Dominik Schrey Zwischen den Welten Intermediale Grenzüberschreitungen zwischen Animations- und Realfilm In den filmtheoretischen Diskursen des 20. Jahrhunderts wurde dem Ani- mationsfilm bzw. seinem populärsten Vertreter, dem Zeichentrickfilm, wenn überhaupt, dann nur eine untergeordnete Rolle eingeräumt. Erst in den letz- ten Jahren konnten sich im angloamerikanischen Raum die animation studies etablieren, deren Vertreter für eine Anerkennung des Animationsfilms als gleichberechtigten Untersuchungsgegenstand neben dem „realen Film” ein- treten und für eine theoretische Unterfütterung der Diskussion sorgen.' Die deutsche Film- und Medienwissenschaft dagegen schenkt dem Animationsfilm nach wie vor kaum Beachtung. Abgesehen von einigen Werken mit eher film- historischer Perspektive? widmen sich nur wenige Publikationen dezidiert der theoretischen Untersuchung des Phänomens Animationsfilm? oder spezieller dessen Verhältnisses zum Realfilm.‘ Zu den wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Donald Crafton: Before Mickey. The Anımat- ed Alm 1893-1928. Chicago 1982: Alan Cholodenko (Hg.): The Illusion of Life: Essays on Ant rmmation. Bloomington. IN 1993; Jayne Pilling (Hg): A Reader in Animation Studies. London 1997: Paul Wells, Understanding Animation. London und New York 1998: Maureen Furniss: Art in Mo- tion. Animation Assthetics, Revised Fdition. London 2008. Seit 1987 existiert mit der Society for Animation Studies (SAS) ein Forum, das Wissenschaftler mit Interesse an Animation und am Animationsfilm international vernetzt. Zudem widmen sich drei englischsprachige wissen- schaftliche Zeitschriften dem Thema: das von der SAS herausgegebene E-Joumnal Animation Stuches, das Anımatıon Journal sowie seıt. 2006 Anımation. An Interdiscipiinary Joumal. Vgl, etwa Annika Schoemann: Der deutsche Animationsfilm. Von dien Anfängen bis zur Gegen- wart 1909 2001, Remscheid 2003 oder Ralf Schenk, Sabine Scholze (Hg.): Die Trick Fabrik, DEFA Anımationsfime !955-1990 Berlin 2003. In der Reclam-Reihe Filmgenres erschien 2007 ein Band mit Kritiken zu einer Auswahl populärer Anımationsfilme. vgl. Andreas Friedrich (Hg): Filmgenres. Anımationsfiim, Ditzingen 2007. Für weiterführende Literaturhinweise vgl. jeanpaul Goergen: Bibliografie zum deufschen Animationsfrim. Berlin 2002. “ Die einzige deutschsprachige medienwissenschaftliche Monografie zum Anımationsfilm legt mit Jan Sieberts Dissertation vor, die sıch auf komische Formen des Zcıchentrickfilms be- schränkt. vgl. Jan Siebert: Flexıbie Frguren. Merlienrefiexive Komik ım Zeichentrickfilm. Bielefeld 2005.Vgel. a. ders. Self-Reference in Animated Fılms. In: Winfried Nöth. Nina Bishara (Hg.}: Seil Reference in tho Media, Berlin. New York. 2006, 5. 155- |&%: sowie ders. Der mediale Schein des Komischen ım Zusammenspiel von gezeichneten und fotograflertem Fiim. In: Andreas Röhn (Hey: Format und Intermechantät. St. Ingbert 20035. 73: 104 Speziell zu Kopplungen von Zeichentrick- und Realfılm zuletzt: Nicola Glaubt: Rean ma- P P 8 Fimmblart 117200910 5 Ziel dieses Aufsatzes ist die Analyse und Systematisierung dieser Beziehung zwischen den zwei so unterschiedlichen Formen des Mediums Film unter Ge- sichtspunkten der Intermedialitätsforschung. Anhand einiger Filmbeispiele soll eine Taxonomie möglicher Bezüge entworfen werden, wobei der Schwer- punkt auf solchen Filmen liegt, die als „Hybride“ bezeichnet werden kön- nen, da sie Elemente aus Animations- und Realfilm miteinander kombinieren und dadurch die beiden „Welten“ miteinander konfrontieren. Aber auch an scheinbar „reinen“ Animationsfilmen lässt sich bereits ein intermediales Po- tenzial beobachten. Die aktuell verbreitete Tendenz zur Verschmelzung von Real- und Anima- tionsfilm per Computertechnik? erschwert die Unterscheidung zwischen den beiden Formen zunehmend, wenngleich die Abgrenzung noch nie so unkom- pliziert war, wie man zunächst vielleicht annehmen könnte, denn das Prinzip der Animation - die Erzeugung der Illusion von Bewegung - bildet streng ge- nommen die mediale Grundlage für jegliche Form von Filmproduktion. Zusätzlich erschwerend wirkt sich auf die Untersuchung aus, dass alle in diesem Zusammenhang wesentlichen Begriffe - also vor allem „Animations- film”, „Realfilm“ und „Intermedialität“ - in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedliche und sich zum Teil widersprechende Bedeutungen annehmen können, weshalb sich die nächsten beiden Abschnitte der Definition dieser Termini widmen und die wesentlichen ontologischen Unterschiede zwischen Animationsfilm und Realfilm erörtern. Intermedialität. Der Begriff „Intermedialität“ baut auf dem Konzept der Intertextualität auf, das in den späten 1960er Jahren vor allem von Julia Kristeva geprägt wurde und eine Theorie der Beziehungen zwischen Texten formuliert. In diesen „intertextuellen Dialog der Schriftmedien haben sich die Bilder ‚eingeschaltet‘, deren Interaktion nicht mehr nur textuell, sondern darüber hinaus medial verstanden werden will.”® So wird aus dem Konzept der Intertextualität ein Teilbereich der umfassenderen Intermedialitätstheo- rie, deren Anwendungsbereich nicht auf Texte beschränkt bleibt, sondern auf die Beziehungen zwischen Medien erweitert ist. Intermedialität steht nach tionsversuche des Spielfilms. Kopplungen von Zeichentrick und Realfiim und das Kino der | 390er Jahre. In: Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg): Spielformen ım Spielfilm. Zur Medien- morphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007,5. 41-66 und Erwin Feyersinger: Diegetische Kurzschlüsse wandelbarer Welten: Die Metalepse Im Animationsfilm. In: monteo ge AV Nr 2.2007, 5. 113-130. “ Ein umfangreiches und reich iliustriertes neues Standardwerk zu diesem Aspekt liegt vor mit Barbara Flückiger: Visual Effects. Fimbilder aus dem Computer, Marburg 2008. " Joachim Paech: Intermedialität: Miediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedhiahtät. Theorie und Praxis eines Intereliszipiindten Forschungspebiets. Berlin 1778,5. 14-30, hier: 5. 14. 6 Almblatt 417200910 Siebert „für eine produktive Medienkollision, die manifest oder verdeckt operiert und sich vom verwandten, lediglich akkumulierenden Prinzip der Multimedialität unterscheidet.”’ Eine durchgängige Definition des Begriffs hat sich in der Forschung nicht durchsetzen können. Nach Joachim Paech ist das Konzept „dabei, zu einem Marktplatz für Anschluß suchende geisteswis- senschaftliche Disziplinen zu werden.”? Aus diesem Grund propagiert er eine begriffliche Engführung des Intermedialitätskonzepts, das er von Luhmanns Medium-Form-Relation ausgehend betrachtet. Paech versteht Intermediali- tät in erster Linie als „Konzept postmoderner Ästhetik der multimedialen Hybridisierung, der Dekonstruktion und Auflösung isomorpher Strukturen in heteromorphe Prozesse, die vor allem ihre heterogenen medialen Bedin- gungen reflektieren.”? Er begreift Intermedialität als „Differenz-Form des Dazwischen“! und im Gegensatz zu anderen Intermedialitätsforschern'' als den Transformationsprozess des Medienwechsels selbst, inhaltliche Kriterien treten dabei in den Hintergrund. Gegenstand seiner Untersuchungen sind vor allem Brüche und Diskontinuitäten, Situationen, in denen cas „ansonsten unsichtbare Medium an die Oberfläche tnıtt””. In Anlehnung an Jens Schröter propagiert Paech eine Typologie des Be- griffs, die vier verschiedene Formen der Intermedialität unterscheidet:!’ syn- thetische, formale oder transmediale, transformationale und ontologische Intermedialität, wobei die letzten beiden Kategorien „als verschiedene Seiten derselben Medaille aufzufassen“'* sind. Synthetische Intermedialität bezeich- net die „Entstehung einer neuen künstlerischen Praxis aus der Verschmelzung älterer medialer Praxen”, formale/transmediale Intermedialität liegt dann vor, wenn Phänomene oder Strukturen medienunspezifisch genug sind, um ohne Transformation von einem Medium in ein anderes übernommen werden zu können, während bei transformationaler bzw. ontologischer Intermediali- Jan Siebert: Intermedialıtät. In: Helmut Schanze (Hg,): Metzler Lexikon Medientheore /Medı enwissenschaft. Stuttgart, Weimar 2002, 5. 152-154. hier: 5. 152. “ Paech: Intermedialıtät, 5. |4. “ Pacch: Intermedialität des Films. In: Jürgen Felix (Hg): Moderne Film Theorie. Mainz 2003, 5. 287-312. hier: 5. 299. “ Paech: Intermedialität. 5. |6. Einer sehr viel weiter gefasste Begriffsauffassung vertntt etwa Irina Rajewsky: Intermedialität, Stuttgart 2002. - Siebert: Hexıble Figuren, 5. 169. “ Faech: Intermediahtät des Films, 5. 299 “ Jers Schröter: Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftli- chen Begnffs. In: montaee AV Nr 2, 1998. 5. 129-154, hier: 5. 129. Paech: Intermedıialität des Films, 5. 293. Fimbiatt 417 200910 7 tät Phänomene, die für ein bestimmtes Medium spezifisch sind, in einem an- deren Medium repräsentiert bzw. imitiert werden. Als Ergänzung dieser Definitionen kann Andreas Böhns Konzept des (inter- medialen) Formzitats verstanden werden, das - von einem erweiterten Zitat- begriff ausgehend - zum einen die Möglichkeit der Bezugnahme „nicht nur auf Einzeltexte, sondern auf Codes und Subcodes, vor allem auf Textgattun- gen und Formelemente [...], und zum andern die Möglichkeit intermedialen Zitierens, also der notwendigerweise transformativen Übertragung von Text- elementen aus einem Medium in ein anderes” systematisiert. Ähnlich wie Paech versteht auch Böhn unter Intermedialität nur solche Thematisierungen eines Mediums in einem anderen, die „die spezifischen medialen Bedingun- gen und Möglichkeiten des anderen Mediums in Relation zu denen des eige- nen setzen.”"’ Realfilm vs. Animationsfilm, Die Definition dieser beiden Termini gestal- tet sich äußerst schwierig, da die Unterscheidung gewöhnlich eher instinktiv erfolgt und die Etablierung von Realfilm und Animationsfilm fast parallel verlief: Bereits 1896, weniger als ein Jahr nach der ersten öffentlichen Film- vorführung der Brüder Lumisre, verwendete der französische Zauberkünstler George M&lies zum ersten Mal die Stop-Motion-Technik,'* die die Grundlage sowohl des Animationsfilms als auch vieler realfilmischer Spezialeffekte bil- det - was die konkrete Unterscheidung dieser beiden Phänomene erschwert. Mit J. S. Blacktons HUMOROUS PHASES OF FUNNY FACES (1906)? entstand kurz darauf schon der erste Zeichentrickfilm im engeren Sinn.? Immer wieder wird diese Ehre auch einem früheren Film desselben Regisseurs zugeschrie- ben?! - wenn auch nicht ganz zu Recht, da in THE ENCHANTED DRAWING (1900) noch keine Einzelbildschaltung verwendet wird. Der kurze Film zeigt eine (realfilmische) Person, die mit Kreide zunächst ein Gesicht und dann eine Weinflasche, ein Glas und einen Hut auf eine Tafel zeichnet, um diese Gegen- “ Andreas Böhn: Einleitung. Formzitat und Intermechalität. In: Ders. (He.): Formzitat und Inter medialität. St Ingbert 2003, 5, 7-12. hier: 5. 7, Andreas Böhn: Intra- und ntermediale Formaitate im Tılm aıs Mechenreflexion. In: Ders. (Hg): Formzitat und Intermediahtät, 5. 13-44. hier: 5. 28. Paul Wells Anımation. Genre and Authorship. Londor 2002,58. | I http www.youtube.com/watch’v=8dRessceN Kwge. Zuenff am 14.7.2009. Val. Siebert: Fnuble Freuren, 5.43. Die Frage nach gem ersten Anımetionshilm ıst jedoch nach wie vor umstritten. Der amerikanısche Filmhistoriker Donald Crafton etwa spricht von Emile Cohls Fan AsmMAnoRrl (1908) as „arguanly the first true enimatea cartoon.” Vel. Do nald rafton: Before Mickey, 5. 60. Zum Beisoıel bei Rolf Giesen: Lesukon des Tnck um! Amımationsinms, Berlin 2003. hitpf/www.youtube.convwatchivery DnH2B9Xw. Zugriff am 14.7.2009, 8 Klmblar 117200910 stände dann aus dem Tafelbild herauszugreifen, wodurch sie per Stopp-Trick zu dreidimensionalen realen Gegenständen transformiert werden. Gleichzeitig reagiert das gezeichnete Gesicht mit veränderter Mimik. Es findet also bereits in diesem sehr frühen Beispiel eine Grenzüberschreitung zwischen den onto- logisch getrennten Welten des Gezeichneten und des Realen statt. In den ersten Jahren des Kinos, als das primäre Ziel der kurzen Filme noch nicht das Erzählen von Geschichten, sondern vielmehr das Präsentieren von - sowohl fiktionalen als auch nichtfiktionalen - Attraktionen war,‘ gab es noch keine strenge Unterscheidung zwischen Animations- und Realfilm. Bis etwa 1908 war Animation lediglich ein „Spezialeffekt“ unter vielen” und Misch- oder Hybridfilme, die gezeichnete und aufgezeichnete Elemente mit- einander kombinierten, waren nicht unüblich, Erst danach kam es zur funk- tionalen Ausdifferenzierung der beiden ontologischen Register des Films, die zur heute üblichen - wenn auch problematisch gewordenen - Unterscheidung in Real- und Animationsfilm geführt hat. In beiden Fällen handelt es sich um „bewegte Bilder”, also Folgen von da- mals noch 16 oder 18, heute 24 Bildern je Sekunde, die von einem Apparat so projiziert werden, dass der Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung sugge- riert wird. Per Einzelbildschaltung werden beim Animationsfilm Gegenstände oder Zeichnungen in der Folge von Bewegungsphasen aufgenommen, wodurch für den Zuschauer der Eindruck einer flüssigen Bewegung entsteht. Die Er- zeugung der Illusion von Bewegung beim Zuschauer kann daher als die wich- tigste Grundvoraussetzung des Animationsfilms bezeichnet werden.” Auch bei der digitalen Animation geschieht letzten Endes genau dasselbe: Der Computer errechnet lediglich einzelne Bilder eines Bewegungsablaufs. Schwieriger gestaltet sich eine klare Abgrenzung zum „Realfilm“, da dieser Begriff in der Praxis ausschließlich als Gegenteil zum „Animationsfilm“ ver- wendet wird und entsprechend vage definiert ist. Auch Siebert bietet für die Unterscheidung eine nur bedingt auf empirischen Kriterien basierende Defi- nition an: Ihm zufolge beinhaltet die Gattung „Realfilm” alle filmischen For- men, „die mit fotografisch aufgezeichnetem Material ohne sichtbare anima- tionsfilmische Intervention arbeiten.”” Diese Definition stößt jedoch schnell an ihre Grenzen, da mit der Sichtbarkeit des animationsfilmischen Eingriffs Zum Topos der zeichnenden Hand vgl. Feyersinger! Diegetische Kurzschlüsse. “Tom Gunning: The Cinema ol Ättractions. Larly Film, Its Spectator and the Avant-Garde. In: Thomas Llsaesser Adam Barker {Hg}: Early Fin. Space, Frame, Narrative. London 1990, 5. 56- 52. Crafton: Before Mickey. 5. 9. \Wells: Anırnanon, S. 5. Siebert: Der mediale Schein cos Komischen, 5. 73. Firnblatt 41 720097 10 9 das wichtigste - und einzige - Kriterium ein rein subjektives und von diver- sen Faktoren abhängiges bleibt, wie arı folgendem Beispiel deutlich wird: Die Bewegungen des Riesengorillas im Abenteuerfilm Kıng Kong (USA 1933) von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack wirken aus heutiger Perspektive unbeholfen und schwerfällig, die einzelnen Bilder der Stop-Motion-Sequen- zen sind für das von nahezu perfekten Computeranimationen verwöhnte Auge deutlich als solche zu erkennen, dennoch empfand das Publikum der 1930er Jahre den Film als äußerst überzeugend. Die „Sichtbarkeit der anima- tionsfilmischen Intervention” ist also offenbar eng an die Sehgewohnheiten des Rezipienten gekoppelt. Der Einsatz von „CGI” (computer generated imagery) und die damit ver- bundene Möglichkeit einer quasi fotorealistischen Qualität der Animation hat ebenfalls weit reichende Konsequenzen auf die „Sichtbarkeit” im Sinne Sieberts, wie Paul Wells beschreibt: „CGI could once again make the art of the animator invisible, using animation within live-action contexts in a way that makes it indistinguishable from its context. All this, after many years in which animators, critics and lobbyists have fought for its elevation and the recognition that animation operates as a distinctive art-form in its own right. ””® Hier stellt sich die Frage, ob es sich bei aktuellen Großproduktionen wie etwa der LORD OF THE RınGS-Verfilmung von Peter Jackson (2001-2003) über- haupt noch um „Realfilme“ handelt, wenn sie den größten Teil ihrer Wirkung doch dem Einsatz von Computeranimation in der Post-Produktion verdanken und die von ihnen präsentierten Bilder somit alles andere als Abbilder einer vorfilmischen Wirklichkeit sind. Von Spezialeffekten kann hier allein schon aus quantitativen Gründen kaum noch die Rede sein. Obwohl sıch das Publikum in den meisten Fällen einer bewusst wahrge- nommenen Täuschung hingibt, sollen die gezeigten Bilder zumindest für die Dauer der Filmvorführung den Eindruck von Authentizität erwecken. Hierin liegt die wesentliche Differenz zwischen Filmtrick und Trickfilm und damit auch zwischen Real- und Animationsfilm. Den Realfilm nimmt der Zuschauer als Aufzeichnung einer sichtbaren Welt wahr, den Animationsfilm dagegen kann er nicht losgelöst von seinen formalen Eigenschaften betrachten - in dieser Hinsicht lässt sich im Verhältnis von Realfilm zu Animationsfilm eine Analogie zum Verhältnis von Fotografie und Malerei bemerken. Zwar muss sich der Rezipient auch auf einen Animationsfilm und dessen Inhalte einlassen, er muss in gewissem Sinne die Gesetzmäßigkeiten des Ani- mationsfilms anerkennen, aber er ist sich dabei stets der künstlichen Natur des Gezeigten bewusst. Die Illusionsbereitschaft und der Realitätseindruck al- = Wells: Amnmaton, 5 2f. 10 Himblart 1172009710 lein können jedoch noch nicht als hinreichende Kriterien zur Definition von Realfilm dienen, da es auch Animationsfilme gibt, deren Ansatz es ist, die Affinität zur sichtbaren Welt, die den Realfilm im Sinne Siegfried Kracauers mit der Fotografie verbindet, möglichst perfekt nachzuahmen - entschei- dend ist demnach in erster Linie, wie die Zuschauer das filmische Endprodukt wahrnehmen. Eine sinnvolle Ergänzung zu der bisher erarbeiteten Definition von „Real- film” kann aus dem äquivalent verwendeten englischen Begriff Live-Action abgeleitet werden. Dieser richtet den Fokus auf ein empirisches Kriterium, nämlich die Körperlichkeit der Akteure des Films und deren Bewegungen (bzw. Aktionen), die im einen Fall tatsächlich von einem lebenden Wesen und im anderen von einem leblosen animierten - also künstlich zum Leben er- weckten - Objekt ausgeführt werden. Somit ergibt sich ein brauchbares Instrumentarium, um zwischen Anima- tions- und Realfilm unterscheiden zu können, ohne jeden zweiten Holly- wood-Blockbuster als Animationsfilm bezeichnen zu müssen. All jene Filme, die auch mit dieser Definition noch nicht eindeutig der einen oder anderen Form zuzuordnen sind - so z.B. WHO FRAMED ROGER RABBIT von Robert Zeme- ckis (1988) -, werden im Folgenden als „Hybridfilme“ bezeichnet und sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, da sie „in der Gegen- überstellung und Durchdringung beider Welten immer auch Fragen nach der relativen [...] Verortung der einen Ausdrucksform gegenüber der anderen stellen.” Anhand einiger Filmbeispiele soll nun versucht werden, die möglichen Be- ziehungen zwischen Real- und Animationsfilm zu systematisieren und unter Gesichtspunkten der vorgestellten Definitionen von Intermedialität zu unter- suchen. Realfilmische Durchdringung des „reinen“ Animationsfilms. Die Re- lationen von Animations- und Realfilm sind vielfältiger und komplexer als es zunächst scheint, denn selbst im „reinen“ Animationsfilm lassen sich ver- schiedenste Spuren realfilmischer Verfahren nachweisen, wie bereits Kracauer bemerkte. Ihm zufolge liegt die eigentliche Stärke des Zeichentrickfilms darin, „das Unwirkliche darzustellen, das, was nie geschieht”’®. Typische Ele- mente besonders des frühen, komischen Zeichentrickfilms sind daher gerade die extremen Deformationen und übertriebenen Metamorphosen, wie etwa die so genannte „Squash-and-Stretch-Animation”, bei der die scheinbar elas- tischen Körper der Figuren regelmäßig größten Belastungen ausgesetzt wer- "Siebert: Dei mediale Schein des Komischen. S. 73 Siegfried Kracauen: Theone des Firm. Die Eneftung der dußeren Wirkhichkeit. Frankfurt am Main 785,5. 130, Fitmbiore 417 2009710 11 den, ohne dabei bleibende Schäden zu erleiden - darin durchaus vergleichbar mit frühen Formen des realfilmischen Slapsticks. Siebert stellt in diesem Zu- sammenhang die These auf, dass „der komische Zeichentrickfilm eine Vielzahl seiner komischen Strategien aus der (körperlichen) Flexibilität seiner Figuren [...] bezieht, die wiederum auf die Besonderheiten des Herstellungsprozesses zurückverweist.” Diese Flexibilität der Figuren und ihrer Umgebungen schätzt Kracauer am Zeichentrickfilm, denn dieser nimmt im Sinne seines Konzepts der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ eine Position ein, die diametral entgegengesetzt zu seinen Forderungen an den (Real-)Film zu verstehen ist: Er vertritt die Auffassung, die Darstellung des Fantastischen und Unmöglichen sollte dem gezeichneten Film vorbehalten sein, da nur dieser über die adäquaten Mittel verfüge. Genauso wie er Realfilme kritisiert, die sich „unfilmischer“ Mittel zur Dar- stellung ihrer Inhalte bedienen, beanstandet Kracauer auch die Annäherung der Ästhetik des Zeichentrickfilms an die des Realfilms - ein Trend, den er vor allem in Disneys abendfüllenden Spielfilmen beobachtet.” Seine Kritik beschränkt sich jedoch keineswegs auf die quasi-realistische - und in Kracauers Augen deshalb konservative - Darstellung der menschlichen Figuren, wie an einer Filmkritik, die er 1941 für die Neue Zürcher Zeitung über Disneys DumBo (1941) schrieb, deutlich wird. Auf den ersten Blick wirkt dieser Film alles andere als realistisch, ist doch die Hauptfigur ein fliegendes Elefantenbaby mit überdimensionierten Ohren. Doch Kracauer wirft ihm vor, er vermittle nicht nur eine konformistische Weltanschauung, sondern verrate auch das eigentlich anarchische Wesen des Zeichentrickfilms, da er für das Unmögliche Legitimationsstrategien entwerfe, anstatt die Deformationen und Metamorphosen der Charaktere, wie in der Logik der früheren Zeichentrick- filme, als selbstverständliche Prozesse, die keiner besonderen Erklärung be- dürfen, darzustellen.’ Der Zeichentrickfilm wird nach Kracauer bei Disney ab den späten 1930er Jahren zur gezeichneten Kopie des Realfilms degradiert, da er versuche, „eine Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, die zu ihrer Darstel- lung den Zeichenfilm gar nicht benötigt.” Tatsächlich werden in den Disney-Filmen seit Snow WHITE AND THE SEVEN Dwarrs (1937, Regie: David Hand) die Figuren von der - imaginären - Kamera so behandelt, als wären sie „echte“ Schauspieler. Die Kamera- und Montage- Eoenca 5. 79. Kracauen: Theone des Bis, 5. 131. Hervorhebung im Origna. Sieelniec Kracauer: Kind. Pssovs Stuchen, Glosen zum Din. Frankfurt am Main 1979,5.5/-61. Loenaa, 5. 59. n Farsbiatt 1172009710 regeln des klassischen Hollywood-Kinos werden im „Realismus“ der Disney- Spielfilme auf den Zeichentrickfilm übertragen. Es handelt sich also in gewisser Weise bereits um eine Form von figurativer Intermedialität, da sozusagen eine „fremdmediale Inszenierung im aktuellen Medium“® vorliegt. Diese ist jedoch nur bedingt als solche zu erkennen und fällt vor allem aus heutiger Sicht kaum noch auf, da der große Erfolg Disneys die konventionelle Wahrnehmung von Zeichentrickfilmen nachhaltig geprägt hat. Allerdings findet in diesem speziellen Fall der intermedialen Beziehung weder eine Konfrontation der Formen noch eine Reflexion über die Verwen- dung des Instrumentariums des Realfilms im Animationsfilm statt. Einen sehr großen Schritt weiter gehen die per Computergrafik generierten Filme im Stil von FinaL FAnTasY: THE SPIRITS WITHIN (2001, Regie: Hironobu Sakaguchi),” in denen nicht nur Methoden des Realfilms, sondern gleich des- sen ganzes System imitiert werden. [Abb. Seite 4] Das intermediale Verhält- nis scheint zunächst ein ähnliches wie bei Disney zu sein, da auch hier keine Konfrontation der Formen stattfindet, es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied: In FınaL FANTASY wird im Gegensatz zu Disneys Filmen versucht, die komplett künstliche Herkunft der Bilder zu kaschieren, nichts ist mehr stilisiert, da das Ziel die absolute Mimesis fotografischer Wirklichkeit ist. Eine der Werbezeilen, mit denen für den Film geworben wurde, lautete dement- sprechend: „No more fairy tales, this is reality!” Es handelt sich um transfor- mationale Intermedialität, da eine Repräsentation des Realfilms im Anıimati- onsfilm vorliegt, „die sich explizit auf das repräsentierte Medium bezieht.” Noch aus einem weiteren Grund ist der Film FınaL FANTASY für die Untersu- chung der intermedialen Beziehungen zwischen Real- und Animationsfilm interessant: Nach Paech sind „Formen von Intermedialität [...] Brüche, Lü- cken, Intervalle oder Zwischenräume, ebenso wie Grenzen und Schwellen, in denen ihr mediales Differential figuriert.“” Eine solche Diskontinuität lässt sich auch bei Fınar Fantasy beobachten: Obwohl die Handlungsorte und Ob- jekte des Films erstaunlich „real“ bzw. authentisch wirken, entsteht bei den menschlichen Figuren nie ganz der Eindruck von organischem Leben - zu steif wirken die Bewegungen der Charaktere trotz Motion-Capturing,” zu maskenhaft das Minenspiel der mit großer Detailverliebtheit animierten Ge- sichter. Der Bruch besteht nun darin, dass der Zuschauer unfreiwilligerweise Siebert: Fesshle Dessen. 5. 165. httoy Aıdeo.zoosle.do/'viceop wider d=-174172231209 393755509, Zuge "am 11.7.2009. Schröter: Interiwediahtät. 5. IH. Paech: ntermecattäl. 22. Bei cıesemn Verfahren werden dıe Bewee.ngen „echter Schauspieler auf cin dreidirnensio- nalcs Computermodell üvertvagen. Firmblant 117200810 13 immer wieder an die künstliche Natur des Gezeigten erinnert wird, was ihn in gewisser Weise aus dem Partizipationsprozess reißt, den der scheinbar realfil- mische Charakter der Produktion beim Rezipienten evoziert. Das ansonsten unsichtbare Medium wird plötzlich sichtbar und zerstört die diegetische Ilu- sion. Zu betonen ist allerdings, dass dies nicht gezielt geschieht wie in einer Vielzahl von autoreflexiven Zeichentrickfilmen, die in ironischer Weise ihre eigene Herstellung thematisieren, so etwa besonders anschaulich Tex Averys Dumg HounDen (1943),* in dem eine Zeichentrickfigur scheinbar unbeabsich- tigt aus dem markierten Rahmen des Filmbilds rennt und plötzlich außerhalb der filmischen Welt, also im „Nichts“, steht.“ Animationsfilmsequenzen im Realfilm. Selbstverständlich gibt es auch weniger komplexe Formen der intermedialen Bezugnahme zwischen den bei- den Medien. Eine der ältesten dieser Formen ist zweifellos die Verwendung von animationsfilmischen Elementen zur Visualisierung von Träumen etc. in- nerhalb eines Realfilms. So ließ etwa Fritz Lang für seinen ersten NIBELUNGEN- Film (1924) Kriemhilds „Falkentraum” von Walter Ruttmann als animierte Sequenz realisieren. Für einen sehr ähnlichen Zweck verwendete auch Alfred Hitchcock in VERTIGO (1958) eine kurze abstrakte Zeichentrickeinlage: Hier ist es eine Halluzination des unter Schock stehenden Protagonisten, die zeich- nerisch dargestellt wird. In beiden Fällen handelt es sich um stark grafische Sequenzen, die zwar außerhalb der eigentlichen Filmhandlung stehen, aber durch ihre Formen einen großen ästhetischen Bezug zu derselben aufbauen. So findet der animierte „Falkentraum“ bei Fritz Lang seine Entsprechung in der ornamentalen Gesamtästhetik des Films, während der sich spiralenför- mig auflösende Blumenstrauß in VERTIGO nicht nur das Motiv der Schwindel- anfälle des Protagonisten wieder aufnimmt, sondern auch als Metapher auf den Handlungsablauf allgemein gesehen werden kann. Eine Konfrontation von Real- und Animationsfilm findet in diesem Kontext nicht statt, dennoch wird auch hier bereits in gewisser Weise ein mediales Differential figuriert, da deutlich wird, dass der Animationsfilm sich für die Visualisierung bestimmter Affekte und Gefühlslagen besser eignet als der Realfilm. Lang und Hitchcock entsprechen damit in gewissem Sinn der im letzten Kapitel beschriebenen puristischen Maxime Kracauers, dass „jede Kunstgattung im Einklang mit ih- ren besonderen Mitteln eine spezifische, nur ihr vorbehaltene Funktion zu erfüllen habe.““’ " Kttpiflwwwiyoutube.com/walch’v=shGOW&RABM. Zusnff am 14.7.2009. " Vgl. Siebert: Fexible Figuren. S. | 32. " Siegfnied Kracauer: Yon Calpan zu Hiter Eine psycheloeische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt am Maın 1984. 5. 103. 14 Hilmmbiere 1172009710 Auch in der deutschen Vorabendserie BERLIN, BERLIN (2002-2005) werden durch kurze gezeichnete Sequenzen extreme Emotionslagen der Protagonistin zum Ausdruck gebracht - meist in Form von wörtlich genommenen Sprich- wörtern. Mehr als nur Kommentarfunktion haben animierte Bilder dagegen in Tom Tykwers „Techno-Tryptichon“*’ LoLA RENNT (1998), in dem im Vorspann und zwischen den drei unterschiedlichen Versionen der Geschichte jeweils eine kurze Zeichentricksequenz zu sehen ist, die für die Exposition der je- weils folgenden Handlung eine entscheidende Rolle spielt. Dass Tykwer zu diesem Zweck auf den Animationsfilm zurückgreift, ist jedoch eher der „Bau- kasten- oder bricolage-Asthetik“*‘ des Films geschuldet, der in nur 70 Minu- ten versucht, sämtliche verfügbaren Filmtechniken zu integrieren,“ als einer tatsächlichen Medienreflexion. Wesentlich komplizierter verhält es sich mit Quentin Tarantinos KILL BILL: VorL.1 (2003). Hier ist der animierte Teil knapp acht Minuten lang und er- zählt ausführlich die Hintergrundgeschichte einer Nebenfigur mit dem Na- men „O-Ren“. Die Sequenz ist eine Referenz an die japanische Anime- und Mangakultur, bei der Tarantino sich besonders für diesen Film ausführlich bediente; sie hätte prinzipiell genauso gut als Realfilm erzählt werden kön- nen. Doch Tarantino möchte hier offensichtlich einen analytischen Beitrag zum Medium leisten: Er dekonstruiert gewissermaßen den Realfılm, indem er zunächst das Bild in einem Freezeframe anhält und die Kamera dann aus einer Fotografie herauszoomen lässt, die anschließend in den Zusammenhang zweier gezeichneter Bilder, die nacheinander links und rechts von ihr erschei- nen, gestellt wird. [Abb. Seite 4] Auf diese Weise entsteht in einem fließen- den Übergang die Form eines klassischen Comicstrips, der aus drei horizon- tal angeordneten Panels besteht. Im Folgenden wird die Geschichte, deren Determinierung in diesen drei Bildern bereits angedeutet ist, in Form eines Zeichentrickfilms dargestellt, erzählt von einer Stimme aus dem Off und un- terlegt mit der melancholischen Mundharmonikamusik eines Italowesterns. Aus dem filmischen Bewegungsbild wird also zunächst das unbewegte Bild des Vorgängermediums Fotografie, das nur einen einzigen Moment festhält. Dieses wird dann durch die Kontextualisierung mit zwei weiteren Bildern zu einem Comic, aus der sich dann mit dem Animationsfilmteil wiederum das direkte Nachfolgemedium ergibt. Am Ende des gezeichneten Einschubs ver- fährt er ähnlich - die Bilder werden in ihre Grundstruktur zerlegt und neu zusammengesetzt. Tarantino hält den Zeichentrickfilm mitten in einer Bewe '" Peter Körte: Ein bißchen außer Atem. lom Tykwers deutsches Techno- Inptychon LO1& RER mit Franka Potente. in: Frankfurter Rundschau. 19.8.1998, 5.8. = David Bordwell: Visual Style in Cineman Vier Kapitel Fimpeschichte. Frankfurt am Main 2003, 5.194. “ Ebenda S. 18%. Kimblatt 417200910 15 gung an, sodass wieder das Panel eines Comics entsteht, aus dem die Kamera herauszoomt. Erst nach einigen Sekunden mit schwarzem Bild geht dann der Film weiter. Es handelt sich bei dieser Animationssequenz um ein gezieltes Spiel mit medialen Verortungen und Entwicklungen, und damit um eine intermediale Interferenz - unter anderem - zwischen Real- und Animationsfilm, Die Insze- nierung der vergleichsweise einfachen Geschichte vom Mord an O-Rens Eltern auf mehreren medialen Ebenen könnte als Transmedialität bezeichnet wer- den, da es sich bei dem Stoff um ein medienunspezifisches Phänomen han- delt, das innerhalb verschiedener Medien - hier Realfilm, Animationsfilm und Comic (und orale Narration) - mit den jeweils spezifischen Mitteln ausgetra- gen werden kann, was Tarantino spielerisch vorführt. Der Begriff kann der Sequenz jedoch nicht wirklich gerecht werden, da alle diese verschiedenen Medien wiederum in einem einzigen repräsentiert und in einem komplizier- ten Beziehungsgeflecht miteinander verknüpft sind: Auf die Zeichentrickse- quenz in Kırı BirL: VoL.1 trifft genau das zu, was Paech als „Dekonstruktion und Auflösung isomorpher Strukturen in heteromorphe Prozesse, die vor al- lem ihre heterogenen medialen Bedingungen reflektieren”, bezeichnet.“ Remakes, Spin-Offs und Adaptionen. Unter dieser Kategorie sollen sol- che Fälle zusammengefasst werden, in denen sich das Verhältnis zwischen Realfilm und Animationsfilm als zwei voneinander unabhängig auftretenden Medien vor allem in inhaltlichen Faktoren konstituiert, etwa bei Interpreta- tionen derselben Vorlage eines nicht festgelegten Ursprungsmediums sowohl durch Animations- als auch Realfilm. Für die Untersuchung des intermedialen Verhältnisses der beiden Formen sind Filme dieser Kategorie jedoch nur von geringem Interesse, da nicht Ausdrucksformen des Mediums Animationsfilm aufgegriffen werden, sondern nur medienunspezifische Phänomene, wie z.B. die Mise-en-scene einer bestimmten Szene: Als Peter Jackson etwa J.R.R. Tolkiens Roman THE LORD OF THE RINGS verfilmte, lag bereits eine filmische Adaption des Stoffes durch den Animationsfilmpionier Ralph Bakshi aus dem Jahr 1978 vor, an deren Szenengestaltung sich die spätere Verfilmung zum Teil offensichtlich orientiert. Ein weiteres Beispiel für inhaltliche Bezüge zwischen Real- und Animations- film sind die so genannten Spin-Offs von erfolgreichen Realfilmen. So pro- duzierte das amerikanische Animationsstudio Hanna-Barbera in den 1960er Jahren mehr als 150 Episoden der LAUREL AND HARDY CARTOONS,“ in denen die beiden Slapstick-Ikonen als Zeichentrickfiguren posthum weitere Sketche spielen. Auch hier bleiben die Bezugnahmen jedoch inhaltlicher und ästhe- Paech: intermedialität ces F ims, 5. 299. Etwa http warm yoatube.comiwatchvr8 DO GH ]50, Zuenfian 14.7.2009. 16 Finger 117 200910 tischer Art: Die Gründe für den Medienwechsel liegen vor allem in der Ver- marktbarkeit bereits erfolgreicher Stoffe oder Figuren, Form- und Genrezitate. Besonders im japanischen Anime lassen sich un- zählige Genreelemente finden, die nicht in der gewohnten Weise gebraucht werden, sondern „in einen neuen Kontext eingebettet auf ihre früheren Ma- nifestationen verweisen.” Solche Zitate sind, sofern sie sich auf Genres be- ziehen, die durch den Realfilm geprägt wurden, per definitionem intermedi- ale Zitate, verweisen jedoch häufig nur bedingt auf ein mediales Differential. Interessanter sind deshalb Verweise formaler Natur, also nach Böhn interme- diale Formzitate, in denen stereotype Ausdrucksformen eines Mediums in ein anderes übertragen und so mit diesem konfrontiert werden. Streng genom- men handelt es sich bereits bei den im letzten Kapitel beschriebenen Phäno- menen um intermediale Formzitate, da hier auf bestimmte Muster des Real- films angespielt wird. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Filmen, bei denen solche intermedialen Formzitate deutlicher markiert sind: Am Ende von John Lasseters CGI-Animationsfilm A Bucs LirE (1998) werden z.B. so genannte Outtakes - Dokumentationen komischer Missgeschicke während der Drehar- beiten - präsentiert, obwohl der Film komplett im Computer entstanden ist und daher auch nicht von Schauspielern gespielt wurde, denen Fehler unter- laufen. Hier werden nicht nur Genreelemente zitiert, sondern bestimmte Ab- spannkonventionen, die sich im Realfilm herausgebildet haben. Das Paradoxe an diesen Outtakes ist, dass sie im Gegensatz zum Realfilm extra produziert werden müssen und nicht sozusagen zwangsläufig entstehen.“ Seltener treten intermediale Formzitate des Animationsfilms im Realfilm auf. Eines der wenigen Beispiele ist Chuck Russels THE MAsk (1994), in dem ein cartoonbesessener Verlierertyp eine Maske findet, die es ihm erlaubt, sich genauso wie die Figuren früher Zeichentrickfilme elastisch zu deformie- ren [Abb. Seite 4], dabei bleibt seine „mediale Oberfläche zwar stets real- filmisch, evoziert aber wegen der extremen körperlichen (und folgenlosen) Deformierung die Nähe zum Zeichentrickfilm“. THE Mask bleibt im Sinne der oben erarbeiteten Definitionen ein Realfilm, der allerdings „prototypische Manifestationen“”' des Zeichentrickfilms zitiert und in Relation zu den eige- nen ontologischen Merkmalen setzt. = Böhn: Intra- und intermediale Formzitate, 5.13. "Vgl. Sicbert: Fleuibie Fouren. 5. 183 M. Ebenda 5. 77. Böhn: Intra- und ıntermediale Formritate. S. 26. Fiimblet 4172009 10 17 Hybridformen. Begriffe wie „Hybridisierung” und „Hybride“ finden sich häufig im Kontext von Theorien der Intermedialität oder der Postmoderne und werden dementsprechend inflationär verwendet. Nach Irmela Schneider bezeichnet der Prozess der Hybridisierung „erstens die Kombination von Mate- rialien oder Energien, die in Bezug auf einige Merkmale different sind, andere aber gemeinsam haben. Hybridisierung meint zweitens die Vereinigung unter- schiedlicher technischer Systeme auf einem Träger, so daß dieser multifunkti- onal wird.” Nach Marshall McLuhan werden durch die Kreuzung von Medien „gewaltige neue Kräfte und Energien frei“,°’ außerdem biete sich durch diese Hybridisierung „eine besonders günstige Gelegenheit, ihre strukturellen Kom- ponenten und Eigenschaften zu erkennen.”’* Diese Aussage trifft auch auf die Verbindung von Animations- und Realfilm zu, wie bereits 1978 der russische Semiotiker Juri Lotmann bemerkt hat: „Bedeutende künstlerische Möglich- keiten birgt die Verbindung von fotografischer und Trickwelt, allerdings unter [...] der Bedingung, daß jede von ihnen in ihrer Spezifik zutage tritt.” Als Hybride zwischen diesen beiden Medien werden in Anlehnung an die weiter oben erarbeiteten Definitionen von Real- und Animationsfilm nur sol- che Filme (oder einzelne Einstellungen innerhalb eines Films) betrachtet, die weder dem einen noch dem anderen Medium eindeutig zugeordnet werden können, da gleichzeitig animations- und realfilmische Elemente im selben Bild vorhanden sind. Streng genommen müssten damit eine ganze Reihe von Filmen als Hybride bezeichnet werden, die auf den ersten Blick „reine” Zeichentrickfilme zu sein scheinen, so z.B. Disneys Snow WHITE, Fleischers GULLIVER’S TRAVELS (1939)°° oder Bakshiis THE LORD OF THE RINnGS. Der Grund dafür ist, dass für die Herstel- lung dieser Filme ein spezielles Verfahren genutzt wurde, das als Rotosko- pie bezeichnet wird und unter den verschiedenen Animationstechniken des Zeichentrickfilms eine Sonderstellung einnimmt. 1918 kam es bei der Serie OUT OF THE INKWELL,” einer erstaunlich selbstreflexiven Produktion von Max Irmela Schneider:Von der Vielsprachigkeit zur „Kunst der Hybridation”. Diskurse des Hy- briden. In: Dies., Christian W Thomsen (He.): Hybridkultun Medien, Netze. Künste. Köln 1997, 5. 13-66, 5, 19. Hervorhebung im Original. “ Marshall Mel uhan: Die magischen Kanäle. Understandng Media. Frankfurt am Main. Ham- burs 1970,5.586. " Ebenda. "fur Lotman: Über die Sprache der Trickfilme. In: montase AV Nr 2. 2004, 5. 122-126, hier: 5,125. = httpy/Indeo.songle.defvideoplay’dond-= 3697572837457 165920, Zugriff am 14.7.2009, Hrwa http www. youtube.comv/watch?’v JufTNsHe lc, Zugnff am 14.7.2009. 18 Filmblait 4172009 10 Fleischer,‘® zum ersten Mal zum Einsatz. Die Technik beruht auf Realfilmauf- nahmen, die „frame by frame“ von hinten auf eine mattierte Glasscheibe pro- jiziert werden, so dass ein Zeichner die auf diese Weise entstandenen Bilder quasi „abpausen” kann. Die Bandbreite der möglichen Ergebnisse dieses Effektes ist groß, wie bereits an den drei eben erwähnten Regisseuren deutlich wird: So beruht der „Realis- mus“ vieler Disney-Filme genauso auf dieser Technik wie einige der Verfrem- dungseffekte Bakshis. Auch Betty Boop, eine frühe Ikone des amerikanischen Zeichentrickfilms, wurde zu bestimmten Zwecken rotoskopiert, etwa in der Folge Berry Boop's BAMBoo IsLE (1932).? Der Episode geht eine kurze realfilmi- sche Aufnahme eines samoanischen Orchesters voraus, zu dessen Musik eine Frau tanzt. Kurz vor Ende der Episode wird exakt derselbe Tanz noch einmal aufgeführt, dieses Mal von der gezeichneten Betty Boop. Ihre Bewegungen wirken in dieser Tanzszene plötzlich sehr viel feiner und realistischer als im Rest des Films: „Betty’s Body seems strangely possessed; she moves diffe- rently [...]. Although the shifts are subtle, the effect is strangely eerie [...]. The framing footage of the Royal Samoan Orchestra sets up the realms of the animated and the actual as separate, with distinctly different ontologies ex- isting on different registers of reality. However, the rotoscoped body of Miri [der Name der Tänzerin, D.S.] as Betty causes a leakage of one realm into the other. The clear borders between the animated and the actual are revealed to be permeable, allowing two-way traffic from one to the other. °° Demnach handelt es sich bei der Rotoskopie tatsächlich um eine Form von Hybridisierung, da das realfilmische Bild zwar nicht mehr als solches sichtbar ist, aber im rotoskopierten animationsfilmischen Bild als Spur nachweisbar bleibt. Auf diese Weise wird also weniger der Film selbst zum Hybriden, son- dern vielmehr nur der rotoskopierte Körper der Protagonistin, in dem sich eine fließende Grenze zwischen den beiden Medien konstituiert. Auch hier ist wieder ein Bruch bzw. eine strukturelle Inkongruenz bemerkbar, in der sich das mediale Differential von Animations- und Realfilm verorten lässt. Durch das Rotoskopieverfahren ist noch eine andere Art der intermedialen Bezugnahme möglich, wie vor allem am Werk Ralph Bakshis deutlich wird, dessen THE LORD OF THE RInGS der erste abendfüllende Film war, der komplett in diesem Verfahren hergestellt wurde. Bakshi lässt jedoch nicht nur extra für diesen Zweck gefilmte Schauspieler rotoskopieren, sondern auch Szenen Val, Siebert: Flieuble Fenren, 5. 1221. http: /www.youtube.com/watch’v AGYVS-OaDF, Zugriff am 14.7.2009. “ Joanna Bouldin: The Body Ar-matior and The Real. Race. Reality and the Rotoscope ın Bet- ty Boop. In: Anu Korvunen, Susanna Paasonen (Hg.} Afleciwe Encounters. Reihinking Frmboc ment n Feminst Merha Studies. Turku 20015. 18-54. hier: 5. 50-52. kimblar 417 70097 0 19 aus bereits existierenden Spielfilmen. Auch Bakshis früherer Film WIZARDS (1977)°! macht ausführlich Gebrauch vom Rotoskopie-Verfahren. Hier werden die auf diese Weise entstandenen Bilder zudem als solche ausgestellt: Das realfilmische Ursprungsbild scheint an manchen Stellen erkennbar durch. Es handelt sich hierbei also nicht um die Inszenierung eines Mediums in einem anderen, vielmehr entsteht durch die sichtbare Zweischichtigkeit bzw. dop- pelte Codierung des Bildes eine Art von Vordergrund-Hintergrund-Beziehung, die dem Prinzip einer Kippfigur entspricht: Der Zuschauer kann jeweils den Hintergrund, also den Realfilm, oder den Vordergrund, also den Animations- film, betrachten, jedoch nicht beides zugleich. Anders verhält dies sich dagegen bei der Sorte von Filmen, die der Bezeich- nung als „Hybride“ wahrscheinlich am ehesten gerecht wird: jene Filme, in de- nen sich realfilmische und animierte Figuren gleichberechtigt gegenüberste- hen. Diese besondere Konfiguration erlaubt „den direkten Dialog des Zeichen- trickfilms mit dem gleichzeitig anwesenden Realfilm“.° Das bekannteste und mit Abstand eindrücklichste Beispiel hierfür dürfte Robert Zemeckis’ ROGER RABBIT aus dem Jahr 1988 sein, obwohl es bereits sehr viel früher ähnliche Versuche der Kombination fotografischer und gezeichneter Formen gab.‘ In den 1920er Jahren wurde etwa in Deutschland ein der Rotoskopie ver- wandtes - und in mancher Hinsicht überlegenes - „Verfahren zum Herstellen von Kino-Kombinationsbildern”®* eingesetzt. In der Kurzfilmreihe LusTIGE Hy- GIENE (1926-1930) ermöglicht diese Technik das Aufeinandertreffen gezeich- neter und realer Fiquren.‘® Diese Grenzüberschreitung soll der (unterhaltsa- men) Hygieneaufklärung dienen, enthält aber ebenfalls die für Hybridfilme so typischen selbstreflexiven Momente etwa des Dialogs zwischen einer Zei- chentrickfigur und ihrem Schöpfer. Zeichentrick- und Realfilm sind in dieser Sorte von Hybridfilmen gleichberechtigt, durch die klar definierte Grenze werden die zwei Welten bzw. Medien einander gegenübergestellt und treten in eine Art Wettstreit miteinander ein, wodurch die jeweiligen medialen Aus- drucksformen kontrastiert werden. Im Sinne der Unterteilung nach Schröter handelt es sich um synthetische Intermedialität, also den „Prozess der [...] Fusion mehrerer Medien zu einem neuen Medium, dem ‚Intermedium’, wel- ches mehr wäre als die Summe seiner Teile.” “http warm, youtube.com/watch!v=Fm | dsn TuBkM&hl=de, Zusriff am 14.7.2009. Val. Siebert: Der mediale Schein des Komischen, 5. 76. "" Ebenda, 5. 78 ff. »F zitiert nach Jeanpaul Goergen: Ein Husarenstück. Richard Oswalds Tonfilmdebüt. Exkurs: Hygienische Aufklärung im Beiprogramm. In: Rimblatt, Nr 34, 2007. 5. 39-5 |, hier: 5. 49, “ EFbenda, S. 46-51. '* lens Schröter: Intermedhaltät, 5. 130. 20 Filmbiott 417200910 Fazit. Die Zahl der vorgestellten Kategorien möglicher intermedialer Relati- onen zwischen Real- und Animationsfilm wurde bewusst klein gehalten. Die entwickelte Systematik ist daher als Gerüst zu verstehen, das erweitert und verfeinert werden kann. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Referenzen und Wechselwirkungen zwischen Real- und Animationsfilm überaus vielfäl- tiger Natur sind und selbst das, was gewöhnlich als „reiner“ oder „purer“ Animationsfilm wahrgenommen wird, auf vielerlei Strukturmerkmale und Muster des Realfilms zurückgreift und verweist. Solche Verweise können rein inhaltlicher, aber auch formaler Natur und mehr oder weniger deutlich mar- kiert sein. Der Animationsfilm steht grundsätzlich in einem intermedialen Spannungsverhältnis zum Realfilm, dies ermöglicht eine Perspektive auf die Filmgeschichte, die die häufig als spezifisch postmoderne Phänomene wahr- genommenen Hybridisierungsprozesse zwischen den beiden Gattungen in einem neuen Licht erscheinen lässt: nämlich als Rückkehr zu einem Zustand, der eine klare Trennung von Real- und Animationsfilm noch nicht vorsah. Termini wie Hybrid-, Misch- oder Kombinationsfilm sind, so betrachtet, in ihrer Pauschalität nicht ganz unproblematische Beschreibungen mit begrenz- tem Aussagecharakter. Dennoch zeigt sich gerade in den vielfältigen und höchst unterschiedlichen Filmen, die die Grenzen zwischen den beiden Wel- ten als durchlässig präsentieren und daher mit entsprechenden Labels verse- hen werden, dass die Unterscheidung zwischen Real- und Animationsfilm als zwei unterschiedliche Medien mit je eigenen Ausdrucksformen nach wie vor eine sinnvolle Hilfskonstruktion darstellt. Diese sollte jedoch graduell und nicht absolut gedacht werden und genügend Spielraum für originelle Begeg- nungen bieten. Finblatt +41 7200910 21 LANDRU, DER BLAUBART VON PARIS (A 1923). Die obere Abbildung, aus der ersten Szene, zeigt den teuflischen Schöpfer des mörderischen Verführers (unbekannter Darsteller). Unten: Landru (Wilhelm Sichra) während des Prozesses. Die deutliche Ähnlichkeit mit der historischen Figur unterstreicht noch den dokumentarischen Anspruch des Films.