Fotografie 1111d Film 329 Ursula von Keitz: Im Schatten des Gesetzes. Schwangerschaftskonflikt und Reproduktion im deutschsprachigen Film 1918-1933 Marburg: Schüren Verlag 2005 (Zürcher Filmstudien. Bd. 13). 416 S .. ISBN 3-89472-5-13-3, E 24,90 Während die bundesdeutschen Parteien gegenwärtig mit ihren familienpolitischen Programmen die Geburtenzahlen steigern wollen. in der Annahme die Säuglinge von heute seien die sozial\'ersicherungspflichtigen Beitragszahler von morgen, sollte in der Weimarer Republik eine pronatalistische Bevölkerungspolitik die kriegsbedingten Menschenverluste (über-)kompensieren. Parlamentarische und außerparlamentarische sexualreformerische Bestrebungen, den seit 1872 geltenden § 218 so zu verändern. dass nicht länger jährlich tausende Frauen oftmals mit tödlichem Ausgang zur ,Engelmacherin' und bestechlichen Ärzten getrieben wurden, stießen daher auf den erbitterten Widerstand konservativer. konfessionell gebundener ,Lebensschützer·. Ursula rnn Keitz gebührt das Verdienst, die erste 330 MEDIENll'issrnschc1fi 312006 Monografie über Abtreibung in vorrangig deutschen Filmen der Zwischenkriegs- zeit 1918 bis 1933 veröffentlicht zu haben. Ihre zentrale These lautet, ,,daß in den Bild-Erfindungen des Schwangerschaftskonflikts die traditionelle Darstellung von Weiblichkeit und Körperlichkeit irritiert wird, die den schwangeren Leib als Erfüllung einer ,natürlichen' Geschlechtsdisposition setzt und eine Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und sozialer Rollenzuweisung weitgehend ausge- schlossen und verdrängt hat." (S.13) Nach einem Überblick über die zeitgenössische juristische Sanktionierung der Abtreibung schildert von Keitz die divergierenden Konzepte von SPD und KPD, Linksliberalen, Frauenrechtlerinnen und Sexualwissenschaftlern, welche die Tötung ungeborenen Lebens unter bestimmten Bedingungen legalisieren woll- ten. Der einzige nennenswerte Fortschritt im Sinne der Reformer resultierte aus der parlamentarisch durchgesetzten Änderung des § 218 Mitte 1926. Danach wurde Abtreibung nicht mehr als Verbrechen, sondern als Vergehen bestraft (vgl. S.50-53). Es folgt eine detaillierte Darstellung reichsdeutscher Zensurpolitik nach einer zensurlosen Phase von November 1918 bis Mai 1920. Im Hauptteil analysiert und interpretiert von Keitz, zumeist chronologisch geordnet, 18 überwiegend fiktionale Filme, in denen die ungewollte Schwangerschaft einer Protagonistin einen teils nur beabsichtigten, teils auch ausgeführten illegalen Abbruch motiviert. Der Korpus umfasst neben wenigen bekannten Werken wie Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt: (1931/32) viele nicht einmal mehr ihrem nach Titel geläufige, oftmals verschollene oder nur fragmentarisch überlieferte Filme, darunter Sündige Miitter (1918), Keimendes Leben (2 Teile, 1918), Moral und Sinnlichkeit (3. Teil von Keimendes Leben, 1919), Muß die Frau Mutter werden: ( 1924), Kreuzzug des Weibes (1926) und Madame Lu, die Fraufiir discrete Beratung (1929). Von Keitz' Studie besticht durch eine akribische Recherche: Weit verstreute Zensurunterlagen, Programmhefte, Rezensionen, Szenenfotos werden ausge- wertet. Außerdem erhält der Leser genaue Informationen über mitunter mehrfa- che, zensurbedingte Schnitte sowie deren offizielle Begründungen durch die Filmprüfstelle und die im Falle von Widersprüchen ihr übergeordnete, letztent- scheidende Instanz: die Oberfilmprüfstelle. Bei Anne kleine Eva (1918), Kinder- seelen klagen euch an ( 1927), Stud. chem. Helene Willf'iier ( 1929/30), Cyankali - § 218 (1930) und Eine von uns ( 1932) vergleicht von Keitz prägnant die adaptierten literarischen Vorlagen sowohl mit der filmischen Originalfassung als auch den ,verstümmelten' Verleihfassungen. Die stilistischen, narrativen und ideologischen Besonderheiten der Filme werden unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Debatten um eine Reform des § 218 anschaulich erörtert. Dennoch kann Im Schatten des Gesetzes nicht als vollends gelungen beurteilt werden. Zunächst ist der Untertitel ,,Schwangerschaftskonflikt und Reproduktion im deutschsprachigen Film 1918 bis 1933" missverständlich, da vorwiegend deut- sche Filme zur Sprache kommen. Die beiden einzigen Ausnahmen sind Frauennot Furogra/if' 11ml Film 331 ~ Frauengliick ( 1929/30) sowie Kuhle Wampe oder Wem gehört die Weft:>, welche die sclnveizerische Praesenstilrn im ersten Fall produzierte, im zweiten Fall nach der Insolvenz der Prometheus fertig stellte. Muß die Frau Mutter werden? ist hingegen keine deutsch-österreichische Koproduktion, wie von Keitz behauptet (vgl. S.152), sondern eine deutsche Produktion (vgl. www.filmportal.de). Im Unterschied zur reichsdeutschen bleibt die schweizerische und österreichische Zensurpolitik, Abtreibungsregelung und sexualreformerische Programmatik aus- geklammert. Auch die deutsche Rezeption der gewählten Filme genießt Vorrang. Ob der Korpus sämtliche Filme zum Thema in jenem Zeitraum erfasst oder einem Ausschnitt entspricht, ggf welches Kriterium ihm zugrunde liegt, stellt von Keitz nicht hinreichend klar (vgl. S.14-15, 17). Es fehlt zudem ein einleitender Hinweis darau( dass teilweise im Buch abgebildetes filmbegleitendes Material wie Sze- nenfotos und Zensurkarten Surrogaten gleichkommt, die notwendig unzureichend beweisbare Rückschlüsse auf Form und Inhalt vermisster oder rudimentär erhal- tener Kopien gestatten. Die Autorin neigt dazu, diesen qualitativen Unterschied, wenn überhaupt, dann erst im Nachhinein zu bemerken (vgl. S.188, 190). Die analytischen und interpretatorischen Passagen weisen eine Fülle von rasch unüberschaubaren Detailbeobachtungen auf, deren Bedeutung für das übergreifende Thema nicht immer ersichtlich ist. Im Schlusskapitel versäumt es von Keitz, auf ihre Eingangsthese zurückzukommen. Stattdessen wird ,,das Korpus in seinem Verhältnis zum juristischen und sexual reformerischen Diskurs der Epoche noch einmal pointiert beleuchtet" (S.375). Die nahe liegende Frage, ob und inwieweit die filmische Repräsentation von Abtreibung im Verlauf der untersuchten Periode - trotz sich verschärfender Zensur - einen Fortschritt im Sinne der Sexualreformer oder gar Rückschritt verzeichnete, bleibt hingegen ungestellt. Ulrich Döge (Berlin)