Rundfunk und Geschichte 47, 2021, Nr. 1–2 Akustische Raumordnungen des A-Falls Reichslautsprechersäulen im Nationalsozialismus Hans Hauptstock und Heiner Stahl Anlässlich des Deutschen Turn- und Sportfests sind in Breslau am 23.6.1938 insgesamt hun- dert Reichslautsprechersäulen in Betrieb genommen worden.1 Die sechseckigen und mit Litfaßsäulen vergleichbaren Bauten, aufgestellt im öffentlichen Stadtraum, ausgestattet mit Lautsprechern und zusammengeschaltet zu einem Drahtfunknetz, dienten dem gemeinschaft- lichen Empfang von Ansprachen, Reden und Bekanntmachungen auf öffentlichen Plätzen. Sie zielten – etwas über ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – aber auch auf Alarmie- rung der Bevölkerung im „A-Fall“, im Angriffs- und Krisenfall ab. Die Breslauer Anlage führte die medientechnologischen Möglichkeiten akustischer Raumbeherrschung vor. Das Vorhaben zielte erstens darauf, die inzwischen nationalsozialistisch dominierten Städte und Gemeinden des Deutschen Reiches zur Anschaffung von Lautsprecheranlagen für Partei- und Sportver- anstaltungen2 zu ermutigen. Zweitens bot diese (medien-)technische Infrastruktur die Ge- legenheit, kommunale Beschallungsnetze zu errichten und die schützende Vorwarnung der Bevölkerung im kriegerischen Angriffsfall in den städtischen (Hör-)Raum zu übermitteln. Im organischen Denken faschistischer Funktionäre und Interessenvertreter diente diese Reichs- lautsprecheranlage als Keimzelle für ein das gesamte Deutsche Reich umspannendes Netz von Stein- und Betonsäulen für die öffentliche Verlautbarung. Allerdings blieb diese Idee me- dialer Raumerschließung letztlich unverwirklicht. In einer Mitte Juli 1936 verfassten Denk- schrift hatte der Geschäftsführer des Reichsverbandes der Funkindustrie, Karl Hintze, noch angekündigt, dass bis etwa 1942 „das Drahtfunksäulennetz mit einer Anzahl von etwa 50000 Säulen über das ganze Reich ausgedehnt werden“3 könne. Dieser vorgestellte Raum besaß keine geografischen Grenzen, lediglich Bereiche des schwächer und spärlicher werdenden Empfangs von Radiosignalen, von Mikrofonstimmen und Unterhaltungsmusik.4 Bei den Luftschutz- 1 Zur Inbetriebnahme vgl. Volkhard Stern: Die Reichslautsprechersäulen in Breslau. Propaganda im öffentli- chen Raum. In: Das Archiv. Magazin für Kommunikationsgeschichte, 2014, Nr. 3, S. 60–64. 2 Heiner Stahl: Die Großlautsprecheranlage in der Mitteldeutschen Kampf bahn und die akustische Politik der NSDAP in Erfurt, 1933–1934. In: Stadt und Geschichte 57 (2014) 2, S. 16. 3 Vgl. Wettbewerb zu Lautsprechersäulen: Denkschrift Hintze vom 19.7.1936, BA Berlin R 4606/522, Bl. 51–67, hier 62. 4 Hans-Ulrich Wagner: Hallo! Hallo! Hier Radio! Geschichte der Radiosignale. In: Gerhard Paul und Ralph Schock (Hg.): Der Sound des Jahrhunderts. Ein akustisches Porträt des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. 12 Hans Hauptstock und Heiner Stahl warnzentralen und der Auslösung von Alarmsirenen vollzog sich nach 1937 ebenfalls eine Kartierung von Raum entlang potenzieller Einflugbedrohungen.5 Solche Netzwerke erlaubten es, Zonen zu markieren und die geografische Beschaffenheit von Orten und Plätzen in Schalt- plänen abzubilden und auf diese Weise zu organisieren. Die mit dem Netzwerk von Lautsprechersäulen imaginierte akustische Beherrschung des öffentlichen Raumes besaß eine technologische, eine propagandistische und eine auf die Warnung der Bevölkerung im Katastrophenfall zielende Dimension. Es entstanden öffentli- che Hör-Räume, in denen zeitlich begrenzt Bewohnerinnen und Bewohner zu Zuhörenden gemacht und zusammengeschaltet werden konnten. Es ließ sich dadurch einerseits die Be- völkerung in unterschiedlichen Teilen des Staatsgebietes erreichen und aus einer abgelenkten desinteressierten ‚Masse‘ ein lauschendes und Ansprachen vernehmendes ‚Volk‘ herstellen. Andererseits entstanden daraus spontane oder gelenkte, aber stets im lokalen Umfeld ver- ankerte Zuhör-Gesellschaften. Volksgenossinnen und -genossen waren zu diesem Zeitpunkt bereits eine exklusive Zuhörerschaft. Diese Medieninfrastrukturen des Klanglichen griffen in die Atmosphären des privaten und öffentlichen (Zu-) Hörens ein. Sie machten Lauschende zu Beteiligten von Hörgemeinschaften und boten gleichzeitig nationalsozialistischen Bürger- meistern Gelegenheit, sich mittels Mikrofon und von ihren Amtstuben aus als lokale Stimm- Führer6 zu inszenieren. Das verschob den bislang bekannten, begriffenen, sinnlich erfassten und gelebten städtischen Raum.7 Diese Klanglandschaft lässt sich als eine inselhafte An- ordnung verstehen – als ein Phonotop – welches durchaus mit der Umwelt im konstanten Austausch steht.8 Das vollzog sich auf ‚Hörwegen‘9, über die sich akustische Stoffe bewegten10 und an ihre Abnehmerinnen und Abnehmer, Konsumentinnen und Konsumenten, an Bürge- rinnen und Bürger gelangten. Die Vorgeschichte: Regionale Anlagen im Rheinland und in Bremen und transnationale Entwicklungen Die in Breslau zur Schau gestellten Beschallungsanlage hatte Vorgänger: Erstens wurden be- reits drei Jahre zuvor im Rheinland als Rundfunksäulen bezeichnete Anlagen aufgestellt; zwei- tens wurde kurz darauf in Bremen eine Großlautsprecheranlage installiert; drittens schließ- Bonn/Berlin 2013, S. 122–127 sowie Hans-Ulrich Wagner: Achtung, Aufnahme! Mikrofonberufe in der Geschichte des Rundfunks. In: Paul/Schock 2013, S. 116–121. 5 Vgl. Dietmar Süß: Warnsignale des Todes. Fliegeralarm und Luftschutzsirenen. In: Paul/Schock 2013, S. 236–239. Ders.: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England. München 2011. 6 Vgl. Cornelia Epping-Jäger: Lautsprecher Hitler. Über eine Form der Massenkommunikation im Nationalsozialismus. In: Paul/Schock 2013, S. 180–185. 7 Vgl. Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972. 8 Zum Begriff Phonotop vgl. Peter Sloterdijk: Sphären. Plurale Sphärologie. Bd. III: Schäume. Frankfurt a. M. 2004, S. 377–386. 9 Zum Begriff Hörweg vgl. Eugen Rosenstock-Huessy: Die Übermacht der Räume. Stuttgart 1956, S. 141ff. 10 Zum Begriff Akustische Stoffe vgl. Helmuth Plessner: Ästhesiologie des Gehörs (1924). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a. M. 1980, S. 221–248. 13Akustische Raumordnungen des A-Falls lich besitzt die Vorgeschichte der Lautsprechersäule auch eine trans- nationale und koloniale Dimension. Die folgenden Beispiele erzählen eine verschränkte Geschichte akustischer Aufmerksamkeitserzeugung und der Gefahrenkommunikation im Alarm- und Katastrophenfall. Da das Reichs- lautsprechersäulennetz auf Abwehrbereitschaft baute, hatte es nach 1939 keine Funktion mehr. Der selbstgeführte Angriffskrieg drehte die Bedrohungslage grundlegend. Die Rundfunksäule war eine Erfindung von Peter Ferlings aus Köln-Dellbrück und Willi Orth aus Brüggen/Erft. Den beiden Entwicklern stellte das Reichspatentamt am 4.12.1934 für eine „Öffentliche Nachrichten- und Propaganda-Säule mit Rundfunk- und Alarm-Anlage“ ein Deutsches Reichsgebrauchsmuster (DRGM) aus.11 Das Gebrauchsmuster bezeichnete die Er- findung als „Nachrichten- und Propagandasäule“, „Plakat- und Anschlagsäule“ sowie „Rund- funk-Säule für öffentlichen Gemeinschaftsempfang“ und „Alarm-Säule, in Fällen dringender Gefahr und Geräte-Auf bewahrungssäule.“12 Der Medienapparat ließ demnach zahlreiche Benutzungen zu. Aufmarschformationen erhielten darüber ihre Befehle. Er ermöglichte das (volks-)gemeinschaftliche Anhören von Führerreden, leitete Zivilschutzübungen durch die Übermittlung von Botschaften, diente als Feuermeldeanlage und Tafel für öffentliche Bekannt- machungen. Zudem ließen sich die Außenseiten an Plakatierungsunternehmen vermieten, die diese Anschlagsflächen wochenweise für Reklamezwecke verkauften. Die Rundfunksäulen- gesellschaft m.b.H. Köln vermarktete diese Erfindung ausschließlich in der Region um Köln. Diese Rundfunk-, Informations- und Werbesäulen ließen sich von einem zentralen Ort an- 11 Deutsches Reichspatent, 1321 129, Peter Ferlings, Köln-Dellbrück und Willi Orth, Brüggen-Erft an Reichspatentamt, Berlin, Betr.: Antrag auf Erteilung eines Gebrauchsmusterschutzes, Öffentlichen Nach- richten- und Propagandasäule mit Rundfunk- und Alarmanalage, Köln, 15.11.1934, Bl.1–9, hier Bl. 2. [Die Eintragung erfolgte am 4.12.1934]. DEPATISnet – Datenbank des Deutschen Patent- und Markenamtes. Online: https://depatisnet.dpma.de/DepatisNet/depatisnet?action=pdf&docid=DE000001321129U, abgerufen am 02.04.2021. 12 Ebd., Bl. 4. Abb. 1: Rundfunksäule auf dem Denkmalplatz in Brüggen/Erft. Foto: Stadtarchiv Kerpen, Bestand Gemeinde Türnich, Nr. 2692). https://depatisnet.dpma.de/DepatisNet/depatisnet?action=pdf&docid=DE000001321129U 14 Hans Hauptstock und Heiner Stahl steuern. Das waren zumeist die Büros der jeweiligen Bürgermeister. Nach Probevorführungen am 21.3.1935 und 7.5.1935 war die erste Rundfunksäule auf dem Denkmalplatz in Türnich- Brüggen, heute ein Stadtteil von Kerpen, im September 1935 betriebsbereit.13 Innerhalb eines Jahres zogen andere Kommunen nach, darunter Bad Godesberg am Rhein.14 In Bremen hatte der Kreisfunkwart der dortigen NSDAP, August Staats, zusammen mit der regionalen Telefunken-Niederlassung 1935 die Errichtung einer Großlautsprecheranlage im Stadtgebiet angeregt. Sie umfasste eine Zentrale in der Geschäftsstelle der NSDAP-Kreis- leitung (Hollerallee 79) und vier Abspielstellen auf den stadtbekannten Versammlungsplätzen Danziger Freiheit, Domshof15, Stadion und Grünenkamp. Die Einschaltung der Übertragungs- stellen erfolgt ferngesteuert. Zur Überwachung sei vor Ort kein Personal notwendig, da die Zentrale die Lautstärke vor Ort getrennt abhören und entsprechend nachregeln könne, lobte eine von Telefunken herausgegebene Zeitschrift für Elektro-Akustik.16 Stationäre Großlautsprecheranlagen mit zentraler Besprechungsstelle sind zudem für ande- re Staaten und deren Kolonialgebiete belegt: unter anderem in den sowjetischen Metropolen Moskau und Leningrad, im von Italien besetzten Abessinien (Äthiopien), dem von Japan besetzten Teil der Man- dschurei, in der Provinz Delhi der britischen Kron- kolonie Indien sowie in einigen Städten Franco-Spa- niens.17 13 Vgl. Hans Hauptstock und Heiner Stahl: Die Rundfunksäule auf dem Denkmalplatz in Brüggen. In: Kerpener Heimatblätter 56, 2018, Nr. 1, S. 389–402. 14 Vgl. Hans Hauptstock und Heiner Stahl: Rundfunksäulen und (Volks-)Gemeinschaftsempfang. Zur Be- schallung der Öffentlichkeit in rheinischen Kommunen während der NS-Diktatur. In: Geschichte im Westen 33, 2018, S. 177–199. 15 Bremen-Domshof, Litfaßsäule mit Lautsprecher, Ansichtskarte, versendet am 2.7.1939 aus der Sammlung von Hans Hauptstock, Bonn. 16 Vgl. [Vorname unbekannt] Bree: Die erste ferngesteuerte Verstärkeranlage Deutschlands in Bremen. In: Nachrichten aus der Elektro-Akustik, herausgegeben von der Telefunken G.m.b.H, 1935, Folge 3, ohne Seiten- zählung. Online: https://www.medienstimmen.de/exzerpte/auszug-aus-die-erste-ferngesteuerte-verstaerkeran- lage-deutschlands-bremen-1935/, abgerufen am 10.2.2021. 17 Schnellbrief RR Hans-Joachim Weinbrenner, Reichspropagandaministerium (RMVP), an Brigadeführer Martin Bormann, Kanzlei des Führers, vom 11.4.1939, BA Berlin NS 10/46, Bl. 222–234. Unterlagen über den Vortrag beim Führer betreffend Reichs-Lautsprecher-Säulen von RR Weinbrenner vom 7.3.1939, BA Berlin NS 10/46, Bl. 218. Abb. 2: Bremen-Domshof, Litfaßsäule mit Lautsprecher (Aus- schnitt aus Ansichtskarte, versendet am 2.7.1939, Sammlung Hans Hauptstock, Bonn). https://www.medienstimmen.de/exzerpte/auszug-aus-die-erste-ferngesteuerte-verstaerkeranlage-deutschl https://www.medienstimmen.de/exzerpte/auszug-aus-die-erste-ferngesteuerte-verstaerkeranlage-deutschl 15Akustische Raumordnungen des A-Falls Die Gründung der Reichs-Lautsprechersäulen-Treuhandgesellschaft m.b.H. Der Geschäftsführer des Reichsverbandes der Funkindustrie Karl Hintze legte im Sommer 1936 dem Reichsministerium für Volksauf klärung und Propaganda (RMVP) eine Denkschrift vor, die die Aufstellung eines Organisationsplanes über die politischen, wirtschaftlichen, tech- nischen und finanziellen Möglichkeiten einer Drahtfunkanlage“18 als umsetzbar erklärte. Die Technologiefirmen Dr. Dietz & Ritter (Leipzig), Grass & Worff, Mix & Genest, Radio Loewe, C. Lorenz A.G., Hermann Grau und Dr. Georg Seibt A.G (alle Berlin) sowie die Kölner Rund- funksäulengesellschaft m.b.H. schlossen sich am 20.1.1937 zur Reichslautsprechersäulen- Treuhandgesellschaft zusammen, um ein reichsweites Netz solcher Beschallungsanlagen zu finanzieren, zu errichten und zu betreiben. Das RMVP ernannte den Regierungsrat Hans-Joa- chim Weinbrenner19 und das Amt Rundfunk der NSDAP-Reichspropagandaleitung den Bre- mer Kreisfunkwart August Staats als weitere Mitglieder des Aufsichtsrates. Um die Höhe der zu entrichtenden Gewinnsteuer im Vorfeld zu begrenzen, verständigten sich die Gesellschafter darauf, dass ab einem Bilanzgewinn von mehr als 6 Prozent des Stammkapitals diese Summe ausschließlich für gemeinnützige Zwecke ausgeschüttet werde – natürlich im Einvernehmen mit dem RMVP.20 Wenige Wochen später entschieden sich die Gesellschafter jedoch, die Rund- funkfirmen anteilsmäßig am Reingewinn zu beteiligen.21 Zur akustischen und auditorischen Ästhetik des A-Falls Konzeptionelles und ästhetisches Vorbild für die Reichslautsprechersäulen waren die aus Köln vermarkteten Rundfunksäulen: Die Firma warb damit, dass ihr Medienapparat „eine ideale Warnungs- und Kommando-Anlage“ sei, die „jederzeit schnellste und sicherste Alarmierung in Fällen dringender Gefahr, zum Zwecke der Abwehr, des Schutzes oder der Hilfsbereitschaft. (Feuer, Hochwasser, Luftgefahr usw.)“22 gewährleiste. Die darüber verbreiteten Informationen und Kommandos halfen dabei, die Bevölkerung zu beruhigen und Panikstimmung zu ver- meiden. In einem Schreiben an den Verband der rheinischen Kommunen betonte der Ge- schäftsführer der Rundfunksäulengesellschaft Rudolf Vente im September 1935, dass man die Geräte durch Postkabel miteinander verbinden könne. „Falls Rundfunkübertragungen aus bestimmten Gründen unmöglich sein sollten“, erklärte Vente, gelänge es dennoch, „Auf- rufe an die Bevölkerung, Nachrichten, Alarmierungen, Befehle usw. von einer Zentralstelle 18 Vgl. Wettbewerb zu Lautsprechersäulen: Denkschrift Karl Hintze vom 19.7.1936, BA Berlin R 4606/522, Bl. 51–67, hier Bl. 51. 19 Zur Person Hans-Joachim Weinbrenner vgl. Arnulf Kutsch: Hans-Joachim Weinbrenner. 70. Geburtstag. In: Rundfunk und Geschichte 6 Jg. (1980) 4, S. 165–166. 20 Vgl. Reichs-Lautsprechersäulen-Treuhandgesellschaft m.b.H., Gesellschaftervertrag vom 20.1.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 268–269. 21 Vgl. Reichs-Lautsprechersäulen-Treuhandgesellschaft m.b.H., Geänderter Gesellschaftervertrag vom 24.2.1937, BA Berlin R 55/46, Bl. 41–42. 22 Rundfunksäulengesellschaft m.b.H., Köln, Prospekt „Die Deutsche Rundfunksäule“, LAV NRW R, RW 0050–0053, Nr. 622, Bl. 36. 16 Hans Hauptstock und Heiner Stahl aus“23 zu übermitteln und auf diese Weise die Volksgenossinnen und -genossen im An- griffsfall zu unterrichten. Die nationalsozialistische Presse im Gau Aachen-Köln schwärmte regelrecht von der Vielseitigkeit dieser hybriden, audiovisuellen Beschallungsapparate.24 Zu diesem Zeitpunkt schien ein lokaler Katastrophenfall noch wesentlich greif barer. Ab 1936 rückte ein möglicher feindlicher Angriff auf das Deutsche Reich stärker in den Blick. Hint- zes Denkschrift vom Sommer 1936 nannte „die Wichtigkeit der Anlage für den A-Fall“ an erster Stelle, noch vor den propagandistischen Potenzialen für die NSDAP-Reichsleitung bei der Erschließung von regionalen und kommunalen öffentlichen Räumen. Sollte der Angriffs- Fall eintreten, unterstützte das Reichslautsprechersäulennetz sowohl die Führung des zivilen Bevölkerungsschutzes als auch die akustische Gefahrenkommunikation von Verlautbarungen und Verhaltensregeln. Das Hintze-Memorandum erhielt im März 1937 einen entscheidenden Zusatz: Sie hieß nun „Denkschrift über das Projekt der A-Fall wichtigen Reichslautsprecher- planung und der vorgesehenen Beteiligung der Reichslautsprechersäulen-Treuhand G.m.b.H daran“25 und verdeutlichte nunmehr die militärische und luftschutzwarnende Bedeutung die- ser Raumbeschallungsbauten. Diese semantische Verschiebung rührte daher, dass sich inner- halb des Reichsluftfahrtministeriums Überlegungen durchsetzten, die eine zentrale Auslösung von Sirenenalarmierungen mittels Telefonleitungen bevorzugten.26 Siemens & Halske hatte in Königsberg27 und Lorenz AG in Halle28 und Berlin29 in Abstimmung des Reichsluftfahrts- ministeriums (RLM) und des Reichspostministeriums (RPM) entsprechende Testanlagen für die Ansteuerung von Großalarmgeräten errichtet. Angriffs- und Auslöse-Fall: Zur Ästhetik vertikaler Hörwege im Nationalsozialismus Hintzes Denkschrift zur Errichtung eines reichsweiten Lautsprechersäulennetzes verknüpfte die visuelle und ästhetische Erscheinung der Bauten mit den Potenzialen, die aus einer zen- tralisierten und automatisierten Zusammenschaltung erwuchsen. Das berührte zum einen die 23 Rundfunksäulengesellschaft m.b.H., Köln, Geschäftsführer Rudolf Vente, an Deutscher Gemeindetag, vom 27.9.1935, LAV NRW R, RW 0050–0053, Nr. 622 , Bl. 30. 24 Vgl. u. a. Westdeutscher Beobachter vom 13.12.1935 und Anzeiger für Köln-Worringen, Dormagen und Umgebung vom 14.8.1936. 25 Vgl. RR Weinbrenner, RMVP, an Abteilungsleiter Dr. Rudolf Wolters, Generalbauinspektion für die Reichshauptstadt, vom 4.3.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 249. 26 Vgl. Auslösung von Grossalarmgeräten, Reichsluftfahrtministerium (RLM), Dr. Kurt Knipfer an Reichs- postministerium (RPM) vom 21.9.1934, BA Berlin R 4701/25972, S. 1–9. Zusammenstellung der im Luft- schutzwarndienst schwebenden Fragen, Besprechung im RPM, RLM Ministerialrat Gottlieb Schroeder vom 12.6.1936, BA Berlin R 4701/12192, Bl. 47–49 (RS). 27 Sirenenfernsteuerungsanlagen über besprochene Fernsprechleitungen. Exposé an das Reichsluftfahrt- ministerium, Siemens Apparate und Maschinen GmbH an das RPM, Ministerialrat Johann Heinrich Karl Höpfner vom 30.12.1936, BA Berlin R 4701/25973, S. 1. 28 Vgl. Alarmübertragungsanlage für Großalarmgeräte in Halle (Bauvorhaben 1403/35), Besprechungs- niederschrift Berlin, 4–5.6.1936, BA Berlin R 4701/25972, S. 1–5. Fernsteuerungsanlage für die Luftschutz- sirenen in Halle, Ministerialrat Hans Großkreutz, RLM an RPM vom 12.7.1936, BA Berlin R 4701/25972, S. 1. 29 Vgl. Fernsteuereinrichtung für Grossalarmanlagen, RLM Dr. Karl Knipfer an RPM vom 12.6.1937, BA Berlin R 4701/25973, S. 1–3. 17Akustische Raumordnungen des A-Falls zivile Gefahrenabwehr und zum anderen die Informationsgebung seitens der Gau- und Kreis- leitungen der nationalsozialistischen Partei. Im Frühjahr 1937 sollten die Pläne sehr schnell umgesetzt werden.30 Die Reichslautsprechersäulen-Treuhand wollte die fertige gestellte Vor- führungsanlage „dem Reichspropaganda-Ministerium übergeben“, welches wiederum „die Säulen (ohne Zentrale) den Gemeinden als Eigentum“ überlasse. Das RPM behalte „die poli- tische Hoheit über die gesamte Anlage“31 Am 1.3.1937 übersandte die Reichs-Lautsprecher- säulen-Treuhandgesellschaft m.b.H. – natürlich nach Abstimmung innerhalb des RMVP – ein Modell und einen Bauplan ihres Stadt- und Beschallungsmöbels an den Architekten Albert Speer, den Generalbauinspektor für Berlin.32 Dieser sollte das Projekt einfach abzeichnen und für gut befinden, schließlich wollte Goebbels die Versuchsanlage in Leipzig Anfang April 1937 bereits einweihen. Doch Speer beurteilte die Ästhetik der Reichslautsprechersäule als „künst- lerisch unmöglich“ und regte an, „möglichst sofort einen Wettbewerb zur Erlangung formal guter Modelle auszuschreiben.“33 Das war die erste Verzögerung. Den Zuschlag erhielt ein Berliner Architektenbüro. Dessen Entwurf habe durch „die gute konstruktive Durch- bildung und die technisch günstige Lösung der Lautsprecheranordnung“34 überzeugt, lob- ten die Kuratoren. Das RMVP stellte dieses Modell und dasjenige des Zweitplatzierten anschließend bis Mitte Juni 1937 im Gar- ten des Ministeriums aus. Die Bauplaner des Generalinspekteurs für die Reichshauptstadt brachten weitere Einwände vor, verlangten 30 Vgl. Protokoll einer Besprechung zur technischen Klärung des Auf baus der Reichs-Lautsprecher-Säulen am 27.1.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 270–273. 31 Reichs-Lautsprechersäulen-Treuhandgesellschaft m.b.H. an RR Weinbrenner (RMVP) vom 4.2.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 263–264. 32 Reichs-Lautsprechersäulen-Treuhandgesellschaft m.b.H. an Professor Albert Speer vom 1.3.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 251. 33 Generalbauinspektor Albert Speer an Ministerialrat Karl Hanke (RMVP) vom 3.3.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 250. 34 Vgl. Protokoll des Preisgerichts „Wettbewerb Reichslautsprechersäule“ vom 9.6.1937, BA Berlin R 4606/522, Bl. 109–111. Abb. 3: 1:1-Modell der Reichslautsprechersäule (Ausschnitt aus einer im Handbuch des Deutschen Rundfunks 1938 veröffentlichten Anzeige der Betonwerke Dyckerhoff und Widmann, Berlin). 18 Hans Hauptstock und Heiner Stahl Nachbesserungen.35 Im Vorfeld der Leipziger Messe und der Berliner Rundfunkausstellung erschienen Zeitungsberichte, die das Thema wiederum aktualisierten.36 Danach flaute die Be- richterstattung über die Beschallungs-, Warnungs- und Bewerbungsanlage wieder ab. Breslau (1938) Beschallungen von Menschenmassen: Die Einweihung der Musteranlage Hans Kriegler37, Rundfunkexperte der NSDAP-Gauleitung Schlesien, besorgte sich den Zu- schlag, um die Errichtung einer örtlichen Reichslautsprechersäulen-Anlage und deren Vor- führung nach Breslau zu holen.38 Kriegler war von 1933 bis 1937 Intendant des Breslauer Senders und danach bis 1939 Referatsleiter im RMVP und zeitgleich Präsident der Reichs- rundfunkkammer. Vom 27. bis 31. Juli 1938 veranstaltete der Deutsche Turn- und Sportbund in Breslau ein mehrtägiges Schaulaufen des nationalsozialistischen Breiten- und Leistungs- sports. Bei diesem Anlass weihte das RMVP die Beschallungsanlage ein. Sie umfasste ein- hundert Lautsprechersäulen, die den gesamten städtischen Raum abdeckten. Die Reichslaut- sprechersäulen böten eine neue Form der Volksführung und erlaubten die Einbindung von größeren und kleineren Städten, erklärte der RMVP-Staatssekretär Karl Hanke der zur Er- öffnungszeremonie eingeladenen NSDAP-Prominenz und den Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW). Eine zentralisierte Lenkung von Verlautbarungen ermöglichte es unter anderem, in die Praxis der Schulung von Parteigenossinnen und -genossen vor Ort direkt einzugreifen. Hanke verschob den Schwerpunkt auf die akustische und auditorische Ordnung von öffentlichen (Hör-)Räumen und die Aufmerksamkeit herstellende Beschallung von Menschenmengen. Den Angriffs- bzw. Alarmfall blendete er bei der Einweihungsfeier im Sommer 1938 geflissentlich aus. Nach der Breslauer Propagandaschau stand einer reichsweiten Umsetzung des Projektes an sich wenig im Wege. Dennoch stockte der Ausbau. Eine Entscheidung des Führers Adolf Hitler sollte den Weg freimachen. Hitler hatte den Auf bau von Reichslautsprechersäulen in Originalgröße auf bestimmten Plätzen in München angeordnet. Für den 24. oder 25.2.1939 war eine Vorführung geplant, bei der Hitler das Aussehen der Säulen in Augenschein neh- men und sich von der Leistungsfähigkeit und Reichweite der Beschallungsanlage überzeugen 35 Vgl. Architekt Hoffman an Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt vom 1.8.1937, BA Berlin R 4606/522, Blatt 48 (RS). 36 Vgl. Berengar Elsner von Gronau: Reichs-Lautsprecher-Säulen. In: Die deutsche Werbung. Die Zeitschrift für Wirtschaftswerbung und Werbefachwelt. 30, 1937, S. 1124–1125. Ein neues Werbemittel – Die Reichs- Lautsprecher-Säulen. In: Wesenswandel der Ausstellung. Ein Überblick über das deutsche Ausstellungswesen und die Ausstellungsarbeit des Instituts für Deutsche Kultur- und Wirtschaftspropaganda. Berlin 1938, S. 119–124. 37 Zur Person Hans Gottfried Kriegler (3.5.1905, Breslau) siehe Arnulf Kutsch: Ein nationalsozialistischer Rundfunkfunktionär. Hans Gottfried Kriegler (1905–1978), in: Rundfunk und Geschichte 5, 1979, Nr. 2, S. 98–101. 38 Inbetriebnahme der ersten 100 Reichslautsprechersäulen. In: Der Deutsche Rundfunk 1938, Heft 37, S. 8 mit einem Foto der Reichslautsprechersäulen am Tauentzienplatz. 19Akustische Raumordnungen des A-Falls wollte.39 RMVP-Regierungsrat Weinbrenner wandte sich im März 1939 an die NSDAP-Reichs- kanzlei, um Informationen über den Entscheidungsprozess in Erfahrung zu bringen. Er kontaktierte den Adjutanten des Führers, Martin Bormann, um diesen von der Wichtigkeit eines des Reichslautsprechersäulennetzes zu überzeugen.40 Gegenüber Bormann stellte Wein- brenner nun die Warnung der Bevölkerung vor Angriffen in den Vordergrund und betonte dadurch die kommunikationspolitische Bedeutung dieses Reichslautsprechersäulennetzes. Er strich heraus, dass sowohl das RLM wie auch das OKW an den Absprachen beteiligt seien. Der RMVP-Beamte wiederholte das Kernargument für dieses Großprojekt: Großstädte und dicht besiedelte Gebiete durch diese Beschallungsinfrastruktur erreichen, die Beherrschung des (Hör-)Raumes in Kommunen und die Refinanzierung der Aufstellungskosten durch den Ver- kauf von Werbeflächen sowie die Eigenbeteiligung von Kommunen. Weinbrenners Planun- gen im März 1939 sahen für eine erste Ausbauphase die Errichtung von 6600 Lautsprecher- säulen vor und sprach von Gesamtkosten in Höhe von 30 Millionen Reichsmark. Das umfasste immerhin ein Viertel der ursprünglich anvisierten Zahl an Beschallungsapparaten. Dennoch entschied sich Hitler dagegen. Sofern den Tagebucheintragungen Joseph Goebbels Richtig- keit zugemessen werden kann, bevorzugte der Reichskanzler anscheinend Übertragungen mit 39 Vgl. Schnellbrief von RR Weinbrenner (RMVP) an Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt vom 20.2.1939, BA Berlin R 4606/522, Bl. 2. 40 Vgl. Unterlagen über den Vortrag beim Führer vom 7.3.1939, BA Berlin NS 10/46, Bl. 215–216. Abb. 4 bis 6: Reichslautsprechersäule, Breslau, Schweidnitzerstraße / Wrocław, ul. Świdnicka (Foto: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Nr. 512); Reichslautsprechersäule, Breslau, Tauentzienplatz / Wrocław, pl. Ta- deusza Kościuszki (Foto: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Nr. 511); Reichslautsprechersäule, Breslau, Ritterplatz / Wrocław, pl. Biskupa Nankiera (Foto: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Nr. 334) 20 Hans Hauptstock und Heiner Stahl Drahtfunk gegenüber der bis dahin vorgesehenen Verwendung von Telefonkabeln.41 Diese Festlegung verdeckte jedoch die darunter liegenden Konflikte um technische Standards. Die Technologiefirmen zielten darauf, ihre Patente durchzusetzen. Das Reichspostzentralamt sorg- te sich um die Belegung ihrer Kupferleitungen, welche durch die zusätzlichen Informationen an die Grenze ihrer Auslastung kamen. Das RLM setzte auf die Sirenenalarmierung über Tele- fonkabel. Das OKW beanspruchte die medialen Infrastrukturen der Datenübertragung aus- schließlich für Angelegenheiten von militärstrategischer Bedeutung. Und letztlich blieb der nationalsozialistische Staat der einzige Abonnent dieses Reichslautsprechersäulennetzes. Das Zuhören der Volksgenossinnen und -genossen ließ sich zwar politisch und propagandistisch. aber (noch) nicht ökonomisch verwerten. Reichslautsprechersäulen in der Benutzung Eine Verwendung der Reichslautsprechersäulen im Stadtgebiet Breslaus ist bislang erst für den Januar 1945 nachweisbar. Der bereits erwähnte RMVP-Staatssekretär Karl Hanke war seit 1941 Oberpräsident und Gauleiter von Niederschlesien. Als Kommandant Breslaus forderte er am 20.1.1945 die nicht wehrtaugliche Bevölkerung auf, die schlesische Großstadt vor der heran- nahenden sowjetischen Roten Armee zu verlassen. „Achtung! Achtung! Frauen und Kinder verlassen die Stadt zu Fuß in Richtung Opperau-Kanth!“42 schallte Hankes Anordnung zur Evakuierung durch die kommunale Reichslautsprechersäulenanlage. Walter Henkels43, Kriegs- berichterstatter in einer Propagandakompanie der Waffen-SS und ab 1949 Bonn-Korrespon- dent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, lauschte ebenfalls der Breslauer Publikums- und Raumbeschallungsanlage und Hankes Stimme: Auf dem Tauenzienplatz [sic!] knackt der Lautsprecher: ‚Achtung! Achtung!‘ sagt die Stimme. ‚Hier spricht die Gaupropagandaleitung.‘ Was die Menschen hören, wissen sie schon von den roten Plakaten, die überall aushängen. ‚Män- ner von Breslau!‘ ist dieser Aufruf überschrieben. ‚Unsere Gauhauptstadt ist zur Festung erklärt worden. Die Räumung der Stadt von Frauen und Kindern läuft […]. Unsere Aufgabe als Männer ist es alles zu tun, was die Unterstützung der kämpfenden Truppe erfordert. […]. Die Festung wird bis zum äußersten [sic] verteidigt.44 41 Vgl. Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941. Bd. 6. August 1938 – Juni 1939. München 1998, S. 388, Tagebucheintrag 23.6.1939: „Das Projekt der Lautsprecher- säulen wird vom Führer abgelehnt. Er will einen stärkeren Ausbau des Drahtfunks. Und das ist wohl auch richtig.“ 42 Lothar Vogel: Seelische Erschütterungen. Eine historische Erzählung. Berlin 2013, S. 76. 43 Eintrag „Henkels, Walter“ in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, Online: http://www.munzinger.de/document/00000010767, abgerufen am 15.2.2021. Walter Henkels war nach dem Zweiten Weltkrieg langjähriger Bonner Korrespondent der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mit- begründer und in den 50er Jahren Vorstand der Bundespressekonferenz und des Deutschen Presseclubs. 44 Walter Henkels: Eindrücke aus Breslau. Erinnerungen an den Mongolensturm 1241 werden wach. In: Rheinisch-Bergische Zeitung vom 30.1.1945. http://www.munzinger.de/document/00000010767 21Akustische Raumordnungen des A-Falls Es sei „eine Welle der Erregung durch die Straßen der Stadt“ geschwappt, stilisierte ein ande- rer Wortbericht die Flucht aus der zur Frontstadt gewordenen Festung Breslau zur Helden- geschichte. „Die Haltung“ der Bewohnerinnen und Bewohner „straffte sich, die Anweisungen der (NSDAP-) Ortsgruppen für den Abtransport der Mütter und Kinder und später für Frauen überhaupt, für Greise, Gebrechliche und Kranke“ seien „einsichtig aufgenommen und be- folgt“45 worden. Wieviel davon stimmte, mögen sich die Leserin und der Leser selbst ausmalen. Die Kriegsberichterstattenden emotionalisierten ihre Geschichten ausgiebig und überdeckten damit den schwindenden Nachrichtenwert der Meldungen. Rundfunksäule und das Reichslautsprechernetz: Eine klanghistorische Einordnung Die Kölner Rundfunksäulengesellschaft bewarb diese Technologie der öffentlichen Ansprache als Instrument zur Beherrschung des Phonotopes der Kundgebung im kommunalen Raum. Die Rundfunksäule versetzte lokale NSDAP-Funktionäre in die Lage, sich für den Zeitraum ihrer Ansagen als zum (Wahl-)Volk sprechende Führer zu fühlen. Sie gestalteten die akustische Raumordnung vor Ort maßgeblich mit, indem sie einen Hörweg des öffentlichen Zuhörens belegten und besetzten. Auch wenn die Lautsprecher nicht weiter als einen 100-Meter-Um- kreis um die Säule abdeckten und jedes vorbeifahrende Gefährt den Wortsound störte, war damit ein Hörweg für das nationalsozialistische Sprechen im kommunalen Raum gespurt. Die akustischen Stoffe, die sich im Phonotop der Kundgebung bewegten, verschalteten die bewusst oder beiläufig Zuhörenden zu einer örtliche (Volks-)Hör-Gemeinschaft. Die Reichs- Lautsprechersäulen-Treuhandgesellschaft m.b.H. griff diese kommunalen Bemühungen auf und zielte darauf, diese Gestaltungsweise des öffentlichen (Hör-)Raumes auf das gesamte Deutsche Reich auszudehnen. Erst dann ließ sich über Werbeeinnahmen Geld erwirtschaften und verdienen. Die Ökonomisierung von Werbeflächen und Reklamebotschaften besaß Zug- kraft. Sie bildete den Kern von Karl Hintzes Denkschrift vom Juli 1936. Die an Zeichentischen entworfenen Infrastrukturen der Übertragung zielten auf die Umwandlung des bislang be- stehenden, bereits nationalsozialistisch ausgerichteten Phonotopes der Kundgebung an. Zwar betonte Hintze (Juli 1936) den Angriffs-Fall, allerdings rundeten diese Erläuterungen das eigentliche Verkaufsargument ab – nämlich die Gaupropagandaleitungen der NSDAP in die Lage zu versetzen, ihre Verlautbarungen an die Bevölkerung unterschiedlicher Kommunen zu verbreiten und die Schulung von Parteigenossinnen und -genossen in Versammlungslokalen zentral zu steuern. Das Reichsluftschutzgesetz (26.6.1935) löste konkurrierende Überlegungen zur akustischen und auditorischen Raumordnung aus. Die Vorsorge und Vorbereitung dieser (Luftangriffs-)Gefahrengemeinschaft diente nun als Verkaufsargument. Dieselben Rundfunk- technikunternehmen, die die Reichslautsprechersäulen-Treuhand G.m.b.H gegründet hatten, bauten nun Anlagen zur Luftwarnung und Sirenenalarmierung. Das spurte einen vertikalen Hörweg, der den horizontalen zu überlagern begann. Die akustischen Stoffe des öffentlichen Sprechens büßten gegenüber denjenigen des (Luft-)Gefährdungen-Hörens an Bedeutung ein. Das Reichslautsprechersäulennetz blieb bis zum Kriegsausbruch (1.9.1939) und darüber 45 Hans Bernhard Bröker: Frontstadt Breslau in der Stunde der Bewährung. In: General-Anzeiger Bonn vom 30.1.1945. 22 Hans Hauptstock und Heiner Stahl hinaus eine Imagination von (Hör-)Räumen und eine Utopie der akustischen Menschen- beschallung und visuellen Raumatmosphäre. Es scheiterte, weil der Generalinspektor für den Ausbau von Germania und spätere Rüstungsminister Albert Speer andere Prioritäten setzte und weil die Belegung der Fernmeldenetze mit zusätzlichen Schaltungen für Beschallungs- anlagen die Leistungsfähigkeit des bestehenden Telefonnetzes – auch ohne Angriffsfall – an seine Grenzen brachte. Das barg die Gefahr, Telefonleitungen unnötig zu verstopfen und ggf. die Alarmsirenen ohne tatsächlichen A-Fall in den angewählten Regionen auszulösen. Das Reichsluftfahrtministerium, die Nachrichtenabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht und das Reichspostzentralamt waren mit ihren Vorstellungen erfolgreich. Über den horizonta- len Hörweg die Zustimmung der Bevölkerung zu sichern, galt als verzichtbare, medientechno- logische Spielerei. Zumindest lag es nicht an fehlenden Arbeitskräften und Materialien. Daran mangelte es der nationalsozialistischen Bauindustrie nach 1940 keineswegs. „Eine ordentliche Entscheidung darüber, ob gebaut werden soll oder nicht wird von der Gesellschaft“, wohl- gemerkt den beteiligten Rundfunktechnikunternehmen und dem RMVP, „nach Kriegsende herbeigeführt werden“46, versicherte Weinbrenner im März 1940 noch gegenüber der Personal- abteilung des RMVP zuversichtlich. Er lag falsch. Die Reichs-Lautsprechersäulen-Treuhand- gesellschaft m.b.H. überdauerte das Kriegsende. Die Gesellschaft beantragt am 19.3.1952 die Löschung aus dem Handelsregister.47 Die Imaginationen von der Umsetzung einer zentral ge- steuerten Kommunikationsplattform für die Erziehung von Bevölkerung sowie die Alarmie- rung im Krisen- und Katastrophenfall bestanden weiter. Sie wechselten lediglich die techno- logischen Erkennungs- und Auslöseverfahren. 46 Schnellbrief Weinbrenner (RMVP) an Bormann vom 13.4.1939, BA Berlin R 43-II/1169b, Bl. 213. Schreiben von RR Weinbrenner (RMVP) an RR Hermann Knochenhauer, (RMVP)-Personalabteilung, vom 18.3.1940, BA Berlin R 55/46, Bl. 50 (RS). 47 Vgl. Amtsgericht Charlottenburg – HRB 52757, Vermerk auf Karteikarte.