SEBASTIAN KIRSCH WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT, ODER: BÜHNE DES BEGEHRENS, BÜHNE DES TRIEBS. VERSUCH ÜBER LAURENT CHÉTOUANES ZÜRCHER PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG „Verbringen wir unsere Zeit damit zu dekonstruieren, was schon dekonstruiert ist? Oder wagen wir einen Quantensprung?“ Mit diesen Worten hat Laurent Chétouane einmal seine neueren choreographischen Arbeiten kommentiert1, und in der Tat: Wer die Conditio sine qua non des zeitgenössischen Tanzes in der Kritik oder eben Dekonstruktion choreographischer Traditionen sieht, in- sofern diese der langen Geschichte der „Ideologie des Ästhetischen“ (Paul de Man)2 verhaftet sind, der muss von Chétouanes künstlerischer Entwicklung spätestens seit Tanzstück #4: leben wollen (zusammen) (2009) irritiert sein. Denn die bewährten Strategien der Auseinandersetzung mit einer solchen Ideologie scheinen hier in durchaus skandalöser Weise suspendiert: Die Arbei- ten sind augenscheinlich kaum von „negativen“ Entzugsbewegungen und Stillstellungen getragen, keine Exponierung von „Abwesenheit“ ist hier zu entdecken, kein „Tanz, der nicht tanzt“ nachzuvollziehen. Stattdessen sehen sich die Zuschauer eigentümlich weichen und fließenden Choreographien ge- genüber, harmonischer, klassisch wirkender Musik, und einem nachgerade an- mutigen Miteinander der tanzenden Körper. Und, besonders irritierend vor dem Hintergrund eines Tanzdiskurses, der speziell mit der Erbschaft und dem Formenkanon des Balletts hadert: Immer wieder zitieren die Stücke Ballettfi- guren. „Schön war’s“ – lapidar hat die Tanzkritikerin Astrid Peterle zu Beginn eines Artikels über Chétouanes horizon(s) (2011) eine Ratlosigkeit auf den Punkt gebracht, die diese Arbeiten in den letzten Jahren häufig ausgelöst ha- ben.3 Nun geht es Chétouane sicher nicht um eine Rücknahme kritischer Einsich- ten über „schöne“ Ästhetiken, über ihre naturalisierenden Effekte und ihre da- raus folgende ideologische Besetzbarkeit etwa, oder überhaupt über ihren zwanghaften Charakter, der daraus resultiert, dass ihnen für gewöhnlich ein 1 „Im Konzept-Schutzgebiet. Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern“, in: F.A.Z. vom 17.12.2011, S. 38. 2 Vgl. Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M., 1993. 3 Astrid Peterle, „Die Zukunft des Tanzes? Laurent Chétouane mit ‚Horizon(s)‘ im Tanzquar- tier Wien“, in: Corpus – Internetmagazin für Tanz Choreographie Performance vom 24.04.2011, online unter: http://www.corpusweb.net/die-zukunft-des-tanzes.html, zuletzt auf- gerufen am 12.08.2013. 208 SEBASTIAN KIRSCH Set unausgesprochen wirkender Regeln zugrunde liegt. Und dennoch scheint sich in diesen Tanzstücken der Impuls zu artikulieren, ein mögliches Jenseits solcher Erkenntnisse zu erkunden. Dabei legt die Rede vom Quantensprung nahe, dass hier nicht mehr, aber auch nicht weniger auf dem Spiel steht als ein minimaler Wechsel der Perspektive, eine leichte Verschiebung, mit der sich dennoch alles zu ändern scheint. Doch wie lässt sich dieser Wechsel genauer fassen? Ich möchte in diesem Essay zwei miteinander verknüpften Überlegungen oder auch thematischen Zentren nachgehen: Zum einen scheint mir Chétou- anes „Quantensprung“ in genuiner und genauer zu beschreibender Weise mit der Erforschung raum-zeitlicher Potenziale der Bühne zusammenzuhängen und grundsätzlich auf einen Prozess der Verräumlichung zu zielen. Dabei geht es allerdings weder um einen simplen Auszug aus der neuzeitlichen Bildbüh- ne, wie sie sich, in sehr unterschiedlichen Varianten, im 17. Jahrhundert einge- richtet hat, noch um eine weitere Offenlegung und Durchleuchtung ihrer Ideo- logieanfälligkeit. Eher lässt sich vielleicht sagen, dass Chétouane in ein und derselben Geste die repräsentativen Momente dieser Bühne durchstreicht und sie auf das verzweigte historische Material hin öffnet, das sich in ihr angesam- melt hat. Am besten scheint mir die fragliche Bewegung daher als eine Umfal- tung charakterisierbar zu sein, mit der die Formelemente der Bühne keines- wegs „verabschiedet“ werden, mit der aber nichtsdestotrotz ein signifikanter Statuswechsel verbunden ist. Zum anderen, und das wäre die zweite Überlegung, scheint mir in Chétou- anes künstlerischer Suchbewegung eine theoretische Frage widerzuhallen, die heute vielfach und in widersprüchlicher, oft genug polemischer Weise disku- tiert wird. Sie betrifft das Problem, ob es möglich ist, sich grundsätzlich in ei- nem Jenseits oder Außerhalb der Repräsentation zu bewegen oder nicht. Dabei kann man in der Diskussion, trotz all ihrer Schattierungen und im Bewusstsein um die Holzschnittartigkeit solcher Zusammenfassungen, zunächst zwei wi- derstreitende Pole ausmachen: Auf der einen Seite eben „dekonstruktive“ Per- spektiven, die sich einer radikalen Repräsentationskritik verpflichtet fühlen, zugleich aber darauf beharren, dass ein Jenseits der Repräsentation ein prä- senzmetaphysischer Traum bleiben muss. Und auf der anderen Seite Ansätze, die sich auf Deleuze/Guattaris Immanenzdenken, beispielsweise ihre Begriffe des „reinen Werdensflusses“ oder des „ein Leben“ berufen – Begriffe also, die eine Ebene unterhalb jeder Repräsentation zu bezeichnen suchen und aus de- ren Perspektive speziell die für die Dekonstruktion so wichtige Figur eines „einbrechenden Anderen“ als ein, vielleicht überkommenes, in jedem Fall zu überwindendes monotheistisches Erbe erscheinen muss.4 4 Jean-Luc Nancy hat die Spannung zwischen der Dekonstruktion und dem deleuzianischen Immanenzdenken auf den Begriff der „Parallelen Differenzen“ gebracht (in: ders./René Sché- rer, Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze, Zürich, Berlin, 2008, S. 31-50). In ähnlichem Kon- text sieht auch der Bochumer Medienwissenschaftler Erich Hörl heute Figuren des „Quasi- Transzendentalismus“ und der „reinen Immanenz“ um die Auslegung der „sinngeschichtli- WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 209 Ich möchte mich der Spannung, die damit angesprochen ist, nun allerdings von einer anderen, dritten Referenz her nähern, die für Chétouanes Arbeiten eine nicht minder große Rolle spielt als die Dekonstruktion oder das Denken von Deleuze, die zu diesen beiden Bewegungen aber wiederum eine verscho- bene Stellung einnimmt: von der Psychoanalyse Jacques Lacans (die unter an- derem im Programmheft zu horizon(s) als theoretische Referenz angeführt wird). Das mag auf den ersten Blick überraschen, scheint doch gerade Lacans „Lehre“ die Frage nach einem Jenseits der Repräsentation bzw. einem Jenseits der „symbolischen Ordnung“ erst gar nicht zu stellen, sondern ihr Reich zu ze- mentieren, was sich etwa in vielzitierten Formeln wie „Ein Signifikant reprä- sentiert das Subjekt für einen anderen Signifikanten“ oder „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ anzeigt. Doch meine These ist, dass sich von Lacans Spätwerk her ein differenzierteres Bild ergibt. Denn ab einem nicht ge- nau zu bestimmenden Punkt seiner Entwicklung – den man in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umbruch der sechziger Jahre bringen kann – sieht Lacan sich von etwas dazu genötigt, frühere Konzepte Punkt für Punkt um wi- derstreitende Begriffe zu ergänzen, die sich wie eigenartige Doppelgänger ausnehmen und die in der breiteren Rezeption meist nicht aufgenommen wur- den. (Zu nennen wären etwa Begriffspaare wie Begehren/Trieb, Symptom/ Sinthom, Herrendiskurs/analytischer Diskurs und noch viele andere.5) In die- ser aporetischen Erweiterung aber, so will es mir scheinen, rumort genau jene vielleicht unlösbare Problematik, die sich heute in neuer Form in der ange- sprochenen Diskussion niederschlägt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Chétouanes Bühnenarbeit auch der szenischen Erkundung von Begehrensstrukturen gilt. Es scheint mir deswegen durchaus nahezuliegen, den „Quantensprung“ seiner neueren Bühnenarbeiten in Bezug auf Lacans Konterkarierung des Begriffs des Begehrens durch den des Triebs in den Blick zu nehmen, die zum ersten Mal in Lacans Seminar XI auftaucht. Aus der Perspektive späterer Seminare kann sie als wichtiges Moment einer Suche nach möglichen Alternativen zur „klassischen“ Theorie angesehen werden, in der das Begehren und überhaupt die Subjektivierung immer einer väterlichen Referenz unterliegen. Allerdings geht es nicht um einen absoluten Bruch, sondern eben um eine aporetische Er- weiterung. Diese lässt sich nicht im Modell eines zeitlichen Verlaufs fassen, sondern zielt auf eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit: Auch die letzten Se- minare verabschieden die väterliche Referenz nicht vollständig und im Sinn chen“ Lage wetteifern (vgl. Erich Hörl, „Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technik im Anschluss an Jean-Luc Nancy“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturfor- schung 2 (2010), S. 129-147). Die damit angesprochene Debatte prägt des Weiteren auch die neueren Diskussionen um den Begriff des Affekts (vgl. bes. Marie-Luise Angerer, Vom Be- gehren nach dem Affekt, Zürich, Berlin, 2007). 5 Lacan arbeitet diese Begriffe etwa in den Seminaren XI, XVII, XX und XXIII aus. Dabei ge- he ich davon aus, dass Lacan die besagte Spannung nicht auflösen konnte, die sich darum ge- rade heute als offene Frage aus seinem und an sein Werk ergibt. 210 SEBASTIAN KIRSCH einer Teleologie, sondern akzentuieren ihren Status als Version – als soge- nannte „Pére-Version“.6 Und wie ich im Folgenden zeigen möchte, kann man eine ähnliche Figur in Chétouanes Umgang mit dem neuzeitlichen Bühnen- kasten und seinen Traditionen entdecken. Publikumsbeschimpfung I: Zwischen Sprechen und Tanz Es soll um eine neuere Arbeit Chétouanes gehen, die sich meines Erachtens in besonderer Weise um die genannten Figuren dreht und die gewissermaßen den Quantensprung selbst auf der Bühne sichtbar werden lässt: eine Inszenierung von Peter Handkes Publikumsbeschimpfung, die im Herbst 2010 insgesamt nur wenige Male im Zürcher Theater am Neumarkt zu sehen war. Es handelt sich also nicht explizit um ein Tanzstück, wie Chétouane sie in einer unabge- schlossenen Serie seit 2007 entwickelt. Stattdessen kombiniert und verflicht Publikumsbeschimpfung Elemente des Sprechtheaters und des Tanzes, ähnlich wie es zuvor auch schon die Inszenierungen Empedokles/Fatzer, Dantons Tod oder Faust taten, in denen jedes Mal Tänzer zu den Schauspielern hinzugezo- gen wurden. Dabei generiert die Choreographie in „Publikumsbeschimpfung“ wiederum jene eigenartige Schönheit, die auch Tanzstück #4: leben wollen (zusammen) und horizon(s) kennzeichnet. (Publikumsbeschimpfung ist zwi- schen diesen beiden Produktionen entstanden.) In diesem Fall wirkt sie sogar besonders befremdlich. Denn abgesehen von der Frage nach ihrem Status kon- trastiert sie auch in auffallender Weise die „negative“ Stoßkraft von Handkes Text, der ja über weite Strecken eine Theatertradition nach der anderen verab- schiedet. Jedenfalls scheint in dieser Spannung das wichtigste Skandalon für die (insgesamt recht verständnislosen) Tageskritiken der Inszenierung zu be- stehen, die etwa erstaunt feststellen, dass hier trotz der grundsätzlichen Ver- weigerungshaltung der Publikumsbeschimpfung eine Fülle von „berückend schönen Bildern“ produziert werde.7 Die drei Schauspieler Romana Schröter, Franziska Wulf und Malte Sunder- mann bilden zusammen mit der israelischen Tänzerin Sigal Zouk das Ensemb- le der Inszenierung. Zouk hat eine besondere Position inne: Bis auf wenige, aber wichtige Ausnahmen bleibt sie stumm, während die anderen fast ununter- brochen Handkes Sätze sprechen. Mal hält Zouk sich abseits von den Dreien, tastet allein ihren Körper ab oder lässt sich ruckartig in die Knie fallen; dann wieder sucht sie die größtmögliche Nähe zu ihnen, setzt sich etwa direkt zu Wulf an den Biertisch (einer der wenigen Gegenstände auf der Bühne) und 6 Vgl. hierzu Lacans (bislang nicht auf Deutsch vorliegendes, aber auf Englisch im Internet zir- kulierendes) Seminar XXI, „Les non-dupes-errent“ von 1973/1974. 7 Alexandra Kedves, „Handkes Bildersturm als Körpertheater“, in: Tagesanzeiger vom 09.10.2010. WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 211 pickt zu deren Worten Trauben aus einem Obstglas, nascht eine, wirft andere in Richtung Zuschauerraum. Die Konstellation der Inszenierung könnte man zunächst also als „3 + 1“ beschreiben. Andererseits aber bilden die vier Darsteller, wenn sie einander immer wieder umfassen, an den Händen nehmen, zögernd durch die Haare streichen oder sich ineinander verrenken, deutlich auch ein einziges Ensemble, das Formen und Rhythmen des gemeinsamen Erscheinens auf einer Bühne er- probt: Ein Geflecht von sich annähernden Körpern, wie es ähnlich bereits in Tanzstück #4 zu sehen war. Manchmal scheinen die Vier sich sogar, passend zum Thema einer „Publikumsbeschimpfung“, zu einer einzigen, verschwore- nen Gruppe zusammenzufinden, die sich still über die Zuschauer amüsiert, wenn auch solche Momente der vollständigen Schließung nur verschwindend kurze Zeit dauern. Die Inszenierung oszilliert insofern beständig und fast un- unterscheidbar zwischen zwei Strukturprinzipien: Zwischen einer „3 + 1“-An- ordnung und einer einzigen, in sich differenzierten Menge. Dabei lässt sich gleich hinzufügen, dass ein solches permanentes Kippen zwischen einer diffe- renzierten Gesamtheit und einer durch eine definierende Teilung charakteri- sierten Menge sich in Chétouanes Umgang mit dem Bühnenraum wiederholt und potenziert. Denn einerseits handelt es sich beim Bühnensaal des Zürcher Theaters am Neumarkt gerade nicht um eine klassische Guckkastenanlage mit ihrer krassen Zweiteilung zwischen Publikum und Darstellern, sondern um ei- nen architektonisch ungeteilten Raum, der nicht als Theater entworfen wurde. Zuschauer und Spieler bilden hier deutlich eine einzige Versammlung, was noch dadurch unterstrichen wird, dass die Fenster auf der rechten Seitenwand des Saales sich im Bereich der Spielfläche fortsetzen – etwas, das einem Ver- ständnis der Bühne als fensterlosem Innenraum, wie es sich im 17. Jahrhun- dert installiert hat, per definitionem widerspricht. Wie in anderen seiner Insze- nierungen (beispielsweise Büchners Lenz) lässt Chétouane die Spieler von die- sen Fenstern denn auch ausgiebig Gebrauch machen. Andererseits aber zitiert und reflektiert die konfrontative Anordnung von Publikum und Spielern in der Inszenierung geradezu überdeutlich die zentralperspektivische Anlage des Guckkastens mit Rampe und Zuschauerreihen. Das ist auch – aber nicht allein – mit Blick auf Handkes „Antitheatertext“ von Bedeutung, der mehrfach auf die ideologische Besetzbarkeit dieser Architektur abzielt, wobei die entspre- chenden Stellen ihre besondere Schärfe vor dem Hintergrund der NS-Vergan- genheit (die Uraufführung fand 1966 statt) bekommen: „Sie bilden ein Muster. Sie sitzen in einer gewissen Ordnung. Ihre Gesichter zeigen in eine gewisse Richtung. [...] Sie bilden eine Einheit.“8 Was bedeutet dieses Wechselspiel nun für die vier Darsteller? Aus der ersten, der „3 + 1“-Perspektive betrachtet, kann man Zouks Position als die eines überzähligen vierten Elements charakterisieren, das dennoch niemals 8 Peter Handke, Publikumsbeschimpfung, in: ders., Prosa Gedichte Theaterstücke Hörspiel Aufsätze, Frankfurt/M., 1969, S. 180-211: 183 f. 212 SEBASTIAN KIRSCH von der Gruppe abgetrennt werden kann, deren Teil es ist. Diese eigentüm- liche Gleichzeitigkeit von Fremdheit und Zugehörigkeit wird durch andere Momente der Inszenierung bekräftigt. So spricht Zouk etwa die ersten Worte des Abends (und des Stücktextes): „Sie sind willkommen!“9 Aber sie spricht sie mit ihrem spezifischen Akzent, der auf deutschsprachige Hörer stark ver- zerrend wirkt und die Worte ins Unverständliche treibt. Publikumsbeschimp- fung wird somit gleichsam von einem Schwellenpunkt her eröffnet, einem Ort der Fremdheit, der kein gemeinsames Zuhause voraussetzt, gerade dadurch aber zur zeitweiligen Gemeinsamkeit in einem (Theater-)Haus einlädt. Will- kommen sind die Zuschauer hier offenbar als Fremde, vielleicht auch als „Fremdlinge im eigenen Hause“, um eine Wendung aus Hölderlins Hyperion aufzugreifen. Dabei kann man durchaus daran erinnern, dass ähnliche Einla- dungen, speziell im Zusammenhang mit Zouks Akzent in früheren Inszenie- rungen Chétouanes, oft genug Empörung auslösten: Bei Faust II in Weimar (2008) ließen einzelne Zuschauer sich ob der „Unverständlichkeit“ des Gehör- ten zu „Goethe hilf!“-Rufen hinreißen, und nach Dantons Tod in Köln (2010) wurde sogar darüber diskutiert, ob Zouk auf einer deutschen Bühne überhaupt „sprechen dürfe“. Solche Reaktionen haben vor dem Hintergrund der israeli- schen Herkunft Zouks sicherlich noch einmal eine besondere Färbung, die auch in Publikumsbeschimpfung mitschwingt – schließlich zielte Handke mit seinem Text durchaus explizit auf mutmaßliche NS-Verstrickungen des Urauf- führungspublikums. Entscheidend ist aber, dass Zouk hier wie in den anderen Inszenierungen gerade nicht als Repräsentantin auftritt. Ihr Akzent steht in ra- dikaler Weise für nichts, aber gerade dieses Nichts lässt sie auf der Bühne un- verwechselbar, für manche anscheinend auch unerträglich werden. Diese Zusammenhänge scheinen sich emblematisch in einem weiteren Re- quisit des Abends zu verdichten und verdoppeln: einem Totenkopf, der nicht nur an Hamlet denken lässt, das paradigmatische Stück der europäischen The- atertradition also, sondern auch an den anamorphotisch verzerrten Totenschä- del auf Hans Holbeins Bild Die Gesandten. Und tatsächlich liegt es nahe, Zouks Stellung innerhalb des Ensembles mit einer solchen Anamorphose zu vergleichen: Auch diese ist ein überzähliges Objekt, das dennoch der Darstel- lung untrennbar zugehört; auch diese ist eine Schwellenfigur. Denn einerseits lässt die mit der anamorphotischen Verzerrung mögliche Verdoppelung oder sogar Vervielfältigung von Perspektivpunkten das Bild ins Räumliche kippen, andererseits jedoch kann sie als besonderes Faszinosum des Bildes dessen Ordnung auch nur vervollständigen oder supplementieren. Mit Blick auf La- can lässt sich hingegen schon einmal festhalten, dass Seminar XI Holbeins anamorphotischen Totenschädel als direkte Manifestation des „Objekt a“ (in seiner Variante als „Blick“) deutet, jenes rätselhaften, überschüssigen Objekts 9 Ebd., S. 183. WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 213 also, zu dessen Eigenschaften unter anderem gehört, das Begehren des Sub- jekts anzutreiben.10 All diese Aspekte treffen nun aber, wie gesagt, erst und ausschließlich die „3 + 1“-Komponente der Inszenierung. Die zweite mögliche Perspektive, die der ungeteilten, doch in sich differenzierten Gesamtheit, öffnet sich hingegen dort, wo die gemeinsame Choreographie das verwobene Geflecht der vier Körper akzentuiert und dabei eine berückende Intimität zwischen den Darstel- lern entstehen lässt. Mit dieser Ebene setzt die Inszenierung nun einen deutli- chen Kontrapunkt gegenüber Handkes Textvorlage, der sie zugleich zu ihren spielerischsten, auch humorvollsten Momenten finden lässt. Heißt es bei Handke zum Beispiel: „Sie sehen nicht die Hintertür, durch die der, der nicht gesehen werden soll, hinausschlüpfen kann [...]. Es gibt keine Hintertür“11, dann schlüpft im nächsten Moment Malte Sundermann aus der von den ande- ren dreien überdeutlich fokussierten Hintertür der Bühne (die, ähnlich wie die Fensterfront, eine reale Gegebenheit des Raumes ist). Und wenn Handke schreibt: „Sie hören nicht das falsche Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür“12 – was auch als Negation der Türschlagkomödie verstanden werden kann – dann fällt in Chétouanes Inszenierung im nächsten Moment mit gewal- tigem Knall die Tür ins Schloss. (Freilich stellt der Knall auch wieder einen Kontrapunkt im Kontrapunkt dar, schließlich handelt es sich beim Zufallen der Tür in der Tat nicht um ein „falsches“, das heißt einem illusionistischen Effekt dienendes Geräusch.) Diese Ebene, die dem Text widerstreitet und bisweilen in sich noch einmal gefaltet ist, zieht sich durch die gesamte Inszenierung und bildet, neben Zouks besonderer Position, ihr zweites hervorstechendes Charakteristikum. Manch- mal kristallisiert sich der Einspruch lediglich in kurzen, ironischen Pointen, zum Beispiel wenn Sundermann den Satz „Wir machen keine Kunstpausen“13 mit betonter Kunstpause zwischen „Kunst“ und „Pausen“ spricht. Der eigentli- che Motor des Widerstreits aber ist die Choreographie der vier Spieler: Sie ge- neriert gewissermaßen eine autonome, bewegliche Körperskulptur, die Hand- kes Sätze permanent kommentiert, bricht oder bestätigt und damit letztlich überprüft – fast wie ein antiker Chor. Nun ist, wie gesagt, die Choreographie zugleich auch die Quelle dessen, was in der Inszenierung als (durchaus irritierend) schön wahrgenommen wird: die körperliche Nähe, der Fluss der Bewegungen, die sanfte Ironie der Aktio- nen und überhaupt die träumerische Leichtigkeit des Abends, die noch durch kontemplativ wirkende, kurze Einspielungen von Scarlatti-Fragmenten ver- stärkt wirkt. Es stellt sich also zum einen die Frage, wie die Distanznahme ge- 10 Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Ber- lin, Weinheim, 1978, S. 94 f. Entscheidend ist, dass das Objekt a, je nach seinem Auftrittsort, sehr unterschiedliche Rollen übernimmt und die verschiedensten Funktionen innehat. 11 Handke (1969), Publikumsbeschimpfung, S. 189. 12 Ebd., S. 186. 13 Ebd., S. 191. 214 SEBASTIAN KIRSCH genüber Handkes Text und die tänzerische Schönheit genauer zusammenhän- gen und wie beide Momente sich mit dem Thema der Bühne verknüpfen. Und zum anderen gilt es zu klären, wie sich die „3 + 1“-Organisation und die „Ge- samtmenge“ genau zueinander verhalten. Und genau hier scheint es mir nun sinnvoll, einen Sprung zu Lacans begrifflicher Differenzierung zwischen Be- gehren und Trieb zu machen. Begehren und Trieb In seinen frühen Seminaren, insbesondere in den Seminaren IV bis VI14, entwi- ckelt Lacan die Logik des Begehrens in striktem Bezug zum ödipalen Drama und zur (Un-)Möglichkeit einer genealogischen Abfolge. Doch es wäre ein Fehler, das Thema auf den Familialismus zu beschränken. Worum es bei nähe- rem Hinsehen wirklich geht, ist die Frage nach Struktur und Einrichtung von Institutionen. Denn der Ursprung des Begehrens wird hier letztlich in der im- mer auch traumatischen Erfahrung eines Anderen verortet, der vielfach besetz- bar ist und nicht zwingend mit dem Personal der ödipalen Matrix gefüllt wer- den muss (wo zunächst die Figur der Mutter den Ort dieses Anderen ein- nimmt). Ob also Familie oder nicht – die Konfrontation mit diesem Anderen ist in sich bis zum Zerreißen gespannt: Zum einen erscheint er als Absolutum, als gleichermaßen faszinierendes wie erschreckendes „Ding“; zum anderen aber wohnt ihm ein rätselhaftes Begehren inne, dessen genauer Inhalt letztlich für beide Seiten ungreifbar bleibt: „Che voui?“, „Was willst du?“, lautet die un- lösbare Frage an den Anderen, die sich in diesem Moment stellt. Vielleicht kann man die Konstellation mit der Situation Josef K.s aus Kafkas Process vergleichen: Von einer Instanz – in diesem Fall dem Gericht – ins Visier ge- nommen zu sein, die einerseits als allmächtige und ubiquitäre Institution er- scheint, andererseits jedoch den Gegenstand ihres Interesses an K., das heißt den Inhalt der Anklage, zu keinem Zeitpunkt artikuliert.15 Aber auch Handke zielt in Publikumsbeschimpfung darauf ab, die Zuschauer einem solchen Blick auszusetzen (und sie damit zugleich ihrer „voyeuristischen“ Sicherheit zu be- 14 Vgl. hierzu auch die von Lacan autorisierte Zusammenfassende Wiedergabe der Seminare IV- VI durch Jean-Bertrand Pontalis. Aus dem Französischen v. Johanna Drobnig, unter Mitarb. v. Hans Naumann und Max Kleiner, mit einem Vorw. v. Hans-Dieter Gondek, hg. v. Hans- Dieter Gondek und Peter Widmer, Wien, 2008. 15 Ein ähnliches, weniger drastisches Beispiel wäre das Unbehagen, das einen zuweilen überfal- len kann, wenn man eine institutionelle Auszeichnung (z. B. einen Titel) erhält oder eine neue Stelle antritt: Was mag der Grund der Zuwendung, des Interesses sein, das die Institution an mir hegt? Kann ich ihm gerecht werden? Ist nicht alles ein Missverständnis? Der berühmte, für Lacan wie Deleuze/Guattari wichtige Fall Schreber hat denn auch genau mit einer solchen „paranoischen“ Situation zu tun: Schrebers Psychose brach aus, als er überraschend zum Ge- richtspräsidenten ernannt wurde. (Zu einem möglichen Bezug zwischen Schreber und Kafka vgl.: Eric Santner, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Zürich, Berlin, 2010.) WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 215 rauben). „Sie empfinden das Unbehagen derer, die angeschaut und angespro- chen werden, wenn Sie von vorneherein bereit waren, selber im Dunkeln zu schauen und es sich behaglich zu machen“16, heißt es in seinem Stück. Und in Bezug auf Chétouane lässt sich festhalten, dass auch seine Choreographien ein ähnliches Moment kennen: Regelmäßig treten in ihnen Spieler hervor, um ein- zelne Zuschauer mit Blicken zu fixieren, die in ein und demselben Moment als durchbohrend und leer wahrgenommen werden, als zielten sie auf etwas, das sich zugleich innerhalb und jenseits der angeblickten Person befindet. Nicht in jeder Inszenierung haben die Blicke diese Funktion, in Publikumsbeschimp- fung jedoch werden die – oder besser: einzelne – Zuschauer öfter solchen sphinxhaften und als durchaus unangenehm erfahrenen Momenten ausgesetzt. Von einer Instanz angesprochen oder „gemeint“ zu sein, die selbst nicht sa- gen kann, was der Grund ihrer Zuwendung ist, wird also in hohem Maße als krisenhaft empfunden. Für gewöhnlich bewegen sich die Reaktionen, bei allen möglichen Abstufungen, zwischen zwei Polen: der als unerträglich intensiv empfundenen Nähe des Anderen zu entfliehen (was den Versuch einschließt, diesen zu beseitigen), oder danach zu streben, sein rätselhaftes Begehren „kor- rekt“ zu beantworten. Aus psychoanalytischem Blickwinkel definieren diese beiden Pole darum das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Kind, inso- fern dieses zwischen Flucht/Aggression und „inzestuöser“ Einheitsphantasie changiert. Die „Alles oder nichts“-Spannung dieser Situation ist erst durch das Dazwischentreten einer dritten Instanz, einer – väterlich konnotierten – Sperre oder Barre, zu bewältigen. Dabei müssen die Klischees, Verkürzungen und auch Polemiken, die sich seit Entstehung der Psychoanalyse um diese Inter- vention ranken, hier nicht noch einmal aufgezählt werden; entscheidend ist der paradoxe Kern der Konstruktion: Die väterliche Grenzziehung verbietet etwas – den Versuch, eine dyadische Einheit, ein „totales Genießen“ herzustellen – das ohnehin unmöglich wäre. Damit aber stellt sie die Dyade letzten Endes als möglich dar. Denn die „Barre“ lässt das, was sie absperrt, im selben Moment als grundsätzlich erreichbar erscheinen, gerade weil sie es unerreichbar macht. Und an diese Illusion kann sich nun ein Begehren knüpfen, das sich als fort- währender Drang zur Überschreitung darstellt und letztlich mit dem Aufschub synonym ist. Begehren ist in dieser Version eine niemals zu befriedigende Suche nach dem Absoluten, was es zugleich zentralperspektivisch ausgerichtet erscheinen lässt. Es handelt sich um ein melancholisches Begehren, denn alle Gegenstände, die es zu erfüllen versprechen, bleiben Trug- und Ersatzobjekte, die höchstens vorübergehende „Entladungen“ zulassen. Mit anderen Worten heißt das: Die paternale Geste des (zeitlichen) Aufschubs installiert letztlich einen illusorischen Ort, der niemals eingenommen werden kann – Freud ver- ortet hier etwa die mythische Figur des Urvaters. Dieses Moment verleiht der gesamten Anordnung Züge der Kant’schen Transzendentalphilosophie, auch wenn es sich lediglich um einen „Quasi-Transzendentalismus“ handelt. 16 Handke (1969), Publikumsbeschimpfung, S. 190. 216 SEBASTIAN KIRSCH Für das Thema der Bühne ist nun von Bedeutung, dass das Begehren von den beiden Größen des Bildes und der Zeit abhängt. Denn zum einen wird die rätselhafte „Anrufung“ durch den Anderen zunächst mit phantasmatischen oder auch fetischistischen Imaginationen beantwortet, die stabilisierende, aber notwendig falsche Antworten über deren konkrete Inhalte liefern – ähnlich wie Josef K. in Kafkas Process beständig über den Inhalt der Anklage phanta- siert, um auf seine Verhaftung reagieren zu können. Oder vielleicht auch wie der Zuschauer, der von Chétouanes Tänzern qua Blick fixiert wird und unwill- kürlich über die Motivation der Blicke zu rätseln beginnt („Was bedeutet die- ser Blick?“, „Warum bin gerade ich aus der Menge der Zuschauer ausgewählt worden?“). Aber auch der Vater baut in dem Moment, in dem er die Anrufung durch die Verhängung der „Barre“ abmildert, ein Trugbild auf. Er unterbricht zwar die momentane Illusion, das heißt die Vorstellung, die Phantasie über das Begehren des Anderen sei dessen gültige Repräsentation, lässt aber die Illu- sion bestehen, dass es grundsätzlich eine vollständige Antwort/Repräsentation geben könne. Die beruhigende und zugleich aktivierende Funktion dieses Phantasmas besteht darin, dass sie den wahren Schrecken verbirgt, die Tatsa- che nämlich, dass der Andere sich selbst fremd ist, selbst nicht wissen kann, worauf sein Begehren in letzter Instanz zielt. Oder um noch einmal das Bei- spiel des Process heranzuziehen: Viel unheimlicher als einer zwar unbekann- ten, aber grundsätzlich konsistenten Anklage gegenüberzustehen wäre die Er- kenntnis, dass das Gericht selbst nicht die geringste Ahnung hat, warum es ei- nen anklagt. Das Moment der Zeit wiederum kommt durch den Aufschub ins Spiel, der mit der Barre eingesetzt wird. Es handelt sich zwar nicht so sehr um eine te- leologische als vielmehr um eine messianische Zeitlichkeit, die aber dennoch von einem illusorischen Zielpunkt, einem Absolutum abhängt: Von der Mög- lichkeit eines totalen Genießens, die freilich nur an einem vollständig unmög- lichen Zeitpunkt, im Außerhalb jeder denkbaren Zeit lokalisiert und niemals realisiert werden kann. Gelingende Genealogie kann aus dieser Perspektive also nur „gelingendes Scheitern“ sein: Die Bedingung der Unmöglichkeit des Begehrens ist zugleich die Bedingung seiner Möglichkeit. Dabei neigt die illu- sorische Stelle des vollständigen Genießens (des totalen Bildes, der erfüllten Zeit) dazu, sich noch im aufgeklärtesten oder kritischsten Wissen um die Un- vollständigkeit jeder Repräsentation zu erhalten. Sie stellt gewissermaßen die beharrlich wiederkehrende Rückseite, vielleicht sogar die unhintergehbare Voraussetzung eines solchen Wissens dar. Um etwa in einen Dialog mit einem Anderen zu treten, müssen wir uns einerseits permanent selbst unterbrechen und uns daran erinnern, dass wir ihn (noch) nicht verstanden haben; zugleich kommen wir aber nicht umhin, mit dem Moment einer grundsätzlichen Ver- stehbarkeit zu operieren, wie sehr wir auch um dessen illusorischen Status wissen oder es als absolut entzogen setzen. Vielleicht kann man in der Unhin- tergehbarkeit dieser Illusion, die sich gerade in „antihermeneutischen“ Prakti- ken immer wieder einstellt, darum auch jene Seite der Dekonstruktion sehen, WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 217 mit denen Chétouane in seiner eingangs zitierten Bemerkung hadert (und zwar bei aller gebotenen Vorsicht und allen Detailunterschieden zwischen den Kon- zepten des Anderen in Psychoanalyse und Dekonstruktion). Entscheidend ist jedenfalls, dass im Modell des Vaters die Erfahrung der notwendigen Unvollständigkeit und der Unerreichbarkeit des Anderen (auch für diesen selbst) mit der phantasmatischen Bindung des Begehrens und dem zeitlichen Muster der genealogischen Abfolge verknüpft wird. Und vor diesem Hintergrund lässt sich nun genauer beschreiben, inwiefern dieses Modell soli- darisch mit solchen Bühnenformen ist, die einerseits die Bildlichkeit in den Vordergrund stellen (und sei es in repräsentationskritischer Absicht) und die andererseits zeitliche Abläufe aus ihrer räumlichen Einbettung herausdifferen- zieren. Zunächst handelt es sich bei diesen beiden Merkmalen in der Tat um die wichtigsten Charakteristika des Übergangs zu den (früh-)neuzeitlichen Guck- kästen nach 1600. Dabei gibt es vor allem eine barocke Bühnenanlage, die wie eine direkte architektonische Umsetzung des gesamten Zusammenhangs wirkt: Die Bühne von Andrea Pozzo, die man geradezu als Idealmodell einer „Bühne des Begehrens“ oder auch einer „Bühne der Genealogie“ bezeichnen könnte.17 Denn einerseits richtet Pozzo zum ersten Mal ein Theater vollständig unter dem Kriterium der konfrontativen Bildlichkeit ein, während der Zusammenhang von Zeit und Raum zerreißt, der speziell den mittelalterlichen Stationenbühnen als eschatologische Verklammerung eingesenkt war – der Guckkasten inszeniert zeitliche Abläufe als Nacheinander von Bühnenbildern, nicht als Nebeneinander von Stationen, die in einen einzigen Raum, eine einzige Landschaft eingebettet sind. Und andererseits installiert Pozzo den einzigen Betrachterstandpunkt, von dem aus man das Bühnenbild unverzerrt sehen könnte, als unmöglichen Platz in der Rückwand hinter den Zuschauern, so dass in seinem Theater streng genom- men jeder auf dem falschen Platz sitzt, jeder ein unvollständiges Bild hat. Der ideale Ort des unmöglichen Betrachters entspricht damit exakt der uneinnehm- baren, quasi-transzendentalen Stelle des Freud’schen Urvaters, oder auch des totalen Genießens im Außerhalb jeder denkbaren Zeit. Zumindest potenziell ist mit ihm aber auch die kritische und sogar demokratische Funktion dieser Büh- nenanlage verbunden: Niemand kann hier von sich behaupten, das richtige Bild zu haben, stattdessen muss die „Wahrheit“ des Gesehenen ausgehandelt werden, ohne dass sich jemand zum Statthalter der letztgültigen Repräsentation machen könnte. Der Un-Ort des unmöglichen Betrachters lässt sich darum auch als eine leere Referenz deuten, die weniger Gründungen als vielmehr „Verabgründun- gen“18 zulässt. 17 Vgl. zur Einrichtung von Andrea Pozzos Bühne: Ulrike Haß, Das Drama des Sehens, Mün- chen, 2005, S. 366-380. 18 Vgl. zum Begriff der „Verabgründung“ Nikolaus Müller-Schöll, Das Theater des konstrukti- ven Defaitismus. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, Frankfurt/M., 2002. 218 SEBASTIAN KIRSCH Speziell wegen dieses demokratischen Moments der Pozzo-Bühne ist zu be- tonen, dass es keinen Grund gibt, ihr Modell vorschnell und erst recht nicht im Sinn einer Fortschrittsgeschichte zu „verabschieden“. Dennoch gilt es, nach ihrem möglichen Jenseits zu fragen, was die Frage nach dem Jenseits des vä- terlichen Referenzmodells, des Begehrens und damit auch des genealogischen Prinzips einschließt. Und eben hier gewinnt nun Lacans Einführung des Triebs als einer Gegenfigur zum Begehren an Bedeutung. Zunächst ist dabei festzu- halten, dass der Trieb in einem Jenseits des Phantasmas (und damit des Bildes) lokalisiert ist, von dem das Begehren ja abhängt. Wenn Lacan die Analyse als einen Prozess fasst, in dem es darum gehe, das Phantasma zu „durchqueren“19, dann kann man also folgern, dass die Zone des Triebs sich idealiter mit dem Ende einer Analyse öffnet – was allerdings sofort wieder alle Fragen nach teleologischem Verlauf, zeitlicher Folge und Grenzziehung ins Spiel bringt. Schon deswegen gilt es darauf zu beharren, dass Begehren und Trieb nicht ab- solut voneinander abgelöst werden können, wiewohl sie topologisch zwei ge- trennte Sphären markieren. Der Versuch einer realen Isolierung dürfte jeden- falls sehr schnell in Totalitarismus umschlagen. Die Differenz lässt sich, entlang der Einführung des Triebs in Seminar XI20, zunächst in einer Reihe von Entgegensetzungen fassen: Wo das Begehren in seinem Bezug auf das Absolute notwendig unerfüllt bleibt, da ist der Trieb im- mer schon erfüllt, sogar übererfüllt von Genießen. Wo das Begehren Produkt einer väterlichen „symbolischen Kastration“ ist und damit in eine Dialektik von Gesetz und Überschreitung verstrickt bleibt, da spielt der Trieb in einem Jenseits des Gesetzes (das freilich nicht ohne Bezug zum Gesetz ist). In ihren Extremformen lautet die Logik des Begehrens deswegen: „Ich möchte das Ge- setz überschreiten, darum brauche ich es“, die Logik des Triebs hingegen: „Ob ich das Gesetz überschreite oder nicht, ist mir gleichgültig.“ Und wo schließ- lich der vertikale Fluchtpunkt des Begehrens im unerreichbaren Ding liegt, als dessen Substitut diverse Wunschobjekte auftreten, da beginnt das Reich des Triebs in dem Moment, wo die Totalität des Dings sich als Chimäre entpuppt und sich in eine horizontale, nicht mehr perspektivisch gebundene Vielzahl oder Mannigfaltigkeit zerstreut. In Seminar XI gibt Lacan vom Trieb mehrere recht heterogene Bilder, was vermutlich den letztgenannten Aspekt der Vielzahl reflektiert. Im Kontext der choreographischen Arbeiten Chétouanes mit ihren topologischen Verflechtun- gen von Körpern (und Dingen) ist dabei das dritte Bild am aufschlussreichs- ten, das zusammen mit dem Aspekt der räumlichen Relationen auch ein Mo- ment des Schönen ins Spiel bringt und zugleich in überraschender Nähe zu Deleuzes Begriff der Assemblage oder des Gefüges steht: „Ich möchte sagen“, heißt es bei Lacan, 19 Vgl. etwa Lacan (1978), Seminar XI, S. 288. 20 Ebd., insbes. S. 127-210. WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 219 wenn der Trieb irgendeiner Sache gleichsieht, dann einer Montage. Und zwar nicht einer Montage, die perspektivisch auf Zweckhaftigkeit bezogen wäre. [...] Die Montage beim Trieb präsentiert sich zuallererst ohne Schwanz und Kopf – so wie man bei den Collagen der Surrealisten von Montage spricht. [...] Das Bild, das entsteht, [würde] eine in Gang befindliche Lichtmaschine darstellen, die an einen Gashahn angeschlossen ist, aus dem eine Pfauenfeder herausragt, die eine hübsche Frau am Bauch kitzelt, welche nur der Schönheit der Sache we- gen da ist.21 Damit lässt sich noch ein letzter, entscheidender Unterschied zwischen Begeh- ren und Trieb formulieren: Das Begehren bleibt letztlich beschränkt auf eine Dimension, die man die des Einzelwesens nennen könnte – deswegen ist seine Genese so deutlich verbunden mit dem, wenn auch struktural erweiterten oder in politische Souveränitätsstrukturen übersetzbaren familialen Rahmen. In die- sen Kontext gehört aber auch die Fixierung des Begehrens auf die Figur eines herausgehobenen Anderen. (Noch einmal bei Chétouane: Der Blick auf einzel- ne, aus dem Publikum herausgerissene Zuschauer.) Mit dem Trieb hingegen öffnet sich die Sphäre der heterogenen und unabschließbaren Vielheit, die im Kontext des Theaters als Sphäre des Chorischen entziffert werden kann. Diese Sphäre ist es, die durch eine Überbetonung des Begehrens vernachlässigt wird und die, kein Zufall, in Pozzos Bühnenform vor allem als Störfaktor auftaucht. Insofern wird Lacans Frage nach dem Trieb auch als Teil einer Suche nach einer zweiten, „chorischen“ Dimension des Subjekts lesbar, die seiner Deter- minierung durch eine väterliche Genealogie unauflösbar widerstreitet. Aller- dings ist die Asymmetrie dieses Widerstreits zu betonen. Begehren und Trieb spielen genauso wenig auf einer Ebene wie Einzelwesen und Chor. Sie sind daher auch nicht in Begriffen der Komplementarität oder des dialektischen Widerspruchs zu fassen. Am deutlichsten wird das, wenn man sich in Erinne- rung ruft, dass die Sphäre des Begehrens mit dem Thema (und auch mit der Kritik) der Institutionen zusammenhängt, z. B. mit den Verfasstheiten von Fa- milie, Gericht, politischer Souveränität oder eben der Bühne ab 1600. Mit der Sphäre des Triebs scheint sich hingegen die Frage eines weit weniger diskur- siv artikulierbaren Jenseits jeder, zumindest jeder bekannten, Institution zu öffnen: weniger die Frage der Anti- als vielmehr die der Nicht-Institution. Der Unterschied lässt sich darum auch so formulieren, dass das Begehren untrenn- bar mit der Tatsache des Sprechens, des Signifikanten, verknüpft ist, während die unvermittelte Montage des Triebs ein Jenseits des Signifikanten eröffnet, das allerdings nicht ohne Bezug zum Signifikanten ist.22 Und vielleicht ist es 21 Ebd., S. 178. 22 Neben der surrealistischen Montage ist darum Lacans zweites Bild für den Trieb in Seminar XI (S. 206-209) von Interesse: Der Mythos der „Lamelle“, eines untötbaren Lebens, das „kei- nes Organs bedarf“ (S. 207), jede Gestalt annehmen kann und sich wie eine unmögliche Figu- ration der Lebenskraft unterhalb der sprachlichen Struktur ausnimmt. Lacan ist hier in großer Nähe zu Deleuze/Guattari, die mit ihrem „organlosen Körper“ den Akzent auf (zumindest scheinbar) nicht-sprachliche Vitalkräfte setzen. Dennoch bleibt die abgründige Frage nach 220 SEBASTIAN KIRSCH genau diese Differenz, die mit Chétouanes Wechsel von Sprech- und Tanz- theater auf dem Spiel steht. Diese Bemerkungen führen zurück zu Publikumsbeschimpfung. Publikumsbeschimpfung II: Wie man einen Quantensprung tanzt Zunächst lässt sich nun deutlicher erkennen, was es mit den beiden verschie- denen Organisationsprinzipien von Chétouanes Inszenierung auf sich hat, mit der „3 + 1“-Struktur und der einen, in sich differenzierten Menge: Es handelt sich exakt um den Unterschied zwischen den Registern des Begehrens und des Triebs. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Zouks besondere Position innerhalb der „3 + 1“-Konstellation mit Lacans Begriff des Objekt a korreliert, das in der „Gesamtmenge“ keine Rolle mehr spielt. Denn in seiner Funktion als gleichermaßen faszinierendes wie irritierendes und auch störendes Etwas ist das Objekt a mit dem Begehren verknüpft und zudem in grundlegender Weise auf die Ordnung des Bildes (des Phantasmas) bezogen. Im Register des Triebs hingegen taucht es als solches nicht auf. Eher könnte man sagen, dass dort alles gleichermaßen Objekt a ist, und darum nichts mehr. Aus diesem an- deren Status der Dinge und Objekte, die vom Trieb unaufhörlich neu montiert und gruppiert werden, erklärt sich darum auch ihre besondere affektive Kraft – und es scheint mir letztlich genau diese Kraft zu sein, die in Chétouanes Tanz- stücken den Effekt des Schönen hervorbringt. Was bedeutet das nun für die Haltung der Inszenierung gegenüber Handkes Text? Schaut man sich Handkes „Antitheaterstück“ noch einmal genauer an, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass es nach wie vor im Feld des Begehrens (und seiner Bühne) spielt. Es markiert gewissermaßen den äußers- ten Rand dieses Feldes, das gleichwohl seine grundlegende Referenz ist. Ché- touane unternimmt demgegenüber den „Quantensprung“ ins Feld des Triebs, das aber dennoch in verschiedenen Aspekten unauflöslich mit dem Begehren verbunden bleibt. Vor allem auf drei Ebenen der Inszenierung wird das deutlich. Zunächst zielt natürlich eine Publikumsbeschimpfung grundsätzlich auf eine konfrontati- ve und damit bildliche Anlage, wobei hinzuzufügen ist, dass die eigentliche Beschimpfung erst am Ende von Handkes Stück steht: Auch Handke spielt be- reits mit dem Entzug einer direkten Beschimpfung. Nichtsdestotrotz durch- zieht seinen Text ein bestimmtes Bild (oder soll man sagen: ein notwendiges Phantasma?) von der Beschaffenheit des Uraufführungspublikums – eben die Tatsache, dass dieses sich zumindest zum Teil aus Zuschauern zusammenset- zen musste, die in der ein oder anderen Weise in die NS-Geschichte verstrickt waren. Darauf zielen sowohl die zu Beginn bereits zitierten Assoziationen der Vorgängigkeit und Nachträglichkeit des Signifikanten, auf die ich keine letztgültige Antwort habe. WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 221 Theaterarchitektur mit einer totalitären Saalordnung als auch manche direkte Anreden: „Ihr KZ-Banditen“, „Ihr Genickschussspezialisten“, „Ihr Nazi- schweine“.23 Chétouanes Inszenierung hingegen nimmt dieses dialogische Mo- ment, das ein Wissen um die mögliche Beschaffenheit des Publikums, und da- mit um seine wie auch immer aufgeschobene Darstellbarkeit, voraussetzt, ent- schlossen zurück, um im selben Moment von der Bildlichkeit zum Raum und zum tänzerischen Miteinander zu wechseln. Konfrontativ bleiben in seiner Publikumsbeschimpfung vor allem die bereits erwähnten Fixierungen einzel- ner Zuschauer, die an die Stelle der meist gestrichenen zeitgeschichtlichen Be- züge treten. Wichtigstes Mittel für diese Rücknahme ist eine spezifische Art zu spre- chen, die nicht zuletzt gegenüber Claus Peymanns Uraufführung vollkommen verändert scheint (wenn man Zeitzeugen glaubt). Denn die Sätze der Publi- kumsbeschimpfung von 2010 sind mit wenigen Ausnahmen auch dort, wo sie inhaltlich als Anrede geführt werden, niemals direkt gerichtet. Stattdessen las- sen die drei Sprecher die Worte langsam und fast monoton aus ihren Mündern in den Raum fließen, wo sie sich zu einem eigenen, nicht dialogischen Gebilde verbinden, zu einer beweglichen Sprach- und Hörskulptur, die sich wie ein Drittes zwischen Zuschauerraum und Bühne ausbreitet. Der Tonfall ist dabei niemals aggressiv, auch nicht in der finalen Beschimpfung, im Gegenteil: Er bleibt während der gesamten Inszenierung gleichermaßen distanziert wie freundlich; eine Eigenart, die sich vielleicht auch als Brecht’sches Element be- schreiben lässt. Es handelt sich weder um ein wertendes noch um ein urteilen- des Sprechen, die Dinge bleiben buchstäblich in der Schwebe – analog zum Modus des Triebs, der nicht entscheidet, nicht bevorzugt, keine Grenzen zieht, sondern montiert. Mit diesen Bemerkungen ist bereits die zweite Ebene berührt. Für Handkes Text ist eine grundsätzliche Negativität charakteristisch. Seine häufigsten Vo- kabeln sind „nicht“ und „kein“: „Wir sind keine Darsteller. Wir stellen nichts dar. Wir stellen nichts vor.“24 usw. In weiten Teilen liest Publikumsbeschimp- fung sich darum als gigantischer Negativkatalog aller nur denkbaren Theater- traditionen, die eine nach der anderen ad acta gelegt werden. Aus dieser manchmal geradezu gebetsmühlenartig wirkenden Negation (es ist vermutlich nicht nur ironisch, wenn eine der vorangestellten „Regeln für Schauspieler“ empfiehlt: „Die Litaneien in den katholischen Kirchen anhören“25) bezieht Handkes Stück eine Kraft, die deutlich der destruktiven Seite des Begehrens entspricht. Denn dieses kann auch die Gestalt einer seriellen Zurückweisung annehmen: Jedes erreichbare oder mögliche Objekt wird dann als Trugbild, als unzulängliche Repräsentation des Absoluten abgelehnt oder sogar zerschmet- tert. Man kann hier auch an die Anorexie denken, die Lacan zufolge ebenfalls 23 Handke (1969), Publikumsbeschimpfung, S. 209. 24 Ebd., S. 187. 25 Ebd., S. 180. 222 SEBASTIAN KIRSCH eine Formation des Begehrens ist: Durch die Zurückweisung jeder möglichen Speise wird nicht nichts gegessen, sondern „das Nichts“.26 Und vielleicht ist es nicht übertrieben, wenn man Handkes Publikumsbeschimpfung einen anorekti- schen Zug bescheinigt. Wieder setzt Chétouanes Inszenierung genau an dieser Stelle an: Nicht nur der freundliche Tonfall widerstreitet der negativen Kraft des Textes. Wie eingangs bereits angedeutet, werden Handkes Negationen auch beständig durch die „positiven“ Aktionen auf der Bühne konterkariert, auch wenn diese häufig in sich noch einmal ironisch gebrochen sind: Bei- spielsweise wenn die angeblich nicht vorhandene Hintertür umso stärker be- spielt wird, oder wenn auf den Satz „Ihnen wird kein Spiegel vorgehalten“27 hin ein Handspiegel an der angedeuteten Rampe entlanggetragen wird. (Der einen allerdings durch die Lichtreflexe der Scheinwerfer eher blendet als dass man darin etwas erkennen könnte.) Drittens schließlich geht Handkes radikale Verneinung aller Traditionen mit einer Emphase der Gegenwart oder der Jetztzeit einher, die durchaus charakte- ristisch für eine avantgardistische Rhetorik des Bruchs ist. „Hier gibt es nur die Zeit, die wir, wir und Sie, am eigenen Leibe erfahren. Hier gibt es nur eine Zeit“, heißt es in Publikumsbeschimpfung28, oder: „Hier herrscht keine andere Zeit. Hier ist die Zeit Herrscherin, die nach Ihrem Atem gemessen wird.“29 Oder auch: „Hier gibt es nur ein Jetzt und ein Jetzt und ein Jetzt.“30 Diese Be- schwörung des Momenthaften ist durchaus ambivalent. Sie kann einerseits als Feier der „Live-Situation“ verstanden werden, die letztlich eine Form des Ver- suchs darstellt, jenes reine Genießen „hier und jetzt“ zu verwirklichen, das durch das väterliche Gesetz untersagt bzw. als illusorisches Trugbild an einen unmöglichen Ort verschoben wird. Das wiederum ist typisch für einen 68er- Hedonismus, der genau dort problematisch wird, wo er als Ideologie direkter Bedürfnisbefriedigung eventuell nicht einnehmbare Stellen und Orte nicht an- erkennen möchte. Hinzukommt, dass die Rückseite der Jetzt-Feier notwendig die alles andere als unschuldige tabula rasa-Haltung ist, die Handkes Text so eindrucksvoll zelebriert. Andererseits kann man solche Stellen vielleicht auch als serielle Addierung von „Jetzt-Punkten“ lesen, die der Herrschaft der synthetisierten „einen Zeit“ widerstreitet. Problematisch bleibt die Serialität allerdings dann, wenn man sie als temporale Abfolge interpretiert. Denn als solche führt sie, gerade in Kom- bination mit einer avantgardistischen Rhetorik, in einen permanenten Innova- tionsdruck, der kaum von der Logik des Marktes mit seiner Gier nach Neuem, nach neuen „Jetzt-Punkten“, zu unterscheiden ist. Tatsächlich affirmiert Hand- ke in frühen Essays und Reden, etwa in „Ich bin ein Bewohner des Elfenbein- 26 Lacan (1978), Seminar XI, S. 110. 27 Handke (1969), Publikumsbeschimpfung, S. 185. 28 Ebd., S. 198. [Herv. S. K.] 29 Ebd., S. 193. 30 Ebd., S. 192. WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 223 turms“31, bei näherem Hinsehen diesen Innovationsdruck: Es gehe darum, ständig neue künstlerische „Methoden“ zu erfinden, weil jede Methode schon bei ihrer zweiten Anwendung zur „Schablone“ geworden sei, der sich dann die Werbung und die Trivialkunst bemächtigen könnten. In dieser Haltung liegt zwar ein wahres Moment, andererseits zwingt sie aber den Künstler dazu, in einen Wettlauf mit dem Markt oder auch dem „Spektakel“ einzusteigen, den er nicht gewinnen kann. Auch diese beiden Aspekte konterkariert Chétouanes Inszenierung. Zu- nächst einmal problematisiert besonders eine Szene überdeutlich den Zusam- menhang von Jetzt-Feier und tabula rasa: Die Spieler tragen Wischmobs, Ei- mer und Bürsten herein und beginnen buchstäblich, die Bühne zu säubern, was auch an die Thematik der „Säuberung“ im Nationalsozialismus (und darüber hinaus) denken lässt. Doch natürlich ließe sich die Bühne nur dann vollständig reinigen, wenn die Spieler sich selbst mit wegwischen würden oder auch die Bürsten sich selbst bürsten könnten. Wie man es also dreht und wendet – es bleibt immer ein Fleck übrig, ein Ort, der nicht eingenommen werden kann. An dieser Stelle wechselt die Inszenierung gerade nicht ins Feld des Triebs, sondern (re-)installiert gewissermaßen die väterliche „Barre“, deren Zerstö- rung die hedonistische Beschwörung des reinen Jetzt gilt. Grundsätzlich allerdings widersetzen sich auch diesmal wieder der beson- dere Modus des Sprechens und das choreographische Element der Herrschaft sowohl der einen Zeit als auch der Abfolge der Jetzt-Punkte. Den spezifischen Gestus des Sprechens könnte man nämlich auch – was noch einmal die Brecht’sche Referenz hervorhebt – als den des Zitierens beschreiben. In und mit der „Sprachskulptur“, in der die Dinge nicht entschieden sind und in der Schwebe bleiben, öffnet sich ein Erinnerungs- und Gedächtnisraum, dessen spezifische Eigenschaften zusammen mit der Montage des Lacan’schen Triebs auch an Deleuzes/Guattaris Werdensbegriff erinnern. Denn die historischen Schichten und Momente erscheinen hier in ihrer Offenheit. Sie haben noch nicht ihre, vermeintlich, finale geschichtliche Gestalt angenommen und sind gerade deswegen in der Lage, neue und andere Zusammenstellungen und Kon- stellationen einzugehen. Genau dasselbe gilt für die tänzerischen Gesten und Bewegungen, die letztlich nichts anderes sind als sich beständig neu schrei- bende Relationen: eine Choreographie der „verzweigten Gegenwarten“32. Und wie das Sprechen erweckt auch diese Art des Tanzes den Eindruck, alle Zeiten in sich zu enthalten – mit der einen, entscheidenden Ausnahme der Jetztzeit. Das wiederum bedeutet eine direkte Umkehrung oder Umfaltung der Geste des „Hier und Jetzt“, die ja alle Zeiten zugunsten der einen Gegenwart suspen- dieren möchte. 31 Peter Handke, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, in: ders. (1969), Prosa Gedichte Theaterstücke Hörspiel Aufsätze, S. 263-272. 32 Vgl. Ulrike Haß’ gleichnamigen Text über Chétouanes Tanzstücke #3 und #4, in: Martina Groß/Patrick Primavesi (Hg.), Lücken sehen ...: Festschrift für Hans-Thies Lehmann zum 66. Geburtstag, unter Mitarbeit v. Katja Leber, Heidelberg, 2010, S. 291-302. 224 SEBASTIAN KIRSCH Von der Genealogie zur Nicht-Genealogie? Die Bühne des Triebs – die man auch als Bühne einer anderen Genealogie be- zeichnen könnte – ist, zumindest bislang, vor allem als Einbruch in die Matrix der Bühne des Begehrens oder eben der väterlichen Genealogie, als deren Um- faltung formulierbar, nicht aber substanziell oder gar im Rahmen einer dauer- haften institutionellen Setzung zu fassen. Das liegt letztlich am Verhältnis von Trieb und Begehren, das dem eines Möbiusbandes gleicht: Der Trieb markiert zwar eine Sphäre im Jenseits des Gesetzes, steht aber dennoch in einem Bezug zu ihm. Allerdings heißt das nicht, dass diese Sphäre, wo sie im Theater her- vortritt, die genealogische Bühne auch architektonisch voraussetzen würde; sie kann vielmehr auch und gerade in Räumen und an Orten inszeniert werden, die mit klassischen Theaterbauten wenig bis nichts zu tun haben. Nur wäre es eben ein Irrtum, dies als ein absolutes Jenseits oder ein zeitliches „Zurück“ vor den Einzug der Theater in die Innenräume um 1600 zu verstehen: Da diese Bewegung zum einen ein Produkt der barocken „Immanentisierung“ der Welt (Walter Benjamin)33 gewesen ist und sie zum anderen auch als grundsätzliche Markierung medialer Vermitteltheit begriffen werden kann, läuft der vor- schnelle Auszug aus diesen Innenräumen immer Gefahr, präsenzmetaphysi- schen Wiederverschmelzungsphantasien nachzugeben. (Eine Gefahr, die bei- spielsweise die Ausgabe des Theaterfestivals Impulse von 2011 eindrücklich demonstrierte, deren Performances fast ausnahmslos unter dem Zeichen einer narzisstisch anmutenden Feier – oder eher Party – der Anwesenheit standen, die gerade nichts mit der Logik des Triebs zu tun hat.) Nun scheint sich heute freilich die Bindekraft des genealogischen Prinzips, der einen der beiden Seiten also, auf einen Nullpunkt hinzubewegen, ohne dass auch nur annähernd deutlich wäre, was an ihre Stelle treten könnte – eine Situation, die schon deswegen ein Dilemma darstellt, weil diese Seite trotz all ihrer fragwürdigen Momente mit den Institutionen der repräsentativen bzw. parlamentarischen Demokratie verbunden ist. Umso stärker können sich daher in unbegriffener und sprachloser Form die Figuren des „nicht-genealogischen“ Pols mit den leerlaufenden institutionellen Logiken verbünden. Allerdings hat diese Melange kaum mehr das poetische Spiel mit „verzweigten Gegenwar- ten“ zur Folge, sondern eher das universelle Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom einer „Hyper Attention“ (Bernard Stiegler)34. Ganz zu schweigen von neuen, nicht mehr zentralistisch lokalisierten Formen des Autoritarismus, die sie her- vorbringt. Chétouanes choreographische Arbeit kann auch als Versuch begrif- fen werden, eine Sprache für diese Gemengelage zu finden, die vermutlich die 33 Vgl. Walter Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: ders., Gesammelte Schrif- ten, Band I.1, Frankfurt/M., 1974, S. 203-430. 34 Vgl. Bernard Stiegler, Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Frankfurt/M., 2008; und ders., Von der Biopolitik zur Psychomacht. Die Logik der Sorge I.2, Frankfurt/M., 2009. WIE MAN EINEN QUANTENSPRUNG TANZT 225 politische Signatur des 21. Jahrhunderts zunehmend prägen wird. Insofern ist der Hintergrund seiner Tanzstücke bei aller Schönheit alles andere als heiter. Literatur Angerer, Marie-Luise, Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich, Berlin, 2007. Benjamin, Walter, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: ders., Gesammelte Schriften, Band I.1, Frankfurt/M., 1974, S. 203-430. de Man, Paul, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M., 1993. Handke, Peter, „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, in: ders., Prosa Gedichte Theaterstücke Hörspiel Aufsätze, Frankfurt/M., 1969, S. 263-272. Ders., Publikumsbeschimpfung, in: ders., Prosa Gedichte Theaterstücke Hörspiel Auf- sätze, Frankfurt/M., 1969, S. 180-211. Haß, Ulrike, Das Drama des Sehens, München, 2005. Dies., „Verzweigte Gegenwarten. Zu den Tanzstücken #3 und #4 von Laurent Chétouane“, in: Martina Groß/Patrick Primavesi (Hg.), Lücken sehen ...: Festschrift für Hans-Thies Lehmann zum 66. Geburtstag, unter Mitarbeit v. Katja Leber, Heidelberg, 2010, S. 291-302 Hörl, Erich, „Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technik im An- schluss an Jean-Luc Nancy“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2010), S. 129-147. „Im Konzept-Schutzgebiet. Laurent Chétouanes Hommage an das Zaudern“, in: F.A.Z. vom 17.12.2011, S. 38. Kedves, Alexandra, „Handkes Bildersturm als Körpertheater“, in: Tagesanzeiger vom 09.10.2010. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Berlin, Weinheim, 1978. Müller-Schöll, Nikolaus, Das Theater des konstruktiven Defaitismus. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Hei- ner Müller, Frankfurt/M., 2002. Nancy, Jean-Luc, „Parallele Differenzen. Deleuze und Derrida“, in: ders./René Sché- rer, Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze, Zürich, Berlin, 2008, S. 31-50. Peterle, Astrid, „Die Zukunft des Tanzes? Laurent Chétouane mit ‚Horizon(s)‘ im Tanz- quartier Wien“, in: Corpus – Internetmagazin für Tanz Choreographie Performance vom 24.04.2011, online unter: http://www.corpusweb.net/die-zukunft-des-tanzes.html, zuletzt aufgerufen am 12.08.2013. Pontalis, Jean-Bertrand, Zusammenfassende Wiedergabe der Seminare IV-VI. Aus dem Französischen v. Johanna Drobnig, unter Mitarb. v. Hans Naumann und Max Klei- ner, mit einem Vorw. v. Hans-Dieter Gondek, hg. v. Hans-Dieter Gondek und Peter Widmer, Wien, 2008. Santner, Eric, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Zürich, Berlin, 2010. Stiegler, Bernard, Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Me- dien, Frankfurt/M., 2008. Ders., Von der Biopolitik zur Psychomacht. Die Logik der Sorge I.2, Frankfurt/M., 2009.