Emil Staiger: Vor drei Bildern. Mit einem Nachwort von Franz Zeiger.- Zürich und München: Artemis 1983, 100 S., DM 32,- ln einem prächtig ausgestatteten Bändchen dokumentiert Emil Staiger einmal mehr seine langgehegte Liebe zur Goethezeit, indem er "ein Wort zu einigen Bildern der Stiftung Reinhard" in Winterthur sagt. Seine Wahl fiel auf drei Werke aus dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts: G.F. Kersting: 'Lesender bei Lampenlicht', C.D. Fried- rich: 'Frau am Strand von Rügen' und J.L. Agasse: 'Im Pferdestall'. Sie 223 geben ihm Anlaß zu einer "Reise" in die "vertraute Heimat" jener Epoche, deren Wesenszüge er dem Leser mit seinen Bildbetrachtungen erschließen will. Die Buchgestaltung verleiht der Unternehmung eine gewisse Feierlichkeit: Starkes, chamois-getöntes Papier, einseitig ge- prägt, wie um die Anmutung geschöpften Büttens zu erzeugen, ist mit nur 19 Zeilen pro Seite sparsam bedruckt. Es entspricht dem ruhigen, sich langsam einfühlenden Charakter der Staigerschen Sprache, wenn durch den breiten Absatz, mit dem jede Textseite beginnt, das Lese- tempo ein wenig verzögert wird. Die Gemälde sind auf den Außenhälf- ten von Doppelblättern wiedergegeben und liegen ausgefaltet neben dem Text. Die Bildauswahl ist von Zufall und persönlichem Eindruck bestimmt, von jener ersten Liebe zu einem Werk, die Staiger gern zum Ausgangs- punkt seiner "Stilkritik" macht, wobei der hermeneutische Zirkel sich dort "erfüllt", wo die "Vorerkenntnis des ersten Gefühls" als richtig nachgewiesen wurde (so heißt es bereits 1951 in der 'Kunst der Interpretation'). Eine gewisse Ordnung der hier vorgestellten Werke ergibt sich dem Leser allerdings aus der Bedeutung der menschlichen Gestalt im Bilde. Bei Kersting steht der Mensch im Mittelpunkt. Der lesende Mann in der abendlichen Ruhe seines Arbeitszimmers ist von Gegenständen umgeben, deren kulturelle Bedeutsamkeit der Autor erläutert und sich damit dem "Geist" jener Epoche so einfühlend nähert, daß er in dieser Identifikation die eigenen Lebensumstände mit Befremden betrachtet: "Wir dagegen sind zu Funktionen von Apparaten geworden." In Friedrichs Küstenlandschaft hat die menschliche Gestalt als im Vorder- grund lagernde Rückenfigur geringere Bedeutung für die Bildaussage. Der lyrische Gehalt des Bildes - Landschaft als Seelenzustand -, auf den die Frauengestalt verweist, stellt besondere Anforderungen an das Sprachgefühl des Interpreten. Um dem "Stilgesetz" Friedrichs treu zu bleiben und nicht der Allegorese zu verfallen, bemüht sich Staiger um eine "ebenso sinnliche wie transparente Sprache, eine metaphorische also", mit dem Ergebnis einer an G.H. Schubert orientierten Bildnach- schöpfung. Das Stall-Interieur Agasses, in dem die menschliche Gestalt zur bloßen Staffage wird - im Mittelpunkt steht die "Person des Schimmels" - mißt Staiger an Goethes Stilbegriff. Die Erläuterungen zur Biographie des Künstlers weisen ihn als aufs Tierreich speziali- sierten David-Schüler aus. In dieser Gegenstandsbeschränkung geht dem Leser nun noch einmal der "Geist" - wenn nicht einer Epoche, so doch einer Klasse - auf, der Geist jenes englischen Adels, den Agasse mit seinen Portraits bitter enttäuscht hatte, da er hinter Puder und Schminke die Gesichter freilegte ... Gern überließ man dem Realisten Hunde und Pferde. Eine die ganze Epoche umschreibende, ausholende Bewegung, mit der die Betrachtung bei Kersting begann, kommt hier, in dem wohlgefälligen Blick auf die "durch keine Absicht gestörte, große Simplizität der beiden Pferde" zum Stillstand. Mit den drei Essays knüpft Staiger an frühere Ausführungen zur Bestimmung des Stilbegriffs (z.B. 'Stilwandel', 1963) an. Er macht sich den "Zeitstil" - seinen Begriff für den gemeinsamen Charakter der ausgewählten Arbeiten - selbst zueigen, wenn er sich z.B. als Leser seiner Betrachtungen "Kreise" wünscht, "die man seinerzeit - es ist 224 freilich schon sehr lange her - als 'Kenner und Liebhaber' zu bezeich- nen pflegte". Eine w.ahlverwandtschaftliche Beziehung offenbart sich in der Absicht des · Autors, als Deutender jenes "Stilgesetz", das den Maler beherrscht habe, nicht nur zu erfassen, sondern sich ihm selbst zu beugen. Sprachliche Stilangleichung ist Staigers Antwort auf die Fragen: Wie muß Sprache beschaffen sein, die die Wirklichkeit einer vergangenen Epoche schildert? und: Wie läßt sich Malerei in Sprache übertragen, ohne dabei ihren künstlerischen Sinn zu verletzen? In Anpassung an die vorgefundenen "Stil"-Regeln durchwebt er seine Erläuterungen mit zahlreichen zeitgenössischen Zitaten, gebraucht Be- griffe im Goetheschen Wortsinn und versucht, ein Gemälde mit symbo- lischem Bildgehalt in ein metaphorisches Wortgefüge zu übersetzen. Wenn die an Stilgesetzen orientierte sprachliche Nachbildung auch den Umfang hermeneutischer Fragestellungen in sehr subjektiver Weise be- grenzt, so überzeugen die Essays jedoch durch die ruhige Konzentration und sichere Gründlichkeit eines Kenners der Künste einer Epoche, der dem interessierten Leser nicht nur drei Bilder aufschließt, indem er auf all die schnell übersehenen Details hinweist, die die subtile Sprache der bildenden Kunst ausmachen, sondern damit auch auf exemplarische Weise das Verständnis dieser Sprache befördert. Carmen Klement