Magistri Legis1 Eine Studie zur dogmatischen Funktion im industriellen System Pierre Legendre Am Beginn dieser Untersuchung muss ein grundlegendes Problem klar formuliert werden, und so stelle ich ein weiteres Mal fest: Das Konzept der dog- matischen Funktion ist in der aktuellen epistemologischen Ordnung, in der die Wissensbestände über gesellschaftliche Organisationen im Allgemeinen und die Reproduktion des industriellen Systems im Besonderen geordnet, etikettiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden, nicht vertretbar. Die Arbeiten, in denen ich mich mit diesen Fragen beschäftigt habe, sind bis heute nicht gesellschaftsfä- hig, und die Methode, die ihnen zugrunde liegt, gälte als unlauter und nutzlos, wenn diese Schriften nicht ihr Publikum in einigen sehr begrenzten, aber hoch gelehrten Kreisen fänden. Lassen Sie uns die Angelegenheit genauer betrachten. Der Begriff des Dogmas und die Substantive oder Adjektive aus derselben Wortfamilie verbreiten aller- orten Angst und Schrecken, auch bei unseren Wissenschaftlern. Auf diese Weise laufen wir Gefahr, dass die brennendsten Fragen in einer Art gelehrtem Schutz- raum verschwinden, an einem Ort, an dem jenes Wissen eingeschlossen wird, das bereits verschwunden ist oder von dem wir glauben, dass es aussterben wird, wenn es nicht gar systematischer Ausrottung anheim fällt. So verhält es sich etwa mit der Religionsgeschichte, die bald zur kulturellen Unterhaltung, bald zum Abladeplatz der durch die Industrie vernichteten Glaubensformen erklärt wird. Auch wenn die Dogmatik – ein Begriff , dessen Restauration die deutsche Rechtsgeschichte in äußerst angebrachter Weise betrieben hat2 – ihre Rätselhaftigkeit und einige ihrer Herausforderungen aufgedeckt hat, ist heute keine Argumentation in der Lage, die weit verbreitete Gleichgültigkeit zu besiegen, eine Indiff erenz, die zwar naiv, aber gesellschaftlich hochwirksam ist. 1 Anm. d. Übers.: Der Originaltitel lautet Les Maîtres de la Loi. Étude sur la fonction dogmati- que en régime industriel (in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 38/3 (1983), S. 507 – 535). Gemeint sind die als magistri bezeichneten Rechtsgelehrten der Scholastik. 2 Eine der grundlegenden Arbeiten stammt von Maximilian Herberger: Dogmatik. Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz, Frankfurt/M. 1981. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 70 Pierre Legendre In der Tat ist hier eine Verkennung am Werk, weil in der Vorstellung, die wir uns von der Vernunft (Raison)3 in den Institutionen machen, etwas Wesentliches erhalten werden muss. Während die Revolution des Managements voranschreitet,4 erscheint die monumentale Frage einer Wissenschaft vom Gesetz – die unweiger- lich auf die mythologischen Fundamente des sozialen Lebens bezogen ist – als obsolet. Doch was bedeutet es, in jenem Kontext, in dem das industrielle System wirkt, über die Wissenschaft und das Gesetz nachzudenken? Die Antwort liegt auf der Hand: Zunächst geht es darum zu sehen, dass durch die Verdrängung des Rechts eine bisher unerkannte historische Komponente ins Spiel kommt. Im Laufe dieser Arbeit wird also zu berücksichtigen sein, was traditionellerweise der dogmatischen Reproduktion allgemein zugrunde liegt, das heißt in jener Form, in der die Be- wohner des Abendlandes sie offi ziell bestimmt haben: Die Rede ist von der Refe- renz auf die politische Liebe,5 die im engen Sinne die Defi nition von Kultur6 darstellt. Das Problem des Dogmatismus zwingt uns aber auch, unsere Beziehungen als Subjekte zu den instituierten Botschaften mit neuem Blick zu sehen. Diese Relatio- nen werden zu wenig erforscht, weil die szientistischen Ideale der dualistischen Kommunikation vorherrschen.7 Die Geschichte der dogmatischen Erzeugnisse bereichert die Refl exion hier zweifellos, und sie macht es zugleich möglich zu ver- stehen, warum die lateinischen Glossatoren, anders als die Interpreten des Talmud, niemals zugegeben haben, dass ein Buch den Wert eines Vaterlandes haben könnte. Für den vorliegenden Artikel werde ich auf einige Begriff e zurückgreifen müs- sen, welche die Psychoanalyse in Umlauf gebracht hat, allerdings jene weder pre- digende noch militante Psychoanalyse, an die ich mich halte.8 Ansonsten werde 3 Anm. d. Übers.: Raison bezeichnet im Französischen sowohl die Vernunft als auch den Grund. 4 Dieser Begriff scheint mir sehr hilfreich, um das Ausmaß des Phänomens, zunächst mit Blick auf die Unternehmensstrukturen, zu verstehen. Vgl. dazu die solide Arbeit von Alfred Dupont Chandler: The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge, MA 1977. Vgl. auch die sehr verbreiteten Handbücher zum Thema Change management, etwa George F. Wieland/Robert A. Ulrich: Organizations: Behavior, Design and Change, Homewood, IL 1976. 5 Es lässt tief blicken, dass selbst unter Rechtshistorikern so wenig über die Arbeiten von Gaines Post gesprochen wird, insbesondere über seinen Artikel: Status, id est Magistratus: l’État, c’est Moi, in: Studies in medieval legal thought: public law and the State 1100 – 1322, Princeton, NJ 1964, S. 333 – 367. 6 Die kanonische Defi nition von Kultur fi ndet sich im Dekret C. 26 q. 2 c. 9. 7 Diese Ideale lassen sich in den gängigen Publikationen leicht ausfi ndig machen, so bei- spielsweise in der international anerkannten Management International Review. 8 Es spricht nichts dagegen, dass die Psychoanalyse zur Unterwerfung dienen kann, sobald sie, um mit den Worten eines Fanatikers zu sprechen, den Anspruch erhebt, das »mensch- liche Begriff svermögen zu reformieren«. Ich habe über diese beunruhigende Entwicklung ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 71 ich auf theoretische Aussagen verzichten und mich lediglich auf den operativen Begriff des Textes beziehen, so wie ich ihn in meinen Arbeiten bis heute verstehe (in zwei Bedeutungen: zum einen der Text (texte) im gängigen historischen Sinn, zum anderen der Text (Texte) in der von mir eingeführten strukturellen Bedeu- tung als absoluter Text ohne Subjekt). Die rechtshistorischen Quellen werden in der üblichen Zitierweise angegeben. Das römische Recht als dogmatische Zuschreibung des mittelalterlichen Abendlandes Im aktuellen wissenschaftlichen Kontext lässt sich mühelos der undurchdring- liche, dunkle Bereich der industriellen Organisation ausmachen: Er befi ndet sich genau dort, wo die Reproduktion der institutionellen Systeme als anthropologi- sche Bewegung betrachtet werden muss, und zwar im Sinne einer Anthropologie, die die unumgängliche Tatsache der Entdeckung des Unbewussten durch Freud mit einschließt. Bis heute ist es undenkbar, diese Reproduktion zu analysieren und dabei die abendländische Kultur als Untersuchungsgegenstand auf derselben Stufe zu sehen wie etwa eine traditionelle afrikanische Gesellschaft. Noch un- möglicher ist es, Folgendes anzuerkennen: Wenn das Unbewusste seinem Wesen nach Jurist ist, so kann die Erforschung des Rechts selbst zum Königsweg werden, der den Zugang zu den mythologischen Trägern der industriellen Reproduktion eröff net. Jene Wissensformen, die das Recht begründen – an erster Stelle die Geschichts- schreibung – stellen eine Herausforderung dar, denn politisch betrachtet mobili- siert das Recht Gläubige. In der Perspektive des juridischen Systems sind wir keine vernünftig denkenden (croyants raisonneurs), sondern unterworfene Wesen, im Sinne des Französischen résonnants, was soviel wie widerhallen bedeutet. In uns fi ndet die Legitimität ihr Echo, deren Ausdrucksformen sich zwar gewandelt ha- ben, die uns jedoch noch immer im Modus der Rhetorik erklärt, welcher guten Sache zu dienen sei. Die Legitimität normiert, sie bewirkt, wie es die lateinische Etymologie nahelegt, die maßstabsgerechte Einpassung der menschlichen Subjekte innerhalb eines Systems. Aus dem Blickwinkel der europäischen Rechtsgeschichte sind die inhaltlichen Motive des Rechtsglaubens austauschbar: Die kaiserliche Hoheit, die Ratio scripta, Gott als oberster Gesetzgeber, etc. stellen Kategorien dar, die sich gegenseitig substituieren können, aber streng nach den Regeln der Rede- in Frankreich einige Bemerkungen gemacht: Administrer la psychanalyse, in: Pouvoirs. Revue française d’Études constitutionnelles et politiques, Neuaufl age des Sonderhefts »Psychanalyse« ( Januar 1981), S. 204 – 218. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 72 Pierre Legendre kunst defi niert sind, der dogmatischsten aller Künste also, die so wichtig ist, um den notwendigen Zusammenhang zwischen dem Recht und der von mir so be- zeichneten feierlichen Statuierung des Wortes (solennisation de la parole)9 zu verste- hen. Lassen Sie mich an dieser Stelle an die großen Pädagogen des Abendlandes erinnern: Cicero und Quintilian, die beide untrennbar mit der Entstehung des römischen Rechts seit der klassischen Antike verbunden sind. Heute dient die Mechanik der wohltätigen und wissenschaftlich fundierten Herrschaft als absolute Referenz, als höchste Rechtfertigung in der allgemeinen Ökonomie des großen Textes, was uns wiederum zeigt, dass die Funktion der Täuschung nichts an Kraft einbüßt. Sie ist absolut lebensnotwendig, wenn auch in unserem szientistischen Kauderwelsch nur schwer zu erkennen, doch die Ästhetik Kafkas, eines verkann- ten Interpreten des Juridismus als solchem, hat sie auf ganz bemerkenswerte Weise an Licht gebracht.10 Es sollte uns nicht wundern, dass die Rhetorik mit ihren Anspielungen, ihren Umschreibungen und ihrem Formalismus die Theoretiker des Managements ent- waff net. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, das das amerikanische Denken fortwährend beunruhigt: So ist die Disziplin der Japaner, ihre Höfl ichkeit und ihre Eigenheit, in bestimmten Situationen weiße Handschuhe zu tragen, immer wieder Gegenstand pseudowissenschaftlicher Betrachtungen zur »Weiblichkeit« der hier- archischen Beziehungen in der japanischen Industrie.11 Solche Bemerkungen fol- gen den Lehren des Behaviorismus, die außer Stande sind, die fi ktionalen Mon- tagen der Kultur mitzudenken. Um meinen Beitrag richtig zu verorten, ist es von Nutzen, an dieser Stelle auf die Zögerlichkeit, ja Inkonsistenz zu verweisen, die gewisse Theoretiker des abendländischen Rechtssystems auszeichnet, wenn es da- rum geht, sich vorzustellen, wo wir heute stehen. Der simpelste Konservatismus dient dann als Schutz. In einer den ultramodernen Idealen ausgelieferten Gesell- schaft ist die Normativität selbst einem szientistischen Diskurs zum Opfer gefallen. Die Wissensformen, die das Recht begründen, werden aufpoliert, um sich der 9 Anm. d. Übers.: Legendre formuliert hier in Anlehnung an die Terminologie des römi- schen Rechts, in dem eine der ältesten Prozessformen (legis actio) unter der Anwendung unveränderlicher, feierlicher Spruchformeln funktionierte, die als verba solemnia bezeich- net wurden. 10 Kafka hat ganz hervorragend die Abscheu zum Ausdruck gebracht, die den Leser bei der Lektüre juristischer Texte beschleichen kann. In seinem Brief an den Vater schrieb er über sein Jurastudium: »[I]ch [nährte] mich […] geistig förmlich von Holzmehl […], das mir überdies schon von tausenden Mäulern vorgekaut war.« Hier zitiert nach Franz Kafka: Brief an den Vater, Berlin 2004, S. 42. 11 Zur japanischen Höfl ichkeit und ihrer Interpretation für den Markt des Managements siehe die einfältigen Bemerkungen von Barry Bruce-Briggs: The Dangerous Folly Called Theory Z, in: Fortune (17.05.1982), S. 41 ff . ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 73 Propaganda von der Rationalität des Managements12 anzupassen. Die Folgen sind sichtbar. Was gemeinhin als Rechtsanthropologie bezeichnet wird und die be- kanntesten älteren Arbeiten (insbesondere von Bachofen) weit von sich weist, hat im eigentlichen Herzen der Sozialwissenschaften keine Zukunft. Zugleich reagiert die Rechtsgeschichte, die sich heute trotz großer offi zieller Unterstützung in Frankreich im Verfall befi ndet, auf die bloße Nennung des Namens Freud, oder schlimmer noch Lacan, durch die Zurschaustellung ihres Entsetzens. Dabei wird vergessen – und ich erwähne es nur am Rande –, dass Freuds Ideen durch Kelsen Eingang in die juridische Literatur fanden, durch einen Rechtswissenschaftler also, der in unseren juristischen Kreisen ebenfalls als Idol und Schreckgespenst gilt.13 Es wäre nutzlos, dem Konservatismus, einer defensiven Haltung, deren gele- gentliche Brutalität uns nicht die Logik verbergen darf, den Prozess machen zu wollen. Wir liegen im Widerstreit mit den Idealen der Informatisierung der Nor- men, des Dialogs in der Verwaltung, der nach dem Muster des »Qualitätszirkels« funktioniert,14 der Vermischung von öff entlichem Diskurs und privatem Sprechen, etc. Bei den Juristen, so müssen wir trotz wertvoller Arbeiten eingestehen, ist die Geschichte gescheitert, und zwar aus Gründen, die aufgrund des vorherrschenden Korpsgeistes nicht in Ruhe erhellt werden können. Die Rechtsgeschichte hat sich in sich selbst getäuscht, indem sie das Juridische, ein Phänomen unerbittlicher Härte, schwächte: Eine improvisierte und wohlwollende Soziologie, gestärkt durch die traditionelle französische Feindschaft gegen die wissenschaftliche Un- tersuchung scholastischer Verfahren, hat den Weg bereitet für eine Geschichts- schreibung ohne Hypothesen, der vor allem daran gelegen ist, mit der Propaganda konform zu gehen, und in der es von größenwahnsinnigen Vorhaben nur so wim- melt.15 Trotz dieses Scheiterns bleibt die Rechtsgeschichte der einzig mögliche 12 Anm. d. Übers.: Legendre spricht hier von rationalité gestionnaire, wobei gestion sowohl Verwaltung als auch Management bedeuten kann. 13 Hier sei auf ein Werk Kelsens verwiesen, das in den Rechtsfakultäten nur wenig Verbrei- tung fand: Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse, in: Imago 8 (1922), S. 97 – 144. Der Artikel ist grundlegend für die Debatte Freud-Lebon. 14 Die Qualitätszirkel (Quality Circles, eine Bezeichnung, die in den USA heute durch den Begriff Quality Teams abgelöst wird) haben durch die Japaner einen internationalen Auf- schwung erlebt. In Frankreich werden sie nur widerstrebend erforscht, denn sie konkur- rieren mit der von nationaler Verehrung so stark geprägten Predigt über Teilhabe, Selbst- verwaltung etc. Eine kurze Einführung hat die Association française de Normalisation (AFNOR) veröff entlicht: Principes généraux des Cercles de qualité, 1981. 15 Mir liegt entschieden daran, meine Forschung von der inhaltslosen Formel »Institutio- nen- und Sozialgeschichte« zu trennen, die eine bequeme Lösung darstellt, sich der Probleme der heutigen Rechtsgeschichte zu entledigen. Ich habe mit den Improvisatio- nen und dem Durcheinander nichts zu tun, die sich daraus logisch ergeben. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 74 Pierre Legendre Zugang zur dogmatischen Zuschreibung im Abendland und damit zu einem um- fassenden Problem, das die Expansion des industriellen Systems direkt betriff t. Warum ist die Rechtsgeschichte so wichtig? Diese Angelegenheit lässt sich nur entscheiden, wenn wir den Leitfaden des abendländischen Juridismus wieder auf- nehmen. Sie ist in eine historische Reproduktion eingeschrieben, die sich durch die Abstammungslinie der Texte verorten lässt. Um welche Texte handelt es sich? Es geht um solche, die die Wissenschaft vom Gesetz aussprechen. Diese Behaup- tung muss durch einige vorangestellte Bemerkungen zur Terminologie erklärt werden. Die Wissenschaft vom Gesetz darf hier nicht im modernen Sinne des Begriff s Wissenschaft verstanden werden. Sie bezeichnet kein Wissen, das auf der Beobach- tung messbarer Tatsachen beruht und dazu bestimmt ist, in der Praxis die techni- sche Entwicklung voranzutreiben. Dies ist bei den behavioristischen Versuchen der Fall, welche ihre Labormethoden ins gesellschaftliche Leben verpfl anzen, doch uns geht es um etwas anderes. Die Wissenschaft, von der hier die Rede ist, bezieht sich auf ein Wissen, das mehrdeutiger und rätselhafter nicht gedacht werden kann, ein Wissen, das einer absoluten Macht unterstellt wird, welche die übermensch- liche Fähigkeit besitzt, unbegrenzt wahr zu sprechen. Man kann diese Wissen- schaft vom Gesetz auch anders bezeichnen und wie zum Beispiel die Quaestiones de iuris subtilitatibus (12. Jahrhundert) vom Templum Iustitiae16 oder wie Kafka von den Türen des Gesetzes17 sprechen. Die Wissenschaft verweist hier also auf den logischen Ort eines Diskurses, genauer: auf den Platz jenes Sprechens, das das Orakel der Macht enthält. Ein Text des Codex Theodosianus, der Aufnahme in die Justinianische Kompilation fand und deshalb seit der Revolution im Bologna des 12. Jahrhunderts18 ausführlich glossiert wurde, bedient sich einer bemerkenswerten Formulierung, um diesen besonderen Diskurs zu bestimmen: digna vox maiestate, wörtlich: eine der Majestät würdige Stimme.19 16 Zu dieser Formulierung und ihren Grundlagen im Corpus vgl. Hermann Kantorowicz/ William Warwick Buckland: Studies in the Glossators of the Roman Law, Aalen 1969, S. 185. 17 Siehe dazu Kafkas sehr poetischen Text im Prozess, Kapitel IX. 18 Anm. d. Übers.: Gemeint ist die von Harold J. Berman so bezeichnete »päpstliche Re- volution«, Harold J. Berman: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/M. 1991, in deren Umfeld Legendre eine »Revolution des Interpreten« annimmt. 19 Dieser Text fi ndet sich im Codex Iustinianus, C.1.14.4: »Digna vox maiestate regnantis legibus alligatum se principem profi teri, adeo de auctoritate iuris nostra pendet auctori- tas.« Über die mittelalterlichen Kommentare zu diesem Fragment siehe Ennio Cortese: La norma giuridica. Spunti teorici nel diritto commune classico, I, Mailand 1962, bes. S. 146, 150f. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 75 Wir wollen das poetische Moment beiseite lassen, die Metaphern eines unter- stellten absoluten Wissens, das als wissender Ort verstanden werden muss. Diese Poesie, die in den klassischen Darstellungen des Legalitätsprinzips im Abendland gebräuchlich ist, fi xiert offi ziell eine höchste Rechtfertigung. Wir verstehen sie vollkommen, weil auch wir Wilde sind, die den imaginären Körper eines imaginä- ren Anderen, von dem wir glauben, dass sich in ihm die Kraft der Wahrheit fi ndet, bis ins kleinste Detail zerlegen. Davon zeugt die noch wenig erforschte Ikonogra- phie der juridischen Transmission. Die poetischen Anspielungen umreißen einen mythischen Ort logischer Bestimmung, auf den sich notwendigerweise anderes Wissen bezieht, alles Gesetzeswissen, das existiert, damit eine Gesellschaft funktio- nieren kann und das Gesetz wirkt. Die Poesie besetzt diesen Platz, weil für uns, die Bewohner des Abendlandes als Kinder einer bestimmten Tradition, wie für alle Kulturen der Erde etwas Unsagbares unbedingt ausgesprochen werden muss, das mit dem absoluten Wissen in Beziehung steht. Das poetische Moment, das die Geschichte der rhetorischen Fundamente des abendländischen Juridismus so stark geprägt hat, verweist also auf einen wesentlichen Punkt: eine mythologische Zu- schreibung, ohne die eine soziale Kommunikation nicht existieren würde. Doch was wäre die soziale Kommunikation ohne das Sprechen und was das Sprechen in einer Gruppe von Menschen, wenn es nicht anerkannt, also institu- tionell festgelegt wäre? Ich muss diese banale Wahrheit noch einmal betonen: Ein Rechtssystem ist vor allem eine soziale Kommunikationstechnik, und zwar die einzige, die den Eintritt der Subjekte ins Gesetz bewerkstelligen kann. Wir können die dogmatische Funktion nun genauer fassen und in der Unter- suchung einen Schritt weiter gehen. Wenn wir von »Dogmatik« sprechen, so fol- gen wir der großen Geschichte jener Doktrinen, an die die deutschen Juristen in Europa bis ins 20. Jahrhundert hinein, also vor und nach Savigny,20 so brillant anknüpften. Diese Dogmatik betriff t die Fundamentalgeschichte der Begriff e und Methoden sowohl des Rechts als auch der Medizin. Dieser merkwürdige Zusam- menhang wurde seit dem bedeutenden Werk des Paolo Zacchias im 17. Jahrhun- dert nach und nach untersucht. Seine Quaestiones medico-legales21 haben ans Licht 20 Trotz der sehr großen Bedeutung von Person und Werk (Lehrer von Marx, Interesse Bismarcks, Korrespondenz mit Laboulaye etc.), bleibt Savigny bei den französischen Intellektuellen eine persona non grata. Tatsächlich hat dieser Nachkomme von nach Deutschland gefl ohenen Hugenotten und reaktionäre Kritiker der Revolution und ihrer juristischen Mauscheleien alle Attribute, um in Frankreich unbeliebt zu sein. Wird sich dies ändern? Ich gehe davon aus, jedenfalls beweist es die kluge Arbeit eines jungen Autors: Olivier Motte: Savigny. Un retour aux sources, in: Quaderni fi orentini per la Storia del Pensiero giuridico moderno 9 (1980), S. 555 – 574 (Publikation eines bemer- kenswerten internationalen Seminars über Savigny 1980 in Florenz). 21 Paolo Zacchias (1584 – 1659), ein sehr bedeutender Autor, war Arzt und Jurist. Sein Name ist untrennbar mit der päpstlichen Jurisprudenz verbunden. Er war Gutachter des höchs- ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 76 Pierre Legendre gebracht, wofür sich Recht und Medizin gleichermaßen in erster Linie interessie- ren: den menschlichen Körper. Die Bedeutung der dogmatischen Funktion kann damit kurz und bündig de- fi niert werden: Es geht um den menschlichen Körper selbst. Dieser Einsatz wird auf sozialer Ebene in Texträumen gespielt, die mit der mythologischen Referenz des wissenden Ortes (im Wortsinn, den das römische Recht formuliert) verbunden sind. In jeder Gesellschaft geschieht dies im Sinne einer höchsten Forderung, die der gesamten menschlichen Gattung gemein ist: des Imperativs der Reproduktion. Wir können es auch anders formulieren und sagen: Die Beziehung, die in der abendländischen Tradition – einem Erbe, das heute dank der Rechtsgelehrten genau bestimmt ist – Recht und Medizin verbindet, ist nichts anderes als das Ge- setz der menschlichen Reproduktion. Die reiche Geschichte des Dogmatik-Begriff s ist zugleich jene der Texträume, auf die sich das Band zur mythologischen Refe- renz bezieht. Diese Räume befi nden sich in einer unvermeidlichen Kommunika- tion, weil die menschliche Reproduktion mit einschließt, dass sich das Biologische sowohl mit dem Sozialen als auch mit jenem merkwürdigen Wissen des Körpers selbst verbindet, das Freud als »Unbewusstes« bezeichnete. Die drei Register, die sich genau verorten lassen, sind durch einen ganz bestimmten Mechanismus mit- einander verknüpft. Ich bezeichne ihn als dogmatische Funktion. Diese Erläuterungen genügen, um die Bedeutung der Rechtsgeschichte zu er- messen. Das Studium der Produktion und Reproduktion der Texte, durch die jene Formen des Wissens bestimmt und geordnet werden, welche die Normierung regeln und durch den abendländischen Juridismus tradiert werden, macht die klassische Seite der industriellen Institutionen sichtbar und zeigt so ihre eindeutig anthropologische Beschaff enheit. Das soziale Phantasma und die Propaganda einer Verwaltung jenseits von Kultur und Geschichte – die nicht mehr das Geringste mit jenen mythologischen Inszenierungen der Macht zu tun hat, die die Industrie angeblich ausgemustert hat – erreichen auf diese Weise eine Grenze. Die Techno- logie entwickelt sich in nie dagewesener Form, die Institutionen sind von diesem Wandel jedoch in keinem Fall betroff en. Sie werden niemals im behavioristischen Sinne wissenschaftlich sein. Die Massengesellschaft existiert imaginär oder als sehr reale Gewalt, doch dieser Bezug auf die Masse, die viel zu häufi g kritiklos mit Freuds Begriff der Massenpsychologie in Zusammenhang gebracht wird, erklärt nicht alles und vermeidet insbesondere die schwierige Frage des neuen, symboli- schen Universums der industriellen Kultur, in dem der Juridismus – wenn auch in mittelbarer, versteckter Form – unweigerlich wieder auftaucht, denn der Diskurs des Gesetzes lässt sich nicht abschaff en, er ist die eigentliche Bedingung der ge- ten kirchlichen Gerichts, der Rota Romana, und zugleich Leibarzt der Päpste Inno- zenz X. und Alexander VII. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 77 schlechtlichen Reproduktion des Menschen. Diese wichtigen Einsichten liefert uns die Rechtsgeschichte. Daher nun die folgenden, grundlegenden Bemerkungen: a) Die dogmatische Funktion hängt mit der Wissenschaftsgeschichte selbst zusammen. Wir müssen an dieser Stelle auf die Bedeutung der Rechtsentwicklung verwei- sen, wenn wir die dogmatische Funktion nicht auf die Karikatur jener Verdre- hungen reduzieren wollen, denen sie im Laufe ihrer Geschichte unterworfen war. Die Beziehung zwischen Recht und Medizin bildet das Herzstück der früheren Wissenschaftstheorie und wirft ein ganz neues Licht nicht nur auf die Normati- vitätsvorstellung selbst, sondern auch auf die Verbindungen, welche die modernen Wissenschaften zu den juridisch geprägten Begriff en des Wissens und der Wahr- heit unterhalten. Auf diesem Gebiet füllen die Forschungen von Maximilian Her- berger, die in Frankreich – der Heimat eines nur oberfl ächlichen Antidogmatis- mus22 – hoff entlich zum Nachdenken anregen, eine Lücke und übertreff en die Arbeiten Thorndikes noch an Bedeutung. In gewisser Hinsicht stützen sie Bemer- kungen, die hier und da (insbesondere durch Michel Foucault) gemacht wurden und sich auf die Politik und das Wissen im Bannkreis der Medizin beziehen. Der Platz des römischen Rechts muss jedoch vom Diskurs der Wissenschaft her unter- sucht werden, einem Begriff , der heute infolge unbesonnenen Gebrauchs kom- promittiert ist. Die Justinianischen Gesetzbücher haben den Institutionen des Wissens in Form des ius commune und seiner Umrahmung durch das römisch- kanonische Glossensystem die Grundlage eines universellen Wahrheitsdiskurses geliefert. Dieser Diskurs ist umso bemerkenswerter, als er – die frühen Abhand- lungen zum Verfahrensrecht noch vor den Bologneser Kommentaren (Mitte des 12. Jahrhunderts) zeigen es23 – den juridischen Praktiken zur Abschaff ung des Gottesurteils vorausging. Was aber bedeutet das Gottesurteil? Im Wesentlichen macht es sichtbar, dass die Wahrheit in einem Gerichtsverfahren in einem direkten Bezug zu Gott zum Ausdruck kommt (in der Psychoanalyse würden wir sagen: durch eine mörderische imaginäre Beziehung zum großen Anderen). Auf diese Weise wirft der Beschuldigte oder sein Streithelfer den eigenen Körper in die 22 Ich bezeichne ihn als oberfl ächlich, weil er für die eigene Herkunft blind ist. Seine Ur- sprünge werden durch jene nationalistischen Doktrinen sichtbar, die sich der Glosse und den Glossatoren entgegenstellen. Man verunglimpft beide ebenso, wie die Hauptvertre- ter des offi ziellen Wissens (im 19. Jahrhundert, vgl. dazu Daunou) die Scholastik allge- mein geringschätzten. Vgl. zu den Zusammenhängen meinen Artikel: La France et Bar- tole, in: Bartolo da Sassoferrato. Studi e documenti per il VI centenario, I, Mailand 1961, S. 133 – 172. 23 Ein konkretes Beispiel macht es deutlich: Stephan Kuttner/Eleanor Rathbone: Anglo- Norman Canonists of the Twelfth Century, in: Traditio 7 (1951), S. 279 – 358. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 78 Pierre Legendre Waagschale und vertraut darauf, dass Gott durch den auf diese Weise zur Geisel genommenen Leib des Anrufenden die Wahrheit sprechen wird. Mit seinen Aus- führungen zur Zeugenschaft, zu den Indizien, zum offi ziell beglaubigten oder privaten Schriftstück stellte das römische Recht einen radikalen Bruch mit dieser Technik dar, die eine kontinuierliche Anrufung des Wunders war. Die Frage der Wahrheit erfuhr so eine Verschiebung, oder genauer eine Spaltung, indem der göttliche Garant zur Referenz des gesamten juridischen Dispositivs avancierte und die Wahrheit durch die fundamentale, im Wesentlichen römische Trennung von öff entlichem und privatem Recht unverfügbar an ihrem Platz fi xiert wurde. Maß- gebend in einem Gerichtsverfahren war also nicht mehr der Körper eines Gefol- terten, sondern die ratio, ein hochkomplexes scholastisches Konzept, das den Text als solchen mit einschließen kann und von dem ausgehend die Theorie der Tat- sache und der Interpretation bei den Juristen den Vorstellungen jenes Wissen- schaftlers nahekommt, der seine Thesen mit Hilfe von Experimenten überprüft. Auf diese Weise wurde das Bündnis von Recht und Wissenschaft begründet, um die Vernunft in Einklang mit den dogmatischen Wissenslehren durchzusetzen. Wichtig ist nun, den diskursiven Eff ekt dieses Umgangs mit den römischen Tex- ten durch die römisch-kanonischen Rechtsgelehrten im Blick zu behalten, den die deutschen Historiker so treff end als gelehrtes Recht bezeichnen (im Unterschied zu den Rechtssystemen, die jene barbarischen Verfahren anwenden, die in Europa nach dem 5. Jahrhundert verbreitet sind): Die wissenschaftlichen Praktiken, wie wir sie heute im Management und in der Verwaltung kennen, wo sie Ausdrucks- formen ersetzen, die bis ins 20. Jahrhundert hinein den traditionellen Juridismus inszenierten, werden so als neo-juridische Erzeugnisse erkennbar. Sie wirken folg- lich nach dem grundlegenden mythologischen Prinzip, welches das römische Recht für die industrielle Kultur vorgesprochen hat. Worum handelt es sich dabei genau? b) Die lebendige Schrift als grundlegendes mythologisches Prinzip Wenn es möglich ist, das industrielle System, so wie es die abendländische Geschichte entworfen hat und bis heute exportiert, trotz der szientistischen Ideale anthropologisch zu verorten, dann müssen wir zweierlei verstehen: zum einen, inwiefern sich dieses System von anderen Arten der institutionellen Reproduktion unterscheidet, und zum anderen, warum die kulturellen Veränderungen, die die Industrie mit sich gebracht hat, eine Verwüstung bedeuten, die aber im interna- tionalen normativen Diskurs als Entwicklungsfortschritt gesehen wird. Eine sehr passende Formulierung, die ich von Ernst Kantorowicz übernehme – einem jener Wissenschaftler, die mich besonders zuverlässig zur Erforschung der dogmatischen Räume geführt haben – soll mich hier leiten: Das Konzept der effi ciency, wie es durch das Management vertreten und durch diesen Rechtshistoriker so bemer- ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 79 kenswert begründet wurde,24 hat jeden Bezug zum menschlichen Opfer beseitigt. Die tausenden und abertausenden Tötungen unserer Zeit werden auf diese Weise bis zur Unkenntlichkeit entstellt, sie sind heute nichts weiter als Liquidationen oder unvermeidbare politische Verkehrsunfälle. Die effi ciency hat eine nie dagewe- sene Form der Zensur hervorgebracht: Es ist verboten, davon auszugehen oder verstehen zu wollen, dass Menschen für die Wahrheit sterben können, und zwar für eine Wahrheit, die in einem Text geschrieben steht. Die Zukunftsforschung, so habe ich schon einmal gesagt, steht fassungslos der Entwicklung arabischer Ölregionen gegenüber, die durch den Koran oder die brutalen Methoden der Identifi kation mit der vorherrschenden Lehre im maoistischen China geprägt sind. Dabei bringt sie sich selbst um einen Trumpf, nämlich um die Beschäftigung mit der Frage, in welcher Beziehung der Mensch zur Schrift steht. Dieses Problem ist nicht nur komplex (und zwar sehr viel komplexer, als so viele Psychoanalytiker in der lähmenden Stimmung des Akademismus nach Lacan erahnen lassen), sondern auch geeignet, Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf diesem Gebiet bringt die Rechtsgeschichte tatsächlich Neues, jedenfalls, wenn sie auf moderne Weise befragt wird. Wir müssen auf die Logik jener Bot- schaften zurückgreifen, die in einer dogmatisch konstituierten menschlichen Ge- sellschaft an Körper gerichtet werden, die mit einem Unbewussten begabt sind. Auf diese Weise können wir die strukturierende Bedeutung der römischen Mytho- logie in unserer institutionellen Reproduktion erkennen. Den Begriff der Struktur verstehe ich hier im lateinischen Sinn als stilisiertes Bauwerk. Sie ist ein sehr pas- sender Ausdruck bei Augustinus, der von einer Struktur der Liebe spricht (structura caritatis),25 um metaphorisch die liturgische Ordnung zu benennen. Damit sind wir bereits bei einer Feststellung angelangt, die den vorherrschenden Szientismus schmerzt: Die Beziehung des Menschen zur Schrift hängt zunächst von einer Ero- tik der Institutionen ab. Wenn wir die Sexualität nicht als Sexismus oder reine Fortpfl anzungsfähigkeit verstehen, ist die Frage der sozialen Beherrschung durch die Schrift untrennbar mit der Logik des Unbewussten verbunden, also mit einer Liebe des Objektes, das die Botschaft überbringt, und damit einer Liebe der Bot- schaft als solcher. Auf dieser institutionellen Ebene gewinnt der Begriff des Signi- fi kanten, den Saussure aufgebracht und Lacan mit großem Geschick verwendet hat, seine volle Bedeutung. Er wiederholt die wesentliche Funktion des Rätsels in der 24 Siehe dazu den letzten Absatz in seinem Artikel: Pro Patria Mori in Medieval Political Thought, in: Selected Studies, New York 1965, S. 308 – 324, der erst nach dem Tod des Autors im Jahre 1963 erschien. 25 Die genaue Formulierung lautet: »[S]cientia tamquam machina quaedam, per quam structura caritatis adsurgat«, vgl. B. Fischer: Tamquam machina quaedam. Ein Wort Augustins (ep. 53, 39) zum Ethos der Liturgiewissenschaft, in: Miscellanea liturgica in onore di S. E. il Cardinale G. Lercaro, Paris 1967, S. 85 – 93. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 80 Pierre Legendre sozialen Kommunikation. Diese Dimension der politischen und administrativen Steuerung wird heute in den Managementwissenschaften vehement geleugnet, was wiederum beweist, dass ihr Ziel nicht darin besteht, unsere Analyse des Menschen voranzubringen, sondern die Beherrschung der Subjekte juridisch umzusetzen. Die Frage, die die Rechtsgeschichte hier aufwirft, lässt sich folgendermaßen formulieren: Durch welchen Mechanismus wird die Liebe jenes Objektes insze- niert, das die Botschaft in der abendländischen Rechtstradition überbringt, und warum hat diese Tradition die Doktrin hervorgebracht, welche für die industrielle Verwaltung konstitutiv und nach der ein Text kein Liebesobjekt, sondern reiner Informationsträger ist? Wir müssen davon ausgehen, dass hier eines der größten Missverständnisse zur interkulturellen Kommunikation liegt, jedenfalls wenn man sie so versteht wie die vorgeblich universell gültige Methodenlehre, die bei den UN-Experten heute hoch im Kurs steht (diese Experten sind nach den Idealen des Managements ausgebildet). In anderen Rechtstraditionen nämlich (die mit dem Konzept der effi ciency unvereinbar sind), insbesondere der islamischen oder talmu- dischen Kultur, können unsere Formen des Umgangs mit dem Text als Betrug gelten. Ich werde es bei einigen grundlegenden Bemerkungen über die mytholo- gischen Ursprünge der Normativität im Abendland bewenden lassen und dabei von einer Formulierung aus den Digesten ausgehen: viva vox iuris.26 Dieser Begriff wurde nach dem Konkordanzprinzip des Utrumque ius bei den mittelalterlichen Romanisten und Kanonisten unterschiedslos auf den Papst oder den Kaiser angewandt und bezieht sich im Allgemeinen auf jene Theorie von den Ursprüngen des Rechts, die dem Abendland durch die wiederentdeckte byzanti- nische Sammlung vermittelt wurde. Fournier hat dies für den Kontext der Pro- paganda während der gregorianischen Reform am Ende des 12. Jahrhunderts ge- zeigt.27 Der Autor, in dessen Namen diese Kompilation – der Sockel des gesamten 26 Dieser Ausdruck fi ndet sich in einem Fragment des Marcian, der das prätorische Recht defi niert: D. 1.1.8.: »Nam et ipsum ius honorarium viva vox est iuris civilis«. Durch die politi- sche Geschichte des Kaiserreichs, die die Deutungsmacht an die Genealogie der Magi- straturen und Rechtsgelehrten band (vgl. dazu in den Digesten den Titel: »De origine iuris et omnium magistratuum et successione prudentium«, wo sich der Ausdruck autorum successio fi ndet, D. 1.2.2 Absatz 13), und durch die theokratische Doktrin (vgl. Nov. 105, c.2 in fi ne: »legem animatam eum [also der Kaiser] mittens hominibus«) bezeichnet die Justinianische Sammlung die absolute Macht mit Bestimmtheit als wissenden Ort. Die mittelalterlichen Rechtsgelehrten folgen also der römischen Logik, wenn sie diese Fragmente verbinden und die Juristen als lebendige Archive (scrinia legum, iurisperiti) behandeln, die ihrerseits ebenfalls von jener Deutungsmacht abhängen, deren höchster Referenzpunkt der princeps ist. Vgl. dazu Post: Status (wie Anm. 4), S. 355, Anm. 71. 27 Der entsprechende Artikel ist noch heute von grundlegender Bedeutung: Paul Fournier: Un tournant de l’histoire du droit (1060 – 1140), in: Revue historique du Droit français et étranger (1917), bes. S. 150. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 81 europäischen Juridismus – verfasst wurde, Kaiser Justinian (527 – 565), ist selbst die beste Illustration dieser Formel, in der sich die ganze Tradition der römischen Antike widerspiegelt, wie sie das christliche spätrömische Reich kanalisiert und neugestaltet hat. Die lebendige Stimme des Rechts ist die Stimme des Orakels. So wenig wie andere Ausdrücke (z. B. imperator-deus) impliziert sie eine Form der Verwechslung zwischen der Macht und Gott. Weder die Juristen Justinians noch ihre mittelalterlichen Kommentatoren waren mit Blick auf diese Metapher beson- ders leichtgläubig und mit Sicherheit waren sie es nicht in stärkerem Maße als wir, wenn uns die Vorstellung von der wissenschaftlichen – also im Namen der Wis- senschaft handelnden – Herrschaft verführt. In beiden Fällen wirkt das, was wir als Macht bezeichnen, stellvertretend, im Namen von, also durch die Repräsentation eines Nichtrepräsentierbaren. Wenn die lateinisch geprägten Juristen vom vicarius sprachen, um den Inhaber der absoluten Macht, den Papst oder Kaiser, später den Monarchen, zu bezeichnen, so brachten sie auf naive Weise eine im Wesentlichen mythologische Grundwahrheit zum Ausdruck: Der Kaiser (oder Papst) ist ein entfremdeter Körper. Er verwaltet wie der Untersklave aus dem römischen Zivil- recht (vices gerit) die Güter seines Herrn mit Hilfe jener fi ktionalen Montagen, deren äußerste Subtilität uns das klassische Formularverfahren zeigt, in dem das Edikt des Prätors erörtert wurde.28 Die Göttlichkeit des für die Macht entfrem- deten Körpers ist nur vorgetäuscht, sie ist theatralische Setzung und geheiligter (also nicht psychotischer) Wahn. Wie die Glossatoren, deren Lehre an dieser Stelle die Argumentation von Kantorowicz und Post stützt,29 sehr gut erkannten, geht es hier um jene Fiktion, die der Wahrheit eine Gestalt verleiht. Was können wir im Hinblick auf eine Verortung der dogmatischen Funktion für die industrielle Kultur aus dieser Fiktion lernen? Sie zeigt uns, dass wir einer Kultur angehören, in der ein mystisch entrückter menschlicher Körper am Ort des absoluten Buches steht. Der Staat ist aus dieser Montage hervorgegangen. Wenn ich hier im Präsens spreche, so will ich damit zeigen, dass der mensch- liche Körper am Ort des absoluten Buches eine Konstruktion ist, die nicht nur unsere Geschichte betriff t, sondern die Struktur selbst und damit ein Wieder- holungsprinzip, das dem Begriff des Textes zugrundeliegt, auf den ich mich so häufi g beziehe, um eine Variationslogik aufzuzeigen, die sich auf verschiedene Elemente der gesamten Montage auswirkt. Der Funktionsweise der Rechtsfi k- tion entsprechend ist die lebendige Schrift eine Konstruktion, die nicht folgen- los bleibt, denn sie betriff t das hierarchische System der Interpretationen, wie es 28 Anm. d. Ü.: Das Formularverfahren (agere per formulam) war ein Prozessverfahren des römischen Privatrechts, das der legis actio nachfolgte und bei dem die starren Formeln (verba solemnia) durch Formulierungen des Prätors abgelöst wurden. 29 Zum Prinzip der fi ctio fi gura veritatis vgl. die Texte, die Ernst Kantorowicz zusammenge- tragen und gedeutet hat: The King’s Two Bodies, Princeton, NJ 1957, S. 291 – 313. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 82 Pierre Legendre im Mittelalter durch die Bildungen des Utrumque ius befördert wurde, ebenso wie das wichtigste Fundament bürokratischer Verwaltungsverfahren, die durch den Einfallsreichtum der Glossatoren möglich wurden, oder eine ganze Reihe an grundlegenden Konzepten in der Geschichte des Zivilrechts, des Handels- rechts etc. Wir wollen kurz kommentieren, welche Einsichten wir aus der Fiktion als solcher gewinnen. In Bezug zu anderen, insbesondere talmudischen Konzeptionen erscheint die lebendige Schrift als sehr spezifi sche Formel. Eine Maxime des rö- mischen Papsttums kann ihre Besonderheit explizit machen: Omnia scrinia habet in pectore suo (Er trägt alle Archive in seiner Brust).30 Sie verknüpft die Politik und die Vorstellung des Gesetzgebers selbst mit der mystischen Poesie der göttlichen Liebe. Es geht mir nicht darum, die Konstanz aufzuzeigen, mit der die Metapher des Herzens in den unterschiedlichsten Texten auftritt – ein gelehrtes Unterfangen, das an sich schon umfangreich wäre und wenig mit den juridischen Quellen zu tun hätte. Vielmehr sollen die Voraussetzungen für eine ernsthafte anthropologi- sche Interpretation geschaff en werden. Doch die römisch-kanonischen Instituti- onen, auf denen die industrielle Verwaltung als wahrhafte Superstruktur des tex- tuellen Dispositivs bis heute ruht, fi nden ihre Begründung in einem Diskurs, der etwas ganz Wesentliches im Beziehungssystem zwischen Körper und Schrift leug- net. Ist die Frage der Schrift und des Textes auch jene des Körpers? Wenn das Herz des Pontifex auch das Herz des Wissens ist, was bedeutet diese anatomische An- spielung dann für den abendländischen Juridismus? Oder anders gefragt: Was ist eine Interpretation? Sobald es um die Schrift geht, kommt auch der Körper ins Spiel. Die Psycho- analyse macht uns verständlich, welch lebenswichtiges Band hier angesprochen ist. Die mystische Anatomie ist eine Zerstückelung, und bekanntlich fungiert ein Text mitunter als Messer, so wie Origines es uns in einem verstörenden und un- glücklicherweise als Anekdote behandelten Bericht zeigte.31 Auf diesem Gebiet liefert uns die berühmte Justinianische Novelle 146, die immer wieder aufgenom- men und kommentiert wurde, eine für unsere Zwecke entscheidende Klarstellung, denn sie setzt die jüdische Art der Interpretation, die die Beschneidung tatsächlich ausführt, als jenen wahnhaften Punkt, der die römischen Institutionen vom jüdi- 30 Es handelt sich hier um eine mystische Doktrin des Wissens, die Franz Gillmann an einer sehr gut in der scholastischen Ordnung verorteten Formel aufgezeigt hat: Romanus pon- tifex iura omnia in scrinio pectoris sui censetur habere, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht, 92 (1912), S. 3 – 17 und 106 (1926), S. 156 – 174. Die beste Abbildung des Forschungsstandes liefert Cortese: La norma giuridica (wie Anm. 18), S. 58ff . 31 Vgl. dazu meinen Versuch einer Klarstellung in: Paroles poétiques échappées du texte. Leçons sur la communication industrielle, Paris 1982, S. 108 – 113. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 83 schen Juridismus trennt.32 Diese Bemerkung ist auch mit Blick auf eine Geschichte des römischen Antisemitismus von Bedeutung. Der fi ktionale Ort, von dem ausgehend die Logik der Botschaften im römi- schen Rechtssystem organisiert wird, ist uns durch die Vermittlung eines Körpers zugänglich, der mystisch zur lebendigen Schrift entfremdet wird. Dieser Körper ist die lebendige Schrift und damit aus der Perspektive der symbolischen Steuerung in den Institutionen das wesentliche Element im Repertoire der Begründungen. Im talmudischen Juridismus wird die Beschneidung – durch den symbolischen Umweg einer Einschreibung des Körpers – für jedes einzelne Subjekt zur persön- lichen Markierung als Interpret und zum Beweis seiner Gebundenheit an die absolute Schrift (psychoanalytisch gesprochen haben wir es mit dem Bezug des menschlichen Subjekts zum logischen Ort des großen Anderen zu tun). In der römisch geprägten Rechtsauslegung dagegen steht nur ein einziger Körper im Raum, um die Interpretation zu begründen: In ihm wird das Wissen eines abso- luten Anderen leibhaftig, er garantiert alles Wissen in der Dimension eines Opfers, welches jedem Interpreten abverlangt wird. Die mittelalterliche Theorie des ius condendi leges et interpretandi ist für die in der pontifi kalen Praxis33 entstehenden Verwaltungsstaaten sehr wertvoll. Zugleich macht sie die Fähigkeiten des römi- schen Rechts sichtbar: Es erlaubt die Banalisierung des Geschriebenen und ermög- licht die Vervielfältigung der Instanzen absoluter Macht, indem es jene sozialen Beziehungen generalisiert, die im Namen der verkörperten Schrift durch die Texte verwaltet werden. Scheinbar konterkariert die mythologische Einrichtung des Abendlandes die Gewalt, die in der Beziehung des Menschen zur Schrift und zum Text am Werk ist, wenn man von einer Überbesetzung des »literarischen« oder allgemein: künstlerischen Phänomens einmal absieht, die eine signifi kante 32 In diesem Zusammenhang spielt die Novelle 146 mit ihren Kommentaren eine entschei- dende Rolle. Ich habe eine eingehende Untersuchung vorgenommen, um die in diesem Text enthaltene Beurteilung der Juden einzuordnen: Die Juden interpretieren verrückt (in- sensatis semetipsos interpretationibus tradentes). Vgl. Die Juden interpretieren verrückt. Gut- achten zu einem Text, in: Georg Mein / Clemens Pornschlegel (Hg.): Vom Imperativ der Interpretation, übers. v. Sabine Hackbarth, Wien/Berlin 2010, S. 165 – 188. Aus scholas- tischer Perspektive ist es im Übrigen interessant, auf die Kanonisten einzugehen, die sich dieser Propaganda bei der Verbrennung des Talmuds im 13. Jahrhundert anschließen mussten. Vgl. dazu Benjamin Z. Kédar: Common Law and the Burning of the Talmud, in: Bulletin of Medieval Canon Law, New Series 9 (1979), S. 79 – 82. 33 Die Frage des Staates wird so durch das pontifi kale System selbst aufgeworfen. Zum Zusammenwirken von Texten im Sinne der Theorie des ius condendi et interpretandi vgl. meine Dissertation: La pénétration du droit romain dans le droit canonique classique, Paris 1964 (verteidigt 1957), S. 50ff . Die Doktrin hat sich durch Juristen, die im Interesse der Politik handelten, die Gründer von Staatsverwaltungen, weit verbreitet. Vgl. dazu Paolo Colliva: Ricerche sul principio di legalità nell’ amministrazione del Regno di Sicilia al tempo di Federico II, Mailand 1964, bes. S. 1 – 62. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 84 Pierre Legendre Verschiebung bewirken sollte. Die Kunst bietet der Subjektivität eine Zufl ucht in der harten, angeblich objektiven und rein auf Information abzielenden Beziehung zwischen dem menschlichen Subjekt und der Botschaft, wie die römisch-kanoni- sche Tradition sie denkt. Die mystische Entfremdung des souveränen Vermittlers bedeutet, dass in der imaginären Beziehung zum wissenden Ort ein einziger Mensch für alle anderen bezahlen soll und dass sich daher das Wesen der Texte in sozialer Hinsicht ändert: Sie sind nicht mehr heilig. Diese Übertragung auf den Souverän hat jedoch einen starken Eff ekt: Sie verleiht der Politik den Wert eines symbolischen Bandes und öff net allen möglichen institutionellen Konstellationen Tür und Tor. Denn die feste Bindung an die absolute Macht – in welcher Form sie auch auftritt – hat früh die Souveränität dessen denkbar gemacht, was Marsilius von Padua als »vollendete Zivilgemeinschaft« bezeichnete: die Heraufkunft der säkularisierten Gesellschaften.34 Die Vorstellung, die sich die Verwaltung vom Text als Dokument macht, ist also nicht weniger mythologisch begründet als die Idee, gegen die sie sich abgren- zen soll. Sie ist eine Manifestation der Kultur, nicht mehr und nicht weniger. Wenn wir die Rechtsgeschichte weiter befragten, so müssten wir feststellen, wie schwierig es ist, die zahlreichen Verzweigungen des mythologischen Prinzips der lebendigen Schrift zu durchschauen. Es hängt nämlich nicht nur von einer The- orie des Wissens ab, sondern auch vom Konzept des Gesetzes selbst. Die klassi- schen Formulierungen sind in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich: Das atmende Gesetz (Lex animata) ist, wie wir gesehen haben, auch eine Entsprechung der le- bendigen Stimme des Rechts. Wenn wir uns dem römischen Recht zuwenden, werden wir verstehen, was dieses Gesetz bedeutet, und zwar als Wissenschaft vom Gesetz der Reproduktion der menschlichen Gattung. c) Die strategische Kraft des römischen Rechts Das römische Recht, das untrennbar mit der Dogmatik des industriellen Zeit- alters verknüpft ist, muss als Konzept neu besetzt werden, damit eine Erforschung der Reproduktion jener Organisationen, die das Schicksal der Industrie bestim- men, nicht nur möglich wird, sondern sich auch für die sozialen Eff ekte der In- terpretation öff net. Die aktuellen Refl exionen zur Krise des Abendlandes sind in meinen Augen bedeutungslos, ein Jahrhunderte altes Aufwärmen der immer glei- chen Klagen in unseren dominanten Gesellschaften, die die Wiederholung der Schuldphantasmen stützen. Eine Aufklärung ist davon nicht zu erwarten: Sie würde nämlich von Seiten der Kenner dieser Krise – die nichts als eine weitere 34 Zu diesem heute in den Sozialwissenschaften verfl achten Begriff vgl. den klassischen Text von Georges de Lagarde: La naissance de l’esprit laïque au déclin du Moyen Age, III: Le Defensor Pacis, Löwen 1970, S. 326. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 85 Episode in der Geschichte darstellt – verlangen, dass sie weniger bequeme Fragen stellen. Sie müssten vielmehr auf die bescheidene klassische Art, mit geduldiger Gelehrsamkeit und Methode, jene Elemente untersuchen, die für eine bestimmte Form des Genießens ( jouir)35 konstitutiv sind, sich also mit der urtümlichen Spe- zifi k dessen auseinandersetzen, was für uns das Gesetz einrichtet. Auf diesem schwierigen Gebiet haben die Historiker eine besondere Verantwortung. Die Ablehnung jener Arbeiten, die sich mit dem Juridismus befassen – genauer mit dem römischen Recht, das bei den Rechtshistorikern selbst zur Ausschussware verkommen ist –, zeigt, wo das Hindernis liegt. Ich halte diese Zurückweisung für eine fruchtbare Sackgasse, denn die Zensur hat in der Gesellschaft immer eine wesentliche Funktion: Sie bezeichnet den Angst einfl ößenden Bereich der Wahr- heit. Es ist also angenehmer, sich dem Vergessen hinzugeben und die naiven Dok- trinen des Behaviorismus zu kultivieren, die hartnäckig alle sozialen Fragen auf die Befriedigung von Bedürfnissen reduzieren.36 Genau hier liegt das Problem. Der Behaviorismus, der im Management und in der Verwaltung eine entschei- dende Rolle spielt, will nicht sehen, dass die Menschheit dem Gesetz des Begeh- rens unterworfen ist und dass die Befriedigung von Bedürfnissen zwangsläufi g den Weg über den Ort der Fiktionen nehmen muss. Das Fehlgehen jener Vorher- sagen, die ein Ende der Religionen, eine durch ökonomischen Fortschritt geeinte Welt etc. ankündigen, verhilft uns jedoch zu keiner Einsicht, denn der Wille, von unserem eigenen anthropologischen Status lieber nichts zu wissen, ist noch wirk- samer als alle Enttäuschungen, und die Institutionen verstehen nur die Sprache der Gewalt. Es ist also nur natürlich, dass die Rechtsgeschichte als Unterhaltung fun- giert oder einen akademischen Überrest darstellt, solange sie sich in einem ober- fl ächlichen, aber beruhigenden Soziologismus verliert und so dazu beiträgt, die Radikalität des institutionellen Systems zu verkennen, die die industrielle Verwal- tung hervorgebracht hat und die ihr noch heute zugrunde liegt. Die Frage des Gesetzes und der Art des Genießens ( jouir im juridischen Sinne: Man genießt ein Recht, einen Status etc.) im Abendland kann nicht erforscht werden, wenn man auf den langen Umweg über das römische Recht verzichtet, 35 Anm. d. Ü.: Der Begriff jouir, den Legendre hier verwendet, hat im Französischen eine juristische Bedeutung im Sinne von »nutznießen«, meint im allgemeinsprachlichen Ge- brauch aber »(sexuell) genießen«. In der Lacanschen Psychoanalyse spielt das entspre- chende Substantiv ( jouissance) eine wichtige Rolle in Bezug auf das unbewusste Begehren des sprechenden Subjekts. 36 Dank der Generalisierung des Unbewussten durch die Doktrinen des Managements ist dieses Konzept heute längst Teil der behavioristischen Kategorien. Ein repräsentatives Beispiel, das ein Programm für die internationale Pädagogik des Managements aufstellt, liefert Alvar Elbing: Behavioral Decisions in Organizations, Glenview 1978, S. 207 (Un- conscious Character of Needs unter dem Oberkapitel A Theory of Human Motivation aus einem Artikel von Abraham Maslow). ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 86 Pierre Legendre ohne das unser eigenes mythologisches Dispositiv nicht begreifl ich wird. Das Prinzip der lebendigen Schrift legt die absolute Macht als Platz fest und bestimmt, dass sie als Produzent und Inhaber des Sinns fungiert: Wir müssen also akzeptie- ren, dass die institutionellen Spiele vor allem Sprachspiele sind und dass sie die Menschen in ihrer Eigenschaft als sprechende Wesen bewegen. Damit stellt sich die Frage des Gesetzes ebenso wie jene der Macht. Was ist das Gesetz für die Bewohner des Abendlandes? Es ist das Gesetz, wie es das römische System in Form der Epiphanie, das heißt im Modus jenes Diskurses produziert und reproduziert hat, der die Wahrheit ausstrahlt und sich damit an die menschliche Gattung wendet. Ich verwende hier das Wort System, das seit Mel anch thon so sinnvoll die Herrschaft der Schrift bezeichnet und der deutschen Rechtstheorie, die für jede Refl exion über die Macht eine grundlegende Rolle spielt, sehr vertraut ist. Die Erforschung des römischen Rechtssystems ist heute dank der Arbeiten Helmut Coings und des Projekts einer Weltgeschichte, das er angeregt und zu einem glücklichen Ende geführt hat, zu einer Form der wissenschaftlichen Voll- endung gelangt.37 Stetiges interpretatorisches Bemühen, das Verständnis der po- litischen Dimension des römischen Rechts in der industriellen Welt, der Mut, sich am Beginn der juristischen Grundlagenforschung weiter mit der Geschichte des Privatrechts zu befassen, dem ius civile selbst in seiner Funktion als Matrix – dies sind die Trümpfe, die Coing ausgespielt hat und die der folgenden Argumentation als Voraussetzung dienen. Wenn ich nun noch auf die außergewöhnliche Bilanz von Kuttners Arbeiten zur Kanonistik verweise, so erscheint der zweite Aspekt des Utrumque ius ebenso reich mit angemessenen Instrumentarien bestückt wie das römische Recht.38 Wir müssen nur noch die Tragweite einer solchen Herausfor- derung bestimmen, wenn es um die Untersuchung des Gesetzes geht. Dazu werde ich mich auf einige wesentliche Bemerkungen beschränken: – Das römisch-kanonische Material hilft uns, der Einfalt zu entgehen, die der vorherrschende Psychologismus verbreitet. Ihm opfert die Psychoanalyse, sobald sie in propagandistischer Form expandiert. Das Unbewusste lässt sich nicht ab- schaff en. Der römisch-kanonische Diskurs lehrt uns, dass das Konzept des Geset- zes (der Dreh- und Angelpunkt einer analytischen Theoretisierung, die die my- thologische Frage des Inzests in ihrem Bezug zur Ordnung der Macht erkennbar 37 Vgl. dazu seine Einführung: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europä- ischen Privatrechtsgeschichte (Band I: Mittelalter 1100 – 1500. Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung), München 1973, S. 3 – 35. 38 Stephan Kuttner hat die Erforschung der Kanonistik angestoßen: Repetitorium der Ka- nonistik (1140 – 1234). Prodromus corporis glossarum, Vatikanstadt 1937. Siehe auch die Monumenta Iuris Canonici. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 87 machen muss) nur unter Berücksichtigung der juridischen Wissenschaft der Re- produktion verständlich wird. Es gibt einen typisch abendländischen Zugang zur Instituierung des menschlichen Körpers, zum Beispiel und in erster Linie durch die Reglementierung des Familienrechts, die Bestimmungen zur Erbfolge etc. Dieses Regelwerk, das sich von sexuellen Kasuistiken nicht trennen lässt, konter- kariert die unbewussten genealogischen Bildungen: Das Dispositiv des Gesetzes, das im Abendland ebenso grundlegend ist wie in den primitiven Kulturen, hat in erster Linie die Funktion, allen Subjekten zu bedeuten, dass sie nicht Bruder ihres Vaters, Vater ihrer Mutter etc. sein können. Auf diesem Gebiet vollzieht sich das Schicksal einer Gesellschaft in der Steuerung des Unbewussten jedes Einzelnen. Doch wir müssen das Ausmaß dieses Problemkomplexes erkennen. Die Tatsache, dass jene juristischen Diskursverfahren in Vergessenheit geraten, durch die der Körper institutionell eingerichtet, also vor der Geburt ex utero in die Schriften des Gesetzes eingeschnürt wird, verhindert, dass wir die Gesamtheit der Vorausset- zungen, aus denen sich die psychosomatische Konzeption des Menschen ergibt, als wesentliches Faktum der industriellen Kultur anerkennen. Aus politischen Grün- den, die bis heute nicht analysierbar sind, weil wir sie aus Tradition mit der Ra- tion alität selbst verwechseln, werden die dogmatischen Fundamente der im Na- men des ultramodernen Managements kolportierten Psychologie verschwiegen und außer Acht gelassen. Wenn wir die Geschichtswissenschaft nicht als Schutt- halde oder Unternehmung zur gesellschaftlichen Unterhaltung verstehen wollen, so werden wir früher oder später das dogmatische Gründungswissen freilegen müssen. Dabei geht es nicht nur um die Patristik, die die berühmten ökumeni- schen Konzilien der Antike in den kanonischen Sammlungen vor Gratian kom- mentiert, sondern auch um die scholastischen Quellen der Psychologie, wie Dom Lottin sie für das 13. Jahrhundert entdeckte,39 und mehr noch um das klassische römische Recht, das sich durch Justinian bis zu uns durchgesetzt hat, so etwa die Lex Aquilia als Grundlage eines Entwurfs der messbaren Subjektivität, von der das moderne Zivilhaftungsrecht profi tiert.40 Weder die Refl exionen über jene Wissen- schaften, die sich mit dem Präfi x »Psycho« schmücken und (doch aus welchen Gründen?) im Aufschwung befi nden, noch die Theorie von den Grundlagen der 39 Die Frage der Vermittlung der griechischen Konzilien im Abendland (insbesondere des Konzils von Chalcedon 451, das für die europäische Kultur eine so entscheidende Rolle spielt) hat seit der Pionierarbeit von Fournier und Le Bras zu den kanonischen Samm- lungen große Fortschritte gemacht. Es fehlt jedoch die Behandlung der legendären Be- deutung dieser Texte in unserem eigenen mythischen Raum. Was die dogmatische Psy- chologie angeht, die Grabmann und vor allem Lottin in scholastischer Perspektive er- forscht haben, so habe ich ihren Wert in meinem Text L’Amour du Censeur besonders betont: L’Amour du Censeur. Essai sur l’ordre dogmatique, Paris 1974, S. 124 ff . 40 Art. 1382 ff . des französischen Code Civil. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 88 Pierre Legendre wissenschaftlichen Medizin werden der Infragestellung unserer kulturellen Vor- aussetzungen entgehen. Freud hat mit der Entdeckung des Unbewussten eine unvermeidbare Etappe für die Anthropologie eingeleitet. Sie wird umkehren und die szientistischen Illusionen kritisieren müssen, in deren Schutz wir die Radika- lität der industriellen Kultur verkennen. Wir können ohne einen allegorischen Diskurs von der Spaltung des menschlichen Subjekts ebenso wenig leben wie die nichtindustriellen Völker. Die abendländische Theorie von der psychosomatischen Disposition des Menschen steht am Ort eines solchen Diskurses. – Eine weitere wichtige Bemerkung bezieht sich auf die Frage, wo die historische Stärke des römischen Rechts herrührt. Ich lasse die durch die allgemeine Ge- schichte oder andere Refl exionen bereits bekannten Orientierungspunkte zur Tradition der großen abendländischen Konzepte, die um den Begriff des Gesetzes selbst kreisen und durch die Rechtshistoriker in regelmäßigen Abständen erneuert werden, hier beiseite. Zu diesen Aspekten verweise ich auf die maßgeblichen Arbeiten Koschakers und in jüngerer Zeit Steins sowie die klassische italienische Geschichtsschreibung, repräsentiert durch Calasso.41 Ich nehme in der vorliegen- den Untersuchung eine andere Perspektive ein und betrachte das römische Recht als anthropologisches Werkzeug für die industriell geprägte Menschheit. Um wel- ches Instrument handelt es sich dabei? Es geht um die Wissenschaft des Gesetzes, die, wie ich bereits sagte, in gewis- ser Weise mythologisch formuliert wird, um das Biologische mit dem Sozialen und dem Unbewussten zu verbinden. Schon die Einrichtung des wissenden Ortes mit der Referenz zur lebendigen Schrift, also zur verkörperten absoluten Macht, hilft uns hier zu verstehen, dass das gesamte System in einer bestimmten Richtung und dank einer festgelegten Bedeutung42 funktioniert. Diese unterscheiden sich von anderen Systemen, deren extreme Vielfalt die klassische Anthropologie auf- gezeigt hat. Um zu sehen, wie unser System um sich selbst kreist und sich repro- duziert, genügt es, wenn wir die Vorstellung akzeptieren, dass das römische Recht eine menschliche Erfahrung unter jenen institutionellen Formen darstellt, dank derer sich die Menschheit reproduziert hat. Es ist eine mögliche Art, in Szene zu setzen, was wir psychoanalytisch als imaginäre Funktion des Phallus bezeichnen müs- sen. Von hier rühren alle ödipalen und die symbolische Kastration betreff enden Herausforderungen her, die unbewussten Einsätze jedes menschlichen Lebens also. Wir wissen nun, auf welch privilegiertem Gebiet das römische Recht sein Schick- 41 Paul Koschaker : Europa und das römische Recht, München 1947; Peter Stein: Legal Evolution. The Story of an Idea, Cambridge, MA 1980; Francesco Calasso: Medio Evo del diritto I: Le fonti, Mailand 1954. 42 Anm. d. Ü.: Le système entier va dans un certain sens. Das Wort sens lässt sich sowohl mit Richtung als auch mit Sinn, Bedeutung übersetzen. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 89 sal entschieden hat, nämlich auf jenem der Reproduktion selbst, das heißt auf dem Terrain des Privatrechts und seiner Beziehungen zum Prinzip der Macht. Die Frage des Gesetzes muss, mit anderen Worten, so gestellt werden, wie die Psycho- analyse es getan hat: mit Bezug auf das Dispositiv der Familie. Ich werde auf diese grundlegende Ebene hier nicht näher eingehen, wir kommen später darauf zurück. Die Problematik an sich will ich jedoch im Folgenden ankündigen: 1. Das römische Recht hat unerbittlich ins Werk gesetzt, was Bachofen so rich- tig als »Sieg des römischen Paternitätsprinzips«43 bezeichnet hat. Diese Bemerkung geht sehr weit: Sie schreibt in der bedeutenden Frage der symbolischen Struktu- rierung des Menschen nicht nur das Christentum in die Logik des römischen Rechts ein, sondern öff net zugleich den Blick für die wichtigsten Fragen, die der technische Fortschritt und die Propaganda für das wissenschaftlich geprägte Ma- nagement aufwerfen. Ist es denkbar, dass das industrielle System – insbesondere im Bereich des Privatrechts – seine eigene Logik abschaff t, indem es etwa die freie Wahl des Geschlechts auf den medizinisch-chirurgischen Markt bringt? Dass es also mit dem Geschlecht verfährt, als ließen sich die imaginären Zuschreibungen eines Subjekts aus der mythologischen Beziehung zur Vatermetapher heraushalten? Haben wir es in diesem Beispiel mit einem Wiederaufl eben sozialer Allmachts- phantasmen zu tun? Wie hoch ist der Preis, den wir in Form von Psychosen in den nachfolgenden Generationen zu zahlen haben, wenn eine so radikale Revolution möglich ist? Die Frage einer Gesellschaft, die vorgibt, ohne Vater auszukommen, die sich also außerhalb jenes metaphorischen Spiels platziert, durch das ein Objekt als Träger des Gesetzes institutionell gesetzt wird, stellt sich im Abendland unter ganz besonderen anthropologischen Vorzeichen, die durch die Geschichte des römischen Rechts deutlich zutage treten. Wir müssen wissen, dass wir einer Ge- sellschaft angehören, die – im Kontext einer sehr spezifi schen Rechtsauslegung – die gegenseitige Durchdringung zweier Funktionen bewirkt: der biologischen des Erzeugers und der symbolischen des Vaters. Dies bleibt nicht ohne Folgen und kann wenigstens teilweise die Ratlosigkeit, ja Verblendung der politischen Instan- zen erklären, die in Sachen Gesetzgebung eine Wahl zu treff en haben. 2. Das römische Recht bietet sich nicht nur als juridische Technik an, sondern als universelles Gesetzgebungsprinzip. Dieses Prinzip ist nicht verhandelbar und hat in der Geschichte nicht nur den Aufschwung eines Rechts begründet, das wir heute als international44 bezeichnen, sondern mit Blick auf die generellen Über- 43 Das Mutterrecht, Basel 1948, II, S. 63 und III, S. 981 f. 44 Wer das römische Recht in der internationalen Perspektive verorten und die Bedeutung der technischen Grundbegriff e aus dem Privatrecht erkennen will (ein Vorhaben des ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 90 Pierre Legendre legungen zu den Institutionen auch die nicht ganz eindeutige Formel Geschichte- des-römischen-Rechts begründet, die hier als ebenfalls juridisches Konzept verstan- den wird – in einem Maßstab allerdings, in dem schon von einer Theogonie ge- sprochen werden muss. Das römische Recht hat sich mit anderen Worten dogmatisch in die Anthropologie eingeschrieben und zwar im traditionellen Sinn einer Wis- senschaft von Gott und dem Universum, die den Menschen als Mikrokosmos mit einschließt und instituiert. Die langen Ausführungen über das Naturrecht und die ursprünglichen Kategorien des Rechts waren der Dreh- und Angelpunkt von Argumentationen, die die Legitimität des Systems von einem streng logischen Blickpunkt aus formulieren sollten. Es ist von Interesse, an dieser Stelle zu beto- nen, dass der abendländische Juridismus mangels geeigneter Untersuchungsme- thoden unfähig ist, die juridische Kohärenz jener Gesellschaften zu begreifen, die nach einem anderen familiären Dispositiv funktionieren. Er muss sie deshalb logi- scherweise als gesetzlose Gesellschaften betrachten, also behandeln, als wäre in ih- nen der Inzest die Regel und als agierten sie wie die Tiere in einem System, das der Rechtskultur entgegengestellt ist.45 In ihrem weltweiten Eroberungszug ver- fügte die Industrie auch über diese absolute Waff e: Sie kämpfte gegen den Zustand des Primitiven und für die Verbreitung der römischen Gesetzeslogik. Die scholastische Instanz und die Genealogie der Texte Wir müssen die allgemeine Bedeutung von einigen der hier genannten Pro- bleme festhalten. Die Betrachtung des Phänomens »Gesetz« stärkt erneut eine Feststellung, welche die behavioristischen Vorstellungen von der Verwaltung, die zu sehr dem Einfl uss der experimentellen Wissenschaften unterliegen, aus dem po- litischen Blickfeld zu verdrängen drohen. Diese Feststellung ließ der traditionellen Rechtswissenschaft keine Ruhe: Da die Menschen etwas anderes fesselt als die reine Funktion der Sinne und Empfi ndungen, werden sie beständig durch das Begehren geformt. Thomas Hobbes, ein herausragender Spezialist für öff entliches Recht, dessen Leviathan mitunter noch heute in unpassender Weise verfremdet wird, hat Werks von Eduard Meijers, der sich mit der Geschichte der Glossatoren und des interna- tionalen Privatrechts befasste), der muss die mittelalterlichen Texte zur Natur und zum Staat berücksichtigen und zugleich in der Theorie des ius gentium bewandert sein. Ich verweise dazu auf zwei Einführungen: Gaines Post: The Naturalness of Society and the State, in: Studies in medieval legal thought (wie Anm. 5), S. 494 – 561 und Hugo Grotius’ historisch-legendäre Freske in den Prolegomena der Abhandlung De iure belli ac pacis, 1680, insbesondere die Passage zum römischen Recht, S. XVIII – XIX. 45 Die römische Trennung von Zivil- und Naturrecht ist hier fundamental: Bachofen hat dies mit Bezug auf einen Ovidschen Text bemerkt, Mutterrecht, I, S. 110. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 91 das stetige Wiederaufl eben des menschlichen Begehrens in einer starken Formu- lierung beschrieben: »To assure for ever the way of his future desire« (Kap. XI, »Of the Diff erence of Manners«). Moderner, theoretischer und unter Berücksichtigung der psychoanalytischen Erkenntnisse zum Mechanismus des Begehrens ließe sich sagen: Die dogmatische Funktion besteht in einer Gesellschaft darin, zweierlei zur Kenntnis zu nehmen: das unstillbare Begehren und die Notwendigkeit, mit Mitteln, die zur Reproduktion der Gattung geeignet sind, zu erkennen, dass die Dimension des Mangels jener der Institutionen selbst entspricht. Warum? Weil die Menschen bis zu ihrem Tode an die früheste Zeit ihres Begehrens gebunden bleiben. Sie lösen sich also, wie es die klinische Erfahrung des Ödipusmythos in der psychoanalytischen Behandlung zeigt, niemals vom Begehren ihrer Kindheit, das sich vor allem auf das Begehren der Mutter bezieht. Sie müssen so ins Sprechen eintreten, dass dieses Sprechen zugleich ein soziales Band herstellt. Die institutio- nellen Spiele sind die Spiele des Gesetzes, das die Menschen durch ein fundamen- tales Verbot in den Raum des Mangels einführt, indem es sie aus dem eindeutigen Begehren der Mutter löst. Das Gesetz ist eine Funktion, die im ödipalen Dreieck für jedes Subjekt durch den Vater (das, was wir als Vater bezeichnen) übernom- men wird. Jedes juridische Dispositiv ruht auf diesen Fundamenten, weil dort das Autoritäts- und Legitimitätsprinzip seinen Ursprung hat. Die Institutionen haben also in erster Linie mit dem Mechanismus des menschlichen Begehrens zu tun, mit der genealogischen Anerkennung. Dies müssen wir als Grundlage annehmen, wenn wir die außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit des römischen Rechts in der abendländischen Geschichte untersuchen und zugleich verstehen wollen, dass diese Geschichte ebenfalls ein strukturelles Phänomen darstellt. Die genealogische Anerkennung, das heißt die Organisation einer menschli- chen Ordnung der Transmission, steht in der einen oder anderen Form im Zent- rum aller institutionellen Systeme, weil die Frage nach den Ursprüngen der Macht und des Gesetzes notwendigerweise Teil der wesentlichen gesellschaftlichen Re- präsentationen ist. Der Legitimitätsdiskurs ist auch weiterhin überall ein unaus- weichliches Faktum. Ich will es in einem Aphorismus sagen, um verständlich zu sein: Alles, was mit der juridischen Produktion zusammenhängt, hat auch mit der Vaterschaft zu tun. Es gibt eine Vaterschaft der Institutionen, das Recht braucht einen legitimen Urheber. Die Art und Weise, wie das mythologische Dispositiv in der abendländischen Tradition organisiert ist, führt dazu, dass der Platz der Referenz auf die absolute Macht, auf den die lebendige Schrift letztlich verweist, von jedem nur denkbaren das Gesetz garantierenden Signifi kanten besetzt werden kann, von Justinian, der Wissenschaft oder dem Klassenkampf. Wir haben es also mit den Elementen einer Kombinatorik zu tun. Die Mechanik des Juridismus interessiert sich nicht für den Wandel der Inhalte in den signifi kanten Kategorien des Diskurses. Diese Bemerkung wird den Rechts- ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 92 Pierre Legendre historikern sicher schwer zu vermitteln sein, so sehr sträubt man sich, in Betracht zu ziehen, was Lacan ganz richtig als Vorrang der signifi kanten Ordnung beim Menschen bezeichnete. Ich werde hier nicht auf diesem theoretischen Aspekt beharren. Er hängt mit der imaginären Funktion des Phallus zusammen, einem Begriff , der jede sexistische Konzeption der Institutionen als ungeeignet erschei- nen lässt, denn trotz unterschiedlicher symbolischer Entwicklungen sind das männliche und das weibliche Geschlecht durch die Mythologie der Kastration gleich. Die soziale Ungleichheit der Geschlechter hat schlicht und ergreifend keine Grundlage und die Rechtsgeschichte könnte in diese Untersuchung unerwartet Klarheit bringen.46 Ich beschränke mich hier darauf zu bemerken, dass die tradi- tionelle Rechtswissenschaft während der gesamten abendländischen Geschichte ausnahmslos allen politischen Zwecken dienen konnte. Heute steht sie in neuem Gewand für die Gleichheit ein. Diese Feststellung ist jedoch von einer Komplexi- tät, die bislang vernachlässigt wurde, weil sie zu der Frage führen würde, wie eine so sonderbare Anpassungsfähigkeit des Juridismus funktionieren kann. Wir wollen einige Beispiele betrachten, die geeignet sind, die Bedeutung des Genealogischen in der Konstitution der verschiedenen, insbesondere nationalen Zweige der römisch-kanonisch geprägten Rechtswissenschaft aufzuzeigen. Diese reproduziert sich nämlich noch immer selbst, ja sie expandiert gar in der indus- triellen Welt unserer Tage. Was für das politische Schicksal der Gesellschaften zählt, ist nicht die wissenschaftliche Genealogie ihrer institutionellen Entwick- lung. Viel bedeutsamer ist die Legende, die jenen unbewussten Glauben zu mo- bilisieren vermag, der mit dem Diskurs der mystischen Wahrheit des allmächtigen Signifi kanten (des theokratischen Kaisers Justinian, der Wissenschaft, des Klassen- kampfes, etc.) zusammenhängt. Das römisch-kanonische Recht ist dazu berufen, auf sehr unterschiedliche Arten zu funktionieren: Einmal ist es als Begründung des Systems höchst anerkannt, so im Falle des Heiligen Stuhls, der im Wesentli- chen von extrem traditionell ausgebildeten Juristen verwaltet wird (nach dem Modell Europas vor der Kodifi zierung), dann ausdrücklich verwendet wie im Fall des britischen Common Law (allerdings mit einer gewissen durch die Reformation verursachten Verdunkelung der kanonischen Quellen), dann wieder ostentativ verkannt wie in Frankreich, einem Land, das fest in den juristischen Doktrinen des Ancien Régime verankert ist und indirekt auch in Ideen, die dem Reich und dem Begriff des »Volksrechts« feindlich gesinnt sind und durch einen im Deutsch- land Savignys heftig kritisierten Rationalismus getragen werden.47 Ganz zu schwei- 46 Die römische Vorstellung von den iustae nuptia oder der Adoption als zweiter, »künstli- cher« Geburt eines Kindes muss mit der durch Bachofen beschriebenen Logik verbunden werden. 47 Wer diese Angelegenheit verstehen will, darf den französischen Zentralismus bei der Frage der Kodifi kation niemals aus dem Blick verlieren, vgl. Walter Wilhelm: Gesetz- ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 93 gen von der Sowjetunion, die sich nicht auf eine Gebundenheit an die lateinischen Glossatoren berufen kann, welche im Europa der Aufklärung herangezogen wur- den, um den berühmten Jusnaturalismus hervorzubringen. In Russland nahm zu dieser Zeit die Rezeption juridischer Strukturen des Abendlands gerade ihren Anfang. Das Ideal eines Arbeiterstaats wirkt jedoch zwangsläufi g als Zensur, ganz wie das ehemals revolutionäre Frankreich vom Ideal der Republik nach römi- schem Vorbild fasziniert war, in der die Doktrin der Glosse ebenso abgeschaff t ist wie der Feudalismus.48 Diese Beispiele sind vom Standpunkt einer Geschichte der großen administrativen Erfi ndungen aus von einigem Belang, hängen sie doch zugleich mit der revolutionären Zerstörung von Institutionen und mit der Dikta- tur zusammen.49 In beiden Fällen kann die Tradition nicht ohne die Einhegung durch einen Kontext funktionieren und dies verleiht dem legendären Diskurs einen sehr speziellen Zuschnitt, denn die Verkennung potenziert sich sozusagen. Man könnte hier viele weitere Beispiele nennen, um den in erster Linie imaginä- ren Charakter der genealogischen Anerkennung als Bedingung der symbolischen Arbeit in jeder Gesellschaft noch präziser zu fassen: Die Frage geht über das Gebiet des Nationalismus hinaus, denn wir wissen heute aus zahlreichen Untersuchun- gen50 um die Bedeutung der römisch-kanonischen Transmission in protestanti- schen Regionen durch Vermittler wie Melanchthon. Sie ist ein lange vergessenes Glied in der Kette, weil in den Ländern der Gegenreform ganz im Gegenteil die jesuitische Scholastik in ihren Textkonstruktionen die mittelalterlichen Doktoren rühmte, unter denen das Papsttum selbst glänzte.51 Wir wollen nun zur einfachen Tatsache der Transmission selbst zurückkom- men, die wir sorgfältig von jenem Diskurs der Verkennung trennen müssen, mit dessen Hilfe die betroff enen Gesellschaften überall dort, wo diese Transmission funktioniert hat, ihre eigenen Bedingungen der Rezeption geschaff en haben. Die- ses Phänomen ist bei der Vermittlung des abendländischen Juridismus von grund- legender Bedeutung. Ich werde mich hier jedoch nicht dieser allgemein anerkann- ten Vokabel bedienen, die noch zu stark durch schlecht erforschte Ideale belastet gebung und Kodifi kation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius commune 1 (1967), S. 241 – 270. 48 Die juridische Entwicklung des französischen Verwaltungssystems hängt stark von pro- duktiven Widersprüchen im römischen Erbe ab. Ich habe dies in meiner Histoire de l’administration dargestellt, Paris 1968, S. 455 ff . (»Le composé juridique«). 49 Vgl. dazu als Einführung Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedanken bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1964. 50 Eine präzise Einführung bietet Johannes Heckel: Das Decretum Gratiani und das deut- sche evangelische Kirchenrecht, in: Das blinde, undeutliche Wort »Kirche«, Köln 1964, S. 1 – 48. 51 Siehe dazu den Apparat an Kommentaren, die der deutsche Jesuit Busembaum verwen- det: Medulla theologiae moralis, Rom 17. Jahrhundert. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 94 Pierre Legendre ist und aus diesem Grunde nicht ausreicht, um uns zum Verständnis der Genea- logie der Texte zu führen. Sie ist für die Reproduktionslogik, um die es bei der dogmatischen Funktion geht, aber wesentlich. Die von mir erwähnten histori- schen Grundzüge bestätigen die legendäre Dimension, von der jede Transmission notwendigerweise abhängt, sie lehren uns jedoch nichts über den genauen Cha- rakter jenes Mechanismus, durch den Schriften reproduziert werden. Meine Be- obachtungen beziehen sich auf die innere Organisation der ersten Scholastik im Mittelalter, also zwischen der bedeutsamen Zäsur, die das Gratianische Dekret (um 1140) darstellte und die zeitlich mit dem ersten Aufblühen der Romanistik in Bologna zusammenfi el, und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die durch die Glossa ordinaria Johannes Andreaes (1301) zum Liber Sextus und durch den Tod des Bartolus de Saxoferrato (1357) geprägt war. Letzterer war eine Art Ingenieur des Utrumque ius, dessen Werk zahlreichen nachfolgenden Autoren als doktrinaler Orientierungspunkt dienen sollte. Wir haben es mit der klassischen Zeit der ge- lehrten Rechte zu tun. Diese Phase der Textexpansion und modernen Formung des Systems liefert den Stoff für die folgenden Bemerkungen: a) Das Wissen vom Gesetz ist ganz grundlegend eine Wissenschaft des Kommentars und das Gesetz selbst folglich ein logischer Ort, an dem alle Interpretationen sich ausrichten müssen. Damit diese Formulierung uns weiterbringt, müssen wir bereit sein, uns von den gängigen Darstellungen über die Entstehung des Rechts zu lösen. Seit dem europäischen Triumph des Staates als Monument (Monument im gelehrten Sinne: als Textvorkommen) und seitdem hier Vorstellungen der Kodifi kation vorherrsch- ten, die – unter dem Einfl uss der Aufklärung52 sowie später aller möglichen demo- kratischen Formen – die traditionelle Darstellung des Gesetzesbegriff s und des Volksrechts erschütterten, ist die Theorie von den Ursprüngen des Rechts als Gründungsfi ktion nicht mehr lesbar. Wir hätten heute den Kreislauf, in dem sich der Juridismus als fi ktionale Montage bewegt, längst aus dem Blick verloren, gäbe es nicht den Umweg über die Analysen der Verfassungsdoktrin, die das Verhältnis zwischen Recht und Staat steuert (in Frankreich z. B. das noch immer nicht aus der Mode gekommene Werk von Carré de Malberg), oder über die soziologisch geprägten Arbeiten, die insbesondere unter dem Einfl uss Max Webers und der amerikanischen Schule Eisenstadts die Politikwissenschaft in Schwung gebracht haben. Meine vorangegangenen Bemerkungen laden aber im Gegenteil dazu ein, die Fiktion als solche wieder in unsere Refl exionen mit einzubeziehen. Wir müs- sen uns einen wesentlichen mythologischen Punkt vor Augen führen: In einer Gesellschaft muss das Gesetz zum Sprechen gebracht werden. 52 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 95 Lassen Sie uns von einem Element ausgehen, das sich sehr leicht verorten lässt und dessen Untersuchung uns die Erfahrung des Mittelalters dank der naiven Argumentationen der Glossatoren ermöglicht (naiv, weil sie unsere epistemologi- sche Polizei nicht kennen): Das Gesetz spricht, obwohl es keinen Körper hat. Die fi ktionale Konstruktion besteht nun darin, so zu tun, als ob es diesen Körper gäbe. Auf solcher Grundlage greift der Juridismus und die Scholastik zeigt ihr wahres Gesicht: als Werkstatt, in der die Einzelteile des Gesamtrepertoires fabriziert wer- den, als Instanz dessen, was ich als Prêt-à-parler53 bezeichne, als symbolischen Ort der Doktoren.54 Die Scholastik spielt nun in einer theatralischen Dimension ihre Rolle, sie repräsentiert das Wissen des Gesetzes. Im Reich der Magister sprechen keine gewöhnlichen Menschen, sondern leuchtende Sterne. Ein Text Papst Ho- norius III. über die Universität und das römische Recht verkündet die mystische Wahrheit: velut splendor fi rmamenti [(die doctores funkeln) so hell wie die Sterne am Himmel].55 Das Gesetz bringt das Wissen zum Leuchten und diese Bemerkung sollten wir nie vergessen, wenn es um die dogmatische Funktion geht. Wir müssen den kanonischen Schriften, also dem pontifi kalen Recht, aus zwei Gründen unsere besondere Aufmerksamkeit schenken: Das kanonische System ist Teil jener Tradition, aus der die Gesetzessammlungen des alten (antiken und früh- mittelalterlichen) Rechts stammen, und Träger der römischen Rechtsquellen, de- ren Kategorien es im Sinne der imitatio imperii in die neue Zeit versetzt. Es ist das erste moderne Beispiel für eine systematische Verwendung der Justinianischen Kompilation und stellt zugleich einen Schmelztiegel für die Perfektionierung der wichtigsten Konzepte des römischen Rechts dar, die Europa der Vermittlung durch das Corpus iuris civilis verdankt. Das Konsensualprinzip als Quelle vertrag- licher Pfl ichten, die administrative Vorstellung vom Staatsdienst, die Reglemen- tierung der effi gie und des Bildes, die Gründungsprinzipien des Ius gentium, all diese modernen Techniken werden bereits Mitte des 13. Jahrhunderts festgelegt, nach mehr als einem Jahrhundert der Durcharbeitung bei den Dekretisten (den Kom- mentatoren des Dekrets, vor allem zwischen der Generation des Paucapalea und des Rufi nus von Bologna und jener, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts den gro- ßen apparatus Decreti erstellte) und bei den Dekretalisten (den Kommentatoren der Dekretalen von der Compilatio Prima 1190 bis zu Innozenz IV., der 1254 starb und zur offi ziellen Sammlung Gregors IX. einen umfassenden apparatus verfasste). Wie hat diese Produktion funktioniert? 53 Anm. d. Übers.: Wörtlich »bereit zum Sprechen«, »sprechfertig«. Der Begriff ist nach dem Muster von prêt-à-porter gebildet, der in der Modebranche Konfektionsware bezeichnet. 54 Anm. d. Übers.: Gemeint sind die Scholastiker (doctores scholastici). 55 Dekretalen Gregors IX., X.5.5.5. Dieser Text wurde von Gabriel Le Bras einer ganz be- merkenswerten Lektüre unterzogen: Velut splendor fi rmamenti. Le docteur dans le droit de l’Église médievale, in: Melanges off erts à Etienne Gilson, Paris 1959, S. 373 – 388. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 96 Pierre Legendre Sie führt uns den scholastischen Kreislauf der Texte vor Augen und zeigt uns die Zirkulation des Gesetzesdiskurses in den mittelalterlichen Gesellschaften, die nicht von oben beherrscht wurden, sondern sich in einem Netz aus juridischen Einschreibungen befanden, das seine mystische Einheit durch die Herrschaft einer Referenz, den Bezug zur lebendigen Schrift, erlangte. »Die Monarchie der gelehr- ten Rechte« (in einer idealen Gegenüberstellung mit der anderen Macht stellt das kanonische Recht in der gelasischen Perspektive der zwei christlichen Mächte, dem Säkularen und dem Kirchlichen, eine ihrer Komponenten dar)56 ist keine geistreiche Erfi ndung Le Bras’, sondern, wie er im äußerst gerechtfertigten Titel eines seiner Texte bereits andeutet, die Universitätsstadt Bologna.57 Die Stadt der doctores als Geburtsstätte der zwei Rechte funktioniert also im Diskurs der Rechts- historiker als Anspielung auf die Herkunft der Kommentare, so wie ihnen Rom auf der höchsten Ebene des Gesetzes selbst als universelle Heimat des Rechts gilt (Roma communis patria heißt es dazu in den Digesten).58 Wenn ich unser eigenes wissenschaftliches Sprechen mit der Arbeit der Glossatoren im selben Atemzug nenne, dann weil nichts schwieriger zu verorten ist als der dogmatische Diskurs, ein Sprechen, das, so nehme ich an, jenseits der Zeit steht. Welchen Platz können wir ihm zuweisen, wenn es metaphorisch vom Ort eines absoluten Wissens her- stammt, der fern alles Menschlichen steht? Wo ist es zu lokalisieren, wenn nicht im Metaphorischen, so dass es von einem Raum herrührt, der weder Innen noch Außen, weder Höhen noch Tiefen kennt, wenn es letztlich also vom Ort eines Signifi kanten kommt, der von seinem – im vorliegenden Falle geographischen – Signifi kat gelöst ist? Die gelehrten Rechte in Bologna zu verorten bedeutet, ein ideales Vaterland der Kommentare zu bezeichnen, die absolute Monarchie ohne Subjekte, weil ein solcher Diskurs sich in einem idealen politischen Raum an alle Subjekte wendet. Auf diese Weise führt uns die Scholastik das eigentliche Wesen der Institutio- nen vor Augen. Die juridische Grammatik hält sich vor allem an den lateinischen Buchstaben: Institution bedeutet Doktrin, Unterweisung. Der Fall des pontifi kalen Systems lehrt uns, was eine solche Bemerkung bedeutet. Sowohl im Falle des kanonischen als auch im römischen Recht stellt sich das Dispositiv des Gesetzeswissens als gespalten dar: Wir haben einerseits den Text, andererseits die Kommentare. Letztere gehen im Wesentlichen auf das Phänomen der Rechtsschulen zurück und haben sich zunächst nicht zur Erläuterung dessen 56 Der grundlegende Text des Papstes Gelasius befi ndet sich im Dekret, Dis. 96, c. 10. Gra- tian fasst folgendermaßen zusammen: »Auctoritas sacra pontifi cum et regalis potestas huius mundi gubernacula regit«. 57 Bologne, monarchie médiévale des droits savants, in: Memorie per la Storia dell’Univer- sità di Bologna 1956, S. 1 – 18. 58 D. 50.1.33, Fragment des Modestinus: »Roma communis nostra patria est«. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 97 entwickelt, was wir heute als Rechtspraxis bezeichnen, sondern als Zelebrieren des Textes, also einer Abstammungslinie von Schriften, von der ausgehend sich das Autoritätsprinzip bestimmen lässt. Diese Tatsache ist ganz entscheidend, um zu begreifen, dass die Justinianische Sammlung systematisch geprüft, glossiert und in die Form von Abhandlungen gebracht wurde, die schon früh zu kodifi zierten literarischen Gattungen geworden waren, während die Gesellschaft des 12. Jahr- hunderts sich nur fi ktiv auf das Recht des spätrömischen Reiches beziehen konnte, dessen Techniken in der Praxis lediglich als Relikte weiterlebten, die sich hier und da noch im Gewohnheitsrecht und im Feudalrecht fanden. Es ist bekannt, wie schwierig die Bewertung der »Rezeption« im 12. bis 13. Jahrhundert ist.59 Wir wissen in Anbetracht der Geschichte päpstlicher Interventionen in Gesetzesfragen aber auch, wie das unübersichtlich wirkende Magma juristischer Texte, von dem uns die ersten Gratianischen Distinctiones über die Ursprünge des Rechts eine vage Vorstellung vermitteln,60 in Wirklichkeit der Logik eines Prinzips folgt, welches durch das Recht der römischen Kaiserzeit inspiriert ist und ohne die mythologi- sche Referenz gar nicht formuliert werden kann: Der Pontifex Maximus bewirkt keine Neuerung, er interpretiert auf ewig, was gemäß der mystischen Gesetz- lichkeit nur er wissen kann. Die Formel dafür kennen wir bereits: Omnia scrinia habet in pectore suo. Sie macht ein juridisches Prinzip sichtbar, nach dem Recht letztlich nur im Bezug auf ein begründendes Gesetz existieren kann, ein Gesetz, von dem mystisch Kenntnis erlangt und das ebenso weitergegeben wird. Wenn wir uns nun daran erinnern, dass in der Ökonomie der imitatio imperii der souve- räne Platz zugleich jener ist, an dem für das gesamte System die Vatermetapher funktioniert, so gewinnt die Klassifi zierung der Institutionen, also der Doktrinen des lebendigen Gesetzes (so der Titel des Justinianischen Lehrbuchs: Sacratissimi principis institutiones), ihre ganze Kraft: Auf der einen Seite stehen die Texte und der Urheber des Rechts, auf der anderen die Kommentare und Rechtsschulen. Die Interpretationen verteilen sich mit anderen Worten in zwei Klassen: souveräne Interpretationen und jene der doctores. Wenn wir diese Bemerkungen weiterdenken, so müssen wir – vom Sonderfall der päpstlichen Konzilien einmal abgesehen – feststellen, dass sich die pontifi kale Rechtssetzungstechnik, die fast ausschließlich auf Konstitutionen und Reskripte ausgerichtet war, also auf Kanzleiverfahren im Frage-Antwort-Stil, in den scho- lastischen Kreislauf der Interpretationen einschreibt. Auf diese Weise wird die 59 Diese Frage hat André Gouron wieder aufgebracht. Er veranstaltete 1977 in Montpellier ein Kolloquium zum Thema: »Confl uence des droits savants et des pratiques juridiques«, Mailand 1979. 60 Vgl. dazu insbesondere die Distinctiones 3, 4, 9, 10, 11, 13, die Schritt für Schritt in die große und eigentliche kanonische Sammlung einführen. Diese wird durch Dis. 15 zu- sammengehalten, in der sich die wichtigste Frage der Konzilien fi ndet. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 98 Pierre Legendre doppelte (in auf- und absteigender Richtung funktionierende) Bewegung sichtbar, die dem Phänomen der Interpretation den ersten Rang zuweist und es nicht nur mit den Praktiken der Regierung und Verwaltung in Verbindung sieht,61 sondern auch mit allen möglichen Formen der Bande, die den Heiligen Stuhl mit den Doktrinen der Rechtsschulen und mit diesen Schulen selbst in Zusammenhang brachten. Die Päpste taten sich oft durch die wissenschaftliche Beschäftigung in utroque iure hervor, so auch eines der bedeutendsten Kirchenoberhäupter, Inno- zenz III., Schüler des Azo, zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Diese Verbindungen wurden noch enger, da mit dem fortschreitenden Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft hin zu einer Kultur des Zivilrechts, das die Kanonisten sehr geschickt steuerten, die Kräfteverhältnisse zwischen Rechtsgelehrten und Papsttum eine Rolle spielten. Diese wurden durch die Gelehrsamkeit verdeckt, durch die wir hindurchblicken müssen um zu sehen, wie weit die Macht der Schulen gehen kann, die zu dieser Zeit die Referenz auf den souveränen Ort als Illusion erschei- nen lässt. Ein typischer Fall ist die latente, doch letztlich siegreiche Opposition der Schuldoktrinen gegen das terroristische Prinzip, das Papst Innozenz III. in einem Text gegen die Häretiker formulierte: pro peccatis patrum puniri (für die Sünden der Väter bestraft werden).62 In diesem wechselseitigen Spiel muss schließlich das Vermögen der Rechtsschulen und ihrer Lehren Beachtung fi nden, alle Praktiken wiederzuverwerten. Sie waren in der Lage, sämtliche Widersprüche durch die beständige Erinnerung an die Vorherrschaft des Gesetzes aufzulösen. Besonders sprechend sind Formulierungen wie: Selbst, wenn der Papst das Recht nicht kennt, wie es bei Cölestin II. der Fall war, ist seine Interpretation immer entscheidend.63 Ebenso aufschlussreich ist die Frage nach der Macht des Kaisers: Könnte er eines Tages das römische Recht zerstören?64 Als zirkuläres Denken, wie es dem dogmati- schen Denken in einer nicht chronologisch verlaufenden Zeit zukommt, defi niert sich die juristische Scholastik auch über das immer wieder neue Aufwerfen der 61 Diese Praktiken ahmten während einer – trotz des Untergangs des weströmischen Reichs – ununterbrochenen Geschichte, das Modell des römischen Kaisertums nach. Obwohl die administrativen Strukturen im Laufe des Frühmittelalters verschwanden, ging es für die Kanonisten des 12. Jahrhunderts um die legitime Aneignung des römischen Rechts durch die Kirche. Diese Inbesitznahme war nicht nur durch Legendenbildung (wie im Falle der »Konstantinischen Schenkung«, vgl. dazu D. Maff ei) gekennzeichnet, sondern auch durch werbewirksame Formulierungen (wie »Ecclesia vivit iure romano« in der Lex Ripuaria oder ein Satz Johannes VIII. (872 – 882), der sich im Gratianischen Dekret fi ndet, C. 16 q.3 c.17: »Venerandae romanae leges«). 62 Kenneth Pennington: Pro Peccatis Patrum Puniri: a Moral and Legal Problem of the Inquisition, in: Church History 47 (1978), S. 137 ff . 63 Dies berichtet Laurentius von Spanien in seinem Apparatus ad C. 25 q. 2 (Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 15393, f. 208 v.). 64 Die Frage wird in der Sammlung von Montecassino behandelt, ms. 396, S. 56. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 99 Frage nach einer Logik der absoluten Macht, die zunächst als ein Platz aner- kannt wird. Alles, was bis jetzt über das scholastische Verfahren der stetigen Wiederholung der Texte und Kommentare gesagt wurde, betriff t unmittelbar die strukturellen Bedingungen, unter denen jede Sozialisierung der Normen zustande kommt. Die Arbeit der mittelalterlichen Magister besteht darin, die Vorherrschaft ihres Geset- zes zu sichern. Auch diese Bemerkung ist von großer Bedeutung, denn sie deutet an, dass sich die Struktur, die ich gerne bestimmen möchte, indem ich die dog- matische Funktion als solche isoliert betrachte, in allen möglichen Formen ver- wenden lässt, denn die Rechtswissenschaft ist ebenso gut zur Begründung der Liturgie in der Sakramentaltheorie geeignet wie zur Werbung für die Entwick- lung des kommerziellen Kapitals. Historisch und soziologisch ist das Gesetz der mittelalterlichen Magister äußerst einfl ussreich, und zwar auch für die Normie- rung der Wirtschaftsordnung. Entsprechend kann es, wie J. M. Scholz ganz rich- tig bemerkt, keine autonome Rechtsgeschichte geben65 und auch der Kapitalismus selbst konnte sich nicht außerhalb einer mythologischen Beziehung zum göttli- chen Ort der Wahrheit entwickeln. Die Frage nach dem Bezug des Gesetzeswissens zur Wahrheit führt auch zum kaum anerkannten Randgebiet der juridischen Interpretation als Kunst. Ich be- tone hier ein weiteres Mal die große Bedeutung dieser Angelegenheit. Wenn meine Untersuchung ihre Berechtigung hat, so bedeutet dies, dass die Scholastik – wenn sie als fi ktionale Montage beschrieben und als Kreislauf gesehen wird, in dem sich die Rechtswissenschaft bewegt – für ein Interpretationssystem gehalten werden muss, und zwar im buchstäblichen oder theatralischen Sinn des Wortes als Darstellung, so wie es die Lehre der Glossatoren vom Recht als imitatio naturae nahe legt. Ernst Kantorowicz erinnert im Zusammenhang mit den juridischen und politischen Begründungen für die Macht des Künstlers energisch an eben diese Dokt rin.66 Es gibt aber noch einen anderen Aspekt der Frage des Wahrheitsbezugs, der unbedingt angesprochen werden muss, eine Konsequenz, die sich aus dem – im Sinne unserer Bindung an die römisch-kanonische Tradition eingerichteten – dogmatischen Dispositiv ergibt: Das Abendland gab vor, in den Institutionen jene Funktion abzuschaff en, die ich als »Herrn und Meister der Wahrheit« (Maître de Vérité) bezeichne, es hat diese Position mit jener der lebendigen Schrift vermischt. 65 Vgl. dazu den wichtigen Artikel: La constitution de la justice commerciale capitaliste en Espagne et au Portugal, in: O Liberalismo na Peninsula Iberica na primeira metade do seculo XIX (Kolloquium im portugiesischen Centro de Estudos de Historia Contemporanea Portugesa), 1981, S. 66 ff . 66 Vgl. dazu: The Sovereignty of the Artist. A Note on Legal Maxims and Renaissance Theories of Art, in: Selected Studies (wie Anm. 24), S. 352 – 365. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 100 Pierre Legendre Die kaiserliche und päpstliche Vorstellung von der fl eischgewordenen Macht ver- abschiedet also die Betrachtung des Gesetzes aus der Perspektive der Initiation. Dieser Einsatz des Signifi kanten muss vor allem im Rahmen einer Refl exion untersucht werden, die die Freudsche Entdeckung des Unbewussten mit einbe- zieht. Er ist charakteristisch für jene Kultur, deren Träger auch heute noch die Industrie ist. Diese weist so eine grundlegende Diff erenz zu anderen Formen des Eintritts in die gesetzliche Ordnung auf, die meines Erachtens fl exibler sind, sich jedoch sicher kaum mit jenen Idealen der Rationalität vereinbaren lassen, derer sich das römisch-kanonische System und das Management so ausgiebig bedienen. Wenn die Industrie tatsächlich die Vollendung des Christentums darstellt (gemeint ist das römisch-kanonische Christentum, das sich durch die Reformation gewan- delt hat, vgl. Toynbee), dann bedeutet dies, dass die dogmatische Funktion im Abendland einer gewissen institutionellen Linie folgt. Es ist zweifellos schwierig, wenn auch nicht unmöglich, diese Auslöschung der Initiationsformen zu unter- suchen, nachdem Überreste wie die Freimaurerei sich praktisch nicht mehr un- tersuchen lassen. Sie liegen verschüttet unter einem Berg lächerlicher Literatur, wenn man von einer auf die europäische Aufklärung spezialisierten Geschichts- schreibung absieht, die traditionalistische (im Wesentlichen im britischen Einfl uss- bereich liegende) und rationalistische (im lateinischen Europa vorherrschende) Strömungen trennt. b) D as Wissen des Gesetzes umfasst einen kritischen Bereich: Es schließt eine Gesetz- gebung über das Sprechen und das Genießen (jouissance) des Subjektes in sich ein. Wenn sich das Rechtssystem auf eine Gründungsmythologie beziehen lässt, auf welche die Psychoanalyse ein bestimmtes Licht werfen kann, so bedeutet dies auch, dass wir uns damit beschäftigen, was in der Zurschaustellung des gesellschaftlichen Textes für die Subjektivität auf dem Spiel steht. Er setzt sich aus Einzeltexten und Kommentaren zusammen, deren Organisation die mittelalterl iche Scholastik auf naive Weise aufzeigt. Worum geht es genau? Wir wollen nicht nur fragen, inwiefern die Funktionsweise der Institutionen auf die menschliche Erotik setzt, sondern auch, wie die Institutionen die Subjekt- werdung der einzelnen Individuen bedingen. Vorausgesetzt, dass wir die momen- tane passive Lektüre einer Tradition ohne Kultur hinter uns lassen, erhellt die Rechtsgeschichte auf einzigartige Weise den Status der sozialen Reproduktion in der Industriegesellschaft. Die Frage der politischen Liebe, die Manöver zur Steu- erung des Schuldgefühls, die Institution der Ehe etc. stehen im Zentrum des Ju- ridismus. Ich will hier an eine grundlegende Einsicht meiner Theorie erinnern: Die Funktion der Institutionen besteht zuallererst darin, die Menschen zu erzeugen und zum Tode zu befördern. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 101 Diese brutale Defi nition bedeutet, dass das Wissen des Gesetzes grundlegend mit einer Wissenschaft des Körpers zu tun hat, weil es auf die Menschen setzt, die ihrem unbewussten Begehren ausgeliefert sind. Auf dieser Ebene ist der Bereich des Gesetzes also ein graues, angepasstes, schreckliches Universum, in dem die Vorschriften von der panischen Angst vor der Überschreitung durchdrungen sind. Das Gesetz wirkt vor diesem Hintergrund der Schuldeinschreibung, und eben jener Prägung des Diskurses können wir die Bedeutung scholastischer Interpreta- tionen in der Struktur zuerkennen. Dazu folgende Bemerkungen: – Das sprechende Subjekt wird durch das Gesetz besetzt und zwar nach der Unterscheidung in öff entliches und privates Recht. Die Betrachtung der juridischen Tradition bringt interessante Hinweise zur Unterwerfung des Individuums in der sozialen Kom- munikation. Es ist etwas am Werk, das Einheit stiftet, die Absicherung einer Garantie in der Wahrheitsordnung jenes Repertoires, in dem die Kasuistiken funktionieren. Die römische Unterscheidung in öff entliches und privates Recht betriff t un- mittelbar das, was wir heute ohne besondere Präzisierung als das soziale Imaginäre bezeichnen. Wenn es um das Imaginäre geht, so verlangt seine Einrichtung, um nicht auf Seiten des Wahns zu stehen, nach der juridischen Setzung, eben jener Trennung also. Sie deckt den gesamten sozialen Raum ab, um ihn in einen Text- raum zu verwandeln. Das individuelle Sprechen ist nur dann kommunizierbar, wenn es Teil eines allgemeinen Rechtssystems ist. Es muss also, um den Diskurse ff ekt zu erzielen, mit den als legal anerkannten Glaubensformen geradezu beladen und der offi ziellen Rhetorik angepasst werden. In einer kaum zu übertreff enden Formulie- rung aus der abendländischen Tradition sind die Feinde des Glaubens an die Macht völlig wahnsinnig (dementes vesanosque): Die Justinianischen Gesetzbücher haben das politische Konzept des Wahns in vollendeter Form defi niert und ihm einen legalen Status verliehen.67 Die Gesetzmäßigkeit der Kommunikation bedeutet, dass diese in ihrer notwendigen Verortung im rechtlichen Dispositiv wie ein Gerichtsverfahren funktioniert. Entsprechend bedeutsam sind die römischen Prozessregeln, die die Kommentare schon früh beschäftigten. Sie sind und bleiben die beste Einführung in eine Kritik der Propaganda für eine spontane Kommunikation. Im Übrigen ver- leiht die Unterwerfung unter den Juridismus der Frage der Poesie und der Künste im Allgemeinen ihre rebellische Bedeutung, denn aus der Perspektive der sozialen Reproduktion hält sie die Wege des subjektiven Einsatzes, der Herausforderung und des Protests off en. Der Handlungsspielraum des begehrenden Subjekts muss begrenzt erscheinen und, auch das ist eine unverrückbare Gegebenheit, was die Schuld anbelangt, so haben die Einsätze des Begehrens einen hohen Preis. 67 Vgl. den ersten Titel des Codex »De Summa Trinitate«, C. 1.1.1. Abs. 1. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 102 Pierre Legendre Die römisch-kanonische Tradition hält eine großartige Lektion über die fort- dauernden Versuche bereit, die Unterscheidung zwischen öff entlich und privat abzu- schaff en. Diese Einsicht fi ndet sich in der Geschichte des Bußrechts, einem Gebiet, das sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch die Rezeption der Privatbeichte tiefgreifend wandelt. Dabei geht es um eine Technik des Bekenntnisses, das durch die irische Kirche Verbreitung fand und stark von klösterlichen Praktiken abhing. Vermutlich versuchten bereits die Reformatoren der karolingischen Zeit, sich von der öff entlichen Buße zu lösen, indem sie ein Prinzip setzten, nach dem »öff entli- che Sünden nach öff entlicher Buße, private nach privater Buße« verlangten.68 Doch die Entscheidung des Vierten Laterankonzils (1215), das durch die Sammlung Gre- gors IX. in allgemeines Recht übergegangen ist69 und durch die psychologischen Theorien der Dekretisten über die intime im Gegensatz zur extimen Ursache der Sünde lange vorbereitet wurde,70 hat das Fundament für ein Recht gelegt, das das Sprechen gesetzlich regelt. Dieses Recht wurde ausgehend von einem Kompromiss zwischen öff entlichem und privatem Sprechen in einem, dem gelehrten Prozess nachempfundenen fi ktionalen Raum konstruiert (dem f orum internum). Trotz des kurzzeitigen Aufschwungs der antiken kirchlichen Doktrin, die einzig die öff ent- liche Beichte als legitim betrachtete, und trotz der Abschaff ung der Privatbeichte durch die Reformation ist diese Einsicht umso deutlicher, als der Psychologismus sich durchgesetzt hat und zwar als Angebot an das begehrende Subjekt als solches ebenso wie als soziales Kontrollinstrument. Der Protestantismus hat den aus dem Mittelalter ererbten Psychologismus nach anderen institutionellen Modalitäten kanalisiert und ins Werk gesetzt, und zwar mit Hilfe von Autoren, die für die ju- ridische Transmission zwischen den beiden Strängen des abendländischen Chris- tentums Verbindungen herstellen. Dieser Psychologismus ging sehr weit, er defi nierte ein Innen und ein Außen des Körpers, erfand eine verbindliche Traumlehre, versuchte jene Ebene der Emp- fi ndungen zu bestimmen, von der ausgehend es möglich sein sollte, eine univer- selle Theorie der Lust abzuleiten, etc. Dieses Gemisch war, insbesondere mit Blick 68 Dieses Prinzip fi ndet sich in den pseudoisidorischen Dekretalen in folgender Formulie- rung: »manifesta peccata non sunt occulta correctione purganda« (Hinschius: Decretales pseudo- Isidorianae, Leipzig 1863, S. 140). Der Satz verlangt nach einer Einordnung in den wi- dersprüchlichen Kontext, in dem die Frage der Buße während dieser Epoche stand. Vgl. dazu meinen Artikel: Aux sources de la culture occidentale. L’ancien droit de la péni- tence, in: Settimane di Studio del Centro italiano di Studi sull’Alto Medioevo 22 (1975), bes. S. 588 ff . 69 Gemeint ist der berühmte Kanon 21 (Omnis utriusque sexus), der in die Dekretalen Gregors des IX. übernommen wurde, X 5.38.12. 70 Rufi nus, einer der ersten Dekretisten, legt diese Doktrin in seiner Summa dar: ad. Dis. 40 c. 5. Der Text fi ndet sich auch bei Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre von Gra- tian bis auf die Dekretalen Gregors, Vatikanstadt 1935, S. 23. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 103 auf eine soziale Regulierung der Schuld, wirksam71 und bleibt so weiterhin eine gültige Referenz, denn es hat in der Wiederholung des legalistischen Diskurses jene Position besetzt, die heute die Führer des Neo-Juridismus innehaben, die Verantwortlichen eines Systems, das von sich selbst nichts weiß. Es konstruiert mit Hilfe der Wissensformen, die sich mit dem Präfi x »Psycho-« schmücken und, den Idealen des Managements folgend, die wissenschaftlichen Bedingungen des Glücks verkünden. Letzteres ist dabei selbst ein durch die Transmission seit dem 18. Jahr- hundert ererbtes Konzept, das von der sogenannten Polizeiwissenschaft72 her- stammt, der Unterscheidung der postklassischen Glossatoren zwischen Lust (volup- tas) und Glück ( felicitas). – Der Status der Transgression beginnt mit dem Inzestverbot und den juridischen Einrich- tungen des Genießens (jouissance). Alles, was in einer Gesellschaft mit der Weitergabe des Gesetzes zu tun hat, bringt den Begriff des Verbots selbst ins Spiel und damit den Status der Überschreitung. Aus der Perspektive der institutionellen Ordnung gibt es weder permissive noch repressive Gesellschaften, allenfalls dürfte man davon sprechen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Umsturzes ist, der in der Lage wäre, den grundlegenden mythologischen Bezug auf die eine oder andere Weise zu verändern. In diesem Falle ginge es darum, einen neuen Glauben gegen den alten, zu vernichtenden durchzusetzen. Was heißt es, den Glauben zu wech- seln? Im Wesentlichen wird die bis dahin gültige Verbotsmaschinerie abgestellt und durch eine neue ersetzt. Der Status der Transgression wandelt sich damit von Grund auf. Der Mechanismus eines solchen Umsturzes ist seitens der scholastischen Trans- gression nicht beschrieben worden, außer durch die Mentalitätsgeschichte, die fundamental wichtig werden könnte, wenn sie bereit wäre, etwas mehr mit the- oretischen Konzepten zu arbeiten. Tatsächlich ist dies wohl ein indirekter Eff ekt der Zurückhaltung durch die Rechtshistoriker, die in Frankreich das Entsetzen angesichts der Psychoanalyse noch stärker empfi nden als anderswo. Gerade in den juristischen Quellen ruhen jedoch die Zeugnisse der phantasmatischen Struktur, auf die die Konstruktionen des Genießens ( jouissance) – einen Begriff , den Lacan energisch beförderte – unweigerlich verweisen. Dieses Konzept kann den Zugang zu einer Untersuchung über das Inzestverbot erleichtern und damit die Betrach- tung einer Vorschrift voranbringen, die für die industriell geprägte Menschheit ebenso grundlegend ist wie für jene Gesellschaften, die die Anthropologie be- 71 Siehe Gratianisches Dekret, Distinctio 6, wo sich eine Traumlehre fi ndet. Zu jenem Dis- kursgerüst, das den kanonischen Begriff der Schuld erläutert, gibt das bereits genannte Werk Kuttners (wie Anm. 69) grundlegende Hinweise. 72 Anm. d. Ü.: Polizeiwissenschaft meint hier die Lehre von der inneren Organisation eines Gemeinwesens. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 104 Pierre Legendre schreibt. Claude Lévi-Strauss hat hier einer Erneuerung der juristischen Arbeit den Weg bereitet, indem er eine Verbindung zwischen dem Mythos und den Verwandtschaftsstrukturen herstellte, also in der Perspektive einer Transmission des Verbots forschte. Auf dieser Ebene muss meine Arbeit nun ansetzen, dort, wo die Beziehung zwischen Genießen und Gesetz wirksam ist. Aus dem Blickwinkel der Rechtsgeschichte geht es um das Zivil- und das Bußrecht, die beide von der Referenz auf das Inzestverbot durchdrungen sind. Wenn wir von der psychoana- lytischen Bedeutung dieses ursprünglich juristischen Begriff s ausgehen, so heißt genießen ( jouir) nichts anderes als die Einschreibung eines menschlichen Körpers in die mythologische Verfasstheit des unbewussten Phantasmas, wo sich der ima- ginäre Einsatz des Subjekts im Hinblick auf Inzestverbot und Gesetz manifestiert. Genießen bedeutet, dem Buchstaben des eigenen unbewussten Phantasmas genau zu folgen. Dieses organisiert, was Freud die Libido nannte (ein scholastischer Be- griff par excellence), um jene subjektive Ökonomie zu bezeichnen, die in erster Linie durch das Begehren der Mutter bestimmt wird. Die Logik der Verwandt- schaft wirkt im Verhältnis zum textuellen Dispositiv des Mythos, das in den menschlichen Gesellschaften analog zum Phantasma funktioniert, um das Genie- ßen einzurichten. Doch in diesem Falle geht es darum, die Libido auf der Ebene einer Gruppe zu regulieren, die so regiert wird, dass die Reproduktionsfunktion konform zum jeweiligen Glauben gesichert wird. Ein Mythos ist in dieser Be- trachtungsweise ein gebrauchsfertiges Phantasma, er lässt sich überstreifen wie Konfektionsware und entfaltet seine Wirkung durch die Weitergabe des institu- ierten Sprechens im Raum des öff entlichen Rechts. Worin liegt die Bedeutung dieser Bemerkungen? Es geht darum zu bestimmen, auf welches Gebiet die szientistische Interpretation des technisch-wissenschaftli- chen Fortschritts abzielt, wenn sie Betrachtungen über die Mythen und damit das Unbewusste für überfl üssig hält und folglich die Tragweite der anthropologischen und historischen Refl exion über die Grundlagen des industriellen Systems für die gesellschaftliche oder auch bloß politische Aufklärung verkennt. Die Trennung von Theologie und Recht, die schon bei Gratian sehr ausgeprägt war, hat sich in radikaler Weise auf den Moraldiskurs ausgewirkt, welcher zwischen beiden Re- gistern stand. Und so bewegen wir uns in einem Bereich, in dem es nicht mehr möglich war, die logische Verbindung zwischen den Reglementierungen des Ge- nießens und jener Form zu sehen, in der das Dispositiv der Ehe einen zentralen Punkt umkreist, nämlich das Begehren der Mutter. Das Werk Bachofens bleibt in dieser Hinsicht ohne jeden Einfl uss auf unsere gelehrten Vorstellungen und des- halb haben Geschichtswissenschaft und Anthropologie die größten Schwierigkei- ten, ihr Augenmerk auf eine Erhellung der industriellen Erotik zu richten. Das Konzept des Mutterrechts läuft ganz off ensichtlich ins Leere, weil seine Berücksich- tigung voraussetzte, dass die Verbindung zwischen dem Verwandtschaftssystem ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 105 (das in der Rechtsgeschichte seinerseits zu wenig erforscht ist) und der phantas- matischen Referenz hergestellt wird. Diese Referenz ergibt sich aus den Argu- mentationen der Hüter der erotischen Ordnung (police de l’érotisme); die Geschichte der privaten Buße – der geheimen Ohrenbeichte, die ganz und gar auf der Prob- lematik des inzestuösen Begehrens aufbaut – lässt sie off enkundig werden. Wir wollen nun verstehen, wie die Frage des Inzests und des Ödipusmythos ausgehend von einer Verwandtschaftslogik ihren Anfang nimmt, welche durch die Sprache offi ziell festgelegt und kommuniziert wird. Nach dieser Logik gibt es reservierte Plätze – denn die anderen sind verboten. Sie beherrscht alle institutionellen Sys- teme in ihrer Eigenschaft als Ordnungen, deren grundlegendes Ziel in der Re- produktion des Begehrens besteht. Hier liegt der innerste Kern unserer Fragen, aber die Rechtsgeschichte will davon auch weiterhin nichts wissen. Die Untersu- chung des ehelichen Dispositivs, die diese Perspektive nicht berücksichtigt und sich von der klassischen Trilogie proles, fi des, sacramentum leiten lässt – einer Formel, die sehr aufschlussreich sein könnte, wenn sie denn interpretiert würde –, nährt den oberfl ächlichsten Szientismus. Er betrachtet die Sexualität ohne die Dimen- sion des unbewussten Begehrens, das mit dem Begehren der Mutter zusammen- hängt, und behandelt das Genießen wie einen sozialen Anpassungsvorgang. Wir vergessen, dass der erste Zweck der Ehe in einer Fabrikation von Müttern besteht, es geht also nicht nur darum, biologische Erzeugerinnen hervorzubringen, son- dern für die Männer die lebendige Wiederholung ihres ersten Liebesobjekts zu schaff en. Deshalb verkennen wir den inzestuösen Charakter der Ehe selbst und folglich die große mythologische Bedeutung der Aussagen über die Erotik. Wenn die modernen Juristen das römisch-kanonische Motiv der honestas und die Lehre von der Keuschheit der Ehe wieder und wieder bearbeiteten, so war dies weder absurd noch willkürlich, sondern lediglich ein dogmatischer Satz, der die Angst vor dem Gründungsverbot zähmen sollte. Auf dieser Ebene, auf welcher der Juri- dismus die Ehe als einen Fall der Keuschheit behandelt,73 wird die Komplexität einer Frage wie jener des Inzests sichtbar. Sie hängt sowohl vom Verwandtschafts- system ab, das das Verbot objektivieren soll, als auch von den Hütern der eroti- schen Ordnung, bei denen sich die unweigerliche Kompromissbildung vollzieht, die nötig ist, weil sich das unbewusste Phantasma nicht ausrotten lässt. Die Ge- schichte der abendländischen Gesetze zur Erotik ist also ein Unterfangen von grundlegender Bedeutung, wenn es darum geht, diese Frage zu klären und der szientistischen Überheblichkeit entgegenzutreten. Diese Geschichte, die in Frank- reich auf den unterschiedlichsten Gebieten begonnen wurde, ist so wichtig, weil sie geeignet ist, die Verwirrung der Vorstellungen zur aktuellen Entwicklung des 73 Vgl. dazu die Abhandlung des portugiesischen Rechtsgelehrten Benedictus Aegidius: Tractatus de iure et privilegiis honestatis, 1620, S. 119. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 106 Pierre Legendre Privatrechts zu beseitigen, das Gefahr läuft, eine wahrhaft psychotische Richtung einzuschlagen. Die Propaganda für die freie Wahl des Geschlechts auf dem chi- rurgischen Markt habe ich bereits erwähnt. Sie inszeniert das Aufeinandertreff en zweier getrennter Register (Reales und Symbolisches) in der unbewussten Öko- nomie und wirft ein Schlüsselproblem in der industriell geprägten Kultur auf: Hat die Industrie die Macht, das Unbewusste zu reformieren? Mit Blick auf die juri- dischen Einrichtungen des phantasmatischen Genießens können wir sagen, dass die Propaganda mitsamt der entsprechenden Gesetzgebung gar nicht weiß, was sie garantiert, nämlich ein Wiederaufl eben des Psychotischen im gesellschaftlichen Diskurs und, jenseits dieses Diskurses, die Logik jener mörderischen Entwick- lungsfolge, die für die Psychose typisch ist. Die textuell bestimmbare Geschichte des Status der erotischen Schuld in der Gesetzesordnung sagt offi ziell etwas We- sentliches zur Frage der gesellschaftlichen Idylle aus. Apostille über den angeblich jakobinischen Staat. Zum französischen Juridismus Die dogmatische Funktion lässt sich von bürokratischen Akten nicht trennen. Die Bürokratie, die zur industriellen Verwaltung nötig ist, hat sich verändert, wurde aber als Ort, an dem der Juridismus gesellschaftlich zum Ausdruck kommt, nicht abgeschaff t, auch wenn die Aufgaben zunehmend elektronisch erledigt wer- den. Sie wird in dieser Hinsicht auch weiterhin zu wenig erforscht. Die soge- nannte empirische Methodenlehre, wie sie heute in den Managementwissenschaf- ten Geltung beansprucht, tut gerade so, als müsste der technische Fortschritt – indem er suggeriert, die traditionellen Formen der dogmatischen Kommunikation seien ungültig – den mythologischen Bezug zum Gesetz zwangsläufi g zum Ver- schwinden bringen. Entsprechend vernachlässigt sie die juridische Zuschreibung als solche. Der französische Fall ist dafür ein off enkundiges Beispiel, denn hier wird deutlich, wie wichtig die Zensur ist, wenn es darum geht, den höchstmög- lichen Ertrag aus den fi ktionalen Montagen zu gewinnen. Zensur zu betreiben heißt hier, die wissenschaftliche Produktion zu steigern (mit allen positiven Ne- benwirkungen, die die Modernisierung der Kasuistiken mit sich bringt), ohne dass die Interpretationen deshalb unerträglich werden. Unerträglich ist eine Interpre- tation, wenn sie den Glauben veruntreut und die legalistischen Rechtfertigungen zerstört. An dieser Stelle sind einige kurze Bemerkungen zum Thema »Magister« und »Gesetz« angebracht, denn in der zentralistischen Struktur – einer Form, die viele Gestalten annehmen kann – kommt das französische System (ich habe es einmal als Nationalbürokratie bezeichnet) der Matrix des Verwaltungsrechts wohl am nächsten. Dieses Verwaltungsrecht stammt in direkter Linie aus der römisch- ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 107 kanonischen Tradition, welche wiederum fest mit der mittelalterlichen Scholastik, also dem Zentralismus des Papsttums verbunden ist.74 Die Nationalbürokratie ist eine Verwaltungspraxis, die den Gegenpol zur sport- lichen Vorstellung vom Staat bildet, von der der angelsächsische Liberalismus lebt. Nicht dass der Bezug zum Sport die Abdankung des Glaubens auf irgendeine Weise ausschließen könnte, diese Referenz brächte uns im Gegenteil eher zurück zur juridischen Tradition der Gottesurteile. Als Religion der Macht stehen die liberalen Slogans (»der Beste möge gewinnen« etc.) dem pontifi kalen Entwurf des als Fetisch verehrten Signifi kanten – des Staates – in nichts nach. Darüber hinaus haben die französischen Liberalen des 19. Jahrhunderts, die off enbar gebildeter waren als ihre Nachfolger im darauff olgenden Jahrhundert, immer die Verbindung zur protestantischen Ethik hergestellt. Dies ist allgemein bekannt, so dass ich nicht näher darauf eingehen will. Die Frage, um die es hier mit Blick auf das französi- sche Verwaltungssystem geht, lautet: Warum ist es, trotz der zahlreichen Unter- suchungen über den heiligen Staat, noch immer so schwierig, über die juridische Struktur der zentralistischen Wiederholung zu sprechen? Die Antwort ist in den imaginären Voraussetzungen des Zentralismus zu suchen: Wir könnten an die Schlussfolgerungen einer objektivierenden Studie nicht glauben. Der Zentralismus kann nur angeprangert werden, seine Erforschung ist nur am Rande jenes Textes möglich, von dem wir mystisch abstammen. Die Beharrlichkeit, mit der die For- schungsprogramme im Verwaltungssystem der Universität selbst entweder im Sinne des religiösen Respekts oder im Modus der Denunziation und Kampfansage wirken, ist sehr aufschlussreich: Wir brauchen Halbwahrheiten und eine gewisse Doppelzüngigkeit, denn die nationalistische Wahrheit ist einfach zu wertvoll. Damit ist jenes Argument angesprochen, das die Mystifi zierung der nationalis- tischen Institution sichert: der angeblich jakobinische Staat. Es handelt sich hier um ein Missverständnis von grundlegender Bedeutung oder genauer: um eine postrevolutionäre, nun im laizistischen Gewand auftretende Wiederholung der römisch-kanonischen Lehrsätze, die den Staat als persona fi cta defi nieren, eine fi k- tionale Montage, die die höchste Wahrheit zum Ausdruck bringen soll, so wie bereits Gaines Post es in bemerkenswert klaren Worten formulierte. Um das doppelte Spiel der Nationalbürokratie zu verstehen, müssen wir zwei Bereiche sorgfältig trennen: das feudale Register der Bürokratie (es fällt in den Zuständigkeitsbereich einer Soziologie der Machtverhältnisse im Innern jener Konstruktion, in der alle sozialen Klassen unter die Prinzipien der Hierarchie und der Aufgabenteilung gestellt werden) und jenes der juridischen Normierung, in dem sich die Unterwerfung unter den Glauben abspielt. Es genügt also nicht, 74 Vgl. dazu Gabriel Le Bras: Les origines canoniques du droit administratif, in: Études en l’honneur d’A. Mestre, Paris 1956, S. 395 – 412. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 108 Pierre Legendre wenn wir uns an die gängige Geschichtsschreibung halten und den Diskurs durch die lange Reihe jener Episoden abstecken, um welche die bedeutsamen Lehren kreisen sollen. So wurde ganz richtig die Unhaltbarkeit der Doktrinen erkannt, die den Jakobinern zugeschrieben werden und die im Bereich der reinen Verwal- tungsstrategie die authentischsten sind.75 Auch ist es recht einfach, sich eine Vor- stellung von den politischen Konsequenzen zu machen, die sich in der Ersten Französischen Republik aus dem Zusammenstoß von Nationalkonvent, Kom- mune und Föderierten ergaben: Den Rechtfertigungen der Föderation, die ver- langte, dass man die Legalität respektierte, die sich aus der Wahl der Abgeordne- ten ins Nationalkonvent ergab, hielt Robespierre die revolutionäre Doktrin ent- gegen, die die Koexistenz einer verfassungsmäßigen Regierung und einer Instanz der Aufständischen als rechtmäßig ansah. Tatsächlich endet der Jakobinismus hier: Er ist eine Doktrin des Ausnahmezustands, der kompromisslosen Besetzung des souveränen Ortes, die außerdem von der Zerstückelung des Territoriums in De- partements profi tierte, einer Institution also, die mit dem republikanischen Me- chanismus als solchem nichts zu tun hat.76 Ich füge hinzu, dass der Bezug auf den Jakobinismus dazu diente, nach der Zerschlagung der Pariser Kommune 1871 das Ansehen der Begründer der Dritten Republik zu fördern. Und so ist unter der sichtbaren Logik des Fortsetzungsromans, den die politischen Parteien schreiben, die Dürftigkeit der Erklärungen leicht zu erkennen, die der französischen Verbun- denheit zum Zentralismus offi ziell zugrunde liegen. Einen Roman aber gibt es natürlich, wenn auch im Freudschen Sinne des Familienromans,77 und diese Fest- stellung bleibt nicht ohne Folgen. Ohne diesen Punkt länger auszuführen, will ich hier ein wesentliches Element hervorheben, an dem die zentralistische Reproduktion hängt: den Glauben. Die stetige Arbeit des Juridismus muss in seiner Beziehung zu diesem Glauben betrach- tet und interpretiert werden. Das Verwaltungssystem schließt ein soziales Band in sich ein, das von ganz besonderer Natur ist. Mit rein empirischen Methoden lässt sich dieses Wesen nicht ergründen, wohl aber anhand eines Begriff s aus dem Vo- kabular der deutschen Politik: Hoff nung.78 Die Wissensformen des Managements, die sich vom behavioristischen Szientismus nähren, vernachlässigen die juridischen Konstruktionen auf unvorsichtige Weise. Letztere reproduzieren und verstärken sich durch die erstaunliche Kraft, die der Zentralismus aus seinem Engagement in 75 Dazu François Burdeau: Aff aires locales et décentralisation. Évolution d’un couple de la fi n de l’Ancien Régime à la Restauration, in : Mélanges off erts à G. Burdeau, Paris 1977, S. 765 – 788. 76 Vgl. meine Histoire de l’administration, S. 110 ff . 77 Vgl. mein Nachwort: Le roman de l’État français, in: Annuaire des collectivités locales (1981), S. 695 – 700. 78 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 109 einem imaginären Krieg gewinnt, in dem die mystische Hoff nung ihre Rolle als Symptom spielt: Der Tag wird kommen, an dem die Wahrheit endlich siegt. Die Bemerkung sollte umso mehr Beachtung fi nden, als sie eine jener Artiku- lationen darstellt, die sich in der bürokratischen Theologie am Besten verorten lassen. Das Ancien Régime brachte sie zu Beginn des Verwaltungsstaates unter Ludwig XIV. im Gewand des öff entlichen Rechts oder der Polizei zum Ausdruck, so etwa bei Domat und de La Mare. Bossuet, die Gallikaner und später Lemontey haben diesen Staat ausführlich erforscht.79 Der Zentralismus richtet die ideale Regierung ohne Grenzen, die logische Beherrschung der Menschheit, institutio- nell ein. Er muss daher in der Perspektive einer Theologie der Geographie verstanden werden, entsprechend den Thesen von einer göttlich gefügten Regierung, wie die mittelalterliche Scholastik des imperium mundi sie bereits annahm und so der säku- larisierten Vorstellung einer geografi a generalis den Weg bereitete, deren Geschichte Manfred Büttner teilweise nachgezeichnet hat.80 Diese Geschichte betriff t den Juridismus unmittelbar, weil gerade die römisch-kanonische Matrix dem Heiligen Stuhl die Idee des Zentralismus in ihrer reinsten Form lieferte: Ecclesia non habet territorium. Diese Vorstellung entspricht im Übrigen auch dem Territorialbegriff ,81 wie ihn die Digesten defi nieren. Eine solche Einsicht ist besser als nichts, wenn man vom Standpunkt der französischen Reproduktion ausgeht, denn der Grund für das Scheitern der Verwaltungsreformen im Laufe der letzten Jahrzehnte liegt vor allem in der Weigerung, zu sehen, was sich hinter dem pseudo-jakobinischen Glauben verbirgt: der Glaube an die Allgegenwart des Staates, die Hoff nung, er möge als Statthalter des absoluten Signifi kanten überall sein und alles garantieren. Die jakobinische Lehre, eine Doktrin der Nachträglichkeit und des Zelebrierens der allwissenden Macht, ist in den verschiedenen Formen des theatralischen Prin- zips, das den Namen des lebendigen Gesetzes in der Administration repräsentiert, deutlich zum Ausdruck gekommen: absens corpore, praesens auctoritate.82 Ein grund- legender Punkt betriff t die unbewegliche Zeit der Struktur: Der Zentralismus ist 79 Pierre Édouard Lemontey: Essai sur l’établissement monarchique de Louis XIV, 1818. 80 Einen Überblick bietet Manfred Büttner: Die Emanzipation der Geographie zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaft in ihren Bezie- hungen zur Theologie, in: Sudhoff s Archiv. Zeitschrift für Wissenschafts geschichte 59 (1975), S. 148 – 163. 81 In der kanonischen Lehre diente der Begriff der iurisdictio zugleich zur Defi nition des allumfassenden Reichs der Kirche und der speziellen Zuständigkeiten intra fi nes. Die hier zitierte Maxime vervollständigt die scheinbar paradoxe Referenz auf das Fragment der Digesten, das die folgende juridische Entsprechung des Territoriums angibt: Es ist eine begrenzte Zuständigkeit im Raum zur Ausübung des ius terrendi, daher auch die in den Kommentaren ständig wiederholte Etymologie: territorium von terreo. 82 Sie entstammt der Summa des Dekretisten Huguccio (12. Jahrhundert), ad. Dis. 94, c. I (Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 15396, f. 94 v.). ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 110 Pierre Legendre keine territoriale Frage, sondern eine Sache des Glaubens an jene Namen, die die Wiederholung rechtfertigen. Die nationale Raumordnung bleibt also eine sym- bolische Einrichtung, eine Dezentralisierung ist folglich in Frankreich nur mög- lich, das heißt erträglich, wenn der zentralistische Staat sie gesetzlich verfügt und garantiert. An dieser Paradoxie kommen wir nicht vorbei. Versuch einer plausiblen Schlussfolgerung: Wir müssen uns wieder mit der Geschichte der juridischen Künste befassen Was den Managementwissenschaften des Hyperindustrialismus fehlt, ist das Wissen um ihre Vergänglichkeit, die eigene historische und rechtliche Begrün- dung. Für meine Untersuchung der modernen Verkennung orientiere ich mich daher an den Lehren des Mittelalters, an ihren Wiederholungen ebenso wie an ihren Vorgängern. Ich halte mich also an die Brutalität, Strenge, Emphase und Poesie, die die ersten Kompilationen auszeichnet. Sie sind ein Fundus an Rätseln, mit denen sich die Glossatoren nur zu einem Zweck theoretisch auseinandergesetzt haben: Die Texte sollten weitergetragen werden. Die juridische Transmission voll- zieht sich tatsächlich in allen möglichen politischen Gewändern. Die wichtigste Erkenntnis, die sich aus der niederschmetternden Erfahrung des Rechts gewinnen lässt – auch wenn sie in den Kreisen des Managements unpassenderweise als ob- solet gilt –, ist folgende: Die primäre Funktion der institutionellen Systeme liegt in ihrer Reproduktion. Indem sie die römisch-kanonische Instanz als zeitliche Markierung und als Sediment der modernen mythologischen Konstruktion entdeckt, begibt sich die Rechtsgeschichte in die größten Schwierigkeiten, das muss man wissen, vor allem in Frankreich. So scheint die Hauptaufgabe der Pädagogen heute darin zu beste- hen, auf diesem sehr speziellen Gebiet der Geschichtswissenschaft – beim Recht und seinen römisch-kanonischen Fundamenten – zu verurteilen, was sie nicht verstehen. Doch wer so tut, als könne er Freuds Entdeckung ignorieren, wenn es darum geht, den gesellschaftlichen Mechanismus des Gesetzes in jenen Versionen darzustellen, aus denen unser industrielles Zeitalter hervorgegangen ist, der ist ein Betrüger, denn sein Unterricht ist darauf ausgerichtet, möglichst niemandem Schmerzen zu bereiten. Durch eine sehr wirksame Abschreckung gerät den fran- zösischen Rechtshistorikern auf diese Weise die Idee einer spezifi schen Rolle des Rechts aus dem Blick. Nun hatten die Juristen aber bei den großen Manövern zur Sozialisierung des Unbewussten, also bei der Instituierung des menschlichen Körpers, stets die Logen- plätze inne. Die Studenten der Rechtsgeschichte, die heute in mehreren Ländern eine neue Blüte erlebt, müssen deshalb unbedingt von der einzigen Schule lernen, ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2 Magistri Legis 111 die von Interesse ist, wenn es um die Wahrheit des Dogmatismus geht, nämlich von der Scholastik. An diesem logischen Ort der industriellen Geschichte ist die Verknüpfung des Gesetzeswissens in seiner Eigenschaft als menschliche Lebens- bedingung mit der lateinischen Referenz auf das Wort ars sichtbar geworden. Aus dem Französischen von Sabine Hackbarth ZMK 2/2011 Open Access (CC BY-NC-SA 3.0.) | Felix Meiner Verlag, 2011 | DOI: 10.28937/ZMK-2-2