102 MEDIENwissenschaft 1/2014 Anne Schulz, Patrick Rössler: Schweigespirale Online: Die Theorie der öffentlichen Meinung und das Internet Baden-Baden: Nomos Verlag 2013 (Internet Research, Bd. 43) ISBN 978-3-8487-0033-2, 256 S., € 39,- „Welche Erklärungskraft besitzt eine Die Schwesterdisziplin der Medien- Theorie der öffentlichen Meinung wissenschaft bildet das wachsende Heer aus den 1970er Jahren heute noch, in der Werbe- und PR-Arbeiter aus und ist Zeiten des stetig wachsenden Internet- folglich auch bekannt für ihr Geschick konsums?“ Diese Frage stellt sich das im ‚Verkaufen‘ ihrer Ergebnisse. So Autorenduo Schulz/Rössler und trägt heißt es in der Einleitung von Schulz damit einen Klassiker der Publizistik und Rössler, Noelle-Neumanns Schwei- in die Reihe „Internet Research“. In gespirale gehöre zu den „am häufigsten diesem Band, so der Klappentext wei- zitierten Theorien der Medienwir- ter, stehe Elisabeth Noelle-Neumanns kungsforschung“ sowie den „einfluss- Theorie der Schweigespirale auf dem reichsten Publikationen der Disziplin“ Prüfstand. Ziel sei eine systematische sogar zu den „wohl am intensivsten Analyse auf theoretischer Ebene, ob und diskutierten Theorien der Geschichte inwiefern Meinungsbildungsprozesse der Kommunikationswissenschaft“ im und durch das Internet durch die (S.14). Die Autorin des so belobigten Schweigespiraltheorie erklärt werden Klassikers habe „auf wissenschaftlicher, können. Das Stichwort ‚erklärt‘ verweist medialer und auch auf politischer auf den nomothetischen Blickwinkel der Ebene […] von sich Reden gemacht“, Abhandlung, die dem Ansatz des Sozio- gehöre zu den „international sicht- logen H. Esser folgt. barsten deutschen Kommunikations- Neue Medien 103 wissenschaftlerInnen“ und sei „mit weltlichen Anstoß fand die Theorie der ihren Arbeiten auch nach ihrem Tod öffentlichen Meinung in einem Pro- 2010 sowohl in Fachkreisen als auch blem“ (S.22) des Wahljahres 1965. Dem außerhalb dieser Grenzen nach wie repräsentativen Umfragematerial ihres vor sehr präsent“ (S.13). Die Relevanz Institutes für Demoskopie Allensbach ihres Themas ist also nach Ansicht entnahm sie, dass die beiden großen der Autoren immens und die Aufgabe Parteien SPD und CDU/CSU bei der geradezu gewaltig: Die Etablierung des Frage nach der persönlichen Wahlab- Internets und die damit einhergehende sicht der Bevölkerung ständig Kopf an Fülle von Informationen, neu entstan- Kopf lagen. Erst kurz vor der Wahl dene Formen des Journalismus sowie kam es zu einem „Last-Minute-Swing“ das sich ändernde Selektions- und zu Gunsten der SPD (S.22). Warum? Rezeptionsverhalten des Publikums Antwort gab die Theorie der Schweige- scheinen die zentralen Annahmen spirale: Danach hängt die Bereitschaft der Schweigespirale vor nur schwer vieler Menschen, sich öffentlich zu ihrer überwindbare Herausforderungen zu Meinung zu bekennen, von der wahrge- stellen. Das Ziel: Die Veränderungen nommenen Mehrheitsmeinung ab. Dabei im Zeitalter des Internets systematisch können die Massenmedien, vor allem das zu analysieren und Noelle-Neumanns Fernsehen, erheblichen Einfluss auf die Theorie der öffentlichen Meinung wei- Rezipienten und damit auf die öffent- ter zu entwickeln. liche Meinung ausüben. Somit stand Schulz und Rössler beginnen in die Schweigespirale für eine Abwen- Kapitel 1 zu theoretischen Grundlagen dung der Medienwirkungsforschung von mit einem Ausflug in die Geschichte Lazarsfeld’s Sicht zu einer Hypothese der Publizistik bzw. Medienwirkungs- der „mächtigen Medien“. forschung. Noelle-Neumann habe das Die zentra le psychologische seit den 1940er-Jahren dominierende Annahme der Schweigespirale ist, dass „Paradigma schwacher Medienwir- die meisten Menschen „Isolationsfurcht“ kung“, wonach „Massenmedien nur empfinden („Soziale Natur des Men- geringe meinungsändernde Effekte schen“). Menschen machen sich ständig erzielen könnten“ umgeworfen. Haben ein Bild von der Verteilung der Mei- Lazarsfeld et al. anhand der US-Prä- nungen in der Öffentlichkeit und wol- sidentschaftswahl von 1940 in ihrer len nicht sozial isoliert sein. Gewinnt Studie The People‘s Choices mit der eine Meinung in den Medien, damals selektiven Wahrnehmung der Rezi- hauptsächlich die dominierenden Sen- pienten noch die Medienunwirksam- der ARD und ZDF des Leitmediums keit begründet, sei dies ab Beginn der Fernsehen, die Oberhand, beginnen die 1970er bezweifelt worden (S.20). Aus- Andersdenkenden eher zu schweigen, gangspunkt waren wie bei Lazarsfeld was wieder zu weniger Medienprä- Beobachtungen, die Noelle-Neumann senz dieser Meinung führen soll. Eine in den Bundestagswahlkämpfen zuerst Schweigespirale setzt sich in Gang. 1965 bzw. 1972 machte. Ihren „real- Die Minderheitsfraktion verfällt also 104 MEDIENwissenschaft 1/2014 in Schweigen aus Furcht, sich sozial reiche Möglichkeiten, sich ganz gezielt zu isolieren. Voraussetzung für das speziellen Kommunikationsinhalten aus Auftreten einer Schweigespirale ist, unzähligen Informations-, vor allem aber dass der Gegenstand, das Thema auch Diskussionsfundgruben zuzuwen- des Meinungskampfes ‚moralisch den.“ (S.216) geladen‘ ist, also das emotionale Poten- Wenig überraschend ist auch das tial hat, die Minderheitsmeinung nicht Ergebnis: „Das Internet ermöglicht (1) nur als rational falsch, sondern sogar die Rezeption pluralistischer Medien- als moralisch schlecht erscheinen zu inhalte; einer konsonanten Berichterstat- lassen. Es liegt auf der Hand, dass tung kann somit ausgewichen werden die heutige Mediensituation mit den (bewusst oder unbewusst); und das Inter- von zahlreichen Privatfernsehkanälen net vermindert (2) die Wahrnehmung entmachteten öffentlich rechtlichen der Bedrohlichkeit von Öffentlichkeit Fernsehsendern, mit AV-Medien aller- (zumindest in der von Nölle-Neumann orten und multiplen Öffentlichkeiten postulierten Allgegenwärtigkeit), indem im Internet hier eine völlig neue Lage sich nämlich Meinungsbildung und schafft. Meinungsäußerung mehr denn je in den Die Autoren arbeiten sich nach Gruppenkontext verlagern, wodurch sich Essers soziologischem Modellierungs- der Referenzrahmen verschiebt.“ (S.219) verfahren meist sehr nüchtern und Es werden drei Szenarien abnehmender schematisch weiter voran, bebildert mit Pluralität aufgezählt: zahlreichen, oft nur wenig variierten schematischen Grafiken und Flussdi- 1. Die Meinungsbildung verlagert agrammen. Beginnend mit der Makro- sich in Teilöffentlichkeiten, die Themen Situation, wo sie nach Kontextvariablen sind von geringer öffentlicher Relevanz; der öffentlichen Meinung fragen, über die „Logik der Situation“, die zwischen Makro- und Mikro-Ebene liegt und 2. es kommt zu pluralistischer Mei- Selektion, Rezeption und Verhalten nungsbildung ohne Konsens der Teilöf- betrachtet, zur Frage nach der ‚Isolati- fentlichkeiten; onsfurcht‘ in virtuellen Räumen. Auf einer Meso-Ebene von Gruppenkom- 3. wie im klassischen Fall der Schwei- munikation suchen sie, den Einfluss gespirale kommt es zu einer „öffentlichen von Bezugsgruppen auch im Internet Meinung mit stark normativer Aus- z.B. in der „Sprechsituation vor der strahlungskraft“, das Thema ist aktu- anonymen Öffentlichkeit“ (S.135) auf ell, hochgradig moralisch geladen und Meinungsbildungsprozesse zu ergrün- besitzt große öffentliche Relevanz, die den, bis hinab zur Mikro-Ebene des Massenmedien berichten „konsonant“ einzelnen Akteurs. Die Bezugnahmen zum Thema (S.221). auf Netzmedien sind dabei meist wenig inspiriert und geraten zu Allgemein- plätzen: „Das Internet bietet zahl- Neue Medien 105 Die Reichweite der Aussagekraft munikationswissenschaftlerInnen; ins- ihrer Modellierung sehen die Autoren gesamt fallen die Thesen zu Pluralität beschränkt „auf jenen Teil der Bevöl- und Teilöffentlichkeiten nicht durch kerung, der das Internet nutzt, um sich besondere Originalität oder Instruk- über Themen von gesellschaftlicher tivität auf, die empirische Basis wirkt Bedeutung zu informieren.“ (S.237) eher dünn, die möglichen Schlussfolge- Interessant ist vielleicht noch, dass die rungen banal. Ein Minimum an Kritik- Rolle einer Avantgarde, die im Modell fähigkeit auch gegenüber dem großen von Noelle-Neumann einen Meinungs- Namen Noelle-Neumann hätte diesem umschwung durchsetzen kann, gemäß sehr ins Hagiografische tendierenden Schulz und Rössler nun zunehmend Text gut getan. von den „Digital Natives“ eingenom- Dreger van Guerre men wird, die nicht nur konsumieren, (Gemünden) sondern sich auch selbst im Netz äußern (S.220). Angesichts der anfangs aufge- bauten hohen Erwartungen hinsicht- lich des Erkenntnisgewinns der Studie, erscheint das Ergebnis doch etwas ernüchternd. Angesichts der beacht- lichen Materialfülle an herangezo- genen Quellen hätte sich der Rezensent zudem einen Index oder wenigstens ein Namensregister gewünscht. Die Lite- raturliste des Buches führt zahlreiche Arbeiten aus dem englischsprachigen Raum, sogar aus Japan auf, die meisten sind jedoch von Patrick Rössler und Noelle-Neumann selbst. Historisch interessant ist der erste Eintrag ihrer gut ein Dutzend Werke, damals noch von Elisabeth Noelle (ohne Doppelnamen): „Meinungs- und Massenforschung in den USA“ publiziert in Frankfurt 1940; Schulz und Rössler führen diese Arbeit auch im Text an, aber ohne weiter auf die Umstände, unter denen sie in der NS-Zeit entstanden sein muss, einzuge- hen (S.21f.). Medienethik fällt offenbar weniger in ihr Themenspektrum. Die Abhandlung unterwirft sich unref lektiert dem affirmativen Modetrend vieler Medien- und Kom-