Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140206. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. A L E X A N D E R WA G N E R DER HEIKODYSSEUS — ‹Reparieren› als Prozessor sozialistischer Bildung Die DDR lässt sich als ‹Reparaturgesellschaft› beschreiben; ihre B ürger_innen werden, auch und gerade im Rückblick und aus der hegemonialen Perspek- tive des Westens, als (unfreiwillig) kompetent im Umgang mit Defekten und Mangel wahrgenommen. Die entsprechende Identifikation mit Konzepten von Langlebigkeit, Optimierung, Findigkeit und organisatorischem Geschick zählt zu den wichtigsten Positivkategorien ostdeutscher Selbstbeschreibung 1 Vgl. hierzu umfassend Wolfgang und wird zugleich noch längst nicht hinreichend als echtes Potenzial für ge- Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, samtdeutsche Transformationsprozesse anerkannt.1 Was Wolfgang Engler und Berlin 2002 sowie mit Bezug auf den häufiger erwähnten Bereich von andere als «Chaoskompetenz» bezeichnet haben,2 als die Fähigkeit, inner- Mutterschaft und familiärer Repro- halb defizitärer industrieller Strukturen und eklatanter Dauerengpässe bei der duktionsarbeit z. B. Judith Enders: Feminismus und Mütterlichkeit – ein Versorgung mit Ressourcen dennoch an Tausch- und Verwertbares und so an Ost-West Thema?, in: Femina Politica, Benötigtes zu kommen,3 beinhaltet mit der Instandsetzungskompetenz einen Bd. 28, Nr. 2, 2019, 140 – 146. 2 Vgl. Wolfgang Engler: Die Ost- wichtigen Baustein. ‹Reparatur› wird dabei für den hier gewählten Zusam- deutschen. Kunde von einem verlorenen menhang explizit als Bildungsfunktion verstanden, deren Untersuchung ihren Land, Berlin 2002, 188, 288. 3 Vgl. Steffen Mau: Lütten Klein. Ausgangspunkt im Bildungsverständnis einer dialektisch gewendeten Aufklä- Leben in der ostdeutschen Transformati- rung im Anschluss an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nimmt und onsgesellschaft, Berlin 2020, 69, 107. 4 Heiko war in der DDR ein versucht, hierüber Rückschlüsse auf Eigenarten von Subjektivierung im Kon- beliebter männlicher Vorname. Das text des DDR-Sozialismus zu ziehen. Wird bei Adorno und Horkheimer das vermerkt z. B. das Standardwerk von Wilfried Seibicke: Die Personennamen bürgerliche Subjekt am einschlägigen Beispiel des Sagenhelden Odysseus als im Deutschen, Berlin, Boston 2019 durch Entsagung gebildetes analysiert, das sich in aufeinanderfolgenden Aus- [1982], 144. 5 Die (Selbst-)Bespiegelung der nahmezuständen formt, ist die alternative Figur des DDR-Subjekts, das in die- Ostdeutschen als lösungsorientiert, sem Fall nicht weniger androzentrisch geprägt ist und darum versuchsweise ‹bauernschlau› und in organisa- torischen Fragen krisenfest ist Heikodysseus 4 genannt werden soll, an den Reparaturfall als Normalzustand bisher tatsächlich stark ‹männlich› gewöhnt.5 ‹Bildung› lässt sich in beiden Fällen als Umgang mit Notständen geprägt. Alternative Perspektiven schlägt z. B. Volker Koepp in seinen und Defekten verstehen, nur sind deren warenweltliche Verhängnisse in der film i schen Dokumentationen aus DDR, so die These, den Konsumprodukten erstens inhärent und zweitens gibt dem Wittstock-Zyklus (1975 – 1997) über eine Gruppe von Arbeiterinnen Reparaturintelligenz als Dispositiv eines Reparaturwissens vor, dass die Option aus der DDR-Textilindustrie vor. SCHWERPUNKT 51 ALEXANDER WAGNER ‹Instandsetzen› anderen Umgangsformen mit Defekten (‹Instandsetzen-Las- sen› oder ‹Ersetzen›) gegenüber zu präferieren ist. Beide Funktionen führen zu dichteren Bildungsprozessen im Bereich des ‹Reparierens› in der DDR im Vergleich zur BRD. 6 Dass es sich in diesen Funktio- nen auch außerhalb realsozialisti- ‹Reparatur› ist also im Kontext ostdeutscher Verhältnisse größer zu fassen scher Lebenswelten längst nicht er- denn als Beheben aufgetretener Fehler und Schäden in laufenden Prozessen schöpft, muss angesichts inzwischen elaborierter Forschungsergebnisse, und gebrauchten Gegenständen.6 Das Konzept führt tief in die Verfassung der die die politische Dimension von arbeiterlichen Gesellschaft 7 als von rhetorischen und materiellen Idiosynkrasi- Reparatur konsequent hervorheben, nicht eigens betont werden. Vgl. u. a. en 8 durchzogenes System, das hier, wiederum versuchsweise, ‹katachrestisch› (in chronologischer Reihenfolge) genannt werden soll. Die Katachrese, als Trope vom Historischen Wörterbuch Evelyn Blau, Norbert Weiß, Antonia Wenisch: Die Reparaturgesellschaft. der Rhetorik der Bearbeitung semantischer Fehlbestände zugewiesen,9 wird in Das Ende der Wegwerfkultur, Wien einem weiteren Verständnis für die DDR vom sprachlichen zum relativ univer- 1997; Brian Larkin: Signal and Noise. Media, Infrastructure, and Urban sellen Instrument der Fehlerbeseitigung. Reparaturwissen ist, folgt man einer Culture in Nigeria, London 2008; recht schlichten Unterscheidung, der zirkulierende, dem praktischen Zugriff Ignaz Strebel, Alain Bovet, Philippe Sormani (Hg.): Repair Work Ethnogra- potenziell zur Verfügung stehende ‹Stoff› einer Reparaturintelligenz, die als phies. Revisiting Breakdown, Relocating mentales Dispositiv den Zugriff ‹Reparatur› als Praxis der Problembewälti- Materiality, London 2019; Stefan Krebs, Gabriele Schabacher, Heike gung im mentalen Betriebssystem der DDR-Bewohner_innen vorstrukturiert. Weber (Hg.): Kulturen des Reparierens. Der Heikodysseus als dialektischer Doppelgänger des ‹listenreichen›, ebenfalls Dinge – Wissen – Praktiken, Bielefeld 2018; Jürgen Bertling, Claus Legge- dialektischen Bildungssubjekts bei Adorno und Horkheimer wird durch pro- wie: Die Reparaturgesellschaft. Ein duktiven, aneignenden Umgang mit seinem spezifischen Verzichtssystem zum Beitrag zur großen Transformation?, in: Andrea Baier u. a. (Hg.): Die Welt Prototypen einer besonderen, nämlich arbeiterlichen Form bürgerlicher Exis- reparieren. Open Source und Selber- tenz. Dieser produktiv-aneignende Umgang lässt sich als Prozessieren, als ein- machen als postkapitalistische Praxis, Bielefeld 2016, 275 – 286. greifende Veränderung 10 in katachrestische Zustände begreifen. Hierfür ist das 7 Vgl. grundsätzlich Engler: Die ‹Reparieren› im DDR-Sinn das vielleicht beste Beispiel, meint es doch nicht Ostdeutschen, 173 – 208. 8 Vgl. Ekaterina Gerasimova, nur die Instandsetzung gebrauchter Dinge, sondern ist vielen Konsumartikeln Sof’ia Chuikina: The Repair Society, und Gebrauchsgegenständen als Bedingung normaler Verwendung ab Werk in: Russian Studies in History, Bd. 48, Nr. 1, 2009, 58 – 74, hier 58, 66. mitgegeben. Die drei Erscheinungsformen dieser Bedingung wären erstens 9 Vgl. Gregor Kalivoda u. a. (Hg.): der notorische Produktionsfehler und zweitens, extremer noch, der Mangel Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4: Hu-K, Tübingen 1998, Sp. 904. an einem bestimmten Produkt, der bis zu seiner faktischen Inexistenz reichen 10 Vgl. Hartmut Winkler: kann. Das jeweilige Ding taucht dann im Extremfall in der DDR gar nicht als Prozessieren. Die dritte vernachlässigte Medienfunktion, Paderborn 2015. Angebot oder lediglich als Mythos auf, als Erzählung fantastischer Art mit ei- 11 Vgl. hierzu z. B. das Design des nem Rest an Wunschenergie, und muss aus anderen Gegenden, dem W esten Mokick S50 von Clauss Dietel und Lutz Rudolph aus dem Jahr 1975, bei zumal, für den nachbauenden Zugriff im Modus metonymischen Reverse dem «[d]ie Teile beziehungsweise E ngineerings erschlossen werden. Hinzu kommt drittens eine in einigen Fällen Baugruppen nicht mehr formschlüs- sig miteinander verbunden [sind] im Produkt design mitgedachte Offenheit, die dem Ding bereits im Prozess der und also ausgetauscht werden Formgebung einen erweiterungs-, modifizier- und reparaturfähigen Charakter [können], ohne den Nachbarn zu beeinträchtigen. Der Austausch gibt.11 Die Sphären von Mangel und Mängel, von Fehlen und Fehler produzie- des einen Teils bleibt folgenlos ren so den Heikodysseus als Figur des DDR-spezifischen Bildungsromans, des- für alle anderen», Heinz Hirdina: Offene Strukturen, geschlossene sen wiederum DDR-spezifische Antwort auf die Frage «Was ist Aufklärung?» Formen. DDR- und BRD-Design – ein ein erweitertes Verständnis von ‹Reparatur› ist. Vergleich, in: Kai Buchholz (Hg.): Im Designerpark. Leben in künstlichen Zum entwickelnden Nachvollzug dieses Sets an Thesen wird im Folgenden Welten, Darmstadt 2004, 170 – 177, eine Zeitschrift betrachtet, die als Versuch gelten kann, im paradoxen Mo- hier 176. Für den Hinweis hierauf danke ich Jana Mangold. dell einer unsystematischen Enzyklopädie das flottierende DDR-Reparatur- 52 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS wissen zu bündeln, handhabbar zu machen, seine Akteure zu vernetzen und schließlich performativ einen ‹Ort› zu kreieren, an dem Reparaturintelligenz als Prinzip sozialistischer ‹Bildung› (print-)medial sichtbar und e ntsprechend Gegenstand eines emanzipatorischen Blicks auf das ‹Eigene› wird. Dieser ‹Ort› kann in der practic ausgemacht werden. Die Zeitschrift erschien, als Nachfolgerin von Modellbau und Basteln, seit 1964 zunächst zweim onatlich und ab 1972 quartalsweise im Verlag Junge Welt. Ihre Auflage von 362.400 Ex- emplaren im Jahr 1988 12 weist sie quantitativ als Printmedium mittlerer Reichweite aus, wobei für den Zeitschriftenmarkt der DDR mit seiner stär- keren Gelenktheit, vor allem aber der spezifischen, Papierknappheit und Verteilungsproblemen geschuldeten Distributionslage, andere Rezeptions- dimensionen der einzelnen Hefte und eine höhere Heftkontaktrate ange- nommen werden kann als etwa in der BRD. Die gut 360.000 Exemplare einer practic werden, davon ist auszugehen, dementsprechend trotz der für dieses Medium wichtigen Sammelfunktion (im Sinne von Gesammeltwerden durch Einzelnutzer_innen 13) von einer größeren Leser_innenschaft rezipiert worden sein, als die Auflagenzahl allein aussagt. Das Magazin überlebt die politische ‹Wende› nur relativ kurz. Nach einem umfänglichen Relaunch zwischen den Ausgaben 2 / 1990 und der darauffolgen- den Nummer 8 desselben Jahrgangs (die Nummern 3 bis 7 existieren nicht), mit der auf einen monatlichen Erscheinungsrhythmus und buchstäblich eine neue Zeitrechnung umgestellt wird, unternimmt practic die für DDR-Zeit- schriften recht üblichen Versuche redaktioneller und gestalterischer Art, auf einem gesamtdeutschen Markt Fuß zu fassen, was, leider auch relativ üblich, nicht dauerhaft gelingt. Mit der Dezemberausgabe des Jahres 1991 fusioniert practic mit der westdeutschen Heimwerkerzeitschrift selbst ist der mann und wird noch einige Zeit als eine Art Sonderheft für die neuen Bundesländer weiterge- führt, verliert aber ihre formale Selbstständigkeit. Die Zeitschrift versammelt über Jahrzehnte Bauprojekte, Erfindungen, Life- hacks und andere kreative Ideen aus der Lebenswelt der DDR-Bürger_innen. Viele der Artikel sind namentlich gekennzeichnet und weisen (ganz überwie- gend ‹männliche›) Leser_innen des Magazins als Autor_innen der einzelnen Beiträge aus. Darin drückt sich ein ausgesprochen großes Begehren an Rezipi- ent_innenbeteiligung aus. Auch die fotografische Dokumentation der Projekte liegt weitgehend in der Hand der Beitragsurheber_innen, was, wie noch gezeigt werden soll, zur Wendezeit zum problematischen Index einer reparaturbe- 12 Vgl. Dietrich Löffler: Publikums- zeitschriften und ihre Leser. Zum dürftigen Differenz des Magazins gegenüber ‹westlichen› Mitbewerber_innen Beispiel: ‹Wochenpost›, ‹Freie Welt›, wird. Redaktionelle Texte und Werbung tauchen dagegen vor der sogenann- ‹Für Dich›, ‹Sibylle›, in: Simone Barck u. a. (Hg.): Zwischen ‹Mosaik› ten ‹Wende› nur spärlich auf. Hin und wieder werden unter Überschriften und ‹Einheit›. Zeitschriften in der DDR, wie «In eigener Sache» Ansprachen an das Publikum veröffentlicht, in denen Berlin 1999, 48 – 60, hier 50. 13 Trotz der Verwendung gegen- hauptsächlich um weitere Ideen, vor allem aber kritische Rückmeldung zu den derter Formulierungen im Folgenden Heftinhalten und um Vertrauen in das Handeln der Redakteure, etwa bei der ist von einer ganz überwiegend ‹männlichen› Leserschaft der practic Auswahl aus den eingesandten Projekten, geworben wird. auszugehen. SCHWERPUNKT 53 ALEXANDER WAGNER Im Folgenden wird aus drei Perspektiven, die jeweils assoziativ an Stellung- nahmen aus dem Odysseus-Exkurs in der Dialektik der Aufklärung anknüpfen, auf die Zeitschrift geschaut. Dabei kommen das Bildungsmodell der Zeitschrift, ihre um 1990 endgültig kritisch werdenden Subjektivierungspraktiken und schließlich der Untergang des Heikodysseus in den neuen, unvermeidbaren, schnell appli- zierten Standards westdeutscher Printmedialität in den Blick. I. Mangel als Einsicht oder «List aber ist der rational gewordene Trotz» 14 Angesichts der oben beschriebenen Verhältnisse innerhalb der practic, ihres Übergewichts an Leser_innenbeiträgen, die offensichtlich nur schwach von der Redaktion gesteuert oder angepasst werden, erscheint die Zeitschrift als kuratierte Arena freier Mitarbeiter_innen, die aus dem Kreis der Leser_innen stammen und den Inhalt der Heftseiten mit ihren Einsendungen bestimmen. Im Gegensatz zur Nachwendezeit stellt die practic vor 1989 kaum neue Kon- sumartikel vor, von Ausnahmen wie solchen Gegenständen abgesehen, die eindeutig als innovative Prototypen eingeordnet werden können und etwa im Rahmen von Messeschauen gezeigt werden. Was die Zeitschrift erklärt und bespricht, sind nahezu ausschließlich Ersatzdinge für nicht zu habende und Verbesserungen verfügbarer, aber defizitärer Produkte. Dieses zwischen im- provement und Substitution aufgespannte Feld gibt den Lernbereich für ‹Repa- ratur› ab, dem sich das Magazin widmet. Die Gemeinschaft der practic-Prosu- mer_innen, die in geteilter Rolle als Leser_innen und Autor_innen fungieren, eint dabei eine anspornende Einsicht in die Defizite ihrer Lebenswelt. Hierin besteht ein Unterschied zum Odysseus in der Bildungsgeschichte von Adorno und Horkheimer. Erzählt die Odyssee eine Geschichte des bürgerlichen Indi- viduums, das vor allem auf dem Weg persönlicher Entsagung zu sich kommt, ist der Heikodysseus listenreich in einer lückenhaften Welt, die er selbst neu entwirft und so im wahrsten Sinn identifiziert. Am Beispiel der Fahrt entlang der Sireneninsel wird klar, dass der Odysseus der Dialektik der Aufklärung sich gerade durch Erkenntnis einer nicht überwundenen Verfallenheit an seine Zwänge von ihnen befreit. Die Fesseln, die ihn an den Mast binden, und das Wachs in den Ohren der Rudernden, das sie taub für seine Schreie macht, sind Maßnahmen des technisch aufgeklärten Mannes,15 der auf vernünftigem Weg und durch Abwägung seiner Vermögen ein bestehendes System, die an den 14 Theodor W. Adorno, Max Rand der zivilisierten Welt gedrängten Monster des Mythos, ohne direkten Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frank- Eingriff überlistet. furt / M. 2002 [1944], 66. Die practic nun erzählt eine Variante dieser Erzählung bürgerlicher Bildungs- 15 Vgl. ebd. 16 Dominique Krössin: Wie mache prozesse im Rahmen gesteigerter materieller Herausforderung. D ominique ich’s mir selbst? Die Zeitschrift Krössin sieht in der Zeitschrift «eine eigenartige Mischung aus vorindustri- ‹practic› und das Heimwerken, in: Neue Gesellschaft für Bildende ellen Verhaltensweisen und Modernität [dokumentiert]».16 Diesem Eindruck Kunst (Hg.): Wunderwirtschaft. DDR- ist vorläufig zuzustimmen; das dem Magazin zugrunde liegende Bildungs- Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln u. a. 1996, 160 – 165, hier 162. modell lässt sich mit Blick auf die Subjektivierungsprozesse des Odysseus in 54 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS der Dialektik der Aufklärung für den Heikodysseus der DDR aller- dings präzisieren: Diesen führt sein Weg, darin seinem dialektischen Vorgänger metaphorisch verwandt, in die Gewässer um die Sirenen- insel und an Skylla und Charybdis vorbei. Er scheint hier freimütiger zu verweilen als der homerische Held. Prozessiert Odysseus mit Fesseln, Wachs und dem quälen- den Genuss ein Wissen über seine eigene Verfallenheit, ist es beim Heikodysseus ein Wissen über die Verfallenheit der Welt, in der er lebt und über deren Zustand er ebenso aufgeklärt ist wie über die Möglichkeiten zur eingreifenden Veränderung. Die Welt selbst ist ein poröser Hybrid aus Vorindustriellem und Modernität und der adäquate Abb. 1 practic, Nr. 1, 1981, 189 Umgang mit ihr ist ‹Reparatur›. In beiden Szenarien kommen die Subjekte über List in den Genuss des Si- renengesangs. Während im Epos die Zurichtungen des Sagenhelden sich auf den eigenen Körper und die Körper der Kameraden beziehen, manipuliert der Erzähler des practic-Beitrags «Geänderte Tastenhalterung» (Abb. 1) direkt das singende Medium, das Kassettentonbandgerät ‹Sonett›. Im Kontext einer technisch vermittelten Welt, in der Musik als Echo der Sirenen auf Tonbän- dern gespeichert vorliegt, gerät der Zugriff des reparierenden Subjekts me- dientechnisch direkter, Mangel und Begehren vorausgesetzt. In Tipps wie dem oben gezeigten (Abb. 1 und 2) artikuliert sich ein Bildungsprojekt, das mit den Verhältnissen, in denen es lebt, identifiziert ist, modifizierende Eingriffe in- klusive. Das Subjekt in der Figur des Autors / Lesers macht für sich selbst Re- klame und dabei zugleich für einen Sozialismus, der eingreifende Veränderung in (noch) verbesserungsfähige Zustände als wichtigen Teil gesellschaftlicher Entwicklung setzt und diesseits der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft kei- ne falschen Versprechungen macht: In der practic artikuliert sich Kritik an den Mängeln der DDR-Warenwelt im Modus des listigen improvement, das dank der Zeitschrift als Zuwachs von Reparaturwissen verbucht werden kann. Die 17 Vgl. Harry Schröder: Identität, Individualität und psychische sozialistische Gesellschaft kommt damit zu einem Bildungsideal, das die De- Befindlichkeit des DDR-Bürgers fizite der ‹Realität› als dialektisches Angebot von Subjektivierung adressiert. im Umbruch, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungs- Die Katachrese des Dings wird auf diese Weise in ein rhetorisches Problem soziologie, Nr. 1, 1990: Sozialisation überführt, das auch mit den Mitteln der Rhetorik zu lösen ist,17 um als Gelöstes im S ozialismus. Lebensbedingungen in der DDR im Umbruch, hg. v. Günter anschließend auch von anderen praktisch umgesetzt zu werden. Burkart, 163 – 176, hier 170. SCHWERPUNKT 55 ALEXANDER WAGNER II. Der Bruch oder «ihr Gebot erfüllend und damit sie stürzend»18 Die Katachrese lässt sich also als Schnittpunkt von Reparaturpraxis und Reparatursprache begreifen, der an ‹Orten› wie der Zeitschrift practic sichtbar in Erscheinung tritt. Die anscheinende Spannung von ‹vorindustriellen Verhaltensweisen und Modernität› kann nun korri- giert werden: Die Verhaltensweisen sind durchaus so modern wie die Welt, der sie sich zuwenden. Sie entsprechen nur einem anderen, alternativ-aufgeklärten Bildungs- konzept, das seinen Weltzugriff als eingreifende Veränderung in eine porös erfahrene Welt definiert. An ausgewählten Beispielen soll ge- zeigt werden, wie die Zeitschrift sich in den ‹Wende›-Prozess impli- zit-kritisch einschaltet. Mit Kom- mentaren zur Lage der politischen Dinge geht die practic sehr sparsam um. Gegen Ende der DDR erst ist ein verschärfter Ton zu spüren, der die kritischen Impulse des ‹Selber- Abb. 2 practic, Nr. 1, 1990, 27 machens› stärker in Richtung eines prekärer werdenden Mangels bzw. einer erschöpften Resilienz andauernder Knappheit gegenüber verortet. So heißt es etwa zu Beginn des Artikels «Heimsportgeräte auf engstem Raum»: Mit dem steigenden Bedürfnis zu sportlicher Tätigkeit und gesunder Lebensweise hält die Produktion von Heimsportgeräten nicht Schritt. Der für industrielle Geräte notwendige Platz und die Preise ‹fördern› den Eigenbau entsprechend der individu- ellen Möglichkeiten und Wünsche.19 Die DDR-eigene Produktion von Fitnessgeräten wird selbst als unfit markiert und die Konsequenz daraus bereits eindeutig ironisch als in Anführungsstrichen 18 Adorno, Horkheimer: Dialektik stehende Motivation des selbstbauerischen Bildungskonzepts erkannt. Der der Aufklärung, 67. 19 G. Paduschek: Heimsportg e- E igenbau ist endgültig zum Mangelsignal geworden. Konstant bleibt dagegen räte auf engstem Raum. Kraftsport- der Verweis auf durch die Kompensation industrieller Fehlbestände ermög- Training in der Wohnung, in: practic, Nr. 1, 1990, 16 – 19, hier 16. lichte Individualität, der bereits vorher eng mit dem ‹Reparatur›-Konzept der 56 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS practic verknüpft war. In der letzten Ausgabe vor dem Relaunch wendet die Re- daktion sich unter der Überschrift «An alle practic-Fans» noch einmal explizit an das Publikum: Mit den vielen Veränderungen, die jetzt in unserem Lande vor sich gehen, ergibt sich für uns auch endlich die Möglichkeit, eine bedarfsgerechte Auflage zu drucken und jedem die Gelegenheit zum Abonnement zu bieten. […] Zu den Veränderungen in unserem Lande gehört aber auch, daß es für viele Dinge keine Subventionen mehr gibt, so daß auch die Verlage die Mittel zur Herausgabe ihrer Publikationen selbst erarbeiten müssen. Für unsere Zeitschrift bedeutet das, daß der Heftpreis ab Ausgabe 3 / 90 nicht mehr 1,- M, sondern 1,60 M betragen wird.20 Einer der sehr wenigen relativ direkten Kommentare zu den ‹Veränderungen in unserem Lande› formuliert das wiederum dialektische Dilemma gelöster Versorgungsengpässe bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Deregulierung und wiederholt damit das Problem der Gemeinschaft der zu ‹Fans› werdenden Heiko dysseuse: Wenn Not erfinderisch macht und diese Maxime zum implizit anerkannten Set des kulturellen Wertesystems gehört, dann wird ein Ende der Not, und mit ihr ein Ende der Anerkennung ihrer Lösungsstrategien und der Subjekte, die sie zirkulieren lassen, auch eine Krise des Erfindens sein. Und so- fern das Erfinden, wie im hier gezeigten Fall in seiner Spielart als ‹ Reparatur›, zum Bildungsmodell einer Gruppe gehört, wird sich unterhalb der systemi- schen Krise eine Vielzahl kleiner individueller Subjektkrisen vollziehen. Die Erfahrungen der ostdeutschen Transformationsgesellschaft nach dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes legen hiervon Zeugnis ab. Die practic gerät sehr schnell in diese systemische Krise und wird auf ei- ner impliziten Ebene zum Indikator für recht ruckartige Veränderungen im Umgang mit Mangel, Fehlern und gebremstem Fortschritt, die als Fragmen- te eines neuen Subjektkonzepts auf die Leser_innen gespiegelt werden. Die Anzeichen dafür bleiben zunächst noch sehr implizit. Beispielsweise kündigt die Zeitschrift am Ende des letzten Heftes alter Machart ein neues Thema an, noch ohne zu sagen, dass es, in variierter Form, in Zukunft breiten Raum erhalten wird: Drachenfliegen und Ballonsport erfüllen den uralten Wunsch des Menschen zu flie- gen in der ursprünglichsten Form. Auch das ist bei uns jetzt möglich, nachdem es jahrzehntelang verboten war. Wir werden für interessierte Leser über Aktivitäten und Möglichkeiten berichten.21 Der Drachensport wird in den folgenden Heften überraschend viel Aufmerk- samkeit erhalten, allerdings nicht in seiner hier gemeinten, Menschen das Fliegen ermöglichenden und sie potenziell über innerdeutsche Grenzen hin- wegtragenden Form. Vielmehr werden Fesseldrachen und andere größere und kleinere Boden-Luft-Systeme und vor allem ihnen gewidmete Feste vorgestellt, 20 Walter Gutsche: An alle practic- Fans, in: practic, Nr. 2, 1990, 95. bei denen sich Enthusiast_innen des Drachensports treffen. Das Verbotene der 21 Ebd. SCHWERPUNKT 57 ALEXANDER WAGNER Ballon- und Flugdrachenfahrt, die als ‹Reparatur›-Option durch den immer mitgedachten und durch zahlreiche konkrete Fälle aktualisierten Fluchtgedan- ken dem Spektrum der Kritik, das dem Heikodysseus zu üben erlaubt ist, ent- zogen bleibt, kehrt im Fesseldrachen als Angebot an den Himmel geschriebener Freiheit wieder. So heißt es im ersten Heft nach dem Relaunch bereits unter dem Motto «ONE SKY ONE WORLD!»: Unter diesem Slogan findet das alljährliche weltweite Fliegen mit Fesseldrachen am 14. Oktober statt. Es ist ein Symbol der Verbundenheit der Drachenfans der gan- zen Welt in Frieden und Freundschaft. In diesem Jahre sind unsere Drachensportler erstmalig auch dabei.22 Die Zeitschrift nimmt ihre Ankündigung, den Traum vom Fliegen einzulösen, partiell zurück und hegt ihn in ein Konzept ideologischer Höhenflüge ein, bei denen zumindest die Drachenfans durch ein Symbol verbunden werden. Hier wird noch einmal der spezifische Umgang mit katachrestischer Realitätsbewäl- tigung im Moment des systemischen Bruchs deutlich: Es bleibt bei der Über- führung materieller Fehlbestände in semantische, in diesem Fall die Ersetzung des Menschenflugs durch sein vermitteltes Zeichen, bei dem der Mensch am Boden bleibt und «Symbol[e]» fliegen lässt. III. Die Heimsuchung als Heimwerker oder «als prototypischer Bürger hat er in seiner Smartheit ein hobby»23 In den Heften nach dem Relaunch der practic und besonders ab Oktober 1990, also nach dem Beitritt der DDR zur BRD, taucht der Heikodysseus immer mehr ab in die kleinteiligen Heftregionen mit ausgewiesener Rezipi- ent_innenbeteiligung, die Rubriken ‹Leserpost› und ‹Leserideen›. Hier wird, zunehmend von westdeutschen Beiträger_innen ergänzt, weiter an der Opti- mierung defizitärer Alltagsgegenstände gearbeitet, werden Lifehacks ausge- tauscht und Erfindungen geteilt. Hier halten sich noch eine Weile Positionen, die im Rest der Zeitschrift dem steigenden Druck veränderter Bedingungen bereits nachgegeben haben. Pünktlich zum vorläufigen institutionellen inner- deutschen Schlusspunkt der politischen ‹Wende› im Oktober 1990 wird über- deutlich, wie das reparaturintelligente Magazin und seine Leser_innenschaft auf eine präexistente und nun vom nachzubauenden Mythos zur Realität ge- wordene Warenwelt trifft, die den Heikodysseus neu als Kunden anschreibt und eher auf den unasphaltierten Parkplatz einer schnell errichteten Massa- 22 O. A.: One Sky One World, in: Filiale einlädt,24 als seine Erfindungsgabe anzuerkennen. Die Zeitschrift lässt practic, Nr. 8, 1990, 67. 23 Adorno, Horkheimer: Dialektik diese Welt, notgedrungen, hinein, schafft es aber nicht, sie mit den eigenen der Aufklärung, 82. Formen, Designs und Verfahren zu koordinieren. Aus dem selbstbewussten 24 Vgl. hierzu die Fotografien von Gerhard Gäbler aus Taucha vom Juli Magazin für Selbstbautechnik, wie der Untertitel der practic zu DDR-Zeiten ge- 1990, zu sehen etwa in Jan Wenzel lautet hatte, wird im neuen Design das Magazin für Heimwerker, Bastler und (Hg.): Das Jahr 1990 freilegen. Remon- tage der Zeit, Leipzig 2019, 444 – 447. Tüftler. Harmlose Kategorien, deren am wenigsten kommodifizierbare, die 58 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS Bastler und Tüftler, schon im nächsten Jahrgang kommentarlos verschwunden sind. Die Zeitschrift heißt nun vorläufig Das Magazin der H eimwerker – Ideen, Tips und Tricks. Aus den Beobachtungen zum ästhetischen, printmedialen, vor allem aber epistemisch-medienlogischen Bruch sollen zwei herausgegriffen werden, die exemplarisch für Tendenzen der Zeitschrift und zugleich für Probleme eines ostdeutschen Krisen-Selbstverständnisses stehen können, das mit den ‹Wende›- Erfahrungen von einem schlagartig entwerteten positiven sozialistischen Bil- dungsdesign in die Diagnose eines Rückstands im Bereich bürgerlicher Begeh- rensökonomie kippt. Das Magazin kämpft dabei nur äußerlich um Autonomie, etwa in der neuen, unregelmäßig geführten Rubrik eines vom Chefredakteur an die Leser_innen gerichteten Editorials oder mit einer betont demokratisch anmutenden Auswahl von Leser_innenzuschriften, die auch drastische Formu- lierungen anscheinend wortgetreu zur Debatte zulässt, etwa hier, wenn es, ne- ben Kritik an der Preiserhöhung, um rückversichernde Versuche der Zeitschrift geht, mit der Mehrfachverwertung interessanter Beiträge die erweiterte Ziel- gruppe zu erreichen: Sie machen nach, was anderen bereits Monate vorher eingefallen ist, nämlich den kleinen Mann schröpfen. Übrigens: Der Freibrandofen und der Bumerang waren schon einmal bei ihnen Thema.25 Das Bemühen um andauernde Authentizität trotz schwieriger und ungewohnter Verhältnisse wird performativ beteuert. Dennoch ändert sich das Konzept der Zeitschrift recht schnell grundlegend. Noch im Vorwort zum ersten ‹neuen› Heft hatte der Chefredakteur unter den drei wesentlichen «Gründe[n] für das Selbermachen» noch ausdrücklich «de[n] Wunsch, sich zu bilden», genannt.26 Innerhalb der Zeitschrift wird von diesem zuvor dominanten Bereich allerdings zunehmend Raum an andere Themen abgetreten, etwa an die für Ostdeutsche neue Angebotsbreite an Elektrowerkzeugen, weiterhin an Produkttests, die Si- cherung des eigenen Besitzes, das Basteln vornehmlich dekorativer, weniger nützlicher Dinge und in wachsendem Maß an Reklame. Auf die verdrängten Prosumer_innen der practic, die zuvor ganz wesentlich den kuratierten Raum der Zeitschrift bespielt hatten, wird auch durch die Ver- änderungen im Heftdesign Druck aufgebaut. Bereits vor 1990 hatte es hin und wieder Hinweise an die Leser_innen gegeben, in welcher Form sie ihre Ideen und Erfindungen aufbereiten sollen, um möglichst gut von den anderen Mit- gliedern der Community verstanden zu werden. Dieses sehr lockere Stylesheet wird mit dem Relaunch deutlich rigider und die Zugangswege werden für die Amateur_innen damit prekärer. Besonders die eingeforderte und im neuen Er- scheinungsbild der Zeitschrift auch vorgegebene Qualität von Fotografien baut 25 Siegfried Kirscht: Nachdrucke eine zuvor nicht existente Hürde auf. Ist den auf der ‹Leserideen›-Doppelseite unbeliebt, in: practic, Nr. 11, 1990, 13. vorgestellten ‹Reparaturen› noch deutlich der auf Klarheit und bildnerische 26 Reinhard Besser: Liebe Lese- rinnen und Leser!, in: practic, Nr. 8, Schlichtheit gepolte Amateurfotograf anzusehen, der aus aufrechter Position 1990, 2. SCHWERPUNKT 59 ALEXANDER WAGNER seine Objekte ablichtet und von marktförmiger Inszenierung nicht zu viel weiß, erscheinen andere Heftbereiche zügig in experimentellerer Gestaltung, besser ausgeleuchtet, durch Freistellungen in der Trennung von Text und Bild geo- metrisch entgrenzt und vor allem üppig, wenn nicht gar redundant illustriert. Das Lavieren um Darstellungsstandards wird der Zeitschrift bald zum Problem und bereits Heft 12 / 90 enthält einen ausführlichen Artikel zum Thema «Gute Sachfotos», in dem der eigennützige Wunsch der Redaktion nach besseren Bil- dern als Begehren nach didaktischer Optimierung gerahmt wird: Weil wir wissen, daß viele unserer Leser veröffentlichungswürdige Heimwerkerleis- tungen vollbringen, wollen wir ihnen die wichtigsten Informationen und Hinweise geben, wie gute Sachfotos gemacht werden. Ihre Ideen beleben unsere «practic». Mit geeigneten Fotos kann jeder Leser – besser als verbal formuliert – Ihre Heim- werkerleistung, Baupläne und Leserideen nachvollziehen.27 Die Steigerung der heftinternen Standards koppelt sich mit der heimischen Ausstattung der treuen Leser_innen rück und macht ihre Defizite als Pro- blem aus. Erneut wiederholt sich, was die Zeitschrift zuvor bearbeitet hat: Die Krise der Ausstattung hat Irritationen bei der Distribution von ‹Repa- raturwissen› unter neuen Regeln zur Folge. In Abwandlung der zu Beginn des Jahrgangs getroffenen Diagnose über die dem Bedarf hinterherhinken- de Produktion von Heimtrainern ließe sich nun sagen: Mit dem steigenden Bedürfnis nach fotografischem Westniveau und gesunden Verkaufszahlen hält die Fotoproduktion des zum Heimwerker erklärten Heikodysseus nicht Schritt. Dass die Zeitschrift dennoch Rücksicht nimmt und Amateurhaf- tigkeit nicht sofort ganz abschreiben kann, zeigt ihre im Vergleich zu den Überlebenskämpfen anderer Magazine, etwa der reichweitenstarken, deutlich p rofessionalisierteren Neuen Berliner Illustrierten (NBI) oder dem Wohnmaga- zin Kultur im Heim (ab 1990 neues wohnen. Kultur im Heim), sehr viel schlech- tere Gesamtbildqualität. Ein auffälliges Zugeständnis an neue Magazinstandards, zumindest außer- halb der Reservate, in denen Teile des Heftprogramms von vor 1990 kon- serviert werden, ist die Präsenz von Frauen als illustrative Beigabe in Abbil- dungen, deren instruktiver Gehalt stark reduziert ist. Hatten Bilder in der Zeitschrift zuvor stets absolut funktionalen Charakter (eine Ausnahme b ilden einige Titelabbildungen wie jenes auf S. 9 gezeigte) und dienten dazu, das Projekt nachvollziehbar zu machen, tauchen nun zunehmend Menschen in eindeutig gestellten Fotografien auf, deren Aufgabe es ist, als Versprechen des fertigen Dings Lebensqualität zu performen. Diese Aufgabe kommt gemeinhin Frauen, Kindern und selten Paaren zu, etwa bei der Montage einer Sauna kabine im letzten Heft des Jahrgangs 1991, dessen Bebilderung nurmehr oberflächlich ‹Arbeit›, vor allem aber ‹Sex in der fertigen Sauna› 27 Frank Ihlow: Gute Sachfotos, kommuniziert (Abb. 3). Die practic integriert das neue Konzept ‹inszenierte in: practic, Nr. 12, 1990, 51 – 53, hier 51. Fotografie›, das zuvor nur sehr selten und sichtlich verschämt aufgegriffen 60 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS Abb. 3 practic, Nr. 12, 1991, 20. Der penetrierende Blick des Mannes signifiziert, in Korrespondenz mit dem Schraubenschlüssel auf Hüfthöhe der Frau, die Inszenierung des Bildes als Versprechen auf Ge- schlechtsverkehr in der Sauna nach getaner Arbeit. Abb. 4 practic, Nr. 12, 1990, 46 SCHWERPUNKT 61 ALEXANDER WAGNER wurde, und ersetzt auch hierüber ‹Reparatur› als Prozessor von Bildungs- versprechen durch das in seiner Kopplung aus ‹Konsum› und ‹Erotik› typi- sche und vorzugsweise visuell repräsentierte Modell in Aussicht gestellter W unscherfüllung. Auch bildpraktisch überlagert die Zeitschrift also sehr rasch die auf Subjektivierung, fotografische Authentizität und menschenlose Repräsentation überwundener Katachresen im fertigen Objekt abgestimmte Triebökonomie des in einen separierten Heftbereich weggesperrten Heiko- dysseus mit der Darstellung von häufig funktionslosen Menschen innerhalb einer Katalogästhetik, die Erwerbbarkeit von Lösungen durch Rekurs auf ‹schöne Dinge› signalisiert. Ende: «Der Kern der Weissagung ist das Verkennen des Ruders als Schaufel»28 Bis zur ‹Wende› trägt practic den für die hier angestellten Untersuchungen vielsagenden Untertitel Magazin der Selbstbautechnik. Seine doppelte Lesbar- keit als Aufruf zur autonomen Tätigkeit und als Projekt der kybernetischen Autokreation, in dem das Subjekt sich und sein Selbst eigenmächtig ‹baut›, zeigt die zwei Lagen des sozialistischen Bildungsmodells, das ‹Reparatur› als Umgangsform mit einer katachretischen Wirklichkeit relevant setzt. Mit der Figur des Heikodysseus verschwindet dieses Modell nach dem Relaunch Mitte 1990 zunehmend aus der Zeitschrift, bleibt vielleicht in der nun erst- malig auch bildlich auftauchenden Figur des Chefredakteurs, der zuvor be- reits als Autor und stellvertretender Chefredakteur namentlich präsent war, und anderen hin und wieder abgebildeten Heimwerkern alten Schlags op- tisch im Spiel. Einer von ihnen ist Detlef Ganzert, der Gewinner des «gro- ßen Leserwettbewerbs» um das schönste selbstgebaute Regal (Abb. 4).29 Ihm wird, neben dem «Superpreis»30 einer Silvesterreise nach Paris, eine Home- story zuteil, in der seine Möbelbauprojekte im Stil einer Wohnzeitschrift ins Bild gesetzt werden (vgl. Abb. 5 und 6). ‹Tätigkeit› kommt nur durch ein einzelnes Foto von Herrn Ganzert als Heimwerker an der Oberfräse sowie durch seine Frau, die mit einer Sprühflasche die Yuccapalme wässert, als Si- gnifikat funktionierenden ‹Wohnens› im vom Mann geschaffenen Interieur, ins Bild. Bei diesem Artikel handelt es sich um einen der seltenen Versuche der Zeitschrift, neue Konzepte mit alten zu vermitteln. Herr Ganzert wird eindeutig als Heikodysseus klassifiziert über seine zahlreichen Werkstücke und den Hinweis, dass er mit seiner Familie und mit ihm das «Wir» der Ost- deutschen «zu Millionen in Typenhäusern [wohnt]. Mehr Last als Lust?»31 28 Adorno, Horkheimer: Dialektik Der Artikel betont die ausgesprochene Individualität der Ganzert’schen Mö- der Aufklärung, 84. bel, die dem schematischen «Typenbau», dessen Eigenschaften nicht weiter 29 O. A.: practic, Nr. 12, 1990, 46. 30 Ebd. ausgeführt werden müssen, als Korrektiv gegenübergestellt werden. Das 31 O. A.: Individualität durch rustikale Design der selbstgebauten Möbel entspricht dabei einer bestimm- Wohnideen, in: practic, Nr. 12, 1990, 4 – 7, hier 4. ten Vorstellung von ‹Bürgerlichkeit›, die Herrn Ganzerts offensichtlichem 62 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS Abb. 5 / 6 practic, Nr. 12, 1990, 4 – 7 SCHWERPUNKT 63 ALEXANDER WAGNER Begehren nach Repräsentation und einer abgesicherten Individualität Aus- druck verleiht und die eher im Selbstgemachtsein der Dinge als in ihrer ausgestellten Besonderheit besteht, die wiederum mehr vom Kontrast zur Plattenbauumgebung gespeist wird, als tatsächlich evident zu sein. Eine in die Wohnung integrierte Werkstatt des Protagonisten wird nicht gezeigt, sondern nur als hinter einer leicht geöffneten «Eigenbau-Wand»32 liegend verortet und damit bildlogisch zum mystisch verborgenen Transitionsraum eines inzwischen unklaren Hybrids bürgerlich-ostdeutscher Subjektivität. Die Homestory über Detlef Ganzerts Wohnungseinrichtung kann exem- plarisch für die Versuche der Zeitschrift stehen, das Projekt einer in Hoch- geschwindigkeit nachgeholten bürgerlichen Initiation durch Entsagung vom vorgängigen Modell darzustellen. Der Heikodysseus wird, so ließe sich schließen, an den Sirenen seiner früheren Welt vorbeigefahren und vor die Wahl g estellt, Leserbriefe zu schreiben, es wie früher zu tun und im Reservat zu leben oder den Ausbruch in den Kompromiss zu wagen, belohnt am Ein- 32 Ebd., 6. zelnen mit einer Reise nach Paris. — 64 ZfM 27, 2/2022