Filmblatt 49 / 2012 3 Frank Noack Im Kurbad der Gottesanbeterinnen Zbyněk Brynychs Die Weibchen (1970) machen ernst mit der Vernichtung der Männer Wiederentdeckt 179, 17. Oktober 2011 Der tschechische Regisseur Zbyněk Brynych starb offiziell erst am 24. August 1995. Doch die ersten Nachrufe auf ihn wurden schon 25 Jahre früher verfasst. Nach drei kurz aufeinanderfolgend entstandenen Regiearbeiten für Münchner Produktionsgesellschaften – Oh Happy Day und Engel, die ihre Flügel ver- brennen für Caro-Film, Die Weibchen für Luggi Waldleitners Roxy-Film, alle aus dem Jahr 1970 – hatte ihn die westdeutsche Filmkritik als Künstler für tot erklärt. In Anspielung auf die verbrannten Flügel schrieb ein Rezensent: „Ob sie jemals wieder nachwachsen? Die Weibchen berechtigen nicht zu dieser Hoffnung!“1 In den durchweg negativen Rezensionen ist Enttäuschung und zwischen den Zeilen immer noch etwas Anerkennung spürbar. Dass man überhaupt hohe Er- wartungen an Brynych stellte, um dann schwer enttäuscht zu werden, lag an zwei Filmen, die er vor der Niederschlagung des Prager Frühlings in seiner Hei- mat gedreht hatte: Transport z raje (Transport aus dem Paradies, 1963) und … A páty jezdec je strach (Der fünfte Reiter ist die Angst, 1965). Beide wur- den zwar in der Bundesrepublik nicht verliehen, aber Brynychs Filme liefen etwa auf den Festivals in Cannes, Karlovy Vary und Locarno, von denen aus westdeut- sche Kritiker voller Begeisterung berichteten. Ihre Enttäuschung ist verständ- lich, wenn man Brynychs Werk unter rein thematischen Gesichtspunkten be- trachtet. Wer eben noch den Alltag im KZ Theresienstadt rekonstruiert hat, der begibt sich unter sein Niveau, wenn er auf einmal Interesse an der Münchner Schickeria bekundet. In der Tschechoslowakei ist Brynych erst gar nicht idealisiert, sondern als ein unberechenbarer Außenseiter verstanden worden, dem zwischen Meisterwer- ken auch komplette künstlerische Fehlschläge unterliefen. So ist er für Josef Škvorecký „der Autor einiger der besten und einiger der schlechtesten Filme der 1960er, der trotz seiner Unbeständigkeit und seiner Misserfolge ein ernsthaf- ter Künstler war, der etwas zu sagen hatte“.2 Und Antonín J. Liehm schreibt: 1 Die Weibchen. In: Evangelischer Film-Beobachter, Nr. 3, 16.1.1971. 2 Vgl. Josef Škvorecký: All the Bright Young Men and Women. A Personal History of the Czech Cinema. Toronto 1971, S. 216ff. Filmblatt 49 / 20124 „Zbynek Brynych was the first to spit in the face of the ostentatious pomp and bloodless pose of the Stalinist superfilms.“3 Ein ungewöhnlicher Werdegang. Dass Brynych nicht mit den üblichen Krite- rien zu erfassen ist, mag an seinem unkonventionellen beruflichen Werdegang liegen. Er war zweiter Trompeter in einem Prager Operettentheater, als Willi Forst das ganze Orchester für einen Film engagierte, bei dem es sich nur um Wiener Mädeln (1944/45) handeln kann. In Forst fand der 17-jährige Brynych eine In- spiration, einen ersten Lehrmeister.4 Wiederholt sah er sich dessen Film Operette (1940) an. Nach dem Krieg war er Produktions- und Regieassistent bei Jiri Weiss, ab 1951 inszenierte er ein paar Kurzfilme, und mit seinem ersten Langfilm schaffte er es 1958 in den Wettbewerb von Cannes: Zizkovska Romance (Vorstadtroman- ze) behandelte Themen wie erste Liebe und nichteheliche Mutterschaft, auf die Brynych in den kommenden Jahrzehnten wieder zurückgreifen sollte. Geradezu subversiv wirkt aus heutiger Sicht der Agententhriller Smyk (Dem Abgrund ent- gegen, 1960), denn dort lässt Brynych während des Vorspanns die Namen west- deutscher Konzerne in Leuchtreklame vorbeiziehen. Das Motiv der Bespitzelung ist hier ebenso mehrdeutig wie in seinen Filmen aus den 1960er Jahren über den Zweiten Weltkrieg. Mit Gestapo und BND konnte auch der KGB gemeint sein. Da- rüber hinaus stellte sich Brynych gegen die Prüderie des osteuropäischen Kinos und versah Der fünfte Reiter ist die Angst mit Bordell- und Duschszenen. Das Haus als Protagonist. Während der Dreharbeiten zu Engel, die ihre Flügel verbrennen, der wie Der fünfte Reiter ist die Angst die Bewohner und Besucher eines Hauses porträtiert, gab Brynych eine Art Credo von sich zum Besten: „Ich steche in den Ameisenhaufen hinein, und sofort stürzen die Bewohner an die Oberfläche, angsterfüllt und voller Entsetzen; und in dem Moment, wo sie ans Tageslicht kommen, da fängt mein Film an. Ich untersuche und beobachte das Verhalten der Leute.“5 Eine ähnliche Laborsituation kennzeichnet Die Weibchen. Die überarbeitete Chefsekretärin Eve (Uschi Glas) wird als „vegetativ dystonisch“ eingestuft und in ein Sanatorium geschickt, in dem sie ausspannen soll. Mit ihrer Fahrt an diesen entlegenen Ort – gedreht wurde in Franzensbad – setzt der Film ein. Anstelle von Vorspannmusik hört man nur das monotone Rattern, während eine Stimme – Eve oder ein Geist – flüstert: „Es sind die Nerven.“ Merkwürdige, zum Teil furchterre- gende Frauen sitzen mit ihr im Abteil. Hier ist eine Verschwörung im Gange; doch 3 Antonín J. Liehm: Closely Watched Films. The Czechoslovak Experience. White Plains, NY 1974, S. 104. 4 Vgl. das ausführliche Gespräch von Stefan Ertl und Rainer Knepperges mit Brynych im Juni 1994 in Rainer Knepperges (Hg.): Gdinetmaõ. Abweichungen vom deutschen Film. Berlin 2000, S. 46–58, hier bes. S. 56. 5 hjw: Besuch bei Dreharbeiten. In: Film-Echo / Filmwoche, Nr. 39, 16.5.1970. Filmblatt 49 / 2012 5 noch weiß man nicht, gegen wen. Der Chauffeur, der Eve vom Bahnhof abholt, ist eine Frau, ebenso der Tankwart. Man sieht auffallend viele Brillenträgerinnen; eine von ihnen liest und zitiert August Bebel. (Ältere Männer mit Hornbrille hiel- ten sich in Engel, die ihre Flügel verbrennen im Eingangsbereich des Hochhau- ses auf: als nicht näher definierte, deshalb umso bedrohlichere Repräsentanten eines Überwachungsstaates.) Alle Frauen sind untereinander vernetzt, und die wenigen Männer, die sich in dieses Gebiet verirren, werden benutzt und entsorgt. Ein paar Männer kollaborieren auch mit den Frauen und liefern ihre eigenen Ge- schlechtsgenossen ans Messer. Eve, die trotz ihres enttäuschenden Privatlebens weiterhin Männer liebt, gerät zwischen die Fronten. Internationale Besetzung. Als Auslöser des Projekts wurden in Presseerklä- rungen Aktionen der Frauenbewegung genannt, darunter Valerie Solanas’ 1968 verfasstes SCUM-Manifest und die öffentliche Verbrennung von Büstenhaltern sowie Roman Polanskis Rosemary’s Baby (1968) und der Trend zu Horrorkomö- dien wie Robert Altmans M*A*S*H (1970) und Mike Nichols’ Catch-22 (1970). Wie nah freilich Parodie und blutiger Ernst in Zeiten der Frauenbewegung liegen konnten, lässt ein Kommentar ahnen: „[D]ie Filmweibchen, ehedem als ironische Fiktion gedacht, als eine mit allen Hilfskräften des Horrors ausgestattete Psycho- drolerie des Absurden, waren von den Ideologen der kalten Frauenkriegsbewe- gung eingeholt, ehe sie ins Atelier gingen. Nun bleibt ihnen nichts weiter, als die Wirklichkeit vorwegzunehmen. In dem Film also geht es zu, wie es sich An- gehörige der Frauenstoßtrupps in aller Welt wünschen: Die Männer werden erst scharf gemacht, man benutzt sie noch einmal als Lustobjekt – und dann werden sie gekillt.“6 Der Verleih versprach einen „Gruselspaß“, einen „Horrorfilm zum Schmunzeln“, dessen Besetzung einen internationalen Erfolg zu garantieren schien: Uschi Glas war seit Zur Sache, Schätzchen (1968) der populärste weibliche Star des westdeutschen Kinos und stand in Verhandlungen mit französischen und itali- enischen Produzenten. Luggi Waldleitner engagierte außerdem die Französin- nen Irina Demick aus Le Clan des Siciliens (Der Clan der Sizilianer, 1969), Francoise Fabian aus Eric Rohmers Ma nuit chez Maud (Meine Nacht bei Maud, 1969) und Pascale Petit. Einen unverschämten blonden Macho mit offenem wei- ßen Hemd, um den es nicht schade ist, spielt Giorgio Ardisson, der neben billigen Agentenfilm- und Western-Rip-Offs immerhin auch in Federico Fellinis Giulietta degli spiriti (Julia und die Geister, 1965) aufgetreten war. Die Rolle der Sa- natoriumsleiterin, die alle Fäden in der Hand hält, ging an Gisela Fischer, deren leicht maskuline Sinnlichkeit schon in Alfred Hitchcocks Torn Curtain (Der zer- rissene Vorhang, 1966) und Brynychs Der Papierblumenmörder (1969) aus der Fernseh-Krimiserie Der Kommissar zur Geltung gekommen war. 6 TP/FR: „Horrorfilm“ zum Schmunzeln. In: Spandauer Volksblatt, 14.1.1971. Filmblatt 49 / 20126 Die Produktion wurde von einer intensiven PR-Kampagne begleitet.7 In der Ber- liner Morgenpost erschien etwa ein Artikel über den Regisseur und sein bisheri- ges Schaffen. Brynych ließ wissen, dass er den westdeutschen Filmbetrieb ohne Illusionen betrachte: „Man muß in Deutschland versuchen, aus dem vom Markt Diktierten das Beste zu machen.“ Die Weibchen bezeichnete er als eine „Para- bel über eine Abhängigkeit, gegen die sich aufzulehnen sinnlos wäre“, was den Kritiker zur Frage verleitete: „Ob der pfiffige Ironiker Brynych dabei […] an die Abhängigkeit vom deutschen Filmkommerz gedacht hat?“8 Trotz Berichterstattung und prominenter Besetzung gingen Die Weibchen gleich nach der Premiere kurz vor Weihnachten 1970 sang- und klanglos unter. In der Branchenzeitschrift Film-Echo gab es in den darauffolgenden Wochen nicht einmal Misserfolgsmeldungen. Im Jahresrückblick heißt es zur Publikumsreso- nanz lediglich „ohne Angabe“. Offenbar wurde der Film mit so wenigen Kopien gestartet, dass die meisten Kinobesitzer ihn gar nicht kannten. Auf der Liste der zehn kommerziell erfolgreichsten deutschen Filme des Jahres stand Schulmäd- chen-Report (1970) ganz oben; es folgten diverse Sex- und Pauker-Filme. In die- ser Kinolandschaft war für einen Film wie Die Weibchen, dessen Regisseur sich weder für den Sex- noch für den Horrormarkt interessierte, kein Platz – obwohl es sich im weitesten Sinne um einen Horrorfilm handelte. Was den Genre-Aspekt betraf, sah sich Brynych vom Stoff von Die Weibchen an die Schauergeschichten eines Edgar Allan Poe erinnert; daneben wollte er wie Hitchcock in seinen Thrillern „mit dem Fatalen ein ironisches Spiel“ aufziehen, merkte ein Rezensent an: „Brynych weiß sehr wohl, daß gerade der Horror-Film in einer total rationalisierten Zeit gleichsam den Entwurf einer erwünschten Ge- genwelt gegenüber der kalten Monotonie des Alltags darstellt. ‚Es ist‘, so sagt er, ‚eine auf den Kopf gestellte Realität. Man könnte es auf diese Formel bringen: Eine Taube ist gemeinhin ein Friedensvogel, im Horror-Film bekommt man jedoch vor der Taube Angst … Das Publikum will im Kino nicht das sehen, was es täglich tut.‘ Und von dem, was die ‚Weibchen‘ tun, kann man nun wirklich nicht behaup- ten, daß es gang und gäbe sei.“9 Die Taube dürfte eine Anspielung auf Hitchcocks The Birds (Die Vögel, 1963) sein, dessen Einfall, das traditionelle hässliche Monster durch unscheinbare Le- bewesen zu ersetzen, in den Folgejahren variiert worden ist: mit Kindern oder, wie hier, mit Frauen. 7 Die Weibchen wurden gemeinsam mit anderen Waldleitner-Projekten auf der Titelsei- te von Film-Echo / Filmwoche (Nr. 35, 2.5.1970) angekündigt. Dort erschienen später auch zwei Berichte von den Dreharbeiten (Vgl. Nr. 60–61, 31.7.1970; Nr. 64–65, 14.8.1970). Kurz vor der Premiere titelte Film-Echo / Filmwoche (Nr. 98, 9.12.1970): „Ein Farbfilm von Zbynek Brynych ... in 15 Städten“. 8 Henning Harmssen: Diese Damen killen stets systematisch. Horror-Film über männermor- dende Frauen. In: Berliner Morgenpost, 4.9.1970. 9 TP/FR: „Horrorfilm“ zum Schmunzeln. In: Spandauer Volksblatt, 14.1.1971. Filmblatt 49 / 20128 Aufdringliche Kamera. Immer ist bei Brynych die Kamera als solche präsent. Sie registriert nicht einfach, sie drängt sich auf. Sie rempelt die Darsteller an, schiebt sie beiseite. Es wird wie wild gezoomt und gekippt. Die Handlung, be- klagte sich ein Kritiker, „dreht sich im Kreise, ebenso wie die Kamera, die immer wieder wie ein Schmetterling von Gesicht zu Gesicht taumelt.“10 Wenn Eve die an- deren Frauen im Sanatorium begrüßt, erzeugt Kameramann Charly Steinberger mit seinem Weitwinkelobjektiv 3D-Effekte. Zwischen Francoise Fabians Schulter und der Hand, die sie Uschi Glas reicht, liegen gefühlte zehn Meter. Steinberger, der vorher unter anderem mit Victor Vicas, Rainer Erler und Jerzy Skolimowski zu- sammengearbeitet hatte, präsentiert damit eine radikale Variante jenes zwischen Manieriertheit, Effekthascherei und profundem Surrealismus changierenden Ka- merastils, mit dem er sich in den folgenden Jahren einen Namen macht: Die mit Alfred Vohrer als Regisseur, Manfred Purzer als Drehbuchautor und Luggi Wald- leitner als Produzent realisierte Reihe von Simmel-Verfilmungen wurden auch we- gen Steinbergers Kameraarbeit und dem von im kreierten visuellen Look berühmt und unverwechselbar. Zu den optischen Experimenten in Die Weibchen gesellt sich eine ambitionierte Tonspur. Das Zuggeratter als Vorspannmusik wurde bereits erwähnt. Frauenge- flüster und -gekicher wird von Hühnergegacker überlagert, und die Spritze, mit der Eve nach ihrer Einlieferung Blut abgenommen wird, müsste dringend geölt werden, sie macht ein furchterregendes Geräusch. Verantwortlich für den Ton zeichnete der 1968 aus der Tschechoslowakei nach München gekommene Milan Bor, der später für sein Tondesign bei Wolfgang Petersens Das Boot (1980) eine Oscar-Nominierung erhielt.11 Über weite Strecken ist das Treiben der Frauen anregend zu beobachten, aber von einem bestimmten Moment an gibt es dramaturgisch keine Entwicklung mehr. Da ihre eigene Vormachtstellung nie bedroht wird, scheinen die Frauen sich selbst ein bisschen zu langweilen. Für sie steht nichts auf dem Spiel. Offenbar ging es Brynych gar nicht um die Erzeugung konventioneller Spannung. Eher richtet sich Die Weibchen an ein Publikum, dem die Form wichtiger ist als die Story. Man muss empfänglich für stilvolle Dekorationen und Kostüme sein, für gewagte Bildauftei- lungen und eine surreale Akustik, um die Arbeit von Brynych zu würdigen. Allerdings gibt es dann doch noch eine längere Szene, die auch rein inhaltlich fasziniert, in der es nicht nur auf das Wie, sondern auch auf das Was ankommt. Es ist die öffentliche Verbrennung der Büstenhalter durch eine Versammlung voll- kommen enthemmter Frauen, bei der Valerie Solanas’ Parolen aus ihrem SCUM- Manifest lauthals bejubelt werden. Die Aktion findet an einem hölzernen Podest statt, wie man es bei öffentlichen Hinrichtungen verwendete, was dem ausge- 10 Ewald Stroh: Die Weibchen. In: Rhein-Zeitung, 21.1.1971. 11 Dominik Graf, der ebenfalls mit Bor zusammengearbeitet hat, lobt ihn in seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung vom 23.5.1998 in höchsten Tönen; abgedruckt in: Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film. Hg. von Michael Althen. Berlin 2009, S. 298–300. Filmblatt 49 / 201210 sitzt Uschi Glas wieder oder immer noch im Zug auf dem Weg ins Sanatorium, und vielleicht war alles nur ein Traum. Erfolgreich gescheitert. Nach seinen drei westdeutschen „Kommerzfilmen“, über deren kommerzielles Schicksal die Branchenzeitschriften keine Auskunft geben, ist Brynych innerhalb der Film- und Fernsehindustrie nicht in Ungnade gefallen. Im Interview hat er sich zwar über Schwierigkeiten mit den tschechi- schen Behörden und die fehlende Reisefreiheit beklagt.12 In seiner Filmografie ist ab Mitte der 1970er Jahre davon jedoch nichts zu spüren. In Prag inszenierte er den Märchen- und Schlagerfilm Romance za korunu (Romanze für eine Krone, 1975) mit Karel Gott, der beim DDR-Fernsehpublikum einen bleibenden Eindruck hinterließ, aber auch Sozialdramen und brutale Thriller; in München wurde er re- gelmäßig für die Krimiserien Der Alte und Derrick verpflichtet. Als das ZDF eine Serie über schwangere Frauen in Auftrag gab, lieferte er mit Bitte laut klopfen (1976) die Studie einer Hysterikerin, die an Abtreibung denkt und mit einer ros- tigen Schere vor der Kamera herumfuchtelt. Brynych hat im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Umfallen gearbeitet. Die Ausstrahlung seines letzten Films hat er nicht mehr miterlebt: Erst nach seinem Tod liefen die vier von ihm inszenierten Folgen der Serie Der Mann ohne Schatten (1996) im Fernsehen. Brynych hat trotz seines auf dem Papier sehr disparat wirkenden Schaffens eine Fangemeinde, die – wie es scheint – in dem Maße wächst, in dem jüngere Film- freunde ein westdeutsches Kino für sich entdecken, das abseits des von der Kritik in den 1970er und 1980er Jahren kanonisierten Autorenfilms liegt.13 Zu den Be- wunderern, die sich wiederholt publizistisch für Brynych stark machen, gehört auch Dominik Graf, der ja selbst eine eher brüchige Filmografie besitzt. In den 1969/70 entstandenen Kommissar-Folgen von Brynych, dem „Regiehexer aus Karlsbad“,14 sieht Graf jedenfalls „das vielleicht größte filmische Geschenk“ an das westdeutsche Publikum: „Vier exorbitante Folgen des guten alten Kommis- sar, vier kurze Filme, die an schierer Vitalität der Erzählweise und der Figuren – und an heute noch glücklich machender BRD-Schmutzigkeit – so ziemlich alles schlagen, wovon das deutsche Fernsehen – und der deutsche Film sowieso – je zu träumen gewagt hätte.“15 Geradezu hymnisch hat sich Dominik Graf bei anderer Gelegenheit über zwei von José Giovanni und Wolfgang Becker inszenierte Folgen von Der Alte aus dem Jahr 12 Vgl. Brynych in Knepperges (Hg.): Gdinetmaõ, S. 54. 13 Siehe dazu besonders Knepperges (Hg.): Gdinetmaõ, mit einem Brynych-Interview, An- merkungen zu seinen Kommissar-Folgen und einem längeren Text über Engel, die ihre Flügel verbrennen. 14 Dominik Graf: Der eine sucht einen Zuhörer, der andere Tickets. Zbynek Brynychs Nacht von Lissabon. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.2.2012. 15 Dominik Graf: Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film. Hg. von Michael Althen. Berlin 2009, S. 280. Filmblatt 49 / 2012 11 1977 geäußert. „Wie reich an Erotik, an innerer Spannung, an schöner Triviali- tät, an Tragik, an sarkastischer Ungeheuerlichkeit sind diese kleinen Filme doch, während zeitgleich 1977 dazu der bemühte deutsche Autorenfilm tobte, der viel- leicht bedeutende Filme im Auge der konservativen Filmhistorie geschaffen ha- ben mag, der aber nicht eine einzige Szene hervorbrachte, die so konsequent, so manchmal geradezu fahrlässig locker gedreht und daher so frech wirkte, wie es hier bei Giovanni mindestens fünf gibt und bei Becker auch noch mal eine oder zwei. ‚Eine wahre Geschichte‘ des deutschen Kinos sollte sich letzten Endes mal nur mit Momenten, mit einzelnen Dialogen, mit Augenblicken beschäftigen. Nur so wird man in Zukunft die Wahrheit unserer Filme für spätere Generationen be- wahren können.“16 Wer weiß, womöglich lässt sich Grafs Plädoyer auch auf Die Weibchen ausdehnen, einen aufregend unperfekten Film von einer Art, die es im westdeutschen Film selten gab und die einen zweiten Blick verdient. Die Weibchen / Femmine Carnivore BRD, Frankreich, Italien 1970 / Regie: Zbyněk Brynych / Buch: Manfred Purzer, nach einer Idee von Igor Sentjurc / Kamera: Charly Steinberger / Musik: Peter Thomas / Ton: Milan Bor / Schnitt: Sophie Mikorey / Bauten: Wolf Englert, Bruno Monden (ungenannt) / Kos- tüme: Inge Ege­Grützner / Maske: Heidi Schumann­Moser, Ingrid Meyer / Regieassistent: Siegfried Rothemund / Aufnahmeleitung: Franz Achter / Herstellungsleitung: Erwin Gitt / Darsteller: Uschi Glas (Eve), Irina Demick (Anna), Francoise Fabian (Astrid), Anne­Marie Kuster, George Ardisson, Pascale Petit, Alain Noury, Judy Winter, Tanja Gruber, Ruth Eder, Gisela Fischer, Brigitte Graf, Klaus Dahlen, Kurt Zips, Hans Korte / Produktion: Roxy­Film, München; Capitole Films, Paris; Copro­Film, Rom / Produzent: Luggi Waldleitner / Ver- leih: Inter­Verleih Film, Hamburg / Drehorte: Geiselgasteig, Starnberger See, Franzensbad / Drehzeit: Juli­August 1970 / FSK: 25.9.1970, Nr. 42798, ab 18 Jahre, nicht feiertagsfrei / Länge: 1) 2.454 m, 90 Minuten, Farbe; 2) 2.180 m, 80 Minuten, Farbe / Deutsche Erstaufführung: 22. Dezember 1970 Kopie: Werkstattkino München, 35mm, Farbe, 90 Minuten Anmerkung: Im Bundesarchiv­Filmarchiv befindet sich jeweils eine 35mm kombinierte Kopie der „alten“ und der „neuen“ Fassung; dahinter verbergen sich eventuell die unterschiedlich langen FSK­Fassungen von 90 bzw. 80 Minuten; das Material ist konservatorisch nicht gesi­ chert und daher nicht benutzbar. Weiterhin liegt eine 35mm­Kopie von Die Weibchen als Depositum der Deutschen Kinemathek im Bundesarchiv­Filmarchiv in Koblenz; der Zustand ist nicht bekannt und das Material nicht benutzbar. Taurus Media besitzt ebenfalls eine 35mm­ Kopie des Films, allerdings in schlechtem Zustand und nicht vorführbar. (Stand April 2011) 16 Dominik Graf: Richtig ticken. Zwei frühe Folgen von Der Alte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.2.2010.