Hörfunk und Fernsehen 91 Reihenrezension: Serienkulturen Marcus Stiglegger: Auschwitz-TV. Reflexionen des Holocaust in Fernsehserien Wiesbaden: Springer VS 2015 (Serienkulturen: Analyse – Kritik – Bedeutung), 95 S., ISBN 9783658058760, EUR 29,99 Ivo Ritzer: Wie das Fernsehen den Krieg gewann. Zur Medienästhetik des Krieges in der TV-Serie Wiesbaden: Springer VS 2015 (Serienkulturen: Analyse – Kritik – Bedeutung), 181 S., ISBN 9783658059194, EUR 29,99 Holger Schulze: American Progress. Nerdkultur, akrobatische Komik und Commedia dell’arte Wiesbaden: Springer VS 2016 (Serienkulturen: Analyse – Kritik – Bedeutung), 88 S., ISBN 9783658091347, EUR 19,99 Sven Stollfuß: Cyborg-TV. Genetik und Kybernetik in Fernsehserien Wiesbaden: Springer VS 2017 (Serienkulturen: Analyse – Kritik – Bedeutung), 149 S., ISBN 9783658144715, EUR 29,99 Fernsehserien machen Mythen zum in der Populärkultur zu umschreiben, Alltag. Oder zeitgenössischer for- zu tradieren und auch neu zu befra- muliert: Fernsehserien sind als seriell gen. Anhand dieser schlichten These organisierte Formate besonders dazu lassen sich nicht nur fernsehskeptische geeignet, traditionelle Mythenbilder Ansätze in der Tradition der kritischen 92 MEDIENwissenschaft 01/2019 Theorie auf einen Nenner bringen, tionsschemata erschließbar machen. sondern ebenso mehr oder minder alle Dennoch sollen sie etwas über kultu- hier zu rezensierenden Bücher. Diese relle Befindlichkeiten und Strukturen Einschätzung soll aber keine Kritik an von Sinnorientierung oder zumindest den einzelnen Monografien nahele- kulturell virulente Themen und deren gen. Eher im Gegenteil: Zeugt diese Diskursivierungsoptionen aussagen, Ausrichtung doch trotz der Hetero- sei es über den Umgang mit Krieg genität der einzelnen Gegenstände, (Ritzer), den Holocaust (Stiglegger), Perspektiven und Stile von einem kla- ,Nerdkultur‘ (Schulze) oder Kyber- ren Programm der im Springer-Verlag netik und Genetik (Stollfuß). Zum seit 2015 herausgegebenen Reihe anderen finden sich die Verfasser trotz „Serienkulturen“, in der die Bücher aller strukturalistischer Ausrichtung erschienen sind. Das hier zu Grunde längst im post- oder besser vielleicht: gelegte Mythenkonzept umfasst mehr neostrukturalistischen Zeitalter. In die- als ideologische Naturalisierung im sem Fall bedeutet dies für die Argu- Sinne Roland Barthes, also mehr mentation der Serienbücher folgendes: als Erzählungen, deren ideologische Mythen werden in den Serien nicht nur Implikationen maskiert werden, um sinnorientierend ausgebildet, sondern so die darin formulierten Erklärungen ebenso permanent neugeschrieben, der Welt als alternativlose Sichtweise modifiziert, seriell unterwandert oder vorstellig machen zu können. Ebenso doch zumindest reflektiert und unter- wenig werden Mythen ausschließlich schiedlich aktualisiert. Mal impliziter, als komplexitätsreduzierende Bestäti- mal expliziter wird diese Perspektive gung gesellschaftlicher Verhältnisse eingenommen, genauso bezüglich der im Sinne Horkheimers und Adornos historischen Entfaltung der Kriegs- verstanden. Vielmehr liegen den hier zu thematik in sogenannten ‚Combat- rezensierenden Büchern – mal expliziter Serien‘ wie Combat! (1962-67) oder The (wie bei Stiglegger und Ritzer), mal als P acific (2010), wie bei der Reflexion von implizite Basisstruktur (wie bei Stollfuß Kybernetik und Genetik in fiktionalen und Schulze) – ein Mythenverständ- Serien, beispielsweise in The Six Million nis in strukturalistischer Tradition des Dollar Man (1973-78) oder Person of Ethnologen Claude Lévi-Strauss zu Interest (2011-16). In einem Text fin- Grunde. Damit befindet man sich auf det diese Perspektive eine räumliche, traditionell kulturwissenschaftlichem genauer staatlich-geografische Wen- Terrain und analysiert, wie anno dazu- dung: In unterschiedlichen Ländern mal Lévi-Strauss seine ‚Traurigen fanden stark voneinander abweichende Tropen‘, Fernsehserien funktional als Aufarbeitungen des Holocaust in Fern- grundlegende Welterklärungsmodelle, sehserien statt. Ausgehend von der US- die narrativ immer wieder aufs Neue amerikanischen Serie Holocaust (1978), ausformuliert werden. Diese sollen seien hier etwa die achtteilige westdeut- zum einen die Grundbefindlichkeit sche Serie Ein Stück Himmel (1982), des Menschen in binären Klassifika- die für das ostdeutsche Fernsehen Hörfunk und Fernsehen 93 produzierte Miniserie Archiv des Todes demgemäß einem pars pro toto-Prinzip, (1980), oder die französisch-iranisch- das heißt die Serien sind Indikatoren libanesisch-ungarische Co-Produktion für übergeordnete medienkulturelle Madar-e sefr daradscheh (2007) genannt. Konstellationen und Befindlichkeiten. Nicht zuletzt gilt die permanente Mit Abstrichen gilt dies ebenso für das Aktualisierung, Umschreibung und Vorgehen Stigleggers und Stollfuß‘. Unterwanderung von Sinnangeboten Schulzes Ansatz ist demgegenüber auch und wohl insbesondere für die vielmehr der philologischen Tradition medien- und selbstreflexive Komik der des close reading verbunden (mitsamt Serie 30 Rock (2006-13). Diese soll, der dazugehörigen Feier des eigenen will man Holger Schulze folgen, nicht Gegenstandes), der die medienkultu- nur die Mentalität und Ideologie des relle Konstellation intelligent zu deuten „amerikanische[n] Fortschritt[s]“ (S.85) weiß. Auch die Längen der Publikati- in Form einer modernen „Commedia onen der Reihe sind nicht gerade einem dell’arte“, wie es im Untertitel heißt, televisuellen Serienstandard angegli- kommentieren. Darüber hinaus werde chen. Ritzers Buch umfasst 181 Seiten, der ‚amerikanische Fortschritt‘ selbst Stigleggers Buch knapp die Hälfte. genau als solch eine Form des ‚Steg- Was wiederum alle Text eint, ist die reiftheaters‘ entlarvt, bestehe dieser laut Konzentration auf fiktionale Serien, Schulze doch aus purer Oberfläche, sich deren Kern (oder im Fall von Stiglegger permanent wandelnden Merkmalen zumindest deren Ausgangspunkt) bei und Improvisationskunst (vgl. ebd.). US-amerikanischen Serienproduk- Die Themen, die in den einzelnen tionen zu finden ist. Das ist aus vie- Bänden verhandelt werden, sind viel- lerlei Gründen nachvollziehbar; man fältig und bewegen sich nicht nur auf betrachte nur die immer noch herr- unterschiedlichen Ebenen, sondern dif- schende globale Hegemonialmacht ferieren auch in Reichweite und jewei- US-amerikanischer Serien. Dennoch liger Herangehensweise. So umfasst wäre es für die Zukunft der Reihe Ritzers zentraler Gegenstandskorpus wünschenswert, wenn Serienkulturen zwölf Serien aus den 1960er Jahren bis nicht nur unterschiedliche Genres mit in die 2010er Jahre. Schulzes Studie dem Zentrum USA meinen, sondern hingegen befasst sich mit genau einer andere Regionen (jenseits von Norda- Serie, 30 Rock, die zwischen 2006 und merika und Zentraleuropa) in den Blick 2013 zum ersten Mal ausgestrahlt genommen würden. wurde. Bei Ritzer steht der Kontext Gerade die drei historisch ausge- vor dem einzelnen Text, die Entfaltung richteten Publikationen zeichnen sich eines historischen Imaginations- und durch Sachkenntnis und eine klare Diskurszusammenhangs ist wichtiger Argumentationslinie aus. Bei Stiglegger als die einzelne Serie, medientech- ist besonders die Konturierung der nische, institutionelle und ökonomische unterschiedlichen nationalen Erinne- Veränderungen schreiben sich in die rungsarbeit in Serien plausibel und an Serien ein. Die Serienanalyse folgt vielen konkreten Beispielen aufschluss- 94 MEDIENwissenschaft 01/2019 reich dargelegt. Hingegen irritiert die geschichten der Kybernetik sowie der recht kritische Prämisse, die dieser Genetik. Schulzes Analyse einer Serie Arbeit zu Grunde liegt: Stigleggers fällt aus dieser Reihe – wie bereits ange- Hauptthese besagt im Fahrwasser der führt – etwas heraus und kann weder in Simulationstheorie Baudrillards recht der ideengeschichtlichen Aufbereitung apodiktisch: „Es sind mediale Bilder [in noch in der theoretischen Herleitung den behandelten Serien; SG] als histo- gegenüber den anderen Büchern beste- rische Simulakren“ (S.27). Die medi- hen, jedoch beeindrucken die philolo- alen Bilder würden ‚reale‘ Geschichte gische Akribie und Kreativität seiner ersetzen und somit einem Prozess der Untersuchung durchaus. Enthistorisierung zuarbeiten. Dass Wenn überhaupt etwas an den diese Simulakrum-Bildung auch sehr durchweg inspirierenden Texten über- viel positiver oder doch neutraler im greifend kritisiert werden kann, dann Register einer kulturellen Gedächtnis- scheint mir dies am ehesten auf einer funktion beschrieben werden könnte, Ebene der medienästhetischen Form- wird im Text nicht diskutiert. Ritzers analyse formuliert werden zu können Buch beeindruckt wiederum insbe- – geht es doch in den jeweiligen Seri- sondere im ersten Drittel durch seine enanalysen erstaunlich wenig um die theoretischen Überlegungen. Nahezu Serialität der Serien. Zwar verweist jede derzeit aktuelle (medien-)kul- Stiglegger kurz darauf, es sei signi- turelle Theorie wird aufgerufen und fikant, dass Holocaust-Serien keine kurz andiskutiert, alle möglichen Per- „offene Form“ (S.89) verwendeten, also spektiven bedacht, vielerlei Ebenen nicht auf Endlosigkeit angelegt seien. zusammengebracht. Auch wenn gerade Außer dem Hinweis, dass es sich im im ersten Drittel einige Kürzungsop- Hinblick auf den Gegenstand wohl tionen nicht genutzt wurden, so ist es in diesem Fall nicht anbot, bleibt eine dennoch beeindruckend, wie fruchtbar tieferschürfende Diskussion diesbe- Ritzer den theoretischen Vorlauf für die züglich aus. Schulze wiederum disku- konkreten Analysen seiner ‚Combat‘- tiert ‚seine‘ Serie 30 Rock als Inbegriff Serien zu nutzen weiß. Vor allem wenn serieller Substanzlosigkeit, was er auf der Verfasser gegen Ende des Buches die US-amerikanische Ideologie und medienökonomische Aspekte in seine Mentalität ausweitet. Dabei geht er Serienanalysen einbindet, zeigt sich aber erstaunlicherweise nicht auf Ritzer als Meister der Interdependenz- die universelle mediale Strukturei- Jonglage. Stollfuß‘ Buch wiederum genschaft des Fernsehens ein, die – scheint gerade in seinen Schnittstellen- zumindest nach Lorenz Engell (Vom analysen zwischen fiktionalen Serien- Widerspruch zur Langeweile. Logische diskursen und den virulenten Diskursen und temporale Begründungen des Fern- jenseits der Serie äußerst gelungen. So sehens. Frankfurt/Main u.a.: Peter erhalten Lesende hier eine souveräne Lang, 1989, S.251ff.) – gerade in solch Serienanalyse und gleichzeitig eine einer Wesenlosigkeit besteht. Ebenso instruktive Einführung in die Ideen- fehlt weitgehend eine serienimmanente Hörfunk und Fernsehen 95 Erklärung für veränderte Diskurse digmenwechsel oder doch zumindest und Darstellungen, die beispielsweise die Programmatik der Reihe: Weniger schlicht durch die Virulenz immanenter handelt es sich um Serienkultur-Ana- Überbietungslogik zu erklären wären. lysen, dafür mehr um Serienkultur- Serielle Formen werden so weder in ihrer Analysen. Aus einer vielleicht allzu Medialität noch als Grundrisse kulturel- konservativen Perspektive, die getrie- ler Verhältnisse untersucht und so auch ben ist von der Sorge um die Eigenstän- nicht als Reflexionsinstanzen (medien-) digkeit der Medienwissenschaft, wäre kultureller Konstellationen und Befind- für die zukünftigen Bände noch eine lichkeiten. Zwar geht R itzer kurz darauf stärkere Ausrichtung auf die medialen ein, dass die von ihm analysierten Serien Formen wünschenswert. Wenn dann eine Art symbolische Form im Sinne noch der zweite Plural der Reihe, die C assirers und Panofskys ausbildeten (vgl. Serienkulturen, geografisch ernster S.12). In der konkreten Analyse werden genommen würde, wären die Veröf- aber dann doch eher Motive und serielle fentlichungen der Reihe noch besser Aktualisierungen der Ideengeschichte als es die bis dahin veröffentlichten untersucht, weniger tatsächlich serielle Bände ohnehin schon sind. Aspekte als symbolische Formen. Aber vielleicht zeigt sich gerade hie- ran ein medienwissenschaftlicher Para- Sven Grampp (Erlangen-Nürnberg)