Jana Herwig [rezens.tfm] 2013/1 Rezension zu Thomas Brandstetter/Thomas Hübel/Anton Tantner (Hg.): Vor Google. Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2012. ISBN 978-3-8376-1875-4. 262 S. Preis: € 29,70. von Jana Herwig Dass ein Big Name aus dem Silicon Valley einem Buchtitel instant den Anschein brennender Relevanz verleihen kann, ist dank einschlägiger Beispiele (u.a. The YouTube Reader, Generation Facebook) mittlerweile bekannt. Dass den so vermarkteten Inhalten das Schritthalten mit diesem Versprechen nicht immer ebenso leicht fällt, lässt sich gerade am durchwach‐ senen Genre des Sammelbandes immer wieder beob‐ achten. Mit Vor Google. Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter (publiziert mit Un‐ lierten Anachronismus", welchen Nicole Loraux und terstützung des Instituts für Wissenschaft und Peter von Moos in die Geschichtswissenschaften ein‐ Kunst (IWK) Wien) setzen sich Thomas Brandstetter, führten. Im konkreten Fall ist dies als Versuch zu Thomas Hübel und Anton Tantner nicht nur diesem verstehen, "aus der Reibung, die sich aus der Unzeit‐ Spagat aus, sondern auch dem Verdacht eines plaka‐ gemäßheit eines Begriffs (der Suchmaschine) in Be‐ tiven, womöglich banalen Vergleichs. zug auf eine Epoche (hier ein Zeitraum, der vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert reicht) ergibt, Er‐ Dabei will sich der Band, wie die Herausgeber im kenntnis zu gewinnen" (S. 9). Vorwort ihre Absicht darlegen, "dem Phänomen der Suchmaschinen auf historische Weise" (S. 8) annä‐ Das Feld der zu gewinnenden Erkenntnisse ergibt hern. So beschäftigt er sich auf der Suche nach einer sich aus den Beiträgen eines im Herbst 2008 in der möglichen Vorgeschichte mit Bibelkonkordanzen, Wienbibliothek veranstalteten Symposiums und es Adressbüchern, Zeitungskomptoiren, Staatskalen‐ ist dem historischen Blickwinkel zu verdanken, dass dern und Hausdienern – ein Unterfangen, das kaum der betrachtete Gegenstand in den bis zur Publikati‐ möglich ist, ohne dabei mit einer Teleologie von Gu‐ on vergangenen vier Jahren kaum gelitten hat. Goo‐ tenberg bis Google zumindest zu kokettieren. gle mag in dieser Zeit sein Technologieportfolio mit dem Aufkauf von über 50 Firmen weiterentwickelt Um der Banalität einer Analogie zu entkommen, be‐ haben; die Anschlussfähigkeit an aktuelle informati‐ dienen sich die Herausgeber des Kniffs des "kontrol‐ onstechnologische Debatten wird und will mit Vor Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2013/1 | Veröffentlicht: 2013-06-19 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r274 Jana Herwig [rezens.tfm] 2013/1 Google jedoch gar nicht versucht werden. Angegan‐ Sozialem zeigt er, indem er diesen Delegationspro‐ gen wird vielmehr ein pointillistisches Tableau der zess nicht als Folge von 'Erfindungen', sondern als Techniken des Suchens von variierender Detailtiefe, konsistent mit Vorgängigem beschreibt: Getrieben wobei die Leserin auch von der Reibung zwischen von der Paranoia, von ihren Subalternen ausspio‐ den einzelnen Beiträgen profitiert. niert zu werden, macht sich schon um 1800 "eine neue Schweigsamkeit im Dialog von Herr und Die‐ Dass die Suche in Texten nicht ohne andere Texte funktioniert – ein Umstand, den Googles Interface ner" breit: "Kommunikation wird zur Maschinen‐ verschleiert, wenn vom Drücken des Suchbuttons sprache" (S. 161). bis zur Anzeige der Ergebnisse nur Millisekunden In weiteren Beiträgen wird der Versuch einer selbst‐ vergehen – macht Daniel Weidners Beitrag "Wende evidenten Nomenklatur von Tier- und Pflanzenwelt sie um und um, denn alles ist in ihr" am Beispiel bib‐ des Naturforschers Lorenz Oken (1779–1851) unter‐ lischer Hilfsliteratur nachvollziehbar. Von der Stich‐ sucht (Stefan Rieger) und die oftmals scheiternde wortsuche über den Vergleich verschiedensprachi‐ Wissensgenerierung mit Hilfe von Fragenkatalogen ger Ausgaben bis zur Generierung einer Synthese al‐ im wissenschaftlichen Briefverkehr des 17. und 18. ler Evangelien erweist sich Bibelwissen als radikal re‐ Jahrhunderts dargestellt (Alix Cooper). Es werden lational. Dass dies, wie Weidner abschließend notiert, ferner frühe Formatierungsversuche in der, wie ein "immer auch eine Erfahrung des Benutzers, eine be‐ heutiger Unternehmergeist es formulieren könnte, stimmte 'Such-Ästhetik'" impliziert (S. 71), macht Entwicklung von Printprodukten am Beispiel des neugierig auf weitergehende Untersuchungen in Grazer Autors/Herausgebers Michael Hermann Am‐ dieser Richtung, die an dieser Stelle ausbleiben. bros (1750–1809) nachvollzogen (Andreas Golob). Der "Arbeit mit Notizzetteln in den grammatikali‐ In "Herrschaftsordnung, Datenordnung, Suchoptio‐ schen Forschungen eines Orientalisten im 19. Jahr‐ nen" stellt Volker Bauer die Recherchemöglichkeiten hundert", wofür die Metapher der Suchmaschine in Staatskalendern und Staatshandbüchern des 18. nutzbar gemacht werden soll, widmet sich Henning Jahrhunderts dar. Repräsentationsstreben und Be‐ Trüper. Einen Kommentar auf das Vermächtnis von nutzerfreundlichkeit werden hier zu Antagonisten; Vannevar Bushs Technikutopie Memex aus As We Widerspiegelung der hierarchischen Ordnung und May Think (1945) trägt Martin Schreiber bei. Eben‐ Macht trifft auf die unerhörte Nivellierung durch falls dem Memex und anderen mathematischen Hi‐ die alphabetische Ordnung. Nebenbei und ohne weitere Herleitung führt Bauer dabei den Begriff der erarchisierungsinstrumenten (u.a. in Otlets Munda‐ "typographischen Suchmaschine" (S. 85ff.) ein, der neum und Garfields Science Citation Index) sowie den medienwissenschaftlichen Theoretisierungs‐ letztlich der Frage, wie wir uns das Aufeinandertref‐ drang kitzelt, ohne vertieft zu werden. fen von Algorithmus und Kultur wünschen, widmetsich abschließend Bernhard Rieder. Von der ursprünglichen Namensgebung einer aktu‐ Mit den Schlaglichtern, die die BeiträgerInnen (mit ellen Suchmaschine (AskJeeves.com) ausgehend, un‐ den Herausgebern elf Männer, eine Frau) in Vor ternimmt Markus Krajewski seine Untersuchung Google werfen, gerät das theoretische Kopfkino wie zum Diener als Informationszentrale.[1] In deren von selbst in Gang. So anregend dies einerseits ist, so Umbenennung zu Ask.com sieht Krajewski die virtu‐ wünscht man sich andererseits einen durch die Bei‐ elle Duplikation des Übergangs "von den humanoi‐ träge verlaufenden, zumindest begrifflichen roten den Medien [i.e. Dienerschaft; J.H.] zu den Dingen, Faden. Gerade für MedienwissenschafterInnen wäre wie es das 19. Jahrhundert mit seiner Delegation eine jeweilige Explikation der Technik des kontrol‐ klassischer Dienstleistungen von Butler und Kam‐ lierten Anachronismus von Interesse gewesen, könn‐ merdiener an technische Gerätschaften kennzeich‐ te man hier doch eine Verwandtschaft zu Jürgen net" (S. 155). Die Interdependenz von Technik und Fohrmanns Notiz vermuten, "dass die Funktion oder Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2013/1 | Veröffentlicht: 2013-06-19 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r274 Jana Herwig [rezens.tfm] 2013/1 die Leistung, die je spezifischen Eigenschaften von rischen Bestand vielfältig zum Weiterdenken ein‐ Medien nur im Medienvergleich zu rekonstruieren lädt.  sind" ("Der Unterschied der Medien", Transkriptionen, 10 (2008), S. 3). Es steht zugleich au‐ --- ßer Frage, dass ein geschichtswissenschaftlicher Her‐ [1] Vgl. Stimmen der Kulturwissenschaften, Episode ausgeberband sich diesem Anspruch nicht eigentlich 4: Markus Krajewski über den Diener: http://stim‐ zu stellen hat. Was bleibt, ist eine außerordentlich men.univie.ac.at/podcast/sdk4 anregende Lektüre, deren Orientierung am archiva‐ Autor/innen-Biografie Jana Herwig Jana Herwig ist Medienwissenschafterin und -beraterin in Wien. In ihrer Forschung befasst sie sich insbeson‐ dere mit Phänomenen an der Schnittstelle von Medien und Menschen, sowohl im materiell-haptischen als auch sozial-kommunikativen Sinne. 2017 hat sie ihre Dissertation mit dem Titel "Hand, Haut, haptische Medi‐ en. Mediale Konfigurationen des Tastsinns" abgeschlossen, die sich u.a. der Rolle der manuellen Handhabung und der Möglichkeit technisch vermittelter Berührung in interaktiven Szenarien widmete. Publikationen: Jüngste Publikationen: Herwig, Jana, "Sinnliche Immersion und haptische Medien. Utopien und Möglichkeiten", in: Jahrbuch immer‐ siver Medien 2018, hg. v. Patrick Rupert-Kruse, S. 80-95 (im Erscheinen). —, "Viralität als Sonderfall: über Selfies, Serialität und die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation im Social Web", in: kommunikation @ gesellschaft, 19 (2018), hg. v. Georg Fischer & Lorenz Grünewald‐Schukalla, 19 S., URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-56025-3 —, "Bischöfliche und andere Handschuhe. Medium, Objekt, Interface", in: Karin Harrasser (Hg.), Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns, Frankfurt/M.: Campus 2017, S. 149‐170. —, "Taststock, Handschuh, Schalter. Medientechniken der Berührung", in: Jana Herwig & Alexandra Seibel (Hg.), Texture Matters: Der Tastsinn in den Medien (haptisch/optisch 2), Themenheft Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater‐, Film und Medienwissenschaft, 62(2-3), Wien: Böhlau 2017, S. 187‐206. —, mit Alexandra Seibel (Hg.), Texture Matters: Der Tastsinn in den Medien (haptisch/optisch 2), Themenheft Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theater‐, Film und Medienwissenschaft, 62(2-3), Wien: Böh‐ lau 2017. Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2013/1 | Veröffentlicht: 2013-06-19 URL: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/article/view/r274