MEDIENNUTZUNG, MEDIENKULT UR UND KULT URMEDIEN Eine Sammelrezension Wolfgang Tietze, Hans-Günther Roßbach (Hrsg.): Mediennutzung und Zeitbudget. Ansätze, Methoden, Probleme. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1991, 165 S„ DM 38,- Bernward Frank, Gerhard Maletzke, Karl H. Müller-Sachse: Kul- tur und Medien Angebote - Interessen - Verhalten. Eine Studie der ARD/ZDF-Medien- kommission. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1991, 499 S„ Preis nicht mitgeteilt Knut Hickethier, Siegfried Zielinski (Hrsg.): Medien I Kultur Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesell- schaftlicher Kommunikation. Knilli zum Sechzigsten. Berlin: Wissen- schaftsverlag Volker Spiess 1991, 514 S „ DM 68 ,- Der Zeitbudgetierung als Ermittlungsinstrument des Mediengebrauchs gilt die kürzeste, aber gewiß nützlichste der vorliegenden drei Publika- tionen. Ihr Nutzen ist allen acht Autoren des erstgenannten Sammel- bändchens zu danken, die aus den Fehlern landläufigen Umfra- geforschens gelernt haben, um durch deren Analyse methodische Innovationsvorschläge zu erarbeiten. Ein Beispiel: Quantitativ bestimmte Seher-Typen wurden so sorglos willkürlich von einander abgegrenzt, daß "ein Vielseher in der einen Studie [„ .] in einer anderen [„ .] als We- nigseher" (Tietze / Roßbach, S.116) zählt. Grundlegend begegnen ließe sich diesem Mißstand, der den Datenvergleich und damit den Erkennt- nisgewinn verhindert, nur durch eine Typologie, die qualitative Kriterien einschließt, gewonnen aus dem Inhalt des Gesehenen. Generell ist, be- tont ein anderer Beitrag dieses Bandes, der Aussagewert von Zeitbud- getdaten begrenzt, da "qualitative Unterschiede von Tätigkeiten sowie die soziale Bedeutung und der Sinnzusammenhang nur schwer erfaßt werden" (ebd„ S.44) können. Quantitative Daten verzerren im übrigen stets die Wirklichkeit bei sich überschneidenden Alltagsaktivitäten, etwa wenn eine Hausfrau beim Kochen auch die Schularbeiten ihrer Kinder beaufsichtigt (vgl. ebd„ S.59) und - fügt der Rezensent hinzu - womög- lich zugleich noch im Radio Nachrichten hört. - Solche und ähnliche 31 Fehler waren es, die den Ruf der Zeitbudgetforschung arg beeinträchtigt haben, von der Tagesablaufmethode, die in der von Bonfadelli u.a. vor- gelegten Jugend-Medien-Studie (Frankfurt/M. 1986) ein unterdessen als grundfalsch erkanntes Bild jugendlichen Lesens verursacht hat, bis hin zu der hier ebenfalls kritisch behandelten Telemetrie. Insgesamt recht- fertigt der Band die Hoffnung, eine von Kinderkrankheiten genesene Zeitbudgetforschung könnte künftig zu überzeugenderen Ergebnissen gelangen. Unerfüllt bleibt diese Hoffnung in der neuen Studie der ARD / ZDF- Medienkommission, die auch jene irreführende Jugend-Medien-Studie zu verantworten hatte. Nach methodischen Erörterungen und einer auf- lockernden Einführung in die vielschichtige Problematik bietet der neue Untersuchungsbericht eine Inhaltsanalyse der kulturellen Fernsehpro- gramme von 13 Sendern, dann eine Bestandsaufnahme der kulturellen Angebote von 126 Orten, schließlich und vor allem die Ergebnisse einer Repräsentativbefragung zur Nutzung dieser Angebote vor Ort ebenso wie der Medienangebote und zur Beziehung zwischen beiden Angebot,s- gruppen. Das Angebot der 13 Sender wird in vier Programmtypen grup- piert: die öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme von ARD und ZDF, die dritten Programme, die Satellitenprogramme der öffentlich-rechtli- chen Sender, die privaten Programme. Auf Seite 137 bietet eine Tabelle für diese vier Programmtypen die Sendeminuten des Kulturangebots und dessen prozentualen Anteil am Gesamtangebot sowie Daten zur Diffe- renzierung von Kultur nach Fiction, Nonfiction, Musik einerseits, Po- pulär- und Kunstkultur andererseits. Aus dem diese Tabelle erläuternden Text ein Zitat: "Infolge der größeren durchschnittlichen Gesamtsendelei- stung der Privatprogramme , die zum überwiegenden Teil mit Fic- tionangeboten in Gestalt von Spielfilmen und Serien bestritten wird, er- gibt sich für sie absolut gesehen das umfangreichste Kulturangebot sowie auch der höchste relative Anteil der Kultur an der Gesamtsendezeit. Be- messen am Gesamtumfang der Kultursendeminuten folgen an zweiter Stelle die öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme von ARD und ZDF, dann die Satellitenkanäle und an letzter Stelle erst die Dritten Pro- gramme der ARD. Mit durchschnittlich 20% Kultur an der Gesamtsen- dezeit sind diese auch die Programme mit dem geringsten relativen Kulturanteil. Dies erklärt sich zum einen aus dem vergleichsweise gerin- gen Gewicht der Fictionprogramme und den andererseits hohen Sende- zeitanteilen von informierenden und bildenden Programmen, die hier in thematischer und funktionaler Hinsicht nicht dem Kulturangebot zuzu- rechnen waren. Demgegenüber erscheinen die öffentlich-rechtlichen Satellitenprogramme bei insgesamt geringerer Sendeleistung durchaus imagegemäß als die relativ umfangreichsten Kulturanbieter. Mit Kultur- anteilen von 52,4 und 61,l Prozent sind 3sat und lplus unbestreitbar als 32 kulturdominierte Programme zu bezeichnen" (S.136). Nachdem er die Überraschung verkraftet hat, bei den Privatprogrammen läge der höchste Kulturanteil, bemerkt der aufmerksame Leser, daß dieser im letzten Satz des Zitats den öffentlich-rechtlichen Satellitenprogrammen zugeschrieben wird, womit der interpretierende Text auch noch zu den Tabellenpro- zentzahlen im Widerspruch steht. Daß diese überdies falsch berechnet sind, entdeckt schließlich der mißtrauisch gewordene Leser, der dem Computer oder vielmehr den eintippenden Hilfskräften der Medienfor- scher mißtraut und daher die Mühe des Nachrechnens nicht scheut. Der kritische Leser hatte freilich schon erkannt, daß der zitierte Text das Bild des televisionären Kulttirangebots im ersten ebenso wie im letzten Satz grob verzeichnet. Nun differenzieren und korrigieren die folgenden 25 Seiten das verzeichnete Bild im einzelnen, reichen aber im ganzen durchaus nicht, aus 'falsch' 'richtig' zu machen. Schuld an dem Malheur ist die fehlerhafte Eingabe der Prozentzahlen am wenigsten. Ob die Privatprogramme 63,4 oder nur 60,5 Prozent "Kultur" bieten, ist nämlich ebenso belanglos wie tatsächlich schlechter- dings alle Zahlen der beanstandeten Tabelle. Sie beruhen genauso wie der sie ausdeutende Text auf einer Definition von Kultur, die Bildung und Information aus-, dafür aber Softpornos einschließt. Die Verfasser der Studie sind jedoch keine bösen Menschen, die sich diebisch freuen, uns Tutti-Frutti als Kultur verkauft zu haben. Sie kennen und bedauern vielmehr selbst die mißlichen Folgen ihrer Definition von Kultur. Nur sei eine bessere leider nicht zu "operationalisieren" (Frank u.a., S.131) - so nennen sie den Versuch, Kultur in Zahlen einzufangen, deren jede der Computer auf Knopfdruck zu jeder anderen in jede Beziehung setzt. So läßt sich zwar, von hochtönendem Wissenschaftsvokabular komman- diert, ein imposanter Datenberg bewegen, aber keine Kultur einfangen, da Qualitäten gerade in dem, was ihre Eigenart ausmacht, nicht quantifi- zierbar sind, sich also einer auf Meß- und Wägbares versessenen Wis- senschaft weitgehend verschließen. Erschlossen wird Kultur eher durch qualitative Forschungsmethoden, die den Verfassern nicht zu Gebote stehen. Dennoch haben die hier angewandten quantitativen Methoden da und dort Erkenntnisse gezeitigt, um derentwillen sich die Lektüre lohnt. Daß ein Kulturmagazin wie Aspekte in einem Vierteljahr mehr Menschen er- reicht, als im halben Jahr ins Theater gehen, ist zu erfahren förderlich; denn so kommen Proportionen ins Bewußtsein, die es dem öffentlich- rechtlichen Rundfunk erleichtern, Programme nicht nach Maßgabe der Einschaltquoten zu realisieren, sondern auch einmal bewußt auf Minder- heiten auszurichten. - Ein zweites Beispiel, mit dem die Verfasser dan- kenswert der oft geäußerten Befürchtung entgegentreten, starke Ver- mehrung der Sender begünstige kritiklose Vielseherei: Die erhobenen 33 Zahlen belegen eindeutig , daß der Fernsehapparat durchaus nicht von denen am häufigsten eingeschaltet wird , die viele Sender empfangen können. Die extensivsten Fernsehnutzer sind vielmehr diejenigen , die sich Langeweile vertreiben wollen und daher auf Unterhaltung und nichts als Unterhaltung aus sind. Über das Maß des Fernsehkonsums entscheidet mithin die Disposition der Zuschauer und nicht die Angebotsmenge. Um solcher Erkenntnisse willen lohnt es sich , die Stu- die zu lesen. Aber man lese sie so kritisch wie möglich , besonders dort , wo die Verfasser der bereits inkriminierten 'Operationalisierbarkeit' we- gen den Gegenstand ihrer Erhebungen unzulässig verkürzt haben . Dafür ein abschließendes Beispiel. Auch Bücher sind Medien. Die große Welt des Buches aber haben die Verfasser verkürzt auf Romane. Deshalb ist ihnen bei ihrer Untersuchung der Beziehungen zwischen Bücherlesen und Fernsehen eine entscheidend wichtige Tatsache entgangen, die der Rezensent für die größte, quantitativ und qualitativ größte kulturelle Lei- stung des Fernsehens hält: daß es in einem unerhört hohen Maße zum Lesen anregt - was seit der Infratest-Studie Kommunikationsverhalten und Buch (München 1978) jedem bekannt ist , der es zur Kenntnis neh- men will. Verbindet oder trennt der Schrägstrich, der im Titel der dritten Publik- tion zwischen Medien und Kultur steht? Das bleibt offen , wie so vieles in dem Band Angesprochene, der unter den Nachteilen akademischer Festschriften leidet, besonders gerade solcher , die einem vielseitig er- folgreichen Lehrer gewidmet sind. Die 46 Verfasser haben kein gemeinsames Ziel, das über die Ehrung des zu Ehrenden hinauswiese. Thre Beiträge lassen sich nicht bruchlos gliedern , und mancher läßt zweifeln, ob er gedeckt ist durch den Untertitel, der den Inhalt bezeich- nen soll. Wer das Inhaltsverzeichnis mustert, macht sich unlustig an die Lektüre - die dennoch lohnt. Warum , sei zum Ende durch bedenkens- werte (zugleich die inhaltliche Breite andeutende und hoffentlich Leselust stimulierende) Hinweise belegt, soweit möglich durch wörtliche Zitate , zwischen denen der Rezensent durch einen Schrägstrich ebenfalls offenzulassen sich erlaubt, ob Verbindung oder Trennung angezeigt ist: Wie wäre "eine steckengebliebene Archäologie der Populärkultur fortzu- schreiben"? (S.84) / Über Reportagen im Ersten Weltkrieg: "Erst das konstruierte Bild verschafft das Erlebnis der Authentizität, deren lllusi- onscharakter die Retouche verbirgt" (S. 123) / Der Versuch, Ingeborg Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan auf die Bühne zu übertragen, ist mißlungen; die mehrschichtige Hörspielfabel lebt "so sehr von Reflexionen , Metaphern und Assoziationen , daß es vollauf genügt, sie akustisch aufzunehmen und in unserer eignen Phantasie zu verfolgen . Eine visuelle Darstellung kann nur ablenken , nicht aber das Wort der Dichterin vertiefen" (S .2 15) / Der Emigrant Brecht hat den Film als 34 minderes Medium begriffen: "Solche Vorurteile und Mißverständnisse aber tauchen mutatis mutandis noch heute wieder auf, indem Filmtheo- retiker das Fernsehen als minderwertiges, nur für Werbung bestimmtes Medium aufzeigen" (S.233) / "Die Balance zwischen der Automatik der Weltreproduktion im Bild und der spielerischen Auseinandersetzung mit der Welt" (S.445) ist eingebunden in den zum Fortbestand moderner Ge- sellschaften unabdingbaren Kommunikationsrahmen / "Wissenschaft heute ist [ ... ] der Versuch, durch hektisches Messen Probleme einer ganzen Zeit zu vergessen" (S.493). Heinz Steinberg (Berlin)