MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews herausgegeben von Angela Krewani · Karl Riha · Burkhard Röwekamp Jens Ruchatz · Yvonne Zimmermann in Verbindung mit Andreas Dörner · Thomas Elsaesser† · Jürgen Felix Andrzej Gwóźdź · Knut Hickethier Jan-Christopher Horak · Anton Kaes · Friedrich Knilli† Gertrud Koch · Hans-Dieter Kübler Helmut Schanze · Gottfried Schlemmer · Matthias Steinle Margrit Tröhler · William Uricchio Hans J. Wulff · Siegfried Zielinski MEDIENwissenschaft Rezensionen | Reviews Begründet von Thomas Koebner und Karl Riha Herausgeber_innen: Angela Krewani (Marburg), Karl Riha (Siegen), Burkhard Röwekamp (Marburg), Jens Ruchatz (Marburg), Yvonne Zimmermann (Marburg) Redaktion: Vera Cuntz-Leng (verantwortlich), Lydia Korte Mitarbeit: Elisabeth Faulstich Beirat: Andreas Dörner (Marburg), Jürgen Felix (Blieskastel), Andrzej Gwóźdź (Katowice), Knut Hickethier (Hamburg), Jan-Christopher Horak (Pasadena), Anton Kaes (Berkeley), Gertrud Koch (Berlin), Hans-Dieter Kübler (Werther), Helmut Schanze (Siegen), Gottfried Schlemmer (Wien), Matthias Steinle (Paris), Margrit Tröhler (Zürich), William Uricchio (Cambridge, Mass.), Hans J. Wulff (Westerkappeln), Siegfried Zielinski (Berlin) Kontakt: Redaktion MEDIENwissenschaft Philipps-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Straße 6A 35039 Marburg Telefon: (0 64 21) 282 5587 Telefax: (0 64 21) 282 6993 E-Mail: medrez@staff.uni-marburg.de Website: https://mediarep.org/handle/doc/4958 Eine Veröffentlichung der Philipps-Universität Marburg. MEDIENwissenschaft erscheint vierteljährlich im Schüren Verlag GmbH, Universitätsstr. 55, 35037 Marburg, Telefon (0 64 21) 6 30 84, Telefax (0 64 21) 68 11 90. WWW: http://www.schueren-verlag.de, E-Mail: info@schueren-verlag.de Einzelheft: EUR 18,-, Jahresabonnement: EUR 60,- Anzeigenverwaltung: Katrin Ahnemann ISSN 1431-5262 © Schüren Verlag GmbH, Marburg 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen. Gemäß § 10 des hessischen Pressegesetzes sind wir zum Abdruck von Gegendarstellungen – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – verpflichtet. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Printed in Germany. Editorial Liebe Leser_innen, To meme or not to meme, that is the question - im aktuellen Heft erwartet Sie neben mehr als 40 Rezensionen ein Perspektiven-Beitrag zu Memes und Meme-Kultur von Kevin Pauliks. Erstmalig veröffentlichen wir in dieser Ausgabe zwei Rezensionen zur gleichen Neuerscheinung: Kai Matuszkiewicz und Timo Rouget geben beide ihre Einschät- zung zu Digitale Lernwelten – Serious Games und Gamification: Didaktik, Anwen- dungen und Erfahrungen in der Beruflichen Bildung, herausgegeben von Maren Metz und Wolfgang Becker, ab. Wir haben uns von unserer alten Website endgültig verabschiedet und freuen uns außerordentlich, dass die MEDIENwissenschaft auf media/rep/ dauerhaft ein Zuhause gefunden hat – mit hervorragender technischer Betreuung, guter Handhabbarkeit und ansprechender Darstellung. Viel Freude bei der Lektüre wünschen Ihre Herausgeber_innen Besuchen Sie uns auf Facebook: https://www.facebook.com/medrez84 Follow us on Twitter: https://twitter.com/medrez84 Image by Dank Memes for Media Studies Fiends 114 MEDIENwissenschaft 02/2023 Inhalt Perspektiven Ein Metabild von Memes: Perspektiven der Meme Studies auf Bild, Text und Praxis Kevin Pauliks ................................................................................................. 119 Neuerscheinungen: Besprechungen und Hinweise Im Blickpunkt Efrén Cuevas: Filming History from Below: Microhistorical Documentaries Henning Engelke ............................................................................................138 Medien / Kultur Natalie Lettenewitsch, Linda Waack (Hg.): Ein- und Ausströmungen: Zur Medialität der Atmung Martin Siegler ................................................................................................ 141 Caleb Kelly, Jakko Kemper, Ellen Rutten (Hg.): Imperfections: Studies in Mistakes, Flaws, and Failures Sebastian R. Richter ....................................................................................... 143 Benjamin Burkhart, Laura Niebling, Alan van Keeken, Christofer Jost, Martin Pfleiderer: Audiowelten: Technologie und Medien in der populären Musik nach 1945 – 22 Objektstudien Alexander Kroll .............................................................................................. 145 Bernhard Groß, Valerie Dirk (Hg.): Alltag: Ästhetik, Geschichte und Medialität eines Topos der Moderne Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 147 Natalie Berner: Die Konstruktion der Mutter in Politik, Wirtschaft, Medien und Alltag: Eine kommunikationswissenschaftliche Diskursanalyse am Beispiel Mutterschaft Monika Weiß .................................................................................................. 149 Janine Luge-Winter: Die Ikone und das Undarstellbare: Ikonentheorien im bildtheoretischen Kontext Norbert M. Schmitz ........................................................................................ 151 Katharina Rein (Hg.): Magic: A Companion Rolf Löchel .....................................................................................................154 Stefan Neuhaus: Der Krimi in Literatur, Film und Serie: Eine Einführung Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 156 Inhaltsverzeichnis 115 Buch, Presse, Druckmedien Anya Heise-von der Lippe: Monstrous Textualities: Writing the Other in Gothic Narratives of Resistance Susanne Schwertfeger ...................................................................................... 159 Tobias Kurwinkel, Stefanie Jakobi (Hg.): Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch Martin Janda ................................................................................................. 161 John McCoy, Andrei Molotiu (Hg.): Raw, Weirdo, and Beyond: American Alternative Comics, 1980-2000 Iris Haist ........................................................................................................ 163 Kinza Khan: Maidan, Krim und Russland: Eine Medien-Frame-Analyse deutscher Print-Berichterstattung im Februar und März 2014 Wolfgang Schlott ............................................................................................. 165 Alla G. Bespalova, Horst Pöttker (Hg.): Mediensysteme in Deutschland und Russland: Handbuch Hans-Dieter Kübler ........................................................................................ 167 Szenische Medien Annalena Roters: Mit Tieren denken: Zur Ästhetik von lebenden Tieren in zeitgenössischer Kunst Susanne Schwertfeger ...................................................................................... 170 Rebekka Kricheldorf: Dem Tod ins Gesicht lächeln: Ein Plädoyer für Komik und die Feier des Absurden im Theater Wolfgang Schlott ............................................................................................. 172 Fotografie und Film Christian Bettges: Docutimelines: Zur Produktion von Musikdokumentationen Hans-Jürgen Wulff ......................................................................................... 175 Winfried Gerling, Florian Krautkrämer (Hg.): Versatile Camcorders: Looking at the GoPro-Movement Karina Kirsten ............................................................................................... 178 Patricia Emison: Moving Pictures and Renaissance Art History Michael Wedel ................................................................................................ 181 Noel Brown: Contemporary Hollywood Animation: Style, Storytelling, Culture and Ideology Since the 1990s Jannik Müller ................................................................................................. 183 116 MEDIENwissenschaft 02/2023 Ute Dettmar, Ingrid Tomkowiak (Hg.): On Disney: Deconstructing Images, Tropes and Narratives Sebastian Stoppe ............................................................................................. 185 Bettina Henzler: Filmische Kindheitsfiguren: Bewegung – Fremdheit – Spiel Timo Rouget ................................................................................................... 187 Daniel Damler: Gotham City: Architekturen des Ausnahmezustands Gerrit Lungershausen ..................................................................................... 189 Timo Rouget: Filmische Leseszenen: Ausdruck und Wahrnehmung ästhetischer Erfahrung Elisabeth K. Paefgen ....................................................................................... 191 Günter Helmes: Lebensbilder auf Zelluloid: Über deutschsprachige Spielfilme der 1950er Jahre Barbara von der Lühe ..................................................................................... 193 Harald Neckelmann: Lockruf des Kinos: Der Plakatkünstler Josef Fenneker Jan-Christopher Horak ................................................................................... 195 Bereichsrezension: Politische Bilder Melanie M. Dietz, Nicole Kreckel (Hg.): Politische Bilder lesen: Werkzeugkasten zur Bildanalyse Heike Kanter, Michael Brandmayr, Nadja Köffler (Hg.): Bilder, Soziale Medien und das Politische: Transdisziplinäre Perspektiven auf visuelle Diskursprozesse Jörg Probst (Hg.): Politische Ikonologie: Bildkritik nach Martin Warnke Sven Grampp ................................................................................................. 197 Hörfunk und Fernsehen Kilian Hauptmann, Philipp Pabst, Felix Schallenberg (Hg.): Anthologieserie: Systematik und Geschichte eines narrativen Formats Eric Dewald ...................................................................................................202 Gabriele Mehling, Axel Block, Michael Hild, Bernd Schwamm: Schimanski machen: Erfindung und Etablierung einer erfolgreichen Serienfigur Eric Karstens ..................................................................................................204 Moritz Fink: Understanding The Simpsons: Animating the Politics and Poetics of Participatory Culture Timo Rouget ...................................................................................................206 Inhaltsverzeichnis 117 Melissa R. Ames: Small Screen, Big Feels: Television and Cultural Anxiety in the 21st Century Herbert Schwaab ............................................................................................208 Julien Bobineau, Jörg Türschmann (Hg.): Quotenkiller oder Qualitätsfernsehen? TV-Serien aus französisch- und spanischsprachigen Kulturräumen Eric Dewald ................................................................................................... 210 Bereichsrezension: Streaming Television Andreas Halskov: Beyond Television: TV Production in the Multiplatform Era Amanda D. Lotz: Netflix and Streaming Video: The Business of Subscriber- Funded Video on Demand Vilde Schanke Sundet: Television Drama in the Age of Streaming: Transnational Strategies and Digital Production Cultures at the NRK Moritz Stock...................................................................................................212 Digitale Medien Stefan Hauser, Simon Meier-Vieracker (Hg.): Fankulturen und Fankommunikation Vera Cuntz-Leng ............................................................................................ 217 Sigrid Kannengießer: Digitale Medien und Nachhaltigkeit: Medienpraktiken für ein gutes Leben Tina Kaiser .................................................................................................... 219 Thomas Dreier, Tiziana Andina (Hg.): Digital Ethics: The Issue of Images Evelyn Runge .................................................................................................220 Lisa Schwaiger: Gegen die Öffentlichkeit: Alternative Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum Christian Schicha ............................................................................................222 Sammelrezension: VanGogh TV | Piazza Virtuale Tilman Baumgärtel: Van Gogh TV’s „Piazza Virtuale“: The Invention of Social Media at documenta IX in 1992 Christoph Ernst, Jens Schröter (Hg.): (Re-)Imagining New Media: Techno-Imaginaries Around 2000 and the Case of „Piazza Virtuale“ (1992) Stefan Udelhofen .............................................................................................225 118 MEDIENwissenschaft 02/2023 Bereichsrezension im erweiterten Forschungskontext: Zeitgeschichte des digitalen Zeitalters BRD/DDR Julia Gül Erdogan: Avantgarde der Computernutzung: Hackerkulturen der Bundesrepublik und der DDR Matthias Röhr: Der lange Weg zum Internet: Computer als Kommunikationsmedien zwischen Gegenkultur und Industriepolitik in den 1970er/1980er Jahren Martin Schmitt: Die Digitalisierung der Kreditwirtschaft: Computereinsatz in den Sparkassen der Bundesrepublik und der DDR 1957-1991 Stefan Udelhofen .............................................................................................229 Medien und Bildung Sebastian Tatzel: Das sprach- und mediendidaktische Potenzial des mehrsprachigen Spielfilms für den Deutschunterricht Julian Körner ................................................................................................. 237 Zwei Einschätzungen: Digitale Lernwelten Wolfgang Becker, Maren Metz (Hg.): Digitale Lernwelten – Serious Games und Gamification: Didaktik, Anwendungen und Erfahrungen in der Beruflichen Bildung Timo Rouget & Kai Matuszkiewicz ............................................................... 239 Mediengeschichten Panorama Thomas Koebner: Erinnerungen im Film: Ein Versuch Knut Hickethier ..............................................................................................243 Manfred Krug: Ich bin zu zart für diese Welt: Tagebücher 1998-1999 Dennis Basaldella ...........................................................................................245 Wiedergelesen Jacques Derrida: Die Todesstrafe II: Seminar 2000-2001 Andreas Jacke ..................................................................................................247 Autorinnen und Autoren ............................................................................ 250 Perspektiven 119 Perspektiven Kevin Pauliks Ein Metabild von Memes: Perspektiven der Meme Studies auf Bild, Text und Praxis Zwar wird der Begriff ‚Meme‘ heute Medienpraktiken, wie zum Beispiel unmittelbar mit digitalen Inhalten das Bearbeiten, Beschriften, Taggen assoziiert, aber dennoch existiert er und Teilen, zum Einsatz.1 bereits wesentlich länger als das World In dieser Perspektive soll es nicht Wide Web. Ein Meme definierte der darum gehen, was die Memetik in Evolutionsbiologe Richard Dawkins Folge von Dawkins unter Memes erstmals 1976 in Analogie zum Gen versteht – Informationen zu diesem als „unit of cultural transmission, or a Themengebiet finden sich beispiels- unit of imitation“ (2006, S.192). Diese weise im Journal of Memetics. Viel- sehr weite Auffassung von Memes als mehr möchte der vorliegende Beitrag kulturelle Einheiten hat nicht mehr die verschiedenen Perspektiven offen- viel mit dem gemein, was mehr als 40 legen, die die Meme Studies auf das Jahre später im Internet unter Memes Phänomen der Internet-Memes verstanden wird. Der Meme-Begriff werfen. Hierzu werden Ansätze vor- war während seiner Übertragung ins gestellt, die Memes aus einer semio- Internet einer weitreichenden Trans- tischen und/oder praxeologischen formation unterworfen und wandelt Sichtweise betrachten. Das Ziel ist es, sich stetig weiter (vgl. Pauliks 2022, ein Metabild von Memes zu zeich- S.177-187). Im Internet sind unter nen, das heißt, sich ein Bild von dem dem Begriff vor allem sogenannte Bild zu machen, das sich die Meme Image Macros geläufig, die die Form Studies über Memes machen. In von „Bild-Sprache-Texten“ ( Johann/ Anschluss an W. J. T. Mitchells Kon- Bülow 2018, S.5) annehmen. Mitt- zept des „metapicture […], a picture lerweile fallen unter den Begriff des Memes aber auch andere Phänomene 1 Der Beitrag basiert auf einem Ausschnitt und Praktiken, die im Bezug zur aus der Dissertation Meme Marketing in Internet-Meme-Kultur stehen. Beim Social Media: Ein medienpraxeologischer memeing, das heißt dem Produzie- Vergleich von Internet-Memes und -Wer-bung, die der Autor im März 2023 am ren, Zirkulieren und Rezipieren von Fachbereich Germanistik und Kunst- Memes, kommen unterschiedliche wissenschaften der Philipps-Universität Marburg eingereicht hat. 120 MEDIENwissenschaft 02/2023 about itself, a picture that refers to angeordnet, dass auf ein Setup, das its own making, yet one that dissol- oben auf dem Bild eröffnet wird, eine ves the boundary between inside and Punchline folgt, die unten auf dem outside“ (1995, S.42), wird schließlich Bild die Pointe liefert (vgl. Krieg- eine eigene Definition vorgeschlagen, Holz/Bülow 2019, S.91; Osterroth die das Meme als digitales Metabild 2015, S.31). Die Schriftart Impact, in an die Schnittstelle von Text und der der sprachliche Teil gestaltet ist, Praxis positioniert. gibt sofort über die Zugehörigkeit zur Textsorte Aufschluss (vgl. Bri- deau/Berret 2014, S.307). Thematisch Das Meme als Textsorte, digitales Bild sind Image Macros hingegen so offen, und Medienpraxis dass ihr Inhalt von süßen Katzen wie Als eine grundlegende Differenzie- LOLcats bis hin zu rechtsextremer rung schlagen Ulrike Krieg-Holz Symbolik und deren Kritik variieren und Lars Bülow vor, Internet-Memes kann (vgl. Hartmann 2017, S.8-11). entweder als Text oder Praxis zu Obwohl die semiotische For- beschreiben (vgl. 2019, S.92). schung seitens der Meme Studies Der Textbegriff steht in der Tra- einen weiten Textbegriff in Stellung dition der Semiotik, die sich als eine bringt, der neben geschriebener Spra- „Wissenschaft vom Text“ (Nöth 2000, che auch Bilder umfasst, liegt ihr S.391) versteht. Einzelne Texte lassen Fokus häufig allein auf dem sprachli- sich nach Textsorten organisieren. chen Anteil von Internet-Memes (vgl. Die formale Zuordnung von Texten Bülow/Merten/Johann 2018, S.17- zu einer Textsorte setzt während der 27). Was linguistisch nachvollziehbar Produktion, Zirkulation und Rezep- ist, hat medienwissenschaftlich zum tion sozial-tradiertes „Textsortenwis- Nachteil, dass der Textbegriff medial sen“ voraus, das die „Rekonstruktion vorbelastet ist, weil er – wie Ernest von Textmustern und -strukturen“ Hess-Lüttich (2016) betont – „immer (Krieg-Holz/Bülow 2019, S.93) noch eng mit Schriftlichkeit asso- ermöglicht. Thematisch lassen sich ziiert“ (S.159) wird. Memes werden Textsorten hingegen nur bedingt in diesem Sinne als „lingua franca“ unterscheiden, wie Krieg-Holz und (Milner 2016, S.7-10) interpretiert, Bülow betonen (vgl. ebd., S.95). die in Form von Texten von Rezipie- Memes können in Form von Image renden ‚gelesen‘ wird. Diese semio- Macros als Textsorte begriffen werden, tische Sichtweise läuft Gefahr, den weil sie eine mediale Musterhaftig- Blick sowohl auf die Medialität als keit in der Art und Weise aufweisen, auch die Medienpraxis von Memes zu wie sie Bild und Sprache miteinan- verstellen. der verbinden: Auf einem Template Gewöhnlich treten Memes ist sprachlicher Text gewöhnlich so im Internet als digitale Bilder in Perspektiven 121 Erscheinung, die andere analoge und/ einen Nexus von wissensabhängigen oder digitale Bilder referenzieren, Verhaltensroutinen“ (S.291) inner- die unterschiedlichen Medien wie halb von konkreten Kontexten dar. Malerei, Comic, Fotografie, Film und Praxistheorien bleiben insofern auf Computerspiel entstammen können. ihren jeweiligen Phänomenbereich Memes nehmen die Bildform an, beschränkt. Das heißt, sie sind keine um in den Sozialen Medien leichter Supertheorien im Sinne einer Zei- geteilt werden zu können. Von Tweets chen- oder Systemtheorie, sondern werden beispielsweise Screenshots basieren auf empirischen Ergebnis- gemacht, um den sprachlichen Text sen, „die induktiv erschlossen werden“ und die visuelle Darstellung im digi- (Krieg-Holz/Bülow 2019, S.97). talen Bild zu vereinen (vgl. Arkenbout Anhand von Image Macros lässt sich 2022). Memes werden folglich aus zum Beispiel untersuchen, wie das praktischen Gründen im JPEG- oder Merkel Meme auf der Plattform Twit- einem anderen bildbasierten Datei- ter produziert und diffundiert wird. format erstellt und zirkuliert – sogar Im Sinne von Krieg-Holz und Bülow dann, wenn sie allein auf sprachlichem geht es dabei darum, wie „Medialität Text basieren. Die digitale Bildlich- und modale Ressourcen“ (ebd.) vom keit ermöglicht es Memes, zwischen bildlichen Template über sprachli- Präsentationskontexten zirkulieren chen Text bis hin zum hypertextuel- zu können (vgl. Ruchatz 2012), ohne len Hashtag und der publizistischen dabei ihre Memehaftigkeit zu verlie- Plattform zum Einsatz kommen. ren. Folglich kann sowohl die Media- Krieg-Holz und Bülow haben lität als auch die Medienpraxis von theoretisch und empirisch herausge- Memes genauer über ihre Bildlichkeit arbeitet, dass Internet-Memes sowohl als (nur) über ihre Textualität erfasst als Text als auch Praxis analysiert werden. Den Textbegriff dazu zu werden können. Wie diese beiden nutzen, den sprachlichen Anteil von Begrifflichkeiten in den Meme Stu- Memes zu erfassen, ergibt Sinn, wenn dies operationalisiert werden und wie der Bildbegriff die visuelle Erschei- der Bildbegriff dabei helfen kann, das nung von Memes als Ganzes in den Internetphänomen differenzierter zu Blick nimmt. In den Meme Studies betrachten, ist noch offen. Nachfol- ist der Bildbegriff allerdings noch gend soll der Versuch unternommen unterrepräsentiert und -entwickelt. werden, diese bild- und medienwis- Der Praxisbegriff ist eine Ergän- senschaftliche Forschungslücke mit zung zum Text- und Bildbegriff, der einem Blick auf die Meme Studies zu zu erfassen erlaubt, wie Internet- schließen. Memes produziert, zirkuliert und rezeptiert werden. Gemäß Andreas Reckwitz (2003) stellt eine „Praktik 122 MEDIENwissenschaft 02/2023 Textuelle Meme-Definitionen in den der zweite Ansatz als reduktionistisch, Meme Studies weil hier davon ausgegangen werde, Die einflussreichste Definition von dass menschliche Handlungen dem Internet-Memes hat die Kommunika- Willen der Memes erlegen seien. Dem tionswissenschaftlerin Limor S hifman dritten Ansatz fehle es besonders an (2013) vorgelegt. Sie beschreibt Memes differenzialer Durchschlagskraft, denn als „groups of content items that were wenn nahezu alles ein Meme ist, ist created with awareness of each other nichts mehr ein Meme (vgl. Shifman and share common characteristics“ 2013, S.364-367; 2014a, S.37-39). (ebd., S.367). Die Betonung liegt auf Als Antwort auf diese epistemo- ‚Gruppen‘, um sich von D awkins’ logischen Probleme macht Shifman ursprünglicher Definition abzugrenzen. ihren eigenen Vorschlag, wie Memes Dawkins (2006) definiert Memes als zu definieren seien. In Abgrenzung zu Dawkins betont sie, dass ein „Internet einzelne Einheiten und nennt als Bei- meme […] always a collection of texts“ spiele dafür „tunes, ideas, catch-phra- (Shifman 2014a, S.56) sei. Hierin ses, clothes fashions, ways of making wird auch ersichtlich, was Shifman pots or of building arches“ (S.192). Bei unter „content items“ beziehungs- dieser Spannbreite von Phänomenen weise „digital items“ (ebd., S.41) ver- ist es durchaus fraglich, wie hier eine steht. Gemeint sind damit Texte im Einheit konstruiert sein soll. Dawkins’ semiotischen Sinne: Memes definiert Liste von Phänomenen variiert von sie demnach als digitale Inhalte, die Ideen bis hin zu Praktiken. Die Unbe- eine Idee oder Ideologie transportie- stimmtheit des Begriffs ist ein Kritik- ren, eine Form annehmen, über die punkt an dem Konzept des Memes die Botschaft wahrgenommen wird, und auch ein Grund dafür, warum und eine Haltung haben, die über die sich die Memetik nie als eigenstän- kommunikative Absicht des Memes dige Wissenschaft etablieren konnte. Aufschluss gibt. In dieser Dreifaltig- Was unter einem Meme zu verste- keit (Inhalt, Form, Haltung) kommen hen ist, war innerhalb der Memetik die Eigenschaften zum Ausdruck, über umstritten (vgl. die Beiträge in Aunger die sich ein Meme als Text formieren 2000). Shifman zufolge fassten die kann. Shifman betont darüber hinaus, einen Memes als Gedankengebäude dass es vor allem die Musterhaftigkeit und Ideenkomplexe auf, die anderen der Form ist, die Texte zu einem Genre als Verhaltensweisen von Menschen, bündelt: „If memes are collections of und manche verstanden unter Memes texts, meme genres are collections of einfach alles, was sich kopieren lässt. collections“ (ebd., S.342). Shifman Während laut Shifman beim ersten identifiziert folgende Meme-Gen- Ansatz vor allem das Problem der res: Reaction Photoshops, Photo Fads, Messbarkeit von Memes bestehe, gelte Flash Mob, Lipsynch, Misheard Lyrics, Perspektiven 123 Recut Trailers, LOLcats, Stock Charac- häufig ambivalent: „Mit Shifmans ter Macros und Rage Comics (vgl. ebd., Definition kann ein Meme niemals als S.100-118). Die Genres sind aber ein einzelner Text gedacht werden, son- nicht nur Gruppierungen von Text- dern nur als Zusammenhang mit ande- gruppen, sondern auch soziale Praxen, ren Texten“ (Grünewald-Schukalla/ insofern Genregrenzen kulturell kon- Fischer 2018, S.3). Die Mehrdeutig- tinuierlich neu ausgehandelt werden keit des Meme-Begriffs ist bereits (vgl. Shifman 2014b, S.342; Krieg- an anderer Stelle bemerkt worden. Holz/Bülow 2019, S.103). Gabriele Marino (2015) unterschei- Sowohl Shifmans Genre-Katego- det deshalb zwischen „a type-meme rien als auch ihre Meme-Definition (or, in other words, the meme genre), sind in den Meme Studies weitverbrei- and the object that materializes it, a tet. Dennoch bleibt der Meme-Begriff token-meme (a text); the former gene- Abb.1: Ein Exemplar von Happy Cat. https://knowyourmeme.com/photos/78-lolcats (16.03.2023). 124 MEDIENwissenschaft 02/2023 rates the latter, and the latter recalls von Medienr eflexion zu betrachten, die the former“ (ebd., S.50). Der Begriff Medialität ex negativo aufdeckt, zum des Memes kann sich folglich entwe- Beispiel dann, wenn Image Macros eine der auf einen einzelnen Text oder eine andere Schriftart als Impact aufweisen Gruppe/Genre von Texten beziehen. und somit das Format falsch verwendet In Anschluss daran lassen sich drei wird (vgl. Pauliks 2017, S.107). Textebenen von Memes unterschei- Dass im Meme „Hinweise zur den, die in enger Verbindung zuei- Bedienung“ (Grünewald-Schukalla/ nander stehen: Unter den Begriff des Fischers 2018, S.8) eingeschrieben Memes können (1) einzelne Exemplare, seien, ist jedoch unvereinbar damit, (2) Gruppen von Texten oder sogar dass „das Memetische außerhalb und (3) ganze Genres fallen. Aus semioti- zwischen einzelnen Texten liegt“ scher Sichtweise sind Memes eine typi- (S.5). Wie kann der Metatext sowohl sche Textsorte des Internets, die sich abstrakt und unsichtbar sein als auch aus unterschiedlichen Textgruppen Hinweise auf die Medienpraktiken zusammensetzt, die nach Genres aus- von Memes geben oder diese sogar gerichtet sind. Beispielsweise ist das bestimmen? Ein Metatext müsste Exemplar I Can Has Cheezburger? an ein Text über Texte sein, der auf der der Textgruppe Happy Cat orientiert, Reflexionse bene in Erscheinung tritt die dem Genre der LOLcats angehört (vgl. Mersch 2010, S.199). Es lässt sich (Abb.1). leicht erkennen, dass ein Widerspruch Die Unklarheit, welche der drei vorliegt, wenn der Metatext einerseits Ebenen gemeint ist, verkompli- abstrakt ist und anderseits Hinweise ziert die Bestimmung von Memes. auf die Praxis der Produktion, Zirku- Um mehr Klarheit zu schaffen, lation und Rezeption von Memes lie- schlagen Lorenz Grünewald- fern soll. Schukalla und Georg Fischer (2018) Dieser Widerspruch lässt sich vor, zwischen Text und Metatext zu lösen, wenn ein Meme nicht als unterscheiden. Ein Internet-Meme abstrakter Metatext, sondern als kon- sei als ein „abstrakter Meta-Text“ (ebd., kreter Content betrachtet wird, der S.8) zu definieren, der zwischen ein- seinerseits eine mediale Umwelt für zelnen Exemplaren entstünde. Im andere Medien wie Fotografie, Film, einzelnen Text aktualisiere sich das Computerspiel und so weiter schafft. Meme dann als Metatext, der selbst Grünewald-Schukalla und Fischer nicht sichtbar sei. Demzufolge „tritt (2018) vernachlässigen in ihrer Defi- der Meta-Text in der Regel nicht nition, dass jedes einzelne Meme- selber in Erscheinung, außer er wird Exemplar Hinweise darüber enthält, durch Probleme oder Störungen sicht- zu welcher Gruppe und zu welchem bar gemacht“ (ebd., S.6). Die Störung Genre es sich zuordnen lässt, zum Bei- wäre demnach als ein klassischer Fall spiel durch den Einsatz eines spezifi- Perspektiven 125 schen Templates wie Happy Cat oder Exemplar zu erstellen, müssen die spe- durch die Verwendung einer speziellen zifischen Regeln des Memes bekannt Schriftart wie Impact. Solche Hin- sein, denen es als Gruppe und/oder weise sind nicht „abstrakte Objekte“ Genre folgt. Diese Regeln sind refle- (ebd., S.6), sondern eine konkrete Ori- xiv in anderen, ähnlichen Exemplaren entierung- und Verständnishilfe beim enthalten. „Since the process of imita- Erstellen, Verbreiten und Rezipieren tion relates to a coded template – and von Memes. Die Medienpraktiken von not only to semantic meanings – the Memes sind geradezu reflexiv in jedem code is always there, foregrounded“ einzelnen Exemplar eingeschrieben. (ebd., S.355). Memes werden des- Grünewald-Schukalla und Fischer ist halb immer wieder auf eine ähnliche allerdings dahingehend zuzustimmen, Art und Weise erzeugt, wodurch die dass einzelne Exemplare die Gruppe Hypersignifikation noch um eine wei- und das Genre von Memes stetig tere Dimension erweitert würde – die aktualisieren (vgl. ebd., S.8). Gerade Möglichkeiten des digitalen Bildes deswegen verfügt aber nicht nur die auszuloten. Gruppe oder das Genre als Metatext Der Bedeutungsüberschuss dieser über Medienwissen zu den einzelnen Medienreflexion ist das Medienwis- Texten; vielmehr werden die Medi- sen, das Memes über Memes und enpraktiken von Memes in jedem deren Medienpraktiken haben. Dieses einzelnen Exemplar reflexiv per- und reflexive Praxiswissen ist in einzel- geformt. nen Exemplaren enthalten, um deren Aus dem Aspekt der Performa- Gruppenzugehörigkeit herzustellen. tivität sowie der Abhängigkeit eines Jedes Exemplar wird mittels dersel- Memes von anderen kulturellen Arte- ben oder zumindest ähnlicher Medi- fakten lässt sich schließen, dass ein enpraktiken produziert, zirkuliert einzelnes Exemplar, das nicht in eine und rezipiert, um Teil der Gruppe zu Gruppe ähnlicher Exemplare einge- werden. Dieses Knowhow könnte im bunden ist, „which […] were created Sinne von Grünewald-Schukalla und with awareness of each other“ (Shif- Fischer (2018) anstelle von Memes als man 2014a, S.41), per definitionem Metatext bezeichnet werden. Aller- kein Meme ist. Dass in jedem Exem- dings ist gerade im Fall von Internet- plar Wissen über die Gruppe und das Memes das Praxiswissen nicht (nur) Genre enthalten ist, kommt bei Shif- implizit abstrahiert, sondern explizit man über den Begriff der „hypersigni- reflexiv in den Exemplaren enthalten. fication“ zum Ausdruck, der nicht Hinzu kommt, dass das gleichblei- nur den „process of meaning-making“ bende Element bei Memes häufig auf (Shifman 2014b, S.344) offenlegt, der bildlichen Ebene liegt, weshalb der sondern die Medienpraktiken des Textbegriff, wenngleich mediensemio- digitalen Bildes selbst. Um ein neues tisch erweitert, irreführend ist. Es sind 126 MEDIENwissenschaft 02/2023 Abb. 2: Eine Gruppe von Happy Cats auf Know Your Meme. https://knowyourmeme.com/memes/happy-cat/photos/sort/views (17.04.2023). die bildlichen Templates von Image Template abgeleitet (z.B. Happy Cat), Macros, die über deren Gruppenzuge- ohne dass das Image Macro weder als hörigkeit Auskunft geben. Normaler- Meme rezipierbar noch reproduzier- weise ist der Name eines Memes vom bar wäre. Perspektiven 127 Vom Semioseprozess zur Interpik- Schlussfolgern lässt sich aus diesem toralität von Memes idealtypischen Semioseprozess, dass Memes werden durch einen „kollek- Internet-Memes bei ausreichender tiven Semioseprozess“ (Osterroth Stabilisierung eine Serie bilden (vgl. 2015, S.26f.) zu Memes gemacht, Denson 2011; Maeder/Wentz 2014; wie Andreas Osterroth in Anleh- Pauliks 2017; 2019). Das heißt, dass nung an Jana Herwig (2011) for- die einzelnen Exemplare episodisch muliert. Gemeint ist damit, dass der miteinander verknüpft sind. Das Content erst durch den Austausch in Meme Happy Cat wird beispielsweise einer Community zu einem Meme über die Fotografie dieser einen Katze wird. Idealtypisch sieht dieser kol- zusammengehalten, die als Template in jedem neuen Exemplar wiederholt lektive Semioseprozess wie folgt aus: wird, allerdings nicht unbedingt als Ein Bild wird in einer Community exakte Kopie, sondern auch als digital geteilt, die zunächst bewerten muss, ausgeschnittene, gespiegelte oder ani- ob dieser Prototyp das Potenzial hat, mierte Variation (vgl. Abb.2). ein Meme zu werden oder nicht. Hier- In Abgrenzung zum Begriff ‚Inter- für gibt es speziell dafür vorgesehene textualität‘ lässt sich dieser Bezug als Communities wie den Subreddit ‚Interpiktorialität‘ bezeichnen, um r/MemeEconomy, der allein darauf die Bildlichkeit von Memes stärker ausgelegt ist, den Marktwert von zu betonen. Interpiktorialität kann Memes zu bestimmen (vgl. Literat/van gemäß Guido Isekenmeier (2013) „als den Berg 2019). Häufig findet diese Kontrastfolie dienen: interpiktoriale Bewertung aber auch einfach direkt Referenzen lassen sich als Ort einer auf der Plattform statt, wo das Bild Verhandlung der Differenzen von Text gepostet wurde. Fällt die Bewertung und Bild verstehen“ (ebd., S.43). Inter- positiv aus, z.B. durch viele Upvotes/ textuell wäre dann, dass Happy Cat zum Likes oder positives Feedback in den Genre der LOLcats gehört, weil das Kommentaren, wird der Prototyp Meme im Internet-Slang L OLspeak plattformübergreifend weiterverteilt verfasst ist, das eine absichtlich feh- und dabei bildlich und/oder sprachlich lerhafte und verniedlichte Sprache so variiert, dass er sich als eigenstän- einsetzt, die im Fall von LOLcats so diges Meme etablieren kann. Fortan wirkt, als würden die Katzen selbst zu gelten Regeln, an die sich die Produk- Wort kommen. Neue Exemplare des tion halten muss, damit das einzelne Memes müssen nicht unbedingt den Exemplar der Gruppe zuordenbar ist. Satz „I can has cheezburger?“ wie- Verstöße werden gewöhnlich sank- derholen, sondern können sprachlich tioniert, zum Beispiel durch Anfein- variieren, müssen sich dabei allerdings dungen in den Kommentaren oder an die grammatikalischen Regeln des Verbannung aus der Community. LOLspeak halten, um der Gruppe 128 MEDIENwissenschaft 02/2023 von Happy Cat und dem Genre der über Ähnlichkeit herstellen zu können LOLcats zugeordnet werden zu und anderseits dabei zu gewährleisten, können. Die Harmlosigkeit von nicht zu viel Redundanz zu reprodu- L OLspeak täuscht, denn der Internet- zieren. Der semiotische und praxeolo- Slang fungiert als Exklusionswerkzeug gische Ansatz lässt sich an dieser Stelle auf Plattformen wie 4chan. Wer die verbinden. Internet-Memes halten als lingua franca nicht beherrscht, wird Gruppe und Genre durch den Ein- als Außenseiter vorgeführt und von satz von spezifischen Praktiken in den der Community ausgeschlossen (vgl. Sozialen Medien zusammen, die pra- Nissenbaum/Shifman 2017, S.491). xeologisch erschlossen werden müssen Serialität funktioniert über die (vgl. Busch/Schmid 2019, S.187f.). Mechanismen der Wiederholung und Variation (vgl. Pauliks 2017, S.56-63) und ist ein zentrales Merkmal von Die Partizipationskultur und Meme-Gruppen und -Genres, die im Medienpraxis von Memes Zusammenspiel beider entstehen und Grünewald-Schukalla und Fischer operieren. Wiederholung, und zwar (2018) betonen, dass Internet-Memes nicht die exakte Wiederholung, son- immer Ergebnis von spezifischen dern eine Wiederholung, die Variation Aneignungspraktiken sind, die im in sich aufnimmt, ist auch ein Grund- Kontext der Sozialen Medien beob- element sozialer Praktiken. Denn achtbar seien: „Gemeint sind referen- Praktiken werden in der Wiederho- tielle Praktiken wie u. a. Variation, lung einerseits routiniert, anderseits Rekombination, Persiflage, Remix, aber auch immer wieder verworfen, Imitierung, Remake oder Hommage“ transformiert und optimiert. Abwei- (S.7). Grünewald-Schukalla und chungen im Vollzug sind wichtig, Fischer ergänzen ihre textuelle Defi- damit neue Praktiken überhaupt nition also ganz bewusst mit dem erst entstehen können und nicht von Praktikenbegriff, um berücksichtigen vornherein im Immergleichen enden zu können, „dass Memes nicht nur (Reckwitz 2003, S.294). Im Sinne von Objekte, sondern auch Ereignisse Schäfer (2016) sind „Praktiken immer sind“ (ebd., S.6). schon Wiederholungen und Variatio- Shifman (2014a) betont ebenfalls, nen“ (S.146) in einem. D asselbe gilt dass die Perspektive der Meme Studies für Serien im Allgemeinen und für nicht einseitig auf Memes als Texten Internet-Memes als Serien im Spe- liegen sollte, sondern auch auf den ziellen, weil Serialität voraussetzt, Praktiken, die Memes hervorbringen dass „Neues bekannt und Bekanntes und umgeben: „Since memes serve as neu erscheinen muss“ (Pauliks 2019, the building blocks of complex cultu- S.64), um einerseits einen Zusam- res, we need to focus not only on the menhang von einzelnen Elementen texts but also on the cultural practi- Perspektiven 129 ces surrounding them“ (S.34). Memes hervorzuheben, haben Henry Jenkins, entstehen folglich nicht im luftleeren Sam Ford und Joshua Green (2013) Raum, sondern werden innerhalb von den Begriff der „spreadability“ (S.3) Medienkulturen, wie sie auf den Platt- eingeführt, den sie zur Beschreibung formen 4chan und Reddit vertreten von der Verbreitung digitaler Inhalte sind, produziert, zirkuliert und rezi- alternativ zum Viralitätsbegriff vor- piert. Dadurch werden Memes über- schlagen, der im Zusammenhang mit haupt erst zu einer Gruppe und/oder Internetphänomenen häufige Ver- einem Genre gemacht. Die Produk- wendung findet. Die aus der Biologie tion, Zirkulation und Rezeption von entlehnte Metapher der Viralität gäbe Memes sind laut Shifman „not just einen falschen Eindruck davon, wie prevalent practices: they have become Inhalte im Internet tatsächlich zirku- highly valued pillars of a so-called lieren oder genauer gesagt: zirkuliert participatory culture“ (ebd., S.4). Dabei werden. Denn laut Jenkins, Ford und gehen digitale Medienpraktiken wie Green ist Zirkulation keine passive das „editing, imitating, captioning, Angelegenheit; sie ist eng verbun- tagging, curating“ (Pauliks/Ruchatz den mit der Partizipationskultur der 2021, S.122) über Memes hinaus und Sozialen Medien (vgl. ebd., S.16-23). bilden für die Sozialen Medien im Demnach messen User_innen den Allgemeinen wichtige Bausteine. Inhalten, die sie zirkulieren, einen Mit dem Begriff ‚Partizipations- Wert bei – sie teilen Content also kultur‘ meint Shifman (2014a) die nicht, weil sie sich mit ihm infizieren, „Web 2.0 culture“ (S.18). Der Aus- sondern aus kulturellen, politischen, druck der participatory culture wurde ökonomischen und/oder persönlichen aber vor allen Dingen von Henry Jen- Gründen (vgl. ebd., S.35). Das Pro- kins (1992) geprägt und zunächst auf duzieren und Zirkulieren von Memes Fans von Fernsehserien bezogen, die und anderen digitalen kulturellen nicht einfach nur rezipieren, sondern Artefakten sind folglich „practices eigene Inhalte (z.B. in Form von Fan- of participatory culture“ beziehungs- fiction) produzieren. Im Zuge eines weise „practices of spreadability“ zunehmenden Mainstreamings fan- (ebd., S.xiv und S.9), die Jenkins, kultureller Medienpraktiken online Ford und Green mit einem deutli- wurde der Begriff der Partizipations- chen Fokus auf die Handlungsmacht kultur auf das Internet übertragen und der Partizipierenden hin untersuchen schließt dort sämtliche Partizipierende und gerade deshalb nicht mit Begrif- ein, die eigenen Content produzieren fen aus der Memetik vereinbar sind, und zirkulieren (vgl. Jenkins 2006; welche den Menschen ihre Hand- 2009; Jenkins/Ito/boyd 2016). lungsmacht zugunsten viraler Infek- Um den Aspekt des Zirkulierens tion absprechen (vgl. Dawkins 1997; von digitalem Content gesondert Blackmore 2000). 130 MEDIENwissenschaft 02/2023 In Verteidigung muss betont S.221). Einerseits ist das memeing werden, dass Memes im Internet nicht immer in einen sozialen Zusammen- zwangsläufig dieselbe Bedeutung hang eingebunden. Es kann also kein haben wie in der Memetik. Denn aus einzelnes Internet-Meme geben, da der Perspektive der Partizipierenden – Memes erst im sozialen Austausch mit das argumentiert zumindest W hitney anderen Partizipierenden entstehen. Phillips (2012) für Internettrolle auf Es geht hierbei um eine Kultivierung 4chan – sind Memes weder passiv von digitalem Content, die im Pro- noch verbreiten sie sich viral, son- zess des memeing zu Internet-Memes dern werden „actively engaged and/ gemacht werden. Bilder von Katzen or remixed into existence“ von Parti- sind keine LOLcats, werden aber zu zipierenden, die ihre „cultural literacy“ solchen gemacht in bestimmten kultu- nutzen, um digitale Inhalte überhaupt rellen Kontexten wie 4chan. Mediales erst zu Internet-Memes zu machen. Material durch memeing zu Memes Diese kulturelle Kompetenz ist mit zu machen, setzt spezifische Medien- anderen Worten die Voraussetzung für praktiken wie das Beschriften etablier- die Medienpraxis des memeing. ter Templates in der Schriftart Impact, Laut Michele Lankshear und Colin das Imitieren bestimmter Phrasen/ Knobel, welche sich als eine der Ersten Slangs wie LOLspeak und/oder das dezidiert mit Internet-Memes befasst Bearbeiten digitaler Bilder mit Pro- haben, ist „meme-ing – the practice of grammen wie Paint oder Photoshop generating and/or passing on memes – voraus. Erst im Zusammenspiel von […] a new literacy practice“ (Lanks- spezifischen Medienpraktiken kann hear/Knobel 2006, S.128; 2019, S.44). sich so etwas wie eine Medienpraxis In der Medienpraxis des memeing des memeing formieren und im prak- versammeln sich folglich Prakti- tischen Vollzug durch die User_innen ken der Produktion, Zirkulation und immer wieder aktualisieren. Denn Rezeption von Memes, die Medien- memeing folgt weder einer starren kompetenz voraussetzen. Knobel und Struktur noch basiert die Medien- Lankshear unterscheiden hiervon zwei praxis auf strukturlosen Handlungen. Formen: „When we examine memes Memeing ist vielmehr – analog gedacht as Literacy practices it is possible to zum Verhältnis von Differenz und see that they involve much more than Wiederholung bezüglich der Serialität simply passing on and/or adding to von Memes – das Produkt aus Struk- written or visual texts or information tur und Handlung. per se (i.e., literacy). Rather, they are Darauf verweisen ebenfalls B radley tied directly to ways of interacting Wiggins und Bret Bowers (2015) in with others, to meaning making, and Anschluss an die Praxistheorie von to ways of being, knowing, learning Anthony Giddens (1984), die die and doing“ (Knobel/Lankshear 2007, soziologische Grundsatzdebatte über Perspektiven 131 die Dominanz von Struktur oder und was nicht (mehr). Hierfür steht Handlung überwindet, indem sie exemplarisch bereits eines der ersten deren Wechselseitigkeit betont. Hand- Memes auf 4chan: Milhouse Is Not a lungen bringen Strukturen hervor, aus Meme (vgl. Pauliks 2022, S.185). Und denen sich neue Handlungen ergeben, klassische Image Macros wie LOLcats die wiederum neue Strukturen schaf- und Advice Animals sind mittlerweile fen. Diesen gesellschaftskonstituieren- so aus der Mode gekommen, dass den dualistischen Prozess bezeichnet bereits 2014 der Tod der Textsorte Giddens (1984) als Strukturation ausgerufen wurde. Image Macros seien (vgl. S.xxxi). Auf Memes übertragen, von jeglicher Novität und Kreativität heißt das, dass memeing Strukturen in beraubt. Als Antwort entstand das Form von Memes hervorbringt, aus Genre der Dank Memes, die Image denen sich Regeln und Ressourcen Macros als Format kritisch reflektie- ableiten lassen für weiteres memeing. ren und ironisieren (vgl. Milner 2016, Die Strukturation führt laut Wiggins S.43-46; Pauliks 2021, S.1-2). Dieses und Bowers (2015) zu Gruppen und/ Beispiel beweist, so augmentiert Ryan oder Genres von Internet-Memes: Milner (2015), dass Memes keines- „The continued production and repro- wegs vom Aussterben bedroht sind, duction of memes recursively con- sondern sich nur die Medienpraktiken stitutes the memescape signified by der Memes kontinuierlich wandeln. the duality of structure and agency“ An die Stelle klassischer Image Macros (S.1895). Wichtig hervorzuheben ist, treten sodann neue Formen, die andere dass Strukturation nicht nur Grup- Praktiken fordern. pen und Genres hervorbringt, sondern In Folge dieses Wandels hat auch Communities konstituiert, was Milner (2015) für die Meme Stu- Wiggins und Bowers mit ihrem Begriff dies den Practice Turn ausgerufen. memescape andeuten; „a portmanteau Milner meint damit, wichtig sei ein of meme and landscape to imply the „broader way to think about internet virtual, mental, and physical realms memes. One that’s more descriptive that produce, reproduce, and consume than prescriptive. More about the verb Internet memes“ (ebd., S.1893). than the noun. More about memetics as Der Dualismus von Struktur und a process than a meme as an object.“ Handlung impliziert einen kontinu- Mit ‚memetics‘ ist bei Milner nicht ierlichen Wandel des memeing. Da die Memetik als Pseudowissenschaft Medienpraktiken nicht identisch gemeint, sondern das memeing als wiederholt, sondern bei jedem Voll- Medienpraxis. Lässt man die Meme- zug variiert oder verworfen werden, tik hinter sich und ersetzt den Begriff findet in den Communities durch die stattdessen mit memeing, dann ist User_innen eine ständige Aushand- Milner zuzustimmen, dass eine einsei- lung darüber statt, was memeing ist tige Fokussierung auf Internet-Memes 132 MEDIENwissenschaft 02/2023 als mehr oder weniger starre Gruppen und Rezeption führen. Insbeson- oder Genres der eigentlichen Medien- dere beim Produzieren von Memes praxis kaum gerecht werden kann, die dienen Exemplare derselben Gruppe womöglich schon viel weiter ist als die oder desselben Genres als Vergleichs- Forschungspraxis. Anderseits können folie, um die Medienpraktiken des Memes aber auch nicht losgelöst von memeing abzuleiten. Die User_innen ihrer Erscheinung untersucht werden, erstellen Memes, indem sie sich ähn- da die Medienpraktiken rund um das liche Memes ansehen. Memes geben memeing immer schon auf die Produk- Regeln und Ressourcen vor, die die tion, Zirkulation und Rezeption von User_innen befolgen und benut- digitalem Content abzielen. zen oder verwerfen und umgestal- Daher ist es für die Meme Studies ten können, wodurch wiederum neue zielführend, „eine integrative Sicht- Gruppen und Genres von Memes weise“ (Krieg-Holz/Bülow 2019, S.110) entstehen. Dieses Zusammenspiel von zu verfolgen. Im Laufe des DFG-For- Struktur und Handlung ist in jedem schungsprojekts „Bildförmige Bildkri- einzelnen Meme enthalten. tik in Sozialen Medien“ wurde mit der praxeologischen Medien philosophie des digitalen Bildes ein solcher Ansatz Bestimmung des Memes als digitales entwickelt (vgl. Pauliks/Ruchatz 2021; Metabild 2023), mit dem sich Memes als digitale Memes schaffen eine mediale Umwelt Bilder betrachten lassen, in denen sich für digitalen Content in Form von Bild Text und Praxis miteinander verbinden. und Text, in dem die Medienprakti- Dieser Ansatz geht gerade nicht davon ken des memeing materialisiert sind. aus, „dass Memes zwischen ihrem Gewöhnlich ist diese mediale Umwelt Modus als Meta-Text und ihren kon- von Memes bildförmig und beinhal- kreten Formen hin- und her pendeln“ tet selbst Bilder. Deshalb lassen sich (Grünewald-Schukalla/Fischer 2018, Memes nicht nur als digitale Bilder, S.7) beziehungsweise zwischen der sondern genauer als digitale Metabil- angeblich abstrakten Praxis und der definieren. Laut W. J. T. Mitchell dem konkreten Content alternieren (1995) sind Metabilder „pictures about würden. Vielmehr nimmt der Ansatz pictures – that is, [1] pictures that refer die Materialisierung der Medienpraxis to themselves or [2] to other pic tures, im Meme selbst in den Blick. In Form [3] pictures that are used to show von digitalen Bildern können Memes what a picture is“ (S.35). Metabilder so als „materialisierte Medienpraxis“ reflektieren nicht nur sich selbst als (Pauliks/Ruchatz 2023, S.2) betrach- Medium und andere Bilder als ihren tet werden, in denen die Medienprak- Inhalt, sondern auch die Medienpraxis tiken des memeing beinhaltet sind, die von Bildern. Diese drei Merkmale von zu ihrer Hervorbringung, Verbreitung Metabildern finden sich in Memes Perspektiven 133 wieder: Ein Meme ist erstens ein digi- interpiktoriell/-textuell – formieren, tales Bild, das sich auf eine Gruppe stellt nach wie vor ein Desiderat in von ähnlichen Bildern bezieht. Mit den Meme Studies dar. Einerseits sind der Referenz auf andere Exemplare Memes der Content von (Sozialen) geht die Selbstreflexion des Memes Medien, anderseits haben Memes einher. Das Meme reflektiert, wie es als digitale Metabilder unterschied- zu der Gruppe gehört. Zweitens ist ein liche Medien zum Inhalt. Welche Meme eine Umwelt für andere digi- Spuren hinterlassen unterschiedliche tale und digitalisierte Bilder, die zum Medien bei der Produktion, Rezep- Meme gemacht werden. Die Referenz tion und Zirkulation von Memes? auf andere Bilder führt zur Medien- Welchen Unterschied macht es, ob reflexion. Das Meme reflektiert die ein Meme auf einer Fotografie, einem bildliche Aneignung von anderen Screenshot oder einem Video basiert? Inhalten. Ein Meme ist drittens eine Im Sinne von the meme is the message Anleitung für das Produzieren, Zir- wäre andersherum zu fragen, wel- kulieren und Rezipieren von Memes. chen Einfluss das Internet-Meme auf Die Referenz zeigt, was ein Meme ist den eigenen Inhalt ausübt, das heißt und wie es gebraucht werden kann. auf die Medien, die sich das Meme Das Meme reflektiert das memeing aneignet. Wie werden die Medien in als Medienpraxis. Erst in der Verbin- digitalen Content transformiert? Was dung von (1) Content, (2) Medien lässt den digitalen Content als Meme und (3) Praxis können sich einzelne in Erscheinung treten? Schließlich Exemplare zu einer Gruppe von wie- wäre zu überlegen, wie diese zwei dererkennbaren Bildern formieren, die Seiten derselben Medaille – das innerhalb der Internet-Meme-Kultur Meme als Medium und der Inhalt des als Memes situiert sind. Memes – durch die Medienpraxis des In zukünftiger Forschung müsste memeing zusammengehalten werden. noch stärker das Zusammenspiel von Welche Medienpraktiken kommen Medien wie Fotografie, Film, Fern- zum Einsatz, um Memes zu erstel- sehen, Video, Computerspiel und so len, zu verbreiten und zu verstehen? weiter mit Internet-Memes berück- Diese Fragen müsste eine medien- sichtigt werden. Wie sich Internet- wissenschaftliche Perspektive auf Memes intermedial – und nicht nur Memes in Betracht ziehen. 134 MEDIENwissenschaft 02/2023 Literatur Arkenbout, Chloë: „Has the Tweet Become a Meme?“ In: Nešović, Dunja (Hg.): PrtScn: The Lazy Art of Screenshot. Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2022, S.64-67. Aunger, Robert (Hg.): Darwinizing Culture: The Status of Memetics as a Science. Oxford: Oxford UP, 2000. Blackmore, Susan: „The Memes’ Eye View.“ In: Aunger, Robert (Hg.): Darwini- zing Culture: The Status of Memetics as a Science. Oxford: Oxford UP, 2000, S.25- 42. 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Aus der Analogie gewinnt niederschlägt, hebt, so Cuevas, die Cuevas Kategorien zur Analyse filmi- „plurality of viewpoints“ und die „cen- scher Intervention in Erinnerungskul- trality of human agency“ (S.25) hervor turen. Die ersten beiden Kapitel des (vgl. Ginzburg, Carlo: Der Käse und Buches legen die theoretischen und die Würmer: Die Welt eines Müllers um methodischen Voraussetzungen dieser 1600. Frankfurt: Syndikat, 1979; Levi, Analyse dar. Den Ausgangspunkt Giovanni: Inheriting Power: The Story bilden die Überlegungen von Georg of an Exorcist. Chicago: University Simmel, Walter Benjamin und Siegfried of Chicago Press, 1988; Lüdtke, Alf: Kracauer zu einer auf alltägliche Alltagsgeschichte: Zur Rekonstruktion Zusammenhänge konzentrierten histo- historischer Erfahrungen und Lebens- rischen Perspektive. Der Perspektiv- weisen. Frankfurt/New York: Campus, wechsel von Makro- zu Mikrostruktu- 1989; Medick, Hans: „Mikro-Historie.“ ren bedingt eine qualitative Verschie- In: Schulze, Winfried [Hg.]: Sozialge- bung der Erkenntnisbedingungen. An schichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie: die Stelle öffentlicher Akteure und welt- Eine Diskussion. Göttingen: Vanden- geschichtlicher Entwicklungen tritt die hoeck & Ruprecht, 1994, S.40-53). Wo detaillierte Betrachtung persönlicher akademische Historiografie auf schrift- Im Blickpunkt 139 liche Quellen zurückgreift, gewinnen stellt und zugleich eine Reflexion der Familienfilme und private Archive eine eigenen retrospektiven Betrachtungs- besondere Bedeutung in mikrohistorio- perspektive einfordert – so in Forgács‘ grafischen Dokumentarfilmen. The Maelstrom (1997), wo die jüdi- Die unterschiedlichen Formen sche Pereboom-Familie kurz vor ihrer der Aneignung und Nutzung solchen Deportation zu sehen ist, anders als wir Materials bilden den Schwerpunkt der Zuschauenden nicht wissend, was sie Analysen im Hauptteil des Buches. erwartet. Neben autorzentrierten Analysen zu Aus Cuevas‘ Analysen entwickelt Filmen von Peter Forgács, Rithy Panh sich ein differenziertes Bild unter- und Jonas Mekas behandeln zwei schiedlicher Strategien im Umgang mit Kapitel die Darstellung historischer disparaten, gleichwohl verschränkten Ereignisse beziehungsweise Abschnitte zeitlichen Ebenen, Erinnerungsbil- aus der Perspektive unterschiedlicher dern und archivalischen Leerstellen, Filmemacher_innen. Zeitlich zusam- persönlichem Material und anonymem menfallend mit der Verfügbarkeit von Footage. Mikrohistorische Perspek- Amateurfilmmaterial (16mm, 8mm tiven mischen sich mit essayistischen und Super-8) von den 1920er bis in und autobiografischen Ansätzen. Die die 1980er Jahre, setzen sich die ana- Komplexität und Hybridisierung von lysierten Filme mit dem Kontrast von zeitlichen Ebenen, Betrachtungsper- persönlichem Erleben wie Konventio- spektiven und ästhetischen Verfah- nen des Familienfilms (Feste, Ausflüge, ren wird deutlich in der Diskussion Szenen glücklichen Zusammenseins) von Panhs The Missing Picture (2013), und der gewaltsamen Makrohistorie wo die visuelle Leerstelle des von den des 20. Jahrhunderts auseinander: jüdi- Roten Khmer verübten Genozids an sches Leben in den Niederlanden und der eigenen Bevölkerung durch eine in Ungarn in der Zeit vor und nach Vielzahl von Materialen – Fotografien, dem Holocaust (Forgács), Internie- aber auch Puppen-Dioramen und neu rung von US-Bürger_innen japanischer gefilmte Szenen – unter Einbeziehung Abstammung in den USA im Zweiten der Kindheitserinnerungen des Fil- Weltkrieg, Schreckensherrschaft und memachers umschrieben wird. Panhs Genozid der Roten Khmer in Kam- kontinuierliche Suche verdeutliche die bodscha (Panh), Israelisch-Palästinen- „performative nature of his mnemonic sischer Konflikt sowie Erfahrungen enterprise“ (S.151). Diese Performativi- von displaced persons in der Folge des tät mikrohistorischer Filme, zusammen Zweiten Weltkriegs (Mekas). Aus der mit ihrer oft eindringlichen emotio- Spannung von Mikro- und Makrohi- nalen Wirkung, bestimmt Cuevas als storie ergeben sich Konfigurationen, in einen zentralen Unterschied zu schrift- denen die Geschichte ‚von unten‘ eta- licher Mikrogeschichte. Solche Filme blierte historische Narrative in Frage würden wirksam als „mnemonic cata- 140 MEDIENwissenschaft 02/2023 lysts“ (S.187) und griffen so in Erinne- von Familienfilmen schränkt zudem rungsprozesse und -kulturen ein. die soziale Perspektive ein. Geschichte Filming History from Below reiht ‚von unten‘ – als eine Geschichte von sich in eine Anzahl filmwissenschaft- Verfolgung, Unterdrückung, poli- licher Studien ein, die sich in den tischer Gewalt und Genozid – ver- letzten Jahren mit den politischen, bindet sich hier überwiegend mit medialen und historischen Dimen- Mittelschichtsfamilien. Eine offenere sionen marginalisierter Formen der Definition filmischer Mikrohistorie Filmproduktion beschäftigt haben könnte das Feld hinsichtlich anderer – unter anderem Orphan Films, Non- Formen von Gemeinschaft, anderer theatrical Films, Home Movies (vgl. sozialer Gruppen und anderer Modi bspw. Ishizuka, Karen L./Rodden der Filmproduktion öffnen (jenseits Zimmermann, Patricia [Hg.]: Mining des hier zugrunde gelegten Auto- the Home Movie: Excavations in Histo- renkonzepts). Darüber hinaus hätte ries and Memories. Oakland: University das Buch, das sich ausdrücklich an of California Press, 2008; Field, Ally- Historiker_innen und Filmwissen- son Nadia/Gordon, Marsha [Hg.]: schaftler_innen richtet, von einer Screening Race in American Nonthea- ausführlicheren Diskussion der trical Film. Durham: Duke UP, 2019). besprochenen Filme im Kontext von Die Besonderheit liegt in der Frage, wie Filmgeschichte profitiert. solches Material seinerseits in Doku- Die Stärken des Buchs liegen in mentarfilmen wiederverwendet, trans- den differenzierten Filmanalysen und formiert und reflektiert wird. Cuevas‘ profunden Überlegungen zu Zeitlich- sorgfältige theoretische Abgrenzung keiten und individueller wie kollektiver und seine aufschlussreichen Filmanaly- Erinnerung. In dieser Hinsicht leistet sen erschließen ein vielversprechendes es einen Beitrag zum aktuellen Diskurs Forschungsfeld. Allerdings gerät mit über ästhetische, politische und histo- dem ausgeprägten Hang zu Typologie rische Aspekte von Archivmaterialien und Kategorisierung die historische ebenso wie zur Intervention von Doku- Dynamik sozialer wie epistemischer mentarfilm in Erinnerungskulturen Rahmungen von Mikrohistorie aus und historische Imaginarien. dem Blick. Der Fokus auf dokumenta- rische Aneignungen und Reflexionen Henning Engelke (Marburg) Medien / Kultur 141 Medien/Kultur Natalie Lettenewitsch, Linda Waack (Hg.): Ein- und Ausströmungen: Zur Medialität der Atmung Bielefeld: transcript 2022 (Edition Medienwissenschaft, Bd.93), 204 S., ISBN 9783837660180, EUR 39,- (OA) Blinkende Raumluftampeln und brum- aufgegriffen wird, zeigt, wie sehr das mende Aerosolfilter sind nur zwei (Nicht-)Atmen-Können immer auch von vielen Indizien, wie sehr unsere von politischen Macht- und Gewalt- Atmung spätestens seit der Pande- verhältnissen abhängt. Es ist daher mie von Medien rhythmisiert und nur konsequent, wenn L ettenewitsch reguliert wird. Es ist diese Medialität und Waack Medialität und Politik im der Atmung, die der Band Ein- und selben Atemzug nennen. Ausströmungen in dreizehn Beiträgen Diesem Zusammenhang widmen erforscht. Atmung, so schreiben N atalie sich gleich die ersten zwei Beiträge Lettenewitsch und Linda Waack ein- von John Durham Peters („Spiro- leitend, kann als genuin mediales meter, Walfang, Sklaverei: Atem- Phänomen begriffen werden, weil sie notfälle um 1850“) und Magdalena zwischen Innen und Außen, Körper Górska („Gemeinsamkeit und Diffe- und Milieu, Leben und Technik ver- renz des Atems“), die beide erstmals mittelt. Zugleich sei Atmung ihrerseits in deutscher Übersetzung vorliegen. auf mediale Bedingungen angewiesen, Während Peters anhand dreier histo- von Klimaanlagen über Schutzmas- rischer Szenen an die rassistischen ken bis hin zu Sauerstoffflaschen. In Implikationen von Lungenforschung den Vordergrund treten diese Medien und die Atemnotstände der Sklaverei meist erst dann, wenn der Atem stockt. erinnert, bietet Górska eine instruk- Es sind daher akute Atemnöte, die die tive kritische Theorie der Atmung. Entstehung des Bandes motiviert und Gegen die Vorstellung von Atmung als begleitet haben, vor allem die pande- einem universell geteilten Phänomen mische Notlage der vergangenen drei betont sie gerade die Differenzen und Jahre, aber auch die letzten Worte des Ungleichheiten, die das Atmen durch- erstickenden George Floyd: „I can’t ziehen: „Doch wenngleich das Atmen breathe.“ Besonders Floyds Satz, der eine Kraft ist, die von allen atmenden in zahlreichen Texten des Bandes Wesen geteilt wird, handelt es sich 142 MEDIENwissenschaft 02/2023 nicht um ein homogenes Phänomen. ineinander. Lettenewitsch taucht in So unterscheiden sich Atemzüge in ihrem Beitrag „Unter Wasser Atmen Relation zu spezifischen Materialitäten – ‚Fisch werden‘: Filmische Fantasien der Lunge wie Kapazität und Volumen, und Technologien des Tauchens“ in die zu Belastungen durch Krebs, Kohlen- Geschichte des Unterwasserfilms ein staubsedimente oder einen kollabierten und demonstriert materialreich, wie die Lungenflügel“ (S.27f.). Für die viel- Technologien der Unterwasseratmung fältigen, relationalen Verkörperungen aus der Praxis des Unterwasserfilms des Atmens prägt Górska den Begriff heraus entstanden sind. Dabei gehen der „Korpo-Materialität“ (S.30), der die Imaginationen des Tauchens und im weiteren Verlauf des Bandes pro- seine technologischen Bedingungen duktiv weitergedacht wird. So schlägt geradezu fließend ineinander über. Tullio Richter-Hansen in direkter Doch nicht überall im Band gelin- Anlehnung an Górska den Begriff der gen die Übergänge so reibungslos, „Korpo-Medialität“ (S.149) vor, um etwa wenn Katrin Köppert in ihrem filmische Darstellungen des ‚schweren Beitrag „Mit dem Flügelschlag des Atmens‘ zu beschreiben. Besonders in S chmetter lings: Zur Medienökologie Sportfilmen werden Atemgeräusche der Luft in LaToya Ruby Fraziers The oftmals stark überzeichnet und nicht Notion of Family“ versucht, die Motive selten sexualisiert, wie Richter-Hansen Atmung, Schmetterling, Turbulenz pointiert und kritisch in seinem Bei- und Vibration mit den Fotografien von trag „Heavy Breathing: Sportfilmische LaToya Frazier assoziativ zu verknüp- Atmung im pharmapornografischen fen, dabei aber zunehmend die Atmung Regime“ herausarbeitet. aus dem Blick verliert. Auch bei Silke Die Auseinandersetzung mit filmi- Hilgers bleibt die im Titel versprochene schen Figurationen der Atmung bildet Verbindung von „Atem, Kunst und einen heimlichen Schwerpunkt des Psyche“ recht vage, weil die Ausfüh- Bandes. Dabei sind die Beiträge nicht rungen zum Atem in der Psychoanalyse nur an motivischen Darstellungen der kaum mit den Kunstbetrachtungen in Atmung interessiert, sondern fragen Dialog treten. Dass gerade künstleri- auch nach den medientechnischen Vor- sche Arbeiten überraschende Zugänge aussetzungen filmischen Atems. Waack zum Phänomen ‚Atmung‘ eröffnen blendet in ihrem Text „Luftkanal und können, zeigen die drei zwischen die Windmaschine: Das Kino in respirato- Texte des Bandes montierten und fein- rischer Perspektive“ auf virtuose Weise sinnig kommentierten Kunstwerke von die Belüftungsgeschichte des Kinosaals, Constantin Nestor, Manon de Boer die Phänomenologie der atmenden und Liddy Scheffknecht. Zuschauer_innen und die Bildästhetik Mit seinem originellen, zeitgemä- des Atems zu einer facettenreichen und ßen Thema und seinen materialnahen innovativen Pneumologie des Kinos Analysen bietet der Band auf insge- Medien / Kultur 143 samt 200 Seiten eine inspirierende und gen des Lebens in ihren ästhetischen, niemals langatmige Lektüre, die dank technischen und politischen Dimensio- Open-Access-Format für alle Inter- nen öffnet, erhält hier reichlich frischen essierten leicht zugänglich ist. Eine Wind. Medienwissenschaft, die sich für die elementaren Vorgänge und Bedingun- Martin Siegler (Weimar) Caleb Kelly, Jakko Kemper, Ellen Rutten (Hg.): Imperfections: Studies in Mistakes, Flaws, and Failures New York: Bloomsbury Academic 2021 (Thinking Media), 344 S., ISBN 9781501380341, USD 130,- Optimieren, verbessern, perfekt werden vereinigt. Ihr gelingt es, mediale – der Sammelband Imperfections hinter- Grenzüberschreitungen aufzufächern. fragt diese Begriffe in interdisziplinären Dabei stellt sie Gustave Flauberts Lesarten. Erfrischend ist, dass bereits Texte, die Filmproduktion Madame B im Vorwort von Steven J. Jackson offen- (2013) von Michele Williams G amaker gelegt wird: „the volume itself is glo- und Bal selbst Bildern von Edward riously imperfect“ (S.X). Ellen Rutten Munch und der Installation Monalisa führt in das Thema vielschichtig ein, Chanel (2018) von Jacomina van Loom das aus einem Forschungsprojekt der gegenüber. Alle Medienformen lösten Universität von Amsterdam entstan- ein stabiles, narratives Bild auf, indem den ist. Das Interesse am Imperfekten, sie Räume aufbrechen (Munch) oder so zeigt sie auf, sei für den Beginn des entsprechend die Zeit (Flaubert) und 21. Jahrhunderts in diversen Diszipli- Wahrnehmung durch ‚Fehler‘ verän- nen nachweisbar. Die Resonanz und derten: „Mistakes can be a mediator Affirmation seien bezeichnend, aber between the false opposition of figu- ein theoretischer Rahmen fehle, gerade ration and abstraction“ (S.72). Fehler aufgrund der Vielfältigkeit der Zugänge de-naturalisierten so eine künstlerisch- und Sichtweisen (vgl. S.4). Der Band mediale Einheitlichkeit und mach- soll hier Abhilfe schaffen, indem er ten gleichzeitig Aussagen über das wissenschaftliche Analysen mit ästhe- Medium. Dies mache den paradoxen tischer Praxis koppelt. Status von Kunst aus (vgl. S.79). Mieke Bal ist in der Hinsicht bei- Über Produktverschwendung spielhaft, weil sie beide Positionen schreibt Ilona E. de Hooge und macht 144 MEDIENwissenschaft 02/2023 spezifisch auf die Verschwendung von des Spiels mehr. Dies eröffne nicht nur imperfektem Obst und Gemüse auf- hinsichtlich der Videospiele, wo Ster- merksam. Vermarktung sei nur sinnvoll ben generell keinen Einfluss auf die und die Veränderung der Produktions- Technologie des Spiels hat (vgl. S.172), kette nur denkbar, wenn perfektes und eine neue mediale Komponente, son- imperfektes Essen nicht in Konkurrenz dern weise generell auf die Möglich- zueinander stünden (vgl. S.112). Imper- keit einer Endlichkeit des Digitalen hin fektes Essen könne dann vermarktet (vgl. S.178). werden, wenn es für Diversität und Zuletzt soll noch näher auf Patricia Variabilität im Kontrast zur Uniformi- Pisters‘ Artikel über „Digital Techno- tät stünde und so als einzigartig und logies of Self “ hingewiesen werden, authentisch attraktiv werde (vgl. S.118- wo die Autorin nach einer Verbindung 120). zwischen Narzissmus und Selfie-Kul- Melle Jan Kromhout erkundet aus tur fragt. Während Narzissmus die der Perspektive der Sound Studies, Un sicherheit einer inneren Leere zu inwiefern das Streben nach einer geord- kompensieren scheint, seien Selfies eine neten Welt, wie sie noch bei Hermann Möglichkeit, Stabilität in einer insta- von Helmholtz angestrebt werde (vgl. bilen medialen Gesellschaft zu gene- S.138), bei Karlheinz Stockhausen im rieren (vgl. S.225). Das Dispositiv der Verlauf seiner Kompositionspraxis mehr Perfektion als Falle neoliberalen, kom- und mehr als ereignishafte Ausnahme petitiven Individualismus zu bedienen, akzeptiert werde (vgl. S.144f.). erkennt sie aus dieser Analyse heraus Aus Perspektive der Musikwissen- als Gefahr für den aktuellen Feminis- schaft widmet sich Caleb Kelly der mus (vgl. S.233-237). Frage nach experimentellen Instru- Andere Texte beleuchten Imper- menten, die eigentlich als ein Gegen- fektion in Alltagsästhetiken (Yuriko entwurf zur Perfektion als „explicit goal Saito), Dreckästhetiken (Yngvar of music“ (S.151) erscheinen. Gerade S teinholt), der Erinnerungskultur das Experiment befördere eher eine (Ernst van Alphen), beim Künstler Xu Strategie des Imperfekten (vgl. S.162). Bing (Tingting Hui), On-Face Distor- Für die Game Studies bietet Jakko tion (Linor Goralik), Heimat (Domnica Kempers Artikel einen neuen Blick auf Radulescu) und in der Landwirtschaft das Medium mit dem niederländischen (Oskar Verkaaik). Der Band bietet Spiel GlitchHyker (2011). Jenes in einem durch seine Vielzahl an Blickwinkeln 48h-Marathon entwickelte Spiel wurde und Perspektiven spannende Eindrü- so programmiert, dass das Spiel bis auf cke, die trotz glorreicher Imperfektion den Code gelöscht wird, wenn kein das Thema stimmig vermitteln. Leben mehr übrig ist. Da genau dies eingetreten ist, existiert keine Version Sebastian R. Richter (Bochum) Medien / Kultur 145 Benjamin Burkhart, Laura Niebling, Alan van Keeken, Christofer Jost, Martin Pfleiderer: Audiowelten: Technologie und Medien in der populären Musik nach 1945 – 22 Objektstudien Münster: Waxmann 2021 (Populäre Kultur und Musik, Bd.34), 584 S., ISBN 9783830944386, EUR 59,90 Audiowelten liefert auf fast 600 Sei- und der Bedeutungsebene. Über den ten einen ambitionierten Überblick zu Gegenstand der Musikmedien zielen den wichtigsten Tontechnologien nach die Texte auf einen weiten kulturhi- 1945 und deren vielfältigen Einflüs- storischen Rahmen: „Der Band ver- sen auf die Lebenswelten in der Bun- steht sich insgesamt als Beitrag zur desrepublik und der DDR. Im betont Rekonstruktion der Kulturgeschichte interdisziplinären Bezugsfeld von in Deutschland von der Nachkriegs- Musik-, Medien-, Kultur-, Sozial- und zeit bis zur Gegenwart, insbesondere Geschichtsforschung unternehmen die der musikbezogenen Kulturpraktiken Autor_innen zweiundzwanzig detail- und ihrer Verknüpfung mit Objekten lierte Studien zu prägenden Musik- und Technologien“ (S.14). In diese objekten im Referenzrahmen von „Gesamtschau“ (S.10) fügen sich kon- medienästhetischer Vermitteltheit und tinuierlich auch internationale Kon- kulturgeschichtlichem Wirkungsspek- stellationen. trum. Eindrucksvoll gelingt den Co- „Diese ‚Musikobjekte‘, so die Autor_innen eine umfangreiche und Ausgangsthese dieses Bandes, sind materiell greifbare Auffächerung von technische Manifestationen der Audiomedien in ihren technologischen W issensbestände, Wertformationen, und kulturel len Bedingtheiten, Prozeduren und Ressourcen, die in Transformationen und Wechselwir- modernen Musikkulturen der klang- kungen. Im ersten Hauptteil „Musik lichen Realisierung von Musik voraus- erzeugen“ verfasst Alan van Keeken gehen“ (S.7) – so die beiden Autoren interessante Klassiker-Analysen zu Christofer Jost und Martin Pfleiderer ‚Bananenstecker‘ (S.19-38) und Heim- in ihrer Einführung. Aufgeteilt in die orgel (S.65-88) mit dem Blick auf die drei Hauptbereiche der Musikproduk- bemerkenswert aktiven und kreativen tion, Musikspeicherung und Musik- Nutzer_innen. Gleichzeitig ermög- wiedergabe etabliert jedes Kapitel eine licht Keeken tiefgehende Einblicke akribische Objektbeschreibung und in aktuellere Musikgeräte: In seiner kontextualisiert diese im technisch- Studie zum „Michael Zähl CS-V kulturellen Zusammenhang der Ent- Mischpult (1982/1989)“ (S.89-118) stehung und Nutzung. dokumentiert er ein Aufnahmestudio, Bei ihrer Untersuchung folgen die das für Musiker_innen wie die Kraut- Autor_innen den Schlüsselaspekten rock-Band Can wie insgesamt für die der Materialität, der Erscheinung Musikindustrie von großer Bedeu- 146 MEDIENwissenschaft 02/2023 tung war. Daran anknüpfend bietet Gegenwart überzeugen die Untersu- van Keeken spannende Ausführungen chungen zum Walkman „Sony Stereo zur Synthesizer-Klangerzeugung des Cassette Player WM-2 (1980)“ (S.477- „Waldorf Microwave 1 Revision B 504), zur Stereoanlage „Grundig HiFi- (1989)“ (S.119-142). Im Bereich der Serie 5500 (1992)“ (S.505-526) und zu Rockmusik überzeugt der Ansatz des den Bluetooth-Lautsprechern „JBL nostalgischen Diskurses im Text zur Flip 5 (2019)“ (S.527-553). „Fender American Vintage Series ’57 Mit einem weiten Quellenspek- Stratocaster (2004)“ (S.153-164). trum, zusätzlichen Infotafeln und Auch in den beiden folgenden mehreren, teilweise großformatigen Hauptteilen passt die Balance zwi- Fotografien und Abbildungen bie- schen älteren und neueren Geräten. tet Audiowelten eine vielfältige und Im Zwischenteil „Musik speichern“ differenzierte Zeitreise durch die durchstreift Laura Niebling die Geschichte der Musiktechnologien popkulturellen Materialitäten der mit deren zahlreichen Akteuren und Tonträgergeschichte von der Schel- Netzwerken auf Seiten der Herstel- lackschallplatte „Bessie Smith: St. lung, Verbreitung und Rezeption. Louis Blues (1947)“ (S.193-214) über die Durch den gleichförmigen Aufbau Metal-Vinylspielplatte „Skyclad: The der Kapitel und die Beschränkung auf Wayward Sons of Mother Earth (1991)“ drei Autor_innen in den Hauptteilen (S.277-308) bis zur Compilation-CD erreicht der Band häufiger einen lexi- „Bravo Hits 10 (1995)“ (S.337-367). kalischen Stil, der eine Nutzung als Mit einem Schlusskapitel zu einem Nachschlagewerk begünstigt. Phänomen der 2000er Jahre wie mp3 Gleichzeitig erschwert die mitunter oder Streaming hätte sich das Kapitel sehr detaillierte, sperrige Struktur eine gut abrunden lassen. Lektüre am Stück. Aufgrund sich wie- Eine überzeugende Bereiche- derholender Beschreibungsmuster und rung für das Buch erreicht Benjamin Argumentationslinien hätte manchmal Burkhart mit dem Kapitel „Musik wie- eine Zusammenführung separater Stu- dergeben“. Erforscht werden sowohl dien durchaus Sinn gemacht, gerade das Musikmöbelstück „Blaupunkt auch im Hinblick auf das ambitionierte Colorado (1954)“ (S.369-388) wie das Ziel einer Kulturgeschichte. designbetonte Fonogerät „Braun SK 5 (1958)“ (S.389-406). Näher an der Alexander Kroll (Darmstadt) Medien / Kultur 147 Bernhard Groß, Valerie Dirk (Hg.): Alltag: Ästhetik, Geschichte und Medialität eines Topos der Moderne Berlin: Vorwerk 8 2022, 248 S., ISBN 9783947238330, EUR 19,- Spätestens in den 1970er Jahren ent- störung sowie als soziale Frage zwi- deckte die kritische Soziologie mit Henri schen dem globalen Norden und Süden: Lefebvre den Alltag als prekäre Katego- ‚Doing Alltag‘ meint die vielfache Dif- rie und ergiebiges Forschungsfeld (vgl. ferenzierung der Lebensvollzüge unter Kritik des Alltagslebens: Grundrisse einer ganz unterschiedlichen Kontextverhält- Soziologie der Alltäglichkeit. München: nissen, etwa auch die Pluralisierung und Hanser, 1974/75). Zuvor war dieser Diskriminierung der Geschlechter und vornehmlich von der volkskundlichen diverser Menschen sowie die kulturelle Forschung eher phänomenologisch- Fragmentierung und Heterogenisierung folkloristisch anhand dörflich-anachro- in den hypermodernen Gesellschaften. nistischer Idylle romantisiert worden. Diesen Trends schließt sich der vorlie- Doch auch die Volkskunde übernahm gende Band an und definiert das Poli- zur Reform ihrer Disziplin umgehend tische als grundlegendste Kategorie von den neuen Trend: ‚Alltag‘ als wider- Alltag und ergründet Alltagsdimensi- sprüchlichen Mikrokosmos zwischen onen in Kultur, Ästhetik, Medien. Ent- gewohnten, Sicherheit ausstrahlenden sprechend sind unter den Beitragenden Routinen und stereotypen, wieder- Medien(kultur)wissenschaftler_innen kehrenden Zwängen. Alltag erschien vorrangig vertreten, aber es finden sich als exemplarisches Untersuchungsfeld auch Historiker_innen sowie Politik- für Kulturwissenschaft, Ethnografie und Literaturwissenschaftler_innen. und Ethnomethodologie und wurde Mit „Doing Alltag“ als „Schnitt- mit neuen, qualitativen Forschungs- stelle von Kultur und Gesellschaft“ methoden mittels der Partizipation der (S.13) ist der erste Abschnitt mit Proband_innen beforscht. Unzählige drei Beiträgen überschrieben: Neben Publikationen entstanden, oft auch mit besagter wissenschaftlicher Rekon- kulturkritischem Tenor (etwa im Kurs- struktion der Alltagsforschung finden buch 41: Alltag. Hamburg: Rowohlt, sich hier ein Beitrag über die frühe 1975). In den 1990er Jahren f laute Foto- und Filmdokumentation von das Interesse allerdings wieder ab, so sozialer Armut (Andrea Seier) und Friedemann Schmoll, der den ersten über die Erarbeitung des Alltäglichen Beitrag von Alltag: Ästhetik, Geschichte als politische Kategorie anhand der the- und Medialität eines Topos der Moderne oretischen Ansätze von Lefebvre und verfasste. Nach der Jahrtausendwende Agnes Heller (Brigitte Bargetz). wird der Alltag erneut verstärkt the- „Alltag versus Kunst“ lautet der matisiert – nun weniger als Figuration zweite Abschnitt, in dem es vor allem des Banalen, vielmehr bezogen auf die um Geschmack, Künstlerdistinktion Natur und ihre Ausbeutung und Zer- und patriarchale Ordnung geht. Ben 148 MEDIENwissenschaft 02/2023 Highmore verortet Geschmacksvor- des Alltags inszeniert werden, hier am lieben in Alltag und Kunst als aktu- Beispiel einer französischen Mini-Serie, elle Klassenfragen, während Thomas untersucht sodann Bettina Henzler und Waitz am Beispiel zweier Fotografien kommt zu dem Ergebnis, dass kind- von Vorstadtlandschaften einen elitären liches Schauspiel eine „Rezeptions- und einen partizipierenden Blick unter- erfahrung von Alltäglichkeit“ (S.19) scheidet und daran diskrepanten ‚Habi- hervorbringen kann. Authentizität ist tus‘ erkennt. Schließlich arbeitet Felix für Lut Missinne die zentrale Voraus- T. Gregor am Beispiel eines japanischen setzung für einen autobiografischen Dokumentarfilms „mikropolitische Ver- Roman, womit sie ein Paradoxon des änderungen in Familien strukturen und Alltäglichen anspricht: Denn durch die Geschlechterrollen“ (S.16) heraus. Beschäftigung mit dem Alltag bekommt Im dritten Abschnitt „Life with [or dieser eine Aufmerksamkeit, die seinem without] the dull bits cut out“ begreifen Status und seiner Wahrnehmung zuwi- die Beiträge Alltag als etwas, das durch derläuft. Schließlich analysiert der letzte ästhetische Verfahren erst hergestellt Beitrag von Bernhard Groß die Verbin- werden muss. Im ersten Aufsatz themati- dung des Alltäglichen zum Realismus siert Heike Klippel „Alltag im Spielfilm“, – und zwar als ästhetisches Medium der zunächst als gewohnte Basis im Gegen- Alltagserfahrung wie auch als dessen satz zu plötzlichen Abweichungen (wie Poiesis. Anhand von Filmen entdeckt er, im Horrorfilm), aber am Ende doch als wie zu erwarten, ganz unterschiedliche ästhetische Darstellungsmodi für rätsel- Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi. hafte Geschehnisse. Diesen Ansatz wei- So lässt sich als Ergebnis für die Bei- terführend, untersucht Friedrich Balke die träge dieses Sammelbandes konstatie- „Schreckensbilder des Alltags bei Siegfried ren, dass gewöhnliche und ästhetische Kracauer“ als „Monumente der Ereignis- Erfahrung, also Alltag und Kunst immer losigkeit“ (S.18). Und auch Florian Kraut- prozesshaft aufeinander bezogen sind krämer thematisiert den Alltag, diesmal in und damit die Ganzheit menschlicher digitalen Familien- und Amateurfilmen, Wahrnehmung konstituieren. Diese als Erleben vor und mit der Kamera. symbiotische Verquickung von ästhe- Mit „Poetiken des Alltags“ ist der tischer und gewöhnlicher Erfahrung letzte Abschnitt betitelt, da es in ihm sei – so die Herausgebenden am Ende um Techniken der ästhetischen All- ihrer Einleitung (vgl. S.22) – „als rezi- tagsdarstellung und -herstellung geht. proker Prozess politisch, weil er immer Ein Panorama der Ästhetik des Alltäg- wieder neu die sinnliche Koordination lichen in der modernen Literatur breitet eines Gemeinwesens bestimmt, infrage Nicolas Pethes im ersten Beitrag aus: stellt und verschiebt“ (ebd.). Die Beiträge Dass Alltag und Kunst zusammenge- dieses Readers haben auf die eine oder hen, ist Pethes zufolge im 19. Jahrhun- andere Weise dazu einen theoretischen dert erfunden worden und auch noch im oder konkreten Beleg geliefert. 20. und 21. Jahrhundert ungebrochen. Wie Kinder im Fernsehen als Figuren Hans-Dieter Kübler (Werther) Medien / Kultur 149 Natalie Berner: Die Konstruktion der Mutter in Politik, Wirtschaft, Medien und Alltag: Eine kommunikations- wissenschaftliche Diskursanalyse am Beispiel Mutterschaft Köln: Herbert von Halem 2022, 351 S., ISBN 9783869626338, EUR 35,- (Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2021) Die Auseinandersetzung mit Mutter- terschaft und der Alltagsdiskurs bzw. schaft ist nicht nur im privat-familiären die subjektive Aneignung von Mutter- Kontext relevant, sondern gesamtge- schaftsvorstellungen?“ (S.82). sellschaftlich. Denn die Tatsache des Der Betrachtung liegt eine kom- Mutterwerdens beziehungsweise des munikationswissenschaftliche Disk- Mutterseins ist nicht nur eine biolo- ursanalyse im Foucault’schen Sinne gische, sondern vielmehr eine soziale, entlang der Kategorien Wissenschaft, die früher wie heute ein zentrales Thema Politik und Wirtschaft, Leitmedien, gesellschaftlicher, politischer und wis- Zeitschriften und Magazine, Werbung, senschaftlicher Debatten ist. Dabei Instagram und Alltag zugrunde. Die stellt sich stets die Frage, wie Mutter- Untersuchung der Kategorien erfolgt schaft definiert, ideologisiert, aber auch anhand verschiedener Gegenstände, praktiziert wird. Im vorliegenden Band nämlich Partei- und Wahlprogramme, erklärt Natalie Berner gleich zu Beginn, wissenschaftliche Fachartikel, PR- dass „die Mutter“ zu „einem Politikum Materialien und Unternehmenswebsei- […] geworden ist“ und „auch auf der ten, Magazin- und Zeitschriftenartikel medialen Debattenbühne nicht fehlen ebenso wie solche von überregionalen darf “ (S.13). Die Autorin spürt in ihrer Tages- und Wochenzeitungen, TV- Publikation den vielfältigen Konflikt- Werbung und Instagram-Posts. Zur linien des Mutterschaftsdiskurses nach, Betrachtung des Alltagsdiskurses wur- der pars pro toto für Elternschaft, Für- den Interviews geführt und qualitativ sorge und familiäre Rollenmuster steht. ausgewertet. Auch die historische Per- Vor allem dem Mediendiskurs kommt spektive bleibt Berner nicht schuldig. nach Berners Meinung eine wirklich- Der eigenen Forschungsagenda setzt keitskonstituierende Rolle zu, die zur sie ein Kapitel zur Ideengeschichte zur Stabilisierung oder Durchbrechung von Mutterschaft voran, um die aktuellen Machtverhältnissen führen kann. Die Entwürfe und Vorstellungen zu kon- zentralen Fragestellungen lauten daher: turieren. Für die Gegenwart erkennt „Wie wird Mutterschaft im öffentlichen Berner drei Problemlagen: „Die Kehr- Diskurs konstruiert und wie wirkt sich seiten spätmoderner Anerkennungs- insbesondere der Mediendiskurs auf strukturen, die Neuformierung von den Alltagsdiskurs aus?“ (S.16) sowie Gender und Care und Mutterschaft im „Welchen Zusammenhang haben die Zeichen von ‚ambivalenter Individuali- mediale Kommunikation über Mut- sierung‘“ (S.50). 150 MEDIENwissenschaft 02/2023 Erkenntnisreich ist die Feststel- zur Ikonisierung der perfekten Mutter lung, dass zwar im Alltagsdiskurs die führt. In den Ergebnissen zu Werbung Vielzahl von Lebensrealitäten mit den und Instagram wird erkenntlich, wie sehr unterschiedlichen Ausgangsla- die medialen Plattformen verdichtete gen (ob im Bereich Bildung, Herkunft Sinnmuster verlangen. oder auch f inanziell) Berücksich- Die einzelnen Erkenntnisse fügen tigung fände, die Sprecher_innen sich letztlich zusammen in der Kate- in den Medien jedoch als homogen gorie ‚Alltagsdiskurs‘. Zwar nicht über- wahrzunehmen sind. Sie entstammen raschend, aber dennoch interessant ist, bildungsorientierten Schichten und dass die Vorstellungen von Muttersein weisen ein hohes kulturelles Kapital in engem Dialog stehen mit den Aner- auf. Darin wird die Verschränkung der kennungsstrukturen der verschiedenen Problematiken mit Fragen nach Sta- Gegenwartsdiskurse. Umso interes- tus und Klasse deutlich. Der Zugang santer erscheint die Feststellung, dass zum Diskurs regelt demnach auch das trotz Medialisierung und Digitali- Sagbarkeitsfeld und die Dominanz sierung vor allem die innerfamiliären bestimmter Positionen (vgl. S.86). Die Erfahrungen mit der eigenen Mutter Mutter wird letztlich als mehrdimen- immer noch prägend sind für das indi- sionale Projektionsfläche identifiziert: viduelle Bild von guter Mutterschaft. In ihr vereinen sich vielschichtige Im Fazit wird resümiert, dass die Dis- Interessen, Ansichten und Probleme, kurse weiterhin von einer „normativ gezeichnet durch die wissenschaftliche aufgeladenen Mutterfigur [dominiert Auseinandersetzung, die aufgeladene werden], die medial eingesetzt wird politische Debatte sowie die Emoti- und als Sehnsuchtsobjekt dient (Mut- onalität der individuellen Ebene im ter als Versorgende, Liebende)“ (S.289). Alltag. So wird etwa in der Werbung Festzuhalten bleibt aber auch, dass sie nach wie vor ein genderspezifisches spätestens seit den Corona-Jahren um Mutterbild aktiviert, das vor allem die Themen ‚Erschöpfung‘ und ‚Frustra- die Sehnsucht nach Umsorgung und tion‘ erweitert wurden. Trotz in wei- Geborgenheit befriedigt. Die Mutter- ten Teilen erwartbarer Erkenntnisse figuren in Werbespots bleiben eindi- ist die breit angelegte Studie durchaus mensional, ohne Ambivalenzen und gewinnbringend. Die Stärke liegt vor Widersprüche. Wenn erschöpfte Müt- allem darin, die Unterschiedlichkeit ter in der Werbung auftauchen, dann des Mutterschaftsdiskurses in den ein- um über Produkte Lösungen anzu- zelnen, zugrundeliegenden Kategorien bieten, die ihre Funktionalität für die aufzuzeigen. Familie im Sinne eines Heilsverspre- Aus medienwissenschaftlicher Per- chens wiederherstellen. In den ebenso spektive bleibt ein Punkt zu kritisieren, begrenzten Entwürfen von Mutter- der bereits weiter oben angesprochen schaft, die sich auf Instagram finden wurde: Für die Kategorie ‚Leitmedien‘ lassen, dominiert die Eigenlogik der wurden einzig Printerzeugnisse heran- perfektionistischen Ästhetisierung, die gezogen, was die Tatsache verschleiert, Medien / Kultur 151 dass der Rundfunk, insbesondere das Darstellungen von Einzelschicksalen Fernsehen, in Deutschland ebenso als und ihrer Nähe zu den Zuschauenden Leitmedium anzuerkennen ist. Bezüg- deutlich in den Alltagsdiskurs eingrei- lich des Fernsehens widmet sich die fen. Dieser ‚blinde Fleck‘ verwundert Autorin ausschließlich Werbespots. umso mehr, da die Einleitung mit einer Fiktionale Inszenierungen mal außen Szene aus Hart aber fair (2001-), der vor gelassen, sind es doch Magazin- Polit-Talkshow in der ARD, beginnt. sendungen, Talk- und Debattenshows ebenso wie Reportagen, die in ihren Monika Weiß (Marburg) Janine Luge-Winter: Die Ikone und das Undarstellbare: Ikonentheorien im bildtheoretischen Kontext Bielefeld: transcript 2022 (Edition Medienwissenschaft, Bd.97), 227 S., ISBN 9783837660876, EUR 45,- (Zugl. Dissertation an der Universität Potsdam, 2019) Es ist nicht Gegenstand oder Kom- Anregung für die klassische Semio- petenz einer dezidiert medienwissen- tik in systematischer Hinsicht oder schaftlichen Perspektive auf Die Ikone als Reflexion eines ‚wahren Bildes‘ als und das Undarstellbare: Ikonentheorien im künstlerische Fluchtlinie der Moderne bildtheoretischen Kontext, die ausführ- zu differenzieren. Die Jahrhunderte lichen und beeindruckenden Über- alten Auseinandersetzungen um die legungen von Janine Luge-Winter wahren und falschen Bilder, der Streit zum Bildbegriff der orthodoxen Iko- zwischen Ikonoklasten und Ikonodu- nentradition zu bewerten oder auch len präfigurierten den Bilderstreit der nur in all ihren dogmatischen Veräs- modernen Kunst beziehungsweise die telungen annähernd nachzuvollzie- funktionelle Ausdifferenzierung der hen. Was allerdings aus Sicht einer Bilder in der neuzeitlich modernen modernen Bildtheorie oder Medien- Kultur zwischen funktionaler Massen- wissenschaft Gewinn verspricht, ist kommunikation, insbesondere in den die Bedeutsamkeit theologischer Bild- industriellen und digitalen Medien, begriffe – zwischen deren Versuchen und der ungeheuren Aufwertung des zur funktionalen Ausdifferenzierung Bildes in einer Art säkularen Theolo- eines so unbestimmten Begriffes, wie gie des Modernismus. Schon in den eben dem Bild, gewissermaßen als platonischen, aristotelischen und hier 152 MEDIENwissenschaft 02/2023 vor allem neoplatonischen Traditions- Die komplexen Argumentationsfi- linien um den Status der Bilder bei den guren des Jahrhunderte währenden Bil- spätantiken Kirchenvätern und -lehrern derstreites machen deutlich, „dass die wird das Spannungsverhältnis zwischen byzantinischen Ikonophilen zwischen Form und Substanz, Ideal und Materie Bild und Urbild einen Unterschied begründet, das dann Jahrhunderte spä- annehmen, d. h. sie sind einander ähn- ter vor allem im romantischen Flügel lich bei gleichzeitiger Unähnlichkeit. der Moderne (z.B. bei Kandinsky und Differenz zwischen Bild und Urbild Malewitsch) die Frage um das ‚wahre wird in den Ikonentheorien […] kon- Bild‘, die vera icon, zur Fluchtlinie kret als ein Unterschied der Substanz künstlerischer Autonomie als Gegen- bestimmt, d. h. sie unterscheiden sich satz zum missbräuchlichen Gebrauch etwa in ihrer Materialität […] Die Iko- der Bilder in der industriellen Massen- nophilen scheinen damit dem ambitio- kommunikation werden ließ. nierten Bildbegriff der ikonoklastischen Das Paradox der Ikone – so eine Partei zu begegnen, die davon ausgeht, Kapitelüberschrift im Buch – besteht dass ein Bild erst dann wahres Abbild aber eben darin, dass im Gegensatz zu ist, wenn es mit seinem Urbild identisch einer schlichten Erwartung der Ikono- ist. Im Hinblick auf die Urbild-Abbild- philen die Ikonoklasten nicht etwa das Relation gehen die Ikonophilen von Bild geringschätzen, sondern anstatt einer partiellen Identität aus, wobei eine einer einfachen Konzeption der Iden- bloß formale Ähnlichkeit der Wahr- tität von Vorbild und Abbild dieses heit der Ikonen nicht abträglich wird, Verhältnis als sehr komplexes Ver- wenn die Ikone in ihrer Artifizialität hältnis des ‚Wesenskerns‘ des Urbildes als ein ontologisch motiviertes Relati- und seines sinnlichen Erscheinens in vum verstanden werden darf. […] Die der materiellen Abbildung, also der Ikone zeigt die spezifische Person, der konkreten Holztafel der Ikone ver- sie ähnlich gemacht ist, und über diese standen, mithin als ein vermitteltes Ähnlichkeit scheint dem Betrachter der Sichtbarmachen des Erscheinens des Bezug zum Urbild zu gelingen. […] Es Heiligen im Profanen, also des prin- gelingt der Ikone über ihre Bildlich- zipiell Nicht-Sichtbaren verstehen. keit und damit über ihre Sichtbarkeit Dies sind allerdings subtile theolo- hinauszuweisen: Sie ist mehr, als sie gische Spekulationen, die nur bedingt offensichtlich zeigt, was ein Metaphy- die faktischen bildpolitischen Kon- sisches impliziert. Somit ist die Ikone flikte der Oppositionen von west- und nicht ein Ausstellen des Materiellen. ostkirchlichem, katholischem und Entscheidend ist das, was sichtbar protestantischem, funktionalem und gemacht wird“ (S.75). ästhetischem Bildgebrauch dominie- Getrennt von den christologischen ren sollten – ein Aspekt, dessen allzu Implikationen liest sich ein solcher Text rigorose Ausklammerung den viel- wie eine suprematistische Programm- leicht ernsthaftesten Punkt der Kritik schrift. Luge-Winter beschreibt den an Luge-Winters Arbeit darstellt. Status der Ikone also als paradox, das Medien / Kultur 153 heißt als gleichzeitige Anwesenheit bare Identifikation schon Urbild und und Abwesenheit des Heiligen, eine Abbild im Sinne der verabscheuens- Begrifflichkeit, die wir in Hinsicht auf würdigen Anbetung der Idole wie eine die medienwissenschaftliche Frage- Fluchtlinie der Bilderfeinde und -aske- stellung sehr offen verstehen können ten bis in unsere Tage kennzeichnet, ein und die sich in der Kunstliteratur der Bilderverbot im Sinne des biblischen Moderne (teils in polemischer Absicht) Gebots begründet, während die vielfäl- als Gegensatz zur Profanität eines bloß tigen Ausdifferenzierungen des Status‘ irdischen Daseins geriert. Und genau der Ikone als vermittelte, abgeleitete diese ‚Errettung von der Geistlosigkeit oder niedrigere Form der Erscheinung einer nur rationalistisch-materiellen des Göttlichen in der Profanität die Welt‘ war der Ehrgeiz vieler Avant- irdischen Möglichkeiten des pragma- garden, die mangels traditioneller tischen Bildgebrauchs eröffnet. Vor dem Heilsgewissheit seit Beginn des 19. weiten Horizont der bildtheologischen Jahrhunderts versuchten, der Kunst Argumente kann die Medienwissen- mittels der hypostasierten Materia- schaft gewissermaßen auf säkularisierte lität einen tieferen Sinn zuzuschrei- Art und Weise manches verständlich ben, als den einer bloßen Mimesis der machen, das sich ansonsten nur schwer banal konkreten diesseitigen Welt. mit einem klassischen aufklärungstele- Die unendlichen Diskussionen um das ologischen Bild der Moderne verbinden Wesen der Ikone als spezifische Rela- lässt. Da ist einerseits ein moralischer tion zum Heiligen, weit über ein bloßes Rigorismus und Puritanismus – auch Abbildungsverhältnis im Sinne neu- da, wo das Bild als solches nicht aufge- zeitlicher Renaissancemimesis hinaus, geben wird –, dasselbe wird jedoch zu erklärt die Attraktivität der Ikonen Gunsten einer begriffslogischen Ästhe- und der sie begleitenden rituellen Pra- tik nur als Negation geduldet. Anderer- xen und theologischen Spekulationen. seits führt der Kult um die Ikonen der Hier entstanden oppositionelle Argu- Kunst fast zwangsläufig zur Ablehnung mentationsfiguren, die sich säkulari- der funktionalorientierten Bilderflut der siert oder auch romantisch neureligiös modernen industriellen und digitalen in der ‚Krise der Repräsentation‘ und Medien. In diesem Sinne bildet der der permanenten Thematisierung der Band auch für Forschende jenseits von ‚ikonischen Differenz‘ seit dem späten Theologie und Kunstgeschichte eine 18. Jahrhundert in immer neuen Spi- wertvolle Lektüre. ralen fortsetzten. Das Paradox besteht allein darin, dass die gerade unmittel- Norbert M. Schmitz (Wuppertal) 154 MEDIENwissenschaft 02/2023 Katharina Rein (Hg.): Magic: A Companion Oxford: Peter Lang (Genre Fiction and Film Companions, Bd.9), 328 S., ISBN 9781800793255, EUR 33,95 Die 28 Beiträge des von Katharina Rein tural world“ (S.89). Zudem arbeitet er herausgegebenen Bandes beleuchten heraus, wie del Toro ein „framework of nicht nur Darstellungen und magische magical realism“ (S.90) adaptiert und Vorführungen in so unterschiedlichen hebt dabei insbesondere die Bedeutung Medien wie der Bühnenkunst, der von Alexandre Desplats Filmmusik Malerei, der Literatur, der Fotografie hervor. sowie des Spielfilms, sondern nehmen Die folgenden Teile versammeln auch Varianten magischen Glaubens in Beiträge zur Bühnenkunst der Zauberei verschiedenen Ländern und Jahrhun- in ihrem Goldenen Zeitalter, zu media- derten in den Blick. len Grenzüberschreitungen magischer Angesichts der Vielzahl der Darstellungen, zur Rolle des mensch- Zugänge und Themen dürfte es nicht lichen Körpers in der Magie und ganz einfach gewesen sein, die Texte schließlich zur Magie als widerstän- sinnvoll anzuordnen. Der Herausge- digem Handeln. Die Texte dieser letz- berin ist dies gelungen, indem sie die ten Rubrik beleuchten etwa Versuche, Beiträge auf sechs Rubriken verteilte, Donald Trump mithilfe der Magie zu deren Erste unter der Überschrift bekämpfen ebenso wie „Magic against „Magic Beliefs in History and Today“ Homophobia“ (S.281) oder „Queer (S.19) steht und schlaglichtartige Infor- Feminist Witchcraft“ (S.291). mationen über magische Amulette in Einige der Texte warten mit instruk- Byzanz und den Hexenglauben in der tiven Erkenntnissen auf. Das trifft nicht Renaissance bietet oder am Beispiel des zuletzt auf den von Josephine Diecke Films Unseen Forces (1920) dem Thema und Noemi Daugaard gemeinsam ver- Spiritualismus im frühen US-amerika- fassten Beitrag zu, in dem sie der Farbe nischen Kino nachgeht. Lila als „Signifier of Shamanism“ in Im zweiten Teil werden anhand von Ryan Cooglers Blockbuster Black Pan- Filmen des mexikanischen, thailän- ther (2018) nachgehen und zeigen, wie dischen und US-amerikanischen Kinos der Film die schon immer mit „exotic Darstellungen magischen Glaubens ‚otherness‘, power and deviance from verschiedener Kulturen vorgestellt. So social norms“ (S.99) konnotierte Farbe wendet sich Álvaro Martín Sanz dem aus afrofuturistischer Perspektive mit Film The Shape of Water (2017) zu, des- Magie verbindet. sen Filmemacher Guillermo del Toro Mehrere der Beiträge gehen auf „the monster as a stranger in a reality“ die Rolle von Frauen im magischen zeigt, „in which it is out of place, despite Denken ein und deren medialer Dar- the lack of any visible break between the stellung nach – so auch die Herausge- everyday and the magical and superna- berin selbst. Rein nimmt den „discours Medien / Kultur 155 around women in stage magic“ in auch auf einige andere Frauendarstel- Österreich während den Jahrzehnten lungen dieses Stils zutrifft. um 1900 in den Blick – jener Zeit also, Einige der Beiträge eröffnen durch- die gemeinhin als „Golden Age“ (S.130) aus neue Perspektiven auf das Thema der Bühnenmagie gilt. Gegenüber der des Bandes. Dass „magical thinking“ „long history of (systemic) sexism“ heutzutage „at its most intense in (S.129), die „women in modern per- political conspiracy theories“ (S.viii) formance magic“ eher „for their looks sei, wie Roger Luckhurst im Vorwort […] than their skills“ (S.130) rühmten, des Bandes meint, ist allerdings ein rückt die Autorin die Fertigkeiten die- zweifelhafter Befund, in dem sich ein ser Frauen und ihre Bedeutung für die auf den ‚Westen‘ verengter Blick nie- Bühnenzauberei ins Licht. derschlägt. Beispielsweise sind Voo- Mit The Magic Circle (1886) interpre- doo- und Hexenglauben in Teilen tiert Marie Barras hingegen auf nicht West- und Zentralafrikas noch immer weniger erhellende Weise ein Werk des höchst lebendig. So sind der Hexerei (spät-)präraffaelitischen Malers John beschuldigte und darum ausgestoßene William Waterhouse. Nun ist das Frau- Frauen in verschiedenen Ländern des enbild der einige Jahrzehnte zuvor wir- Kontinents gezwungen, in abgelegenen kenden Präraffaelitischen Bruderschaft Lagern oder Dörfern ganz unter sich zu zwar eher fragwürdig, porträtierten sie leben. Auch ist es eine gängige Praxis ihre weiblichen Modelle doch in aller der nigerianischen Prostitutions-Mafia, Regel als femme fatale oder femme fragile. junge Frauen oder ihre Angehörigen Wie die Autorin jedoch zeigt, handelt es mit angeblichem Voodoo-Zauber gefü- sich bei der Magierin auf Waterhouse’ gig zu machen. Mag der Band thema- Bild um eine unabhängige Frau „with tisch auch noch so breit aufgestellt sein, subversive potential“ (S.266), die dem mit Problemen wie diesen befasst sich viktorianischen Frauenideal trotz (vgl. keiner seiner Beiträge. S.262). Zudem macht Barras darauf aufmerksam, dass Ähnliches durchaus Rolf Löchel (Marburg) 156 MEDIENwissenschaft 02/2023 Stefan Neuhaus: Der Krimi in Literatur, Film und Serie: Eine Einführung Tübingen: Narr Francke Attempto 2021, 340 S., ISBN 9783825255565, EUR 23,90 Wie kein anderes Genre ist der Krimi tel zunächst der Beschreibung und in Literatur, Spielfilm und (Fernseh-) Explikation der Merkmale des Krimis Serie die populärste Gattung (mit vie- allgemein (Kapitel 2) sowie einem lite- len Subgenres). Warum der Koblenzer ratur- und filmgeschichtlichen Abriss Literaturprofessur Stefan Neuhaus in (Kapitel 3), um dann in ausführlichen seiner Monografie Der Krimi in Lite- Einzelanalysen jeweils Beispiele für ratur, Film und Serie beispielsweise das die Subgenres exemplarisch vorzustel- Hörspiel als eigene Gattung auslässt, len, die dann in einem knappen Fazit begründet er leider nicht. Stets mit zusammengeführt werden. Jeweils sind dem vagen Verdikt des Trivialen bearg- den einzelnen Kapiteln umfangreiche wöhnt, bestimmt und durchdringt die- Fragenkataloge angefügt, um sich der ses Genre alle Formen von Literatur wichtigen Inhalte selbsttätig zu versi- und Medien, wie Neuhaus in seiner chern. Einführung überaus anschaulich, dif- Das umfangreiche zweite Kapitel ferenziert und an vielen Beispielen breit „Merkmale“ befasst sich zunächst mit belegt. Er will als wichtiges Ziel „den den vielen Genredefinitionen, die der professionelleren Blick auf Krimis […] Autor in einer ungleich differenzierten schulen“ (S.14) – zur eigenen Unter- „Minimaldefinition“ (S.23) zusam- haltung wie auch zur didaktischen menführt, wobei er sie zudem in den Vermittlung. historischen Kontexten der Gattungs- Schon in der Einleitung sichtet produktion (18. bis 20. Jahrhundert) Neuhaus die vielfältige Fachliteratur, sowie innerhalb des multimedialen Handbücher wie Einzelstudien, die Literaturbetriebs verortet. Sodann sich häufig mit ungenügenden Genre- werden gängige Strukturen, Themen definitionen und begrenzten Untersu- und Motive des Krimis (Kapitel 2.2, chungsobjekten (Subgenres) begnügen S.27ff.) inspiziert, die mit dem sei- (vgl. S.13). Daraufhin präzisiert er nerzeit wachsenden aufklärerischen die eigenen Ziele dieser Einführung: und naturwissenschaftlichen Denken nämlich neben übergreifenden Über- Grundlagen der Detektion, mit der legungen „Themen und Merkmale“ der Individualisierung die Erkundung der jeweiligen Unter-Gattungen herauszu- Motive des Täters sowie mit der Ver- arbeiten, „um so zu einer stärker auf breitung moralischer Orientierungen die literarische und filmische Praxis die Dialektik von Gut und Böse ent- bezogenen Beschreibung des Genres wickelten. Der Autor zieht dabei zu gelangen“ (ebd.). So widmet der unter anderem theoretische Ansätze Autor die beiden folgenden Kapi- von Michel Foucault, Niklas Luh- Medien / Kultur 157 mann und Andreas Reckwitz heran. sem Abriss thematisiert werden, werten Wichtig ist ihm auch, das gerade für den Krimi als eines der „spannendsten Krimis prekäre Spannungsverhält- Genre“ (S.72) mit ganz verschiedenen nis zwischen anspruchsvoller ‚Hoch- Rezeptionsmodi (die leider nicht hin- kamm‘- und Trivialliteratur, zwischen reichend expliziert werden). Kunst und Kitsch auszuloten und den Im umfangreichsten Abschnitt literarischen Kanon immer wieder zu werden die einzelnen Subgenres, revidieren (vgl. S.51). Mit Luhmann zunächst jeweils mit einer kurzen apostrophiert er „Neuheit“ (S.307) übergreifenden Einleitung, dann mit und Ref lexivität beziehungsweise Beispielen vorzugsweise aus englischer Impulse zur Ref lexion, um Kom- und deutschsprachiger Literatur und plexität und Kontingenz zu ergrün- oft kongenialen Filmen vorgestellt: den, als Qualitätsattribute benennt Kriminalerzählungen (Kapitel 4), er Metafiktionalität (also ästhetische Detektiverzählungen (Kapitel 5), Verweisstrukturen), Konstruktivität Thriller (Kapitel 6), Erzählungen der Wirklichkeitsebenen, komplexe von Agenten und Spionen (Kapitel 7) „Rätselstrukturen“ (S.38) sowie Dis- sowie Krimikomödien und -parodien kurse über Gerechtigkeit als weiteres (Kapitel 8) sind die gewählten, unum- Kriterium. Dementsprechend lässt gänglich nicht immer trennscharfen Neuhaus die Geschichte des Krimis Kategorien. Neuhaus bietet dafür nicht wie üblich mit Edgar Allan oft ausführliche Inhaltsangaben und Poes Erzählung The Murders in the Plot-Beschreibungen, in die er auch Rue Morgue (1841) beginnen, sondern häufig kritische und wertende Argu- er greift viel weiter zurück: auf die mente einfließen lässt und dabei mit Pitaval-Literatur aus dem 18. Jahr- seiner eindrucksvollen Belesenheit hundert, auf Friedrich Schillers Der recht weit ausgreift, so dass sie mitun- Verbrecher aus verlorener Ehre (1756), ter eher zu Kritiken statt zu Analysen auf E.T.A. Hoffmann und Theodor werden. Ob sie in dieser Extensität Fontane. Und bald wendet er sich und kennerischen Implikation für dem (Spiel)Film zu, etwa dem Cabi- ein als ‚Einführung‘ angelegtes Werk net des Dr. Caligari (1920) oder Fritz angebracht sind, sei dahingestellt. Für Langs Dr. Mabuse, der Spieler (1922) Insider können sie allerdings recht – getreu seiner These: Der Krimi hat anregend sein. Eingehende medien- alle Medien erobert (vgl. S.61). Auch wissenschaftliche Vergleichsanalysen die im Fernsehen in den 1930er Jahren zwischen Text und Film einer ausge- startenden Serien werden beispielhaft, wählten Werkvorlage sucht man indes mit Titeln aus US-amerikanischer vergebens. und später deutscher Produktion, Das Fazit „Ein mörderisch gutes angesprochen. Diese enorme Viel- Genre“ (Kapitel 9, S.308ff.) fällt falt und Unterschiedlichkeit in den recht knapp aus: Ob die Qualität Subgenres, Figurationen, Protago- und ‚Neuheit‘ des anspruchsvollen nist_innen und Motiven, wie sie in die- Krimis erkannt werden, dazu bedarf 158 MEDIENwissenschaft 02/2023 es „Expertenwissen“ (S.308), postu- „eine solche Bandbreite an Emotionen liert Neuhaus. Herausgearbeitet habe stimuliert und ein solches Spektrum er in dieser Einführung jeweils „einige an möglichen menschlichen Eigen- zentrale Merkmale, […] die für das schaften porträtiert“ (ebd.). Diese sind Genre konstitutiv sind und deren leider nicht hinreichend systematisch- unterschiedliche Gewichtung über die analytisch erfasst. Ein umfangreiches Zuordnung zu möglichen Subgenres Stichwort- und Literaturverzeichnis entscheidet“ (S.309). Die immense schließt diese Einführung ab. Popularität des Krimis begründet Neuhaus noch einmal damit, dass er Hans-Dieter Kübler (Werther) Buch, Presse und andere Druckmedien 159 Buch, Presse, Druckmedien Anya Heise-von der Lippe: Monstrous Textualities: Writing the Other in Gothic Narratives of Resistance Cardiff: University of Wales Press 2021 (Gothic Literary Studies), 391 S., ISBN 9783958083462, EUR 81,22 (Zugl. Dissertation an der Eberhard Karls Universität Tübingen, 2019) „We live in Gothic times“ – diese Department für English Literatures Einschätzung der britischen Autorin and Cultures der Tübinger Eberhard Angela Carter erscheint auch nach Karls Universität tätigen Heise-von fast fünfzig Jahren aktueller denn je der Lippe ist bereits der Sammelband (vgl. Fireworks: Nine Profane Pieces. Posthuman Gothic (Cardiff: University London: Virago, 1974). Als Modi für Press of Wales, 2017), in der gleichen die Geschichten über zuvor Unterdrü- Reihe „Gothic Literary Studies“ der cktes und wichtiger noch von Unter- University Press of Wales, vorange- drückten haben sich die Mechanismen gangen. des Gothic als ein fruchtbarer Ansatz Ausgangspunkt für die Untersu- erwiesen, um diese Phänomene auf- chung ist die 1831er Edition von Mary zudecken, fassen und verbalisieren zu Shelleys Frankenstein, die im Gegen- können. Nicht nur in der Erzählfigur satz zur Erstauflage von 1818 ein von des Monsters selbst findet sich dabei der Autorin selbst verfasstes Vorwort ein probates Mittel zur Sichtbarma- enthält. Hierin vergleicht Shelley chung des ‚Anderen‘ (other), anhand die Schöpfung ihres Romans mit der dessen sich das ‚Eigene‘ (self ) definie- Kreat ion eines Frankenstein’schen ren und erhöhen lässt. Angewandt auf Monsters und fügt dem Text durch die Textstruktur selbst, erweist sich dieses Bild eine weitere intertextuelle das Monströse – das als Abweichung, Dimension hinzu. Der nicht lineare als ausgegrenzt oder grotesk Katego- Aufbau ihres Textkörpers spiegelt und risierte – ebenfalls als Möglichkeit unterstützt gleichsam die Geschichte der Reflektion und des Widerstandes um eine proto-posthumane Krea- gegen systemische Unterdrückung, so tur, deren additive Entstehung sich die These Anya Heise-von der Lippes außerhalb der konventionellen Fort- in ihrem Band Monstrous Textualities: pflanzung oder Geburt abspielte (vgl. Writing the Other in Gothic Narratives S.15). Hierdurch bietet sich nicht nur of Resistance. Der Monografie der am in der Narration eine Alternative zu 160 MEDIENwissenschaft 02/2023 beispielsweise normierten Gattungs- unterschiedlicher Segmente auf dem konventionen und Gendergrenzen: Bildschirm können die Lesenden die Sie ermöglicht und manifestiert laut Abfolge der Erzählung und somit den Heise-von der Lippe auch den Wider- ‚Aufbau‘ des Textkörpers bestimmen. stand Shelleys selbst gegen die ihr Jackson hinterfragt auf diese Weise das auferlegten Grenzen als Frau und Monopol sowie die Konstruktionen Autorin. von Autorschaft und Wissenserzeu- In den folgenden Kapiteln unter- gung, so Heise-von der Lippe. sucht Heise-von der Lippe Texte, Doch obwohl das Phänomen sol- die ebenfalls ein „open network of cher ‚monstrous textualities‘ meist in intertextual connections to various Erzählungen in der ein oder ande- literary and critical sources, metanar- ren Form weiblich gegendert ist (vgl. rative commentary and non-linear or S.251) und als „feminist tradition“ multilayered structural effects“ (S.5) (S.13) hervortritt, betont Heise-von aufweisen und diese wiederum den der Lippe, dass es sich vielmehr als Inhalt selbst erweitern. Im Mittel- eine post-humanistische Lesart anbie- punkt der ausgewählten Beispiele tet. Sie besitzt das Potenzial „to decen- steht der erniedrigte, durch gesell- tralise the humanist subject and focus schaftliche Konventionen als mons- on how human activity inscribes itself trös deklarierte weibliche Körper in a profoundly horrific way on the pla- in einem intertextuellen Gef lecht, net as a medium“ (S.255). Die Mono- welches konsekutive, chronologische graf ie arbeitet entsprechend nicht Strukturen negiert und Verweise auf nur mit Theorien aus Literatur- und andere Quellen beinhaltet. Dies zeigt Medienwissenschaft, den Gender und Heise-von der Lippe unter anderem Gothic Studies, sondern auch mit den anhand von Margaret Atwoods Lady Ansätzen der Identity, Posthuman und Oracle (1976), Angela Carters Nights at Cyborg Studies. Für eine Leser_innen- the Circus (1984) und Tony Morrisons schaft aus diesen Bereichen eröffnen Beloved (1987). Anhand des Hyper- die ausführlichen Werkanalysen und texts Patchwork Girl (1995) von Shelley die überzeugende belegte These zahl- Jackson, einer Adaption der Franken- reiche Möglichkeiten der Übertra- stein-Geschichte, wird deutlich, wie gung und Anwendung – auch über das sich solche metanarrativen Strate- Medium der Literatur hinaus. gien jenseits des gedruckten Buches entwickeln: Durch das Anklicken Susanne Schwertfeger (Kiel) Buch, Presse und andere Druckmedien 161 Tobias Kurwinkel, Stefanie Jakobi (Hg.): Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive: Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch Tübingen: Narr Francke Attempto 2022, 328 S., ISBN 9783772087080, EUR 78,- Laut Tobias Kurwinkel und Stefanie nitorischen noch mit einer weiteren Jakobi, den Herausgeber_innen des Herausforderung konfrontiert, näm- vorliegenden Sammelbands Narra- lich kein standardisiertes und umfäng- toästhetik und Didaktik kinder- und liches Handwerkszeug für die Analyse jugendmedialer Motive, sei der lite- von Motiven erarbeitet zu haben. Der raturwissenschaftlichen Motivfor- letzteren Herausforderung begegnen schung unter anderem von Ulrich die Herausgeber_innen mit ihrem Mölk vorgeworfen worden, dass zwar eigenen Beitrag, in dem sie ihr typo- fleißig Forschung betrieben würde, logisches und transmedial ansetzendes dies aber ohne den zentralen Begriff Analysemodell vorstellen, an welchem des Forschungsinteresses – eben den sich die zwölf folgenden analytischen des Motivs – bisher genau bestimmt Beträge orientieren, die sich dediziert zu haben (vgl. S.8; Mölk, Ulrich: mit Kinder- und Jugendliteratur aus- („Das Dilemma der literarischen einandersetzen. Dieses Modell ist in Motivforschung und die europäische Umfang und Präzision ausgesprochen Bedeutungsgeschichte von ,Motiv‘: nützlich, da es an multiplen Ebenen Überlegungen und Dokumentation.“ (medial, materiell, narrativ, paratextu- In: Romanistisches Jahrbuch 42 [1], 1991, ell und diskursiv) eines Motivs ansetzt. S.91-120). Diese fehlende Präzision Trotz dieses nützlichen Ana- illustrieren die beiden Herausgeber_ lysemodells wird das anfängliche innen anhand des Motivs ‚Unter- Versprechen der „Etablierung eines weltbesuch‘ aus E lisabeth F renzels trennscharfen und operationalisier- Lexikon Motive der Weltliteratur: Ein baren Motivbegriffs“ (S.8) nicht ein- Lexikon Dichtungsgeschichtlicher Längs- gelöst. Denn der Motivbegriff selbst schnitte (Stuttgart: Kröner, 1980): Bei bleibt bedauerlicherweise auch in die- Frenzel werden ‚Jahrmarkt‘ und ‚Laby- sem Band weiterhin nebulös. Zwar rinth‘ lediglich als zwei Ausprägungen wird in den Beiträgen gerne Christine des Unterweltbesuch-Motivs gefasst, Lubkolls griff ige Definition – das wobei Kurwinkel und Jakobi anklin- Motiv sei die kleinste semantische gen lassen, dass beide durchaus als Einheit eines narrativen Texts – zitiert zwei distinkte Motive zu betrachten (vgl. Nünning, Ansgar [Hg.]: Metzler sein können (vgl. S.7f.). Lexikon: Literatur- und Kulturtheorie. Die literarische Motivforschung Ansätze – Personen – Grundbegriffe. sieht sich neben dieser begriffsdefi- Stuttgart: Metzler, 2013, S.542-543). 162 MEDIENwissenschaft 02/2023 Doch wie diese Einheit empirisch Motiv im Bilderbuch nach Elisabeth festgemacht und damit von ande- H ollerweger und Sophie Müller – von ren ‚kleinen‘ semantischen Einheiten einer gewandelten Sicht auf Umwelt abgegrenzt wird, bleibt unklar. Dies und Natur, die weniger im Konflikt, äußert sich beispielsweise bei Carsten sondern eher in harmonischer Koo- Gansel und José Fernández Pérez, die peration mit den Menschen steht. die Begriffe ‚Motiv‘ und ‚Topos‘ syno- Thomas Boyken weist in seinem text- nym verwenden (vgl. S.64). komparatistischen Beitrag die wider- Ein weiteres Problem an der läufigen Funktionen des Buchs im begriff lichen Unschärfe entspringt Buch auf: Während in Michael Endes darüber hinaus der ebenfalls von Die unendliche Geschichte (1979) das L ubkoll zugeschriebenen Bedingung, Buch als Selbstbehauptungssymbol dass ein Motiv erst durch Wiederho- gegenüber anderen Medien und ein lung, Konventionalisierung und Varia- bedachtes Lesen positiv akzentuiert tion seinen Status als Motiv erhielte werden, zieht Cornelia Funkes Tin- (vgl. S.35). Aus dieser Beding ung tenherz (2003) ein intertextuelles leitet sich unweigerlich die nicht Bezugsnetzwerk auf, das dem genau beantwortete Frage ab, ob und ab entgegengesetzt den Eskapismus des welchem Grad der Variation womög- Lesens zelebriert. lich aus einem ursprünglichen Motiv Ein rein an (audio-)visuellen ein neues Motiv entstehen kann. An Medien interessiertes Publikum einem Beispiel konkret gefragt: Wenn könnte allerdings an diesem Sammel- Melanie T rolley in ihrem Beitrag eine band wenig Gefallen finden. Denn den Entwicklung der affektiven Sättigung Löwenanteil der besprochenen Werke des Wald-Motivs von ‚abschreckend- machen trotz des vom Buch-Untertitel abweisend‘ zu ‚freundlich-einladend‘ angekündigten „Vampir auf der Lein- erkennt, lässt sich dann noch von wand“ und „Tod im Comic“ Bücher der einem einzelnen, variierten Wald- Kinder- und Jugendliteratur aus. Zwar Motiv sprechen oder handelt es sich kommen mit Markus Engelns‘ Beitrag um zwei voneinander zu trennende zur Zeitreise in Life is Strange (2015) Motive? sogar die Game Studies zu Wort, Wenn sich die Leser_innen mit doch sonst werden klassische medien- dieser wenngleich unbefriedigenden, wissenschaftliche Analyseobjekte wie aber immerhin zum intuitiven Ver- Film, Fernsehserie oder auch Comic ständnis und Gebrauch des Motiv- lediglich marginal behandelt. Auch begriffs aufrufenden theoretischen ein an (Medien-)Didaktik interessier- Fundierung anfreunden können, tes Publikum dürfte eher enttäuscht lesen sich die Analysen durchaus werden, da das am Buchtitel beteiligte, interessant und lehrreich. So zeigen eigene Didaktik-Kapitel lediglich zwei sich geschichtliche Entwicklungen Aufsätze aufzuweisen hat. – wie beim bereits erwähnten Wald- Motiv bei Trolley, aber auch im Zoo- Martin Janda (Marburg) Buch, Presse und andere Druckmedien 163 John McCoy, Andrei Molotiu (Hg.): Raw, Weirdo, and Beyond: American Alternative Comics, 1980-2000 Chicago: The University of Chicago Press 2022, 305 S., ISBN 1892850435, USD 60,- Die Publikation Raw, Weirdo, and zusammengestellt und verlegt wurde. Beyond: American Alternative Comics, Obwohl das Magazin beim kleinen 1980-2000 entstand als Begleitkata- Verlag Print Mint angesiedelt war, ver- log zur gleichnamigen Ausstellung sammelte Arcade vorwiegend Comics im McMullen Museum of Art des von etablierten, in San Francisco Boston Colleges mit über 120 Expo- arbeitenden Künstlern. Fünf von sie- naten und einem virtuellen Rundgang, ben Covern wurden von Spiegelmans die von September bis Dezember 2022 Kollegen und Freund Robert Crumb zu sehen war. Der Inhalt setzt sich gestaltet; in allen Ausgaben finden sich aus anekdotenhaften Einführungen, weitere Arbeiten von ihm. Interviews mit Kunstschaffenden und Das danach besonders für aka- sachlichen Fachtexten sowie groß- demische Kreise zusammengestellte formatigen Abdrucken von Comic- Magazin Raw (ab 1980) wurde eben- Beispielen, die als Exponate in der falls von Spiegelman, diesmal mit sei- Ausstellung zu sehen waren, zusam- ner Kollegin und Ehefrau Françoise men. Nachdem man die persönlichen Mouly herausgegeben. Im Gegensatz Beziehungen der Herausgeber zum zum eher simpel gehaltenen Design behandelten Thema erfahren hat, von Arcade gestaltete Spiegelman die erklärt John McCoy in seinem Essay Raw-Ausgaben selbst, in Zusammen- „Raw and Weirdo: Comics in Search arbeit mit der New York’s School for of Authenticity and an Audience“ (S.7- Visual Arts, an der Spiegelman lehrte. 26) was ‚weirdo‘ und ‚raw‘ eigentlich Vorgestellt wurden in Raw bekannte sind: Comic-Anthologien der 1980er europäische Künstler_innen, die in und 1990er Jahre, die die faszinie- den USA bis dahin eher wenig beach- renden Comicuniversen jenseits der tet worden waren. Ein bekannter und massenhaft produzierten Superhelden- beliebter Strip, der auch in Raw ver- und Abenteuercomics zugänglich öffentlicht wurde, ist Ernie Bushmil- machten. lers Nancy (1938-). Spiegelman sah in Vorbereitet wurden diese beiden Raw und in seinen Single-Shot-Aus- Magazine von Arcade, das von H arvey kopplungen – wie Paul Karasiks und Kurtzman (MAD) inspiriert und von David Mazzucchellis Comicadaption 1975 bis 1976 von Art Spiegelman, City of Glass (1994) – eine Möglichkeit der für seinen Comic MAUS (1980) zur Annäherung der Comics an die große Bekanntheit erlangte, und Bill ‚Hohe Kunst‘ – ein auch heute noch Griffith (Zippy, the Pinhead [1971-]) angestrebtes Ziel. Weirdo, unter der 164 MEDIENwissenschaft 02/2023 Herausgeberschaft von Crumb, war fien der ausgestellten Künstler_innen hingegen eher an einer Einordnung der mit grafischen Porträts sowie der Comicstrips als ‚Outsider Art‘ interes- Verfasser_innen der hier veröffentlich- siert, die gerade deshalb keinen Regeln ten Texte werden auch bisher weniger unterworfen war. sichtbare Kunstschaffende und Kreative McCoy zeigt die Entwicklung die- vorgestellt – ihnen wird wortwörtlich ser Magazine detailliert und kennt- ein Gesicht gegeben. Unter den Künst- nisreich auf, nennt viele Beispiele ler_innen befinden sich neben Bagge, und räumt neben den prominenten Crumb, Mouly und Spiegelman noch Herausgeber_innen auch den Kunst- Lynda Barry, Julie Doucet, Gilbert und schaffenden, ohne die diese Maga- Jaime Hernandez, Keith Knight, Aline zine nur leere Hüllen gewesen wären, Kominsky-Crumb, Gary Panter, Chris ihren angemessenen Platz ein. Richtig Ware und Jim Woodring. lebendig wird der Ausstellungskatalog Das Format des Katalogs erlaubt durch die Interviews, die mit wichtigen eine Fülle von Texten und vor allem Persönlichkeiten für die Entwicklung große, qualitativ hochwertige Abbil- von Raw und Weirdo geführt wurden. dungen, wodurch die Besonderheiten So interviewten die beiden Heraus- der Comics deutlich sichtbar werden. geber die Mitherausgeberin von Raw Durch das Gewicht des Katalogs, und Lebensgefährtin von Spiegelman die Größe im Überformat und das Mouly (vgl. S.27-40) sowie Peter wenig Stabilität bietende Softcover ist Bagge, einen Künstler und späteren der Katalog jedoch wenig handlich Herausgeber des Weirdo-Magazins und eher kompliziert zu handhaben. (vgl. S.41-51). Weitere Fachtexte zu Eine Empfehlung des Buchs sei allen Unterthemen und zur Motivgeschichte Comic interessierten – insbesondere innerhalb der in diesen Magazinen denjenigen, die einmal über den Tel- herausgegebenen Comics ergänzen lerrand etablierterer Comicveröffentli- den Überblick, den die Lesenden über chungen hinausschauen wollen – aber die alternative Comicszene in den allemal gegeben. USA ab den 1980er Jahren hier erhal- ten können. Durch die Kurzbiogra- Iris Haist (Köln/Plauen) Buch, Presse und andere Druckmedien 165 Kinza Khan: Maidan, Krim und Russland: Eine Medien-Frame-Analyse deutscher Print-Berichterstattung im Februar und März 2014 Baden-Baden: Nomos 2022, 312 S., ISBN 9783748933854, EUR 64,- (Zugl. Dissertation an der Universität Bamberg, 2022) Die 2022 an der Otto-Friedrich Uni- methodischen Zugang für sozial- und versität in Bamberg unter dem Titel kommunikationswissenschaftliche Die Ukraine-Krise und der Blick auf Forschungsvorhaben“ (S.5f.). Russland: Eine Medien-Frame-Analyse Das Erkenntnisinteresse der vor- der reichweitenstärksten überregionalen liegenden Forschungsarbeit bestehe Printmedien im Februar und März 2014 darin, so Khan, „die Meinungsviel- angenommene Dissertation von Kinza falt in den ausgewählten Texten […] Khan erhält mit der abgewandelten zu eruieren, wobei die (intersubjektiv Überschrift der Buchveröffentlichung geteilte) Meinung […] theoretisch eine Spezifizierung, die der Dyna- über den Begriff des Frames erfasst“ mik der Ukraine-Krise unter der sich (S.14) werde. Der Untersuchungszeit- abzeichnenden militärischen Erobe- raum sei „von einer doppelten Krise“ rung von Teilen der Ostukraine durch geprägt – der Ukraine-Krise als Krise die Russische Föderation geschuldet erster Ordnung, mit dem unmittel- ist. Außerdem habe es, so Khan in baren Bezug zur EU, und der Krise ihrem Vorwort, „vor dem aktuellen zweiter Ordnung, die sich „im Ver- Krieg deutlich zu wenig Auseinan- trauensverhältnis der Medien zu ihrem dersetzungen mit diesem in sich kom- Publikum“ (ebd.) abspiele. In ihren plexen Staat […] direkt vor den Türen folgenden Untersuchungen schließt der EU“ (S.5) gegeben. Die hier vorlie- Khan alle Texte, die den Charakter gende Arbeit wolle mit „Eigenkatego- von institutionsinternen Schreiben mit rien die Welt verstehen und sortieren, Bezug auf die Ukraine-Berichterstat- und welchen eigenen Gesetzen dieses tung haben, aus ihren Untersuchungen Verständnis je folgt“ (ebd.). Anderes aus. als für die „sozialkonstruktivistisch- Die Gliederung des Projekts zeugt phänomenologischen Grundannah- von einer vorbildlichen handlungslo- men“ (ebd.) gelte für die Empirie, gischen Vorgehensweise. Das zweite die lediglich eine Momentaufnahme Kapitel setzt mit der Ukraine-Krise darstelle. „Sie bieten einen Reflexi- 2014 und der Vertrauenskrise in den onsraum für die o.g. Eigenkategorien deutschen Medien ein, das dritte Kapi- und deren Funktionsweise sowie über tel untersucht Framing als sozialkon- die Operationalisierung des theore- struktivistische phänomenologische tisch-historisch hergeleiteten Begriffs Perspektive auf die Berichterstattung. des Frames einen systematisierten Im vierten Kapitel entwirft Khan die 166 MEDIENwissenschaft 02/2023 Methodik der Medien-Frame-Analyse ereignisse sowie Konzentration auf und präsentiert im fünften Kapitel die reichweitenstärkste überregionale Ergebnisse der Medien-Frame-Ana- Medien und Print-Medien. Sie ver- lyse. Im abschließenden Kapitel fasst zichtet auf eine Auseinandersetzung Khan die Ergebnisse der Analyse ein- mit Bildmaterial und bedient sich schließlich eines reflexiven Framings eines differenzierten Kriterienkata- zusammen und prüft die erzielten logs für die Selektion der Texte, bei Ergebnisse. der die überregionalen deutschspra- Die rund 250 Seiten umfassende chigen Tageszeitungen und Wochen- Untersuchung stellt im zweiten Kapi- zeitschriften berücksichtigt werden. tel zunächst den Begriff der ‚Ver- Im Anschluss daran definiert sie die trauenskrise‘ heraus, um die beiden einzelnen Arbeitsschritte der Medien- Themen ‚Ukraine-Krise‘ und ‚Krim- Frame-Analyse, deren Ergebnisse sie Krise‘ detailliert unter Verweis auf mit der Konzentration auf vier The- Umfrageergebnisse zu untersuchen. menbereiche zusammenträgt: Krim, Besonders hervorzuheben ist die Russlands Machtpolitik, Frage nach ausführliche Darlegung der Krisen- der Verantwortung der Eskalationsver- berichterstattung (vgl. 2.4) und die antwortung, Disput um Ukraine und unter Punkt 2.5 zusammengetragenen Maidan. Vorwürfe gegen die Berichtenden und Zu Beginn der ausführlichen Kon- ihre Berichterstattung sowie der Vor- klusion stellt Khan fest: „Mit Rück- eingenommenheit gegenüber Journa- griff auf den Theoriezusammenhang list_innen. rund um den Begriff des Frames […] Der umfangreichste Abschnitt der begreift diese Arbeit den Frame als Publikation ist dem Framing gewid- Sinnzusammenhang und Deutungs- met. Der aus dem Englischen über- muster von Geschehnissen“ (S.273). nommene Begriff wird zunächst in Mit dem folgenden Hinweis auf den forschungsspezifischer und pragma- methodischen Auf bau der Unter- tischer Hinsicht ausführlich beschrie- suchung verbindet Khan dessen ben. Diese methodische Konsequenz Bewertung. Die Framing-Theorie als kulminiert im Abschnitt 3.3, in dem „Theorie mittlerer Reichweite“ eigne das Frame-Konzept in Medien und in sich gut, „um den Meinungskorridor der journalistischen Ausbildung erläu- […] und die Pluralität der Argumente tert wird. zu untersuchen“ (S.275). Das vierte Kapitel zur Methodik Die folgende Auswertung der der Medien-Frame-Analyse (S.147ff.) Frames ergibt eine Reihe dominanter widmet sich der Operationalisierung Themengebiete, worunter die Krim- der Frame-Elemente, um sich dann mit Annexion, Krim und Russland, Mai- den Analyse-Parametern zu beschäfti- dan, Rolle Russlands als Aggressor gen. Dabei konzentriert sich Khan auf am häufigsten vorkommen. Die auf folgende methodische Schwerpunkte: den Seiten 275 bis 281 ausführlich Zeitraumerfassung über Schlüssel- charakterisierten Felder, auf denen Buch, Presse und andere Druckmedien 167 diese Begriffe genannt werden, folgen schungsarbeit eingeschlossen – auf ein einer Beschreibung, die auch den in wissenschaftliches Feld, auf dem die dieses Forschungsgebiet Eingeweih- journalistische Berichterstattung einer ten gewisse Schwierigkeiten bereiten. peniblen Befragung unterzogen wird. Khan empfiehlt ihnen sicherlich auch Vor dem Hintergrund des seit dem aus diesem Grund den dialektischen 24. Februar 2022 wütenden Krieges Zugang zu einem neuen, spannenden der russischen Militärmacht gegen die Forschungsgebiet: das reflexible Fra- Ukraine also ein riesiges neues For- ming (vgl. S.284). Das zwanzig Sei- schungsgebiet! ten umfassende Literaturverzeichnis verweist – die hochspezialisierte For- Wolfgang Schlott (Regensburg) Alla G. Bespalova, Horst Pöttker (Hg.): Mediensysteme in Deutschland und Russland: Handbuch Köln: Herbert von Halem 2022 (Journalismus International, Bd.9), 361 S., ISBN 9783869622637, EUR 34,- Seit 1977 gibt es die interkulturelle siert nun die beiden Mediensysteme. Zusammenarbeit zwischen der Uni- Wie aufwendig und anspruchsvoll die versität Rostow am Don und der Tech- Herausgabe eines solch zweisprachigen nischen Universitär Dortmund, und Handbuches ist, für das Autor_innen seit 2001 arbeiten das russische Insti- beider Länder Stichworte bearbeiteten, tut für Philologie, Journalistik und die wechselseitig miteinander abgegli- interkulturelle Kommunikation sowie chen wurden, um mindestens ein wenig das deutsche Institut für Journalistik Vergleichbarkeit herzustellen, beschrei- an gemeinsamen Projekten – unter ben die Herausgebenden ebenfalls im anderem an diesem vergleichenden Vorwort: Nicht nur die wiederholte Wörterbuch, wie die Herausgebenden Überprüfung der Übersetzungen war im Vorwort erläutern: Vor zwölf Jahren langwierig, ungleich länger dauerten erschien schon ein deutsch-russisches die Prozesse der wechselseitigen theo- Handbuch der journalistischen Genres retischen und inhaltlichen Adaption der (Bespalova, Alla G./Kornilov, Jewgenij Begriffe, also darüber, was man gegen- A./Pöttker, Horst [Hg.]: Journali- seitig meint, insbesondere wenn gleiche stische Genres in Deutschland und Rus- Bezeichnungen benutzt werden. Denn sland: Handbuch. Köln: Herbert von zu unterschiedlich sind die beiden Halem, 2010), das zweite Buch fokus- Mediensysteme und auch die Wissen- 168 MEDIENwissenschaft 02/2023 schaftsverständnisse – und sie dürften Unterschiede und Lücken zu fokussie- nach den jüngeren Verwerfungen und ren. Die finden sich schon im ersten Konfrontationen noch weiter differie- Begriff beziehungsweise Artikel zum ren. Nicht nur deshalb ist das Projekt Thema „Medien, Massenmedien“: Bei nun beendet. der Begriffsdefinitionen wird bereits 2016 war die erste Fassung dieses vermerkt, dass die „Bezeichnung Handbuches endlich fertig, von 2015 für Massenmedien in der russischen stammen die einschlägigen Mediensta- Sprache Masseninformationsmittel“ tistiken, die in einem umfangreichen bedeutet; daneben würde auch „Mas- dritten Teil abgedruckt sind und – wie senkommunikationsmittel“ (S.24) ver- die Herausgebenden selbst einräumen wendet. Ob damit auch verschiedene – wohl vielfach nur noch historischen Sachverhalte in Russland, aber auch im Wert haben. Die Texte wurden hin- Vergleich mit deutschen Medien unter- gegen aktualisiert, um besonders die stellt sind, wird nicht erläutert. Weiter digitalen Entwicklungen zu berück- wird für die Gegenwart betont, dass die sichtigen. Eingeteilt sind sie in sieben „Medienwelt zunehmend von kommer- Gruppen, die von allgemeinen Begrif- ziellen Interessen beherrscht“ werde, fen über Presse, Radio, Fernsehen, was „im grundsätzlichen Widerspruch Online-Medien bis zu Agenturen/ zum journalistischen Ethos“ (ebd.) Werbung/PR reichen. Kino, Musik- stehe. Ob diese Abhängigkeiten auch träger und Buch blieben unberücksich- für russische Medien bestehen oder tigt. Natürlich haben sich nationale ganz andere wirksam sind, wird ebenso Schwerpunkte ergeben, etwa bei den wenig expliziert. Da wären für die deut- Online-Medien und bei der Werbung sche Ausgabe einige Anmerkungen auf westlicher Seite. Pfeile weisen auf über die Grenzen des internationalen Stichworte hin, in denen die Sach- Austausches hilfreich gewesen, aber verhalte zusätzlich erläutert werden, vermutlich waren sie nicht möglich. so dass auch auf diese Weise begrenzt Im Artikel „Mediensystem“ beto- Bezüge möglich sind. Die Artikel sind nen die beiden Autoren, dass sich die teils von einem Autor beziehungsweise Mediensysteme im Zuge der Globali- einer Autorin verfasst, die meisten sogar sierung und der wachsenden Konzen- von zwei Autor_innen aus beiden Län- tration zunehmend internationalisieren, dern. Empfohlen war ihnen eine ein- wodurch „internationale Regulierung heitliche Struktur, nach einleitenden notwendig“ (S.32) werde. Und dann Begriffsklärungen sollten Geschichte, wird pauschal angeführt: „So greift gegenwärtiger Zustand, Forschungs- die EU zum Beispiel in den Bereichen stand und Literatur folgen. grenzüberschreitendes Fernsehen sowie Für hiesige Leser_innen bieten die Werbung und Sponsoring in nationale weitgehend deskriptiven Begriffserläu- Regulierung ein“ (ebd.). Da Medien in terungen gegenüber anderen Lexika den EU-Ländern (noch) dem natio- oder Handbüchern wenig Neues. Daher nalen Recht unterstehen, in Deutsch- ist es plausibel, sich auf die binationalen land sogar Ländersache sind, und die Buch, Presse und andere Druckmedien 169 EU-Kommission nur mit Zustimmung Abschnitt die Gründung der Rus- der nationalen Regierungen (Minister- sischen Public Relations Gesellschaft rat) und dem EU-Parlament handeln (PACO) 1991 erwähnt und darauf hin- kann, ist diese Aussage so pauschal gewiesen, dass das russische „föderale nicht richtig. Über die Strukturen und Presse- und Werberecht […] Schleich- Politiken der russischen Föderation, werbung“ (S.228) verbietet. Mehr etwa über das Verhältnis des russischen erfährt man nicht. Zentralstaates zu den föderierten Repu- Vermutlich waren solche Einsei- bliken, erfährt man hingegen nichts. tigkeiten und Lücken für das Projekt Im Artikel über „Online-/Web- unausweichlich, so dass der wissen- Journalismus“ – ein anderes Beispiel schaftliche und informative Ertrag – heißt es, dass sich einige „Open- gering bleibt. Seinen Protagonist_innen Media-Projekte […] als Plattform für kommen ohne Frage das Verdienst Dissidenten in autoritären Systemen und der Respekt zu, über so viele oder auch für Gegenöffentlichkeiten Jahre das Projekt betrieben, die wohl gegen den massenmedialen Nachrich- auch in dieser Zeit anfallenden Wid- ten-Mainstream“ (S.206) formieren, rigkeiten überwunden und immerhin und abermals fragt man sich, auf wel- zwei Handbücher als Dokumente ihrer che Systeme diese Aussage gemünzt ist. Zusammenarbeit vorgelegt zu haben. Das Fehlen der Kategorie „Propa- Wissenschaftlicher Austausch bleibt ganda“ ist auffällig. Der Text zur „Wer- auch in Tagen wie unseren, aber auch bung“ (S.218ff.) ist vollständig neutral, für die Zukunft wichtig. Es bleibt zu ohne expliziten Bezug zur Situation in hoffen, dass die internen Diskussionen den beiden Staaten, verfasst. Ebenso der Gruppe offener und ertragreicher verfährt der Beitrag „Public Relations, verliefen als nun ihre gedruckten Ver- Öffentlichkeitsarbeit“ (S.220ff.): Nach sionen. langen Ausführungen über die (west- liche) Geschichte wird nur im letzten Hans-Dieter Kübler (Werther) 170 MEDIENwissenschaft 02/2023 Szenische Medien Annalena Roters: Mit Tieren denken: Zur Ästhetik von lebenden Tieren in zeitgenössischer Kunst Berlin: Neofelis 2022, 206 S., ISBN 9783958083462, EUR 22,- (Zugl. Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2018/19) Als abgebildetes Motiv oder skulptu- In jedem der vier im Hauptteil rales Taxidermie-Objekt sind Tiere umfassend diskutierten Fallbeispiele in der Kunst ein bereits umfangreich können sich die verschiedenen Arten erforschter Gegenstand, dessen zuge- bei sich graduell immer weiter verrin- höriger Fragenkatalog mit der Formie- gernden Eingriffen durch menschliche rung der Animal Studies in den 1990er Beteiligte – ob Künstler_innen oder Jahren um zahlreiche Betrachtungs- Betrachtende – verhalten. Zwar sind sie weisen erweitert wurde. In ihrer Publi- in einem konstruierten Kontext eines kation Mit Tieren denken untersucht künstlichen Habitats eingebunden, Annalena Roters nun die ästhetische ihre Rolle ist darin jedoch nicht a pri- Wirksamkeit von lebenden Tieren in ori die von Stellvertretenden, Symbolen der zeitgenössischen Kunst. Ihr Fokus oder Projektionsflächen menschlicher liegt dabei auf deren inszenierter Prä- Belange oder Individuen, wie bei- sentation, was entsprechend sowohl in spielsweise der 1974 mit Joseph Beuys der Methode als auch im Gegenstand im Galerieraum eingesperrte Kojote. den Bereich der bildenden Kunst um Sie stehen für sich und ihr Tier-sein, den des Theaters erweitert. Der kurz wodurch die Mensch-Tier-Dichotomie gehaltene historische Blick auf die auflöst ist. Allein ihre Performanz, für unterschiedlichen Formen, in welchen die Roters den Begriff der „posthuma- Tiere seit jeher einem menschlichen nist performativity“ (S.20) einführt, Publikum zur Unterhaltung dargebo- rückt in den Vordergrund. En pas- ten wurden, untermauert dieses Ver- sant legt die Autorin dabei auch offen, ständnis und manifestiert gleichzeitig wie scheinbar kompromisslos unsere den posthumanen Ansatz des Textes Sichtweise auf Tiere durch kulturell selbst, also losgelöst von anthropozen- geprägten Speziesismus sowie insbe- trischen gesetzten Gattungsgrenzen sondere ikonografische Zuweisungen und stattdessen tierzentriert. dominiert wird. An deren Stelle rückt Szenische Medien 171 bei Roters stattdessen nun aber die men‘ oder die Blickbeziehungen Inhalt, „Präsenz ihrer Materialität“, in der die sondern die Abwesenheit, die Unsicht- „Agency der Tiere“ (S.180) liegt und barkeit einer der ursprünglich inklu- mit welcher sie folglich auf die Kunst dierten Tierarten: Die Pfauen wirkten wirken. nach kurzer Zeit kränklich und ent- Die Abfolge der Werkanalysen zogen sich schon früh den Blicken der weist eine Steigerung in Bezug auf Betrachtenden. Aus dieser Handlung eben diese Wirkung und Wirkmacht der Tiere, die über ihre Körperlichkeit der Tiere auf. Den Auftakt bildet Doug beziehungsweise ‚Materialität‘ ausge- Aitkens migration (empire) von 2008. drückt und lesbar wurde, resultierte Bei dieser vierteiligen Mehrkanal- ihre Entfernung aus dem Setting nach Videoinstallation handelt es sich um wenigen Tagen – was die Vögel wiede- die einzige asynchrone, durch einen rum im Diskurs zum Werk dauerhaft nachträglichen Schnitt choreografie- und prominent präsent werden ließ. rte Erfahrung innerhalb der Auswahl. Mit Tieren denken überzeugt mit Wildtiere bewegen sich durch Motel- dem direkten Einstieg in den Mate- räume, ihre tatsächlichen Handlun- rialitätsdiskurs, wobei grundständige gen werden mittels der Montage vom Ansätze der Animal Studies voraus- Künstler aufbereitet und ästhetisiert. gesetzt sind beziehungsweise über den Diese Performativität arbeitet Annalena Anmerkungsapparat erschlossen wer- Roters als ein Werkzeug zur Analyse den können. In den mit zahlreichen heraus, welches im Folgenden ebenfalls sinnfällig angewandten Theorien der zur Bearbeitung von Carsten Höllers Kunst- und Theaterwissenschaften fiktivem Versuchsaufbau mit Rentieren unterfütterten Analysen gelingt es in Soma (2010) und H einer Goebbels Roters entsprechend der Zielsetzung mit Schafen inszenierte Sequenz aus des Bandes zu zeigen, wie sich „Tiere Louis Andriessens Oper De Materie selbst an der Hervorbringung der (1996) angewandt wird. Kunstwerke beteiligen“ (S.180) und Das letzte Beispiel, die Installa- diese Beiträge entsprechend ausge- tion After ALife Ahead, welche Pierre wertet werden können. Dieser Ansatz Huyghe im Rahmen der Skulptur-Pro- bietet ein hohes Potenzial zur Übertra- jekte Münster 2017 in einer ehemaligen gung auf andere künstlerische Arbei- Spothalle entwickelte, führt in gewisser ten und somit zur weiteren Einbindung Weise an den Anfang zurück. Hier der Animal Studies in die Kunst- und sind jedoch nicht wie bei Aitken das Theaterwissenschaften. Zeigen auf den abwesenden Menschen anhand einer Differenz von ‚Lebensräu- Susanne Schwertfeger (Kiel) 172 MEDIENwissenschaft 02/2023 Rebekka Kricheldorf: Dem Tod ins Gesicht lächeln: Ein Plädoyer für Komik und die Feier des Absurden im Theater Berlin: Alexander 2022 (Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik), 176 S., ISBN 9783895815881, EUR 19,90 Drei Vorlesungen über Komik, über auch der Stückeschreiberin hervorzu- verstörende Unterhaltung und über heben sind. Theater als Suchbewegung Werwölfe, dazu eine hundertsei- und als Erzeuger von Ambivalenz „in tige Mythengroteske mit dem Titel Zeiten einer großen Ambiguitätsinto- Werwolf (2019) – seit über zwan- leranz“ müsse seinen Zuschauer_innen zig Jahren schreibt die aus dem im „Mehrdeutigkeit“ und „Widersprüch- badischen Freiburg stammende lichkeit“ (S.165) offerieren. Die Rebekka K richeldorf Theaterstücke Umsetzung solcher Strategien erweist und Romane. Diese professionelle sich insofern als besondere Heraus- Herausforderung bildet den Gegen- forderung für das heutige Theater, als stand eines Schaffens, das Johannis Kricheldorf eine Reihe von Ideen ver- Birgfeld, Germanistik-Dozent an der wirklichen würde, die seit über fünfzig Universität Saarbrücken, in seinem Jahren vor allem auf den westeuropä- kommentierenden Nachwort zu der ischen Bühnen en vogue sind: „Rache vorliegenden Publikation als ‚Theater am Leben“, „Feier des Absurden“, der Lust‘ bezeichnet. Er verweist auf „Lachen über den Tod und das Leben“ Farcen, Komödien und Grotesken, die (S.166). Diese manifestierten Ideen Märchen- und Mythenstoffe als Vor- erläutert Birgfeld mit den Begriffen lage für die über dreißig Theaterstücke ‚Unterhaltungstheater‘, ‚Theaterlust‘ der Dramaturgin haben. Als Autorin und ‚existentielles Lachen‘, um das von Auftragswerken für zahlreiche Kricheldorf ‘sche Theater der Unterhal- deutsche Theater, Preisträgerin des tung und der Komik zu charakterisie- Kleist Förderpreises, Gastautorin der ren. Gleichzeitig verweist er auf ihre Mühlheimer Theatertage, Hausautorin spezifische Gebrauchsdramatik, „die im Mannheimer Nationaltheater und im Kern vor keiner Position haltmacht, am Theaterhaus Jena sowie auch ihre die eigene eingeschlossen“ (S.171). Es Auszeichnung mit der Poetik-Dozen- ist eine an sich tolerante Dramaturgie, tur an der Universität in Saarbrü- die, unter Verweis auf Kricheldorf, cken 2019 habe Rebekka Kricheldorf „die innere Komik jedes Seriositäts- sowohl in Theaterkreisen als auch im versuchs“ entlarve und damit keinen engeren Bereich der Dramaturgie eine Anspruch auf den „Ewigkeitswert“ landesweite Anerkennung verschafft. ihrer Stücke erhebe (ebd.). Bei der In seinen folgenden Ausführungen Umsetzung dieser Gebrauchsdrama- verweist Birgfeld auf eine Reihe von tik bedient sich Kricheldorf auch einer Merkmalen, die sowohl im Schaffen Mythenverwurstung – ein Verfahren, der Dozentin für Dramaturgie als das sie in ihrem Theaterstück Werwolf Szenische Medien 173 mit dem Untertitel ‚Mythengroteske‘ lich aufgeladen worden durch Sagen, (vgl. S.92ff.) aufzeigt. Volksglauben und Bilder, sondern habe Ausgehend von Figuren, „die der nach Ansicht von Siegmund Freud Märchen- und Mythenwelt, dem Kos- „etwas dem Seelenleben von alters her mos der Popkultur und des Comics Vertrautes“ (S.76), das nur durch den entsprungen“ (S.65) sind, untersucht Prozess der Verdrängung entfremdet Kricheldorf in ihrer dritten Vorlesung wurde. am Wesen des Wolfs mögliche Inspi- Die Fülle der Eigenschaften des rationsquellen für dessen Umsetzung überlieferten Werwolf-Mythos, so in ‚ihrem‘ Werwolf. Zu diesem Zweck Kricheldorf, erlaube eine Vielzahl von verweist sie auf den reichhaltigen Fun- Interpretationsansätzen, die in ihrem dus der Werwolf-Figuren in der Lite- Theaterstück angelegt seien. Es sind ratur wie auch bei deren Verarbeitung sieben Personen der Handlung, die in Filmen und Theaterstücken, setzt dreiköpfige Familie Brüggemann mit sich mit bitter than life-Figuren aus den dem Vater (einem weltbekannten Pia- popkulturellen Mythen auseinander, nisten), der russischstämmige Kon- distanziert sich von der Verkitschung zertagent Nikolai Chodorowitsch, des Werwolf-Mythos in TV-Serien drei Figuren aus der Nachbarschaft und erläutert ihrem Publikum, was der sowie eine illustre Gruppe von 20 Werwolf seinen Theaterbesucher_innen Expert_innen, die alle möglichen noch an gruseligen Stoffen bieten kann. Handlungsstränge fachfraulich und Ihr Bekenntnis zeugt von einer breiten -männlich kommentieren, Radio und Palette an Motiven und einer schein- diverse Medien eingeschlossen. Die bar ungebremsten Suche nach Ele- handelnden Figuren verhalten sich in menten, die die Unterhaltungskultur ihrer dörflichen Öffentlichkeit unge- in die Hochkultur überführen – mit wöhnlich auffällig, was Gegenstand der dem Ziel, „dem Theater mehr Trash ständigen Expert_innen-Kommentare und dem Trash mehr Theater einzu- bildet. Während diese ihre fachkom- hauchen“ (S.74). Wie erfolgverspre- petenten Urteile fällen, häufen sich die chend dieser Trend sei, so Kricheldorf, Nachrichten über grausam zerfleischte beweise auch Diedrich Diederichsens Menschen, an denen die Spuren von Urteil über die TV-Serie The Simpsons Wölfen zu erkennen sind. In dieser (1989-) als das „kompletteste postmo- Gemengelage von Ansichten über die derne Kunstwerk“ (S.74). In ihrem mysteriösen Mordtaten, outen sich Per- lustvollen Bemühen, eine mythische sonen als Werwölfe, verdichten sich die Figur wie den Werwolf auf die Bühne Haare von Alfred zu einem Wolfspelz. zu bringen, seien die in der Figur Kein Wunder, die Groteske nimmt angelegten Eigenschaften wie Mehr- Fahrt auf und stoppt unvermittelt. deutigkeit, Universalismus, Allgemein- Das gelungene Plädoyer für Komik gültigkeit in vielerlei Hinsicht für eine vermittelt nicht nur einen Einblick Fortsetzung seiner Karriere auf der in das dramaturgische Schaffen von Bühne geeignet. Sie sei nicht nur stoff- Kricheldorf. Vielmehr verbindet die 174 MEDIENwissenschaft 02/2023 Autorin hier dessen Erkenntnisse in in ihren Vorlesungen als auch in ihrer Theaterstücken, in denen der mythisch Werwolf-Groteske nicht nur dem Tod vernebelte Zeitgeist unter anderem ins Gesicht lacht, sondern auch dem in der Figuration des Werwolfs aus zeitgenössischen Theater unerwartete dem schwammigen Blickwinkel der absurde Impulse verleiht. Expert_innen kommentiert wird. Es ist ein Vergnügen, wie die Autorin sowohl Wolfgang Schlott (Regensburg) Fotografie und Film 175 Fotografie und Film Christian Bettges: Docutimelines: Zur Produktion von Musikdokumentationen Bielefeld: transcript 2022, 332 S., ISBN 9783837661293, EUR 49,- (Zugl. Dissertation an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, 2020) Der Titel der vorliegenden Publika- hat der Autor natürlich Recht: Die tion ist der grafischen Darstellung des technischen Optionen, sehr umfang- Filmablaufs in diversen Computer- reiche Datenmengen zu erfassen und schnittprogrammen (wie Avid) ent- zumindest grob zu kategorisieren, die lehnt; auf der sogenannten ‚Timeline‘ mit den Timelines der Schnittpro- werden die Video- und Audiospuren gramme seit den 1990ern eröffnet wur- untereinander angezeigt und geben den, sind auch lesbar als eine Antwort einen zeitlichen Überblick über die auf die sich ständig erweiternden (und sequenzielle Gliederung des Films. immer unübersichtlicher werdenden) Sie ist eine auf die Besonderheiten Mengen von Quellmaterialien für von Film angepasste Notation, ein die Arbeit an dokumentarischen For- deskriptives Mittel der Darstellung. maten, in Sonderheit auch an archiv- Man kann die Timeline von Schnitt- basierten Musikdokumentationen. programmen erweitern, auch die Viel- Ob sie allerdings eine „immanent zahl der Quelltexte aufnehmen, die für zu analysierende Struktur, zugleich ein Filmprojekt zur Verfügung stehen eine Ordnung (oder Unordnung) von (und erhielte dann eine Art ‚sequen- Weltbezügen“ bilden, dass sie auto- ziellen Zettelkasten‘, der das Gesamt- matisch „Bezug auf historische und material erfasst und erschließt). So gesellschaftliche Realitäten wie auch sehr der Titel die Nähe zur Praxis ihre sedimentierte[n] Produktionsbe- des digitalen Schnitts reklamiert, ist dingungen“ (S.10) herstellen, sollte fraglich, ob es wirklich um Praktiken allerdings in Zweifel gezogen werden: und Feinheiten des Schnitts (resp. der Für diese analytische Erkundung des Montage) geht. Materials bedarf es immer noch eines Insofern ist man gut beraten, die Autors (oder zumindest einer textu- Erwartungen an Docutimelines: Zur ell erkennbaren Instanz der Äuße- Produktion von Musikdokumentationen rung), der beziehungsweise die erst nicht zu hoch zu schrauben. In einem semantische (thematische, assoziative, 176 MEDIENwissenschaft 02/2023 affektive usw.) Beziehungen zwischen schaftlich Präreflexiven und Nicht- und Elementen durch Montage zum Aus- Vor-Propositionalen gründet, (4) die druck bringen kann. Modulation von Zeit in Musik und Manche Behauptung wirkt trivial. Audiovisualitäten anhand der Proble- Vor allem die Unfähigkeit der Musik, matik von kulturellem Gedächtnis und eigenständig Bedeutungen zu artiku- Erinnerung sowie der Optionen einer lieren, wird immer wieder argumenta- kontrafaktischen Gegenerinnerung vor tiv unterlaufen, wenn sie in Kontexte allem am Beispiel des Afrofuturismus, der Zeit eingegliedert werden, die zu (5) schließlich die systemische Verzer- ihrem ‚assoziativen Hof ‘ gehören und rung und Herausbildung von Formatie- die oft schon in der Selbstinszenierung rungs- und Standardisierungspraxen als von Bands eine Rolle gespielt haben. eigenes Dispositiv. Inwiefern die Timeline dazu beiträgt, Die Timeline bildet ein finales verdeckte Bedeutungen für den fina- Erfassungsmittel der für ein Filmpro- len Schnitt zu aktivieren, bleibt dabei jekt verfügbaren Materialien, die vor unklar. Zeitgenössische Assoziationen aller Ordnung in der Timeline zunächst – beispielsweise die Betonneubauten gesammelt und deren jeweilige Ver- in Manchester in den späten 1970ern, fügbarkeit gesichert werden müssen. die in Joy Division (2007) ein „Ort der Natürlich bedarf es dazu eines Plans, Genese von Denotationen der Musik“ eines Konzepts für das am Ende ste- (S.188) der gleichnamigen Band wur- hende Produkt. Gerade angesichts der den –, können entsprechend in Time- unübersehbaren Vielfalt des Materials lines akzentuiert werden. Verdeckt ist muss über Auswahlkriterien befun- ihre Bedeutung aber nicht. den werden, über Ordnungskriterien, Für seine Ausführungen fährt im Falle von historischen Dokumen- C hristian Bettges – Philosoph, Sozio- tationen über die Relevanz und die loge und Sozial- und Wirtschaftshisto- Authentizität der Belege. Ist Popu- riker – nach einer zu oberflächlichen larität ein Kriterium, die Integration Präsentation der Timelines als Instru- gerade von Musiken in historische All- ment digitaler Schnittprogramme tagspraxen? Auch wenn Bettges mit gewaltiges Geschütz auf. In fünf Beispielen äußerst sparsam umgeht, großen Abteilungen entwickelt er (1) sind Einblicke in die von ihm selbst eine (nicht nur heuristische) Bestim- produzierten Sendungen aufschluss- mung des Sujets ‚Musikdokumen- reich, weil sie deutlich zeigen, dass tation‘, (2) eine an Jürgen Habermas‘ neben den dokumentarischen Interes- Theorie des kommunikativen Handelns sen ein zweiter intentionaler formaler geschulte Darstellung der Weltbezüge Rahmen aufgespannt wird: die Arbeit und Geltungsansprüche als gesteuert an einer ‚dokumentaren Fiktion‘. So durch kommunikative Rationalitäten, ist die überaus interessante WDR- (3) eine Skizze der denotativen Potenz Produktion Peace‘n‘Pop (2015), an der von Musik in lebensweltlichen Bezü- Bettges als Autor beteiligt war, als gen, die im kulturellen und gesell- ein Blick auf die zahlreichen Berüh- Fotografie und Film 177 rungen der Rock- und Popkultur mit Ob sie wirklich ertragreich ist, den politischen Bewegungen ihrer Zeit bedürfte genauerer Diskussion. Pop- konzipiert, jeweils belegt mit signifi- geschichte wird medial erzählt, basiert kanten Beispielen, aber auch mit weit- auf medialer Zirkulation. Allerdings gehend anonymisierten Bildern von ihr eine Eigendynamik zuzuweisen, Events, gestützt durch Aussagen von „die Kulturen ergebnisoffen trans- Zeitzeug_innen (z.B. Udo Lindenberg formiert“ (S.313), unter Absehung oder Ken Follett). Dass Popmusi- aller realgeschichtlichen Anlässe, wie ker_innen – wie andere celebrities der Bettges am Ende resümiert, nimmt Popkultur auch – zu Repräsentanten den Akteur_innen des Pop ihre sym- der politischen Protestbewegung und bolische Macht ebenso wie ihre Selbst- so zu Mitteln des Pop-Marketings wer- verortung in der Zirkulationssphäre. den konnten, ist ein wichtiger Befund Am Ende bleibt schließlich noch der WDR-Studie, wenn auch keine ein Blick auf Formales: Ein Index neue These; aber natürlich ermöglicht fehlt, so dass die Suche nach den Bei- sie nur einen eingeschränkten Blick auf spielen schwer wird. Die Filmografie die Popgeschichte, muss andere (selbst besteht nur aus den Titeln, genauere nahestehende) Varianten, wie den Pro- Angaben fehlen. Die Literaturliste testsong oder die Vielfalt der Folk- und ist manchmal nicht richtig alphabeti- Singer-Songwriter-Szene, ausblenden. siert. Soll sagen: Auch in der täglichen Peace‘n‘Pop ist bei genauerem Hinsehen Benutzung bereitet der Band keine ein Versuch, der so unübersichtlichen Freude. Historiografie der Rock- und Popkultur eine eigene Sichtweise hinzuzufügen. Hans-Jürgen Wulff (Westerkappeln) 178 MEDIENwissenschaft 02/2023 Winfried Gerling, Florian Krautkrämer (Hg.): Versatile Camcorders: Looking at the GoPro-Movement Berlin: Kulturverlag Kadmos 2021, 224 S., ISBN 9783865994615, EUR 24,90 Seit ihrer Markteinführung im Jahr erste einschlägige medienwissenschaft- 2004 hat die GoPro-Kamera audio- liche Publikation zum Phänomen auf visuelle Praktiken in Lifestyle-Sport- Englisch vor, die den inzwischen viel- arten wie Surfen, Snowboarden oder fältigen Anwendungsbereichen und Mountainbiking nachhaltig verändert ausdifferenzierten soziotechnischen und ist aus Extremsportarten nicht Praktiken dieser Kameratechnologie mehr wegzudenken. Während die nachgeht und sich an den phänome- erste GoPro noch eine analoge Ein- nologischen Besonderheiten wie den wegkamera war, folgte mit der ersten ‚neuen‘ Bildkulturen abarbeitet. digitalen GoPro Hero 2006 das ent- In Bezug auf die soziotechnischen scheidende Modell, das das Unterneh- Praktiken verweisen die ersten Bei- men zum internationalen Marktführer träge von Gerling, Jan Distelmeyer für Action-Kameras aufstiegen ließ. und Krautkrämer zurecht auf den Diese bemerkenswerte Unterneh- limitierten Status der Kamera als mensgeschichte bildet den Ausgangs- Simondon’sches technologisches punkt des von Winfried G erling und Objekt, das ohne Software, Stick, Florian Krautkrämer herausgegebenen Halterung oder Netzwerkeinbettung Sammelbandes Versatile Camcorders: nur eine ‚abstrakte‘ Existenz pflegt. Looking at the GoPro Movement. Die Angesichts der zur Nutzung nötigen besondere Bauweise – klein, leicht, zusätzlichen technologischen (Infra-) robust und wasserdicht – gepaart mit Struktur spricht Distelmeyer von einer Weitwinkelobjektiv(en) und leistungs- „programmatic technology“ (S.68), an fähiger Software (z.B. eingebaute die der Blick übertragen wird und der Bildstabilisatoren) mündete, wie die eine entscheidende Rolle innerhalb von Herausgeber Gerling und K rautkrämer Bildproduktion, -ästhetik und -zirku- einleitend festhalten, in ein „new media lation zukommt. Die Praxis ist, dass ‚ecosystem‘“ (S.18), das Kamera, Kör- wir nicht sehen, was wir mit bezie- per, Bewegung und Umwelt über hungsweise durch die GoPro filmen. smarte Computerumgebungen und Entsprechend sieht Gerling die GoPro- deren weltweites Netzwerk in einzigar- Spezifik auch in einem „companion tiger Weise miteinander verbindet. Die view“ (S.43) – einem Zusammenspiel GoPro-Bewegung zeichnet sich auch menschlicher und nicht-menschlicher durch eine neue „culture of sharing“ Agenten, die ein neues Kameragenre, (ebd., siehe auch den Beitrag von James die Action-Cam, prägen. Trew, S.167-176) aus. Mit Gerlings und Bei Krautkrämer, Gerling und Krautkrämers Sammel band liegt eine Distelmeyer klingt bereits an, was Fotografie und Film 179 sich als Konsens durch die Beiträge In: Film Quarterly 44 [4], 1991, S.2- des Bandes zieht: Die GoPro hat den 13), um zu verdeutlichen, wie sich die (Amateur )Filmbereich ganzheitlich ästhetische Qualität der physischen und nachhaltig verändert und eine Aktivitäten sowohl an dem dargestell- eigene ‚GoPro Culture‘ hervorgebracht, ten Körper (zwar nicht malträtierend) die durch die besondere, visuell sicht- als auch am leiblichen Körper der bare Körper-Kamera-Verbindung einen Zuschauenden abarbeitet (vgl. S.85). starken Wiedererkennungswert besitzt. Die besondere performative Körper- Von GoPro-Bildern geht eine starke praxis, die die GoPro zur Schau stellt, Körperlichkeit aus, weil die im Bild ist dabei jedoch häufig Bühne eines sichtbaren Körperteile und der Kopf männlichen Heldentums, wie Julian als zentraler Referenzpunkt die Auf- Jochmarings Beitrag passend ergänzt. nahmen an einen realen Körper und Leider werden diese performativen dessen leibliche Erfahrung in action Genderdiskussionen im Band nicht zurückbinden (vgl. S.85). weitergeführt. Statt die vor allem im Fallschirm- Trotz des Fokus auf durch die springen typische exozentrische Tra- GoPro initiierte Neuerungen ver- geform der GoPro, in der die Kamera liert der Sammelband nie medien- über einen am Helm befestigten Stick historische Vorläufer aus den Augen. auf den Körper und Kopf zurückge- Besonders lesenswert in dem Zusam- richtet wird, als Selfie zu lesen, lädt menhang ist Nanna Verhoeff und Iris der Beitrag von Philippe Bédard ein, van der Tuins Beitrag, der die Faszi- den in vielen Diskursen mitgeführten nation für überhöhte Bewegungen, Anthropozentrismus der Kamera zu Point-of-View-Perspektiven und die überdenken. Exozentrische Aufnah- daraus resultierenden Schwindel- men haben für Bédard nicht mehr den effekte sowohl bereits in phantom rides menschlichen Körper im Zentrum der des frühen Kinos angelegt sehen, als sie Wahrnehmung, auch wenn er auf iro- auch bei Handkameraaufnahmen und nische Weise zum Zentrum des Bildes Videospielsimulationen wiederfinden. und zum festen Fixpunkt einer bewe- Die Erfahrung virtueller Reisen, wie gungsreichen Umwelt wird. Stattdes- sie auch die GoPro über ihre körper- sen konfrontieren sie uns mit einem beziehungsweise kopfnahe Trag- und „reflexive ‚reversal of the gaze‘“ (S.46). Aufnahmehöhe erlaubt, hat kinemato- Dies steht nicht im Widerspruch zu grafische Tradition, die die GoPro im Krautkrämers Beobachtung, die Faszi- Besonderen und Action-Cameras im nation für GoPro-Bilder, egozentrisch Allgemeinen in variierter Weise fort- oder exozentrisch, gehe auf das Wis- führen (vgl. S.99f.). sen um die Präsenz des menschlichen Längst werden Action-Cameras Körpers zurück (vgl. S.85). Geschickt aber nicht mehr nur an menschli- verweist er hierbei auf Linda Williams‘ chen Körpern getragen, sondern an Konzept der body genres (vgl. „Film diversen (Sport-)Geräten, Fahrzeugen Bodies: Gender, Genre, and Excess.“ und Drohnen befestigt, um ungewöhn- 180 MEDIENwissenschaft 02/2023 liche Perspektiven und Interaktionen störte Landschaften. In beiden Fällen einzufangen. Entsprechend begrenzt zeigt Conradi, wie die Bilder ohne sich der Nutzungsbereich von GoPros, menschlichen und subjektiven Stand- wie weitere Beiträge des Bandes über- ort einen merkwürdig ‚ortlosen‘ Ein- zeugend beweisen, nicht mehr nur auf druck gewichtsloser Monumentalität den Sportbereich oder Aufnahmen beziehungsweise erhabener Zerstörung actionreicher Bewegungen, sondern hat hinterlassen (vgl. S.119f.). sich auf diverse Kontexte ausgeweitet. Eine weiteres, durch GoPros her- Zu Raumfahrtbildern mit der GoPro vorgebrachtes Phänomen sind Tier- bietet der Beitrag von Anne Quirynen videos, die nach Marek Jancovic aufschlussreiche Einblicke in eine ide- bisherige medientheoretische Ansätze ologisch aufgeladene Bildproduktion zur sozialen Praxis und zu menschli- des Weltalls. Filme von spacewalks und chen Praktiken in ihrem anthropozen- Marsexpeditionen preisen Raumfahr- trischen Verständnis herausfordern und taktivitäten als Erfolge technologischer im Sinne einer animal media practice neu und menschlicher Leistungen, wobei gedacht werden müssen (vgl. S.208). sie für Quirynen als Teil internationa- Die Begegnungen zwischen Tier ler Eroberungsprojekte gelesen werden und Technologie, die in Formen wie müssen, die zu einer neokolonialen Wolfcams, Kittycams oder Nestcams Logik des als zugänglich und bewohn- viral gehen, durchkreuzen aber nach bar und darin letztlich potenziell aus- Jancovic nicht nur audiovisuelle Codes beutbarem ‚Weltallterrains‘ beitragen und menschliche Subjektivität, sondern (vgl. S.133). Im Militär- und Propa- erweitern die Handlungsdimensionen, gandabereich zeigt Simon Menner die bisher als exklusiv menschlich ange- auf, wie GoPros nicht nur Teil einer sehen wurden (vgl. S.218). weiteren ideologischen Bildproduktion Weitere lesenswerte Beiträge zur geworden sind, sondern inzwischen GoPro in Virtual Reality-Filmprojekten auch zur Standardkampfausrüstung (Christophe Merkle), zum Ursprung gehören. Abseits militärischer Anwen- des GoPro typischen ‚fish-eye‘ (Nanna dungen oder staatlicher Überwachung- Heidenreich) und zur ästhetischen Pra- spraktiken betrachtet Tobias Conradi xis im Kunstfilm Swamp (Jochmaring) Drohnenaufnahmen mit der GoPro fügen dem Band um das facettenreiche im Freizeitbereich, wo es vor allem Phänomen der GoPro noch weitere um erhöhte Perspektiven geht – etwa interessante Aspekte hinzu. auf monumentale Gebäudekomplexe oder durch Naturkatastrophen zer- Karina Kirsten (Siegen) Fotografie und Film 181 Patricia Emison: Moving Pictures and Renaissance Art History Amsterdam: Amsterdam UP 2021 (Film Culture in Transition), 581 S., ISBN 9789463724036, EUR 187,- Dem Erbe der Renaissance kommt Pictures and Renaissance Art History in der Geschichte der Filmtheorie den ein halbes Jahrtausend umfas- eine zweischneidige Rolle zu. André senden Bogen von der Bildkultur der Bazin („Ontologie des photogra- Renaissance zu der des Kinos. Des- phischen Bildes.“ In: ders.: Was ist sen klassische Epoche von den 1920er Film? Berlin: Alexander, 2004 [1945], bis in die 1960er Jahre betrachtet sie S.33-42) oder Jean-Louis Baudry gleichsam als Sattelzeit eines kultur- („Ideologische Effekte erzeugt vom und sozialgeschichtlichen Umbruchs, Basisapparat.“ In: Riesinger, Robert F. der in seiner Tragweite ihrer Ansicht [Hg.]: Der kinematographische Apparat. nach nur mit dem der Renaissance Geschichte und Gegenwart einer interdis- vergleichbar sei. Neben Hollywood- ziplinären Debatte. Münster: Nodus, filmen bezieht sie dabei auch Werke 2003 [1970], S.27-39) erkannten in des frühen europäischen Kunst- und der zentralperspektivischen Zurich- Autorenkinos in ihre Überlegungen tung der fotografisch-kinematogra- mit ein. Im Hintergrund steht ein f ischen Wirklichkeitsreproduktion doppeltes Anliegen: Zum einen will den Grundpfeiler eines unter Ideolo- Emison aufzeigen, dass die Filmge- gieverdacht gestellten Pseudo-Rea- schichte einen vollgültigen Teil der lismus des Kinos. Für gestalt- und Kunstgeschichte ausmacht und als wahrnehmungstheoretische Ansätze solche endlich zur Kenntnis genom- von Rudolf Arnheim (Film als Kunst. men werden sollte. Umgekehrt geht Frankfurt: Fischer, 2002 [1932]) es ihr aber auch darum, der Filmwis- bis Jacques Aumont (L’Image. Paris: senschaft einen historischen Referenz- Nathan, 1990) wiederum bildeten und theoretischen Reflexionshorizont die kompositorischen Errungen- zu eröffnen, der ihr in einer Fixierung schaften der Renaissancemalerei eine auf die unmittelbaren Kontexte ihres für die filmische Welterschließung Gegenstandes bisher entgangen ist. unhintergehbare Voraussetzung. Als Empirisch belegen oder auch nur Bezugsgröße für die Filmgeschichts- systematisch argumentieren lässt schreibung wurde der kunst- und sich eine derart überdimensionierte kulturgeschichtliche Epochenbegriff These, dass es sich beim US-ameri- jedoch eher selten herangezogen. kanischen und europäischen Kino Mit verblüffender Verve und der ersten Hälfte der Filmgeschichte großem Enthusiasmus für beide um nichts weniger als die Wieder- Aspekte ihres Themas schlägt die kehr einer abendländischen Erneu- Kunsthistorikerin und Renaissance- erungsbewegung handele, die an die Forscherin Patricia Emison in Moving Seite der Renaissance des 15. und 182 MEDIENwissenschaft 02/2023 16. Jahrhunderts zu stellen ist, kaum. eingeschriebenen Tendenz zur diskri- Obwohl Emison diesen Versuch auch minierenden Repräsentation fremder gar nicht erst unternimmt, zieht sie Ethnien reichen. – neben unzähligen partikularen In den oft ziellos mäandernden Verstrebungen – doch einen Strauß Mammut-Kapiteln geht es allerdings von Leitlinien in ihre Analogiebil- nicht klassisch geordnet, sondern dung ein, die durchaus einleuchten. ausschweifend barock zu. Zwischen- Sie entsprechen in etwa den Schwer- überschriften fehlen völlig, über weite punktsetzungen der vier jeweils über Strecken springt Emison von einem hundert Seiten langen Kapitel, in die Film zum nächsten, von einem Vasari- das Buch zwischen seinem Pro- und Zitat und Leonardo-Verweis zur näch- Epilog gegliedert ist. Die Schwer- sten Sentenz von Alfred Hitchcock, punktsetzungen basieren auf den Jean Renoir oder Ingmar Bergman. folgenden Grundannahmen: Wie die Den Inhalt der Kapitel konzise zu Kunst der Renaissance steht auch der umreißen, ist daher ein Ding der Film für die umgreifende Ablösung Unmöglichkeit. Es gibt also gleich einer Schriftkultur durch eine bild- mehrere Gründe, Emisons Buch basierte, die zentrale erzählende und nach einem flüchtigen Blick auf sein poetisch-ästhetische Funktionen von verwegenes Vorhaben oder in eines ihr übernimmt; wie die Renaissance- der un übersichtlichen Kapitel gleich kultur mit ihren neuartigen Verfah- wieder kopfschüttelnd aus der Hand ren zur Reproduktion und Verbreitung zu legen. Lässt man sich jedoch von von Bildern richtet sich auch die dem beeindruckenden Wissen und klassische Filmkultur nicht mehr an der schieren Begeisterung der Auto- eine Bildungselite, sondern an eine rin für die Kultur des Kinos anste- breite, säkularisierte Masse ‚einfacher cken, wird man mit einer Fülle kluger Leute‘; beide Bildkulturen gründen Einsichten in unverhoffte ästhetische zudem auf technisch-theoretischen Echos belohnt. Denn wer hätte schon beziehungsweise wissenschaftlich- in der Schlussszene von Charlie mathematischen Erkenntnissen und Chaplins City Lights (1931) den visu- stehen in dieser Hinsicht in Konti- ellen Nachklang einer Verkündigungs- nuität zueinander. Betrachtet man szene entdeckt (vgl. S.24f.)? Oder sich außerdem die eine wie die andere beim Finale von Jean Renoirs La règle Epoche nicht lediglich unter stil- du jeu (1939) an Raffaels Fresko Die geschichtlichen Aspekten, sondern Schule von Athen (ca. 1510) erinnert? in ihrer übergeordneten geistesge- Oder auch nur in Sergei Eisensteins schichtlichen Bedeutung, stechen Oktober (1928) Leon Battista Albertis weitere Analogien ins Auge, die vom Idee einer das Faktische, Fiktive und wechselseitigen Bedingungsverhältnis Legendenhafte verbindenden istoria zwischen Denken, Fühlen und Sehen wiedererkannt (vgl. S.355)? bis hin zu vergleichbaren Weiblich- keitsvorstellungen sowie der beiden Michael Wedel (Potsdam) Fotografie und Film 183 Noel Brown: Contemporary Hollywood Animation: Style, Storytelling, Culture and Ideology Since the 1990s Edinburgh: Edinburgh UP 2021 (Traditions in American Cinema), 232 S., ISBN 9781474410564, GBP 85,- Several recent publications discuss a wider historical, technological, and contemporary animation, focusing on industrial context. Pixar’s films in the context of aesthe- The second chapter „Crossing tics or US-American culture (Herhuth, Boundaries: Families, Audiences and Eric: Pixar and the Aesthetic Imagina- the Mainstream Aesthetic“ discusses tion: Animation, Storytelling, and Digital films that are conventionally percei- Culture. Oakland: University of Cali- ved as children’s entertainment and fornia Press, 2017; Meinel, Dietmar: their appeal to adults from several Pixar’s America: The Re-Animation of perspectives, investigating the pre- American Myths and Symbols. Cham: sented themes, values, and character Palgrave Macmillan, 2016) as well as relationships. Brown underlines that taking a wider approach in discussing the „intended universalism“ (p.41) of the computer-animated film as a genre contemporary animation as family (Holliday, Christopher: The Compu- entertainment is a central change from ter-Animated Film: Industry, Style and previous animation, impacting its aes- Genre. Edinburgh: Edinburgh UP, thetic as well as narrative strategies. 2018). In his book Contemporary Holly- In the third chapter „Hollywood wood Animation: Style, Storytelling, Cul- Animation, Late Modernity and Con- ture and Ideology Since the 1990s, Noel temporary America“, Brown identifies Brown explores the changes in con- cultural references and social com- temporary Hollywood animation from mentary as „strategies of proximation“ the 1990s. In five standalone chapters, (p.78). Forms of postmodern irony such he discusses selected changes and thus as cultural references – for example in presents a valuable addition to the exi- 2000s DreamWorks productions – bind sting research. the films to the modern world, instead The first chapter „Change and of traditional fantasy settings. In con- Continuity: The Making of Contem- trast, animated films of the 2010s often porary Hollywood Animation“ serves engage in self-reflexive narratives and as an introduction to the book. Brown liberal social commentary. The „prin- summarizes the developments of the ciple of plausible deniability“ (p.99) of US-American animation landscape, such commentary, however, ensures especially the shift from cel- to com- appeal to both politically interested puter-animation and the subsequent liberal and conservative audiences. growth and diversification of Holly- In the fourth chapter „Ways of wood animation. He skillfully situates Being: Identity and Hollywood Ani- aesthetic and narrative changes within mation“, Brown examines the changes 184 MEDIENwissenschaft 02/2023 in representation of gender and cul- more towards adult audiences, Brown tural identity since the 1990s. Brown deems their underlying ideologies „lar- analyses several f ilms that portray gely conventional“ (p.149). Thus, they non-western cultures or multicultural serve as a counterpart, but not as an societies and reflects on films that chal- opposite, to mainstream Hollywood lenge stereotypical gender norms found productions. in classic Disney films. He discusses Contemporary Hollywood Animation inclusivity as a business strategy due is a valuable contribution to the field of to the market demands in western cul- animation studies. It succeeds in exa- tures in the 2010s, but again identifies mining key developments following the the strategy of deniability regarding Disney Renaissance and the introduc- gender representation. tion of feature-length computer ani- While the previous chapters discuss mation in the 1990s, discussing „major family-oriented mainstream produc- changes and continuities in style and tions, the last chapter „On the Bor- aesthetics, narrative and story struc- ders: Children’s Horror and Indiewood ture, and industry contexts“ (p.178). Animation“ focusses on more adult- This makes the book both a rich con- oriented films like the stop-motion tribution to the field of film and anima- horror f ilms of Laika and „indie- tion studies and an intriguing read for wood animation“ (p.145) such as Wes animation enthusiasts. It is also ideally Anderson’s stop-motion films. Brown suited for teaching, since the indivi- discusses their aesthetics and narrative dual chapters can be read and discussed divergences from the mainstream as independently in courses focusing on well as their ideological implications. aspects of contemporary cinema, media While their narratives and visual aes- culture, or animation. thetics are deliberately different from Disney or Pixar films and targeted Jannik Müller (Osnabrück) Fotografie und Film 185 Ute Dettmar, Ingrid Tomkowiak (Hg.): On Disney: Deconstructing Images, Tropes and Narratives Stuttgart: Metzler 2022 (Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien, Bd.9), 247 S., ISBN 9783662646243, EUR 90,94 Die wissenschaftliche Auseinanderset- am ausgewogensten erscheint. So dis- zung mit der Walt Disney Company kutiert Yvonne Festl etwa am Beispiel ist so umfangreich wie der Output des von Mulan (1998) die Transformation Studios selbst. Der Band On Disney: des Körpers der Hauptfigur. Eigent- Deconstructing Images, Tropes and Nar- lich ein Mädchen – und zugleich eine ratives fügt diesem Diskurs nun neue Vertreterin der ubiquitär vorhandenen Impulse hinzu und ist sich der Pola- Disney-Prinzessinnen – zieht Mulan risierung, die Disney mit sich bringt, in den Krieg, um ihrem alten Vater durchaus bewusst: Amerikanisierung den Dienst an der Waffe zu ersparen, europäischer Kultur, konservative obwohl Frauen nicht in den Kampf Ideologien, kapitalistische Unterhal- ziehen dürfen. Während die Erzäh- tungsindustrie, mithin insgesamt als lung also an traditionellen Geschlech- ‚Disneyfication‘ umschrieben. Jedoch terrollen rüttelt, zeigt der Beitrag auf, gestehen die Herausgeberinnen Disney wie sich Mulans Körperdarstellung auch zu, deshalb erfolgreich geblieben wandelt und zugleich von dem stere- zu sein, weil sie sich dem jeweiligen otypisch männlich-wild gezeichneten Zeitgeist anpasst und neu positioniert Feind abhebt. Einzig einzuwenden hätten, ohne sich dabei immer neu zu wäre hier, dass die Autorin das Live- erfinden (vgl. S.v). Diesem Spannungs- Action-Remake aus dem Jahr 2020 feld möchte sich der Band nähern „in nur kurz in einer Fußnote erwähnt historical, cultural and media contexts“ und nicht auch ausführlich in diesem und versucht, „images, tropes and nar- Kontext diskutiert. ratives in different media and genres“ Dies tut Sara Van den Bossche in (ebd.) zu dekonstruieren. ihrem Artikel zu den beiden Disney- Dazu nähert sich der Band in ins- Versionen von Aladdin (1992 & 2019) gesamt fünf Abschnitten zu Bezie- umso mehr. Von einem feministischen hungen zwischen Menschen und Standpunkt aus gesehen, zeigt sie, Tieren in Disneys Werk, zu Gender wie der Zeichentrickfilm von 1992 und Diversität, zum Umgang mit dem noch in typischen Denkmustern ver- (europäischen) kulturellen Erbe, zu haftet bleibt, wenngleich auch hier ikonischen Figuren und Erzählwei- die Protagonistin Jasmine als starke sen und schließlich zu immersiven Persönlichkeit gezeichnet wird. Erfahrungen, welche über die Medien- Gleichwohl bleiben die Geschlech- grenzen hinausgehen. Dabei fällt terzuweisungen beständig und schon zu Beginn auf, dass das Kapitel „[i]n the depicted society, ruled by and zu Gender und Diversität insgesamt catering to men, women are orienta- 186 MEDIENwissenschaft 02/2023 ted as unfit to encounter the world einer literarischen Vorlage, sondern alone and requiring male guidance“ im Wesentlichen auf der Themenpark- (S.74). Dies ändert sich im Remake attraktion in Disneyland beruht. Im von 2019, wo Jasmine „as a well-read Kontrast dazu leitet Lincoln Geraghty woman exhibiting political ambition, schließlich über in das abschließende an orientation inconceivable in the Kapitel zu immersiven Erfahrungen animated film“ (S.75) dargestellt ist. anhand der von Star Wars (1977-) Trotzdem ist auch sie unfrei, gebun- inspirierten Parkattraktion Galaxy’s den an kulturelle Tradition, die sie erst Edge. Eben diese transmedialen Brü- durchbrechen muss. cken in eine artifizielle Erlebniswelt Ähnlich herausragende Beiträge für Fans macht ja auch die Attraktivi- f inden sich auch in den weiteren tät der Disney-Stoffe aus. Kapiteln des Bandes. So zeigt Ludger Alles in allem vereinigt der Band Scherer in seinem Artikel zu Fantasia jeweils für sich genommen interes- (1940) die Disneyfizierung europä- sante und für die Forschung gewinn- ischer Kultur auf. Dieser Film ist inso- bringende Beiträge zu Disney. Dem fern ein Sonderfall, als dass er keine Buch gelingt jedoch insgesamt nicht, Narration im üblichen Sinne aufweist, einen roten Faden zwischen den ein- sondern (insb. für die damalige Zeit) zelnen Beiträgen herzustellen, sodass geradezu experimentellen Charakter die Texte zu stark ohne gemeinsamen entwickelt. Schließlich weist der Bei- Bezug nebeneinander stehen. Hier trag von Aleta-Amirée von Holzen wäre womöglich ein wenig mehr the- schon auf den transmedialen Cha- matische Eingrenzung hilfreich gewe- rakter von Disneys Gesamtschaffen sen, was sich ja in Ansätzen – etwa im hin. Sie untersucht die Figur des Jack Hinblick auf Gender und Diversität – Sparrow als den „ultimate adventurer“ auch durchaus erkennen lässt. So bleibt (S.185), auf der Grenze zwischen es bei einer eher zufällig wirkenden Genie und Wahnsinn angesiedelt Zusammenstellung von Beiträgen, die und seinen eigenen Regeln folgend. zwar allesamt mit Disney, aber wenig Sparrow ist deshalb so erwähnenswert, miteinander zu tun haben. weil er und das zugehörige Pirates-of- the-Caribbean-Franchise nicht auf Sebastian Stoppe (Leipzig) Fotografie und Film 187 Bettina Henzler: Filmische Kindheitsfiguren: Bewegung – Fremdheit – Spiel Berlin: Vorwerk 8 2022, 448 S., ISBN 9783947238347, EUR 24,- Wie schreibt man eine Studie über menkomplexe Bewegung, Fremdheit Kinder beziehungsweise Kindheit und Spiel aufgesplittet ist – dem ist im Film? Es wäre möglich, in einer ein kürzerer Abschnitt zu den theore- ‚Materialschlacht‘ verschiedenste tischen Prämissen vorgeschaltet. Die Kinder- beziehungsweise Kindheits- knapp 500 Seiten umfassende Studie filme zu analysieren, einen Ritt durch zeigt dabei unter anderem auf, inwie- die internationale Filmgeschichte zu fern Kinderkörper „Schauplatz der wagen oder diverse Motive und The- Einschreibung von geschlechtlicher, men rund um filmische Kinder zu kultureller oder sozialer Identität“ destillieren. Bettina Henzler, die vor (S.285) sind, in welchem Verhältnis allem durch das Konzept der ‚Film- die kindliche Wahrnehmung und vermittlung‘ bekannt ist, geht einen der Blick der Erwachsenen auf Kin- anderen Weg: Sie liefert eine dezi- der stehen oder was das Drehen mit diert phänomenologische Arbeit zur Kindern aus produktionsästhetischer Darstellung, Erfahrung sowie Refle- Perspektive für Möglichkeiten bietet. xion von Kindheit im Film und kon- Henzler arbeitet dabei eng und detail- zentriert sich dabei ausschließlich auf liert am Material, wobei sie sich auf den französischen Film. Ihre Mono- vergleichsweise wenige Filme konzen- grafie Filmische Kindheitsfiguren: Bewe- triert, darunter auf François Truffauts gung – Fremdheit – Spiel ist aus dem absoluten Klassiker Les Quatre Cents DFG-geförderten Forschungsprojekt Coups (1959), den Dokumentarfilm „Filmästhetik und Kindheit“ an der Récreations (1992) oder Filme der Universität Bremen hervorgegangen. jüngeren Vergangenheit wie Innocence Die Korpusbeschränkung auf das (2004) oder Tomboy (2011). Die Argu- Herkunftsland Frankreich begründet mentation erfolgt dabei profund im Henzler filmhistorisch damit, dass bei Rückgriff auf berühmte gegenwärtige französischen Regisseur_innen das Filmphänomenolog_innen wie Vivian Interesse an der Arbeit mit Kindern Sobchack, Laura Marks oder Thomas „Ausdruck ihrer ästhetischen Haltung“ Morsch, aber es wird mit Béla Balázs, (S.19) sei: So liegen beispielsweise die Siegfried Kracauer oder Laura M ulvey Wurzeln der französischen Cinephilie auch auf – überspitzt formuliert – in der Kindheit, in der viele spätere sämtliche Personen Bezug genom- Filmschaffende ihre Leidenschaft für men, die in der Filmtheorie Rang und das Medium entdeckten. Die phä- Namen haben. nomenologische Perspektive auf die Die sich durch den Text ziehende Filme erklärt die Systematisierung der und wiederholende These Henzlers Arbeit in drei Teile, die in die The- lässt sich so zusammenfassen: Filme 188 MEDIENwissenschaft 02/2023 bilden Kinder nicht lediglich ab, wobei auf letzteres im Kontext von sondern es verdichten sich in der fil- Spielzeugen eingegangen wird. Doch mischen Darstellung von Kindheit Henzlers Auffassung des Spiels „als komplexe Diskurse rund um Körper, medialer Vorgang, der ästhetische Wahrnehmung und freies ästhetisches Erfahrung hervorbringt“ (S.354), fügt Spiel. Zuschauer_innen verarbeiten sich in ihre zentrale These ein, sodass einerseits diese kindlichen Figuren neben der gelungenen Verknüpfung und Schauplätze kognitiv und erleben mit den Ergebnissen aus den ersten sie affektiv, aber Inszenierungen von beiden Teilen auch Parallelen zwischen Kindheit reflektieren andererseits auch dem kindlichen Spielen und der Film- die konstitutive Ästhetik des Films. produktion gewonnen werden. Dementsprechend lautet eine Deu- Als offenkundiger Kritikpunkt an tung Henzlers etwa: Synästhetische der Monografie ließe sich der enorme „Kindheitsfiguren ermöglichen nicht Umfang benennen, und es lassen sich nur eine Annäherung an die kind- durchaus Redundanzen monieren. liche Welterfahrung. Sie befragen im Da das Thema die inhaltliche Breite gleichen Zuge auch die Subjektivität bedingt, hätten sich angesichts von der erwachsenen Zuschauer und die Wiederholungen, Inhaltswieder- Media lität des Films“ (S.238). gaben, Kapitelzusammenfassungen Ein wenig überrascht in der Unter- und Theoriekondensierungen Mög- suchungs-Trias auf den ersten Blick lichkeiten für Kürzungen ergeben die Fokussierung auf das Spiel als – jedoch auf Kosten der Lesbarkeit. eigenständige Rubrik. Auch wenn die Glücklicherweise kam es nicht dazu, phänomenologische Spieltheorie eine so dass H enzlers Monografie nicht lange Tradition aufweist, ergeben sich nur das neue Standardwerk zur fil- hier doch deutliche Überschneidungen mischen Kindheitsforschung ist, son- zu den zuvor behandelten Bereichen dern ebenso eine eindrucksvolle und der Bewegung und Fremdheit. Zudem ausgedehnte Anwendung der phäno- hätten sich auch potenziell andere menologischen Lesart von Filmen. Kategorien angeboten – wie Sprache, Nahrungsaufnahme oder Objekte – Timo Rouget (Frankfurt am Main) Fotografie und Film 189 Daniel Damler: Gotham City: Architekturen des Ausnahmezustands Frankfurt: Campus 2022, 198 S., ISBN 9783593515182, EUR 25,- Gotham City ist der Schauplatz, an ist und den Umsatz an den Kinokassen dem Batman seit 1939 in Comics, TV- unfreiwilligerweise zu dem zentralen und Kino-Adaptionen sowie in Com- Kriterium macht, an dem man kultu- puterspielen gegen das Verbrechen relle Relevanz messen kann. kämpft. Die Stadt ist in der Geschichte Das Prinzip des Buches besteht der Comics zunehmend finster konzi- darin, einzelne Phänomene der piert worden – als eine urbane Verkör- B atman-Filme aufzugreifen und in phi- perung des Bösen, gegen das nur der losophische, staatsrechtliche oder sozio- Dark Knight überhaupt noch anzu- logische Zusammenhänge zu stellen. So kämpfen vermag. etwa erläutert Damler die Broken-Win- Der Rechtswissenschaftler Daniel dows-Theorie von James Q. Wilson und Damler setzt sich in dieser Monografie George L. Kelling („Broken Windows: mit der Architektur der fiktiven, mal The Police and Neighborhood Safety.“ an New York, mal an Chicago ange- In: The Atlantic, 1.3.1982), der zufolge lehnten Stadt auseinander. Die Mono- zerschlagene Fensterscheiben die grafie handelt dabei nur am Rande von Bewohner_innen eines Viertels dazu den Batman-Comics selbst, sondern animieren, die rechtliche Ordnung in benutzt ‚Architektur‘ überwiegend Frage zu stellen. Dem äußerlichen Ver- nicht als kunsthistorischen Begriff, son- fall folge also ein moralischer Verfall dern als Metapher für eine fiktive Stadt, – man könnte hier auch die christliche die ‚gestaltet‘ ist – physisch in Form von Lehre der Hermeneutik bemühen, von Gebäuden und Straßen, semantisch in der die Semantik von Filmen, Comics Form von Regeln, Gesetzen und Ord- und Romanen durchzogen ist, denn nungen. überall ist das Sichtbare ein Ausdruck Damler beschäftigt sich vor allem des Unsichtbaren (per visibilia ad invi- mit den Batman-Realverfilmungen von sibilia): Der Teufel hinkt, der Schurke Tim Burton (Batman [1989], Batman trägt Narben, und Gotham City sieht Returns [1992]) und Christopher Nolan so verdorben aus, wie es tatsächlich ist. (Batman Begins [2005], The Dark Knight Wenn Damler Batman als einen [2008], The Dark Knight Rises [2012]). Diktator interpretiert, der in Notsi- Während die Comics Damler zufolge tuationen die Geschicke des Volkes „nur noch vergleichsweise wenig zum lenkt, interpretiert er den Dark Knight Erfolg und zur Bekanntheit“ (S.16) als custos civitatis, wie der florentinische B atmans beitrügen, führten tatsächlich Staatsphilosoph Niccoló Macchiavelli vor allem die Filme den Mythos weiter. die ‚römische Lösung‘ nannte. Der Ver- Es ist sicher zu hinterfragen, ob diese gleich mit Caesar stammt schließlich Perspektive nicht dem erfolgreichen aus dem zweiten Nolan-Film selbst, in Marketing der Filme allzu sehr erlegen dem sich Harvey Dent und Rachel über 190 MEDIENwissenschaft 02/2023 die Rechtmäßigkeit von Batmans Han- durch die Bildunterschriften einiger- deln unterhalten. Wenn Damler die maßen verständlich gemacht wird. ‚Batcave‘ in Beziehung zu einer Höhle Das Buch ist insgesamt ein sehr setzt, die für den Gründungsmythos lesbares, exkursfreudiges Buch über der Stadt Rom bedeutsam ist, scheint die Batman-Realverfilmungen, weitaus der Beziehungsbogen wiederum etwas anspruchsvoller als etwa Batman and überspannt zu sein. Philosophy: The Dark Knight of the Soul Überhaupt wirken manche der (Hoboken: Wiley, 2008) von Mark Exkurse etwas ausufernd und kommen D. White und Robert Arp. Man darf erst allmählich zurück zum Thema. keine Stadtgeschichte von Gotham Die Fehler – dass etwa Frank Millers City erwarten, keine Analyse seiner Comic-Klassiker The Dark Knight Rises Architektur, keine Einbeziehung der hieße (The Dark Knight Returns. Bur- Comics. Wer die Abschnitte über bank: DC Comics, 1986) – kann man Hannah Arendt, Platon oder die ner- sicherlich ignorieren, die vielen Recht- vengeschädigten Kriegszitterer (‚Neu- schreibfehler lassen aber ein professi- ratheniker‘) in der Weimarer Republik onelles Lektorat vermissen. Wirklich nicht scheut, wird eine informative bedauerlich sind die Abbildungen: Auf Lektüre vorfinden. den meisten Bildern, die Filmszenen zeigen sollen, blicken wir in ein form- Gerrit Lungershausen loses Grau-Schwarz-Grau, das erst (Hamburg-Harburg) Fotografie und Film 191 Timo Rouget: Filmische Leseszenen: Ausdruck und Wahrnehmung ästhetischer Erfahrung Berlin/Boston: De Gruyter 2021, 487 S., ISBN 9783110726787, EUR 109,95 (Zugl. Dissertation an der Universität Koblenz-Landau, 2021) Eigentlich ist Lesen eine wenig attrak- vermeidet verallgemeinernde Aussagen tive Tätigkeit für das auf Bewegung oder Behauptungen. setzende Filmbild. Umso erstaunlicher Der Schwerpunkt der Arbeit liegt ist es, welche Fülle von sehr unter- auf der Untersuchung sowohl von schiedlichen Filmen Timo Rouget aus- Lese- als auch von Filmspezifik zahl- findig gemacht hat, in denen Lesende reicher filmischer Leseszenen. Dabei eine Szene bestimmen und damit eine weiß Rouget sein Material geschickt zu Aussage über die Figur oder gar den gliedern, so dass mal das eine, mal das gesamten Film erstellen. Dabei han- andere stärker im Fokus steht. Beson- delt es sich nicht nur um Filme der ders stark wird seine Studie, wenn (avantgardistischen) Nouvelle Vague er sich einem Film genauer widmet oder des Arthouse-Kinos, sondern und diesen detailliert unter die Lupe auch um solche filmischen Beispiele, nimmt. Das ist zum Beispiel bei so in denen es um romantische Unterhal- unterschiedlichen Werken der Fall wie tung, um die Erfahrung von Horror Lucchino Viscontis Gruppo di famig- oder um Pornografie geht. Es ist ein lia in un interno (1974), Francis Ford großer Vorteil der Untersuchung, dass Coppolas Apocalypse Now (1979) oder ihr Autor ohne jeden Vorbehalt an Woody Allens Hannah and her Sisters seine Filme herangeht und Wertungen (1986). In allen Filmen sind die kurzen in angebliche Hoch- und Populärkul- Leseszenen Schlüsselsequenzen für die tur unterlässt. Dabei konzentriert sich gesamte Filmhandlung. Rouget ausschließlich auf solche fil- Das Kapitel „Lesen und Enkul- mischen Leseprozesse, in denen ein turation“ widmet sich der Bedeutung Buch im literar-ästhetischen Modus des Lesens während des kindlich- gelesen oder vorgelesen wird und fragt jugendlichen Heranwachsens. Dabei danach, wie der jeweilige Leseprozess geht Rouget auf zwei Filme mit f ilmisch eingefangen wird, welche kindlichen Heldinnen ein und erläu- Funktion er jeweils erfüllt und welche tert die „klischeebeladen[e]“ (S.312) Erfahrung er bei den Zuschauer_innen Lese-Darstellung in Heidi (2015) und auslösen kann (vgl. S.7). Insbesondere die „wertende Opposition von ‚gutem‘ der letzte Punkt ist ein wenig speku- Lesen und ‚schlechtem‘ Fernsehen“ lativ, weil er individuelle Rezeptions- (S.319) in Matilda (1996). Eine andere prozesse betrifft, aber Rouget bleibt Rolle spielt die berühmte Leseszene in diesem Bereich stets vorsichtig und aus François Truffauts Les Quatre 192 MEDIENwissenschaft 02/2023 Cents Coups (1959). Rouget zeigt auf, lette sitzend Aldous Huxleys Roman dass mit wenigen f ilmischen Mit- After Many a Summer (1939) liest, wird teln der „Eindruck einer entspannten von Rouget auch als „Fäkalisierung des und konzentrierten Leseatmosphäre“ kontemplativen Leseakts“ gedeutet entsteht, „in der Antoine sich in der und als Abweichung von „Darstel- Literatur verliert und vom schu- lungstraditionen“ (S.174) intellektu- lischen Stress und den familiären ellen Lesens. Aggressionen erholt“ (S.334). Insge- Diese Darstellungen sollen noch- samt bleibt der Autor zurückhaltend, mals betonen, dass Rougets Untersu- was eine filmische Idealisierung des chung gerade dann besonders stark Lesens angeht; er kritisiert sie selten wird, wenn sie ins Detail geht und an und distanziert sich nicht von der fast einzelnen Filmsequenzen aufzeigt, durchgehend positiven Bewertung der wie über unterschiedliche Lesevor- lesenden Aktivität. gänge Aussagen über die Figuren und Für die filmische Darstellung sind über den gesamten Film gemacht wer- die räumlichen Umstände, unter denen den. Auf jeden Fall hat sich das von gelesen wird, attraktiv, weil sie bild- Rouget ausfindig gemachte Sujet für lich gezeigt werden können und damit die Untersuchung von Filmen nicht den eigentlich intransparenten Lese- nur bewährt, sondern führt auch vorgang indirekt doch in Szene setzen zu neuen und zum Teil erweiterten können. Markant ist beispielsweise die Sichtweisen auf die jeweiligen Filme. Lektüre im Freien, wenn Abraham Dabei handelt es sich häufig um kurze Lincoln in John Fords Young Mr. Lin- Szenen, die leicht übersehen werden coln (1939) am Flussufer ein Gesetz- können, die aber durch Rougets Studie buch liest und die „metaphorische in ihrem größeren Bedeutungsspek- Bedeutung eines Landschaftsobjekts trum erkannt werden und die auch für […] mit dem Leseobjekt enggeführt zukünftiges Filmsehen eine Anleitung werden kann“ (S.169). Und die Lek- sein können. türe des Protagonisten von Tom Fords A Single Man (2009), der auf der Toi- Elisabeth K. Paefgen (Berlin) Fotografie und Film 193 Günter Helmes: Lebensbilder auf Zelluloid: Über deutschsprachige Spielfilme der 1950er Jahre Hamburg: IGEL 2021 (SchriftBilder. Studien zur Medien- und Kulturwissenschaft, Bd.13), 104 S., ISBN 9783948958060, EUR 19,90 Was als Handbuchbeitrag über historischen Forschung verpflichtet, deutschsprachige biografische Filme sondern vielmehr „rezeptions- und der 1950er Jahre geplant war, entwi- wirkungsästhetischen Dimensionen ckelte sich zu einer eigenständigen unterworfen“ (S.10), wenngleich die Publikation, da eine umfassende Dar- „zeitpunktgerechten“ (S.11) Produk- stellung der ausgewählten Filme im tions- und Distributionsdaten von geforderten Artikelformat zu knapp Biopics oft im Zusammenhang mit ausgefallen wäre (vgl. S.8). Günter Lebensdaten realer, gesellschaftlich Helmes beschreibt in dem nun vor- relevanter Personen stehen (vgl. S.10f.). liegenden Band 20 Spielfilme aus den Die Zuordnung und die Reihen- Jahren 1949 bis 1960. Erhalten blieb folge der jeweils zehn Film-Porträts aus von der ursprünglichen Text-Kon- der BRD und aus Österreich in sechs zeption die Beschränkung auf vor- Kategorien (Adel und Herrschaftshäu- wiegend inhaltliche Aspekte und der ser, Wissenschaft und Technik, Reli- weitgehende Verzicht auf biografische gion und Kirche, Zeitgeschichte und Angaben zu Mitwirkenden und (film-) Politik, Kunst und Künstler, Skan- historischen Hintergründen der Filme dalfiguren) und ebenso aus der DDR (vgl. S.12). Zwar stehen im Fokus der (Zeitgeschichte und Politik, Deutscher Biopics per definitionem „der Lebens- Bauernkrieg, Wissenschaft und Tech- gang, der Charakter, das Empfin- nik, Literatur, Kunst und Künstlerin, den, Denken und Handeln und/oder Sport) entschied Helmes nach dem das Werk einer realhistorischen, klar „damals zugeschriebenen Gewicht der identifizierbaren Person“ (S.9). Doch betreffenden Sujets im Ensemble der Helmes problematisiert die Begriffs- jeweiligen nationalen […] Angebote“ bestimmung des polyphonen Genres: (S.13). Zu den im Buch dargestell- Allein die Zuordnung der Werke sei ten Biopics aus westlicher Produk- angesichts der häufigen Genreüber- tion zählen H elmut Käutners Ludwig schneidungen zu unter anderem Melo- II. (1955), Falk Harnacks Anastasia, dram, Historien-, Monumental- und die letzte Zarentochter (1956), Rolf Kriegsfilm (vgl. S.9) mitunter schwie- Hansens Sauerb ruch – Das war mein rig. Zudem zeige die Kombination Leben (1954), Robert Siodmaks Nachts, realhistorischer und (semi-)f iktiver wenn der Teufel kam (1957) und Max Persönlichkeiten die Nähe des Biopics Ophüls’ Lola Montez (1955). Zu den zum hybriden Genre der Literaturver- vom Autor ausgewählten DEFA-Bio- filmungen (vgl. ebd.). Als Kunstwerke pics zählen neben Kurt Maetzigs Ernst seien biografische Filme nicht der Thälmann – Sohn seiner Klasse (1954) 194 MEDIENwissenschaft 02/2023 und Ernst Thälmann – Führer seiner nossenschaft, Tätigwerden, Team- Klasse (1955), unter anderem auch bzw. Kollektivgeist, Führerschaft Martin Hellbergs Thomas Müntzer und gesellschaftliche Veränderung“ (1956), Wolfgang Schleifs Die blauen (ebd.) gehe. So überwiege in DDR- Schwerter (1949), Carl Balhaus’ Nur Biopics das appellativ-aktivierende eine Frau (1958) und Helmut Spieß’ Moment mit Verweis auf zukünftige Einer von uns (1960). „gesellschaftliche Erlösung“ (ebd.), Konzis und prägnant formuliert während die BRD-Biopics auf Unter- Helmes abschließend die unterschied- haltung setzen, auf „Urlaub von der lichen Schwerpunktsetzungen der Gegenwart“ (S.95). Auf eine wichtige BRD- und der DDR-Biopics: Stehen Gemeinsamkeit beider Filmkulturen in den BRD-Produktionen „roman- in den 1950er Jahren verweist Helmes tisch, heroisch oder tragisch stilisierte, zum Schluss: die Figur des einsich- erratische Einzelne“ im Zentrum, so tigen und ehrlichen Patriarchen, die sind es bei der DEFA „insbesondere alles entscheidende, weise Vaterfigur Arbeiter, Bauern und Handwerker (vgl. S.95). Nach dem von Günter und deren Antagonisten“ (S.94). Beide Helmes und Michael Grisko heraus- Filmkulturen seien, so Helmes, „auf gegebenen Sammelband Biographische ihre je eigene Art eminent politisch“ Filme der DEFA: Zwischen Rekonstruk- (ebd.), was in der Akzentsetzung der tion, Dramaturgie und Weltanschauung Biopics deutlich werde. Die inhalt- (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, lichen Schwerpunkte laufen „im Falle 2020) folgt Helmes’ vorliegendes Buch der BRD tendenziell auf inkommen- als gelungene Ergänzung der Thema- surable Individualität, Musealisierung tik und lädt zu weiterer Beschäftigung und folgenlose Adorierung hinaus, damit ein. während es im Falle der DDR stets mittel- oder unmittelbar um Zeitge- Barbara von der Lühe (Berlin) Fotografie und Film 195 Harald Neckelmann: Lockruf des Kinos: Der Plakatkünstler Josef Fenneker Marburg: Schüren 2022, 208 S., ISBN 9783741004155, EUR 34,- Josef Fennekers Filmplakat für Das einziges Kino: das Marmorhaus am Cabinet des Dr. Caligari (1920), eben- Kurfürstendam. Der 1913 erbaute, sowie das zu Genuine (1920), wurden seit 1914 von Siegbert Goldschmidt zum Inbegriff des Expressionismus geleitete Kinopalast gehörte nach sei- in der Grafik, nicht nur wegen ihrer ner Gründung zum Ufa-Konzern und formalen Gestaltung, sondern auch wurde als repräsentatives Premieren- wegen des Einsatzes greller, nicht theater genutzt. Fennekers intensivste realistischer Farben. Der Künstler Schaffensperiode lag zwischen 1918 Fenneker ließ sich bei seinen Filmpla- und 1922, als Goldschmidt ihn exklu- katen auch von Kubismus, Futurismus, siv für das Marmorhaus verpflichtete – Art Deco und Jugendstil inspirieren. eine Zeit, während der er 140 Plakate Die Wissenschaft hat sich bisher kaum entwarf. Diese Periode ging zu Ende mit Fenneker auseinandergesetzt, als zum einen Goldschmidt die Lei- wenn man von einem Ausstellungs- tung niederlegte und zum anderen seit katalog der Deutschen Kinemathek 1923 Filmplakate im gesamten Reichs- (Gandert, Gero/Jacobsen, Wolfgang gebiet vertrieben wurden, so dass die [Hg.]: Josef Fenneker: 1895-1956. in Berlin bevorzugten modernen Ten- Filmplakate aus der Weimarer Republik. denzen im Design nicht mehr gefragt München: Goethe-Institut, 1985) waren. Ab 1925 erhielt Fenneker des- absieht, das vom Goethe Institut auch halb nur vereinzelte Plakataufträge international vertrieben wurde. von Filmproduzenten und -verlei- Mit Harald Neckelmanns Mono- hern, wobei sein Stil auch konventi- grafie Lockruf des Kinos: Der Plakat- oneller wurde, um dem Geschmack künstler Josef Fenneker wird das Werk der deutschen Provinz Rechnung zu Fennekers einem breiten Publikum tragen. Obwohl die Webseite zur Josef vorgestellt. In einem etwa 30-seitigen Fenneker Sammlung der Deutschen Aufsatz, der dem ausführlichen Bildteil Kinemathek noch eine Auswahl von vorangestellt ist, liefert Neckelmann 27 Plakaten aus Weimar und dem eine Biografie Fennekers, die sein kre- Dritten Reich zeigt, endet der Bild- atives Schaffen in den abwechselnden teil Neckelmanns mit einem einzigen künstlerischen und politischen Strö- Plakat aus dem Jahre 1925. Der Autor mungen Weimars und des Dritten konzentriert sich also auf die zwischen Reichs perspektiviert. 1919 und 1925 geschaffenen modernis- Gleich am Anfang stößt man auf tischen Werke Fennekers. eine Überraschung: Fenneker ent- Geboren wurde Fenneker am 6. warf seine berühmtesten Filmplakate Dezember 1895 in Bocholt in Westfa- der 1910er und 1920er Jahre für ein len als Sohn eines Kolonialwarenhänd- 196 MEDIENwissenschaft 02/2023 lers. Nach einem 1916 im Kriegsdienst meistens leider nur aus Inhaltsangaben erlittenen Nervenzusammenbruch zog zu den Filmen, nur in einzelnen Fäl- Fenneker im Jahre 1917 nach Charlot- len – wie bei Die Prostitution (1919), tenburg. Fenneker schrieb sich als Stu- Genuine und Fräulein Julie (1922) – dent an der Staatlichen Lehranstalt des geht der Autor auf die Rezeption des Kunstgewerbemuseums ein und wurde Films sowie die Gestaltung des Pla- ab 1918 in die Klasse für Grafik und kats ein. Buchkunst des Malers und Fotografen In seinem Essay schreibt Neckel- Emil Orlik zugelassen. Ab Juli 1918 mann, dass „die Frauengestalten Fen- arbeitete Fenneker für Goldschmidt, nekers vorrangiges ‚Lockmittel‘“ (S.13) zeichnete Plakate zu den berühmtes- seien. Zudem arbeite Fenneker mit ten Filmen der Zeit, aber auch für starken Diagonalen sowie seien „eine weniger bekannte Filme des Berliner betonte Gestik und Mimik, übertrie- Filmprogramms. Nebenbei entwarf bene Blickrichtungen und Körper- Fenneker die Innenausstattung meh- haltungen […] dazu kontrastreiche, rerer Berliner Kinos, gestaltete außer- dekorative Kostüme und Gewänder“ dem den Berliner Lunapark. Als die (ebd.) typisch für Fennekers Stil. Plakataufträge sich verminderten, Neckelmann resumiert: „Fenneker begann Fenneker ab 1922 Illustratio- kombinierte die Darstellung über- nen für verschiedene Zeitschriten, steigerter Ausdrucksbewegungen mit wie etwa Ulk (1872-1922), Der wahre expressionistisch aufgeladenen Stil- Jakob (1879-1933), Fliegende Blätter elementen“ (S.19). Diese formalen (1844-1944) und Simplicissimus (1896- Erwägungen ergänzt Neckelmann 1967) zu zeichnen. Im Dritten Reich unter anderem um Informationen zu betätigte Fenneker sich hauptsächlich den Arbeitsbedingungen des Design- als Bühnenbildner an verschiedenen ers und zur wirtschaftlichen Lage der Berliner Bühnen, wurde Mitglied der Kinos. NSDAP – entwarf sogar einige pro- Es sind letztlich die chronologisch pagandistische Plakate für die Partei geordneten, ausschließlich in Farbe – und stand unter der Protektion Hans gedruckten Abbildungen der Film- Hinkels, der die Leitung der Film- plakate Fennekers, die den größten abteilung im Propaganda-Ministerium Wert der Monografie für Filmwissen- innehatte. Nach seiner Entnazifizie- schaftler_innen und Laien darstellen, rung im Jahre 1947 arbeitete Fenneker weil sie nicht nur die einmalige Kunst wieder als Bühnenbildner bis zu sei- Fennekers, sondern auch den Einfluss nem Tode am 9. Januar 1956. der modernen Kunst des frühen 20. Im 171 Seiten starken Bildteil des Jahrhunderts auf die Gebrauchsgrafik Bandes stellt Neckelmann 136 Film- in Deutschland dokumentieren. plakate vor, entweder mit halbseitigen oder ganzseitigen Illustrationen. Die Jan-Christopher Horak (Pasadena) die Bilder begleitenden Texte bestehen Fotografie und Film 197 Bereichsrezension: Politische Bilder Melanie M. Dietz, Nicole Kreckel (Hg.): Politische Bilder lesen: Werkzeugkasten zur Bildanalyse Bielefeld: transcript 2022, 243 S., ISBN 9783837662344, EUR 39,- Heike Kanter, Michael Brandmayr, Nadja Köffler (Hg.): Bilder, Soziale Medien und das Politische: Transdisziplinäre Perspektiven auf visuelle Diskursprozesse Bielefeld: transcript 2021, 301 S., ISBN 9783837650402, EUR 30,- Jörg Probst (Hg.): Politische Ikonologie: Bildkritik nach Martin Warnke Berlin: Reimer 2022, 330 S., ISBN 9783496016779, EUR 49,- Die drei zu rezensierenden Bücher sind Gegenstände, nämlich eine Lektüre allesamt Sammelbände, die sich mit von Einzelfällen als pars pro toto für dem Verhältnis von Bildern und Politik einen übergreifenden Zusammenhang. beschäftigen, genauer noch: mit Rolle, Überhaupt einigt die Bände, dass sie Spezifik und Umgang mit Bildern als in den allermeisten Fällen längst Medien des Politischen. Dies impli- kanonisierte (medien-)kulturwissen- ziert in allen Fällen: Es geht nicht schaftliche Methoden und Ansätze nur um Bilder, auf denen politische vorstellen und fragen, inwieweit diese Akteur_innen, Motive oder poli- (noch) geeignete Instrumentarien zur tischer Protest abgebildet sind, son- Analyse politischer Artikulation und dern um Bilder im Kontext politisch Prozesse für die digitale Gegenwart motivierter Aktionen – um Politik mit sind. Bildern. Die Sammelbände verbindet Bilder spielen vor allem für die zudem, dass sie gegen Ende auffällig gegenwärtige politische Kommuni- viele Beiträge zu politischen Memes kation eine immense Rolle, die weit aufweisen. Ob Hilarys Hand, Bernies über ihren Stellenwert in der Vergan- Strickhandschuhe oder Pepe, the Frog genheit hinausgeht. Darin sind sich – in allen Fällen werden Memes, die die Sammelbände ebenfalls einig, wie ‚viral‘ gingen, als symptomatologischer auch darin, dass von einer besonde- Ausweis einer neuen politische Bild- ren Weise visueller Artikulation des kultur im Zeitalter Sozialer Medien Politischen ausgegangen werden muss, gedeutet. Diese Perspektivierung mit demensprechend spezif ischen folgt einem erstaunlich traditionellen Wirkungen. Das Bildliche hat andere geistesw issenschaftlichen Zugriff auf Möglichkeiten und Probleme als das 198 MEDIENwissenschaft 02/2023 (rein) diskursiv-begriffliche, so der maßgeblichen Initiators im deutsch- Tenor. Diese Überzeugung ist natür- sprachigen Bereich, nämlich Martin lich im medienwissenschaftlichen Warnke, ist, wie sie sich voller Wider- Kontext besonders interessant, geht es stände aus der Kunstwissenschaft ent- dabei doch um Mediendifferenzen und wickelt hat und wie damit gegenwärtig eine daraus abgeleitete präformierende ein bereits etablierter Zugriff oder Wirkung auf die Bedingungen und sogar eine „Methode“ (S.23), so die Möglichkeiten der Wahrnehmbarkeit Bezeichnung der ersten Sektion, aus- von Politik und des politischen Han- findig zu machen ist, die historische, delns. Leider wird das, was genau die aber eben auch gegenwärtige politische Besonderheit des Bildlichen sein soll, Bildphänomene analysierbar und kri- in keinem der Fälle ausführlich genug tisierbar macht. Genauer noch geht es begründet. Eher werden gängige Cha- in der politischen Ikonologie darum, raktersierungen von Bildern vorausge- gegenwärtige politische Bildphäno- setzt (Bilder haben keine eigentliche mene in ihrem historischen Gewor- oder doch offene Bedeutung, folgen densein einsichtig machen zu wollen. einer assoziativen Logik, sind beson- Das war bereits die Programmatik von ders effektive Mittel der Affekterzeu- Aby Warburg, der, wie die einzelnen gung usw.). So nachvollziehbar solch Texte im Sammelband deutlich wer- ein Ausgangspunkt ist – allein schon den lassen, der eigentliche Säulenhei- zu Zwecken der Legitimation, einen lige der politischen Ikonologie ist; hat Sammelband über politische Bilder dieser doch mit seinem monumentalen zu veröffentlichen – birgt dies doch Mnemosyne-Projekt eines Jahrhun- die Gefahr, selbst dem Mythos der derte umfassenden Bildatlas, seinen besonderen ‚Wirkmacht‘ von Bildern autonomen Bildfahrzeugen, die Kon- anheimzufallen – und damit das Nar- tinente und kulturelle Sphären über- ratem von der magisch-manipulativen schreiten, bereits im ersten Drittel des Macht der Bilder ungebrochen fortzu- 20. Jahrhunderts die klassische Kunst- schreiben. Zumindest wäre in diesem wissenschaft zur Bildwissenschaft hin Zusammenhang eine genauere argu- ausgeweitet. Ihren Untersuchungs- mentative Herleitung solcher doch gegenstand findet sie nicht mehr nur recht weitreichenden und mit viel in der Hochkunst, sondern ebenso in ontologischem Ballast befrachteten deren populärkulturelle Aneignungen Aussagen wichtig. und der politischen Instrumentalisie- Was die Sammelbände wiede- rung ästhetischer Darstellungsformen rum unterscheidet, wird sehr deut- (vgl. dazu bspw. Beyer, Andreas/Bre- lich in den jeweiligen Einleitungen. dekamp, Horst/Fleckner, Uwe/Wolf, Die Einleitung von Jörg Probst zu Gerhard [Hg.]: Bilderfahrzeuge: Aby Politische Ikonologie fällt sehr knapp Warburgs Vermächtnis und die Zukunft aus. Es wird darin vor allem darauf der Ikonologie. Berlin: Wagenbach, aufmerksam gemacht, was die poli- 2018; Haus der Kulturen der Welt/ tische Ikonologie in Nachfolge ihres The Warburg Institute/Ohrt, Roberto/ Fotografie und Film 199 Heil, Axel [Hg.]: Aby Warburg: Bilde- ihrem Dialog auf den Werkzeugka- ratlas Mnemosyne. The Original. Stutt- sten-Charakter ihres Sammelbandes gart: Hatje Cantz, 2020). Im Vorwort verweisen, gar die Bereitstellung von von Probst kommt Warburgs ‚Ikono- „Blaupause[n]“ (S.15) versprechen, die logie‘ indes irritierenderweise nicht der Sammelband für weitere Lektüren prominent vor, sondern vielmehr das politscher Bilder bieten soll. Auch im Konzept nach Kunstwissenschaftler Untertitel ist diese Bestrebung ver- Erwin Panofsky, auf den die politische merkt. Doch bereits ein Blick auf die Ikonografie, wie sie sich in Nachfolge unterschiedlichen Sektionen, die den von Warnke etwa bei Michael Diers Band strukturieren, macht gegenüber oder Horst Bredekamp findet, eher diesem Anspruch skeptisch. So glie- als Antipode ihrer jeweiligen ikono- dert sich der Band nicht etwas durch- logischen Projekte fungiert. gängig nach Methoden, Zugriffen Der Sammelband Politische Bilder oder Motiven. Vielmehr werden ver- lesen wartet mit einer ungewöhnlichen schiedene Objektbereiche, Praktiken Form eines Vorworts auf, ist es doch als und Bildtypen aneinandergereiht. So Dialog der Herausgeberinnen gestal- geht es von der künstlerischen Foto- tet. Diese dialogische Form ist inso- grafie über Plakat-, Protest- und Kri- fern konsequent gewählt, als der Band senbilder zu Politiker_innen im Bild interdisziplinär ausgerichtet ist, deren bis hin zu Memes. Dieses ‚Ordnungs- beide Pole im Vorwort zwischen einer system‘ verbindet sehr heterogene Ele- kulturwissenschaftlich ausgerichteten mente mehr oder minder additiv. Der Visual Culture und der politik- bezie- Band enthält nicht einmal einen Index. hungsweise sozialwissenschaftlich Fehlende systematische Ausrichtung fokussierten Visuellen Politik verortet an Methoden, Sammlung von hetero- werden. Damit gehen unterschiedliche genen, auf unterschiedlichen Ebenen methodische Zugriffe einher, die im situierten Gegenständen wie auch das Band vorgestellt und verschränkt wer- Fehlen eines Registers, das zumindest den sollen. Dass für die Untersuchung die fehlende Systematik kompensie- politischer Bilder eine interdisziplinäre ren könnte, – all das spricht gegen die Herangehensweise sinnvoll ist – wer Suggestion des Untertitels. Die ein- könnte so etwas bestreiten? Insbe- zelnen Texte führen durchaus zu inte- sondere wenn politische Bilder als ressanten Ergebnissen, dennoch bleibt politische Praktiken verstanden wer- wahr, dass dieser Band Vieles ist, aber den, scheint doch die Verschränkung kein Werkzeugkasten, um politische zwischen dem, was auf den Bildern Bilder lesen zu können – oder zumin- zu sehen ist, und dem, was mit den dest doch ein recht unvollständiger, Bildern in welchem Kontext gemacht mit weit verstreuten Werkzeugen jen- wird, zentral und erfordert eben unter- seits eines Kastens. schiedliche Herangehensweisen. Was Die mit Abstand längste, infor- hingegen problematisch erscheint, mativste und überzeugendste Ein- ist, dass die Herausgeberinnen in leitung findet sich im Sammelband 200 MEDIENwissenschaft 02/2023 Bilder, Soziale Medien und das Poli- Rezensenten verliehen bekäme. Die tische. Hier werden die Basisbegriffe Begründung hierfür ist, dass darin aus unterschiedlichen Perspektiven einerseits sehr deutlich die Grenzen und Schwerpunktsetzungen ins Ver- einer traditionellen Lektüre politischer hältnis zueinander gesetzt und zudem Bilder klar vor Augen geführt wird, gleich Thesen zur Lage des politischen anderseits konkrete Ausweitungsopti- Bildes im Kontext Sozialer Medien onen vorstellig werden. Es handelt sich formuliert. Darüber hinaus wird sehr um den Beitrag von Roland Meyer im deutlich gemacht, wie dezidiert kul- Band Politische Ikonologie. Der Kunst- turwissenschaftliche Zugriffe zur und Medientheoretiker beschäftigt Analyse politischer Bilder im Kon- sich darin mit dem, was er selbst eine text digitaler Medienkultur frucht- „Wilde Forensis“ (S.267) nennt. Meyers bar gemacht werden können. Genau These ist, dass die Suche von Fehlern, genommen ist dieses Vorwort eigent- Fälschungen oder Manipulationen in lich gar kein Vorwort, sondern ein einzelnen Bildern und deren Verhand- eigenständiger Forschungsbeitrag, der lung auf Sozialen Medien genau das im Gewand eines Vorworts daher- nicht ist, was die klassische Ikonografie kommt. Das beeinträchtigt zwar den umtreibt, nämlich tradierte Motiv- und Text in seiner Funktion – so wird etwa Symbol bedeutungen, Konnotationen das Konzept der Interpellation nach und damit verbundene ideologische Louis A lthusser vorgestellt und für Implikationen ausfindig zu machen. die Analyse von Bildern im digitalen Die ‚wilde Forensis‘ ist vielmehr eine Raum aktuali siert, aber in keinem vermeintlich politische Praxis auf der folgenden Beiträge wird dieses Sozial en Medien, bei der die Suche Konzept wieder aufgegriffen. Die- nach der Indexikalität bildlicher Ele- ses Defizit macht der Text allerdings mente im Zentrum steht. Es geht um als genuiner Forschungsbeitrag, der das Aufdecken der eigentlichen Wahr- auch maßgebliche Literatur zum For- heit im und hinter dem Bild, das im schungsfeld versammelt, mehr als gut. Verdacht steht, zumeist zu politischen Vielleicht sollten die Herausgeber_ Zwecken manipuliert zu sein. Statt um innen überlegen, ob sie dieses ‚Vorwort‘ tatsächliche forensische Investigation nicht zu einem ‚echten‘ Werkzeugka- geht es vielmehr spielerisch um die sten für politische Bildanalysen aus- „Hypostasierung des isolierten Einzel- weiten sollten. bildes und seiner Aussagekraft“ (S.287), Um die einzelnen Beiträge der drei über die dann endlos spekuliert wer- Sammelbände vorzustellen, reicht der den kann. Etwas, was sich als politisch zu Verfügung stehende Platz nicht aus. investigativ gibt, folgt somit vielmehr Ich möchte mich stattdessen abschlie- der Spiellogik affektiver Erregung, die ßend nur auf einen einzigen Beitrag mit Strukturmerkmalen Sozialer Platt- konzentrieren, der, wenn es denn einen formen eng verbunden ist. Mit traditio- Award für den besten Beitrag aus den nellen kulturwissenschaftlichen oder drei Publikationen gäbe, diesen vom auch politikwissenschaftlichen Bild- Fotografie und Film 201 analysemethoden, rezeptionsästhe- nicht in den Selbstbeschreibungen poli- tischen Ansätzen, der ikonografischen tischer Akteur_innen, die mit Bildern Methode, Althussers Interpellation handeln, sondern neben, hinter oder oder einem „Spaziergang als bildana- unter dem, was unmittelbar wahr- lytische Decodierungsmethode“ (S.107) nehmbar ist. Zu dieser Art Invisible lässt sich so etwas nicht mehr fassen, Visual Culture sollte unbedingt in naher geschweige denn verstehen. Pointierter Zukunft ein ‚Werkzeugkasten‘ bestückt formuliert: Das, was für Bildanalysen werden, um politische Bilder lesbar zu gegenwärtiger digitaler Politik interes- machen – mit Register natürlich. sant zu sein scheint, findet sich gerade nicht auf den Bildern selbst und auch Sven Grampp (Erlangen-Nürnberg) 202 MEDIENwissenschaft 02/2023 Hörfunk und Fernsehen Kilian Hauptmann, Philipp Pabst, Felix Schallenberg (Hg.): Anthologieserie: Systematik und Geschichte eines narrativen Formats Marburg: Schüren 2022 (Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik, Bd.18), 270 S., ISBN 9783741003776, EUR 34,- (OA) Lange Zeit war die Taxonomie televi- der Lektüre auf: Mit ihrem konzisen sueller Serienproduktionen durch ein Einleitungskapitel gelingt es den dominierendes Kategorienduo geprägt: Herausgebern, die Anthologieserie Während in den 1990er Jahren Episo- als „narratives Format“ (S.14) eigener denserien (series) die Vormachtstellung Klasse für den akademischen Bereich auf dem Serienmarkt beanspruchten, zu profilieren und zeitgleich dessen entwickelte sich seit der Jahrtau- drängende Relevanz zu veranschauli- sendwende das Format der Fortset- chen. Dies erfolgt nicht nur über die zungsserie (serial) zum Goldstandard stringente Herleitung der Geschichte serieller Qualitätsunterhaltung. Mit des Genres, sondern auch mittels ziel- der Spielart der Anthologieserie gesellt führender Definitionsarbeit: Folglich sich eine weitere Sonderform zu den gelten jene Serien als anthologisch, Urtypen seriellen Erzählens, welche die „entweder eine Sammlung in sich dank rezenter Publikumserfolge wie abgeschlossener Episoden […] oder American Horror Story (2011-) oder abgeschlossener Staffeln […] hervor- Fargo (2014-) zunehmende Aufmerk- bringen“ (S.10). Wie Hauptmann in samkeit erfährt. Der Trend des Antho- einem späteren Beitrag spezifiziert, logischen bildet in der Forschung sei es durchaus möglich, dass sich bisher eine signif ikante Leerstelle. „Figureninventar, Diegese oder Hand- Mit ihrem Sammelband zur Antholo- lung zwischen zwei anthologischen gieserie haben es sich die Herausgeber Elementen“ (S.102) ändern können. Kilian Hauptmann, Philipp Pabst und Die augenscheinliche Leichtigkeit, Felix S challenberg daher zur Aufgabe mit welcher der Begriff in den Diskurs gemacht, das Phänomen des Antholo- eingeführt wird, ist als Ergebnis einer gischen im televisuellen Kontext syste- sondierten Bestandsaufnahme zu wer- matisch zu erschließen. ten. Wurde der Terminus im akade- Die größte Eigenleistung der mischen Bereich lange Zeit gemieden, Publikation wartet sogleich zu Beginn wird schnell ersichtlich, dass es sich Hörfunk und Fernsehen 203 um weitaus mehr „als ein inhaltsloses kation, wie es dem Format gelinge, Label“ (S.10) des Serienmarketings Äquivalenz und Kohärenz herzu- handelt. stellen, um seinen seriellen Status zu Zu den Stärken der Einleitung behaupten. im Speziellen wie des Sammelbandes Nebst den genannten Beiträgen im Allgemeinen zählt eine bemer- bemühen sich zehn weitere Analysen, kenswerte Direktheit, mit welcher dieser Frage praxisnah auf den Grund Herausforderungen def initorischer zu gehen. Moritz Baßler gelingt dies oder erzähltheoretischer Gestalt exemplarisch anhand der Serie True adressiert werden, um diese sogleich Detective (2014-2015, 2019-), wobei als erkenntnisorientierte Fragestel- er untersucht, inwieweit die einzel- lungen zu reflektieren. Beispielhaft sei nen Staffeln des Titels strukturelle die literarische Prägung des Antho- Äquivalenzen aufweisen. Potenziale logiebegriffs im Deutschen erwähnt, des Anthologischen weisen hinge- welche sich vom intermedialen gen Sebastian Berlich und Johannes Gebrauch im anglophonen Sprach- Ueberfeldt am Beispiel von Black Mir- raum unterscheidet. Dieser Umstand ror (2011-) nach: Die Autoren zeigen, wird abseits der Einleitung im Beitrag wie sich die Serie „durch Verfahren der von Dirk Rose problematisiert, in des- Anreicherung und diegetischer Sedi- sen Resümee „ein Plädoyer für analy- mentierung zu einer meta-seriellen tische Flexibilität ohne Beliebigkeit“ Struktur“ (S.177) in einen Modus der (S.53) zu verzeichnen ist. Andererseits Selbstbeobachtung begibt. Das antho- identifizieren die Herausgeber einen logische Verfahren fungiert hierbei als Zustand der Ambivalenz, welcher Treiber serieller Innovation. der Anthologieserie qua definitionem Die Fülle behandelter Serien sowie anhaftet. Nicht nur dekonstruiert das das divergierende Vorgehen der Bei- Anthologische die Idee eines staffel- träge lässt sich abschließend als wei- übergreifenden Erzählflusses, sondern terer Trumpf benennen – neben den abstrahiert überdies die Herstellung bereits genannten American Horror narrativer Kohärenz. Anders als bei Story, Fargo, Black Mirror und True anderen Serientypen könne diese nicht Detective widmet sich Martin Hennig mittels Konstanz der Figuren respek- beispielsweise ausführlich verschie- tive Diegesen konstituiert werden. denen Horror-Anthologien, denn Stattdessen bedienen sich Antho- „kaum ein filmisches Genre ist mit logieserien „subtileren formseitigen dem Format der Anthologie so eng Wegen“ (S.14), seien es wiederkeh- verbunden wie die Horror-Sparte“ rende Motive, Genrekonventionen (S.115). Komplettiert wird der Sam- oder ein einheitlicher visueller Stil. melband durch Beiträge zu Walt Somit oszillieren Anthologieserien Disney‘s Disneyland (1954-1958), Philip zwischen den Aspekten erzählerischer K. Dick’s Electric Dreams (2017-2018), Diversität und Arbitrarität. Hieraus Love, Death & Robots (2019-) und zum resultiert auch die Leitfrage der Publi- Tatort (1970-). Ist das selbsternannte 204 MEDIENwissenschaft 02/2023 Ziel, das Phänomen des Antholo- Manier serieller Anthologien, indem gischen für den Serienkontext operabel sie sich in höchst abwechslungsreichen, zu machen, bereits zu Beginn geglückt, selbstständigen ‚Episoden‘ mit ihrem können die Leser_innen hiervon aus- Untersuchungsgegenstand auseinan- gehend den Facettenreichtum der dersetzt, ohne ihr vereinendes Sujet Anthologieserie auf verschiedene aus den Augen zu verlieren. Weise nachvollziehen: Fast ließe sich sagen, die Publikation agiere selbst in Eric Dewald (Saarbrücken) Gabriele Mehling, Axel Block, Michael Hild, Bernd Schwamm: Schimanski machen: Erfindung und Etablierung einer erfolgreichen Serienfigur München: edition text + kritik 2022, 480 S., ISBN 9783967076394, EUR 39,- Nur eine Handvoll fiktionaler Charak- ist Grund genug für drei der damals tere der deutschen Fernsehgeschichte Beteiligten – den Kameramann Axel haben es zu einem derart ‚ikonischen‘ Block sowie die Produzenten Michael Status gebracht wie Kommissar Horst Hild und Bernd Schwamm –, sich Schimanski. Die von Götz George mit der Bamberger Kommunikations- dargestellte Figur wird bis heute mit wissenschaftlerin Gabriele Mehling action-orientierten, schroffen Ruhr- zusammenzutun und in einer Oral gebiet-Krimis assoziiert; sie ist sogar History die Entstehungsgeschichte und zu einem touristischen Faktor für die frühen Jahre von Schimanski zu Duisburg geworden und prägt die rekonstruieren. Grundlage sind aus- Nachwirkung des Schauspielers maß- führliche Interviews mit seinerzeitigen geblich mit. Innerhalb der Fernseh- Mitwirkenden; hinzu treten Erinne- krimi-Reihe Tatort (1970-) entstanden rungen und Unterlagen aus deren Pri- von 1981-1991 insgesamt 29 Episoden, vatarchiven. Zu Wort kommen neben von denen zwei vor Ausstrahlung im den drei Co-Autoren unter anderem Fernsehen sogar im Kino Premiere der in den 1970er bis 1990er Jahren feierten. Wenige Jahre später folgten prägende WDR-Fernsehspielchef auf dem Tatort-Sendeplatz am Sonn- und spätere Bavaria-Geschäftsführer tagabend 17 weitere Fernsehfilme als Günter Rohrbach sowie prominente eigenständige Reihe mit dem Titel Regisseur_innen wie Ilse Hofmann Schimanski (1997-2013). Dieser Erfolg und Dominik Graf. Hörfunk und Fernsehen 205 Das Konzept für Schimanski ent- treffen auf praktische Machbarkeits- wickelte sich demnach über einen erwägungen und limitierte Budgets; längeren Zeitraum in einer Gruppe, es wird viel ausprobiert und wie- deren Mitglieder gemeinsam in den der verworfen, weil Redaktion oder ersten Jahrgängen der Hochschule für Vorgesetzte anderer Meinung sind; Fernsehen und Film München (HFF) starke Egos treffen aufeinander. Die studiert und dann in wechselnden Schimanski-Tatorte sind mithin kei- Konstellationen zusammengearbei- nesfalls als Autorenfilme zu verstehen, tet hatten. Obwohl sie das Fernsehen sondern Ausdruck einer hochgradig eher geringschätzten, wurde das unge- arbeitsteiligen Fernsehproduktionsin- liebte Medium – vor allem über die dustrie. Es ist also kein Wunder, dass Produktionsfirma Bavaria als Toch- die Co-Erfinder_innen, die hier zu ter mehrerer öffentlich-rechtlicher Wort kommen, darüber klagen, dass Rundfunkanstalten – zum wichtigsten das Konzept immer mehr verwässert Arbeitgeber und öffnete Türen in die worden sei, und so werden auch nur Programm- und Stoffentwicklung der die bis 1986 unter ihrer direkten Mit- Sender: „Das Fernsehen war ein Ort, wirkung entstandenen Episoden als an dem man innovativ sein konnte. Es ‚eigentliche‘ Schimanskis angesehen ließ Experimente zu“ (S.353). Zugleich (vgl. S.14 und S.345). war die Sendereihe Tatort, zumindest Damit ist zugleich ein zentrales nach Auffassung der Autor_innen die- Manko des Bandes angedeutet. Zwar ses Bandes (vgl. S.373), in eine kreative bietet die Oral-History-Methode Krise geraten und benötigte frische, wichtige Einblicke, die sonst nir- zeitgemäße Ideen. So kam es schließ- gends dokumentiert sind und verloren lich mit der ersten Schimanski-Episode zu gehen drohten. Dennoch ist der Duisburg-Ruhrort (1981) zu einem Umstand, dass es eine Schnittmenge konzeptionellen Richtungswechsel. und viele persönliche Beziehungen Gleichwohl ist Schimanski kaum zwischen Autoren und befragten das Produkt eines gezielten Pla- Zeitzeug_innen gibt, zumindest pro- nungsprozesses; stattdessen geran- blematisch. Hierauf weist Mehling nen informell entwickelte Ideen als einzige Wissenschaftlerin in der von Regisseur_innen, Drehbuch- Runde ausdrücklich hin (vgl. S.31-33). autor_innen und Produzent_innen Zumindest ein Stück weit haben wir in der Auseinandersetzung mit den es damit zu tun, dass die Beteiligten Hierar chien von Bavaria und WDR ihre Lesart Schimanskis quasi offiziell sowie dem Hauptdarsteller nach und machen wollen. nach zu einem umsetzungsfähigen Beinahe noch wichtiger als der Konzept. Die Konflikte, an welche spezifische Fall des Duisburg-Tatorts sich die Zeitzeug_innen erinnern, sind ist jedoch der soziokulturelle Aspekt. dabei nicht unbedingt überraschend: Der Band wirft ein aufschlussreiches Ansprüche an ästhetischen Puris- Schlaglicht auf das Innenleben der mus vor allem bei Kamera und Regie Fernsehproduktion an einem bestimm- 206 MEDIENwissenschaft 02/2023 ten Punkt der Nachkriegsgeschichte. dem Versuch, populäre Unterhaltung Schimanski entstand an einem Punkt, zu modernisieren, und zu einer Zeit, in als sich Filmindustrie und Fernsehen der das aufkommende Privatfernsehen nach dem Antagonismus der 1950er das Selbstbewusstsein und die Selbst- und 1960er Jahre widerstrebend an wahrnehmung des öffentlich-rechtli- eine strukturelle Zusammenarbeit chen Systems zu verändern begann. gewöhnten – im Spannungsfeld zwi- schen Neuem Deutschem Film und Eric Karstens (Krefeld) Moritz Fink: Understanding The Simpsons: Animating the Politics and Poetics of Participatory Culture Amsterdam: Amsterdam UP 2021, 236 S., ISBN 9789048540334, EUR 110,- Die seit über 30 Jahren durchgehend durch ihre aktive Auseinandersetzung laufende Zeichentrickserie The Simp- mit der Serie – ob in Foren, auf Con- sons (1989-) stellt ein einzigartiges ventions oder in Form von Fanfiction – Medienphänomen und einen omniprä- hauptverantwortlich für den Erfolg des senten popkulturellen Referenzpunkt crossmedialen Franchises seien. Das dar: Generationen erlebten inzwischen zweite Kapitel des Buchs skizziert die ihre mediale Sozialisation durch die Entstehung der TV-Serie aus einem berühmte Familie aus Springfield, subkulturellen Geist der 1980er Jahre ,gelbes‘ Merchandising füllt die heraus, geschaffen vom Underground- Kaufhäuser und Memes mit Homer, Comiczeichner Matt Groening und Marge, Bart, Lisa und Maggie sind inspiriert vom anarchischen Humor auf TikTok, Instagram oder Twitter des MAD-Magazins. Innerhalb der zu finden. Moritz Finks Monografie TV-Landschaft der frühen 1990er untersucht und erklärt dieses mediale Jahre entwickelte sich die Serie zum Kultphänomen um die Simpsons in Massenphänomen und war ein weg- sechs Abschnitten. weisender Vorreiter für spätere Kultse- Fink arbeitet, wie das erste Kapi- rien wie South Park (1997-) oder Family tel darlegt, in Rückgriff auf die Theo- Guy (1999-). reme von Henry Jenkins, John Fiske, Im dritten Part von Finks Mono- Umberto Eco und Michel de Certeau grafie liegt der Fokus stärker auf dem zu Partizipations- und Konvergenzkul- Humor von The Simpsons: Selbst- tur. Das heißt, dass die Simpsons-Fans reflexivi tät, Ironie, Satire und das Spiel Hörfunk und Fernsehen 207 mit Stereotypen und Klischees. Der digt. So arbeitet er beispielsweise den vierte Abschnitt zeigt auf, wie zahl- Kommerzialisierungsstreit zwischen reiche alternative kulturelle Grup- Fox und den Fans heraus, als es beim pierungen durch die Simpsons einem gesteigerten Aufkommen privater breiten Publikum zugänglich wurden. Websites zur breiten Nutzung von Emblematisch hierfür steht Bart mit Simpsons-Material durch die Fans kam. Skatebord und Graffiti-Spraydose als Zudem werden auch genderkritische Widerspiegelung der frühen Hip- Fragen erörtert und beispielsweise die Hop-Szene. Auf Kommerzialisie- Figur Apu in einer postkolonialen rungsstrategien des Senders FOX Lesart betrachtet. Hier werden kri- mithilfe transmedialer Vermarktung tische Töne allerdings häufig nur kurz unter anderem durch Videospiele und und leise angespielt, stattdessen domi- Comics wird im fünften längeren nieren indifferente Sätze wie „some- Kapitel eingegangen. Das letzte Kapi- times fan cultures are more in conflict tel fokussiert die postmoderne ‚Remix- with the corporate media, sometimes Culture‘ als konstitutives Element der less“ (S.152) oder „[n]otwithstanding Fanszene, dazu zählen Fake-Trailer the question whether it is morally auf YouTube, selbstentworfene porno- correct, sexist or obscene, or other- grafische Bilder oder auch politische wise transgressive to sexualize Marge Inanspruchnahmen: So wurde Angela Simpson“ (S.169f.). Darüber hinaus Merkel mit ihrer Rauten-Geste auf bleibt vor allem eine gewichtige Frage einem Plakat einer Anti-Atomkraft- offen: Wie Fink selbst festhält, endete Demo im Jahr 2010 mit Mr. Burns das ‚golden age‘ der Simpsons – je nach parallelisiert. Sichtweise – spätestens nach der 12. Diese kurze Auf listung weist Staffel. Welche Gründe waren hierfür bereits darauf hin, dass Fink die wich- ausschlaggebend? Auf welchen Ebenen tigsten Facetten des Phänomens The kann ein Qualitätsabfall festgemacht Simpsons anspricht und einordnet. Er werden? Warum hat dies der Langle- illustriert dabei seine Thesen mit Bei- bigkeit der Serie nicht geschadet? spielen aus einzelnen Folgen oder führt Editorische Schwächen müssen Beobachtungen an, die eingefleisch- moniert werden, da nach jedem Kapi- ten Simpsons-Fans bekannt sind, etwa, tel – trotz eines Literaturverzeichnisses dass im Vorspann die durchschnitt- am Ende – die Sekundärliteratur auf- lichen Lebenskosten eines Kleinkindes gelistet ist. Dies ist wohl noch eine auf der Registrierkasse zu sehen sind, Zeugenschaft davon, dass es sich sobald Maggie beim Einkaufen verse- bei dem Buch um eine Kompilation hentlich gescannt wird. Fink gelingt vorangegangener Veröffentlichungen dabei das Changieren zwischen der Finks handelt, seiner Doktorarbeit „,dual role‘ as fan and academic“ Understanding The Simpsons: A Media (S.31), denn keineswegs wird etwa in Phenomenon at the Edge of Conver- nostalgischer Überhöhung einer Serie gence Culture (Baden-Baden: Tectum, aus den eigenen Kindertagen gehul- 2016) und einer weiteren Monografie 208 MEDIENwissenschaft 02/2023 aus dem Jahr 2019 (The Simpsons: A der Simpsons noch zu deren Lebzeiten: Cultural History. Lanham: Rowman „The Simpsons was not just a show you & Littlefield, 2019). Diese Zusam- watched but a language you talked, a menführung ist jedoch gelungen und worldview you adopted“ (S.133). exponiert auf diese Weise die – teil- weise vergangene – enorme Bedeutung Timo Rouget (Frankfurt am Main) Melissa R. Ames: Small Screen, Big Feels: Television and Cultural Anxiety in the 21st Century Lexington: University Press of Kentucky 2018, 311 S., ISBN 9780813180069, EUR 41,50 Dass das Fernsehen im Zusam- tions- und Affektproduktion im aktu- menspiel mit den Sozialen Medien ellen US-Fernsehen beschäftigt. vielleicht eine zum Teil fatale und pro- Die Spannbreite dieser Aus- blematische Verstärkung von Gefüh- einandersetzung ist groß und legt len erzeugt, wurde vor allem durch erfreulicherweise den Fokus vorwie- Donald Trump und seine sich auf gend auf Programme, die (noch) im den Sender Fox beziehenden Twitter- freien Fernsehen empfangbar sind. Attacken deutlich. Richard G rusin Sie macht damit (auch wenn das nie beschreibt dies in einem Beitrag zu explizit benannt wird) deutlich, dass Donald Trumps ‚evil mediation‘ in das ‚klassische‘ Fernsehen immer noch dem Band Trump und das Fernsehen eine signifikante kulturelle Rolle spielt (Köln: Herbert von Halem, 2020) als – in seiner Funktion „to contribute to den Effekt einer neuen Medienökolo- national affect states“ (S.2). Dieser gie, die unkontrollierbare und unmit- Affektzustand wird an Heroes (2006- telbar auf die Menschen einwirkende 2010) analysiert und deutlich gemacht, Informations- und Affektströme her- wie diese Serie durch die Konstruktion vorbringt und die mit Begriffen der eines bedrohlichen Außen zu einer Repräsentation nicht mehr zu fassen Gemeinschaftsbildung einlädt, die in ist. Etwas ähnliches scheint Melissa R. einer Analogie zur politischen Rheto- Ames im Sinn zu haben, wenn sie sich rik der Post-9/11-USA betrachtet wer- in der vorliegenden Sammlung von den kann (vgl. S.31). Ames versucht zu Essays zu Fernsehserien, Reality TV, verstehen, wie Ironie in Late-Night- Politformaten und Sozialen Medien Formaten wie The Daily Show (1996-) wie Twitter mit dem Status der Emo- genutzt wird, um eine Gemeinschaft Hörfunk und Fernsehen 209 von Zuschauenden zu formieren, die Auseinandersetzung mit Politik und dadurch besser die aufgeheizte Stim- Gesellschaft spielt, ist die Arbeit von mung und die Antagonismen der Ames sehr brauchbar. Allerdings US-Gesellschaft erträgt, die durch bleibt die Autorin häufig zu sehr auf Sender wie Fox und die Politik kon- der Ebene einer Inhaltsanalyse, die servativer Politiker_innen erzeugt wird zu wenig die Ästhetik in den Blick (vgl. S.79). Ames betrachtet darüber nimmt oder Twitter-Kommentare hinaus die unzähligen Vaterkonflikte eher mit quantitativen Methoden aus- in Lost (2004-2010) als Ausdruck wertet. Die Rückbindung an Theorien einer bedrohten, weißen Maskulini- erfolgt eher holprig oder sparsam. So tät (vgl. S.94) oder analysiert, wie die pendelt sie eklektizistisch zwischen Polizeigewalt gegen Schwarze und Konzepten von C.G. Jung, um die die Ereignisse in Ferguson in ver- Archetypen von Lost zu identifizie- schiedenen Krimi- und Drama-Serien ren (vgl. S.85), und relativ kurzen aufgearbeitet werden (vgl. Kapitel 6). Referenzen auf fernsehtheoretische Ein wichtiger Bezugspunkt ihrer Ana- Konzepte, die vorwiegend im ein- lysen ist die Interaktion von Fernsehen führenden Kapitel behandelt werden, und Twitter. Hier wird vor allem in während der Hauptbezugspunkt der ihrer Beschäftigung mit dem inte- Texte eher journalistische und kri- ressanten Werk der Produzentin und tische Texte aus dem Internet sind. Autorin Shonda Rhimes und mit der Zudem hantiert sie mit wenig aus- intensiven Twitter-Diskussion der Fans sagekräftigen und etwas plakativen der Serie How to Get Away with Mur- Konzepten wie ‚Schadenfreude‘ oder der (2014-2020), die sich auf Moral, ‚Voyeurismus‘, um die Funktionen des Gesetz, Rassismus, Homophobie oder Reality TVs zu beschreiben (vgl. S.43) die sexuelle Orientierung der Haupt- und damit ein doch recht limitiertes figur (vgl. S.185) bezieht, deutlich, Verständnis dieser Fernsehform zu dass Fernsehen noch immer zu einem liefern. Eine neue Medienökologie, Forum der Diskussion gesellschaft- die Affektströme erzeugt und in die licher Probleme werden kann. ein Fernsehen eingebunden ist, des- Als Bestandsaufnahme des Status sen Effekte über die Repräsentation des Fernsehens in den 2000er Jahren hinausgehen, lässt sich damit nur par- und der Rolle, die es bei der Produk- tiell erfassen. tion von Gefühlen und Affekten, der Verarbeitung von Traumata und der Herbert Schwaab (Regensburg) 210 MEDIENwissenschaft 02/2023 Julien Bobineau, Jörg Türschmann (Hg.): Quotenkiller oder Qualitätsfernsehen? TV-Serien aus französisch- und spanischsprachigen Kulturräumen Wiesbaden: Springer 2022 (Serienräume – global, lokal, glokal, Bd.1), 357 S., ISBN 9783658361686, EUR 64,99 Seit ihren Anfängen unterliegt die der chilenischen Drogenhändler-Serie deutschsprachige Serienforschung Prófugos (2011-2013) auseinandersetzt. einem formgebenden Manko: der Mit einer entsprechenden Anord- starken Fokussierung auf TV-Produk- nung der Texte ergibt sich für die tionen des anglophonen Kulturraums. Leser_innen ein sinniger Lektüre- Insbesondere US-Serien genießen fluss, welcher die Erschließung des nicht nur in zahlreichen Streaming- alle Beiträge verbindenden Themas Mediatheken, sondern auch im Kon- ermöglicht. Positiv ist die Bandbreite text akademischer Diskurse bis heute behandelter Primärwerke hervorzuhe- eine gewisse Vormachtstellung. Mit ben, welche Intention und Anspruch dem Sammelband Quotenkiller oder des Bandes, als akademischer Grund- Qualitätsfernsehen? wagen die Heraus- stein romanischer Serientitel zu fun- geber Julien Bobineau und Jörg gieren, unterstreicht. Türschmann – Romanisten an den Die hierzulande wohl bekanntes- Universitäten in Würzburg und Wien ten Formate finden sich in der Analyse – einen umso notwendigeren Blick Bobineaus, der das spanische La Casa über den Tellerrand der nordameri- de Papel (2017-2021) sowie die fran- kanischen Serienindustrie und stellen zösische Netflix-Serie Lupin (2021-) Serien(kulturen) spanisch- und fran- untersucht. Beiden Produktionen zösischsprachiger Kulturräume in den gelinge eine Aktualisierung des Heist- Mittelpunkt. Mit ihrer kulturwissen- Genres, welche „eine critical awareness schaftlichen Ausrichtung gelingt es der für […] gesellschaftliche Herausforde- Publikation, sowohl einen stringenten rungen des 21. Jahrhunderts“ (S.212) Überblick über das Thema zu bieten offenbare. Dies ist eine Erkenntnis, als auch dessen Erkenntnispotenzial welche einerseits die narrative Qualität mittels der Varietät behandelter Fra- der Titel unterstreicht und andererseits gestellungen aufzuzeigen. Die Palette auf die Bedeutsamkeit der Television der Serienproduktionen wird dabei in Studies in Gänze einzuzahlen weiß. einem Zusammenspiel aus Übersichts- Auch der Beit rag Karen beiträgen und Fallstudien erschlossen: Genschows zeigt das gesellschaft- So bietet beispielsweise Manuel Palacio liche Potenzial der TV-Serie, wenn einen historischen Überblick über die die Autorin drei Telenovelas unter- Entwicklung spanischer TV-Serien, schiedlicher Herkunft vergleicht. Das wohingegen sich Gabriella Lambrecht Forschungsinteresse von Genschows sehr spezifisch mit der Gewaltästhetik komparatistischer Gegenüberstellung Hörfunk und Fernsehen 211 ist die Bedeutung der Serien für die noch dazu, TV-Serien als Gegenstand Konstruktion kollektiven Erinnerns. akademischen Schaffens zu legitimie- Als Resultat benennt die Autorin die ren, scheint es nur naheliegend, televi- Konvergenz zwischen historischen suellen Nischenthemen den Einzug ins Konflikten und für die Telenovela wissenschaftliche Curriculum eben- typischen Erzählmuster. falls auf diesem Wege zu ermöglichen. In einem weiteren Beitrag setzt Obschon ‚Quality TV‘ vorrangig als sich Kathrin Ackermann mit der etablierte Genre-Bezeichnung genutzt geschichtlichen Faktentreue der Histo- wird, hätte eine differenzierte Einord- rienserie Borgia (2011-2014) auseinan- nung des Phänomens auf Grundlage der, während sich Robert Lukenda bestehender Begriffskritik zusätzliche in seinem Text mit den Einflüssen Anknüpfungspunkte geboten. rezenter TV-Serien auf die franzö- Abschließend lässt sich sagen: Das sische Gegenwartsliteratur befasst selbstgewählte Ziel, „innovative[n] und „dabei ein Terrain wechselseitiger Serienformate[n] aus der europä- Beziehungen“ (S.289) skizziert. Als ischen und außereuropäischen Roma- beliebter Untersuchungsgegenstand nia“ (S.19) eine Bühne zu bieten, erweist sich überdies Le Bureau des ist vollends geglückt. Im Sinne der Légendes (2015-2020). So nutzt Fran- Anschlussfähigkeit gelingt es den 17 çois Jost die Spionage-Serie, um auf Beiträgen allesamt, Serien spanisch- die Umsetzung narrativer Qualitäts- wie französischsprachigen Ursprungs kriterien im französischen Fernsehen für bestehende Diskurse zu produkti- einzugehen. Marc Blancher nimmt vieren. Gleichzeitig wird die Serien- den Titel hingegen zum Anlass, um forschung durch jene Eigenwerte fortdauernde Hybridisierungsprozesse romanischer Serienkultur bereichert, französischer Kriminalfernsehserien welche den Television Studies durch sichtbar zu machen. die Omnipräsenz US-amerikanischer Geeint wird der Mix an Beiträgen Titel allzu oft entgangen sind. In die- nicht nur durch den geografischen sem Kontext sind es gerade die ein- Ursprung der in ihnen verhandel- leitenden Worte der Herausgeber, die ten TV-Serien. Wie der Titel bereits das kaum erschöpfte Potenzial interna- andeutet, dient die Qualitätsdimen- tionaler Serienkultur als konstruktive sion serieller Erzählungen ebenfalls als Aufgabe künftiger Forschung auf- roter Faden. Im Zentrum jeder Unter- zeigen und beweisen, dass Serienfor- suchung steht somit die Frage „nach schung auch abseits von Breaking Bad dem medienkulturellen Stellenwert“ (2008-2013) und The Sopranos (1999- (S.3) ihres Gegenstandes: Diente der 2007) viel zu bieten hat. nicht gerade unumstrittene Begriff des ‚Quality TV‘ in den 1990er Jahren Eric Dewald (Saarbrücken) 212 MEDIENwissenschaft 02/2023 Bereichsrezension: Streaming Television Andreas Halskov: Beyond Television: TV Production in the Multiplatform Era Odense: University Press of Southern Denmark 2021 (University of Southern Denmark Studies in Art History, Bd.13), 403 S., ISBN 9788740833508, EUR 38,- Amanda D. Lotz: Netflix and Streaming Video: The Business of Subscriber-Funded Video on Demand Cambridge: Polity Press 2022, 208 S., ISBN 9781509552948, EUR 19,90 Vilde Schanke Sundet: Television Drama in the Age of Streaming: Transnational Strategies and Digital Production Cultures at the NRK Basingstoke: Palgrave 2021, 147 S., ISBN 9783030664176, EUR 58,- Die drei Publikationen von Andreas nen miteinander verknüpft. Im ersten Halskov, Amanda D. Lotz und Vilde Teil werden in drei Einzelkapiteln die Schank Sundet beschäftigen sich aus medienindustriellen und infrastruktu- unterschiedlichen Perspektiven mit rellen Aspekte diskutiert; im zweiten den Transformationen, Ausdifferen- Teil folgen in drei Kapiteln narrato- zierungen und Entgrenzungen des logische, formalästhetische und gen- Fernsehens im Streaming-Zeitalter retheoretische Perspektiven. Der und fokussieren dabei primär f ik- produktionsanalytische Ansatz bildet tionale TV-Serien. Übergeordnet jedoch den Überbau. Dafür wird auf verfolgen die Bände damit fernseh- über 100 Interviews mit Produktions- wissenschaftliche Fragen nach dem beteiligten aus der US-amerikanischen Erhalt televisueller Logiken in trans- und europäischen Fernsehindustrie nationalen Streaming-Umgebungen. zurückgegriffen, die der Autor über Am breitesten angelegt von den einen Zeitraum von sechs Jahren drei Büchern ist der Ansatz, den geführt hat. Darunter sind Akteure der dänische Medienwissenschaftler wie David Simon, David Chase, Peter Halskov in seiner Monografie Beyond Gould und Tricia Brock, welche die Television verfolgt. In zwei überge- US-amerikanische Serienlandschaft ordneten Teilen mit insgesamt sechs nachhaltig geprägt haben. Durch die Kapiteln wählt Halskov einen mehr- thematische Breite, welche Transfor- dimensionalen Zugang, der produk- mationen und Ausdifferenzierungen tionstechnische, infrastrukturelle, des televisuellen seriellen Erzählens ästhetische und narratologische Ebe- der letzten 20 Jahre rekapituliert und Hörfunk und Fernsehen 213 medientheoretisch fundiert einordnet, die Studie von Schanke Sundet Tele- eignet sich der mit zahlreichen far- vision Drama in the Age of Streaming: bigen Abbildungen aufwendig gestal- Transnational Strategies and Digital tete Band auch als Einführung in die Production Cultures die Eingrenzung fernsehwissenschaftliche Serienfor- auf fiktionale Dramaserien vor, welche schung. Die Stärke des Autors liegt vom norwegischen öffentlich-rechtli- in der Verknüpfung der verschiedenen chen Sender NKR produziert wurden. Analysefelder: Fernsehhistorische Diese Ausrichtung resultiert aus der Entwicklungen, wandelnde Distri- zentralen Annahme, dass die Analyse butionskontexte, veränderte Rezep- von Entwicklungen im Streaming- tionspraktiken (z.B. binge watching), Bereich in spezifischen nationalen und narratologische Besonderheiten sowie kulturellen Kontexten zu verorten sei. formalästhetische Auffälligkeiten wer- Die Entwicklungen im Streaming- den gleichgewichtet, theoriegeleitet Bereich würden die Produzierenden und detailliert behandelt. von f iktionalen Dramaserien des So geht es bei Halskov auch um öffentlich-rechtlichen Fernsehens vor die ästhetischen Besonderheiten von neue Herausforderungen stellen, böten Serienvorspännen, auffällige Monta- aber auch Chancen. Wie das öffent- getechniken in der ABC-Serie Ameri- lich-rechtliche norwegische Fernsehen can Crime (2015-2017), die Bedeutung mit diesen Herausforderungen und von Puzzle-Plots und transmediale Chancen umgeht, untersucht Schanke Entgrenzungen. Halskov verknüpft Sundet mit Ansätzen aus der medien- zahlreiche medien- und fernsehwis- wissenschaftlichen Produktions-, Fan- senschaftliche Forschungsergebnisse und Partizipationsforschung. Sie geht sinnvoll mit Auszügen aus seinen davon aus, dass Streaming nicht nur Interviews und bringt so die die wis- die Produktion von Dramaserien, son- senschaftliche und die industrielle dern auch die Rezeptionspraktiken des Perspektive in einen Dialog. Etwas Publikums beeinflusst. Als Fallstudien einseitig fällt die Fokussierung auf eine wurden die Dramaserien Lilyhammer bestimmte Art von Fernsehen aus, das (2012-2014), SK AM (2015-2017) Halskov als ‚Prestigefernsehen‘ (vgl. und blank (2018-2019) ausgewählt. S.15), „high-end TV“ (S.135), oder Diese Fallbeispiele wurden mit einem ‚Kunstfernsehen‘ (vgl. S.176) bezeich- mehrdimensionalen methodischen net. An einer Stelle grenzt der Autor Ansatz und unter Berufung auf empi- dieses Fernsehen zudem etwas unge- rische Quellen analysiert: Interviews nau vom „Mainstream-TV“ (S.201) ab mit Produktionsbeteiligten, ethno- und reproduziert damit Hierarchien, grafische Feldbeobachtungen, Seri- die aus fernsehwissenschaftlicher enanalysen, Branchendiskurse und Sicht kritisch zu betrachten sind. Publikumsdaten kamen zum Einsatz. Während Halskov eine Vielzahl Mithilfe dieses reichhaltigen Materi- von Serienproduktionen aus den als kann im zweiten Kapitel gezeigt USA und Europa diskutiert, nimmt werden, auf welche Weisen die Fern- 214 MEDIENwissenschaft 02/2023 sehindustrie selbst die Transforma- Interaktionen zwischen Produktion tionen des Fernsehens beobachtet. und Publikum, aber auch dramatur- Im dritten Kapitel wird der Wandel gische Gestaltungsmöglichkeiten und von Produktionskulturen anhand Erfolgsindikatoren. Von zentraler von drei unterschiedlichen Strate- Bedeutung sei zudem die Berück- gien beschrieben: Einerseits versucht sichtigung lokal-nationaler Kontexte; das öffentliche-rechtliche Fernsehen öffentlich-rechtliche Sendeanstalten hoch budgetierte Blockbuster-Serien stünden in konvergenten Medienum- wie Lillyhammer für den Weltmarkt gebungen vor der Herausforderung, zu produzieren, gleichzeitig werden nicht nur mit lokalen, sondern auch kleine, vornehmlich für eine Online- mit globalen Streaming-Anbietern zu Rezeption ausgelegte Serien wie konkurrieren. Schanke Sundet ist eine das Jugenddrama SKAM in Auftrag vielseitige, überzeugend strukturierte gegeben, welche auf die Bedürfnisse Studie gelungen, welche vorführt, von kleineren Nischensegmenten aus- wie unterschiedliche methodische gerichtet sind, und zuletzt wird die Zugänge sinnvoll miteinander kom- Bedeutung von Adaptionen und Fort- biniert werden können. setzungen diskutiert, welche vorherige Das Buch Netflix and Streaming Erfolge wiederholen sollen. Im vierten Video: The Business of Subscriber-Fun- Kapitel wird auf den Wandel von Dis- ded Video on Demand der Medienwis- tributionsstrategien eingegangen und senschaftlerin Lotz beschäftigt sich dargelegt, wie klassische Konzepte schließlich aus medienökonomischer des linearen Fernsehens – wie der flow Sicht mit dem global agierenden und die liveness – in transformierter Streaming-Anbieter Netflix, der auch Form auch in Streaming-Umgebungen in den Büchern von Schanke S undet erhalten bleiben. und Halskov immer wieder als Refe- Schanke Sundet geht auch auf renz herangezogen wird. Lotz nimmt transmediale Erzählstrategien ein damit eine Perspektive ein, die in und zeigt, wie Programmereignisse den beiden anderen Publikationen in nicht-linearen Sendekontexten nicht im Mittelpunkt steht. Hilf- entstehen. Zuletzt geht es um den reich für die medienwissenschaft- Wandel des Verhältnisses von Publi- liche Auseinandersetzung mit dem kum und Produktion, die komplexen Streaming-Fernsehen sind die präzi- Prozesse des audience making und die sen Beschreibungen der unterschied- Bedeutung loyaler, leidenschaftlicher lichen Geschäftsmodelle der Anbieter. und besonders sichtbarer Publika. Im ersten Teil mit sechs Unterkapi- Im Schlusskapitel wird noch einmal teln zeigt Lotz sehr genau, inwiefern betont, dass Streaming-Umgebungen sich von Abonnent_innen finanzierte ein hohes Maß an Flexibilität auf Streamingdienste von linear organi- verschiedenen Ebenen erfordern, dies sierten Sendestrukturen, aber auch betrifft die Anpassung von Produkti- von Anbietern wie Amazon Prime onskulturen, Distributionsstrategien, Video, Disney+, Hulu, Apple TV+ und Hörfunk und Fernsehen 215 Crunchyroll unterscheiden: Hierbei Trotz des Titels Beyond Television geht Lotz auf Programmstrategien, kommt Halskov in seinem Fazit zu Rezeptionspraktiken, den Auf bau dem Schluss, dass fiktionale Serien von Mediatheken, demograf ische in den USA immer noch TV-Serien Variablen, Lizensierungsweisen und sind, dass sich Streaming-Produktio- Erfolgsmetriken ein. nen also nicht jenseits der Logik des Der zweite Teil mit vier Unterka- Fernsehens bewegen, dass aber viele piteln befasst sich ausschließlich mit gegenwärtige Produktionen etablierte den Besonderheiten von Netflix. Die Vorstellungen des Fernsehens immer Autorin betont die Bedeutung von wieder herausfordern. Geschmacksclustern und damit ver- Auch Schanke Sundet fragt in bundenen Rezeptionsmustern, die sich ihrem Schlusskapitel, ob das Fernse- von traditionellen Genrezuordnungen hen vor dem Ende oder einem Neu- unterscheiden. Bei der Zusammenset- anfang stehe und kommt zu dem zung dieser Cluster geht es nicht nur Schluss, dass die Beziehung zwischen um narrative Muster, sondern vor allem der Fernsehindustrie und ihrem Publi- um Tonalitäten. Darüber hinaus unter- kum zwar ständigem Wandel unter- sucht Lotz die Entstehung und Zusam- liege, aber dennoch stabil bleibe. Auch mensetzung der Netflix-Mediathek, klassische fernsehwissenschaftliche geht auf wenig aussagekräftige und Konzepte wie flow und liveliness, die intransparente Popularitätsmetriken unter den neuen technisch-medial en wie die sich täglich verändernde Top- Bedingungen veränderte Bedeutungen 10-Liste ein und analysiert im letzten erhalten, blieben weiterhin fruchtbar. Unterkapitel die Content-Strategien Dabei ist jedoch zu beachten, dass von Netflix. Dabei räumt Lotz an vie- Streaming in verschiedenen natio- len Stellen mit öffentlich verbreiteten nalen Kontexten unterschiedliche Mythen über Netflix auf, etwa wenn Bedeutungen haben kann. sie die unterschiedlichen Erfolgslogiken Dies wird auch von Lotz betont. des klassischen linearen Fernsehens und Zentral sei die Unterscheidung zwi- des Streaming-Fernsehens von Netflix schen territorial gebundenen Anbie- gegenüberstellt. Lotz gelingt es dabei tern (z.B. den öffentlich-rechtlichen sehr genau, die Spezifika der verschie- Rundfunkanstalten) und transnati- denen Dienste herauszuarbeiten und so onal agierenden, inhaltsspezifischen detailliert und kleinteilig aufzuzeigen, Anbietern (z.B. Netflix). Auch sie auf welchen Ebenen sich Netflix von betont in ihrem Fazit, dass die Funk- anderen Streaminganbietern sowie vom tionsweisen und Ausrichtungen von werbefinanzierten linearen Fernsehen Subscriber-Funded Video-on-Demand unterscheidet. komplex und in der öffentlichen Die drei Bücher bieten teils sich Wahrnehmung mit vielen Missver- überschneidende, teils sich sinnvoll ständnissen und Mythen verbunden ergänzende Perspektiven auf das Ver- seien und plädiert für differenzierte hältnis von Fernsehen und Streaming. Analyseperspektiven, welche die 216 MEDIENwissenschaft 02/2023 unterschiedlichen ökonomischen dass die Analyse des Streaming-Fern- Logiken der jeweiligen Plattformen sehens immer auch eine gewisse Zeit- ernstnehmen. lichkeit aufweist und die Fernseh-, Am Ende vermutet Lotz weitere Streaming- und Serienforschung stets Veränderungen, die sich nach der vor neue Herausforderungen stellt. Veröffentlichung des Buches bereits Wie diesen komplexen Entwicklungen vollzogen haben: So hat Netflix ein medien- und fernsehwissenschaftlich werbefinanziertes Modell eingeführt, begegnet werden kann, zeigen diese das Logiken des werbefinanzierten facettenreichen Publikationen. linearen Fernsehens in das Abonne- mentmodell einführt. So zeigt sich, Moritz Stock (Siegen) Digitale Medien 217 Digitale Medien Stefan Hauser, Simon Meier-Vieracker (Hg.): Fankulturen und Fankommunikation Bern: Peter Lang 2022 (Forum Angewandte Linguistik, Bd.68), 232 S., ISBN 9783631867013, EUR 59,95 (OA) Seitens der Cultural Studies, der Den medienlinguistischen Studien Sozio logie und auch der Medienwis- vorangestellt ist zunächst ein Beitrag senschaft ist Fans und ihren Praktiken zum Ist-Zustand der Fanforschung seit Henry Jenkins‘ Textual Poachers: – verfasst von Thomas Schmidt-Lux, Television Fans and Participatory Cul- dessen vor mehr als zehn Jahren ture (New York/London: Routledge, zusammen mit Jochen Roose und Mike 1992) viel Beachtung geschenkt wor- Schäfer herausgegebenes Buch Fans: den. „Da sich aber die Ausdrucks- Soziologische Perspektiven (Wiesbaden: formen des Fan-Seins auf einer VS Verlag, 2010) wesentlich dazu bei- grundlegenden Ebene in performativen tragen konnte, die wissenschaftliche Kommunikationsakten manifestie- Auseinandersetzung mit Fankultur in ren“ – gemeint sind hier beispielsweise Deutschland zu etablieren. Besonders Kommunikation in Fanforen, Fanzines wichtig ist es Schmidt-Lux, die Inter- oder Fanfiction –, bietet es sich den disziplinarität und Heterogenität der Herausgebern von Fankulturen und Fan Studies hervorzuheben. Darüber Fankommunikation Stefan Hauser und hinaus zeigt er den großen Einfluss des Simon Meier-Vieracker zufolge an, Internets auf Fankultur und anderer- „das Phänomen gerade auch aus lin- seits die (insbesondere politische und guistischer Perspektive umfassender in ökonomische) Dimension der Ein- den Blick zu nehmen“ (S.9). Der Fokus flussnahme von Fans auf Kultur und des Bandes liegt dabei auf „digitalen Gesellschaft auf. Kommunikationssettings“ (S.10), also Die weiteren acht Beiträge des der Kommunikation von Fans auf und Buchs befassen sich mit ganz unter- über Soziale(n) Medien. In ihrer Ein- schiedlichen fankulturellen Objekten, leitung äußern die Herausgeber die Praktiken der Interaktion und Kom- Hoffnung, mithilfe einer medienlingu- munikationsmitteln. Gemein – und istischen Perspektive die Verfasstheit durchaus auch für Medienwissen- der Beziehung von Fan zu Fanobjekt schaftler_innen reizvoll – ist ihnen besser verstehen zu können. aber das genaue Hinschauen, die 218 MEDIENwissenschaft 02/2023 textnahe Art der Analyse. Christiane dass „trauernde Fans sich doppelt Dahms wählt die britische Popband positionieren und damit legitimieren Depeche Mode als Beispiel, um die [müssen]: einerseits in ihrer Rolle als Kommunikation zwischen Stars und Fans und andererseits als dadurch zum Fans zu erforschen, wobei hier beson- Trauern Berechtigte“ (S.129). Weitere ders der Bekenntnischarakter diverser Themen des Bandes sind Fankommu- Fanstatements auf Sozialen Medien nikation beim Fußballverein Hertha interessant ist, der den hohen Grad BSC (Michael Wetzels), Praktiken des der emotionalen Investiertheit von social reading auf den digitalen Lese- ‚Devotees‘ in ihr Fandom akzentuiert plattformen Goodreads und Lovely- und den Dahms auf die mediale Ver- books (Anna Mattfeldt), der kreative fügbarkeit der Band und somit Nähe Ausdruck von Fans über Amazon- der Stars zu ihren Fans zurückführt Rezensionen und ihre Bedeutung für (vgl. S.42). Daniel Pfurtscheller nimmt die Vermarktung von Musik am Bei- die Begleitkommunikation von öster- spiel der Black-Metal-Band Immortal reichischen Nachrichtenfans auf Twit- (Andreas Wagenknecht) sowie Star- ter in den Blick und kann über sich Fan-Interaktionen anhand von soge- wiederholende Ausdrücke und Wort- nannten fancalls, so werden online gruppen in den Tweets eindrucksvoll gestreamte Telefonanrufe von You- Praktiken des „gemeinsamen Antizi- Tuber_innen bei (scheinbar) zufällig pierens und Genießens, des Verehrens ausgewählten Fans bezeichnet (Meier- und des Mitfieberns“ (S.71) von Fans Vieracker/Hauser). zeigen. Mit Kommentaren zu Styling- Der Sammelband Fankulturen Videos auf YouTube und Tweets von und Fankommunikation ist Spiegel der FridaysForFuture treffen im etwas von Schmidt-Lux für die Fan Studies mühsam zu lesenden Beitrag von beschriebenen Interdisziplinarität und Dorothee Meer und Anastasia-Patricia Heterogenität. Das Buch ist so bunt und Och zwei kaum vergleichbare Text- abwechslungsreich wie die Fan Studies korpora aufeinander, anhand derer die selbst und die Gegenstände, mit denen Autorinnen unterschiedliche „Grade sie sich befassen. Dieser Reichtum ist von Fanaffinität“ (S.83) verdeutlichen auf der einen Seite ein Segen, auf der möchten. Karina Frick versammelt anderen Seite aber eben auch Fluch für diverse Beispiele von online artiku- die systematische Konstituierung dieser lierter Trauer um verstorbene Stars wie noch vergleichsweise jungen Disziplin. Götz George, Lemmy Kilmister oder Prince und kommt zu dem Schluss, Vera Cuntz-Leng (Marburg) Digitale Medien 219 Sigrid Kannengießer: Digitale Medien und Nachhaltigkeit: Medienpraktiken für ein gutes Leben Wiesbaden: Springer VS 2022, 277 S., ISBN 9783658361662, EUR 42,79 (OA) (Zugl. Habilitation an der Universität Bremen, 2020) Angesiedelt am Fachbereich Kultur- Welt der multiplen Krisen mittels wissenschaften der Universität Bremen eines interdisziplinären Ansatzes an leitet die Autorin Sigrid Kannengießer konkreten Fallbeispielen, ergänzt um das Lab „Nachhaltigkeit in digi- Interview-Feldforschung, durchdekli- talen Gesellschaften“ am Zentrum niert. Begriffliche Werkzeuge des Den- für Medien-, Kommunikations- und kens und der Kommunikation entfalten Informationsforschung (in Koopera- dabei ihre Möglichkeiten in oder für tion mit artec, dem Forschungszentrum konkrete(n) Situationen, sie werden für Nachhaltigkeit, ebenfalls Universität handhabbare Anliegen ein- und umge- Bremen). Aktuelle Fragen zur Erfor- setzt und zeigen auch und gerade inner- schung des Medien- und Kommunika- halb der praktischen Umsetzung neue tionswandels werden in Kannengießers relationale Denkweisen und Hand- Studie Digitale Medien und Nachhal- lungsoptionen auf. tigkeit: Medienpraktiken für ein gutes Das Motto ‚Sustainable Europe, Leben interdisziplinär aus kultur- und Sustainable Future‘ der Finnischen sozialwissenschaftlicher Perspektive Ratspräsidentschaft 2019 wird dadurch verhandelt, Kannengießer setzt dabei genauso konkret befragt, wie auch ver- ihren Fokus auf die Medienpraxis in schiedene Modelle der Nachhaltigkeits- ihrer Alltagsanwendung und hinsicht- forschung so diskutiert werden können, lich von ethischen Fragen nach jenen „dass Nachhaltigkeit nicht nur auf die ‚des guten Lebens‘ in individueller und ökologische Dimension reduziert wer- gesellschaftlicher Perspektive: Wie den kann, sondern auch eine soziale, nutzt/nutzen der/die Einzelne, aber ökonomische und kulturelle Dimen- auch Organisationen und Unternehmen sion umfasst“ (S.2). Dass die digitale digitale Medien, um Nachhaltigkeit Gesellschaft nachhaltige Produktion gesellschaftlich zu verankern und gar und Speicherung vor große Herausfor- zu verstärken? derungen stellt – auch mit Blick auf den Anhand von konkreten Beispielen Ausbau von Datenstrukturen – ist dabei wie den Repair Cafés, der Fairphone- ein offenes Geheimnis. Kannengießer Produktion sowie der Onlineplattform ist es dementsprechend ein oberstes utopia.de werden Praktiken aufgezeigt, Anliegen, die Medien- und Kommu- die einen Unterschied machen, aber nikationswissenschaft für dieses Thema auch genauso deren Ambivalenzen und zu sensibilisieren und sich der Frage Grenzen verhandelt. zu stellen, wie digitale Gesellschaften Nachhaltige Existenzmodi und überhaupt nachhaltiger agieren kön- Ökologiebegriffe werden so in einer nen. Wie werden Medientechnolo- 220 MEDIENwissenschaft 02/2023 gien produziert, genutzt und entsorgt? Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Freiheit, Kannengießer konstatiert zu Recht, Selbstbestimmung, Transparenz und dass diese Debatte kaum bis selten in Würde“ (S.228). Kannengießer plä- der Medienw issenschaft geführt wird, diert dementsprechend sinnvollerweise meist geht es sonst maximal um Formen dafür, dass Nachhaltigkeit ein interdis- der Vermittlung zum Thema Nachhal- ziplinäres Querschnittsthema werden tigkeit. Fragen von Konsumkritik und kann und sollte, das im Moment in den Medienpraxis rund um Digitalisierung angesprochenen Fächern noch zu oft zu und Datafizierung werden so im Buch randständig behandelt wird. bereichernd neu verbunden und tref- fen auf Fragen nach „Verantwortung, Tina Kaiser (Marburg) Thomas Dreier, Tiziana Andina (Hg.): Digital Ethics: The Issue of Images Baden-Baden: Nomos 2022, 426 S., ISBN 9783848788415, EUR 109,- (OA) Das von Thomas Dreier und Tiziana männlicher Beiträger_innen wenig Andina herausgegebene Buch Digital zu merken – das traurige Verhältnis Ethics: The Issue of Images präsentiert liegt bei 5 zu 15. Verschiedene Beiträ- 21 Kapitel in sechs Sektionen, die ger_innen verweisen in ihren Artikeln sich unter anderem „Images, Art and zu Recht auf bekannte Diskriminie- Society“ (S.81ff.), „Binary Encoding, rungen durch Algorithmen – etwa Lisa Artificial Intelligence and the Disso- Käde in ihrem Aufsatz „The Issue of lution of the Visual Object“ (S.187ff.) the Image of Algorithms“ in Bezug auf und „Ethics and Fundamental Rights“ PoC (vgl. S.336); ein allererster Schritt (S.357ff.) widmen. Diese sind Beiträge im real life wäre, das Offensichtliche einer deutsch-italienischen Konferenz, zu tun und Konferenzen, Sprechbei- die im Herbst 2020 in der Villa Vigoni träge, Key Notes und die Bestückung am Comer See (German-Italian Centre von Tagungsbänden geschlechterge- for the European Dialogue) stattfand, recht und divers zu besetzen (was die und während sich die Herausgebenden Deutsche Forschungsgemeinschaft, die in ihrem Vorwort rühmen, dass die die Konferenz gefördert hat, in ihren Teilnehmenden je zu Hälfte aus Ita- Leitlinien zur Vielfältigkeitsdimension lien und aus Deutschland kamen (vgl. in der Forschung festgeschrieben hat). S.23), so ist hingegen von einer glei- In ihrer Einleitung in den chen Repräsentation weiblicher und Tagungsband verdeutlichen Dreier Digitale Medien 221 und Andina, dass digital image ethics Vergleichs sprachlicher und visueller „[a]t the intersection of both digi- Sprache ist die Transformation von tal ethics and image ethics“ (S.12) Information durch Daten: „For a pic- eine Vielzahl an Phänomenen, ture can only be granted the status of a Akteur_innen und Technologien visual vocabulary if it has achieved an betreffen: „Digital image ethics is thus extraordinarily high popularity“ (ebd.). concerned with the ethical judgement Interessanterweise nutzt Schmücker of the actions of humans when it comes nicht den Begriff des ikonischen to acts of making, distributing and Fotos. Unter diesen Umständen sei viewing certain images“ (S.15). Die eine kosten- und lizenzfreie freie Beiträge fächern die grundlegenden Nutzung des Bildes angezeigt: „It is Fragestellungen auf, unter anderem auf morally permissible to make free use of praktischem und semantischem Level, all vocabulary of a visual language for Konsequenzialismus und im Verhält- (digital) visual communication with- nis von Recht und Ethik – letzteres out obtaining permission and without vor allem in Anbetracht bestehender paying a fee“ (S.65). Als zwei weitere Regulierungen, die – wie einige der Prinzipien befasst sich Schmücker mit Beiträge ausführen – in ihren natio- Fotografie im Museum und Mani- nalen Ausprägungen komparativ zu pulationen wie Deep Fakes. Diese analysieren sind. auf Algorithmen basierenden Bild- Als Schlüsseltext des Tagungs- fälschungen ermöglichen es, Gesten, bandes kann Reinhold Schmückers Mimik und Gesichter von einer Per- Beitrag „Digital Image Ethics – How son nach eigenem Gusto anzupassen it Could be Pursued and What It und mit gefälschten Sprechakten zu Might Have to Say“ (S.49ff.) gelten: auf den ersten Blick real erscheinenden Der Münsteraner Philosoph betont, Personen zu machen. dass eine Pluralität digitaler Ethiken Einerseits ist Digital Ethics: The besteht, die sich teilweise überlap- Issue of Images ein lobens- und lesens- pen (u.a. Philosophie, Rechts- und wertes Unterfangen, weil es interdis- Computerwissenschaft, Journalismus ziplinär aufgestellt ist und versucht, sowie die jeweiligen theoretischen dem ethischen Pluralismus in vor und praktischen Ausprägungen, allem visueller Digitalität Raum vgl. S.54f.). Beispielhaft exploriert zu geben. Andererseits entkommt S chmücker drei spezifische Aufgaben Digital Ethics nicht den allfälligen der digital image ethics, die sich aus der Problemen von Tagungs- und Sam- Ubiquität digitaler Bilder ergeben, melbänden, etwa Redundanzen in der digitalen Speicherung und ihrer den Einzelbeiträgen und in diesen Manipulationsoptionen. Schmücker mitunter behäbig-langatmige chro- betont, dass soziale Praktiken nor- nologische Zusammenfassungen des mative Fragen eröffnen, „that digital Status Quo und wie es dazu kam, image ethics should aim to answer“ statt klar und up-front frische The- (S.64). Grundlage seines folgenden sen zu bearbeiten. Aus diesem Grund 222 MEDIENwissenschaft 02/2023 entsteht der Eindruck, dass Digital akademischen Mittelbaus liegenden Ethics eher Suchbewegungen nach Buches entschieden haben. So ist es digitalen (visuellen) Ethiken abbil- auch Einsteiger_innen in die Thema- det und weniger als scharf fliegende tik möglich, einzelne Kapitel zu lesen Speerspitze zu verstehen ist. Löblich und sich hoffentlich darüber für die ist, dass sich Herausgeber_innen und nach wie vor virulente Dringlichkeit Verlag zu einer Open-Access-Version der digitalen Ethiken zu begeistern. des preislich weit oberhalb der Aus- gabegrenze von Studierenden und des Evelyn Runge (Köln) Lisa Schwaiger: Gegen die Öffentlichkeit: Alternative Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum Bielefeld: transcript 2022, 327 S., ISBN 9783837661217, EUR 47,- (OA) (Zugl. Dissertation an der Universität Zürich, 2021) Die Dissertation von Lisa Schwaiger Nachrichtenmedien wurden unter besteht aus acht Kapiteln und unter- Verwendung der Methode der Groun- sucht Alternativmedien aus einer ded Theory detailliert analysiert. Im phänomenologischen Perspektive Anschluss daran erfolgte eine typolo- im deutschsprachigen Raum. Für gische Unterscheidung mit dem Ziel, die Studie ist folgende Fragestellung alternative Nachrichtenmedien neu zu forschungsleitend: „Wie lassen sich definieren. Die Ausführungen zum Gegenöffentlichkeiten wie alterna- Begriff der Öffentlichkeit vermitteln tive Online-Nachrichtenmedien in einen fundierten Überblick über die Deutschland, Österreich und der Reichweite und theoretischen Zugänge deutschsprachigen Schweiz defini- zum Forschungsgegenstand. Der Fokus torisch einordnen, und welchen Stel- richtet sich auf normative, systemtheo- lenwert nehmen sie in der öffentlichen retische und analytische Zugänge. So Kommunikation auf digitalen Platt- werden unter anderem klassische Kon- formen ein?“ (S.13). Hierfür wurden zepte von Jürgen Habermas (Struktur- 178 Websites alternativer Nachrich- wandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen tenmedien untersucht. Dabei wur- zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesell- den auch deren Reichweiten auf den schaft. Frankfurt: Suhrkamp, 2018 Plattformen Facebook, Twitter und [1962]) sowie von Jürgen Gerhards und Youtube festgehalten. 475 Tweets Friedhelm Neidhardt („Strukturen und wurden inhaltsanalytisch kodiert. Die Funktionen moderner Öffentlichkeit: Selbstbeschreibungen der alternativen Fragestellungen und Ansätze.“ In: Digitale Medien 223 M üller-Doohm, Stefan/Neumann- artikulieren. Transformations- und Braun, Klaus [Hg.]: Öffentlichkeit, Vernetzungsprozesse werden aufge- Kultur, Massenkommunikation: Beiträge zeigt und zielführend kontextualisiert. zur Medien- und Kommunikationssozi- Dabei werden die Rahmenbedingungen ologie. Oldenburg: Bibliotheks- und und Einflussmöglichkeiten der Platt- Informationssystem der Universität formöffentlichkeit und Plattformisie- Oldenburg, 1991, S.31-89) ebenso rung deutlich gemacht. Es haben sich zielführend dargelegt wie Ansätze von neben den klassischen Medienlogiken Niklas Luhmann (Protest: Systemtheo- – wie der Personalisierung und Skan- rie und soziale Bewegungen. Frankfurt: dalisierung – neue Kommunikationslo- Suhrkamp, 2016 [1996]; Die Rea- giken herausgebildet, die auf positiven lität der Massenmedien. Wiesbaden: Bewertungen (likes) und dem Teilen S pringer, 2017 [1995]) und aktuell (shares) von Beiträgen basieren und Manuel Castells (The Rise of the Net- kommerziell genutzt werden. Neben work S ociety. Oxford: Wiley-Blackwell, ökonomischen Interessen werden der 1996), der sich primär mit der Netzwer- Autorin zufolge auch politische Inte- köffentlichkeit im Internet auseinan- ressen verfolgt. Als Gegenentwurf zu dergesetzt hat. Es werden Reichweiten den sogenannten Mainstreammedien und Veränderungsprozesse im Jour- haben sich alternative Entwürfe ent- nalismus angemessen dargelegt sowie wickelt, die sich über neue Medien- neuere Entwicklungen im Bereich der formate und -kanäle artikulieren und Online-Plattformen aufgezeigt. Wei- vernetzen. Das Spektrum reicht von terhin wird deutlich gemacht, dass die linken sozialen Protestgruppen der Etablierung von Digitalplattformen in Umwelt- und Klimabewegung bis hin den letzten Jahren enorm an Bedeutung zu rechten Bewegungen, die unter gewonnen hat. Schließlich haben sich anderem durch antisemitische Beiträge Machtmonopole herausgebildet, die auf in Erscheinung treten. Das Ziel die- Datafizierung und Algorithmisierung ser Medienangebote besteht insgesamt basieren. Blogger_innen und Laien darin, Gleichgesinnte zu mobilisieren prägen neben den klassischen Medien- und die jeweilige Bewegung auch über angeboten zusätzlich den öffentlichen Kanäle wie Twitter und Instagram zu Diskurs. Es erfolgt eine Ausdifferen- stärken. Dabei besteht gerade in Kri- zierung von Nachrichtenangeboten. senzeiten die Gefahr zunehmender Somit bildet sich eine noch stärker Polarisierungen durch die Verbreitung fragmentierte Medienöffentlichkeit von Desinformationen in öffentlichen heraus, die aus einer kommunikati- Debatten. Interessant und relevant ist onswissenschaftlichen und soziolo- der Fokus auf klassische soziologische gischen Perspektive in der Dissertation Ansätze von den Figurationen von Max konstruktiv analysiert wird. Der Blick Weber über das Konzept der sozialen richtet sich auf linke und rechte Pro- Kreise von Georg Simmel bis hin zur testbewegungen, die sich über unter- Habitus- und Feldtheorie von Pierre schiedliche digitale Medienformate Bourdieu, die wertvolle Impulse für 224 MEDIENwissenschaft 02/2023 aktuelle Debatten über die Relationen „Verschwörung und Spiritualität“ auf digitalen Plattformen bei der Unter- zugeordnet. Typ 3 wird als „Aufstand suchung von Öffentlichkeiten liefern. der Zivilgesellschaft“ klassif iziert, Überzeugend ist auch der empi- während der vierte Typ als „seriöse rische Teil der Untersuchung: Das Alternative“ (S.144) bezeichnet wird. vierstufige methodische Design sieht Zusätzlich werden soziologische und eine deskriptive Analyse deutschspra- ökonomische Strukturen alternativer chiger alternativer Nachrichtenmedien Nachrichtenmedien erarbeitet und ihre vor, nimmt eine qualitative Analyse Bezüge zum Selbst- und Journalismus- dieser Nachrichtenwebseiten nach dem verständnis, den behandelten Themen Konzept der Grounded Theory vor und sowie der verwendeten Rhetorik und erarbeitet Twitter-Netzwerkanalysen Symbolik hergestellt. alternativer und professioneller Nach- Schwaiger hat in ihrer Arbeit richtenmedien. Es entsteht eine qua- eine gründliche Analyse zu aktuellen litativ gehaltvolle Inhaltsanalyse von Entwicklungen der alternativen digi- Netzwerkrelationen. Die Präsenz der talen Medienöffentlichkeit vorgelegt 178 Websites auf den Social-Media- und dabei einen innovativen Beitrag Plattformen Facebook und YouTube zum Forschungsfeld geliefert. Neben vom 15. September 2019 bis zum 27. einer angemessenen theoretischen Oktober 2019 wurde ebenfalls in der Fundierung gelingt es Schwaiger in Analyse berücksichtigt. So wurde die der lesenswerten Untersuchung, die auf den Plattformen artikulierte Kritik unterschiedlichen Formen und Aus- am professionellen Journalismus und prägungen von Alternativmedien als dem politischen Establishment sowie Gegenöffentlichkeiten im deutschspra- der Themenfokus und die Finanzierung chigen Raum zu erfassen und politisch untersucht und aufbereitet. Neben intel- einzuordnen. Es wird deutlich gemacht, lektuellen, sachlichen und informativen dass alternative Medien eine zentrale Beiträgen fanden sich auch zynische Rolle in demokratischen Debatten Elemente, die dem rechtsradikalen einnehmen. Gleichwohl finden sich Milieu zugeordnet werden konnten. speziell in den rechtspopulistischen Polarisierungstendenzen gab es gleich- Medienformaten Beiträge, die weni- wohl sowohl im rechten als auch im ger auf Argumente und Informatio- linken Lager. Zum Teil konnte bei den nen setzen, sondern auf Polarisierung untersuchten Medienformaten eine län- und Desinformation. Zu Recht hebt derübergreifende Vernetzung und der die Autorin abschließend hervor, dass Verweis auf Expert_innen festgestellt alternative Medien nicht vor vornhe- werden, die die eigene Haltung teilten. rein demokratiefeindlich sind, sondern Die Autorin hat schließlich eine einen konstruktiven und kritischen Typologie alternativer Nachrichten- Beitrag für eine offene Debattenkultur medien ausgearbeitet. Typ 1 versteht leisten können. sich als „Aufdecker der Mainstream- lügen“. Typ 2 wird der Kategorie Christian Schicha (Erlangen) Digitale Medien 225 Sammelrezension: VanGogh TV | Piazza Virtuale Tilman Baumgärtel: Van Gogh TV’s „Piazza Virtuale“: The Invention of Social Media at documenta IX in 1992 Bielefeld: transcript 2021, 231 S., ISBN 9783837660661, EUR 29,- (OA) Christoph Ernst, Jens Schröter (Hg.): (Re-)Imagining New Media: Techno-Imaginaries Around 2000 and the Case of „Piazza Virtuale“ (1992) Wiesbaden: Springer VS 2021, 170 S., ISBN 9783658328986, EUR 32,- Forderungen, die Geschichte digi- Camille: „Searching for missing „net tal-vernetzter Medien nicht auf die histories“.“ In: Internet Histories 1 [1-2], Geschichte des Internets oder auf 2017, S.47-59) anregen könnte. Dabei US-amerikanische Entwicklungen gelingt es beiden Publikationen, allzu zu reduzieren, haben seit geraumer dualistische Gegenüberstellungen von Zeit vermehrten Zuspruch gefunden. alten und neuen Medien zu vermeiden Exemplarisch wie paradigmatisch sei an und das Phänomen an den Schnittstel- dieser Stelle lediglich auf die seit 2017 len von Medienkunst, Fernsehen und erscheinende Zeitschrift Internet Histo- digitalen Medien zu verorten. ries verwiesen, die eine entsprechende Beide Publikationen sind im Kon- Pluralität bereits in ihrem Titel führt text des DFG-Forschungsprojekts „Van und seither zum Fixpunkt eines florie- Gogh TV: Erschließung, Multimedia- renden Forschungsfeldes geworden ist. Dokumentation und Analyse ihres Gleichwohl verorten sich weder die in Nachlasses“ entstanden, das von 2018 Zusammenarbeit mit Julian Weinert bis 2021 im Verbund der Rheinischen verfasste Monografie von Tilman Fr ied r ich-Wi lhelms-Univers ität Baumgärtel, noch die Beiträge im von Bonn und dem Institut für Medien- Christoph Ernst und Jens Schröter gestaltung an der Hochschule Mainz herausgegeben Sammelband explizit durchgeführt wurde. Neben weiteren in diesem Forschungsfeld, dennoch ist projektbezogenen Publikationen sowie ihre Zielsetzung ähnlich: Im Vorder- einer Ausstellung im Berliner Künst- grund steht eine bislang noch zu wenig lerhaus Bethanien (2021) liegt auf der diskutierte Vernetzungsgeschichte, die Webseite https://vangoghtv.hs.mainz. sich jenseits bereits gut ausgetretener de eine umfangreiche Dokumentation US-amerikanischer Pfade bewegt und des Projekts mit zahlreichen Materi- durch ihre theoretisch-analytischen alien und Interviews vor. Diese liefern Beobachtungen und nicht zuletzt einen immanent wichtigen Beitrag auch Quellenarbeit weitere „net histo- zur historischen Überlieferung digi- ries“ (Driscoll, Kevin/Paloque Berges, taler Medienkulturen und laden zur 226 MEDIENwissenschaft 02/2023 weiteren Entdeckung der Künstler- bei der Verfestigung von Medien, aber gruppe VanGogh TV und deren Pro- zugleich auch deren ständiges Aushan- jekten ein. Von diesen bildet Piazza deln und Infragestellen als Leistung der Virtuale (1992) den Kern der beiden beteiligten Akteure. Die Analyse der hier besprochenen Publikationen, die Sendung, die während der Documenta nicht die Kenntnis der jeweils anderen IX im Jahre 1992 produziert und über voraussetzen, von der wechselseitigen einen Zeitraum von genau 100 Tagen Lektüre und Korrespondenz indes pro- auf 3Sat ausgestrahlt wurde, sowie eine fitieren. Betrachtung der Rezeption und Reso- Mit Piazza Virtuale als Dreh- und nanz in den Medien sind Gegenstand Fluchtpunkt der Argumentation wid- der Kapitel 4 und 5. Dabei wird auch met sich die Monografie Baumgärtels auf die Zuschauer_innen eingegangen, der Geschichte der Künstlergruppe die im Rahmen von Piazza Virtuale VanGogh TV. Theoretisch unter dezidiert auch zu Nutzer_innen wer- anderem von Luc Boltanski und Ève den konnten, deren Mitwirkung in der Chiapellos Der neue Geist des Kapitalis- Praxis allerdings des Öfteren nicht den mus (Konstanz: UVK, 2003) inspiriert erwarteten Ansprüchen der Gruppe und Schwierigkeiten der Historisierung genügte. Kapitel 6 schließt mit einer digitaler Medien und Kulturen reflek- konzisen Betrachtung des Nachlebens tierend, zeichnet Baumgärtel zunächst von Piazza Virtuale und ordnet dieses ein Panorama des historischen Kontexts als Vorläufer gegenwärtiger Sozialer um Punk, New Wave, Performance Medien ein. Art und Medienkunst der 1970er und Die im Epilog abschließend 1980er Jahre (Kapitel 1). Es folgt eine aufgeworfenen Fragen nach der chronologische Darstellung unter- zukunftsweisenden und -formie- schiedlicher Initiativen und Projekte renden, mitunter gar prophetischen der Künstlergruppe, die als Werkschau Qualität von Piazza Virtuale werden das titelgebende Piazza Virtuale rahmen in den Beiträgen des Sammelbandes (Kapitel 2). Diesem sind die folgenden (Re-)Imagining New Media aufge- drei Kapitel gewidmet: Zunächst wird griffen und analytisch weiter aus- detailliert eine Produktionsgeschichte buchstabiert. Wie dessen Titel bereits ausgebreitet, die auch Rückschläge nahelegt, bildet nicht Piazza Virtuale, und Momente des Scheiterns benennt sondern das Konzept der „sociotech- und diskutiert. Nachvollzogen wird so nical imaginaries“ (S.2) die gemein- der mäandernde Prozess der Ideenfin- same Klammer der sechs Beiträge, dung, der Suche nach Sponsor_innen plus Einleitung und Interviews mit und Partner_innen, aber auch Span- den vier zentralen Protagonisten nungen innerhalb der Kerngruppe VanGogh TVs Karel Dudesek, von VanGogh TV sowie mit weiteren Benjamin Heidersberger, Salvatore Mitarbeiter_innen (Kapitel 3). Hierbei Vanasco und Mike Hentz. zeigt sich die fundamentale Bedeutung Die Einleitung der Herausgeber ist der Kooperation und Arbeitsteilung knapp gehalten, adaptiert das leitende Digitale Medien 227 Konzept aus den Science and Tech- Götz Bachmann präsentiert Aus- nology Studies und gibt einen Über- züge einer ethnografischen Fallstudie blick über die in ihrer argumentativen zur Dynamic Medium Group und Qualität wie inhaltlichen Fokussierung arbeitet deren ambivalente Haltung zur disparaten Beiträge: Von diesen gehen ‚kalifornischen Ideologie‘ des Silicon drei (Sally Field, Ernst & Schröter, Valley heraus. Besonders anschluss- Hannah Glauer) dezidiert auf Piazza fähig, nicht zuletzt auch an den Bei- Virtuale oder die Gruppe VanGogh trag von Ernst und Schröter, und ein TV ein und diskutieren ihre Meta- Mehrwert für die weitere analytische phorik im Kontext von Cyberspace- Betrachtung von technologischen Ima- Diskursen oder eines Strukturwandels ginationen, ist Bachmanns Differen- der Öffentlichkeit (Field, Glauer). zierung des Begriffs „promise“ (S.19ff.) Instruktiv ist der Beitrag von Ernst und dessen unterschiedliche Konnota- und Schröter, der Piazza Virtuale als tionen in der deutschen Übersetzung Form der Technologie-Demonstration als Versprechen, Versprechung und betrachtet und zugleich eine praxeolo- Verheißung. Ebenfalls um begrifflich- gische Konzeption des Imaginierens konzeptuelle Differenzierung bemüht vorschlägt. Aus dieser Warte wird ist Oliver Fahle in seinem Beitrag Piazza Virtuale als Demonstration über die Beziehungen von Imagina- des zukünftigen Fernsehens unter tionen, Virtualität und Fernsehen in aktiver Beteiligung der Zuschauenden den 1980er und 1990er Jahren, die diskutiert und als hybrides Medium er in den Begriffen der ‚Televisionen‘, zwischen Fernsehen und World Wide ‚Television‘, ‚Televisuality‘ und ‚Tele- Web verortet. virtuality‘ fasst. Obschon die dazu Die weiteren Beiträge bewegen sich diskutierten Beispiele spannend und eher im zeitgenössischen Dunstkreis instruktiv sind, erscheint es im Kon- von Piazza Virtuale. Wenzel M ehnert text der Publikation als verpasste unternimmt ein Re-Reading von Gelegenheit, dass Fahle gerade nicht W illiam Gibsons Neuromancer (1984) auf die Gruppe VanGogh TV eingeht. und unterstreicht so die Bedeutung des Auch das den Band abrundende Populären und Literarischen, insbeson- Interview mit den Protagonisten dere der Science-Fiction, als Archiv und VanGogh TVs bietet reichhaltige Vehikel technologischer Imaginationen. Anregungen, gerade auch weil es Mit Gibson steht dabei der vermutlich weitgehend ohne kritische Einord- prominenteste und breit rezipierteste nungen und Kommentierungen aus- Autor des Cyberpunk im Vordergrund, kommt (die in der Monografie von dessen Werk wie kaum ein anderes die Baumgärtel und insb. in den Beiträ- Diskurse um den Begriff ‚Cyberspace‘ gen von Ernst/Schröter und Glauer in den 1980er Jahren und darüber geleistet werden). Was bleibt, ist eine hinaus prägte, was auch im Interview spannende Quelle, ein Ansatzpunkt, mit den Protagonisten VanGogh TVs um weiteren Spuren ins Silicon Val- zur Sprache kommt. ley zu folgen, Austauschbeziehungen 228 MEDIENwissenschaft 02/2023 mit Europa herauszuarbeiten oder den stehenden Materialien. Umso mehr Interdependenzen von Internet- und hervorzuheben ist die Bedeutung des Fernsehgeschichten im deutschspra- Interviews beziehungsweise gene- chigen Raum weiter nachzugehen. rell von Zeitzeug_inneninterviews, Der Eindruck, dass sich das Konzept deren methodische Reflexion in der der sociotechnical imaginaries hierfür als medienw issenschaftlichen und medi- eine produktive heuristische Klammer engeschichtlichen Lehre bislang noch erweisen könnte, verfestigt sich nach zu kurz kommt. Doch gerade dann, der Lektüre des Sammelbandes. wenn Mediengeschichte mehr sein will Beiden Publikationen kommt als eine Geschichte der Theorie sowie der Verdienst zu, mit der Gruppe technischer oder ästhetischer Arte- VanGogh TV und Piazza Virtu- fakte, gerade dann, wenn es um die ale eine faszinierende Initiative der Akteure und sozialen Gefüge geht, die jüngsten Mediengeschichte in den diese Geschichten prägten oder Ima- Fokus zu bringen und systematisch zu ginationen über zukünftige Medien- diskutieren. Gerade Baumgärtel lei- welten produzierten, erscheint es von stet einen konzisen Baustein für die immanent wichtiger Bedeutung, diese weitergehende Historisierung digital- selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre vernetzter Medien in Deutschland, Aussagen aber zugleich immer kritisch verdeutlicht aber auch die damit zu reflektieren und zu hinterfragen. einhergehenden Probleme, insbeson- dere hinsichtlich der zur Verfügung Stefan Udelhofen (Bonn) Digitale Medien 229 Bereichsrezension im erweiterten Forschungskontext: Zeitgeschichte des digitalen Zeitalters BRD/DDR Julia Gül Erdogan: Avantgarde der Computernutzung: Hackerkulturen der Bundesrepublik und der DDR Göttingen: Wallstein 2021 (Geschichte der Gegenwart, Bd.24)., 392 S., ISBN 9783835333703, EUR 36,- (Zugl. Dissertation an der Universität Potsdam, 2019) Matthias Röhr: Der lange Weg zum Internet: Computer als Kommunikationsmedien zwischen Gegenkultur und Industriepolitik in den 1970er/1980er Jahren Bielefeld: transcript 2021 (Historie, Bd.193), 376 S., ISBN 9783837659306, EUR 50,- (Zugl. Dissertation an der Universität Hamburg, 2020) Martin Schmitt: Die Digitalisierung der Kreditwirtschaft: Computereinsatz in den Sparkassen der Bundesrepublik und der DDR 1957-1991 Göttingen: Wallstein 2021 (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, Bd.15), 656 S., ISBN 9783835333710, EUR 58,- (Zugl. Dissertation an der Universität Potsdam, 2020) Die Historisierung des „Digitalen Dass wir heute bereits mehr über die Zeitalters“ (Wichum/Zetti 2022), jüngste Geschichte unserer Gegenwart das Nachvollziehen der „Wege in wissen und die Bedeutung der Com- die digitale Gesellschaft“ (Bösch puterisierung und Digitalisierung 2018) oder „in die digitale Moderne“ in ihren unterschiedlichen Facetten (Schuhmann/Danyel 2015) f in- besser einordnen können, ist nicht den seit geraumer Zeit auch im zuletzt der Arbeit von Nachwuchswis- deutschsprachigen Raum verstärkte senschaftler_innen zu verdanken. So Aufmerksamkeit. Instruktive zeit- sind alle der hier detaillierter bespro- geschichtliche Forschungsberichte chenen Publikationen die Ergebnisse (Schmitt /Erdogan/Kasper/Funke von erfolgreich abgeschlossenen Pro- 2016; Danyel 2012) haben die wesent- motionsvorhaben. Die Studien von lichen Konturen dieses dynamischen Julia Gül Erdogan zur Geschichte von Forschungsfeldes skizziert, die seither Hackerkulturen in der BRD und DDR von fundierten, archivgestützten Stu- sowie Martin Schmitts Geschichte dien weiter nachgezeichnet wurden. zum Computereinsatz in den Sparkas- 230 MEDIENwissenschaft 02/2023 sen beider deutscher Teilstaaten sind sellschaft“ (Rödder 2015, S.23; vgl. im Rahmen des Forschungsprojekts auch Herbert 2014; zur Kritik bereits „Aufbrüche in die Digitale Gesell- Bösch 2018; Schmitt/Erdogan/Kas- schaft“ unter Leitung von Frank Bösch per/Funke 2016) einmal mehr in Frage am Zentrum für Zeithistorische For- gestellt wird. schungen (ZZF) in Potsdam entstan- Martin Schmitts voluminöse Stu- den (https://www.computerisierung. die zur Digitalisierung der Kredit- com); die Studie von Matthias Röhr wirtschaft setzt bereits in den 1950er zum Computer als Kommunikations- Jahren ein und verbindet dies mit einer medium in Deutschland entstand an Intervention an gängigen Vorstel- der Universität Hamburg. lungen über den Beginn der Digitali- Inhaltlich ist allen Publikati- sierung oder des Digitalen Zeitalters. onen ihre gesellschaftsgeschichtliche So weist Schmitt eindrucksvoll nach, Dimension gemein. Im Vordergrund dass Computer sowohl in der BRD als stehen nur bedingt Computer als auch der DDR bereits in den 1950er Medien oder technische Artefakte, Jahren Einzug in verschiedene Bran- sondern vielmehr deren kontextuelle chen und Arbeitskontexte fanden Einbettung in sozialen und kulturel- und der Kreditwirtschaft hier eine len Gefügen, in Arbeitswelten, politi- Vorreiterrolle zukam. Den „Wech- schen und rechtlichen Diskursen oder selwirkungen zwischen Computer, sozialen Bewegungen. Die deutschen Algorithmen und Bankbetrieb“ (S.19) beziehungsweise deutsch-deutschen nachspürend, zeigt Schmitt, wie die Entwicklungen werden dabei stets in Sparkassen durch die Digitalisierung breitere globale Zusammenhänge ein- transformiert wurden, diese zugleich gebettet, wobei die USA, aber auch jedoch auch mitgestalteten. Dabei kam Frankreich, Italien und nicht zuletzt insbesondere den Mitarbeiter_innen die sozialistischen Staaten des Ost- der Sparkassen ein prägender Stel- blocks in der Argumentation berück- lenwert zu, aber auch Anpassungs- sichtigt werden. Die ausgebreiteten notwendigkeiten durch beruf liche Analysen nehmen die Diagnose eines Weiterbildung und das notwendige ‚Strukturbruchs‘ in den 1970er Jahren Erlernen von Kompetenzen durch (vgl. Raphael/Doering-Manteuffel ein sich wandelndes Tätigkeits- und 2012) als Orientierungsmarker, ohne Berufsprofil spielten eine große Rolle. allzu sehr an dieser wirkmächtigen Die Studie lässt sich so in einen brei- zeitgeschichtlichen Perspektive der teren Zusammenhang der Transforma- letzten Jahre zu kleben und diese viel- tion von Arbeitskulturen im Zuge der mehr selbstbewusst zu differenzieren. Digitalisierung einordnen, die es auch Dabei werden durchaus unterschied- für weitere Branchen noch genauer liche Narrative entworfen, mit denen auszuarbeiten gilt (vgl. Homberg die Wahrnehmung und Bedeutung der 2018). 1990er Jahre als „Jahrzehnt des Über- Schmitts Publikation kommt darüber gangs in die digitale Informationsge- hinaus der Verdienst zu, ein heuristisches Digitale Medien 231 Begriffsinstrumentarium vorzulegen, Kapitel eingeteilt, in deren Unterka- das den Prozess der Digitalisierung piteln BRD und DDR jeweils sepa- weniger in einer Metaphorik des rate Schwerpunkte bilden, ohne die Industriezeitalters zu fassen sucht, son- „Transferprozesse zwischen West- und dern mit einem an den Gegenständen Ostdeutschland“ (S.286) zu vernach- der Digitalisierung selbst gewonnenen lässigen. Dabei wird deutlich, dass Vokabular. Anstatt ‚Motoren‘ des tech- – obschon die Vorteile einer Auto- nischen Wandels auszumachen, cha- matisierung von Routineaufgaben rakterisiert Schmitt die Sparkassen so wie dem Buchen von Zahlungen oder als ‚Prozessoren‘, auch um die Wech- dem Berechnen von Zinsen im Hori- selwirkungen zwischen Menschen und zont steigender Arbeitsaufkommen Technik hervorzuheben und nicht hin- und bestehenden Personalmangels ter überholte technik- oder sozialdeter- durchaus auf der Hand lagen – zahl- ministische Ansätze zurückzufallen. reiche Widerstände und Konfliktherde Die Digitalisierung ist hier – und auch zwischen Staat, Markt und weite- in den beiden anderen besprochenen ren Akteursgruppen zu überwinden Studien – nicht ein erklärender Fak- waren. Gerade hinsichtlich der politi- tor für gesellschaftlichen Wandel, schen Rahmenbedingungen zeigt sich sondern rückt selbst als Erklärendes in die Gegenüberstellung von BRD und den Blick, wofür Schmitt insbesondere DDR als überaus produktiv. So ging es einen weiten Begriff von Software als doch in beiden Fällen stets um mehr Assemblage gewinnbringend adaptiert als nur arbeitsorganisatorische Routi- und ausarbeitet (vgl. S.66ff.). nen zu rationalisieren oder etwa plan- Das ambitionierte Unterfangen wirtschaftliche Optimierungsfantasien hat jedoch auch seine Tücken: Ins- in der DDR zu verwirklichen. Auch besondere führt es zu einer gewissen zeigt sich hier, welche Macht den Sperrigkeit und Länge in der Argu- jeweiligen Akteuren zukam, wenn sie mentation, was einer so detailliert aus- in der Lage waren, spezifische Situati- gearbeiteten Studie indes nur bedingt onen definieren zu können. Im Kapitel zum Vorwurf gemacht werden kann. über die Wiedervereinigung und damit Denn Schmitt arbeitet akribisch, und auch die Integration von west- und ost- es gelingt ihm, ein komplexes Thema deutschen Sparkassen zeigen sich dann entlang konkreter Fallstudien herun- neben den zuvor bereits verschiedent- terzubrechen und nachvollziehbar lich diskutierten Pfadabhängigkeiten zu machen, ohne dabei das größere „die Ambivalenzen der Digitalisie- gesellschaftliche Panorama aus dem rung“ (S.579) fern einer bloßen Fort- Blick zu verlieren. schrittsgeschichte besonders deutlich. Nach dem umfangreichen Einlei- Nicht minder konf liktreich ist tungskapitel von über 70 Druckseiten die Geschichte des Computers als wird die deutsch-deutsche Geschichte Kommunikationsmedium, die Röhr der Kreditwirtschaft in vier zeit- in seiner Dissertation als Dreischritt liche Abschnitte beziehungsweise ausbreitet. Im ersten Teil setzt Röhr 232 MEDIENwissenschaft 02/2023 ebenfalls bereits in den 1950er Jahren zu dechiffrieren und zu reflektieren an und nimmt die Zusammenführung (vgl. Heßler/Thorade 2019). Dies von Telekommunikation und Daten- macht auch der dritte Teil von Röhrs verarbeitung in den USA in den Blick, Studie deutlich, der sich ins alter- arbeitet Vorstellungen einer zukünf- native Milieu der phone freaks und tigen, vernetzten Gesellschaft heraus Hacker_innen begibt und dies als und widmet sich der Liberalisierung „transatlantischen Aushandlungs- des US-amerikanischen Telefonsek- prozess“ (S.13) mit der Verbreitung tors. Auf dieser Folie wendet er sich und dem Aufstieg des Heimcompu- den „historischen Eigenarten des deut- ters verbindet. Röhrs Ausführungen schen Fernmeldemonopols“ (S.130) für Deutschland sind hier maßgeb- zu. Zwischen dem „Gesetz über das lich von einer Betrachtung des Chaos Telegraphenwesen des Deutschen Computer Clubs (CCC) bestimmt. Reichs von 1892“ (S.130ff.) und dem Zusätzlich wäre ein differenzierter Ende des Monopols der Bundespost und umfassenderer Blick auf die deut- und der Privatisierung des Telekom- sche Mailboxszene wünschenswert munikationssektors im Jahre 1998 gewesen. Das dieser fehlt, dürfte wird so eine auch methodisch überaus allerdings der durchaus schwierigen interessante Geschichte von Debatten Quellenlage geschuldet sein. Erst im und Aushandlungspraktiken zwischen abschließenden Epilog kommt Röhr verschiedenen Akteuren ausgebreitet. auf das Internet zu sprechen und gibt Unter Einbezug von Bundespost, einen Ausblick auf erst noch zu bear- Gerichtbarkeit, Datenverarbeitungs- beitende Forschungsfragen zur deut- industrie sowie diversen politischen schen Dateninfrastruktur, zur New Akteuren auf Bund- und Länder- Economy (vgl. dazu Stuhr 2010) oder ebene zeichnet Röhr die „infrastruc- auch zur weiteren Ausarbeitung der tural dynamics“ (Abbate 2017, S.9) der Verbindungen von Rundfunk- und Digitalisierung Deutschlands nach, Internetgeschichte. Röhrs Studie die bis in die Gegenwart hinein ihren unterstreicht in jedem Fall die Not- Widerhall finden. wendigkeit einer Betrachtung pluraler Digitalisierung und Vernetzung „histories of networking“ (Haigh/ werden so nicht als lineare oder kon- Russell/Dutton 2015), die über die tinuierliche Fortschrittserzählung singuläre Geschichte des Internets präsentiert, sondern als immanent hinausreichen. Gerade seine Ausfüh- politischer Prozess, dessen verschie- rungen zum deutschen Bildschirmtext dene Interessen und Verflechtungen schließen hier eine lange vernachläs- eher hemmende Auswirkungen zei- sigte Lücke (vgl. dazu auch Schönrich tigen. Die damit einhergehenden 2021) – nicht zuletzt im Vergleich zum Ambivalenzen unterstreichen erneut französischen Minitel (vgl. Mailland/ die Notwendigkeit für historische Driscoll 2017). Untersuchungen, um die Komple- Erdogan setzt mit Avantgarde der xität von Transformationsprozessen Computernutzung: Hackerkulturen Digitale Medien 233 der Bundesrepublik und der DDR in in Bezug auf die Computernutzung, gewisser Hinsicht dort an, wo Röhrs diskutiert die Bedeutungsverschie- Studie eher ihren Ausklang findet bung von Hackern und Haecksen hin und vertieft die Betrachtung von zu Datenschützer_innen und Auf- Hackerkulturen. Der Bundesrepublik klärer_innen und analysiert schließ- wird dabei mehr Platz als der DDR lich Clubs, Vereine, Kongresse sowie eingeräumt, was auch der zwar ins- Zeitschriften der Computera mateure gesamt breiten, jedoch „asymmetri- als Orte der Gemeinschaftsbildung. schen Quellenlage“ (S.13) geschuldet In allen Fällen zeigt sich das heuri- ist. Erwartungsgemäß kommt dem stische Potenzial des praxistheore- CCC eine hervorgehobene Stellung tischen Ansatzes, insofern entlang zu: Erdogan räumt allerdings auch „biograf ischer Fallbeispiele“ (S.72) weiteren Gruppen ihren Platz ein nicht nur individuelle Erfahrungen und wird der Heterogenität inner- und individuelles Handeln diskutiert halb von Hackerkulturen so gerecht. werden, sondern zugleich „in Bezie- Gerade das Archiv des CCC erwies hung zu politischen und gesellschaft- sich indes als ein zentraler „Quel- lichen Themenfeldern“ (ebd.) gestellt lenort der Geschichte der 1980er- werden. Im Kontext des Wandels von und 1990er-Jahre für die Themen Lebensstilen und Konsumverhalten Gegenkulturen und Informations- ab den 1970er Jahren traten Hacker- und Kommunikations technologien“ kulturen zunächst als Tüftler hervor, (S.44), nicht zuletzt weil der CCC in für die Neugierde und ein spiele- K orrespondenz mit weiteren Gruppen rischer Umgang mit dem Computer und Personen stand und somit aus der prägend waren. Politisch war dies eine Warte des CCC auf andere Akteure Reaktion auf die zunehmende Kom- geblickt werden kann. merzialisierung der Computertechno- Methodisch greift Erdogan auf ein logie und der Softwarebranche. Des praxistheoretisches Vokabular zurück Weiteren hebt Erdogan die Bedeu- und hebt die Bedeutung des Spielbe- tung der Kunst- und Kulturszene griffs sowie von Orten und Räumen in beiden deutschen Staaten hervor für die Konstitution und Vergemein- (vgl. dazu auch Baumgärtel 2021). schaftung von Hackerkulturen sowie So prägten in der DDR insbesondere deren Praktiken der Aneignung, ihren „MusikerInnen die technische Bastel- Umgang mit und die Erforschung des kultur mit dem neuen Medium“ (S.88), Computers hervor. da diese nicht zuletzt aufgrund der Nach einem kurzen Abriss zur Versorgungsschwierigkeiten inner- Entstehung von Hackerkulturen in halb der sozialistischen Planwirtschaft den USA widmet sich Erdogan in vier ihre Instrumente und sonstige Technik umfangreicheren Kapiteln der Entste- selbst herstellen mussten. hung von Hackerkulturen in der Bun- In der BRD trug die Auseinan- desrepublik und der DDR, vertieft die dersetzung mit dem Monopolisten Aspekte von Generation und Gender Deutsche Bundespost und dem Bild- 234 MEDIENwissenschaft 02/2023 schirmtext zu einer zunehmenden nach Frankreich macht zudem deut- Politisierung von Hackerkulturen, lich, wie rigide das Vorgehen gegen insbesondere des CCCs, bei, die für Hacker_innen sein konnte, die in Themen wie Informationsfreiheit oder Deutschland kaum strafrechtlich die „Partizipation an einer globalen belangt wurden und eher als positives gerechten Welt“ (S.123) eintraten. Beispiel für Computersubkulturen Erdogan diskutiert dies insbesondere fungierten. Wie sich diese als Gemein- am CCC-Mitbegründer Wau Holland, schaften konstituierten, arbeitet Erdo- der an der „Schnittstelle zwischen gan in einem umfangreichen Blick auf Technik- und Alternativbewegung“ Computerclubs und -vereine, Kon- (S.125) verortet wird. Innerhalb der gresse und Messen sowie Zeitschriften linksalternativen und anarchistischen und Newsletter heraus. Hierbei kann Bewegungen waren Hacker_innen Erdogan zeigen, welche Austauschbe- allerdings durchaus umstritten, was ziehungen und Korrespondenzen zwi- die Aushandlungsprozesse zwischen schen Hackerkulturen in der BRD und den Generationen zum Thema wer- DDR bestanden, ehe diese im Zuge den lässt, in denen das Hacken auch der Wiedervereinigung zunehmend als jugendlicher Leichtsinn diskutiert zusammenwuchsen. Erdogan gelingt wurde. Dem „Klischee des männlichen so die vielschichtige und differen- Hackers“ (S.202) begegnet Erdogan zierte Betrachtung einer überaus pro- mit einer erfreulichen Berücksich- minenten Gruppe von Akteuren der tigung weiblicher Akteure in der Computerisierung in Deutschland, die Hackerkultur (‚Haecksen‘), die aller- zukünftigen Studien – gerade jenen, dings Einzelerscheinungen blieben die weiter auf die Gegenwart zulaufen und darüber hinaus in Erzählungen – als Referenzwerk dienen dürfte. und Darstellungen über den Hacker Zusammenfassend lässt sich für mitunter bewusst kaum beachtet wur- alle hier besprochenen Studien kon- den. statieren, dass sie innovative und Mit dem Btx-Hack als „Schlüssel- lückenfüllende Bausteine einer Digi- ereignis“ (S.205) und „Initialzünder talgeschichte Deutschlands vorlegt der bundesdeutschen Hackerbewe- haben. In allen Fällen wird zudem gung“ (S.261) rückte die Vermitt- deutlich, dass es sich zwar um in lungs- oder Übersetzungsfunktion von sich geschlossene Narrative handelt, Hacker_innen in den Vordergrund. die aufgegriffenen Fäden indes noch Themen wie Datenschutz und Daten- weiter geknüpft werden können, sei es sicherheit fängt Erdogan über die um weitere Arbeitswelten und Akteure Thematisierung von Wirtschafts- im Zeitraum der Studien oder auch in kriminalität ein, wobei die Bedeu- der Gegenwart in den Blick zu neh- tung von politischen Debatten und men. Zahlreiche Bezugspunkte und Gesetzen als produktiven Quellen der Korrespondenzen zur kulturwissen- Digitalgeschichte einmal mehr unter- schaftlich argumentierenden Medien- strichen wird. Ein kurzer Seitenblick wissenschaft, zur Medientheorie oder Digitale Medien 235 auch zu den Science and Technology sierung hingewiesen – ein Umstand, Studies machen zudem deutlich, von dem sich gerade auch Fernsehwis- dass gerade im Forschungsfeld einer senschaft und Fernsehgeschichte ange- historischen Betrachtung der Digita- sprochen fühlen dürfen. Insofern bleibt lisierung eine Kooperation über die zu hoffen, dass die hier vorliegenden Grenzen wissenschaftlicher Diszipli- Studien als Blaupausen weitere trans- nen möglich und produktiv sein kann. oder interdisziplinäre Forschungsar- So wird etwa in allen Studien auf die beiten anregen. Bedeutung des Fernsehens oder von Rundfunkanbietern für die Digitali- Stefan Udelhofen (Bonn) Literatur Abbate, Janet: „What and where is the Internet? (Re)defining Internet Histories.“ In: Internet Histories 1 (1-2), 2017, S.8-14. Baumgärtel, Tilman (mit Julia Weinert): Van Gogh TV’s „Piazza Virtuale“: The Invention of Social Media at documenta IX in 1992. Bielefeld: transcript, 2021. Bösch, Frank (Hg.): Wege in die digitale Gesellschaft: Computernutzung in der Bundes- republik 1955-1990. Göttingen: Wallstein, 2018. Danyel, Jürgen: „Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft.“ In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9, 2012, S.186-211. Haigh, Thomas/Russell, Andrew L./Dutton, William H.: „Histories of the Inter- net: Introducing a Special Issue of Information & Culture.“ In: Information & Culture 50 (2), 2015, S.143-159. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2014. Heßler, Martina/Thorade, Nora: „Die Vierteilung der Vergangenheit: Eine Kritik des Begriffs Industrie 4.0.“ In: Technikgeschichte 86 (2), 2019, S.153-170. Homberg, Michael: „Mensch | Mikrochip: Die Globalisierung der Arbeitswelten in der Computerindustrie 1960-2000 – Fragen, Perspektiven, Thesen.“ In: Viertel- jahreshefte für Zeitgeschichte 66 (2), 2018, S.267-293. Mailland, Julien/Driscoll, Kevin: Minitel: Welcome to the Internet. Cambridge: MIT Press, 2017. Raphael, Lutz/Doering-Manteuffel, Lutz: Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. 236 MEDIENwissenschaft 02/2023 Rödder, Andreas: 21.0: Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München: C.H. Beck, 2015. Schmitt, Martin/Erdogan, Julia/Kasper, Thomas/Funke, Janine: „Digitalgeschichte Deutschlands: Ein Forschungsbericht.“ In: Technikgeschichte 83 (1), 2016, S.33-70. Schönrich, Hagen: Mit der Post in die Zukunft: Der Bildschirmtext in der Bundesre- publik Deutschland von 1977 bis 2001. Paderborn: Schöningh, 2021. Schuhmann, Annette/Danyel, Jürgen: „Wege in die digitale Moderne: Compute- risierung als gesellschaftlicher Wandel.“ In: Bösch, Frank (Hg.): Geteilte Geschichte: Ost- und Westdeutschland 1970-2000. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, S.283-319. Stuhr, Mathias: Mythos New Economy: Die Arbeit an der Geschichte der Informations- gesellschaft. Bielefeld: transcript, 2010. Wichum, Ricky/Zetti, Daniela (Hg.): Zur Geschichte des digitalen Zeitalters. Wies- baden: Springer VS, 2022. Medien und Bildung 237 Medien und Bildung Sebastian Tatzel: Das sprach- und mediendidaktische Potenzial des mehrsprachigen Spielfilms für den Deutschunterricht München: kopaed 2022 (Medien im Deutschunterricht: Beiträge zur Forschung, Bd.16), 346 S., ISBN 9783968480640, EUR 22,80 (Zugl. Dissertation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 2021) Ob die Sprache der Na’vi aus Avatar: The dreier Spielfilme konkrete Anregungen Way of Water (2022), englischsprachige für den Unterricht vorgestellt werden. Dialoge im deutschsprachigen Thriller „Teil D: Zusammenfassung und Fazit“ Victoria (2015) oder der zweisprachige fasst die neuen Erkenntnisse pointiert Frantz (2016) von François Ozon – zusammen und wirft einen Blick in mehrsprachige Film- und Serienproduk- noch offene Forschungsfelder. tionen sind Teil einer transnationalen Der erste Teil folgt einer vornehm- Medienlandschaft, und so scheint es lich filmwissenschaftlichen Zielsetzung aus didaktischer Sicht nur folgerichtig, und kulminiert in einem „Kategorisie- nach dem Potenzial des mehrsprachigen rungsmodell zur formalen Ebene der Films für den Unterricht zu fragen. filmischen Mehrsprachigkeit“ (S.121). Sebastian Tatzel erkundet in seiner Neben dem aktuellen Forschungsstand Dissertation dieses aktuelle und noch werden auch Überlegungen aus der Auto- wenig erschlossene Thema und fokus- ren- und Genretheorie berücksichtigt siert dabei den mehrsprachigen Spiel- und das theoretische Gerüst anschaulich film im Deutschunterricht. Der Autor anhand von Filmbeispielen konkretisiert. gliedert seine Arbeit in vier Teile: „Teil Bereits hier wird deutlich, dass Tatzels A: Der mehrsprachige Film – ein Kate- Monografie über die Deutschdidaktik gorisierungsversuch“ nähert sich dem hinaus für weitere Forschungsdisziplinen mehrsprachigen Film unter formalen relevant ist, und es bleibt zu wünschen, und funktionalen Aspekten und legt dass auch filmwissenschaftliche Studien eine umfassende Definition vor. In zum mehrsprachigen Film die vorlie- „Teil B: Der mehrsprachige Spielfilm im gende Dissertation heranziehen. Deutschunterricht“ werden die gewon- Im zweiten Teil werden die bishe- nenen filmtheoretischen Überlegungen rigen Erkenntnisse in die Deutschdidak- sorgfältig auf die Deutschdidaktik über- tik transferiert. Eine erste Orientierung tragen und kontextualisiert, bevor in wird an den Lernbereichen der Bil- „Teil C: Unterrichtsvorschläge“ anhand dungsstandards vorgenommen, wobei 238 MEDIENwissenschaft 02/2023 anschließend ein dezidierter Bezug zu (2006) zielen auf den Einsatz in der den einschlägigen Filmkompetenzmo- Primarstufe respektive die dritte und dellen (mit deutschdidaktischer Rele- vierte Klasse ab. Die weiteren Filme Isle vanz) hergestellt wird. Auch hier erfasst of Dogs (2018) und Almanya – Willkom- Tatzel präzise den aktuellen Forschungs- men in Deutschland (2011) richten sich stand der Filmdidaktik, lediglich das jeweils an die Sekundarstufe I. Da in 2021 erschienene „Kompetenzmodell den ersten Kapiteln der Arbeit bereits Filmdidaktik Deutsch“ (In: Kammerer, eine Reihe von relevanten Spielfilmen Ingo/Maiwald, Klaus [Hg.]: Filmdi- genannt wurden – darunter Le Mépris daktik Deutsch: Eine Einführung. Berlin: (1963), Lost in Translation (2003) oder Erich Schmidt, 2021, S.37-40) wurde Inglourious Basterds (2009) –, wäre eine nicht mehr berücksichtigt. Auf Grund- Erweiterung auf die Sekundarstufe II lage dieser Betrachtungen entwickelt hier wünschenswert gewesen. Gerade Tatzel im Folgekapitel ein didaktisches die Sprachdiversität in den Filmen Konzept, welches in einem fünfstufigen von Jean-Luc Godard und Quentin Modell zum Umgang mit mehrspra- Tarantino erlaubt im Hinblick auf chigen Filmen für den Deutschunter- das Modell zur sprach- und kultur- richt kulminiert, das daran anschließend übergreifenden Filmbildung (vgl. Blell, im dritten Teil des Buchs wiederholt Gabriele/Grünewald, Andreas/Kep- exemplifiziert wird. Zuvor perspekti- ser, Matthis/Surkamp, Carola: Modell viert Tatzel in einem Exkurs aber noch zur sprach- und kulturübergreifenden den mehrsprachigen Film in der Ausbil- Filmbildung. In: dies. [Hg.]: Film in den dung angehender Deutschlehrer_innen. Fächern der sprachlichen Bildung. Balt- Zudem wird eine Lehrveranstaltung zu mannsweiler: Schneider Hohengehren, diesem Thema skizziert und reflektiert. 2016, S.11-61) auch filmdidaktische Wenngleich diese Ausführungen mitun- Anknüpfungspunkte für einen inter- ter etwas schablonenhaft bleiben, stellt disziplinären Einsatz im Unterricht. dieses Kapitel nochmals die Relevanz Mit seiner mehrperspektivischen der Filmdidaktik innerhalb der Ausbil- Arbeit hat Tatzel nicht nur ein aktu- dung von Lehramtsstudierenden heraus, elles Forschungsfeld der Filmdidak- sodass diese Arbeit auch einen hoch- tik erschlossen, sondern ebenso einen schuldidaktischen Mehrwert aufweist. relevanten Beitrag zum filmwissen- Die Filmauswahl im dritten Teil ist schaftlichen Forschungsstand des ebenfalls gelungen: Tatzel beginnt mit mehrsprachigen Films geleistet. Ange- einer kurzen Darstellung des Filmka- sichts dieser lesenswerten, präzise for- nons der Bundeszentrale für politische mulierten und sorgfältig recherchierten Bildung sowie dem Kinderfilmkanon, Arbeit bleibt zu hoffen, dass sich die schließt jedoch an den common sense an, vorliegende Monografie als Standard- dass die Kanondebatte für die Auswahl werk zum mehrsprachigen Film für die an Unterrichtsgegenständen wenig Filmdidaktik etabliert. zielführend ist. Die Überlegungen zum erstgewählten Film Azur et Asmar Julian Körner (Bremen) Medien und Bildung 239 Zwei Einschätzungen: Digitale Lernwelten Wolfgang Becker, Maren Metz (Hg.): Digitale Lernwelten – Serious Games und Gamification: Didaktik, Anwendungen und Erfahrungen in der Beruflichen Bildung Wiesbaden: Springer 2022, 314 S., ISBN 9783658350598, EUR 64,99 „Work is respectable, play is not“ Rollenspiele, Simulationen oder auch (S.117) – der Sammelband Digitale Brettspiele geht. Vier Teile struktu- Lernwelten trägt dazu bei, diesem nach rieren das thematische Spektrum des wie vor anhaltenden spiel feindlichen Sammelbandes. Der erste Part besteht und kulturkritischen Paradigma ent- aus theoretischen Ansätzen, die allge- gegenzuwirken. 18 Aufsätze arbeiten meine Kriterien von Gamification und heraus, inwiefern game-based learning unterschiedliche disziplinäre Kontex- motivationsfördernd ist und durchweg tualisierungen vorstellen. Besonders positive Effekte auf diversen Ebenen gelungen ist hier Birgit Spies‘ lern- des Lernens zeitigt. Wiederholungen, theoretische, mediendidaktische und Belohnungen und Problemstel- medienpsychologische Einordnung des lungen führen dazu, dass Lernende spielerischen Lernens, die in begriff- als dauerhaft aktiv Teilnehmende licher Trennschärfe die Vorteile des ihre eigene Lernwelt konstruieren. Spielens aus bildungswissenschaft- Dieses Plädoyer wird von diversen licher Perspektive pointiert. anschaulichen Illustrationen beglei- Die drei weiteren Abschnitte des tet und mit zahlreichen empirischen Bandes bestehen dann aus Aufsätzen Studien überzeugend untermauert. in den Domänen Bildung, Personal Die Anwendungsbereiche liegen aus- und Gesundheit. Während die theore- schließlich in der beruflichen Aus- tischen Grundlagen allen an Gamifica- und Weiterbildung, weshalb viele tion Interessierten zu empfehlen sind, der Beitragenden einen starken Pra- sollten die Lesenden bei den thematisch xishintergrund aufweisen. Die Heraus- gebundenen Beiträgen Grundwissen im geber_innen Wolfgang Becker und jeweiligen Segment mitbringen. So ist Maren Metz arbeiten beispielsweise im beispielsweise die Anschlussfähigkeit Fachgebiet der Gesundheit und Pflege. für computerbasierte Simulationsme- Die ersten beiden Worte im Titel thoden bei Massenanfällen von Ver- der Aufsatzsammlung erweisen sich letzten nur bedingt universell. Positiv allerdings als irreführend, denn nicht sei aber hingegen der Aufsatz „Gender- die Digitalität von Lernumgebungen sensible Berufsorientierung mit einem steht im Mittelpunkt, sondern spie- Serious Game“ von Pia Spangenberger, lerische Elemente in allen möglichen Iken Draeger, Felix Kapp, Linda Kruse pädagogischen Situationen, so dass und Nadine Matthes hervorgehoben, es ebenso um Trainingsprogramme, der aufzeigt, wie durch das Spiel Serena 240 MEDIENwissenschaft 02/2023 Supergreen und der abgebrochene Flügel viert: „Alles Spiel ist zunächst und vor (https://serena.thegoodevil.com) bei allem ein freies Handeln. Befohlenes weiblichen Spielenden das Interesse Spiel ist kein Spiel mehr“ (S.241). Ist für technische Aufgaben gesteigert dies nicht ein offenkundiges Gegenar- werden kann – und sich daher auch gument bezüglich des Gelingens von Einsatzmöglichkeiten des Spiels für Lehr-Lern-Prozessen mit verordnetem diverse Unterrichtsfächer bieten. Spielen? Die ausschließliche Affinität An diesen Beispielen wird bereits gegenüber dem Spielerischen in zahl- deutlich, dass die Textsammlung reichen Texten provoziert so vor allem äußerst heterogene Anwendungs- aufgrund der Einseitigkeit Widerstand, gebiete des Edutainments vorstellt. etwa wenn es heißt, dass „der Einsatz Doch gerade durch diese divergenten gamifizierter Assessments eine viel- Bereiche entfaltet der Sammelband versprechende Strategie für das eigene seine Überzeugungskraft. Ob für Kompetenzerleben und den Kompe- Ökonomie, Psychologie, Medizin oder tenzerwerb“ (S.216) darstellt. Warum Politik: Spiele sind die Lösung. Auf der bleibt der bei vielen dadurch ausgelöste Gegenseite muss jedoch gesagt werden, enorme Leistungsdruck unerwähnt? dass Serious Games den Leser_innen Wie werden Lerntypen integriert, unkritisch als ‚heiliger Gral‘ verkauft die kompetitive Situationen meiden? werden. Von der Behandlung Ver- Ist das Kernelement des Spielerischen wundeter im Kampfeinsatz, Personal- nicht eine gewisse Konsequenzlosigkeit management bis hin zur Heilung von in der Realität, die bei einem Assess- Depressionen: Spiele sind auch hier die ment gerade eben nicht gegeben ist? Lösung. Gegenargumente zum Ein- Letztlich wird auch die Chance satz spielerischer Elemente in didak- verspielt, in einer grundlegenden Auf- tischen Kontexten finden sich kaum. satzsammlung die wichtigsten und Einige Beiträge erweisen sich sogar als bekanntesten Serious Games auf- tendenziös und schlichte Werbung für zulisten, stattdessen werden wenige Spiele. Man wünscht sich mehr solcher Spiele selektiv besprochen, diese dafür Passagen wie in Lars Jansens Beitrag aber intensiv. Wer aber eine quantitative „Serious Games und Gamification in Auffächerung innerhalb des unüber- Personalauswahl und Personalmarke- sichtlichen Markts sucht, wird auch in ting“, der zurecht mit Rekurs auf Johan diesem Buch nicht weiter fündig. Huizingas Zitat den Erfolg von Gami- fication zumindest ansatzweise relati- Timo Rouget (Frankfurt am Main) *** Der vorliegende Sammelband befasst Lernens (game-based learning) in der sich mit Gamification und Serious beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbil- Games als zwei besonders promi- dung. In der Einleitung (S.1f.) wie in nenten Unterformen des spielbasierten den folgenden Kapiteln werden Serious Medien und Bildung 241 Games und Gamification dabei sehr des Bandes beschreiben entweder breit aufgefasst. Diesem ausgreifenden (selbstentwickelte) Spielanwendungen Ansatz folgend, versammelt das Buch ausführlich oder rekurrieren auf eine theoretisch, didaktisch und praktisch Zusammenstellung paradigmatischer ausgerichtete Texte zum spielbasier- Anwendungsbeispiele aus der Praxis. ten Lernen in der beruflichen Bildung. Pia Spangenberger, Iken Draeger, Insbesondere auf den praktischen Bei- Felix Kapp, Linda Kruse und Nadine trägen mit deren Anwendungsbeispie- Matthes stellen beispielsweise in ihrem len liegt der Fokus des Bandes. Aufsatz ihr didaktisches Konzept für Die erste Sektion ist den theo- den Einsatz des von ihnen im Rahmen retischen und didaktischen Texten eines BMBF-Projekts entwickelten gewidmet, die verschiedene diszipli- Serious Games Serena Supergreen und näre Perspektiven auf spielbasiertes der abgebrochene Flügel (https://serena. Lernen oder dessen bildungswissen- thegoodevil.com) vor, das im Sinne schaftliche Grundlagen überblicks- einer gendersensiblen Berufsorien- artig zusammenbringen – von der tierung Mädchen in der Sekundar- Medienkonzeption über die Lern- stufe I darin bestärken soll, sich mit theorie und Mediendidaktik bis hin technischen Berufen intensiver aus- zur Usability. Die folgenden drei einanderzusetzen. Die behandelten praktischen Sektionen setzen sich Einsatzorte erstrecken sich von der mit dem Einsatz spielbasierten Ler- Schule über die Hochschule bis hin zu nens im Bildungssektor, im Produk- Betrieben. So stellt Lars Jansen zum tions- und Personalbereich sowie im Beispiel in seinem fokussierten Beitrag Gesundheitswesen auseinander. Dabei die Einsatzmöglichkeiten von Gamifi- werden verschiedene spielbasierte cation in der Personalbeschaffung am Lernansätze wie Serious Games/Seri- Beispiel von game-based assessments vor. ous Gaming, Gamification (beide in Die Stärken des Bandes liegen in sehr unterschiedlichen Kontexten), der engen Verzahnung zwischen der Planspiele, Simulationen oder digi- einführenden theoretischen Sektion tal game-based learning thematisiert. mit den folgenden praktischen. Dies Auch wenn sich die Anwendungs- liegt weniger in Bezugnahmen der beispiele primär auf digitale Spiele einzelnen Texte aufeinander begrün- fokussieren, kommen dennoch auch det, als vielmehr in der Tatsache, dass die Einsatzmöglichkeiten analoger die theoretischen Beiträge die prak- Spiele zur Sprache. Dies geschieht tische Anwendung nicht aus dem Blick zum Beispiel in Thorsten Kodalles verlieren, ebenso wie die praktischen Beitrag über ein Gamification-Semi- Beiträge eine theoretische Fundie- nar, das das strategische Denken unter rung aufweisen. Ebenso positiv fällt Verwendung des Brettspiels Scythe auf, dass sich der Band nicht auf eine (2016) fördern soll und insbesondere bildungswissenschaftliche Front- durch die L essons Learned didaktisch stellung zwischen Wissensvermitt- überzeugt. Die praktischen Beiträge lung und Kompetenzerwerb versteift, 242 MEDIENwissenschaft 02/2023 sondern beide gleichermaßen in den aber dem Umstand geschuldet sein, Blick nimmt. Wünschenswert wäre es dass der Band kursorisch rezipierbar gewesen, wenn der Sammelband eine sein soll, um Praktiker_innen einen präzisere Abstimmung der einzelnen Einblick in aktuelle Entwicklungen in theoretischen Beiträge vorgenommen der beruflichen Bildung zu ermöglichen hätte, die teilweise Redundanzen auf- oder Einsteiger_innen in diesen Bereich weisen. Hierdurch hätte Raum gewon- der Medienbildung eine praxisorien- nen werden können, um zum Beispiel tierte Einführung zu gewähren. die designerische Perspektive stärker zu berücksichtigen. Diese Auswahl mag Kai Matuszkiewicz (Marburg) Mediengeschichten 243 Mediengeschichten: Panorama Thomas Koebner: Erinnerungen im Film: Ein Versuch Marburg: Schüren 2022, 179 S., ISBN 9783741004131, EUR 20,- Mit dem poetischen Satz „Erinne- Koebners Buch über Erinnerungen rungen tauchen manchmal auf wie im Film – von ihm mit leisem Under- Inseln im Meer des Vergessens“ (S.9) statement als ‚Versuch‘ bezeichnet – ist beginnt Thomas Koebner seine Stu- aber mehr als ein solcher und folgt nach die über filmische Erzählstrukturen drei einleitenden Bezugnahmen auf im Film. Koebner ist einer der großen literarische Werke von Marcel Proust, deutschen Film- und Medienwissen- Vladimir Nabokov und Annie Ernaux schaftler, der das Fach neben Helmut der eingangs zitierten Metapher vom Kreuzer, Friedrich Knilli, Helmut Auftauchen und Verschwinden von Schanze und anderen geprägt hat. Er Erinnerungen und wendet sich jeweils hat lange Jahre in Wuppertal, Marburg, einzelnen – insgesamt 42 – Filmen Berlin (an der dffb) und vor allem in zu, gruppiert sie in 13 unterschiedlich Mainz gelehrt und ist durch exzellente umfangreichen Kapiteln, die verschie- Bücher über Frederico Fellini (Frederico dene Erinnerungsformen behandeln. Fellini: Der Zauberspiegel seiner Filme. Koebner interessiert sich dabei für die München: edition text + kritik, 2010), „erzählerische Methode oder Technik, Ingmar Bergman (Ingmar Bergman: in Bildern zwischen den Zeiten zu Eine Wanderung durch das Werk. Mün- wechseln, Vergangenheit im Kontext chen: edition text + kritik, 2009), Edgar der Gegenwart sichtbar zu machen“ Reitz (Edgar Reitz: Chronist deutscher (S.11). Sehnsucht. Ditzingen: Reclam, 2015) Im ersten Kapitel „Was ist wirklich und das Schöne im Film (Die Schönen geschehen?“ hebt er die Brüchigkeit im Kino. München: edition text + kritik, der Erinnerungen am wohl bekann- 2012) hervorgetreten. Man muss neu- testen Beispiel des Erinnerungsfilms, erdings daran erinnern, dass die deut- an Rashōmon (1950), hervor, in dem sche Medienwissenschaft nicht erst, wie mehrere an einem Geschehen betei- manche meinen, durch Friedrich Kittler ligte Personen sich ganz unterschied- begründet wurde, sondern schon vorher lich an dieses erinnern: „Erinnerungen existierte und dass Koebner zu diesen sind Tiefenschürfungen in einem Gründern zählt. instabilen Gedächtnis“ (S.18), resü- 244 MEDIENwissenschaft 02/2023 miert der Autor. Es sind Filmklassi- (1996) reichen die Beispiele bis zu The ker wie Hiroshima, mon amour (1959), Sense of an Ending (2017). Dominant L’Année dernière à Marienbad (1961) ist die Trauer um eine verlorene Jugend und Smultronstället (Wilde Erdbeeren, und ein nicht wieder rückholbares frü- 1957), in denen die Verschränkung heres Leben. Oft stellt Koebner – auch von Vergangenheit und Gegenwart in den anderen Kapiteln – Fragen nach eine Rolle spielt und die Koebner subtil der Stimmigkeit erzählerischer Kon- und zugleich wortmächtig ausleuchtet. stellationen, nach Motivationen des Immer wieder zieht er auch Parallelen Handelns der filmischen Figuren, ohne zu Erzählkonstruktionen in der Litera- sie wirklich beantworten zu können, tur und anderen Filmen, die nur kurz und verweist damit auf die Besonder- angesprochen werden. heit und Eigenart des Erinnerns, die Ein größeres Kapitel beschäftigt eben nicht durch rationale oder auch sich mit Filmen, in denen die Figuren nur plausible Erzählkonstruktionen von ihren Erinnerungen an die KZ- bestimmt ist. Erinnern im Film ist sehr Aufenthalte während ihrer Jugend häufig ein Erinnern aus Kindheit und bis in die Gegenwart hinein verfolgt Jugend – einer Zeit, in der die Möglich- werden und an denen sie oft zerbre- keiten des Lebens noch offen sind oder chen und nicht mehr fähig zu einem in der die Eigenart und Besonderheit erfüllten Leben sind. Filme wie Der eines glücklichen Lebens sich in der Pfandleiher (1964), Sophie’s Choice Erinnerung von einer späteren Zeit der (1982), Kaddisch nach einem Lebenden erlebten Brüche und Enttäuschungen (1969) und andere stellen einen Kom- abhebt. Ähnliches lässt sich im Kom- plex der filmischen Auseinanderset- plex der Familiengeschichte (Kapitel zung mit den Verbrechen der Nazizeit „Familienalben“) erkennen, in denen dar, der weit darüber hinaus die Ver- Familienherkunft und die Kindheit wie schränkung von Vergangenheit und in Radio Days (1987) oder in Cinema Gegenwart im neueren Kinospielfilm Paradiso (1988) thematisiert werden. und Fernsehfilm geprägt hat. Koebner Am Ende des Buches stehen wie- thematisiert keinen Film aus der Zeit der Filmklassiker wie Citizen Kane von 1945, obwohl es auch damals (1941), in denen es um das Trauma sicherlich schon die Vergangenheits- einer geraubten Kindheit geht, die sich thematisierung im Film gegeben hat. im Kinderschlitten namens ‚Rosebud‘ Ganz offensichtlich ist aber die Breite manifestiert, sowie in ‚Amarcord‘ der Thematisierung von Erinnerungen mit den Bildern des vorbeifahrenden im Film ein Aspekt des modernen erleuchteten Ozeandampfers, der für Films. die Sehnsüchte der vergangenen Zeit Ein weiterer Komplex handelt steht. Melancholie bestimmt nicht nur davon, wie eine übermächtige Liebe die – immer lebendig und mitfühlend in der Vergangenheit in die filmische erzählten – Filmgeschichten, sondern Gegenwart hineinreicht. Von Paris, auch Koebners Sicht auf die Filme. Texas (1984) und The English Patient Denn die Beschäftigung mit den Mediengeschichten 245 Filmen ist auch Teil des Lebens des bindungen zu anderen, nicht aus- Autors, und sich an sie zu erinnern, ist führlich behandelten Filmen und wahrscheinlich auch ein Erinnern an zur Literatur. Das Buch wird so zu das eigene Leben. einem berührenden und zugleich Koebner liefert mit seinem ‚Ver- informativen Lektüreerlebnis, auch such ‘ eine kleine Geschichte des wenn man einzelne Filme nicht gese- modernen Films unter dem spezi- hen hat. fischen Aspekt des Erinnerns, immer mit vielen Verweisen und Querver- Knut Hickethier (Berlin/Hamburg) Manfred Krug: Ich bin zu zart für diese Welt: Tagebücher 1998-1999 Berlin: Kanon 2023, 303 S., ISBN 9783985680238, EUR 24,- Mit dem vorliegenden Buch Ich bin zu Schauspieler in seinen Tagebüchern zart für diese Welt präsentiert der Ber- 1998 und 1999 fast wie verwandelt. Der liner Kanon Verlag den Nachfolgeband Schlaganfall aus dem Jahr 1996 macht zu den 2022 erschienenen Tagebüchern ihm noch zu schaffen und zwingt ihn, (1996-1997) des 2016 verstorbenen einen Gang in seinem bis dato tur- Schauspielers Manfred Krug. Genau bulenten Leben herunterzuschalten. wie schon beim ersten Band ist wie- Während sich Krug mit dieser Situa- der Krista Maria Schädlich, eine enge tion jedoch schnell abfindet – es schafft, Vertraute, mit der Herausgabe betraut sein Leben fast wie früher weiterzule- und präsentiert auch hier wieder einen ben, und an manchen Stellen blitzt bewusst unzensierten und nicht redi- sogar immer wieder der alte Charmeur gierten Krug. auf –, lässt ihn hingegen der Tod sei- Der Titel des zweiten Buches macht nes besten Freundes Jurek Becker im schon deutlich, dass sich hier ein völ- März 1997 nicht mehr los. So begegnet lig anderer Krug präsentiert als im Krug seinem ehemaligen Weggefährten Vorgängerbuch Ich sammle mein Leben immer wieder in seinen plastischen und zusammen. Anders als der unverblümte, surreal anmutenden Träumen, die der schnoddrige, besserwisserische und Schauspieler minutiös in seinen Tage- stellenweise fast schon arrogant anmu- büchern beschreibt. Es sind vor allem tende Krug aus den Tagebüchern von diese nächtlichen Begegnungen, die 1996 und 1997 wirkt der gefeierte Krug nicht nur nachdenklich stimmen, 246 MEDIENwissenschaft 02/2023 sondern auch immer wieder an seine Ruhe, Gerhard Schröder wird zum eigene Sterblichkeit erinnern. Kanzler gewählt, und Putin kommt an Genau wie im ersten Buch spielt die Macht. All das stimmt Krug immer sich das Leben Krugs zwischen zwei wieder nachdenklich und überdrüs- Welten ab: auf der einen Seite das sig gegenüber einer Menschheit, die Leben mit seiner Ehefrau Ottilie, mit eigentlich nicht aus ihren Fehlern zu der er während des Tages zusammen lernen scheint. Dieser persönliche und ist, und auf der anderen Seite das irgendwie auch berührende Blick auf Leben mit seiner Partnerin Petra, mit die Welt verzeiht sogar, dass Schädlich der der Mime die dreijährige Toch- Krug in ihrem Nachwort im Zusam- ter Marlene hat und vor allem die menhang im Putin (und dem Ukraine- Abende verbringt. Überhaupt nimmt Krieg) fast schon prophetische Züge die kleine Marlene in Krugs Leben nachsagt, obwohl Krug nur ein guter nunmehr einen sehr prominenten Beobachter war, der wusste, wie Auto- Platz ein. Immer wieder schwärmt er kratien entstehen. von ihr, ihrer Entwicklung und der Zusammenfassend lässt sich sagen, Zeit mit ihr, die ihm das Älterwerden dass das Buch Ich bin zu zart für diese erleichtert und an manchen Stellen im Welt: Tagebücher 1998-1999 einen Buch wie eine kurze Verjüngungskur lesenswerten Kontrast zum ersten wirkt. Buch bietet, der sich obendrein noch Abgesehen von diesen Verände- gut und leicht liest – jedoch nicht rungen unterscheidet sich das zweite nur wegen der anderen und teils auch Buch vom ersten besonders in seiner entspannten Schreibweise, sondern Schreibweise. War das Leben von vor allem weil es eine Seite von Krug Krug im vorherigen Buch noch durch zeigt, die im ersten Buch durch den vor die Veröffentlichung seines Bestsel- Selbstbewusstsein strotzenden Schau- lers Abgehauen (Düsseldorf: ECON, spieler gar nicht zum Vorschein kom- 1996) und die noch vor allem gedank- men konnte. Irgendwie fehl am Platz lich bestehenden Verbindungen zur wirkt da aber doch das ungewöhnlich DDR geprägt, präsentieren sich die lange und vor allem erklärende Nach- neuen Tagebücher nun als ein aus- wort Schädlichs, das immer wieder schließlich bundesrepublikanisches versucht, gerade die zeithistorischen Zeitdokument. Neben seinen Gedan- Einträge Krugs zu untermauern und ken zu den Dreharbeiten für seine aus zu erklären. Dabei brauchen die Ein- heutiger Sicht teils skurril wirkenden träge gar keine Erklärung, denn durch Telekom-Werbespots bringt Krug nun ihre Zerbrechlichkeit und Offenheit auch immer wieder seine Gedanken zu sprechen und wirken sie sehr gut für Geschehnissen in Deutschland und in sich alleine. der Welt zu Papier: Der Balkan kommt wegen des Kosovo-Krieges nicht zur Dennis Basaldella (Berlin) Mediengeschichten 247 Mediengeschichten: Wiedergelesen Jacques Derrida: Die Todesstrafe II: Seminar 2000-2001 Wien: Passagen 2020, ISBN 9783709204047, EUR 49,99 Das vorliegende Buch, das seit 2020 wesentlich: „Man kann die Todesstrafe in einer digitalen aber bisher nicht einsetzen, um den Mord zu verbieten, in einer gedruckten Version vorliegt, aber kann eine Todesstrafe das Begeh- stellt den zweiten Teil eines insgesamt ren des Mordes verbieten?“ (S.27). Das zweijährigen Seminars Jacques Derri- Begehren ist verknüpft mit dem pri- das über die Todesstrafe dar (vgl. auch vaten Raum, der durch den Akt einer Die Todesstrafe I: Seminar 1999-2000. Tat erst ins Licht der Öffentlichkeit Wien: Passagen, 2018). Der Skandal tritt und damit kann die Tat auch hier in der Geistesgeschichte besteht darin, erst bestraft werden. Diese beiden dass es annähernd keinen Philosophen Räume gilt es zu unterscheiden. Der gegeben hat, der diese Strafform abge- private Raum ist allerdings belegt mit lehnt hat. Derrida versucht zu zeigen, einer natürlichen inneren Schuld, der wie die Todesstrafe gerechtfertigt äußere öffentliche Raum wird gesi- wurde und welche maßgeblichen chert durch die Justiz. politischen Implikationen sie für das Nach Derrida hat Walter B enjamin gesamte Rechtssystem beinhaltet. mit seinem berühmten Aufsatz „Zur In diesem zweiten Teil wird die Kritik der Gewalt“ (1920-21) einen Ausrichtung des Seminars neu fokus- wesentlichen Beitrag zu dieser Dis- siert, wobei der Begriff des Begehrens kussion geleistet (In: ders.: Zur Kritik in Bezug auf ein Verbrechen und des- der Gewalt und andere Aufsätze. Frank- sen Bestrafung nun erstmals genauer furt: Suhrkamp, 1965, S.29-65). Der- analysiert wird. Eine Grundfrage lau- rida hatte in seinem Text Gesetzeskraft: tet: „Was ist ein Begehren?“ (S.22). Der „mystische Grund der Autorität“ Dabei wird rasch deutlich, dass das (Frankfurt: Suhrkamp, 1991) bereits Begehren im Gegensatz zur verbre- eine ausführliche Interpretation die- cherischen Tat niemals von einem ses theologisch-anarchistischen Textes Gesetz verboten worden ist. Die Tat geleistet. In seinem Seminar hebt er wird durch die Macht eines Souveräns nun die Pointe hervor, dass Benjamin bestraft, das Begehren jedoch nicht die juristische Dimension mit einem (vgl. S.26). Dieser Unterschied ist Gewaltmonopol identif iziert. Der 248 MEDIENwissenschaft 02/2023 Verbrecher fordert dieses Gewaltmo- film Tod in Texas (2011) von Werner nopol durch seine Tat heraus, weil Herzog an, wird die doppelte Bewe- er sich damit selbst zum Souverän gung deutlich, in der der Film erzählt. erklärt. Die Hinrichtung des großen Denn einerseits werden die Morde des Verbrechers besteht nach Derrida in im Todestrakt sitzenden Delinquenten der Darbietung des Staates, die Unter- Michael Perry als verabscheuenswür- legenheit des Verbrechers öffentlich dige Handlungen im Detail vorge- zur Schau zu stellen. Dabei wird dem führt, andererseits wird aber deutlich, großen Verbrecher, weil er das System dass die staatlich verordnete Tötung herausgefordert hat, stets vom Volk des Täters keine Lösung der Proble- Bewunderung entgegengebracht (vgl. matik darstellt. Das Gewaltmonopol S.75f.): „Er hat das höchste Verbrechen des Staates wird vehement infrage begangen, nämlich die Souveränität gestellt. Herzog rückt jedoch nicht die des Gesetzes absolut, womöglich auch politische Ebene in den Vordergrund, noch souverän, zu überschreiten: Nicht sondern führt – wie in vielen seiner dieses oder jenes Gesetz zu übertreten, Filme – ein existenzielles Drama sondern das Gesetz der Gesetze, das vor. Der Regisseur, der Mörder, die heißt das Prinzip selbst des Rechts, Hinterbliebenen, der kirchliche Seel- das dem Recht das Recht gibt, die sorger und ein ehemaliger Leiter des Gewalt zu monopolisieren“ (S.80). Hinrichtungskommandos sprechen Er wird öffentlich gefürchtet, aber sich alle gegen die Todesstrafe aus. heimlich und unbewusst bewundert Dass Herzog diese Strafform sodann für seine Überschreitung. Die Todes- mit dem Zorn Gottes und dem Alten strafe ist für Benjamin laut Derrida ein Testament, also der jüdischen Reli- Rechtsakt, in dem sich das Recht neu gion identifiziert, zeigt jedoch auch definiert: Weil das Recht auf Gewalt die wenig reflektierte Haltung des basiert und diese auszuüben für sich Regisseurs. allein in Anspruch nimmt, erfindet es In dem iranischen Spielf ilm durch diese Art von Strafvollzug sich Sheytan vojud nadarad (Doch das Böse selbst gleichsam jedes Mal neu (S.79). gibt es nicht, 2020) von Mohammad Der große Verbrecher, wenn man ihn Rasulof wird spürbar, wie die Aus- als einen Systemsprenger begreift, übung der Todesstrafe zum festen verkörpert demnach ein durchaus Bestandteil der iranischen Kultur naheliegendes privates Begehren, geworden ist. Der Film handelt ent- während er öffentlich durch seine Tat weder von der Weigerung, sie durch- zugleich zutiefst verabscheut wird. zuführen oder von der Verdrängung Die heimliche Bewunderung lässt sich der Verantwortung und der damit dem unbewussten Begehren zuord- einhergehenden Banalisierung der nen, während die Verurteilung zur Konsequenzen. Wiederum fehlt ein bewussten Ebene gehört. entscheidender Hintergrund: dass sie Wendet man diese Überlegungen häufig gegen politische Gegner einge- beispielsweise auf den Dokumentar- setzt wird, die gegen den Staat prote- Mediengeschichten 249 stieren und damit seine Machtposition unbewusstes menschliches Begehren infrage stellen. Beide Filme erfassen nach verbotener Gewalt, von dem damit die von Derrida gezeigte poli- Herzog einfach fasziniert und Rasulof tische Dimension dieser Strafform zumindest abgestoßen ist. unzureichend. Was aber noch gravie- render ist: Sie analysieren auch kein Andreas Jacke (Berlin) 250 MEDIENwissenschaft 02/2023 Autorinnen und Autoren Dennis Basaldella, Dr., studierte Filmregie malistischen Sonderformen seriellen in Rom und Europäische Medienwissen- Erzählens, sogenannten Bottle-Episo- schaft als Bachelor und Master an der den. Universität Potsdam; von 2014 bis 2020 Henning Engelke, PD Dr., forscht derzeit als Mitarbeiter und Leiter im Filmarchiv im Rahmen einer DFG-Heisenberg- des Filmmuseums Potsdam tätig und Stelle an der Philipps-Universität Mar- Mitarbeit im Forschungsprojekt „Regio- burg zu transdisziplinären Netzwerken nale Bilder auf Filmen (1950-1990)“ des Medienwissens; Forschungsschwer- zum DDR-Amateurfilm; seine Disser- punkte: ethnographischer Film, Expe- tation Ein Leben für den Film: Der freie rimentalfilm und Schnittstellen von Filmhersteller Horst Klein und das Film- Kunst-, Medien- und Wissenschafts- und Fernsehschaffen in der DDR (Mar- geschichte; neuere Buchpublikation: burg: Büchner, 2020) an der Universität Metaphern einer anderen Filmgeschichte: Hamburg wurde für den Willy-Haas- Amerikanischer Experimentalfilm 1940- Preis 2021 nominiert; Forschungs- und 1960 (Marburg: Schüren, 2018); aktuelle Arbeitsschwerpunkte: DDR, Filmge- Aufsätze: „Perception, Awareness, and schichte, Biografien. Film Practice: A Natural History of the Vera Cuntz-Leng, Dr., wissenschaftliche ‚Doris-Film‘.“ (In: McElvenny, James/ Mitarbeiterin am Institut für Medien- Ploder, Andrea [Hg.]: Holisms of Com- wissenschaft der Philipps-Universität munication. Berlin: Language Science Marburg und seit 2014 leitende Redak- Press, 2021, S.105-138); „Sol Worth, teurin der Zeitschrift MEDIENwis- Film Theory, and the Politics of the Bio- senschaft: Rezensionen | Reviews; davor Documentary.“ (In: Grey Room 89, 2022, zweijähriger Forschungsaufenthalt am S.42-77). Berkeley Center for New Media der UC Sven Grampp, Dr., Akademischer Rat am Berkeley; Promotion an der Eberhard Institut für Theater- und Medienwis- Karls Universität Tübingen zum Thema senschaft der Alexander-Friedrich-Uni- Harry Potter que(e)r: Eine Filmsaga im versität Nürnberg-Erlangen; Studium Spannungsfeld von Queer Reading, Slash- der Deutschen Literatur, Philosophie, Fandom und Fantasyfilmgenre (Bielefeld: Kunst- und Medienwissenschaft in Kon- transcript, 2015); Studium der Film- und stanz; Dissertation über den Buchdruck Theaterwissenschaft in Mainz, Wien in der Medientheorie (2008); Publika- und Marburg; Forschungsschwerpunkte: tionen (Auswahl): Marshall McLuhan: Fan Studies, Gender/Queer Studies, Eine Einführung (Konstanz: UVK/UTB, Fantastik. 2011), Picture Space Race (Berlin: Avinus, Eric Dewald, M.A., erstes Staatsexamen in 2015) und Medienwissenschaft (Konstanz: den Fächern Germanistik, Politik- und UVK/UTB, 2016); Forschungsschwer- Wirtschaftswissenschaften mit anschlie- punkte: Space Race, Fernsehen, Medien- ßendem Masterstudium im Bereich der theorie. Literatur- und Medienwissenschaften Iris Haist, Dr., freie Kuratorin und Auto- in Mannheim und Prag; seit März 2022 rin; Studium der Europäischen Kunst- Doktorand an der Universität des Saar- geschichte, Klassischen Archäologie und landes; Dissertationsprojekt zu mini- Religionswissenschaft in Heidelberg und Autorinnen und Autoren 251 Cassino; Dissertation zum Thema Opere an psychoanalytischen Instituten und fatte di scultura da Pietro Bracci – Skulptur Filmhochschulen; arbeitet zurzeit an im Kontext des römischen Settecento (Bern: der Publikation seines ersten Romans Onlinepublikation, 2017); Forschungs- #MeToo 1888, einem feministischen schwerpunkte: Bildhauerei des 18. bis 20. Sherlock-Holmes-Krimi über Friedrich Jahrhunderts in Italien, Frankreich und Nietzsche. Deutschland, Comicforschung: Super- Martin Janda, M.A., Studium der Medien- heldinnen. wissenschaft und Psychologie an der Knut Hickethier, Prof. Dr. em., Studium Philipps-Universität Marburg; For- der Kunsterziehung an der HdK Berlin; schungsinteressen: Darstellungen künst- Studium der Germanistik und Erzie- licher Intelligenzen/Menschen, Game hungswissenschaft an der TU Berlin; Studies, Medienpsychologie. Promotion in Berlin und Habilitation Tina Kaiser, Dr., Studium der Kultur-, in Osnabrück; ab 1994 Professor für Film- und Kunstwissenschaft in Lüne- Medien und Kommunikation an der Uni- burg und Berlin; Arbeiten als Autorin, versität Hamburg; Forschungsschwer- Dozentin, Herausgeberin sowie als Film- punkte: Film- und Fernsehanalyse, dramaturgin; Promotion mit der Arbeit Programmgeschichte und -theorie des Aufnahmen der Durchquerung: Das Tran- Fernsehens, Filmgeschichte und Film- sitorische im Film (Bielefeld: transcript, theorie, Fernsehspiel, Fernsehserie, Kin- 2015); 2012-2016 Mitglied im DFG- dersendungen, Nachrichtensendungen, Forschungsnetzwerk „Filmstil“; seit Sportsendungen und andere Genres, 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Theorie und Geschichte der Medienwis- Film- und Medienwissenschaft sowie senschaft, Film- und Fernsehkritik. Filmpraxis am Institut für Medien- Jan-Christopher Horak, Dr. phil., Lehr- wissenschaft der Philipps-Universität beauftragter Film Studies, Chapman Marburg sowie Initiatorin und Lei- University; ehemaliger Leiter mehre- terin der Veranstaltungsreihe „Doing rer internationaler Filmarchive und Audio-Visual Media“; seit 2022 zudem Professor der UCLA (in Ruhestand); Koordinatorin für Medienpraxis und Promotion der Universität Münster; -vermittlung an der Philipps-Universität Veröffentlichungen zum Exil-Film, Saul Marburg; seit 2023 Vorstandsmitglied Bass, L.A. Rebellion, Film-Avantgarde; der hessischen Film- und Medienaka- Ehrenpreis des Kinemathekenverbundes. demie; aktuelles Forschungsprojekt: Andreas Jacke, Dr. phil., freiberuflicher Witterungsverhältnisse: Die Arbeit am Filmwissenschaftler; Autor von zehn Audiovisuellen aus der Perspektive der Monografien über Marilyn Monroe, Filmdramaturgie (AT), in Kooperation Stanley Kubrick, Roman Polanski, David mit AG EcoMedia (Universität Pots- Bowie, James Bond, Sherlock Holmes, dam) und FFRN Film Festival Research einer Filmtheorie mit Walter Benjamin, Network (ASCA Amsterdam/Universi- einem Dialog zwischen Lars von Trier tät Potsdam). und Jaques Derrida und einer aktuellen Eric Karstens, M.A., selbständiger Bera- Publikation über vier feministische ter, Analyst und Publizist mit den Filmregisseurinnen (Écriture féminine Schwerpunkten Medienmanagement, im internationalen Film: Margarethe von Content-Entwicklung, Strategie und Trotta, Claire Denis, Chantal Akerman Medienpolitik; neben deutschen und und Sofia Coppola. Gießen: Psychoso- internationalen Medienunternehmen zial-Verlag, 2022); zahlreiche Vorträge aus dem privaten und öffentlich-recht- 252 MEDIENwissenschaft 02/2023 lichen Sektor arbeitet er auch für das Rolf Löchel, freier Autor; schreibt seit 1999 European Journalism Centre (EJC); war für das Rezensionsforum l iteraturkritik.de; langjähriger Leiter der VOX-Programm- weitere Veröffentlichungen in wissen- planung; Publikationen (Auswahl): schaftlichen Sammelbänden, Lexika, Praxishandbuch Fernsehen (Wiesbaden: Jahrbüchern und anderen Periodika unter Springer VS, 2010). anderem zu Geschlecht und Emotionen Karina Kirsten, Dr., wissenschaftliche bei Immanuel Kant, Mutter/Tochter- Koordinatorin am DFG-Sonderfor- Beziehungen in Werken expressionis- schungsbereich 1187 „Medien der Koope- tischer Schriftstellerinnen, Geschichte ration“ an der Universität Siegen; Studium der Frauenbewegung, feministischer der Film- und Medienwissenschaft in Science Fiction sowie Gender in fiktio- Marburg und Paris; promovierte 2020 nalen Filmen und Fernsehserien; Publi- mit einer genrehistorischen Arbeit an kationen (Auswahl): Utopias Geschlechter: der Philipps-Universität Marburg (Gen- Gender in deutschsprachiger Science Fiction resignaturen: Diskurshistorische Perspekti- von Frauen (Sulzbach: Ulrike Helmer ven auf das Psycho-Universum von 1960 Verlag, 2012); Forschungsschwerpunkte: bis 2017. Wiesbaden: Springer, 2022); Geschlecht in Literatur, Film und Phi- Forschungsinteressen: Genreforschung, losophie, Literatur deutschsprachiger mobile Medien und alpiner Bergsport. Autorinnen um 1900 sowie feministische Julian Körner, M.Ed., Doktorand im Fach- Science Fiction. bereich Sprach- und Literaturwissen- Barbara von der Lühe, apl. Professorin schaften an der Universität Bremen; am Lehrstuhl für Deutsch als Fremd- Lehramtsstudium in Bremen; Disserta- und Fachsprache der TU Berlin, For- tionsprojekt zum Stand der schulischen schungsschwerpunkte: Interkulturelle Filmbildung. Filmanalyse, Mediendidaktik, Litera- Alexander Kroll, Dr., Medien- und Lite- turverfilmungen, Filmgeschichte. raturwissenschaftler und Medienschaf- Gerrit Lungershausen, Dr. phil., Lehrbe- fender; bisher u.a. wissenschaftlicher auftragter am Department of Humanities Mitarbeiter am Fachbereich Literatur-, der TU Hamburg-Harburg und Fachbe- Kunst- und Medienwissenschaften an reichsleiter für Kultur an der vhs Main- der Universität Konstanz sowie Mitar- Taunus-Kreis; Mitherausgeber des Kieler beiter bei Print-/Online-Redaktionen eJournals CLOSURE; Publikationen und TV-/Film-Produktionen; Studium (Auswahl): Actionkino: Moderne Klassi- der Theater-, Film- und Medienwissen- ker des populären Films (Berlin: Bertz + schaft und Germanistik in Frankfurt am Fischer, 2014, Hg. zus. mit Ingo Irsig- Main und London; Promotion an der TU ler und Willem Strank), Spiel, Satz und Darmstadt zum Thema TV-Serienästhetik Sieg: 10 Jahre Deutscher Buchpreis (Berlin: der Grenzüberschreitung (Würzburg: Berlin UP, 2014, Hg. zus. mit Ingo Irsig- Königshausen & Neumann, 2019). ler), Walter Moers’ Zamonien-Romane: Hans-Dieter Kübler, Dr. rer. soc., Professor Vermessungen eines fiktionalen Kontinents für Publikations-, Medien- und Sozial- (Göttingen: v&r unipress, 2011, Hg.), wissenschaften an der Hochschule für Weltkrieg mit Worten: Kriegsprosa im Drit- angewandte Wissenschaften Hamburg, ten Reich 1933 bis 1940 (Wiesbaden: J.B. Fakultät für Design, Medien, Informa- Metzler, 2016, zugl. Dissertation). tion, Department Information; Veröf- Kai Matuszkiewicz, Dr., wissenschaft- fentlichungen zur Medienwissenschaft, licher Mitarbeiter und Koordinator -kultur, -geschichte und -pädagogik. des medienwissenschaftlichen Open- Autorinnen und Autoren 253 Access-Fachrepositoriums media/rep/ im Vergleich, großes Erzählen in Serien, am Institut für Medienwissenschaft der Lyrik der Gegenwart. Philipps-Universität Marburg; Studium Kevin Pauliks, M.A., wissenschaftlicher der Germanistik, Geschichte und Päda- Mitarbeiter im DFG-Schwerpunkt- gogik in Göttingen; Dissertation zum programm „Das digitale Bild“ an der interaktiven Erzählen in digitalen Spie- Philipps-Universität Marburg; zuvor len (Zwischen Interaktion und Narration: Mitarbeiter an der Bergischen Universität Die Heldenreise in digitalen Spielen als Wuppertal am Lehrstuhl für Allgemeine Handlungs- und Erzählstruktur. Glück- Soziologie; Studium der Medienwissen- stadt: Hülsbusch, 2019); Forschungs- schaft und Soziologie an der Philipps- schwerpunkte: Game Studies, Open Universität Marburg; Dissertation zum Science, Medienproduktion und -rezep- Meme Marketing in Social Media. tion, Mediendidaktik, Medien- und Kul- Sebastian Reinhard Richter, M.A., freier turtheorie. Regisseur und Dramaturg; Studium Jannik Müller, M.A., wissenschaftlicher der Medienphilosophie, Musikwissen- Mitarbeiter an der Professur Medien- schaft und Komparatistik in Mainz und wissenschaft und Mediendidaktik der Musiktheaterregie in Hamburg; Magi- Universität Osnabrück; Studium der sterarbeit über Deleuzes Zeitphilosophie; Medienwissenschaft, Medienkultur und Forschungsschwerpunkte: Medienäs- Geschichte in Siegen; Dissertationspro- thetik, -theorie und -philosophie, Raum jekt zur Hybridisierung von Realismus und Zeit, Installationen, Transmediales und Cartoonästhetik im Computerani- Erzählen und Erleben. mationsfilm; Forschungsschwerpunkte: Timo Rouget, Dr., wissenschaftlicher Mit- Animationsästhetik, Filmästhetik, arbeiter am Institut für deutsche Lite- Filmgeschichte. ratur und ihrer Didaktik an der Johann Elisabeth K. Paefgen, Dr., Professorin Wolfgang von Goethe-Universität Frank- (a.D.) für Didaktik der deutschen Spra- furt am Main; Dissertation zu Filmische che und Literatur im Institut für Deut- Leseszenen: Ausdruck und Wahrnehmung sche und Niederländische Philologie an ästhetischer Erfahrung (Boston/Berlin: der Freien Universität Berlin; Studium De Gruyter, 2021); aktuelle Publikati- der Germanistik und Politikwissen- onen (Auswahl): „Film in allen Schulfä- schaft an der Freien Universität Berlin; chern! Eine alternative Sichtweise auf die Dissertation zum Thema Der ‚Echter- Media lität des Spielfilms“ (In: Medien- meyer‘ (1836-1981): Eine Gedichtantho- impulse 60 [2], 2022), „Webvideos als logie für den Gebrauch in höheren Schulen Gegenstand des Deutschunterrichts“ (In: (Frankfurt: Lang, 1990); Publikationen: Der Deutschunterricht 3, 2020, S.72-81); Wahlverwandte: Filmische und literarische Herausgeber (zus. mit Nicole Mattern) Erzählungen im Dialog (Berlin: Bertz + von Der große Crash: Wirtschaftskrisen in Fischer, 2009), Film und Literatur der Literatur und Film (Würzburg: Königs- 1970er Jahre: Eine Studie zu Annähe- hausen & Neumann, 2016). rung und Wandel zweier Künste (Biele- Evelyn Runge, Dr. phil., leitet seit April 2020 feld: transcript, 2016), zus. mit Hans Projekte zum digitalen Bild am Institut Harald Brittnacher (Hg.): Im Blick des für Medienkultur und Theater der Uni- Philologen: Literaturwissenschaftler lesen versität zu Köln (DFG Projektnummer Fernsehserien (München: edition text + 421462167, DFG-Schwerpunktprogramm kritik, 2020); Forschungsschwerpunkte: „Das digitale Bild“); zuvor BMBF-For- Filmisches und literarisches Erzählen schungsstipendiatin der Martin Buber 254 MEDIENwissenschaft 02/2023 Society of Fellows in the Humanities and Menschen mit Autismus und Konzepte Social Sciences an der Hebrew University der Mediatisierung. of Jerusalem in Israel (2015-2019) sowie Susanne Schwertfeger, Dr., wissen- des CAIS Center for Advanced Internet schaftliche Mitarbeiterin im Institut Studies in Bochum (2019/20); Veröffentli- für Kunstgeschichte an der Christian- chungen: Glamour des Elends: Ethik, Ästhe- Albrechts-Universität zu Kiel; Dis- tik und Sozialkritik bei Sebastião Salgado sertation zum Trompe-l‘oeil in der und Jeff Wall (Köln: Böhlau, 2012) und u.a. holländischen Kunst des 17. Jahrhun- in Fotogeschichte, MEDIENwissenschaft: derts; Arbeit am Habilitationsprojekt Rezensionen | Reviews, Rundbrief Fotografie, zu den Illustrationen der Gothic Novel; visual-history.de, Zeithistorische Forschungen. Herausgeberin von CLOSURE e-Journal Christian Schicha, Prof. Dr. phil. habil., für Comicforschung; Forschungsschwer- Professor für Medienethik an der punkte: Kunst des 20. und 21. Jahr- Friedrich-Alexander Universität Erlan- hunderts, Malerei des niederländischen gen-Nürnberg; Studium der Kommuni- Barock, Fotografie, Text-Bild-Relationen, kationswissenschaft, Germanistik und Ästhetik des Comics, Kunst im öffentli- Philosophie an der Universität Essen; chen Raum in Schleswig-Holstein. Forschungsschwerpunkte: Medienethik Martin Siegler, Dr., wissenschaftlicher Mit- und Politische Kommunikation. arbeiter an der Professur für Medien- Wolfgang Schlott, Prof. Dr., Kultur- und philosophie der Bauhaus-Universität Literaturwissenschaftler, Publizist und Weimar; Studium der Filmwissenschaft Schriftsteller; apl. Professor der Universi- in Mainz (B.A.) und der Medienkul- tät Bremen; seit 2006 Präsident des Exil- turwissenschaft in Weimar (M.A.); PEN deutschsprachiger Länder. Promotion zum Thema SOS. Medien des Norbert M. Schmitz, Dr. phil., ist Professor Überlebens: Die existenzielle Bedeutung von für Ästhetik an der Muthesius–Kunst- Lebenszeichen in Notsituationen (Berlin: hochschule in Kiel und Kunst- und de Gruyter, im Erscheinen); Forschungs- Medienwissenschaftler; Lehrtätigkeiten schwerpunkte: Medien als Existenzbe- an Universitäten und Kunsthochschulen dingungen, Handlungsmacht der Dinge, in Wuppertal, Bochum, Linz, Salzburg Film- und Medienp hilosophie. und Zürich; Arbeit zu Fragen der Inter- Moritz Stock, wissenschaftlicher Mitar- medialität von bildender Kunst und Film, beiter im Arbeitsbereich Medien und Ikonologie der alten und neuen Medien, Kommunikation / Gender Media Stu- Diskursgeschichte des Kunstsystems und dies der Universität Siegen; Studium der Methodik der modernen Bildwissen- Soziologie, Sozialforschung und Psycho- schaft; Veröffentlichung u.a.: Kunst und logie in Jena und Bremen; promoviert Wissenschaft im Zeichen der Moderne (Wei- mit einer filmsoziologischen Arbeit zum mar: VDG, 1994). Filmgenre Coming-of-Age; Forschungs- Herbert Schwaab, Dr., lehrt als Akade- schwerpunkte: Jugendmedienforschung mischer Rat am Lehrstuhl für Medien- (Schwerpunkt: Jugend- und Coming-of- wissenschaft der Universität Regensburg; Age-Film), Medien- und Filmsoziologie, Sprecher der AG Fernsehgeschichte/ Fan- und Partizipationsforschung, Film- Television Studies der GfM (zusammen und Fernsehanalyse, Filmbildung. mit Dominik Maeder); Forschungs- Sebastian Stoppe, Dr., Referent für online- schwerpunkte: Filmphilosophie, Populär- bezogene Kommunikation am Landesin- kultur und der Begriff der Alltäglichkeit, stitut für Schulqualität und Lehrerbildung Fernsehen und Sitcom, die Kunst von Sachsen-Anhalt in Halle (Saale); Studium Autorinnen und Autoren 255 der Kommunikations- und Medienwis- KONRAD WOLF und zusammen senschaft, Politikwissenschaft sowie mit Hermann Kappelhoff Sprecher der Mittlere und Neuere Geschichte an der Kolleg-Forschungsgruppe „Cinepoetics - Universität Leipzig; Promotion an der Poetologien audiovisueller Bilder“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wit- Freien Universität Berlin; zuletzt erschie- tenberg; Publikationen (Auswahl): Is Star nen: Pictorial Affects, Senses of Rupture: On Trek Utopia?: Investigating a Perfect Future the Poetics and Culture of Popular German (Jefferson: McFarland, 2022), Hercule Cinema, 1910-1930 (Berlin/Boston: De Poirot trifft Miss Marple: Agatha Christie Gruyter, 2019). intermedial (Darmstadt: Büchner, 2016), Monika Weiß, Dr., wissenschaftliche Mitar- Film in Concert: Film Scores and their Rela- beiterin (LfbA) am Institut für Medien- tion to Classical Concert Music (Glückstadt: wissenschaft der Philipps-Universität Werner Hülsbusch, 2014). Marburg; Studium der Medienwissen- Stefan Udelhofen, M.A., wissenschaftlicher schaft, Neueren Geschichte und Politik- Mitarbeiter am Bundesinstitut für Berufs- wissenschaft in Marburg; Dissertation zu bildung (BIBB) in Bonn; Studium der Living History: Zeitreisen(de) im Reality Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, TV (Marburg: Schüren, 2019); aktuelle Politikwissenschaft und Psychologie an Forschungsschwerpunkte: Medienkon- der Universität zu Köln; Forschungs- und vergenz (insb. Fernsehen, Videoplatt- Arbeitsschwerpunkte: Digitale Transfor- formen und Streamingdienste), (Klein-) mation von Arbeitswelten, Geschichte Kinder und Medien – Kindermedien und Geschichtsschreibung digitaler sowie Medien und Bildung. Medien und Kulturen, Medienindustrie- Hans J. Wulff, Dr. phil. em., Professor für und Produktionsforschung. Medienwissenschaft an der Christian- Michael Wedel, Dr. phil., Professor für Albrechts-Universität Kiel; Veröffentli- Mediengeschichte im digitalen Zeit- chungen zur Filmgeschichte, Filmtheorie, alter an der Filmuniversität Babelsberg Bibliografien.