Feministisches Spekulieren Marie-Luise Angerer / Naomie Gramlich (Hg.) Feministisches Spekulieren Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten Mit Beiträgen von Marie-Luise Angerer, Georg Dickmann, Naomie Gramlich, Julia Grillmayr, Ursula K. Le Guin, Annika Haas, Katrin Köppert, Martina Leeker, Laura Moisi, Friederike Nastold, Kathrin Thiele, Anna Lowenhaupt Tsing und Johannes Ungelenk Kulturverlag Kadmos Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver - wertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2020, Kulturverlag Kadmos Berlin. Wolfram Burckhardt Alle Rechte vorbehalten Internet: www.kulturverlag-kadmos.de Covergestaltung unter Verwendung einer Fotoaufnahme während der Aufführung Coming Society von Susanne Kennedy (18.01.2019) an der Volksbühne Berlin, Bühnenbild von Markus Selg, Videomaterial von Rodrik Biersteker. Umschlaggestaltung: Constanze Vogt, Buerobeyrow/Vogt Gestaltung und Satz: readymade, Berlin Druck: Axlo Printed in EU ISBN 978-3-86599-446-2 ISBN 978-3-96750-000-4 (E-Pdf) Inhalt Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 N a o m i e G r a m l i c h Feministisches Spekulieren. Einigen Pfaden folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Geschichte(n) feministisch wiedererzählen U r s U l a K. l e G U i N Die Tragetaschentheorie der Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Feministische Theorien wiederlesen K at h r i N t h i e l e Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis. Relationalität, Diffraktion und die Frage ihrer ›Nicht-Unschuldigkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 J o h a N N e s U N G e l e N K Feministisches Spekulieren. Irigaray und die Verzückung des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a N N i K a h a a s In tief verbundener Abwesenheit. Cixous’ telepathische Lektürepraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 m a r i e -l U i s e a N G e r e r No Stopping Points Anymore. Am Beispiel des Films Annihilation und anderer Geschichten . . . . . 96 Spekulieren mit strange bedfellows a N N a l o w e N h a U p t t s i N G Die Erde, vom Menschen belagert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 F r i e d e r i K e N a s to l d Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz. Eine Neuverhandlung im Haraway’schen Garten voller Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 J U l i a G r i l l m ay r Wilde Spekulationen. Feministisch-ökologische Wissenschaftskritik und spekulative Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 m a r t i N a l e e K e r Speculate-as-speculate-can. Bedingungen von Spekulation als Kritik in digitalen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 G e o r G d i c K m a N N Molekulare Prothesen. Intoxikation, Spekulation und Materialität in Paul B. Preciados Testo Junkie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Fabulieren mit de-/postkolonialen Zeitlichkeiten N a o m i e G r a m l i c h Koloniale Aphasie des Anthropozäns am Beispiel des Films Annihilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 l a U r a m o i s i Unmögliche Biografien. Saidiya Hartmans Gegenerzählungen zur Domination . . . . . . . . . . . 209 K at r i N K ö p p e r t Afro-Feministisches Fabulieren in der Gegenwart – und mit der Höhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Danksagung Im Juni 2018 veranstalteten Naomie Gramlich und ich den Workshop »Feminist speculations with strange bedfellows« am Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaften (ZeM) in Potsdam. Schon im Vorfeld gab es die Idee, dem Workshop eine Publikation folgen zu lassen, um das Thema des feministischen, spekulativen storytellings weiter zu ver- tiefen. Der Band liegt nun vor, bereichert durch die Texte zusätzlicher Autor*innen und erstmals deutschen Übersetzungen von Aufsätzen von Ursula K. Le Guin und Anna Lowenhaupt Tsing. Wir danken an dieser Stelle allen, die am Workshop und an der Pu- blikation beteiligt waren. Unser Dank gilt dem ZeM für die finanzielle Unterstützung und für die Möglichkeit, unseren Band in der Reihe Anthologien herausgeben zu können, besonders Anna Jehle für ihre Unterstützung. Danke auch den Übersetzer*innen, Lisa Andergassen, Clemens Krümmel und Naomie Gramlich, die das Projekt mitunterstützt haben. Ein ganz besonderer Dank gilt unserer studentischen Lektorin, Marie Heinrichs, die die Texte mit größter Souveränität in Form gebracht hat. Last but not least: ein Dankeschön an den Kulturverlag Kadmos für die professionelle Zusammenarbeit. Potsdam, September 2019 Marie-Luise Angerer im Namen der Herausgeberinnen Feministisches Spekulieren. Einigen Pfaden folgen N a o m i e G r a m l i c h The time has come for new ways of telling true stories beyond civilizational first principles. […] [S]uch stories might be simultaneously true and fabulous.1 Der vorliegende Sammelband verfolgt das Anliegen, die Modi des Speku- lierens, Fabulierens und Imaginierens als grundlegend für die situierten Unternehmungen feministischer Theorien und Praktiken herauszustellen. Die Ausgangsthese ist, dass lange schon vor dem speculative turn2 das Denken im Futurum II und das visionäre Entwerfen anderer Vergan- genheiten, Gegenwarten und Zukünfte zum konstitutiven Bestandteil feministischer, post- und dekolonialer Theorien sowie den Gender- und Queer-Studies gehörten. Deren Vertreter*innen und Verbündete in Kunst, Theorie, Literatur und Musik teilen ein grundsätzliches Miss- trauen gegenüber traditionellen Wahrheits- und Wissenssystemen des Globalen Nordens und befragen deren als wahr und natürlich geltenden Annahmen auf ihren fiktionalen und narrativen Kern. Ein feministisches Spekulieren – der Name, der hier für das Gegenprogramm zu einem vermeintlich fest etablierten und objektiven Wissen steht – nimmt die realitätskonstituierende Wirkmacht und Bedeutung von Fiktionen und Narrationen ernst und mittels einer Rekonfiguration für sich in Anspruch. Eine ähnliche Kritik formulierte sich bereits in den 1980er Jahren unter anderem in poststrukturalistischen Diskurszusammenhängen, welche Aufklärung und Humanismus als ideologisch-politische Konstruktionen begriffen und damit die Delegitimierung dieser großen Erzählungen einläuteten.3 Bei dem feministischen Spekulieren, wie wir es verstehen, handelt es sich also nicht unbedingt um eine ›neue‹ Methode, sondern auch um ein Wiederlesen feministischer Theorien auf ihr spekulatives Potenzial hin. Gegenwärtige Anlässe für dieses erneute Lesen sind z. B. 1 Tsing: The Mushroom at the End of the World, S. xii f. Nachweis im Folgenden mit Sigle MEW und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 2 Vgl. Bryant / Srnicek / Harman (Hg.): The Speculative Turn. 3 Walter Mignolo stellt in seiner Kritik an postmodernen Denker*innen heraus, dass sich deren Ablehnung von Totalität lediglich auf die europäische Geschichte bezieht. Deko- loniale Theorie folgt einer wesentlich anderen Intention als postmoderne Ansätze. Vgl. Mignolo: »Delinking«, S. 451. 10 Naomie Gramlich der Klimawandel und die damit verbundenen ökologischen Umbrüche, erzwungenen Migrationen und geo-, bio- und chronopolitischen Trans- formationen. Diese Entwicklungen zeigen, dass es heute immer schwerer fällt, sie als das, was sie sind – nämlich ruinöse Resultate des gewalttäti- gen westlichen Zivilisationsmythos und seines ihm zugrunde liegenden Fortschrittsnarrativs – weiter zu ignorieren oder zu relativieren. Darüber hinaus machen gegenwärtige technologische Entwicklungen, mit denen längst überwunden gedachte Herrschaftsformen restabilisiert werden, Gegennarrationen in einer kritischen, dekolonialen, (queer)feministischen Ausrichtung wichtiger denn je.4 Im Vordergrund unseres Sammelbandes steht weniger die Definition des Begriffs ›Spekulieren‹ als vielmehr der Versuch, eine spekulative Öffnung und Pluralisierung von feministischen Kritiken zu ermöglichen.5 Ohne dass die hier versammelten Beiträge immer das Signum des Spekulativen tragen, ohne dass die Protagonist*innen der untersuchten Arbeiten und Theorien sich immer als Spekulierende begreifen,6 trifft sich in ihren gegenhegemonialen Praktiken, Ästhetiken, Poesien und Theorien nicht nur ein epistemischer, sondern auch ein politisch-kritischer Wert, der andere mögliche Zeitlichkeiten oder Narrationen intendiert.7 Auf Distanz zu Narrationen von Subjekt und Geschichte, die ihre Historizität und Lokalität als Universalismus tarnen, reagiert feministisches Spekulie- ren auf historische Auslassungen, diskursive Festschreibungen und gewaltvolle Unterscheidungen, was als (menschliches) Leben gilt und was als nicht-lebenswert ex negativo zu dessen Konstitution beiträgt. In den klassischen Narrationen der westlichen Moderne hat sich ein Verständnis des Humanen als Held / Eroberer / Wissenschaftler / Entde- cker / Erfinder / Retter festgesetzt, der, wie Ursula K. Le Guin vor mehr als 30 Jahren feststellte, den ›Rest‹ in der Geschichte zum Hintergrund, zur 4 Zum Zusammenhang von Klimawandel und Imagination vgl. Yusoff / Gabrys: »Climate Change and the Imagination«; Zylinska: The End of Man, S. 53–68; Solhdju: »Leben in den Ruinen dessen, was wir Fortschritt nannten?« Für ein von feministischen Denkerin- nen* inspiriertes Spekulieren in technischen Umgebungen vgl. Gabrys: Program Earth, S. 137–157. 5 »Speculative Opening« entlehne ich Marisol de la Cadena und Mario Blaser. Vgl. dies.: »Pluriverse«, S. 17–19. 6 Als die Künstlerin Ingrid LaFleur über ihr stadtpolitisches Projekt Afrotopia spricht, in dem sie Schwarze Bewohner*innen Detroits über afrofuturistische Kunst zusammenbringt, stellt sie fest, dass diese bereits Afrofuturist*innen sind, ohne es zu wissen. Afrofuturismus benennt ihre Erfahrung, andere Techniken, Narrative und Werkzeuge als die der weißen Gesellschaft zu verwenden. Vgl. LaFleur / Panaram: »Left of Black«. 7 Vgl. Hartman: »Venus in Two Acts«, S. 11; Harrasser / Bergermann: »Was wird politisch gewesen sein?«. Feministisches Spekulieren 11 Staffage, zur Trägerin*, zum Rohstoff, zum dekorativen Beiwerk macht.8 Wie aktuell dies ist, zeigt die zurzeit viel diskutierte geologische Mega- kategorie des Anthropozäns. Dessen Präfix ›Anthropo‹, das sich auf eine universelle ›(Natur-)Geschichte‹ schreibende Menschheit bezieht, setzt die kritische Arbeit der Queer-Theorie, der Human-Animal Studies, der posthumanistischen Theorien und der Disability Studies außer Kraft, welche den menschlichen Essentialismus und Exzeptionalismus als Selbstverkennung des Menschen kritisiert haben.9 Indem nun erneut auf diese Hegemonie rekurriert wird, zeigt sich im »Anthropo-Not-Seen«10 auch die strukturelle Unmöglichkeit, antagonistische Partner*innen und deren (neo)koloniale Beziehungen beachten zu können. Spekulieren vom Standpunkt minoritärer Positionen aus bedeutet hingegen die Zuwendung zu einer anderen, einer vielfältigeren Ebene von Realität innerhalb der Geschichte vom Menschen als Helden / Eroberer / Wissenschaftler / Ent- decker / Erfinder. Dies sollte nicht mit falschem oder alternativem Wissen verwechselt werden, denn die heute gültige Darstellung der Welt ist aus Sicht minoritärer Positionen selbst immer schon falsch, wie mit Tavia Nyong’o gesagt werden kann.11 Das feministische Spekulieren wird im vorliegenden Band in vier Aspekte gegliedert, die ich im Folgenden vorstelle, wobei ich die drei- zehn Beiträge des Sammelbandes in diesen Theorierahmen einwebe und kontextualisiere, anstatt sie separat anzuführen. Die grundlegende Position aller Beiträge ist, die gemachte Struktur von Realität und deren Darstellung zu benennen und nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Umsetzungen für eine feministische Re-Narrativierung zu fragen, wie ich im ersten Textteil aufzeige (»Geschichte(n) feministisch wiedererzählen«). Dieses Unterfangen geht einher mit einem Neu-, und Wiedererzählen und -verbinden von verschiedenen Pfaden feministischer Theorien des Globalen Nordens – die hier hauptsächlich verhandelt werden – und ihrem jeweiligen Verständnis des Spekulativen, Fabulativen und Imaginativen. Die Beiträge des genealogisch ausgerichteten zweiten Teils (»Feministische Theorien wiederlesen«) nähern sich dem Spekulativen über poststrukturalistische und differenzfeministische, poetisch-literarische sowie diskursgeschicht- liche und wissenschaftskritische Wege. Die in den ersten beiden Teilen aufgezeigte Besonderheit des feministischen Spekulierens als situiertes 8 Vgl. Le Guin in diesem Band. 9 Vgl. Colebrook: »What is the Anthropo-Political?«, S. 91 f. 10 De la Cadena: Uncommoning Nature. 11 Nyong’o schreibt aus der Sicht Schwarzer Subjekte: »More nearly, they are the tactical fictionalizing of a world that is, from the point of view of black social life, already false.« (Nyong’o: Afro-Fabulations, S. 6). 12 Naomie Gramlich Spekulieren mit werden in den Beiträgen des dritten und vierten Teils auf ihr aktuelles und politisches Potenzial hin befragt. Während sich die Beiträge des dritten Teils mit den vielschichtigen Herausforderungen im Anthropozän, Technozän, Kapitalozän und Plantagozän beschäftigen (»Spekulieren mit strange bedfellows«), stehen im vierten Teil spekulative Zukünfte, Vergangenheiten und die Gegenwart aus einer dekolonialen, afrofuturistischen bzw. afrofeministischen Perspektive im Vordergrund (»Fabulieren mit de-/postkolonialen Zeitlichkeiten«). Geschichte(n) feministisch wiedererzählen [I]t matters what ideas one uses to think other ideas (with).12 Eng verbunden ist das feministische Spekulieren mit Donna J. Haraways Arbeiten der letzten Jahrzehnte und insbesondere ihrer Schreibmethode, welche die Wissenschaftsphilosophin unter dem Signum ›SF‹ fasste: »SF: Science-Fiction, spekulative Fabulation, Spiele mit Fadenfiguren (string figures), spekulativer Feminismus, science fact (wissenschaftliche Fakten,) so far (bis jetzt).«13 Ihre spekulierende und fabulierende Praktik der SF, »die das eröffne[t], was in den Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften proteischer Zeiten erst noch kommen wird«,14 ist in mehreren Beiträgen dieses Bandes Gegenstand: in den Figurationen der Cyborg, der Diffraktion und der NaturKulturen. Haraways Schreiben nimmt Teile der unzähligen Fäden an den Schnittstellen der Konstitution von race, Klasse und Geschlecht, Natur vs. Kultur, Tier vs. Mensch und Fakt vs. Fiktion auf, um stattdessen den mehr-als-menschlichen Verbindungen und Versammlungen in der dichten Gegenwart von Postkolonialismus, Techno-Science und Klimakatastrophen zu folgen. Um sich diesem Konglomerat der Moderne methodisch zu nähern, entwickelte sie über die letzten Jahre ein Schreiben, das wesentlich auf ihrer Grundannahme einer gegenseitigen machtvollen Kopplung von Welt und Sprache basiert, wofür sie den Begriff des ›Materiell-Semiotischen‹15 vorgeschlagen hat. 12 Strathern: Reproducing the Future, S. 10. 13 Haraway: Unruhig bleiben, S. 11. Nachweise im Folgenden mit Sigle UB und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 14 Haraway: SF, S. 12. Nachweise im Folgenden mit Sigle SF und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 15 ›Materiell-semiotisch‹ meint, dass z. B. Technologie, Geschlecht, Natur, Wissen und Sub- jekt zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich angeeignet und in ihrer Bedeutung und Zugehörigkeit wissenschaftlich und rechtlich konzeptionalisiert wurden und immer noch werden, was wiederum Konsequenzen für alle Köper mit ihren Feministisches Spekulieren 13 Bereits in ihren frühen wissenschaftstheoretischen Arbeiten war es Haraways zentrales Anliegen, herauszuarbeiten, dass Wissenschaft und Populäre Kulturen auf diskursiven Praktiken, auf »story-telling practices«16 beruhen, die Karin Harrasser als implizite Erzähl- und Metapherntheorie benannt hat.17 Haraway schreibt: »Die Grenze, die gesellschaftliche Re- alität von Science Fiction trennt, ist eine optische Täuschung.«18 Dabei ist die optische Täuschung weder Irrtum noch falsches Urteil, sondern ein Artefakt, das eben als Trennung von Fakt und Fiktion, aber auch von Konzepten und Geschichte, von Naturwissenschaft und Geistes- wissenschaft wirkt. Wenn sich wissenschaftliche Fakten (lat. facere für dt. machen) zu Ursprungsgeschichten des Globalen Nordens naturalisie- ren, also zu jenen Erklärungen über die Entstehung und Entwicklung der Menschen, dann spielt das Erzählen von anderen Geschichten eine grundlegende Rolle für feministisch-kritische Theorien und Genealogien. Octavia E. Butlers afrofuturistische Erzählung Xenogenesis (1987–1989), deren Bedeutung für Haraways Denken nicht unterschätzt werden kann, ist auch heute noch ein beeindruckendes Beispiel für die Umschreibung der Ursprungsgeschichten des Globalen Nordens. In die naturwissen- schaftliche Geschichte der Darwin’schen Evolution, in die heteronor- mative biblische Schöpfungsgeschichte von Adam und Eva und in die paläoanthropologische Erzählung vom Menschen als heldenhafter Jäger verwebt Butler die Differenzen von race, Gender und nichtmenschlicher Spezies. In die weiße Geschichtsschreibung trägt sie die bis heute in ihrer Brutalität kaum berücksichtigte Versklavung afrikanischer Menschen und deren Folgen einer rassistisch-misogynen Reproduktionstechnologie ein.19 Eine feministische Kritik, wie Butler sie unternimmt, besteht folg- lich wesentlich in »[r]etelling well-known stories in order to destabilize the literary and scientific myths of origins […] and in the telling of new stories so as to inscribe into the picture of reality characters and events and resolutions that were previously invisible, untold, unspoken (and so unthinkable, unimaginable, ›impossible‹)«.20 Die Technologien, die in Xenogenesis zwischen terrestrischen und ext- raterrestrischen Spezies vermitteln, sind organische Sensor- und Receiver- technologien, mit deren Hilfe genetische Daten gesammelt, weitergegeben Umgebungen hat. Auch in Haraways Wortspiel »worlding« und »wording« (SF 12) kommt dies zur Geltung. 16 Haraway: Primate Vision, S. 4. 17 Vgl. Harrasser: »Donna Haraway«, S. 580. 18 Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs«, S. 34. 19 Vgl. Peppers: »Dialogic Origins and Alien Identities in Butler’s Xenogenesis«. 20 De Lauretis: »Feminist Studies / Critical Studies«, S. 11. 14 Naomie Gramlich und decodiert werden. Sie ähneln den Container- und Trägertechniken,21 die Butlers Zeitgenossin Ursula K. Le Guin in ihrem viel zitierten und für diesen Band ins Deutsche übersetzten Essay Die Tragetaschentheorie der Fiktion (1986) den Techniken des Speers, Schwerts oder Pfeils gegen- überstellt bzw. diesen zeitlich voraussetzt. In der bekannten Ursprungs- geschichte, die den Aufstieg des Menschen in der Figur des kriegerischen und zerstörenden Mannes erzählt, spürt Le Guin die Geschichte des Le- bendigen und ihren wenig beachteten Protagonist*innen auf: Geschöpfe mit lautmalerischen Namen wie Oo Oo, Oom oder Ool, winzige Pflanzen mit ihren Ökologien wie Flughafer, Haferbeet, Regen und Molchen oder kulturelle Artefakte wie Häuser, Museen und Medizinbündel. Mit der Tragetasche zu fabulieren, die sowohl Kulturtechnik als auch Narrativ ist, ruft keine eskapistische Erlösungsgeschichte und keine Figur der friedvollen Sammlerin* zur Hilfe, sondern meint Prozesse kontinuierlicher Begegnungen und Veränderungen und damit den Versuch, eine Geschichte zu erzählen, die nicht an ihr Ende kommt.22 Im Unterschied zu den literarischen SF-Visionen, wie sie Butler und Le Guin in ihren Romanen der 1970er bis 1990er Jahre entworfen haben, drückt sich das feministische Spekulieren heute eher in Mikrovisionen im Hier und Jetzt aus. Während des Women’s Liberation Movement ab den 1960er Jahren nutzten Feministinnen* wie Octavia E. Butler, Ursula K. Le Guin, Nalo Hopkinson, Joanna Russ oder Marge Piercy die den Genres Speculative Fiction und Science-Fiction eigenen Begegnungen mit Differenz und Alterität für ihre feministischen Erzählungen über Post- Gender- und Post-race-Zukünfte und hetero-deviante Reproduktions- und Kommunikationstechnologien.23 Seit einigen Jahren ist es um feministische SF-Autorinnen* eher ruhig geworden. Mag zwar immer schon die Gegen- wart und deren Verzerrungen und weniger die Exportation der Zukunft 21 Le Guins Tragetaschentheorie basiert auf Elizabeth Fishers Text »Woman’s Creation«. Für eine weitere, von Fisher und Le Guin unabhängige feministische Technikgeschichte des Behältnisses vgl. auch Sofoulis: »Container Technologies«. 22 Dass Sammeln keine gewalt- und herrschaftsfreie Technik ist, zeigt die seit Ende 2018 intensiv geführte Debatte um die Restitution von Kulturgütern, die im kolonialen Kontext in die USA und nach Europa gekommen sind. 23 Zur feministischen SF-Literatur vgl. Köllhofer: »Bilder des Anderen«; Merrick: The Secret Feminist Cabal; Lothian (Hg.): »Feminist Science Fiction«. Marleen Barr schlägt den Be- griff ›Feministische Fabulation‹ vor, der feministische SF letztendlich nicht als Literatur, sondern als theoretische Metafiktion über patriarchalische Fiktionen, wie sie nicht zuletzt im postmodernen Kanon der 1980er Jahre zum Ausdruck kommt, versteht. Vgl. dies.: Feminist Fabulation. Ähnliches stellen Afrofuturist*innen fest, die in dem Genre Science- Fiction, mit seinen Themen wie Entfremdung und Entwurzelung, die afrodiasporische bzw. Schwarze Erfahrung erkennen. Vgl. Eshun: »Further Considerations on Afrofuturism«, S. 290 f. Nachweise im Folgenden mit Sigle FCA und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Feministisches Spekulieren 15 Aushandlungsort und -gegenstand des Fiktionalen und Spekulativen gewesen sein, wie Samuel R. Delany schreibt,24 scheint es, dass sich im gegenwärtigen feministischen Spekulieren Gestern, Heute und Morgen in einer neuen Intensität überlappen. Einmal mehr wird deutlich, dass es nicht um neue Narrationen einer künftigen Zeit geht, sondern darum, die Gegenwart im Hier und Jetzt neu zu erzählen oder, wie Trịnh Thị Minh Hà schreibt, daran zu arbeiten, »new ways of seeing, of being, or of living the world«25 in der Gegenwart zu finden. An die Stelle der feministischen utopisch-dystopischen Spekulationen scheinen die Modi des Spekulierens als aktive Denkformen des In-Beziehung-Setzens getreten zu sein. Dabei geht feministisches Spekulieren, wie es hier verstanden wird, über Fragen von Geschlecht hinaus. Der SF-Modus ist, so Haraway, »ein Modus der Aufmerksamkeit, eine Theorie der Geschichte und eine Praxis der Ver- weltlichung« (UB 289), in der gegen die Konspiration des Alltäglichen und die Immunisierung des Beiläufigen neue Allianzen wahrnehmbar werden. Im Unterschied zum abendländisch-philosophischen Spekulieren (lat. Speculatio, dt. Betrachtung, Anschauung, schauendes Denken von einer sicheren Entfernung aus) entsteht feministisches Spekulieren aus und mit Welt(-en). In unterschiedlichen Weisen ist es damit verbunden, was als ›persönliches oder situiertes Schreiben‹ bezeichnet werden kann. Es ist ein Schreiben, das auf die historische und diskursive Festschreibung durch Andere reagiert, denn wie Veena Das schreibt: »[T]he knowledge of the other marks me.«26 In und gegen diesen Rahmen zu schreiben, verrückt die Beziehung zwischen Schreibender* und Gegenstand. Die Konsequenz dessen formuliert Butler so: »I got to write myself in. […] I don’t write about it; I write it out.«27 Feministische Theorien wiederlesen Die Frage, die sich bei der Einleitung in einen solchen Sammelband stellt, ist die nach den Spezifika des feministischen Spekulierens im Un- terschied zu anderen spekulativen Formen und Kulturen. ›Spekulation‹ 24 Vgl. Delany: »The Necessity of Tomorrows«, S. 177. 25 Minh Hà: D-Passage, S. 122. 26 Das: Life and Words, S. 17. 27 Dies muss nicht unbedingt mit der eigenen Lebenserfahrung als Schwarze Frau zu tun haben. Butler schreibt: »I write about it and think about it until it is so familiar that it becomes second nature – not like some of the early SF writers who include a black character to make a point about racism, of the absence of racism. […] I want to get to the point where these things can be in the story but are incidental to it.« (Dies. / Conseula: Conversations with Octavia Butler, S. 13). 16 Naomie Gramlich gehört zweifelsohne zum Vokabular der Gegenwart.28 Nicht nur ist sie in der abendländischen Philosophie verankert, sondern auch im »kyberne- tischen Futurismus« (FCA 290), wie Kodwo Eshun die algorithmisierten Maschinen- und Ökonomiespekulationen zum Zweck der Bereitstellung, Verwaltung und Kontrolle einer voreingenommenen Zukunft nennt. Einem wichtigen Mit- und Gegenspieler des feministischen Speku- lierens, dem Spekulativen Realismus, nimmt sich Johannes Ungelenk in seinem Text an, in dem er Quentin Meillassoux’ Realismus in ein ›diffraktiertes‹ Zwiegespräch mit Luce Irigarays Philosophie bringt. Der Beitrag operiert entlang Haraways Methode – »mit kleinem ›m‹«29 – der Diffraktion, welche sich das physikalische Prinzip der Lichtbrechung statt Lichtspiegelung für ineinandergeschachtelte Lese- und Schreibprozesse zu eigen macht. Im Wechselspiel der Irigaray’schen und Meillassoux’schen Bedeutungen des Spekulierens, das über die Simplizität eines gegen- seitigen Ausschlusses hinausgeht, folgt Ungelenk den diskursiven Ton- höhen in ihren feinen, manchmal deutlich dissonanten Unterschieden. Diese werden am lautesten, wenn es zur Frage der Distanz zwischen Spekulierenden und ihrem Gegenüber kommt: dem Absoluten, dem An- sich, der Frau sowie dem Grad der Offenheit bzw. Geschlossenheit. Die Meillassoux’sche Hoffnung, Transzendenz des Subjekts im Spekulieren zu ermöglichen, fordert Ungelenk mittels der Irigaray’schen Partikularität kontrapunktisch heraus. Damit wird das zentrale Moment des feministischen Spekulierens als situiertes Spekulieren deutlich. Der wesentliche Unterschied zwischen feministischem Spekulieren und Spekulativem Realismus, so betonen auch Cecilia Åsberg, Kathrin Thiele und Iris van der Tuin, liegt in der Konstitution des Gegenübers: Wo der Spekulative Realismus nach einem unmittelbaren, völlig a-subjektiven Realen strebt, bestehen die feministischen Positionen auf der konstitutiven Rolle der eingebetteten Beobachterin*/Teilhabenden, ihrer* Perspektive und der reichen Agen- tialität und Multisubjektivität des Kontexts.30 Mit Irigaray wird eine Autorin in die Debatte gebracht, die bereits in den 1970er Jahren den für feministische Theorien relevanten Zusammen- hang von abendländischer Philosophietradition des Spekulierens und der Ideologie der Spiegeltechnik erarbeitet hat. Im Spiegeln und Spekulieren treffen sich, so Irigaray, die Verleugnung eines medialen Dazwischen bzw. 28 In den meisten Glossaren der Gegenwart sind Eintragungen zum Spekulativen zu finden. Vgl. Hlavajova / Braidotti (Hg.): Posthuman Glossary; Bunz / Kaiser / Thiele (Hg.): Symptoms of the Planetary Condition. 29 Deuber-Mankowsky: »Diffraktion statt Reflexion«, S. 91. 30 Vgl. Åsberg / Thiele / Tuin: »Speculative Before the Turn«, S. 151. Feministisches Spekulieren 17 eines medialen Inmitten und die Ideologie der Verschmelzung von Innen und Außen, was die Frau zum Spekulationsobjekt, zum negativen Spiegel- bild des Mannes macht. Irigaray beschreibt die abendländische Ideologie des Spekulierens mithilfe der Metapher des Spiegels: »Spekulation und Spiegelung, endlich, ohne Bilder, ohne bestimmte Vorstellungen, ohne den Schatten eines Reflexes, der noch das Dazwischentreten irgendeines Körpers vermuten ließe. […] Ohne Auflösung, Veränderung, Verlust und ohne jede Blendung, jede andere Art von Störung. Äußerste Vermischung des Anblicks und des Blicks […].«31 Davon im Umkehrschluss abgelei- tet kann als eine der Grundprämissen des feministischen Spekulierens verstanden werden, ein unreines – also weder ein spiegelndes noch ein von oben draufblickendes – Verhältnis zur ›Welt‹ oder zur ›Geschichte‹ einzunehmen. Wenn im »feministischen SF-Modus […] Materie niemals ›einfach nur‹ ein Medium für den ›informierenden‹ Samen« (UB 165) ist, wie es Haraway formuliert, dann heißt feministisches Spekulieren nicht über etwas, sondern mit etwas spekulieren. Mit der Verschiebung der Präpositionen und damit dem Einbruch der sicheren Distanznahme beschäftigt sich auch Kathrin Thiele in ihrem Beitrag über das spekulativ-kritische feministische Vermögen des mit und in Figurationen Denkens. Thieles Beitrag setzt bei einer theorie- geschichtlichen Herleitung der Diffraktion als Methode und Figuration an, welche zweifellos in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Werkzeuge innerhalb der feministischen Theorie avanciert ist. Ausgehend von Haraways Verständnis der Diffraktion als spezifischer Modus der Kritik folgt Thiele den theoretischen Pfaden zum ›Agentiellen Realismus‹ der Physikerin Karen Barad sowie zu Rosi Braidottis Verständnis von Figurationen als affirmative Kritik. Thiele zeigt außerdem auf, wie sich grundlegende Momente der Diffraktion mit Theorien von Women* of Color, wie Gloria Anzaldúa, Audre Lorde und Sylvia Wynter, überschnei- den. Sie stellt für diese Feministinnen als grundlegend heraus, dass sie nicht auf Opposition oder Dialektik, nicht auf einem ›gegenüber‹ oder ›dagegen‹ aufbauenden Verständnis von Kritik ausgehen, sondern in ihrem Denken einen fortdauernden Prozess anstoßen. Statt ein Verständnis einfacher Progressivität zu befürworten, werden im Sinne des situierten Spekulierens notwendige Fragen der Nicht-Unschuldigkeit zugelassen. Vor dem Hintergrund kolonialer Gewalt zeigt sich die Relevanz dieses 31 Irigaray: Speculum, S. 400. Erinnert sei an dieser Stelle an Haraways Projekt der Befreiung und Neukonfigurierung der »Vision« aus ihrer okularzentristischen Fokussierung. Vgl. Haraway: »Situiertes Wissen«, S. 82. 18 Naomie Gramlich Konzepts als Parteilichkeit und als Misstrauen gegenüber der eigenen – oft unbewussten und informellen – Machtpolitik.32 Im Neu-, Wieder- und Zusammenlesen von feministischen Texten über ihr jeweiliges Verständnis des Spekulativen zeigen die Beiträge des Bandes, wie sich verschiedene Pfade der feministischen Theorien miteinander verschränken. Wenn sich also feministisches Spekulieren in gewisser Weise durch ein Ineinanderschieben von Vergangenem und Kommendem hervortut, ergeben sich auch für die Historisierung feministischer Theorien andere Zeitlichkeiten. Entgegen der gängigen Rhetorik der sich ablösenden Wellen in feministischen Bewegungen33 steht das Spekulative für Feminismen, die ihre Geschichte nicht in Form des stetig voranschreitenden Zeitpfeils begradigen, sondern vergangene Potenziale mit Problemen der Gegenwart verweben und als veraltet und überholt geltende Feminismen kritisch, aber keineswegs nur oppositi- onell wiederlesen. An den Schnittstellen des Spekulativen bringen die Autor*innen weiße Feminismen mit intersektionalen, künstlerischen und popkulturellen Positionen von Women* of Color und Ökofeminist*innen mit Neuen Materialist*innen zusammen und lesen differenzfeministische Theoretiker*innen in neuen Allianzen. So folgt Annika Haas den imaginativen wie realen Protagonist*innen des literarischen und biografischen Archivs von Hélène Cixous. Im Modus des ›telepathischen Antwortens‹, welches die Schriftstellerin in ihrem Essay Philippines (2009) fast schon nebenbei erwähnt, verkompliziert sich das re-reading ihrer Lektüre primär männlicher, französischer Autoren. Haas spürt in ihrem Essay dem mäandernden Schreiben Cixous’ nach, ihrem Lesen und Rezitieren der ›großen Denker‹ (Proust, Derrida), von deren Schriften Cixous regelmäßig abschweift, denen sie abtrünnig wird und doch wieder zu ihnen zurückkehrt. Sowohl der Kern der Handlung als auch der Ursprung der Proust’schen Romane werden in Cixous’ Wie- derlesen umschifft, um sich von den vermeintlichen Nebenschauplätzen forttragen zu lassen: den Dingen und Orten, mit denen Cixous als Kind in einer antisemitischen Gesellschaft lebend Allianzen schloss. In diesem telepathischen Modus Cixous’ werden nicht nur die Grenzen zwischen Orten, Träumen und Wirklichkeiten porös, auch Vor- und Nachgängigkeit falten sich ineinander, sodass die Originalität der Geschichte gleich auf mehreren Ebenen zur Verhandlung steht. 32 Vgl. auch Mies: »Methodische Postulate zur Frauenforschung.« Diese Fragen reichen in die Debatte der 1980er Jahre um die Standpunkttheorie hinein. Vgl. exemplarisch Haraway: »Situiertes Wissen«. 33 Zur politischen Grammatik des Feminismus und seiner Institutionalisierung vgl. Hem- mings: Why Stories Matter. Feministisches Spekulieren 19 Einen Beitrag zu einer feministischen Begehrens-Genealogie unternimmt Marie-Luise Angerer, die dem Motiv der Löschung von sexueller Differenz nachgeht. Der Bändigung bzw. Löschung sexueller, primär männlicher Triebkräfte folgt der Beitrag in den Romanen Robinson Crusoe (1971) und Limbo (1952) und in dem Science-Fiction-Film Annihilation (2018). Als theoretischer Umbruchsmoment, der das feministische Spekulieren markiert, wird ein Übergang vom reflektierenden Spiegel zum nichtreprä- sentationalistischen ›Schimmer‹ in Annihilation nachgezeichnet: von der Selbstbespiegelung zur Auflösung dieses Selbst in s/einer* Umgebung. Wichtiger gedanklicher Ausgangs- und Endpunkt stellt auch hier Irigarays Textarchiv dar, in welchem eine bislang eher verborgene Affinität von feministischen mit öko-technologischen Setzungen aufgezeigt wird. In ihrer aktuellen Arbeit über menschliches mit pflanzlichem Leben stellt Irigaray die These auf, dass erst ein sexuell aufgeladenes Begehren den Menschen ermöglichen könnte, sich auf ihre ›bedingende Umwelt‹, also Natur und Soziales, einzulassen und somit Verantwortung zu tragen. Spekulieren mit strange bedfellows34 Wenn es jemals artenübergreifende ökologische Gerechtigkeit geben soll, die die Diversität menschlicher Leute einschließt, ist es jetzt höchste Zeit, dass Feminist*innen Vorstellungen, Theorien und Aktionen entwerfen, welche die Verbindung von Genealogie und Verwandtschaft und Spezies auflösen. (UB 141) Nicht nur spielt das feministische Spekulieren schon lange vor dem speculative turn eine Rolle,35 sondern, wie Katerina Kolozova feststellt, auch nachdem dessen Bedeutung nach und nach abklingt.36 So zeichnet sich in den letzten Jahren in feministischen Theoriebewegungen wie dem kritischen Posthumanismus, der feministischen Anthropologie, in Theo- rien um queere Ökologien und den Neuen Materialismen eine breite und vielschichtige Reaktualisierung der Modi des Spekulierens, Imaginierens 34 »Strange bedfellows« nennt z. B. Nancy Tuana Mikroplastik aufgrund seiner Eigenschaft der porös-klebrigen Intimität mit allen Körpern. Vgl. dies.: »Viscous Porosity«. In Octavia E. Butlers Erzählung Xenogenesis verkörpern die extraterrestrischen Oankali, die sich mit den Menschen fortpflanzen, den Inbegriff von »strange bedfellows«. Vgl. ebd. Und nicht nur Organismen und Materialien sind seltsam, auch nichtlineare Zeitlichkeiten im Afro- futurismus, die Rasheedah Philips mittels quantenmechanischer Wirbel, Sprünge und Strudel entwirft, zeigen »›strange‹ behaviors and interactions«. (Ebd.: »Black Quantum Futurism«, S. 15). 35 Die Formulierung ist an Åsberg / Thiele / Tuin: »Speculative Before the Turn« angelehnt. 36 Vgl. Kolozova: »Preface. After the ›Speculative Turn‹«. 20 Naomie Gramlich und Fabulierens ab. Diese Entwicklung ergibt sich zum einen aus der Not- wendigkeit einer Auseinandersetzung mit geologischen und ökologischen Entwicklungen der Gegenwart wie Artensterben, Überbevölkerung oder Ozeanversauerung, Ausbreitung von Wüsten – um nur einige Beispiele der »intrusion of Gaia« (Stengers) zu nennen. Zum anderen resultieren sie aus der kritischen Beschäftigung mit der planetarischen Zäsur, die im Anthropozän einen nicht unproblematischen Namen gefunden hat, jenem neuen geologischen Zeitalter, das ›den Menschen‹ und ›seine‹ Techniken der Industrialisierung als gegenwärtigen geophysikalischen Haupteinfluss auf die Erde benennt. In aktuellen Debatten um das Anthropozän steht oftmals ein apokalyptisches Denken im Zentrum, das entweder auf die simplizistische Rettung durch den ›Technofix‹ setzt (Solarenergie, Elektro- mobilität, Geoengineering etc.) oder eine konservative und /oder rechte Abschottungspolitik durch Mauern und Stacheldraht, in Bunkern und klimatisierten SUV, auf Inseln und anderen Planeten vorantreibt. Dagegen steht eine Reihe feministischer Denker*innen, die für das Überleben in den gegenwärtigen Krisen andere Existenzmodi vorschlagen: Eva Hayward, Mel Y. Chen, Elizabeth A. Povinelli, Astrida Neimanis, María Puig de la Bella Casa, Thom Van Dooren oder Vinciane Despret nutzen – um es in Haraways Worten zu sagen – Theorie als »Symfiktion, [das] Genre für Sympoiesis und Symchthonia« (UB 189). Statt Apokalypse und Abschot- tung, die der Logik der Autopoiesis folgen (das, was denkt, ohne Zutun anderer existieren zu können), wird die Notwendigkeit sympoietischer Beziehungen, eines ›Machens-mit‹ unterstrichen. Wer den Begriff des Anthropozäns ernst nehmen will – das macht Anna Lowenhaupt Tsing deutlich –, muss sich mit Globalgeschichte und folglich mit Kolonialismus und Imperialismus auseinandersetzen. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht ihr Interesse für die Beziehungen zwischen den sogenannten »Replikationsmaschinen« – also vereinfachten Ökologien, wie z. B. Plantagen – und den lokalen Geschichten, in denen solche Maschinen in all ihrer Eigenheit und Unkontrollierbarkeit zum Ausbruch kommen. Derlei Ausbrüche versteht Tsing als Manifestationen des Konzepts des modernen Menschen, eben jenes Menschen, der zu dem Dilemma geführt hat, das den Namen ›Anthropozän‹ trägt. Statt bei der vereinheitlichten Kontinuität des Menschen anzusetzen, untersucht Tsing die uneinheitliche, gebrochene Vorstellung in bruchstückhaften Landschaften. Werden durch die Narration des Anthropozäns Sympoi- esis-Geschichten gekappt und Umgebungen, Menschen und Dinge mit der Eigenschaft ausgestattet, für sich allein zu stehen, als ob die Ver- flechtungen des Lebens keine Rolle spielen würden, geht es ihr darum, die Relationen innerhalb dieser »Ökologien der Entfremdung« wieder Feministisches Spekulieren 21 hervorzuholen. Ihre methodische Herangehensweise verortet sie in der feministischen Anthropologie Marilyn Stratherns (vgl. MEW 134). Um das Anthropozän als das, was es ist, ein »sowohl-als-auch«-Problem, wie Tsing es nennt, zu akzeptieren, hält sie im Strathern’schen Sinne der Beharrlichkeit daran fest, Perspektiven nicht zu entflechten, sondern sie vielmehr einzusetzen, um deren Widersprüche aufzuzeigen. Die Motive und Schauplätze, mit denen sie die Verbindungen wieder denkt, sind ethno- grafische Multispezies-Geschichten, in denen die eingewobenen Fäden von Kolonialismus, Gender und nationaler Identität freigelegt werden. Julia Grillmayrs Beitrag setzt in anderer Weise bei der Frage nach Multispezies-Geschichten an, um – von einer ökofeministischen und neomaterialistischen Lektüre ausgehend – aktuelle feministische Science- Fiction-Romane mit Klassikern von Margaret Atwood und Susan Griffin gegenzulesen. In Anbetracht der omniversalen Aneignung von Land und dessen nichtmenschlichen und menschlichen Bewohner*innen durch geologische Exploration, neokoloniales Land Grabbing und Vermüllung, schlägt Grillmayr mit Stacy Alaimo eine Umdeutung des Begriffs ›Wildnis‹ im Sinne von Transkorporalität vor, die von einer interaktiven Agenzialität in / zwischen Mensch und Umgebungen ausgeht – wobei diese Unter- scheidung damit obsolet wird. Die anhand des re-aktualisierten Konzepts von Wildnis besprochenen Romane werden als Übungen vorgestellt, sich in den zunehmend unwegsamen Terrains des Anthropozäns aufzuhalten. SF – so ließe sich bei dem Zusammendenken von Erzählungen und Realität anmerken – ist wahr geworden, wie auch Tsing schreibt: »[I] nterspecies entanglements that once seemed the stuff of fables are now materials for serious discussion among biologists and ecologists, who show how life requires the interplay of many kinds of beings.« (MEW xii f.) Spekulieren ist keine Trockenübung des menschlichen Gehirns, um sich für eine weit entfernte Zukunft zu wappnen, sondern sprachlich- materielle Assemblage mit, durch und in Körpern. Zur Veranschaulichung: In der sogenannten Plastisphäre, der von Biolog*innen erforschten neuen Meereswelt, welche aus der bakteriellen Besiedelung auf ozeanischem Nano- und Mikroplastik entstanden ist, zeigen sich »die spekulativen Aspekte von Organismen […], ihre Fähigkeit, sich nicht einfach am Leben zu erhalten, sondern ihre Umgebung umzu- wandeln und in diesem Prozess ein anderer Organismus zu werden«.37 Am Beispiel von Nano- und Mikroplastik, das auf kontraintuitive Weise neues Leben ermöglicht und nicht nur bestehendes Leben vernichtet, zeigt sich also Spekulation, wie Jennifer Gabrys es formuliert, nicht primär als 37 Gabrys: »Spekulationen über Organismen in der Plastisphäre«, S. 57. 22 Naomie Gramlich Vermögen des menschlichen Geistes, sondern als Eigenschaft der sich mit ihren Milieus verändernden Körper, als eine von mehreren Akteur*innen geteilte Tendenz, die sich in besonderen Entitäten konzentriert oder eng mit diesen verwachsen ist und sich in bestimmten Momenten vollzieht.38 Die Arbeiten von Gabrys, aber auch die von Myra J. Hird und Kathryn Yusoff, die zwischen Umwelt, Geologie und Kultur angesiedelt sind, zeugen vom feministischen Spekulieren mit. Die Mutationen von Bakte- rienkulturen mit Plastik können als »material speculation that generates new forms of life« gesehen werden. »[S]peculative thought is sufficiently engaged with matter’s own speculative capacities.«39 In ähnlicher Weise wie Mikroplastik als unfreiwilliger »Östro- Feminisierer«40 binäre Vorstellungen und Körper materiell-semiotisch ver-que(e)rt, widmet sich auch Georg Dickmanns Beitrag einem Hormon, nämlich Testosteron, dem stofflichen Begleiter von Paul B. Preciados Selbst-Intoxikation. In seiner Lektüre von Preciados Testo Junkie (2016), einem hybriden Text aus Theorie und Selbstbeobachtung, folgt Dickmann zwei Spuren: In Anbindung an theoretische Versatzstücke von Gilles Deleuze und Jane Bennett geht es um die Rekonfigurierungen biopoliti- scher Subjektivierungsweisen auf stofflich-molekularer Ebene. Möglichen Technoimaginationen diesseits pharmapornografisch hervorgebrachter und regierter Subjekte folgend, fragt Dickmann anschließend nach Preciados Aufbegehren durch das materielle Spekulationsvermögen der Körper: dem chemisch-prothetischen Körper und dem textuellen Körper. Werden die technologischen Herausforderungen bei Dickmann in Bezug auf Geschlecht und Reproduktion befragt, spielen sie bei Martina Leeker in ihrer Bedeutung für digitale Kulturen eine Rolle. In ihrem Beitrag zeichnet sie nach, wie digitale Kulturen mit maschinischer Spekulation operieren. Deren Ubiquität und Pervasivität reichen in eine Vergangen- heit, deren patriarchale, rassistische und heteronormative Bestände zum Ausgangspunkt für heutiges Big Data und Data Mining dienen. Darüber hinaus operieren sie auch in Richtung einer Zukunft, deren Unvorher- sehbarkeit und Störanfälligkeit durch das Prinzip der Resilienz antizipiert und durch lern- und anpassungsfähige Algorithmen behoben werden 38 Ebd., S. 61. 39 Hird / Yusoff: »Subtending Relations«, S. 322. Auch Tsing schreibt: »Spores take off toward unknown destinations, mate across types, and, at least occasionally, give rise to new organisms – a beginning for new kinds. […] In thinking about science, spores model open-ended communication and excess: the pleasures of speculation.« (MEW 227 f.) 40 Diesen Begriff verwendet Mary Maggic in ihrer spekulativen, queeren Videoarbeit House- wives Making Drugs (2017) und meint damit einen Bio-Hacker, der als Küchengerät für Transgender* ansonsten verschreibungspflichtige Östrogenpräperate herstellt. Für die queeren Zukünfte des Plastiks vgl. Heather: »Toxic Progeny«. Feministisches Spekulieren 23 sollen. Leeker schlägt vor, dass gegenhegemoniale Spekulationen aus Kunst und / oder Feminismus an der Unsichtbarkeit der maschinischen Spekulation ansetzen, wofür sie die Performance der Kunstfigur Norma C. vorstellt: In die Glieder der nichtbewussten und dauerlatenten Ma- schinenspekulationen fährt ein gewaltiger Schreck, wenn Norma C. die Schalter ihres »bodenständig-hysterischen Alarmismus« umlegt und ihr akutes SOS-Programm abspielt, das darauf drängt, den Ernst der Lage zu erkennen und Verantwortbarkeiten zu adressieren. Im Beitrag wird deutlich, dass es sich bei einem feministischen Spekulieren um ein situ- iertes Spekulieren handeln muss. Statt um Holismus oder Transparenz geht es um Spezifik und Nähe (vgl. UB 237).41 Friederike Nastold nimmt in ihrem Beitrag Haraways Aufforderung, »we need a whole kinship system of figurations as critical figures«,42 ernst, indem sie mit der Videoarbeit Between the Waves (2012) der Künstlerin Tejal Shah eine außerbiologische Verwandtschaft zwischen den feminis- tischen Denkfiguren der Haraway’schen Cyborg und der Irigaray’schen Göttin vorschlägt. Shahs queere Ökologien sind bevölkert von humanimals, die öko-sexuelle, technologische und wissenschaftliche Verkörperungen, aber vor allem spirituelle Assemblagen sind, die nicht nur den westlichen Glauben an monothetische Gottheiten, sondern auch den Säkularismus weißer Feminist*innen in Zweifel ziehen. Wenn »›Werden‹ […] eine sehr ärgerliche Abkürzung oder Verarmung oder Entleerung von ›Werden mit‹« (SF 18, FN 6) ist, wie Haraway schreibt, dann sollten auch die nicht-nur-irdischen Teile dieses Kollektivs stärkere Beachtung finden, wie dieser Beitrag deutlich macht. Fabulieren mit de-/postkolonialen Zeitlichkeiten I do know that the bodies that we inhabit now are corpses of the human- ist narrative. […] We inhabit these bags of muscle and fat and bones that are utilized in humanist narrative to demonstrate the incremental ethical development of a certain subject whom is not we.43 Wie bereits durch die ungewissen Langzeitfolgen des technologischen Nachlebens von z. B. Mikroplastik deutlich wird, spielen Fragen von Zeitlichkeiten im feministischen Spekulieren eine zentrale Rolle. Dabei 41 Vgl. auch Sehgal: Eine situierte Metaphysik; Debaise / Stengers: »The Insistence of Pos- sibles«, S. 18. 42 Haraway / Lykke: »Cyborgs, Coytotes, and Dogs«, S. 327. 43 Brand: »An Ars Poetica from the Blue Clerk«, S. 71. 24 Naomie Gramlich geht es insbesondere um Zeitlichkeiten in ihren offenen, dekolonialen Ausrichtungen. Diese reagieren, wie Isabelle Stengers schreibt, darauf, dass sich ein autoritäres Management von Gesellschaften etabliert hat, das auf Margaret Thatchers Diktum »There Is No Alternative« basiert. Stengers zieht zusammen mit Didier Debaise den Schluss: »Perhaps this life in the ruins calls for the apparent unnatural marriage of the specula- tive, open to the insistence of the possibles, and of the pragmatic, as the art of response-ability.«44 Das eindringliche Sprechen darüber, die Tür nur einen Spalt auf eine nicht vom Jetzt und Hier abgeleitete Zukunft zu öffnen, die eine feministische und antikoloniale ist, führt weg vom durch das moderne Wissenschaftsparadigma konstituierten Wahrscheinlichen zu einem Möglichen. Das Spekulative im Sinne des Möglichen zu ver- stehen, bedeutet, sich der Geschichte zu widersetzen: »Such a tale has immensely simplified the working of the machine where it could be seen as ›progressive‹ not imperialist.«45 Dass im Anthropozän die konstitutive Verbindung zu Kolonialgeschichte und Imperialismus in den letzten Jahren immer stärker verhandelt und die daraus resultierenden Fragen nach Verantwortbarkeit zu einer zwin- genden Notwendigkeit werden, thematisiert Naomie Gramlich in ihrem Beitrag zur kolonialen Aphasie des Anthropozäns am Science-Fiction Film Annihilation.46 Der Beitrag geht einer der möglichen Ursachen der im Film inszenierten Strahlung nach, die auf die HeLA-Zellen hindeuten – Krebszellen, die im Jahr 1951 der Afroamerikanerin Henrietta Lacks ohne ihre Einwilligung entnommen wurden. Durch diese Lesart, die an den stummen Rändern des Films, den Überschneidungen von Kolonialismus und postsklavischem Rassismus mit den bio- und geomorphologischen Umschreibungen im Anthropozän folgt, wird deutlich, dass das spekulativ- sympoietische Vermögen der Körper nicht unabhängig von Fragen nach Geschlecht, race und Klasse ist. Wenn sich koloniale Herrschaft nicht nur Körper und Boden bemächtigt, sondern auch in der Vorherrschaft über Fragen von Zeitlichkeiten zum Ausdruck kommt, wie z. B. »Wer erzählt die Geschichte?« oder »Wem gehört die Zukunft ?«, dann sind Vorstellungen von de-/post-kolonialen Zeiten wichtiger denn je. Nach spekulativen Zeitlichkeiten zu fragen, ist jedoch keine unbedingt neue Entwicklung: Bei lesbischen, afrofeministi- 44 Stengers / Debaise: »The Insistence of Possibles«, S. 19. 45 Stengers: »The Challenge of Ontological Politics«, S. 87. 46 Kathryn Yusoff schlägt in ihrer gleichnamigen Publikation vor, von A Billion Black Anthro- pocenes or None (2018) zu sprechen, um den Zusammenhang von Rassismus, Extraktion und Industrialisierung, welche oft als Ursprung des Anthropozäns genannt werden, besonders aus einer geologischen Perspektive zu markieren. Vgl. dies. Feministisches Spekulieren 25 schen Auseinandersetzungen wie beispielsweise dem Film The Watermelon Woman (1996) von Cheryl Dunye geht es um eine Beschäftigung mit Materialien aus dem nachkolonialen Archiv der westlichen Filmindustrie, um deren vergeschlechtlichte und rassifizierte Setzungen herauszuarbei- ten. Darauf, dass Schwarze lesbische Frauen und ihre Erzählungen in der frühen (Film-)Geschichte weder dokumentiert noch archiviert sind, reagiert Dunye, indem sie in ihrem Film eine eigene Geschichte fabu- liert. Spekulative, feministische Gegenerinnerungen wie diese zeigen die Leerstellen und Eindimensionalität herrschender Narrative auf. Laura Moisis Beitrag beschäftigt sich mit Saidiya Hartman, einer der zentralen Theoretiker*innen der historischen Spekulation. Hartman nimmt sich mit ihrer Methode der kritischen Fabulation der Frage an, was es bedeutet, wenn das Material für die Gegenerinnerung schlichtweg nicht existiert. An den Rändern des Unaussprechbaren und dem Nichtbekann- ten der weißen US-amerikanischen Sklav*innenarchive fragt Hartman danach, wie sich afrikanische Menschen bei ihrer Verschleppung gefühlt und wie sie sich gewehrt haben. Die Rekonstruktion der Geschichte von ›Venus‹, die stellvertretend für Millionen junger Frauen steht, die auf den Sklav*innenschiffen vergewaltigt und ermordet wurden, stellt sich als unmöglich heraus.47 Moisi macht in ihrem Text deutlich, dass Hartmans erzählerische Experimente den Toten keine Stimme zurückgeben wollen, sondern vielmehr denjenigen, die in der Gegenwart mit den Folgen der Versklavung leben. Leerstellen in Archiven lassen sich nicht einfach mit Geschichten füllen, da sie damit auch Gefahr laufen, diese zu schließen. In Hartmans Methode, nur Momente herauszuschälen, um sie dann wieder zu verwerfen, wird die Unvereinbarkeit zwischen der Erfahrung der Versklavten und den Geschichten aus den Kolonialarchiven nicht nur deutlich, sondern zwingt zum Aushalten dieser Spannung. Hartmans kritische Fabulation weist eine Nähe zur künstlerischen Bewegung des Afrofuturismus auf. Dieser Sammelbegriff wird gewöhnlich in der afroamerikanischen Populären Kultur der 1960er Jahre angesiedelt, wobei in den letzten Jahren vermehrt darauf Bezug genommen wird, z. B. durch Rasheedah Phillips, Tavia Nyong’o, Ytasha Womack, Kara Keeling oder Tim Stüttgen. Verhandelt werden im Afrofuturismus insbesonde- re Schwarze bzw. afrodiasporische Erfahrungen mit Modalitäten des Science-Fiction, Speculative Fiction, Fantasie, Horror, afrikanische und afrodiasporische Praktiken, Mythologien, Legenden und Verbindungen 47 Vgl. Hartman: »Venus in Two Acts«. Vgl. auch dies.: Lose Your Mother. 26 Naomie Gramlich zwischen race, Wissenschaft und Technologie.48 Dabei lässt sich eine Verschiebung von Gegenerinnerungen zu Gegenzukünften feststellen: Kodwo Eshun argumentierte bereits 2002, dass sich in der afrofutu- ristischen Theorie und Kunst Spekulationen von ihrer retrospektiven Ausrichtung auch vermehrt hin zu ihrer proleptischen Form entwickeln, wofür er den Begriff der Gegenzukünfte vorschlägt (vgl. FCA 288). In Anbetracht der Industrien und ihrer Technologien, die ihre Macht aus der Kontrolle über die Zukünfte beziehen, erscheint die Wiederaneignung von Gegenzukünften besonders herausgefordert zu sein. Mithilfe von Kara Keelings Abhandlung Queer Times, Black Futures (2019) verlagert Katrin Köppert das Gegen aus den Gegenzukünften in das Jetzt und Hier der Gegenwart. In einer Art »vernakulärer Archäologie der Gegenwart« untersucht Köppert drei Musikvideos von Janelle Monáe, Manthe Ribane und Sevdaliza ausgehend vom Motiv der Vulva bzw. der Höhle. Obwohl das gewaltvolle Nachleben der Sklaverei, die »corpses of the humanist narrative«,49 wie Dionne Brand sie nennt, immer noch anwesend sind, zeigen sich die verpassten Möglichkeiten und das in der Vergangenheit nicht realisierte emanzipatorische Potenzial in den vernakulären Fabu- lationen der Gegenwart. Mittels einzelner Motive aus den Musikvideos folgt Köppert der jahrhundertelangen imperialen Aneignung und den vereitelten Erzählungen und Re-Visionen queerfeministischer Women* of Color. Dabei geht es nicht nur um ein Durchkreuzen des Pfades ent- lang der »racial line«, sondern aus queerer Schwarzer Perspektive auch darum, der heteronormativen Matrix und ihrer zweigeschlechtlichen Reproduktionstechnologie zu entgehen.50 Tavia Nyong’o spricht von einem Übergang von »reparative reading to fabulationality«51 und fragt damit nach dem »wiedergutmachenden« 48 Es geht dabei nicht nur um die Befreiung Schwarzer Menschen in der Gegenwart und der Zukunft mittels einer emanzipatorischen Repräsentationspolitik, sondern auch um dekolonisierte Narrative und das Aufdecken von unsichtbaren Geschichten. Vgl. z. B. Womack: Afrofuturism. In Gestalt eines speculative storytelling finden Afrofuturismen be- sonders in der Gegenwartskunst ein Aushandlungsfeld: Das vom Künsterinnen*-Kollektiv Hyphen-Labs entworfene VR-Projekt NeuroSpeculative AfroFeminism (2017) testet mittels fabulierter Technologien Zukünfte für Schwarze Frauen*. Tabita Rezaire spekuliert in ihren Post-Internet-Videoarbeiten, z. B. Premium Connect (2017) über Zusammenhänge von binären Codes und Protokollen der Yoruba-Wahrsagesysteme. Dabei geht es nicht nur um Zukünfte aus afrodiasporischer Sicht, sondern generell aus Perspektiven, die in weißen Futurologien keinen Platz finden. So reproduziert z. B. Morehshin Allahyari in ihrer Arbeit Material Speculation: ISIS (2015–2016) mittels 3D-Drucker zwölf Artefakte aus den irakischen Städten Hatra und Ninive, die im Jahr 2015 durch IS-Attentate zerstört wurden. 49 Brand: »An Ars Poetica from the Blue Clerk«, S. 71. 50 Vgl. zum Thema der queeren Zeiten auch Esteban Muñoz: Cruising Utopia. 51 Nyong’o: Afro-Fabulations, S. 12−21. Feministisches Spekulieren 27 Charakter von Spekulieren und Fabulieren. Die hierfür ausstehende Plu- ralisierung der Positionen, Geschichten, Zeiten, Zukünfte, Sinne und Orte ist dabei kein Beiwerk, sondern notwendige Voraussetzung dafür, aus der Enge des apokalyptischen und eindimensionalen, wahrscheinlichen Hier und Jetzt zu entkommen. Die »Eine-Welt-Welt«, wie es Marisol de la Cadena und Mario Blaser nennen, hat sich das Recht eingeräumt, alle anderen Welten und deren Geschichten zu assimilieren, sich als exklusiv zu präsentieren und die Möglichkeiten für das, was diesseits ihrer Grenzen liegt, aufzuheben.52 Im Unterschied zu dieser Einen-Welt-Welt und ihrer Geschichte, die rasch zu Ende erzählt ist, zeigen sich in Allianzen, die als und durch das feministische Spekulieren entstehen, Mikrovisionen. Siglenverzeichnis IoP = Stengers, Isabelle / Debaise, Didier: »The Insistence of Possibles. Towards a Speculative Pragma- tism«, in: Multitudes 65 (2016), H. 4, S. 82–89. MEW = Tsing, Anna Lowenhaupt: The Mushroom at the End of the World. 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Relationalität, Diffraktion und die Frage ihrer ›Nicht-Unschuldigkeit‹1 K at h r i N t h i e l e Figurieren als spekulativ-kritisches Werkzeug für eine andere Vorstel- lung von Welt ist eine der fundamentalen feministischen Interventionen, wenn es um das Entwickeln einer onto-epistemologischen Methodologie innerhalb feministischer Forschungspraxis geht.2 Als Teil der Genealogie einer der zentralen Metaphern für ein Welt-Anders-Denken bzw. Welt- Anders-Praktizieren ist diese für mich insbesondere mit zwei feministischen Denkerinnen verknüpft: Donna Haraway (feministische Techno-Science) und Rosi Braidotti (feministische Philosophie), die sich beide seit den 1980er Jahren mit dem Konzept der Figuration auseinandersetzen und sich auch gegenseitig in dem ständigen Nachdenken darüber beein- flusst haben, welche Rolle Figuren für Denken und Leben spielen. Ich möchte in diesem Text dieser Genealogie in Bezug auf Methodologie und Konzeptualisierung nachgehen, indem ich die Arbeiten der beiden Denkerinnen genauer in den Blick nehme: Die Cyborg kann als eine der frühesten spekulativen Figuren verstanden werden, mit denen Haraway denkt. Sie führt sie 1985 in ihrem Cyborg Manifesto ein und ergänzt sie später durch andere Figuren, wie z. B. den Trickster, das Monster, die Onkomaus, companion species und Camille.3 Diese spekulative kritische Art der Bedeutungsproduktion durch Figurieren wurde von Rosi Brai- 1 Dieser Text ist eine ins Deutsche übersetzte Variation des Textes, der in How to Relate. Wissen der Künste und relationale Praktiken (Wilhelm Fink Verlag 2020) erscheinen wird. 2 Dieser Text macht es sich zur Aufgabe, die hier gewählte Formulierung von Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis gerade auch im Hinblick auf die Frage, was als kritisch oder als Kritik verstanden werden kann, genauer zu beleuchten. Ich muss somit den*die* Leser*in an dieser Stelle zunächst vertrösten, wenn es um die Klärung der Frage geht, auf was genau ich mit ›spekulativ-kritisch‹ anspiele. Um aber den richtigen Ton zu setzen, möchte ich an dieser Stelle auf meine vorangehenden Arbeiten zu ›affirmativer Kritik‹ aufmerksam machen (im Unterschied zur eher negativ ausgerichteten kritischen Tradition der Frankfurter Schule), da nur so von Beginn an besser einzuordnen ist, wie ich mich selbst als feministische, kritische Theoretikerin verorte. Zum ›Gegen / Stand von Kritik‹ vgl. Thiele: »Ende der Kritik?«; zur Frage von Kritik und Affirmation vgl. Bunz / Kaiser / Thiele: Symptoms of the Planetary Condition. 3 Vgl. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. Nachweise im Folgenden mit Sigle SCW und Angabe der Seitenzahl direkt im Text; Haraway: When Species Meet; Haraway: Mo- dest_Witness. Nachweise im Folgenden mit Sigle MW und Angabe der Seitenzahl direkt im Text; Haraway: Staying with the Trouble. Nachweise im Folgenden mit Sigle SwT und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 44 Kathrin Thiele dotti aufgegriffen. In Nomadic Subjects (1994) bezieht sie sich bereits auf Haraway und formuliert ihre Aufgabe, eine andere – nomadische – Subjektivität zu denken, ausdrücklich auf der Basis von (Re-)Figurieren. Sie sieht Figuration als Methode, bei der, wie sie schreibt, »feminist forms of knowledge […] are not caught up in a mimetic relationship to dominant scientific discourses«.4 Auf diese frühen Beschreibungen werde ich gleich noch einmal zurückkommen. Zuerst aber möchte ich die genealogische Darstellung des Konzeptes selbst weiterführen. 2004 denkt Haraway erneut über die Rolle nach, die feministische Figura- tion in ihrer Arbeit gespielt hat und noch immer spielt. Den Haraway Reader (2004) leitet sie mit Überlegungen zu den von ihr so genannten Spezies-übergreifenden SF-Figurationen ein, die sich für verschiedene feministische Diskurse als höchst ›ansteckend‹ erwiesen haben. Daran anschließend geht sie genauer auf das Denken mit und als Figuration ein. Im Folgenden möchte ich einen der relevanten Textteile in voller Länge zitieren, da hier etwas sehr Wichtiges über die Funktion von Figuren und Figurieren als feministische Praxis ausgesagt wird: Figures collect up hopes and fears and show possibilities and dangers. Both imaginary and material, figures root people in stories and link them to his- tories. Stories are always more generous, more capacious, than ideologies; in that fact is one of my strongest hopes. I want to know how to inhabit histories and stories rather than deny them. I want to know how critically to live both inherited and novel kinships, in a spirit of neither condemnation nor celebra- tion. I want to know how to help build ongoing stories rather than histories that end. In that sense, my kinships are about keeping the lineages going, even while defamiliarizing their members and turning lines into webs, trees into esplanades and pedigrees into affinity groups.5 Bevor ich näher auf diese Spezifizierung von Figuration und vor allem auf das spezifische spekulativ-kritische Vermögen des mit und in Figuren Denkens eingehen werde, kehre ich noch einmal zu Braidotti zurück. Diese erläutert in der Neuauflage von Nomadic Subjects (2011) einmal mehr, wie wichtig Figurieren als kritisches und transformatives Werk- zeug für ihre feministische Forschung und Praxis ist. Braidotti macht im Vorwort dieser Neuausgabe deutlich, dass Figurieren nicht einfach als figurativer Weg des Denkens verstanden werden kann; sondern, wie sie gleich im Anschluss klarstellt, als ein »materialistic mapping of 4 Vgl. Braidotti: Nomadic Subjects (1994), S. 75. Nachweise im Folgenden mit Sigle NS1 und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 5 Haraway: The Haraway Reader, S. 1. Nachweise im Folgenden mit Sigle HR und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 45 situated, embedded and embodied, social positions«.6 Im Unterkapitel Against Metaphor spricht sie sich für Figuration als explizit kritisches, feministisches Werkzeug aus: [T]he point is finding adequate representations for the sort of subjects we are in the process of becoming […]. Nonlinearity and a nonunitary vision of the subject do not necessarily result in either cognitive or moral relativism. […] I rather see nomadic subjectivity as both an analytical tool and a creative project aimed at a qualitative shift of consciousness that is attuned to the spirit of our age. The ultimate purpose is to compose significant sites for reconfiguring modes of belonging and political practice. (NS2 11) Mit Blick auf die bis hierhin vorgestellten Argumente der beiden Den- kerinnen für einen kritischen und transformativen – sprich feministisch spekulativen – Zugang zum Denken als Figuration,7 können wir Folgendes zusammenfassen: Figurieren, d. h. Denken in und mit Figuren, hat, laut Braidotti, das Vermögen, uns aus mimetischen Beziehungen herauszuholen (vgl. NS1 75). Anstatt anzunehmen, dass Wissen lediglich eine gegebene Welt widerspiegelt (Logik der Repräsentation), ist Figurieren kreativ, d. h. Figuren erschaffen selbst etwas. Sie sind, wie Braidotti schreibt, »materialistic mappings« (NS2 4) und müssen daher als Praktiken des worlding (Haraway) verstanden werden. Die Figuration des Denken-mit oder das, was Figuren erfahrbar machen, kann aber Haraway zufolge sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren bedeuten (vgl. HR 1). Figuren sind nicht per se gut. Sie sind viel eher dafür gedacht, ein konkretes Problem affektiv aufzuzeigen: Sie sind materiell-semiotische Verbin- dungen, die helfen können, die Welt oder zumindest einen Teil davon, anders wahrzunehmen. Figuren haben großzügigere und geräumigere (capacious) Bedeutungen als Ideologien, und vor allem adressieren sie die Frage des ›wie‹, oder besser noch, des ›wie etwas tun‹. Das bedeutet, dass sich Figurieren als spekulativ-kritische feministische Methodologie trotz der Bedeutung, welche Figuren ausgewählt werden, viel eher mit den strukturellen Wie-Dimensionen auseinandersetzt. Letztere sind Teil jenes komplexen Prozesses, den ich als materiell-semiotisches wor(l) ding fas- sen möchte: »how to inhabit […] critically live […] keep ongoing« (HR 1). 6 Braidotti: Nomadic Subjects (2011), S. 4. Nachweise im Folgenden mit Sigle NS2 und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 7 Mehr zu meinem Verständnis von Spekulation kann auch in Åsberg / Thiele / van der Tuin: »Speculative Before the Turn« nachgelesen werden, in der wir Folgendes festhalten: »The question of the speculative and the methodology of speculation act therefore at the very core of feminism: feminism (in such strong sense) must open a terrain, from which it then jumps or leaps into the future, and from which – we would want to go that far – a different future becomes thinkable / imaginable, one in which responsibility, justice and equality play a major role.« (S. 154) 46 Kathrin Thiele Im figurierenden Denken geht es also zuallererst nicht darum, die kon- kreten Probleme oder anstehenden Fragen schlicht durch eine Lösung aufzuheben – in Haraways Verständnis also Geschichten zu beenden. Vielmehr können uns Figuren dazu einladen, uns mit etwas unvertraut zu machen, das wir als selbstverständlich annehmen. Damit ›queeren‹ sie unsere Sinne und schlagen andere Arten des Sehens, Denkens und Handelns vor. Figuration im Sinne spekulativ-kritischer Denk-Praxis kann somit als eine feministische Strategie verstanden werden, andere Formen von Subjektivität zuzulassen. Das bedeutet auch, dass Denken mit und als Figuration sich nicht einfach nur auf eine andere Rhetorik (im Sinne von ›bloßen Worten‹) bezieht: Der Titel Against Metaphor in Braidottis Einleitung macht dies unmissverständlich deutlich.8 Wenn Figuration und das Schaffen von Figuren aber dennoch als ›Metaphern‹ begriffen werden – und wir werden nicht darum herum kommen, da es sich bei ihnen doch vor allem um textuelle Figuren handelt –, dann müssen sie auf eine materialistische Art verstanden werden, wie sowohl Braidotti als auch Haraway nicht müde werden zu betonen. Figurieren ist materiell-semiotisches wor(l)ding.9 Als buchstäbliche weltliche Praktik nehmen Figuren in Körpern Gestalt an.10 Braidotti beschreibt Figuration auf dieselbe Weise als ein »analytical tool and a creative project aimed at a qualitative shift of consciousness«, das sedimentierte »modes of belonging« und die hegemoniale »political practice« (NS2 11) zu rekon- figurieren sucht. Dies kann nur als verkörpertes und materialistisches Projekt sinnvoll funktionieren. 8 Allerdings hat die Metapher bei Haraway eine viel stärkere materielle Qualität, als Braidotti dem Konzept zutrauen würde. In When Species Meet (2008) schreibt Haraway über ihren materiell-semiotischen Zugang zur ›Metapher‹: »Raised a Roman Catholic, I grew up knowing that the Real Presence was present under both ›species‹, the visible form of the bread and the wine. Sign and flesh, sight and food, never came apart for me again after seeing and eating that hearty meal. Secular semiotics never nourished as well or caused as much indigestion.« (Ebd., S. 18) 9 Zu einer weiteren Ausarbeitung der Frage wie ›Denken‹ und ›Theorie‹ als worlding begriffen werden kann vgl. auch Thiele: »Theorizing Is Worlding«. 10 An dieser Stelle ist es wichtig klarzustellen, dass ich aufgrund des speziellen Fokus, den ich hier setze – Figurieren als spekulativ-kritische feministische Methodologie – hier nur den Genealogien des Figurationskonzeptes bei Braidotti und Haraway folge. Ich möchte aber hervorheben, dass andere – insbesondere von Seiten Schwarzer feministischer Den- kerinnen und / oder Queer of Color-Denkerinnen* – Einflüsse von großer Bedeutung für die Entwicklung von Figurieren als spekulative Praxis waren: die transformativ-poetischen Stile von Audre Lorde und Gloria Anzaldúa oder das Denken von Hortense Spillers: »Mama’s Baby, Papa’s Maybe«. Weiter müssen in diesem Kontext Haraways spekulatives Denken-mit feministischer Science-Fiction und Octavia Butlers afrofuturistischen Werke hervorgehoben werden. Vgl. z. B. Butler: Lilith’s Brood. Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 47 Ich hoffe, es ist mir bis hierher gelungen, das kritische Potenzial von Figurieren als feministische Praktik herauszustellen. Es geht mir darum, deutlich zu machen, warum das Verbinden von Figuration und Kritik von so großer Bedeutung für feministische Auseinandersetzungen ist, um in sozio-politische Praxis zu intervenieren und andere wor(l)ding-Praktiken zu (er-)finden. Was ich hier in aller Kürze versucht habe aufzuzeigen, sind einige Ansätze, die als feministische Methodologie für das Herstellen von immanenten (earthly) Beziehungsformen genutzt werden können. Spekulativ-kritischem Figurieren geht es um eine andere als die hegemo- niale Beziehung zwischen Worten und Dingen – d. h. zwischen wording und worlding. Figuren können für relationale Denkformen genutzt werden, die nicht auf der kategorialen, repräsentationalen11 Trennung zwischen Materialität, Worten und Welten basieren. Figurieren als Denk-Werkzeug hat damit eine konstituierende Funktion und keine reflektierende. Figuren suchen Einfluss auf die Welt zu nehmen, sie intervenieren, indem sie sich in die Narrative einbringen und darin partizipieren, anstatt aus der Perspektive eines Außen zu sprechen. Bevor ich mich nun dem kritischen Potenzial von Figuration genauer zuwende, möchte ich sie in einem letz- ten Schritt mit Gilles Deleuzes Denken in Zusammenhang bringen. In seinem Buch über Francis Bacon, Die Logik der Sensation (1981), geht es Deleuze nämlich genau darum, einen Unterschied aufzuzeigen zwischen dem, was in der Malerei als das Figurative zu verstehen ist und der von Bacon spezifisch genutzten Praxis des Figurierens. Als eines von Bacons »pikturalen Elemente[n]«12 hebt Deleuze das wesentliche Element des Doppelns hervor, also die dynamische Bewegung, die zum Figurieren gehört: eine nicht-repräsentationale Bewegung zwischen »der materiel- 11 Ich benutze diesen Begriff anstelle von »repräsentationalistisch« (representationalist). Die Endung »istisch« wird im negativen Sinne verwendet und verweist auf ein ideologisches Unterfangen. Mein Ziel hier ist es jedoch aufzuzeigen, auf welche unterschiedlichen Arten Wörter und Welten miteinander verbunden sind. Ich tue dies in Übereinstimmung mit dem Deleuzianischen Argument für ein anderes Bild des Denkens. Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung. Und ich möchte vor zu vereinfachenden Beschreibungen eines sogenannten ›Repräsentionalismus‹ warnen. Diese kommen besonders häufig in object-oriented ontology- Diskussionen vor (mehr zur Adressierung dieses Problems vgl. Åsberg / Thiele / van der Tuin: »Speculative Before the Turn«), bei denen strukturelle Probleme der Repräsentation schlicht und einfach vernachlässigt werden (hier denke ich z. B. an Spivaks Diskussion der Problematik in »Can the Subaltern Speak?« (ebd.)), so als hätten wir diese bereits überwunden. Auch Barads Verwendung von ›Repräsentionalismus‹ – in ihrem Ruf nach einem onto-epistemologischen ›turn‹ der Butler’schen Performativität – hat zum Teil zu einer fragwürdigen Diskussion um Repräsentationalismus innerhalb einiger Kontexte der feministischen new materialisms geführt. Vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway. Nachweise im Folgenden mit Sigle MUH und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 12 Deleuze: Die Logik der Sensation, S. 13. 48 Kathrin Thiele len Struktur und der Figur, zwischen der Figur und der Farbfläche«.13 Deleuze unterstreicht demnach auf ähnliche Art und Weise wie die fe- ministischen Auseinandersetzungen mit Figuration die materiellen und disruptiven Effekte von Figuren (zumindest als etwas, das sie potenziell haben können). Daniel W. Smith, der Deleuze aus dem Französischen ins Englische übersetzt hat, bestätigt diese Lesart in seiner Einleitung zur englischen Ausgabe des Bacon-Buchs. Dort beschreibt er, wie wichtig der Bacon’sche Stil des Figurierens für Deleuze ist: The fundamental concept in all these analyses […] is that of the Figure […]. Whereas »figuration« [im Sinne des Figurativen] refers to a form that is related to an object it is supposed to represent, the »Figure« [›Figuration‹ bei Braidotti und Haraway] is the form that is connected to a sensation […][,] it functions as the material support or framework that sustains a precise sensation.14 Bacons Gemälde entwickeln die für sie so spezifische affektive Wirkung aufgrund ihrer figurierenden Qualität. Figuration, verstanden als Stil oder Praxis (Figurieren), ermöglicht es, Repräsentation – im Sinne einer reflexiv wirkenden Darstellung – in eine Re-Präsentierung/-Präsenz zu verwandeln, die affektiv-materielle Effekte (›Sensation‹) hervorruft. Diffraktion als kritische Figuration Bis hierhin habe ich einige erste Hinweise auf die Bedeutungen von und für Figuration und Kritik gegeben. Die von mir aufgezeigten Beispiele verweisen auf das kritische Potenzial von Figuration als materialistische Intervention und materiell-semiotische Praxis, die Teil des feministischen Denkens ist. Um aber das Verhältnis zwischen Figuration und Kritik noch genauer zu beschreiben und näher darauf einzugehen, auf welche Weise ihr kritisches Potenzial gelesen werden sollte, werde ich meine Aufmerksamkeit nun auf die Frage richten, wie Figurieren – wenn man es als materiell-semiotische Intervention ernst nimmt – die Kritik selbst re(kon)figurieren muss. Wenn man das kritische Potenzial als wesentliche Aufgabe des Figurierens (und als Teil feministischen Denkens) versteht, dann kann der Begriff der Kritik nicht als einfach gegeben angenommen werden, sondern dieser muss ebenfalls hinterfragt werden. Insbesondere in einer Zeit, in der es zu immer stärkeren Polarisierungen im Politischen wie auch im Sozialen kommt, ist es von immens wichtiger Bedeutung, 13 Ebd. 14 Smith: »Translator’s Introduction«, S. xiii. (Ergänzungen und Hervorhebung K. T.) Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 49 zu erläutern, wie genau Kritik als Intervention im Hier und Jetzt genutzt wird. An dieser Stelle kann nun Diffraktion helfen, genauer zu beleuchten, wie Figuration als spekulativ-kritische Praxis zu verstehen ist. Diffraktion ist die Figur, die Haraway in den 1990er Jahren einge- führt hat, um eine strukturelle (materiell-semiotische) Verschiebung im vorherrschenden kritischen Denken einzutragen.15 Hier unterstreicht Haraway, dass Diffraktion als »another kind of critical consciousness« zu verstehen ist, »at the end of a rather painful Christian millennium, one committed to making a difference« (MW 273). Sie führt den Begriff in die feministische Diskussion ein, um die herkömmliche Bedeutung von ›kritisch‹ und ›Kritik‹ (also der Praxis zu widersprechen, etwas aus- einanderzunehmen, zu demontieren) anders zu denken. Dieses Anliegen stimmt mit ihrem Verständnis von Feminismus überein, das sich weniger für ein Richtigstellen oder Rechthaben als für ein Fortdauern interessiert (vgl. SwT 132). Diffraktion als neues kritisches Bewusstsein – wobei das ›neu‹ im Kontext der (westlichen) modernen Gesellschaft verortet werden muss – beinhaltet Folgendes: Diffraktion ist die Figur, die Haraway in Relation zu kritischem Denken nutzt, um über zwei (das oppositionel- le / binäre Modell von Kritik) und drei (das dialektische Modell von Kritik) hinauszuzählen und Kritikalität in Richtung eines ›Aufblühens‹16 von Differenzen, die einen Unterschied machen, zu öffnen. Die positive und affirmative Auseinandersetzung mit Differenz(en) verweist für mich direkt auf die Arbeiten der queeren Chicana-Feministin Gloria Anzaldúa und der Schwarzen lesbischen Dichterin Audre Lorde. Ihre kritischen Stimmen haben uns gelehrt, dass wir – wenn wir das Ziel verfolgen, das ›Haus des Herren‹ zu zerstören – sehr aufmerksam sein müssen für das, was uns als z. B. Women* of Color- oder weiße Feminis- tinnen* unterscheidet, um dann die Unterschiede zum Brücken-Schlagen und Verbindungen-Herstellen nutzen zu können. Lordes Ansatz der Differenz(en) baut explizit nicht auf Schuld oder Abwehrverhalten auf. Sie setzt sich vielmehr dafür ein, dass wir unsere sich ständig verändernden Unterschiede neu verstehen lernen und zwar als kraftvolle Verbindung, aus der unsere persönliche Kraft entsteht.17 Unterschiede gedeihen zu 15 Diesen anderen kritischen Modus qua Diffraktion als explizit feministisches Denken einzuführen, scheint wichtig angesichts Bruno Latours Essay von 2004. Why Has Critique Run Out of Steam? fragt er dort, versäumt aber, Haraway, die schon in den 1990er Jahren an einem anderen Begriff von Kritik arbeitete, zu genau dieser Frage zu erwähnen. 16 ›Aufblühen‹ ist ein sehr gewagtes Wort, wenn man damit das differenziell, d. h. ungleich und asymmetrisch strukturierte, ausschließende soziale Feld adressiert. Mehr zur Dis- kussion dieser wichtigen Problematik kann in Alexis Shotwells Against Purity (2016) nachgelesen werden, die sich in ihrer Arbeit auch auf Haraway bezieht. 17 Vgl. Lorde: Sister Outsider, S. 112. 50 Kathrin Thiele lassen, ist ein Weg, um das Potenzial kritischer Interventionen zu stär- ken. Differenz(en) wird bzw. werden dabei selbst zu einer Möglichkeit, Koalitionen zu bilden.18 Anzaldúa macht einen sehr ähnlichen Anspruch geltend. Sie setzt sich dafür ein, Unterschiede zu durchque(e)ren und mit ihnen Brücken zu schlagen, wann immer es geht. Dieser Ansatz, der Unterschiede nicht einebnet, sondern sie als kritisches, wirkungsvolles Potenzial versteht, hilft dabei, eine plurale Welt zu schaffen, ohne da- bei Vielfalt auf das ewig Gleiche, d. h. das Hegemoniale zu reduzieren. In diesem Sinn kann Anzaldúas Buch Borderlands / La Frontera (1987) auch als Diffraktionsexperiment avant la lettre verstanden werden. Hier werden vielfältige Vermächtnisse und (Nicht-)Zugehörigkeiten – die weit über das Modell der Opposition und Dialektik hinausgehen – auf einer existenziellen und stilistischen Ebene miteinander verwoben, um, wie Anzaldúa schreibt, das dualistische Denken des individuellen und kollektiven Bewusstseins strukturell zu entwurzeln.19 Dies bringt mich nun zur jüngsten Figur der Diffraktion als kritische Intervention und von dort zu Diffraktion als ›neue‹ Figuration der Kritik: Karen Barads agentiell-realistischer Auseinandersetzung mit Diffraktion nach besitzt der Begriff sowohl in der feministischen Theoretisierung von Differenz als auch in der Physik ein reichhaltiges Erbe.20 Für ihr Konzept der Ethisch-Onto-Epistemologie, das sie in Meeting the Universe Halfway (2007) einführt, greift sie auf das Quantenphänomenon der Diffraktion zurück, das im Unterschied zur klassischen Physik eine andere Vorstel- lung von RaumZeitMaterie (spacetimematter) figuriert. Sie operiert mit der Diffraktion aber auch, um jene andere Form kritischen Bewusstseins erneut aufzugreifen, die bereits Haraway unterstreicht. In Übereinstim- mung mit dieser erklärt Barad, dass es bei Diffraktion nicht einfach um Differenzen und schon gar nicht um Differenzen in einem absoluten Sinn geht (vgl. MUH 381). Worum es bei der Diffraktion geht, ist vielmehr ein grundlegend anderes Figurieren von Differenz(en). Diffraktion adres- siert die konstitutive Verwobenheit von Differenzen und muss daher als materielle Praxis verstanden werden, um Verbindungen topologisch neu 18 Vgl. auch Cohen: »Punks, Bulldaggers, and Welfare Queens«. 19 Vgl. Anzaldúa: Borderlands, S. 102. 20 Vgl. Barad: »Diffracting Diffraction«, S. 168. Nachweise im Folgenden mit Sigle DD und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Ohne in diesem Kapitel näher auf die Details einge- hen zu können, möchte ich doch darauf hinweisen, dass in dem hier zitierten Text Barad ihr Konzept von Diffraktion explizit auf Anzaldúas Arbeiten, insbesondere zu mestiza, Hybridität und mita’ y mita’ zurückführt, über die sie schreibt: »neither one nor the other, a strange doubling« (Anzaldúa: Borderlands, S. 41). Dieses Denken erlaubt es Barad, in neuartiger Weise mit den queeren Realitäten von Quantenphänomenen umzugehen. Vgl. DD 173 f. Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 51 zu konfigurieren. Diffraktion ist damit tatsächlich mehr als eine bloße Metapher. Mit Barad kann sie als neues kritisches Bewusstsein – Kritik als Diffraktion – im Sinne eines diffizilen Differenzierungsprozesses verstanden werden, der auf onto-epistemo-logischen Verschränkungen basiert. Es handelt sich also um ein komplexes relationales Anliegen, wenn Diffraktion kritisches Differenzdenken konfiguriert: Differenzierung als Verschränkung funktioniert anders als die klassische Figuration von Kritik, deren Prozess entweder auf Trennung und Gegensätzen beruht oder auf Überwindung durch dialektische Aufhebung ausgerichtet ist. Für eine konkretere Beschreibung möchte ich hier noch einmal auf Haraway zurückkommen. Denn in ihrer Bewegung hin zu Diffraktion als neuem kritischen Bewusstsein beschreibt sie bereits den spekulativ-kritischen Prozess von Kritik im Sinne diffraktiver Interferenzmuster folgendermaßen: Diffraction patterns record the history of interaction, interference, reinforce- ment, difference. Diffraction is about heterogeneous history, not about originals. Unlike reflections, diffractions do not displace the same elsewhere, in more or less distorted form, thereby giving rise to industries of metaphysics. (MW 273) Anders als jene kritischen Manöver, die darauf abzielen, über Dinge zu entscheiden (sprich: Geschichten zu beenden) oder danach streben, ka- tegoriale Trennungen vorzunehmen, um Setzungen von gut und falsch zu etablieren (Kritik als moralisches Urteil), geht es Kritik im Sinn der Diffraktion vor allem um das Potenzial, die hegemoniale Ordnung zu unter-/durchbrechen. Sich gegenseitig zu Wort kommen zu lassen und unterschiedlichen Geschichten zuzuhören, steht hier im Zentrum des Interesses. Diese kritischen Praktiken werden selbst wiederum als Möglichkeiten verstanden, neue Interferenzen (jenseits binärer oder dialektischer Register) hervorzubringen. Interferenzmuster in einem intra-aktiven21 Sinn sind das, was auch Barad als Diffraktion im Hinblick auf die Quantentheorie figuriert. Barad führt uns mittels Diffraktion zu einem anderen Verständnis von RaumZeitMaterie (das nicht allzu weit weg von dem, was wir als Realität erfahren, verstanden werden muss, auch wenn die Quantenebene dies nahe zu legen scheint). Dort ist die Verschränkung und / als Intra-Aktion die Regel. Auf diesem Weg führt Barad die Figur der Diffraktion erneut als das (im)materielle Phänomen 21 ›Intra-Action‹ ist ein von Barad entwickelter quanten-philosophischer Begriff. Der Termi- nus verschiebt das soziale oder phänomenologische Verständnis von ›Inter-Aktion‹ auf die ethisch-onto-epistemo-logische Ebene der ›Intra-Aktivität‹. In Meeting the Universe Halfway schreibt sie: »Crucially, agency is a matter of intra-acting; it is an enactment, not something that someone or something has. It cannot be designated as an attribute of subjects of objects (as they do not preexist as such). It is not an attribute whatsoever. Agency is ›doing‹ or ›being‹ in its ›intra-activity.‹« (MUH 178) 52 Kathrin Thiele ein, welches die Komplexität des ›immer / schon‹22 verschränkten Prozesses beleuchtet. Im Folgenden möchte ich dieses in feministischen Diskursen eher unbekanntere Verständnis von Diffraktion in der Quantenphysik noch näher beschreiben. Dafür werde ich etwas tiefer in Barads queer- feministischen Umgang mit der Quantenphysik eintauchen. Diffraktion ist auch bekannt geworden durch das Doppelspalt-Experiment, das Quantenphysiker*innen im frühen 20. Jahrhundert in Aufruhr versetzt hat, und das heute noch beispielhaft für die Rätselhaftigkeit der Quan- tenphysik steht, wie Richard Feynman bemerkt hat.23 In Meeting the Universe Halfway führt Barad den Begriff der Diffrak- tion als quantenphysisches Phänomen ein, das nicht nur die Realität der Verschränkung zum Vorschein bringt, sondern vielmehr selbst ein verschränktes Phänomen ist (vgl. MUH 73). In diesem Kontext ist es wichtig zu verstehen, dass im sogenannten Doppelspalt-Experiment die Messapparatur zwar eigentlich nur mittels Interferenzmuster anzeigen sollte, was ist – also ob das durch den Apparat geschickte Licht entweder Welle oder Teilchen ist –, im Zuge des Experiments aber deutlich wurde, dass die ›Diffraktionsapparatur‹ selbst Teil des Messprozesses ist. Der Apparat partizipiert also am Experiment und trägt dazu bei, was Licht im jeweils gegebenen Fall ›ist‹. Das quantenphysische Doppelspalt- Experiment macht damit Folgendes deutlich (zu Anfang des letzten Jahrhunderts zunächst nur als Gedankenexperiment, dann aber auch in seiner empirischen Realisierung): Anstelle der gewohnten epistemo- logischen oder methodologischen Annahme, die zu untersuchenden Gegenstände seien von Messapparaturen und Wissenschaftler*innen getrennte Entitäten, die vor den Verbindungen mit diesen existieren, zeigt sich, dass die Anordnung eine viel komplexere Zusammensetzung aufweist, auch wenn diese für unser gängiges Verständnis kontraintuitiv erscheint. Die diffraktionelle, d. h. verschränkte Komplexität führt eine fundamentale Verschiebung in den Rahmen dessen ein, was üblicherweise mit der Trennung von Subjekt und Objekt vorausgesetzt wird. Was mit der Diffraktion als Quantenphänomen betont wird, ist das Bewusstsein einer onto-epistemo-logischen Verschränkung, die eine Relation be- nennt zwischen dem, was wir uns ansehen und der Art und Weise, wie wir dies tun. Diese agentiell-realistische Relation ist essenziell, um die klassisch westliche Struktur von Differenzdenken aufzulösen, die von Dichotomien ebenso ausgeht wie von vorab gegebenen atomistischen Entitäten. Das quantenphysische Verständnis von Diffraktion ermöglicht 22 Vgl. Kirby: »(Con)founding ›the Human‹«. 23 Vgl. Feynman: The Feynman Lectures on Physics. Hier zit. aus MUH 254. Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 53 es, Situationen nicht mehr im Sinne der repräsentationalen Trennung von Worten, Sprache oder Medien und Materie zu begreifen. Diese nehmen im Sinne des Haraway’schen wor(l)dings vielmehr daran teil, wie sich Welt selbst als intra-aktives Interferenzmuster hervorbringt. Folgt man diesem Verständnis von Diffraktion mit Barad, dann lässt sich sagen, dass Diffraktion als Grundbestandteil der Welt verstanden werden kann (vgl. MUH 72). Für mich ist dies einer der wichtigsten Punkte in Barads quanten-philosophischer Forschung: Mit der Diffraktion haben wir ein konzeptuelles und methodologisches Werkzeug zur Hand, mit dem wir die westliche Epistemologie und Ontologie anders denken können. Diese Transformation wirkt sich auch in entscheidender Weise auf das Ethische, im Sinne eines Praktizierens (in) der Welt, aus.24 Die relatio- nale Ontologie Barads, verstanden als ethisch-onto-epistemo-logische Verschränkung, führt dazu, Wissen und Wissensproduktion selbst als »a material practice of engagement as part of the world in its differential becoming« (MUH 89) zu begreifen. Und wenn Diffraktion weiterhin der feministischen Kritik verpflichtet bleibt, dann wird es in dem ethisch- onto-epistemo-logischen Rahmen zu jedem Zeitpunkt relevant sein, auf welche Weise welche spezifischen Wissensformen produziert werden, wie das Denken von Welt eingeschränkt oder beschnitten wird. Bezieht man diese Ausführungen nun auf die Frage nach Kritik, dann lässt sich festhalten, dass durch die Praxis des Figurierens als kritisches Werkzeug eine Verschiebung stattgefunden hat: Das, was vormals als Praktik des ›Auseinandernehmens‹ verstanden wurde (klassisches Modell von Kritik), entwickelt sich zu einem Prozess differenzieller Verschränkung und Interferenz (Diffraktion als Kritik). Die Umwandlung von Kritik scheint somit ein vielversprechender Ausweg aus einem aporetisch dichotomen Selbstverständnis zu sein. Figuration als relational-diffraktiver Modus distanziert sich von Formen der Wissensp roduktion, die auf Aneignungs- verhältnissen basieren. Ihre kritische Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, wie der Prozess des Figurierens selbst Teil der Entstehung von Wissen ist, d. h. wie jede Figur und jedes Figurieren in die Geschichte, die erzählt wird, verwickelt und impliziert ist. Indem von onto-epistemo-logisch verschränkten Verhältnissen ausgegangen wird, können als Resultat dieser diffraktiv-kritischen Praxis relationalere Vorschläge formuliert werden. Was auch bedeutet, dass andere Vorstellungen und Bilder des Denkens entstehen können: Endlich bewegen wir uns gedanklich weg von einer dualistischen Setzung von Subjekt vs. Objekt, Natur vs. Kul- tur, Ontologie vs. Epistemologie hin zu den NaturKulturen (Haraway), 24 Vgl. Thiele: »Ethos of Diffraction«. 54 Kathrin Thiele der ethisch-onto-epistemo-logischen RaumZeitMaterie (Barad) und einem pluralen Monismus (Braidotti). Damit besteht die Möglichkeit, die (repräsentationale) Sackgasse der Verantwortlichkeit (accountability) und Verantwortung (responsibility) in response-ability, d. h. eine partielle Ver-Antwortung, umzuwandeln. Aber ich muss hier innehalten. Denn wird das Argument »endlich bewegen wir uns von … hin zu …« nicht Opfer genau jener Logik der Überwindung und Opposition, die ich mittels der Figuration als ein spekulativ-kritisches Werkzeug aufzulösen suche? Diese rhetorische Frage macht deutlich, dass es noch zu früh ist, die Diskussion über Figurieren als kritisch feministische Praxis hier zu beenden. Stattdessen müssen wir das für sie spezifische Potenzial noch genauer ansehen, um die komplexe Verschiebung adäquat aufzuzeigen, die Figurieren im Unterschied zu der gradlinigen Bewegung ›von-nach‹ vollzieht. Figurieren und die Frage der ›Nicht-Unschuldigkeit‹ Ich möchte zunächst noch einmal rekapitulieren: Mein Anliegen ist es, einen relationalen Zugang zum Denken, Wissen und Leben sichtbar zu machen, im Unterschied zur hegemonial westlichen Denktradition. Diese ist noch immer viel zu sehr auf Teleologie und Progressivismus ausgerichtet und zielt damit auf eine politische Imagination ab, die auf Fortschritt setzt und damit auf die Abschaffung dessen, was davor war.25 Solange das kartesianisch-koloniale Denken nicht kritisch adressiert und verschoben wird, kann auch kein wirklich relationaler Prozess (sei es in Bezug auf Wissen, Wirtschaft, Kultur oder Sozialität) jene Veränderungen hervorbringen, auf die ›wir‹ als kritische Denker*innen hoffen. Nun gibt es sicherlich eine Reihe von Möglichkeiten, von hier aus Denkhorizonte vorzuschlagen, um Figuration eben als eine solche viel- versprechende feministisch kritische Praxis im Hinblick auf Verschrän- kung und Relationalität zu positionieren. Da ich Figuration anhand des Barad’schen Konzepts der Diffraktion entwickelt habe, also mittels des ethisch-onto-epistemo-logischen Prozesses der Intra-Aktivität, zielt mein 25 Zur Frage der Grundannahme einer gradlinig voranschreitenden Zeit (arrow of time) im westlichen wissenschaftlichen Denken vgl. Prigogine / Stengers: The End of Certainty. Zur Ausarbeitung anderer, feministisch queerer Politikansätze basierend auf einem nicht- linearen Raum-Zeit-Verständnis vgl. Kirby: Quantum Anthropologies. Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 55 Vorschlag darauf ab, systemische Verschiebungen in einem grundlegen- den Sinne hervorzubringen.26 Im Kontext systemischer Verschiebungen ist es hilfreich, für einen Moment auf Sylvia Wynters Arbeiten zu verweisen. In ihrem Bestreben, die hegemoniale Ordnung des Westens zu dekolonisieren, rekonstruiert sie in vielen ihrer einschlägigen Texte, wie historisch unterschiedliche onto-epistemologische Verschiebungen sich darauf ausgewirkt haben, wie der Globale Norden seine Hegemonie über alle(s) andere(n) be- gründet und ausgebaut hat. In Unsettling the Coloniality of Being / Pow- er / Truth / Freedom (2003) macht sie deutlich, dass historische »shifts in epistemes were not only shifts with respect to each episteme’s specific order of knowledge / truth, but were also shifts in what can now be iden- tified as the ›politics of being‹«.27 Auch die von Wynter hervorgehobene Verschränkung von Wissen und Wahrheit mit der Ebene des Seins – in diesem Text bisher als RaumZeitMaterie, NaturKulturen und pluralem Monismus adressiert – besitzt das Potenzial, systemische Verschie- bungen zu ermöglichen, insbesondere auch in der Neukonzeption von Figuration. Wie ich bereits ausgeführt habe, geht es explizit nicht darum, eine vermeintlich gegebene Welt widerzuspiegeln. Materialistische oder materiell-semiotische Figuren nehmen vielmehr Teil an dem, was sie in den Vordergrund zu rücken suchen (diffraktives Verfahren). Durch das Figurieren als können wir lernen, dass es buchstäblich einen Unterschied macht, mit welchen Ideen und Konzepten andere Ideen und Konzepte gedacht werden.28 Figurieren trägt zum Schaffen bestimmter Welten bei. Es geht (im Wynter’schen Sinne) um nicht weniger als eine wirkliche Politik des Seins, und damit geht es um eine Frage der Existenz, die immer mit ›Nicht-Unschuldigkeit‹ (non-innocence) konfrontiert werden muss, was gerade vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte und ihrer Kontinuität eine radikale Zuspitzung erfährt. Vor diesem kurz skizzierten Hintergrund der nicht unschuldigen Verfasstheit jeder spekulativ-kritischen feministischen Praxis möchte ich nun noch einmal zu Braidotti und Haraway zurückkehren, um auf ihre jeweils spezifischen Ausdrucksformen von Figuration hinsichtlich dieses politisch so relevanten Themas einzugehen. Werden Braidotti und Haraway nebeneinander gelesen, wird deutlich, auf welche je unterschiedliche Weise ihre Projekte als politische Unternehmungen verstanden werden 26 Auch eine Relationalität im phänomenologischen Sinne wäre denkbar, siehe für Ansätze wie diese z. B. Ahmed: Queer Phenomenology oder Irigaray: Sharing the World. 27 Wynter: Unsettling the Coloniality of Being / Power / Truth / Freedom, S. 318. Nachweise im Folgenden mit Sigle UtC und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 28 Vgl. Strathern: Reproducing the Future, S. 10. 56 Kathrin Thiele können. Der Komplex der ›Nicht-Unschuldigkeit‹ ist eng mit Haraways Arbeiten verbunden. Was Haraway betont, ist die Notwendigkeit, nie- mals die Partialität und Situiertheit von Wissensproduktionen aus den Augen zu verlieren. Keine ›unserer‹ Positionen ist unschuldig (vgl. SCW 85). Gleichzeitig müssen wir aber auch aufpassen, nicht zu leichtfertig mit dieser grundlegenden Situiertheit von Wissen umzugehen, so als ginge es in ihr lediglich um Lokalität.29 Um das spezifische Terrain des- sen begehbarer zu machen, was ich in diesem letzten Schritt als nicht unschuldige, relationale Praxis aufzuzeigen versuche, möchte ich hier auf Haraways anfängliche Betonung der Möglichkeiten und Gefahren in allen Figurationen zurückkommen. In einer viel zitierten Passage aus ihrem Text Situiertes Wissen (1988) beschreibt sie bereits, worum es ihr in nicht-unschuldigen (Onto-)Epistemologien geht: Ein Engagement für bewegliche Positionierung und leidenschaftliche Unvor- eingenommenheit ist eine Folge davon, daß unschuldige »Identitätspolitiken« und Epistemologien unmögliche Strategien für eine klare Sicht von den Stand- punkten der Unterworfenen aus sind. […] »Sein« ist weitaus problematischer und kontingenter. Ebensowenig kann man den eigenen Standpunkt an einen anderen Ort verlegen, ohne für diese Bewegung verantwortlich zu sein. Vision ist immer eine Frage der Fähigkeit zu sehen – und vielleicht eine Frage der unseren Visualisierungspraktiken impliziten Gewalt.30 Wenn diese wichtige Erkenntnis hinsichtlich der Unmöglichkeit einer unschuldigen Position – sei es im Hinblick auf Fragen des Wissens oder der Politiken – mit Figuration als kritischer Intervention für eine rela- tionale Form der (Wissens-)Produktion zusammengebracht wird, zeigt sich, dass Haraways figurierende Interventionen immer mehr bedeuten als lediglich das Aufzeigen von Lösungen. Es geht ihr in und mit ihren Figuren nicht um das Finden der ›richtigen‹ Kategorie, mit welcher die niemals einfachen, sondern immer komplexen Beziehungen zwischen Dingen ›beendet‹ werden. Figurieren in Haraways Sinn sollte eher als eine Frage von Intensität – um es Deleuzianisch zu formulieren – beschrieben werden. Es geht darum, eine grundlegende, jedoch nicht relativistische Ambivalenz anzuerkennen und auszuhalten. Diese steht ebenso auf dem Spiel, wenn ich von einer anderen zeitlichen Ordnung spreche, die in und mit Figuration als methodologischem Werkzeug einhergeht. Eine einfache Bewegung nach ›vorne‹ oder ein gradliniges ›Hinwenden zu‹ kann hier nicht gemeint sein: Das Erzählen von Geschichte(n) wird notwendigerweise immer auch Fragen nach Exklusion, Privilegierung, 29 Vgl. Hinton: »›Situated Knowledges‹ and the New Materialism(s)«. 30 Haraway: »Situiertes Wissen«, S. 85. Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 57 Aneignung und Gewalt aufwerfen. Und doch ist die Tatsache, dass Ha- raway diese grundlegende Ambivalenz affirmiert und sie nicht beklagt, der wichtige Punkt an dieser Stelle. Dies wird auch in ihrer aktuellsten Figur deutlich: to stay with the trouble. Dieser ambivalente Imperativ wird in ihrem gleichnamigen Buch zum Möglichkeiten eröffnenden Horizont (vgl. SwT). In einem ihrer früheren Vorträge, für den sie diese Formulierung bereits nutzte, unterstreicht sie, dass es beim staying with the trouble darum geht, »to inherit the past thickly in the present so as to age the future«.31 Die Bedeutung eines nicht-linearen und nicht- progressiven Horizonts kann nicht überbetont werden, wenn es um ihre Vorstellung von Figurieren als spekulative Praxis geht. Und es wird sogar noch deutlicher, wenn sie in ihrem Buch Staying with the Trouble (2016) dieses Projekt folgendermaßen beschreibt: In urgent times, many of us are tempted to address trouble in terms of making an imagined future safe, of stopping something from happening that looms in the future, of clearing away the present and the past in order to make futures for coming generations. Staying with the trouble does not require such a re- lationship to times called the future. In fact, staying with the trouble requires learning to be truly present, not as a vanishing pivot between awful and Edenic pasts and apocalyptic or salvific futures, but as mortal critters entwined in myriad unfinished configurations of places, times, matters, meanings. (SwT 1) Um auch Braidottis Position zur komplexen Verfasstheit von Figuration einzubringen, möchte ich die Passage hier für einen Moment unkom- mentiert lassen. Denn auch hier zeigt ihr Projekt sehr viele Ähnlichkeiten mit dem von Haraway. Und doch können wir bei genauerem Hinhören einen Unterschied in der Tonalität feststellen. Wenn wir z. B. die folgende Passage von Braidotti nehmen, zeigt sich, dass – anders als bei Haraway – ein positiver Ton gewählt wurde sowie ein Anflug von Befreiungsver- sprechen in der Luft liegt. In der neuen Ausgabe von Nomadic Subjects führt Braidotti aus, dass ihre Figuration der nomadischen Subjektformen folgendermaßen funktioniert, nämlich als creative expressions for the intensity, i. e. the rate of change, transformation or affirmation, the potentia (positive power) one inhabits. Following Deleuze’s Spinozist formula we simply must assume that we do not know what a body can do, what our embodied selves are capable of […] Nomadic subjects are transformative tools that enact progressive metamorphoses of the subject away from the program set up in the phallologocentric format. (NS2 12) 31 Haraway: »Staying with the Trouble«. 58 Kathrin Thiele Obwohl Braidotti sich der Machtverhältnisse bewusst ist, gibt sie in ihrer Unterscheidung von potentia und potestas doch einer Seite mehr Gewicht: potentia oder, wie sie es nennt, positive Macht. Braidotti bewegt sich also weg von der subjugierenden / subjektivierenden potestas und hin zu der eine andere Subjektivität hervorbringenden potentia. Der Bezugsrahmen des Figurierens ist dabei auch für Braidotti die Deleuzianische Intensi- tät. Intensitäten sind immer Schwellenphänomene, sie sind eine Frage von Dynamik und Bezogenheit. Und doch: Braidottis Eindringlichkeit, wenn sie schreibt »we simply must assume that«, sowie die Bedeutung nomadischer Subjektformen als »enacting progressing metamorphoses of the subject away from« (NS2) bringen ein anderes affektiv politisches Verständnis von Zukünftigkeit mit sich, als es sich bei Haraway finden lässt, die schreibt, »[s]taying with the trouble does not require such a relationship to times called the future« (SwT 1). Auch wenn Braidotti für ein Denken von und mit zukunftsorientierten Figurationen gute ethische und politische Gründe haben mag, kann ihre Arbeit dadurch nicht der grundlegenden (nicht relativistischen) Ambivalenz treu bleiben, der ich oben nachgegangen bin. Damit wendet sie sich zumindest bis zu einem gewissen Grad ab von der ›Nicht-Unschuldigkeit‹ jeder vorgeschlagenen Figuration. Braidottis Nomadismus (bzw. Posthumanismus) reprodu- ziert damit – sei es nun wissentlich oder unwissentlich – die pfeilartige, progressive (affektive) Zeitlichkeit und nicht so sehr jene nicht-lineare (Barad) oder dekoloniale (Wynter) RaumZeit, in der das moderne Selbst- verständnis von Einheit und Fortschritt durchbrochen wird. Es liegt mir nichts ferner, als diesen Text damit zu beenden, die unterschiedlichen Positionen von Braidotti und Haraway im Bezug auf Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis gegeneinander auszuspielen. Eine solche Argumentationsweise halte ich aus diffraktiver Perspektive nicht nur für sinnlos, sondern Positionen auf diese Weise gegenüberzus tellen hieße außerdem, genau jene relationalen Zusam- menhänge misszuverstehen, die diese zwei exemplarischen Figuren im feministischen Kontext miteinander teilen. Aber es war mir wichtig, diesen Divergenzpunkt zwischen Haraway und Braidotti aufzuzeigen, ebenso wie es mir auch wichtig war, spezifische Unterschiede in ihren theoretischen und politischen Vorstellungen herauszustellen. Damit will ich zeigen, dass, wenn Schlussfolgerungen aus kritischen Projekten gezogen werden, es oft unvermeidlich ist, dass diese wieder zu einem Progressivismus werden und damit ein Vorher/Nachher oder Besser/ Schlechter imaginiert wird. Es mag zwar gelingen, den strikten Entwe- der -oder-Rahmen, welcher die Basis für wissenschaftlichen Positivismus und ideologische Kritik bildet, zu sprengen, wenn wir – wie Braidotti das Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis 59 tut – das Spinozistische Potenzial hervorheben, dass wir nicht wissen, was unser Körper in der Lage ist zu tun. Ihr kritisches Projekt der Affir- mation von potentia birgt aber auch die Gefahr, dem narrativen Horizont von Linearität und Fortschritt verbunden zu bleiben, dem sie eigentlich mit der Vision eines nichtlinearen und nichteinheitlichen Subjekts ent- kommen wollte (vgl. NS2 11). Wie meine Ausführungen zeigen, ist für ein relationales Denken als Figuration, das Nicht-Unschuldigkeit hervorhebt, ein Bemühen um ein anhaltendes unvertraut-Machen oder queering notwendig. Beim Figurieren als spekulativ-kritische feministische Praxis kommt es auf ein grundle- gendes Verschieben von Perspektiven an. In Ansätzen, die Relationalität an erste Stelle setzen, darf Figurieren nicht lediglich als Gegenentwurf zu herkömmlich praktizierten Denk- und Vorstellungsmodellen ver- standen werden, die mit Oppositionen, Trennungen und Ausschlüssen arbeiten. Das für mich passende Register für Figuration als Kritik ist die dicht verschränkte RaumZeitMaterie, in der die unterschiedlichen Dimensionen des ›Was‹ und ›Wie‹, d. h. die Ebenen von Ontologie und Epistemologie nicht mehr kategorial voneinander getrennt erscheinen. Wir werden fortwährend heimgesucht von dem, was war und was nicht einfach hinter uns gelassen werden kann, weil es im Hier und Jetzt Wirkung zeigt. Anstatt aber damit einem Relativismus Vorschub zu leisten, welcher angesichts des Anscheins von onto-epistemologischer Verschränkungen vielleicht aufkommen mag, geht es hier explizit dar- um, dass »cuts« (DD) oder »frictions«32 als inhärente Dimensionen von Relationalität anerkannt werden. Figurieren als relation ale Praxis vorzu- schlagen heißt nicht, Relationalität dem entgegenzustellen, was war, so als ob die eine Geschichte lediglich durch eine neue zu ersetzen wäre. Es gibt keine Bewegung weg von einem schlechten Zustand hin zu einer alles erlösenden Zukunft. Figurieren als spekulativ-kritische Denk-Praxis kann jenen, die sie praktizieren, helfen, eine angemessene Aufmerksam- keit für die spezifischen »genres« (UtC) der allzu gängigen Geschichten auszubilden; Geschichten, die uns ständig daran erinnern (müssen), wer darin dauerhaft übersehen wird oder gar nicht erst vorkommt. Übersetzt von Lisa Andergassen, überarbeitet von Marie-Luise Angerer und Naomie Gramlich 32 Vgl. Tsing: Friction. 60 Kathrin Thiele Siglenverzeichnis DD = Barad, Karen: »Diffracting Diffraction. Cutting Together-apart«, in: Parallax 20 (2014), H. 3, S. 168–187. HR = Haraway, Donna J.: The Haraway Reader, New York 2004. MUH = Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. 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Maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt dürfte die vielbeachtete Initiative einer Gruppe von Philosophen um Quentin Meil- lassoux sein, aus der das Label ›Spekulativer Realismus‹ hervorgegangen ist. Im Gegensatz zu hegemonialen Strömungen des philosophischen Diskurses wird innerhalb feministischer Forschung mit dem Begriff der Spekulation jedoch kein ›vergessenes‹ oder abseitig gelegenes Konzept wiederbelebt: ›Das Spekulieren‹ steht bereits im Mittelpunkt einer der wichtigsten Texte der feministischen Theoriebildung, es findet sich in Luce Irigarays umfassender Aufarbeitung dessen, was sie »spécula(risa)tion«1 nennt. Irigaray findet in Meilensteinen der abendländischen Philosophie- geschichte ein konstitutiv wiederkehrendes Schema der Spekulation, das aufzeigt, dass die Produktion von stabiler Wahrheit auf den Ausschluss eines weiblichen Anderen angewiesen ist. Aus der aktuellen Konjunktur des Spekulationsbegriffs im Feld der feministischen und queeren Theo- riebildung2 ergibt sich ein interessanter Interferenzeffekt: Meillassoux’ Konzept des Spekulierens wechselwirkt mit Irigarays, wobei sich die Phasen von Affirmation und Kritik der Spekulation nicht schlicht aus- löschen, sondern gewissermaßen aus dem schrägen, que(e)ren Winkel zwischen beiden vielmehr ein komplexes Diffraktionsmuster3 erzeugen. Im Folgenden soll in doppelter Hinsicht auf ein feministisches Spe- kulieren hingearbeitet werden: in einem ersten Schritt als feministische, an Irigaray geschulte Kritik von Meillassoux’ Projekt der Spekulation, der die leitende Folie für den zweiten Schritt eines Versuchs bildet, von Differenzen zwischen Irigaray und Meillassoux aus positiv zu formulieren, was feministisches Spekulieren charakterisieren könnte. 1 Irigaray: Speculum de l’autre femme; Irigaray: Speculum. 2 Verwiesen sei als beispielhafter Einstieg in ein wachsendes Feld auf den von Eileen A. Joy und Katerina Kolozova herausgegebenen Band After the »Speculative Turn«. 3 Der von Donna Haraway in das feministische Feld eingeführte Begriff, um den sich vor allem Kathrin Thiele und Birgit Mara Kaiser verdient gemacht haben, leitet im Hintergrund die Idee dieses Textes. Vgl. Kaiser / Thiele (Hg.): Diffracted Worlds; siehe auch Kathrin Thieles Beitrag in diesem Band. Irigaray und die Verzückung des Anderen 63 Quentin Meillassoux hat (genau wie seine Kollegen) fraglos einen Nerv getroffen. Doch worin liegt der neue Reiz des Spekulierens? Was heißt für ihn spekulieren? Meillassoux fasst dies in eine einfache Formel: »Nennen wir spekulativ jedes Denken, das den Anspruch erhebt, zu einem Absoluten im Allgemeinen zu gelangen [accéder].«4 Seine Philosophie hegt diesen spekulativen Anspruch auf Zugang zu einem Absoluten, der dem Wort spekulieren sprachgeschichtlich eingeschrieben ist: So betont etwa Randle Cotgrave im Jahr 1611, dass spéculer im Sinne von »contemplate, observe, consider, search out; behold seriously, watch hard« sich gerade dadurch charakterisiere, dass es auf ferne Objekte gerichtet sei: »looke or see farre, espie a farre off«.5 Es ist genau dieser Anspruch, der eine spektakuläre Überschreitung darstellt: Mit ihr / durch sie zielt Meillassoux’ Denken, seinen eigenen Worten nach, darauf ab, »zu erreichen, was die moderne Philosophie uns seit zwei Jahrhunderten als das schlechthin Unmögliche lehrt: aus sich selbst herauszutreten, sich des Ansich zu be- mächtigen, erkennen, was ist, – ob wir selbst sind oder nicht« (ME 45). Die nachgeschobenen Worte weisen darauf hin, dass für Meillassoux das Absolute ganz wörtlich ein ›Losgelöstes‹ bezeichnet. Zugang zu diesem Losgelösten heißt also, der Vermittlung über das erkennende Subjekt zu entkommen und so gewissermaßen ›verhältnisfrei‹, direkt, ohne jegliches mediatisierende Relais, Wissen von dem zu generieren, was ist. In seiner eigenen Rekonstruktion geht ein solches Projekt mit einem geradezu revolutionären Paradigmenwechsel einher, weil er die »moderne Philo- sophie« – von Martin Heidegger bis Ludwig Wittgenstein – sämtlich in eine von Immanuel Kant ererbte Grundstruktur verstrickt sieht, die er »Korrelationismus [corrélationisme]« (ME 25) nennt. Als Lackmustest für die mit dieser auf ein Subjekt- oder verwandtes Verhältnis fundierte Struktur der Wahrheit führt Meillassoux ein, was er »Anzestralität [ancestralité]« nennt: »jede Wirklichkeit, die dem Aufkom- men der menschlichen Gattung« (ME 24) und damit auch »jeder mensch- lichen Form der Beziehung zur Welt vorausgeht« (ME 24) – und sich, nach Meillassoux, damit der Erkenntnisstruktur des corrélationisme konstitutiv entziehen muss, also von diesem in ihrer Anzestralität undenkbar sei. Meillassoux’ Bestimmung des zu affirmierenden Spekulierens speist sich aus einer doppelten Absetzung, aus der er gleichsam ein formstrenges Kalkül generiert: auf der einen Seite gegen den Korrelationismus einer kantianisch geprägten Philosophie, der das Absolute, den Zugang zum 4 Meillassoux: Nach der Endlichkeit, S. 54. Nachweis im Folgenden mit Sigle ME und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 5 Eintrag »Speculer«, in: Dictionarie of the French and English Tongues. 64 Johannes Ungelenk ›Ansich‹, zugunsten des vermittelnden Subjektverhältnisses preisgege- ben habe; auf der anderen gegen das ›metaphysische‹ Denken, als das er jedes Denken versteht, »das den Anspruch erhebt, zu einem absolut Seienden zu gelangen – oder auch: über den Satz vom Grund [le principe de raison] zum Absoluten zu gelangen« (ME 54). Das Projekt von Meillassoux’ Spekulation ist dementsprechend ganz konsequent, »die Entziehung des Denkens aus dem Satz vom Grund zu akzentuieren, bis ihm eine prinzipielle Form verliehen wird« (ME 90). Indem er die allgemeine Nichtgültigkeit des Satzes vom Grund in ein Prinzip überführt, verkehren sich die Negationen von Metaphysik und Korrelationismus in eine positive Formel, in das zentrale Prinzip der Faktualität. Seiner »nicht-dogmatischen Spekulation« ist nur eine »einzige[ ] absolute[ ] Notwendigkeit« zugänglich: »[d]ie Notwendigkeit für das, was ist, eine Tatsache zu sein« (ME 109). Doch genau diese löst die radikale Forderung des Satzes vom Grundlosen / Prinzips der A-Ver- nunft ein: »Nichts hat einen Grund, so zu sein und zu bleiben, wie es ist, alles muss ohne Grund nicht sein können und / oder anders sein können, als es ist.« (ME 87) An der Stelle des von Meillassoux anvisierten Denkens ohne »den Letzten Grund« (ME 90) verzeichnet das Diffraktionsmuster mit Irigarays feministischem Projekt eine unübersehbare Nähe. Wenn Meillassoux das »Ohne-Grund-Anders-Sein-Können« (ME 88) ins Zentrum seines spekulativen Materialismus stellt, scheint er damit etwas zu denken, das Irigaray für die Figur der Frau und damit gewissermaßen als ein ›weibliches Imaginäres‹ reklamiert und feministisch affirmiert hat: die Frau als »ein Ganzes, das sich nicht schließen konnte«, als »Form, die sich unendlich und unbegrenzt verändert«,6 im Gegensatz zur männli- chen Neigung »immer und ewig dasselbe zu bleiben, sich als Selbst zu bestätigen« (IS 171). In Absetzung von der traditionell als Figur der Ge- schlossenheit oder des Schließens gedachten dominanten Figur der Form ist Meillassoux’ »Ohne-Grund-Anders-Sein-Können« wie Irigarays Frau, eine »Form, die nicht abgeschlossen ist« (IS 284), die »alle Optionen offen lässt und sie nicht zugunsten einer einzigen schließt« (ME 83).7 Beide kontern das zeitlose Denken von Substanz (als Inbegriff von Ontologie, als dem Nachdenken dessen, was ist) mit der radikalen Zeitlichkeit eines ›Werdens‹. 6 Irigaray: Speculum, S. 289. Nachweis im Folgenden mit Sigle IS und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 7 Wollte man die Analogie forcieren, fiele Meillassoux’ Figur des ›Absoluten‹ mit Irigarays ›Frau‹ zusammen, »da das Absolute das Anders-Sein-Können selber ist« (ME 82) und ›Frau‹ »die Form, die nicht abgeschlossen ist« (IS 284). Irigaray und die Verzückung des Anderen 65 Kurioserweise gibt aber gerade die Zuspitzung dieses reinen Werdens bei Meillassoux, die vorgibt radikaler als ihre Mitdenker*innen zu sein, einen ersten Hinweis ab, dass die unterstellte Nähe zu Irigaray ein täu- schender Effekt sein könnte. »Ein so sehr chaotisches Chaos, dass selbst das Werden entstehen und vergehen kann« (ME 97), setzt Meillassoux als Ausgangspunkt seiner Ausführungen zur Faktizität. Was als ulti- mativer Aufweis der Notwendigkeit von Kontingenz und ihrer Stabilität als unhintergehbares Prinzip dienen soll, entlarvt jedoch die offenbar ungedachten Voraussetzungen von Meillassoux’ Spekulieren: Was in diesem Chaos prozessiert – inklusive des Werdens – hat Dingcharakter! Auch wenn diese Dinge an keine höhere Notwendigkeit mehr gekettet und ganz der Kontingenz unterstellt sind, auch wenn keines davon notwendig Seiendes ist und deshalb alle immer untergehen können müssen: Den Dingen und sogar dem Werden an sich kommt völlig unproblematisiert das zu, was bei Irigaray (und verwandten Denker*innen der Differenz) fundamental in Frage steht: Einheit. Dies zeigt sich besonders deutlich an einem Argument, das dem Chaos eine erste Regel abringen möchte – die der »Widerspruchslosig- keit« (ME 99): [D]ie einzige Sache, die von allem Werden und jeder Modifikation ausgenommen wäre, das reine Unwandelbare, an dem selbst die Allmacht der Kontingenz zerschellte – das wäre eben das widersprüchlich Seiende. Und dies aus einem ganz bestimmten Grund: Ein solches Sein könnte nicht anders werden, als es ist, weil es überhaupt keine Alterität hätte, die es werden könnte. (ME 97) Der letzte Satz spricht in aller Deutlichkeit aus, dass das »Ohne-Grund- Anders-Sein-Können« keineswegs im starken Sinne das Ereignis denkt und damit ein Werden, wie es etwa Gilles Deleuze oder Irigaray verstehen, sondern ein Prinzip der Wahl darstellt, das lediglich »alle Optionen offen lässt und sie nicht zugunsten einer einzigen schließt« (ME 83). Irigarays ›Frau‹ behauptet sich gewissermaßen als diese »einzige Sache«, die Meillassoux aus seiner Welt – sogar dem Chaos seiner Welt – notwendig ausschließen muss. In der (männlichen!) Außensicht stellt sie ein »widersprüchlich Seiende[s]« dar, weil für sie Alterität nicht außerhalb ihrer selbst liegt, ihr Werden also nicht als Aneignung oder Tausch von oder mit erschlossenem Umgebenden – als Modifikation von Etwas – vonstattengeht. »›Sie‹ ist in sich selbst unbestimmt und unendlich anders [indéfiniment autre].«8 Es ist genau diese Unbestimmtheit, durch die sich ihr Werden ereignet. 8 Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 28. 66 Johannes Ungelenk Obwohl auch Irigarays ›Frau‹ wie Meillassoux’ ›Absolutes‹ »ein Ganzes, das sich nicht schließen konnte« (IS 289) ist, ist sie nicht eins (davon).9 »[W]iewohl stets im Begriff, Ausdehnung zu werden«, besteht sie »zu keinem Zeitpunkt als ein definierbares Universum« (IS 284). Damit negiert Irigaray für die Metamorphosen der Frau vehement das, was einem beziehungslosen ›Ansich‹10 im Denken von Meillassoux schon im Ausgang mitgegeben ist: »die Systematizität des EINEN« (IS 289). Irigaray gibt ihren Leser*innen in Speculum eine Warnung mit auf den Weg, die gerade für Projekte wie Meillassoux’ spekulativen Materialismus ausgesprochen zu sein scheint: Und einen philosophischen Diskurs, der vorhat (vorzuhaben glaubt), die Materie als solche zu erfassen, muß man besonders aufmerksam prüfen. […] Und je weniger die Intervention des Spiegels, den er zu der Physis oder in der Physis hinzusetzt, sichtbar, wiederkennbar ist, desto mächtiger und hinterhältiger ist die Fiktion am Werk. (IS 205) Die »Materie als solche zu erfassen« ist tatsächlich Meillassoux’ Anspruch. Auf die Notwendigkeit eines Spiegels für diese Operation deutet ledig- lich der Verweis eines Signifikanten hin, der, ohne dass dies reflektiert oder intendiert wäre, in der Selbstbezeichnung des Unternehmens am Werk ist: Dem Speculum wird sich der Spekulative Materialismus nur schwer entledigen können. Es gilt diesen in der Tat in einer mächtigen und einigermaßen hinterhältigen Fiktion verborgenen Spiegel zunächst zu identifizieren, denn Meillassoux schreibt mit der Absetzung vom Korrelationismus genau gegen eine solche vermittelnde Beziehung, ja sogar gegen Beziehungen als Bezugspunkt für die Wissensproduktion generell, an. Als Einhakpunkt sollen zwei auffällige Wortbildungen dienen, die an zentraler Stelle von Meillassoux’ Argument, nämlich dem Übergang zur Mathematik, auftauchen: die Denkbarkeit (»mathematische Denkbarkeit der Enttotalisierung des Seins-als-Sein« (ME 139)) und das Mathemati- sierbare (»Was mathematisierbar ist, kann im Sinne einer Hypothese als eine ontologisch zerstörbare Tatsache, die unabhängig von uns existiert, gesetzt werden.« (ME 157)). Denkbarkeit trägt einen klaren Bezug: Etwas ist denkbar für ein menschliches Subjekt. Wie verhält es sich analog mit dem Mathematisierbaren? 9 Franz. »n’en est pas un« verweist genau auf die Dingontologie, die Meillassoux ständig voraussetzt, wenn er ›Prozesse‹ denkt. Vgl. Irigaray: Ce sexe qui n’en est pas un. 10 Vermutlich reibt sich jede*r Hegelianer*in schon bei einer solchen Setzung – nicht An- und-für-Sich, sondern Ansich – verwundert die Augen: Woher sollen in einer solchen Welt Beziehung, Verhältnis, Bewegung etc. kommen? Irigaray und die Verzückung des Anderen 67 Meillassoux kaschiert das Problem des offenen Bezugs des Mathe- matisierbaren, indem er die beiden mit ›-bar‹ gebildeten Adjektive in der Formel »mathematische Denkbarkeit« ineinander schachtelt. So rückt die Mathematik in die Rolle, die einst das Subjekt alleine innehatte. Die »Enttotalisierung des Seins-als-Sein« ist nicht denkbar für das transzen- dentale Subjekt, wohl aber ›für‹ die Mathematik, um es bewusst ungenau auszudrücken. Jedes Wort in der Formulierung ist problematisch. Denn: Was ist die Mathematik? Welche Position hat sie inne, welchen ontolo- gischen Status, welche Rolle kommt ihr zu? Die Antwort ist einfach und Meillassoux spricht sie mit gutem Grund nie aus: Sie ist Instrument – und zwar ein mächtiges und gewitztes. Es erweitert das transzendentale Subjekt über sich selbst, über seine eigentlich unüberwindlichen Grenzen hinaus. Die Mathematik ist kein handhabbares Hilfsmittel, sie ist Ordnungs- oder besser Möglichkeitsgenerator, der von sich weiß, dass er sich in seinem Tun ständig selbst überschreitet, ohne an eine Grenze der Sterblichkeit zu geraten. Diese Simulation des ›Seins als Sein‹ fasziniert, weil sie in sich komplett geschlossen ist: Ihr Kalkül ist auf der Subjektseite auf keinerlei Beigabe des menschlichen Subjekts mehr angewiesen. Als transzendentaler, transfiniter Möglichkeitsraum scheint das Kalkül die Objektseite komplett in sich aufnehmen zu kön- nen, weshalb die Simulation in der Lage ist, Hypothesen zu generieren. Wenn auch nicht reflektierend-abbildend, so ist die Simulation dennoch ein quasi autark funktionierender Spiegel: Er ist in seiner Konstruktion Komplementärspiegel zum transzendentalen Subjekt. Er invertiert ge- wissermaßen die transzendentalen Voraussetzungen, um sie als ihre ausgeschlossene Rückseite zu verabsolutieren und aneigenbar zu machen. Geradezu winzig nimmt sich gegen diesen gewaltigen transfiniten Spiegel das transzendentale Subjekt aus. Aber: Der Spiegel der Mathematik ist und bleibt Instrument für es. Es ist die Herrschaft über dieses selbst- konstruierte, ›absolute‹ Instrument (hier zeigt sich die Illusion!), durch die das transzendentale Subjekt sich des Ansich zu bemächtigen sucht. Genau diese Formulierung eines grundlegenden, strategischen Ziels gibt den Blick auf die Konstellation frei, in der sich Meillassoux’ Philosophieren selbst ihr Fundament nimmt, die sein engagiertes Argumentieren gegen den Korrelationismus und die Herausarbeitung eines Abhilfe schaffenden Instruments aber fast komplett verdeckt. Es ist eine Denk-Konstellation, deren Geschlechtlichkeit Irigaray ausführlich dargelegt hat: Noch hat die Kopernikanische Revolution nicht alle ihre Auswirkungen im männlichen Imaginären entfaltet. Daß der Mann nicht mehr Zentrum ist, daß er exzentrisch zu sich selbst wird, hat vor allem seine Ex-stase im Transzenden- talen (Subjekt) zur Folge. Indem er sich in eine Perspektive bringt, aus der sich 68 Johannes Ungelenk alles beherrschen läßt, an einen Punkt, der ihm die meiste Macht verspricht, trennt er sich von seinem materiellen Fundament ab, von seiner empirischen Beziehung zur Matrix, die er überwachen will. Spiegelung, Bespiegelung, Spekulation, Spekulieren. (IS 169 f.) Wenn Meillassoux vorschwebt, »sich des Ansich zu bemächtigen«, arbeitet er unverkennbar an einer »Perspektive […], aus der sich alles beherrschen läßt«. Die Ex-stase des Mannes – er ist unter dem Namen des »spekulativen Philosophen« (ME 84) auch treffend gegendert – greift bei Meillassoux weiter als bis zum transzendentalen Subjekt. In der Kritik an dieser historischen Begriffsperson scheint er mit Irigaray einig zu sein, jedoch aus konträren taktischen Motiven: Während es Irigaray um das Ende der männlichen Aneignungsstruktur geht, die sich durch das transzendentale Subjekt artikuliert, reicht Meillassoux das transzen- dentale Subjekt nicht, um es sich in gewünschtem Umfang anzueignen. Der Impuls (Wunsch, Trieb?), »sich des Ansich zu bemächtigen«, folgt überdeutlich weiterhin dem von Irigaray kritisierten Muster einer »Ko- lonisierung« (IS 174). De facto stellt Meillassoux so schlicht eine neue, noch raffiniertere, maximierte »Matrix der Aneignung« (IS 192) her: Das »Mathematisierbare« konstruiert ein »Instrumentarium« (IS 192), das möglich macht, das ›Absolute‹ zu denken. Es ist somit selbst ein »Transzendentales«: Bedingung der Möglichkeit für ein anzestrales Ansich.11 Anders als Kant situiert Meillassoux ›den Menschen‹ als denkendes Wesen nicht in einem Zwischen, das jenseits seines Zugriffs Raum für das öffnet, was ihm immer anders bleiben wird. Statt Bürger zweier Welten ist der spekulative Philosoph sozusa- gen hellsichtiger Gast der einen Welt, die er spekulativ, verhältnisfrei und auf gewisse Weise auch restlos zu durchschauen vermag, weil das Muster der Notwendigkeit der Kontingenz diese Welt ausnahmslos und vollständig rahmt. Angeregt durch die hier eingewobenen feministischen Analysen Irigarays beginnen Signifikanten, die sich in Meillassoux’ programma- tisch benutzten Formeln eingebettet finden, zu klingen und auch gegen das spekulative Projekt zu insistieren: So etwa die im ›Materialismus‹ eingeschriebene ›mater‹, die sehr wohl auf ein Verhältnis verweist und 11 Trotz aller Kritik an dem, was Meillassoux als kantianisch geprägten Korrelationismus zu verwerfen trachtet, ist sein Projekt nicht Gegenentwurf, sondern Steigerung, es ist eine Form von Hyperkantianismus: Der Ausgangspunkt beider ist absolut identisch. Die Welt ist gefurcht in ein denkendes Subjekt und das, was es nicht ist – was ihm (wie Irigarays Frau) gewissermaßen entgegensteht. Mit Subjektivität ist diese Gegenstellung inkompatibel: »Es ist zweifellos die der Frau verweigerte Subjektivität, die eine eindeutige Objektkonstitution garantiert: des Objekts der Repräsentation, des Diskurses, des Begehrens.« (IS 169) Irigaray und die Verzückung des Anderen 69 zwar eines, das auf spezifische, patriarchal gedachte Weise zugerichtet ist. Einem an Irigaray orientierten feministischen Spekulieren wird es darum gehen müssen, gegen die »Inkorporation der Mutter in die eigene Reflexion« (IS 229), derer sich Meillassoux nicht einmal mehr erinnern kann, ein »Denken des Weiblichen« (IS 229) zu behaupten, das sich nicht einem (und deshalb männlichen!) Denken des Absoluten einfügt. Auch der ›Anzestralität‹ ist ein Verhältnis eingeschrieben, das von Meillassoux ungedacht bleibt: Obwohl mit ihr bezeichnet sein soll, was »jeder menschlichen Form der Beziehung zur Welt vorausgeht« (ME 24), ruft das ante-cedere des gewählten Namens – vor allem im Französischen – unentwegt die ›Vorfahr*innen‹ oder ›Ahn*innen‹12 als ein vom späteren Zeitpunkt her gedachtes, ›korrelationistisches‹ Prinzip der genealogischen Abkunft an. Ein feministisches Spekulieren wird das Verhältnis als pro- duktives, aber immer auch riskantes, weil unberechenbares Verhältnis affirmieren. Verhältnis bleibt es aber nur, wenn es enthierarchisiert und ungerahmt als differierende Differenz gedacht wird. Auch der dritte zentrale Terminus des spekulativen Materialismus – die Kontingenz – sagt wortgeschichtlich und morphologisch von sich selbst, dass sie als eine Relation konzipiert werden möchte. Meillassoux stellt sie aber gewissermaßen als souveränen Akt vor, der selbst Subjekt ist und dessen Zweck sich in Zwecklosigkeit erschöpft. Kontingenz ist jedoch nicht Akt, sondern Ereignis, das zwischen ›Etwas‹ statthat: Es ereignet sich als cum-tangere, als ein ›Zusammen / Miteinander-Rühren‹. Sich der Haptik des Ereignisses zuzuneigen, um so den imperialen Blick und dessen Bemächtigungsfantasien hinter sich zu lassen, steht im Zentrum eines feministischen Spekulierens. In diesem Sinne ist eine feministische Haltung aufgerufen, das Spekulieren gewissermaßen gegen sich selbst zu wenden. Es initiiert einen »blinde[n] Ausbruch aus der geschlossenen Philoso- phenkammer, weg von der spekulativen Matrix, in der er [der Philosoph] sich zur klaren Betrachtung des Ganzen eingeschlossen hat« (IS 240). Trotz dieses Ziels nimmt feministisches Spekulieren seinen Ausgang in einem Regime des Visuellen. Weil es dort anfängt, wo ›Frau‹ sich vorfindet, ist es zu Beginn (und nur zu Beginn!) sogar Tautologie: Frau ist, als Frau, wie Irigaray herausarbeitet, selbst »der Spiegel«, der dazu dient, »das (die) eine zu spiegeln, das zu verdoppeln, was der Mann schon immer als Ort seiner Produktion, der Produktion erkannt hat« (IS 297). 12 Vgl. den Eintrag »ancêtre, n.«, in: Le Grand Robert de la langue française, der als erste Bedeutung »Celui, celle qui est à l’origine d’une famille, dont on descend« (»Derjenige, diejenige, der / die am Ursprung einer Familie ist, von dem man abstammt«, übers. von J. U.) anführt. 70 Johannes Ungelenk Darüber, gewissermaßen als analytische Spekulation, einen Diskurs zu führen ist wichtiger Bestandteil des feministischen Projekts, das Irigaray entwirft – und erfordert »geduldige Strenge«: Und selbst wenn es darum geht, eine bestimmte Art der Spiegelung und der Spekulation zu zerschlagen, heißt das keineswegs, daß man auf jeden Spiegel verzichten muß, und auch nicht, daß man es vermeiden kann, die Wirkung dieses Aufbaus der sprachlichen Repräsentation zu analysieren, der das weibliche Begehren sprachlos und, allgemeiner, leblos macht. (IS 183) Feministisches Spekulieren beschränkt sich jedoch nicht in Analyse. Es praktiziert als eine solche immer schon, was Irigaray »Anamorphose« (IS 286) nennt. Es entdeckt, dass der Spiegel eines weiblichen Imaginären keinesfalls plan und wohlpoliert ist, wie ihn sich der Philosophenmann zur perfekten Reflexion seiner Einheit imaginiert. In seiner Geschlecht- lichkeit ernst genommen – und das leisten Irigarays Analysen – erweise er sich als Hohlspiegel, d. h. als konkaver Spiegel, der »das Licht konzen- triert« (IS 183). Wohingegen das Geschlecht des Mannes dem konvexen Spiegel nicht fremd sei (vgl. IS 183). Bloß »[w]elches ›Subjekt‹«, fragt Irigaray provokativ, »hat sich für die anamorphotischen Gebilde inter- essiert, die aus der Konjunktion solcher Krümmungen hervorgehen?« (IS 183) Dies wird die Aufgabe der spekulativen Feminist*innen sein: Eine feministische ›anamorpho-spekulative‹ Analyse erschließt aus den Krümmungs-Konjunktionen gleich mehrere, miteinander verschachtelte kritische Potenziale. (1) Die verzehrende Umarmung – Wider die Aneignung Die lichtbündelnde Eigenschaft, die sich ›der Mann‹ als Generator der eigenen Einheit zunutze gemacht hatte, verleiht der Spekulation, die durch ›die Frau‹ statthat, eine ganz eigene Kraft. Sie ist »Brennspiegel, der sich in seiner Höhlung mit der Quelle des Lichtes (wieder)vereinigt. Um all das, was in seinen Fokus gerät, zu verzehren [embraser]« (IS 246). Dem Brennspiegel kommt ein gewisses Gewaltpotenzial zu. Er ist nicht einfach passives Instrumentarium, das einem Sehen dient und dieses über sich selbst hinaus steigert. Ihm wohnt eine Kraft, ein am- biges Tun inne, das den Kern des Lebendigen spendet – Feuer –, aber auch zerstörerisch alles zu zersetzen vermag, was sich dem Fokalpunkt und damit einer Vereinnahmung der Einheit zu nähern versucht. Genau hier wechselwirkt der ›optische Apparat‹ des Weiblichen, der »konkave[ ] Spiegel[ ]« (IS 184), mit dem unter männlicher Flagge stehenden Re- Irigaray und die Verzückung des Anderen 71 gime des Visuellen. Er ist nicht kompatibel mit dem männlichen Blick, im Gegenteil: Genau am vermeintlichen Ort der Produktion der Einheit setzt der Brennspiegel eine »entzündende Blendung« (IS 246) in die Tat. Er entzieht sich somit auf gewaltvolle, kräftige Art der Aneignung, ja, er ist darauf aus, jegliches unter dem Vorzeichen der Aneignung sich Nähernde zu (zer)stören. Dies tut feministisches Spekulieren aber nicht, um sich gegen fremde Übernahme zu behaupten und diese zu überdauern. Die von Irigaray aus der Mystik entlehnte Figur des Brennspiegels verbleibt nicht dabei, eine defensive zu sein. Sie affirmiert vielmehr den destruktiv anmutenden Verzehr, der als weibliches Begehren eine ganz eigene, eine »[s]eltsame Ökonomie« der »Spekulation und Spiegelung der Frau« (IS 251) in Gang setzt. Das Verzehren ist ein lustvolles Sich-Verzehren, das ihre Stätte – ›die Frau‹ – ebenso erfasst wie ihr Gegenüber. Was einer Aneignungslogik – der es um ein Sein geht, das am wachsenden Haben gemessen wird – wie ein tragischer Verlust, wie ein schwächendes Verlieren erscheinen muss, sind für die Mystik und für Irigaray Ver-Lust; das Erfasst-werden ist »Raptus« (IS 244), die Ekstase, um die es feministischem Spekulieren geht. Ein Verzücken, das – wie das Wort sagt – lustvoll ›fort-reißt‹ und zwar in ein Werden hinein, das lustvoll ist, weil es keinem Besitz, keiner ›Bemächtigung‹, wie Meillassoux sagen würde, mehr unterstellt ist: Diese intimste Zone der Behausung öffnet sich einzig dem, der seine Macht keinem Besitz schuldet. Das Intime gibt sich nur dann hin, wenn alles Vermö- gen, alles Haben, alles Sein, das sich anderswo und anders begründet als in dieser verzehrenden Umarmung [embras(s)ement], deren Sinn unfaßbar bleibt, vernichtet ist. In der jeder der andere wird, das Nichts des anderen, in diesem Verzehr [consumation]. (IS 245) Dass »jeder der andere wird, das Nichts des anderen« gibt einem unge- rahmten, einem tatsächlich offenen Werden die Formel. Als Verzehr, als consumation ist dieses Werden kein »Konsum«, keine Aneignung, keine als Tauschverhältnis rekonstruierbare Verausgabung. Es ist die Lust der absoluten, reinen, der unmöglichen Verausgabung, die als absolute losgelöst ist nicht vom Verhältnis, sondern vom Ding. Die verzehrende Umarmung (l’embras(s)ement) zehrt alle beteiligten Entitäten auf, um die Kraft des Verhältnisses, die Kraft des ›Mit‹ / con- zu entfalten. Werden wird aus dem ›Mit‹ einer Mitte, die sich nur öffnet, wenn sie nicht von einem stabilisierenden Rahmen offengehalten wird, sondern aus sich selbst eine »intime Zone« bildet. Feministisches Spekulieren jagt also weder einem noch nicht erkannten Ding nach, noch versucht es, der Genese der Dinge einen beschreibbaren Rahmen zu geben. Es ist Intervention, die einer verzehrenden Umarmung eine Stätte bereiten möchte. Als solche 72 Johannes Ungelenk steht ihr jegliches Denken, das auf Entitäten und deren Aneignungs- verhältnissen gründet, entgegen. (2) Ein unheilbares Doppeltsehen – Wider die Hierarchie Bei aller lichtbündelnden Wirkung, die den konkaven Spiegel für femi- nistisches Spekulieren interessant macht, zeichnet er sich auch durch Eigenschaften aus, die einem reinen, quasi reflexfreien Reflektieren im Wege stehen. Seine Oberfläche hat eine der Wissenschaft der Optik unberechenbar bleibende, diffraktale Tiefe: [V]ielleicht kündigt sich jenseits dieser spiegelnden Oberfläche, die den Dis- kurs trägt, ja nicht die Leere des Nichts an, sondern das blendende Licht einer Speleologie, einer Höhlenkunde, das durch unzählige Facetten gebrochen wird. (IS 183) In dieser mannigfaltigen, ›unterirdischen‹ Lichtbrechung liegt ein dem feministischen Spekulieren charakteristisches anamorphotisch-kritisches Potenzial. Durch sie geht es die selbst gesetzte Aufgabe an, »den Sinn radikal zu erschüttern« (IS 181) und wendet sich gegen die Instrumen- talisierung des ›weiblichen‹ Spiegels zur Konstruktion der einen, der kohärent männlichen Welt. Es gilt also, die Illusion des transzendentalen Subjekts unerbittlich diffraktal zu stören: […] seine Vernunft aus dem Gleis werfen, seinen Blick trüben, bis daraus ein unheilbares Doppeltsehen entsteht […], so daß man für lange Zeit nicht mehr vorhersehen kann, von wo, worauf hin, wann, wie, warum dies oder jenes geschieht. (IS 181) Irigarays »unheilbares Doppeltsehen« bezeichnet dabei keineswegs eine Form von selbstauferlegter Blindheit, sie ist nicht als eine bewusste oder resignative Begrenzung der menschlichen Erkenntnis zu verstehen. Viel- mehr beschreibt es einen Verhaltens-Modus, der mit ›Welt‹ in Kontakt tritt, ohne dabei die imperiale (Blick-)Position des transzendentalen Subjekts zu setzen. Mit dem Konzept des »unheilbare[n] Doppeltsehen[s]« sind wichtige Eckpunkte eines solchen Modus artikuliert: (1) Irreduktibilität auf Eins. Doppeltsehen scheitert am Anspruch, zur Sicherheit und Stabilität des Einen zu gelangen, auf das das traditionelle Sehen und Erkennen zielt – es bricht jedes als Eines vor-gestellte in mindestens zwei. Mit anderen Worten: Es lässt immer ein Anderes ›resten‹, dessen Funktion für das Eine nicht angebbar bleibt – der Rest stört insistierend. Aus konventioneller Perspek- tive muss Doppeltsehen deshalb als Pathologie erscheinen. »[U] nheilbar« Irigaray und die Verzückung des Anderen 73 wird sie in Irigarays provokanter Terminologie, weil Doppeltsehen weder eine (zeitweilige) Aberration, noch Durchgangsstation auf dem Weg zur Wahrheit ist, sondern unhintergehbare Tatsache. Die »weißen Stellen im Diskurs«, auf die es aufmerksam macht, sind nicht von besserer Sicht noch zu eliminierende, sondern sichern »in ihrer schweigenden Plastizität den Zusammenhang, die Verknüpfung und die kohärente Ausdehnung der etablierten Formen des Diskurses« (IS 181). Das Doppeltsehen hat die Aufgabe, auf jene weißen Stellen zu insistieren, die an die Orte ihres Ausschlusses erinnern und damit auf die verfehlende, gewaltvolle, immer unvollständige Herstellung der Illusion des Einen zu verweisen. Dabei ist immer bereits am Wirken, was Doppeltsehen positiv aus- zeichnet: (2) die produktive Spannung eines a-hierarchischen Verhältnisses. Doppeltsehen trägt diese irreduzible Spannung stets aus. Da das ›Sehen‹ des feministischen Spekulierens nicht – wie im traditionellen Modus des Erkennens – auf ein Identifizieren des Einen zurückfällt, sondern die Span- nung des Doppeltsehens aufrechterhält, muss in ihm ein ganz besonderes Verhältnis zum Anderen statthaben. An unterschiedlichen Stellen in Irigarays Abhandlung Speculum, in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Texten, formuliert Irigaray verschiedene Bedingungen, die einem solchen Verhältnis förderlich sind. So etwa die Minimalbedingung, die »aus der Tatsache des Denkens auf die Existenz des anderen – und auch auf sich selbst als anderen« (IS 229) schließen lässt. Ernst genommen verunmög- licht bereits diese Minimalbedingung das restlose Aneignen, genau wie die so oft zugrunde gelegte Selbstidentität (und damit Widerspruchslosigkeit) des Erkennenden oder des erkennenden Prinzips (etwa der Mathematik). Um der Erfahrung eines gewaltsamen Aneignens, das sich von der bloßen Existenz des anderen nicht beeindrucken lässt, zu begegnen, formuliert Irigaray eine weitere Bedingung: »wenn der eine den anderen an Größe und Qualität nicht mehr übertrifft« (IS 246), halte sich deren Verhältnis in produktiver Schwebe. Es ist ein nicht-hierarchisches, das als solches, unter dem Vorzeichen der Gleichheit, jegliche Übergriffigkeit ver- meiden und ein stetiges Mit-Einander verwirklichen soll. Doch auch und gerade das Gleichgewicht der Kräfte kann als fragiles, stets gefährdetes nicht dauerhaft gegen eine Kolonisierung und Aneignung des Anderen versichern. Irigaray hegt deshalb eine doppeltsehende Vision, die das un-hierarchische Verhältnis in ein a-hierarchisches überführt: [in] zwei Syntaxen, die ohne jede Möglichkeit einer wie immer versteckten Hier- archisierung ganz offen und direkt miteinander verknüpft werden sollten. Zwei Syntaxen, die irreduzibel sind in ihrer Fremdheit und Äußerlichkeit zueinan- der, abhängig von verschiedenen Zeiten, Orten, Logiken, »Repräsentationen«, Ökonomien. (IS 176) 74 Johannes Ungelenk Die a-hierarchische Differenz der zwei Syntaxen, die von keinerlei über- geordneter Einheit zusammengehalten werden und sich daher so fremd und äußerlich bleiben, dass keinerlei Maß einer Gleichheit gefunden werden könnte, bildet gewissermaßen den Nabel von Irigarays theoreti- schem Schaffen. Ihr Denken der sexuellen Differenz als Paradigma eines solchen unaufhebbaren, unvermittelbaren und deshalb a-hierarchischen Verhältnisses bringt ein an philosophischer Versiertheit, Konsequenz und politischer Anschlussfähigkeit kaum zu übertreffendes Denken der Differenz hervor.13 Zugleich nährt Irigarays scheinbares Setzen von zwei geschlechtlichen Syntaxen aber auch den Verdacht der Essentialisierung von Geschlecht.14 Gerade das »unheilbare[ ] Doppeltsehen« sollte solchen Verdacht aber auszuräumen helfen. Im Gegensatz zu jeder »intelligible[n]«, jeder »theoretische[n] Kontemplation« (IS 241) ist Feministisches Spekulieren bewusst blind für »das WESEN« (IS 241) – und sei es auch ein ›weib- liches‹. Als »unheilbares Doppeltsehen« spaltet es WESENheiten und wandelt sie in ein spannungsvolles, differierendes Verhältnis: »[D] ie Existenz des anderen« zu denken und anzuerkennen betrifft so auch »sich selbst als anderen« (IS 229). Irigarays Nebensatz sollte jeglichen Essentialismusvorwurf nachhaltig untergraben. Verwirrung stiftet die scheinbare Symmetrie der beiden Syntaxen, die verleitet, den Modus der bekannten, vorherrschenden Syntax – der männlichen, um Einheit zentrierten – auch auf die ›weibliche‹ Seite abzubilden. Genau anders- herum denkt Irigaray aber das Verhältnis der Syntaxen: Sie differieren inkommensurabel, nicht als absolute Dinge (wie Meillassoux ein solches Verhältnis unkorrelationistisch denken würde), sondern im Modus der (weiblichen) Differenz. Erst unter den Vorzeichen zweier a-hierarchisch differierender Syntaxen ist ein Denken, oder besser, ein Mit-Vollziehen von Kon-Tingenz möglich. Nur so kann sich etwas im Zwischen ereignen. Das Doppeltsehen als Verhaltens-Modus der Kontakt-Nahme mit Welt charakterisiert ein weiterer Eckpunkt, der auch dem Essentialismusvorwurf 13 Rosi Braidottis oder Elizabeth Grosz’ Werk gibt den besten Hinweis darauf, wie viel dif- ferenzphilosophisches Denken mit feministischem oder queertheoretischem Anspruch sich Irigarays Pionierarbeit verdankt. 14 Irigarays Referenz für geschlechtliche Unterscheidung ist nicht ›Biologie‹: ›Frau‹ und ›Mann‹ sind Figuren des Imaginären – da hinter diesen jedoch keine ›authentischeren‹ ›realen‹ Figuren stehen, sondern für Irigaray als ein (diskursiver) Umgang mit Geschlecht auf imaginäre Figuren verwiesen bleibt, habe ich im Verlaufe des Textes sukzessive auf eine Kennzeichnung der Uneigentlichkeit dieser Figuren verzichtet. Die Geste zielt auf die Zerstörung des Eindrucks, es gäbe eine geschlechtliche Essenz hinter der (falschen) Zweigeschlechtlichkeit. Wenn bei Irigaray das weibliche Geschlecht affirmiert wird und dadurch ›essentialisiert‹ erscheint, dann weil es eben nicht eins davon ist, Anti-Essenz, kein Ding, keine Substanz, sondern Differenz! Irigaray und die Verzückung des Anderen 75 entgegenzuwirken vermag: (3) Pluralisierung der Differenz. Das »blendende Licht einer Speleologie, einer Höhlenkunde«, die Irigaray als feministisches Projekt vorschlägt, ist nicht von ungefähr »durch unzählige Facetten ge- brochen« (IS 183). Diffraktion ist nicht bloß ein kritischer Modus, der das gegenstehende, ›männliche‹ spaltend schwächen soll – es ist für Irigaray Grundprinzip und Grundbedingung jeglicher feministischer Operation. Differenz ist so nichts Fest-Zustellendes, etwa als gegebene und daher zu beachtende, ja zu behauptende Relation zwischen den Geschlechtern. Sie ist Fortzuschreibende, im fraktalen Modus der Dissemination, auf dass »unzählige Facetten« noch ungesehenes Glitzern, unvordenkliche Diffraktionsmuster erzeugen mögen. Feministisches Spekulieren operiert daher nicht mit einem wie auch immer gearteten ›weiblichen‹ Spiegel, sondern unterzieht diesen – und damit sich selbst – einer mannigfaltigen Brechung. Die Spiegel des feministischen Spekulierens sind daher kein Eigentum der Feminist*in, sondern disseminieren sich in die Welt als ihre wirkenden Differenzen: Spiegel aus einer so flüssigen und feinen Materie, daß sie sich bereits allem beigemischt, sich überall eingeführt hätte. Immer schon dazwischengetreten, dennoch unsichtbar, unspürbar in ihrem Geflimmer, das der bestimmenden Reflexion fremd bleibt. Weil alles bereits auf solch intime Weise gespiegelt ist, daß selbst auf dem Grund des Abgrunds der ›Seele‹ ein Spiegel ihren Reflex und ihr Licht erwartete. (IS 246) Dies ist ein Projekt der Feminist*innen: mit den alles auf intimste Weise betreffenden Spiegeln zu spekulieren, ihrem Spekulieren Platz und Wirk- samkeit zu verschaffen, ihre Vervielfältigung voranzutreiben, sie gegen die Herrschaft des Einen, »der bestimmenden Reflexion«, zu behaupten. (3) Spekulieren = Berühren Nehmen wir an, feministisches Spekulieren sei Berühren. Was würde ein solch unmöglicher Übergang zwischen den Sinnen bedeuten? Da- rüber mag folgender Satz Irigarays Auskunft geben: »(Die / eine) Frau ist schon immer im Zustand der Anamorphose, in dem jede Figur sich verflüchtigt« (IS 286). In ihm kommt zur Sprache, was es heißen kann, mit den Spiegeln zu spekulieren. Denn dieses besondere ›Mit‹ ist kein instrumentales. Für den Zustand der Anamorphose braucht Frau kei- nen Zerrspiegel, er ist kein von einem externen Apparat hergestellter. Die Anamorphose ist ein lustvolles (Selbst-)Verhältnis, das ›Frau‹ von ›Mann‹ unterscheidet: »[D]er Mann braucht ein Instrument, um sich zu berühren: die Hand, die Frau oder irgendein Substitut« (IS 288). Nicht 76 Johannes Ungelenk aber die Frau. Ihr Geschlecht bildet eine Stätte, »wo sie sich ohne etwas, aufgrund von nichts immer wieder selbst berührt. Die Lippen derselben, aber niemals einfach bestimmten Form gehen ineinander über, indem sie sich berühren, sich ineinander und zueinander verschieben« (IS 285). Obwohl »(quasi) unvermittelt« (IS 250) und instrumentfrei ist diesem (Selbst-)Verhältnis aber eine unüberwindliche Distanz, nämlich die Brechung des Doppeltsehens eingeschrieben. Dieser Abstand involviert die spekulierende Feminist*in selbst, er durchquert sie, sie hat Teil an ihm, er hat Teil an ihr – dies ist ihr Mit-einander: [S]ie erregt und berührt schon in sich das andere, ohne daß sie jemals das (die) eine oder andere werden würde. Das Besondere dieses Kontaktes, der sich verformt und verändert, kann nicht in der Einfachheit von irgend etwas Gegenwärtigem ausgedrückt werden. (IS 286) Die Verformung und Veränderung vollzieht sich auch – und vor allem – an der so Spekulierenden. Deshalb ereignet sich Berührung: In der Berührung des feministischen Spekulierens überführt Frau nicht das »Nichtforma- lisierbare« (IS 285) in feststellbare Identität; sie setzt der Identität ihr Nicht-Identisches frei. Anamorphose bedeutet »Überschuß gegenüber jeder Identifizierung mit sich und von sich« (IS 285), d. h. eine Stätte, wo ›Form‹ sich spaltet und in Übergang gerät. Frau steht nicht nur »als Zeichen für das Undefinierbare, Unzählbare, Unformulierbare, für das Nichtformalisierbare« (IS 285) – dieses hat in ihr selbst statt. Eben dies speist ihre »Lust, sich mit dem anderen ohne Ende auszutauschen durch ein (Sich-)Berühren, das von keiner bevorzugten Identifizierung angehalten wird, das ein ständiges Ineinanderübergehen ist« (IS 291). Wenn sie »die Abweichung, die immer schon auf das andere verweist« (IS 291) sucht, dann um sich mit ihr zu verschieben, hin auf ein Unbekanntes. Feministisches Spekulieren ist so nicht Intervention, die eingreift, um ein gehegtes Ideal zu realisieren: Sie ist Intra-vention,15 weil sie sich mit-verschiebt, mit-verändert, mit-verformt und die Lust daran nicht an einem projektierten Ziel, sondern der Veränderung, dem Werden selbst liegt. Dieses Besondere des Kontaktes charakterisiert feministisches Spekulieren als Berühren: Weder der (die) eine noch der (die) andere werden dabei als Endpunkte ver- standen, und auch das nicht, was beim Übergang des einen in das andere dazukommt und das nicht nichts ist: das Geringfügige, das an der Zirkularität einer Bewegung fehlt, die auf sich selbst zurückkommt, die Abweichung, die immer schon auf das andere verweist. (IS 291) 15 Inspiriert von Karen Barads Begriff der intra-action: »The neologism ›intra-action‹ signifies the mutual constitution of entangled agencies« (Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 33). Irigaray und die Verzückung des Anderen 77 (4) Strange bedfellows – Affirmation des »farre off« Irigarays Denken des Berührens fasziniert. Doch genau in seiner Ver- körperung im weiblichen Geschlecht liegt auch eine Gefahr. Allzu leicht erscheint diese Berührung, die bei ›Frau‹ immer schon statthat, als problemlos präsentisch verfügbares, im Grunde immer schon ›femi- nistisch‹ angeeignetes Gut. Zugleich droht die Identifikation von ›Frau‹ mit dem »Undefinierbare[n], Unzählbare[n], Unformulierbare[n], […] Nichtformalisierbare[n]«, sich aber genau zu dem zu verschließen, gegen das Irigarays ›Frau‹ sich richtet: zu dem Einen, das die Grundlage für Identifizierung böte: »Die Zwei ist hierin schon auf die Eins zurückbe- zogen, sogar in ihren inneren Unterschieden. Das ganz Nahe verweist nicht mehr auf das unerreichbar Ferne« (IS 293). Vielleicht überschätzt Irigaray das minoritäre Potenzial von ›Frau‹, vielleicht haben sich auch einfach die Zeiten (zum Glück!) geändert: Wahrscheinlich setzen gerade die Erfolge feministischer Projekte und eine bessere makropolitische Anerkennung – man könnte auch sagen eine ausgefeiltere Einbettung des Weiblichen in Disziplinierungszusammenhänge – der Idee zu, »das unerreichbar Ferne« in ›Frau‹ selbst finden zu können. Für ein embras(s) ement, eine verzehrende Umarmung, »[i]n der jeder der andere wird, das Nichts des anderen« (IS 245), scheint die Andersheit der Frau zu sich selbst jedenfalls zu schwach geworden zu sein. Auf das »unerreichbar Ferne«, das fern ist, wie die Sterne, kann femi- nistisches Spekulieren jedoch nicht verzichten. Ganz wie dem traditionellen setzt auch dem feministischen Spekulieren das »farre off«16 erst die Lust frei, die das ganze Unternehmen in Gang bringt. Deshalb scheint es nun ›etwas anderes‹, etwas ›von außen‹ zu brauchen, damit »der Abstand, die Abweichung zwischen den zweien« nicht »auf Eins fixiert und damit starr gemacht« wird. (IS 291) Zumindest der Möglichkeit nach ist diese Option bei Irigaray angelegt: Ein anderer (eine andere) wird sich auf vielerlei Weise einmischen können, unter der Bedingung, dabei nicht die Rigidität seiner Formen durchzusetzen: der Form des Seins, des Habens, des Sagens, des Denkens. […] Denn die Unerbittlichkeit dieser Formen setzt dem Austausch stets ein Ende. (IS 291) Angesichts der Lage wäre diese Option noch zu stärken: nicht bloß limitierende Bedingung eines Bekenntnisses zur Form-Passivität, son- dern Aufruf danach, auf dass diese* andere ihre Anamorphose kräftig in das allzu Formalisierte »einmische[ ]«! Auf dass sie* sie mit ihrer 16 Eintrag »Speculer«, in: Dictionarie of the French and English Tongues. 78 Johannes Ungelenk Unformalisierbarkeit anstecke! Auf dass sie* sie in Kontakt bringe mit einer unerreichbaren Ferne! Irigarays ›Frau‹ hat eine* solche ›andere*‹ gefunden, auf die* sie sich ohne Reserve einlässt: »So wird ›GOTT‹ ihr bester Liebhaber sein, weil er sie von sich selbst entfernt und ihr diesen Zwischenraum für ihre Lust gibt.« (IS 291) Gerade der jüngere feminis- tische und queere Diskurs hält eine ganze Reihe solcher strange bedfel- lows bereit, wird von ihnen sogar seit längerer Zeit maßgeblich geprägt: Drag-Queens und -Kings (Butler), Dildo und Testo (Preciado), Cyborg und tierische Gefährten (Haraway). Mit und durch alle diese unformali- sierbaren anderen wird (queer)feministisch spekuliert: d. h. kein Fernes erspäht, um es in die behagliche Nähe des Bekannten anzueignen und über es für alle Zukunft zu verfügen. Alle diese strange bedfellows nehmen Teil an der »[s]eltsame[n] Ökonomie [der] Spekulation und Spiegelung der Frau« (IS 251). Seltsam, weil Entfernung ihr keine auf ein Aneignen hin zu überwindende ist, sondern eine öffnende, spannungsgenerierende Bewegung: Entfernung, »[d]ie den, der sich nähert, entfernt und sich von ihm entfernt, die über die Trennung von dem seufzt, der sie aufs engste umfangen hält« (IS 251). Nur so öffnet sich der »Zwischenraum für ihre Lust«, der dem Werden einer offenen Zukunft eine Stätte gibt. In einem Satz: Feministisches Spekulieren ist Verzückung des Anderen, eine intensive, lustvolle / verlustige Affektion, von der fast vergessen ist, dass sie sich aus einem »›von seinem ort entfernen, entrücken‹; verzer- ren, verrenken«17 speist. Eben aus Verzückung, die anamorphotisch die Zukunft öffnet. Sigleverzeichnis ME = Meillassoux, Quentin: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, übers. von Roland Frommel, Zürich 2008. IS = Irigaray, Luce: Speculum de l’autre femme, Paris 1974. Literaturverzeichnis Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, München 1992. Eintrag »ancêtre, n.«, in: Le Grand Robert de la langue française, Paris 2017. Eintrag »Speculer«, in: Dictionarie of the French and English Tongues. Compiled by Randle Cotgrave, London 1611. Eintrag »VERZUCKEN, verzücken, vb.«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961, zitiert nach: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/ wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS33812#XGS33812 (aufgerufen am 06.03.2019). Irigaray, Luce: Ce sexe qui n’en est pas un, Paris 1977. 17 Eintrag »VERZUCKEN, verzücken, vb.«, in: Grimm / Grimm: Deutsches Wörterbuch. Irigaray und die Verzückung des Anderen 79 Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist, übers. von Eva Meyer / Heidi Paris, Berlin 1979. Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, übers. von Xenia Rajewsky / Gabriele Ricke / Ger- burg Treusch-Dieter u. a., Frankfurt a. M. 1980. Joy, Eileen A./Katerina Kolozova (Hg.): After the »Speculative Turn«. Realism, Philosophy, and Feminism, Earth, Milky Way 2016. Kaiser, Mara Birgit / Kathrin Thiele (Hg.): Diffracted Worlds – Diffractive Readings. Onto-Epistemologies and the Critical Humanities, London 2014. Meillassoux, Quentin: Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris 2006. In tief verbundener Abwesenheit. Cixous’ telepathische Lektürepraxis a N N i K a h a a s How does communication take place? Via »telepathic response«, I’d say. Comment se passe la communication? Par »réponse télépathique« dirai-je.1 Sowohl die Frage nach ›Kommunikation‹ als auch die ›telepathische Antwort‹ in Hélène Cixous’ Essay Philippines: prédelles aus dem Jahr 2009 überraschen mich. Sie unterbrechen auf den ersten Seiten dieses Buches eine assoziative Lektüre von Marcel Proust und Sigmund Freud, die von Gedanken zum Lesen selbst getragen ist: Lesen führe von einem Buch ins nächste und es hat etwas von einer ›Rückkehr zum Ausgangs- punkt‹. Was das heißt, wird mir erst durch wiederholte Lektüren und das Nachlesen bei Freud begreiflich werden. Die Frage nach Kommunikation stellt mich vor eine andere Art von Unverständnis. Sie bringt ein Wort ins Spiel, das ich als Begriff lese. Es ist somit auch meine theoretisch geprägte Lesart, die Cixous’ Durchwandern literarischer Welten an dieser Stelle durchkreuzt. Kommunikation, was das ist und wie sie vonstattengeht, dafür gibt es zahlreiche Modelle. Das eigentlich Irritierende aber ist, was hier darauf erwidert wird, zumal nicht ganz klar ist, von wem: »réponse télépathique« (telepathisches Antworten). Telepathie, damit verband ich vor der Lektüre von Philippines okkulte Szenen, die sich an schummrig beleuchteten Ti- schen abspielen. Cixous’ Text gab mir Anlass, Telepathie nun auch aus theoretischer und historischer Distanz zu betrachten. Den Neologismus telepathy bildete der englische Philosoph und Mitbegründer der Society for Psychical Research Frederic W. H. Myers im 19. Jahrhundert aus tele und pathos. Er meint im engeren wörtlichen Sinne das Empfinden oder 1 Cixous: Philippines, S. 7. Nachweise im Folgenden mit Sigle Ph und Angabe der Seitenzahl direkt im Text; Cixous: Philippines: prédelles, S. 17. Nachweise im Folgenden mit Sigle Php und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen von Annika Haas. Prédelles im französischen Titel meint Altarsockel (Pre- della). Es ist wahrscheinlich eine Anspielung auf ein Säulenrelief mit der Inschrift Parva sed apta (nach Horaz: »klein, aber mein«) am Elternhaus der Romanfigur Peter Ibbetson, um die es in diesem Buch u. a. geht. In tief verbundener Abwesenheit 81 Erleiden aus der Ferne, gemeinhin auch als »Gedankenübertragung« bezeichnet.2 Myers zufolge widmeten sich die Wissenschaften, nicht zuletzt die durch ihn mitbegründete Parapsychologie, damit nun auch jenen Fragen, »which the human heart will rightly ask, but to which Reli- gion [sic!] alone has thus far attempted an answer«.3 Etwa der Frage, was bewusst und unbewusst bzw., gemäß seinem Modell, vom menschlichen supraliminal bzw. subliminal self wahrgenommen wird.4 Cixous’ Text greift mit Telepathie also einen epistemischen Gegenstand auf, an dem sich zahlreiche Umbrüche in der Ordnung von Wissen und Wissenschaft ablesen lassen, u. a. in Wilhelm Jensens Erzählung Gradiva (1903), die Freud wenige Jahre später diskutierte oder in Jacques Derridas Fragment Télépathie (1981), das wiederum auf Freud antwortet. In seinen aus Krankheitsgründen nie gehaltenen Vorlesungen Traum und Okkultis- mus (1933) sowie Traum und Telepathie (1922) betont Freud jedoch, kein Interesse daran zu haben, »dem Rätsel der Telepathie«5 nachzugehen oder sich dazu zu positionieren.6 Mittels der psychoanalytischen Deutung sogenannter telepathischer Träume argumentiert Freud sogar dagegen, dass Traum und Telepathie in einem Zusammenhang stünden, plädiert aber zugleich dafür, okkulte Phänomene wie die Gedankenübertragung zu analysieren. Er stellt deren ›Realität‹ nicht per se in Frage, betont aber, dass es (noch) keine Klarheit darüber gibt (vgl. TuO 492). Telepathie sei zumindest ein »recht häufiges Phänomen«, und gewöhne man sich erst an ihre Vorstellung, »so kann man mit ihr viel ausrichten, allerdings vorläufig nur in der Phantasie« (TuO 494). Tele-Kommunikation In diesem Sinne will ich mich hier auf den Gedanken einlassen, Kom- munikation geschehe »durch telepathisches Antworten«, zumal – »I’d 2 Vgl. Eintrag »Telepathie«, in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. 3 Zit. nach Searle: A New England?, S. 641. Searle liest Myers’ Beschäftigung mit dem Paranormalen auch als Suche nach einer neuen Religion: »[H]aving lost his Christian faith, [he] sought a new kind of Religion that could reassure him that death did not lead to extinction« (ebd., S. 640). 4 Seine Ausführungen stießen zu seiner Zeit jedoch auf Zurückweisung aufgrund fehlender Beweise. Vgl. Oppenheim: The Other World, S. 257 f. 5 Freud: »Traum und Telepathie«, S. 165. 6 Freud war Mitglied der Society for Psychical Research. Als Telepathie fasst er »die angeb- liche Tatsache, daß ein Ereignis, welches zu einer bestimmten Zeit vorfällt, etwa gleichzei- tig einer räumlich entfernten Person zum Bewußtsein kommt, ohne daß die uns bekannten Wege der Mitteilung dabei in Betracht kämen« (Freud: »Traum und Okkultismus«, S. 477). Nachweise im Folgenden mit Sigle TuO und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 82 Annika Haas say«, »dirai-je« – es sich dabei zunächst um eine Vermutung handelt. Ihr nachzugehen, bedeutet, sich mit Cixous eine Lektürepraxis zu er- schließen, die auf ihre Weise als telepathisch verstanden werden kann. Dabei wird nicht um des (theoretischen) Verstehens willen gelesen. Eine solche Praxis begreift Texte als Pfade, die immer parallel zu denen anderer verlaufen und zugleich jede Leserin anderswo hinführen, selbst wenn sie versuchen würde, diesen Pfaden Schritt für Schritt zu folgen. Der Charakter der Cixous’schen télépathie ist damit weniger intentional als pathisch: Sie geschieht mir, ich kann sie weder mit okkulten Gegen- ständen noch durch mentale Praktiken herbeiführen. Vielmehr geht diese ernsthafte und damit auch ergebnisoffene Beschäftigung mit Telepathie mit einer Lektürepraxis einher, die das Lesen als Kommunikation mit anderen begreifbar werden lässt. In Philippines findet das wiederum Ausdruck in einer Schreibpraxis, die eine zuweilen schwindelerregende Textarchitektur aus Übergängen von einem literarischen Raum zum nächsten Traum zur Schreibszene Cixous’ entstehen lässt, welche mit Protagonist*innen aus Literatur, Theorie und ihrem Leben belebt ist. Philippines wirkt daher wie eine geschriebene Reinszenierung ihrer Lektüre: Sie vollzieht sich als Durch- querung verschiedener Räume durch eine Reihe von Begegnungen mit den Autor*innen, Charakteren, Figuren und Stimmen jener Orte, an die die Leserin immer wieder unvorhergesehen mitversetzt wird. Aus diesen Begegnungen spricht das Begehren, zum point de départ (Ausgangspunkt) zurückzukehren. Es handelt sich dabei, mit Freud gesprochen, um das Symptom, »das Ichfremdeste«, das »innere Ausland«.7 Dies klingt in der Fortsetzung der zu Beginn zitierten Textstelle als »foreign land«8 an: It’s as if a book, which I do not know, […] were only just responding to me while itself asking my own questions in front of me, in its language, whereas I said nothing, I say nothing, the story takes place in a foreign land, where I have never been, yet it is mine, I don’t return from it / I cannot believe it [je n’en reviens pas]. (Ph 7) Dieser Weg zum Ausgangspunkt kann jedoch nur mit anderen beschrit- ten werden und wird durch die Begegnungen mit diesen geleitet. Sie geschehen als ein Antworten und ein In-Anspruch-Genommen-Werden durch verschieden im Text verkörperte andere, auf die die Leserin Cixous zufolge besonders in ihrem ›geheimen Lieblingsbuch‹ trifft. Ihr secret book, 7 Vgl. Freud: »Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit«. 8 Auch am Ende des Buchs wird das »innere Ausland« nochmals als Ort der Telepathie bezeichnet: »One cannot give proofs […] of telepathy. Since it takes place inside the inner foreign country« (Ph 72). In tief verbundener Abwesenheit 83 ihr livre (à) secret (vgl. Ph 7; Php Prière d’insérer) ist der Roman Peter Ibbetson von George du Maurier aus dem Jahr 1891. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es um die Leserin weiß, ohne dass ihr dies bewusst ist. Every one of us has a secret book. It is a cherished book. It is not beautiful. Not great. Not so well written. We don’t care. […] We forget it but it never forgets us. It knows everything about us but it does not know it knows. (Ph ix) Für Cixous heißt das, dass Peter Ibbetson ›zu ihr spricht‹: Nicht nur zeit- lich betrachtet geht der Roman aus dem 19. Jahrhundert ihrer eigenen Existenz voraus, er antwortet ihr und ist zugleich das, worauf sie antwortet (respond).9 Das Buch hat also nicht die Antworten auf ›ihre‹ Fragen, sie begegnen ihr erst bei der Lektüre. Cixous kommt das während einer von vielen Re-Lektüren von Peter Ibbetson zu Bewusstsein. Ausgehend davon verfasst sie einen Essay mit dem Titel Philippines. Er verweist auf Vieles, nur nicht auf den als »Philippinen«10 bekannten Staat und bleibt vorerst rätselhaft. Im Unterschied dazu liest sich der Titel eines Symposiums, auf dem der Text 2008 vorgetragen wird, wie eine Reihe von greifbaren Hinweisen, was zur Cixous’schen communication11 bzw. »telepathic response« zählt: rêver, croire, penser.12 Das Träumen, dass man auch ein bisschen an diese Form der Kommunikation glaubt und dass aus dem damit verbundenen Begehren eine eigene Form des Denkens entstehen kann. Das Titelbild zeigt eine Schreibszene, die in Telepathie wie in Tele- kommunikation eingebettet ist: Auf dem Bett liegen zu Cixous’ Füßen ihre Katzen Philia und Alethia. Von letzterer berichtet sie in einem Epilog zu Philippines, wie sie zusammen geschrieben haben: »I was writing, I was reading, I was walking along rue du Cercle Militaire simultaneously, with sentences singing by my side, colours of geraniums and orange trees by Alethia’s sides« (Ph 66).13 Griffbereit liegt auch ein schnurloses 9 Diese Lesart eines Antwortens im responsiven Sinne geht von Bernhard Waldenfels’ Konzept leiblicher Responsivität aus. Vgl. Waldenfels: Antwortregister sowie einführend Sternagel: »Bernhard Waldenfels«. 10 Darin findet sich der Name Philipp II., nach dem das Archipel durch Ruy López de Villalobos 1543 benannt wurde. Im Französischen bezeichnet Philippines auch dessen Bevölkerung. Cixous geht auf die Philippinen und deren ›nominale‹ Kolonialisierung nicht ein. Vgl. Eintrag »Philippinen«, Wikipedia. 11 Was im Französischen auch »Vortrag« meint und somit die ›erste Form‹ dieses Essays darstellt. »Philippines« wurde im Juni 2008 an der University of Sussex und zwei Wochen später in Paris im Rahmen der Tagung Croire Rêver (16.–18.06.2008) vorgestellt. Vgl. Cixous: »Philippines«, S. 279, Anm. 1. 12 Vgl. Clément / Cixous: Rêver, croire, penser. Philippines ist nicht Teil dieses Sammelbands, sondern erschien 2009 als Monografie auf Französisch und 2011 in englischer Überset- zung. 13 Die Rue du Cercle Militaire ist eine Straße im algerischen Oran, wo Cixous aufwuchs. 84 Annika Haas Abb. 1: Cover zum Tagungsband Rêver, croire, penser. Autour d’Hélène Cixous Festnetztelefon direkt neben einer großformatigen Kladde – Cixous’sche Medien der Kommunikation. Das Bedürfnis danach, sich über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg einander mitteilen zu können, bemerkt sie 2011 gegenüber dem Kurator Hans-Ulrich Obrist, habe es schon immer gegeben.14 Und es materialisiere sich im Telefonapparat. Umgekehrt sei Telepathie also Kommunikation ohne Telefon bzw. mit einem Telefon, das direkt am Herzen hängt: »I have Philippine on the cordial Telephone. Telephilia. Telephilippine.« (Ph 22) Es ermöglicht die Kontaktaufnahme zwischen / mit entfernten Lieben/den wie zu Jacques Derrida: »I’m waking you up? I dreamt about you. He tells me his dream.« (Ph 71) Bei der Entstehung des Buchs ist Derrida nicht mehr unter den Lebenden.15 Cixous verfasst diesen Text dennoch mit ihm wie auch an ihn und affirmiert dadurch das Kommunikative des Schreibens. 14 Vgl. Serpentine Gallery (Hg.): »Garden Marathon 2011«. 15 Nicht zuletzt ist es Derridas Beschäftigung mit Telepathie, die Philippines auch zu einem Trauertext für ihn werden lässt. In einem als Fragment der Postkarte (1985) geplanten Essay fasst Derrida Telepathie als die Ankündigung und zugleich Produktion dessen auf, was anderswo und zukünftig geschehen bzw. im pathischen Sinne zustoßen wird. Vgl. Derrida: »Telepathy«. In tief verbundener Abwesenheit 85 Die Art und Weise ihrer Kommunikation wird an einer Stelle im Text besonders plastisch, an der »Freud’s voice droning out the first beats of his second imaginary lecture« (Ph 13) zunächst als Klangquelle auftaucht. Er kündigt an, dass es jetzt losgeht: »Meine Damen und Herren! Wir werden heute einen schmalen Weg gehen, aber der kann uns zu einer weiten Aussicht führen.« (TuO 472) »All this was taking place in Freud’s head on the one hand, in my head on the other hand.« (Ph 14) Cixous formuliert damit gleichzeitig, was Kommunikation als ›telepathisches Antworten‹ heißt: Dabei ist es nie nur ein ›Kopf‹, in dem ein Gedanke ›stattfindet‹. Es sind immer mindestens zwei, die einen telepath beschrei- ten bzw. dadurch erst entstehen lassen. Im Umkehrschluss heißt das, dass Gedanken dabei nicht ›übertragen‹, sondern vielmehr im Sinne des Gemeinschaftsstiftenden der Kommunikation ›mit-geteilt‹16 werden. Le- sende stehen immer schon in Beziehung mit anderen. In Philippines hat die schreibende Leserin Cixous also Gesellschaft: Verwandte und nicht verwandte, lebende und tote Wesen begleiten sie auf dem »path of the Return«, der auch ein »path of Reunion« ist, da er ohne Zeitbewusstsein bereist wird: »And naturally it unfolds only if there are two of us tele- treading [téléfouler] it jointly.« (Ph 17)17 Zwei teilen dabei also einander nicht notwendigerweise ›etwas‹ mit, sondern stehen über das Teilen eines gemeinsamen Weges oder Traums, einer Erfahrung oder eines Namens miteinander in Beziehung. Die Aufmerksamkeit beim Lesen verschiebt sich damit wie von selbst von den Autor*innen und ihren Leser*innen auf die Räume, Zeiten und Wirklichkeiten der Texte, die sie auf telepaths gemeinsam durchqueren. Dies geschieht auf kindlich tierisch tapsende Weise. Denn derart ist die Bewegung des Lesens: To read is nothing but that, is it not? To return to oneself in prehistory, in those legendary times when we were toddling and telepathing round the world on all four and eight paws [où nous faisions à quatre pattes et huit télépathes] […]. (Ph xi)18 16 Vgl. Nancy: Die Mit-Teilung der Stimmen. 17 »Parcourons sans aucune conscience de l’heure le chemin du Revenir. C’est le chemin des Retrouvailles. Et naturellement il ne se déroule que si nous sommes deux pour le téléfouler conjointement« (Php 31). Téléfouler könnte in diesem Kontext als ›einander fern einen Weg entlangstapfen‹ übersetzt werden. 18 »Paws« sind Pfoten oder Pranken. In der französischen Version dieser Textstelle findet die Fortbewegung auf vier Pfoten und acht ›Telepathien‹ statt. 86 Annika Haas Diese Rückkehr zum ›Selbst der eigenen Vorgeschichte‹ wird mit den sich mehrfach wiederholenden Sätzen Revenons à notre point de départ / Let’s return to the starting point heraufbeschworen.19 Und sie folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. So hört Cixous an einer Stelle, wie Freud seine Vorlesung zur Gedan- kenübertragung nun tatsächlich hält und sitzt kurze Zeit später mit ihrer Mutter und Tochter und ihm? – von Vieren ist die Rede – in einem Auto, das einen Hügel zum »Dach der Welt« hinauf ächzt. Dabei seien sich alle einig, dass »dies nicht ein anderer Name für Tibet« ist (vgl. Ph 15). Von einem Ort geht es, ohne es voraussehen zu können, zum anderen, so wie Cixous während ihrer Lektüren an Textstellen gelangt, die sie nicht hat kommen sehen: »I did tell you, I said, this is what (till now) we had no knowledge of.« (Ph 15) Durch das Einreißen der Trennung und Abgrenzung von Orten, Zeiten und Texten wird jedoch nicht alles eins, vielmehr werden Nähen und Einfaltungen von Ideen wahrnehmbar. Um deren Einhegungen zu durchqueren – die gewohnte Lesart also zu un- terbrechen, die die Sicht darauf verstellt – brauche es Zurückhaltung und Geduld für die Ankunft des anderen: »Revelation must be used wisely and with moderation. One must let it come.« (Ph 15) Und auch Abstand sei nötig, um diese Entfaltung von Raum und Zeit in der Lektüre zu erfahren. So sehr sich die Ereignisse in Philippines überschlagen, die Szenen so ineinander übergehen, dass sie sich nicht der Struktur eines linearen Texts fügen, so will ich nun weiter versuchen, unter diesen Reisebedin- gungen von Cixous’ Lektüre zu berichten, sodass jener Nebel aufsteigt, der den Beziehungen zwischen den verschiedenen Wesen, Orten und ihren Leser*innen hier ein eigenes Milieu bietet: »Space out, inwardly and outwardly. Allow this mist of time […] to form between people and things.« (Ph 17) Dreaming true Besonders verdichtet sich dieser Nebel in Cixous’ Re-Lektüre des bereits erwähnten Romans Peter Ibbetson. Er handelt von zwei Nachbarskindern im noblen Pariser Viertel Auteuil. In den Vorgärten ihrer englischen El- ternhäuser spielen Gogo und Mimsey Tag für Tag miteinander, bis diese kindliche Beziehung mit dem Wegzug von Gogo aka Peter Ibbetson nach London vorerst ein Ende nimmt. Erst als Erwachsene begegnen sie sich 19 Diese Sätze haben etwas Magisches für Cixous: »I shall sing of the infinite mighty power of such a sentence, for me, over me, in me« (Ph 1). In tief verbundener Abwesenheit 87 Abb. 2: Cover der englischen Ausgabe von Hélène Cixous’ Philippines wieder und stellen beide fest, dass sie sich über die Jahre weiterhin im Traum begegnet sind. Cixous sieht darin eine »postnatal twinship« (Ph x). Kurz nach ihrer Begegnung werden die ›Zwillinge‹ wiederum getrennt. Nun bleibt ihnen nur das dreaming true, rêver vrai (›Wahrträumen‹) (vgl. Ph 32; Php 51). Trotz der räumlichen Trennung treffen sie sich Nacht für Nacht und führen auf diese Weise ein gemeinsames Leben – im ›wahren Traum‹.20 Das dreaming true realisiert nicht nur die Verbundenheit der beiden Protagonist*innen bei du Maurier. Für Cixous werden dadurch Traum und Literatur als jene Räume affirmiert, in denen ›Unmögliches‹ wirklich wird. Es löst die klare Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit 20 Diese Zusammenfassung basiert auf der Verfilmung des Romans von Henry Hathaway mit Gary Cooper und Ann Harding aus dem Jahr 1935. Dabei handelt es sich für Cixous nicht nur um einen Film, sondern um eine »vision […] a Revelation« und einen »Dream filmed in a state of dream«. Daran scheint sich für sie eine Art Universalität des Wahrträumens zu zeigen, die nicht von Schriftsteller*innen oder Filmemacher*innen erfunden werden kann, sondern deren Erfinder*innen die »Great Dreamed Ones« sind, die manchmal, aber nicht immer, Peter und Mary hießen. Vgl. Ph xi f. 88 Annika Haas auf und ermöglicht Kommunikation als ein telepathisches Antworten. Die Träumenden sind dabei einander Ko-Pilot*innen ihrer Gedanken: »[T]hey dream their lives, they are not dreamt, they twin-dream their dreams, they copilot, they codream […]. They dream about / by life, they live by dream« (Ph 47), schreibt sie über Mary und Peter und wird beim Lesen des Buchs selbst zu deren codreamer. Beim Lesen ihres secret book entsteht so ein telepath zu ihrem ›Ausgangspunkt‹. Let’s return – revenons Für die Leserin der englischen Ausgabe von Philippines beginnt der Weg dorthin bereits mit der Abbildung auf dem Cover. Zu sehen ist ein Gar- tentor, das sich über die Vorder- und Rückseite erstreckt. Je nachdem, von welcher Seite das Buch betrachtet wird, steht die Leserin vor einem offenen oder geschlossenen Tor und blickt damit auf jene Gitter, in denen Cixous ›ihre Zeichen‹ erkennt: »[m]y signs: gates [grilles]« (Ph 8). Ganz gleich, ob sie vor oder hinter dem Tor stehe, sie sei immer ›draußen‹.21 Im Namen Peter Ibbetson findet sie das Anagramm dafür – PRISON – und damit in diesem Namen sowie im Motiv, Bild und Objekt des Gitters ihr Schicksal formuliert: I was always with prison. I was walking round, I never knew whether I was walking round the wall on the outside, I was apprisoned, bound to the existence of a state of prison and therefore of freedom of mind. (Ph 50) Dieses Ausgeschlossensein, dem nicht zu entkommen ist, ist für Cixous mit einem Ort verknüpft: dem Stadtgarten im algerischen Oran, wo sie ihre Kindheit verbrachte. Als Tochter einer deutsch-jüdischen Hebam- me und eines französisch-jüdischen Militärarztes war ihr der Zutritt zum Stadtgarten zwar erlaubt. Dieser war jedoch gleichzeitig ein Ort der Demütigungen durch die dort spielenden Kinder, Parkwächter und Kindermädchen.22 Anders als in Peter Ibbetson ist die Rückkehr in den Garten also nicht nur paradiesisch, aber wichtig, weil Cixous hier, wie sie 1999 in einem Brief schreibt, alles Menschliche (kennen)lernt, wovon sie später ein Wissen haben wird: »the Evil in the Good, men’s hate of men […], the rottenness already in young hearts […] and the selfless love for what is living«.23 Die Konsequenz daraus ist, sich dem Leben und 21 Vgl. auch Miller: »The Medium is the Maker«, S. 172 f. 22 Vgl. Cixous: Un vrai jardin; deutsch: Cixous: Ein wahrer Garten. 23 Cixous: »Post-Word«, S. 211; vgl. dazu auch Haas: »Ihre erste unterbrochene durchgängige Linie«. In tief verbundener Abwesenheit 89 allem, was für sie lebendig ist, zuzuwenden: den Pflanzen, Insekten, den Gedanken an ihren früh verstorbenen Vater24 und in Philippines auch den Kindheitserinnerungen, die sie im Laufe des Buchs immer wieder mit ihrem Bruder teilt. »Books deliver us, make us delirious [livres, délivrez-nous, délirez- nous].« (Ph 6) Warum ausgerechnet Peter Ibbetson Cixous’ secret book ist? Sie kann es gar nicht wissen: Denn es braucht diese unbegründete Anziehung und ein pathisches Moment des Sich-Ansprechen-Lassens von solchen Büchern, um im Antworten darauf etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Dieses Antworten kommt einer Öffnung für das andere des Selbst, das der Text ist, gleich, und es braucht Mut. Schließlich ist Cixous’ ›Rückkehr‹ in den Garten ihrer Kindheit durch die Gärten du Mauriers und Prousts (vgl. Ph 4 f.) kein romantisierendes remembering. Es ist ein re-membering,25 ein (immer) Wieder-Zusammensetzen und Dekonstruieren jener ›Wirklichkeit‹, die nicht nur Träume, sondern auch Texte bei der Lektüre entfalten: It looks like a dream. Everything that happens to the characters, which are not me, happens in me, to me, one day. […] It is the sentences which gather the events, the choir, the song which interprets the destinies. And the signs, the details, all the signals each time unique through which a destiny translates itself into reality. (Ph 7 f., Hervorhebung A. H.) Als Mittel der Rückkehr zum Ausgangspunkt wird Lektüre somit zu dem, was Cixous mit Proust den »›ursprünglichen psychologischen Akt‹«26 nennt: Er stiftet dazu an, »die Türen zu jenen Wohnstätten am Grund unserer selbst aufzuschließen, von denen wir sonst nicht gewusst hätten, wie sie überhaupt zu betreten« (Ph 4). Lesen erscheint dabei zunächst als »vage und dennoch dringliche Einladung«, von der ein Weg ausgeht: »[T]his itinerary leads us through space to the beginning of times, to the origin […] to the creator’s childhood, before creation« (Ph 5). Der ›Ur- sprung‹ wird dabei nie erreicht bzw. er ist wie die Gärten in Philippines immer eine Vielzahl an Instanzen (vgl. Ph 3), ihrerseits verbunden durch telepaths zwischen Büchern und Leben. Die Verweisstruktur der Zeichen wie auch die Bücher, von denen eins ins nächste führt, werden dabei zum 24 Vgl. Cixous: »Post-Word«, S. 212; Cixous: Un vrai jardin. 25 »One must dive to the pond in order to re-member oneself« (Ph 41), schreibt sie in Bezug auf Derridas suizidale Träume, die ihn immer wieder an einen See führen. Das Verb »re- member« (franz. remembrer) meint wieder zusammensetzen. Vgl. Eintrag »re-member«, in: Oxford English Dictionary. Der zitierte Satz endet ohne Punkt. Vgl. »Il faut plonger au fond de l’étang, pour se re-membrer« (Php 64). 26 »[L]’acte psychologique original appelé Lecture« (Proust: Tage des Lesens, S. 29; Proust: Sur la lecture, S. 30; Ph 4; Php 14). 90 Annika Haas Vehikel der Reise, als die sich die Lektüre somit gestaltet: »[A]nd there we are in another book, and yet another, and then in a chamber full to the brim of the soul of others« (Ph 5). Lektüre entfaltet also nicht nur, was sich in Zeichen, Wörtern, Sätzen und Bücher an Wegen (itinaries), Räumen und Orten eingefaltet findet, es führt auch vor Augen, womit die Räume der Leserin ›beseelt‹ sind und wer darin lebt: Cixous’ Lektüre geschieht auf Pfaden, die gesäumt sind vom Gesicht der Mutter, der Glastür, hinter der ihr Vater steht, oder dem Versteck aus Decken, das sie sich mit ihrem Bruder baut, bis sie schließlich in ihr Elternhaus zurückgelangt: »I have returned [revenue] to 54 rue Philippe in Oran while following in young Proust’s footsteps.« (Ph 6) Proust lesend, gelangt Cixous also an einen anderen Ort als jenen, an dem sie liest bzw. an den seine Texte sie zunächst zu führen schienen. Und auch das charakterisiert das Lesen als Beschreiten von telepaths: Pfaden auf eine Weise zu folgen, sodass sie auf ein anderes Ziel hinaus- laufen; so in die Fußstapfen anderer zu treten, dass die eigenen Füße in denen der anderen ebenso Abdrücke hinterlassen.27 Eine Lektüre, die nicht nur die Leserin anderswo hinführt, sondern auch das Gelesene an diesen anderen Ort mitnimmt, es im besten Sinne ver-ortet. Philippine(s) Dieses daraus resultierende von einem unendlichen Ineinander von Tex- ten, Zeiten und Orten geprägte Lesen und Schreiben – währenddessen sich die Leserin ›selbst‹ begegnet, indem ihr Motive und Geschichten als Antworten auf ihre noch unbekannten Fragen begegnen, die doch ›ihre‹ sind – schlägt sich in seiner Verschachtelung nicht nur in diesem Satz hier nieder – es bekommt nun auch einen Namen: Philippines. Es ist ein Name, in dem mehrere stecken. Philippines beschreibt die Lektüreerfah- rung wie auch das Prinzip, das den so betitelten Text davon ausgehend mitschreibt. »Philippine« trifft Cixous beim »unreading of the book which makes me cry« (Ph 19)28 wie ein Pfeil, dem sie nicht ausweichen kann: »I had passed very often by those chapters. The word has been there. I was not looking for it. As always it responded to my desire even before that desire came to consciousness.« (Ph 19) Durch dieses Wort wird also 27 Zur Frage, was es heißt, eine situierte und queer-feministische Lektürepraxis als das Beschreiten alter und neuer Pfade zu begreifen vgl. auch Gramlich / Haas: »Situiertes Schreiben«, S. 49 f. 28 »Philippine sprang up with the piercing authority of an arrow« (Ph 19). In tief verbundener Abwesenheit 91 ein Begehren in Erfahrung gebracht und kommt zu ›Bewusstsein‹, das sich in der Vielgestalt Philippines figuriert: Vielliebchen, Philipschen, Philippine, Philippines diese stecken alle in Philippines auch im englischen Sprachgebrauch ist dies seit seiner Kolonialisie- rung bis heute der Name eines Staats im Westpazifik. Philippine ist im Französischen die weiblich klingende Verkleinerungsform von Philippe Cixous interessiert die Verkleinerungsform im Deutschen Philippschen dessen différance Vielliebchen ist. Mit »Vielliebchen«, einem heute veralteten Wort, wird eine Zwillings- frucht bezeichnet, etwa eine doppelkernige Mandel, deren beide Kerne sich in einer Hülle verbergend zwitterwesenhaft aneinanderschmiegen und dabei doch das jeweils andere bleiben. Dies sind also Vielliebchen/ Philippines und sie ›machen‹ Vielliebchen/Philippine. Es ist, so führt Ci- xous in einem Dialog mit ihrer Tochter am Telefon aus, »ein Wort für zwei. Ein Wort, das zwei wert ist« (Ph 20). Nicht nur, weil jedes Wort mehrere Bedeutungen oder Aussprachen haben kann, sondern weil es mehrstimmig ist, so, wie wenn ein doppelter Mandelkern als ›zwei Kerne‹ sprechen würde: Es sind nicht zwei, die sprechen, sondern zwei als eine*r, die sprechen. Philippine bringt damit für Cixous auch die Beziehung zwischen Mary und Peter zum Ausdruck, wie es ebenfalls in du Mauriers Text selbst geschieht: Like twin kernels in one shell (»Philipschen«, as Mary called it) we touched at more points and were closer than the rest of mankind (with each of them a separate shell of his own.) […] Time and space were annihilated for us at the mere wish of either.29 Dieses telepathische Prinzip, das die Unterscheidung von Zeit, Raum, Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod obsolet werden lässt, findet sich in Cixous’ Schreiben wieder, das ebenfalls als ›Philippine machen‹ bezeichnet werden könnte. Schließlich beruht Kommunikation auf 29 Du Maurier: Peter Ibbetson, S. 335; vgl. Ph 19 f. 92 Annika Haas Beidseitigkeit und impliziert »telepathic response« – im Unterschied zu answer30 – bereits ein Antworten auf die Antwort. Lektüre und Schreiben werden dabei selbst zu Vielliebchen, zu »false twins« (Ph 24), zu einem Mandelkern als zwei, die sich aneinander anschmiegen. Das Vielliebchen, dieser besondere Mandelkern, erinnert Cixous auch an Paul Celans Gedicht Mandorla (1961). Das Wesen dieser Form, und damit auch von Philippine, erfährt dadurch nochmals eine weitere poetische ›Bestimmung‹: In der Mandel – was steht in der Mandel? Das Nichts.31 Ich lese im Beginn des Gedichts das Metaprinzip von Philippines: Das Nichts der Mandel, in dem doch etwas steht (bei Celan ist es »der Kö- nig« bzw. ist die »Leere Mandel, königsblau«), stiftet eine Beziehung zwischen bzw. in Vielliebchen, die weder eins noch zwei sind, die von Beginn an keine getrennten Entitäten darstellen, sondern nur durch ihr Verhältnis zueinander existieren können. Sie schmiegen sich aneinander, ohne miteinander zu verschmelzen und bilden in einem Differenzie- rungsgeschehen transformative Berührungspunkte aus, verändern sich kontinuierlich und aufeinander bezugnehmend. ›Philippine machen‹ ist demzufolge auch ein lesendes, responsives Schreiben. Es schmiegt sich im weitesten Sinne an jene Texte und ihre Protagonist*innen an, die auf das Begehren der Leserin telepathisch antworten. Und was ist dein secret book? Auf die Frage »How does communication take place?« folgt bei Cixous also eine Beschäftigung damit, was den Zusammenhang von Telepathie und Kommunikation betrifft: Lesen und Schreiben, das sich als ein Ant- worten darauf vollzieht, wovon es pathisch getroffen und in Anspruch genommen wird. Die Vorgängigkeit des anderen nimmt dabei verschie- dentlich Gestalt an. So wie Lesen und Schreiben kommen auch Texte, ihre Protagonist*innen und Orte einander ständig ›zuvor‹, weil sie ›in‹-einander immer schon vorkommen. Das zeigt sich auch bei meinem Versuch, über diesen nonlinearen Textraum Philippines einen Aufsatz zu schreiben. Ständig schleicht sich dabei das Vorgreifen auf noch nicht Erläuterbares ein. Die Multidimensionalität dieser gewagten Traum-Raum-Zeit-Querung 30 Auch auf diese Differenz macht Bernhard Waldenfels aufmerksam. Vgl. ders.: Antwort- register, S. 250, 259. 31 Paul Celan zit. nach Ph 24 f. In der französischen Ausgabe wird das Gedicht nur auf Deutsch (vgl. Php 14), in der englischen erst auf Deutsch, dann auf Englisch zitiert. In tief verbundener Abwesenheit 93 lässt das Bedürfnis nach einer Landkarte von Philippines entstehen. Da es aber immer auch der Blick der Leserin ist, der Cixous’ Lektürelandschaft mitformt, kann es einen solchen Überblick nicht geben. Stattdessen tun sich die mit-(ihr)-geteilten Pfade erst durch jene Offenheit auf, derer es bedarf, um sich auf die parallelen Wirklichkeiten dieses Texts einzulas- sen. Mit einem solchen offenen, telepathischen Lesen in Resonanz mit anderen geht ein Denken einher, das die Grenzen des Sagbaren mit den poetischen Mitteln der Sprache durchquert. Es figuriert sich nicht nur in Polysemien, verschiedenen Aussprachen, Betonungen oder Rhythmi- sierungen von Worten und ihrer différance, mit denen Cixous, teilweise zusammen mit Derrida, in ihrem Schreiben immer wieder daran erin- nert, dass in jedem Zeichen unendlich viele aufgeschobene stecken. Wie ich an Philip/p/ine/s gezeigt habe, stecken in diesem Text vor allem in den Namen mehrere Personen oder Wesen, die darüber miteinander in Beziehung stehen: Peter aus dem Roman ist Pierre und zugleich Pierre, Cixous’ Bruder und pierre, der Stein, den dieser auf seinem Rücken trägt (vgl. Ph 8). Diesem Prinzip folgend, ist es zugleich Cixous, die schreibt, was Freud hört, oder ihre Katze denkt, oder ihr Bruder, während sie zu- sammen eine Straße in Oran hinunterlaufen, genauso sieht. Und so ist und sind Philippines zugleich die Vielliebchen – sind dies alle, die einen telepath teilen und deren Kommunikation auf dieser paradoxen Art tief verbundener Abwesenheit beruht. Die Selbstverständlichkeit, dass Kommunikation als ein solches ›te- lepathisches Antworten‹ stattfindet, gewinnt dieses Schreiben aus der Wirklichkeit, die es im Antworten auf und Durchleben jener Realitäten erschafft, die es bei seinen Lektüren durchquert. Der Name Philippines setzt sich hier in eine Lektüre- und Schreibpraxis um, sobald sich die Leserin auf diese Wirklichkeiten ernsthaft einlässt. Das gilt sowohl für das Lesen von Cixous wie auch für das ›heimliche Lieblingsbuch‹. Erst beim unreading – vielleicht einem erwartungslosen Lesen, das (noch) nicht (mehr) weiß, worin die persönliche Anziehungskraft eines Buchs besteht – trifft sie auf jene Wirklichkeit, mit der sie bis zu diesem Zeit- punkt abwesend verbunden war. Wie das telepathische Antworten im Lesen und Schreiben ist aber auch diese Offenheit nicht einfach herbeiführbar. Und so kam auch meine Beschäftigung mit diesem Text nicht etwa durch die medien- oder wissenschaftstheoretische Beschäftigung mit Telepathie zustande. Philippines begegnete mir zuerst durch andere. Der Weg zu diesem Text begann mit einem Gespräch 2016 in Los Angeles, als der Kunstkritiker Michael Ned Holte auf den Namen Hélène Cixous jenen von Alexandra Grant erwiderte. Wenige Wochen später fand ich mich bei der Katalog- 94 Annika Haas präsentation eines Projekts dieser bildenden Künstlerin wieder. Ohne Philippines gelesen zu haben, sah ich zuerst die Dokumentation von Forêt Intérieure/Interior Forest, das 2013 als partizipatives Kunstwerk in Form von Malerei und Installation jeweils in Los Angeles und Paris rund um diesen Text entstanden war. Es war somit Grants Antworten auf diesen Text, durch das er mir zuerst begegnete. Das ist nicht uner- heblich, scheint sich doch in diesen und zahlreichen weiteren Antworten das innere Prinzip dieses Essays fortzusetzen: Es ist die in mehrfacher Hinsicht ›persönliche‹ Begegnung mit diesem wie mit jedem Text, die es erst ermöglicht, ihm zu antworten, ihm zu schreiben. Erst der Komponist und Lautdichter Tomomi Adachi, gegenüber dem ich bei den Proben für eine gemeinsame Performance erwähnte,32 dass Cixous ›ja‹ telepathisch mit ihren Katzen schreibe, brachte mich dazu, mich mit telepathy bei Cixous, was ich anfänglich so strange fand, zu befassen. Anders als ich, verstand er darunter keine Anekdote und regte an, es zumindest einmal zu versuchen, Rücken an Rücken sitzend, tele- pathisch Buchstaben in Ton abzuformen. Wir kamen nicht auf dasselbe Ergebnis. Auch wenn Telepathie in diesem Moment nicht ›funktionierte‹, so eröffnete mir erst Adachis ernsthafte Beschäftigung damit die Möglich- keit, Cixous’ Text ›wirklich‹ zu lesen. Denn ihre Texte beginnen an jenen Punkten zu denken, von denen man sich unhinterfragt sicher war, schon alles darüber zu wissen bzw. darüber hinaus nichts ernsthaft wissen zu können oder aber in Erfahrung bringen zu wollen. Diese Dimensionen sind nicht hermeneutisch zu erschließen. Sie werden für die Leserin erst erfahrbar, wenn sie Text nicht als Interpretationsspielraum, sondern als eigene, ernst zu nehmende Wirklichkeit begreift, an der sie durch die Lektüre nicht nur Teil hat, sondern die sie dadurch gewissermaßen selbst betritt. Siglenverzeichnis Ph = Cixous, Héléne: Philippines, übers. von Laurent Milesi, Cambridge 2011. Php = Cixous, Hélène: Philippines: prédelles, Paris 2009. Literaturverzeichnis Clément, Bruno / Cixous, Hélène (Hg.): Rêver, croire, penser. Autour d’Hélène Cixous, Paris 2010. Cixous, Héléne: Un vrai jardin, Paris 1999. Cixous, Héléne: »Post-Word«, in: Martin McQuillan / Robin Purves / Graeme Macdonald (Hg.): Post-Theory. New Directions in Criticism, Edinburgh 1999, S. 209–213. 32 »Lectüre, Lektüre, Lecture, Lektschür«, Performance von Tomomi Adachi und Annika Haas, Salon für Ästhetische Experimente #3, Haus der Kulturen der Welt Berlin, 15.05.2017. In tief verbundener Abwesenheit 95 Cixous, Héléne: »Philippines. Sweet Prison«, in: Oxford Literary Review, Bd. 30 (2008), H. 2, S. 257–281. Cixous, Héléne: Ein wahrer Garten, Augsburg 2016. Derrida, Jacques: »Telepathy«, in: Oxford Literary Review, Bd. 10 (1988), H. 1/2, S. 3–41. Derrida, Jacques: »Télépathie«, in: Furor, Nr. 2 (1981), S. 5–41. Eintrag »Philippinen«, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Philippinen (aufgerufen am 10.10.2019). Eintrag »Remember«, in: The Oxford English Dictionary Online, https://www.oed.com (aufgerufen am 28.04.2019). Eintrag »Telepathie«, in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, www.dwds.de/wb/Telepathie (auf- gerufen am 02.04.2019). Freud, Sigmund: »Traum und Telepathie, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIII, hg. v. Anna Freud, Frankfurt a. M. 1963, S. 165–191. Freud, Sigmund: »30. Vorlesung: Traum und Okkultismus«, in: ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, hg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1997, S. 472–295. Freud, Sigmund: »Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit«, in: ders.: Studienausgabe. Bd. 1: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, hg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1997, S. 496–516. Gramlich, Naomie/Annika Haas: »Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixous und grauen Quellen«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 20 (2019) H. 1, S. 38-54. Haas, Annika: »Ihre erste unterbrochene durchgängige Linie«, in: dies. / Jonas Hock / Anna Leyrer / Johan- nes Ungelenk (Hg.): Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben, Berlin 2018, S. 234–243. Hathaway, Henry (Regie): Peter Ibbetson, USA 1935. Du Maurier, George: Peter Ibbetson, New York 1893. Miller, J. Hillis: »The Medium is the Maker. Browning, Freud, Derrida, and the New Telepathic Ecotech- nologies«, in: Oxford Literary Review 30 (2008), H. 2, S. 161–179. Nancy, Jean-Luc: Die Mit-Teilung der Stimmen, Berlin / Zürich 2014. Oppenheim, Janet: The Other World. 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Autour d’Hélène Cixous, Paris 2010. Abb. 2: Cover der englischen Ausgabe von Hélène Cixous’ Philippines, Cambridge 2011. No Stopping Points Anymore. Am Beispiel des Films Annihilation und anderer Geschichten m a r i e -l U i s e a N G e r e r Leere Spiegel In früheren Arbeiten von VALIE EXPORT und Dan Graham ereignete sich für die Medienkunst der 1970er Jahre Typisches: Während man auf einen Spiegel zuging, sah man sich im Spiegelbild weglaufen. Oder man lief auf einen Spiegel zu, um sich in einem anderen Spiegel gleichzeitig von hinten weggehen zu sehen. Kurz gesagt: Man traf nie s/ein Spiegelbild. Dieses Spiel mit dem Spiegelbild kann als Metapher für ein Denken, vor allem für ein feministisches Denken, gesehen werden, das in den 1990er Jahren eine radikale Umkehrung erfährt. Aus einer Differenzpolitik, in deren Zentrum die sexuelle Differenz stand, wird eine Politik des Relationalen / der Relationen, die mit einem anders konzipierten Mate- rialitätsbegriff arbeitet. Eine Materialität oder besser Materialitäten, die weder als passiv noch als Gegenüber begriffen werden sollten, sondern als aktiv Mitspielende / Mitagierende im Prozess des »worlding«, wie es Donna J. Haraway in When Species Meet (2008) bezeichnen werden wird: »[T] his is the sf worlding that has always lured me. It is a real worlding.«1 Mit Luce Irigaray erfährt die Spiegelmetapher eine der ersten Um- schriften, indem sie weniger die Selbstbespieglung ins Zentrum rückt und stattdessen ein Sehen von anderem / Anderen fokussiert. Körper anders zu sehen, in Körper hineinsehen (wie es das Spekulum ermög- licht) sowie ein Sehen, das vor allem Berühren bedeutet. Speculum de l’autre femme, 1974 im französischen Original erschienen und 1980 auf Deutsch unter dem Titel Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, un- terstreicht diese polyvalente Semantik.2 Zum einen besagt es, das andere Geschlecht (also das weibliche) in seiner Differenz und nicht länger als vom Standard des männlichen Geschlechts Abgeleitetes wahrzunehmen. Zum anderen jedoch verweist das Spekulum auf ein Instrument, tiefer zu sehen, Verborgenes wahrzunehmen. Diese zweite Bedeutung wurde in der Zeit, als Irigaray zur Basislektüre feministischer Theorie zählte, nicht wirklich wahrgenommen, erst die turns der 1990er Jahre haben 1 Haraway: When Species Meet, S. 92. 2 Vgl. Irigaray: Speculum. No Stopping Points Anymore 97 hier eine Revision in Gang gesetzt. Doch im Begriff ›Speculum‹ ist noch eine weitere Bedeutung enthalten, dem dieser Band seinen Titel und sein Anliegen verdankt: Spekulieren, also das zu denken, was noch nicht ist, was ganz anders sein könnte, oder auf etwas spekulieren, um etwas anderes zu gewinnen – im Sinne einer neuen Sehweise, neuer Aspekte und damit neuer, anderer Verwobenheiten. Hierfür hat Irigaray ein paar Jahre später ihre Forderung nach Göttlichen Frauen (1985) formuliert. Um sich als endlich in einer transzendenten Unendlichkeit denken zu können, schrieb sie im Katalog Kunst mit Eigen-Sinn: Die Vermeidung dieser Endlichkeit hat der Mann in einem alleinigen männlichen Gott gesucht. Er hat sich den Gott nach seinem Geschlecht geschaffen […]. Er setzt sich fast gar keine Grenzen in Ihm; er ist Vater, Sohn, Geist. Der Mann hat sich nicht durch ein anderes Gattungsgeschlecht definieren lassen: das weibliche. Sein alleiniger Gott entspricht dem Menschengeschlecht, von dem wir wissen, daß es aus dem Blickwinkel der Geschlechterdifferenz nicht neutral ist.3 Diese Feststellung löste nicht nur einen Theoriekampf gegen essentia- listische Setzungen aus, sondern verdeckte auch, was sich aus heutiger Perspektive allzu deutlich zeigt: alles andere, was Irigaray in diesem Text noch beschrieben hat. Nämlich die vier Elemente – Luft, Wasser, Feuer und Erde – als das zu sehen, was am Anfang einer jeden Philosophie stehe, jedoch radikal verkannt werde: »Zirkelschluß eines Denkens, das seine materiellen und ökonomischen Existenzbedingungen nicht reflektiert.« (GF 29) Dies wurde in der damaligen Debatte überlesen, und wenn doch wahrgenommen, nur als weiterer Beleg eines Abdriftens von Irigaray in die Nähe von ökofeministischen Positionen interpretiert. Am Ende ihres Katalogbeitrags ist eine Abbildung von Jenny Holzers elektronischen Laufschriften zu sehen: W I T H N AT U R E (GF 39) Zufall oder nicht, das elektronische Laufband Holzers verweist einmal mehr auf eine damals noch nicht lautstark diskutierte Beziehung, die mit Haraway einige Jahre später unter der Bezeichnung »naturecultures«4 in feministischen Kreisen theoretisch-politischer Gemeinplatz werden sollte. Auf einem der ersten Höhepunkte feministischer Grundsatz debatten, den ich zwischen Mitte der 1980er und 1990er Jahre ansetzen möchte, bildeten Sprache auf der einen Seite und Körper / Natur auf der anderen die Reibeflächen zwischen Ablehnung und Affirmation, zwischen (na- 3 Irigaray: »Göttliche Frauen«, S. 31. Nachweise im Folgenden mit Sigle GF und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 4 Haraway: Das Manifest für Gefährten, S. 7. 98 Marie-Luise Angerer türlicher) Grundlage versus (historisch-sozialer) Konstruktion, zwischen »Körper als Text« und phänomenologischem Erfahrungskörper. Sprache und Körper bildeten jene zu dieser Zeit oftmals so benannten stopping points.5 Um die Auflösung dieser geht es im Folgenden, um ein Denken, das diese Endpunkte des Denkens ins Visier nimmt und zur Seite rückt. Weder ist die Sprache das Ende der Welt noch der Körper eine Singu- larität in dieser. Das Geschlecht, das nicht eins ist Unter dem auf eine weitere, einschlägige Formulierung von Irigaray verweisenden Titel möchte ich dafür zwei Geschichten aufgreifen: die Geschichte von Robinson Crusoe und seiner (Nicht-)Begegnung mit Freitag sowie die von Dr. Martine und den Immobs in Limbo. Die Geschichte von Robinson Crusoe in der Version von Michel Tournier, die dieser 1971 unter dem Titel Vendredi ou la vie sauvage veröffentlich- te, liefert eine weitere und auch etwas andere Analyse der Begegnung zwischen Robinson, Freitag, dem Indigenen, und der Insel, auf der beide leben.6 Tournier greift Daniel Defoes Geschichte aus dem Jahre 1719 wieder auf, um der Handlung eine andere Ausrichtung zu geben. Trotz der Parallelen zwischen Tourniers Roman Freitag oder das Leben in der Wildnis (1997) und seiner Vorlage gibt es entscheidende Unterschiede. Denn Tournier unternimmt den Versuch, Robinsons Menschsein unter nichtmenschlichen Bedingungen zu beschreiben bzw. den allmählichen Verfall seines Menschseins als einen Prozess fortschreitender Dekom- position, als einen metamorphischen Prozess darzustellen, in dessen Verlauf der Unterschied zwischen Mensch und Natur mit der Löschung der sexuellen Differenz einhergeht. Nachdem Robinsons Versuch, mit einem Baumstamm Geschlechtsverkehr zu haben, misslingt, wird Ro- binson zur Braut seiner Insel Esperanza. 5 Als stopping points wurden in den ersten Jahren einer feministisch-postmodernen Liaison sehr unterschiedliche Momente eingefordert: von der Philosophie über die sexuelle Differenz bis zu Gender. Susan Bordo forderte z. B. in ihrer Kritik an Michel Foucault, die Kategorie Gender nicht aufzugeben. Mit seiner Dekonstruktion würde der feministischen Theorie der Boden unter den Füßen weggezogen. Vgl. Bordo: »Feminism, Postmodernism, and Gender-Scepticism«, S. 136. Für einen Überblick der feministischen Diskussion Anfang der 1990er Jahre vgl. Angerer: »The Body of Gender«, S. 17. 6 Vgl. Tournier: Freitag oder Im Schoß des Pazifik. No Stopping Points Anymore 99 Er fühlte sich wie nie zuvor, daß er auf der Insel ausgestreckt lag wie auf einem Menschen, daß er den Körper der Insel unter sich hatte. Es war ein Gefühl, das er noch niemals mit solcher Intensität empfunden hatte […]. Die beinahe leibliche Gegenwart der Insel so nahe bei ihm erwärmte, erregte ihn. Sie war nackt, diese Erde, die ihn einhüllte. Auch er entblößte sich. Mit ausgebreiteten Armen, den Leib in Erregung, umarmte er mit aller Kraft diesen großen tellu- rischen Körper, den die Sonne den ganzen Tag über verbrannt hatte […]. Wie eng waren auf dieser elementaren Stufe Leben und Tod miteinander vermischt, weise verquickt! Sein Geschlecht furchte den Boden wie eine Pflugschar und ergoß sich dort in einem unendlichen Erbarmen für alle erschaffenen Dinge […]. Hier ruht jetzt ermattet derjenige, der sich mit der Erde vermählt hat.7 Robinson beginnt allmählich, sich immer weniger als Mann zu begreifen bzw. zu empfinden. Im nächsten Schritt wird er zur Frau, um sich in einem weiteren Schritt den Tieren und Pflanzen der Insel anzugleichen. So wie Tournier auf eindrucksvolle Weise beschreibt, was Gilles Deleuze und Félix Guattari als Deterritorialisierung, als etwas Anderes-werden – Tier- werden, Intensiv-werden, Kind-werden, Unwahrnehmbar-werden – benannt haben,8 zeigt diese Passage gleichzeitig auch, wie Körper-Berührung und sexuelle Beziehung sich in den aktuellen Narrativen verändert haben: Der Kern der damaligen Differenz, seine sexuelle Aufladung, ist heute weder elementar noch wesentlich, sondern möglicherweise ein Durch- gangsstadium. Ähnlich wie bei Tournier steht auch in Limbo, einem Science-Fiction- Roman von Bernard Wolfe aus dem Jahr 1952, die Bändigung bzw. Löschung sexueller Triebkräfte im Zentrum.9 Dort entscheiden junge Männer freiwillig, sich ihre Gliedmaßen amputieren zu lassen, um ihrer sexuellen Begierden Herr zu werden. Sie werden sogenannte Immobs, also immobil und unbeweglich. Nach einer nuklearen Weltkatastrophe ist ein friedliches Miteinander oberstes Gebot, und dieses ist an Passivität geknüpft. Um jedoch die Amputation auszugleichen und die Männer nicht zur völligen Untätigkeit zu zwingen, erhalten diese hochentwickelte, mit Nuklearenergie angetriebene Prothesen, deren kybernetische Mechanik aus spezifischen Erzen hergestellt wird, die es nur in Südafrika gibt. Dr. Martine, ein Neurochirurg aus den USA, flüchtet vor dem nuklearen Dritten Weltkrieg auf eine Insel im Indischen Ozean, um sich dort in der Gesellschaft der Mandunji zu verstecken. Diese betreiben eine oftmals tödlich verlaufende Lobotomie, um Menschen mit ›asozialem Verhalten‹ zu ›heilen‹. Dr. Martine entwickelt im Laufe seines Aufenthalts dafür eine 7 Ebd., S. 101 f. 8 Vgl. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 317 f. 9 Vgl. Wolfe: Limbo. 100 Marie-Luise Angerer verfeinerte Methode der Gehirnamputation und erkennt schließlich, dass die Löschung aggressiver Triebe mit jener der sexuellen Triebe und Le- benserhaltungsenergie Hand in Hand geht. Nur Aggression auszulöschen ist nicht möglich. Die mit hocheffizienten Prothesen ausgestatteten weißen Männer des Nordens sind zwar friedfertig, wie Dr. Martine feststellen kann, über ihre Technikbeherrschung sind sie jedoch im Besitz einer Macht, die es ihnen erlaubt, sich die Ressourcen anderer Kontinente und Menschen einfach anzueignen, wie die Insel von Dr. Martine, die sie auf ihrer Suche nach Rohstoffen entdecken. Interessanterweise hat N. Katherine Hayles auf diesen Roman in How We Became Posthuman (1999) referenziert.10 Nicht um diesen etwa als ein frühes Beispiel für Posthumanität zu zitieren, sondern um die Angst des Autors zu verfolgen, die größer wird, je mehr dieser das Ausufern der ferngesteuerten Körper beschreibt, wie Hayles betont. Eine durch das kybernetische Versprechen angetriebene Furcht vor völligem Kontroll- verlust ziehe sich, so Hayles, durch diesen Text.11 Dass Sexualität und Kontrollverlust miteinander zu tun haben, ist naheliegend. Wie sehr die Amputation als (reale) Kastration zu begreifen ist, liegt zwar auf der Hand, wird jedoch weder vom Autor noch von Hayles explizit benannt. Dabei kann man die Löschung des Sexuellen durch technische Implantation eigentlich nicht besser beschreiben. Robinson als Braut der Insel und die nuklear betriebenen Arm- und Beinprothesen sind beides Bilder von männlichen Körpern, die sich auf- grund schwindender sexueller Optionen ihres Körpers nicht mehr sicher sind. Dass Freitag für Robinson zu spät kommt, weil es sonst womöglich zu einer homoerotischen Begegnung zwischen einem europäischen und einem indigenen Mann hätte kommen können, wird von Tournier nicht weiter thematisiert. Auch Hayles kommentiert die Verquickung sexueller und kolonialer Bezüge mit keinem Wort. Während Naomie Gramlich auf diese koloniale Unterseite (am Bei- spiel von Annihilation) in ihrer Analyse im vorliegenden Band eingeht,12 möchte ich im Folgenden eine andere Verdrängung als signifikant aufgrei- fen: die Verbindung von Natur und Technologie, durch die Sexualität als das den Menschen von allem unterscheidende Moment gelöscht wird.13 10 Vgl. Hayles: How We Became Posthuman. 11 Vgl. ebd., S. 23. 12 Vgl. den Beitrag von Naomie Gramlich in diesem Band. 13 Vgl. Irigaray: Ethik der sexuellen Differenz, S. 11–28. No Stopping Points Anymore 101 NatureTechnology Der Science-Fiction-Film Annihilation (2018) handelt von einer unbekannten Zone, einem Terrain, in dem sich unerklärliche Dinge ereignen. Eine als Schimmer bezeichnete Strahlung breitet sich unaufhörlich aus. Einmal mit dieser in Berührung gekommen, verändert sich jedes Lebewesen dra- matisch. Alle bislang in den Schimmer entsendeten Erkundungstruppen kehrten nicht mehr zurück. Nun sollen sich fünf Wissenschaftlerinnen auf den Weg machen, um herauszufinden, was dieser Schimmer ist. Im Film bildet der Schimmer eine Schwelle, die man, ohne es sofort zu bemerken, überschreitet. Erst allmählich zeigen sich die Auswirkungen der neuen Zone als Störungen, Irritationen und Befremdlichkeiten. Die- sen Schimmer könnte man, meinen Beginn nochmals aufgreifend, als leeren Spiegel bezeichnen – doch dieses Mal liegt die Betonung auf ›leer‹. Denn der Schimmer bricht nicht nur Licht, sondern er bricht – wie sich im weiteren Verlauf des Films bzw. in den zeitlich nicht-linearen Loops zeigen wird – auch die DNA der Tiere, Pflanzen und Menschen. Das heißt, wenn das Spiegelbild nach Jacques Lacan ein ver-stelltes Ideal-Ich(bild) reflektiert,14 dann verweigert der Schimmer jede Art von Bild als Reprä- sentation und interveniert stattdessen in die Morphologie der Körper, die sich im Film als phantastische Mensch-Pflanzen-Morphismen zeigen. Abb.: Filmstill aus Annihilation Doch »Annihilation« bedeutet nicht einfach nur »Auslöschung«, sondern bezeichnet in der Physik, wie Olivia Truffaut-Wong erklärt, auch einen Vorgang der Kreation, wenn sich nämlich ein Partikel mit seinem Anti-Partikel verbindet und diese neue Kombination in Energie 14 Vgl. Lacan: »Das Spiegelstadium als Ich-Bildner«. 102 Marie-Luise Angerer konvertiert: »The word ›annihilation‹ doesn’t just mean destruction. In physics, annihilation is actually a form of creation, as defined by Merriam-Webster: ›the combination of a particle and its antiparticle […] that results in the subsequent total‹.«15 Wie sich ein ehemals psychoanalytisch aufgeladener Begriff, wie jener des Begehrens, in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend in Beschreibungen von Affizierungsprozessen gewandelt hat, habe ich in Vom Begehren nach dem Affekt (2007) nachgezeichnet. Dort habe ich auch Luciana Parisis Abstract Sex (2004) vorgestellt, in dem sie Begehren als »anticlimactic distribution of energy flows«16 einführt. In ihrem Beitrag zum Band Gender goes Life (2008) spitzt sie diese Definition sodann weiter zu, um dezidiert von einem Nano-Begehren zu sprechen. Geschlechtlich markierte Körper würden nicht dematerialisiert oder einfach in Techno- logie übersetzt, sondern die nanotechnische Transformation induziere eine andere Form von Körperwahrnehmung, die mit einem Subjekt oder Selbst nichts mehr zu tun habe. Es handelt sich […] um eine Berührung auf Distanz, ein Verbundensein innerhalb der Materie, das dem sensorischen Kontakt vorausgeht. Dieses Gefühl kann in der Tat nicht mittels sensorischer Wahrnehmung oder geistiger Erkenntnis übersetzt werden. Es geht hier nicht um die Empfindung aktueller Phänomene oder um eine transparente Intra-Aktion zwischen Phänomenen […]. Es geht hier vielmehr um eine affektive Einbindung in das Virtuelle, in die physika- lischen Resonanzen der abstrakten Materie, die durch alle möglichen Körper hindurch vibrieren.17 Begehren wird zu einer Kraft, zu einer affektiven Ansteckung (»affective capacities of feeling«18), zu einer Lebenskraft, die mit dem conatus bei Baruch de Spinoza vergleichbar ist. Parisi greift hierfür auch auf mikro- ontologische Ansätze zurück, um die Aktivitäten von Bakterien, Viren oder Zellen zu beschreiben, die agieren, reagieren und Informationen untereinander austauschen. Myra Hird spricht in diesem Kontext von companion species, co-evolution und einem co-enactment zwischen non- species, um zu zeigen, dass Körper auf einer zellulären Ebene, sowohl genetisch als auch morphologisch, intra-aktiv19 agieren.20 15 Truffaut-Wong: »What Does The ›Annihilation‹ Ending Mean?«. 16 Parisi: Abstract Sex, S. 204. 17 Parisi: »Die Nanogestaltung des Begehrens«, S. 72. 18 Parisi: »Technoecologies of Sensation«, S. 184. 19 Zum Begriff der Intra-Aktion vgl. Barad: Meeting the Universe Halfway, S. 95. 20 »Bacterial communities […] perform collective sensing, distributed information processing, and gene-regulation of individual bacteria by the group.« (Hird: The Origins of Sociable Life, S. 42). No Stopping Points Anymore 103 Als sich Mitte der 1990er Jahre erste Anzeichen eines um sich grei- fenden material turns wahrnehmen ließen, schrieb Sadie Plant, eine der Vertreter*innen der Cultural Studies, mit Blick auf das Verhältnis von Kultur / Natur: »Complex interactions of media, organisms, weather pat- terns, ecosystems, thought patterns, cities, discourses, fashions, popula- tions, brains, markets, dance nights and bacterial exchanges emerge. […] You live in cultures, and cultures live in you. […] Without the centrality of agency, culture is neither high, nor ordinary, but complex.«21 Seit Plants Diagnose haben sich die Dinge, wie der Film Annihilation zeigt, weiter entfaltet. Heute würde die Beschreibung lauten: You live in natures, and natures live in you. Doch was wäre der Mensch in diesen Naturen und diese Naturen in ihm? Wenn Plant Ökosysteme, Märkte, bakteriellen Austausch u. a. m. zusammenführt und prozessorientierte Theorien diese Zusammen- führungen in ihrem gegenseitigen Bedingen weiterdenken, scheint es keine Limitation zu geben, die das Weiterwuchern beendet, sogenannte Knotenpunkte bildet, die das unaufhörliche semantische Ausfransen für Momente stillstellt. Ernesto Laclau hat hierfür den Begriff des Antago- nismus eingeführt, der erklären sollte, wie Bedeutung festgezurrt wird, um in symbolische Artikulation zu münden.22 Ich habe in Anlehnung an diesen Begriff jenen der sexuellen Differenz als einen derartigen stopping point benannt, der sich auf das Reale der Sexualität bezieht: nicht als Frau / Mann-Unterscheidung zu denken, sondern als Markierung einer fundamentalen Seins-Verfehlung.23 In der Psychoanalyse Lacan’scher Prägung ist die sexuelle Differenz das, was in den Worten Slavoj Žižeks »das Universum ›krümmt‹«24 – damit verantwortlich für den Einschnitt ›Subjekt versus Sein‹ –, um gleichzeitig jede klare Markierung zu ver- weigern. Wird dieser a-humane Kern als das Reale aus seiner zentralen Stellung jedoch in ein Post-/Non-/Para-Humanes verschoben, so ver- lieren alle weiteren darauf aufbauenden Setzungen ihren vermeintlichen Halt. Truffaut-Wong schreibt passend hierzu: So, are Kane and Lena human? Are they alien? Did the Shimmer somehow replicate them and take their place, or did it just change them on a cellular level? Thinking about how physics defines »annihilation«, one interpretation of the ending is that Lena and Kane aren’t quite the same Lena and Kane they once were. Though they share physical characteristics with their old selves, their DNA has been fundamentally altered. Both collided with the Shimmer 21 Plant: »The Virtual Complexity Of Culture«, S. 214. 22 Vgl. Laclau: »Subject of Politics, Politics of the Subject«, S. 53. 23 Vgl. Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, S. 93. 24 Žižek: Das Unbehagen im Subjekt, S. 88. 104 Marie-Luise Angerer violently (literally, they both fought themselves in the Lighthouse) to become a new form of energy, a new being.25 Phasenwechsel Als Deleuze und Guattari vom Etwas-Anderes-Werden schreiben, war dieses Werden im Phantasmatischen lokalisiert, ein imaginäres Werden, das den realen Körper für Momente umhüllte und zu etwas anderem werden ließ. Auch Judith Butlers doing gender hat diese Macht des Phantasmati- schen beschworen und gegen Lacan ein morphologisch Imaginäres stark gemacht – im Unterschied zu dessen imaginärer Morphologie.26 Butlers Verteidigung Anfang der 1990er Jahre, den Körper nicht nur als Text, sondern »von Gewicht« zu begreifen, markiert in meinen Augen jedoch einen Umschlag, dessen Implikationen und Konsequenzen heute unser Denken bestimmen. Materialität, Körper, Erde, Elemente, Umwelten – sie mischen sich ein, wie dies Isabelle Stengers in ihrer Formulierung »the intrusion of Gaia«27 ausgedrückt hat. Und nicht nur das: Sie mischen mit. Parallel zu dieser neuen Wahrnehmung interveniert fiction in das Terrain der facts und rückt deren phantasmatischen Anteil umso deutlicher ins Zentrum. Spätestens mit Haraways Arbeiten haben Geschichten (stories) auch jene der Wissenschaftsgeschichte (history) durchdrungen und gezeigt, dass jeder Materie, jedem Körper und jeder materiellen Eigenbewegung ein semantischer Überschuss anhaftet und sich davon nicht lösen lässt. Die semiotisch-materiellen Knoten haben seither ein dichtes narratives Netz gesponnen, dem auch diese Geschichten zuzurechnen sind. Was im Film Annihilation erzählt wird, ist die »Transformation des Menschen in eine geologische Macht oder in ein ›objektives Phänomen‹, in ein ›Natur‹- Objekt, in einen ›Kontext‹ oder eine bedingende ›Umwelt‹«,28 wie dies mit Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro genannt werden kann. In die Area X geschickt, um die vom Schimmer ausgelösten Ver- änderungen an Tieren, Pflanzen und Umwelten zu erkunden, erkennen die Forscherinnen in Annihilation das Ausmaß des fremden Milieus erst, als sie ihren körperlosen Standpunkt aufgeben und sich selbst als Teil des untersuchten Feldes begreifen, das heißt erst wenn sie bereit sind zuzulassen, dass sie mit Haut und Haaren dazugehören, Teil davon sind. 25 Truffaut-Wong: »What Does The ›Annihilation‹ Ending Mean?« 26 Vgl. Butler: Körper von Gewicht. 27 Stengers: In Catastrophic Times, S. 45. 28 Danowski / Viveiros de Castro: In welcher Welt leben?, S. 21. No Stopping Points Anymore 105 Wer sich im Schimmer aufhält, ist innerhalb kürzester Zeit nicht mehr sie* selbst, sondern immer schon more than one. Die kinematografische Darstellung des Schimmers kann als ein Versuch verstanden werden, eine Repräsentation im Sinne auch einer Vorstellung für unsichtbare und unverständliche Prozesse zu finden, die die selt- samen, nicht linearen und nicht kontrollierbaren, gleichzeitig intimen, stofflichen Veränderungen in Ökosystemen, welche nichtmenschliche und menschliche Körper affizieren, sich ›zeigen machen‹. Annihilation kann als ein Beispiel gelesen werden, Imaginationen / Figurationen für die im Anthropozän, Kapitalozän, Plantagozän oder Chthuluzän beschriebenen Vorgänge zu finden: Figurationen, die die lokal verstreuten, zeitlich gedehnten oder gequetschten Prozesse begreifbar machen, wie z. B. das Ozonloch, das Artensterben, die Antarktisschmelze und das ozeanische Plastik. Annihilation kann auch als Beispiel dafür verstanden werden, Bilder für die komplexen, algorithmusgesteuerten Rechenprozesse zu finden, die notwendige Hilfsmittel sind, um sich von den klimatischen und geologischen Veränderungen eine Vorstellung machen zu können. Dabei stellt sich drängender denn je die Frage nach der Art der Bilder: Weder können diese rein technisch sein und kybernetische Machtphan- tasien wiederbeleben, die jedes Katastrophenszenario als technisch zu lösendes suggerieren; noch können es Bilder sein, die wieder in der Figur des rettenden Anthropos münden, der nur wieder die Dichotomie von Natur und Technik zu Hilfe holt. Die Transformationen in Annihilation ereignen sich an der Schnittstelle von Materialität und Mentalem, von Natur und Kultur, von Fantasie und Wissenschaft – und berühren damit jene Reibungsflächen, mit denen sich feministische Theorien schon ziemlich lange auseinandergesetzt haben und nach wie vor tun. Statt religiös, transzendental oder Bot*in einer höheren Dimension zu sein, steht der Schimmer für die Rhythmik des terrestrischen Lebens als fortwährende Trennung und Verbindung / Mi- schung: »stuck in a continuous mutation«, wie es an einer Stelle im Film über die durch den Schimmer refraktierten Organismen heißt. In den Jahren 2013/2014 haben Luce Irigaray und Michael Marder, Autor u. a. von Plant-Thinking. A Philosophy of Vegetal Life (2013),29 einen Dialog geführt, der unter dem Titel Through Vegetal Being (2016) erschie- nen ist.30 Darin findet sich eine bemerkenswerte Passage bei Irigaray, die Haraways »making kin«31 zur gleichen Zeit vor anderen theoretischen 29 Vgl. Marder: Plant-Thinking. 30 Vgl. Irigaray / Marder: Through Vegetal Being. 31 Haraway: Unruhig bleiben. 106 Marie-Luise Angerer Überlegungen formuliert: »[O]ur desires do not first aim to procreate but to create links between us.«32 Um dann weiter fortzufahren, was sie bereits 1974 in Speculum als eines ihrer Anliegen artikuliert hat: Natur als die Basis allen Lebens zu begreifen, um Mensch zu werden. Das, was einer radikalen Dekonstruktion abendländischer Metaphysik gleichkommt, wird hier also weiter vorangetrieben. Jedoch anders als viele Mit-Autor*innen, die eine Kritik gegenüber einer gesonderten Stellung des Menschen und dessen unwiderrufliche, negative Eingriffe in die Welt äußern, beharrt sie auf der notwendigerweise immer schon ›sexuierten Natur‹ des Menschen (wie an früherer Stelle ausgeführt). Hierfür argumentiert sie zunächst ganz im Sinne der Psychoanalyse. Menschen, anders als Pflanzen und Tiere, haben ein sexuiertes Begeh- ren, das sie zu ständiger Weiterentwicklung antreibt und ihnen hiermit auch eine größere Verantwortlichkeit auferlegt. Doch diese ist nicht als Individuierungsprozess zu sehen, sondern als gedoppeltes Wachstum zu begreifen, »which makes their becoming more complex and largely still to come. […] Not only are their roots never one but at least two, but their growing also intertwines with that of others, especially others who are different; which renders their becoming hybrid and uncertain in its motion and direction.«33 Anders als bei Tournier und völlig anders als in Limbo, wo ein zum Stillstand verurteiltes oder gewaltsam unterbundenes sexuelles Begehren zum Ende des Menschseins (in der Figur des Mannes verkörpert) führt, begreift Irigaray dieses Begehren als das, was es dem Menschen (erst) ermöglichen könnte, sich auf seine »bedingende Umwelt«, also Natur und Soziales, einzulassen. Lässt das Ende von Annihilation diese Sicht zu? Es bleibt bis zum Ende des Films vollkommen unklar, was der Schimmer ist, woher er kommt und was er bedeutet. Wird zwar zwischendurch an der Wirklichkeit des Schimmers gezweifelt, geht es letztendlich darum, verschiedene Vor- schläge zu machen, wie mit ihm umzugehen sei. So sagt die Physikerin zur Biologin in einer Szene: »Ventress wants to face it. You want to fight it. But I don’t think I want either of those things.« Ein feministischer Standpunkt könnte es also sein, nicht von einer Auslöschung (»to fight«) auszugehen (z. B. keine einfache Auflösung von Gender, race und damit verbundenen Kontroll- und Subjektivierungsmechanismen anzustreben) und auch keine einfache Gegenüberstellung (»to face«) im Sinne eines Bannens oder Kontrollierens des Gegenübers einzufordern, sondern die 32 Irigaray / Marder: Through Vegetal Being, S. 66. 33 Ebd., S. 80. No Stopping Points Anymore 107 Aufrechterhaltung der Spannung, ein Offenlassen, auszuhalten – so far (wie es Haraway nennt)34 – und Überleben als etwas zu begreifen, das weder mit Reinheit noch mit Einheit gewährleistet ist. Ein »Mit« (»co-«) als originäre Voraussetzung, ob man dieses nun als more than one oder Dividuation oder intra-action benennen möchte. Während ich am Ende meines Texts angekommen bin, stoße ich zufällig auf eine aufgeregte Meldung, die verschiedene Nachrichten- portale aufgreifen: Handschriftenforscher*innen hätten in der Bibliothek des Stifts Melk in Österreich eine Pergamentschrift entziffert, die davon berichtet, wie eine Jungfrau sich mit ihrer Vulva darüber unterhält, wer denn den größeren Reiz auf Männer ausüben könne: sie, die Frau, oder ihr Geschlechtsteil.35 Die Forscher*innen sind über den Fund deshalb so aufgeregt, wird berichtet, da sie bislang davon ausgegangen seien, dass sich eine derart selbstständige sexuelle Beziehung erst allmählich um 1500 entwickelt hat. Die gefundene Handschrift ist jedoch auf 1300 zu datieren. Spekulation, feministisch, könnte heißen: Ein Mönch schreibt in seiner Zelle in Melk seine Fantasien auf, diese geistern um das weib- liche Geschlecht, das schon damals als »nicht eins« wahrgenommen wurde. Was wiederum heißen könnte, dass sich das gegenteilige Bild der ›vulva dentata‹, der Vulva mit Zähnen, also möglicherweise erst später entwickelt und die sprechende Vulva überlagert hat, um ein weibliches Begehren für lange Zeit stillzustellen … Siglenverzeichnis GF = Irigaray, Luce: »Göttliche Frauen«, in: dies.: Genealogie der Geschlechter, Freiburg 1989, S. 91–121. Literaturverzeichnis Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt, Berlin / Zürich 2007. Angerer, Marie-Luise: »The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten«, in: dies. (Hg.): The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten, Wien 1995, S. 17–34. Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham / London 2007. Bordo, Susan: »Feminism, Postmodernism, and Gender-Scepticism«, in: Linda Nicholson (Hg.): Femi- nism / Postmodernism, New York / London 1990, S. 133–156. Butler, Judith: Körper von Gewicht. 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Parisi, Luciana: »Die Nanogestaltung des Begehrens«, in: Marie-Luise Angerer / Christiane König (Hg.): Gender goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender-Studies, Bielefeld 2008, S. 63–92. Parisi, Luciana: »Technoecologies of Sensation«, in: Bernd Herzogenrath (Hg.): Deleuze / Guattari & Ecology, Basingstoke / New York 2009, S. 182–199. Plant, Sadie: »The virtual complexity of culture«, in: George Robertson / Melinda Mash / Lisa Tickner u. a. (Hg.): FutureNatural. Nature / Science / Culture, London 1996, S. 203–217. »Sprechende Geschlechtsteile in der Klosterbibliothek«, in: https://www.uni-siegen.de/start/news/ forschungsnews/870257.html (aufgerufen am 25.07.2019). Stengers, Isabelle: In Catastrophic Times. Resisting the Coming Barbarism, Lüneburg 2015. Tournier, Michel: Freitag oder Im Schoß des Pazifik, Frankfurt a. M. 1982. Truffaut-Wong, Olivia: »What Does The ›Annihilation‹ Ending Mean? 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Dieser Text stellt die These auf, dass wir durchaus etwas tun könnten, das den in unserem Fachgebiet Ausgebildeten leicht fiele. Es bestünde in der Nutzung unseres konstitutiv ambivalenten Verhältnisses zur Auf- klärungsfigur Mensch.1 Das Durcharbeiten dieser Figur könnte uns eine angemessenere Beschreibung des derzeitigen ökologischen Alptraums liefern. Unser gegenwärtiger Zustand, so meine Behauptung, drückt sich am besten durch das Bild der vom Menschen belagerten Erde aus.2 Eine andere Art, sich mit diesen Problematiken auseinanderzusetzen, liefert der Begriff des Anthropozäns, der schon seit einiger Zeit als Be- zeichnung einer geologischen Epoche kursiert, in welcher menschliches Tun die Auswirkungen von Gletscherbewegungen bei der Veränderung des Antlitzes der Erde bei weitem übertrifft. Einige Aussagen über das Anthropozän fallen neutral oder gar triumphierend aus. Die meisten aber lenken unsere Aufmerksamkeit auf die sich ausweitenden Gefahren 1 Tsing schreibt das englische Wort ›Man‹, das im Deutschen sowohl ›Mann‹ als auch ›Mensch‹ bedeutet, mit großem Anfangsbuchstaben und unterstreicht damit, wie sie bei einem Vortrag sagt, »the masculinist thinking« verkörpert durch »Man with a capital ›M‹ as an enlightenment figure«, der »the Universalism and single history of God« erbt. Vgl. dies: A Feminist Approach to the Anthropocene. In Anlehnung daran wird in der deutschen Übersetzung die Kursivschrift für den ›Menschen‹ und seine Personalpronomen verwendet. Auch wenn ›Mensch‹ und ›Mann‹ etymologisch und ideologisch zusammenhängen, wird das englische ›Man‹ mit dem deutschen Wort ›Mensch‹ übersetzt, um die potenzielle Offenheit in diesem Konzept, die bei Tsing eine Rolle spielt, zu unterstreichen. Die Be- griffe ›humans‹ (Menschen) und ›people‹ (Leute) bezeichnen im Unterschied dazu reale Personen. Historische Begriffe wie ›Verschwörergruppe‹ oder ›Beamte‹, die Institutionen meinen, werden im grammatikalischen Maskulinum wiedergegeben. (Anm. d. Ü.) 2 Dieser Text wurde zuerst im Mai 2015 im Rahmen der jährlich stattfindenden »Marilyn Strathern Lecture« an der University of Cambridge vorgetragen. 112 Anna Lowenhaupt Tsing einer ökologischen Katastrophe.3 Der Begriff ist umstritten; tatsächlich haben Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen sich mit ganz besonderer Wachsamkeit mit seinen Schwächen beschäftigt.4 Das Schwierigste an diesem Begriff – seine direkte Bezugnahme auf den Menschen bzw. die Menschheit – könnte zugleich sein aufschlussreichstes Merkmal sein. Den Menschen als ernst zu nehmende Kraft zu betrachten, die weder verworfen noch der naiv hinterhergelaufen werden darf, ist genau das, was wir brauchen, um dem ›bruchstückhaften (patchy) Anthropozän‹ gewahr zu werden, also des unebenen und unausgeglichenen Terrains der vom Menschen belagerten Erde. Anthropologie/Anthropozän: Beide Begriffe verfügen über das Präfix ›Anthropo-‹, was von ihren Wurzeln in der Genealogie des Menschen der Aufklärung zeugt. Doch rebellieren beide gegen dieses Erbe – auf je un- terschiedliche Weise. Die Anthropologie verweigert dem Menschen sein Einbezogensein und zerreißt seine Hülle in bruchstückhafte Perspekt iven und Lebensweisen. Das Anthropozän weist das Heldenhafte des mensch- lichen Kampfes gegen seine große Gegnerin, die Natur, zurück und offen- bart die Schrecken seiner sich über den gesamten Planeten erstreckenden Zerstörungsspur. Diese Reaktionen unterscheiden sich voneinander. Ob sie sich auch wechselseitig beeinflussen könnten? Das Anthropozän fordert von der Anthropologie, sie solle Fragen der Lebensfähigkeit ernst nehmen. Statt lediglich Wissenschaftler*innen hinterherzulaufen und deren Geltungsanspruch in Frage zu stellen, sind wir aufgefordert, uns wieder besseren Weltbeschreibungen zuzuwenden. Die anthropologische Vielfalt wiederum bricht die nur vorgestellte Einheit des Anthropozäns auf und verweigert sich einer universellen Zeitvorstellung. So entstehen ›Bruchstücke‹ der Differenz, die eine Heterogenität des Maßstabs in ihre Berechnungen zwingen. Aus der gemeinsamen Perspektive gibt es hier also durchaus lohnenswerte Arbeit zu tun. Doch wer genau ist dieser Mensch? Seine Ursprünge in der Aufklä- rung haben unsere Disziplin hervorgebracht und ermächtigen uns noch heute zu schreiben. Seine Verallgemeinerung schließt jedoch immer einige von uns mehr als andere ein, und das ist eine der wichtigsten 3 Die Anthropozän-Zeitskala ist noch nicht fertiggestellt. Während manche Archäolog*innen als Anfangsdatum des Anthropozäns für einen Zeitpunkt vor etwa zehntausend Jahren plädieren, geht die Mehrheit der anderen Wissenschaftler*innen von Datierungen aus, die sich auf weit spätere Umweltprozesse beziehen und die vom Kolumbianischen Austausch im 17. Jahrhundert (vgl. Lewis / Maslin: »Defining the Anthropocene«) bis zur ersten Atombombe im Jahr 1945 reichen (vgl. Zalasiewics / Waters / Williams u. a.: »When Did the Anthropocene Begin?«). 4 Vgl. hierzu etwa Haraway: »Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene«; Malm / Hornborg: »The Geology of Mankind?«. Die Erde, vom Menschen belagert 113 Erkenntnisse unserer Disziplin. Er hat ein Geschlecht, eine Ethnizität, eine Religion, er verfügt über eine Eigentumstheorie und eine Vorstellung vom Selbst; diese ermöglichen ihm, Verallgemeinerungen anzustellen. Vom Standpunkt einer Schwarzen Muslima aus lässt sich nur schwer verallgemeinern; das geht nur vom Standpunkt eines weißen, christlichen Mannes aus. Gleichzeitig geht er über sich selbst hinaus und vermehrt sich; seine Wirkungsmacht ist nicht auf seine eigene Klasse, seine Ethni- zität oder sein Geschlecht beschränkt. Für Anthropolog*innen ist das vertrautes Terrain. Wir wissen ihn sowohl zurechtzuschneiden als auch seine enormen Auswirkungen auf Kultur und Geschichte zu ermessen. Diesen Menschen ins Anthropozän zu stecken, verleiht dem Begriff für unsere Disziplin Geltung – und führt auch zu besseren Beschreibungen. Die zwiespältige Sicht der Anthropologie auf den Menschen vermag eine zentrale Frage für die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän aufzuzeigen: Ist es global? Wie der Mensch, ja, gewiss… Und doch: nein. Definitionsgemäß ist es global: Bei Modellen zum Klimawandel etwa geht es um die weltweite Luft- und Wasserzirkulation. Auf einen Ort beschränkt ›geht‹ Klimawandel eben einfach nicht. Dasselbe gilt für die durch das Artensterben ausgelöste Krise: Wird eine Spezies in nur einem Gebiet vernichtet, dann ist das keine Auslöschung; Auslöschung bedeutet, dass diese Spezies der gesamten Welt abhandengekommen ist. Und ich erinnere mich noch, wie schnell sich die Strahlung der Katastrophe von Fukushima in Finnland bemerkbar machte – obwohl die Winde dorthin nur über einen Umweg gelangen konnten. Als kurz darauf radioaktiver Abfall an der kalifornischen Küste angeschwemmt wurde, war dies nur die erneute Bestätigung der Tatsache, dass Radioaktivität, wie alle anderen Formen von Umweltverschmutzung auch, ein globales Problem darstellt.5 Aber ist es das wirklich? Die Küste Kaliforniens gehört ebenso wie die finnischen Wälder zu den Orten, an denen Strahlung aus Fukushima ge- messen wurde. Keine*r von uns lebt in einem globalen System, wir leben an Orten. Das bedeutet nicht, dass wir nicht reisen würden, aber wir reisen von Ort zu Ort, nicht in einer abstrakten Globalität. Das Anthropozän ist bedeutungsvoll, weil durch die Auswirkungen menschlichen Handelns die Lebensfähigkeit gefährdet ist. Und wir vermögen die Lebensfähigkeit nur über Orte zu erfahren. Auch wenn es sich aus der globalen Zirkulation ableitet, das Anthropozän findet doch an Orten statt. Das ist nicht das Gleiche wie zum Beispiel angebliche Weltkonzerne, die es tatsächlich nur an bestimmten Orten gibt. In dem Fall ist die Ideologie eine globale, die 5 Zu diesen Berichterstattungen vgl. Sherwood: »Fukushima Radiation nears California Coast, Judged Harmless«. 114 Anna Lowenhaupt Tsing Umsetzung aber eine lokale. Das Anthropozän ist global; es ergibt nur im planetarischen Maßstab einen Sinn. Und doch ist das Anthropozän immer auch ortsgebunden, perspektivisch und performativ. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Vorstellungen vom Anthropozän, die sich verschiedene Leute machen, oder gar daran, dass globale Systeme sich auf verschiedene Leute unterschiedlich auswirkten. Es ist weit mehr als das. Das Anthropozän ist bruchstückhaft, da es aus unterschiedlichen Zusammensetzungen des Lebbaren besteht. Es existiert nur in diesen und durch diese Bruchstücke. Zu dieser Sichtweise gelangte ich, weil ich zufällig ins Territorium des Anthropozäns geraten war. Ich wurde gebeten, im dänischen Aarhus eine transdisziplinäre Forschungsgruppe zusammenzustellen. »Was für ein Thema soll ich denn vorschlagen?«, fragte ich. Meine Gastgeber*innen, die auch an die Finanzierung dachten, antworteten: »Machen Sie etwas mit Klimawandel.« Ich schrieb also etwas über anthropogene Land- schaften (Multispezies-Landschaften, in denen Menschen (humans) eine Rolle spielen), denn das war ja mein Forschungsgebiet, aber ich gab dem Antrag den Titel Im Anthropozän leben, um einfacher Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Es funktionierte: Dieser Begriff zog Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Philosoph*innen und Anthropolog*innen an, und das ist auch großartig. Doch war es vielmehr meine ursprüngliche Beschäfti- gung mit der Erforschung von Landschaften, die mich das Anthropozän durch diese Linse sehen ließ: Landschaften setzen sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen – und das ist es, was ich als ›bruchstückhaft‹ bezeichne. Von Beginn an habe ich das Anthropozän über die Figur der Plantage gedacht. Mit ›Plantage‹ meine ich jene ökologischen Vereinfachungen, bei denen Lebewesen in Ressourcen – und damit in zukünftige Vermögens- werte – umgewandelt werden, indem sie ihren Lebenswelten entzogen werden. Plantagen sind Replikationsmaschinen, es sind Ökologien, die der Produktion derselben dienen. Wie schon viele Anthropolog*innen zeigen konnten, ist es wirklich exotisch, die Dinge auf diese Weise zu entwirren. Zur Produktion von Ressourcen – also zur Entwirrung von Din- gen – bedarf es kultureller Arbeit. Nennen wir diese Arbeit ›Entfremdung‹, ganz gleich, ob es sich nun um Menschen oder Nichtmenschen handelt. Die Entfremdung schafft Möglichkeitsbedingungen für die Entstehung von Replikationsmaschinen, die sich als effiziente Produzenten von Ver- mögenswerten erweisen, die wiederum in zukünftige Vermögenswerte umgewandelt werden können – und in der Tat dazu beitragen, ein Zu- kunftsmodell zu erschaffen, das wir fortschrittlich nennen. Die Entfremdung erzeugt jene Umweltprobleme, die wir mit dem Begriff ›Anthropozän‹ Die Erde, vom Menschen belagert 115 bezeichnen. Der menschengemachte Klimawandel, die Ausrottungskrise und die radioaktive Verseuchung, die bisher meine Beispiele bildeten, entstehen allesamt durch die Jagd nach Vermögenswerten, die durch vereinfachte Ökologien und solche industriellen Verfahren entstehen, die diese Ökologien zuallererst ermöglicht haben. Mit der Figur der Plantage zu denken hat den Vorteil, dass durch sie das bruchstückhafte Anthropozän sofort sichtbar wird. Plantagenland- schaften mögen in unserer heutigen Welt allgegenwärtig erscheinen, in Wirklichkeit sind sie es nicht. Es gibt viele Landschaften mit arten- übergreifenden Verwicklungsstrukturen, wie zum Beispiel Wälder. Und dennoch werden die Plantagen durch die Möglichkeiten der Proliferation mit Energie versorgt. Proliferation ist ein Wort, das uns aus dem Kon- text von Krebserkrankungen und Atomwaffen bekannt ist. Krebs kann, seinem Wesen gemäß, nicht überall sein; er entsteht innerhalb von Or- ganismen, die aus Nicht-Krebszellen bestehen. Und trotzdem proliferiert er, er breitet sich aus. So verhält es sich auch mit Atomwaffen – und mit Plantagen. An der ungleichmäßigen Proliferation von Plantagenökologien zeigt sich das bruchstückhafte Anthropozän. Und hier bin ich wieder beim Menschen, mit großem M, der Pläne für einen Fortschritt durch Plantagen ersinnt. Doch was für eine Belagerung, was für ein Mensch ist das? Im Folgenden wechsle ich zwischen Reflexionen und Lügen- geschichten. Meine Lügengeschichten sind notwendige Allegorien, sie basieren zugleich auf Tatsachen und sind dafür gemacht, neue Figuren für das Denken zu schaffen. Reflexion 1: Die Beharrlichkeit der Marilyn Strathern Denke ich an Ambivalenz innerhalb von Kategorien, so fällt mir die An- thropologin Marilyn Strathern ein. Strathern führt uns an Dinge heran, die nicht zusammenpassen – und doch irgendwie zusammen sind. Im Gegensatz zu einem marxistischen ›Widerspruch‹ führen Scheidewege für Strathern nirgendwohin; eine Synthese gibt es nicht, dafür die Gele- genheit, über die Kategorien nachzudenken. Sie bittet uns, geduldig im Schlamassel sitzen zu bleiben, uns nicht an einer Lösung zu versuchen, sondern uns die nötige Zeit zu nehmen, um über das Inkommensurable nachzudenken.6 Hier gilt es mehrere Arten von Geduld zu unterscheiden. Zunächst verlangsamt uns die Prosa. Dann zwingt sie uns, Vielfalt über miteinander in Konflikt stehende Maßstäbe mit ihren Verbindungen und 6 Vgl. z. B. Strathern: Partial Connections. 116 Anna Lowenhaupt Tsing Trennungen zu denken. Schließlich zeigt uns ihr Werk einen Weg, der die Dringlichkeit des Handelns mit der Berücksichtigung von Komple- xitäten zusammenführt. All dies erscheint mir für eine Betrachtung der vom Menschen belagerten Erde sehr hilfreich. Der Mensch ist ein »sowohl als auch«-Problem: Er ist sowohl begrenzt als auch überall. Das trifft auch auf seinen Avatar, die Plantagenlandschaft, zu. Plantagen machen sich überall breit; sie sind die moderne Proliferationsform. Als Replikationsmaschinen erzeugen sie Proliferation. Dennoch bilden sie sich allerorten in volkstümlichen Geschichten heraus, die sie mit den Kontingenzen von Begegnungen und den Eigenheiten der Orte zusammenführen. Sie vermögen nie überall zu sein, denn sie hängen von den in sich verflochtenen Landschaften ab, die sie entflechten. Und doch verbreitet sich mit jeder Ausweitung der Plantage die Allgemeingültigkeit ihrer Ubiquität. Hierin liegt etwas Unklares: Die Plantage erschafft die Allgemeingültigkeit des Rückzugs; doch nur ein nicht-allgemeiner, lokal definierter Apparat vermag diese Allgemeingültigkeit hervorzubringen. Hier haben wir es nicht gerade mit einem Scheideweg im Strathern’schen Sinne zu tun. Dennoch erlaube ich mir, dies in Beziehung zu Stratherns Erkenntnissen im Feld der feministischen Anthropologie zu setzen. Meine Analyse ist hier in zweifacher Hinsicht eine feministische. Sie ist femi- nistisch im Vergleich, in ihrem Verhältnis zum Strathern’schen Dilemma von Vielfalt und Maßstab. Sie ist aber auch konstitutiv feministisch durch ihren Ursprung in meiner eigenen Empörung über die destruktiven Taten des Menschen. Diese Kombination führt mich zu Stratherns Artikel An Awkward Relationship. The Case of Feminism and Anthropology (1987).7 Dieser Artikel war für mich eine echte Herausforderung, setzte er doch bei scheinbar völlig verkehrten Kategorien an: Der Feminismus war ein Universalismus, die Anthropologie dagegen ein kultureller Relativismus. Die Dichotomie untergrub eben das Unternehmen, zu deren Umsetzung sie sich aufgemacht hatte – und ich denke, genau das war der Punkt. Stratherns feministische Anthropologie, die weder universalistisch noch relativistisch verfasst ist, trat in einer unhaltbaren Reihe von Distinktionen in Erscheinung, die uns zwang, die Perspektiven nicht zu entflechten, sondern sie vielmehr einzusetzen, um deren Widersprüche aufzuzeigen. Wir haben keine Wahl; wir müssen tun, was wir nicht tun können und das »sowohl als auch« akzeptieren. Im Gegensatz zu Formen des Struk- turalismus, in denen die Dichotomien Algorithmen sind, durch welche die Welt wie eine Maschine in Gang gesetzt wird, bringen Stratherns 7 Vgl. Strathern: »An Awkward Relationship«. Die Erde, vom Menschen belagert 117 Scheidewege die Welt zum Stillstand. Sie erzeugen das Durcheinander und verlangsamen uns, damit wir uns darin niederlassen. Um also ge- duldig in meinem Durcheinander zu verharren, möchte ich nun zu einer Geschichte kommen. Lügengeschichte 1: Die dreitausend Schweinchen In Dänemark, wo ich zurzeit lebe, ist die Schweinehaltung die für den Export wichtigste Agrarindustrie des Landes und trägt nach Ansicht der meisten Leute, mit denen ich rede, zur Bestimmung des dänischen Nationalcharakters bei. Schweine werden in Großbetrieben mit mehreren tausend Tieren aufgezogen, für die Vertreter*innen dieser Industrie ist jedoch wichtig zu betonen, dass es sich um ›Familienbetriebe‹ handelt. Dänemark wurde durch die Mobilisierung einer agrarischen Genossen- schaftsbewegung zur modernen Nation und die Träume von Modernität waren von Beginn an mit einer Landschaft verbunden, die man sich als aus Familienbetrieben zusammengesetzt vorstellte. Schweine sind sowohl universelle Güter als auch typische Dän*innen: das Durcheinander des Menschen. Im März 2015 nahm mich Inger Anneberg auf eine ihrer Forschungs- reisen zu einer Schweinefarm in Zentraljütland mit.8 Ich bin keine Schweineexpertin. Doch der Hof bietet ein dermaßen lebendiges Bild von »Replikationsmaschinen«, dass ich mir erlaube, ihn hier näher zu beschreiben. Lassen Sie mich Sie zunächst zu dem Gebäude führen, in dem die Zuchtsauen eingesperrt sind. Am beeindruckendsten war für mich, dass jedes einzelne Tier gemäß seinem Fortpflanzungsstatus, der bis ins kleins- te Detail ermittelt wird, eingestuft und verwaltet wurde. Wir begannen unseren Rundgang mit den Jungsauen, die sich gerade zum ersten Mal fortpflanzten. Diese wurden in einem Gehege in der Nähe des Haupt- eingangs gehalten, damit die Landwirt*innen sie leichter beaufsichtigen konnten. Durch die Beobachtung der Färbung ihrer äußeren Genitalien wissen sie genau, wann welche Sau paarungsbereit ist. Der Rücken jeder Sau ist mit einem farbigen Streifen markiert, der den betreffenden Tag anzeigt. Sowie die Vulva rot genug ist, wird die Sau besamt. Und sobald die Schwangerschaft bestätigt ist, wird die Sau in eine Reihe von verschiedenen Ställen gebracht, die jeweils genau anzeigen, wie viele 8 Vgl. Anneberg / Vaarst / Bubandt: »Pigs and Profits«; vgl. auch Hamman: »An Overview of the Danish Pork Industry«. 118 Anna Lowenhaupt Tsing Tage die Schwangerschaft bereits fortgeschritten ist. Das soziale Leben in den Ställen wurde durch EU-Diskussionen verbessert, die auf jüngste Erkenntnisse reagieren, nach denen Schweine ausgesprochen soziale Wesen sind. Aber diese Sozialität wird sehr sorgfältig im Verhältnis zum genauen Schwangerschaftsstatus der Sau gehandhabt: Zuerst benötigt sie die Option eines Raumes für sich; später dann muss sie in einer Gruppe funktionieren, es sei denn, sie wird krank. Die Landwirt*innen wissen genau, wann sie niederkommt, und alles wird für die Ferkel vorbereitet. Diese Sauen verfügen über unterschiedliche Anzahlen von Zitzen, die zwischen zehn und achtzehn liegen können, und da jedes Ferkel seine eigene Zitze hat, können die Muttertiere niemals mehr Ferkel stillen, als es die Anzahl ihrer Zitzen erlaubt. Aber die Bäuer*innen haben einen Mittelwert von vierzehn Zitzen berechnet, und so passen sie die Besamungsmixtur so an, dass vierzehn Ferkel dabei herauskommen. Vier überzählige Ferkel von einer Sau mit zehn Zitzen werden an eine Sau mit achtzehn Zitzen abgegeben. Und so bald wie möglich werden die Ferkel ihrer Mutter entzogen, damit die Sau wieder weitere Ferkel produzieren kann. Weil die Ferkel so bald weggenommen werden, bevor sie ein ausreichend starkes Immunsystem ausbilden können, erhalten sie Antibiotika; sogar von Darmbakterien werden sie befreit. All dies führt zu einer maximalen Vermehrung der Sauen. Der Landwirtschaftsbetrieb ist eine Replikationsmaschine; Sauen und Ferkel sind Vermögenswerte, die effizient verwaltet werden müssen. Die Effizienz wird durch Taylo- risierung der Reproduktionsprozesse und durch Beseitigung sämtlicher Hindernisse durch einen sterilen und streng überwachten Lebensraum erreicht. Die Überwachung ist streng, und doch haben wir es mit dem dänischen Familienbetrieb zu tun: Das ist die Plantage inmitten ihrer Widersprüche sowohl transzendenter als auch ortsbezogener Art. Schließlich, so erklärt der Landwirt, sind sie nicht wie diese hypermodernen Niederländer*innen, die ihre Schweinezuchtbetriebe in lagerhausähnliche Fabriken verwan- delt hätten. Hier geht es um eine volkstümliche Geschichte, in der der Mensch mit jütländischen Eigenschaften auftaucht; hier ist das Lokale, in dem das Globale zum Ausbruch kommt. Da lohnt es sich, noch ein paar weitere Geschichten zu erzählen. Der Ur-Urgroßvater jenes Landwirts, den ich hier Mads nennen werde, gründete diesen Bauernhof in Zentraljütland im 19. Jahrhundert als Teil einer nationalistischen Mobilisierung, durch die Moorgebiete in moderne Familienbetriebe verwandelt werden sollten. Die Dän*innen hatten in einem Krieg mit den Deutschen ihr bestes Ackerland verloren, und, wie es das Sprichwort besagt, »was draußen verloren wird, wird im Innern Die Erde, vom Menschen belagert 119 gewonnen«.9 Diese nationale Charta für moderne Familienbetriebe sollte auch die nachfolgenden Widersprüche prägen. Als die Eltern von Mads 1980 beschlossen, ihren Mischbetrieb aufzurüsten, wären sie gerne in die Milchwirtschaft gewechselt. Aber sie sahen sich die Zahlen an und erkannten, dass sie nur mit Schweinen weiterkamen. Die Zahlen sagten ihnen, das Familienunternehmen ist hier die Plantage. Somit fanden Mads’ Eltern Arbeit, die sowohl modern war als auch Familiencharakter besaß. Seine Mutter ging nach Rumänien und rekrutierte einen jungen Mann, dessen erweiterte Familie den Hof seither mit Arbeitskräften versorgt. Der Knoten, durch den Intimität und Loslösung miteinander verknüpft sind, wurde mir in einer Reihe von Gesprächen über die Sexualität von Schweinen ganz besonders klar. Mads erklärte mir, wie man Sauen mit- hilfe eines langen Plastikschlauchs besamt, der in die Vagina eingeführt wird. Im Gegensatz zu einer Kuh muss die Sau einige innere Muskeln kontrahieren, um das Sperma ins Innere zu bringen. Jedes Mal wenn Mads diesen Vorgang schilderte, machte er eine dramatische Pause, zögerte eine ganze Weile und verwendete dann den Begriff Orgasmus für diesen Prozess. Einmal beschrieb er die Geduld, die er braucht, wenn die Sau nicht sofort reagiert. Eine Kollegin von mir fragte, was er denn während der Wartezeit tue: Ob er die Sau stimuliere? »Er schreibt seiner Frau SMS«, kam ihm ein dänischer Forscher zu Hilfe. Mads stimmte gleich zu und begann den Vorgang intensiven Textens nachzuahmen, während er träge den Besamungsschlauch in Position hielt. Für mich war das ein Hinweis auf die Spannung zwischen Intimität und Loslösung, die im Zentrum des familiären und zugleich industriellen Landwirtschaftsbetriebs liegt. Das ist Sex und doch kein Sex; so erhält die Replikationsmaschine ihre dänische Ausformung. Und doch ist da noch etwas anderes, eine stille Kraft, die in diesem Durcheinander aus Allgemeinem und Besonderem entsteht – und die beide sowohl auseinandertreibt als auch zusammenbringt. Betrachten wir zum Beispiel Bakterien: Antibiotikaresistente, infektiöse Bakterien, die im plantagenhaftesten aller von Menschen genutzten Räume, dem Krankenhaus entstanden sind, haben sich auf nahezu alle dänischen Schweinehaltungs- betriebe ausgebreitet.10 Die Allgegenwart der Antibiotika verleiht ihnen dort eine Vormachtstellung. Wir sind bestens gerüstet, sowohl Schweine als auch uns selbst vor Infektionen zu schützen, von den Stiefeln bis zum Haar; wir ähneln ein wenig Ebola-Krankenschwestern. Tatsächlich hat die Ausbreitung dieser Bakterien ein hochgeschätztes nationales Ritual 9 Vgl. Olwig: »The Jutland Cipher«. 10 Vgl. National Food Institute u. a.: »DANMAP 2012«. 120 Anna Lowenhaupt Tsing in Frage gestellt: den Besuch von Schulkindern auf der Schweinefarm. In den Debatten über Sicherheitsfragen in der Schweinehaltung werden die gewohnten Grenzen der Replikationsmaschine wiederhergestellt, auch wenn sie gleichzeitig deren weitere Proliferation fördern – wie es sich an unseren Sicherheitsanzügen zeigt. Virulenz ist auf der Plantage der Regelfall. Sie unterstreicht sowohl die Allgemeingültigkeit der Replikationsmaschine als auch deren örtliche Festlegung. Die Plantage selbst beginnt wie der Ausbruch einer Krankheit in Erscheinung zu treten, auch wenn sie ihre eigenen Erreger züchtet. Diese gewaltigen Mengen an Milben mögen diese erschüttern – oder sie über riesige neue Gebiete verbreiten. Wer in diesem Durcheinander verharrt, kann inkommensurable Teile jenes Puzzles entstehen sehen, das wir den Menschen nennen. Reflexion 2: Die stille Kraft Die stille Kraft ist der Titel eines 1900 erstveröffentlichten Romans von Louis Couperus, der sich mit den Auswirkungen des Kolonialismus in Niederländisch-Ostindien beschäftigt.11 Das nimmt mich auf einen Abstecher in jene koloniale Welten mit, die sowohl zur Entstehung der Anthropologie wie auch der Plantagen beigetragen haben. Der Mensch kommt in kolonialen Begegnungen zum Ausbruch; koloniale Begegnungen zeigen uns den Menschen als Ausbruch. Die gleichzeitige Erschaffung der Universalität des Menschen und jener provinziellen, volkstümlichen Geschichten, die ihn an seinen Ort binden, wo Inkommensurabilität alltägliche Praxis ist, werden in diesem Raum akut sichtbar. Doch lassen Sie mich mehr als ein Jahrhundert vor Couperus’ Roman aus dem Jahr 1900 ansetzen, um einen Blick auf das Java des 18. Jahr- hunderts zu werfen, wie es die Historikerin Jean Taylor in ihrer großarti- gen Geschichte The Social World of Batavia (2009) schildert.12 Hier findet sich ein äußerst anschauliches Beispiel dafür, was ich mit dem Ausbruch des Menschen meine. Damals galten die Tropen als ungesund für weiße Frauen, und die Koloniebeamten trafen dort als Alleinstehendende ein. Sie gingen Beziehungen mit ortsansässigen Frauen ein und brachten mixed-race Kinder zur Welt. Zur Versorgung dieser Kinder schickten sie die Jungen nach Holland, um sie dort ausbilden zu lassen, die Mädchen dagegen behielten sie zuhause – und verheirateten sie mit der nächsten 11 Vgl. Couperus: The Hidden Force. 12 Vgl. Taylor: The Social World of Batavia. Die Erde, vom Menschen belagert 121 Generation junger Männer, die aus Holland dort eintraf. Um in der kolo- nialen Hierarchie weiterzukommen, erachteten die jungen Männer es als zweckdienlich, die mixed-race Töchter der örtlichen älteren Generation zu heiraten. Doch diese jungen Frauen waren Geschöpfe Niederländisch- Ostindiens: Sie hatten rot gefärbte Zähne vom Betelkauen; sie hörten Gamelan-Musik, während Dienstbot*innen königliche Sonnenschirme über ihre Köpfe hielten. Die europäischen Männer waren angewidert und eingeschüchtert; sie mussten hinaus aus diesen Häusern. Die Männer gründeten Clubs, und gemeinsam entdeckten sie die Sprachwissenschaft, die Archäologie, die Geschichts- und Naturwissenschaften. Die westliche Zivilisation entstand aus ihren hektischen Bemühungen, ihren Frauen aus dem Weg zu gehen. In seiner Provinzialität wie in seinem Erfülltsein vom Geist des Universalismus war dies ein Ausbruch des Menschen. Die kolonialen Ausbrüche des Menschen blieben nicht auf weiße Männer beschränkt. Im frühen 20. Jahrhundert begeisterte sich eine Gruppe von jungen Männern aus der javanischen Eliteschicht für diesen Menschen: Sie wurden Mensch, bildeten sich zu antikolonialen Agitatoren aus und bauten schließlich eine revolutionäre Bewegung auf. Dieser Vorgang wird in Pramoedya Ananta Toers historischer Textfolge, dem Buru Quartet (1980–1988), und insbesondere in seinem ersten Roman This Earth of Mankind (1980) geschildert.13 Pramoedya beschreibt den Prozess des Erwachsenwerdens eines protonationalistischen, javanischen Jugend- lichen, dessen Horizont sich vom Traum der Moderne erweitert findet: diese Erde der ganzen Menschheit. Trotz der rassistischen Eskapaden seiner kolonialen Lehrmeister*innen, die ihn allen Ernstes als »Affen« beschimpfen, greift er auf diesen potenziell universellen Ansatz zurück. Das weckt sein Bewusstsein für Diskussionen über Rechte; es liefert ihm die Inspiration für seinen Kampf gegen koloniale Diskriminierung. Auch dies ist wieder ein Ausbruch des Menschen. Auch diejenigen ohne weiße, christliche Y-Chromosomen können sich in diesem Umfeld bewähren. Doch vermochten sich weder Weiße noch Indigene dieser stillen Kraft zu entziehen: der virulenten Magie und Bösartigkeit der kolonia- len Vereinnahmung. Die stille Kraft entspringt aus der Architektur des Menschen selbst, mit ihren Loslösungen aus dem Lebensweltlichen. Je reiner die Vernunft des Menschen, desto mächtiger wirkt die stille Kraft. Die stille Kraft verfolgt den kolonialen Verwaltungsbeamten in Couperus’ gleichnamigem Roman; Unaussprechliches geschieht und das ganz ohne jede Erklärung. Die Hauptfigur des Romans versucht die Auswirkungen seiner Rationalisierungsprogramme auf die koloniale 13 Vgl. Pramoedya: This Earth of Mankind. 122 Anna Lowenhaupt Tsing Gesellschaft, an deren Entstehung er beteiligt war, zu ignorieren. Aber das Unaussprechliche lässt nicht locker, es schlüpft durch die Ritzen in der Wand herein, bespritzt seine europäische Frau mit leuchtend roter Betelspucke, obwohl sie doch in ihrem Bad vollkommen abgeschirmt zu sein schien. Wie antibiotikaresistente Bakterien entsteht auch die verborgene Kraft aus Projekten des Menschen. Im Roman untergräbt sie diese Projekte und weist sie in ihrer vorgestellten Universalität in ihre Schranken. Manchmal geschieht dies auch in der Welt. Lügengeschichte 2: Fordlandia Der Name ist von solch mythischer Wirkungsmacht, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als ihn als Titel meiner Erzählung zu wiederholen. Fordlandia: die Gummiplantage des bedeutenden Unternehmers Henry Ford, mitten im Amazonas-Dschungel gelegen, Ort eines Traums vom modernen Fortschritt. Fordlandia: gerade Linien aus weiß getünchten Häu- sern, schimmernden Maschinenparks und natürlich den Marschordnungen säuberlich angepflanzter Gummibäume, die den Weg zu Effizienz, Wohl- stand und Macht ebnen. Dann, ein paar Jahre später, Fordlandia: rostende Ruinen, alles bedeckender Schlamm, ein zurückgelassener Wassertank, sonst nichts. Fordlandia war ein Ausbruch des Menschen im Brasilien der späten 1920er und 1930er Jahre. Mehr noch als die dänische Schwei- newirtschaft konfrontiert uns Fordlandia mit der Unvergleichlichkeit der besonderen Art des Menschen, die Erde zu belagern. Fordlandia ist der Mensch in seiner allgemeinsten Form, der Replikationsmaschine – und zugleich auch in seiner seltsamsten und eigenartigsten Form, verstrickt in sie und sich herauslösend aus den bedeutungslosen Zufälligkeiten der Geschichte. Und dann gibt es dort auch die stille Kraft: die Macht der Proliferation ebenso wie auch deren Grenzen. Die Mehrzahl der Kommentare verstehen diesen Ort als Musterbeispiel für die fehlgeleiteten Obsessionen eines Mannes: Fordlandia erscheint als Henry Fords Gehirn entsprungener Homunculus. Aber ich schulde Evan Killick nicht nur dafür Dank, dass er mich auf Fordlandia aufmerksam gemacht hat, sondern auch dafür, dass er mir Barry Machados ausge- zeichnete Dissertation zu dessen Geschichte geschickt hat.14 Machado liefert eine Darstellung, bei der Brasilianer*innen die Schlüsselfiguren sind und Geschichte und Politik eine Bedeutung haben. Insbesondere vermag Machado die Gründe ins Licht zu rücken, weshalb Ford einen 14 Vgl. Machado: Farquhar and Ford in Brazil. Die Erde, vom Menschen belagert 123 norwegisch-amerikanischen Schiffskapitän engagierte, der sich, wie Ford ganz genau wusste, weder mit Brasilien noch mit Gummigewinnung auskannte, und diesen mit der Gestaltung der wichtigsten Funktionen seiner Plantage beauftragte. In Machados Version der Geschichte hatte sich über den Großteil der 1920er Jahre hinweg ein Konglomerat aus Imperialisten und Intriganten entwickelt, das sich Ford, die große Unternehmerfigur seiner Zeit, zunutze machte. Henry Hoover, seinerzeit US-amerikanischer Handelsminister, hatte verbreiten lassen, die Amerikaner*innen müssten ihr eigenes Gum- mi haben, einen strategisch wichtigen Rohstoff, der ihnen unabhängig von anderen imperialen Interessen zur Verfügung stehen sollte. Die ersten Bemühungen um einen solchen Zugriff betrafen die Philippinen, die damals eine US-amerikanische Kolonie waren, aber philippinische Nationalist*innen geboten ihnen Einhalt. In diesem Klima tauchten bra- silianische Möchtegern-Comprador-Kapitalisten auf, die begannen, Ford, der zuvor keinerlei Interesse an Gummi gehabt hatte, zu umwerben. 1927 gelang es einer geheimen Verschwörergruppe, zu der ein brasilianischer Geschäftsmann, ein US-amerikanischer Konsularsekretär, der Gouverneur von Pará, ein britischer Vermittler sowie ein ortsansässiger Bürgermeister gehörten, Ford ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen konnte. Ford unterzeichnete und stellte Personal für die Inbetriebnahme seiner Plantage ein. Doch erwies sich die brasilianische Politik als eine wahre Brutstätte oppositioneller Splittergruppen, und eine andere Gruppe gab der örtlichen Presse einen Tipp, der dieser die Machenschaften hinter Fords Deal offenbarte. 1928 verbreiteten die Journalist*innen die Geschichte der Verschwörung über sämtliche Nachrichtenmedien. Machado zufolge war Ford schockiert; er war nie zuvor in Brasilien gewesen und hatte sich nicht besonders um die dortigen politischen Ver- hältnisse gekümmert. Doch nun war die Plantage bereits im Entstehen. Ford feuerte seine Mitarbeiter*innen, US-amerikanische wie brasilianische; an deren Stelle warb er einen ehrlichen, vertrauenswürdigen Mann an: eben jenen norwegischen Schiffskapitän. Die Tatsache, dass der Kapitän keinerlei Kenntnisse über Brasilien besaß, kam in dieser Situation eher einer Empfehlung gleich. In der Zwischenzeit wechselte der Gouverneur von Pará, die neuen Beamten waren Ford feindlich gesinnt und kappten sogar dessen Versorgungslinien einschließlich der Gummibaumsamen. Ford reagierte, indem er die Plantage für die Außenwelt schloss: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Ohne Dialogmöglichkeiten vor Ort betrieben der Kapitän und seine Nachfolger die Plantage auf eine Art und Weise, die fast wie eine Parodie weißer, moderner Ordnungsvor- stellungen erschien (ganz gleich, ob ihr Ursprung in Skandinavien oder 124 Anna Lowenhaupt Tsing im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten lag): ein Ausbruch des Menschen in seiner blitzsaubersten Verallgemeinerung wie auch in seiner in Kontingenz verwickeltsten Form. Es war von Anfang an eine Katastrophe. Die Plantagenbetreiber*innen versuchten, eine Arbeitsstätte nach modernen Gesichtspunkten zu schaffen, mit Löhnen statt Handelsgütern und mit der Erwartung, die Arbeiter*innen würden sich in Bezug auf Wein und Frauen in Zurückhaltung üben. Die brasilianischen Arbeiter*innen, sowohl Caboclo15 als auch Indigene, fan- den diese Bedingungen nicht nachvollziehbar und weigerten sich, diese zu befolgen. Es kam zu Unruhen. Doch die Krönung der Katastrophen kam aus dem nicht-menschlichen Bereich: als Replikationsmaschine beschleunigte die Plantage nicht nur das Wachstum der Gummibäume, sondern auch der Gegnerschaft. Um nachvollziehen zu können, wieso Pflanzenpathologien zur ver- borgenen Macht avancieren konnten, muss ich Ihnen ein wenig über den Pilz berichten, der den Gummiblattbrand Microcyclus ulei auslöst. Ich bewege mich hier also von Machado weiter zur Mykologie.16 Micro- cyclus ulei befällt ausschließlich Gummibäume. Er breitet sich langsam aus und richtet dort wenig Schaden an, wo die Gummibäume wie im Amazonas-Regenwald von anderen Bäumen umgeben sind. Aber neh- men wir eine Plantage, aus der alle anderen Bäume entfernt und dafür Gummibäume dicht an dicht angepflanzt wurden: Dann entsteht eine Replikationsmaschine. Eine neue Art der Pilzproliferation setzt ein, die schon zuvor zu den Eigenschaften des Pilzes zählt, hier aber durch die Plantagenumgebung erheblich verstärkt wird. Asexuelle Sporen mit kurzer Lebensdauer und geringer Ausbreitungsfähigkeit spielen für Microcyclus in einer Waldumgebung kaum eine Rolle. Auf der Plantage dagegen müssen solche schnell produzierten Sporen nur von einem Blatt zum benachbarten Blatt wandern, um einen neuen Baum zu infizieren. Besonders wirkungsvoll ist das dort, wo unter Entzug neuer Saaten durch eine feindliche Verwaltung die genetische Vielfalt der Pflanzen gering ausfällt. Die Plantage ist so strukturiert, dass sie das Wachstum junger Blätter beschleunigt und synchronisiert; der Pilz, der nur die jungen Blätter befällt, bleibt in diesem neuen Wachstumsregime gefangen – und in günstigen Jahren geht er über dieses Regime hinaus. Die Architektur der Plantage fördert nicht nur das Wachstum von Gummi, sondern auch 15 Bezeichnung für Kinder mit einem europäischen und einem südamerikanischen, indigenen Elternteil. (Anm. d. Ü.) 16 Vgl. Lieberei: »South American Leaf Blight of the Rubber Tree (Hevea spp.)«. Die Erde, vom Menschen belagert 125 die Vermehrung der Gummiblattkrankheit. In Fordlandia kam es zum Ausbruch des Gummiblattbrands, und alle Bäume starben. Es erscheint wichtig festzuhalten, dass der Gummiblattbrand schon in den 1920er Jahren wohlbekannt war. Hätte sich Fordlandia nicht vor äußeren Einflüssen – lokalen wie ausländischen – abgeschirmt, wäre die Angelegenheit vielleicht anders ausgegangen. Tatsächlich wurden schließlich einige Teile des Produktionsprozesses an einen trockeneren Ort verlagert, nach Belterra, wo die Arbeiter*innen die Bäume gewissenhaft veredelten, überwachten und wuschen, um Insekten- und Pilzbefall zu verhindern. Dennoch wurde während des gesamten Experiments kaum Gummi produziert. Bis zum heutigen Tag produziert niemand auf brasili- anischen Plantagen Gummi; die Verbreitung von Gummiplantagen bleibt auf Asien und Afrika beschränkt, wohin brasilianisches Saatgut ohne die begleitenden Pilze transportiert wurde. Bezeichnenderweise haben die Vereinten Nationen den Gummiblattbrand auf ihre Liste biologischer Waffen gesetzt.17 Es bedürfte keiner terroristischen Verschwörung, um für die Verbreitung des Pilzes zu sorgen und die Plantagenökonomien in den Ruin zu treiben. Dass diese Ausbreitung bislang nicht stattge- funden hat, zeugt von den großen Lücken zwischen den Plantagen und damit erneut auch vom bruchstückhaften Anthropozän. Und dennoch kehrt diese Geschichte, Marx auf den Kopf stellend, als Tragödie wieder. Doch zunächst: Reflexion 3: Der Mensch in Brasilien Das Vorhaben, einen Ausbruch des Menschen in Brasilien zu beschreiben, führt mich in das Gebiet eines der aufregendsten und umstrittensten Anthropologen unserer Zeit: Eduardo Viveiros de Castro. Viveiros de Castro setzt mich in den Stand, mich auf einen so großen Bereich wie den Menschen zu beziehen. Doch selbst wenn ich mir den Menschen im Amazonasgebiet anschaue, hindert Viveiros de Castro mich daran, die Zufälligkeiten zu erkennen, die zum Ausbruch des Menschen gehören. Geschenk und Gift: welch ein Dilemma! Viveiros de Castro ermöglicht Anthropolog*innen einen zweiten Blick auf den Menschen zu werfen, und zwar ohne Ansehen seines Geschlechts, seiner Herkunft oder seiner Konstruktionen von Begriffen wie Familie, Eigentum oder Herrschaft, wie wir das eine Zeitlang betrieben haben, sondern vielmehr in der Absicht, seine Konfrontation mit der Natur – je- 17 Vgl. ebd. 126 Anna Lowenhaupt Tsing nem Wesen mit großem N, demgegenüber der Mensch sich zu behaupten hat.18 Viveiros de Castro hat Anregungen zu einer neuen antikolonialen Theorie geliefert, innerhalb derer diese Art von Natur in ihrem Klassi- fiziert- und Abgesondertsein für Übungen in Entfremdung nicht mehr die einzige Alternativvorstellung zu sein scheint. Darüber hinaus wird der Mensch, der diese Natur erschafft, in Viveiros de Castros Schriften am besten deutlich, wenn er in den südamerikanischen Indigenen seine Anderen erkennt.19 So wie uns der kritische Postkolonialismus früherer Zeiten, der aus Asien kam, die Entstehung der Moderne in Europa mittels des Otherings asiatischer Orte erklärte, zeigt Viveiros de Castro, wie der Mensch und Mensch-und-Natur in Brasilien zu sich selbst kamen. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen den jeweiligen Anti- kolonialismen der lateinamerikanischen dekolonialen Theorie und der asiatischen postkolonialen Perspektivenvielfalt. Als wunderbares Beispiel dafür mag dienen, wie Thongchai Winichatkul im Königreich Siam die Etablierung der Moderne vorführte: Siamesische Eliten haben durch ihre Aushandlungen mit einem europäischen Rationalitätskalkül Modernität geschaffen.20 Von Anfang an also war die Moderne mit den Geschichten der Kolonisierten und der Ausgeschlossenen überlagert. In dieser Geschichte ist die Moderne ein Palimpsest, das aus volkstümlichen Geschichten aus aller Welt besteht; der Mensch kann nicht aus seinen kreativen Aushandlungen und Kämpfen entflochten werden, die an seine Brust gezogen werden. Im Gegensatz dazu reinigt Viveiros de Castro den Menschen und sucht eine strukturelle Essenz im Westen wie auch im indigenen Südamerika, die von Geschichte unberührt bleibt. Er verwirft die durcheinander geratenen Geschichten der Mestiz*innen, um die lange verachtete Figur der amerikanischen Indigenen, die als Protagonist*innen einer radikalen Kritik wiedererstanden sind, zurückzugewinnen. Hier ist eine kluge Einsicht zu erkennen. Anstatt die Welt auf die Herrschaft des Menschen in all ihren vielen Variationen zu verkürzen, erweckt Viveiros de Castro den Kern des Andersseins zu neuem Leben, der noch durch die Verseuchungen hindurchstrahlen könnte, um die Welt wieder zu beleben. Ich erinnere mich an meine Lektüre der Zurückweisung der ›echten Indigenen‹ im Amazonasgebiet bei Michael Taussig, die für un- rettbar befunden wurde; das glich schon fast einem Nachruf.21 Viveiros de Castro bedeutet eine Herausforderung für unsere Disziplin, denn er 18 Vgl. etwa Viveiros de Castro: »Cosmological Deixis and Amerindian Perspectivism«. 19 Vgl. Viveiros de Castro: »Perspectival Anthropology and the Method of Controlled Equi- vocation«. 20 Vgl. Thongchai: Siam Mapped. 21 Vgl. Taussig: Shamanism, Colonialism, and the Wild Man, S. 135. Die Erde, vom Menschen belagert 127 bringt sie wieder zurück. Die Figur der südamerikanischen Indigenen lässt andere Welten möglich erscheinen – und erinnert uns an die noch immer ungebrochene Macht der Proliferation des Menschen. Meine Bereitschaft, die Frage nach dem Menschen neu zu stellen, stützt sich auf diese Einsicht. Im Rahmen unserer Disziplin waren wir des Menschen überdrüssig geworden, wir fanden ihn angesichts unserer gegenwärtigen Interessen irrelevant. Wir dachten, wir hätten schon mit ihm abgeschlossen; wir haben ihn ganz hinten in die entlegenste Ecke gestopft, zu anderen Altertümern. Doch die südamerikanische dekolo- niale Theorie zieht mich mit ihrer ungeminderten Bedeutung – und der ungeminderten Ausbreitung der Grundprinzipien des Menschen – erneut in ihren Bann. Zugleich will ich mich aber nicht damit begnügen, ihn mit Haut und Haaren zu schlucken. Dieser Mensch, der lediglich eine Umsetzung seiner selbst ist, kann nicht in einem zufälligen Ausbruch entstehen, wie ich ihn im Fall von Fordlandia vorgestellt habe. Dieser Mensch hört nicht auf zu tun – und es gibt hier kein bruchstückhaftes Anthropozän, sondern nur ein Anthropozän, in welchem er uns alle längst überrollt hat. Es gibt dort kaum Ansatzpunkte für eine Lebensfä- higkeit. Was ich leider benötige, ist ein Strathern’sches Durcheinander: eine unbequeme Beziehungsachse zwischen Thongchai und Viveiros de Castro. Ich benötige den Menschen als historisch Geschichteten und als stets Verallgemeinerten und Verallgemeinernden. In der Praxis bedeutet das eine Beschreibung, die in beide Richtungen geht: Einerseits bietet sie mehr-als-regionale Herausforderungen, andererseits ruft sie die Reibung zwischen historischen Umständen hervor. Bei der Ausbreitung von Plantagen handelt es sich um diese Art Problem: Die Ausbreitung ist ein strukturelles und universalisierendes Merkmal westlicher Mo- dernen, zugleich aber auch ein provinzieller, zufallsgesteuerter Effekt hybrid-vernakulärer Geschichten über race, Klasse, Geschlecht, imperiale Expansion, Staatsmacht und anderes. Überall, und auf begrenzte Weise: Es ist ein perverses »sowohl als auch«, doch genau dies ist es, was das Projekt einer Anthropologie des Anthropozäns möglich erscheinen lässt. Es gibt noch ein weiteres Problem, das hier angesprochen werden muss, und weder der Mensch, rein oder hybrid, noch seine indigenen Anderen, rein oder hybrid, sind hierfür geeignet. Die Loslösungen des Menschen haben das Entstehen neuer Ökologien des Verwandtseins, der Fortpflanzung und des Todes entstehen lassen, aber das ist weder seine Absicht noch in seinem Wissen. Und sie sind auch nicht Gegenstand einer indigenen Kosmopolitik. Weder der Mensch noch seine Anderen übernehmen Verantwortung noch hat er einen Plan. Ich habe das die stille Kraft genannt – den Überschuss der kolonialen Begegnung, der 128 Anna Lowenhaupt Tsing von beiden Seiten verursacht wird. Das Anthropozän ist die ›verborgene Kraft‹, die sich bis nach ganz unten erstreckt. Lügengeschichte 3: Der Tod der unentbehrlichen Begleiter*innen Oliver Rackham war ein britischer Botaniker, der seine gesamte Laufbahn der Erforschung des Waldes widmete. Ihn interessierten nicht die wenig aufgesuchten Wildnisse, sondern vielmehr die seit langem besiedelten, aus menschlichen und nicht-menschlichen Geschichten geschaffenen Orte. Er beobachtete jene Baumarten, die auf verlassenen Feldern aufsprießen und die sich nach Niederwaldbildungen wieder erholen. Wenn es uns – für uns selbst oder für andere – um die Erhaltung der Lebensfähigkeit bestellt ist, dann ist die Vitalität und Vielfalt solcher anthropogenen Wälder etwas besonders Bemerkenswertes. Eiche, Buche, Esche: Wir ignorieren solche Bäume zwar, doch sind sie für uns unentbehrliche Begleiter. Wir können sie ›Ökosystem-Dienstleister‹ nennen, wenn wir wollen. Wir kommen ohne sie nicht aus. Rackham, ein aufmerksamer Beobachter, war verzweifelt, als er selbst die am weitesten verbreiteten Baumarten seiner geliebten Wälder schwinden sah: die Eiche, von einem Mehltau infiziert, der ihr Heranwachsen im Schatten verhinderte; die Buche, durch importierte Grauhörnchenarten zerstört; die Esche, ein Opfer von Pilzbefall. Ich bin Rackham nie persönlich begegnet. Da ich seine Arbeit be- wundere, habe ich einmal versucht, ihn zu einer Tagung einzuladen, wozu ich ihm den ganzen Januar und Anfang Februar 2015 zunehmend hektische E-Mails schickte. Mitte Februar fand ich dann heraus, dass er nie wieder E-Mails beantworten sollte: Er war gestorben. Unentbehrliche Begleiter*innen können menschlich und nicht-menschlich sein. Mit Rackhams Buch Woodlands (2012) begann mein Abstieg in das bruchstückhafte Anthropozän.22 Bevor ich es gelesen habe, hatte ich mir Krankheiten, Schädlinge und invasive Spezies als notwendige Folgeer- scheinungen menschlichen Handels und Wandels vorgestellt: Sie waren Teil dessen, was es vielleicht bedeutet, Mensch zu sein. Rackham schlug etwas anderes vor. Zufällige Einschleppungen von Schädlingen sind nicht das Problem. Die meisten Ökologien können sich von ihnen erholen. Für die Pflanzen ist es die Industrialisierung der Baumschulen mit ihren Großexporten von Böden und Pflanzen, die sowohl die Verbreitungsrate als auch die Virulenz der heutigen Verbreitung von Krankheitserregern 22 Vgl. Rackham: Woodlands. Die Erde, vom Menschen belagert 129 verursachen – und den daraus resultierenden Rückgang selbst unserer häufigsten Baumarten. Das hat meine Aufmerksamkeit erregt. Das ist nicht das Werk gewöhnlicher Leute. Das ist der Mensch in seinem Ava- tar, der Plantage. Schlimmer noch, es ist die Plantage, die sich mit den Wäldern vermischt, den noch verstrickten Ökologien der bislang nicht Plantage gewordenen Welt. Das ist die Ausbreitung des Anthropozäns mit all seinen Gefahren. Aus dieser Erkenntnis heraus eröffnet sich eine gewaltige Schneise für mögliche Forschungsthemen: Folge dem bruchstückhaften Anthropozän durch seine industriellen Prozesse und unbeabsichtigten Auswirkungen hindurch. Hier biete ich nur einleitende Notizen, einen kleinen Choral auf den Niedergang unserer unentbehr- lichen Begleiter*innen. Die europäische Esche ist das Thema von Rackhams letztem Buch.23 Es gab keinen Grund, Eschen zu pflanzen; sie wachsen überall, auch im Umfeld störender menschlicher Einflüsse. Es gab keinen Grund, Eschen zu importieren; sie sind eine in ganz Europa weit verbreitete Baumart. Doch die Containerschifffahrt hat diese Begleiter bedroht; mit der Mög- lichkeit, 18.000 Bäume mitsamt all ihrem kontaminierten Dreck in einen einzigen Container zu packen, war das Baumschulengeschäft in der Lage, Kohle nach Newcastle zu liefern. Containerschifffahrt: eine schwimmende Plantage. Was sie mitbrachte, war ein tödlicher Pilz. Vor hundert Jahren begannen die Nordamerikaner*innen mit dem Import weißer Kiefern aus Plantagenkultivierung. Es gab keinen Grund, weiße Kiefern zu pflanzen; sie gedeihen überall. Es gab keinen Grund, weiße Kiefern zu importieren. Aber die Preise stimmten, und so wur- den die europäischen Plantagenkiefern importiert. Mit ihnen kam der Weißkiefer-Blasenrost, der sich in den amerikanischen Wäldern – und nicht nur in Plantagen – ausbreitete und ein Baumsterben verursachte. Die Industrialisierung der Umsetzung von Pflanzen hat zweierlei Auswirkungen. Zunächst befördert sie in unvorstellbarem Ausmaß Krankheitserreger weiter und blockiert die Genesung der Pflanzen. In den Worten Rackhams: »Katastrophen sind nicht unbedingt Abnormitäten, […] es ist die Häufigkeitsrate der Katastrophen – einmal alle paar Jahre statt einmal alle tausend Jahre –, die von Bedeutung ist.«24 Weiter schreibt er: »Die Globalisierung der Baumpflanzung führt zwangsläufig auch zur Globalisierung von Baumkrankheiten, insbesondere von Phytophthoren, die sich hybridisieren und virulente Stämme erzeugen können.«25 Phyto- 23 Vgl. Rackham: The Ash Tree. 24 Rackham: Woodlands, S. 427. 25 Ebd., S. 428. 130 Anna Lowenhaupt Tsing phthoren sind Wasserschimmel, die Ursache des plötzlichen Eichentodes, der die Eichen und Madroños meiner Wälder in Santa Cruz tötet. Hier spricht er die zweite Art und Weise an, wie Plantagen ihre Grenzen überschreiten: Plantagen sind Brutstätten der Virulenz. Der industriell betriebene Handel mit Pflanzen befördert nicht nur Krankheitserreger; er züchtet die Pathogenität geradezu heran. So wurde für den Gummi- blattbrand eine neue Art der Proliferation möglich, durch die sich die Fähigkeiten des Pilzes erweiterten. Auch der industrielle Handel führt zur Transformation von Krankheitserregern. Phytophthoren hybridisieren sich und erschaffen Formen, die neue Wirtspflanzen angreifen, wenn sie im Rahmen des industriellen Handels mit Pflanzen zusammengebracht werden.26 Die Pilzart Batrachochytrium dendrobatidis (Bd), die in aller Welt Frösche tötet, ist ebenfalls eine neue, virulente Erscheinungsform. Der industrielle Handel scheint, sowohl was die Hybridisierung als auch was die Verbreitung betrifft, eine stimulierende Wirkung gehabt zu haben: Der enge körperliche Kontakt im Zusammenhang dieser Handelsform erleichtert die Proliferation von Pilzen; währenddessen kommen aus- gewilderte Industriefrösche mit anderen Arten in Kontakt und schaffen dadurch neue Möglichkeiten für die Evolution von Pilzen. Die virulente Form bildet sich in diesem Zusammenspiel vieler Körper und vieler Spezies heraus. Die Details dieser Geschichten verändern sich mit der Veränderung des Forschungsstandes. Bislang unterstreichen sie jedoch nur meinen Standpunkt: Die Form der Plantage generiert neue Biologien und Ökologien. »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden / als Eure Schulweis- heit sich träumt, Horatio.«27 Diese neuen Ökologien verweigern sich der modernen Synthese der Biologie, ihrem Ausbruch des Menschen. Bei der modernen Form der Synthese werden die lebendigen Gebilde durch ihre DNA kontrolliert; da dies fein säuberlich getrennt geschieht, stellt weder Klassifizierung noch Entfremdung ein Problem dar. Ganz im Gegensatz dazu erschließen diese im Entstehen begriffenen Pathogenitäten das verborgene Terrain der modernen Synthese: die Epigenetik; die Umwelt; die Interaktionen zwischen verschiedenen Spezies. Manche Frösche, die Pestizideinfluss ausgesetzt wurden, sterben leichter an einer Bd-Infektion.28 Killerpilze finden neue Wirtsorganismen, wenn sie sich in Plantagen ausbreiten. Menschliche Mikrobiome mutieren bei Strahlungswerten, die 26 Vgl. Brasier / Cooke / Duncan: »Origin of a New Phytophthora through Interspecific Hy- bridization«. 27 Shakespeare: Hamlet, 1. Akt 5. Szene. 28 Vgl. etwa Davidson / Benard / Bradley Shaffer u. a.: »Effects of Chytrid and Carbaryl Ex- posure on Survival, Growth and Skin Peptide Defenses in Foothill Yellow-Legged Frogs«. Die Erde, vom Menschen belagert 131 sich für menschliche Zellen als sicher erwiesen haben, mit bedrohlichen Folgen. Der Mensch in seiner wohl geordneten Isolation hat kaum eine Ahnung, wie er reagieren soll. Es liegt nicht am Handeln des Menschen, sagt er. Aber woran liegt es dann, und wer wird überleben? Schlussgedanken Meine Leidenschaft ist es, die mich hier von Marilyn Stratherns Pfad der Beharrlichkeit abschweifen ließ. Lassen Sie mich jedoch noch einmal zusammenfassen – und zu Stratherns Erkenntnissen zurückkehren. Der Begriff ›Anthropozän‹ genießt die Aufmerksamkeit ganz unter- schiedlicher Denker*innen, ohne sich bislang freilich völlig stabilisiert zu haben. Eine der am weitesten verbreiteten Gebrauchsweisen des Begriffs – die, wie ich fürchte, noch weiter an Einfluss gewinnen dürf- te – ist die vom ›guten Anthropozän‹, von jenem Anthropozän also, in dem weitere Ökologien der Entfremdung vermeintlich die Lösung all unserer Probleme liefern werden. Das Breakthrough Institute etwa setzt sich für ein besseres Anthropozän ein, das durch die Kombination von Kapitalismus und Technologie bewerkstelligt werden soll: Der Mensch wird zur Überwachungsinstanz seiner selbst.29 Doch wird das Werkzeug des Meisters niemals das Haus des Meisters niederreißen.30 Wenn neue Formen menschlichen und nicht-menschlichen Sterbens in Ökologien der Entfremdung entstehen, dürfte ein Zuwachs an Entfremdung das Problem nur noch verschärfen. Ich habe trotz alldem am Begriff des Anthropozäns festgehalten, denn ich mache in ihm noch immer eine Offenheit für begriffswandelnde Gespräche aus. In diesem Text habe ich die Auffassung vertreten, es könne einen anthropologischen Begriff des Anthropozäns geben, eines Anthropozäns, bei dessen Erforschung Anthropolog*innen eine wichtige Rolle zukom- men könnte. Dazu würde mehr gehören, als sich Wissenschaftler*innen an die Fersen zu heften und sie auf ihre Schwachpunkte hinzuweisen, obwohl auch dafür Raum sein sollte. Ich will ein Anthropozän, das sich mit der menschlichen wie mit der nicht-menschlichen Welt ein- lässt, sowohl was deren verwickelte Lebensmöglichkeiten als auch was die neuen Todesarten betrifft, die uns jetzt heimsuchen. Dies ist das bruchstückhafte Anthropozän – und das ist ein buddhistisches kōan. 29 Vgl. z. B. Ecomodernist Manifesto. 30 Hier handelt es sich um die Paraphrase des Titels einer 1984 von Audre Lorde gehaltenen Rede, die in der Folge zu einem wichtigen Teil des feministischen Kanons werden sollte. 132 Anna Lowenhaupt Tsing Das Anthropozän ist ein globales Phänomen, in Teilen vermag es nicht zu existieren. Das wahrhaft globale Anthropozän jedoch ist dasjenige, bei dem wir alle schon durch die Umweltkrise zu Tode gekommen sind. Dass wir noch am Leben sind, lässt unter all den neuen Todesarten noch Reste möglichen Lebens vermuten. Die begriffliche Sackgasse liegt also da, worin wir leben müssen. Die Strathern’sche Ambivalenz vermag uns beim Denken dieser Sack- gasse zu helfen. Strathern weist uns an, uns unlösbare Widersprüche zunutze zu machen. Unsere analytischen Werkzeuge verstellen uns die Fähigkeit, unsere Gegenstände zu sehen; na gut, sagt sie da, das ist also das Dilemma, an dem wir dranbleiben sollten. Das bruchstückhafte Anthropozän ist genau diese Art Dilemma. Gemeinsam mit einigen meiner Kolleg*innen in Aarhus habe ich kürzlich eine Rezension verschiedener interdisziplinärer Tagungen zum Anthropozän verfasst.31 Um uns bei Laune zu halten, machten wir einen Witz im Stil von Strathern. Das Anthropozän, sagten wir, ist »weniger als eins, aber mehr als viele«. Dabei stellten wir Stratherns Beschreibung von Komplexität in Partial Connections (1991) auf den Kopf, die »mehr als eins, aber weniger als viele«32 lautet. Was wir meinten war, dass die Denker*innen des Anthropozäns, zu denen wir ausdrücklich auch uns selbst zählen, keine Ahnung hatten, wovon sie sprachen, obwohl sich die Diskussion des Begriffs bis in den letzten Winkel ausgebreitet hatte: weniger als eins und mehr als viele. Ich habe hier den Versuch unternommen, diesen Witz in die Welt hinauszutragen, um aufzuzeigen, in welchem Sinne er sich nicht auf Wissen, sondern auf die Welt selbst bezieht. Das Anthropozän ist weniger als eins, ganz gleich, ob ›eins‹ nun mit Systemen, Strukturen oder kosmologischen Hegemonien übersetzt wird. Die Herrschaft des Menschen ist nicht uneingeschränkt. Nicht Ei- ner hat den gesamten Planeten unter Kontrolle. Und doch breitet sich auf dem ganzen Planeten etwas Neues und Unerklärliches aus: wilde Biologien als die stille Kraft. Die Proliferation breitet sich aus – und sie ist stets mehr als viele. Weniger als eins und mehr als viele: ein weiteres kōan für das bruchstückhafte Anthropozän. 31 Vgl. Swanson / Bubandt / Tsing: »Less than One but More than Many«. 32 Strathern: Partial Connections, S. 35. Die Erde, vom Menschen belagert 133 Und wenn es auch Reste der Verwicklungen mit dieser vom Menschen vererbten Erde gibt, liegt unsere Aufgabe vielleicht nicht nur darin, diese zu bemerken, sondern auch darin, unser Bestes zu tun, damit sie dort bleiben, wo sie sind. Übersetzt von Clemens Krümmel, überarbeitet von Marie-Luise Angerer und Naomie Gramlich *Original: Anna L. Tsing: »Earth Stalked by Man«, in: The Cambridge Journal of Anthropology 34 (2016), H. 1, S. 2–16. Literaturverzeichnis Anneberg, Inger / Mette Vaarst / Nils Bubandt: »Pigs and Profits. Hybrids of Animals, Technologies, and Humans in Danish Industrialised Farming«, in: Social Anthropology 21 (2013), H. 4, S. 542–559. Brasier, C. M. / D. E. L. Cooke / J. M. Duncan: »Origin of a New Phytophthora through Interspecific Hybri- dization«, in: Proceedings of the National Academy of Science USA 96, (1999), S. 5878–5883. 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Eine Neuverhandlung im Haraway’schen Garten voller Verflechtungen F r i e d e r i K e N a s to l d »[…] wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin.«1 Mit diesen Worten schließt Donna Haraway ihr Cyborg-Manifest und nimmt damit Bezug auf Luce Irigarays Figur der Göttin. Beide hier aufgerufenen Metaphern sind widerständige Figurationen2 westlicher Feminismen. Sie verkörpern neue Begehrensformen und eine ihnen immanente politische Dimension, nämlich die einer weltverändernden Vision. Ausgehend von dem Konzept der Verwunderung in Anschluss an Isabelle Stengers3 und René Descartes möchte ich die Cyborg und die Göttin miteinander lesen und nicht, wie von Haraway gesetzt, in hierarchischer Differenz zueinander stehen lassen. Denn für mich stellt sich die Frage, ob es nicht auch Cyborg-Göttinnen*4 gibt. Indem ich meine Auseinandersetzung mit Haraways Schlusssatz des Cyborg-Manifests beginne und als Frage formuliere, eröffnet sich ein produktiver Raum, in dem Irigaray und Haraway in einer feministischen Spekulation zusammengeführt werden sollen. Ich verstehe die folgenden Ausführungen als Vorschlag, Irigaray weni- ger essentialistisch zu lesen, im Unterschied zu der Kritik, die von vielen Vertreter*innen der feministischen Theorie an ihre Texte herangetragen wurde,5 sowie Haraway eine Nähe zur Figuration der Göttin nachzuwei- sen, obgleich sie sich in ihrem Cyborg-Manifest von ihr verabschiedet. Abschließend möchte ich über die von Tejal Shah in ihrer Videoarbeit Between the Waves (2012) entwickelten Protagonist*innen der humanimals über eine Erweiterung der Gefährt*innen-Spezies Haraways nachdenken. 1 Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs«, S. 72. 2 Haraway ist für ihre Neologismen bekannt, so entwarf sie in allen ihren Schriften ver- schiedene Grenzfiguren wie die Cyborg, die Primaten oder die Hunde u. v. m., die sie als »Menagerie of Figurations« (Haraway: How Like a Leaf, S. 135) bezeichnet. Im Folgenden möchte ich ebenfalls von Figuration in Abgrenzung zur Metapher sprechen, da diese mehr Handlungsmächtigkeit und subversives Potenzial suggeriert. 3 In Wondering about Materialism fasst Isabelle Stengers das Konzept der Verwunderung wie folgt: »It [to wonder] means both to be surprised and to entertain questions.« (Ebd., S. 8) 4 Im Folgenden werde ich die Cyborg-Göttin mit dem Gender-Stern (*) erweitern, da ich die Cyborg-Göttin* als neue Figuration einführen möchte. 5 Für die Auseinandersetzung mit den (Rezeptions-)Diskussionen um Irigarays Werk empfehle ich u. a. die Lektüre von Soiland: Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz und Schor: »Dieser Essentialismus, der keiner ist – Irigaray begreifen«, S. 219–246. 136 Friederike Nastold Meinen Überlegungen zu möglichen Cyborg-Göttinnen* geht dabei eine Verwunderung voraus, über die Descartes in seinem Aufsatz Die Leiden- schaften der Seele im Jahr 1649 geschrieben hat: Wenn ein Objekt uns beim ersten Entgegentreten überrascht und wir urteilen, daß es neu ist und sehr verschieden von allem, was wir vorher kannten, oder von dem, was wir vermuteten, dass es sein sollte, bewirkt das, daß wir uns über es wundern und erstaunt sind. Da das jedoch auftreten muß, bevor wir überhaupt erkennen, ob dieses Objekt uns angenehm ist oder nicht, ergibt sich für mich, daß die Verwunderung die erste aller Leidenschaften ist.6 In dieser Passage beschreibt Descartes die Verwunderung als die erste aller Leidenschaften oder anders: die Verwunderung als Grundlage von Erkenntnis, als Vorbedingung von Interdependenz, als Fähigkeit sich zu begegnen. Indem hier auf die Verwunderung als erste aller Leidenschaften verwiesen wird, lässt sich der Ort der Subjektkonstitution, der Ort der Wissensgenerierung als ein relationaler begreifen, der einem cartesiani- schen Subjekt vorausgeht.7 Durch den Einbezug von Objekten, die eine Verwunderung evozieren, kann ein rhizomartiges Geflecht wachsen, das nicht zentralperspektivisch angelegt ist und sich die Dinge nicht als solche auf Distanz hält. Haraway wendet sich nicht explizit der Descartes’schen Erkenntnismethode der Verwunderung zu, doch in ihrem vielschichtigen Werk hinterfragt sie stets eine weiße, männliche, westliche Objektivität, die einen Subjekt-Objekt-Dualismus fortschreibt.8 Die Wissenschaftsthe- oretikerin versucht eine »Verkörperung aller Vision« (SW 82) zu denken, die eine partikulare, spezifische Objektivität entstehen lässt und eine Ethik der Verantwortung hervorruft. So schlägt sie das Konzept des Situierten Wissens (1995) als Kontrapunkt zu einer selbstidentischen, allwissenden Perspektive vor (vgl. SW 80, 87). Als Basis der Ethik der Verantwortung möchte ich den Modus der Verwunderung setzen, sodass Subjekt und Objekt in einer Wissensproduktion und Realitätserzeugung miteinander verbunden und nicht in Auflösung begriffen sind (vgl. SW 82). Irigaray hingegen widmet sich in ihrer Ethik der sexuellen Differenz (1991) den Schriften Descartes. Sie hält bei seinen Ausführungen zur Verwunderung inne und stellt fest: »Was der andere ist, wer er ist, ich 6 Descartes: Die Leidenschaft der Seele, zit. nach Irigaray: Ethik der sexuellen Differenz, S. 21. Nachweise im Folgenden mit Sigle EsD und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 7 Dies ist meine Lesart des Descartes’schen Zitats mit Hinblick auf Haraway und Irigaray. Ich knüpfe an die angedeutete Öffnung in seinem Begriff der Verwunderung an, die sich jedoch in seinem gesamten Werk wieder an ein Cogito rückbindet und somit in einer anthropozentrischen Philosophie verbleibt. 8 Im Folgenden beziehe ich mich auf Haraway: »Situiertes Wissen«. Nachweise im Folgenden mit Sigle SW und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz 137 weiß es nie.« (EsD 21) Dieses Unwissen führt die Philosophin auf das Fehlen eines Ortes der Verwunderung zurück, den sie im Dazwischen der Geschlechter ansiedelt: Im Dazwischen könne sich die Verwunderung entfalten, die die Möglichkeit biete, das Gegenüber immer in einer ersten Begegnung zu erblicken und somit den ›Anderen‹9 nie als ein Objekt zu begreifen (vgl. EsD 21). Weiter beschreibt sie dieses Dazwischen als einen Raum von Freiheit und Anziehung, der die paradoxale Möglichkeit nach Trennung und Vereinigung in sich berge (vgl. EsD 21). Ergebnis der Etablierung eines solchen Dazwischen ist folglich die Unmöglich- keit einer vollständigen Besitznahme und eine Konfrontation mit einem produktiven Rest, der nicht aufzulösen ist. Gegenstand der Kritik und / oder Inspiration sind für Irigaray die psy- choanalytische Theorie Jacques Lacans und die Dekonstruktion Jacques Derridas.10 Grundlegend ist für ihr Werk, wie in all ihren Re-Lektüren dieser ›Master-Theorien‹ ersichtlich, die Dekonstruktion der männlichen Ideologie. Sie arbeiten an der Sichtbarmachung der Symbolisierung ver- drängter Lebensweisen, wobei es ihr um eine Nicht-Definierbarkeit der ›Anderen‹ geht. Insbesondere in einer Beziehung zwischen Frauen* sieht Irigaray die Möglichkeit, einen weiblichen* Selbstentwurf zu denken, in dem Differenzen untereinander anerkannt werden.11 So postuliert Iriga- 9 In meinem Text verwende ich ›der / die / das Andere‹ oder ›das radikal Andere‹ gleichzeitig und gleichwertig. ›Der / die / das Andere‹ bezieht sich auf Irigaray, die in ihren Texten die Frau* auch als ›die Andere‹ bezeichnet, was auf ihrer Theorie der Verselbung / Modell des Einen (des Männlichen) fußt. Vgl. hierzu die Fußnote 20 in diesem Text. Der Begriff des ›radikal Anderen‹ bezieht sich auf Haraways »signifikante Andersartigkeit«, den sie in ihrem Manifest für Gefährten verwendet und damit die Begegnung mit dem ›Anderen‹ in mehr-als-menschlichen Phänomenen – beispielsweise in einer Hund-Mensch-Beziehung – zu fassen versucht. Für Irigaray und Haraway ist das ›radikal Andere‹ – in menschlichen als auch in mehr-als-menschlichen Beziehungen – die Basis einer Ethik und Politik, die »signifikante Andersartigkeit gedeihen [und damit erst denkbar werden] lässt« (ebd., S. 9). ›Der / die / das Andere‹ ist in meinen Ausführungen nicht mit dem ›großen Anderen‹ von Lacan zu verwechseln. 10 Irigaray entwickelt in ihren Texten eine ihr eigene Form des Schreibens, die Dekonstruktion eines linearen Denkens betreibt und die damit verbundenen hierarchischen Strukturen des Diskurses aufbricht. Vgl. hierzu auch das »Nachwort der Übersetzerinnen«, in: Irigaray: Speculum, S. 465–471. Insbesondere in ihrer Kritik an der ›Phallokratie‹ stimmt Irigaray mit Jacques Derridas Kritik am ›Phallogozentrismus‹ überein. Vgl. Stoller: Existenz – Dif- ferenz – Konstruktion, S. 250. 11 Irigaray verwendet für alles radikal Ausgeschlossene, das nicht dem Mann entspricht, den Begriff ›Frau / weiblich‹, den ich mit einem Gender-Stern (*) erweitere, um aufzuzei- gen, dass ›weiblich‹ bei Irigaray nicht essentialistisch verstanden wird. Der Begriff des ›Weiblichen‹ wurde in der Irigaray-Rezeption kontrovers diskutiert, dennoch möchte ich im Folgenden Frau*/weiblich* als Figur für jegliches Ausgeschlossene verwenden, das innerhalb der symbolischen Ordnung als nicht-intelligibel gilt (minoritäre Positionen wie Frauen*, Trans*Personen, Queers, People of Color, Natur, Tiere, kurz: diejenigen, die als Andere konstituiert werden). 138 Friederike Nastold ray in Ethik der sexuellen Differenz in Anlehnung an Martin Heidegger, dass jede Epoche eine Sache zu bedenken habe. Die Sache, derer wir uns annehmen müssten, sei die der sexuellen Differenz (vgl. EsD 11). Oft wird Irigarays Werk auf eben diesen Aspekt reduziert. Ich möchte sie jedoch in ihrem Vorschlag eines Epochenwechsels ernst nehmen: Sie fordert – über das Denken einer weiblichen Position – eine grundlegende und weitreichende »Veränderung der Perzeption und Konzeption des Raum-Zeit-Gefüges, des Bewohnens der Orte« (EsD 14). Sie schreibt in Bezug auf den Epochenwechsel: »Seine Voraussetzung und Folge sind eine Evolution und Transformation der Formen, der Beziehungen Materie-Form und des Dazwischen.« (EsD 14) Das dabei noch zu kommende Begehren siedelt Irigaray im Dazwischen an und fordert, dass eine »Veränderung der Ökonomie des Begehrens« (EsD 14) angestrebt werden müsse, um Wandlungen voranzutreiben, sodass eine »veränderte Beziehung zwi- schen Mensch und Gott, Mensch und Mensch, Mensch und Welt, Mann und Frau« (EsD 14) und – ich präzisiere – zwischen allen Geschlechtern möglich werde.12 Der notwendige Raum – das Dazwischen – zwischen allen Akteur*innen muss, so Irigaray, dynamisch und offen bleiben, sodass die Möglichkeit für ein Begehren gewährleistet ist. Durch diesen Zwischenraum wird ein Oszillieren zwischen Nähe und Distanz, Grenzen öffnen und setzen, möglich. Ein Spiel neuer Begegnungsformen beginnt. Eine Metapher, die diese Beziehung beschreibt, ist das Bild des Mukösen, des Schleimigen (vgl. EsD 25): Es bedarf eines durchlässigen Dazwischen, damit eine Begegnung entsteht, die nicht binär hierarchisch in einem cartesianischen Subjekt-Objekt-Verhältnis besteht, sondern als Subjekt- Subjekt-Verhältnis zu fassen ist. Ein weiteres Bild ist das der Lippen, »die Berührung von mindestens zwei [Lippen], die die Frau in Kontakt mit sich selbst hält«.13 Sie ist folglich weder eine noch zwei.14 Neben diesen metaphorischen Bildern entwirft Irigaray auch Figurationen wie die des Engels, die im Dazwischen operieren (vgl. EsD 24). Der Engel kann als Vermittler*in, als Theorem der Durchquerung gefasst werden. Dieser 12 Diese Forderung ist für Irigaray unabdingbar und folgt aus dem Paradoxon des Körpers der Mutter, da diese keine symbolische Repräsentanz in der symbolischen Ordnung, die vom Männlichen hergedacht werde, besitze. Vgl. EsD 17. Für weitere Ausführungen zur Mutter siehe Soiland: Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz; Dolderer: »Die müt- terliche Gabe hat keine symbolische Existenz«. Mit dem Zusatz alle Geschlechter möchte ich die von Irigaray zuletzt genannten binären Kategorien von Mann und Frau um jegliche Geschlechter erweitern. 13 Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 25. 14 Vgl. ebd. Das Bild der Lippen lässt sich in einem postkolonialen Kontext um Homi K. Bhabas Bild des Zwischenraums als Ort der Begegnung in der Andersartigkeit erweitern. Vgl. Bhaba: Die Verortung der Kultur, insbesondere S. 97–124. Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz 139 Irigaray’sche Entwurf einer Begegnung im Dazwischen macht deutlich, dass ihr Denkgebäude nicht an einem subjektiven Sein arbeitet, sondern vielmehr an einem Werden, welches immer in einem Verhältnis zu Men- schen, zur Welt respektive mit Menschen, mit der Welt gedacht wird. Dieser im Spekulieren und im Utopischen verhaftete Beziehungsentwurf ruft ein gemeinsames Handeln und Tragen von Verantwortung hervor. Haraway würde dies in response-ability oder ability to respond über- setzen: Verantwortung also als eine Möglichkeit der Reaktion oder als eine Fähigkeit, in und der Welt zu antworten. Grundsätzlich versucht Haraway jedoch, »die Werkzeugkiste offener zu halten«.15 So führt sie im Interview Wir sind immer mittendrin (1995) aus, dass sie herausfinden möchte, wer und was auf dem Schauplatz des Konstituierungsprozesses von Objekten und Subjekten aktiv sei.16 Beim weiteren Durchstöbern der Haraway’schen Werkzeugkiste stoße ich auf die Figuration der Cyborg: Bereits im Untertitel des Cyborg-Manifests spricht Haraway die Kategorie Frau* direkt an, wenn sie schreibt: »Der ironische Traum einer gemein- samen Sprache für Frauen im integrierten Schaltkreis«.17 Die Figuration der Cyborg kann als ein »kybernetischer Organismus, als Hybrid aus Maschine und Organismus« (MfC 33) verstanden werden. Gelebte soziale Beziehungen, so Haraway, seien unser wichtigstes politisches Konstrukt, eine weltverändernde Fiktion (vgl. MfC 33). Cyborgs gelten als die neue Ontologie, auf der sich ein neuer gesellschaftlicher Mythos bildet. Indem sich die Cyborg als Chimäre zeigt, würden jegliche Dichotomien, die die Welt strukturieren, wie Natur / Kultur, Mann*/Frau*, Subjekt / Objekt, in Auflösung begriffen. Gerade die Figur der Cyborg kann als Grenzgänger*in gelten, die in sich die Dualismen sprengt und Verbindungen aufzeigt und dadurch die sie umgebenden Entitäten herausfordert und in neue Beziehungen zueinander setzt. Ein Netz von Akteur*innen tut sich auf, die alle aktiv agieren und nicht passiv auf eine diskursive Beschreibung von dualistisch funktionierenden Subjekten warten. Kann die Cyborg analog zum Irigaray’schen Engel gelesen werden? Als Grenzgänger*in oder Gefährt*in, die im Dazwischen angesiedelt ist, um intersubjektive Beziehungen zu gestalten, die hierarchische Beziehungen auflösen? Haraway erntete Kritik bzw. wurde im deutschsprachigen Raum wenig rezipiert, als sie 2003 ihr zweites Manifest, Das Manifest für Gefährten veröffentlichte, das erst 2016 in deutscher Übersetzung erschien. Stimmen 15 Haraway: »Wir sind immer mittendrin«, S. 108. 16 Vgl. ebd. 17 Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs«, S. 33. Nachweise im Folgenden mit Sigle MfC und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 140 Friederike Nastold wurden laut, die Sorge trugen, dass die Untersuchung der Beziehung von Menschen und Hunden das kritische und politische Potenzial der Cyborg unterlaufe.18 Ich möchte dem widersprechen, denn Haraway entwickelt aus der Beschäftigung mit der Beziehung von Hunden und Menschen die subversive und kritische Kategorie der Gefährt*innen-Spezies. In der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Figur des / der / dem ›Anderen‹, so Haraway, kann eine miteinander verbundene, relationale Andersartigkeit entstehen. Und nur in dieser Beschäftigung mit dem ›radikal Anderen‹,19 können wir voneinander lernen. So kann auch erst durch den ›Anderen‹ eine ethische Beziehung gedacht werden, um die eigene Andersartigkeit zu begreifen und auf dieser Basis gemeinsam zu antworten. Das ›radikal Andere‹ soll hier als Vehikel dienen, um Haraway mit Irigaray in einen Dialog zu bringen: Irigarays Erarbeitung einer Theorie der Weiblichkeit*, so auch Naomi Schor, ist eine logische Erweiterung ihrer Dekonstruktion der spekularen Logik der Verselbung.20 Ihr Versuch, eine Differenz zu denken, meint – ganz im Sinne Haraways – eine Auseinandersetzung mit dem ›radikal Anderen‹ – nur, dass Irigaray die ›Andere‹ erst im Prozess des feministischen Spekulierens entwerfen muss, bevor eine mögliche Begegnung in der Differenz, gerade auch unter Frauen*, stattfinden kann. Anstelle das ›radikal Andere‹ in mehr-als-menschlichen Phänomenen zu suchen, wie in einer Mensch-Hund-Beziehung, plädiert Irigaray dafür, die ›Andere‹ bereits innerhalb menschlicher Beziehungen in symbolischer Repräsentanz zu denken. Haraways Konzept der inneren Differenz, das nicht der Konstruktion einer identischen Subjektposition folgt und allen ihren Figurationen als Basis dient, zeigt sich in der Cyborg ambivalent: Analog zur Dekonstruktion der Verselbung bei Irigaray, findet sich bei Haraway die Kritik an jeglichen Dichotomien, auch an eindeutiger Geschlechtlichkeit, die jedoch in ihrer Dekonstruktion stets mit einem geschlechtlichen Rest zurückbleibt: »Yeah, it [the cyborg] is a polychro- matic girl«,21 so Haraway. Begreifen wir die Figur der Cyborg als weiblich* und als kybernetischen Organismus, so kann ihre Handlungsmacht 18 Vgl. Hoppe: »Beings from the Mud«, S. 3. 19 An dieser Stelle bietet sich eine Lektüre von Emmanuel Levinas’ Schriften zur Figur des Anderen an. Vgl. u. a. Levinas: Zwischen uns; Levinas: Totalität und Unendlichkeit; Irigarays Auseinandersetzung mit Levinas’ »Fruchtbarkeit der Liebkosung«. Für eine Lektüre von Levinas’ Totalität und Unendlichkeit vgl. EsD 217–253. 20 Vgl. Schor: »Dieser Essentialismus, der keiner ist – Irigaray begreifen«, S. 230. Mit dem Begriff der Verselbung knüpfe ich an Irigarays These an, dass die (Geschlechter-)Differenz bislang auf dem Schauplatz einer phallokratischen Ordnung nach dem Modell des Männ- lichen konstruiert wurde. Die Andere wird folglich nach dem Modell des Mannes gedacht und nicht – wie von Irigaray gefordert – in ihrer Andersheit entworfen. Vgl. Irigaray: Zur Geschlechterdifferenz, S. 25; Stoller: Existenz – Differenz – Konstruktion, S. 250. 21 Haraway: »Cyborgs at Large«, S. 20. Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz 141 zum einen mit der Figur des Mädchens als prekäre, nicht vollendete, multiple, subversive, da anti-androzentrische Subjektposition, also als eine Position des Werdens, beschrieben werden,22 zum anderen als eine Grenzgänger*in, die Grenzen in einem gemeinsamen Miteinander auflöst in einer Beziehung zur Technik, Natur und Umwelt. Das Imaginieren einer solchen Beziehung im / mit dem ›radikal Anderen‹, das über den simplen Bezug von männlichen / weiblichen Entitäten hinausgeht und die Andersartigkeit innerhalb der eigenen Seinsgrenzen anerkennt, ist beiden Positionen folglich gemeinsam. Im Folgenden möchte ich vorschlagen, die mehr-als-menschlichen, aber säkularen Verwandtschaftsbeziehungen der Gefährt*innen-Spezies um eine weitere radikal andere Figur, nämlich die der Göttin, zu erweitern. Zu Beginn dieser Verflechtungen habe ich über Irigarays Überlegungen eines Ortes des Dazwischen, an dem sich die Verwunderung entfaltet, nachgedacht. In ihren Ausführungen zur Verwunderung konstatiert sie, dass künstlerischen Arbeiten eine Dimension staunender Verwunderung eingeräumt werde (vgl. EsD 21). Im Folgenden werde ich die Videoarbeit Between the Waves der zeitgenössischen indischen Künstlerin Tejal Shah heranziehen, um die Ideen des Dazwischen und der Durchkreuzung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Kultur und Natur im künstlerischen Kontext nachzuspüren.23 Ich befinde mich in der immersiven Fünf-Kanal-Videoinstallation von Tejal Shah: Wogende Wellen umspülen meine Ohren. Die Projektion von Videokanal I reicht über die gesamte Wand.24 Mischwesen aus mensch- lichen Körpern und Einhorn-Korsagen werden an den Strand gespült. Gestrandet wie Plastikmüll oder angespülte Algen verweilen die hybriden 22 Vgl. Volkart: Fluide Subjekte, S. 69. 23 In Between the Waves inszeniert Tejal Shah explizite, sexuelle Darstellungen, die aufgrund der Gesetzeslage in Indien teilweise nicht öffentlich gezeigt werden dürfen. Shah lebt in Indien und Frankreich, doch ihre künstlerischen Arbeiten werden überwiegend in Institu- tionen eines westlichen Kunstmarkts präsentiert, da sie in einem indischen Kunstkontext oft nur in Off-Spaces gezeigt werden können. Vgl. Shah: »Work«. Die Künstler*in bedient sich in ihrem gesamten Œuvre eines immensen Mythenkreises aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, wie hier der Erzählungen des Einhorns oder der Meerjungfrau. In der folgenden Auseinandersetzung fokussiere ich mich jedoch auf die Verkörperungen und die Begegnungen zwischen den Protagonist*innen und der Umwelt. 24 Ich beziehe mich in der Beschreibung der installativen Fünfkanal-Videoarbeit Between the Waves auf meine Seherfahrung des Videokanals I bei der documenta (13) 2012 im Kultur- bahnhof Kassel. Between the Waves besteht aus Channel I, A Fable in Five Chapters, 26:15 min; Channel II, Landfill Dance, 5:00 min; Channel III, Animation, 1:40 min; Channel IV, Moon Burning, 26:15 min und Channel V, Morse Code, 26:15 min. Der Channel I erzählt die (Entdeckungs-)Reise der Protagonist*innen, sodass ich mich im Folgenden auf diesen fokussiere. Die vier anderen Videokanäle rahmen den Hauptvideokanal I. 142 Friederike Nastold Körper am Strand. Durch Filmschnitte verdoppeln sich die humanimals,25 halb Mensch, halb Einhorn, ein Arm legt sich um die Taille des anderen. Die Reise beginnt: In einer trockenen Wüstenlandschaft schmiegen sich die humanimals in Felslandschaften. Durch Felsformationen hindurch werde ich Zuschauerin einer sexuellen Interaktion, die Kamera wackelt und versucht das Geschehen einzufangen. Über einen Mangrovenwald treten die humanimals in Kontakt mit anderen horn artigen Ästen, tunken diese durch eine zarte Berührung ebenfalls in einen weißen Farbton, die Hörner vervielfältigen sich und wachsen durch das Bild. Das organische Setting wird von einem künstlichen abgelöst. Die humanimals schwimmen, tauchen, wie Meerjungfrauen, mit farbenfrohen Plastikelementen durch den Pool. Schnitt. Plötzlich befinden sich die geschlechtlich ambiguen Protagonist*innen auf einem urbanen Balkon. Es regnet. Auge und Vulva und Horn überlagern sich, die Reise der beiden humanimals orchestriert sich in der Klimax der sexuellen Begegnung: Granatapfelsamen vertei- len sich auf den Körpern, auf dem Balkon. Die Bilder steigern sich zu orgiastischer Intensität, der Regen prasselt, die Granatäpfel knallen, der Kopf verschwindet zwischen den Oberschenkeln, zieht mich hinein in ein ozeanisches Strömen, das mich als Betrachterin zugleich in einem (un)angenehmen Strudel festhält, bis die Kamera vom Balkon in das regnerische, urbane Umland schwenkt und mich aus dem sexuellen Spiel entlässt. Die Künstlerin schafft mit ihren Mensch-Einhorn-Mischwesen eine verkörperte Begegnung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur. Sie erzeugen in ihrer Betrachtung eine Bewegung zwischen Mensch und Tier, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Fremdheit und Vertrautheit, Liebkosung und Monstrosität. Wie die Cyborg Fiktion und Tatsache in einem paradoxalen produktiven Widerstreit in sich vereint, verkörpern die humanimals eben jene Dichotomien, ohne eine fassbare Identität festzuschreiben. Sie scheinen selbstlos in einer rituellen und intuitiven Erkundung der Umwelt verschrieben, in einer absoluten, kollektiven Nähe. Hierbei verflechten die Grenzgänger*innen unterschiedliche kulturelle Referenzen, die je kontextspezifisch lesbar / nicht lesbar erscheinen. Sie schreiben sich in eine feministische Kunstgeschichte ein, indem die Einhorn-Korsage auf Rebecca Horns Einhorn (1970/72) referiert und diese zugleich umschreibt. 25 Tejal Shah entwickelte den Begriff humanimals für ihre Protagonist*innen, um die Ver- bindung von Mensch und Tier nicht nur zu visualisieren, sondern auch auf sprachlicher Ebene zu markieren. Vgl. Shah: »Artist Statement«. Weiterführend empfehle ich zur Frage von Queerness und mehr-als-menschlichen Phänomenen die Lektüre von Luciano / Chen: »Has the Queer Ever Been Human?« Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz 143 Abb. 1−3: Tejal Shah: Between the Waves, A Fable in Five Chapters 144 Friederike Nastold Abb. 4: Rebecca Horn: Unicorn Shah erzählt ein neues Narrativ: Es sind Women* of Color, die gemeinsam in einem sich wandelnden Kosmos agieren, die im Kon- trast zu Rebecca Horns weißer, schlanker Performerin, die durch ein Kornfeld wandelt, stehen. Ferner beschreibt Shah die humanimals in ihrem Künstler*innen-Statement als queere, öko-sexuelle, technologi- sche, spirituelle und wissenschaftliche Verkörperungen.26 Die hybriden Mischwesen erzeugen folglich vielschichtige Ambivalenzen: Sie sind natürlichkünstliche27 Entitäten, die Zeit und Raum, Vergangenheit und Zukunft, Spirituelles / Göttliches und Wissenschaftliches verkörpern. Shah bietet den Betrachter*innen eine Durchquerung ihrer Weltordnungen an, die mit einer Objektivierung menschlicher Naturbeziehungen bricht 26 Vgl. Shah: »Artist Statement«. 27 Der Begriff natureculture stammt von Haraway. Vgl. Haraway: Manifest für Gefährten, S. 10 f., 18. Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz 145 und sich in stetiger göttlich-werdender Bewegung befindet, ohne ein Ursprüngliches zu suchen. Die vermeintliche Polarisierung der Göttin und der Cyborg löst sich in der Begegnung mit den humanimals auf: Das Paradoxon des vergeschlechtlichten Rests der Cyborg findet sich verkörpert in den humanimals, da sie über die Referenzen auf Rebecca Horn und auch Frida Kahlo die Kategorie Frau* adressieren. Zugleich verabschieden sie durch ihre Verkörperungen eine menschzentrierte und heteronormative Begegnung und begreifen in ihrem Handeln ihre Umwelt als aktive Agentin*. Abschließend möchte ich noch einmal auf Haraways Schlusssatz des Cyborg-Manifests eingehen – diesmal in seiner ganzen Vollständigkeit: »Wenn auch beide in einem rituellen Tanz verbunden sind, wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin.« (MfC 72) Trotz der abschließenden Identifikation Haraways mit einer Cyborg anstelle einer Göttin sind beide Figurationen in einem rituellen Tanz miteinander verbunden. Über die Hybridwesen der humanimals aus Between the Waves möchte ich den Fokus auf den rituellen Tanz als Praktik des Dazwischen legen, denn diese Form einer spirituellen Praktik verspricht ein produktives Spannungsfeld, das analog zur Figuration der Cyborg operiert. Die Philosophin Isabelle Stengers fasst das Ritual als einen Katalysator des Denkens und des Fühlens: Durch eine rituelle Praktik wird ein Nachden- ken über das, um das herum sich eine Gruppe versammelt, angerufen. Die Wirksamkeit des Rituals liegt also nicht in der Erscheinung einer konkreten Göttin und deren Prophezeiung, sondern in einer partiellen, kollektiven und somit widerständigen, politischen Handlungsmacht, zu der alle Beteiligten durch das Ritual erst befähigt werden.28 Das Ritual als Politik der Versammlung. In ihrer aktuellen Publikation Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (2018) betreibt Haraway eine Form der Zusammenkunft, indem sie unter Anrufung unterschiedlicher Göttinnen* das Anthropozän verabschiedet und ein tentakuläres Zeitalter einläutet: das Chthuluzän.29 Möglicherweise ließe sich in diesem Haraway’schen Ritual das humanimal von Shah als weitere Gottheit bzw. spirituelle Versammlung anführen, um über Welten jenseits und diesseits des weißen, eingeschlechtlichen, säkularen Menschen nachzudenken. In ihrem Text Göttliche Frauen (1989) ruft Irigaray ebenfalls zu einer Hinwendung zum Kosmischen, zu einem Nachdenken über ein Göttliches auf und denkt über die Beziehung zum 28 Vgl. Stengers: »Der kosmopolitische Vorschlag«, S. 179. 29 Vgl. Haraway: Unruhig bleiben, S. 139. 146 Friederike Nastold Meer, zur Luft, zur Erde und zum Feuer nach30 – den vier Elementen, die ebenfalls Grundlage für die Schauplätze in Between the Waves sind.31 Verkörperungen wie halb Fisch, halb Vogel – oder auch halb Mensch, halb Einhorn – setzt Irigaray als Etappe des Göttlich-Werdens (vgl. GF 100). Die Basis des »niemals vollendete[n] Werden[s]« (GF 105, 98) ist neben der Verwunderung die Berührung. Auch die humanimals sind in stetiger Berührung in ihren Handlungen mit sich und ihrer Umwelt verbunden. Weiter beschreibt Irigaray das Konzept des Göttlichen als einen Sammlungsort (vgl. GF 113), den es bedarf, um kein statisches Eins zu werden, sondern um eine Sozietät zu bilden (vgl. GF 111, 114). Ähnlich zu Stengers Konzept des Rituals denkt Irigaray die weibliche* Göttin als Politik der Versammlung, die vielmehr kollektiver Schau- platz des Werdens als eine konkrete Gottheit skizziert. Ferner vermutet Irigaray im Kosmischen tanzende Begegnungen (vgl. GF 116). Im ritu- ellen Versammeln um Geschichten von »unzählige[n] intra-aktive[n], zusammengefügte[n] Entitäten – auch die Mehr-als-Menschlichen«,32 die keine konkrete Göttin verkörpern, bitten sich die Figurationen der Irigaray’schen Göttin, der Haraway’schen Cyborg und die Shah’schen humanimals gegenseitig zum Tanz, um gemeinsam Teil spekulativer Feminismen zu werden. Daher möchte ich abschließend für neue Verwandtschaftsbeziehungen plädieren, auch unter Cyborgs, Göttinnen* und humanimals, denn: Die Cyborg illustriert ein Werden zwischen den Dingen, zwischen Natur und Mensch, zwischen Technik und Mensch. Irigarays Frau* ist »weder eine noch zwei«, sondern »mindestens zwei« und auf der Suche nach neuen Formen der Beziehung im Dazwischen, in den Grenzgängen.33 Cyborgs wiederum verkörpern »Eins ist zu wenig, Zwei sind zu viel« (MfC 67).34 Die Cyborg und die Frau* sind weder ein Vielfaches noch Eine, die durch Zwei entworfen wird. Grenzgänge und Doppelungen bieten produktive 30 Vgl. Irigaray: »Göttliche Frauen«, S. 95. Nachweise im Folgenden mit Sigle GF und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 31 In Channel I stranden die humanimals am Meer, schwimmen im Swimmingpool, atmen Luft und begegnen sich im sexuellen Spiel in der Wüste. Channel IV zeigt den Loop einer Mondsichel, die niederbrennt. 32 Haraway: Unruhig bleiben, S. 139. 33 Vgl. Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 25. 34 Im »Manifest für Cyborgs« fasst Haraway ihre Thesen abschließend zusammen und for- muliert: »Eins ist zu wenig, aber Zwei sind zu viel.« (MfC 67) Durch diese Setzung legt sie erneut die Konstruktion einer Ursprungserzählung und einer phallischen, identitätslogi- schen Setzung eines autonomen Selbst offen, das Frauen*/ People of Color / Natur / Tiere als ›Andere‹, als Spiegel des Selbst, zur eigenen Konstituierung bedarf. Die Cyborg negiert einen einfachen Ursprung und verkörpert ein plurales Sein in sich, das immer spannungs- voll, unabschließbar und mehr als eine ist. Cyborgs, Göttinnen und humanimals im rituellen Tanz 147 Anknüpfungspunkte, sodass wir die Haraway’sche Werkzeugkiste um eine Gefährt*in erweitern sollten: die Cyborg-Göttin*. Meines Erach- tens ist dies unabdingbar, da feministisches Fragen verstehen will, wie hierarchische Verhältnisse produziert werden, wer Teil der Handlung ist und, wie weltliche Akteur*innen weniger gewaltvoll, verantwor- tungsbewusst miteinander in Beziehung treten können.35 Daher sollte Irigaray als frühe spekulierende Feministin in den Haraway’schen Garten voller Schlangen und voller Verflechtungen mit ihrer Forderung nach symbolischer Repräsentanz der ›Anderen‹, der minoritären Positionen eingeladen werden. Between the Waves entwirft bereits einen solchen verflochtenen, kosmischen Schauplatz, indem die Videoarbeit widerstän- dige Protagonist*innen anbietet, die mit Dichotomien brechen und für eine komplexe Repräsentation von queeren Women* of Color eintreten. Wieso sollten wir also Cyborg und Göttin voneinander trennen, da es bereits einige Cyborg-Göttinnen* unter uns gibt? Siglenverzeichnis EsD = Irigaray, Luce: Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt a. M. 1991. GF = Irigaray, Luce: »Göttliche Frauen«, in: dies.: Genealogie der Geschlechter, Freiburg 1989, S. 93–121. MfC = Haraway, Donna J.: »Ein Manifest für Cyborgs«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 33–72. SW = Haraway, Donna J.: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Carmen Hammer / Immanuel Stieß (Hg.): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./ New York 1995, S. 73–97. Literaturverzeichnis Bhaba, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Descartes, René: Die Leidenschaft der Seele, Hamburg 1984. Dolderer, Maya: »Die mütterliche Gabe hat keine symbolische Existenz. Interview mit Tove Soiland«, in: dies. / Hannah Holme / Claudia Jerzak / Ann-Madeleine Tietge (Hg.): Oh Mother, Where Are Thou? (Queer-)Feministische Perspektiven auf Mutterschaft und Mütterlichkeit, Münster 2016, S. 203–217. Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979. Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a. M. 1980. Irigaray, Luce: Zur Geschlechterdifferenz: Interviews und Vorträge, Wien 1987. Haraway, Donna J.: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M. 2018. Haraway, Donna J.: Manifest für Gefährten, Berlin 2016. Haraway, Donna J.: How Like a Leaf. An Interview with Thyrza Nichols Goodeve, New York / London 2000. Haraway, Donna J.: »Wir sind immer mittendrin. Ein Interview mit Donna Haraway«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 98–122. Haraway, Donna J.: »Cyborgs at Large. Interview with Constance Penley and Andrew Ross«, in: Constance Penley / Andrew Ross (Hg.): Technoculture, Minneapolis 1991, S. 1–20. Hoppe, Katharina: »Beings from the Mud«, soziopolis, 28.11.2017, https://soziopolis.de/beobachten/ kultur/artikel/beings-from-the-mud (aufgerufen am 20.02.2019). Hoppe, Katharina / Thomas Lemke: »Die Macht der Materie. Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad«, in: Soziale Welt 66 (2015), H. 3, S. 261–280. Levinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken des Anderen, München 1995. 35 Ähnlich formuliert dies auch Haraway eingangs in ihrem Manifest für Gefährten, S. 13 f. 148 Friederike Nastold Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg / München 2002. Luciano, Dana / Mel Y. Chen: »Has the Queer Ever Been Human?«, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies 21 (2015), H. 2–3, S. 183–207. Schor, Naomi: »Dieser Essentialismus, der keiner ist – Irgiaray begreifen«, in: Barbara Vinken (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a. M. 1992, S. 219–246. Shah, Tejal: »Artist Statement«, Tejal Shah, 2012, http://tejalshah.in/project/between-the-waves/ (auf- gerufen am 28.05.2019). Shah, Tejal: »Work«, Tejal Shah, http://tejalshah.in/work/ (aufgerufen am 13.05.2019). Soiland, Tove: Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten, Wien 2018. Stengers, Isabelle: »Der kosmopolitische Vorschlag«, in: dies.: Spekulativer Konstruktivismus, Berlin 2008, S. 153–185. Stengers, Isabelle: »Wondering about Materialism«, in: Nick Srnicek / Graham Harman (Hg.): The Specu- lative Turn. Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011, S. 368–380. Stoller, Silvia: Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler, München 2010. Volkart, Yvonne: Fluide Subjekte. Anpassung und Widerspenstigkeit in der Medienkunst, Oldenburg 2006. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Videostill aus Channel 1 Between the Waves, A Fable in Five Chapters, Multi-Channel Video In- stallation, HD, 26:15 min, Farbe und s / w, Surround Sound, 2012 © Tejal Shah, Project 88, Mumbai und Barbara Gross Galerie, München. Abb. 2: Videostill aus Channel 1 Between the Waves, A Fable in Five Chapters, Multi-Channel Video Installation, HD, 26:15 min, Farbe und s / w, Surround Sound, 2012 © Tejal Shah, Project 88, Mumbai und Barbara Gross Galerie, München. Abb. 3: Videostill aus Channel 1 Between the Waves, A Fable in Five Chapters, Multi-Channel Video Installation, HD, 26:15 min, Farbe und s / w, Surround Sound, 2012 © Tejal Shah, Project 88, Mumbai und Barbara Gross Galerie, München. Abb. 4: Rebecca Horn: Unicorn, 1970, Fotografie, Foto: Achim Thode, in: Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (Hg.): Rebecca Horn. Ausstellungskatalog, Stuttgart 2000, S. 20. Wilde Spekulationen. Feministisch-ökologische Wissenschaftskritik und spekulative Fiktion J U l i a G r i l l m ay r Wie kann es gelingen, dem Nicht-Menschlichen eine Stimme zu ge- ben, ohne ihm unsere Sprache aufzuzwingen? Diese Frage wird immer dringlicher in Zeiten, in denen der Einfluss des Menschen – besonders aus dem Globalen Norden – auf so gut wie alle biologischen und geo- logischen Vorgänge auf der Erde und ihrer Atmosphäre festzustellen ist. Für mich als Literatur- und Kulturwissenschafterin, die sich für das zeitgenössische Schreiben über die Zukunft interessiert, ist der Be- griff des Anthropozäns in meinen Lektüren omnipräsent.1 Er wird von zahlreichen Wissenschaftler*innen, Denker*innen und Künstler*innen vorgeschlagen, um den Eintritt in ein neues geologisches Zeitalter zu markieren, das durch den globalen Einfluss des Menschen auf den Pla- neten charakterisiert ist.2 Der Begriff hat aber nicht nur eine deskriptive Rolle, sondern wird vor allem als Mahnung eingesetzt. Wie Ursula K. Heise betont, hat er in den letzten zehn Jahren eine dermaßen breite und angeregte Diskussion erfahren, dass die Entscheidung der Geo- logie, tatsächlich ein neues Zeitalter auszurufen, in den Hintergrund tritt. »Its particular power […] resides not in its scientific definition as a geological epoch, but in its capacity to cast the present as a future that has already arrived […].« (IE 203) Dieses Präsentmachen der Zukunft ist wiederum, so Heise, eine der wichtigsten Funktionen zeitgenössischer Science-Fiction: »[T]he Anthropocene itself can usefully be understood as a science fiction trope.« (IE 18) Das Anthropozän kurbelt spekulatives Geschichtenerzählen an. Die Forderung nach akuten Maßnahmen gegen Umweltzerstörung ist mit einem Ruf nach einem neuen Verständnis von Natur verknüpft. Wie ich in diesem Essay nachzeichnen möchte, korreliert dies mit zentralen Anliegen feministischer Wissenschaftskritik. Inwiefern an der Schnitt- stelle zwischen Ökologie und Feminismus storytelling und insbesondere spekulative Literatur eine entscheidende Rolle spielen, möchte ich in den 1 Nähere Informationen zu meinem Forschungsprojekt Science Fiction, Fact & Forecast sind unter https://scifi-fafo.com/ zu finden. 2 Für eine Begriffsgeschichte und -einordnung im Kontext einer ökokritischen Kultur- und Literaturwissenschaft vgl. Heise: Imagining Extinction, S. 202–237. Nachweise im Fol- genden mit Sigle IE und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 150 Julia Grillmayr zwei folgenden Abschnitten beleuchten. Anschließend folge ich Frauen- figuren in die Wildnis, die sich in einem neuen Verhältnis zur Natur üben. Feminismus, Natur und Natürlichkeit Moderne Wissenschaftspraktiken, Imperialismus und Kapitalismus unterdrücken die Natur nach der gleichen Logik wie patriarchale Ge- sellschaftsstrukturen Frauen und Menschen, die nicht in diese Struktu- ren passen. Das ist die grundlegende These des Ökofeminismus, einer Strömung in der feministischen Theorie, die in den 1970er Jahren ihren Anfang nahm.3 Die sozialhistorische Perspektive, die der Ökofeminismus eröffnet, ist ein interessanter Ausgangspunkt. Sie schenkt Frauen und anderen durch besagte maskulinistische Kultur benachteiligten Menschen besonderes Gehör in der Annahme, dass sie durch eben diese Erfah- rungen Geschichten zu erzählen haben, die den Beherrschungsdiskurs zum Wanken bringen. Mit ökologischen Fragen hat dies nicht zuletzt deswegen zu tun, da, wie viele (Öko-)Feministinnen betonen, es zu diesen Unterdrückungsmechanismen gehört, ›Frau‹ und ›Natur‹ gleichzusetzen. Die feministische Theorie sollte aus der Subversion dieser Gleichsetzung schöpfen, argumentiert Stacy Alaimo: »The fact that women’s bodies, experiences and labor have long been denigrated for their supposed proximity to a degraded natural world creates the potential for feminist epistemological positioning and discursive reworkings that challenge the constitution of both ›woman‹ and ›nature‹.«4 Wie Alaimo in Undomesticated Ground (2000) allerdings auch aufzeigt, läuft der Ökofeminismus immer Gefahr, diese Gleichsetzung von ›Frau‹ und ›Natur‹ zu wiederholen.5 Aus 3 Für eine Begriffsklärung sowie historische und thematische Kontextualisierung vgl. Hof- meister / Katz / Mölders: »Orientierung im Themenfeld«, S. 78. Nachweise im Folgenden mit Sigle OiT und Angabe der Seitenzahl direkt im Text; Mies / Shiva: »Introduction«. 4 Alaimo: Undomesticated Ground, S. 9. Nachweise im Folgenden mit Sigle UG und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 5 Dies wurde vor allem den essentialistisch beziehungsweise biologistisch argumentierenden Positionen innerhalb des Ökofeminismus vorgeworfen. Diese Argumentation ist deshalb für das Gros der feministischen Theoriedebatte höchst problematisch, da diese seit ihrem Anbeginn darum kämpft, Stereotype von weiblicher ›Natürlichkeit‹ als gesellschaftliche Konstrukte zu entlarven. Vgl. OiT 79. Obwohl essentialistische Argumentationen innerhalb des weitgreifenden Sammelbegriffs Ökofeminismus eher marginal sind, gelten diese im deutschsprachigen Raum weiterhin als repräsentativ für diesen und werden »als Grund dafür herangezogen[,] alle Ansätze zur Zusammenführung von Feminismus und Ökologie zu diskreditieren« (OiT 82). Das biologistische Argument ist nicht nur konservativ und heteronormativ, es befördert außerdem eine Homogenisierung der Gruppe ›Frauen‹ und verschließt sich vor politischen Ausdifferenzierungen – »neglect of the intersections of race, ethnic, gender and class relations« (Braidotti / Charkiewicz / Häusler u. a.: Women, Wilde Spekulationen 151 diesem Grund seien ökofeministische Positionen innerhalb der feminis- tischen Theoriebildung oft vorschnell weggewischt worden, wie Alaimo rückblickend feststellt. Es fand »a feminist flight from this troublesome terrain« (UG 3) statt. Das Thema ›Natur‹ sei lange außen vor gelassen oder gänzlich gemieden worden. Rosi Braidotti, Ewa Charkiewicz, Sabine Häusler und Saskia Wieringa beschreiben solche Spannungsverhältnis- se gar als »eternal conundrum« (WESD 58), als ewige Vexierfrage des Feminismus und betonen in ihrem Buch Women, the Environment and Sustainable Development (1995), dass nur ein intersektionaler Ansatz weiterhelfen kann, der verschiedene ideologische und materialistische Aspekte berücksichtigt und in ein dynamisches Verhältnis setzt (vgl. WESD 74 f.). Um einen solchen Ansatz zu entwickeln, wenden sie sich Donna Haraway zu, deren Texte Übungen sind, sich in »troublesome terrains« aufzuhalten, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte. Feministisch-ökologische Spekulation Der Sammelbegriff ›spekulative Fiktion‹ bezeichnet Genres, die dadurch charakterisiert sind, dass sie Phänomene, Dinge und Wesen auftreten lassen, die sich in unserer Welt nicht beobachten lassen. Science- Fiction (SF), Fantasy und Horror versetzen die Leser*innen auf andere Planeten, in andere Zeiten und andere soziale Systeme. Sie nehmen Metaphern wörtlich, bedienen sich der Übertreibung, entwerfen gänz- lich andersartige Welten oder verfremden einen Aspekt des vertrauten Alltags. Spekulation steht in jedem Fall dafür, unerwartete und oft unglaubliche Elemente in die Erzählung einzuladen. In inspirierender Weise hat Haraway diese Definition erweitert und ›sf‹ zu einer zentra- len Figur ihres Denkens gemacht: »An ubiquitous figure in this book is sf: science fiction, speculative fabulation, string figures, speculative feminism, science fact, so far.«6 Wie ein Fadenspiel (»string figures«) greift Haraways Staying with the Trouble (2016) Science-Fiction, aber auch wissenschaftliche und umweltaktivistische Projekte auf, um neue Wege zu finden, das menschliche Weltbewohnen zu erzählen (vgl. SwT 10). Das Buch schließt mit den in einem kollektiven Schreib- projekt entstandenen Camille Stories. Diese spekulative, feministisch- the Environment and Sustainable Development, S. 71). Nachweise im Folgenden mit Sigle WESD und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 6 Haraway: Staying with the Trouble, S. 2 f. Nachweise im Folgenden mit Sigle SwT und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 152 Julia Grillmayr futurologische Fabulation einer Multispezies-Welt ist zwar als Utopie lesbar, lässt aber Unklarheiten und Widersprüche bestehen. Haraway schreibt keine Anleitung für das Leben im Anthropozän, vielmehr eine Geschichte, die Alternativen zu einem apokalyptisch-lähmenden Narrativ einerseits und einem futuristisch-eskapistischen Narrativ andererseits aufzeigen möchte. Wie die Autorinnen von Women, the Environment and Sustainable Development argumentieren, ist storytelling in diesem Sinne zum zen- tralen Bestandteil feministischer Theoriebildung geworden (vgl. WESD 36). Feministische Wissenspraktiken, verstanden als Aufknüpfen und Weiterweben von Narrativen, legen gleichermaßen Augenmerk auf Ma- terialität sowie auf die Wirkmacht der Sprache. Der Begriff der ›Wildnis‹ ist in dieser Hinsicht besonders spannend. »Interestingly, the need for actual wilderness areas, which grant various creatures the space to thrive, parallels the need for epistemological space, which insists that the material world continually intra-acts in ways that are too complex to be predicted in advance«,7 schreibt Alaimo. Ihr geht es um »capacious epistemologies«, neue Epistemologien, die nicht-menschlichen Wesen, Dingen und Landschaften mehr Platz einräumen. Dazu entwickelt sie das Konzept der »›trans-corporeality‹ – the time-space where human corporeality, in all its material fleshiness, is inseparable from ›nature‹ or ›environment‹« (TCF 238). ›Transkorporalität‹ ist nicht zuletzt ein interessantes Neudenken von ›Wildnis‹ im Sinne einer material agency. Alaimo versteht ›Wildnis‹ als »nature’s ongoing, material-semiotic intra- actions – actions that may well surprise, annoy, terrify, or baffle humans, but that nonetheless are valued by environmentalists as the very stuff of life itself« (TCF 249). Sie argumentiert damit gegen eine scharfe Trenn- linie zwischen Natur und Kultur, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Anthropozäns, das auf der Feststellung beruht, dass es so etwas wie vom Menschen unberührte Wildnis nicht mehr gibt: »[T] he nonhuman bodies that inhabit wild areas are riddled with the same toxins as our own human bodies« (TCF 258). Nicht nur das Konstrukt ›unberührte Natur‹ wird hier hinterfragt, sondern auch die Idee des von der ›Natur‹ unberührten Menschen. Wenn es trotzdem wichtig ist, an einer Idee von ›Wildnis‹ festzuhalten, dann um den Menschen innerhalb und verbunden mit der Umwelt zu denken und ihm gleichzeitig seine Sonderstellung in 7 Alaimo: »Trans-corporeal Feminisms«, S. 259. Nachweise im Folgenden mit Sigle TCF und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Der Begriff ›intra-action‹ stammt von der Physikerin und Feminismusforscherin Karen Barad. Der Neologismus soll ausdrücken, dass Dinge und Phänomene nicht unabhängig und vor ihrer Interaktion bestehen, sondern durch diese erst als solche hervorgebracht werden. Vgl. dies: »Posthumanist Performativity«. Wilde Spekulationen 153 dieser zu nehmen. Es geht Alaimo darum, die Natur als »ethical space« zu begreifen, »an ethic that embraces the wild, even as it is wary of wilderness paradigms that divide humans from nature and erase the presence of indigenous peoples« (SA 251 f.). In Alaimos Definition ist Wildnis jener Ort, an dem diverse Lebewesen und Ökosysteme florieren können. Es muss also die materielle Voraussetzung gegeben sein, dass die Umwelt nicht zerstört wird. Darüber hinaus wird mit dem Begriff markiert, dass sich der Mensch von diesem Florieren überraschen und affektieren lässt, anstatt allein das wertzuschätzen, was er voraussagen, einordnen und kontrollieren kann. So verstanden, erlaubt die Wildnis ein produktiv-paradoxales Fa- bulieren, das in Bewegung bleibt, das nach neuen Epistemologien sucht und gleichzeitig Wertschätzung für das generiert, was sich nicht vollständig in diese übersetzen lässt. Im Weiteren werde ich vier litera- rische Texte parallel lesen, die den Anspruch haben, nicht-menschliche Erdbewohner*innen und Landschaften in dieser Weise zum Sprechen zu bringen. Margaret Atwoods Roman Surfacing (1972) und Susan Griffins Woman and Nature (1978) – beide beeinflusst vom zu dieser Zeit auf- kommenden Ökofeminismus – bilden den Hintergrund meiner Lektüre der zeitgenössischen Romane Annihilation (2014) von Jeff VanderMeer und The Word for Woman is Wilderness (2018) von Abi Andrews. Surfacing und Annihilation Obwohl sie sich zum Ende hin gänzlich unterschiedlich entfalten, haben die Romane Surfacing und Annihilation einige Gemeinsamkeiten. Beide sind in der ersten Person von einer jungen Frau erzählt, die sich auf eine Reise in eine nordamerikanische Wildnis macht, um in dieser auf rätsel- hafte Weise aufzugehen. Die Protagonistin in Surfacing kommt an den Ort ihrer Kindheit inmitten kanadischer Wälder und Seen zurück, um nach ihrem Vater zu suchen, der vermisst gemeldet wurde. Die Protagonistin in Annihilation ist Biologin und Teil einer geheimdienstlichen Mission in die Area X, einem Küstengebiet der USA, wo sich auf mysteriöse Weise Wildnis ausbreitet, die sich durch unglaubliche Fruchtbarkeit und Di- versität auszeichnet, die völlig neue hybride Formen von Pflanzen und Tieren hervorbringt und die Menschen, die sich in das Gebiet wagen, verschlingt oder völlig verändert wieder ausspuckt. Dieser Mission gehören ausschließlich Frauen an, die angehalten sind, ihren Namen abzulegen. »They took away our names in the second month, stripped them from 154 Julia Grillmayr us.«8 Die Leser*innen lernen sie als ›die Psychologin‹, ›die Linguistin‹, ›die Landvermesserin‹ und ›die Biologin‹ kennen. Auch die Erzählerin in Surfacing bleibt ohne Namen. »It’s too late, I no longer have a name«,9 denkt sie, als sie die Rufe ihres Freundes Joe, sie möge aus dem Wald kommen, ignoriert. Zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre Reisegefährt*innen und die Hütte verlassen. Die Suche nach ihrem Vater, einer Landkarte folgend, auf die er fantastische Kreaturen verzeichnete, wird immer rätselhafter. Schließlich verquicken sich die Erinnerungen an ihr Aufwachsen in den Wäldern und in der Stadt, das Trauma eines Schwangerschaftsabbruchs, in den sie allein aus ge- sellschaftlichen Zwängen einwilligte sowie die Konfrontation mit »the Americans« (S 164 f.), Tourist*innen aus den USA, aber auch Kanada und anderen Ländern, die rücksichtlos jagen, fischen und die Landschaft gefährden, zu einer tiefen Abneigung der Erzählerin gegen jedwede Form städtischer Zivilisation.10 »I tried for all those years to be civilized, but I’m not and I’m through pretending.« (S 181) Der Roman erzählt ihre Verwandlung in »a creature neither animal nor human« (S 204). Diese Verwandlung ist vor allem durch die Absenz von menschlicher Sprache markiert und motiviert. Sie stellt sich vor, einem Tier gleich Mutter zu werden: »The baby will slip out easily as an egg, a kitten, and I’ll lick it off and bite the cord […]. In the morning I will be able to see it; it will be covered with shiny fur, a god, I will never teach it any words.« (S 173) Auch die Biologin in Annihilation kann nicht nur ihren Namensverlust besser verkraften als ihre Kolleginnen, für sie ist auch die Konfrontation mit der Wildnis mehr aufregend und befreiend als bedrohlich. Schon vor der Mission in die Area X sucht sie, die Stadt flüchtend, immer wieder kleine Enklaven der Wildnis auf, wo keine Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen nötig ist, etwa einen verlassenen Swimmingpool, um den sich Vögel und Füchse tummeln und Wasserläufer, Fische und Schildkröten ansiedeln. Zusammenfassend stellt sie fest: »I was not a domesticated animal.« (A 155) In ihrer früheren Tätigkeit als Biologin erforschte sie die Biodiversität von Gezeitentümpeln. Ihre Arbeit wurde allerdings von der Wissenschaftsgemeinschaft nicht akzeptiert. »Not 8 VanderMeer: Annihilation, S. 67. Nachweise im Folgenden mit Sigle A und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 9 Atwood: Surfacing, S. 181. Nachweise im Folgenden mit Sigle S und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 10 Der Roman thematisiert am Rande das Verhältnis und die Spannungen zwischen fran- zösisch- und englischsprachigen Gruppen innerhalb Kanadas. Außerdem wird auf die Kolonialgeschichte des Landes verwiesen, nicht zuletzt als die Protagonistin die Legende auf der Karte ihres Vaters als Kennzeichen für spirituelle Orte der indigenen Bevölkerung interpretiert (vgl. S 155). Wilde Spekulationen 155 filing reports. Not sticking to the focus of the job. Recording odd data from the periphery.« (A 173) Vielmehr verlor sie sich, während sie die fantastischen Lebewesen in den Tümpeln beobachtete, in Details und eigenen Assoziationen. »[T]he longer I stared at it, the less comprehensible the creature became. The more it became something alien to me, and the more I had a sense that I knew nothing at all – about nature, about ecosystems.« (A 175) Die Biologin kann sich selbst, ihre Faszination und ihre Affekte nicht von ihrem Blick als Forscherin trennen. Ihre Karriere leidet unter ihrer Unfähigkeit, sich als unabhängig von ihrer Umwelt zu begreifen und diese damit einteilen und benennen zu können. »I had gotten sidetracked, like I always did, because I melted into my surroun- dings, could not remain separate from, apart from, objectivity a foreign land to me.« (A 173) Auch die Erzählerin aus Surfacing weist Taxonomie – das Benennen und Ordnen von Flora, Fauna und Funga – und schließlich die mensch- liche Sprache insgesamt zurück. »Language divides us into fragments, I wanted to be whole.« (S 157) In den wenigen Tagen, die sie im Wald verbringt, trifft sie, hungernd und möglicherweise halluzinierend auf »the thing you meet when you stay here too long«, eine Art personifizierte Wildnis, die nicht in Sprache gefasst werden kann: »It does not approve of me or disapprove of me, it tells me it has nothing to tell me, only the fact of itself.« (S 201) Das Ende von Surfacing deutet allerdings an, dass die Erzählerin mit ihrem Lebensgefährten in die Stadt zurückkehren wird. Sie weiß, dass weder sie noch das Kind, das sie bekommen möchte, hier überleben können. Außerdem erträumt sie sich das Kind als Gegenent- wurf zu »the Americans«. Sie will einen neuen, weniger zerstörerischen Menschen in die Welt bringen.11 Anders als in Surfacing, wo die spekulativ-literarischen Elemente als Halluzinationen oder Träume der traumatisierten Erzählerin gelesen werden können, gibt es für die Area X in Annihilation keine rationale Erklärung. Und anders als im Fall der kanadischen Wildnis gibt es aus dieser mysteriös hervorgebrachten, ungezähmten (pristine) und sich ständig verändernden Wildnis auch kein Zurück. »I was convinced that when I wasn’t looking at them, these cells became something else, that the very act of observation changed everything.« (A 159) Was sich in der Forschungskarriere der Biologin als Hindernis herausstellte, wird 11 Für Alaimo ist Surfacing ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, sich in einer feministischen Perspektive für ›die Natur‹ einzusetzen. Sie kritisiert an dem Roman vor allem den Fokus auf Reproduktion, die als der ›natürliche‹ Weg der Fortpflanzung erscheint und auch als einzige Möglichkeit, das Trauma der Abtreibung zu heilen. Vgl. TCF 141 f. 156 Julia Grillmayr hier zum entscheidenden Vorteil. Die Natur der Area X kann per se nicht eingeteilt werden, an ihr scheitern alle taxonomischen Kategori- en. Das Eingeständnis, dass die nicht-menschlichen Bewohner*innen des Gebiets die Menschen affektieren, wahrnehmen und auch in ihnen leben können, wird hier vielmehr zur Überlebensgrundlage.12 Nur wer das Vorhaben aufgibt, die Natur vollends verstehen und kontrollieren zu wollen, wird von der Area X nicht sofort vollständig ausgelöscht, sondern bleibt bei Bewusstsein, um die zahlreichen Metamorphosen und Symbiose-Bildungen zu erleben, denen sich kein Lebewesen dieser spekulativen Wildnis entziehen kann. Woman and Nature und The Word for Woman is Wilderness In ihrem kurzen Text Woman / Wilderness (1986) legt die SF- und Fantasy- Autorin Ursula K. Le Guin ihren Finger auf die patriarchal-imperialistische Unterdrückung der Frau, die gleichermaßen der Beherrschung der Natur dient. Sie lässt diese in überspitzter Weise an der Figur des ›zivilisierten Mannes‹ kondensieren: »Civilized Man says: I am Self, I am Master, all the rest is other – outside, below, underneath, subservient. I own, I use, I explore, I exploit, I control. […] I am that I am, and the rest is women & wilderness, to be used as I see fit.«13 Diese Figur ist Susan Griffins essayistisch-poetischem Buch Woman and Nature (1978) entlehnt, in dem der ›zivilisierte Mann‹ eine Fülle misogyner und kolonial-rassistischer Stereotype verkörpert, nach dem anderen bemüht, zwischendurch ständig seine emotionale und materielle Unbefangenheit postuliert und versucht, möglichst ohne Personalpronomen auszukommen. »It is decided that that which cannot be measured and reduced to number is not real.«14 Griffins Figur ist gleichermaßen Parodie wie Bestandsaufnahme westlich-moderner Denktraditionen.15 Schließlich wird zwischen den Äußerungen des ›zivi- lisierten Mannes‹ eine poetische, ephemere Stimme, zusammengesetzt aus feministischen und ökologisch-aktivistischen Positionen, immer lauter. Sie entlarvt die Lächerlichkeit genauso wie die Gefährlichkeit der Klischees und der postulierten Objektivität. Ähnlich wie Griffin in Woman and Nature verfährt auch The Word for Woman is Wilderness von Abi Andrews. Hier begegnet den Leser*innen 12 Diese Lesart wird durch den zweiten und dritten Teil der Trilogie noch verstärkt und klingt auch schon in den Titeln an. Auf Annihilation folgen Authority und Acceptance (alle 2014). 13 Le Guin: »Woman / Wilderness«, S. 161. 14 Griffin: Woman and Nature, S. 11. 15 Vgl. ebd., S. XV. Wilde Spekulationen 157 jedoch die Position des ›zivilisierten Mannes‹ bereits durch den Filter der Protagonistin Erin, die sicherstellt, genug Verachtung in ihre Stimme zu legen, wenn sie Begegnungen mit ›zivilisierten Männern‹ nacherzählt oder deren Texte rezitiert. Auch dieser Roman berichtet aus der Ich- Erzählung einer jungen – in diesem Fall europäischen – Frau, die in die nordame- rikanische Wildnis aufbricht. Frustriert, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend ausschließlich auf männliche Erzählungen von Erlebnissen in der Wildnis trifft, beschließt die im Jahr 1993 geborene Britin Erin nach Alaska in den Denali-Nationalpark aufzubrechen. »To prove to myself and everyone else that solitude is as much mine as any Mountain Man’s and that I do not have to be relegated to loneliness and displacement just for being female.«16 Der Roman besteht aus Erins Erzählung sowie der Verschriftlichung von Szenen des Dokumentarfilms, den sie über ihre Reise drehen will. Dabei nimmt sie, ausgehend von ihrem eigenen Erleben, häufig Bezug auf ökologische und feministische Themen und Theorien. Auch hier treten Sprache und biologische Klassifizierung als patriarchale Herrschaftsinstrumente auf. »Taxonomy is a masculine language that dichotomises, like gender is a masculine language, structuring hierar- chies.« (WWW 299 f.) Ohne selbst zu verstummen, macht Erin immer wieder die Ambivalenz des Sprechens über und für die Wildnis deutlich: »[P]ure wildness is the absence of words, is self-willed« (WWW 299 f.). Neben der Bezugnahme auf ökologisch-aktivistische und feministische Texte, etwa Rachel Carsons Silent Spring (1962) oder Ursula K. Le Guins The Left Hand of Darkness (1969), versucht sich der Roman auch in einer alternativen, bescheidenen Geschichtsschreibung. So ist das Buch etwa dem Schwertwal Tilikum gewidmet, der 2017 nach 34 Jahren Gefangen- schaft in der SeaWorld Orlando starb. Auf seine Geschichte bezugneh- mend, macht Erin ihre ökofeministische Position deutlich: »Cetaceans are women’s allies in the war against patriarchy because patriarchy holds the cetaceans down with us. Orcas travel in matriarchal pods. The root of the word dolphin, delphus, means womb.« (WWW 73) Wie an dieser Textstelle deutlich wird, sucht Erin nicht nach einer universellen Theorie, sondern hangelt sich an Erfahrungen und Lektüren entlang, um eine bessere ›Weltbewohnungsweise‹ für sich selbst zu finden. Es ist nicht eine große Erzählung, sondern es sind viele kleine Geschichten, die keine klare, geschweige denn einheitliche Moral transportieren – etwa, dass Orcas im Matriarchat leben und das Wort ›Delphin‹ von Mutterleib kommt –, an denen sie ihre ambivalent bleibende Verschwesterung mit 16 Andrews: The Word for Woman is Wilderness, S. 17. Nachweise im Folgenden mit Sigle WWW und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 158 Julia Grillmayr der Wildnis festmacht. In dieser Weise gibt Erin ihre Deutungshoheit ein stückweit auf und lässt damit den nicht-menschlichen Akteur*innen ihrer Geschichte eine Stimme, ohne selbst dabei zu verstummen. Der Roman macht ihre Reflexionsprozesse hörbar, die nie abgeschlossen sind und Widersprüchlichkeiten nicht scheuen. So sieht Erin selbst ihre Reise in den Nationalpark ambivalent, denn diese ist eine im Sinne des Anthropozäns immer schon ›unnatürliche‹ Wildnis. »At home our quilted landscape is fully exploited and the wild is relegated to special parks. […] [T]heir segregation makes it okay to debase anything outside of them.« (WWW 129) Fäden einer feministisch-spekulativen Wissenschaftskritik Diese Lektüren machen deutlich, dass die Kritik an Wissens- und Wis- senschaftsproduktion einen zentralen Platz in der feministischen Spe- kulation einnimmt und dies in erhöhtem Maße, wenn es gilt, über ›die Natur‹ beziehungsweise über nicht-menschliche Erdenbewohner*innen zu sprechen. Abschließend sollen ein paar Fäden, die sich durch die Romane ziehen, zusammengezogen werden, um genauer nach besagter Wissenschaftskritik und der Rolle der Spekulation darin zu fragen. In allen Texten ist das Konstrukt des*der* objektiven Beobachter*in un- möglich geworden. Bei Atwood, Griffin und Andrews geschieht dies vor allem auf argumentativ-inhaltlicher Ebene, indem die Erzählerinnen explizit dieses Selbstverständnis des*der* Forscher*in kritisieren. Anni- hilation nimmt die Forderung, die Natur als ›aktiv und vital‹, als ›Agentin und Akteurin‹ zu begreifen und die »Handlungsfähigkeit der Welt im Wissensprozess«17 anzuerkennen, wörtlich und fabuliert eine Wildnis, die sich dem menschlichen Zugriff verwehrt, nicht weil sie stumm und leer wäre, sondern weil sie den Menschen unwillkürlich miteinschließt und verändert, also im Sinne Alaimos ein »trans-corporeal space« ist. Gegenüber einer klassisch dualistischen Lesart kann die in Annihilation fabulierte Wildnis nicht als Gegenteil beziehungsweise Absenz mensch- licher Kultur gedeutet werden, vielmehr kann sich der Mensch aus dieser Natur niemals herausrechnen. Das drückt sich nicht zuletzt dadurch aus, dass die Area X selbst Schriftzeichen hervorbringt. Diese Wildnis, die nur als durch und durch verknüpftes Ökosystem wahrgenommen 17 Sabine Hofmeister, Christine Katz und Tanja Mölders schreiben dies in Bezug auf Hara- ways »[a]rtefaktische Natur« (OiT 137). Wilde Spekulationen 159 werden kann, nimmt Haraways Konzept der »naturecultures«18 wörtlich; sie ist genetisches, symbolisches und soziales Amalgam, das sich nicht auseinanderdividieren lässt. Entgegen einem Blick von oben, der Unbefangenheit und Kontrolle suggeriert, machen alle vier literarischen Texte eine Position stark, die Haraway in ihrem wegweisenden Text Situated Knowledges (1988) auf den Punkt brachte: »Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object.«19 Das fehlerhafte Postulat einer wertfreien Forschung aufzugeben und eine bewusste Parteilichkeit (»conscious partiality«) zu kultivieren, ist auch eine explizite Forderung der ökofeministischen Wissenschaftspraxis nach Maria Mies und Vandana Shiva, wie in dem Band Ecofeminism (1993) nachzulesen ist: »The contemplative, uninvolved spectator ›knowledge‹ must be replaced by active participation in actions, movements and struggles for women’s emancipation.«20 Diese Forderungen finden sich in den vier literarischen Texten in Form einer Kritik an Praktiken der Taxonomie und Repräsentation, wie es an einem Motiv in Surfacing und The Word for Woman is Wilderness besonders deutlich wird. Beide Romane erzählen von der Entstehung eines Films. In Surfacing wollen die zwei Männer, die die Erzählerin bei ihrer Reise begleiten, einen experimentellen Kunstfilm drehen. Anfangs filmen sie wahllos ihre Umgebung, als könnten sie in der uncodierten Natur keinerlei Sinnzusammenhänge herstellen (vgl. UG 141). Um den Aufnahmen eine Bedeutung zu geben, überreden beziehungsweise er- pressen sie die Frauen, vor der Kamera zu posieren. Dies steht in starkem Kontrast zu The Word for Woman is Wilderness, wo Erins Vorhaben, ihre Reise in einem Dokumentarfilm festzuhalten, erzählt wird. Neben vielen Überlegungen, wie sie die Menschen und Nicht-Menschen, die sie trifft, in den Film einbetten soll, stellt sie vor allem die Repräsentation einer Frau namens Rochelle vor ein Gewissensproblem. Rochelle ist eine indigene Frau, bei der Erin Schutz findet, als sie sich, von einer übergriffigen Mit- fahrgelegenheit fliehend, im kanadischen Wald in einem Reservat verirrt. 18 Haraway elaboriert den Begriff in Companion Species Manifesto (2003). Sabine Hof- meister, Christine Katz und Tanja Mölders schreiben dazu: »Indem sie materialistische mit konstruktivistischen Denkmustern verknüpft, […] gelingt es Haraway, das Physisch- Materiale, das Körperliche und Organische, theoretisch zu integrieren und dennoch essentialistische Kategorien konsequent zu vermeiden. Damit stellt sie das (auch in der Nachhaltigkeitsforschung) noch dominierende Verhältnis des Natur-Kultur-Verhältnisses als Aneignungsverhältnis einer passiven Natur durch eine aktive Kultur / Gesellschaft grundlegend infrage.« (OiT 139) 19 Haraway: Situated Knowledges, S. 190. 20 Mies / Shiva: »Feminist Research«, S. 39. 160 Julia Grillmayr Die Begegnung mit Rochelle, die dort in einem Wohnwagen wohnt und die mit Umweltzerstörung, kapitalistischen und patriarchalen Zwängen in einer anderen und in vieler Hinsicht extremeren Form konfrontiert ist als Erin, wird sie dazu bringen, ihre ökologischen und feministischen Grundsätze auf deren ›Situiertheit‹ zu befragen. Erin will keine vermeintlich unbeteiligte Beobachterin Rochelles sein, sie will sich nicht herausneh- men für Rochelle zu sprechen, sie will sie in ihrem Film aber auch nicht gänzlich verschweigen und somit unsichtbar machen. Außerdem will sie ihre Erfahrungen mit den nicht-menschlichen Bewohner*innen des Nationalparks nicht in ähnliche taxonomische Kategorien pressen, die sie zuvor kritisierte. Der Dokumentarfilm, den sie vor Augen hatte, wird zur Unmöglichkeit. »Maybe ›a feminist documentary on wilderness‹ is a semantic impossibility«, reflektiert sie. »A woman knows the burn of the power and impact of eyes on skin, she knows the observer effect, she feels herself behind the eyes when a man does not because a man does not know the burn, never has his vantage as detached observer brought into question.« (WWW 237) Da sich dieses Spannungsverhältnis für die Protagonistin Erin nicht lösen lässt, die Leser*innen aber an ihrem Reflexions- und inneren Verhandlungsprozess teilhaben, eröffnet der Text einen Proberaum für Situierungsversuche. »Science fact and speculative fabulation need each other«, schreibt Haraway, »and both need speculative feminism« (SwT 2 f.). Fiktionen und Spekulationen, die sich einer geräumigeren Epistemologie verschreiben, lassen verschiedene Perspektiven nebeneinander bestehen. Sie behaup- ten nicht, die Geschichte oder die Stimme der Frau, der Natur oder der Wildnis zu sein, sondern reihen sich in eine Myriade von Geschichten und Perspektiven ein, die miteinander in Verhandlung treten. Mit ihrem ›als ob‹ tasten sie sich an andere Blickpunkte und Lebensweisen her- an, ohne sich diese zu eigen zu machen. Sie vollziehen eine Bewegung zwischen affektiver und intellektueller Nähe, respektvoller Distanz und Wertschätzung, die nicht zuletzt ein neues Verständnis von Wissenschaft prägen soll. »The researcher, by positioning her / himself as closely as possible to the object / agent learns to see from the latter’s point of view compassionately, but without pretending to be the other.« (WESD 52) Diese Bewegung, die spekulative Fiktion anstoßen kann, wirkt bestenfalls auch einer vorschnellen Engführung der Zukunft entgegen. Nicht umsonst nennt Alaimo das Sich-überraschen-Lassen als zentrales Element der »capacious epistemologies« (TCF 238). Das Anthropozän als Science- Fiction-Trope zu denken, hieße demnach zu versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse, Bestandsaufnahmen und Wahrscheinlichkeiten zu rezi- pieren und ernst zu nehmen und dennoch für überraschende, vielleicht Wilde Spekulationen 161 sogar unwahrscheinliche Möglichkeiten, Konstellationen und Allianzen offen zu bleiben. Genau das macht SF als Genre aus – und ›sf‹ im Sinne Haraways macht daraus eine explizit feministische Angelegenheit. Siglenverzeichnis A = VanderMeer, Jeff: Annihilation, London 2014. IE = Heise, Ursula K.: Imagining Extinction. The Cultural Meanings of Endangered Species, Chicago 2017. OiT = Hofmeister, Sabine / Christine Katz / Tanja Mölders: »Orientierung im Themenfeld. Geschlechterver- hältnisse und Nachhaltigkeit«, in: dies. (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit. Die Kategorie Geschlecht in den Nachhaltigkeitswissenschaften, Opladen 2013, S. 77–150. S = Atwood, Margaret: Surfacing, Markham 1983. SwT = Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016. TCF = Alaimo, Stacy: »Trans-corporeal Feminisms and the Ethical Space of Nature«, in: dies. / Susan J. Hekman (Hg.): Material Feminisms, Bloomington 2008, S. 237–264. UG = Alaimo, Stacy: Undomesticated Ground. Recasting Nature as Feminist Space, Ithaca 2000. WESD = Braidotti, Rosi / Ewa Charkiewicz / Sabine Häusler / Saskia Wieringa: Women, the Environment and Sustainable Development. Towards a Theoretical Synthesis, London 1995. WWW = Andrews, Abi: The Word for Woman Is Wilderness, London 2018. Literaturverzeichnis Adams, Carol J. / Lori Gruen: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Ecofeminism. Feminist Intersections with Other Animals and the Earth, New York / London 2014, S. 15–20. Barad, Karen: »Posthumanist Performativity«, in: Stacy Alaimo / Susan J. Hekman (Hg.): Material femi- nisms, S. 120–154. »Blackfish (film)«: Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Blackfish_(film) (aufgerufen am 01.05.2019). Griffin, Susan: Woman and Nature. The Roaring Inside Her, New York 1978. Haraway, Donna: »Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective«, in: dies.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 183–201. Haraway, Donna: Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. Le Guin, Ursula K.: »Woman / Wilderness« (1986), in: dies. (Hg.): Dancing at the Edge of the World. Thoughts on Words, Women, Places, New York 1989, S. 161–164. Mies, Maria: »Feminist Research: Science, Violence and Responsibility«, in: dies. / Vandana Shiva (Hg.): Ecofeminism, Halifax / Nova Scotia 2001, S. 36–54. Mies, Maria / Vandana Shiva: »Introduction. Why We Wrote this Book Together«, in: dies. (Hg.): Ecofe- minism, Halifax / Nova Scotia 2001, S. 1–21. »Science Fiction, Fact & Forecast«, https://scifi-fafo.com/ (aufgerufen am 01.05.2019). Speculate-as-speculate-can. Bedingungen von Spekulation als Kritik in digitalen Kulturen m a r t i N a l e e K e r Digitale Kulturen sind, so die These, durch und durch spekulierende, d. h. auf Mögliches und Zukünftiges bezogene Kulturen. Dies zeigt sich z. B. daran, dass Spekulationen flächendeckend zur Anwendung kommen, wie etwa im technisch optimierten Börsenmarkt, in Kaufempfehlungen von Amazon, in der Forschung mit Big Data oder in der Sicherheitspolitik, die mit dem vorsorglichen Durchspielen möglicherweise eintretender katastrophischer Szenarien Sicherheit erzeugen will. Spekulation wird auch in künstlerischen und geisteswissenschaftlichen Arbeiten als Me- thode der Kritik eingesetzt. Vergleichbar mit spekulierenden Szenarien, in denen imaginiert wird, welche Lösungen unter angenommenen Um- ständen für Problemlagen denkbar wären, werden – z. B. im feministi- schen Science-Fiction und in der medienwissenschaftlichen Forschung zur Techno-Ökologie oder zum Posthumanismus1 – Denkfiguren für eine gerechtere Gesellschaft sowie für die Rettung der Erde durchge- spielt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob und wie Spekulation als Kritik im Kontext der skizzierten spekulativen Konstitution digitaler Kulturen überhaupt möglich ist und ob sich unterschiedliche Arten des Spekulierens ausmachen lassen. Die Vermutung ist, dass Spekulation als Kritik Gefahr läuft, die spekulative, ins Technologische, Epistemolo- gische und Habituelle durchgeschlagene Verfasstheit digitaler Kulturen zu wiederholen und auf diese Weise an deren Regimen und Politiken teilzuhaben. Aufgabe der folgenden Erörterungen ist es deshalb, den Erscheinungen und Wirkungen einer allgemeinen Spekulativität digitaler Kulturen nachzugehen, um einen Kriterienkatalog und Reflexionshori- zont zu erstellen, mit dem – an anderen Stellen und auch von anderen Personen – künstlerisch-wissenschaftliche Spekulationen im Hinblick auf ihr kritisches Potenzial untersucht werden können. 1 Vgl. einführend zur Techno-Ökologie Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung; zum Post- humanismus grundlegend Braidotti: Posthumanismus. Speculate-as-speculate-can 163 1. Spekulierende Technologie. (Vor-)Programmierte Ungewissheit Digitale Kulturen sind in unterschiedlichen Weisen auf technischer Ebene im Modus der Spekulation organisiert, die sich darin ähneln, dass im Folgenden zu beschreibende technische Konzepte des Spekulierens in der Programmierung von Algorithmen formalisiert und operationalisiert werden. 1.1 Internet Die Spekulativität digitaler Technologie zeigt sich paradigmatisch am Datentransport im Internet, das zur digitale Kulturen ausmachenden Infrastruktur avanciert ist. Die verteilte, nicht vorhersehbare und redun- dante, mithin spekulierende Verschickung von Datenpaketen über weit verteilte Knotenpunkte, die das Internet konzeptuell auszeichnet und robust macht, entstand in den 1960er Jahren aus bloßen Spekulationen Paul Barans.2 Diese Technologie war seine spekulative Antwort auf die Frage, wie ein Kommunikationskanal aussehen müsste, der auch im Fall einer drohenden Zerstörung nicht ausfallen würde. Dies war vor allem in Zeiten des Kalten Krieges bei der militärischen Denkfabrik RAND Cooperation, der Baran angehörte, ein zentrales Thema. Die Herkunft des Internets aus Spekulationen im Szenario-Denken schlägt sich in seiner technologischen Konstitution nieder. Denn die Datenp akete fol- gen erst spekulativen, dann algorithmisch verfassten Vorgaben dazu, welcher Weg durch die vernetzten Knoten in einer je einmaligen und unvorhersehbaren Situation der beste sein könnte, um schnell und sicher zum Ziel zu gelangen. Damit der Datentransport nicht dauerhaft unterbrochen werden kann, ist die Infrastruktur auf einen spekulativen Modus angewiesen. Die spekulativ erzeugte Dauerkonnektivität wird im Konzept der Resilienz des Internets gebündelt, d. h. in der Fähigkeit des Netzwerkes zur Anpassung an jede vorstellbare mögliche Krise.3 Statt Krisen zu verhindern – was utopisch wäre – werden sie also spekulierend antizipiert und Systeme so gebaut, dass sie Störungen in sich aufnehmen und, den Verlust eines Teils des Systems in Kauf nehmend, als Ganzes überleben können. Das Internet ist damit unschlagbar geworden, denn Resilienz als Ordnung des Technologischen entspricht zugleich einem Verschlingen von Widerstand und Kritik, so die Vermutung, der im Folgenden nachgegangen wird. 2 Vgl. Warnke: »Simulation wilder Spekulationen«. 3 Vgl. Sprenger: »Kann man das Internet abschalten?«. 164 Martina Leeker 1.2 Data Mining Auch die zeitgenössischen digitalen Operationen des Data Mining sind ein Beispiel für technisches Spekulieren. Hier zeigen sich zudem an- schaulich die epistemologischen und sozio-technischen Auswirkungen des Datensammelns. Auf der technischen Ebene ist das massive Sammeln und Auswerten von Daten erkenntnisblind, da die Algorithmen gleich- sam im Dunkeln tappen und eine Interpretation in dieser maschinischen Spekulativität erst im Nachhinein erfolgt. Diese technische Spekulation konfiguriert Perzeption und Epistemologie. Da die Technologien des Data Mining sowie die sie unterstützenden, selbstlernenden Algorithmen nämlich jenseits der kognitiven Möglichkeiten menschlicher Agierender operieren, deren Mittun sie gleichwohl in verteilter Kognition beanspru- chen, können sie nur spekulierend rezipiert werden. Zudem affizieren die technologischen Umwelten die menschlichen Agierenden auf nicht bewussten Ebenen, sodass sie in eine Art Dauererregung versetzt wer- den, die sie nicht verstehen oder kontrollieren können. Das entstandene, affizierte Nichtwissen bedingt eine epistemologische Umstellung von Wissen, Wahrheit und Faktizität auf Unsicherheit, Vermutungen und Ungewissheit sowie Paranoia und Spekulation. Die ausufernde Präsenz des Spekulierens in digitalen Kulturen korre- liert mit deren technologischer Verfasstheit, die sich auf Wahrnehmung und Epistemologie durchschlägt. 2. Szenarien. Das Undenkbare fürs Überleben denken Ein weiterer Grund für die Durchschlagskraft des Spekulativen in digi- talen Kulturen ist ein Kurzschluss von technologischem mit sozialem und politischem Engineering, der ab 1959 in der das US-amerikanische Militär beratenden RAND Cooperation stattfand. Hier forschte Baran mit seinen technologischen Spekulationen zum Internet, während zur gleichen Zeit Herman Kahn, Kriegsberater, Futurologe und Kybernetiker, mit Szenario-Thinktanks für operative Überlebensstrategien beschäftigt war.4 Kahn beschreibt die auf ungewöhnliche, bisher nicht ausdenkbare Problemlösungen abonnierten Planspiele als »a hypothetical sequence of events constructed for the purpose of focussing attention on causal 4 Vgl. zum parallelen Verlauf von Baran / Internet und Kahn / Szenario-Technik Engemann: »Verteiltes Überleben«. Speculate-as-speculate-can 165 processes and decision points«.5 Die Szenario-Technik, die Kahn bis 1961 bei RAND und danach im eigenen Hudson Institute mit inter- disziplinären Thinktank-Gruppen durchführte, breitete sich seit dieser Zeit allumfassend aus und mit ihr Spekulieren als Konstituens einer auf Unkonventionalität und Machbarkeit fokussierten Generierung von Wissen, Problemlösung und Kontrolle. 2.1 Kahns Szenarien im Kalten Krieg. Primat der Machbarkeit Kahns Szenarien provozieren eine radikale Auflösung tradierter Vorstel- lungen von wissenschaftlicher Objektivität und ersetzen sie durch eine ergebnisoffene und praxisorientierte Forschung zur Machbarkeit.6 Deren Ausgangspunkt ist das stringente, plastische und konkrete Durchspielen möglichst vieler Szenarien, die sich aus einer Kette von Alternativen für- einander ableiten und in je möglichst hoher Komplexität ausformuliert werden. Kahn schreibt: »What alternatives exist, for each actor, at each step, for preventing, diverting, or facilitating the process.«7 Dabei ging es ihm nicht um ein Vorhersagen der Zukunft oder das Erkunden der Wahrscheinlichkeit ihres Aufkommens8 – was nicht möglich ist. Wird in den »What-if«-Szenarien durchgespielt, was wäre, wenn eine bestimmte Situation vorläge, dann werden vielmehr spekulierend für die Gegenwart alternative Gestaltungs- und Organisationsweisen er- und durchdacht und zur Umsetzung aufbereitet. Bemerkenswert sind zudem die regelrecht künstlerischen Freiheiten, die sich Kahn nahm und bei seinen Partner*innen im Thinktank einfor- derte. Sie sollen das Undenkbare oder Unmögliche denken,9 d. h. sich von Voreinstellungen, Tabus und anderen Behinderungen des Vorstellens und Denkens frei machen. Mit dieser Vorgabe entwickelte Kahn bei RAND in den 1950er Jahren z. B. mit seinen Spielgruppen Szenarien für den Atomkrieg.10 Seine Frage war nicht, wie man ihn verhindern, sondern wie man ihn überleben könnte. Damit wendete sich Kahn von der gültigen Verteidigungsstrategie ab, ein Atomkrieg könne mit der Androhung eines Erstschlags vermieden werden. Kahns neue, seine Zeitgenoss*innen überraschende und erschütternde These war vielmehr, dass man einen Atomkrieg überleben kann, solange bestimmte Bedingungen, wie z. B. 5 Kahn / Wiener: The Year 2000, S. 6. 6 Vgl. auch Pias / Vehlken: »Einleitung«. 7 Kahn / Wiener: The Year 2000, S. 6. 8 Vgl. Pias: »›One-Man Think Tank‹«, S. 12. 9 Vgl. Kahn: Thinking About the Unthinkable. 10 Vgl. Kahn: On Thermonuclear War. 166 Martina Leeker Schutzbunker oder Technologie für Dekontamination, erfüllt sind.11 Es ging also nicht darum, den Erstschlag zu vermeiden, sondern den Zweitschlag sicherzustellen. Kahn erprobte so in seinen kreativen Sessions und der Explosion der stringent durchgezogenen Variationen ein sehr konsequen- tes Regime der Machbarkeit, das sich nicht an moralischen Rahmungen oder Sachfragen, sondern an spekulativer Umsetzbarkeit orientiert. Es ging um ein Designen und Engineering von Möglichkeiten, die sich in Zeiten des Kalten Krieges um Abwehr und Vormachtstellungen drehten. 2.2 Epistemologie der Szenarien. Speculate-as-speculate-can Kahns Szenarien verfolgen eine eigene Epistemologie und Politik. Sie erscheinen als Apparat, mit dem unter den Bedingungen unkontrol- lierbarer, multi-agentieller und sozio-technischer Systeme sowie Nicht- Wissen Denken und Handeln neu konfiguriert werden. Es ging erstens um eine neue, kontingente Art der Kontrolle, die entsteht, weil möglichst viel möglichst holistisch antizipiert wird. Damit dürfte ein Gefühl von nur vorübergehender und immer ›unsicherer Sicherheit‹ entstehen. Das holistische Erfassen steht mithin nicht für eine Einsicht in die Komple- xität der Welt, sondern vielmehr für ein Begehren nach Kontrolle, zu der unabdingbar ein Regime der spekulierenden, massenhaften Akkumulation von Daten und Information gehört. Diese Art der Kontrolle wird möglich, weil man sich in den Szenarien konsequent von der Wirklichkeit ab- und einer selbstbezüglichen Eigendynamik und Eigenlogik des Spekulierens zuwendet. Das Versammeln von und Jonglieren mit alternativen Szena- rien wird zugleich, zweitens, zum Ersatz ihres Bezuges zur Wirklichkeit. An dessen Stelle tritt eine selbstbezügliche, die Vermittlung ins Reale ersetzende Schlüssigkeit der Szenarien, ihren Alternativen und Kom- binationen. Die interdisziplinären und unkonventionellen Thinktanks von Kahn können, drittens, als Einübung eines sozio-technischen In- teragierens verstanden werden, das weniger an Inhalten, als vielmehr an der operativen Anschlussfähigkeit unterschiedlicher Optionen für Kombinationen interessiert ist. Werden die Thinktanks und Szenarien als Latour’sche Netzwerktheorie (ANT) avant la lettre gesehen, speziell bezogen auf die in ihnen prominenten nicht-/menschlichen Handlungs- ensembles, dann werfen sie ein neues Licht auf deren zeitgenössische Vorlieben. Sie erscheinen nun eher als eine Fortführung genussvoller Vernetzungs akrobatiken denn als Garant*innen für die hoffnungsvollen 11 Vgl. Engemann: »Verteiltes Überleben«. Speculate-as-speculate-can 167 Visionen von einer Rettung der Erde aufgrund einer ANT-induzierten, anti-modernen und posthumanen Demut und Sorge. 2.3 Szenarien heute. Allüberall Szenarien und Thinktanks sind heute allgegenwärtig. So hat z. B. Jutta Weber pointiert herausgearbeitet, dass die Szenario-Technik inzwischen zur gängigen Methode in der Sicherheitspolitik avanciert ist.12 Dabei folgt sie allerdings nicht mehr konkreten Gefahren, wie noch Kahn im Kontext der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg, sondern hat sich mit einer diffusen und allseits präsenten Unsicherheit auseinanderzusetzen. Unter diesem Primat einer Risiko-Kultur geht es darum, präventiv und ins Ungewisse hinein auf möglichst viele un-/vorstellbare Bedrohungen vorbereitet zu sein. Je mehr Szenarien durchgearbeitet werden, umso höher wird der Eindruck von Sicherheit im Unsicheren. Umso entfesselter wird aber zugleich auch das Spekulieren, da mit jedem Szenario weitere aufscheinen. Szenarien tendieren also zur Eskalation des Spekulierens. In jüngster Zeit breiten sich Szenarien zudem in der Gestalt von »Living Labs«13 und »Reallaboren«14 flächendeckend und übergreifend in der Zivilgesellschaft aus. Es gibt kaum Konzerne, Städte oder Stadt- teilvereine, die nicht mit Förderhilfe durch die Bundesregierung bei zukunftsträchtigen Fragen Ideenwerkstätten für z. B. die Energiewen- de, grüne Städte, pädagogisch wertvolle Spielplätze oder nachhaltige urbane Mobilität durchführen. Aus einem eher singulären Phänomen ist also unter dem Eindruck einer diskursiv hergestellten und politisch gewollten, kolossal unsicheren Sicherheits- und Erkenntnislage eine Szenarien-Kultur geworden, mit der in der Politik auf eine Existenz der Dauer-Spekulation umgestellt wird. Auch kritische, wissenschaftliche und künstlerische Spekulationen, wie z. B. Labs für »Speculative Life«15 oder Science-Fiction-Romane,16 die sich als Szenarien für Weltmodelle gegen Ungleichheit verstehen, sind Teil dieser Kultur des ›unsicher ge- sicherten‹ Überlebens. 12 Vgl. Weber: »Wild Cards«. 13 Vgl. zu »Living Labs« Erdmann / Geibler / Echternacht: INNOLAB Projekt. 14 Vgl. Deutscher Bundestag / Wissenschaftliche Dienste: Reallabore, LivingLabs und Citizen Science. 15 Das Lab »Speculative Life« ist Teil des Institute for Arts, Culture and Technology / Milieux, Concordia University, Montreal unter der Leitung von Orit Halpern. Vgl. »Speculative Life Cluster«. 16 Vgl. exemplarisch Haraway: Unruhig bleiben. 168 Martina Leeker 2.4 Kahn für kritische Spekulation? Es geht also um eine Kreativtechnik, mit der sozio-technische Systeme mithilfe einer Entfesselung technischer und kognitiver Möglichkeiten designt werden. Dabei werden die Schlüssigkeit und Nachhaltigkeit des Designens gleichsam über die Szenario-Alternativen aus sich selbst heraus generiert. Es wäre deshalb zu klären, ob die kritischen Spekulationen für andere, gerechtere Weltordnungen ungewollt der losgelösten und selbstbezüglichen Eigenlogik von Szenarien nachgehen. Kahns Szenarien stellen die Untersuchung kritischer künstlerischer und wissenschaftlicher Spekulationen aufgrund ihrer unkonventionellen Wissensordnung sowie ihres radikalen auf Überleben fokussierenden Handlungsimpetus vor eine große Herausforderung. Denn mit den Szenarien kollabieren die Grenzziehungen zwischen Kunst, Geisteswis- senschaft und Kriegs- und Krisenpolitik, die kritische Spekulationen einfordern. Es werden zudem Konzepte und Methoden eingesetzt, die kritische Spekulationen für sich reklamieren, wie z. B. der Verlust von Kontrolle als Chance, Unkonventionalität, das Denken des Undenkbaren, eine experimentelle und situative Wissenschaftlichkeit, das Narrativ von Krisen und Überleben sowie die Umstellung von Forschung auf Hand- lungsensembles und Interdisziplinarität.17 Die Frage stellt sich, ob und wie sich kritische künstlerische und wissenschaftliche Spekulationen von Kahns Konzepten unterscheiden. Ließe sich Spekulieren auf der Ebene der Inhalte unterscheiden, kann es dann also ein ›böses‹ Kahn’sches und ein gutes, kritisch-geisteswissenschaftlich-künstlerisches Spekulieren geben? 3. Digitale Kulturen. Vom Ende der Kritik in ubiquitärem Szenariorismus In digitalen Kulturen ist der allgemeine Szenariorismus zum Alltag ge- worden und wird nicht mehr in extra aufbereiteten Settings ausgeführt. Im übergreifenden Szenariorismus werden diese Kulturen vielmehr zu einem riesigen Szenario-Spektakel. Dies zeigt sich anschaulich an drei Faktoren: (1) am alltäglichen Habitus der Antizipation, die den Umgang mit technischen Geräten in sozio-technischen Handlungsensembles konstituiert, (2) am Regime der Resilienz, die nicht nur auf Technologie, sondern nunmehr auf die Gesellschaft ausgerichtet ist, sowie (3) an der Konfrontation mit spekulierender, digitaler Daten-Kritik. Diese Faktoren, 17 Vgl. Pias / Vehlken: »Einleitung«, S. 13. Speculate-as-speculate-can 169 die nun in aller gebotenen Kürze holzschnittartig vorgestellt werden, erweitern den Kriterienkatalog und Reflexionshorizont zur Überprüfung kritischer künstlerisch-wissenschaftlicher Spekulation. 3.1 Spekulation als Antizipation. Obedienz in digitalen Kulturen Digitale Kulturen leben von der Antizipation, die sich als eine Form alltäglich gewordener und normalisierter Spekulation erweist. Der spe- kulative antizipierende Habitus zeigt sich in sozio-technischen Koope- rationen wie in sozialen Netzwerken oder bei der Arbeit mit robotischen Assistent*innen, bei denen vorausgeahnt wird, was geschehen könnte. Paradigmatisch ist das soziale Punktesystem in China, das möglichst umfänglich und ohne Unterbrechung Verhaltensweisen registriert und bewertet. Die Datenspekulationen sind Grundlage für die automatische Sanktionierung von sozialem Fehlverhalten und könnten beispielsweise eine geplante Reise verunmöglichen. Die möglichen Vergehen werden antizipiert und mit einem vorauseilenden Gehorsam der menschlichen Agierenden pariert. Es kommt zu einem von Vermutungen geprägten Leben und permanenten, im Spekulativen nur fragilen Anpassungen, die menschliche Agierende in experimentelle Anordnungen und temporäre Stabilisierungen katapultieren. Effekt der Antizipation ist eine digitale Subjektivität, in der es zu einer Verteilung der Individuen über die digitalen Assistent*innen und mithin zu einer schizoiden Techno-Psycho-Logik kommt. Die Assistent*innen sind Teil dieses Selbst, eine Kooperation mit ihnen für die digitale Existenz ist unabdingbar. Da die Assistent*innen mehr von den menschlichen Partner*innen wissen als letztere, entsteht eine paranoide Situation, in der ohne Unterlass spekuliert wird, was gewusst werden und was sein könnte. Diese schizoid-paranoide Konstitution bringt ein präemptives digitales Subjekt hervor, das sich freiwillig den Kooperationen unterwirft. D. h., mit Antizipation wird Spekulieren zum Habitus digitaler Kulturen, der die Existenz in diesen sowie Subjektbildung zu einem Szenario macht. 170 Martina Leeker 3.2 Dauer-Krisenmanagement. Resilienz als Spekulation fürs Überleben Ein weiteres Setting des allgemeinen Szenariorismus ist die Ausrichtung digitaler Kulturen auf Resilienz. Damit hat, nach Orit Halpern,18 Problem- lösung abgedankt. An deren Stelle ist ein Epistem der auf Dauer gestellten Anpassung an mögliche krisenhafte Situationen getreten, das sich nicht nur im Design technischer Systeme, sondern nun ebenso in Psychologie und Sozialpolitik zeigt.19 Die resiliente Existenz entspricht einem anhaltenden Experiment im Sinne eines »Testbetts«20. Die Konstitution der technischen Infrastrukturen sowie der auf Resilienz basierenden Sicherheitspolitiken schlägt auf Psyche und Soziales durch, löst Politik ab und macht Existenz zu einer dauerhaften Krise, der man spekulierend begegnet. In diesem Kontext ist eine derzeit auffällige Umstellung von Kritik auf Affirmation von Interesse, die z. B. in der feministischen Forschung eingefordert wird.21 Das Affirmieren verspricht eine offene Haltung zu Verhältnissen und Ereignissen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Affirmation im Kontext real umgesetzter Resilienz für eine Art digitaler Nekro-Politik instrumentalisiert werden könnte, mit der Sterben-Machen und Sterben-Lassen perfide als Ethik einer höheren, dem Katastrophischen geschuldeten Ordnung legitimiert wird.22 Sterben als operative Ebene der Nekro-Politik würde mithin zum letzten resilienten Akt, der sich affirmativ dem Ziel der Rettung der Erde oder der Spezies hingibt. Diese Instrumen- talisierung kann dort aufkommen, wo Real-Politik spekulative Affirmation schlicht kapert. Spekulation fiele auf ihr genealogisches Erbe zurück, mit dem sie durch Kahns Szenario-Technik und -Mentalität an einen opera- tiven Pragmatismus bloßer Machbarkeit des Überlebens gebunden ist. 3.3 Digitale Kritik. Vom Ende der Kritik in Konnektivität und Vermittlungsregimen Wenn sich kritische künstlerisch-wissenschaftliche Spekulationen als Kritik verstehen, dann ist schließlich zu klären, was Kritik in digitalen Kulturen ist, um damit einen Rahmen zu entfalten, in dem die angenom- menen kritischen Potenziale überhaupt eingeschätzt werden können. 18 Vgl. Halpern: »Hopeful Resilience«. 19 Vgl. einführend Chandler / Reid: The Neoliberal Subject; Chandler: Resilience. 20 Vgl. Halpern / LeCavalier / Calvillo u. a.: »Test-Bed Urbanism«. 21 Vgl. Braidotti: »Affirmation versus Vulnerability«; Thiele: »Ende der Kritik?«. 22 Vgl. zur Kontextualisierung dieser These Horn: »Überlebensgemeinschaften«. Speculate-as-speculate-can 171 In digitalen Kulturen fällt Kritik aus zwei Gründen aus: Erstens tritt Spekulation als eine Politik der Handlungserzwingung an die Stelle von Kritik, da es sich bei digitaler Kritik um eine maschinische Daten-Kritik zur Vorhersage von etwa Kaufverhalten oder kriminellen Verhaltensweisen handelt. Daten-Kritik zielt nämlich nicht auf reflektierendes Unterscheiden, Ordnen und Bewerten, sondern entspricht einer prädiktiven Operation für ökonomische oder sicherheitstechnische Zwecke. Diese Spekulationen kleiden sich im Gewand der Kritik von einer großen Datenmenge, mit der die Vorhersagen genauer werden sollen. Damit garantiert digitale Kritik als exzessives und auf Dauer gestelltes Kritisieren, wie z. B. Hate- Speech zeigt, zweitens, dass Unmengen an Daten erzeugt werden. Mit der Ablösung von Kritik durch Spekulation und Exzess werden mensch- liche Agierende zu Prothesen der Daten. Im Rahmen der Konnektivität zielt digitale Kritik zudem auf Affekte und scheut inhaltliche Referenzen zugunsten einer Kritik perpetuierender und sie am Laufen haltender Selbstbezüglichkeit. Mit digitaler Kritik werden auf diese Weisen kritische Distanz, inhaltliche Bezüge sowie Reflexion schlicht ausgeschaltet und durch bedingungslose Konnektivität ersetzt. Da digitale Kritik die Aufgabe übernimmt, eine Vermittlung zwischen menschlichen Agierenden und medialen Umwelten herzustellen, kann von dieser kulturtechnischen Funktion aus Kritik neu erschlossen wer- den. Nun erscheinen Immanuel Kants Drei Kritiken,23 Geburtsszenario moderner Kritik im ausgehenden 18. Jahrhundert, als ein regelrechtes Zwangssystem der Vermittlung, mit dem eine abgründige Verunsicherung von Erkenntnis und Mit-der-Welt-Sein abgefedert werden sollte. Dazu entwickelte Kant ein Regelsystem, das aus sich heraus korrekte Aussagen ermöglichen sowie Erkenntnis und das friedliche Zusammenleben der Menschen durch eine Unterwerfung unter Kritik in Gestalt einer uni- versellen Vernunft sicherstellen sollte. Damit mutiert Kants Modell von Kritik zu dem, was es verhindern wollte, nämlich Spekulation, denn sie steuert nicht Wirklichkeit an, sondern ein selbstbezügliches Vermittlungs- system. Ist Kritik eine Kulturtechnik des Medialitätsmanagements sowie der Kontingenzbewältigung und entpuppt sie sich als ein spekulativer Zwangsapparat, dem man sich freiwillig unterwirft, dann kann sie die Aufgaben von Kritik als Widerständigkeit, unabhängiger Orientierung in der Welt und unvoreingenommene Reflexion nicht mehr übernehmen. 23 Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft. Vgl. Kant: Die Kritiken. 172 Martina Leeker Wenn zudem ein allgemeiner Szenariorismus oder eine allgemeine Spekulativität digitale Kulturen konstituiert, dann wird es für kritische künstlerische und wissenschaftliche Spekulationen schwierig, sich von diesen zu unterscheiden. Wo Spekulation dem Habitus sowie einer Psycho logie des Überlebens (Resilienz) den technologischen Bedingun- gen entspricht, könnte ein kritisches Spekulieren diese noch nobilitieren und befördern. 4. Nach der Spekulation. Hyperbolischer Alarmismus, Konkretion und Mediokrität Abschließend sollen drei Konzepte und Methoden angerissen werden, wie mit den problematischen Aspekten von Spekulation bzw. Szenarien sowie mit dem Ausfall von Kritik umgegangen werden kann. Es geht erstens um eine Ersetzung von flottierender Spekulation durch einen Alarmis- mus hyperaffirmativer Spekulationen. Zweitens wird dafür plädiert, der Selbstbezüglichkeit und Eigenlogik des Spekulativen durch Konkretion zu widerstehen. Schließlich wird drittens das Modell der Mediokrität als Ersatz für Kritik skizziert. 4.1 Norma C. und das Posthuman Chances Lab. Hyperaffirmatives Spekulieren Im Seminar »Open your Body«, das vom Posthuman Chances Lab angeboten wird, gehe es darum, so dessen Gründerin Norma C. in einem Vortrag, die Teilnehmer*innen für die heilsamen Effekte der technologischen Möglich- keiten digitaler Kulturen zu öffnen.24 Sie böten nämlich die Chance, sich direkt mit technologischen Umwelten zu verbinden und auf diese Weise die Verwandtschaft mit der Erde und ihren Bewohner*innen zu spüren. Aus dieser Erfahrung ließen sich soziale Ungleichheit sowie der Raubbau an der Erde unterbinden. Dazu sei es nötig, ein Maximum an Daten abzugeben, die für die produktive Entwicklung digitaler Infrastrukturen dringlich gebraucht werden; dies gälte z. B. für grün und nachhaltig ausgerichtete Smart Cities, für optimale Ergebnisse von Suchmaschinen sowie für uns unterstützende Assistenzsysteme. Deshalb stehe am Ende des Seminars die kollektive Im- plementierung von RFID-Chips in die Körper der Teilnehmer*innen, mit denen die Datenabgabe erheblich erleichtert und optimiert würde. Allerdings 24 Vgl. die Dokumentation Leeker: »Posthuman Chances Lab. Norma C.«. Speculate-as-speculate-can 173 stünde der direkten Verkopplung zunächst noch eine moderne Subjektivität im Wege, mit der sich der Mensch autark fühle und sich die Welt der Dinge und Tiere Untertan mache. Das Erfinden von Erzählungen zu Multi-Spezies- Verwandtschaften, Performances mit Tieren sowie mit den vermeintlich freien Willen angreifenden Elektroschocks würden im Seminar »Open your Body« dabei helfen, diese Traditionen und Einschreibungen zu überwinden. Abb.: Foto der Performance Posthuman Chances Lab. Open your Body von Norma C. Das geschilderte, eulenspiegelnde »What-if«-Szenario von Norma C. stellt sich gegen die unhinterfragte Normalisierung des Spekulierens, indem zeitgenössische, aufs Spekulative aufsetzende Diskurse aus Kunst, Geisteswissenschaft sowie aus Wirtschaft und Politik entwendet, über- spitzt und damit reflektierbar gemacht werden. Diese zunächst auf den ersten Blick unvergleichbaren Diskurse ähneln sich doch im von ihnen geteilten Narrativ techno-humaner Konnektivität und Verflechtungen, sodass sich die von Kahn angelegte Entdifferenzierung unterschiedlicher, wissenschaftlicher Disziplinen und gesellschaftlicher Bereiche fortsetzt. Die Relations-Szenarien und die Entdifferenzierung werden nun in der Lecture-Performance von Norma C. aufgenommen und gegen sich selbst gedreht, um ihre Regime und Politiken aufscheinen zu lassen. D. h., es geht um ein verdoppelndes, parasitäres Spekulieren, das sich 174 Martina Leeker in bestehende Spekulationen einnistet und sie auf die in ihnen angelegte Spitze treibt. Motor dieses Parasitismus ist ein vitaler Alarmismus, der zum einen Parolen und Spekulationen aus Wirtschaft und Politik ernst nimmt und zum anderen die Spekulationen der Geisteswissenschaften sowie der Kunst vom Kopf auf die Füße stellt. Alarmismus wird hier – statt Spe- kulation – als Erkenntnishaltung für digitale Kulturen vorgeschlagen, mit der man sich dem allgemeinen Szenariorismus und Spekulieren da widersetzen kann, wo sie in der Übertreibung ihre Konsequenzen zeigen und aus ihrem Begehren nach zukünftiger Sicherheit auf die Gegenwart zurückbezogen werden. Für Alarmismus zu votieren, ist zunächst vor allem erklärungsbedürf- tig, denn er hat kein gutes Ansehen. Alarmismus steht nämlich u. a. für affektgeleitetes Handeln, paranoide Übertreibungen oder eine voyeuristi- sche Lust am Schüren von Zukunftsszenarien mit Untergangsstimmung. Gerade diese Qualitäten gilt es aber stark zu machen, um ein Gespür für die Dringlichkeit einer Situation oder Spekulation und deren Wirkungen zu erhalten bzw. zu erzeugen. Mit dieser gespaltenen Haltung, nämlich alarmiert zu sein und zugleich diesen Zustand zu betrachten, befragt der zur Erkenntnis strebende Alarmismus sich selbst und andere alarmierte Szenarien auf ihre Anliegen und ihre Entstehungsbedingungen. Es geht mithin um einen selbstreflexiven, bodenständig-hysterischen Alarmismus. Das Alarmiert-Sein entlädt sich zudem performend und erzeugt damit eine prekäre und fragile Lage, die zur Verantwortung zieht. Norma C. wurde nach einem Auftritt als Techno-Faschistin bezeichnet. Dieser Kommentar zeigt nicht nur, dass die Ausführungen einen Denkprozess im Hinblick auf die Unterwerfungstendenzen digitaler Kulturen angestoßen haben könnten, sondern auch, dass die Aufführende / Kunstfigur für das Gesagte haftbar gemacht werden muss. Ein bodenständig-hysterischer Alarmismus verbindet, so lässt sich zusammenfassen, Hyperregung mit Zaudern, In-Frage-Stellen, Über- und Umdenken sowie physisch beglau- bigter Verantwortlichkeit. Ob dieser Konstitution versteht er sich als ein Queeren im Sinne eines Dazwischen- und Ein-Tretens, mit denen etwa Aus- und Eingrenzungen, Normierungen oder Instrumentalisierungen erspürt, bedacht und benannt werden. Es geht um eine Art des »Killjoy«,25 wie es Sara Ahmed vorgeschlagen hat. Hyperaffirmative Spekulation sowie Alarmismus experimentieren auf diese Weise auch mit Bedingungen von Kritik in digitalen Kulturen. Dabei gilt es, ein unmögliches Unterfangen zu versuchen, nämlich sich 25 Ahmed: Living a Feminist Life. Speculate-as-speculate-can 175 der Konnektivität digitaler Kulturen zu entziehen – obwohl sie sich durch alle technologischen Schichten sowie die soziale Organisation zieht, um Distanz zu ermöglichen. Dazu wird das digitale »Drin-Sein« mithilfe des Performens affirmiert, um es zugleich durch die Überspitzung mit Momenten der Distanzierung zu versehen. Indem nämlich die parasitä- ren Übertreibungen einen Zustand des Schwankens zwischen Irritation, Ablehnung und Zustimmung auslösen, sollten der Selbstbezüglichkeit des Spekulierens Risse zugefügt und so im Dazwischen Distanz gewonnen werden, damit Spekulieren in seinen Wirkungen nachvollziehbar werden kann. Die Vermutung ist, dass dem Spekulieren auf diese Weise nicht nur kulturelle Bereiche der Reflexion entgegenstehen, sondern zudem ex negativo aus der Spekulation über die Spekulationen Methoden und Konzepte für alternative Gestaltungsweisen und Denkfiguren ermöglicht werden, die an Erleben und Erfahrungen getestet sind. 4.2 Konkretion. Denkfiguren performen Wissenschaftliche oder ästhetische Spekulationen verstehen sich als Denkfiguren, die nicht unmittelbar in die Wirklichkeit übersetzt werden, sondern zu einem Umdenken normalisierter sozialer und technologischer Ordnungen anregen wollen. Als Denkfiguren sind sie allerdings zugleich anfällig für ein Abdriften in die Eigendynamik des spekulierenden Fa- bulierens sowie in die Lust am Unkonventionellen von Spekulationen und Szenarien. Vor diesem Hintergrund wird hier vorgeschlagen, Labs durchzuführen, in denen z. B. die Theorien der kritischen künstlerisch- wissenschaftlichen Spekulationen durchgespielt werden. Es ist nämlich leicht zu sagen, dass alle Menschen gleich seien oder Ausgrenzung ab- geschafft gehöre; was dies aber konkret bedeuten könnte, bleibt offen. Es geht mithin darum, eine Widerständigkeit gegen Spekulation und allgemeinen Szenariorismus herzustellen, indem den Denkmodellen und ihrer Selbstbezüglichkeit z. B. physische Umsetzungen als Reibungen entgegengehalten werden. An die Stelle tendenziell immer selbstbezüg- lichen Spekulierens hätte zudem die Imagination zu treten, wie die Welt aus der Perspektive anderer aussehen könnte und welche Wirkungen eigene Urteile auf die Gemeinschaft haben. 4.3 Mediokrität statt Kritik Kritik wurde hier als Zwangsapparat der Vermittlung von Medialität so- wie der Kontingenzbewältigung dekonstruiert. Vor diesem Hintergrund kann nicht weiterhin auf moderne, digitale oder kritische Kritik gesetzt 176 Martina Leeker werden, um Widerständigkeit und Reflexion als Grundlage für soziale und technologische Veränderungen zu gewährleisten. Um diese Ziele zu erreichen wird vorgeschlagen, Kritik als Vermittlung von Medialität zu affirmieren und sie zu radikalisieren, indem sie durch Mediokrität ersetzt wird. Mit der Affirmation von Medialität werden nämlich, erstens, Zwangssysteme der Vermittlung und damit z. B. eindeutige und fixe Welt- oder Gesellschaftsordnungen unterlaufen und ihnen Kontingenz, d. h. Veränderbarkeit, entgegengestellt. Diese konsequente Akzeptanz von Vermitteltheit impliziert auf dieser Grundlage, zweitens, eine ge- nuine Mäßigung von Machtmechanismen. Mediokrität steht schließlich, drittens, für eine allgemeine und unhintergehbare Mittelmäßigkeit, mit der soziale Ordnungen und Politiken ausfasern und in unausgesetzte Aushandlungen von Nähe und Distanz, Ein- und Ausgrenzung sowie Ressourcenverteilungen überführt werden. Es geht folglich um eine me- dienwissenschaftlich grundierte Haltung, der Widerstand und Reflexion eingeschrieben sind. Mediokrität ist gerade in digitalen Kulturen ein probates Konzept für Irritation und Unruhe, da sie sich aus Elitismus konstituieren. Dies zeigt sich z. B. an der Kultur von Start-ups, am Ausbau von Eliteuniversitäten oder am Wettkampf um schnelle und umfassende Digitalisierung. Me- diokrität als unabdingbare Vermitteltheit setzt jenseits des Elitismus an und verweist elitäre, ein- und ausgrenzende Machtverhältnisse darauf, dass Existenz immer schon kontingent und variabel ist. Mediokrität drängt zudem zur Mäßigung, da sie für eine Einsicht in die medien- technologische Bedingtheit sowie in die Politik des Elitismus steht. Elitentum dient nämlich vor allem ökonomischen und biopolitischen Zwecken und ist auch für die Eliten selbst nicht ein Vorteil, sondern eine Regierungsweise. Auf dieser Grundlage sollten dann Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung immer schon fragwürdig sein und als nur temporäre Konstellationen aufscheinen, die immer wieder umgestaltet werden. Eine positive Haltung zu Mittelmäßigkeit würde mithin bedeuten, die eigene Relativität zu affirmieren und deren Potenziale zu entdecken. Mediokrität kann und soll Höchstleistungen nicht ausschließen, sie aber befragbar machen. Des Weiteren führt das Wissen um Mediokrität zu einer Anerkennung der Diversität von Lebensentwürfen und Forschung, die sich ob ihrer Relativität nicht ausschließen, sondern neben- und miteinander existieren können. Spekulieren kann in digitalen Kulturen, so sollten die Erörterungen gezeigt haben, nicht a priori kritisch sein, da diese Tätigkeit und Methode deren technologische, epistemologische und soziale Konstitution verdop- pelt. Es gilt vielmehr, dem Spekulieren so weit wie möglich ausgehend Speculate-as-speculate-can 177 von einer Analyse von dessen genealogischen, technologischen, episte- mologischen und psycho-technologischen Bedingungen und Effekten zu widerstehen. Andere Methoden und Konzepte für die Ordnung einer unsicheren und undurchdringlichen Welt wären zu entwickeln und zu testen, um ihnen Spekulation als Kritik zumindest zur Seite zu stellen. Literaturverzeichnis Ahmed, Sara: Living a Feminist Life, Durham / London 2017. Braidotti, Rosi: »Affirmation versus Vulnerability. On Contemporary Ethical Debates«, in: Symposium. Canadian Journal of Continental Philosophy 10 (2006), H. 1, S. 235–254. Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt a. M. 2014. Chandler, David: Resilience. The Governance of Complexity, New York 2014. Chandler, David / Julian Reid: The Neoliberal Subject. Resilience, Adaptation and Vulnerability, London 2016. Deutscher Bundestag / Wissenschaftliche Dienste: Reallabore, LivingLabs und Citizen Science. Projekte in Europa, 2018, https://www.bundestag.de/resource/blob/563290/9d6da7676c82fe6777e6df85c7a 7d573/wd-8-020-18-pdf-data.pdf (aufgerufen am 08.03.2019). 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Statt der endlosen Vermehrung technischer Spielereien liegt die eigentliche Aufgabe in der Entwicklung von Technologien, die den ungleichen Zugang zu reproduktiven und pharmakologischen Werkzeugen, ökologischen Katastrophen, ökonomi- scher Instabilität sowie gefährliche Formen der unbezahlten / unterbezahlten Arbeit bekämpfen können.1 Baruch de Spinozas berüchtigte Frage »Was vermag ein Körper?« und ihre Reformulierung durch Gilles Deleuze erfährt heute im Zuge biotechnolo- gischer Dringlichkeiten eine spekulative Aktualisierung, die, wenn man dem xenofeministischen Kollektiv Laboria Cuboniks folgen will, heißen könnte: »Was vermag ein techno-Körper?« Denn wenn wir den Begriff der Spekulation nicht nur als eine Denkweise der Metaphysik begreifen, sondern auch als Notwendigkeit eines Denkens diesseits des Humanen, dann stellt die Spekulation auch eine Frage danach, wie man die techni- schen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts, die unrealisiert bleiben, im Sinne einer Transformation von Körpern gegenhegemonial aneignen und umgestalten kann. Während Technik sich heute dadurch zu definieren scheint, das Mögliche an Ressourcen auszuschöpfen, um Möglichkeits- räume zu schließen und dadurch spekulative Zukünfte berechenbar zu machen, gibt es heute vor allem eine Reihe neo-materialistischer und feministischer Ansätze, die für einen anderen Begriff der Spekulation plädieren. Es geht hier um eine Spekulation im Sinne eines ›Als-ob‹, das eher als ein Vortasten zu definieren ist und einer ökonomisch und nega- tiv besetzten prognostischen Wertschöpfung zuwiderläuft. Dem folgend möchte ich Spekulation als Praxis und als Begriff verstehen, die bzw. der widersprüchliche Szenarien produzieren, Heterochronien testen und an- dere Körper erproben kann. Entsprechend knüpfe ich in diesem Beitrag an ein Spekulationskonzept an, das durch ein nicht-anthropozentrisches Denken navigieren soll – also diesseits der Spaltungen von Mensch und Materie, Körper und Geist sowie Natur und Kultur, die letztlich ein mit sich selbst identisches Menschenbild idealisieren. Das bedeutet vor allem, dass ich mich – abseits der rationalistisch-idealistisch geprägten Speku- 1 Laboria Cuboniks: »Xenofeminismus«, S. 17. Molekulare Prothesen 179 lation eines im weitesten Sinne ›begreifenden Erkennens‹ – den Speku- lationen mit Körpern widmen möchte: Körper, die mit einer »erhöhten Affekttemperatur«2 ausgestattet sind. Brian Massumi spricht auch von intensiven Körpern bzw. von Intensitäten als »nonconscious, never-to-be- conscious autonomic remainder«,3 die innerhalb eines Organismus eng mit seinem somatischen System verschränkt sind. Sie erzeugen Kurzschlüsse zwischen Dingen und Körpern sowie zwischen Organischem und Anor- ganischem, unterbrechen aber zugleich lineare Sinnzusammenhänge und narrative Sinnstiftung (vgl. AoA 85). Affektive Intensität ist der Emotion vorgängig oder nachrangig, jedoch niemals deckungsgleich mit ihr. Sie ist vor-subjektiv, die immer auch mit anderen menschlichen Subjekten, Tieren oder materiellen Dingen ein relationales Verhältnis eingeht: »Both levels, qualification and intensity, are immediately embodied. Intensity is embodied in purely autonomic reactions most directly manifested in the skin – at the surface of the body, at its interface with things.« (AoA 85) Die Haut als Affektträgerin und semipermeable Membran ist damit der Ort der somatischen Verschaltungen mit anderen Subjekten, Tieren, aber auch mit Dingen, Objekten, chemischen Präparaten und anderen giftigen oder heilenden Substanzen, die den Kontakt zu uns suchen. Dies führt mich zum Gegenstand dieses Beitrags. Denn ein solch poröses, affektiv-offenes und spekulatives Körper-Set ist Gegenstand des Philosophen* und Queer- Theoretikers* Paul B. Preciado in Testo Junkie. Sex, Drogen, Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie (2016). Grundlage des Buchs ist eine Art Selbstprotokoll Preciados – damals noch Beatriz Preciado4 – ihrer*seiner* 236 Tage andauernden Selbstbehandlung mit Testosteron (C19H28O2), das als Gel über die Haut aufgetragen wird. Dabei ist eine der Besonderheiten, dass Autor*in, Protagonist*in und Gegenstand des Buchs zusammenfallen: Und was mich angeht: weder testo-Girl noch techno-Boy, ich bin die Stelle, an die C19H28O2 angeschlossen werden kann. Aber gleichzeitig bin ich das Terminal eines staatlichen Kontrollapparats als auch ein Fluchtweg, durch den man dem Kontrollsystem entkommen kann. Ich bin das Molekül und der Staat, ich bin Laborratte und das wissenschaftliche Untersuchungsobjekt. Ich bin der Rückstand einer chemischen Operation. Ich bin der zukünftige Rückstand, gemeinsamer künstlicher Vorfahre der Entwicklung einer neuen Gattung in den nicht endenden aleatorischen Prozessen der Mutation und genetischen Drift. Ich bin T.5 2 Braidotti: Politik der Affirmation, S. 30. 3 Massumi: »The Autonomy of Affect«, S. 85. Nachweise im Folgenden mit Sigle AoA und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 4 Die englische und die spanische Ausgabe von Testo Junkie sind unter dem Vornamen Beatriz erschienen. Da Preciado heute als Mann* lebt, habe ich mich in diesem Text für die männliche* Form entschieden. 5 Preciado: Testo Junkie, S. 147. Nachweise im Folgenden mit Sigle TJ und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 180 Georg Dickmann Wird der Körper hier als ein mit techno-pharmazeutischen Schnittstellen versehener Körper beschrieben, so handelt es sich bei Testo Junkie auch nicht einfach um einen Text, der einerseits aus einem Theorieteil und andererseits aus dem Tagebuch einer Selbstmedikation besteht. Das Buch ist vielmehr ein Textgewebe, das sich aus Genres, Stilen, Theo- rieschnipseln, Behauptungen und Disziplinen zusammensetzt, die zu einem monströsen Biotop heranwachsen. Programmatisch heißt es im ersten Kapitel: Bei diesem Buch handelt es sich nicht um meine Memoiren. Das Buch pro- tokolliert die vorsätzliche Selbstvergiftung des Körpers und der Affekte von P. P. Eine Vergiftung mit synthetischem Testosteron. Ein Körperessay. Und dennoch eine Fiktion […], eine somapolitische Theorie des Selbst oder eine Selbsttheorie. (TJ 11) Testo Junkie ist neben dem Selbstversuch-Protokoll eine queere Diskurs- geschichte des Hormons, ein Postporno sowie eine sozialphilosophische Analyse einer pharmapornografisch operierenden Macht, die sowohl Michel Foucaults Theorem der Biopolitik als auch Deleuzes Konzept der Kontrollgesellschaft auf die Probe stellt. Das Ziel der Selbstverabreichung von Testogel ist jedoch nicht die ›Geschlechtsanpassung‹ im Sinne eines medizinisch-korrigierenden Eingriffs, vielmehr das kritische Ausloten einer chemisch-prothetischen Aufrüstung und die Überwindung eines binären Körpermodells. Die Frage, die Preciado aufwirft, ist, wie soziales Geschlecht und pharmazeutische Erzeugnisse miteinander zusammenhängen. Der damit einhergehende geschlechtspolitische Einsatz besteht im Sinne Deleuzes und Félix Guattaris darin, ein ›Molekular-Werden‹ in Gang zu setzen.6 Es geht also nicht darum, den molaren Wechsel von Frau zu Mann zu ermöglichen, sondern die molekularen Grundlagen, auf denen die Produktion des sexuellen Unterschieds basiert, mittels Testo-Gel so zu manipulieren, dass diese Binarismen als »somapolitische Fiktionen« (TJ 149) und als körperliche Effekte technischer Normalisierungsprozesse sichtbar werden. Konkret heißt dies, dass sich Preciados Intervention gegen das Gesetz richtet, das Frauen untersagt, das Präparat zu erwer- ben bzw. ohne eine ärztlich unterstütze Hormontherapie einnehmen zu dürfen. Das Testosteron wird auf diese Weise erst illegalisiert und zu einer verbotenen Droge gemacht. Frei erhältlich für Frauen ist nur Östrogen, wodurch die Geschlechterdichotomie und die damit einher- gehenden Normalisierungen und Machteffekte aufrechterhalten werden. 6 Vgl. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus, S. 662. Molekulare Prothesen 181 Diese Normalisierung bezeichnet Preciado als das pharmapornografische Regime. Preciado greift mittels der Selbstbehandlung bewusst in diesen regulierenden Prozess ein, um – und das wäre die These dieses Beitrags – zu spekulativen Formen geschlechtlicher Verkörperung zu gelangen, die weder männlich noch weiblich sind, sondern sich gerade in einem flirrenden Dazwischen befinden: Ich will mich mit Testosteron nicht in einen Mann verwandeln, ich will meinen Körper nicht transsexualisieren, ich nehme Testosteron, weil ich Verrat an dem üben will, was die Gesellschaft aus mir zu machen versucht. Ich will meiner low-tech-transgender Identität aus Dildo und bewegten Texten und Bildern eine molekulare Prothese hinzufügen. (TJ 18) Vor dem Hintergrund der hier kurz skizzierten Theorie Preciados wid- met sich dieser Beitrag der »molekularen Prothese« in zweierlei Weise. Einerseits geht es darum, die Schwierigkeiten des double bind zwischen der eigenen Situiertheit Preciados im Selbstversuch und einer sozial- philosophischen Analyse des pharmakologischen Dispositivs sichtbar zu machen. Andererseits stellt die Untersuchung die Frage danach, wie eine Gegenaneignung des pharmapornografischen Regimes über die chemisch-stoffliche Ebene aussehen kann und wie Preciado diese mittels einer Selbsttechnik, die sich einem »Erdbeben des Testosterons« (TJ 23) aussetzt, schreibend vollzieht. Pharmamacht: essbare Panoptiken Preciados weitreichende Behauptung ist, dass sich zu Beginn der 1960er Jahre im Zuge unterschiedlicher biotechnologischer Entdeckungen und den damit einhergehenden Modulationen ein neues bio-technologisches Subjekt ausbildet, das zunehmend von pharmakologischen Substanzen regiert wird. Der sozialphilosophische Ansatz besteht darin – ausgehend von dem, was Deleuze als die nachmoderne Regierungsweise der Kon- trollgesellschaften7 bezeichnet – aufzuzeigen, dass das zeitgenössisch- postfordistische System nicht mit Normalisierung, Disziplin oder Strafe operiert, so wie Foucault es in Überwachen und Strafen (1975) beschreibt, sondern mit intimeren und nahezu unsichtbaren Mitteln.8 Obschon in dieser These eine scharfe Kritik an Foucaults ›Biomacht‹ angelegt ist, 7 Vgl. Deleuze: »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«. 8 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. 182 Georg Dickmann scheint Preciado Foucault dennoch affirmativ-kritisch in die Gegenwart extrapolieren zu wollen. Biomacht agiere heute nicht mit einer disziplinarischen Härte von au- ßen, sondern in intimer, kleiner und verflüssigter Form. Die Regulierung der Körper operiert heute wie aber auch als ein Molekül oder Hormon, das sich an das einzelne oder kollektiv-vergeschlechtlichte Immunsystem heftet, um es von innen zu regieren. Die gegenwärtige biopolitische Si- tuation ist einerseits auf der biotechnologischen Ebene pharmakologisch und andererseits auf der semiotischen Ebene pornografisch bestimmt: Wenn sich in der Disziplinargesellschaft das Verhältnis von Körper und Macht nach dem Modell von Architektur und Orthopädie verstehen lässt, dann ist dieses Modell in der pharmapornographischen Gesellschaft das der auf den Körper zielenden mikroprothetischen Operationen: die Macht wirkt durch ein Molekül, das sich in unser Immunsystem integriert. (TJ 381) Beide Ebenen sind irreduzibel miteinander verschränkt und werfen neue biopolitische Fragestellungen auf: Was und wie wird mittels potenter oder nicht-potenter Substanzen regiert? Wie kommen Heilmittel und Gifte zum Einsatz? Welche biotechnologischen Körper sind tatsächlich möglich? Und vor allem: Wie werden vor diesem Hintergrund Kräfte und Gegenkräfte mobilisiert? Die Grundannahme bei der Beschreibung des pharmapornografischen Regimes ist, dass die Herstellung, Regulierung und Zerstörung von Subjektivität nicht (mehr nur) über äußere und harte Architekturen, sondern vielmehr durch innerkörperliche, miniaturisierte und chemische Machtformationen geschieht. Laut Preciado sind Körper also nicht (makro)prothetisch überwacht, sondern pharmakologisch durchdrungen. Es sind also nicht mehr die rigiden äußeren Strukturen, die uns einhegen, sondern kleine, flüssige und wie Preciado schreibt, »essbare Panoptiken« (TJ 203–208), die uns freisetzen, anstatt uns einzusperren. Die Antibabypille ist für Preciado ein solches semiotisch- materielles Dispositiv und bekommt eine besondere Prominenz in seinen* Untersuchungen. Sie ist vor dem Hintergrund der endokrinologischen Experimente des Kalten Krieges in den 1960er Jahren geradezu ein Pa- radebeispiel für die biopolitischen Effekte des pharmapornografischen Regimes.9 Als Instrument biotechnischer Kontrolle sollte es heterosexuellen Frauen ermöglichen, ihre eigenen Körper zu regieren und gar zu befreien. 9 In den 1960er Jahren wurde die Antibabypille von US-amerikanischen Pharmakonzernen armen Frauen aus Puerto Rico verabreicht, um deren Geburtenrate zu kontrollieren – eines von vielen medizinhistorischen Beispielen von Rassifizierung. Nachdem die Geburtenrate in Puerto Rico rapide fiel, kam die Pille auf den restlichen US-amerikanischen Markt (vgl. TJ 194). Molekulare Prothesen 183 Mittels der Pille ist ein neues Paradigma der Subjektkonstitution der Frau realisiert. Die Einnahme der Pille bringt eine biologische Rekonfiguration und ein spezielles Körperdesign hervor, das dem hormonellen Manage- ment unterstellt wird. Es braucht nach Preciado keine institutionelle Macht, um den Einzelkörper bzw. den kollektiven Körper zu regieren. Die Regulierung geschieht in Eigenregie mittels Blick auf den Kalender, der das hormonelle Management und das Design des eigenen Körpers konstruiert – und damit sexuelle Aktivitäten programmiert. Anhand von David P. Wagners DialPak-Design des Pillen-Dosierers zeigt Preciado, dass die Pille das Resultat zweier Operationen war, nämlich von der […] Verräumlichung der Zeit und Camouflage. Der Dosierer verräumlicht Zeit, indem er die Daten der Tabletteneinnahme auf einer zirkulären Box sichtbar macht. Wie die Telefonwählscheibe, das populärste Kommunikations-Tool der Jahre des Kalten Krieges, etabliert die Drehbox abstrakte Verhältnisse zwischen drei Systemen – Löcher, Zahlen und vernetzte Telefone im Falle des Telefons; Löcher, Pillen und Daten des Menstruationszyklus für den DialPak. Der Dosierer teilt Dauer in sukzessive Segmente, jedes von ihnen indiziert eine bestimmte Zeit. (TJ 198) Hiermit ruft Preciado zweifellos Foucaults Analyse der »gelehrsamen Körper«10 aus Überwachen und Strafen auf und überschreibt im gleichen Zuge sein Konzept der ›Disziplinarmacht‹. In der von Foucault, in Anleh- nung an Jeremy Benthams utopischem Gefängnismodell, beschriebenen panoptisch-organisierten Machtformation werden die Körper einem anatomisch-chronologischen Handlungsschema unterworfen, das Ge- fängnisarchitektur und Körperbewegungen miteinander synchronisiert und jedem Körper einen Platz und eine Zeit zuweist. Preciado wendet dieses Prinzip auf den Macht-Wissen-Komplex der Antibabypille an. Die Antibabypille wird dadurch zu einem hormonalen, privaten Dispositiv, das durch den chemischen Kalender eine ›Normalität‹ und damit eine Notwendigkeit der Einnahme erzeugt. Darüber hinaus betont Preciado den camouflierten Charakter der Verpackung, in der »das weibliche Geheimnis bewahrt werden kann« (TJ 200). Der Dosierer hat die Größe eines Make-Up-Sets, das Frauen diskret in ihrer Handtasche mitführen können. Nach Preciado kehrt mit der Pille und ihrem Design Benthams Modell eines perfekten Gefängnisses in einer Miniatur-Version und unter anderen Vorzeichen zurück. 10 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 131. 184 Georg Dickmann Abb.: Das Regime der Disziplinierung (rechts) und das Regime des Pharma- pornografischen (links) Das Panoptikum wird zu einer Tablette. Als leicht tragbares, indi- vidualisiertes und chemisches Dispositiv ist es jedoch, wie Preciado unterstreicht, nicht einem disziplinarischen Macht-Wissen-Komplex unterworfen, sondern materialisiertes Modell einer neuen biochemischen (Selbst-)Kontrolle (vgl. TJ 207). In Abgrenzung zu Foucaults Macht der Internalisierung durch das Gefängnis oder die Psychiatrie ist laut Pre- ciado heute die »häusliche Mikroprothese« (TJ 200) das vorherrschende Dispositiv und die damit verbundenen Selbstüberwachungsmechanismen, die nahezu unbemerkt das fortpflanzungsfähige Subjekt regulieren. Interessant ist der Prothesenbegriff, der durch den Text hindurch gera- dezu inflationär gebraucht wird. Die Pille und auch andere chemische Erzeugnisse werden »hinzugefügt« (TJ 13), durch sie wird etwas »aus- gelöst« (TJ 32), sie werden in den Körper »implementiert« (TJ 33), sie »erweitern« ihn, »kompensieren« (TJ 199) und »modifizieren« (TJ 390). Durch die verwendeten Verben tritt hervor, dass es sich bei den che- mischen Prothesen um Werkzeuge handelt, die von außen aufgetragen werden – die aber von innen eine körperliche Extension und Expansion ermöglichen sollen. Man könnte hier einerseits annehmen, Preciado begreife den Menschen ähnlich wie Sigmund Freud als »Prothesengott«, dessen »Hilfsorgane«11 ihm äußerlich bleiben, wodurch das Eigene und 11 Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 222. Molekulare Prothesen 185 das Fremde sich nur dichotom begegnen. Andererseits und vor dem Hintergrund dessen, dass nach Preciado pharmapornografische Macht wie aber auch als ein Molekül in unser System eindringt – also eben nicht äußerlich bleibt – eröffnet sich ein immunologisches Prinzip auf das Prothetische, das das Eigen- und Fremd-Verhältnis invasiv denkt und nicht als eine harte Aufstülpung des Einen auf das Andere. Die Immu- nisierung folgt, ähnlich dem Ansatz Roberto Espositos, dem Schema des pharmakons, das nicht vom radikalen Ausschluss des Anderen aus dem Eigenen ausgeht, sondern von seiner unbedingten Hereinnahme und seiner Verwaltung.12 Ebenso deckt sich diese These der Mikroprothese mit Donna Haraways Vorhersage einer »Miniaturisierung der Macht«13. Laut Preciado konnte sich Macht nie zuvor so schnell im Gesellschaftskörper ausbreiten wie im Falle des pharmapornografischen Regimes. Denn diese Art der Kontrolle sei privat, demokratisch, essbar, trinkbar und leicht anzuwenden. Und obschon die Substanzen von außen zugefügt werden, geht Preciado davon aus, dass der Körper selbst die Macht begehrt und danach sucht, sie »zu essen, sie zuzuführen, überzustreifen, mehr, immer mehr, durch alle Löcher, auf allen möglichen Anwendungswegen« (TJ 208). Es gehe dem pharmapornografischen Regime nicht nur darum, wie es noch Foucault mit dem Biomacht-Begriff beschreibt, das Leben anzuleiten und es zu maximieren, sondern um die Erlangung pharmakologischer Kontrolle über das Gesamte des miteinander verbundenen Techno-Lebens. Preci- ado behauptet, dass neben dem eben skizzierten Dispositiv der Pille, die gesamte globale Ökonomie auf der Zirkulation und Produktion von pharmakologischen Akteur*innen basiert, die ein globales Netzwerk bilden, das über die Kontrolle des Einzelsubjekts hinausreicht. Wir sind durchflutet von technisch transformierten Organen, Flüssigkeiten, […] Zellen […], von der globalen Verbreitung pornographischer Bilder, der Entwicklung und Verbreitung neuer legaler und illegaler synthetischer psychotroper Substanzen (Lexomil, Viagra, Speed, Ecstasy, Poppers, Heroin, Omeprazol…), von Zeichenströmen und digitalen Informationskreisläufen. Viren, Hormone, Stimmen, Bilder, In- ternet, Medikamente werden als Werte in die globale Erregungsmaschinerie integriert. (TJ 35) 12 Vgl. dazu Esposito: Immunitas; Esposito: »Das Paradigma der Immunisierung«. 13 Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs«, S. 38. Haraway beschreibt mit der »Miniaturisierung der Macht« US-amerikanische cruise missiles (Lenkflugkörper), in denen immer kleiner werdende Bauteile verwendet werden und die durch ihre nahezu unsichtbare Form eine noch bedrohlichere Macht darstellen. 186 Georg Dickmann Bei dieser exzessiven Reihung der Stoffe ließe sich mit Jane Bennett auch von einem »swarm of vitalities«14 sprechen, in denen sowohl menschli- che als auch nicht-menschliche Akteur*innen im angeregten Austausch stehen. Chemische Erzeugnisse, so wie sie Preciado hier beschreibt, sind nicht nur der Pharmazie oder der Medizin zugeordnet, sondern auch Bestandteile von komplexen Aussagesystemen, die über das rein Naturwissenschaftliche und Therapeutische hinausgehen. Im Sinne einer Poetologie des Wissens15 verlaufen auch chemische Erzeugnisse entlang Äußerungsweisen unterschiedlicher Wissensordnungen und können im wissenschaftlichen Experiment, in einer staatlichen Verordnung, in einem moralischen Lehrsatz oder auch im literarischen Text gleichermaßen er- scheinen. Preciados Behauptung wird insbesondere anhand der prekären, seltsamen, giftigen oder heilenden Stoffe in Science-Fiction-Literatur exemplifiziert. Von der Glücksdroge Soma aus Aldous Huxleys Brave New World (1932) und Karin Boyes Wahrheitsserum in dem gleichnamigen Roman Kallocain (1940), über die chemischen Bioadapter in William Gibsons Neuromancer (1984) bis zu den Kollektivdrogen in Vladimir Sorokins Telluria (2013) und Leif Randts Planet Magnon (2015) wimmelt es in der Science-Fiction-Literatur von pharmakologischen Substanzen, die den einzelnen und den Kollektivkörper subjektivieren und damit zwangsläufig weitreichende sozialphilosophische bzw. pharmaporno- grafische Fragestellungen aufwerfen.16 Diese prozesshafte Artikulation von Materie und Diskurs, die sich in der technischen und wissenschaftlichen Fantastik ablagert, scheint auch Preciado zu fokussieren, wenn er* anhand von chemischen Artefakten die Frage danach stellt, wie sich eine agency der Materie denken lässt, die nicht auf Bewusstseinsoperationen des Subjekts reduzierbar ist und zugleich nicht in eine präsenz- und substanzmetaphysische Konstruktion zurückfällt. Wie es oben heißt, verschränken sich semiotische Elemente, Zeichenströme, Informationskreisläufe und Bilder mit synthetisch erzeug- ten Artefakten im pharmapornografischen Regime. Weder Diskurs- und Bilderpraktiken noch materielle Phänomene bzw. Erzeugnisse der Chemie haben dadurch eine Vorgängigkeit: Als materiell-semiotische Agent*innen sind sie nicht auf das jeweils andere zu reduzieren und artikulieren sich nur in ihrer Relationalität und Interferenz. 14 Bennett: Vibrant Matter, S. 30. 15 Vgl. Vogl: »Einleitung«, S. 11. 16 Vgl. mein Dissertationsprojekt mit dem vorläufigen Titel Pharmakofictions. Spekulationen mit prekären Substanzen in Philosophie und zeitgenössischer Science-Fiction. Molekulare Prothesen 187 Pornomacht: Erregung, Frustration, Erregung Das pharmapornografische Regime operiert auf einer semiotischen Ebene, die sich mit der materiellen verschränkt. Die pharmakologische Kontrolle der Reproduktion ist nach Preciado eng an sexuelle Praktiken geknüpft: »Entsprechend gibt es keinen Porno ohne Antibabypille und ohne Via- gra. Oder umgekehrt, es gibt kein Viagra und keine Pille ohne Porno.« (TJ 51) Im pharmapornografischen Regime werden sowohl die Psyche als auch die Kategorien Sex und Gender biotechnologisch designt bzw., wie oben zitiert, in eine »Erregungsmaschinerie« eingespeist. Wäh- rend die Pharmaindustrie die Pille, Prozac, Viagra und andere Stoffe erzeugt, produziere die Pornoindustrie dazu komplementäre Bilder von Blowjobs, Penetrationen und Stellungen für ein primär heterosexuelles und männliches Publikum. Pharmakologische Kontrolle verbinde sich so mit Bilderpraktiken der Pornografie. Preciado bezeichnet das als ›Pornomacht‹. Pornomacht sei ein weiteres Element des Spektakels der Kulturindustrie, das tele-medial vermittelt wird: Performance, Virtuosität, Theatralisierung, technische Reproduzierbarkeit, Digitalität und audio- visuelle Verbreitung sind ihre Koordinaten (vgl. TJ 265–272). Ziel dieser semio-technischen Dimension sei es nicht unbedingt, immer mehr Lust zu produzieren, sondern die Verwaltung und die Aufrechterhaltung des Erregung-Frustration-Erregung-Kreislaufs (vgl. TJ 40–43). McKenzie Wark weist darauf hin, dass es in Testo Junkie neben der offensichtlichen Nähe zu Deleuzes und Guattaris antiödipaler Begehrensphilosophie auch eine Verschwisterung mit Jean-François Lyotards Libidinöser Ökonomie gibt, die ebenfalls auf einer digitalen und molekularen Ebene funktioniert, um Sex, Geschlecht und Subjektivität postindustriell zu produzieren.17 Die erzeugten Bilder mit stimulierenden Eigenschaften setzen sowohl bei den Produzent*innen als auch bei den Konsument*innen biochemi- sche und somatische Lustmechanismen frei. Das Dispositiv des Pornos formiert sich damit aus einem bio-chemischen und einem optischen Teil, die die unendliche Erregung der Konsument*innen führen. Gerade durch die filmischen Möglichkeiten der Schnitt- und Montagetechnik wird eine Illusion der Erschöpfungslosigkeit erzeugt und der Eindruck vermittelt, dass es kein Ende gibt. Gleichzeitig läuft alles auf die Ejakulation des Mannes hinaus, womit Preciado auch die teleologische Dimension des Pornos betont. Während z. B. Marquis De Sade oder Georges Bataille eine auf Dauer gestellte Überschreitung beschreiben, erscheint die Orgie im herkömmlich heteronormativen Porno spröde und produziert 17 Vgl. McKenzie: »The Forces of Reproduction«; vgl. auch Lyotard: Libidinöse Ökonomie. 188 Georg Dickmann einen »spermatischen Platonismus« (TJ 268), in dem letztlich nur der Cumshot real ist und damit allerhöchstes Ziel. Obgleich der Porno nach wie vor ein Tabu ist, besteht seine Logik nicht darin Regelverletzungen vorzunehmen, wie es Sade oder auch Bataille beschreiben, sondern das Erregungs-Frustrations-Erregungs-Kapital aufrechtzuerhalten (vgl. TJ 40–43). Dieser Kontrollform gehe es letztlich darum, die orgasmischen Kräfte anzuleiten, zu kanalisieren und diese in Wert zu setzen. Preciado bezeich- net diese Kraft in Anlehnung an Spinoza auch als potentia gaudendi.18 Als eine psychische und somatische Kraft, die ohne Geschlechts- oder Organzugehörigkeit ein immanentes, unendliches und relationales Ver- mögen bildet, hat sie die Eigenschaft, alles in Genuss zu übersetzen. Was bedeutet, dass die potentia gaudendi eine Kapazität besitzt, erregt zu sein, zu erregen oder mit jemandem erregt zu sein (TJ 43). Die Begehrenslogik, die das Erregungs-Frustrations-Erregungs-Kapital umfasst, wird so in einem dynamischen und oszillierenden Verhältnis von Mangel und Pro- duktion denkbar. Auf die Ökonomie gewendet, bedeutet dies vor allem, dass die Konsument*innen immer wieder von neuen Begehrlichkeiten erfasst werden, die sich niemals erfüllen dürfen. Das Nichterreichen oder Verfehlen des Begehrensobjekts ist zentral für die Mangellogik des Begehrens. Die Operationen des gegenwärtigen Biokapitalismus bestehen für Preciado darin, aus dieser Kraft Wert zu schöpfen und den Genuss produzierenden Körper in den Dienst der Produktion des Kapitals zu stellen (vgl. TJ 121). Gleichzeitig besitzt Begehren für Preciado eine produktive Dimension, die in spinozistischer Tradition affirmiert werden kann – als anarchische, unregulierte und damit auch subversive Kraft. Preciados Einschätzung, dass Sex und Markt intime Konvergenzen bilden, ist kein Novum. Jedoch wird daran noch einmal deutlich, dass sich die Dringlichkeit sexualpolitischer Fragestellungen in neoliberalen Diskursen, die sich vor allem mit neoreaktionären Rhetoriken verschrän- ken, verstärkt.19 Wie Jule Govrin ausgehend von Antke Engel betont, behauptet der gegenwärtige Kapitalismus eine ›natürliche‹ Stimmigkeit zwischen sexuellem Pluralismus und Marktpluralismus, zwischen se- xueller Freiheit und Marktfreiheit. Es ginge dabei eben nicht um die Er- schließung von neuen Konsument*innengruppen, sondern um die Suche nach sexuellen, queeren Subjektivitäten, die der neoliberalen Ordnung 18 Preciado geht hier von Baruch de Spinozas potentia-Begriff aus, der ›Kraft zu handeln oder Kraft zu existieren‹, der sich wiederum auf den griechischen Begriff der dynamis bezieht. Vgl. dazu Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. 19 Vgl. dazu auch Govrin: Sex, Gott und Kapital. Molekulare Prothesen 189 dienlich sein können.20 Preciado unterstützt somit bezüglich der Regie- rungsweise von Sexualität die Thesen Foucaults, wenn er* aufzeigt, dass die Herausbildung von Sexualität selbst erst als diskursives Dispositiv regierungstechnischer Effekte zu begreifen ist. Foucault folgend gibt es auch für Preciado keine Macht ohne Widerstand. Das pharmapornogra- fische Regime sei wie auch andere Regime brüchig und öffne sich gerade durch die dynamisierten und verflüssigten Subjektivierungsweisen für Indienstnahmen, Umwertungen und Aneignungen. Dem Testo das Wort überlassen Wie Kathrin Peters auf der im November 2018 stattgefundenen Tagung »Ecologies of Gender« an der FU Berlin in ihrem Vortrag Politische Drogen pointiert, ähnelt das Protokoll Preciados stilistisch an einigen Stellen einer tagebuchartigen Selbstvergewisserung.21 Dennoch betreibt Testo Junkie, so Peters weiter, keinen Identitätsdiskurs, sondern verfolgt einen differenztheoretischen Ansatz, indem Identität immer schon als kompo- niert und konstelliert gedacht wird. Diese Einschätzung trifft den Kern insofern, als dass es sich um eine mannigfaltige und intraaktive Entität handelt, bestehend aus chemischen Substanzen, Texten, Körpern und Bildern, die auch für sein* Schreiben und seinen* Umgang mit Theorie nicht folgenlos bleibt: »Ich habe keine Wahl, ich muss meine Klassiker revidieren und meine Theorien diesem Erdbeben des Testosterons ausset- zen. Ich muss akzeptieren, dass die Verwandlung, die sich in mir ereignet, die Metamorphose einer Epoche ist.« (TJ 23) Das »Ich« des Textes ist keine auktoriale Instanz, die sich bei dem solipsistischen Selbstversuch beobachtet und damit eine falsche Objektivität erzeugt. Es ist eine si- tuierte und dezentrierte Subjektivität, die sich in einem Spannungsfeld zwischen Subjekt und Objekt einreiht und dadurch die Überschreitung der großen Trennungen und eines mit sich selbst identischen Subjekts sucht. Dieses transversale Subjekt ist zugleich eingelassen in das phar- mapornografische Subjektivierungsregime, innerhalb dessen die eigenen hormoninduzierten, somatischen und psychischen Veränderungen beob- achtet werden – und zwar in dem produktiven Modus eines Schreibens. Dementsprechend behandelt Testo Junkie nicht nur Drogen und andere Substanzen auf einer Analyse-Ebene, vielmehr werden Textproduktion und das Schreiben in ihrer metafiktionalen Performanz selbst als Droge 20 Vgl. Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie, S. 26. 21 Vgl. Peters: »Politische Drogen«. 190 Georg Dickmann konsumierbar. Die Wirkungen von Testosteron entfalten sich somit nicht nur im Körper, bzw. werden von ihm verkörpert, sondern materialisieren sich auch im Text, der wiederum Wirkungen bei der Rezeption, also dem Konsum und der Intoxikation, entfaltet. Der spekulative Versuchsaufbau, in dem Preciado seinen* eigenen Körper einspannt, stellt also durch die Engführung von Droge und Text die Frage danach, was passiert, wenn man den Stoffen, Substanzen und der Materialität das Wort überlässt? Welches neue und vielleicht widerständige Sprechen und Schreiben entsteht, wenn Materie in einer medialen Konstellation wirksam wird? In Testo Junkie verhält es sich so, dass weder Text noch Körper oder die chemischen Artefakte einfach gegeben sind. Vielmehr werden diese Elemente zu einem geteilten Gefüge, in dem nicht die Erfahrung von In- toxikation den Vorrang bekommt, die erst nachträglich protokolliert wird, sondern die Intoxikations-Erfahrung formiert sich erst in einem delirieren- den, affektiv aufgeladenen und nicht repräsentativen Schreiben, das, wie Jean-Luc Nancy betont, »an den Körper rührt, anstatt ihn zu bezeichnen oder ihn dazu zu bringen, dass er bezeichnet«.22 Es ist also nicht das schreibende Subjekt, das sich die Substanz für das Schreiben aneignet und sie signifiziert, sondern in umgekehrter Weise schreibt die Substanz das Subjekt. Schreiben als eine ordnende Praxis, die den Gesetzen der Syntax und der Grammatik unterworfen ist, weist nicht unbedingt die Nähe zu Affekten oder dem Affektiven auf. Man könnte sogar mit der bereits zu Beginn dieses Textes erwähnten Affekttheorie Massumis so weit gehen und sagen, dass Affekte der Sprache gerade zuwiderlaufen, da sie sich in ihrem Entzug, ihrem »Mehr als der Ausdrückbarkeit der Sprache«23 aus der Signifikanz und Präsenz gegen die fixierenden und präpositionalen Eigenschaften der Sprache wenden. Doch genau in dieser Unvereinbarkeit scheint Preciado die produktive Dimension für sein* Projekt zu sehen, wenn er* schreibt, dass er* seine* Mutation und sein* Molekular-Werden nur schreibend angemessen bezeugen kann: »Das Schreiben ist der Ort meiner heimlichen Sucht und hier ist es auch, wo, zur gleichen Zeit, ein Pakt möglich wird mit Vielen, mit einer Multitude.« (TJ 57) Schreiben wird bei Preciado demnach nicht dem vermeintlich nicht zu beschrei- benden Affekt entgegengesetzt, sondern zu einer relationalen Praxis, die nicht über den Körper schreibt – ihn also nicht als Objekt des Schreibens signifiziert –, sondern den Versuch unternimmt, den affizierenden und affizierten Körper selbst zu schreiben. Der geschriebene Text materialisiert sich demnach nicht als Nachrangigkeit des Denkprozesses, sondern ist 22 Nancy: Corpus, S. 14. 23 Manning: »Das Ereignis des Schreibens«, S. 9. Molekulare Prothesen 191 ein elastisches Einfalten und Mit-Schreiben, das diesem Denkprozess nicht äußerlich ist. Deleuze nennt dies Ausdruck, also ein Schreiben, das nicht das Ergebnis von Affizierungen ist, sondern der umkämpfte Schauplatz, in dem die möglichen Verbindungen zwischen Subjekten, Objekten, anderen Texten und mit pharmakologischen Substanzen in ein Diffusionsverhältnis treten: Als ich mich für meine erste Dosis Testosteron entscheide, spreche ich mit niemandem darüber – als handele es sich um eine harte Droge. […] Ich habe kaum angefangen und benehme mich schon, als wenn ich von einer verbotenen Substanz abhängig wäre. Ich verstecke mich, beobachte und zensiere mich, ich übe mich in Zurückhaltung. Am nächsten Abend, fast zur gleichen Zeit, nehme ich zum zweiten Mal eine Dosis von 50mg. Am Tag danach wieder, das dritte Mal. […] Ich kann diesen Prozess nur schreibend angemessen bezeugen. […] In der vierten Nacht schlafe ich nicht […]. Um vier Uhr morgens schreibe ich noch, ohne das geringste Zeichen von Müdigkeit. Aufrecht vor dem Fenster sitzend, fühlen sich die Muskeln meines Rückens wie kybernetische Kabel an, die aus dem Boden der Stadt kommen, zunehmend größer werden, mein Hirn erreichen und mich mit den Planeten verbinden, die der Erde am weitesten entfernt liegen. (TJ 57 f.) Deutlich tritt ein Hybrid aus einer distanziert wissenschaftlichen Analyse, der Beschreibung der eigenen Verstrickung in die Versuchsanordnung und einer literarisch-dokumentierenden Schreibweise hervor, die Pre- ciado sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt des Selbstexperiments machen. Gleichzeitig beschreibt Preciado interessanterweise eine psycho- aktive Wirkung des Präparats, obwohl es keine pharmakodynamische24 Indikation dafür gibt. Dadurch schwankt das Selbstprotokoll zwischen der Dokumentierung der Wirkungen und Nebenwirkungen des chemi- schen Experiments und einer narrativen und fabulierenden Dimension, die darüber hinaus mit einer Fülle von intertextuellen und literarischen Bezügen operiert. Mit der metaphorischen Engführung von Muskeln und »kybernetischen Kabeln« (TJ 58) ruft Preciado einerseits Bilder von beschleunigten Bio-Maschinenkörpern des Cyberpunks auf den Plan, und andererseits ist es ein Verweis auf Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). Bei Schreber sind es Nerven, die eine zent- rale Rolle spielen und – nicht unüblich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und seinen Medien der Elektrizität – mit Kabeln gleichgesetzt werden. So ist die vergleichende Redewendung von Muskeln als »kybernetische 24 Pharmakodynamik ist die Lehre über die Wirkung von Arzneistoffen im Organismus und ein Teilgebiet der Pharmakologie. Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkungen auf den Körper, während die Pharmakokinetik die Verteilung und Verstoffwechselung im Körper behandelt. Im Arzneimittelverzeichnis finden sich keine Hinweise auf eine psychoaktive Wirkung des Testosterons. Vgl. Rote Liste® Service GmbH (Hg.): Rote Liste, S. 880 f. 192 Georg Dickmann Kabel« nicht nur ein leerer Verweis, sondern auch eine Zäsur, die das pharmapornografisch regierte Subjekt von dem fordistisch-modernen abgrenzen soll. Der entgrenzte und chemisch-aufgerüstete Körper25 korrespondiert so mit einer metafiktionalen Dimension der Schreibpraxis Preciados. Schreiben als somatische Praxis zu verstehen, bedeutet in die- sem Sinne, andere Texte wie chemische Stoffe in den eigenen Textkörper einzubauen, sie miteinander reagieren zu lassen, sie zu überschreiben oder sie zu ersetzen. Das, was Avital Ronell in ihrem Buch Drogenkriege (1994) als Tro- pium bezeichnet hat, nämlich als ein Amalgam aus ›Trope‹, und dem Morphin-Derivat ›Opium‹, das das ›Berauscht-Sein‹ durch die Droge mit dem Rausch der Literatur gleichsetzt,26 findet eine Entsprechung und Ver- wirklichung in Preciados Text. Preciados Buch wirkt – es wirkt als Text, als eine nicht-substanzielle Substanz, als ein literarisch-theoretisches Placebo, das eine Rezeptur für eine experimentelle Anmischung von eigenen Giften und Gegengiften, um neue aufbegehrende Körper und neue materiell-semiotische Autoritäten herstellen zu können. Preciados somato-politische Fiktion wird so zu einer seiltänzerischen Text-Körper- Spekulation, die das Wagnis eingeht, den eigenen Körper auf die Probe zu stellen, um sich einer kausalen, binären und männlich-kodierten Genesis zu widersetzen. Preciado wird so selbst zu einer ästhetisch-chemischen Prothese – zu einer Körper-Fiktion oder auch zu einer Pharmakofiction. Wenn Sara Ahmeds Behauptung, »theory can do more the closer it gets to the skin«,27 ein Aufruf dazu ist, Körper-Theorie nicht nur zu (be-) schreiben, sondern diese auch zu verkörpern, dann ist Testo Junkie ein nicht zu unterschätzender Beitrag dazu. Siglenverzeichnis AoA = Massumi, Brian: »The Autonomy of Affect«, in: Cultural Critique 31 (1995), S. 83–109. TJ = Preciado, Paul B.: Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie, Berlin 2016. Literaturverzeichnis Ahmed, Sara: Living a Feminist Life, Durham / London 2017. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham / London 2010. Braidotti, Rosi: Politik der Affirmation, Berlin 2018. Deleuze, Gilles / Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992. 25 Hier sei angemerkt, dass der Körper, der im pharmapornografischen Regime erweitert, aufgerüstet und damit aufgepumpt wird, ein Männerkörper zu sein hat. 26 Vgl. Ronell: Drogenkriege, S. 41. 27 Ahmed: Living a Feminist Life, S. 10. Molekulare Prothesen 193 Deleuze, Gilles: »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen 1972−1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262. Dickmann, Georg: Pharmakofictions. Spekulationen mit prekären Substanzen in Philosophie und zeitgenös- sischer Science-Fiction (Dissertation; im Entstehen). Engel, Antke: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009. Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004. Esposito, Roberto: »Das Paradigma der Immunisierung«, in: Andreas Folkers / Thomas Lemke (Hg.): Biopolitik. Ein Reader, Frankfurt a. M. 2014, S. 337–385. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Studienausgabe in zehn Bänden, hg. von Ale- xander Mitscherlich / James Strachey / Angela Richards, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a. M. 1974, S. 197–270. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1974. Govrin, Jule: Sex, Gott und Kapital. Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken, Berlin 2016. Haraway, Donna: »Ein Manifest für Cyborgs«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. / New York 1995, S. 33–72. Laboria Cuboniks: »Xenofeminismus. Eine Politik für die Entfremdung«, in: Armen Avanessian / Helen Hester (Hg.): dea ex machina, Berlin 2015, S. 15–35. Lyotard, Jean-François: Libidinöse Ökonomie, Berlin 2007. Manning, Erin: »Das Ereignis des Schreibens. Brian Massumi und die Politik des Affekts«, in: Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010, S. 7–23. Nancy, Jean-Luc: Corpus, Berlin 2007. Peters, Kathrin: »Politische Drogen. Materialität in Testo Junkie«, Vortrag auf der Tagung »Ecologies of Gender«, FU Berlin, 01./02.11.2018. Ronell, Avital: Drogenkriege, Frankfurt a. M. 1994. Rote Liste® Service GmbH (Hg.): Rote Liste. Arzneimittelverzeichnis für Deutschland (einschließlichlich EU- Zulassungen und bestimmter Medizinprodukte), Frankfurt a. M. 2019. Spinoza, Baruch de: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976. Vogl, Joseph: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, Paderborn 1998, S. 7–16. Wark, McKenzie: »The Forces of Reproduction«, publicseminar.org, 07.12.2013, http://www.publicseminar. org/2013/12/testo-junkie-by-paul-preciado/ (aufgerufen am 05.07.2019). Abbildungsverzeichnis Abb.: Das Regime der Disziplinierung (rechts) und das Regime des Pharmapornografischen (links). Aus Paul B. Preciado: Testo Junkie, Berlin 2016, S. 206. FABULIEREN MIT DE-/POSTKOLONIALEN ZEITLICHKEITEN Koloniale Aphasie des Anthropozäns am Beispiel des Films Annihilation N a o m i e G r a m l i c h Der Spielfilm Annihilation (2018)1 beginnt mit der Erkundung eines Sumpfgebiets in den USA. Dort breitet sich eine als Schimmer bezeich- nete Strahlung aus, die bei Organismen artenübergreifende Mutationen hervorruft. Es werden vier Wissenschaftlerinnen und eine Sanitäterin zur Erforschung der Strahlung akquiriert, nachdem die vorherigen Expedi- tionsteams – darunter der Ehemann einer der Wissenschaftlerinnen – gescheitert sind. Im Schimmer ereignen sich eine Reihe brutaler und seltsamer Vorkommnisse. Es beginnt mit dem Verlust des Zeitgefühls und mit Sende- und Empfangsstörungen der mitgebrachten elektroni- schen Geräte und endet damit, dass die Wissenschaftlerinnen nach und nach den physischen und psychischen Veränderungen des Schimmers erliegen. Von der Biologin und der Psychologin, die beide das Zentrum von Area X, einen Leuchtturm, erreichen, kehrt nur erstere zurück. Am Filmende trifft diese auf ihren Mann, der wie sie durch den Schimmer genetisch verändert wurde. Beide sind keine Menschen mehr. Der Schimmer refraktiert, also bricht und vermischt die DNA aller Kritter2, wie die Physikerin am Ende des Films herausfindet. Er verleiht den bio- und geomorphologischen Umschreibungen der Erde im Anthropozän eine Form der Repräsentation, die mit Begriffen wie Dezentralisierung und Pervasivität beschrieben werden kann. Jegliche wissenschaftlichen Prinzipien auf den Kopf stellend, treten spekulative Organismen und Habitate zu Tage: Unterschiedliche Ökosysteme wie Salzmeere und Moore entstehen nebeneinander, der Luft- und Lichtraum verändert sich, sodass die Übertragung von Sonnenstrahlen und elektrom agnetischen Wellen gestört wird und sich völlig neue Kreuzungen zwischen Spezies, deren Genpool wiederum fortwährend refraktiert wird, entwickeln. Der 1 In dem von Alex Garland Regie geführten Film Annihilation, der auf einer Romanvorlage von Jeff VanderMeer basiert, besetzen die Schauspielerinnen Tessa Thompson, Natalie Portman, Gina Rodriguez, Tuva Novotny und Jennifer Jason Leigh die Rolle der Wis- senschaftlerinnen. Der Film wurde für das Kino geplant, schließlich jedoch von Netflix gekauft. 2 Karin Harrasser hat in ihrer Übersetzung von Donna Haraways Unruhig bleiben das Kunstwort »Kritter« aus dem englischen Critter abgeleitet, das für alles mögliche Getier, auch den Menschen, steht. Vgl. Haraway: Unruhig Bleiben, S. 231, FN 3. Nachweis im Folgenden mit Sigle UB und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 198 Naomie Gramlich Schimmer kann als posthumane Einstimmung auf das Anthropozän ge- deutet werden, also jenes neue geologische Zeitalter, das den Menschen als geophysikalischen Haupteinfluss auf das Erdsystem versteht. So fragt ein Filmkritiker: »Is Annihilation the first true film of the Anthropo- cene era?«3 Im Vokabular des Neuen Materialismus bzw. Techno-Öko- Feminismus ausgedrückt, zeigt der Schimmer die wenig zeitlich und räumlich einsehbare »vibrierende Assemblage von Verkettungen, ein Relais pulsierender Schaltungen und un / menschlicher Bewegungen, Kommunikationen und Empfindungen in den techno-planetarischen Schichten und Ablagerungen namens Erde«.4 Die Prozesse der Muta- tion und Tektonik scheinen sich im Film der horrenden Geschwindigkeit der Great Acceleration angepasst, »die übrige Natur« sich dem »rapiden Aufstieg«5 des Menschen angeglichen zu haben. Mit Annihilation kann über die Viskosität und Porosität von Körpern spekuliert werden. Ja, der Schimmer ist Katalysator des spekulativen Vermögens, das alle Körper teilen, aber – und hier setzt mein Text an – in unterschiedlicher Intensität.6 Statt mit den permanenten Refraktionsprozessen aller Kritter möch- te ich mit der Frage beginnen, welche Angebote der Film macht, den Schimmer zu erklären. Neben den Auslegungen, Folge eines Meteori- teneinschlags oder einer Nuklearkatastrophe zu sein, gibt es Momente, die auf HeLa-Krebszellen als den Ursprung des Schimmers hinweisen: »HeLa«, was wie eine medizinische Formel klingt, bezieht sich auf den Namen von Henrietta Lacks, die 1951 an Gebärmutterhalskrebs starb. Henrietta Lacks war Afroamerikanerin, deren Krebszellen, ohne ihre Genehmigung oder die der Familie entnommen und für medizinische Tests verwendet wurden. Die HeLa-Zellen sind medizingeschichtlich revolutionär, da sie aufgrund ihrer ungewöhnlichen Widerstandsfähig- keit die ersten unsterblichen menschlichen Zellen waren, die im Labor gezüchtet werden konnten und damit für die Bekämpfung von Krebs ausschlaggebend waren. Mit den HeLa-Zellen beginnt Annihilation. Als 3 Gordon: »Is Annihilation the first true film of the Anthropocene era?«; vgl. auch Grillmayr in diesem Band. 4 Volkert: »Techno-Öko-Feminismus«, S. 171. 5 Dipesh Chakrabarty sagt in einem Interview: »Das Problem ist, dass die übrige Natur keine Zeit hatte, sich an unseren rapiden Aufstieg anzupassen. So können sich Fische zum Bei- spiel nicht schnell genug fortpflanzen, um mit unseren Fischfangtechniken mitzuhalten.« (Chakrabarty / Klingan: »Eine gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung«, S. 149). 6 Bei den in feministischen Theorien oftmals begeisterten Beschreibungen der Sympoiesis- Verbindungen, also dem »Mit-Werden« von Menschen, Technik und nichtmenschlichen Tieren, die zentral sind, um sich von Ideen der selbsternährenden Autopoiesis abzu- grenzen, ist es symptomatisch, dass Donna Haraway lediglich in einer Fußnote deren unsymmetrische Belastungen erwähnt. Vgl. UB 235, FN 28. Koloniale Aphasie des Anthropozäns 199 Professorin an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore – dem Ort, an dem Henrietta Lacks Zellen entnommen wurden – unterrichtet die Biologin ihre Klasse über den Prozess der Zellteilung, während sie Auf- nahmen der HeLa-Zellen zeigt: »The rhythm of the dividing pair. […] The structure of everything that lives and everything that dies.« Sie endet mit dem Satz: »The cell we’re looking at is from a tumor, female patient, early thirties, taken from the cervix.« Die Teilung und Vermehrung der Zellen ist zentrales Motiv des Films, das in Form von Mikroskopaufnahmen die Handlung fortwährend begleitet bzw. unterläuft. Abb. 1: Filmstill aus Annihilation Der Schimmer selbst folgt dem »rhythm of the dividing pair« und verkörpert damit das Prinzip der HeLa-Zellen. Dass hinter »HeLa« eine Person mit Namen Henrietta Lacks steht, war der Medizin lange nicht mehr bewusst – und es wurde auch nicht danach gefragt. Bis die Wis- senschaftsjournalistin Rebecca Skloot als eine der ersten die Spurensuche in Medizinarchiven und im Familienumfeld von Lacks aufnahm und ihre Ergebnisse in The Immortal Life of Henrietta Lacks (2010) veröffentlichte.7 Es ist dieses Buch, das in einer Szene in Annihilation in den Händen der Biologin zu sehen ist. Die Einbeziehung von Henrietta Lacks erfolgt im Film sprachlos: Ihr Name und Lebensumstand – als Schwarze, arme, schwer erkrankte Frau in den rassistischen USA der 1950er Jahre – wer- den nicht erwähnt, obwohl der Biologin durch die Lektüre der Biografie Lacks die Umstände der Beschaffung des genetischen Materials bewusst sein müssten, welche nur gelingen konnte, weil Schwarzen Körpern nicht 7 Vgl. Skloot: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks. 200 Naomie Gramlich das Maß an körperlicher Souveränität und Unversehrtheit zukam bzw. zukommt wie weißen Körpern.8 Um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Auslöschung Schwarzer Sub- jekte in Geschichte und Kultur zeigt auch Kerry James Marshalls Gemälde untitled (2009), aus dem uns eine Malerin anschaut, die in Pose und Kleidung der Zeit des Barocks erinnert. Sie sitzt vor ihrer Arbeit, einem Selbstporträt, dessen nummerierte Flächen sie – dem Prinzip »Malen nach Zahlen« folgend – gerade dabei ist auszufüllen. Auf ihrer Malpalette liegen die Farben Rosa, Blau, Weiß, Grün, Gelb bereit. Die wichtigste Farbe für ihr Selbstporträt fehlt jedoch: die Farbe ihrer Haut. Die radikale Auslassung Schwarzer Subjekte in der von Weißen geschriebenen Geschichte und die daraus resultierende Unmöglichkeit Schwarzer (Selbst-)Repräsentation, wie es Marshalls Arbeit für die Kunstgeschichte eindringlich zeigt, findet im Kontext der Medizingeschichte mit Annihilation ein weiteres Zeugnis. Wobei, und das verkompliziert die Sache, Henrietta Lacks im Film nicht vergessen ist, es wird einfach nur nicht über sie gesprochen. Entgegen zur häufig geäußerten Annahme, dass die koloniale Besiedelung von fremdem Land und das System von Rassifizierung und Entfremdung afrikanischer Menschen der kollektiven Amnesie des Globalen Nordens anheimgefallen ist, schlägt Ann Laura Stoler den Begriff der kolonialen Aphasie vor, der in der Medizin eine Sprachunfähigkeit in Folge einer Erkrankung des Sprachzentrums im Gehirn meint. Aphasia is a dismembering, a difficulty in speaking, a difficulty in generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts to appropriate things. Aphasia in its many forms describes a difficulty in retrieving both conceptual and lexical vocabularies and, most important, a difficulty in comprehending what is spoken.9 Während Skloot versucht, die Geschichte der Person hinter den HeLa- Zellen zu rekonstruieren – und dabei den Zusammenhang von genetic heritage an der Schnittstelle zu Gender, Rassismus und Klassismus systematisch nicht zur Sprache bringt –,10 interessiert mich am Beispiel Annihilation koloniale Aphasie und Anthropozän zusammenzubringen. Wenn Annihilation »the first true film of the Anthropocene era« ist, 8 Nachdem Lacks Familie anfänglich keine Entschuldigung, Würdigung oder finanzielle Beteiligung erhalten hat, sind medizinische Einrichtungen der USA inzwischen bemüht, dies nachzuholen. Vgl. Eintrag »The Legacy of Henrietta Lacks«. Für eine Problematisie- rung der Personifizierung der Zellen aus critical race-Perspektive siehe Brown: »Being Cellular«. Nachweis im Folgenden mit Sigle BC und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 9 Stoler: Colonial Aphasia, S. 128. 10 Für eine ausführliche Kritik an Skloot vgl. hooks: Writing Beyond Race, S. 83–84. Nachweis im Folgenden mit Sigle WBR und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Koloniale Aphasie des Anthropozäns 201 dann ist diesem – so möchte ich im Folgenden skizzieren – auch dessen kognitives Unvermögen eingeschrieben, die Verbindung zwischen dem jahrhundertelangen System von Kolonialismus, Rassismus, Extrakti- vismus, Land Grabbing und dem heutigen Artensterben, Anstieg an Kohlenstoffdioxid und Pestiziden zu erkennen. Wie Françoise Vergès anmerkt, kollidiert ausgerechnet die Zeit der dekolonialen Reparation mit der beschleunigten und komplexen Ära des Neoliberalismus und Kapitalozäns.11 Dabei scheint sich, so schreiben Marisol de la Cadena und Mario Blaser, die Erfahrung der Kolonisation in kruder Weise zu wiederholen: »We all share, as Crutzen [einer der Namensgeber des Anthropozäns] says, terra incognita. This is a new condition: now the colonizers are as threatened as the worlds they displaced and destroyed when they took over what they called terra nullius.«12 Sich dem Schimmer über die HeLa-Zellen anzunähern, bedeutet diese als Implosion zeitlich gestreckter und räumlich verdichteter Geschich- ten über post- und neokoloniale Geflechte zu verstehen. Wie Donna Haraway schreibt: »Any interesting being in technoscience, like a text- book, molecule, equation, mouse, pipette, bomb, fungus, technician, agitator, or scientist can – and often should – be teased open to show the sticky economic, technical, political, organic, historical, mythic, and textual threads that make up its tissues.«13 Komplexität, Relationalität und Ökologien dieser Art verlangen nach Geschichten, die den charisma- tischen Begriff ›Anthropozän‹ in seiner kolonialen Aphasie unterlaufen. Denn dieser verhindert systematisch, dass die Beziehungen strategischer Macht- und Produktionsverhältnisse der Moderne ausgesprochen und gehört werden. Ursprungsgeschichten Weder die Kohle der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert, der fossile Kapitalismus im 19. Jahrhundert noch die Nuklearenergie im 20. Jahrhun- dert markieren den zeitlichen Beginn der klimatischen und geologischen Veränderungen der Erde, so Simon Lewis und Mark Maslin. Die beiden Geologen geben das Jahr 1610 als Ursprungsdatum des Anthropozäns an. Dies ist das Datum, an dem ein globaler Rückgang an Kohlen- 11 Vgl. Vergès: »Capitalocene, Waste, Race, and Gender«. Nachweis im Folgenden mit Sigle CWRG. 12 Cadena / Blaser: »Pluriverse«, S. 3. 13 Haraway: Modest_Witness@Second_Millennium, S. 68. 202 Naomie Gramlich dioxid nachgewiesen wurde, der durch den Tod von schätzungsweise 50 Millionen indigenen Bewohner*innen eingetreten ist. Ihr Tod war eine Folge des vom europäischen Siedlungskolonialismus verursachten Krieges und von Versklavung und Hunger vor allem in den heutigen USA.14 Mit der Kolonisation und ihrem nekropolitischen System vollzog sich auch die Konstitution afrikanischer Menschen zu Sklav*innen zur Arbeit auf den dafür eingerichteten Plantagen, »[in order to] mining hu- man energy to death« (CWRG), wie Vergès schreibt. In einem Gespräch schlagen Anna L. Tsing, Noboru Ishikawa und Donna Haraway dafür den Begriff »Plantagozän« vor. Sie rücken die Plantage als Menschen und Nichtmenschen umspannendes Prinzip ins Zentrum eines Systems, das es ermöglicht, aus Menschen und Boden Ressourcen zu machen. Die Etablierung des abstrakten Verhältnisses zwischen Investition und Eigentum, so Tsing in dem Gespräch, »makes it possible to turn ecologies into something completely different, even if their sites are very far away. This move, which I think of as alienation, changes the plants, the animals, the organisms [, the humans] that become part of the plantation.« Ishikawa ergänzt: »To me plantation is just the slavery of plants.«15 Die nur konsequente Umbenennung und Renarrativierung des Anthropozäns, in dem nicht nur nominal ein weißer, männlicher Universalismus zurückkehrt, wie feministische und post / koloniale Theoretiker*innen analysiert haben,16 sondern das koloniale Erbe des Anthropozäns nicht zur Sprache kommen kann, unternehmen auch Kathryn Yusoff und Françoise Vergès. In ihren Aufsätzen schlägt Vergès »ways of writing a history of envi- ronment that takes into account the history of racial capitalism«17 vor. Als die in der globalen Wirtschafts-, Industrie- und Geschichtswissenschaft nicht ausgesprochenen Teile zeichnet sie Fälle von Umweltrassismus in Indien, Südasien, Südamerika, Afrika, Europa und Nordamerika nach, in denen sich Industrien an Standorten mit billigem Land, billiger Arbeit und billigem Leben ansiedeln, dessen Konsequenzen vergiftetes Wasser, dreckige Flüsse, Pestizide und verschmutztes Essen sind (vgl. CWRG). Müll und Ruinen sind in dieser Logik immer Beweis des kapitalistischen Erfolgs. Auch Yusoff geht es um das Umschreiben der im Anthropozän per- petuierten Ursprungsgeschichte, die auf der kolonialen Macht beruht, 14 Vgl. Lewis / Maslin: »Defining the Anthropocene«. 15 Haraway / Ishikawa / Gilbert u. a.: »Anthropologists Are Talking – About the Anthropo- cene«, S. 23 f. 16 Vgl. z. B. Colebrook: »What is the Anthropo-Political?«. 17 Vergès: »Racial Capitalocene«, S. 75. Koloniale Aphasie des Anthropozäns 203 sich das Recht zuzusprechen, Zeiten und Geschichte(n) zu benennen und zu besitzen, Ereignisse als relevant zu deklarieren und Akteur*innen als solche zu benennen. Ursprungsgeschichten versteht Yusoff als »sich selbst reproduzierende Technologien […], die im Auftrag einer politisch festgelegten Gegenwart und im Rückgriff auf eine Interpretation der Vergangenheit für eine bestimmte Definition der Zukunft kämpfen«.18 Wird im Anthropozän die Verbindung zur kolonialen Gewalt anerkannt, zeigen sich Begegnungen geologischer Dimensionen, die nicht nur Land betreffen, sondern auch solche, die »sich quer durch rassifizierte und sexualisierte Körper hindurch materialisieren« (NK 67). Um diesen kursorisch skizzierten Hintergrund mit Annihilation und den HeLa-Zellen zu verbinden, argumentiere ich, dass es nicht nur von Gewicht ist, dass die sympoietische Refraktion ausgerechnet an Frauenkör- pern filmisch inszeniert wird. Generell sind Frauen* potenziell größeren Umweltschäden ausgesetzt19 und werden in der westlichen Kultur als der Natur nahestehend imaginiert. Im filmischen Unausgesprochenen von Annihilation zeigt sich in den HeLa-Zellen darüber hinaus, dass Schwar- zem weiblichen Leben sowohl eine seltsame Vitalität als auch eine quasi unmenschliche Überlebensfähigkeit zugeschrieben wird. Die ungefragt billionenfache Replikation der HeLa-Zellen in den Medizinlaboren operiert mittels einer kolonialen Logik, die Vergès folgendermaßen beschreibt: »Indigenous peoples and enslaved Africans were made disposable. The flesh and bones of their dead bodies mixed with the earth on plantations and in silver and gold mines. They were the humus of capitalism.« (CWRG) Der »Humus« als Medium und Metapher der Multispezies-Sympoiesis, den Haraway in ihrem Buch Unruhig bleiben (2016) dem »Homo Sapiens« entgegengesetzt hat (vgl. UB 50), ist aus einer post / kolonialen Perspek- tive ein von (neo-)kolonialer Gewalt durchsetztes Archiv.20 Menschen of Color, die in der Chain of Being, also der metaphysischen Ordnung des Universums mit den Nichtmenschen, den Mineralien und Pflanzen gleichgesetzt wurden, scheinen auch heute noch diejenigen zu sein, die 18 Yusoff: »Nuklearer Kolonialismus, tief in den Knochen steckend«, S. 67. 19 Vgl. Lorde: Auf Leben und Tod, S. 94. Nachweis im Folgenden mit Sigle LT und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 20 Erdböden als ein spekulatives Archiv der Gewalt an Schwarzem Leben zu verstehen, schlägt auch das Archivprojekt Lynching in America der Equal Justice Initiative vor. Im Museum in Alabama erinnert Erde in Flaschen an die rassistischen Morde. Christina Sharpe dazu: »The soil collected from these lynching sites is placed in plain glass jars with black screw on lids. [T]he dirt is collected with care and the jar is labeled with care with the name of the person lynched, and the place where the lynching took place and then the month, day, and year.« (Lampert / Sharpe: »Podcast Transcripts«, S. 48). 204 Naomie Gramlich als Erste posthuman oder »post-natürlich«21 werden. Skloot und die von ihr interviewten Wissenschaftler*innen betonen, wie günstig und ubiquitär die HeLa-Zellen seien – und verwenden damit, so argumentiert bell hooks, eine Sprache, die der weißer Plantagenbesitzer*innen zur Dehumanisierung Schwarzer Menschen ähnlich ist (vgl. WBR 85). Die brutale Trennung von Menschen und ihrem für medizinische Zwecke verwendeten Körpermaterial, die in der westlichen Wissenschaft nicht nur üblich ist, sondern diese erst ermöglicht, beförderte sogar die These einiger Wissenschaftler*innen, dass die HeLa-Zellen eigentlich unmenschlich und von der menschlichen Evolution abgekoppelt seien.22 Als im Jahr 2013 von HeLa-Zellen kontaminierte Blasenkrebszellen gefunden wurden, spielte Henrietta Lacks’ Menschsein dann doch wieder eine Rolle – jedoch nur in ihrer Markierung als Schwarze Frau. Jayna Brown schreibt: »Blackness seems to suggest at once the failure to change or mutate and the ability to mutate too much – both hypo- and hyperplasticity.« (BC 337) In Bezug auf die spekulativen Konzepte von Materie des Neuen Materialismus und der ›zerebralen Plastizität‹ von Catherine Malabou argumentiert Brown weiter: »Optimistic fantasies about the plasticity of life in contemporary speculative thought ignore the history of racial eugenics and its invest- ment in these same ideas to its peril. […] Remembering how a plasticity of life was imagined and scientifically practiced through race and ability is key as scholars go forward in the project of decentering the human.« (BC 324, 327) Trotz oder gerade wegen des Eintragens von Rassismus und Eugenik in die Debatte um die spekulative Eigendynamik von Ma- terie schlussfolgert Brown: »My provocation is that a future world may not include humans at all. This may not be a bad thing.« (BC 323) Die eigene Unmenschlichkeit anzunehmen, bedeutet, so Brown, die hetero- normative und rassische Überlegenheit loszulassen und sich für neue Formen von Sozialität und für andere Seinsmodi zu öffnen: »Thinking about cells invites speculation about alternative genealogies outside the heteronormative model. What other forms of kinship, and mutual care, are possible when we let go of this model?« (BC 323)23 21 Pell / Kutil / Turpin: »PostNatural Histories«, S. 313. Die Gesprächspartner*innen tauschen sich darüber aus, ob es neben Henrietta Lacks noch weitere Beispiele für »postnatürliche Menschen« gibt – ohne die Besonderheit von Gender, Klasse und race zu bedenken. 22 Vgl. Skloot: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks, S. 300. 23 Zum Projekt der nicht auf Reproduktion basierenden Verwandtschaft siehe auch Köppert in diesem Band. Koloniale Aphasie des Anthropozäns 205 Überlebensgeschichten Überleben ist keine theoretische Operation im luftleeren Raum, es hat mit meinem täglichen Leben und mit dem Treffen von Entscheidungen zu tun. […] Aber ich muss offen und aufnahmebereit sein, egal, was auf mich zukommt, weil dies mich in besonderer Art als Schwarze Frau wappnen wird. Wenn ich offener bin, bin ich auch weniger verzweifelt. […] Ich weiss nur, daß ich meinen Körper nicht anderen überlassen darf, wenn ich nicht genau verstehe und einverstanden bin mit dem, was ihrer Ansicht nach mit ihm gemacht werden soll. (LT 95) Weder Annihilation noch The Immortal Life of Henrietta Lacks sprechen die neo- und post / kolonialen Macht- und Produktionsverhältnisse aus, die in den HeLa-Zellen implodiert sind, die sie überhaupt erst als solche erzeugen konnten: Unausgesprochen bleibt Umweltrassismus in Baltimore24 als mögliche Ursache für die Krebserkrankung von Hen- rietta Lacks sowie ihr Leiden über ihr »verlorenes Selbst« (LT 28), wie Audre Lorde über ihre eigene Krebserkrankung schreibt. Henrietta Lacks scheint in der Hegemonie weißer Kultur nochmals und nochmals zum Schweigen gebracht zu werden.25 Ihre Zellen, die heute billiardenfach existieren, leben jedoch als ein in die Ewigkeit versetzter Spuk weiter. Wenn koloniale Macht nicht nur in der Benennung und dem Besitz von Körpern, sondern auch im Besitz von Zeit zum Ausdruck kommt, ist die künstlich aufrechterhaltene Unsterblichkeit der HeLa-Zellen Ausdruck davon, Menschen koloniale Zeitlichkeiten aufzudrängen. Und dennoch: Wenn Schwarze Erfahrung nicht auf die Kolonisierung und ihre Verstetigung bis in die Zukunft reduziert werden will, wie es zum Beispiel im Afro-Pessimismus der Fall ist, wenn es, wie Vergès schreibt, notwendig ist, »a way of looking at possible futures or alternate realities«26 zu finden, stelle ich mir am Ende des Essays die Frage, wie sich in der filmischen Darstellung der HeLa-Zellen in Annihilation neben der nicht ausgesprochenen kolonialrassistischen Ursprungsgeschichte auch eine Überlebensgeschichte andeutet. Während hooks die HeLa-Zelle als nicht aus der Zeit entlassen, in der nichtmenschlichen Unsterblichkeit gefangen, versteht – »for us you will never be immortal« (WBR 91) –, schreibt Brown: »[M]y interpretation would be that Henrietta Lacks has 24 In der Industriestadt Baltimore werden die Forderungen nach Umweltgerechtigkeit in den letzten Jahren immer lauter. Vgl. Worland: »Fighting for Environmental Justice on the Streets of Baltimore«. 25 Der Film wurde auch wegen Whitewashing kritisiert. In der Buchvorlage zu Annihilation ist die Protagonistin eine Women of Color, im Film wird sie von einer weißen Schauspielerin gespielt. 26 Vergès: »Racial Capitalocene«, S. 82. 206 Naomie Gramlich had a truly ironic revenge. She has invaded, and will not leave, as she haunts the labs, wreaking havoc for generations.« (BC 337) In einer Szene, kurz bevor das Buch The Immortal Life of Henrietta Lacks in Annihilation zu sehen ist, sagt die Schwarze Physikerin Josie zur weißen Biologin ei- nen Schlüsselsatz des Films: »Ventress [the psychologist] wants to face it. You want to fight it. But I don’t think I want either of those things.« Josie dreht sich um und geht Richtung der Bäume, mit welchen sie ver- schmilzt – das zumindest legt eine vorherige Sequenz nahe, in der zu sehen ist, wie aus ihren Armen Äste und Blätter wachsen. Abb. 2: Filmstill aus Annihilation Josie wählt weder Krieg (fight) noch Wissenschaft (face). Im Angesicht der radikalen Veränderung um sie herum und in ihr – Veränderungen, die sie als Einzige im Stande ist, spekulativ-wissenschaftlich als Prozess genetischer Refraktionen zu erklären –, entscheidet sie sich, nicht an ihrem Menschsein festzuhalten. Für das Geschichtenerzählen im Plantagozän gehe es, so Tsing, darum, »to show precarious living in scenes that both use and refuse capitalist governance. Such assemblages tell us of what’s left, despite capitalist damage.«27 Im Unterschied zu Ursprungsgeschichten geht es bei dieser Art von Überlebensgeschichten nicht um einfache stringente Rückführungen, nicht um Kampf und Sieg und nicht um wissenschaftliche Immunisierung, sondern um eine nie enden wollende Geschichte der Veränderung und des Zusammentreffens, wobei diese – an Schnittstellen von Differenzen arbeitend – zur Kontamination führt.28 Dass Teil von Allianzen zu sein weder immer freiwillig noch frei von Spannungen, Ambiguitäten oder 27 Tsing: The Mushroom at the End of the World, S. 134. 28 Vgl. ebd., S. 28. Koloniale Aphasie des Anthropozäns 207 Gewalt ist, verdeutlicht Octavia E. Butlers afrofuturistische Trilogie Xenogenesis (1987–1989) vielleicht wie keine andere Erzählung. Hier entwirft Butler Krebs als Technik der Oankali (der extraterrestrischen Spezies im Roman), um damit alle Arten von Zellen zu verändern und zu vermischen – ein Prozess, in dem sich Menschen und damit Gender, race und Klasse verschieben. Im Roman heißt es: »[H]umans called the condition cancer. To them, it was hated disease. To the Oankali, it was a treasure. It was beauty beyond Human comprehension.«29 Auch Ruha Benjamin – mit deren Zitat ich enden möchte – schreibt zur Frage, wie sich Verwandschaftlichkeit (kinfulness) des (post)sklavischen Nachleben kultivieren und spekulieren lässt: Yes, subordination, subjugation, subaltern, literally »under the earth«, racial- ized populations are buried people. But there is a lot happening underground. Not only coffins, but seeds, roots and rhizomes. And maybe even tunnels and other lines of flight to new worlds, where alternative forms of kinship have room to grow and to nourish other life forms and ways of living. […] Indeed, speculative methods are a mode of envisioning afterlives, extending present configurations of power and difference into the future to see how they might materialize and morph into (and beyond) our wildest imaginations.30 Siglenverzeichnis BC = Brown, Jayna: »Being Cellular. Race, the Inhuman, and the Plasticity of Life«, in: GLQ. A Journal of Lesbian and Gay Studies 21 (2015), H. 2–3, S. 321–341. CWRG = Vergès, Françoise: »Capitalocene, Waste, Race, and Gender«, e-flux 100 (2019), https://www.e- flux.com/journal/100/269165/capitalocene-waste-race-and-gender/ (aufgerufen am 08.07.2019). LT = Lorde, Audre: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch, Berlin 1994. UB = Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M. 2018. WBR = hooks, bell: Writing Beyond Race. Living Theory and Practice, New York 2013. Literaturverzeichnis Benjamin, Ruha: »Black AfterLives Matter. Cultivating Kinfulness as Reproductive Justice«, Boston Review. A Political and Literary Forum, 20.07.2018, http://bostonreview.net/race/ruha-benjamin-black-afterlives- matter (aufgerufen am 08.07.2019). Butler, Octavia E.: Lilith’s Brood (Dawn, Adulthood Rites, Imago), New York 2007. Chakrabarty, Dipesh: »Eine gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung. Gespräch mit Katrin Klingan«, in: Jürgen Renn / Bernd Scherer (Hg.): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin 2015, S. 142–159. Colebrook, Claire: »What Is the Anthropo-political?«, in: dies. / Tom Cohen / J. Hillis Miller (Hg.): Twilight of the Anthropocene Idols, London 2016, S. 81–125. De La Cadena, Marisol / Mario Blaser: »Pluriverse. Proposal for a World of Many Worlds«, in: dies. (Hg.): A World of Many Worlds, Durham / London 2018, S. 1–23. Eintrag »The Legacy of Henrietta Lacks«, hopkinsmedicine.org, https://www.hopkinsmedicine.org/henri- ettalacks/index.html/ (aufgerufen am 08.07.2019). Garland, Alex (Regie): Annihilation, USA 2018. 29 Butler: Lilith’s Brood, S. 551. 30 Benjamin: »Black AfterLives Matter«. 208 Naomie Gramlich Gordon, Lewis: »Is Annihilation the First True Film of the Anthropocene Era?«, Little White Lies. Truth & Movies, 13.03.2018, https://lwlies.com/articles/annihilation-alex-garland-anthropocene-era/ (aufgerufen am 08.07.2019). Haraway, Donna J.: Modest_Witness@Second_Millennium. Feminism and Technoscience, New York 2018. Haraway, Donna J. / Noboru Ishikawab / Scott F. Gilbert u. a. (Hg.): »Anthropologists Are Talking – About the Anthropocene«, in: Ethnos 8 (2016), H. 4, S. 535−564. Lewis, Simon / Mark Maslin: »Defining the Anthropocene«, in: Nature 7542 (2015), H. 519, S. 171–180. Lampert, Léopold / Christina Sharpe: »Podcast Transcripts. Antiblack Weather vs. Black Microclimates«, in: The Funambulist. Politics of Space and Bodies 14 (2017), https://thefunambulist.net/articles/32058/ (aufgerufen am 08.07.2019). Pell, Richard W. / Emily Kutil / Etienne Turpin: »PostNatural Histories«, in: Etienne Turpin / Heather Davis (Hg.): Art in the Anthropocene. Encounters Among Aesthetics, Politics, Environments and Epistemologies, London 2015, S. 299–317. Skloot, Rebecca: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks, München 2010. Stoler, Ann Lauren: Colonial Aphasia. Disabled Histories and Race in France, Durham / London 2016. Tsing, Anna L.: The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, Princeton 2015. Vergès, Françoise: »Racial Capitalocene«, in: Gaye Theresa Johnson / Alex Lubin (Hg.): Futures of Black Radicalism, London / New York 2017, S. 72–83. Volkart, Yvonne: »Techno-Öko-Feminismus. Unmenschliche Empfindungen in technoplanetarischen Schichten«, in: Cornelia Sollfrank (Hg.): Die Schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien / Linz u. a. 2018, S. 167–203. Worland, Justin: »Fighting for Environmental Justice on the Streets of Baltimore«, time, 03.06.2016, https://time.com/collection-post/4352608/destiny-watford-next-generation-leaders/ (aufgerufen am 08.07.2019). Yusoff, Kathryn: »Nuklearer Kolonialismus, tief in den Knochen steckend«, in: Katrin Klingan / Christoph Rosol (Hg.): Technosphäre, Berlin 2019, S. 64–85. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Filmstill aus Annihilation, 2018 © Netflix. Abb. 2: Filmstill aus Annihilation, 2018 © Netflix. Unmögliche Biografien. Saidiya Hartmans Gegenerzählungen zur Domination l a U r a m o i s i The loss of stories sharpens the hunger for them.1 Dieser Beitrag rekonstruiert und diskutiert Saidiya Hartmans Methode der kritischen Fabulation. Er beginnt mit den folgenden Fragen: Wie lässt sich eine Geschichte der Gewalt aus Sicht der durch Gewalt zum Schweigen Gebrachten erzählen? Wie lassen sich die Erfahrungen auf dem transatlantischen Sklav*innenschiff während der Kolonisation aus Sicht der weiblichen Opfer schildern, wenn es kein einziges überliefertes Zeugnis einer weiblichen Überlebenden der Middle Passage gibt – keiner- lei Aufzeichnungen oder Hinweise, die die Perspektiven der Betroffenen wiedergeben? Und wie fordert das Schreiben von unmöglichen Biografien die Gewalt des Archivs heraus? Diese Fragen umreißt Hartman in ihrem Essay Venus in Two Acts (2008). Ausgehend von den Leerstellen der Geschichte – den Wirklichkeiten, von denen niemand Notiz genommen hat – exponiert Hartman die Grenzen historiografischer Forschung. Sie zeigt auf, inwiefern eine Wissensgeschichte der Versklavung, die nur das in Betracht zieht, was nachweisbar ist, immer eine Geschichte der Gewalt ist; eine Geschichte, die Gewalt nicht nur bezeugt und belegt, sondern die selber Gewalt ist, weil sie die Grenzen des Denkbaren einhält, die das Archiv vorgibt. Kritisches Fabulieren wird bei Hartman zu einer Methode, welche die Leerstellen der Geschichtsschreibung exponiert. Es handelt sich um eine Politik des Poetischen, mit der Hartman das Verhältnis von Fakt und Fiktion neu figuriert: Neuerzählungen um der Freiheit willen. Ich möchte im Folgenden dieses grundsätzliche Problem rekonstruieren, das Hartman in ihrem Text thematisiert. Gerade weil die Perspektiven der Opfer von Gewalt in vielen Fällen unverfügbar sind, können spekulative Eingriffe in die Vergangenheit eine Methode sein, um der Existenz unterdrückter Perspektiven Rechnung zu tragen. Nachdem ich die von Hartman in ihren jüngeren Arbeiten verwendeten Schreibmethoden vorgestellt habe, frage ich, inwiefern das kritische Fabulieren, das Hartman praktiziert, eine 1 Hartman: »Venus in Two Acts«, S. 8. Nachweis im Folgenden mit Sigle VTA und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 210 Laura Moisi widerständige und queere Form des historiografischen Schreibens ist. Ich zeige auf, wie Hartman Gegenerzählungen zur Beherrschung entwirft, indem sie unartikulierte oder un-dokumentierte Aspekte der Wirklich- keit freilegt. Die Bilder und Szenen, die aus dem Fabulieren entstehen, überschreiben dabei nicht die unverfügbaren Stimmen, sondern tragen der Unmöglichkeit ihrer Erzählung Rechnung. Und sie tragen der Ein- sicht Rechnung, dass Geschichten auch Dinge sind, derer man beraubt werden kann. Hartman unternimmt eine Exploration der kolonialen und rassistischen Gewalt, die durch das Nichtvorhandensein ihrer Schilderung intensiviert und fortgesetzt wird – eine Gewalt, die nicht zuletzt gerade durch ihr offizielles Schweigen in die Gegenwart hinein und fortwirkt. Venus Hartmans Essay dreht sich um die (fehlende) Geschichte einer jungen Frau, die an Bord des Sklavenschiffs Recovery im Jahr 1792 ermordet wurde – und damit für ähnliche Geschichten von hunderttausend anderen Frauen steht. Sie taucht in den Akten des Gerichtsverfahrens gegen den Kapitän auf. Ihm wird vorgeworfen, zwei Frauen ermordet zu haben. »Venus«, so nennt man sie, ist eine davon. Ihr wahrer Name ist unbe- kannt. Sie ist kaum mehr als eine Nebenbemerkung in dem Verfahren, das ihren Mörder freisprechen wird. Um sie geht es nicht. Weder in der Anklageschrift gegen ihren Mörder noch im Vermächtnis der Sklaverei spielt das Schicksal der Frau, die ihre Peiniger und deren Nachfolger in herabwürdigender Sexualisierung »Venus« nennen, eine Rolle. In den Akten des Archivs ist »Venus« bestenfalls als Kollateralschaden des transatlantischen Sklavenhandels verbucht. Hartman macht deutlich, dass es auf die Frage, wer »Venus« war, keine Antwort gibt. Die Aufzeichnungen und Dokumente, die existieren, sind lediglich ein Zeugnis der Gewalt – mehr noch, sie sind selber Gewalt – weil sie nur das wiedergeben, was sich die Sklavenhändler haben vorstellen können. In der kolonialen und rassistischen Logik, die aus den Gefangenen systematisch Sklav*innen macht, kommt sie – »Venus« – nicht vor. Die Archive zeichnen kein Bild von der Person, um die es geht: »We stumble upon her in exorbitant circumstances that yield no picture of the everyday life, no pathway to her thoughts, no glimpse of the vulnerability to her face or of what looking at such a face might demand.« (VTA 2) »Venus« hätte auch Harriet, Phibba, Sara, Joanna, Rachel, Linda oder Sally heißen können: »[S]he is found everywhere in the Atlantic World. The barracoon, the hollow of the slave ship, the pest-house, the brothel, the cage, the Unmögliche Biografien 211 surgeon’s laboratory, the prison, the cane-field, the kitchen, the master’s bedroom – turn out to be exactly the same place and in all of them she is called Venus.« (VTA 1) Was über »Venus« aus den Aufzeichnungen hervorgeht, einschließlich ihres Namens, dokumentiert nicht mehr als die stumpfe und allgegenwärtige Gewalt, die ihrem Tod vorausging. Das Archiv gibt keine Auskunft über ihr Leben – über die namenlose tote Frau genannt »Venus«. Allenfalls kommentiert es ihren Tod. Die schriftlichen Zeugnisse der Versklavung, bestehend aus Logbüchern und Tagebüchern der Seefahrer, aus Unterlagen von Versicherungsgesellschaften, Ärzten und Rechtsinstitutionen – sie alle bilden ihrerseits ein Todesurteil. Das Archiv ist ein Grab, wie Hartman schreibt: »The Archive is a death sen- tence, a tomb, a display of the violated body, an inventory of property, a medical treatise on gonorrhea, a few lines about a whore’s life, an asterisk in the grand narrative of history.« (VTA 2) In der Geschichtsschreibung des transatlantischen Sklavenhandels, so zeigt Hartman, erweist sich die Grenzziehung zwischen Fakt und Fiktion als Illusion. Denn das, was überliefert ist, beruht auf einem nahtlosen Ineinander von Wirklichkeit und Fantasie. »What has been said and what can be said about Venus take for granted the traffic between fact, fantasy, desire, and violence.« (VTA 2) Das zeigt sich beispielsweise in der Bemerkung des Kapitäns James Barbot über die »Freuden«, die das Sklavenschiff für die männliche Besatzung bereithält: »[T]he young, sprightly maidens, full of jollity and good humor, afforded an abundance of recreation.« (VTA 5) Innerhalb der Geschichtsschreibung zu verbleiben bedeutet somit, die undurchsichtigen Übergänge zwischen Fantasien und Fakten unbemerkt zu lassen. Und es bedeutet, die Geschichte aus der Perspektive jener (weiter) zu erzählen, die ihren Blick auf die Welt – die rassistische und koloniale Gewalt ihrer Handlungen und Vorstellungen – der Nachwelt hinterlassen haben. Wer »Venus« also ist, was sie gedacht und erlebt hat, ist nicht re- konstruierbar. Es ist unmöglich, ihre Geschichte zu erzählen. Aber, so fragt Hartman, ist das ein Grund, um die Geschichte so zu belassen, wie sie aufgefunden wurde? Und, ist es überhaupt möglich, eine Geschichte über »Venus« zu erzählen, ohne die Gewalt ihrer Peiniger und die damit verknüpfte Gewalt des Archivs zu wiederholen? »Is it possible to reiterate her name and to tell a story about degraded matter and dishonored life that doesn’t delight and titillate, but instead ventures toward another mode of writing?« (VTA 7) Könnte das Fabulieren – das Spekulieren darüber, was sich ereignet haben könnte – ein Weg sein, um die »Leerstellen« des Archivs zu exponieren und »Venus« ins Zentrum ihrer eigenen Geschichte zu rücken? Kann die grammatische Form, der Konjunktiv, die Grobheit 212 Laura Moisi und die Gewalt, mit der sie in das Archiv eingeht, invertieren? (Vgl. VTA 11) Und welchen Status hätten die Erzählungen, die entstehen, wenn man fragt, was dieser Frau möglicherweise widerfahren ist, was sie gedacht haben mag, was sich am Bord des Sklavenschiffs zwischen ihr und einer anderen Gefangenen vielleicht ereignet haben könnte? Indem Hartman in ihrem Text Fragen stellt, die sich einer Antwort entziehen, entwickelt sie eine Form von Geschichtsschreibung, die sich dem Archiv entgegenstellt. Es ist eine Geschichte, die eine Unmöglichkeit voraussetzt. Diese unmögliche Geschichte: Wie würde sie beginnen? Zum Beispiel damit, missverstandene Wörter zu korrigieren und ent- stellte Leben wiederherzustellen, um ein unmögliches Ziel zu erreichen: »redressing the violence that produced numbers, ciphers, and fragments of discourse, which is as close as we come to a biography of the captive and the enslaved« (VTA 3). Gegenerzählungen zur Beherrschung Auch in ihrem Buch Lose Your Mother (2006) hat sich Hartman eindring- lich mit den Leerstellen des Archivs beschäftigt. Als Afroamerikaner*in aufzuwachsen, beschreibt Hartman als Verlust der eigenen Herkunft, als Einbuße der Vergangenheit: »[S]lavery made the past a mystery, unknown and unspeakable.«2 In Lose Your Mother bringt sie die Unverfügbarkeit, die fehlenden Aufzeichnungen und die ausradierten Biografien zum Ausdruck, die mit dem transatlantischen Sklavenhandel einhergehen. Die Gewalt der Versklavung, das macht Hartman klar, besteht auch darin, die Erinnerung an ein Leben vor der Sklaverei auszulöschen und somit die Möglichkeit des Erzählens zu nehmen. »In every slave society, slave owners attempted to eradicate the slave’s memory, that is, to erase all the evidence of an existence before slavery.« (LM 155) Der* oder die* Gefangene entscheiden dabei nie von sich aus zu vergessen. Auch ihre Großmutter, so Hartman, »was always tricked or bewitched or coerced into forgetting, like an accident or a stroke of bad fortune«. (LM 155) Die Reise zu den Spuren des transatlantischen Sklavenhandels, die Hartman unternimmt, ist eine Reise in die Vergangenheit. Es ist ein Ziel, das sie niemals erreicht. Angekommen in Ghana, an dem Ort, wo die Sklaven- schiffe angelegt haben, begreift sie, was es heißt, sich fremd zu fühlen. Fremd zu sein, so Hartman, heißt, keine Vergangenheit zu haben. »I am 2 Hartman: Lose Your mother, S. 14. Nachweis im Folgenden mit Sigle LM und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Unmögliche Biografien 213 a reminder that twelve million crossed the Atlantic Ocean and the past is not yet over. I am the progeny of the captives. I am the vestige of the dead.« (LM 18) In Venus in Two Acts beschreibt Hartman, wie sie während ihrer Arbeit an Lose your Mother mit den Grenzen des Archivs konfrontiert wurde, als sie auf die Spuren jener Toten traf, die »Venus« genannt wurde. Sie beschreibt, wie ihr eine Geschichte über das, was sich auf dem Sklaven- schiff ereignet haben könnte, in den Sinn kam. If I could have conjured up more than a name in an indictment, if I could have imagined Venus speaking her own voice, if I could have detailed the small memories banished from the ledger, then it might have been possible for me to represent the friendship that could have blossomed between two frightened and lonely girls. Shipmates. Then Venus could have beheld her dying friend […]. Picture them: The relics of two girls, one cradling the other, plundered inno- cents; a sailor caught sight of them and later said they were friends. […] The loss of stories sharpens the hunger for them. (VTA 8) Es ist verlockend, schreibt Hartman, die Lücken des Archivs füllen zu wollen; eine Zeugenschaft zu fabrizieren für einen Tod, den niemand bemerkte. Als sie an Lose your Mother arbeitet, denkt sie, dass das Bild der zwei toten jungen Frauen ein Trost ist, der nichts an ihrem Schicksal ändert. Die zwei Ermordeten würden nie eine andere Existenz außerhalb eben jener Sprache haben, die ihre Ermordung ermöglichte. »So it was better to leave them as I had found them. Two girls, alone.« (VTA 9) Hartman entscheidet sich dagegen, die Geschichte, die ihr in den Sinn kam, zu fabrizieren, um die Grenzen des historiografischen Forschens zu wahren. I longed to write a new story, one unfettered by the constraints of the legal documents and exceeding the restatement and transpositions […] Finding an aesthetic mode suitable or adequate to rendering the lives of these two girls, deciding how to arrange the lines on the page, allowing the narrative track to be routed or broken by the sounds of memory, the keens and howls and dirges unloosened on the deck, and trying to unsettle the arrangements of power by imagining Venus and her friend outside the terms of statements and judgements that banished them from the category of the human and decreed their lives waste – all of which was beyond what could be thought within the parameters of history. (VTA 9) Was ist nötig, fragt Hartman, damit ein freier Zustand vorstellbar wird? Wie lässt sich eine unmögliche Geschichte erzählen – und zugleich ihre Unmöglichkeit exponieren? Es geht um fiktive Bezeugungen und erdachte Narrative; um eine Form des Schreibens im Modus der Möglichkeit, an der Grenze des Unsagbaren. Hartman spricht in diesem Kontext von 214 Laura Moisi Spekulation und insbesondere von kritischer Fabulation. »Fabula« be- schreibt die grundlegenden Elemente einer Geschichte. By advancing a series of speculative arguments and exploiting the capacities of the subjunctive (a grammatical mood that expressed doubts, wishes, and possibilities), in fashioning a narrative, which is based upon archival research, and by that I mean a critical reading of the archive that mimes the figurative dimensions of history, I intended both to tell an impossible story and to amplify the impossibility of its telling. (VTA 11) Diese Schreibpraxis der kritischen Fabulation erfordert narrative Zu- rückhaltung: »[T]he refusal to fill in the gaps and provide closure, is a requirement of this method, as is the imperative to respect black noise – the shrieks, the moans, the non-sense, and the opacity.« (VTA 12) Das Ziel der kritischen Fabulation ist dabei nicht, der Versklavten ihre Stim- me zurückzugeben. Ziel ist es vielmehr, das zu imaginieren, was nicht verifizierbar ist. »It is an impossible writing which attempts to say that which resist being said (since dead girls are unable to speak).« (VTA 12) Es ist eine Geschichte, die zugleich mit und gegen das Archiv geschrieben wird. Bei dieser Neuaushandlung der Grenzen des Archivs geht es dar- um, die grundlegenden Elemente der Erzählung neu zu arrangieren, sich auszumalen, was hätte geschehen können oder was hätte gesagt werden können. Das bedeutet auch, die lineare Narration und die vermeintliche Transparenz der Quellen selbst als Fiktionen der Geschichte zu entlarven. Die Aufgabe, die Hartman skizziert, ist ein Balanceakt: schreiben aus der Spannung der Unmöglichkeit heraus und diese Unmöglichkeit zu amplifizieren und durch ständige Selbstreflexion im Blick zu behalten. Das Mittel ist die Spekulation, der grammatische Modus des Konjunktivs, um aus dem Provisorischen heraus zu schreiben. Mit Blick auf »Venus« bedeutet das: Es ist unmöglich zu wissen, was ihr widerfahren ist. Aber es lässt sich die Frage stellen, was es hätte sein können. Die Methoden der Fiktion werden bei Hartman zu Strategien, um Geschichte gegen-zu-erzählen. Im Modus der Spekulation ließe sich das Leben der Opfer aus ihrer Sicht erzählen, auch wenn sie von einer ungelösten Spannung und Unmöglichkeit getragen sind. Spekulatives Erzählen erlaubt auf diese Weise auch, Formen von Freiheit zu erkunden, die nicht als Freiheit, sondern als soziale Aberrationen in die Geschich- te eingegangen sind. Es ist ein Schreiben, das nicht das Unmögliche (re) produzieren will – die Erfahrungen auf dem Sklavenschiff –, sondern eines, das diese Unmöglichkeit in all ihren Schichten und Facetten ins Zentrum der Betrachtung rückt. Diese Idee der kritischen Fabulation, die Hartman in Venus in Two Acts reflektiert und abwägt, ist Schreiben Unmögliche Biografien 215 und Lesen gegen das Archiv, gegen die Geschichtsschreibung. Es ist ein Unterfangen, das auch Ann Laura Stoler auf eine Weise in ihrem Buch Along the Archival Grain (2009) adressiert. Stoler untersucht Dokumente der Sammlung des niederländischen Kolonialministeriums aus den Jah- ren 1830 bis 1930. Sie versucht in ihrer Arbeit, auch die nicht erzählten und dokumentierten Geschichten zu erzählen, die hinter den Archiven stecken.3 Sie stellt marginalisierte Erfahrungen und Ereignisse in den Vordergrund, betreibt also »minor history«. Dabei geht es nicht einfach darum, randständige Figuren und Erfahrungen in den Mittelpunkt der historiografischen Analyse zu rücken. Vielmehr geht es darum, das Ver- hältnis von Peripherie und Zentrum auf den Prüfstand zu stellen und zu invertieren. Stoler tut dies, indem sie das Archiv als einen Ort von strittigem Wissen und umkämpften Deutungen sichtbar macht und sich in ihrer historiografischen Praxis vor allem den Zwischenräumen, dem Unauffälligen und Unscheinbaren, Mikrogeschichten und Auslassungen widmet. Esther You can find her in the group of beautiful thugs and too fast girls congregating on the corner and humming the latest rag, or lingering in front of Wanamaker’s and gazing lustfully at a pair of fine shoes displayed like jewels behind the plate-glass window. Watch her in the alley passing a pitcher of beer back and forth with her friends, brash and lovely in a cut-rate dress and silk ribbons; look in awe as she hangs halfway out of a tenement window, taking in the drama of the block and defying gravity’s downward pull. Step onto any of the paths that cross the sprawling city and you’ll encounter her as she roams. Outsiders call the streets and alleys that comprise her world the slum. For her, it is just the place where she stays.4 In ihrem Buch Wayward Lives (2019) präsentiert Saidiya Hartman intime Formen der Rebellion in der Entstehungsgeschichte Schwarzer Ghettos am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Szenen und Alltagswelten, die Hartman in ästhetischer und literarischer Präzision schildert, sind das Ergebnis historischer Forschungen. Ihre Geschichte jedoch existiert nicht aufgrund von Aufzeichnungen und Dokumenten, sondern diesen zum Trotz. Es geht in den Geschichten, die Hartman erzählt, nicht um das, was die Aufzeichnungen in Gerichtsprotokollen, Zeugenaussagen und Polizeiakten wiedergeben, sondern um das, was sie verschweigen. 3 Vgl. Stoler: Along the Archival Grain, S. 4. 4 Hartman: Wayward Lives, S. 3. Nachweis im Folgenden mit Sigle WL und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 216 Laura Moisi Spekulieren und Fabulieren – und damit die Praxis, Lücken in der Ge- schichtsschreibung sichtbar zu machen – wird hier zu einer Methode, um der Art und Weise, wie Personen in die Geschichte eingehen, zu widersprechen. Dabei kommt es unter anderem darauf an, Gerichtsakten und Einweisungsunterlagen queer zu lesen. Hartman verfasst auf diese Weise ein »counter-narrative«, das sich gegen die Einschätzungen und Verzerrungen der offiziellen Dokumente wendet. Sie erprobt eine Methode, die dazu dienen soll, die revolutio- nären und poetischen Gedanken jener Subjekte aufzudecken, die (wenn überhaupt) als abwegig und abweichend in die Geschichte eingegangen sind: »an account that attends to beautiful experiments – to make living an art – undertaken by those often described as promiscuous, reckless, wild, and wayward« (WL xiv). Hartman beschreibt das Ergebnis dieses Schreibens als »fugitive text«, der sich historiografischer Einschränkungen und Kategorisierungen entzieht. »I have pressed at the limits of the case file and the document, speculated about what might have been, imagined the things whispered in dark bedrooms, and amplified moments of with- holding, escape and possibility, moments when the vision and dreams of the wayward seemed possible.« (WL xv) Es geht um die revolutionären Gedanken, die im Alltag gelebt wurden und werden. Das Undenkbare und Unverfügbare rückt dabei in den Vordergrund; und exponiert damit gerade die Gründe und Bedingungen dieser Unmöglichkeit, die Geschichte von unerhörten Subjekten zu erzählen. Wie Hartman schreibt: »[T]he history and the potentiality of their life-world has remained unthought because no one could conceive of young black women as social visionaries and innovators in the world in which these acts took place.« (WL xv) Man könnte Hartmans Projekt als eine queere Historisierung be- schreiben, die das Archiv kritisch gegenliest, sowie Sprecher*innen- und Objektpositionen vertauscht. Diese Perspektive steht wortwörtlich ›quer‹ zu den Perspektiven der Sklavenhändler und der Geschichtsschreibung im Globalen Norden, weil sie Bilder und Szenen fabriziert, die sich jenseits dessen, was das Archiv wiedergibt, abspielen. Hartmans Praxis lässt sich als queeres Schreiben beschreiben, denn sie macht die Intimität, die zwischen den zwei Frauen entstanden haben mag, überhaupt erst denkbar, in dem diese nicht nur als Objekte und in Bezug zu weißen Sklavenhändlern gesetzt werden. Die dokumentierte Geschichte der Sklaverei, die nur die Sicht der Sklavenhändler wiedergibt, erzählt nicht die Geschichte der Gefangenen und der Toten. Indem sie eine Reihe von spekulativen Betrachtungen in Form des Konjunktivs beschreibt, beabsichtigt Hartman eine unverfügbare Geschichte zu erzählen, und zugleich die Unverfügbarkeit selbst ins Zentrum zu stellen. Es ist eine Unmögliche Biografien 217 Methode des bewussten Stolperns über die Realität, des Entgleisens in die Fantasie, um nicht einfach über die Leerstelle hinwegzugehen, son- dern um der Unverfügbarkeit zu gedenken. Denn gerade das, was nicht erzählbar ist, trägt zur Geschichte bei. Diese Perspektive auf spekulatives Schreiben ist ein feministisches und insbesondere ein queeres Projekt, weil es dabei darum geht, Bilder und Narrative über das zu produzieren, was im kulturellen Kanon der Geschichte der Versklavung abwesend ist. Weil damit flüchtige Momente queeren Schreibens und Denkens entstehen, wie ich am Beispiel der Inti- mität zwischen den zwei Frauen in Venus in Two Acts angemerkt habe. Es bedeutet auch, Rebellion und Protest in undokumentierten Gesten oder in unscheinbaren Alltagsbeobachtungen zu lokalisieren. Es ist die Idee einer Politik des Poetischen, die darin besteht, genau hinzuhören, und auch den Teil der Geschichte zu hören, der nicht deren Ausgang vorgibt. Es ist ein Weg, um Geschichten zu erzählen, die sich dem Nachdenken und Verstehen entziehen. Nur so kann es gelingen, andere, verschüttete Wahrheiten zu bergen. Die queerfeministische Kulturwissenschaftlerin und Autorin Sara Ahmed macht darauf aufmerksam, dass Protestformen bei Fragen von Wahrnehmung und Vorstellungskraft beginnen. Der Blick richtet sich aus dieser Perspektive zum Beispiel auf die affektiven Einsichten und das Körperwissen, das mit Erfahrungen von Gewalt und Unrecht einhergeht: A sensation felt by the skin. […] [Y]ou sense that something is wrong or you have a feeling of being wronged. You sense an injustice. You might not have used that word for it; you might not have the words for it; you might not be able to put your finger on it. Feminism can begin with a body, a body in touch with a world, a body that is not at ease in a world; a body that fidgets and moves around.5 Darin steckt auch die Annahme, dass das Unrecht, noch bevor es in Worte gefasst wird, wahrgenommen wird – dass es mit Haut und Haaren als Unrecht registriert wird. Dieses kritische Verhältnis von Begriffen und Erfahrung, wie es bei Ahmed zum Ausdruck kommt, ist untrennbar mit der Praxis des Schreibens und der Suche nach Wörtern und Erzählungen verbunden. Es geht um ein Schreiben, das es als Haltung und Lebensform vermag, vergangene und gegenwärtige Realitäten, die unterdrückt, ausgeblendet, kaum zu begreifen sind, zu evozieren, zu vergegenwärtigen, zu verstehen. Ahmed gründet ihre Analysen auf Lektüren von Audre Lorde, die ihrer- 5 Ahmed: Living A Feminist Life, S. 22. 218 Laura Moisi seits eindrücklich beschrieben hat, was es bedeutet, das zur Sprache zu bringen, was sich dieser eigentlich entzieht: »The possible shapes of what has not been before exist only in that back place, where we keep those unnamed, untamed longings for something different and beyond what is now called possible, and to which our understanding can only build roads.«6 Die kritische Fabulation ermöglicht es, das Affektiv-Imaginäre des Feminismus zu erweitern, um die ungehörten Stimmen und die nicht erzählten Geschichten als Teil eines Erbes zu begreifen, das in die Gegenwart fortwirkt. Die Gegenwart als Kontinuität der Vergangenheit Um auf »Venus« zurückzukommen: Hartman beschreibt eine kritische Archivforschung, basierend auf der Erkenntnis, dass wir zwar nicht wis- sen können, wer »Venus« war und was ihr widerfahren ist, Schweigen jedoch nicht die einzige Konsequenz sein muss. Die kritische Fabulation, die Hartman skizziert, ist ein Schreiben aus dem Bewusstsein heraus, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern in der Gegenwart fortwährt. »I, too, live in the time of slavery, by which I mean I am liv- ing in the future created by it« (LM 9). Die Geschichte von »Venus« und das Erbe der Gewalt der Versklavung wirkt ungebrochen bis heute fort. If this story of Venus has any value at all it is in illuminating the way in which our age is tethered to hers. A relation which others might describe as a kind of melancholia, but which I prefer to describe in terms of the afterlife of property, by which I mean the detritus of lives with which we have yet to attend, a past that has yet to be done, and the ongoing state of emergency in which black life remains in peril. (VTA 13) »Venus« ist insofern ein Gespenst der Vergangenheit, als Rassismus und strukturelle Gewalt auch heute den Alltag von People of Color prägen (vgl. VTA 5). Kritische Fabulation verweist auf die Kontinuität der Vergangen- heit, auf das Nachleben der Sklaverei in der Gegenwart. Denn das Archiv existiert nicht in einem herrschaftsfreien und zeitlosen Raum, sondern wirkt in das Hier und Jetzt ein. Christina Sharpe hat diese Gegenwart der Vergangenheit in ihrem Buch In the Wake. On Blackness and Being (2016) als ein prägendes Bild beschrieben: »the wake« bezeichnet die Spuren, die das Sklavenschiff hinterlässt (»wake of the ship«), aber auch die Totenwache (»wake« im Sinne von »vigil or watch«), die sowohl die 6 Lorde: »An Interview«, S. 101. Unmögliche Biografien 219 Trauer über die zahlreichen frühzeitigen Todesfälle in Schwarzen Gemein- den zum Ausdruck bringt als auch Formen des kollektiven Andenkens.7 Was Sharpe im Anschluss an ihre Leitmetapher »wake work« nennt, ist das Bemühen um Bewusstmachung und kritische Erinnerung – eine Praxis, die sich der Gewalt des offiziellen Vergessens und Verdrängens entgegenstellt.8 Der insgesamt vielleicht wichtigste Punkt, auf den Hartman hinweist, ist der Folgende: Es ist relativ einfach, den Rassismus und die Brutalität der historischen Gewalt von Sklavenhändlern zu verurteilen. Aber die koloniale Verstricktheit der weißen Welt zu erkennen – das Erbe der Gewalt, überliefert in Bildern und Erzählungen (aber nicht nur dort) – ist eine unbewältigte Aufgabe der Gegenwart. In der Rekonstruktion von unmöglichen Biografien mit Methoden der Fiktion implodieren Gegen- wart und Vergangenheit, und das, was niemand eines Blickes würdig befand, rückt in den Fokus. Es sind erzählerische Experimente, die den Toten nicht versuchen, ihre Stimme zurückzugeben, sondern jenen in der Gegenwart, die im Erbe der Versklavung leben. Darin liegt das Politische für die Gegenwart: Es ist eine Politik der Narration, denn das Erdenken und Spekulieren über das, was hätte sein können, entsteht immer in den Möglichkeitsräumen der Wirklichkeit. Daran erinnert Lorde, wenn sie schreibt, dass sie lange Zeit dachte, Gedichte und Fiktionen würden nur im Kopf entstehen, bis sie verstand: »[Y]ou can’t even make it up unless it happens, or can happen.«9 Siglenverzeichnis MEW = Hartman, Saidiya: Wayward Lives, Beautiful Experiments. Intimate Histories of Social Upheaval, New York 2019. LM = Hartman, Saidiya: Lose Your Mother. A Journey Along the Transatlantic Slave Route, New York 2006. VTA = Hartman, Saidiya: »Venus in Two Acts«, in: Small Axe, 12 (2008), H. 2, S. 1–14. Literaturverzeichnis Ahmed, Sara: Living A Feminist Life, London 2017. Lorde, Audre: »An Interview. Audre Lorde and Adrienne Rich«, in: dies: Sister Outsider. Essays and Speeches by Audre Lorde, Berkeley 1984, S. 81–113. Sharpe, Christina: In the Wake. On Blackness and Being, Durham / London 2016. Stoler, Ann Lauren: Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton 2009. 7 Vgl. Sharpe: In the Wake, S. 21. 8 Vgl. ebd. 9 Lorde: »An Interview«, S. 85. Afro-Feministisches Fabulieren in der Gegenwart – und mit der Höhle K at r i N K ö p p e r t In der Interviewpassage, die dem Text folgt, der den Begriff des Afro- futurismus prägen sollte, antwortet Tricia Rose auf die Frage Mark Derys, ob die Frau* mit der Waffe der technofeministischen Imagination der Cyborg nach Donna Haraway entspräche: »I think feminist mothers are the most dangerous muthafuckahs out there; if I were to be really hard- core; I could say that feminists who refuse to have children ain’t threaten shit after a certain point!«1 Das Gebären von Kindern als ultimative Waffe des Feminismus zu begreifen, ist geradezu verblüffend – insbesondere in Hinblick auf Haraway, deren Appell »Make Kin Not Babies« in Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene (2016) unmissverständ- lich ist.2 Und doch macht die diskursive Verlagerung der Waffe in den Uterus der Frau* nicht nur aus technofeministischer, sondern auch aus afrofuturistischer Perspektive Sinn. Die Gebärmutter als Technologie zu verstehen, ermöglicht, auf die koloniale Geschichte der gynäkologischen Medizin und technologischen Experimente zu verweisen, die Schwarze Frauen* in der Post-Sklaverei zu Versuchskaninchen und zur Disartiku- lation der menschlichen Form machte.3 Sie als Technokörper hervorzu- heben, verändert aber auch die westlich geprägte binäre Vorstellung von Natur und Kultur und lässt insbesondere Schwarze Weiblichkeit nicht in Opposition zu Technologie erscheinen. Damit artikuliert sich nicht nur eines der zentralen Motive des Afrofuturismus allgemein, vielmehr findet Afrofuturismus seine feministische Stimme – und zwar nicht erst mit aktuellen Vertreterinnen* aus Popkultur, Film, Literatur und Theorie wie Janelle Monáe, Erykah Badu, Ytasha L. Womack, Nnedi Okorafor oder Prinzessin Shuri in Black Panther (2018). »[Afrofuturism] is not a space that women are finding identity; it is a feminist space«4 und Lieutenant Uhura aus Star Trek (1979–1991), Octavia Butlers Science- Fiction-Romane, Grace Jones’ (Sound-)Ästhetik oder Alice Coltranes Elektrojazz sind dessen Beweis. Afrofuturismus als feministischen Raum 1 Rose in Dery: »Black to the Future«, S. 221. 2 Vgl. Haraway: Staying with the Trouble, S. 99−103. 3 Vgl. Snorton: Black on Both Sides, S. 18. 4 Nelson zit. n. Womack: Afrofuturism, S. 175. Afro-Feministisches Fabulieren 221 zu konstatieren, beschwört, was die Künstlerin Tabita Rezaire in ihrer Videoarbeit Sugar Walls Teardom (2016) in digitale Bilder übersetzt hat: Die Gebärmutter ist der eigentliche Alien, der das Raumschiff verlässt, um Mutmaßungen über Black futures und insbesondere auch feministische Zukünfte in Gang zu setzen. Abb. 1: Tabita Rezaire: Sugar Walls Teardom Doch um welche Spekulationen handelt es sich? Ist es die Vision von Tricia Rose, Universen feministischer Kinder zu gebären,5 die – angesichts von Klimawandel und Überbevölkerung – schon auch irgendwie dystopisch ist und damit – aus historisch nachvollziehbaren Gründen – im Zeichen des eher despotischen Hangs eines gegenüber dem Menschen indifferenten posthumanen Afrofuturismus steht?6 Oder geht es darum, Afrofuturismus als Vehikel zu nutzen, als Schwarze Frau* eine Identität, eine »innere Wahrheit« zu finden, wie es zum Beispiel Ytasha L. Womack in ihrem Buch Afrofuturism. The World of Black Sci-Fi and Fantasy Culture (2013) nahelegt, wenn sie schreibt: »Afrofuturism is a free space for women, a door ajar, arms wide open, a literal and figurative space for black women to be themselves.«7 Oder bedeutet die Wendung hin zu Afrofuturismus als feministischer Raum, dass es sich – anstelle einer in die Zukunft 5 Vgl. Rose in Dery: »Black to the Future«, S. 221. 6 Vgl. Eshun: More Brilliant Than the Sun, S. 00−005. 7 Womack: Afrofuturism, S. 138. (Hervorhebung von K.K.) 222 Katrin Köppert projizierten Möglichkeit, sich als Schwarze Frau* zu finden – um den Versuch handelt, das Jetzt als Anlass zu sehen, anderen Dingen als der Aussicht auf eine mit Selbst-Kohärenz apostrophierten Zukunft Freiraum zu geben? Dies zumindest ist der Ansatz Kara Keelings in ihrem Buch Queer Times, Black Futures (2019). Ohne sich im Entweder-oder-Modus auf die eine oder andere Seite dieser verschiedenen afrofuturistischen Feminismen schlagen zu wollen, motiviert dieser von Keeling noch aus- zuführende Zugang zu Afrofuturismus meine Fabulation über die bereits erwähnte Alien-Technologie des Uterus, wobei es mir vor allem um die Vulva und das von ihr ausgehend sehr weit gefasste Motiv der Höhlung geht. Mit der Höhlung möchte ich die feministische Lesart des Speku- lums, also der westlich-maskulinistischen Sehtechnik des Aus-Spähens weiblicher* Körper, ins Verhältnis zu afrofuturistischen Verhandlungen der Höhle und der Tiefe setzen, also Orte jener Kreativität, die Keeling im Jetzt vermutet, im »now, that harbors chaos and, therefore, a capacity for change«.8 Diese Verhandlungen finden auf den drei miteinander verschränkten Ebenen der Populären Kultur, der Poesie und der Theorie statt, die – in- sofern sich die eine nicht gegen die andere ausspielen lässt – markieren, was ich mit Afro-Fabulation im Anschluss an Tavia Nyong’o meine. Keine Ebene beansprucht für sich eine Wahrheit. Afrofuturismus im Durchgang durch Populäre Kultur,9 poetischen Ausdruck und theore- tische Reflexionen zu entwickeln, lässt sich daher verstehen als »the tactical fictionalizing of a world that is, from the point of view of black social life, already false«.10 Konkret heißt das, dass ich die Lektüre von drei Musikvideos mit verschiedenen poetischen Fragmenten und theo- retischen Ansätzen verbinde und dabei ausreize, dass Fabulation das Verhältnis zwischen Wahrheit und Lüge in einem anderen als moralisch zu bewertenden Sinne ausstellt.11 Indem ich theoretische Ausführungen und (mytho-)poetische Positionen an die Musikvideos herantrage, die womöglich nicht augenscheinlich sind, eher versponnen wirken, handelt 8 Keeling: Queer Times, Black Futures, S. ix. Nachweise im Folgenden mit Sigle QTBF und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 9 Über die besondere Rolle der Schwarzen vernakulären Kultur, insbesondere der Populären Musik schreibt Paul Gilroy in The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness (1993). Ohne sie lässt sich der kritische und intellektuelle Diskurs der Schwarzen Diaspora nicht denken. Krista Thompson wiederum erläutert, inwiefern Hip-Hop die Linse ist, durch die Kunstgeschichte aus einer Schwarzen Perspektive reflektiert wird. Vgl. Thompson: »The Sound of Light«. Das sind nur zwei Beispiele, die die Untrennbarkeit von Kunst, Populärer Kultur und Theorie für eine Schwarze Perspektive verdeutlichen. 10 Nyong’o: Afro-Fabulation, S. 6. 11 Vgl. Nietzsche zit. n. Nyong’o: Afro-Fabulation, S. 5. Afro-Feministisches Fabulieren 223 es sich bei diesem Text um einen, der fabuliert und trotzdem kritisch ist,12 bzw. der fabuliert, weil er kritisch gegenüber dem Nachleben der Sklaverei ist, dieser falschen Welt, in der – wie Audre Lorde es zum Ausdruck bringt – »Blacks were never meant to survive«.13 Abb. 2: Janelle Monáe: Dirty Computer »I don’t know what this is. It doesn’t even look like a memory. Is this a dream?«, fragt einer der beiden weißen Männer, die in dem Musikvideofilm Dirty Computer (2018) von Janelle Monáe dafür zuständig sind, die Erin- nerungen der sogenannten dirty computers, das heißt aller oppositionellen Subjekte, zu löschen, um eine vom Reinheitsparadigma überzeichnete und gleichgeschaltete Kontrollgesellschaft zu ermöglichen. Die Verwirrung des Cleaners, ob es sich um eine Erinnerung oder einen Traum handelt, bezieht sich auf das vorab gezeigte Video zum Song Django Jane, das noch zum Zeit- punkt der Nachfrage durch einen Filmstill auf dem Screen der beiden Männer zu sehen ist. Dieser Filmstill ist Schlüsselszene des gesamten Films. Mit dem Video Pynk, das der Szene folgt, kommt es intradiegetisch zum lesbischen Outing der Protagonistin Jane 57821, was als Outing der afroamerikanischen Künstlerin interpretiert wurde und 2018 medial Wellen schlug. Das allein ist nicht wenig, berücksichtigt man* die Heteronormalisierung von Afrofuturismus im populärkulturellen Spektrum durch unter anderem Beyoncé. Und doch geht es mir noch um einen anderen, wenngleich von der Frage der Queerness nicht weglenkenden Aspekt: den der fabulierenden Kraft der Vulva. Dieser bestätigt letztendlich, dass es sich hier nicht um eine Erinnerung handelt, die, 12 Vgl. auch Hartman: Lose Your Mother. 13 Lorde: A Litany for Survival, S. 31. 224 Katrin Köppert einmal ausgelöscht, unwiederbringlich ist, sondern einen (queeren) Traum, der allen Widerständen zum Trotz überlebt. Obwohl der Film in der Zukunft spielt, appelliert er an die Träume, deren Refugien die verpassten queeren Chancen in der Vergangenheit sind. Der Filmstill zeigt in dem Moment, als die Frage aufkommt, ob es sich um eine Traumsequenz handelt, die Szene im Video zu Django Jane, in der, kurz nachdem Monáe die Songzeile »Let the vagina have a monologue« gesungen hat, aus der Vogelperspektive der Schoß der Protagonistin Jane 57821 dargestellt wird. Im Schoß halten zwei zum feministischen Gruß geformten Hände einen runden Spiegel, der das Gesicht von Jane 57821 wiedergibt. In Referenz auf die feministischen Selbsterkundungen der 1970er Jahre widersetzt sich Jane 57821/Monáe dem männlichen Blick und Anspruch, alles sehen und erklären zu können. Einerseits indem sie sich des Spiegels als Symbol des männlichen Blicks durch das Spekulum bedient, andererseits indem sie in den Spiegel ihr Selbstbild einbringt. »Armed with gynecological speculum, a mirror, a flashlight […] women ritually opened their bodies to their own literal view. […] The mirror was the symbol forced on women as a signifier of our own bodies as spectacle-for-another in the guise of our own opposed narcissism«,14 schreibt Haraway und findet in Jane 57821/Monáe eine Nachahmerin der zweiten Frauenbewegung. Jedoch ist diese Nachahmung im doppelten Sinne fiktiv und traumhaft, nicht nur weil das Lied die misogyne und in allen Fragen der sexuellen Selbstbestimmung vor allem Schwarzer Frauen* rückschrittliche Gegenwart beschreibt;15 auch, weil der filmische Ausblick auf die Zukunft eine Geschlechter-Dystopie inso- fern entwirft, als zum Beispiel lesbische Sexualität verunmöglicht wird, stellt die aufgerufene sexuelle Befreiung der Frauen* in den 1970er Jahren eine Utopie in der Gegenwart dar. Die Chancen, die sich in der Vergangenheit für die sexuelle Selbstbestimmung auftaten und eng an queere Konstellationen geknüpft waren, sind verspielt und bilden dennoch die Reserve, aus der sich die Möglichkeiten in der Gegenwart ableiten lassen. Diese Möglichkeiten sind eng an die Visualisierung und Kontextualisierung der Vulva im Video geknüpft und konvertieren sie in eine afrofuturistische Technologie Schwarzer queerer Weiblichkeit. Allein der Umstand, dass mit Blick auf das Spiegelrund als signifier des spekulativen Sehens in den dunklen Grund Schwarzer Weiblichkeit* die Songzeile »Mansplaining, I fold em like origami« ertönt, lässt darauf schließen, dass die Vulva der Ort ist, an dem männlich kodierte Wahr- heitsansprüche nicht nur kleingefaltet werden, sondern auch zu einem Origami. Meine Vermutung ist, dass mit der Referenz auf die Falttechnik 14 Haraway: Modest_Witness@Second_Millennium, S. 193. 15 Monáe beschreibt in diversen Interviews, dass die aktuelle Diskriminierung von und Gewalt gegenüber Schwarzen Frauen* ausschlaggebend war, um mit dem neuen Album Selbstbestimmung zu reklamieren und Schwarze Weiblichkeit zu zelebrieren. Der Song Django Jane steht dafür paradigmatisch und ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit Schwarzer Maskulinität, an welcher die Emanzipation Schwarzer Frauen* auch zu scheitern droht. Vgl. u. a. Monáe: »Janelle Monáe Reveals Important ›Dirty Computer‹ Messages & Meanings«. Afro-Feministisches Fabulieren 225 des Origamis die Vulva Ort einer Fabulation wird, die den Narzissmus und die auf Selbstbewusstseinsbildung ausgerichteten Prozesse konterkariert, wodurch die queeren Aspekte einer feministischen Vergangenheit in der Gegenwart freigesetzt werden. Nach Jacques Derrida ist die Figur der Fal- te der dialektischen Figur der Reflexion gegenübergestellt und drückt das »unmögliche Zu-sich-Kommen eines Subjektes«16 aus. Faltung hebt schlicht die Unmöglichkeit eines Selbstbewusstseins hervor, eines Identitätsentwurfs, der Wesenhaftigkeit, Kohärenz und Stabilität bedeutet. Die Anspielung auf Faltung und Falte bricht das Spiegelmoment, was schließlich auch das feministische Modell der Aneignung des Spekulums in ein Fabulieren überführt, das Queerness herausstellt. Indem Monáe in der sich unmittelbar anschließenden Zeile singt »What’s a wave, baby? This a tsunami«, liegt zudem die Annahme nahe, der Spiegel erführe mit der Wellenbewegung eine Beugung und die Reflexion würde zu einer Diffraktion. Haraways Begriff der Diffraktion, den sie im Anschluss an ihre kritische Lektüre der optischen Metapher der Reflexion entwickelt, negiert, das Gleiche an einen anderen Ort versetzt zu sehen, wie es bei der Spiegelung der Fall ist.17 Durch die Vorstellung der sich an einem Hindernis brechenden Wellen entstehen neue Muster und Möglichkeiten, die sich in eine nicht vorhersagbare Zukunft öffnen. »[Diffraction is] a powerful figure for troping the end[, that is] for considering how to make the end swerve.«18 Das Ende abzuschwenken, kann bedeuten, der Zukunft die Möglichkeit zu entziehen, nur als kausale und lineare Ableitung einer misogynen und ras- sistischen Gegenwart zu operieren. Diffraktion fungiert in diesem Sinne als Metapher nicht-kausaler, fabulativer Zusammenhänge zwischen Gegenwart und Zukunft. Dass diese als Traum überleben, ist dabei nicht unwesentlich. Die mit den Anspielungen auf die Vulva und die Tsunami-Wellen (der Erregung) zum Ausdruck gebrachten »feelings«, die – wie Lorde schreibt – als Traum an die Oberfläche kommen, bestimmen – »even when they are rendered impercep- tible as such« (QTBF xv) – die Imaginationskraft einer anderen Welt: »They surface in our dreams, and it is our dreams that point the way to freedom.«19 Afro-Fabulation als Theorie und Praxis der Gegenwart »We were never meant to survive« (QTBF ix) ist das Zitat Lordes, das Keeling an den Anfang ihres Buches stellt. Sie spürt damit der Frage nach, ob und wie sich Möglichkeitsräume für Veränderung in dem nicht enden wollenden Kampf ums Überleben und in der nicht zum Abschluss kommenden Zeit des Leidens an Rassismus und neokolonialen Verhält- nissen auftun. »If we were never meant to survive as such, what do we do 16 Hajduk: Die Figur des Erhabenen, S. 53. 17 Vgl. auch Köppert: »Glanz«. 18 Haraway: Modest_Witness@Second_Millennium, S. 16. 19 Lorde: »Poetry Is Not a Luxury«, S. 39. 226 Katrin Köppert ›with the time that remains‹, while we suffer?« (QTBF ix), fragt Keeling, um kurz darauf zu insistieren, dass eine andere Welt bereits da ist, jetzt, in dieser Gegenwart, die das Überleben ungreifbar erscheinen lässt. Keeling vollführt damit eine Denkbewegung, die dem Afrofuturismus eigen ist und dennoch eine Akzentverschiebung bewirkt. Afrofuturis- mus thematisiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschränkt und verdeutlicht zum Beispiel, dass Schwarze Menschen in der Gegenwart erleben, was aufgrund der kolonialen Geschichte der Dehumanisierung für weiße Menschen nur als Realität einer posthuma- nen Zukunft vorstellbar ist.20 Dennoch ist Afrofuturismus punktuell von Zukunftstechnologien und der mit ihnen in Zusammenhang stehenden Industrien und (kalifornischen) Ideologien verführt.21 Das hat nicht nur zur Folge, dass Afrofuturismus über die Affirmation von neuen Techno- logien Zukunft als Inspirationsquelle für eine gerechtere und weniger gewaltvolle Gegenwart ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, sondern als utopisches Projekt der Imagination einer alternativen sozialen Re- alität verkennt (vgl. FC 290). Die Tendenz, sich von einer Zukunft für eine bessere Gegenwart inspirieren zu lassen, kann aber nur so lange funktionieren, wie Zukunft als Gegenzukunft gedacht wird oder wie sie sich in Rückkoppelung mit ebenjenen Aspekten der Gegenwart verbindet, die den profitorientierten Zukunftstechnologie-Unternehmen konträr ge- genüberstehen. Aus genau diesem Grund fokussiert sich Keeling auf die Alternativen in der Gegenwart. Sie verlagert das Gegen in das Jetzt und sucht Gegenwart. Dabei verbindet sich ihr afrofuturistisches ›Programm‹ mit dem, das Kodwo Eshun am Ende seiner ernüchterten Betrachtung des in Zukunftsindustrien verkehrten Genres der Science-Fiction vorschlägt: Afrofuturismus ist das Programm, das ermöglicht, in der Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus Gegenzukünfte wiederzuentdecken (vgl. FC 301), also Zukünfte, die einst entgegen der entwürdigenden Gewalt imaginiert wurden, »futures that were once imagined but never came to be, alternatives that might have been and whose unrealized emancipa- tory potential may now be recognized and reawakened«.22 Keeling setzt darauf, dass das in der Vergangenheit nicht realisierte emanzipatorische Potenzial in der Gegenwart zugänglich wird – trotzdem diese Gegenwart am langen Arm der Sklaverei hängt (vgl. QTBF 35). Jedoch schließt die- ses gewaltvolle Nachleben der Sklaverei nicht aus, über die verpassten 20 Vgl. u. a. Eshun: »Further Considerations on Afrofuturism«, S. 298. Nachweise im Fol- genden mit Sigle FC und Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 21 Vgl. FC; Van Veen: »Review Afrofuturism«, S. 155. 22 Wilder: Freedom Time, S. 16. Afro-Feministisches Fabulieren 227 Möglichkeiten in der Gegenwart zu fabulieren. Im Gegenteil: Da es kein richtiges im falschen Leben gibt, macht die Fiktionalisierung von Ver- gangenheit überhaupt erst Sinn. Sie ist der Türöffner zu den verpassten, den vereitelten Möglichkeiten. Mit dem fiktiven Blick durch den Türspalt der Zeiten werden die nicht realisierten Zukünfte (»what might have been«) der Vergangenheit (»what was«) in der Gegenwart zugänglich. Nur was heißt »zugänglich« im Zu- sammenhang einer Gegenwart, die – wie Keeling im Anschluss an Lorde beschreibt – nicht dazu bestimmt ist, als Schwarze Person überleben zu können (we were never meant to survive)? Für Keelings Argumentation entscheidend ist, dass die möglichen Zukünfte der Vergangenheit und mithin die der Gegenwart existieren, aber durch weiße westliche Diskur- se der Erkenntnis und der auf Parametern der Sichtbarkeit reduzierten Wahrnehmbarkeit nicht zugänglich werden. Wie auch sollte es möglich sein, Bilder möglicher Zukünfte für Schwarzes Leben zu generieren, wenn Bilder die Krise der Repräsentation Schwarzer Menschen darstellen; wenn also Bilder für Schwarze Menschen immer schon virtuell in dem Sinne waren, niemals eine Beziehung zum Index, das heißt zur Realität Schwarzer Menschen, aufgewiesen zu haben (vgl. QTQF 31 f.). Insofern der visuelle europäische Diskurs ein im Gewand von Wissenschaft und Recht getarntes »Verfahren des Fabulierens«23 mit den bekannten Folgen der Gewalt und Sklaverei darstellt, braucht es – so der Vorschlag Keelings – andere Formen des (visuellen) Fabulierens. Feelings und things sind dabei zwei Varianten ein und derselben Überlegung: Beide investieren auf der Grundlage dessen, nicht berechenbar, vorhersagbar oder nach Kriterien der Messbarkeit erkennbar zu sein, in Black futures. »Where Afrofutur- ism invests in Black futures, it is characterized by a type of wealth that cannot be measured by a predetermined yardstick, wrenched open in ut- terly unpredictable queer times that refuse foreclosing on queer futures« (QTQF xiii), schreibt Keeling. Sie appliziert das Verhältnis von Zeitlichkeit und Queerness auf das Vermögen (wealth), das das flüchtige Sein einer nicht zum Abschluss kommenden, einer nicht auserzählbaren Menschheit charakterisiert.24 Insofern Keeling hinsichtlich dieser queeren Kapazität von wealth Beschreibungen des Begehrens und der produktiven Kräfte noch vor jeder profitorientierten Kommodifizierung hervorhebt, bindet 23 Mbembe: Die Kritik der schwarzen Vernunft, S. 31. 24 Keeling bezieht sich hier auf Fred Motens Lesart von Karl Marx’ Begriff des Vermögens. Moten drückt es wie folgt aus: »fugitive being of ›infinite humanity‹, or as that which Marx calls wealth« (Moten: »The Case of Blackness«, S. 214). 228 Katrin Köppert sie die Black futures animierende queere Zeitlichkeit an Verhältnisse des Affektiven und Materiellen im Visuellen, der feelings und things. Mit diesen Überlegungen in den Vordergrund rücken ästhetische Figurationen wie die von Édouard Glissant eingeführte Figur der Opa- zität, die als Gegenstück zum westlichen Transparenzgedanken an die Unbegreiflichkeit von Gefühlen und Dingen heranführt.25 Die Dinge und Affekte, die die rational nicht fassliche und als dunkel konnotierte Seite des Verstandes adressieren, korrespondieren mit rassifizierten, verge- schlechtlichten und somit abgewerteten Aspekten. Genau diese jedoch werden zum ästhetischen Ausgangspunkt einer Fabulation, welche die Kapazitäten in der Gegenwart freisetzt, Veränderungen in der Zukunft herbeizuführen. Dies soll in mehreren Durchläufen am Beispiel der dunk- len Höhle durchgespielt werden. Die Höhle dient der afro-feministischen Fabulation, die Zukünftigkeiten in der Gegenwart in eine Existenz zu fühlen und zu materialisieren. Abb. 3: OKZharp und Manthe Ribane: Closer / Apart Vor einer weißen Wand, an der ein weißes Bild hängt, tanzt die südafrika- nische Künstlerin, Mode-Designerin, Choreographin und Musikerin Manthe Ribane, selbst in Weiß gekleidet, im Video zu ihrem mit OKZharp 2018 veröffentlichten Debütalbum Closer / Apart, das südafrikanische Gqom-Beats und britisch-diasporischen Grime verbindet. Links neben der tanzenden Ribane 25 Vgl. Glissant: Poétique de la Relation. Afro-Feministisches Fabulieren 229 öffnet sich die Wand in einen Kamin, in dem ein Feuer lodert. Obwohl sie dem Feuer abgewandt ist, trägt sie eine übergroße lichtundurchlässige Brille, die an eine Schweißerbrille erinnert. Gleichzeitig weist die Brille deutliche Bezüge zu afrofuturistischen Ästhetiken auf, die sich verstärken, als Ribane den südafrikanisch subkulturellen Tanzstil Pantsula mit roboterähnlichen Bewegungen abmischt. Die Kombination aus hyperartifiziellem White Cube, futuristischem Design, Feuer, Blindheit und maschinellen Bewegungen kanali- siert den Interpretationsfluss und lässt vor dem Hintergrund eines westlichen Textkanons an das Höhlengleichnis Platons als der ›Meister‹-Erzählung des geistigen Seins denken. Es besagt, dass die Menschen, die mit dem Rücken zum Höhlenausgang sitzen und die durch ein hinter ihnen brennendes Feuer erzeugten Schatten an der Wand vor ihnen als Wirklichkeit betrachten, unfrei und im Grunde genommen blind gegenüber dem eigentlichen Wesen sind, das das Feuer erleuchtet. Dass die Vorstellung des sich aus der Höhle befreienden Menschen spätestens mit der Aufklärung rassifiziert wurde und nur weißen Menschen26 zugewiesen wurde, adressiert das Video, indem Ribane – das Feuer im Rücken – durch die Brille erblindet, noch nicht einmal Schatten sehen kann und anhand ihrer roboterähnlichen Bewegungen als Sklavin27 lesbar wird. Obwohl sich also Ribane inmitten eines weißen / erleuchteten Settings befindet, deutet vieles darauf hin, dass sie als Schwarze Frau noch immer unfrei ist, ihr Leben noch immer das Falsche im vermeintlich Richtigen. Und dennoch: Die Blinden werden zu Seher*innen. Wie Lorde in ihrem Gedicht Afterimages (1981) schreibt, verbleiben Bil- der, unabhängig davon, ob sie visuell wahrgenommen wurden, im Inneren und stiften dort – in dieser Höhle – ein widerstandsfähiges, in die Zukunft weisendes Leben: »However the image enters / its force remains within / my eyes / rockstrewn caves where dragonfish evolve / wild for life, relentless and acquisitive / learning to survive«.28 Nicht sehend, in sich gekehrt, singt Ribane mit computerverstellter Stimme und in nahezu endlos erscheinender Wiederholung: »Don’t forget, don’t forget, don’t forget, don’t forget to remem- ber … Times to share, they will always last forever.« Die repetitive Mahnung, nicht zu vergessen, impliziert, dass sich – der Blindheit zum Trotz – Bilder im Inneren festgesetzt haben, die sie – solange sie sich erinnert – verlebendigen, ohne sie durch das Muster westlicher Subjektformationen zu pressen. Nicht ohne Grund changieren ihre Bewegungen zwischen Technologie und Krea- türlichem, zwischen Roboter und Insekt. Insofern ist sie eine schattenhafte Figur. Diese stellt die Negation der westlichen Subjektivität dar, ohne eine alternative Schwarze Subjektformation anzubieten, die die zerstörte westliche ersetzt.29 Als Schattenfigur ist Ribane die »mobile agent«, die Beth Coleman als »dispersed being, one that relies on the action of motion to formulate itself«30 konkretisiert. Neben der steten Bewegung Ribanes im Video spielt 26 Vgl. Hegel: Vorlesungen. Wenngleich Hegel von Menschen schreibt, geht es ihm darum, die Fähigkeit weißer Männlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. 27 In der Übersetzung des tschechischen Begriffs ›robota‹. 28 Lorde: »Afterimages«, S. 339. 29 Vgl. Coleman: »Race as Technology«, S. 202. 30 Ebd. 230 Katrin Köppert mobile agent auch auf die geografische Mobilität als Bedingung Schwarzer Existenzen an, die nicht primär dem US-amerikanischen race-Diskurs ent- springen (vgl. QTBF 159). Ribane als Südafrikanerin erinnert daran, dass »Africa as a structuring absence in much of this discourse of Afrofuturism is the biggest ghost in the house«.31 Aufgrund der engen Zusammenarbeit mit OKZharp, einem südafrikanisch-englischen Produzenten, steht das Video Closer / Apart auch für die Mobilität diasporischen Seins, das Keeling als die Kraft für »disorder and deformation within those societies of control« (QTBF 160) bezeichnet. Die Kraft der Störung lässt sich also auf das Schatten- dasein in der Höhle zurückführen, auf den das Fühlen in den Vordergrund stellenden Zustand der Blindheit, der hier im Video durch die silberfarbene Brille angedeutet wird. Um an dieser Stelle das Motiv der Höhle weiterzutreiben: In Kubona, ei- nem von Chris Saunders produzierten Video in »digitized 80s style block graphic«,32 sehen wir OKZharp und Manthe Ribane als Digitalisate. Mal in einer nächtlichen Wüstenumgebung, mal vor einer Stadtsilhouette kommen die beiden Figuren in für Musikvideos typisch zentralperspektivischer Einstellung beständig auf uns zu. Die Uhr und der Diamant sind die zwei wesentlichen Dinge, von denen sie umgeben sind. Die überdimensionierten Diamanten, die wie die Haut bläulich eingefärbt sind, könnten kaum aufdringlicher auf die Bedeutung Schwarzer Haut als kommodifizierte Ware hinweisen. Gleichzeitig, so ließe sich behaupten, stellen sie die Manifestation des für die Schwarze Geschichte wichtigen Lifestyles des Bling dar.33 Bling lässt sich aber auch als der Sound verstehen, der entsteht, wenn Licht auf einen Diamanten trifft und er glitzernd reflektiert. Dieses Aufblitzen thematisiert Krista Thompson in seiner blendenden Kraft. »Bling, then, conveys a state between hypervisibility and blinding invisibility, visual surplus and disappearance.«34 Der Diamant in seiner blendenden und unsichtbarmachenden Funktion birgt – rückgebun- den an den lokalen Kontext Südafrikas – noch eine weitere und damit auf die Höhle oder vielmehr die Mine schließende Bedeutung. Die bekannteste Diamantenmine in der Geschichte Südafrikas ist das sogenannte Big Hole, aus dem bis 1914 Diamanten gefördert wurden. Damit wird dem Video neben der diasporischen Subkultur auch die Kolonialgeschichte Südafrikas eingeschrieben, die insbesondere in Bezug auf Johannesburg, dem Lebens- mittelpunkt Ribanes, allgegenwärtig ist. Minen, die nirgendwo so tief wie in Johannesburg gebaut wurden, bedrohen heute das Fundament der Stadt. Mit den Mineralien wird also in zweierlei Weise auf die Schattenhaf- tigkeit Schwarzer Existenz verwiesen. Durch den Effekt der Blendung und den Verweis auf die Mine als der die Unfreiheit Schwarzer Menschen al- legorisierenden Höhle werden die Figuren des Videos als Schattenfiguren im Sinne Colemans gezeichnet. Insofern Coleman diese als mobile agents vorstellt, erscheint es sinnfällig, dass sie sich im Video permanent in Be- 31 Zuberi: »Is This The Future?«, S. 297. 32 OKZharp / Manthe Ribane: Closer / Apart. 33 Auf visueller Ebene handelt es sich dabei um die übertriebene Zurschaustellung der Reichtum konnotierenden Waren wie Gold und Diamanten. 34 Thompson: »The Sound of Light«, S. 483. Afro-Feministisches Fabulieren 231 wegung befinden. Auffällig dabei ist, dass sie sich bewegen und trotzdem nicht vorankommen. In der Endlosschleife ihrer Bewegung, das heißt in der nicht endenden Wiederholung ihrer Bewegung nach vorn, brechen sie aus der westlichen Erzählung des Fortschritts aus. Keeling spricht in dem Zu- sammenhang von der Bedeutung der Wiederholung für Black Culture: Sie würde das Element der Wiederholung anerkennen und nicht wie im Rahmen des westlichen Fortschrittsglaubens leugnen (vgl. QTBF 147). Dabei bedeutet Wiederholung nie Stillstand, sondern kleinste Modulationen. Diese bilden die Schnitte bzw. Unterbrechungen, die sich jeglicher Messbarkeit von zum Beispiel Zeit entziehen (vgl. QTBF 162). Insofern diese Schnitte in dem Video Kubona mit dem Bling des Diamanten zusammenfallen,35 werden die Uhren als Symbole der westlichen Zeitrechnung im Video unterminiert. Innerhalb des Liedtextes breitet sich so ein Hohlraum aus, der die Bedeutung der Zeitlosigkeit von Diamanten in eine Version Schwarzer Zukünftigkeit konvertiert: »I’m precious / I’m timeless / I’m priceless / I am endless / I am precious / my blindness«. Spekulum und Spekulation: Kosmische Emanationen weißer Männlichkeit Spekulum und Spekulation: Die zwei ihrer etymologischen Herkunft nach verwandten Terminologien zur Beschreibung eines Spähens, das der eingehenden Erforschung dient, wurden von Luce Irigaray als zwei miteinander verschränkte Verfahren zur Konstruktion von weißer Männlichkeit ausgewiesen. Neben einem Spiegel kann das Spekulum »ein Instrument sein, das die (Scham-)Lippen, Spalten, Wandungen auseinanderspreizt, damit der Blick ins Innere dringen, dort sehen kann, vor allem in spekulativer Absicht«,36 das heißt eines Willens zur Illusion, eines absichtsvollen Verkennens ›der Frau‹. Die »Hypothek des Myste- riums« bleibt also trotz aller Anstrengungen, »das Geschlecht der Frau auszuschürfen«, bestehen und ist Konstitutionsbedingung des Begeh- rens, »an der Reduktion einer Illusion zu arbeiten« (Sp 185). Wo sich ›der Mann‹ verausgabt, »mit Hilfe von Licht und zusätzlichen Spiegeln« (Sp 186), die inneren Höhlen des Weiblichen zu erforschen, »wird er so zur ›Sonne‹, als ob er es wäre, um den sich die Dinge drehen, ein stär- kerer Anziehungspunkt als die Erde« (Sp 169). Ein Anziehungspunkt, der ausstrahlt, alles überstrahlt. 35 Vgl. hierzu auch Muñoz: »The Case of Blackness«. 36 Vgl. Irigaray: Speculum, S. 184. Nachweise im Folgenden mit Sigle Sp und Angabe der Seiten zahl direkt im Text. 232 Katrin Köppert Auch im Afrofuturismus verfängt sich die Sonne als Symbol einer extraterrestrischen Welt.37 Deren Anziehungskraft geht jedoch nicht von der Einbildung einer Erleuchtung aus, die weiße Männlichkeit als das unberührbare Zentrum determiniert. Vielmehr verweist die Sonne auf die Realität einer Existenz außerhalb des Irdischen als unmittelbare Folge der Illusionskraft weißer Männlichkeit. Im Afrofuturismus wird oft auf den Kosmos und seine Gestirne hingewiesen, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich als Schwarze Person auf der Erde nur als Alien leben lässt. Am Grund der Sonne ist aber kein menschliches Leben möglich, was auf unvergleichbar brutale Weise den Alltag Schwarzen Lebens als in seiner Existenz bedroht rahmt. Frantz Fanon schreibt: »I am black, not because of a curse, but because my skin has been able to capture all the cosmic effluvia. I am truly a drop of sun under the earth.«38 Schwarze Männlichkeit, die vor dem Hintergrund der Sonne als Symbol weißer Männlichkeit die kosmischen Emanationen dieser weißen Männlichkeit absorbiert, ist – so lese ich Fanon auf einen ersten Blick an dieser Stelle – nicht lebensfähig; unter die Erde gebracht, sozusagen. Weil sich in ihr wie in einem Brennspiegel die Strahlen weißer männlicher Kosmologie treffen, schmilzt sie zu einem Tropfen und tritt als solcher ins Erdreich ein, die dunkle Höhle der Untoten. Abb. 4: Sevdaliza: Shahmaran 37 Herman Poole Blount alias Sun Ra inszenierte sich zum Beispiel als musizierender Son- nengott aus altägyptischer Zeit und wies darauf hin, dass sonnengöttliche Schwarze Männlichkeit nicht mit der einer weißen männlichen Epistemologie zu verwechseln ist. 38 Fanon: Black Skin, White Masks, S. 27. Afro-Feministisches Fabulieren 233 Es beginnt mit dem Gesicht eines Schwarzes Mannes, eingetaucht in das fließende Dunkel einer Oberfläche, die wir aus der Position des Untergrunds betrachten. Das Video zum Song Shahmaran (2017), der ersten Auskoppelung des Debütalbums der niederländisch-iranischen Musikerin Sevdaliza, setzt mit einer Unterwasseraufnahme ein. Die extradiegetische Einstellung, die die Kamera unterhalb der Oberfläche dieses öligen Schwarz anordnet, ummantelt das Video aus Perspektive derer, die im transatlantischen Sklav*innenhandel wortwörtlich untergegangen sind. Als Zuschauer*innen sind wir schon im Reich der Toten, da hat das Video noch gar nicht recht angefangen. Und doch entfaltet es von dort ausgehend eine audiovisuelle magische Spannung, die für afronautische Futurismen tragend ist.39 Der Mann, dessen Gesicht wir anfangs sehen, ist einer unter vielen, die an Tauen inmitten einer von extremer Dürre gezeichneten Wüste ein überdimen- sioniertes und futuristisches Yachtschiff hinter sich herziehen. In Anspielung auf den Sisyphus-Mythos leiden die Männer nicht nur an der brachialen Schwere ihrer Arbeit, sondern auch an der Sinnlosigkeit ihres Tuns. Die an das Zombie-Motiv erinnernden Augen des anfangs eingeführten Protagonisten erblicken die von Sevdaliza gespielte Figur der Shahmaran, einer mythischen Figur des Mittleren Ostens und insbesondere des Irans, deren Attribut, die Schlange, in dieser Einstellung zu sehen ist. Wie eine Fata Morgana bestimmt sie das weitere Handeln des Protagonisten: Er befreit sich von seiner Arbeit, um aber letztlich in der Hitze zu verdursten. Als Vision zeigt sich ihm nach der Erscheinung Shahmarans, aber vor seinem Tod eine Spiegelwand, die verdeutlicht, dass er – anstelle der die Hoffnung symbolisierenden Sonne – lediglich einer Illusion entgegengelaufen ist. Es war nur die Reflexion, der Schein der schönen Dinge, die ihn verführt haben, die eine Sklaverei mit der anderen auszutauschen. Denn nachdem er die Spiegelwand passiert hat, offenbaren sich ihm materialistische Dinge wie Autos und Waffen, die zu besitzen gleichermaßen die Aufgabe jedweder Freiheit bedeuten. Emmanuel Adjei, visual artist des Videos, formuliert es wie folgt: »It’s the story of the black man, who continues life in a cycle of oppression. The modern chains on black men today are the aspirations of decadence, power, and success that create a false sense of autonomy and freedom. This leaves them victim of addictions to power and materialism […].«40 Eine der Aspirationen, die einen falschen Sinn der Autonomie Schwarzer Männlichkeit vermitteln, ist, Weiblichkeit besitzen und beherrschen zu kön- nen. So zumindest suggeriert es das Video, das, nachdem der Protagonist die vermeintlich männlichkeitsbeschaffenden Objekte des Autos, der Waffe und der Vinylplatte abgeschritten hat, Sevdaliza auf einem schwebenden Sockel, einer Odaliske ähnlich, zeigt. Insofern Attribute wie der aus Kristallen bestehende Gesichtsschleier oder die von Öl stark glänzende braune Haut 39 Afrofuturismus verbindet sich in dem Video – ohne in diesem Text weiter darauf eingehen zu können – mit Motiven des Golf-Futurismus. Dieser artikuliert die zeitliche Lücke zwi- schen ›Wüstenhandel mit Kamelen‹ und den Stahl-Glas-Stadtarchitekturen zum Beispiel Dubais und füllt sie mit Gegenerzählungen. Vgl. Avanessian / Malemi: Ethnofuturismen, S. 27−32. 40 Indiana: »Sevdaliza’s Shahmaran Director on Crafting One of 2018’s Most Epic Visuals«. 234 Katrin Köppert orientalisierende Stereotype nicht aussparen, wird rassifizierte Weiblichkeit als Ware umso deutlicher herausgearbeitet. Da es sich bei der Odaliske um die Wiederkehr der Figur der Shahmaran handelt, stellt sich jedoch das Programm von Weiblichkeit um. Nicht nur, dass es sich bei Shahmaran um eine mythische Figur handelt, die eine hybride Kreatur aus Frau und Schlange darstellt, sie symbolisiert auch die Kraft der Höhle, die sich im Video unter ihr in Form des schwarzglänzenden Quadrats materialisiert. Im Mythos lebt Shahmaran in der Höhle. Ein aus ihrem Körper zubereiteter Trank kann Leben retten, solange es sich um das erste Wasser aus ihrer Hand handelt. Das zweite ist tödlich. Sie wiederum, die stirbt, um heilbringend sein zu können, pflanzt sich in ihrer Tochter fort und herrscht weiter über das Reich der Schlangen. Im Video ist also das Wasser, das sich sozusagen am Höhleneingang unter Shahmaran befindet, nicht nur das Element, das – wie wir vom Anfang wissen – auf das Reich der Toten verweist, sondern im Erstkontakt Leben spendend ist. Obwohl der Protagonist am Ende verdurstet ist, eröffnet sich mithilfe der Referenz auf den Mythos eine Utopie, die für ihn zwar unerreichbar bleibt, aber aufscheinen lässt, dass sich abseits mate- rialistischer und auch heteronormativer Vorstellungen eine Zukunft eröffnet. So formuliert die Parthenogenese der Shahmaran, also die eingeschlechtliche Fortpflanzung in der Tochter, ein Verwandtschaftsverhältnis, das sich vor der Folie der heteronormativen Reproduktion eher queer ausnimmt und auf den eingangs erwähnten Haraway’schen Slogan »Make Kin not Babies« verweist. Insofern dieser die Neuformulierung gesellschaftlicher Prozesse und Ver- wandtschaftlichkeiten an die Frage eines anderen Umgangs mit Ressourcen knüpft, lässt sich Shahmaran nicht nur als neue Verwandtschaftsverhältnisse generierende Hybridtechnologie verstehen, sondern als Figur des nicht auf Konsum beruhenden Gesellschaftsvertrags. Die glühende Tiefe der Sprache. Afro-Fabulationen mit der Höhle Wenn Fanon schreibt: »I am truly a drop of sun under the earth«,41 lokali- siert er die Sonne unter dem Erdboden und verweist auf die dunkle Tiefe, in der sich die Kraft einer Hitze verfangen kann, die verfestigte Normen verflüssigt. Auch Irigaray hatte von der Höhle als der »funkelnde[n] und glühende[n] Tiefe […] der Sprache« gesprochen, die »die durch den Glanz des Goldes gebannten Augen mit Feuer bedroht. Das Umschmelzen ihres Wahrheitswertes ist da nicht mehr fern.« (Sp 183) Die von der Illusion, das Geheimnis des Weiblichen mithilfe des Spekulums desillusionieren zu können, gebannten und verblendeten Augen werden durch die Hitze der Höhle umgewandelt. »Denn gerade dort, wo die dunkle und schweigende Matrix eines in der Gewißheit seiner erhellenden Kraft unveränderlichen Logos wiedergefunden werden müßte, fangen stattdessen Feuer und Eis- 41 Fanon: Black Skin, White Masks, S. 27. Afro-Feministisches Fabulieren 235 spiegel zu glitzern an, die die Evidenz der Vernunft unterminieren.« (Sp 183) Feuer und Eisspiegel, die inmitten der dunklen und schweigenden Matrix der Höhle zu glitzern beginnen, zersetzen Evidenz, beruhend auf dem Prinzip der Opazität: Dem erkennen wollenden Blick wird durch das Feuer wie auch dem getrübten Spiegel der Eisoberfläche eine neuerliche Grenze gesetzt. Ins Schweigen der Dunkelheit bricht nicht die Sprache ein. Es bleibt die Leere, voll des Potenzials, den weißen männlichen Logos und dessen Narrative umzuschmelzen. Glissant, der dieses Potenzial der Leere bzw. Opazität eng an die Sinn- lichkeit von Poesie bindet, hält sich ganz in der Nähe von Audre Lorde auf, die in Poetry Is Not a Luxury (1977) auf die Kreativität der dunklen Orte hinweist, die – sinnlich erfahren – Black futures insbesondere für Schwarze Frauen* aufschließt. Sie schreibt: For each of us women, there is a dark place within, where hidden and gro- wing our true spirits rises. […] These places of possibilities within ourselves are dark because they are ancient and hidden; they have survived and grown strong through that darkness. Within these deep places, each one of us holds an incredible reserve of creativity and power, of unexamined and unrecorded emotion and feeling. The woman’s place of power within each of us is neither white nor surface; it is dark, it is ancient, and it is deep.42 Die dunklen Orte, die sich in jeder von Lorde adressierten Schwarzen Frau* befinden, sind reich an Möglichkeiten, weil sie verborgen sind und nicht an die Oberfläche treten, weil sie uralt sind und tief. Als Orte im Verborgenen bilden sie die Rücklage für eine Kreativität, die eine andere Welt im Jetzt fühlbar macht. Innerhalb Populärer Kulturen, und besonders mit ihrem audiovisuellen Medium des Musikvideos, greifen Protagonistinnen* der Gegenwart diese anderen Welten im Jetzt auf und binden sie an die verborgenen Träume der Vergangenheit rück, wie ich anhand einzelner Afro-Fabulationen mit der Höhle gezeigt habe. Siglenverzeichnis QTBF = Keeling, Kara: Queer Times, Black Futures, New York 2019. FC = Eshun, Kodwo: »Further Considerations on Afrofuturism«, in: CR. The New Centennial Review 3 (2003), H. 2, S. 287–302. Sp = Irigaray, Luce: Speculum. 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Abb. 2: Janelle Monáe: Dirty Computer, Filmstill (2018), Filmstill © Janelle Monáe. Abb. 3: OKZharp und Manthe Ribane: Closer / Apart (2018), Filmstill © OKZharp / Manthe Ribane. Abb. 4: Sevdaliza: Shahmaran (2018), Filmstill © Sevdaliza. Autor*innenverzeichnis m a r i e -l U i s e a N G e r e r ist Professorin für Medientheorie / Medienwissenschaft an der Universität Potsdam, Geschäftsführende Direktorin des Brandenburgi- schen Zentrums für Medienwissenschaften (ZeM) in Potsdam sowie Sprecherin des Forschungskollegs Sensing. Zum Wissen sensibler Medien (gefördert durch die VolkswagenStiftung). Sie war Gastprofessorin an der Hochschule der Künste zu Berlin (1997) und der Central European University in Budapest (1998), Vertre- tungsprofessorin an der Ruhruniversität Bochum (1998−2000) sowie Professorin für Medien- und Kulturwissenschaften / Gender Studies an der Kunsthochschule für Medien Köln (2000−2015). Aktuelle Forschung: zum Begriff eines affektiven Nichtbewusstseins, Medien(-technologien) und Affekt. Letzte Veröffentlichungen: Affektökologie. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen (2017; engl. Ecology of Affect. Intensive Milieus and Contingent Encounters (2017)); Timing of Affect, hg. m. Bernd Bösel und Michaela Ott (2014); Begehren nach dem Affekt (2007; engl. Desire After Affect (2014)). G e o r G d i c K m a N N ist Philosoph und Literaturwissenschaftler. Er hat Philosophie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Deutsche Philologie in Düsseldorf und Berlin studiert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG- Schwerpunktprogramm »Ästhetische Eigenzeiten« an der Kunstakademie Düs- seldorf und promoviert zurzeit mit einer Arbeit zu Pharmakofictions. Spekulationen mit prekären Substanzen in Philosophie und zeitgenössischer Science-Fiction. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er als freier Journalist tätig. Texte von ihm sind unter anderem in Berliner Zeitschriften wie Die Epilog, Spike und Edit erschienen. Darüber hinaus ist er Mitbegründer der kollektiven Plattform diffrakt | Zentrum für theoretische Peripherie. N a o m i e G r a m l i c h ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam und arbeitet an einer Promotion zum Thema Postkolonialismus, Kupfer und Extraktivismus. Sie studierte Kunst- geschichte an der Freien Universität Berlin, Geschichte und Kultur der Wissenschaft und Technik an der Technischen Universität Berlin und Europäische Medienwis- senschaft an der Universität Potsdam. Auswahl der zuletzt erschienenen Artikel: »Octavia E. Butlers Sensoren. Afrofeministisches spekulieren mit Xenogenesis«, in: Medienobservationen (2019); zusammen mit Annika Haas: »Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixious und Grauen Quellen«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (2019); »Sticky Media. Encounters with Oil through Imaginary Media Archaeology«, in: communication +1 (2018). J U l i a G r i l l m ay r ist Kultur- und Literaturwissenschafterin, freie Journalistin und Wissenschaftskommunikatorin in Wien und Linz. Sie promovierte in Kompara- tistik an der Universität Wien über den Smart Environment-Diskurs in Literatur, Technikphilosophie und Industrie. Derzeit forscht sie an der Kunstuniversität Linz zu zeitgenössischen Szenario-Techniken in Science-Fiction-Literatur und Futu- rologie. Ihr Forschungsprojekt Science Fiction, Fact & Forecast (https://scifi-fafo. com/) wird durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert. Nach 238 Autor*innenverzeichnis langjähriger Tätigkeit in Printmedien sitzt sie als Journalistin inzwischen lieber vor dem Mikrofon: Sie produziert die Radiosendung Superscience Me. Wissenschaft und Fiktion auf Radio Orange und ist für die Podcasts der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften verantwortlich. Die restliche Zeit verbringt sie in den Donauauen und in Steppschuhen. U r s U l a K. l e G U i N (1929−2018) ist eine der bedeutendsten zeitgenössischen Science-Fiction-Autorinnen. Nach dem Literatur-Studium an der Columbia Uni- versity in New York erschienen in den 1960er Jahren ihre ersten Science-Fiction- Geschichten. In ihrem vielfältigen Werk, das zahlreiche Fantasy- und Science- Fiction-Romane, Gedichte, Kurzgeschichten, Romane für Kinder, Sachbücher und Musik umfasst, thematisiert sie vorrangig politische Fragen. Ihre Arbeiten sind von Kulturanthropologie, Taoismus und Feminismus beeinflusst. Zu ihren Auszeichnungen gehören die bedeutendsten Preise für Science-Fiction, der Hugo Award und der Nebula Award. Zu ihren wichtigsten Werken gehören A Wizard of Earthsea (1968; dt. Erdsee-Zyklus. Der Magier der Erdsee (1968)); The Left Hand of Darkness (1969; dt. Die linke Hand der Dunkelheit (1969)); The Word for World Is Forest (1972; dt. Das Wort für Welt ist Wald (1972)). a N N i K a h a a s ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« an der Universität der Künste Berlin und forscht zu den äs- thetischen Dimensionen der Theorie bei Hélène Cixous. Sie studierte Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam und der FH Potsdam sowie Kunst und Medien an der Universität der Künste. Zuletzt erschienen: »Ihre erste unter- brochene durchgängige Linie. Hélène Cixous’ Ameisentheorie«, in: Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben, hg. m. Jonas Hock, Anna Leyrer und Jo- hannes Ungelenk (2018); zusammen mit Naomie Gramlich: »Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixous und grauen Quellen«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft (2019). Siehe auch: writwritread.com. K at r i N K ö p p e r t , Dr. phil., Kunst- und Medienwissenschaftlerin, ist Juniorpro- fessorin für Kunstgeschichte / populäre Kulturen an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB). Zu den Arbeitsschwerpunkten zählen Queer Media Theory, Queer Art & Popular Culture, Fotografietheorie und -geschichte, Post- und Dekoloniale (Kunst- und Medien-)Theorien des Anthropozäns. Letzte Veröffentlichungen: »On Decolonial Deferrals in Contemporary Art and Curatorial Practices«, in: wissenderkuenste.de, hg. m. Juana Awad, Maja Figge, Grit Köppen (2019); »Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaft«, in: Handbuch Medien und Geschlecht, hg. v. Johanna Dorer, Brigitte Geiger, Brigitte Hipfl, Viktorija Ratković (2019); »Queere ›Indianer‹ und exotische Terrortunten. Die ›Kunst‹ des Ethnic Drag bei Castelli und Salomé«, in: Die Erfindung der Neuen Wilden, hg. v. Benjamin Dodenhoff , Ramona Heinlein (2019). m a r t i N a l e e K e r ist Theater- und Medienwissenschaftlerin, Künstlerin und Perfor- merin im Bereich »Performing Knowledge and Speculation Labs«. Sie war Senior Researcher am Centre for Digital Cultures der Leuphana Universität Lüneburg und ist derzeit Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin. Neben diversen Lehraufträgen im Bereich der Theater- und Medienwissenschaft tätigte sie Artistic Research im In- und Ausland. Ihre Forschungsschwerpunkte sind digitale Kultu- ren, Kritik, Theater und Medien, Art and Technoloy sowie mit praktischem Bezug Artistic Research / Research with Art (http://projects.digital-cultures.net/e-i/). Zu den jüngsten Publikationen gehören u. a.: Performing the Digital, hg. m. Imanuel Schipper und Timon Beyes (2017); Interventions in Digital Cultures, hg. mit Howard Caygill und Tobias Schulze (2018); »Trickster, Owlglass Pranks and Dysfunctional Autor*innenverzeichnis 239 Things. Non-Knowledge and Critique in Digital Cultures«, in: Non-Knowlegde in Digital Cultures, hg. m. Andreas Bernard und Matthias Koch (2018). l a U r a m o i s i studierte Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Dissertation, die sich mit der politischen Geschichte des Abfalls beschäftigt, erscheint demnächst unter dem Titel Die Politisierung des Abfalls. Elemente einer Kulturtheorie häuslicher Müllentsorgung. Nach ihrem Studium war sie als wissen- schaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg »Automatismen. Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität« an der Universität Paderborn tätig. Ihre For- schungsinteressen liegen im Bereich der materiellen Kultur, der Politischen Theorie und der Erforschung von Geschlecht und Ungleichheit. Momentan arbeitet sie an einem Postdoc Projekt zum Thema Gefühlswelten der Verweigerung. Erzähl- und Schweigepraktiken intimer Gewalt. F r i e d e r i K e N a s to l d studierte Bildende Kunst, Germanistik und Bildungswissen- schaften in Mainz und Granada. Ihre Abschlussausstellung Genital und Geschlecht in Text und Medien von der Antike bis heute verknüpfte sie mit einem gleichnami- gen Symposium, das in der Gründung des interdisziplinären Arbeitskollektivs TOYTOYTOY, das Fragen rund um Gender, künstlerische Praxis und Feminismen stellt, mündete. 2016 schloss sie ihr Meisterschüler-Studium bei Prof. Dr. Andrea Büttner ab und promoviert aktuell bei Prof. Dr. Linda Hentschel zu Postporn und Blickstrukturen. Sie organisiert Vulva-Workshops und ist im OrgaOrga-Kollektiv aktiv. Seit August 2017 ist Nastold wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunst- hochschule Mainz. Sie ist Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. K at h r i N t h i e l e ist Professorin für Gender Studies und Critical Theory an der Fakultät für Medien- und Kulturwissenschaft der Universität Utrecht. Trans- disziplinär ausgebildet in Gender Studies, Soziologie, Literaturwissenschaft und kritischer Theorie beschäftigt sie sich mit Fragen der Ethik und Politik aus queer- feministischer, dekolonialer und posthuman(istisch)er Perspektive. Ihre Forschung interveniert in aktuelle feministische Debatten um (Geschlechter-)Differenzen, De / Kolonialität und neuen Materialismus / Posthumanismus und legt besonderen Fokus auf Fragen der Relationalität, Verstricktheit und ontologischer Verflechtungen. Derzeit arbeitet sie an einem Ansatz queerfeministischer Kosmopolitik, welche sie auch als Neubelebung von kritischen Auseinandersetzungen in den (neuen) Geisteswissenschaften versteht. Zusammen mit Birgit M. Kaiser (Komparatistik, Universität Utrecht) gründete und koordiniert sie »Terra Critica. Interdisciplinary Network for the Critical Humanities« (http://terracritica.net). a N N a l o w e N h a U p t t s i N G ist Professorin für Anthropologie an der University of California, Santa Cruz. Seit 2013 hat sie zudem die Niels-Bohr-Professur an der Aarhus Universität in Dänemark inne und ist Direktorin des Aarhus University Research on the Anthropocene (AURA). Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen Friction. An Ethnography of Global Connection (2005); The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Capitalist Life in Ruins (2015; dt. Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus (2018)). Sie ist Mitherausgeberin von Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts and Monsters of the Anthropocene (2017). J o h a N N e s U N G e l e N K ist seit April 2018 Juniorprofessor für Allgemeine und Ver- gleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Er hat in München und Oxford AVL, Englische Literaturwissenschaft, Philosophie und Women’s Studies studiert und wurde an der LMU München promoviert.