439 IV SZENISCHE MEDIEN Klaus-Detlef Müller, Jörg-Wilhelm Joost und Michael Voges: Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung.- München: Beck 1985, 432 S., DM38,- Das ist ein erstaunliches Buch und vor allem: Es ist ein notwendiges. Erstaunlich, weil sich die Autoren ihrem viel beschriebenen und verschrieenen Gegenstand gegenüber souverän verhalten, sich weder im Affirmativen verlieren, noch um Einwände bemüht sind, bloß um Distanz zu demonstrieren. Das Buch lädt ein, es in der Methode Brechts, durch die Bestimmung seines Grundgestus' zu beschreiben: Bereitschaft, sich auf ein bestimmtes Denken und Dichten einzulassen, um für die eigene, die geschichtliche Gewordenheit und aktuelle Befindlichkeit Nutzen zu ziehen. Notwendig, weil es wenig Informierte anregt, sich Brecht als einem fermentierenden Element unserer deutschen kulturellen Entwicklung zu nähern und gleichzeitig den über Brecht Bescheid Wissenden eine Fülle von interessanten Problemsich- ten, eine Menge aufgearbeiteten Materials zu bieten hat. In zwölf Arbeitsbereiche gegliedert, beginnt der Band mit einer Dar- stellung der Zeitumstände, aus denen heraus Brechts Werke und Ideen entstanden und zu verstehen sind. Diese Auhrbeitung, auch wenn sie einem Historiker, Sozialwissenschaftler oder Philosophen Einwände abnötigen sollte, scheint die notwendige Voraussetzung gewesen zu sein, das souveräne Verhältnis zu Brecht, den historischen Blick auf sein Schaffen zu gewinnen. Der Leser allerdings kann dieses erste Kapitel ohne Nachteil überspringen, denn in den nachfolgenden Kapiteln findet er das Material in der Darstellungsweise, in den Auswahlprinzipien und in der Stringenz der Formulierungen wieder. Das chronologische Prinzip anwendend, werden alle Schaffensbereiche an ausgewählten Beispielen erhellt, der frühen Lyrik und den frühen Dramen folgen die politisch-ästhetischen Experimente in der 'vorrevo- lutionären' Endphase der Weimarer Republik. Hierbei fällt vor allem der Vorschlag der Autoren auf, daß sich ein guter Zugang zu Brechts Gesamtwerk finden läßt, wenn man verfolgt, wie sich darin die scharf und unverwechselbar im Frühwerk artikulierte Dissoziation des bür- gerlichen Begriffs vom Individuum als Thema entfaltet. Der fünfte Arbeitsbereich schließlich wird mit Recht vom Herausgeber, Klaus- Detlef Müller, als besonder~r hervorgehoben, wird doch hier auf Brechts medientheoretische Uberlegungen, Experimente und Erfahrun- gen eingegangen. Ein diesen Bereich geschickt ergänzender, auswei- tender und zugleich selbständiger Teil ist der darauffolgende, in dem als ein Beispiel aus Brechts epischem Werk der Dreigroschenroman gewählt wurde. Damit wird Brechts eigene künstlerische Aufarbeitung seiner Erfahrungen mit der Institution Film zum Untersuchungsgegen- stand. Brechts Theorie eines episch-dialektischen Theaters wird nicht schlechthin in den Kontext Gesellschaft-Kunst eingebunden, sondern in des Dichters Utopie eines "wissenschaftlichen Zeit!l.lters", hierbei wird das Zeitbedingte, Hinfällige und zugleich das Uberdauernde, noch Einzulösende deutlich herausgearbeitet. Der Bereich acht ist der umfänglichste, und das mit Recht, wurde er doch aus dem Wissen heraus angelegt, daß sich die Kritik an Brecht seit den siebziger 44° Jahren wesentlich auf seinen Typ des Parabelstückes konzentrierte. Nicht zufällig erlosch in Mitteleuropa um 1968 das Interesse an Brecht, während er in der sogenannten 'dritten Welt' an Popularität gewann. Zur Dokumentarliteratur, zu den Dokumentarstücken und Dialektkomödien der sechziger/siebziger Jahre stand Brechts Parabel typus verquer. Die Welt sollte kraß und genau gesehen werden, die heraufkommenden Probleme in der Unschärfe von Parabelkonstruk- tionen nicht verblassen. Deshalb werden im Arbeitsbereich acht die großen Dramen des Exils, Parabelstücke und episches Theater unter den Aspekten "zeitbezogene Genese", "zeitbezogene Rücknahme" und "zeitüberdauernde Modellbildung" dargestellt. Neben dem chronologi- schen Prinzip ist dies das geheime Denkmodell aller neun, dem Schaffen Brechts gewidmeten Arbeitsbereiche und dem Gegenstand angemessen. Die Autoren sind hier, wie auch in den anderen Kapiteln, nicht den bequemen, den verführeri~~hen Weg gegangen, aus der reichen Fülle krasser und ablehnender Außerungen namhafter Autoren - die harscheste und unversöhnlichste Kritik stammt bekanntlich von Heiner Müller - auszuwählen und damit Brechts Parabeltypus zu erledigen. Ganz im Gegenteil, die Autoren sind mit ihrem Gegenstand so gut vertraut, daß sie Brechts Größe gerade auch auf diesem Gebiet bezeugen können: die härteste Kritik am Parabeltypus übte Brecht selbst (S. 285). Die drei letzten Arbeitsbereiche sind der Lyrik des Exils und der späten Lyrik, sowie den Bearbeitungen gewidmet. Das Buch schließt mit 'Vorüberlegungen zur Rezeption'. Hier bleiben die Autoren am unverbindlichsten. Es ist zwar verdienstvoll, aus Hans Mayers Rede zur Eröffnung des Bertolt-Brecht-Colloquiums in Frankfurt am Main 1978 'Brecht mit 80 Jahren' zu veröffentlichen, zumal sich diese gut liest und viel Anregendes enthält, doch vergleicht man dieses Kapitel insgesamt mit Werner Mittenzweis' 1977 erschienener Publikation 'Wer war Brecht. Wandlungen und Entwicklungen der Ansichten über Brecht im Spiegel von Sinn und Form', dann wurde hier doch ein be- reits erreichter Maßstab unterschritten. Als Herzstück des Buches ist die These, Brecht habe den vorläufig letzten umfassenden Versuch einer "politischen Theorie der Kunst" unternommen, zu betrachten. "Theorie und Praxis des episch-dialekti- schen Theaters haben den bekannten Aporien ihre historisch längst fällige zeitgemäße Form verliehen (... ) Auf unvergleichliche Weise hat Brecht den Spielraum der Kunst im politisch abgesteckten Rahmen ausgemessen. Noch immer lohnt es, an Theorie und Praxis der dialek- tisch gewordenen Aufklärung auf dem Theater anzuknüpfen; die Prä- missen des Theaters für die 'Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters' sind problematisch geworden: seine 'Vorschläge' sind bedenkenswert geblieben." Dieses Bedenken zu befördern und zu erleichtern, scheinen die Autoren im Auge gehabt zu haben. Dafür spricht auch der wissenschaftliche Apparat, mit der synoptischen Tabelle, der Ge- samtbibliographie, dem Namenregister und dem Register der Brecht- Werke. Darüber hinaus werden für jeden Arbeitsbereich Angaben zur einschlägigen Literatur gemacht, Hinweise auf deren Wert und Pro- blemlage gegeben. Dabei ist es allerdings sehr verwunderlich, daß in keiner der verschiedenen Arbeitsbereiche und auch nicht in der Ge- samtbibliographie oder dem Namenregister der Name Bernhard Reich 44 1 auftaucht. Es scheint fast unglaublich, daß es den Autoren als vor- trefflichen Kennern des Brecht-Werkes entgangen sein soll, welche große, bezeugte Rolle Brecht dem deutsch-russischen Regisseur und Publizisten, Freund der Asja Lacis (deren Name im Unterschied zu Bernhard Reich vermerkt ist) und auch Walter Benjamins zugemessen hat; Bernhard Reich, der eine glänzende Analyse der Einbindung der Brechtschen Theorie des Widerspruchs in die Hegelsche Philosophie gegeben hat. Das bleibt als eine Lücke des Buches zu vermerken. Insgesamt besticht es nicht nur durch die Fülle des Materials, die Art der Aufbereitung, sondern auch durch seine Sprache: einfach, fast lapidar, immer prägnant, die aus sich heraus eine anregende Gedan- kenspannung erzeugt. Sigrid Neef