379 X DIVERSES Jean-Pierre Dubost: Eros und Vernunft. Literatur der Libertinage.- Frankfurt/M.: Athenäum 1988, «8 S., DM 78,- [n seinem vieldiskutierten Buch zur kulturellen Situation der Postmo- derne "The Culture of Narcissism" hat Christopher Lasch unsere Zeit charakterisiert (u.a.) als eine, die strukturell bis in den persönlichsten Bereich hinein nur die Alternative zulasse: "genießen oder genos- sen werden". Als Indiz für die Richtigkeit dieser These kann man den Umstand werten, daß im Moment nicht nur Stephen Frears' Verfil- mung von Laclos' "Liaisons dangereuses" regen Publikumszuspruch findet, sondern demnächst sogar eine weitere von Milos Foreman nachfolgen soll. - Laclos ' Text exemplifiZiert Praxis und Ideologie des Bürgertums und der libertinen Aristokratie am Vorabend der französi- schen Revolution, indem er sie in ihrer kontroversen Haltung zueinander und in ihrer immanenten Widersprüchlichkeit zeigt. - Der Beobachtung Laschs zufolge scheinen, nachdem das Bürgertum als illegitimer Erbe der Französischen Revolution abgedankt hat, (wieder) libertinistische Prinzipien obsiegt zu haben. Tatsächlich hat jedenfalls - in etwa festzumachen am Umfeld der politischen Ereignisse des Jahres 1968 - in Frankreich eine intensive Auseinandersetzung mit der libertinen Denktradition eingesetzt. Sie lag auf der Hand in diesem Lande, weil sich dort aufgrund der politischen Konstellation von Adel und Bürgertum im Rahmen des Absolutismus eine langfristige Entwicklung ergeben hatte, die sowohl eine intensive Differenzierung des Gedankenkomplexes als auch eine umfassende Ansicht seiner Apo- rien ermöglichte. Der Herausarbeitung dieser [mplikation widmet sich Dubosts Buch, das aus der stark reduzierten Fassung seiner Habilita- tionsschrift "Textuelle Ökonomie der libertinen Literatur im Frank- reich des XVII. und XVIII. Jahrhunderts von L'Ecole de filles (r6SS) bis zum Werk des Marquis de Sade" (Ms. Stuttgart 1987) besteht. Dubosts Buch lokalisiert drei Phasen der literarischen Libertinage. Auf das "lustvolle, unschuldige Feuerwerk von Sprache, die die Texte von Rabelais und Piero Aretino kennzeichnet" (S. 33), sieht er - etwa ab der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts - eine zweite Phase folgen, die charakterisiert sei durch den Rückzug der libertinen Textualität auf kleine Genres: Chansons, Epigramme, einfache Sonette, Contes en vers, wie z.B. "La Muse folatre" (r6oo) und "Le cabinet satyrique" (r618) (vgI. S. 34). Die wichtigste Phase der Libertinage sei die dritte, die Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzte: "weil sie die komplexeste Interferenz bedeutet, insofern sie alle bishe- rigen Formen der libertinen Literatur wieder aufnimmt und sie in einen Kontext neu einschreibt, in dem sich zwei fundamentale Arten der modernen Simulation möglicher Welten begegnen und verschrän- ken: die Beschleunigung der narrativen Innovation einerseits (die Explosion der narrativen Formen durch die Vielfalt neuer Experimen- te, die Entstehung des bürgerlichen Romans etc.) und die Autono- miesierung ökonomischer und politischer Kategorisierungen anderer- seits" (S. 34). Am Ende dieser Phase stehe das Werk des Marquis de Sade. Seine Texte sieht Dubost als "Hypertext der libertinen Tradi- .... 380 tion", so daß man eigentlich von einer vierten Phase sprechen müßte, "falls die Texte von de Sade überhaupt als eine neue Phase der Libertinage betrachtet werden könnten" (S. 182). De Sade zeige die Vielfalt der aporetischen Momente des Libertinismus auf. So verliere der Libertin seine absolute Souveräntität des reinen Willens, weil er sein Begehren entweder an die autonome Gesetzmäßigkeit des Ver- standes delegiere oder das Begehren einschließlich der Notwendigkeit des Bösen aus der Natur begründe. Die Natur werde dabei als ziellose ('böse') Transformationskraft gesehen, die dem Souveränitätsprinzip wie dem moralischen Gesetz gegenüber gleichgültig sei (vgl. S. 217). Die absolute Befolgung der Natur mache damit deren Unzuverlässig- keit evident. Auf diese Weise werde für den Menschen ein Raum der Selbstbefragung sichtbar, der sich "nicht mehr in der hellen Sprache der Aufklärung, sondern nur noch in der rätselhaften Sprache der Literatur artikulieren kann" (S. 226). Dieser literatur-, kunst-, und mentalitätsgeschichtliche Befund Dubosts deckt sich mit Erkenntnissen in anderen Nationalliteraturen und Gesellschaftsbereichen, insbesondere im Zusammenhang der Ro- mantik-Forschung. Die Zeit um 1800 ist zu verstehen als eine, in der Kunst 'autonom' wird. Das heißt nicht, daß sie gesellschaftsunabhängig wurde, sondern daß entwicklungsgeschichtlich das Plateau erreicht wird, auf dem sie sich von externen, religiösen, moralischen, juristischen etc. Zwecksetzungen emanzipieren und aus den ihr eige- nen Möglichkeiten heraus begreifen kann. Gleichzeitig rückt sie in die Rolle des einzig authentischen Erkenntnismittels ein. Symptomatisch für diese Situation ist der eklektizistische Umgang mit Kunsttraditio- nen früherer Epochen. Genau das vollzieht de Sade im Hinblick auf den Libertinismus. So wie in diesem Falle liefert Dubosts Arbeit alles in allem valide Resultate, obwohl er weitgehend dem Immanentismus der Iibertinen Textreihe verhaftet bleibt. Im Hinblick auf die hedoni- stische Ausrichtung unserer Gegenwartsgesellschaft impliziert seine Arbeit die Folgerung, daß sie um den Preis massiver Persönlichkeits- deformationen geschieht und ebensowenig objektiv zu rechtfertigen ist wie das libertine Denken. Als bevorzugtes Mittel des Widerstands erscheint der durch künstlerische Kreativität zu besetzende Freiraum. Die Wahrscheinlichkeit, daß Dubosts Resultate allzuviele Adressaten erreichen werden, ist gering einzuschätzen. Werden die Ergebnisse doch mit den Mitteln einer Sprache und im Medium eines Denkansat- zes präsentiert, den vor einiger Zeit ein Kritiker (Klaus Laermann) mit "Lacancan und Derridada" apostrophiert hat. Er meinte damit das Jonglieren mit begrifflichen Setzungen seitens jener französischen Denker, die von "Diskurs, Ökonomie, Tausch, Schrift, Differenz, Kör- per etc." reden und damit von bestimmten geschichtlichen Verlaufs- figuren ausgehen, in denen sich dann die zu analysierenden einzelnen Texte ornamental hin-und herwinden dürfen. Ein Beispiel: "Als Objekt der Begierde, Gegenstand des Tauschs, Objekt des Tauschbegehrens, Austausch der Begierde durch die Vermittlung der Sätze, löst sich letzten Endes der Körper als Referent im Netz der Sätze auf." (S. 470 - Die relative Unzulänglichkeit des wissenschaftlich argumenta- tiven Textes war dem Autor offenbar wohlbewußt, so daß er ihn auf etwa die Hälfte des Buches beschränkte (ca. 230 S.). Dem ausführli- 381 chen Anmerkungsteil hierzu (80 S.) folgt ein Glossar der methodischen Terminologie (aus dem Repertoire der französischen strukturalen Textanalyse). Daran schließt sich die französische und deutsche Wie- dergabe wichtiger Passagen der libertinistischen Literatur sowie eine Bibligraphie der Iibertinen Texte des "Textkorpus im engeren Sinn" an. Angaben zur Sekundärliteratur finden sich im Anmerkungsteil. Durch- setzt ist der gesamte Text mit (wie man will: erotischen oder porno- graphischen) Illustrationen vor allem aus de Sades "Justine" sowie den "Memoires de Saturnin" und den "Memoires de Suzon", ohne daß ein Bezug zum Argumentationsverlauf des Buches erkennbar wäre. Es sei denn, daß dam it eine Spannung geschaffen und aufrechterhalten werden soll, die der Text besser in einem anderen Verständnis dieses Begriffs geleistet hätte. Hans-Ulrich Mohr