Die Multiplex-Bewegung Luxurierung oder dispositive Neuorientierung des Kinos? Hans J. Wulff Meitingen, 1992 Am 2.10.1992 eröffnet in dem 11.400-Seelen Städtchen Meitingen im Augsburger Land das Mehrsälekino Cinderella mit vier Leinwänden und 391 Sitzplätzen. «In Meitingen entsteht das Kino der Zukunft», textete die Augsbur- ger Allgemeine. Im Artikel von Margaret Sturm heißt es: Das Cineplex soll mit allem ausgerüstet werden, was modernste Kinos bie- ten: von Laserprojektion über 3D bis hin zu Technik für Tagungen, von Motion Seats (Kinosessel, die sich mit dem Film mitbewegen) über ex- trabreite Deluxe-Sessel bis hin zu einem Kinderspielplatz, der sich über zwei Etagen erstreckt. Die Lage im Gewerbegebiet Meitingen/Westendorf, das sich direkt an der Bundesstraße 2 befindet, ermöglicht 200 kostenlose Parkplätze direkt vor der Tür.1 Der kleine Artikel verweist auf eine kurzfristige Kinoeuphorie, derzu- folge mit den Multiplex-Kinos (ein Kunstwort, in das das lat. multiplico = vielfach eingegangen ist) eine neue, modernere und technisch per- fektionierte Generation von Kinos sogar in Mittel- und Kleinstädten die Zeit der traditionellen Kinos ablösen würde. Das Meitinger Cinde- rella ist im engeren Sinne gar kein Multiplex-Kino – als solche dürfen 1 http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg-land/In-Meitingen-entsteht- das-Kino-der-Zukunft-id36245287.html. 154 montage AV 25 /2 / 2016 nur Kinos mit mindestens sieben Leinwänden bezeichnet werden. Die im Zitat fallende Bezeichnung Cineplex war 1992 noch ein Neolo- gismus, der eher auf die Neuheit des Phänomens verweist als auf die Zugehörigkeit des Kinos zu einer der großen Kinoketten; 1997 wurde dann aber die Cineplex-Gruppe gegründet, die heute 90 Kinos mit 530 Leinwänden an 66 Standorten in Deutschland betreibt und zu der auch das Cinderella gehört. In Meitingen selbst beginnt im Frühjahr 2016 der Neubau eines größeren Kinos mit sieben Sälen und 800 Sitzplätzen, 1,2 Millionen verkaufte Eintrittskarten später.2 Die Multiplex-Revolution3 Mit der Eröffnung des Cinderella erreichte das Programm der Vielsäle- kinos – meist Multiplex- oder Megaplex-Kinos genannt – die deutsche Provinz. Das Kino als funktionaler Neubau: mehrere Säle, großflächige Leinwände, beste Sichtbedingungen auf allen Plätzen, eine nachgerade luxuriös anmutende Tonausstattung. Ein Haus, viele Filme, Angebot für viele Geschmäcker. Ein Kino als Kiosk des aktuellen Film-Angebots, dem Programmangebot der TV-Kanäle nicht unähnlich. Unter einem Dach: verschiedene Publika, verschiedene Präferenzen. Das Kino wird zum Warenhaus.4 Das Ganze ist in einem weiteren Rahmen eingefasst: Die Kinokultur wird nun endgültig als ‹Kino-Entertainment› ausge- wiesen und umfasst nicht nur die Projektion des Lichtspiels, sondern auch dazugehörige Cafés, Bars und Restaurants, Musikveranstaltun- gen, Kindervergnügungen und ähnliches (wie sogar Fitness-Zentren), manchmal auch Geschäfte,5 wobei sich die Frage aufdrängt, ob das ‹Kino› überhaupt noch im Zentrum dieses Ensembles steht oder man es nicht besser als ‹Unterhaltungs- und Konsumkomplex› bezeichnet. So neu die Idee des Mehr- oder Vielsälekinos in der BRD auch gewe- sen sein mag: Die Verbreiterung des Filmangebots, die gleichzeitige Ver- fügbarkeit verschiedener Filme am gleichen Ort – diese Idee ist viel älter und weist auf die US-Filmproduktion der 1960er zurück, als Hollywood aufhörte, uniforme Produkte herzustellen, was die Kinobetreiber dazu zwang, ihre eigenen Angebotsstrukturen zu verändern. Die Aufteilung größerer Säle in mehrere kleinere (twinning) war eine erste Antwort auf 2 Stadtzeitung (Meitingen), 4.12.2015. 3 Der Ausdruck «Revolution» ist übernommen aus dem historischen Überblick von Hanson 2007. 4 Diesen Übergang notiert auch Paul (1994, 491 f). 5 Zu den neuen Konsum- und Freizeitkomplexen, denen auch die Multiplexe zuge- hören, vgl. Doury (2001) und Jones/Hillier (2002). Wulff: Die Multiplex-Bewegung 155 die veränderte Produktlage wie aber auch auf das sich verändernde Pub- likum (wobei letzteres wohl der Veränderung der Kinolandschaft vorgän- gig war; vgl. Haines 2003, 87). Ein erster Schritt hin zu den Multiplexen waren die Parkway Theatres (inititiert durch Stanley Durwoods American Multi-Cinemas) in Kansas City am 12.7.1963. Das erste Kino hatte zwei Leinwände, weitere folgten: vier Leinwände 1966, sechs Leinwände 1969 (vgl. ibid., 87ff). Durwoods Idee war, Mehrleinwände-Kinos in den Einkaufsmeilen der Großstädte anzusiedeln und diese durch die Qualität der Sitze und der technischen Ausstattung, aber auch durch die Diffe- renziertheit des Filmangebots attraktiv zu machen. Cineplex Odeon – die dem Kinotypus den Namen verliehen – öffneten ein erstes 18-Säle- Kino in Toronto (1979), ein 14-Säle-Kino in Los Angeles (1984), beide in oder an Einkaufszonen in den Städten oder gar in Shopping Malls gelegen. 1985 erreichte die Welle Europa (mit einem UCI-Kino nahe London). In der Presse war von «Monster-Kinos» die Rede – angesichts der oft mehrere Tausend zählenden Sitzplätze und der bis zu dreißig Säle durchaus verständlich. Das erste deutsche Multiplex-Kino wurde 1990 in Hürth bei Köln eröffnet – nicht mitten in der Stadt, wie von den großen Erstaufführungskinos der Vorzeit gewohnt, sondern vor der Stadt, in einer Randlage. Das UCI Kinowelt Hürth Park wurde zum Vorbild für weitere Neubauten: 1991 entstand ein 14 Säle großes Multiplex-Kino im neugegründeten Ruhr-Park-Einkaufszentrum in Bochum mit 3.350 Sitzplätzen und bis zu 16 Meter breiten Leinwänden. 7.500 Parkplätze sowie die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr erlauben es bis spät in die Nacht, die Angebote des Kinos wahrzunehmen. Die Komplementierung des Kinoangebots um die Multiplexe ging sehr schnell vor sich, schon bald war der Markt neu aufgeteilt. In Deutschland gibt es einige Kinoketten, die von Beginn an auf die Phi- losophie der Multiplexe setzten. Dazu gehört Cinestar (54 Kinos, 490 Leinwände, 100.000 Plätze [Stand: 2013]), Cinemaxx (33 Kinos, 289 Leinwände, 73.000 Plätze [Stand: 2016]), die international auftretende UCI Kinowelt (in der BRD 23 Kinos, 203 Leinwände, 50.220 Sitzplätze [Stand: 2016]) und Kinopolis (17 Kinos, 137 Leinwände, 26.000 Sitz- plätze [Stand: 2016]). Cineplex ist ein 1996 gegründeter Dachverband einer ganzen Reihe von mittelständischen Unternehmen (26 Mit- glieder, 85 Kinos, 471 Leinwände [Stand: 2012]); der Verband betreibt zudem fünf eigene Kinos. Der Marktanteil der Multiplex-Kinos in der BRD stieg stetig an, von 15 Prozent 1996 auf 50 Prozent 2006.6 6 Gleichwohl ist die Geschichte der Multiplexe in der BRD nicht nur eine Erfolgs- geschichte – sowohl die Abhängigkeit der Umsätze von den Blockbustern wie auch 156 montage AV 25 /2 / 2016 Die Geschichte der Schachtelkinos der 1970er-Jahre – die das schwindende Kinopublikum durch eine Verkleinerung der Säle und die Vervielfältigung des Filmangebots vergeblich auszugleichen such- ten – ging anfangs der 1990er erkennbar dem Ende zu, und es sind gleich mehrere Modifikationen des Angebots, die den Zuschauer ansprechen: Es ist die Opulenz der Ausstattung, die Qualität der Sitze, die Perfektion der Darbietung (in Bild wie in Ton) – kurz: Es ist der Reiz des Luxurierenden, der ausgespielt wird. Die Attraktivität des Programms unterstützt diejenige des Kinos: Das Prinzip der Block- buster und der enormen Anziehung, die sie zu ihren Startterminen genossen, wird durch die Vielzahl der Sitzplätze ebenso aufgenommen wie durch die in den meisten Multiplexen gegebenen Möglichkeit, den gleichen Film in mehreren Sälen zu spielen (bis in die 2000er hinein im Verfahren des Interlock, bei dem der Film durch mehrere Projektoren läuft, oder – bei zeitversetzter Projektion – mit Verzicht auf das Koppeln der Filme, sodass eine zweite Projektion z. B. nach der Hälfte des Films möglich wird; diese Techniken wurden mit der Digi- talisierung überflüssig). Dass die Multiplexe technische Innovationen sehr schnell einführten, versteht sich von selbst (bei der Einführung von Tontechniken wie DDS oder THX, beim Übergang in die Welt der digitalen Projektion, bei der 3D-Projektion etc.). Doch dies ist nur die eine Seite der Veränderung der Kinokultur. Das zweite ist die Umsiedlung der Kinos aus dem Zentrum der Innen- städte in Konsum- und Unterhaltungsareale, die den Besuch des Kinos viel stärker noch als Segment von Freizeitverhalten kennzeichnen als das früher der Fall gewesen ist. Unter Umständen gibt es sogar ein konzentriertes Angebot an Multiplex-Kinos an einem Ort, der als Ort der abendlichen Ausgeh-Kultur gilt (wie in Berlin am Potsdamer Platz, in Paris an der Champs-Élysées oder in New York am Broadway). Ein Effekt dieses Eingriffs in die Angebotsstrukturen des Kinos ist die Altersdifferenzierung des Publikums, das sich in den Multiple- xen deutlich auf eine jüngere Klientel konzentriert.7 Sie ist dominant das gelegentliche Überangebot an Leinwänden führte immer wieder zu finanziellen Krisen; vgl. dazu Neckermann (2001). So sehr die Multiplex-Kinos ihren Umsatz- anteil erhöhen konnten, blieben sie in der BRD dennoch gegenüber traditionellen Kinos im Hintertreffen; das ist in den USA und England anders (im Verhältnis der Gesamtleinwände / Multiplex-Leinwände): – USA: 42.814 / 32.627; – Großbritan- nien: 3.867 / 2.915; – BRD: 4.610 / 1.294 (Stand: 2013; Quelle: Castendyk 2014, 24). 7 Die empirischen Befunde sind allerdings undeutlich. Der Anteil der Unter-30-Jäh- rigen lag 1993 noch bei 70 Prozent, fiel aber bis 2007 auf 50,2 Prozent (FFA- Statistik). Das korrespondiert mit der sich verändernden Alterspyramide, wohl aber auch mit den sich verändernden Rezeptionsmodalitäten vor allem Jüngerer. Ob dem Wulff: Die Multiplex-Bewegung 157 unterhaltungsorientiert und trägt ihre Amüsierpräferenzen in die Kinos hinein, die darauf reagieren und spezifische U-Bedürfnisse zu befriedigen suchen. Andererseits entsteht für das eher bildungs- oder kunstorientierte (und meistens ältere) Publikum ein neues Markt-Seg- ment, in das die Arthaus-Kinos als Anbieter eintreten; aber auch die Multiplexkinos reagieren auf das besondere Publikumsinteresse und zeigen – meist in kleineren Sälen – «den besonderen Film». Der Trend, in dem sich schon in den 1970er-Jahren in den Programmkinos die Publika von denen des Mainstream-Kinos zu unterscheiden begannen, setzt sich fort – und findet sich in Filmkunst-Kinos wieder, die die Einsparpotenziale des Mehrsaal-Betriebs nutzen, mehrere Säle betrei- ben und die Filme mit anderen Freizeitangeboten wie Bistros oder Film-Cafés kombinieren, die also die Multiplex-Firmenphilosophie selbst adaptieren. Erfahrungsräume des Kinos Der Kinobesuch erfordert Aufwand, der Zuschauer muss sich infor- mieren, verabreden und am Ende Wege zurücklegen. Der Entschluss zum Kinobesuch wird zu einem Übergangs-Beschluss, weil der poten- zielle Zuschauer eine Entscheidung treffen muss, von der Privatsphäre in den öffentlichen Raum zu wechseln, in eine eigene Sphäre der Freizeit, die gegen die Umgebung der Freizeit-Meile viel offener ist als die traditionellen Kinos (die in vielen Beschreibungen sogar als «halböffentlich», also als «vertrauter Raum» angesehen werden). Selbst dann, wenn man sich nicht mit Freunden verabredet, sondern allein das Kino herkömmlicher Art aufsucht, ist die Kinorezeption ein kol- lektives Tun, die Kollektivität des Publikums eines der Tiefenthemen der Rezeption; der Kinobesuch ist so immer eine soziale Tatsache. Das ist der Multiplex-Besuch auch – aber es ist ein anderes Kollektiv mit anderen Qualitäten, über das hier verhandelt wird, das in seiner Charakteristik eher dem Kollektiv von Besuchern eines Freizeitparks ähnelt als dem eines Kinos (vgl. Allen 2011).8 Der Kinobesuch wird zu einer besonderen Form der Erfahrung urbaner Öffentlichkeit. Anstieg der Älteren ein Anstieg der Arthaus-Besucher korrespondiert, ist aus den mir zugänglichen Zahlen nicht ersichtlich (vgl. dazu Prommer 2011, bes. 239ff). 8 Interessanter- und signifikanterweise ist die Anreisezeit beim Besuch ‹normaler› Kinos ein deutlicher Hinderungsgrund, wogegen er bei Multiplexkinos keinen Effekt erzielt (vgl. dazu Collins/Hand/Ryder 2005). Mehrfach ist die These vertre- ten worden, dass die Multiplexe ihren Besuchern nicht nur ein komplexes Freizeit- angebot unterbreiten, sondern durch ihre Randlage und die Abgegrenztheit gegen 158 montage AV 25 /2 / 2016 Die Multiplexe stehen also gleich für mehrere Veränderungen der Beziehungen der Kinos zu den Zuschauern wie zur sozialen und kul- turellen Umgebung. In einer These Anne Friedbergs sind sie gerade deshalb ein Indiz einer grundlegenden Veränderung des postmoder- nen Zuschauer-Subjekts, das mit dem Übergang in Postmoderne und Spätkapitalismus die epistemische Haltung des Flaneurs angenommen hat. Gerade durch die Nähe zu den urbanen Konsumzonen (oder auch durch die Integration von Kinos in neu gebaute Shopping Malls) öff- net sich der Kinobesuch für den flanierenden, über die Objekte des Konsums schweifenden Blick des bummelnden Spaziergängers, der in eine Welt der Objekte eintreten kann, die ihm zugänglich sind.9 Das Kino wird in Friedbergs Darstellung zum Teil einer Arkade, sprich: eines konsumistischen Theaters; das Präsenzerleben der Wahrnehmung gehe mit dem Verlust von Geschichtsbewusstsein einher und werde im Eindruck der permanenten Zeitreise der TV-Bilder – die Präsenz und gleichzeitig Nicht-Präsenz des Gezeigten signalisieren – aufgelöst. Die Lokalisierung der Multiplexe in der Sphäre potenziellen Kon- sums wird so zu einem apparativen Element des Kinos. In einer For- mulierung Gary Edgertons: The shift in emphasis from merchandising feature films to selling concessi- ons shows up in contemporary motion picture theater design. The message implicit in the decor and surroundings of the modern theater is no longer ‹to dream›. Its function, color and design communicate to the movie-goer an entirely different signal. Today, the most progressive type of theater, and den offenen Raum der Innenstädte Besuchern eine spezifische Sicherheit zu garan- tieren schienen, verbunden mit der Erwartung, dass die Besucher derartiger Mall- Komplexe einer sozial homogenen Orientierung angehörten, basierend auf ähnli- chen sozialen, konsumistischen und geschmacklichen Orientierungen – weshalb der Multiplex-Besuch auch eine Abgrenzung zu den Massen des «normalen Konsums» umfasse (vgl. dazu etwa Jancovich/Faire 2003, 191 f.). Vgl. umfassend dazu Hubbard (2003), der davon ausgeht, dass der öffentliche Raum in Folge der Globalisierung und der innergesellschaftlichen Differenzierung stark mit Ängsten belegt sei. Folgt man der These, führt das Multiplex-Kino gerade nicht heterogene soziale Gruppie- rungen zusammen, sondern schafft einen eigenen Raum sozialer Abgrenzung. 9 Vgl. Friedberg (1991) und Friedberg (2000, 120–125). In eine ähnliche Richtung argumentiert Athique (2011), der die Multiplexe in eine allgemeine, weltweit wirk- same Tendenz zur Entwicklung einer mall culture eingliedert, weil sich die Menge der Kinozuschauer in einem Multiplex-Kino unter anderen – mit Elementen von Konsumismus durchsetzten – Vorzeichen formiere als in einem traditionellen Kino. Brown (1994) sieht das Multiplex schon 1994 als Metapher für eine für das Marke- ting bedeutsame neue Kondition der Postmoderne an (Heterogenität, Verspieltheit, Präsenz des Widersprüchlichen etc.). Wulff: Die Multiplex-Bewegung 159 the most characteristic of its era, the multiplex, tells its occupants it is time ‹to buy›. (Edgerton 2002, 155) So plausibel Friedbergs These zunächst anmutet, so ist doch Skepsis angebracht. Die Programmierung von Multiplex-Kinos ist schwie- rig, wenn die These stimmt, dass äußerst heterogene Publika durch das Angebot angesprochen werden sollen.10 Motiverhebungen zeigen, dass nach wie vor eine große Anzahl von Zuschauern genau diesen besonderen Film sehen wollte, für den es ins Kino geht – eine Analyse aus der BRD von 2009 nennt 76 Prozent (Prommer 2011, 245 f.). Deshalb kann die Programmierung nicht allein nach Genremerkma- len erfolgen, sondern muss genau auf die Werbestrategien, die bereits erreichten Umsätze, auf Rezensionen, die Reaktionen in den sozialen Medien und ähnliches abgestimmt sein. Der Befund macht gegen die Shopping-Mall-Metapher misstrauisch, weil der Zuwendungsmodus zum Kinoangebot viel spezifischer auf den besonderen Film ausge- richtet ist als auf den Ort des Kinos oder die Teilhabe am Film im Modus des Flanierens. Eine ganz andere, ähnlich globale Spur nimmt Hamid Naficy auf, der den Übergang in die Multiplex-Ära als Ausdruck einer sich rapide entwickelnden gesellschaftlichen und globalen Differenzierung ansieht.11 In seiner Ansicht ist das Kino in einer nach-diasporischen Phase angelangt, reflektiert zudem die durch das Internet ermöglichte symbolische und informationelle Globalisierung. Er überträgt das bau- liche und konsumistische Modell des Multiplex auf die Filme selbst, die dort angeboten werden, verbindet es mit weltweiten Migrations- bewegungen (von Machern und Zuschauern) ebenso wie mit den neuen Modellen der Distribution, die zu einer schleichenden Globa- lisierung der Filmtexte führten. In dieser Hinsicht sind die Vervielfäl- tigungen der Angebote in den verschiedenen Kinos (Multiplexen wie 10 Ohne dem weiter nachgehen zu wollen, sei aber auf die Marketing-Untersuchungen zum Problem verwiesen, z. B. Eliashberg (2009). Es sei auch darauf verwiesen, dass der Programmierungsaufwand der Personaleinsparung beim Betreiben eines Viel- Säle-Kinos klar entgegensteht. 11 Vgl. Naficy (2009; 2010). Ob die Vielsäle-Kinos tatsächlich zur Differenzierung des Angebots beitragen, wie man Naficys These folgend vermuten könnte, oder ob sie gerade zur Uniformierung des Programms beitragen, bedarf eigener Diskussion (vgl. dazu Allison 2006). Vgl. dazu auch die Notizen zur Internationalisierung und zum packaging als Verleihstrategien für Multiplex-Kinos bei Acland (2007). Zu den Prob- lemen, die die «Amerikanisierung» der Multiplex-Leinwände in Frankreich bereitet, vgl. Hayes (2005). Vgl. aber auch Jancovich (2007) zu den lokal abweichenden Pro- grammierungsstrategien des Cornerhouse Multiplex in Nottingham. 160 montage AV 25 /2 / 2016 Arthaus-Kinos und Special-Interest-Kinos) nicht nur Ausdruck einer zunehmenden innergesellschaftlichen Differenzierung, sondern auch Indikatoren einer Auflösung spezifischer regionaler Kulturen und Stile. Erstaunlicherweise stehen Untersuchungen über die Praxis des Besuchs von Multiplex-Kinos aus. Die wenigen Daten zeigen, dass das Motiv der Geselligkeit zentral geblieben ist (89 Prozent gaben «etwas mit Freunden/Bekannten/Familie unternehmen» als Motiv des Kino- besuchs an; selbst das individuelle Interesse «weil ich einfach Lust hatte, ins Kino zu gehen» steht mit 62 Prozent in der Liste [so Prommer 2011, 245 f.]). Leider sind die Motivuntersuchungen nicht sensibel für die verschiedenen Gattungen des Kinos, in deren Besuch die Motiva- tion einmündet. Ob es also tatsächlich eine Altersdifferenzierung zwi- schen Multiplexen und Arthaus-Kinos gibt (wie oben angedeutet), ist aus Beobachtungen geschlossen, empirisch aber nicht belegt. Auch die Frage, ob es besondere Geschmacksgemeinschaften sind, die sich auf besondere Kinos oder Kinogattungen konzentrieren und dort zusam- mentreffen, kann ad hoc nicht beantwortet werden. Live-Konzerte oder Übertragungen von Opern und klassischen Konzerten, aber auch von Fußballspielen und anderen großen Ereignissen sowohl in traditionel- len und Arthaus-Kinos wie in Multiplexen sind sehr unterschiedlich adressiert – nichts deutet auf eine Durchmischung der Publika hin, son- dern eher auf eine Eventisierung des Angebots vor allem der Multiplex- Kinos (was wiederum eigene Öffentlichkeitsarbeit erforderlich macht). Konsequenterweise dürfte man nicht mehr von dem Kino sprechen, sondern müsste dessen jeweilige Ausrichtung mitbenennen (als ob es die Einheit ‹des› Kinos je gegeben hätte – auch in einer Historiogra- fie der Kinos und der Aufführungsformen muss differenziert werden). Kinos zeigen Filme, aber sie zeigen sie in verschiedenen Umgebun- gen und unter verschiedenen programmatischen Vorzeichen – deshalb müssen Unterscheidungen getroffen werden. Viele Überlegungen seit den 1990ern nehmen die Multiplexe als Kinoform, die einer neuen Kultur populären Unterhaltenwerdens zugehört und sich an den Kon- sumismus als Aneignungs- und Lebensform anlehnt. Mit den Multiplexen setzt eine Entwicklung ein, die nicht nur für eine stärkere Integration des Kinos in die Konsum- und Freizeitzo- nen der Stadt steht, sondern auch für eine Individualisierung (oder Residualisierung) der Filmrezeption: Das Kino hat seinen Rang als eines der Zentren von ‹Filmkultur› verloren und steht heute neben anderen Modi und Formen der Rezeption. Mit der Eröffnung der Mehrsälekinos beginnt eine Übergangszeit, in der sich die technische Perfektionierung des Illusionsapparates ‹Kino› in einer Reinform dem Wulff: Die Multiplex-Bewegung 161 Publikum zeigte – ebenso wie die Vielfalt des Angebotes, das man an einem Ort konsumieren konnte. Die Multiplex-Bewegung exponierte die besondere Qualität des Kinos als sozialer Ort, als technisches Dis- positiv und als Ort der Unterhaltung und des Konsums, das ist ihre historische Leistung. Literatur Acland, Charles R. (2007) «Opening Everywhere». Multiplexes and the Speed of Cinema Culture. In: Going to the Movies. 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