Trump und das Fernsehen: Medien, Realität, Affekt, Politik Köln: Herbert von Halem 2020, 379 S., ISBN 9783869625058, EUR 34,- In dem Band Trump und das Fernsehen zweifelhaften Geschäftspraktiken, wird mehrfach auf die Konzeption des finanziellen Fiaskos und vor allem: amerikanischen Medienökologen Neil sein notorisches Verlangen nach Medi- Postman verwiesen, der bereits Mitte enpräsenz, etwa in Reality TV, Late der 1980er Jahre auf die Ununterscheid- Night Talk und im Netz“ (S.9). Der barkeit von Nachrichten- und Unter- sogenannte ‚Trumpismus‘ gilt Richard haltungsformaten im amerikanischen Grusin zufolge als „ein von Intoleranz Fernsehen verwiesen hat. Wir amüsieren eingetrübtes, dem Reichtum entsprun- uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter genen und tief in der Geschichte der der Unterhaltungsindustrie (Frankfurt Segregation, des Sexismus und der am Main: Fischer, 1988) war der deut- Ausbeutung verwurzeltes Streben nach sche Titel seines Buches, in dem er persönlichen und politischen Vorteilen“ darauf hingewiesen hat, dass im Fern- (S.31). Bewusst artikulierte Grenz- sehen jedes Thema als Unterhaltung überschreitungen des selbstgerechten präsentiert wird und somit die Urteils- Egomanen werden nach Einschätzung fähigkeit der Bürger_innen in den von Stefan Trinkaus strategisch ein- USA gefährdet sei. Postman beklagte gesetzt, um Aufmerksamkeit zu errei- einen Mangel an Glaubwürdigkeit chen: „Trump missachtet bürgerliche und Wahrhaftigkeit, die zu einer Ent- Sitten, er zieht seinen Genuss gerade leerung einer rationalen Politik führe. aus ihrer Übertretung und zugleich Durch diese Entwicklung sah er eine bedient er die in diesen Sitten ver- Bedrohung der Demokratie. ankerten Ressentiments“ (S.220). Die zwölf Aufsätze des Sammel- Trumps Sprüche und Gesten dienen bandes Trump und das Fernsehen wid- der Ausgrenzung des politischen Geg- men sich zum Teil daran anknüpfend ners und kritischer Medien. Affekte den Medienauftritten des letzten und Emotionen sind für ihn wichtiger amerikanischen Präsidenten. Bereits als Argumente und Fakten. Konträre in der Einleitung des Bandes werden Positionen und kritische Äußerungen die Charaktereigenschaften Donald werden von Trump und seinen Mit- Trumps wie folgt charakterisiert: „Der streiter_innen als sogenannte ‚Fake politische Außenseiter fällt auf durch News‘ abqualifiziert, während falsche seinen Hang zum öffentlich gerne Behauptungen als alternative Fakten unterhalb der Gürtellinie ausgetra- glorifiziert werden. Einfache Feind- genen Disput, sein opportunistisches bilder tragen dazu bei, eine Differenz Verhältnis zur Wahrheit, seine ästhe- zwischen den eigenen Anhängern und tische Extravaganz, multiplen Ehen, politischen Gegnern vorzunehmen. Hörfunk und Fernsehen 365 Als guter Journalismus gilt Dominik Chaos steckt, sondern eine klare Maeder zufolge für Trump nur eine strategische Linie“ (S.125). Trumps Form der ‚Hofberichterstattung‘, die Medienauftritte im Wahlkampf und demütig und anbiedernd die Aussagen während seiner Präsidentschaft waren und Politik des Präsidenten unterstützt minutiös geplant. Dies galt vor allem (vgl. S.52). für die Tweets, die nicht unreflektiert Die Autor_innen des Bandes und spontan zustande kamen, son- unternehmen den Versuch, Gründe für dern einer narrativen Strategie folgten Trumps politischen Erfolg zu finden und immer ähnlich zusammenge- und beziehen neben seinen schrillen, setzt waren. Dieser Wiedererken- schrägen und exzentrischen Fern- nungseffekt durch eine einfache und sehauftritten auch seine Twitter- und gleichzeitig effektive Gestaltung der weiteren Onlineaktivitäten mit in die Aussagen konnte Zustimmung und Analyse ein. Zunächst hat Trump es Gefolgschaft generieren. Die einfache verstanden, Fernsehkanäle wie FOX Sprache machte es den Follower_innen als treue Gehilfen zu instrumenta- auf Twitter leicht, die oftmals unter- lisieren. Weiterhin kam ihm seine komplexen Botschaften zu verstehen. Bekanntheit und sein hoher Unterhal- Es wurden simple Lösungen für kom- tungswert zugute. Bereits vor seiner plexe Probleme angeboten, die bei den Präsidentschaftsbewerbung verfügte Anhänger_innen gut angekommen der Unternehmer über eine umfassende sind. Zugleich nahm Trump die Rolle Medienpräsenz: „Trump saß in Talk- eines fürsorglichen Präsidenten ein, shows, hatte Cameoauftritte in Kino- der sich seinen Aussagen zufolge als filmen und Fernsehserien, füllte mit deren Stimme um die amerikanischen Affären und Scheidungen die gemisch- Bürger_innen kümmerte. Getreu ten Seiten der Zeitungen und verbrei- dem Motto ‚America first‘ war aber tete Business-Weisheiten mit seinem auch sein egoistischer Anspruch als Buch The Art of the Deal“ (S.90) Es Unternehmer, das eigene Land gege- wird deutlich, dass Trump auch wäh- benenfalls auch auf Kosten anderer rend seiner Amtszeit weniger als Politi- Staaten ganz oben zu positionieren. ker, sondern primär als Entertainer und Dabei verfolgte er eine klare Ausrich- Unternehmer auftrat. Es ging immer tung: „Trump behandelt[e] Medien um ein „Zusammenspiel von Entertain- wie Immobilienobjekte und über- ment, Marketing und Politik“ (S.318). schwemmte den Medienmarkt mit Dabei spielt auch seine Familie eine medialen Trump-Objekten. Innovativ entscheidende Rolle für den Erfolg. Die waren und sind seine Kopplung von familienbasierte Vermarktung wurde sozialen und alten Medien sowie die strategisch genutzt, um Identifikation kalkulierte Inszenierung von Fern- und Zustimmung beim Wahlvolk zu sehauftritten zu Beginn des Wahl- erreichen. kampfs, etwa die Ankündigung der Es wird herausgearbeitet, „dass Kandidatur im Trump Tower, die eine hinter seinem Erfolg nicht das reine Episode aus The Apprentice sein könnte. 366 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Seine politische Inszenierung stellt[e] ihrem Beitrag aufzeigt. Interessant ist eine Hybridisierung von Comedy und auch die Einschätzung von Sophie G. Politik da, die auf mediale Aufmerk- Einwächter (vgl. S.319), die den ehe- samkeit um jeden Preis, egal ob positiv maligen amerikanischen Präsidenten oder negativ, aus ist. Und auch Trump aus der Perspektive der Fan- und Cele- veränderte die Fernsehlandschaft und brity Studies heraus charakterisiert. brachte mit FOX ähnliche parteiische Es geht hierbei primär um die Marke Sender hervor wie Berlusconi“ (S.302). eines Politikers, die sich auch durch die Es wird im Buch herausgearbeitet, dass zunehmende Mediatisierung von Poli- Anleihen des Reality-TV bei seiner tik erklären lässt. Politische Konzepte, Mediendarstellung ebenso zu beobach- Problemlösungsstrategien, Gemein- ten sind wie symbolische Politikinsze- wohlorientierung und Verantwortung nierungen. Hierzu liegen zahlreiche für die Bürger_innen gehörten dabei Beispiele entsprechender Auftritte vor. nicht zu den Tugenden des Ex-Präsi- „Er lädt Fernsehkameras ein, um die denten: „Politische Argumente prallen Shows seiner exekutiven und natio- an Trump jedoch ab, weil er wie sich nalen Dominanz zu dokumentieren, ihrer Logik und dem ihnen zugrunde- von inszenierten Gesetzesunterzeich- liegenden Wertesystem nicht verpflich- nungen über aggressives Händeschüt- tet fühlt“ (S.319). teln mit Staatsbesucher_innen bis zu Der lesenswerte Sammelband liefert polternden COVID-19-Briefings, in eine fundierte Analyse des Medienphä- denen er das Weiße Haus als Schau- nomens Trump aus unterschiedlichen platz für eine Ein-Mann-Reality Show Perspektiven. Dabei fokussieren sich die nutzt, die Trump – endlich – vollstän- Autor_innen primär auf die Mechanis- dig kontrolliert“ (S.183). men einer auf Bilder und Affekte rekur- Trumps Auftritte verfügten über rierenden Populärkultur, die in den einen hohen Unterhaltungswert Sie alten und neuen Medien auch für den setzten auf Affekte, boten Raum für Politikbetrieb eine enorme Wirkung Emotionen und Anschlussdiskurse, erzeugen können. Daran anknüpfend arbeiteten mit Feindbildern und bietet sich als weitere Buchempfehlung erzeugten somit eine hohe öffentliche die Lektüre der Monografie Trump! Aufmerksamkeit. Dabei lassen sich POPulismus als Politik (Berlin: Bertz + Gemeinsamkeiten zum ehemaligen Fischer, 2017) von Georg Seeßlen an, italienischen Ministerpräsidenten in der der ehemalige US-Präsident als Silvio Berlusconi aufzeigen, der wie Produkt der Kulturindustrie analysiert Trump ein reicher und erfolgreicher wird. Unternehmer war, bevor er in die Politik einstieg, wie Tanja Weber in Christian Schicha (Erlangen) Hörfunk und Fernsehen 367 Stefania Marghitu: Teen TV New York: Routledge 2021, 246 S., ISBN 9781138713895, EUR 38,- Teenagerspezif ische Serien bilden Unter „Baby Boomer Teen TV“ geht es gerade bei Streaminganbietern wie etwa um die erste Generation, die mit Netf lix einen zentralen Bestandteil dem Massenmedium Fernsehen auf- des gegenwärtigen Programms. Im wuchs, um die aufkommende Bürger- Vergleich zum sogenannten Quality rechtsbewegung und die Herausbildung TV sind sie allerdings relativ wenig von Archetypen der Teenagerserien. Im erforscht. Die Monografie Teen TV Kapitel „Generation X Teen TV“ fin- verspricht eine Analyse des aktuellen, det eine Altersgruppe Beachtung, die auf Jugendliche fokussierten Serienseg- nicht mehr zwingend auf einen sozi- ments und eine fernsehhistorische Ein- alen Aufstieg gegenüber den Eltern ordnung. Von frühen Familiensitcoms hoffen konnte, und es steht ein Jugend- ab den 1940er Jahren, die noch stark fernsehen in der „multichannel post- im Radio verwurzelt waren, bis hin zu network era“ (S.74) im Vordergrund. gegenwärtigen Streamingdramen will Das US-Fernsehen entwickelte sich Stefania Marghitu vor allem im US- hin zu zielgruppenspezifischeren und Kontext ausloten, wie das Fernsehen dabei auch klar auf Teenager fokussier- Kontakte zu dem schwer erreichbaren ten Programmen wie der Soap Beverly Teenagerpublikum geknüpft und vom Hills 902010 (1990-2000); von der Kri- Teenagersein erzählt hat. Teen TV ver- tik gelobte Serien wie My So-Called steht sie entsprechend als Fernsehen, Life (1994-1995) waren im damaligen das sich einerseits durch die jugendli- Medienumfeld aber doch zu ‚nischig‘, che Kernzielgruppe und andererseits um weiterproduziert zu werden. durch Coming-of-age-Geschichten Im Kapitel „Millenial Teen TV“ auszeichnet. In den Repräsentationen thematisiert Marghitu den Einfluss adoleszenter Figuren und ihrer Über- mobiler Technologien und digitaler gangsriten spiegeln sich nach Marghitus Räume sowie die freizügigeren Dar- Grundannahme sowohl gesellschafts- stellungen von Drogenkonsum und politische als auch mediale, televisuelle Sexualität bei Kabel- und Streamin- Entwicklungen wider. ganbietern. Außerdem beginnt sie, Die fernsehspezifische und breitere unter anderem durch die Analyse des Kontextualisierung zeichnet sich in der britischen Formats Skins (2007-2013), Struktur des Buches ab: Die vier Kapitel den Blick über das US-Fernsehen sind chronologisch nach Generationen hinaus zu weiten. Im finalen, gegen- geordnet. Zu Beginn thematisiert die wartsbezogenen Kapitel „Gen Z Teen Autorin jeweils, wie sich das Fernsehen, TV“ lotet die Autorin insbesondere Ausprägungen von Jugend und die US- Potenziale aus, diverser und inklusiver amerikanische Gesellschaft in den ein- in Jugendserien zu erzählen. In diesem zelnen Zeitabschnitten verändert haben. Zusammenhang analysiert sie vor allem 368 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 das HBO-Drama Euphoria (2019-) und In den Interviewanhängen zeich- die Hulu-Serie East Los High (2013- net sich außerdem das grundlegendere 2017) mit einem reinen Latino-Pro- Problem der Monografie ab, Verschie- duktionsteam. denes aneinanderzureihen und unzu- Entsprechend stehen in den Kapi- reichend argumentativ zu verknüpfen. teln immer wieder einzelne Serien- Einzelne Auseinandersetzungen mit beispiele im Vordergrund. Neben den Serienbeispielen und ihren Paratexten dortigen Themen und Figuren berück- fallen zudem recht deskriptiv aus, zum sichtigt Marghitu Stars und Celebrities, Beispiel wenn die Autorin ausführlich die programm- und medienübergrei- Handlungsinhalte von Veronica Mars fend konstruiert werden. In diesem (2004-2019) rekapituliert. Klarere Zusammenhang befasst sie sich auch übergeordnete Thesen, ein genaueres mit Geschlechterdarstellungen im Teen Begriffsverständnis von Teen TV und TV, das sie als „gender factory“ (S.5) eine stärkere theoretische Fundie- einstuft, und mit einem transmedialen rung hätten dieser Untersuchung des Erzählen beziehungsweise worldbuil- Jugendfernsehens gutgetan. Das Desi- ding, das ihr zufolge gerade Jugend- derat einer argumentativen Zusam- serien charakterisiert. Immer wieder menführung wird im Mangel eines tangiert die Autorin neben der Reprä- Fazits besonders sichtbar. Immerhin sentation die Produktionsseite, die auch gelingt es der Autorin, interessante durch Interviews mit Showrunner_ Teilergebnisse zutage zu fördern, etwa innen und Kostümdesigner_innen ein- wenn sie die Behauptung hinterfragt, zelner Jugendserien Beachtung findet. dass US-amerikanische Jugendse- Die Interviewtranskripte wirken, rien ihre Wurzeln in Coming-of-age- am Ende der einzelnen Kapitel ste- Kinofilmen der 1980er (wie z.B. The hend, allerdings recht losgelöst. Den Breakfast Club [1985]) haben und „teen Production Studies, in denen Marghitu archetypes“ (S.23) bereits in Fernseh- ihre Arbeit zu Beginn verortet, werden produktionen der 1950er Jahre heraus- sie in der komprimierten Form kaum arbeitet. Lobenswert, wenngleich in gerecht. Die Verfasserin versäumt es der vorliegenden Form nur bedingt weitgehend, diese Erhebungsmethode befriedigend, ist auch der Versuch, einzuordnen und die Aussagen der Produktions- und Rezeptionsstudien Produzierenden daraufhin kritisch zu mit textuellen Fernsehanalysen zusam- interpretieren. Auch eine Gegenüber- menzudenken und multiperspektivisch stellung mit textuellen Serienanalysen auf das Teen TV zu blicken. beziehungsweise eine genauere Metho- denreflektion bleiben aus. Florian Krauß (Siegen) Hörfunk und Fernsehen 369 Bridget Rubenking, Cheryl Campanella Bracken: Binge Watching: Motivations and Implications of Our Changing Viewing Behaviors New York: Peter Lang 2020, 193 S., ISBN 9781433161933, EUR 102,95 Mit ihrem Buch Binge Watching: Moti- („Addiction“ [S.179]) aussprechen und vations and Implications of Our Chan- eine Reihe von Forschungsdesideraten ging Viewing Behaviors geben Bridget und möglichen Anschlusspunkten auf- Rubenking und Cheryl Campanella führen (vgl. S.181-185). Bracken eine weitgreifende und ordent- Insgesamt werden damit eine Reihe liche Übersicht über das Medienphäno- wichtiger Dimensionen des binge wat- men binge watching und den aktuellen chings vorgestellt und innerhalb der Forschungsstand rund um historische, Zuschauer_innenforschung kontex- industrielle, soziale und individuelle tualisiert. Als besonders gelungen Dimensionen des populären Kon- möchte ich dabei das fünfte Kapitel summodus. Inhaltlich strukturiert ist herausstellen, in dem die Autorinnen der Text dabei in sieben Kapitel: eine nicht nur aktuelle mediensoziologische Einleitung, die auch einen Definiti- Forschungen vorstellen und sie zu- onsentwurf für binge watching vor- schauer_innentheoretisch einordnen, stellt (vgl. S.1-20), einen historischen sondern auch konstruktiv aktuelle Abriss über Entwicklungen im nor- Ansätze kritisieren und sich für eine damerikanischen Fernsehen und die Ausweitung der Forschungsweisen Ermöglichung von Zuschauer_innen- aussprechen (vgl. S.117f.). Auch beto- eingriffen in die Programmgestaltung nen sie als Alleinstellungsmerkmal (vgl. S.21-42), eine Verhandlung von des binge watchings weniger die quan- Aspekten der Produktion und Distri- titativen Aspekte des Medienkonsums, bution von bingeworthy Inhalten (vgl. sondern seine qualitativen Eigen- S.43-76), Perspektiven auf soziale und schaften, die diesen Rezeptionsmodus gemeinschaftliche Dimensionen des bestimmen (vgl. S.119ff.). Dennoch binge watching (vgl. S.77-112), Aus- bleiben die Autorinnen dabei reflektiert wertungen von Zuschauer_innenmo- und stellen die Stärken und Schwächen tivationen anhand unterschiedlicher beider Herangehensweisen vor, jeweils ethnografischer Herangehensweisen gestützt und kontextualisiert durch (vgl. S.113-136) sowie eine Abwägung Zuschauer_innenstudien und die kri- der Konsequenzen des binge watchings tische Evaluation ihrer Reichweite. Das (vgl. S.137-170). Abschließend fas- sechste Kapitel baut auf den präsen- sen die Autorinnen ihre Erkenntnisse tierten Erkenntnissen auf und stellt die in einem Fazit zusammen und bieten „Outcomes“ (S.140) des binge watchings eine Prognose für die Zukunft des bezogen auf Individuen und die Medi- binge watchings (vgl. S.171-190), wobei enindustrie vor, wobei der Anspruch sie sich entschieden gegen eine Dar- der Autorinnen, eine qualitative Aus- stellung von binge watching als Sucht wertung von binge watching und seinen 370 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Effekten vorzunehmen, weiterhin ver- watching kommt meines Erachtens aber folgt wird. entschieden zu kurz. Dennoch bietet Tatsächlich jedoch zu kritisie- auch dieses Kapitel einen spannenden ren ist meines Erachtens das vierte Beitrag durch den Bezug zur Kuration Kapitel. Zwar klären die Autorinnen von Inhalten und ihren bedeutenden sowohl historische als auch zeitge- Einfluss auf Streaming-Plattformen, nössische Dimensionen des sozialen wenn auch dieser Aspekt nur am Rande und gemeinschaftlichen Fernsehens behandelt wird (vgl. S.100-102). auf, allerdings wird die Komponente Rubenking und Brackens Buch ist des binge watchings hier zum größ- ein gelungenes Überblickswerk, das ten Teil außenvorgelassen. So werden viele der unterschiedlichen Dimensi- Ergebnisse in jeweils einer guten hal- onen des binge watchings und des aktu- ben Seite an zwei Stellen im Kapitel ellen Forschungsstands zum Thema auf das binge watching übertragen (vgl. beleuchtet. Gerade als zusammenfas- S.95 und S.102), die im übrigen Kapitel sender Beitrag zur Zuschauer_innenfor- vorgestellte Forschung bleibt allerdings schung bietet der Text eine Grundlage, ohne Konsequenzen für den Erkennt- die den Einstieg und Anschluss im nisgewinn. Zwar stellen die Autorinnen Besonderen an die Ethnografie ermög- spannende Positionen zu einerseits den licht und unterschiedliche Positionen sozialen Bedingungen sowie auch den und Forschungszweige vorstellt. gemeinschaftlichen Konsequenzen von Fernsehen vor, der Bezug auf das binge Marie Zarda (Marburg) Digitale Medien 371 Digitale Medien Christopher Bartel: Video Games, Violence, and the Ethics of Fantasy: Killing Time London: Bloomsbury Academic 2020, 191 S., ISBN 9781350121874, USD 115,- Handeln Spieler_innen unmoralisch, Handeln sei tugendethisch verwerflich, wenn sie in einem Computerspiel einem da es dem Streben nach Eudaimonie non-player character (NPC) – also einer – der tugendhaften charakterlichen vom Programmcode gesteuerten Figur Ausgeglichenheit eines Menschen – – Gewalt antun? Dieser an der Schnitt- entgegenstünde. Andere Ethiken wie stelle von Semiotik, Ludologie, Ethik Immanuel Kants Pflichtethik und den und (Moral-)Psychologie befindlichen Utilitarismus deklariert Bartel für seine Frage geht Christopher Bartel in sei- Fragestellung als unbrauchbar, da diese ner Studie Video Games, Violence, and sich an den nicht vorhandenen empi- the Ethics of Fantasy nach, deren Ant- rischen Belegen negativer Langzeitef- wort im doppelbödigen Untertitel Kil- fekte gewalthaltigen Medienkonsums ling Time versteckt ist: Wird Gewalt messen lassen müssten. gespielt, um Zeit totzuschlagen (to kill Diese auf den ersten 120 Seiten time) oder um Zeit dem Totschlag zu geführte Argumentationslinie Bartels widmen (a time to kill)? ist weitgehend schlüssig. Allerdings ist Bartel führt hierbei zunächst eine sein tugendethischer Ansatz, würde er grundsätzliche Argumentation für die konsequent verfolgt werden, untauglich. Möglichkeit einer ethischen Kritik am Denn die Grundfrage jeder Ethik ist, computerspielerischen Handeln zu was ‚gutes‘ Handeln ausmacht. ‚Gutes‘ Felde. Semiopragmatisch betrachtet sei Handeln in der Tugendethik ist dabei für Bartel die Symbolik der NPC hoch das Prinzip, das dem psychologischen relevant, wenn das Spielverhalten der Effekt eines positiven Selbstbilds dient. Spieler_innen gegenüber dem NPC aus Ob Handeln schließlich ‚gut‘ ist, wird einer realweltlichen Haltung evoziert vom Individuum evaluiert. Kritik am würde. Wenn also das Handeln gegen eigenen vermeintlich unmoralischen NPCs losgelöst von spielmechanischen Handeln kann demnach nur von der Zwängen aus freiem Willen und aus handelnden Person selbst geübt wer- Boshaftigkeit erfolge, ließe sich dies als den. Das führt bei Bartel zwar zum ‚Ersatzhandlung‘ verstehen und diene treffenden Fazit, dass Computerspiele damit der Kultivierung boshafter Ein- durchaus als Instrumente der Selbst- stellungen und schadhafter Handlungs- erkenntnis dienen könnten; und er ruft muster gegenüber der realweltlichen zum selbstaufmerksamen Spielen auf, Entsprechung der NPCs. Ein solches um etwaige böswillige Einstellungen 372 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 gegenüber spezifischen Personengrup- kale Form der Diskriminierung seien, pen rechtzeitig zu bemerken. Doch der und sein mangelndes Verständnis des tugendethische Grundstein der Argu- Begriffs Mord – der per definitionem mentation macht das Heranziehen des unmoralisch ist – deutliches Zeugnis ‚unmoralischen‘ Exempels eines Anders dafür, dass er dem gamer’s dilemma Breivik, der an Ego-Shootern für seinen nicht gewachsen ist. Überzeugendere Amoklauf im Jahr 2011 trainiert habe, Auseinandersetzungen hierzu f in- obsolet. Denn dieser betrachtet sich den sich bei Morgan Luck (vgl. „The eben nicht als unmoralischen Mörder, gamer’s dilemma: An analysis of the sondern als tugendhaften Verteidiger arguments for the moral distinction einer von ihm idealisierten Kultur. Bar- between virtual murder and virtual tel übersieht offensichtlich, dass Tugen- paedophilia.“ In: Ethics and Informa- dethik bestenfalls als Grundlage für tion Technology 11 [1], 2009, S.31-36) andere Ethiken dienen kann, an denen und John T illson (vgl. „Is it distinctively sich schließlich menschliches Han- wrong to simulate doing wrong?“ In: deln messen lassen muss. Hierfür muss Ethics and Information Technology 20 [3], allerdings ein gesellschaftlicher – und 2018, S.205-217). eben nicht ein individueller – Konsens Bartels blendet überdies das Pro- darüber bestehen, was als tugendhaft blempotenzial von ‚kindgerechten‘ erachtet wird. Gewaltdarstellungen, wie sie in Spie- Weshalb schließlich noch ein len für ein jüngeres Publikum wie der Kapitel zum gamer’s dilemma in das Super Mario-Reihe zu finden sind, völ- Buch gefunden hat, ist aus mehreren lig aus. In ihrer konsequenten Inkonse- Gründen fragwürdig. Zum einen wirft quenz kann diese Studie bestenfalls als Bartel hier seinen tugendethischen Einführung in das Potenzial des Felds Ansatz über Bord, um veranschauli- ethischer Betrachtungen von Compu- chen zu können, dass es kategorische terspielen sowie als medienpädogische Unterschiede zwischen verschiedenen Begründung für ein selbstaufmerk- Formen der Gewalthandlungen in sames Spielen gewalthaltiger Compu- Computerspielen gäbe. So ließe sich terspiele dienen. Wie sich jedoch mit so virtueller Mord bedingt moralisch einem inhaltlich dünnen, ohne Bebil- rechtfertigen, während sich virtuelle derungen arbeitenden Buch der haar- Sexualverbrechen niemals rechtfer- sträubende Preis rechtfertigen lassen tigen ließen. Zum anderen sind seine soll, bleibt das Geheimnis des Verlags. Argumentation, dass Sexualverbrechen zu verurteilen seien, da sie eine radi- Martin Janda (Marburg) Digitale Medien 373 Philipp Bojahr: Visuelle Montageformen des Computerspiels Glückstadt: Hülsbusch 2021 (Game Studies), 347 S., ISBN 9783864881510, EUR 34,80 (Zugl. Dissertation an der Universität zu Köln, 2019) Mit diesem Buch aus der mittlerweile lich seine eigenen Schlussfolgerungen umfänglichen Reihe „Game Studies“ theoretisch zu konkretisieren und sie nimmt sich der Autor Philipp Bojahr mit Beispielen zu veranschaulichen. der Untersuchung der Montageformen Gut tut dem Buch, dass Bojahr nicht in Computerspielen an. Dabei macht er einfach nur den filmästhetischen Mon- bereits auf der ersten Seite seiner Ein- tagebegriff übernimmt (dem ja letzt- leitung deutlich, dass es ihm keinesfalls lich eine technische Montage zugrunde nur um den Montagebegriff im filmä- liegt), sondern den Begriff auch unter sthetischen Bedeutungskontext geht. literaturwissenschaftlichen Aspekten Für ihn ist auch wichtig, den Begriff betrachtet. Er fasst den Begriff also im industriellen Kontext zu sehen, also offen auf. Gleichwohl wird im zwei- als „das technische Prinzip, Produkte ten Kapitel deutlich, dass die filmische aus vorproduziertem Material zusam- Montage für die Game Studies vorherr- menzusetzen“ (S.7). Die Wichtigkeit schend ist. Bojahr lehnt sich an die Mei- macht er früh anhand des Adventures nung von Mark J. P. Wolf an, der hier Mystery House (1980) deutlich, „denn Paral lelen ausmacht, weist aber auch auf im Gegensatz zu einem Film, der im die ablehnende ludologische Position Moment seiner Aufführung bereits fer- gegenüber der angeblichen Vereinnah- tig montiert ist, setzt der Computer die mung der Game Studies durch die nar- Darstellung der Räume erst im Bedarfs- rativistisch geprägte Filmwissenschaft fall zusammen“ (S.17). Bojahr konsta- hin. Letztlich macht er deutlich, dass tiert also, dass im Computerspiel eine es an einem einheitlichen Verständnis ästhetische Montageebene parallel zu von Computerspiel-Montage fehle und einer technischen Ebene zu finden ist, eine bloße Bedeutungsübertragung vom die einander bedingen. Er entwickelt Film auf das Spiel zu kurz greife (vgl. seine Theoriefindung unter anderem S.87). Der Autor nennt das Computer- anhand der Fragen, welche Montage- spiel ein „synthetisches Intermedium“ formen anderer Medien im Computer- (S.108), weil es nicht nur ein virtuelles spiel aufgenommen werden, wie diese Gameplay aufweist, sondern zusätzlich aufgrund der technischen Bedingungen weder ein singuläres Medium ist noch transformiert werden und ob es Formen nur ein Format wiedergibt (vgl. S.113f.), gibt, die dem Spiel eigen sind (S.22). sodass mehrere verschiedene Medien Dazu unternimmt er in den folgenden mittels Montage kombiniert werden. drei Kapiteln seiner Arbeit zunächst Bojahr hebt hier nun die Schritte zur ein Resümee von Montagetheorien im technischen Montage eines Computer- Bereich der Game Studies, um schließ- spiels hervor und vergleicht diese mit 374 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 einer industriellen Fertigung. So müs- S.211). Ähnlich verhält es sich mit sen alle Spielelemente zunächst in der dem abschließenden Fazit. Es ist völlig Produktionsumgebung als disponible zutreffend, dass die technische Mon- Artefakte zur Verfügung stehen (etwa tage durch Digitalisierung einzelner durch Digitalisierung), welche dann im Elemente und deren Vormontage im Rahmen der Spielentwicklung zu einem Programmcode stattfindet. Nur: Auch Gameplay montiert werden. So entsteht beim Film finden sich diese Montage- – und hier liegt der Unterschied etwa schritte durchaus, wenn verschiedene zum Film – kein fixiertes Artefakt, Filme, Visual Effects, Töne und Musik sondern ein Programmcode und eine zunächst einzeln vorliegen und dann entsprechende Datenbank mit einzel- kombiniert werden. Im Spiel – hier hat nen Elementen, „aus denen im medi- Bojahr recht – liegt der Fokus jedoch alen Vollzug, dem Gameplay, das Spiel auf der iterativen Endmontage der Ele- immer wieder auf Neue montiert wird“ mente in Echtzeit und damit ist die (S. 133f.). Montageform des Spiels unweigerlich Bojahr überträgt im nächsten mit der Interaktivität des Spielenden Kapitel seine theoretischen Über- verbunden. Dieser ist am Ende sein legungen auf Fallbeispiele. Er greift eigener Editor und kein medialer Voll- einzelne Medienfragmente heraus, zug eines Spiels gleicht exakt einem wie etwa Film oder Bild, um diese früheren oder späteren. Es ist schade, im Kontext des Spiels auf ihre Mon- dass der Autor am Ende darauf ver- tage zu untersuchen. Jedoch ist dieses weist, dass das Buch keine abschlie- Kapitel insofern etwas enttäuschend, ßenden Aussagen machen könne, weil da der Autor auf Lev Manovichs „die Montagetheorie des Computer- Ansatz neuer Formen von Montage spiels im Diskurs der Game Studies zurückgreift, die ihrerseits den Film bislang keine systematische Beachtung als Medium hervorheben. So nimmt gefunden hat“ (S.304). Eine etwas er etwa das Compositing von 2- oder pointiertere Zuspitzung seiner Thesen 3-D-Bildern im Film als Ausgangs- hätten aber diesem Diskurs vielleicht punkt, um dann auf Split Screens bei noch besser getan, denn das Buch trägt Mehrspielerspielen oder etwa die Visu- eigentlich wunderbar zu dieser Beach- alisierung eines Karawanenzugs durch tung bei. Parallaxenverschiebung im Spiel The Banner Saga (2014) zu verweisen (vgl. Sebastian Stoppe (Leipzig) Digitale Medien 375 Jean Burgess, Nancy K. Baym: Twitter: A Biography New York: New York UP 2020, 140 S., ISBN 9781479811069, USD 18,95 Jean Burgess und Nancy K. Baym über ihre Nutzungshistorie (vgl. versuchen sich als Biografinnen der S.28ff.). Plattform Twitter: „This is a short Aus dieser Herangehensweise book, intended as a proposal for a new resultiert für die Autorinnen der Fokus and accessible approach to studying auf die Funktionen @, Hashtag (#) und platforms, not as the final word on Retweet. Die drei Hauptkapitel des one particular platform“ (S.113). Mit Buches widmen sich diesen Funkti- ‚Plattform‘ wird ein Beziehungsge- onen und erzählen ihre Geschichte als füge diverser Aspekte beschrieben, das einen Prozess mit den Phasen Appro- über die politisch-ökonomische Klas- priation, Inkorporation, Widerspruch sifikation hinausgeht. Eine Plattform und Iteration. Allen Funktionen ist entsteht nach den Autorinnen aus den gemein, dass ihnen voran diverse Prak- Relationen zwischen Benutzerober- tiken der Nutzer_innen gingen, die fläche und Funktionen (z.B. @ oder teils Konventionen auf der Plattform Hashtag), Software, Algorithmen und etablierten. Dem folgte eine Aneig- APIs, einem Ökosystem aus Geräten nung und Standardisierung durch die und Services, Inhalten, Praktiken und Plattformbetreiber_innen, die Akti- Verständnissen von einzelnen und vität und Praktiken messbar machten, gruppierten Nutzer_innen, Zielen und gleichzeitig aber Widerspruch bei Nut- Geschäftsmodellen der Plattformbe- zer_innen hervorriefen, da die Vielfalt treiber_innen sowie dem öffentlichen der Interaktionen durch die Standar- Diskurs über und die mediale Reprä- disierung eingeschränkt wurde. In sentation der jeweiligen Plattform abgewandelter Form wiederholen sich (vgl. S.16f.). Diesen Begriff zeichnet dann Prozesse der Appropriation durch weiterhin aus, dass im Gegensatz zu Nutzer_innen. Medienlogiken oder social media logics Aufgrund der biografischen Aus- (vgl. S.20f.) keine gegebenen Logiken richtung des Bandes steht aber eher der Plattformen zur Rahmung von die Geschichte der Benutzeroberflä- Nutzungskulturen vorgeschrieben sind, che und ihrer Funktionen im Fokus, sondern Plattformen und Nutzungs- was der Breite des hier vorgeschla- kulturen sich gegenseitig formen (vgl. genen Verständnisses von Plattformen S.21). nur bedingt gerecht wird. Der Wandel Der biografische Blick nähert sich etwa von einem auf SMS basierten, Twitter aus vier Perspektiven: 1. Rezep- primär textorientierten zu einem auf tion wissenschaftlicher Forschung, 2. Smartphones digital-vernetzten, audio- Berichterstattung in klassischen Pres- visuellen System wird kaum themati- semedien, 3. Nutzer_innenperspektive siert. Plattformbegriff und Methode und 4. Interviews mit Nutzer_innen haben Potential, das innerhalb dieses 376 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Buches nur – wenn auch überzeugend Die Demonstration der Plattform- – für das Argument des Wandels von Biografie Twitters leidet unter der einer Heteronomie kommunikativer Kürze der 140 Seiten wie es auch man- Praktiken der Nutzer_innen zu einer cher Tweet am Limit der 140 Zeichen inkorporierten, reduzierten aber metri- tut. Nichtsdestotrotz zeigen Begriff f izierbaren Funktion, demonstriert und Methode spannende Potenziale wird. Auch kann die Auswertung der für umfangreichere Erforschung des Interviews ohne genannte oder erkenn- Entstehens von Plattformen und ihren bare Methodik innerhalb des deutschen je spezifischen Besonderheiten. Diskurses qualitativer Sozialforschung irritieren. Jan Hinnerk Freytag (Flensburg) Benjamin Krämer: How to Do Things with the Internet: Handlungstheorie online Köln: Herbert von Halem 2020 (Forschungsfeld Kommunikation, Bd.39), 379 S., ISBN 9783744520256, EUR 46,- (Zugl. Habilitationsschrift an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2019) Wenn wir das Internet nutzen, wenn an der sozialwissenschaftlichen Fakul- wir Befehle eingeben, Browser und tät, und es sind gewiss ebenso brand- Links anwählen, auf Plattformen aktuelle wie grundsätzliche Fragen gehen, Buttons für Likes und Shares (weshalb der Autor sicherlich nicht anklicken, suchen, schreiben, sprechen, ohne Grund seinen Buchtitel an John Filme und Videos anschauen und vieles L. Austins Sprechakttheorie von 1963 andere tun – dann handeln wir gemein- anlehnt, aber dafür keine explizite hin (zumindest nach den Kategorien Erklärung angibt). Beantworten ließen der ‚naiven‘ Handlungstheorien). Doch sie sich mit empirischen Studien, um welche Formen des Handelns sind das deren Befunde schrittweise induktiv (im Vergleich zum sonstigen Handeln), zu verallgemeinern und theoretischer welche Bedeutung haben sie und wel- Abstraktion anzunähern. Aber derer chen Sinn schreiben wir ihnen zu? Das gibt es in beschreibender Hinsicht fragt sich der in München lehrende schon viele, diagnostiziert der Autor, Kommunikationswissenschaftler in weshalb er, wie er anfangs und am der vorliegenden Habilitationsschrift Ende einräumt, beabsichtigte, eine Digitale Medien 377 „Typologie dessen“ anzufertigen, „was gen sind, sowohl allgemein als auch im es im Internet gibt‘“, um „hier einige und mittels des Internets (wobei solche Ordnung zu schaffen und systema- Unterscheidungen selbst im Laufe sei- tisch zu erfassen, was auf gängigen ner elaborierten Explikationen unscharf Plattformen vorkommt“ (S.341). Die- bleiben). Krämer bezieht sich dabei auf ser Plan zerschlug sich allerdings, da diverse Handlungstheorien, trennt zum einen die soziologische Literatur zwischen Tun, Praxis und Handlung weder „ausreichend umfassende, weder (physischer Art) und Zuschreibungen zu abstrakte, noch zu spezifische Kata- von Handlungen als soziale Konstrukte loge sozialer Strukturen bereit[hält], auf (im Luhmann‘schen Sinn). Er kommt die hin man das Internet durchforsten letztlich zu dem Fazit, dass keine ein- konnte“ (ebd.). Zum anderen „liefert deutige Begrifflichkeit erreichbar ist, die kommunikationswissenschaftliche „weil die Beschreibung von etwas als oder andere Literatur [keine] induktiv eine bestimmte Handlung höchst kon- gewonnene umfassende Typologie von tingent ist“ (S.97). Immerhin lassen Strukturen im Internet, sondern nur sich so ‚naive‘ Handlungstheorien von einzelne spezielle Begriffe und Unter- solch konstruktivistischen separieren. scheidungen“ (ebd.). Daher wagte er Handlungen online werden demzufolge sich sogleich auf allgemein hohes the- als Zuschreibungen repräsentiert, wobei oretisches Niveau und entwickelt hier sich deren Trägerschaft als technische mittels philosophischer und sozialwis- Funktionalitäten vorstellen lassen. Not- senschaftlicher Ansätze eine Theorie, wendigerweise sind sie selektiv, da es „die dazu beiträgt, Handeln im Internet für manche Typen von Handlungen auf fruchtbare Weise zu beschreiben“, auf den verschiedenen Plattformen eine Theorie, wie er eingangs ironisch „formalisierte Funktionalitäten“ (S.22) bemerkt, „auf die niemand gewartet gibt, für andere nicht. Selektivität und hat“ (S.11), und die, wie er am Ende Formalisierung zeitigen über die kon- resümiert, recht allgemein und abstrakt kreten Handlungen hinaus vielerlei bleibt. Konsequenzen, beschränkende wie Genauer formuliert: Krämer ent- belastende einerseits, entlastende und wirft mangels Vorarbeiten zunächst innovative andererseits, die Krämer eine „soziale Ontologie des Internets“ sodann in seinem letzten Kapitel mit (S.26ff.), um zu erklären, wie es soziale Blick auf gängige Metaphern und Eti- Strukturen im Internet geben kann und ketten für den Wandel der Gesellschaft was es heißt, dass sie existieren. Aus- – freilich ohne Netz und Boden appro- gehend von besagter Sprechakttheorie bierter Analytik – anpackt: Gemeint nimmt er an, dass Handlungen soziale sind Begriffe wie Medien-, Infor- Strukturen (im weitesten Sinne) kon- mations- oder Wissensgesellschaft, stituieren. Im Internet werden sie sym- Mediatisierung und Medialisierung, bolisch repräsentiert und zwar durch Netzwerk- und Computergesellschaft, technische Strukturen. Dafür muss algorithmic culture oder Datafizierung, primär geklärt werden, was Handlun- um die wichtigsten zu nennen. Sie 378 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 werden in verschiedenen Wellen the- schiedlichen Formen der Handlungsko- matisiert, aber Krämer ordnet sie alle- ordination ergibt“ (S.323). Solch klare samt – wiederum mit Luhmann – als Aussagen finden sich auf den gut 350 Parameter unterschiedlicher Diffe- Seiten der Arbeit zu wenige. Vielmehr renzierungsformen ein (vgl. S.238ff.). verliert und verhakt sich Krämer auf Sodann prüft er sie mit Rekurs auf die weite Strecken in seiner ebenso kom- einschlägige Literatur auf ihre Evidenz plizierten wie detailreichen Argumen- und Realitätstüchtigkeit und kann tation oft in analytischer Rabulistik, ihnen gewisse diagnostische und pro- auf Umwegen, Abzweigungen und in gnostische Momente abgewinnen, doch begrifflichen Spitzfindigkeiten, sodass letztlich will er sie als „Semantik des der rote Faden nicht leicht zu halten ist. Internets“ (S.325ff.) verstanden wissen. Jedoch in den Überschriften für Unter- Denn insgesamt plausibilisieren sie für kapitel ist Krämer verblüffend originell ihn noch keine „Formen der nächsten und ironisch. Dabei pendelt sein Stil Gesellschaft“; vielmehr sieht er „die im Text zwischen Referat, Deskription absehbare Entwicklung […] eher darin und normativem Anspruch, oftmals mit […], dass sich bestimmte Merkmale der alltäglichen Beispielen garniert, sodass bisherigen modernen Form verschärfen man sich mitunter fragt, ob es sich um (wie Verzeitlichung, die Abstraktion Diskurs, Diagnose oder Alltagsvade- vieler Handlungstypen von den Merk- mekum handelt. malen von Individuen usw.) und dass sich eine Verschiebung zwischen unter- Hans-Dieter Kübler (Werther) Martin Lorber, Felix Zimmermann (Hg.): History in Games: Contingencies of an Authentic Past Bielefeld: transcript 2020 (Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur, Bd.12), 280 S., ISBN 9783837654202, EUR 35,- Wie authentisch muss beziehungsweise Diesen und weiterführenden Fragen kann Geschichte in Videospielen sein? geht die vorliegende Publikation History Was wird mit ihrer Darstellung oder in Games: Contingencies of an Authentic Reproduktion bezweckt? Und wer wird Past kenntnisreich und kritisch en detail angesprochen? Auf welchen Ebenen nach. wird Geschichte modelliert, um auf die Die gleichnamige Tagung wurde Spieler_innen so real wie möglich zu 2019 an der Universität Köln im Rah- wirken – und muss sie das überhaupt? men der seit nunmehr zwölf Jahren Digitale Medien 379 jährlich stattfindenden Konferenzreihe Der abschließende Teil des Buches „Clash of Realities – International Con- widmet sich darauf aufbauenden, noch ference on the Art, Technology, and spezielleren Fragen zur Darstellung Theory of Digital Games“ ausgerichtet. von Geschichte im Spiel. So fragt Die daraus resultierende Textsammlung Aurelia Brandenburg etwa, warum ist in drei Buchabschnitte unterteilt, die Macher_innen und Spieler_innen inhaltlich vom theoretischen Ansatz gleichermaßen Wert auf historische zum praktischen Beispiel führen: 1. Authentizität legen, wenn es doch um „History as Told by the Game“ (vgl. die Gestaltung eines Fantasy-Spiels wie S.25-114), 2. „Authenticity in and of The Witcher 3: Wild Hunt (2015) geht History“ (vgl. S.117-198) und 3. „The (vgl. S.201-220). Wo beginnt hier die Politics of Authenticity“ (vgl. S.201- Orientierung an historischer Forschung 257). Dem vorangestellt werden die und wo endet sie? Tobias Winnerling verwendeten Begriffe und der Gegen- beleuchtet die langfristige und weitrei- stand des Buches erläutert, der bisherige chende Verdrängung des Kolonialisie- Forschungsstand dargelegt und Deside- rungsaspekts innerhalb der Versionen rate in der bisherigen Spieleforschung der ANNO-Serie (vgl. S.221-236). Der benannt. letzte Beitrag dieses Bandes appelliert Der erste Teil des Buches wid- an das Geschichtsbewusstsein der Spie- met sich sodann der Vertiefung leindustrie und deren Verantwortung dieser Grundüberlegungen: Was cha- für die Politik der Zukunft, indem er rakterisiert Geschichte/Historizität und gravierende Mängel in der Darstellung Authentizität – allgemein und speziell von Faschismus, ganz konkret der Ver- im Videospiel? Hier werden die Grund- harmlosung des Regimes im national- lagen für das Verständnis der wiederum sozialistischen Deutschland, aufdeckt darauf folgenden Fokussierungen und und Vorschläge zur Verbesserung auf- Einzelbeispiele gelegt. führt (vgl. S.237-257). Jedem Beitrag Im zweiten Abschnitt werden nun sind eine Bibliografie und eine Ludo- bestimmte Themenkomplexe innerhalb grafie (Auflistung der verwendeten und des übergeordneten Themengebiets zitierten Spiele) beigegeben, die es den herausgegriffen und näher beleuchtet, interessierten Leser_innen ermöglicht, wie unter anderem die Probleme bei der bei Bedarf schnell noch tiefer in die Darstellung der Kreuzzüge als Hinter- einzelnen Themenfelder einzudringen grundgeschichte (vgl. S.137-155), das oder die Spiele einmal selbst zu erpro- Motiv des Mixtapes in Metal Gear Solid ben. V: The Phantom Pain (2015) (vgl. S.157- Diese äußerst gelungene Zusam- 178) oder die positiven und negativen menstellung von Textbeiträgen wirft Beispiele der Repräsentation queerer teilweise überraschende, wenn auch Menschen in Videospielen (vgl. S.179- eigentlich naheliegende Fragen auf: 198). Die Grundfrage bleibt immer die Orientiert sich die Historizität und nach der tatsächlichen beziehungsweise Authentizität der Spiele an historischen der gefühlten Authentizität. Fakten oder doch eher an den Erwar- 380 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 tungen der Spieler_innen? Welche vielleicht auch nicht überall möglich ist, Ebenen von Geschichte können hier aber sie regen zum weiteren Nachden- beobachtet und differenziert dargestellt ken und zu einem sensibleren Umgang werden? Inwieweit befeuert die Dar- zukünftiger Entwickler_innen mit stellung queerer Charaktere die realen Geschichtsbildern in Videospielen an. Aggressionen gegen Menschen unserer Alles in allem ist History in Games Lebensgegenwart? Und wie konnten ein abwechslungsreiches und höchst die ANNO-Versionen so lange Zeit spannendes Buch mit einer heterogenen mit ihren ‚Kolonialisierungsverherrli- und damit vielseitigen Zusammenset- chungen‘ davonkommen? Diese Fragen zung unterschiedlicher Perspektiven. werden in der vorliegenden Publikation nicht immer restlos beantwortet, da das Iris Haist (Köln/Plauen) Ole Nymoen, Wolfgang M. Schmitt: Influencer: Die Ideologie der Werbekörper Berlin: Suhrkamp 2021, 192 S., ISBN 9783518076408, EUR 15,- Von digitalen Plattformen sind Influ- häufig klar und sprachlich leicht ver- encer_innen mittlerweile nicht mehr ständlich eingeführt. Die beiden wegzudenken. Auch für die Medien- Autoren legen in ihrer Untersuchung wissenschaft sind sie ein interessantes besonderen Fokus auf ökonomische Phänomen. Eingebunden in komplexe Bedingungen und Zusammenhänge. mediale Verfahren und Praktiken Dies zeigt sich auch im Rückgriff offenbaren sie Funktionsweisen der auf traditionelle Theoriekonzepte der digitalen Medienkultur. Ole Nymoen marxistischen Philosophie. Diese the- und Wolfgang M. Schmitt widmen oretischen Fundierungen werden im sich in ihrer ideologiekritischen Stu- Buch von Nymoen und Schmitt mit die jenen paradigmatischen „Sozialfi- einer Vielzahl von Analysebeispie- guren des digitalen Zeitalters“ (S.7) in len verknüpft. Theorie und Untersu- zehn Kapiteln, die jeweils mit kurzen chungsgegenstand werden so bisweilen Beschreibungen von Influencer_innen- miteinander verwoben. Posts eingeleitet werden. Die Mono- Nachdem im ersten Kapitel grafie richtet sich nicht an ein rein herausgearbeitet wird, wie das Kino wissenschaftliches Fachpublikum, der 1990er Jahre die Verfahren der sondern an eine breitere Öffentlich- Influencer_innen antizipierte, wird keit. Theorien und Begriffe werden im zweiten Kapitel das von Karl Marx Digitale Medien 381 beschriebene Realisationsproblem ein- medientechnologischen Möglichkeits- geführt und mit den Ausführungen bedingungen. Dies hängt jedoch auch Wolfgang Fritz Haugs zur Waren- mit der gewählten Theorieperspek- ästhetik in Zusammenhang gebracht. tive zusammen. Denn die digitalen In dieser theoretischen Perspektive Plattformen und ihre spezif ischen demonstrieren Nymoen und Schmitt, Affordanzen werden häufig aus einer dass die Influencer_innen im ange- rein ökonomischen Sicht betrachtet. schlagenen kapitalistischen Produk- Schmitt und Nymoen greifen auch auf tionssystem an der Realisation des klassische feministische Filmtheorien Kapitals mitarbeiten und dadurch eine zurück, um die Ästhetik des Influ- „systemstabilisierende Aufgabe“ (S.46) encer_innen-Contents und die darin übernehmen. Dabei sind sie, wie die enthaltenen genderspezifischen Impli- Autoren zeigen, in Prozesse der Wer- kationen zu untersuchen. In Anleh- bung und damit der Erzeugung von nung an Laura Mulvey arbeiten sie Gebrauchswertversprechen eingebun- heraus, dass der male gaze auch in den den. Denn Influencer_innen bewerben Inhalten der Werbekörper vorherrscht Produkte. Diese binden sie eng an die (vgl. S.101). Die Ästhetik der Frau- eigene Person und erscheinen dadurch enunterdrückung wird dabei gerade als Konsument_innen und Präsenta- von weiblichen Inf luencer_innen tor_innen zugleich (vgl. S.8). In die affirmiert. Dies führt argumentativ Inhalte werden Produkte fest einge- zu einem Widerspruch. Die meist woben, Schmitt und Nymoen stellen weiblichen Top-Influencer_innen, die sogar die These auf, dass es sich „um aufgrund ihrer ökonomisch privile- reine Dauerwerbesendungen“ (S.41) gierten Position zu einem gewissen handelt, die beinahe nie mehr zeigen Grad emanzipiert sind, reproduzie- als Körper- und Konsumbedürfnisse ren eine frauenfeindliche Bildspra- (vgl. S.51). Der Konsum von Werbung che. Schmitt und Nymoen bieten zur hat sich damit grundlegend gewandelt, Auflösung dieser Widersprüchlich- wurde sie einst als lästig empfunden, keit zwei Deutungen an: Entweder ist sie nun selbst der unterhaltende arbeiten die Influencerinnen an ihrer content. Die Autoren betrachten die eigenen Unterdrückung mit oder Influencer_innen daher nicht mehr durch die Reproduktion des male gaze nur als Werbefiguren, sondern als an der ihrer Followerinnen. Wie die „Werbekörper“ (S.52). Analysiert beiden Autoren konstatieren, hängt werden auch die Marketingstrategien der Erfolg gerade davon ab, dass sich der neuen Werbekörper und die Art, die eigene Followerinnenschaft nicht wie sie mit dem Publikum kommu- emanzipiert (vgl. S.107). Für medien- nizieren. Dabei wird auch die Rolle wissenschaftliche Fragestellungen bie- der digitalen Plattformen berück- tet das vorgelegte Buch einen guten sichtigt. Jene Ausführungen bleiben Ausgangspunkt. Durch die weite jedoch häufig an der Oberfläche, es thematische Fassung ist es möglich, mangelt an einer konzisen Analyse der an unterschiedlichen Stellen anzu- 382 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 knüpfen. Dennoch müssten für eine zepten zur digitalen Medienk ultur fruchtbare Verwendung in der Medien- verbunden werden. wissenschaft einige Punkte spezifischer gefasst und mit aktuellen Theoriekon- David Jagella (Wien) Thomas Poell, David Nieborg, Brooke Erin Duffy: Platforms and Cultural Production Oxford: Polity 2022, 260 S., ISBN 9781509540501, EUR 21,90 Im Buch Platforms and Cultural Produc- einandertreffen und in direkten Austausch tion untersuchen Thomas Poell, David miteinander treten. Netzwerk effekte Nieborg und Brooke Erin Duffy die steigern den Wert von Plattformen für Plattformisierung digitaler Kulturen sogenannte „complementors“ (S.43), in Social Media, dem Journalismus wie zum Beispiel Influencer_innen, die sowie der Computerspiel- und Musik- auf Social-Media-Plattformen Content branche. Ihr Buch ist zweigeteilt: Die produzieren, verbreiten und vermark- erste Hälfte widmet sich den instituti- ten wollen. Dabei sind sie auf der einen onellen Einflüssen, die Plattformen auf Seite abhängig von der technologischen die kulturelle Produktion haben. Die Infrastruktur, wie beispielsweise „data zweite Hälfte nimmt die kulturellen interfaces (APIs), tools (SDKs), and Praktiken der Produzierenden in den their associated documentation“ (S.61), Blick. Damit spannen die Autor_innen und auf der anderen Seite von der einen breit angelegten Rahmen, der Regulation, Kuratierung und Modera- über die rein technologischen Bedin- tion des Contents durch die Plattform- gungen der Digitalisierung hinaus betreibenden (vgl. S.84-100). Kleinste führt und stattdessen „the evolution of Änderungen an den Algorithmen oder platform markets, infrastructures, and den Richtlinien können Kreativen governance frameworks“ (S.5) unter- so mit einem Schlag die finanzielle suchbar macht. Grundlage entziehen, wie es zum Bei- Der erste Teil des Buches beginnt spiel 2017 durch die „Adpocalypse“ mit der Ökonomie von Plattformen, (S.2) auf YouTube geschehen ist. die als „multisided markets“ (S.35) Im zweiten Teil des Buches geht es definiert werden, wo unterschiedliche mit den plattformabhängigen Arbeits- Akteursgruppen wie Konsumierende, bedingungen weiter, die häufig prekär Produzierende und Werbetreibende auf- sind, weil sie „on-the-job-training“ Digitale Medien 383 (S.111) abverlangen, das nur mit ausrei- in equalities in platform-based cultu- chend kulturellem und ökonomischem ral production“ (S.162), beispielsweise Kapital gemeistert werden kann. Dazu durch Partnerprogramme mit großen kommen Unsicherheiten, wie sich kon- Medienunternehmen. Die Diversität tinuierlich verändernde Algorithmen von Content leidet wiederum unter und Affordanzen, die Produzierende den strengen Richtlinien der Platt- als „necessary part of the job“ (S.127) formen, die Werbetreibende nicht hinnehmen. Unberücksichtigt bleibt an verprellen wollen. Gleichzeitig zirku- jener Stelle, dass diese Plattformpreka- lieren uneingeschränkt Hassbotschaf- rität auch die vermeintlich Konsumie- ten und Falschnachrichten unter dem renden betrifft, die auf und für Social Deckmantel der Meinungsfreiheit (vgl. Media unentgeltlich Daten produzie- S.165-177). ren, die an Werbetreibende gewinn- Poell, Nieborg und Duffy adres- bringend verkauft werden. sieren solche plattformabhängigen Die Grenzen zwischen Produ- Probleme äußerst umfassend in Plat- zierenden und Konsumierenden forms and Cultural Production. Die verschwimmen in Social Media bekann- Autor_innen zeigen auf, wie Produk- terweise. Für Kreative ist genau das tion, Distribution und Vermarktung Teil der Inszenierung, um vor ihrem von Content mittlerweile abhängig Nischenpublikum authentisch wirken sind von der Plattformisierung digitaler zu können (vgl. S.134-137). Wenn sie Kulturen. Ihren Fokus legen sie auf ihre Arbeit über Werbung monetisie- Social Media, jedoch machen sie auch ren, birgt das jedoch für sie die Gefahr, die „digital games industry“ (S.14), „[to] annoy their networked audiences“ die „news industry“ (ebd.) und die und „[to] be accused of ‚selling out‘“ „music industry“ (S.30) zum Thema. (S.149). Aus diesem Grund kommen Dass diese Phänomenbereiche auf sehr vermehrt Strategien wie „branded con- unterschiedlichen Ebenen liegen, fin- tent“ (S.148), „native advertising“ (S.149) det keine Erwähnung, weshalb auch oder „authentic self-promotion“ (S.151) nicht immer klar ist, was als Plattform zum Einsatz, die den Konflikt zwischen zählt und was nicht. Beispielsweise gel- Kreativität und Kommerz aufweichen. ten Apple, Nintendo und Spotify als Zum Schluss gehen die Autor_innen „platform companies“ (S.6), während auf die Machtverhältnisse von Platt- Netflix, Disney und New York Times formen ein. Social Media wurden ‚nur‘ „media entertainment companies“ anfangs für die Demokratisierung (ebd.) seien. An solchen Stellen stolpert der Öffentlichkeit gefeiert. Neuere das Buch über die eigne Komplexität Studien zeigen jedoch, dass soziale und den Anspruch, die Plattformisie- Ungleichheiten hier mitnichten auf- rung digitaler Kulturen vollumfänglich gehoben, sondern reproduziert oder abzudecken, womit sich gewiss noch sogar verstärkt werden (vgl. S.158-160). viele weitere Bücher füllen ließen. Auch in den vermeintlich ‚sozialen‘ Social Media gibt es „hierarchies and Kevin Pauliks (Marburg) 384 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Autorinnen und Autoren Drew Bassett, Studium der Angewandten Zugangsgestaltung in Filmarchiven, alter- Biologie HND, Lehrbeauftragter TH native Film- und Videopraxis. Köln seit 2010; Forschungsschwerpunkte: Lucas Curstädt, M.A., Studium der Filmwis- Science-Fiction, Fantasy, Horror, Comics, senschaft und Philosophie an der Johannes Männlichkeit. Gutenberg-Universität Mainz; seit April Andreas Becker, Dr. phil. habil., Film- und 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an Medienwissenschaftler, seit 2016 Assoc. der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Prof. für Germanistik der Keiō-Universität Universität in Bonn am und Stipendiat der Tōkyō; 2014-2016 Leiter des DFG-Pro- Studienstiftung des Deutschen Volkes; jekts Yasujirō Ozu und der westliche Film; Dissertationsprojekt zu Posthumanismus 2018 Habilitation zu Ozu; 2003 Promo- im Film/Posthumanismus des Films (AT); tion zur Zeitraffung und Zeitdehnung Forschungsschwerpunkte: Filmtheorie- im Film; Publikation en: Yasujirō Ozu, die und Philosophie, Anthropomedialität, japanische Kulturwelt und der westliche Film Ideologiekritik. (Bielefeld: transcript, 2020), Erzählen Barbara Margarethe Eggert, Dr., Studium in einer anderen Dimension: Zeitdehnung der Kunstgeschichte, der Deutschen Spra- und Zeitraffung im Spielfilm (Darmstadt: che und Literatur an der Universität Ham- Büchner, 2012). burg; Promotion in Kunstgeschichte zu Inga Bendukat, Theaterwissenschaftlerin und den Funktionen bildlicher Darstellung auf freie Dramaturgin; Master in Dramatur- Paramenten des 13. bis 16. Jahrhunderts, gie an der Goethe Universität Frankfurt, bildungswissenschaftliches MA-Studium anschließend wissenschaftliche Mitarbei- mit dem Schwerpunkt Museumspädago- terin am Institut für Thea ter-, Film- und gik an der Humboldt-Universität zu Ber- Medienwissenschaft an der Goethe Uni- lin; ab 1996 Kunsthistorikerin für diverse versität; Dissertationsprojekt mit Fokus Hochschulen, Stiftungen und Verlage; seit auf Alterität, einem Theater der Entunter- 2019 Universitätsassistentin an der Kunst- werfung, Solidarität und Vergemeinschaf- universität Linz; Habilitationsprojekt zu tung sowie auf Widerstandsstrategien im Victory for the Comic Muse? The Past, Pre- urbanen Raum aus queerfeministischer sent and Future of Comics and Webcomics Forschungsperspektive; seit März 2021 in Exhibitions and Museums (AT); For- Stipendiatin von Ad Infinitum an der schungsschwerpunkte: Museums- und Goethe Universität. sammlungswissenschaftliche Themen, Dagmar Brunow, Assoc. Professor an der (digitale) Formate grafischen Erzählens. Linné-Universität Växjö (Schweden); Dis- Peter Ellenbruch, Dozent für Filmgeschichte sertation zum Thema Remediating Trans- und Filmanalyse an der Universität cultural Memory: Documentary Filmmaking Duisburg-Essen (Germanistik/Literatur- as Archival Intervention (Berlin/Boston: wissenschaft/Filmstudien); Studium der de Gruyter, 2015); Herausgaben: Stuart Kommunikationswissenschaft, Kunst- Hall: Aktivismus, Pop und Politik (Mainz: wissenschaft und Germanistik/Filmwis- Ventil, 2015) und Queer Cinema (Mainz: senschaft an der Universität Essen; ist Ventil, 2018, zus. mit Simon Dickel); Mitinhaber von scopium – Agentur für Forschungsschwerpunkte: Film und kul- Recherche, Gestaltung und Präsentation turelles Gedächtnis, Digitalisierung und historischer Bildmedien; Forschungs- Autorinnen und Autoren 385 schwerpunkte: früher Film (1895-1930), Deutschland, Comicforschung: Superhel- Film und Fernsehen in der Bundesrepu- dinnen. blik (1950er und 60er Jahre). Sarah Heinz, Univ-Prof. Dr. phil., Profes- Jan Hinnerk Freytag, M.Ed., wissen- sorin für englische und anglophone Lite- schaftlicher Mitarbeiter am Seminar für raturen am Institut für Anglistik und Medienbildung der Europa-Universität Amerikanistik der Universität Wien; Stu- Flensburg; Studium der Musik, Philo- dium der Anglistik, Medien- und Kom- sophie und Bildungswissenschaften in munikationswissenschaft und Linguistik Flensburg und Linköping; Forschungs- in Mannheim; Dissertation zu Die Einheit schwerpunkte: Medientheorie, Medien- in der Differenz: Metapher, Romance und philosophie, Theorien der Öffentlichkeit. Identität in A.S. Byatts Romanen (Tübin- Sven Grampp, Dr., Akademischer Rat am gen: Narr, 2007); Habilitation zu The Institut für Theater- und Medienwissen- Relative Skin: Whiteness in Contemporary schaft der Alexander-Friedrich-Univer- Irish Literature and Film (2014); For- sität Nürnberg-Erlangen; Studium der schungsschwerpunkte: Critical Whiteness Deutschen Literatur, Philosophie, Kunst- Studies, britische und anglophone Litera- und Medienwissenschaft in Konstanz; tur, Kultur und Identität. Dissertation über den Buchdruck in der Günter Helmes, Dr. phil. habil., Univ.-Prof. Medientheorie (2008); Publikationen a.D. für Neuere deutsche Literaturwis- (Auswahl): Marshall McLuhan: Eine Ein- senschaft, Medienwissenschaft und deren führung (Konstanz: UVK/UTB, 2011), Didaktik (Flensburg); Publikationen Picture Space Race (Berlin: Avinus, 2015) (Auswahl): Das soll Herder sein? Herder- und Medienwissenschaft (Konstanz: UVK/ Bildnisse als Manifestationen (re-)präsenta- UTB, 2016); Forschungsschwerpunkte: tions- und erinnerungskultureller Praktiken Space Race, Fernsehen, Medientheorie. zwischen spätem 18. und frühem 20. Jahr- Frank Haase, Privatdozent an der Univer- hundert (Paderborn: Igel, 2020), als (Mit) sität Basel; Forschungsschwerpunkte: Herausgeber u.a. Texte zur Medientheorie Medienphilosophie, Mediengeschichte, (Leipzig: Reclam, 2002), Angeschwemmt Mediensemiotik; Publikationen: Die – Fortgeschrieben: Robinsonaden im 20. und Revolution der Telekommunikation – die beginnenden 21. Jahrhundert (Würzburg: Theorie des telekommunikativen Aprioris Königshausen und Neumann, 2009)‚ Bio- (Baden Baden: Nomos, 1996), Medien- graphische Filme der DEFA: Zwischen Codes-Menschmaschinen (Wiesbaden: VS Rekonstruktion, Dramaturgie und Welt- Verlag, 1999) und Zur Medienphilosophie anschauung (Leipzig: Leipziger Universi- der Antike: Homer, Hesiod u.a. bis Aristoteles tätsverlag, 2020). (insg. sechs Bände, München: Kopaed, Christoph Hesse, Dr. phil. habil., Film- und 2005-2010). Literaturwissenschaftler, Mitarbeiter des Iris Haist, Dr., freie Kuratorin und Auto- Instituts für Publizistik- und Kommuni- rin; Studium der Europäischen Kunst- kationswissenschaft der FU Berlin; Publi- geschichte, Klassischen Archäologie und kationen (Auswahl): Filmexil Sowjetunion Religionswissenschaft in Heidelberg und (München: edition text+kritik, 2017), Cassino; Dissertation zum Thema Opere Filmstile (Wiesbaden: Springer VS, 2016, fatte di scultura da Pietro Bracci – Skulptur zus. mit Oliver Keutzer, Roman Mauer, im Kontext des römischen Settecento (Bern: Gregory Mohr). Onlinepublikation, 2017); Forschungs- Jan-Christopher Horak, Dr. phil., Lehr- schwerpunkte: Bildhauerei des 18. bis 20. beauftragter Film Studies, Chapman Jahrhunderts in Italien, Frankreich und University; ehemaliger Leiter mehrerer 386 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 internationaler Filmarchive und Professor Publikationen (Auswahl): Filmischer Rea- der UCLA (in Ruhestand); Promotion der lismus (Marburg: Schüren, 2013) und als Universität Münster; Veröffentlichungen Herausgeber Etienne Souriau: Das filmische zum Exil-Film, Saul Bass, L.A. Rebel- Universum. Schriften zur Ästhetik des Kinos lion, Film Avant-Garde; Ehrenpreis des (Paderborn: Fink, 2020). Kinemathekenverbundes. Julian Körner, M.Ed., Doktorand im Fach- David Jagella, B.A., studentischer Mitar- bereich Sprach- und Literaturwissen- beiter am Institut für Theater-, Film- und schaften an der Universität Bremen; Medienwissenschaft der Universität Wien; Lehramtsstudium in Bremen; Disserta- Studium der Theater-, Film- und Medien- tionsprojekt zum Stand der schulischen wissenschaft in Wien; Forschungs- Filmbildung. schwerpunkt: Subjektivierungspraktiken Florian Krauß, Dr. phil., Leiter des DFG- digitaler Medienkulturen. Projekts „Qualitätsserie“ als Diskurs und Martin Janda, M.A., Studium der Medien- Praxis an der Universität Siegen; zuvor wissenschaft und Psychologie an der Vertreter der Professur für Medienpäda- Philipps-Universität Marburg; wissen- gogik an der TU Dresden, Lecturer am schaftliche Hilfskraft des medienwissen- Medienwissenschaftlichen Seminar der schaftlichen Open-Access-Repositoriums Universität Siegen und wissenschaftlicher media/rep/; Forschungsinteressen: Dar- Mitarbeiter an der Filmuniversität Babels- stellungen künstlicher Intelligenzen/ berg KONRAD WOLF; Promotion zum Menschen, Game Studies, Medienpsy- Thema Bollyworld Neukölln: Migrant Innen chologie. und Hindi-Filme in Deutschland (Kon- Christian Kaiser, Dr. phil., Studium der stanz: UVK, 2012); freier Drehbuchlek- Deutschen Literaturwissenschaft und tor für den Bayerischen Rundfunk und Philosophie in Hannover; Filmwissen- Prüfer für die Freiwillige Selbstkontrolle schaftliche Promotion in Mainz; Disser- Fernsehen; Mitherausgeber des Sammel- tation zum Thema Die lange Einstellung: bands Teen TV: Repräsentationen, Lesarten Dauer, Kontinuität und Mystik (Marburg: und Produktionsweisen aktueller Jugendse- Schüren, 2019). rien (Wiesbaden: Springer, 2020, zus. mit Michael Karpf, M.A., wissenschaftlicher Moritz Stock). Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg Alisa Kronberger, Dr. des., Studium der 2227 „Identität und Erbe“ an der Bauhaus- Medienkulturwissenschaft und Psycho- Universität Weimar; Dissertationsprojekt logie in Freiburg i.Br. und Marburg; Dis- zur Transformation der Holocaust-Erin- sertation zum Thema Diffraktionsereignisse nerung am Ende personaler Zeugenschaft der Gegenwart: Feministische Medienkunst anhand filmischer Inszenierungen; M.A. trifft Neuen Materialismus (Bielefeld: tran- der Gesellschaftstheorie an der Fried- script, 2022); Forschungsschwerpunkte: rich-Schiller-Universität Jena; B.A. der New Materialism, Medienkunst und Sozialwissenschaft an der Justus-Liebig- feministische Theorie. Universität Gießen. Hans-Dieter Kübler, Dr. rer. soc., Professor Guido Kirsten, Dr. phil., seit Oktober 2018 für Publikations-, Medien- und Sozial- Leiter der Emmy Noether-Forschungs- wissenschaften an der Hochschule für gruppe „Filmische Diskurse des Man- angewandte Wissenschaften Hamburg, gels: Zur Darstellung von Prekarität und Fakultät für Design, Medien, Informa- Exklusion im europäischen Spiel- und tion, Department Information; Veröf- Dokumentarfilm“ (DFG) an der Film- fentlichungen zur Medienwissenschaft, universität Babelsberg KONRAD WOLF; -kultur, -geschichte und -pädagogik. Autorinnen und Autoren 387 Matthias Kuzina, Dr. phil., M.A., Amerika- Explizites und implizites Theoretisie- nist und freier Autor; Veröffentlichungen ren des digitalen Bildes“ im Rahmen des zu medien- und filmwissenschaftlichen Schwerpunktprogramms „Das digitale Themen. Bild“ an der Philipps-Universität Mar- Rolf Löchel, seit 1999 Mitarbeiter des an der burg; zuvor Mitarbeiter an der Bergischen Philipps-Universität Marburg erschei- Universität Wuppertal am Lehrstuhl nenden Rezensionsforums literaturkritik. für Allgemeine Soziologie; Studium der de; Publikationen (Auswahl): Utopias Medienwissenschaft und Soziologie an Geschlechter: Gender in deutschsprachiger Sci- der Philipps-Universität Marburg; Disser- ence Fiction von Frauen (Sulzbach: Ulrike tationsprojekt zu Internet-Memes in der Helmer Verlag, 2012); Forschungsschwer- Werbung. punkte: Geschlecht in Literatur, Film und Hanna Prenzel, M.A., akademische Mit- Philosophie, Literatur deutschsprachiger arbeiterin und Doktorandin im Projekt Autorinnen um 1900 sowie feministische „Filmische Diskurse des Mangels. Zur Science Fiction. Darstellung von Prekarität und Exklusion Barbara von der Lühe, Apl. Professorin im europäischen Spiel- und Dokumen- am Lehrstuhl für Deutsch als Fremd- tarfilm“ der Emmy Noether-Nachwuchs- und Fachsprache der TU Berlin, For- gruppe an der Filmuniversität Babelsberg schungsschwerpunkte: Interkulturelle KONRAD WOLF. Filmanalyse, Mediendidaktik, Literatur- Yana Prinsloo, M.A., Doktorandin und wis- verfilmungen, Filmgeschichte. senschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Sophie Mayr, Assistentin an der Abteilung Theaterwissenschaft am Institut für Film-, für Vergleichende Literaturwissenschaft Theater- und empirische Kulturwissen- der Universität Wien; Studium der Kom- schaft der Johannes Gutenberg-Universi- paratistik und Gender Studies in Wien; tät Mainz; Masterarbeit zum Thema Reset laufendes Dissertationsprojekt zur Funk- Postmodernity? Das (not) doing opinion in tion von Fotografien und Abbildungen in der ent-sinnten Gegenwart (Marburg: Tec- den Biografien von Autorinnen des 20. tum, 2017). Jahrhunderts; Forschungsschwerpunkte: Ivo Ritzer, Univ.-Prof. Dr., Inhaber des Ikonotexte, Fotografiegeschichte und Lehrstuhls für Komparatistische Medien- Autorinnen-Biografie. wissenschaft an der Universität Bayreuth. Olga Moskatova, Prof. Dr., Juniorprofessorin Forschungsschwerpunkte: Medienphilo- für Medienwissenschaft (Visualität und sophie, Medienarchäologie, Medienkul- Bildkulturen) an der Friedrich-Alexander- turtechnikforschung; Herausgeber der Universität Erlangen-Nürnberg; Studium Schriftenreihen „Neue Perspektiven der der Gesellschafts- und Wirtschaftskom- Medienästhetik“ und „Medienwissen- munikation in Berlin und Grenoble; Dis- schaft: Einführungen kompakt“. Publi- sertation zum Thema Male am Zelluloid: kationen (Auswahl): Schlüsselwerke der Zum relationalen Materialismus im kame- Medienwissenschaft (Wiesbaden: Springer, ralosen Film (Bielefeld: transcript, 2019); 2020), Politiken des Populären: Medien - Forschungsschwerpunkte: Theorie und Kultur - Wissenschaft (Wiesbaden: Sprin- Ästhetik visueller Medien, vernetzte Bil- ger, 2019), Medientheorie der Globalisierung der, Materialität der Medien und Medien (Wiesbaden: Springer, 2018), Mediale der Immunität. Dispositive (Wiesbaden: Springer, 2018), Kevin Pauliks, M.A., wissenschaftlicher Medialität der Mise-en-scène: Zur Archäo- Mitarbeiter im DFG-Projekt „Bildför- logie telekinematischer Räume (Wiesbaden: mige Bildkritik in Sozialen Medien. Springer, 2017). 388 MEDIENwissenschaft 03-04/2021 Maribel Cedeño Rojas, Dr., Lehrkraft für velle, Universidad Nacional de La Plata besondere Aufgaben am Romanischen (Argentinien) und Universidad Diego Seminar der Universität Siegen; Dis- Portales (Chile); Studium der Germanistik sertation zum Thema Arbeitsmittel und an der Université Nanterre; Dissertation Arbeitsabläufe beim Übersetzen audio- zum Thema Estrategias intermediales en visueller Medien (Trier: WVT, 2007); literaturas ultracontemporáneas de América Herausgeberin von Lateinamerikanisches Latina. Hacia una TransLiteratura (2019); Kino der Gegenwart: Themen, Genres/Stile, Forschungsschwerpunkte: lateinamerika- RegisseurInnen (Tübingen: Stauffenburg, nische Literatur, Intermedialität, Literatur 2015, zus. mit Christian von Tschilschke und Fotografie, Literatur und Internet. und Isabel Maurer Queipo); Forschungs- Susanne Schwertfeger, Dr., wissenschaft- schwerpunkte: Fantasy- und Horrorfilm, liche Mitarbeiterin am Institut für Mehrsprachigkeit in Film und Fernseh- Kunstgeschichte an der Christian-Alb- serien sowie Übersetzen und Lokalisieren rechts-Universität zu Kiel; Dissertation audiovisueller Medien. zum Trompe-l‘oeil in der holländischen Evelyn Runge, Dr., wissenschaftliche Kunst des 17. Jahrhunderts; Arbeit am Mitarbeiterin am Institut für Medien, Habilitationsprojekt zu den Illustrati- Theater und Populäre Kultur der Univer- onen der Gothic Novel; Herauageberin sität Hildesheim; Autorin von Glamour des von CLOSURE, e-Journal für Comicfor- Elends (Köln: Böhlau, 2012); Mitglied der schung; Forschungsschwerpunkte: Kunst Jungen Akademie an der Berlin-Branden- des 20. u. 21. Jahrhunderts, Malerei des burgischen Akademie der Wissenschaften niederl. Barock, Fotografie, Text-Bild und der Deutschen Akademie der Natur- Relationen, Ästhetik des Comics. forscher Leopoldina; Forschungsschwer- Sebastian Stoppe, Dr., wissenschaftlicher punkte: Fotografie in Theorie und Praxis, Mitarbeiter an der Universitätsbiblio- Mediensoziologie, Bilddatenbanken und thek Leipzig; Studium der Kommu- Archive, Journalismus. nikations- und Medienwissenschaft, Christian Schicha, Prof. Dr. phil. habil., Politikwissenschaft und Mittlere und Professor für Medienethik an der Neuere Geschichte an der Universi- Friedrich-Alexander Universität Erlan- tät Leipzig; Promotion an der Martin- gen-Nürnberg; Studium der Kommuni- Luther-Universität Halle-Wittenberg; kationswissenschaft, Germanistik und Publikationen (Auswahl): Unterwegs zu Philosophie an der Universität Essen; For- neuen Welten: Star Trek als politische Uto- schungsschwerpunkte: Medienethik und pie (Darmstadt: Büchner, 2014), Film in Politische Kommunikation. Concert: Film Scores and their Relation to Wolfgang Schlott, Prof. Dr., Kultur- und Classical Concert Music (Hg., Glückstadt: Literaturwissenschaftler, Publizist und Werner Hülsbusch, 2014), Playing with Schriftsteller, Universität Bremen, seit Virtuality: Theories and Methods of Compu- 2006 Präsident des Exil-PEN deutsch- ter Game Studies (Hg. mit B. Bigl, Frank- sprachiger Länder. furt: Peter Lang, 2013). Gianna Schmitter, Dr., ATER (Atta- Anne Ulrich, Dr. phil., Promotion zum ché Temporaire d’Enseignement et de Thema Umkämpfte Glaubwürdigkeit: Visu- Recherche) am Lehrstuhl für Spanisch elle Strategien des Fernsehjournalismus im und Lateinamerikanistik der Univer- Irakkrieg 2003 (Berlin: Weidler, 2012); sité Sorbonne Nouvelle; agrégée im Fach akad. Rätin (a.Z.) am Seminar für Allge- Deutsch; Studium der Lateinamerika- meine Rhetorik der Universität Tübingen; nistik an der Université Sorbonne Nou- Forschungsschwerpunkte: Visuelle Rhe- Autorinnen und Autoren 389 torik, Fernsehtheorie, Medientheorie und College Television in the US and Germany Medienrhetorik, politische Rede. (AT); Forschungsschwerpunkte: Col- Nadine Soraya Vafi, M.A., seit 2018 Dokto- lege Media, Ernährungskommunikation, randin, wissenschaftliche Assistentin und Medienethik. Lehrbeauftragte am Seminar für Film- Anna-Lena Weise, M.A., Studium der wissenschaft der Universität Zürich mit Kunstgeschichte und Musikwissenschaft dem Dissertationsprojekt Beyond Borders: an der Christian-Albrechts-Universität Urban Noise, Early Sound Film and Moder- zu Kiel; seit 2020 Arbeit am Disserta- nity (AT); Bachelor-Studium der Popu- tionsprojekt zu Todesdarstellungen in lären Kulturen, Filmwissenschaft und der französischen Malerei; Forschungs- Philosophie an der Universität Zürich; schwerpunkte: Ästhetik des Comic, Still- Abschluss des Master of Arts in Film Stu- lebenmalerei, Darstellungen des Todes. dies am King‘s College London. Hans J. Wulff, Dr. phil. em., Professor für Charmaine Voigt, M.A., wissenschaftliche Medienwissenschaft an der Christian- Mitarbeiterin im Bereich Ernährungs- Albrechts-Universität Kiel; Veröffentli- kommunikation des Verbundprojekts chungen zur Filmgeschichte, Filmtheorie, Ernährung und kardiovaskuläre Ernäh- Bibliografien. rung (nutriCARD) der Universitäten Marie Zarda, Masterstudentin der Norda- Halle, Jena und Leipzig am Institut für merikanistik an der Philipps-Universität Kommunikations- und Medienwissen- Marburg; 2020 Abschlüsse des Bachelor- schaft und Medienkultur der Universität Studiums der Medienwissenschaft sowie Leipzig; Masterstudium der Kommunika- 2021 der Anglistik an der Philipps-Uni- tions- und Medienwissenschaft in Leip- versität Marburg. zig; Dissertationsprojekt zum Thema