www.medienobservationen.de 1 Dieser Artikel erschien am 01.10.2018 in der Zeitschrift Medienobservationen. Er ist durch die DNB archiviert. urn:nbn:de:101:1-2018092914110918318912 Rolf Parr Fernsehformate der ökonomisch-realistischen Singularisierung Shopping Queen, Bares für Rares, Zwischen Tüll und Tränen1 Im Vorabendprogramm sowohl der öffentlich-rechtlichen als auch der privaten Sender gibt es eine ganze Reihe von als Quotenhits geltenden Fernsehserien, die sich gleicher- maßen durch eine ökonomische Akzentuierung wie auch eine zur Singularisierung ten- dierende Profilierung und Selbstdarstellung der Akteure auszeichnen. Es handelt sich dabei um Formate, die dokumentarische Präsentationsformen mit Elementen der Un- terhaltung zu Dokutainment kombinieren. Wie dabei die Verzahnung von Ökonomie, Singularisierung und Realismus-Effekten genauer aussieht, wie realistische und ökono- mische Prinzipien und Verfahren in diese audiovisuellen Medienprodukte und ihre In- halte eingehen, wird an ausgewählten Serien aufgezeigt. Ausgangsbeobachtung: Das Zusammenspiel von Singularität, Ökonomie und Realität Unter den aktuell im deutschen Fernsehen erfolgreichen Formaten lässt sich eine Gruppe ausmachen, die – erstens – inhaltlich eine dezidiert öko- nomische Komponente aufweist (möglichst viel Geld für etwas erzielen, möglichst mit dem selbstgesetzten Budget für etwas auskommen, mög- lichst wenig für etwas bezahlen bei zugleich möglichst großem Aufmerk- samkeitsgewinn), deren Protagonist_innen – zweitens – durch eine beson- ders stark ausgeprägte Individualität gekennzeichnet sind und die – drit- tens – in ihrer (quasi-)dokumentarischen Form des Reality-Entertain- ments Effekte von ‚Authentizität‘, ‚Echtheit‘ und eben ‚Realität‘ zu erzie- len weiß. Dazu zählen von ihrem Inhalt und Setting her auf den ersten Blick so grundverschiedene Sendungen wie Shopping Queen (VOX, seit Ja- nuar 2012), Bares für Rares (ZDF, seit August 2013 mit inzwischen mehr 1 Mit Dank an Beate, ohne die ich den Blick auf diese Formate nicht gehabt hätte, und an Thomas Küpper für wertvolle Hinweise und Korrekturen. www.medienobservationen.de 2 als 450 Episoden in sieben Staffeln) und Zwischen Tüll und Tränen (VOX, seit Dezember 2016). Alle drei Fernsehformate sind damit nicht nur Beispiele für die gesamt- gesellschaftliche Tendenz zur Feier der Individualität der_des Einzelnen, wie sie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz unlängst ausführlich analy- siert hat,2 sondern sie sind auch Formen der Einübung der Zuschauer in diese Hochschätzung der singulären Besonderheit und zugleich in ein quasi-unternehmerisches ökonomisches Denken. Wie sich diese Tendenz zwischen 2012 und heute entwickelt hat und wie die Fernsehformate des Dokutainments parallel zum Zeitschriftenmarkt3 mehr und mehr darauf reagiert und dazu beigetragen haben, lässt sich an der Abfolge der hier genauer betrachteten Sendungen aufzeigen. Dabei wird insbesondere nach dem sich wechselseitig stabilisierenden Zusammenspiel von Singularisie- rung, Ökonomie und Realitätseffekten gefragt. Shopping Queen: Styling-Konkurrenz-Doku mit ökonomischer Rahmung Fünf Frauen aus wechselnden Städten haben in fünf aufeinander folgen- den Episoden (Montag bis Freitag um 15:00 Uhr auf VOX) die Aufgabe, sich für einen Betrag von in der Regel 500,– € und in der knappen Zeit von vier Stunden nach einem vorgegebenen Motto neu auszustaffieren und zu stylen (Kleidung, Schuhe, Frisur, Accessoires), um die ‚Shopping Queen‘ einer Stadt zu werden, also „die Frau mit dem besten Stil und dem besten Gespür für Mode“.4 Meist ist am Ende nur noch wenig Geld und Zeit für Haare und Make-up übrig, sodass die ökonomische Ressource ‚Geld‘ und ökonomisierte Ressource ‚Zeit‘ aufgebraucht bzw. in den eige- nen Auftritt investiert sind. Es geht also um das Erzielen von maximaler Aufmerksamkeit bei begrenzten zeitlichen und pekuniären Ressourcen. Währenddessen schauen sich die Konkurrentinnen in der Wohnung der gerade aktiven Shopperin um, was Gelegenheit gibt, Vorlieben und 2 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Mo- derne. Berlin 2017. 3 Vgl. zum Beispiel die monatlich im Münchener Condé Nast Verlag erschei- nende Zeitschrift myself, https://www.myself.de (zit. 15.08.2018). 4 Webseite Shopping Queen, https://www.vox.de/cms/sendungen/shopping- queen.html (zit. 06.12.2017). https://www.myself.de/ https://www.vox.de/cms/sendungen/shopping-queen.html https://www.vox.de/cms/sendungen/shopping-queen.html www.medienobservationen.de 3 Kuriositäten aufzudecken und insgesamt das Bild einer individuellen Sin- gularität zu zeichnen, die dann auch eine mögliche Folie des Abgleichs mit dem Ergebnis der Shopping-Tour bildet. Denn wenn die eigene Kleidung mit ebenso viel Sorgfalt geradezu ‚kuratiert‘ wird wie die Einrichtung der eigenen Wohnung, die Möbel, die Accessoires und Reiseandenken, dann lässt sich die Formel aufmachen: ‚Wer in dieser oder jener Form wohnt, der kleidet sich auch in dieser oder jener Art‘, und er erbringt dadurch – so wäre zu ergänzen – den Beweis seiner Singularität: „Die ästhetisch ku- ratierte Wohnung ist […] ein Ort performativer Selbstverwirklichung. Ei- nerseits hat sie für die Bewohner eine subjektive atmosphärische Qualität, die sie befriedigt; andererseits ist sie ein Schauplatz der Inszenierung ge- genüber Besuchern, so dass ihr ästhetischer Singularitätswert für soziales Prestige sorgt.“5 Der Charakter einer ‚Reality-Show in Serie‘ – die Selbstbezeichnung ist „Styling-Doku“6 – wird bei Shopping Queen dadurch erzielt, dass die Frauen und die sie jeweils unterstützende, selbstgewählte Beraterin von einem Ka- merateam begleitet werden, dessen Aufnahmen vom Experten Guido Ma- ria Kretschmer und auch den Konkurrentinnen sofort kommentiert wer- den. Das geschieht von der Produktion her zwar im Nachhinein, sugge- riert wird für die Zuschauer aber zeitliche Parallelität. Bewertungen des ‚Shopping-Erfolgs‘ finden täglich statt, aber „erst am Finaltag gibt auch Star-Designer Guido Maria Kretschmer seine Punkte von Null bis Zehn ab […]. Die Siegerin erhält […] ein Preisgeld in Höhe von 1.000 Euro und eine imaginäre ‚Shopping Queen‘-Krone“.7 Mit ihrem Zwitter-Charakter von ‚Noch-Konkurrenz-Ranking-Show‘ und ‚Schon-Singularitäten-Doku‘ bei zugleich stark ökonomisch akzentu- iertem Konkurrenzspiel-Hintergrund steht Shopping Queen an einer Über- gangsstelle zwischen Spielshows und dem hier untersuchten Fernsehfor- mat der ‚Singularität bei ökonomisch-realistischer Rahmung‘. 5 Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (wie Anm. 2), S. 319. 6 Webseite Shopping Queen (wie Anm. 4). 7 Ebd. www.medienobservationen.de 4 Bares für Rares: Ökonomisierung mit Kultur-Rekursen Menschen ganz verschiedenen Alters und mit nicht minder verschiede- nem Lebenshintergrund kommen zum Ort der Sendung, um ihre alten raren Schätze gegen Bares zu verkaufen. Das Ablaufschema ist dabei streng vorgegeben: Im Gespräch mit Moderator Horst Lichter wird die Hintergrundgeschichte zu Person und Gegenstand und die Erwartung hinsichtlich des Verkaufspreises abgefragt. Dann schätzen Expert_innen die zu verkaufenden Gegenstände ein und nennen ihren mal nach oben, oft aber nach unten abweichenden ‚Wert‘, worauf die Kandidat_innen ge- fragt werden, ob sie auch zu diesem Preis verkaufen würden. Wenn ja, erhalten sie die sogenannte ‚Händlerkarte’, die ihnen den Weg in den Ver- kaufsraum ebnet, wo fünf Händler_innen warten, denen der rare Gegen- stand präsentiert wird. Diese geben wie bei einer Versteigerung Gebote ab; die letzte Entscheidung über den Verkauf hat aber die Anbieter_in. Danach treten die Verkäufer_innen noch einmal vor die Kamera und re- flektieren kurz, wie zufrieden sie mit dem erzielten Preis sind. Mit diesem Verlaufsschema von Bares für Rares geht es jedoch nicht einfach nur darum, alte (groß-)bürgerliche Besitztümer mit Kulturwert in ihren ökonomischen Marktwert zu konvertieren und auch nicht einfach nur um die nebenbei erfolgende Einübung der Zuschauer in kulturhisto- risches Wissen. Es ist vielmehr die dreifache Perspektivierung des – ers- tens – Nachvollziehbarmachens des ideellen Wertes eines Gegenstandes durch die Hintergrundgeschichte der Verkäufer_innen, des – zweitens – Deutlichmachens des kulturellen Stellenwerts in der ‚Besprechung‘ durch die Expert_innen (selten, massenhaft produziert, typisch für eine Epoche, eine Werkstatt, einen Hersteller, eine Künstlerin usw.), die mit dem am Ende ihres Parts genannten ‚Wert‘ zugleich die Überleitung zur – drittens – ökonomischen Konvertierung des ‚raren‘ Gegenstandes in ‚Bares‘ vor- bereiten. Damit wird ein als ideell-kulturell und zugleich höchstpersönlich inszenierter Gegenstand samt seinem ‚gefühlten Wert’ zunächst in seine ‚Warenform’ zurückgeführt und dann am Ende gegen seinen Geldwert und zugleich den der Selbstdarstellung eingetauscht.8 8 Klaus Raab: „Der Flohmarkt von der Stange“. Die Zeit. http://www.zeit.de/kultur/film/2017-06/bares-fuer-rares-horst-lichter-tro- edelhype/komplettansicht, 15.06.2017 (zit. 30.11.2017). – Zu Formen und Techniken der Selbstdarstellung vgl. Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungs- dienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur. Frankfurt a.M. 2017. http://www.zeit.de/kultur/film/2017-06/bares-fuer-rares-horst-lichter-troedelhype/komplettansicht https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Zeit http://www.zeit.de/kultur/film/2017-06/bares-fuer-rares-horst-lichter-troedelhype/komplettansicht http://www.zeit.de/kultur/film/2017-06/bares-fuer-rares-horst-lichter-troedelhype/komplettansicht www.medienobservationen.de 5 So betrachtet, wäre Bares für Rares lediglich das Format einer kulturellen Medienökonomie, das heißt der Kopplung von kulturellen, medialen und ökonomischen Elementen. Hinzu kommt aber noch die komplexe Kons- tellation der Akteur_innen, also der Verkäufer_innen, Expert_innen und Händler_innen, mit ihren divergierenden, stark individualisierten Charak- teren und Positionen sowie ihrem höchst individuellen Agieren vor der Kamera, die dieses Format so interessant für ganz unterschiedliche Zu- schauer_innengruppen machen. Das Spektrum der Händler_innen, von denen jeder einzelne so etwas wie einen viele konkrete Besetzungen repräsentierenden Typus vertritt, steht geradezu stellvertretend für die unterschiedlichsten Gruppen von Zuschauer_innen und tendenziell auch deren Rezeptionshaltungen: Da ist der ältere Händler aus der Pfalz, der am liebsten damit beginnt, dass dieser oder jener zu veräußernde Gegenstand aus seiner Heimat kommt, und der sich auch schon einmal selbst überbietet, wenn es gilt, etwas symbolisch in diese Heimat zurückzuholen. Ein solcher Vorgang bedeutet aber nichts anderes, als den in den einzelnen Teilen der Sendung eigentlich getrennt behandelten kulturellen und ökonomischen Wert aufeinander zu beziehen und aus Händler_innenperspektive ersteren auch einmal über letzteren zu stellen. Damit wird die eigentlich teleologisch auf das Ziel ‚Verkauf‘ hin angelegte Gradlinigkeit des Formats für einen Moment in das einer zykli- schen Rückkehr zum Ausgangspunkt der meist ebenso ideellen wie indi- viduellen Hintergrundgeschichte konvertiert, was die beiden Eckpunkte des Formats, den ‚Gegenstand mit Geschichte‘ und den ‚Verkauf zum möglichst hohen Preis‘, eng miteinander verknüpft. Nicht zufällig wird nach der Herkunftsgeschichte schon in dem Online-Formular gefragt, mit dem man sich für die Sendung bewerben kann.9 Gegenpart dieses Händler_innentyps – und auch räumlich am anderen Ende des Händlertisches als Charakter-Antipode platziert – ist der eher burschikose, von keinerlei hochkulturellem oder kunsthistorischem Wis- sen getrübte Händler aus der Eifel, der einen kostbaren Tafelaufsatz auch schon einmal als ‚Klump‘ bezeichnet oder etwas, von dessen Geschichte und Kontext er keinerlei Ahnung hat, zu einem eigentlich viel zu hohen Preis ersteigert und dies nun seinerseits mit einer privaten Verwendungs- geschichte begründet, beispielsweise damit, dass er diesen oder jenen 9 Siehe Bewerben Sie sich hier für Bares für Rares, http://casting.netmarket.de/Ba- resfuerRares (zit. 30.11.2017). http://casting.netmarket.de/BaresfuerRares http://casting.netmarket.de/BaresfuerRares www.medienobservationen.de 6 Gegenstand für seine Frau oder seine Kinder haben wolle, oder dass etwas auf diesen oder jenen Platz in seinem Haus besonders gut passe. Auch damit wird eine rekursive Schleife zur am Anfang jeder Sendung stehen- den Herkunftsgeschichte etabliert: Herkunfts- und Verwendungsge- schichte werden strukturell zu Äquivalenten, die gleichermaßen tendenzi- elle Unabhängigkeit von ökonomischen Verwertungsszenarien signalisie- ren.10 Zwischen den beiden beschriebenen Käufer_innen-Typen stehen der ‚feine‘ Händler, oft der einzige mit Krawatte (immer Ton in Ton zum Hemd passend), der gelegentlich die eigentlich von den Händlern sepa- rierte Expertenrolle übernimmt (auch dies eine der kleinen rekursiven Schleifen) und der dafür zuständig ist, zu sagen, wann etwas seinen Markt- bzw. Handelswert erreicht hat. Weiter ist da der ebenfalls gepflegte, kennt- nisreiche junge Exzentriker mit bunt gefärbten Haaren, Hut und Piercings und schließlich die nur wenig ältere Schmuckhändlerin, die verbal die ide- ellen und künstlerischen Werte der Verkaufsgegenstände anspricht, bei ih- ren Geboten aber zugleich hart am Marktwert orientiert ist und dies auch so kommuniziert. Die Händler_innen sind somit nicht nur Agente_innen der Ökonomie, sondern eine ihrer nicht unwichtigen Funktionen im For- mat ist es zudem, Anschlüsse an seine anderen konstitutiven Elemente herzustellen. Das geschieht, indem die eigentlich zielgerichtete Verkaufs- abwicklung in Form rekursiver Schleifen punktuell, aber immer nur für einen Moment, aufgebrochen wird. Auch die – ebenso wie die Händler_innen ein Spektrum an Charakte- ren repräsentierenden – Expert_innen im Vorfeld des Verkaufsprozesses fungieren als ‚Doppelagent_innen‘. Sie stellen zunächst meist den künst- lerischen und/oder musealen und/oder ideellen Wert eines Gegenstandes heraus, geben dann aber auch sehr genaue und von der ersten Schwärme- rei durchaus abweichende Preiseinschätzungen ab. Daher hat man es bei den Expert_innen mit Funktionsstellen des Übergangs von ‚Kultur‘ zu ‚Ökonomie‘ zu tun. Unterstützt werden sie durch Moderator Horst Lich- ter, der an diesem Punkt abfragt, ob die Verkäufer_innen denn zu dem 10 Dass es auch bei den Händler_inenn um Selbstdarstellung bis hin zur Singula- rität geht, zeigen deren an die Sendung anschließende Webseiten, beispielsweise die von Walter („Waldi“) Lehnertz, auf der unter der Rubrik „Fanartikel“ T- Shirts mit Sprüchen von „Waldi“ aus der Sendung angeboten werden (Vgl. Waldi’s Eifel Antik, https://eifel-antik.de/index.php/fan-artikel, 2015 (zit. 30.11.2017)). https://eifel-antik.de/index.php/fan-artikel www.medienobservationen.de 7 genannten Preis oder auch darunter verkaufen würden. Erst dann erhalten sie mit der ‚Händlerkarte’ den Zugang zum Verkaufsraum. Der Moderator fungiert damit – nicht anders als die Expert_innen und auch nicht anders als die sich in rekursiven Schleifen ergehenden Händler_innen – ebenfalls als Mittler_innen zwischen abgefragter Herkunftsgeschichte und kultur- historischer Verortung auf der einen und Vertreter_innen der Ökonomie sowie des Warenwertes auf der anderen Seite. Mit Blick auf die Verkaufs- willigen ist die ‚Händlerkarte’ geradezu der Test darauf, ob sie den Tausch von ideell besetztem Gegenstand in Geld wirklich vornehmen wollen.11 Leichter gemacht wird ihnen dies auch hier wieder durch eine rekursive Schleife. Denn kaum haben die Anbieter_innen eingewilligt, so wird ge- fragt, welche ‚Wünsche’ sie sich denn mit dem erzielten Geldgewinn er- füllen wollen. Genannt werden dann vielfach Reisen, ein schönes Essen mit der Familie, ein Geschenk an Kinder, Eltern oder Partner_in. Mit der Akzentuierung von ‚Wünschen’ aber wird der Geldwert gleich wieder in einen ideellen Wert rück-konvertiert, sodass eine weitere rekursive Schleife entsteht. Ähnliches findet sich auch noch einmal unmittelbar nach dem Handel, wenn die Verkäufer_innen gefragt werden, ob sie denn mit dem Erlös zufrieden sind. Meist heißt es dann, dass es ja die Hauptsache sei, dass das Stück in ‚gute Hände‘ komme. Auch damit wird eigentlich Ökonomisches wieder in Ideelles zurückgebogen. Die Verkäufer_innen starten in der Sendung mit ihrer ideellen Hintergrundgeschichte und ver- lassen die Sendung mit den nicht minder ideellen wie individuellen Dis- kursivierungen des Handels. Diese Grundstruktur einer zielgerichteten Verkaufsbewegung bei viel- fältigen Formen von Rückbezügen kann dann, wenn sie einmal nicht zu gelingen droht, mit Hilfe von Durchbrechungen der unausgesprochenen Spielregeln sichergestellt werden: Der Moderator kommt in den Bieter- raum und spornt die Händler_innen an, mehr zu geben; ein Händler be- zahlt ein Mehrfaches des Schätzpreises; zwei Händler_innen steigen in ein Bieterduell ein, das jeder ökonomischen Rationalität entbehrt, sodass der Pol des Kunstwertes unter der Hand mit aufgewertet wird; eine 11 Die Zuschauer_innen vor dem Fernseher können sich an diesem Szenario mehrfach beteiligen, nämlich indem sie (a) selbst Gewinnerwartungen formu- lieren (also die Position der Verkäufer_innen einnehmen), (b) den ökonomi- schen Wert eines Gegenstandes einschätzen (also die Funktion der ExpertIn- nen übernehmen) und (c) überlegen, wieviel sie denn bieten würden (also an die Stelle der Käufer_innen treten). www.medienobservationen.de 8 Verkäuferin willigt bei einem ihr zu niedrigen Preis ausnahmsweise einmal nicht in den Verkauf ein und begründet dies damit, dass ihr der Gegen- stand doch zu viel ‚wert‘ sei, ideell wert sei. Alle diese Komponenten stel- len sicher, dass die Frage ‚Geld oder Kultur‘ immer ein wenig in der Schwebe bleibt. Eine generelle Dominanz von Geld über ideelle oder kul- turelle Werte gibt es nicht. Parallel zu allen diesen Strukturelementen werden die Verkaufswilligen in mehreren Dimensionen als ‚singuläre Subjekte‘ konstituiert: als singulär in ihrer standardmäßig abgefragten Lebensgeschichte, die hinter dem zu veräußernden Gegenstand steht; als singulär in der Präsentation im Vor- feld bzw. während des Verhandelns mit den Käufern; als singulär auch in Bezug auf den zu veräußernden Gegenstand selbst. Daher sind Vergleiche zwischen den einzelnen Verkaufsvorgängen innerhalb der Sendung ausge- schlossen bzw. ein Vergleich ist nur dann möglich, wenn er mit dem Ziel angestellt wird, festzustellen, dass die ‚Fälle‘ eben nicht vergleichbar sind. Von daher gilt für dieses und auch viele weitere für Singularisierung rele- vanten Fernsehformate, dass die ‚Fälle des Besonderen‘ vervielfacht wer- den müssen, aber nicht in Rankings oder andere wertend-hierarchisie- rende Korrelationen überführt werden dürfen, wie sie noch bei Shopping Queen anzutreffen sind. Das geschieht zum einen innerhalb der einzelnen Sendung (acht Verkäufer_innen, drei Expert_innen, vier Händler_innen), zum anderen aber auch auf der Ebene des Serienformats selbst, das so etwas wie die Vergleichs-Bühne für Singularitäten bildet, die paradoxer- weise am Fließband produziert werden. Diese Logik der Serialität bringt die Gefahr mit sich, dass die Menge der Singularitäten als Masse wahrgenommen wird. Dem muss innerhalb des Formats begegnet werden, etwa durch Wechsel der Schauplätze und deren zumindest minimal differierende regionale Verankerung, wie sie un- ter anderem durch die Dialekte der Anbieter_innen sichergestellt wird. Auch auf der Ebene der insgesamt 16 an der Sendung beteiligten Ex- pert_innen und Händler_innen werden von Ausstrahlung zu Ausstrah- lung immer nur einzelne ausgetauscht, sodass genügend Vergleichsvarianz vorhanden ist, zugleich aber auch genügend Konstanz an Singularitäten. Mit der „Wiederkehr weniger, immer gleicher abstrakter Muster, die sich hinter täglich neuen, aktuellen und konkreten Variablen verbergen“, www.medienobservationen.de 9 lösen diese Formate das doppele Versprechen des Fernsehens auf zugleich immer Neues und immer schon Bekanntes ein.12 Zwischen Tüll und Tränen: Singularität im Kleid Das ‚Sich-Konstituieren-als-singuläres-Subjekt‘ findet sich auch in solchen Doku-Soaps wie der Brautmoden-Serie Zwischen Tüll und Tränen, die regel- mäßig mit dem Satz ‚Das ist MEIN Kleid!‘ endet, also der Feststellung des Erreichens singulärer Subjektivität. Dabei geht es nur en passant um Öko- nomisches: Was kostet das Brautkleid und wie hoch ist (eigentlich) das Budget? Kann ich mir das Traumkleid leisten und so meine Singularität effektvoll präsentieren? Inszeniert wird diese Singularisierung als Prozess, bei dem Kleiderty- pen wie ‚Prinzessin‘, ‚Meerjungfrau‘, ‚Etui‘, ‚Bleistift‘ oder ‚kleines Weißes‘ peu à peu individualisiert werden, wobei sich dieser Prozess nicht allein auf das (meist) am Ende stehende ‚perfekte‘ Kleid beschränkt. Stationen auf dem Weg zu ‚meinem Kleid‘ sind auch die gescheiterten Anproben, die ‚gegen die eigene Individualität‘ ausgewählten Kleider und die ‚nicht- normalen‘ Brautkleider; so beispielsweise im Falle einer Gothic-Liebhabe- rin, die sich ein schwarzes Brautkleid mit nach vorne hin extrem kurzem Spitzenrock und hinten langer Schleppe wünscht. Die Berater_innen tre- ten in diesem Prozess eher in der Rolle von Expert_innen als derjenigen von Verkäufer_innen auf; sie sind gleichsam Geburtshelfer_innen der Sin- gularität. Und ebenso fungieren die die Braut begleitenden Mütter, Ge- schwister, Freundinnen oder Tanten als Resonanzspiegel, sodass insge- samt ein Prozess des doppelten Beratens bzw. Rückmeldens stattfindet, an dessen Ende die Symbiose aus Braut und Kleid als Exempel erfolgrei- cher Selbstdarstellung und Individualisierung steht. Die ökonomischen Aspekte bleiben dabei – das ist ein weiterer Entwicklungsschritt innerhalb der untersuchten Formate – eher im Hintergrund und werden nur gele- gentlich aufgerufen. 12 Ulrich Schmitz: „Kein Licht ins Dunkel – der Text zum Bild der ‚Tagesschau‘“. In: Günter Bentele/Ernest W. B. Hess-Lüttich (Hg.): Zeichengebrauch in Massen- medien. Zum Verhältnis von sprachlicher und nichtsprachlicher Information. Tübingen 1985, S. 137-154, hier 150. www.medienobservationen.de 10 Tendenzen im Dreieck von Ökonomisierung, Singularisierung und Realismus-Effekten Ist in der 2012 gestarteten Doku-Soap Shopping Queen das Ranking- und Gewinn-Element noch stark verankert (‚Shopping Queen der Staffel‘; ‚Shopping Queen des Jahres‘), so schwächt sich dies in Bares für Rares, wo mit dem Versteigerungscharakter im Händlerraum nur noch ein Rest von Castingshow und Gewinnen durchscheint, weitestgehend ab und ist in Zwischen Tüll und Tränen innerhalb der Sendung gar nicht mehr vorhanden. Es gibt keine Wahl der schönsten Braut, kein Ranking des am meisten oder am wenigsten ausgegebenen Geldes; es bleibt beim Nebeneinander und damit bei der Individualisierung und in deren Folge der Singularisie- rung der Fälle. Vergleich ist höchstens noch durch die ZuschauerInnen möglich, ist also ein Rezeptionseffekt (‚Wem stand das ausgewählte Braut- kleid am besten?‘). Zugespitzt formuliert ließe sich sagen, dass man es bei Zwischen Tüll und Tränen mit einem dominanten Prozess der Singularisie- rung zu tun hat, bei gelegentlichem Durchscheinen ökonomischer Ele- mente, während bei Shopping Queen die ökonomische Determinierung des Geschehens im Vordergrund steht, sich Ökonomie und Individualität bei Bares für Rares in etwa die Waage halten. Effekte von ‚realistisch sein‘ gewinnen diese Formate zunächst einmal mit ihrem Doku-Charakter, dann aber vor allem auch dadurch, dass die Singularitäten ebenso authentisch (und damit wiederum realistisch) wirken wie die Gesamt-Settings der Formate, was Moderatoren, Produzenten und Sender in den die Sendungen begleitenden Paratexten auf den jeweiligen Webseiten nicht müde werden zu betonen.13 In Shopping Queen ist es die zwar allererst durch die Spielregeln herge- stellte Geld- und Zeitknappheit, die aber nichtsdestotrotz ‚realistisch‘ wirkt, da sie vielfältig an ‚ganz realistische‘ Alltagserfahrungen der Zu- schauer anschließbar ist (zu wenig Zeit für etwas haben; mit dem zur Ver- fügung stehenden Geld auskommen müssen). Hinzu kommen die realis- tisch-dokumentarischen Schauplätze, wie die jeweilige Stadt mit ihren 13 So sieht auch Moderator Horst Lichter den Erfolg von Bares für Rares in der „Sehnsucht nach Sicherheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit – nach Dingen, die ein- fach wahr sind“, begründet (Josa Mania-Schlegel: „Quotenwunder Trödels- how“. Süddeutsche Zeitung [, http://www.sueddeutsche.de/medien/bares-fuer- rares-quotenwunder-troedelshow-1.3517276, 25.05.2017 (zit. 29.11.2017). http://www.sueddeutsche.de/medien/bares-fuer-rares-quotenwunder-troedelshow-1.3517276 http://www.sueddeutsche.de/medien/bares-fuer-rares-quotenwunder-troedelshow-1.3517276 https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCddeutsche_Zeitung http://www.sueddeutsche.de/medien/bares-fuer-rares-quotenwunder-troedelshow-1.3517276 http://www.sueddeutsche.de/medien/bares-fuer-rares-quotenwunder-troedelshow-1.3517276 www.medienobservationen.de 11 tatsächlich existierenden Geschäften, in denen eine Episode spielt, die Au- thentizität der Wohnungen der Kandidatinnen und all die kleinen Dinge, die auch im Lebensalltag einmal nicht klappen (vom verlaufenen Make-up bis hin zum abgebrochenen Absatz der Schuhe). Bei Bares für Rares sind es vor allem die Verkäufer_innen in ihren teils naiv, teils unbeholfen, auf jeden Fall aber authentisch wirkenden Präsen- tationen, die es ermöglichen, den Charakter der Fernsehsendung für einen Moment zu Gunsten der Vorstellung, dass die Situation ja ganz so wie im Alltag sei, auszublenden. Verstärkt wird dies durch das Gespräch mit dem Moderator, das eher einem Plausch am Küchentisch (bei obligatorischem Duzen) als einem Interview im Fernsehen ähnelt. Alltagsnähe steht aber wiederum für Realismus, und zwar ganz besonders dann, wenn der am Ende tatsächlich erzielte Kaufpreis deutlich geringer ist, als der erwartete oder vom Experten geschätzte. Denn dann wird eine Preisutopie zu ‚har- ter Realität‘. In Zwischen Tüll und Tränen schließlich sorgen neben dem auch hier wie- der dokumentarischen Format-Rahmen die realen Schauplätze, auf deren regionale und lokale Verankerung sehr viel Zeit und filmischer Aufwand verwendet wird, und die in ganz besonders starker Weise Authentizität signalisierenden Emotionsausbrüche für ‚Realität‘, jedenfalls für diejenige der Vorbereitung auf eine Hochzeit. Kultursoziologischer Anschluss In seiner Analyse unserer spätmodernen Gesellschaft setzt Andreas Reck- witz bei der Beobachtung an, dass das Originelle, Besondere und Einzig- artige im Fokus der Aufmerksamkeit stehe, vor allem aber das authenti- sche, singuläre Subjekt, dem im Bereich des Ökonomischen ein Interesse an spezifischen, unverwechselbaren Produkten, besonderen Dingen und einmaligen Events korrespondiere. Da die Prozesse der Singularisierung aber so verschiedene Lebensbereiche wie Arbeit, Politik, Technologie (Di- gitalisierung) und nicht zuletzt auch Lebensstile beträfen, seien sie als ge- samtgesellschaftliche Phänomene anzusehen. Gegenüber diesem Konzept von ‚Singularisierung‘ ist die Rede von ‚Individualität‘ an Einzelsubjekte und deren Charakterisierung gebunden. ‚Individualität‘ wäre dann Element von ‚Singularität‘, letztere ginge aber über erstere deutlich hinaus. Wenn Reckwitz weiter von einer „Kultur- www.medienobservationen.de 12 ökonomisierung der Arbeitsform“ in der späten Moderne spricht und aus ihr ‚Singularisierung‘ hervorgehen sieht, dann hat man es bei Shopping Queen, Bares für Rares, Zwischen Tüll und Tränen und darüber hinaus tenden- ziell bei allen Fernsehformaten des hier untersuchten Typs in Umkehr die- ses Befundes mit einer ‚Kulturalisierung von Ökonomieformen‘ auf Basis von singularisierten Shopperinnen, Verkäufer_innen und Bräuten zu tun.14 Weiter lässt sich mit Reckwitz feststellen, dass „die Arbeitswelt mehr und mehr Züge der creative economy annimmt, in der an singulären Gütern für kulturelle Märkte gearbeitet wird, und die Arbeitskraft ihrerseits zu ei- nem Singularitätsgut auf einem kulturellen Arbeitsmarkt wird“.15 Genau das gilt aber auch für die Fernsehformate der ökonomisch-realistischen Singularisierung. Sie zeigen (und leisten) insofern immaterielle, kulturka- pitalistische Arbeit, als in ihnen „weniger an materiellen Gütern“ gearbei- tet wird, als „an Kommunikation, Zeichen und Artefakten“16 ganz unter- schiedlicher Art. Das ist auch dann der Fall, wenn der Weg dahin – wie bei Shopping Queen – noch über traditionelle Konsumwaren führt. 14 Vgl. Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten (wie Anm. 2), S. 181-184. 15 Ebd., S. 181f. 16 Ebd., S. 181.