Anita Gertiser Domestizierung des bewegten Bildes Vom dokumentarischen Film zum Lehrmedium Der französische Filmkonzern Gaumont produzierte zwischen 1908 und 1914 eine Vielzahl von dokumentarischen Filmen für die Kinoauswertung, von denen einige erhalten sind, weil sie als Schulfilme einem neuen Verwendungs- zweck zugeführt wurden. Überliefert sind sie allerdings in einer verstümmelten Form; namentlich fehlen die Zwischentitel. Wie Frédéric Delmeulle festhält, macht es der Zustand der Filme schwierig bis unmöglich, ein Bild von ihrer ursprünglichen Struktur und der Komplexität der Darstellungsform zu gewin- nen (Delmeulle 1993, 73). Die Änderungen, denen die Filme unterzogen wur- den, rühren daher, dass sie den Erfordernissen des Unterrichts angepasst wur- den. Wir haben es also mit einem Korpus zu tun, das nicht nur den Kontext sei- ner Verwendung gewechselt hat – von der lehrreichen Unterhaltung des Kinopublikums zur Unterweisung schulpflichtiger junger Staatsbürger – , son- dern bei dem sich der neue Verwendungszweck auch in markanter Weise in die Struktur eingeschrieben hat. Obwohl sie bereits als belehrende Filme angelegt waren, vermochten sie den Ansprüchen der Pädagogen nicht zu genügen und mussten verändert werden. Wie sich dieser Prozess der Einschreibung eines neuen Zwecks vollzieht, soll in diesem Beitrag anhand einer Reihe von Beispie- len rekonstruiert werden. Ich möchte zeigen, dass sich dieser Prozess am besten als Domestizierung des dokumentarischen Bildes durch die Institution der Pädagogik beschreiben lässt. Ein einschlägiges Beispiel liefert etwa die langjährige Debatte um den «wah- ren» Lehrfilm, die in den 1920er Jahren in der Schweiz geführt wurde. 1921 wurde in Bern die Genossenschaft Schweizer Schul- und Volkskino (SSVK) ge- gründet, die in erster Linie Tourismus-, Industrie- und einige Naturkundefilme für Vereinsanlässe, Vorträge, Ausstellungen und den Schulunterricht verlieh. Das Filmangebot des SSVK stieß dabei namentlich bei den Filmpädagogen, die sich zu dieser Zeit in Zürich und Basel zu Standesorganisationen zusammen- schlossen, auf starke Kritik. Den Filmpädagogen waren die Filme zu unterhal- tend und wissenschaftlich zu ungenau, und es fehlte ihnen der didaktische Auf- bau, weshalb sie als für die Schule ungeeignet befunden wurden. So bemängelt Ernst Rüst1, der Leiter der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Unter- richtskinematographie (SAFU), dass selbst Filme wie Wunder des Meeres ein 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 59 «unzusammenhängendes Vielerlei» seien, «mehr angenehme Zerstreuung als wertvolles Unterrichtsmittel», und er rät seinen Kollegen, vorhandenes Materi- al mit Neuaufnahmen zu ergänzen (1931; vgl. auch Rüst 1923; Beyfuss 1924). Er grenzt sich dabei vor allem vom Kulturfilm2 ab, der zur Volksbelehrung genüge, nicht aber für die Schule. In einem Vortrag am Internationalen Lehrfilmkon- gress in Wien 1931 kommt Rüst denn auch zum Schluss, die bereits vorliegen- den Dokumentarfilme müssten auf jeden Fall umgeschnitten werden, um für den Unterricht zu taugen. Im gleichen Vortrag berichtet er, dass er bereits 80 Filme für die Lehrfilmstelle der Zürcher Mittelschule bearbeitet und als Profes- sor der Photographie an der ETH Zürich eigene Lehrfilme hergestellt habe (Rüst 1931). Allerdings beschränkte sich die Umarbeitung nicht nur auf die Fil- me selbst; auch die Formen der Rezeption sollten angepasst und gegenüber dem herkömmlichen Kinokonsum modifiziert werden.3 Eine Domestizierung stellt die Konfektionierung des Films zum Lehrmedi- um nun insofern dar, als sie mit einem doppelten Konflikt einhergeht: dem Konflikt zwischen der Autorität des Lehrers und der Autorität des Films, dem seinerseits der filmische Konflikt von Ton und Bild entspricht. Da der Film Lehrinhalte effizient und anschaulich zu vermitteln vermag, stellt er den Status der Lehrperson als alleiniger Instanz des Wissens infrage. Die Debatte um den Lehrfilm widerspiegelt das Bemühen der Pädagogen, ihre Autorität gegenüber dem neuen Medium zu behaupten. Die Lösung des Problems sahen sie darin, den Lehrfilm vom Kinofilm klar abzugrenzen. Dies geschieht konkret, indem die Zwischentitel und später auch der Kommentar modifiziert oder eliminiert 1 Ernst Rüst widmete sich als Leiter der SAFU und in seiner Funktion als Professor am Photo- graphischen Institut der ETH Zürich vor allem der praktischen Arbeit der Unterrichtsfilm- herstellung. Seine Kenntnisse und Erfahrungen vermittelte er in zahlreichen Vorträgen z.B. an der Int. Lehrfilmkonferenz 1931 in Wien oder in Artikeln, u.a. «Die Herstellung von Unter- richtfilmen» erschienen in der Internationalen Lehrfilmschau [= 1934, Nr. 6], S. 465-474. 2 In seinem Buch Pioniere des Kulturfilms schreibt Oskar Kalbus, dass zu Beginn der 1920er Jahre unter Kulturfilm auch der der wissenschaftliche Film subsumiert wurde, d.h. der For- schungsfilm auf allen Gebieten, Lehr-, Unterrichts- und Erziehungsfilm für Schulen aller Art und Bildungsgrad, sowie der poplär-wissenschaftliche Gross- und Beiprogramm-Film. Zu der Zeit existierte der Dokumentarfilm im später geläufigen Sinn noch gar nicht. Dennoch setzt er sie gleich: «Der Dokumentarfilm kann als Kulturfilm bezeichnet werden, wenn er durch sein Thema kulturelle Bildung vermittelt»; vgl. Kalbus 1956, 11. 3 Unterrichts-, Lehr- oder Schulfilm, die Bezeichnungen für didaktisch eingesetzte Filme sind inflationär und nicht genau definiert. Als Sammelbegriff unter dem Aspekt der Aufgabe von Lehren und Lernen nennt Geneviève Jacquinot im schulischen Kontext verwendete Filme pädagogische. Was nach Jacquot den pädagogischen von anderen dokumentarischen Filmen unterscheidet, ist seine Intention zu lehren. Dies wiederum manifestiert sich im formalen Auf- bau, womit man eigentlich vom didaktischen Film sprechen muss (1977, 34). 60 Anita Gertiser montage/av werden. Der Film wird mit anderen Worten auf eine Form reduziert, die einen Filmerklärer – in diesem Falle den Lehrer – notwendig macht. Medientheore- tisch könnte man argumentieren, dass diese Reduktion der filmischen Form auch einen Versuch darstellt, die Illusionsmacht des Bildmediums zu bannen und die semantischen Überschüsse des Filmbildes zu disziplinieren. Das Filmarchiv der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Unterrichts- film (SAFU), das eine Vielzahl von umgearbeiteten Tourismus-, Industrie- und Naturfilmen enthält sowie eine Reihe von eigens hergestellten Produktionen wie Rüsts Musterfilm Die Lachmöve (1930),4 bietet reichhaltiges Anschau- ungsmaterial dafür, wie der «reine» Lehrfilm aussah, den Schulfilmpioniere wie Rüst oder sein von der Basler Erziehungsdirektion beauftragter Kollege Gott- lieb Imhof5 im Sinn hatten: Bevorzugt wird ein statischer Bildaufbau mit ob- jektzentrierten Kompositionen und monothematischer Bildgestaltung; spezi- fisch filmische Mittel der Inszenierung wie Perspektivenwechsel kommen kaum zum Einsatz. In ähnlicher Weise wie für die von Delmeulle beschriebe- nen Gaumont-Bestände gilt, dass sich aus der verbliebenen Abfolge der Bilder nur schwer ein kohärentes Sinnganzes rekonstruieren lässt. Wie der Vergleich mit den Gaumont-Filmen zeigt, ist die Arbeit der Schwei- zer Lehrfilmpioniere Imhof und Rüst insofern repräsentativ, als sie an einem internationalen Diskurses teilhatten.6 Seit seiner Ernennung zum Präsidenten der Basler Studienkommission für Schulkinematographie 1921 arbeitete Imhof kontinuierlich am Aufbau eines internationalen Kontaktnetzes. Am Internatio- nalen Kinematographenkongress 1926 in Paris wurde er zum Präsidenten der Kommission III/a gewählt, die die Fragen des Lehrfilms zu bearbeiten hatte, und 1927 berief er die Erste Europäische Lehrfilmkonferenz in Basel ein. Schon am Kinomatographenkongress in Paris 1926 hatte er überdies für die Einrich- tung eines internationalen Instituts des Schul- und Lehrfilms plädiert, das nach 4 Die Lachmöve wurde an der Internationalen Lehrfilmkonferenz in Wien 1931 vorgeführt und von den anwesenden Experten für mustergültig erklärt. Der Film blieb bis Ende der 1970er Jahre im Verleih und wurde als einziger aus der SAFU-Produktion auch nach Deutsch- land an die Reichsfilmstelle verkauft. Quelle: SAFU-Protokolle. 5 Gottlieb Imhof war Lehrer an der Mädchensekundarschule in Basel und hatte sich schon län- gere Zeit mit der Kinematographie beschäftigt, als er von Regierungsrat und Erziehungsdirek- tor Fritz Hauser angefragt wurde, Statuten und Filmverzeichnis des neu gegründeten Schwei- zer Schul- und Volkskino (SSVK) 1921 zu prüfen. Die kommerziellen Interessen des SSVK widersprachen aber den Forderungen der Pädagogen, worauf Imhof für Basel eine eigene Lö- sung vorschlug. 6 Die nachfolgenden Angaben beruhen auf der im Staatsarchiv Basel-Stadt archivierten Korre- spondenz. SA BA: Erziehung/ B 73, 1908–1938. 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 61 seiner Auffassung nach Basel gehörte, wo die Vorarbeiten bereits geleistet wor- den seien (den Zuschlag erhielt schließlich Italien).7 Im Folgenden wird mich allerdings nicht diese Institutionsgeschichte interes- sieren, so sehr deren Aufarbeitung ein Desiderat der Forschung darstellt. Viel- mehr möchte ich anhand von einschlägigem Quellenmaterial den Prozess der strukturellen Adaption des Films für die Rezeptionssituation der Schule nach- zeichnen. Dabei werde ich auf die strukturelle Verwandtschaft zwischen der Ver- mittlerposition des Lehrers und des Filmerklärers eingehen, wie er im frühen Kino auftrat und von Rick Altman und Germain Lacasse beschrieben wird. Fer- ner werde ich darlegen, inwiefern die Strukturmuster des Lehrfilms, die in den 1920er Jahren entwickelt wurden, über die Einführung des Filmtons hinaus nachwirkten. So übernimmt in den 1930er Jahren ein dominanter Kommentar die Rolle des Filmerklärers, der ebenso wie dieser unter anderem die Funktion erfüllt, die Bedeutung des Bildes für den Rezipienten festzuschreiben. In meinem Schlussabschnitt möchte ich auf ein Beispiel eingehen, das zu dieser Funktions- bestimmung des Kommentars und den reduktiven Strukturen des Lehrfilms der 1920er Jahre in produktivem Kontrast steht. August Kerns Film Richtiges Melken – saubere Milch (CH 1954) gehört in den Bereich der staatlichen Aus- bildung von Diplomlandwirten und ist hier von Interesse, insofern er das Format des «klassischen» Lehrfilms respektiert, zugleich aber gezielten Gebrauch von spezifisch filmischen Formen zur Vermittlung von Lehrinhalten macht. Assimilation und Modifikation des dokumentarischen Films für die Schule 1907 nahm das erste feste Lichtspieltheater in Basel seinen Betrieb auf. Schon ein Jahr später beklagten die städtischen Lehrkräfte den enormen Zulauf, den das Kino durch ihre Schülerschaft erhielt. Im Juni 1911 führten die Basler 7 Zugleich ist festzuhalten, dass Basel stets in gespannter Beziehung zum Internationalen Lehr- filminstituts in Rom stand, wobei Imhof den Italienern vorwarf, nur nationale Interessen zu ver- folgen und die dringenden Fragen der Schulkinematographie nicht wirklich anzugehen. Dass Rom Imhofs Einfluss möglichst zurückzubinden suchte, zeigt sich nicht nur im jahrelangen Hin und Her um seine Ernennung zum technischen Sektionsleiter des Internationalen Lehrfilminsti- tuts, die von Rom immer weiter verschleppt wurde, bis sich Imhof 1929 selber zurückzog. Vgl. Briefwechsel zwischen Imhof, Luciano de Feo, Direktor des Instituts (I), Walther Günther (D), Adolf Niederweniger (Oe) sowie dem Schweizer Bundesrat; SA BS: Bd. 1926–28; 1929–31. Christel Taillibert erwähnt in ihrem Buch über das Internationale Lehrfilminstitut in Rom Im- hof nur an drei Stellen (Taillibert 1998, 61; 71; 164). Sie bestätigt den Eindruck, dass de Feos Vor- gehen Basel gegenüber dahin zielte, eine schweizerische Konkurrenz zu verhindern (ibd. 164). 62 Anita Gertiser montage/av Volksschulen eine Erhebung durch, die den Eindruck der Lehrer bestätigte, und 1916 schließlich wurde ein Gesetz «betreffend die kinematographische Vorführung» erlassen, das Zensurvorschriften umfasste und Jugendlichen unter 16 Jahren den Kinobesuch untersagte. Ungeachtet des Verbots wollte man den Schülern die Errungenschaften des neuen Mediums aber nicht vorent- halten. Entsprechend erhielt die Erziehungsdirektion vom Stadtparlament den Auftrag, sich für die Nutzung von belehrenden Filmen für die Jugend einzuset- zen. Das lokale Kinogewerbe seinerseits organisierte in den folgenden Jahren eigens Schülervorstellungen, die jedoch durchwegs von den Lehrern boykot- tiert wurden. Darauf verlangte Regierungsrat und Erziehungsdirektor Fritz Hauser, dass die Lehrerschaft an der Schulsynode 1921 ihre Einstellung zum Kino kläre. Eine Kommission für Schulkinematographie unter Leitung von Gottlieb Imhof wurde beauftragt, die Einführung des Films als Lehrmittel und die Beschaffung von Kopien zu prüfen. Als erstes knüpfte Imhof Kontakte zu Pädagogen in Frankreich (Strasbourg) und Deutschland (Hamburg), die bereits Filme im Unterricht einsetzten. Früh wurde klar, dass es nicht um eine Art Volkskino, also um einen Aufführungsort für nichtkommerzielle Vorführun- gen gehen sollte; vielmehr sollten die Filme direkt in der Schule und während dem Unterricht gezeigt werden. Das hatte zur Folge, dass sie strukturell der Stoffvermittlung im Unterricht anzupassen waren. Anfangs wurden dokumentarische Filme mit einem ergänzenden Referat ge- zeigt. Innerhalb von nur einem Jahr allerdings vollzog sich der Wechsel zum Film als einem illustrierenden Lehrmittel. Die Änderungen erfolgten schritt- weise und tangierten sowohl die Aufführungspraxis wie die Filme selbst. Im ersten Bericht der Studienkommission für Schulkinematographie (16. Januar – 22. Juni 1922) beschreibt Imhof die ersten Filmvorführungen. Anlässlich der Schweizer Mustermesse 1922 fand in Basel eine holländische Kolonialausstel- lung statt, deren Leiter das «reichhaltige Material» an Filmen zur Verfügung stellte. Ausgewählt wurden: Kultur des Reises bei den Karo-Battakern auf Sumatra; Zuckerrohrbau auf Java; Kultur des Chinarindenbau- mes; Kultur des Sisalhanfes; Forstwirtschaft auf Sumatra. Die Vorfüh- rung fand in Form von Schullektionen vor zwei Klassen der städtischen Ober- stufe statt. Die erläuternden Vorträge hielten ein Herr Utermark8 vom hollän- dischen Kolonialinstitut sowie Imhof selbst. Wie Imhof dokumentiert, fanden die Vorführungen bei der Lehrerschaft großen Anklang, wobei vor allem die Kombination von «Festprojektion und Laufbild» gefallen habe. In den folgen- 8 Der Bericht enthält keine weiteren Angaben zu Namen oder Funktion der Person; SA BA: Er- ziehung/B 73 Bd. 1908-1926. 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 63 den Monaten wurden weitere Filmlektionen in verschiedenen Klassen durch- geführt, für die man u.a. Die Eisenindustrie in Luxemburg (Columetafilm) und eine Serie von Filmen über die «Seidenzucht in Japan» (Monopol-Pathé) ausgewählt hatte. An der Matinee vom 11. Dezember 1922 im Kino Wittlin hielt Imhof erstmals eine öffentliche Musterlektion ab, bei der ein Film mit dem Titel Hamburger Hafen gezeigt wurde, den Hamburger Lehrer hergestellt hatten. Zu dem entsprechenden Vorgang findet sich in den Akten folgende No- tiz: Laut Beschluss der Studienkommission für Schulkinematographie müs- sen diejenigen Filme, die an der Matinée am nächsten Sonntag zur Vor- führung gelangen, für die spez. Bedürfnisse des Unterrichts hergerichtet werden und zu diesem Zwecke zerschnitten und umgeklebt werden. Die in Miete genommenen Filme müssen dann wieder in die ursprüngliche Form gebracht und am Montag noch zurückgesandt werden, um erhöhte Leihspesen zu vermeiden. (SA BA: Erziehung/ B73 Bd. 1908-1926) Während für die bisherigen Vorführungen mit keinem Wort erwähnt wird, dass das Filmmaterial hätte umgeschnitten werden müssen, scheint Hamburger Hafen in der angelieferten Form für die Musterlektion nicht genügt zu haben. Auf jeden Fall nahm Imhof die Mühe auf sich, die Kopie umzuschneiden und danach wieder herzustellen, was umso mehr erstaunen muss, als der Film in Bezug auf Bau und Stoffpräsentation speziell für die Verwendung in der Schule konzipiert worden war. Für Imhof galt grundsätzlich, dass der Film in der Schule Teil der Stoffver- mittlung sein und nicht einfach nur konsumiert werden sollte; das Lehrge- spräch musste sich ausgehend vom Filminhalt entwickeln. Dabei stellte sich insbesondere die Frage, wann der Lehrer seine Erläuterungen anbringen sollte: vor, während oder nach der Vorführung.9 Eine Musterlektion Imhofs zu einem Film über Biber, die er am 13. Februar 1926 in einer dritten Klasse der Mäd- chensekundarschule abhielt und schriftlich fixierte, gibt Auskunft über die Schlüsse, zu denen er kam. Es handelte sich um eine Pathé-Produktion von 90 m Länge, die keine Titel enthielt, aber durch Ordnungsnummern in fünf Teile gegliedert war. Imhof hält fest: 9 Diese Frage wurde unter anderen Lehrern in einer grossangelegten Erhebung gestellt, die das Internationale Lehrfilminstitut in Rom in ihren Mitgliedstaaten durchführen liess. Insgesamt wurden rund 200’000 Fragebogen verschickt; vgl. «Der Lehrer und der Film», in: Internatio- nale Lehrfilmschau [= 1931, Nr. 4 bis Nr. 10]. 64 Anita Gertiser montage/av Nach der Einführung des Lehrers wurde der 1. Teil abgerollt und dann gestoppt. Durch Erfragen und durch freie Äusserungen wurde Umfang und Art der gemachten Wahrnehmungen festgestellt. […] Rekapitulie- rend fasste der Lehrer zusammen, um alsdann auf die gleiche summari- sche Weise die vier andern Partien des Films laufen zu lassen.10 Darauf wurde der Film zurückgespult, und es folgte eine Durcharbeitung, die zwei Unterrichtsstunden in Anspruch nahm und eine zweite Vorführung ein- schloss. Schließlich erfolgte eine dritte Vorführung, diesmal ohne Unterbre- chung, und danach wurden «die Schlussergebnisse ins Heft eingetragen». Aus der Schilderung geht unter anderem hervor, dass die Erläuterungen des Lehrers offenbar weit über das im Film Gezeigte hinausgingen. Die Filmbilder dienten letztlich als Illustration einzelner Aktivitäten der Biber und als Ausgangspunkt für weitere Informationen. Die Zurückstufung des Films zum reinen Anschauungsmaterial und die Rolle des Lehrers Man darf davon ausgehen, dass solche Vorführpraktiken nicht zuletzt darauf abzielten, die Hierarchie in der Schulstube zu erhalten und die Autorität des Lehrers zu stützen. Schon die Debatte der 1910er Jahre um den Nutzen des Films für die Schule legt den Schluss nahe, dass die Lehrer ihre Autorität als Wissensvermittler durch das Medium in Frage gestellt sahen. Adolf Sellmanns11 euphorischer Satz: «Der Kinematograph ist ein Lehrer, wie es keinen zweiten gibt» (Sellmann 1914, 17), bringt das Problem auf den Punkt. Der Film vermit- telte kraft seiner Anschaulichkeit Wissensinhalte auf einprägsame und effi- ziente Weise und stellte so eine direkte Konkurrenz12 zur eigentlichen Wissen- sinstanz im Schulzimmer dar, dem Lehrer. Nicht von ungefähr dämpft Sell- mann seinen eigenen Enthusiasmus, indem er festhält, der Film dürfe die 10 Der Filmlektion vorausgegangen sei die Behandlung einiger Säugetiergruppen betreffend Er- nährungsart, Aufenthaltsort und Wohngebiet, Fortbewegung und Fortpflanzung; Broschüre in: SA BA: Erziehung/ B 73 Bd. 1926–1928. 11 Adolf Sellmann, Theologe und Gymnasiallehrer, ist einer der wichtigsten Kinoreformer Deutschlands. Als sein Hauptwerk gilt Der Kinematograph als Volkserzieher (1912), mehr noch scheint das 1914 erschienene Kino und Schule die Schweizer Lehrfilmer und Kinorefor- mer beeinflusst zu haben. Gladbach: Volksverein-Verlag. 12 Anthony Slide zitiert ein Interview mit Edison von 1913, der meinte, dass es in Zukunft Schu- len gebe, an denen mit Filmen unterrichtet und so das Lehrbuch als Lehrmittel obsolet werde; 1992, S. 2; vgl. auch Sellmann 1914, S. 31; Imhof 1933, S. 820. 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 65 Persönlichkeit des Lehrers nicht ausschalten (ibid. 50f). Nicht zuletzt, um dies- bezüglichen Befürchtungen der Lehrerschaft entgegenzuwirken, lautete das erste Gebot der Filmpädagogen der 1920er Jahre deshalb: Der Film darf den Lehrer nicht konkurrenzieren. Erst durch das Lehrerwort, das die Vorführung mit einem auf wissenschaftlicher Grundlage aufgebauten Vortrag begleitet, erlangt der Film seine Berechtigung als Lehrmittel. Dass die unmittelbare Wirkung der Bilder – ihre Fähigkeit, die Zuschauer die Polarexpedition Scotts miterleben zu lassen, wie Sellmann formulierte – für die Verwendung des Films in der Schule zurückgebunden werden musste, war eine Auffassung, die in der Schweiz noch Jahrzehnte später vorherrschte, wie fol- gendes Zitat aus dem Jahresbericht 1959/60 der SAFU13 belegt: Die ausländische Filmproduktion zeigt in den letzten Jahren eine beson- dere Tendenz, die nicht den Bedürfnissen unserer Schulen entspricht. Mehr und mehr wird im Ausland der Unterrichtsfilm nicht nur zur Illu- stration, das heisst als reines Anschauungshilfsmittel verwendet, sondern als neue Form der Stoffdarbietung. Gleich wie das Lesestück im Sprach- unterricht den Schüler zu eigenem Arbeiten anregen soll, so soll auch der Film ein Gleiches tun. Dementsprechend sind die Sujets ausgewählt und auch filmisch dargestellt. Es fällt schwer, solche Filme unseren Bedürf- nissen anzupassen, in den meisten Fällen ist dies gar nicht möglich. (Archiv SAFU) Insbesondere sollten Filme nicht selbsterklärend sein. Auch durften sie nur jeweils einen Sachverhalt im Bild zeigen. Weder «unzusammenhängendes Vie- lerlei» noch effektvoll ins Bild gesetzte Objekte waren erwünscht; dies hielt man für das Vorrecht des Kulturfilms. Wie sehr eine solche Auffassung die fil- mische Aussage einengt, veranschaulicht Imhofs Film Wie der Bauer pflügt und sät (1933). Im Zentrum des ersten Kapitels steht der Vorgang des Erdum- brechens. Der Pflug dominiert das Bild; von den Menschen, die hinterhergehen, sieht man die Erde niedertretenden Füße, vom Pferd, das ihn zieht, vor allem die Hinterhufe. Ohne Kommentierung durch einen Lehrer bleibt die Aussage- kraft dieser Bilder beschränkt. 13 Die SAFU wurde 1929 unter anderen vom Kinoreformer Christian Beyel und Ernst Rüst in Zürich gegründet. Erklärte Aufgabe der Organisation war neben dem Aufbau eines Filmar- chivs und Ausleihwesens, die konkrete Umsetzung der filmpädagogischen Forderungen. Die in ihr engagierten Lehrer verfassten Drehbücher und stellten eigene Unterrichtsfilme her, aus- serdem bot man Lehrerkurse in der Handhabung der Apparte und über den Einsatz des Films im Unterricht an. 66 Anita Gertiser montage/av In ähnlicher Weise verfuhr Imhof auch bei seinen Umarbeitungen. Filme für verschiedene Verwendungszwecke zu ändern, bestehendes mit neu gefilmtem Material zu kombinieren, um einen alten Film zu ergänzen oder einen «neu- en»14 daraus herzustellen, gehörte zur gängigen Praxis der 1920er und 1930er Jahre (Garncarz 1992). Imhofs Adaptionen aber zielten nicht darauf ab, neue Filme zu schaffen; vielmehr ging es einzig darum, bewegungsintensive Einzel- momente herauszupräparieren, denn darin lag die Legitimation der filmischen Darstellung im Unterricht. «Leben und Bewegung soll der Film zeigen. Archi- tekturen, ausgestopfte Präparate, Landschaften ohne bewegte Motive, all das ist nicht Objekt der Kinematographie» (Imhof 1928?, o. A., S.1; Rüst, 1931). Be- wegung, so betonen die Lehrfilmpädagogen, ziehe unweigerlich die Aufmerk- samkeit auf sich, so dass das Gezeigte eindringlicher und länger im Gedächtnis haften bleibt. Anders als Sellmann ging es Rüst nicht darum, den Wissensinhalt aus der Sukzession der Bilder zu erschließen, indem die Schüler am filmischen Geschehen «teilhaben». Vielmehr sollten die Objekte in ihrem bewegten «Zu- stand» dargestellt werden, im Sinne von lebendigen «Stehbildern». Deshalb mussten sie auch statisch gefilmt und lange zu sehen sein, um dem kindlichen Auge Zeit zu geben, alles zu erkennen. Entsprechend waren die Projektoren für den Schulbetrieb mit einer Stoppvorrichtung versehen, damit der Film jederzeit angehalten werden konnte. Für die Filmpädagogen waren denn auch weder Ka- meraführung noch Montage von Interesse. Erst die Reduktion seiner Gestal- tungsmittel machte den Film zum «reinen» Anschauungsmittel.15 Die Kommentierung durch den Lehrer sowie der Wechsel vom Bewegt- zum Standbild und zurück weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit der Aktivität des Filmerklärers im frühen Kino auf. Germain Lacasse und André Gaudreault berichten, dass Filmerklärer in Québec noch bis Ende der 1920er Jahre die Vor- führung mitgestalteten und die filmische Handlung oft lokalen Gegebenheiten anpassten (1996; 1999). Verwandt ist die Aktivität des Lehrers auch mit der «il- lustrated lecture», einem populären Format in den USA in den ersten Jahrzehn- ten des 20. Jahrhunderts. Wie Rick Altman am Beispiel von John L. Stoddard festhält, einem berühmten Vortragsredner der 1910er und 1920er Jahre, waren die Bilder in solchen Vorträgen «so heterogeneous that they require a verbal commentary in order to establish any connection whatsoever»,16 was offen- sichtlich auch für die nachbearbeiteten Filme Imhofs gilt. 14 Dieses Verfahren wendete der SSVK vor allem während der Wirtschaftskrise der 1920er/30er Jahre an, um die Filmherstellungskosten möglichst tief zu halten. 15 Dieser Sachverhalt wird von Claudia Mikat für didaktische Filme der 1990er Jahre bestätigt, nämlich dass die Funktion des didaktischen Films sich auf «die anschauliche Demonstration von Sachverhalten» beschränke; 1992, 53. 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 67 Im Filmvortrag kommt es aber nicht allein auf die Worte an, ebenso wichtig sind Stimme und Intonation, worauf schon Sellmann hinwies: Lehrer mit un- deutlicher und schwacher Stimme seien nicht zu gebrauchen. Eine wohlklin- gende, klar artikulierende [möglichst männliche] Stimme wirke nachdrückli- cher und deutlicher (Sellmann 1914, 55). Um die Wahrhaftigkeit der Aussage und die Autorität der Vermittlung zu garantieren, kommt deshalb dem Kom- mentar eine ebenso wichtige Rolle zu wie dem Sprecher im Ton-Lehrfilm, der letztlich die Struktur des domestizierten Dokumentarfilms im Schulzimmer fortschreibt. Der Kommentar im Tonfilm Der «Lehrtonfilm» weist im Wesentlichen dieselben Merkmale wie der stumme didaktische Film auf, nur wird der Part des kommentierenden Lehrers in den Film verlegt. Nun ist es ein körperloser Kommentator, der die Schüler in der richtigen Lektüre unterweist, wobei schon die Intonation darauf abzielt, der Instanz der Wissensvermittlung Autorität zu verleihen. Zumindest in dieser Hinsicht nähert sich der «Lehrtonfilm» dem explorativen Dokumentarfilm an. Über die «Voice of God» im Dokumentarfilm schreibt Bill Nichols: It concentrated sound into speech and yoked speech to a rhetorical asser- tion. The speech became known as the voice of God and the assertions became labeled didacticism, or propaganda. (Nichols 1995, 7) Die autoritative «Voice of God» lenkt nun die Aufmerksamkeit, und nicht wie im stummen Lehrfilm die individuelle Interpretation eines Lehrers. Die Mono- log-Situation der «Voice of God» entspricht nach wie vor der Vermittlungspra- xis in der Schule, namentlich hinsichtlich des Wissensgefälles zwischen Ver- mittlungsinstanz und Adressat. Neu ist allerdings, dass das Verfahren im «Lehrtonfilm» mit tontechnischen Mitteln standardisiert wird. Die Reduzierung auf eine kommentierende Stimme und damit eine Anwei- sung und eine Auslegung zwängt die semantische Vielfalt des dokumentari- schen Materials in eine feste Form und beraubt es seiner Mannigfaltigkeit (Ni- chols 1995, 7). Mehr noch: Diese Reduzierung stellt eine Vereinnahmung dar. Nicht zuletzt aus diesem Grund hielt beispielsweise Kurt Zierold als Ministeri- 16 Im Gegensatz zu Stoddards Vortragsmethode habe sein Nachfolger Holmes sein Bildmaterial wie eine Reise gestaltet. Text und Bild korrespondieren, eine konsequente Wir-Adressierung, Bilder, die aus dem Point of View des Betrachters aufgenommen sind, sowie Cut-ins ermög- lichten ein Mitgehen der Zuschauer, evozierten einen diegetischen Raum; 2004, 58f. 68 Anita Gertiser montage/av alrat für die Reichsfilmstelle in Deutschland noch in den 1930er Jahren am stummen Lehrfilm fest, als die Nationalsozialisten darauf hinarbeiteten, den Film für die eigenen ideologischen Ziele zu nutzen.17 Der stumme Lehrfilm hat- te immerhin den Vorzug, unterschiedliche Interpretationen zuzulassen, weil jede Lehrperson das Material nach eigenem Ermessen erläutern konnte. Der didaktische Tonfilm ist folglich doppelt festgelegt. Zum einen standardi- siert der Kommentar die Rezeptionsformen in einem noch stärkeren Ausmaß, als dies der Lehrerkommentar vermochte, und zum anderen determiniert er die Aussagekraft der Bilder.18 Geneviève Jacquinot kritisiert am didaktischen Ton- film, dass diese Festlegungen letztlich kontraproduktiv seien, beeinträchtigten sie doch den Lernprozess (Jacquinot 1977; eine ausführliche Analyse von Jac- quinots Ansatz bietet Eef Masson in diesem Heft). Ein auch in theoretischer Hinsicht aufschlussreiches Gegenbeispiel liefert August Kerns Film Richtiges Melken – saubere Milch, dem ich mich nun zuwenden möchte, ein Film, der in ausgeprägter Weise auf die Aussagekraft der Bilder abhebt und den Zuschau- er durch spezifisch filmische Gestaltungsmittel in den Stand zu setzen versucht, sich die Inhalte weitgehend selber anzueignen. Filmlesen als Aneignungsprozess Jacquinots Kritik am didaktischen Lehrfilm besteht hauptsächlich in der Fest- stellung, dass der Kommentar das polysemische Potenzial des Filmbildes redu- ziert und den sichtbaren Gegenständen letztlich ihren Sinn nimmt (Jacquinot 1977, 102f.). Es frage sich deshalb, ob das Medium Film den Lernprozess auf diese Weise überhaupt noch unterstützt. Ferner hält sie fest, dass gerade die in den Film eingeschriebene institutionelle Situation der klassischen Lehrkom- munikation vom Lehrer zum Schüler kognitive Aneignungsprozesse hemme (ibid., 37). 17 Kurt Zierhold war ab 1934 bis 1945 für die »’Reichsstelle für den Unterrichtsfilm’ / ‚Reichsan- stalt für Film und Bild’ verantwortlich, an deren Aufbau er entscheidend beteiligt war»; Kühn 1992, 265. Kühn zitiert die Feststellung der Fachkommission der Unesco von 1945, die fest- hält, dass Zierhold sich so der Vereinnahmung widersetzte (ibid. 82f.). Diesen Hinweis ver- danke ich Ursula von Keitz. 18 Dies taxiert Mikat als zentrales Problem in ihrer Auswertung: «Es konnte gezeigt werden, dass wesentliche Informationen auf dem akustischen Kanal vermittelt werden und durch visuelle Entsprechungen nur ungenügend ergänzt werden. Die angewandten filmischen Ausdrucks- mittel wie die Wahl unterschiedlicher Perspektiven und Einstellungsgrössen oder Kamerabe- wegungen gewährleisten zwar eine Abwechslung, stehen jedoch in keinem engen Zusammen- hang mit inhaltlichen Aspekten»; 1992, 144. 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 69 Tatsächlich basieren die von Jacquinot untersuchten didaktischen Filme aus- schließlich auf dem System des Informationstransfers. Kommentator und in- terviewte Experten bilden die Wissensinstanz, während der Zuschauer/Schüler implizit als Unwissender adressiert wird (ibid., 65). Der Transfer erfolgt einsei- tig und vollständig, der Kommentar liefert die Interpretation gleich mit, so dass der Schüler den Sinn nicht mehr selber eruieren muss. Man könnte nun argu- mentieren, dass solche Filme konsequent gegen die aktiven Aneignungsprozes- se gearbeitet sind, die für die neuere Filmtheorie als konstitutiv für die Filmer- fahrung gelten (vgl. Ohler 1990; Grodal 1997). Findet die Filmaneignung in der Rezeption überdies stets auf kognitiver wie auf affektiver Ebene statt, so ver- sucht der didaktische Film allein auf einer kognitiven Ebene zu operieren, in- dem er das Wort nutzt, um das Bild eindimensional zu semantisieren. Im Sinne Jacquinots ist der Film Richtiges Melken – saubere Milch (CH 1954) ein Beispiel eines «discours ‹ouvert› qui donne à apprendre au lieu de donner ce qu’il y a à apprendre».19 Aufgabe des Films ist es nicht nur zu infor- mieren, sondern vielmehr zu instruieren – über die richtige Melktechnik, die richtige Reinigung des Geschirrs und die richtige Lagerung der Milch.20 Dabei folgt der Film einer einfachen argumentativen Logik: Sind Stall, Kühe und Mel- ker sauber, dann wird es auch die Milch sein. August Kern (1901-1996) zählt zu den Filmpionieren der Schweiz und war ein erfahrener Regisseur insbesondere von Kulturfilmen.21 Anders als die Zürcher Filmpädagogen verwendete er Ge- staltungsmittel, um gezielt bestimmte Denkprozesse in Gang zu setzen. Auf den ersten Blick handelt es sich bei Richtiges Melken – saubere Milch um einen mustergültigen didaktischen Film. Die Objekte sind mittig ins Bild gesetzt und in logischen Schritten miteinander verknüpft. Der filmische Ablauf gibt die zeitliche Abfolge der einzelnen Arbeiten wieder. Kleine Exkur- se mit Nah-, Mikroskop- und Modellaufnahmen sowie Trickzeichnungen, die per Schiebeblenden von der Haupthandlung abgegrenzt werden, liefern wichti- ge Zusatzinformationen. Der Film enthält auf der Bildebene Wiederholungen, 19 «Si la didactique est l’étude des divers manières d’enseigner et se réfère donc directement à l’institution éducative, la didaxie peut êtres définie comme la modalité de ce qui est propre à in- struire, que ce soit dans ou hors l’institution (autodaxie)». Jacquinot 1977, S. 34. 20 Der Film wurde im Auftrag des Zentralverbandes Schweizerischer Milchproduzenten produ- ziert und war für ein vorwiegend bäuerliches Publikum bestimmt. Weitere didaktische Lehr- mittel wie Stereoskop-Bilder lassen aber auf einen breiteren Verwendungskreis schliessen. 21 Neben seinem eigentlichen Auftrag drehte er den Schweizer Grosskulturfilm Die Geheim- nisse der Kalmückensteppe (CH 1923). Zusammen mit Anton Kutter realisierte er den ers- ten Schweizer «Spieltonfilm» Die Herrgottsgrenadiere (CH/D 1932), der zwar als beach- tenswert eingestuft wurde, an der Kinokasse aber floppte. 1948 gründete Kern seine eigene Firma. 70 Anita Gertiser montage/av die als Wiedererkennungsmomente und Anknüpfungspunkte dienen und am Ende zur Vertiefung der Wissensinhalte rekapituliert werden. Was Richtiges Melken vom didaktischen Film im Sinne von Jacquinot und Nichols unterscheidet, ist der Einsatz der filmischen Gestaltungsmittel. Liegt die Kompetenz zur Stiftung von Sinnzusammenhängen im didaktischen Film allein beim Kommentar, so ist es bei Kern die Kamera, die den Blick lenkt, Sinn- bezüge herstellt und zeigt, was es zu lernen und zu wissen gilt. Schon der An- fang des Films, der einen Viehmarkt zeigt, macht dies deutlich. Die Bildkompo- sition stellt einen semantischen Zusammenhang zwischen Vieh, Schau und ver- handelnden Bauern her. Die Kameraführung allein macht schon deutlich, dass die Bauern beim Kauf vor allem auf ein gesundes Euter achten. In ähnlicher Weise funktioniert eine außergewöhnliche Kamerabewegung, die einen Halb- kreis beschreibt und vom Boden auf die Fensterfront des Stalls schwenkt. Diese Bewegungsdynamik erregt bereits als solche Aufmerksamkeit. Zugleich ver- deutlicht die Bildfolge in einprägsamer Weise den wichtigen Zusammenhang von sauberem Stall, Luft und Licht, noch bevor der Kommentar darauf zu spre- chen kommt. Ferner nutzt Kern die Lichtgestaltung, um den Objekten eine besondere se- mantische Prägnanz und taktile Präsenz zu verleihen. Eindrucksvoll gelingt ihm dies in den Szenen, in denen gezeigt wird, wie der Bauer es nicht machen soll. Der Stall des unhygienischen Bauern ist dunkel, da die Fenster mit Staub bedeckt und von Spinnweben verhangen sind. Die kulturelle Semantik von Hell und Dunkel besorgt, dass das Euter, das im Schatten liegt, nichts Gutes ver- heisst. Ganz anders liegen die Dinge beim Mustermelker, der kontrastiv dazu gezeigt wird. Ob er sich nun ausgiebig die Hände wäscht, das Euter reinigt oder beim Ausmelken gezeigt wird: Die Gegenstände sind in ein Licht mit weichen Grauabstufungen getaucht, das ihre Oberflächen samtig und sinnlich erschei- nen lässt und sie geradezu physisch greifbar macht. Was man lernen soll, ist an- genehm und schön inszeniert. Die Bilder zeigen also nicht nur die richtige Handlungsweise, sie ästhetisieren diese auch und machen die Vorzüge der Sau- berkeit sinnlich erlebbar. Richtiges Melken verzichtet keineswegs auf den gesprochenen Kommen- tar. Anders als in den didaktischen Lehrtonfilmen unterstützen die Worte das Bild und nicht umgekehrt. Gewiss legt der Kommentar auch in Kerns Film die Aussagen fest und steuert so die Rezeption; dies geschieht aber durch die filmi- sche Inszenierung und den Konnotationsreichtum der Bilder mindestens eben- so wie durch den Kommentar. Kern aktiviert verschiedene Ebenen der Wahr- nehmung und Informationsverarbeitung. Gerade dadurch aber wird der Film selbsterklärend und erfüllt Jacquinots Forderung, das Lernen zu ermöglichen. 15/1/2006 Domestizierung des bewegten Bildes 71 Schlussbemerkung Die Entwicklung vom frühen dokumentarischen zum didaktischen Film offen- bart, dass mit den Eingriffen auf inhaltlicher Ebene nicht nur narrative Ände- rungen einhergehen. Vielmehr werden die Kontiguität aufgebrochen, Lektüre und Rezeption eingeengt und kanalisiert, um eine Kontrolle der Wirkungs- weise und der Wissensvermittlung zu erreichen. Schon der schulische Kontext legt bestimmte Leseweisen fest. Allerdings reichte den Filmpädagogen der 1920er Jahre die domestizierende Leistung des pädagogischen Kontextes nicht aus. Sie griffen in die Struktur der Filme ein, um dem Lehrer die Deutungsho- heit über das im Unterricht gezeigte Material zu sichern. Möglich war dies nicht zuletzt deshalb, weil das Bild per se vieldeutig ist, d.h. zugleich unterdetermi- niert bleibt, wie Jacquinot festhält. Entsprechend sind ihm verschiedene mögli- che Interpretationen inhärent, deren dominante erst durch Kontext und Rah- mung festgelegt wird. Schließlich war die Einpassung des bewegten Bildes in die Rahmungen der pädagogischen Institution der Preis, den der Film bezahlen musste, um zu einem legitimen Lehrmittel zu werden. Im Zug dieser Einpas- sung wurden Formen des Umgangs mit dokumentarischem Material entwi- ckelt, die in manchen Typen des Dokumentarfilms bis heute ihre Fortsetzung finden. Auch deshalb ist die Geschichte der Domestizierung des Filmbildes im Schulzimmer eine, die es verdient, eingehend erforscht zu werden. Literatur Altman, Rick (2004) Silent Film Sound. New York: Columbia University Press. Beyfuss, Edgar/ Oskar Kalbus (Hrsg.) (1924) Das Kulturfilmbuch. Berlin: Carl P. Chryselius’scher Verlag. 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