Marcel Behn [rezens.tfm] 2019/1 Rezension zu Timon Beyes/Jörg Metelmann (Hg.): Der Kreativitätskomplex. Ein Vademecum der Gegenwartsgesellschaft. Bielefeld: transcript 2018. ISBN: 978-3- 8376-4510-1. 278 S., € 24,99. von Marcel Behn "'Sei kreativ!'" (S. 23) – Dieser als Selbstverpflichtung zur Kreativität gesellschaftlich internalisierten Aufforderung widmet sich der von Timon Beyes und Jörg Metelmann herausgegebene Sammelband Der Kreativitätskomplex. Darin fragen 25 Autor_innen aus vornehmlich gegenwartsanalytischer Perspektive nach den phänomenalen Ausprägungen, sozialen Auswirkungen, inhärenten Widersprüchen und zukunftsweisenden Chancen eines als allgegenwärtig wahrgenommenen Kreativitätsimperativs. Ihr ge- meinsamer Referenzpunkt bildet dabei Andreas Reckwitz' kulturgeschichtliche Studie Die Erfindung der Kreativität (2012) – eine Studie, deren Kenntnis zwar nicht zwingende Voraussetzung für eine Obgleich – oder gerade weil – Reckwitz' historische gewinnbringende Lektüre der Aufsatzsammlung ist, Studie die zentrale intellektuelle Bezugsgröße des sich jedoch aufgrund stellenweise anspruchsvoller Bandes darstellt, wird sie kritischen Betrachtungen Bezugnahmen auf sie empfiehlt. Darin rekonstruiert unterzogen, die sich wiederum als produktiv für Reckwitz die Entstehungsbedingungen des gegenwartsbezogene Auseinandersetzungen mit dem Kreativitätsdispositivs der Moderne, deren Themenkomplex der Kreativität erweisen. Bereits in Folgeerscheinung und gegenwärtiger Kulminations- ihrer Einleitung deuten Beyes und Metelmann etwa punkt ebendieser Imperativ darstellt. Der auf den "enormen Argumentdruck" (S. 15) hin, den Sammelband ist als "theoretisches Handbuch für und Reckwitz erzeuge, wenn er einen für die Entwicklung reflexiver Leitfaden durch den Kreativitätskomplex" des Kreativitätsdispositivs ursächlichen sozio- (S. 11) konzipiert und umfasst 40 alphabetisch historischen "Affektmangel" (S. 15) der Moderne geordnete und untereinander verschlagwortete annehme. Zwar sei diese Annahme durchaus effektiv Lemmata. In der Form ein Abecedarium, im Gestus hinsichtlich ihrer Erklärungskraft, heterogene ein Vademecum, animiert der Band unaufdringlich Ausprägungen des gegenwärtigen Kreativitäts- zur interessegeleiteten, nicht linearen Lektüre der imperativs auf einen gemeinsamen historischen Einzelbeiträge und damit zur 'kreativen' Verknüpfung Ursprung zurückführen zu können. Jedoch sei dieses ihrer jeweiligen Reflexionsangebote. "'kompensatorisch[e]'" (S. 23) Narrativ auf be- grifflicher Ebene anfechtbar, wie Metelmann unter dem Lemma Affektkultur näher ausführt. Denn zum einen sei der von Reckwitz verwendete Affektbegriff Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2019/1; Veröffentlichungsdatum: 2019-05-15. Gesamte Ausgabe verfügbar unter: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2019-1 Marcel Behn [rezens.tfm] 2019/1 definitorisch zu unbestimmt, um die ihm Epiphänomen eines bereits entfalteten, sondern als zukommende "theoriestrategisch wichtige Position" medientechnische Bedingung eines künftigen (S. 20) voll erfüllen zu können. Und zum anderen 'Kreativitätsdispositivs' gedacht [worden], für das er basiere die von Reckwitz hergestellte Kausalität selbst die Bedingung gewesen sein [werde]" (S. 64). zwischen Affektmangel und Kreativitätsdispositiv auf Als Vorteil dieser Lesart weist Pias dabei die einem Missverständnis des foucaultschen Dispo- Möglichkeit aus, die Kreativität von heute "als sitivbegriffs als "Effekt eines auslösenden Grundes" (S. emergente[n] Effekt einer materiell zu gestaltenden 23). Interaktion zwischen Menschen und einem historisch neuen Maschinentypus" (S. 68) begreifen zu können. Diese These ist zweifelsohne faszinierend, ihre Umgekehrt kommt Sverre Raffnsøe in Dispositiv zur Begründung fesselnd. Problematisch ist sie jedoch Einschätzung, es handele sich bei Die Erfindung der insofern, als sie auf der Prämisse einer nicht näher Kreativität um eine etwas 'zu' gelungene Anwendung explizierten Differenz zwischen einem vergangenen des genealogischen Ansatzes Foucaults. Beispielhaft und einem künftigen Dispositiv basiert, mit der Pias sei nämlich nicht nur, dass Reckwitz das für die die Computerindustrie effektiv von jenem his- Dispositivanalyse operativ wichtige "Konzept der torischen Kreativitätsdispositiv abkoppelt, das Freiheit als eines wesentlichen Antriebs der Reckwitz untersucht, und sie so zu einem immanenten Dynamik des Dispositivs" (S. 84) autopoietischen System verklärt. Pias' Beitrag sitzt anerkenne, sondern "im Kontext des Kreativitäts- damit in gewisser Weise jener "rückwärtsgewandte[n] dispositivs geradezu als [...] Nukleus sozialer Logik" der Kreativität" (S. 192) auf, die Emmanuel Organisation" (S. 84) ernst nehme. Ironischerweise sei Alloa in Naturalisierung beschreibt: "Erst nachträglich es aber gerade diese methodologische Stringenz, die stellt sie vor Augen, was man immer schon hätte seine Studie angreifbar mache. Denn aufgrund der wissen müssen" (Herv. i. O., S. 192). konzeptuellen und phänomenalen Konvergenz von Freiheit als Drang (in Form der operativen Annahme der Dispositivanalyse) und Freiheit als Zwang (in Dass der Kreativitätsimperativ zuweilen auch Form des Kreativitätsimperativs als Untersuchungs- bedenklichere Effekte zeitigt als die innovative gegenstand) scheine seine Studie implizit einer Nutzung digitaler Technologien, führt Florian Schulz zirkulären Logik zu folgen: eindrücklich am Phänomen "Coaching" vor. Ausgehend von der Feststellung einer inzwischen "milliardenschweren Coaching-Industrie" (S. 58), "Was sich im Rückblick auf die historische deren Angebote zur Leistungsoptimierung sich zwar Entwicklung beobachten und nachweisen lässt, sind auf den "dienstleistungsorientierten Arbeitssektor" (S. Vorläufer und die Bestätigung einer unaufhörlichen 57) zu beschränken scheinen, deren Wirkungsmacht Durchsetzung [...] des Kreativen in der Gegenwart. jedoch viel grundsätzlicher darin bestehe, das Subjekt Gleichermaßen ist das, was in der Gegenwart zu permanenter kreativer "Selbsttransformation" (S. beobachtet und nachgewiesen kann [sic!], vor allem 63) zu disziplinieren, um sich als kapitalismus- die nicht hinterfragbare Bestätigung der zuge- kompatible Ressource vermarkten zu können, schriebenen Kreativität des Neuen, deren Entstehung zeichnet Schulz die Erfolgsgeschichte des Coachings in der Geschichte bezeugt und erfahren wurde." (S. 87) anhand einzelner historischer Stationen nach. Angesichts der dabei erkennbaren Verquickung von Leistungsdiskursen und psychologischen Motiva- Ähnlich zirkulär scheint indes auch Claus Pias in tionstheorien Ende der 1980er-Jahre, die sich bis heute Computer zu argumentieren. Darin vertritt er die verstetigt habe und das Subjekt zur systematischen medienhistorische These, der Personal Computer sei Selbstverbesserung aufrufe, warnt Schulz jedoch von der ihn entwickelnden Community "nicht als davor, dass die "unregulierte Anwendung von Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2019/1; Veröffentlichungsdatum: 2019-05-15. Gesamte Ausgabe verfügbar unter: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2019-1 Marcel Behn [rezens.tfm] 2019/1 Psychotherapie-Praktiken in der Arbeitswelt im Stadtentwicklung Barcelonas, deren "Kulturali- Rahmen des Coachings" (S. 63) nicht unerhebliche sierung" (S. 71) – d. h. ihre atmosphärische An- Gefahren für ebendieses Subjekt mit sich bringe: Etwa, reicherung durch spektakuläre Events oder wenn das "unqualifizierte Eindringen in die intimsten preisverdächtige Bauten – zu zahlreichen "affektiven Bereiche des menschlichen Seins zum Zweck der Spannungen" (S. 48) unter den Anwohner_innen Leistungssteigerung [...] als psychologische Grenz- geführt habe. Demgegenüber betonen die Ko-Autoren verletzung erlebt" werde und so "neue Formen von die Notwendigkeit einer Abkehr von den Zwängen etablier[t]" (S. 63) würden. "hochtrabenden Ansichten" (S. 74) konventioneller Stadtplanung mitsamt ihrer "überzogenen Er- wartungen" (S. 73) und fordern eine Rückbesinnung Unbedingt lesenswert sind die gemeinsam von auf die sich organismisch entfaltende Eigendynamik Christoph Michels und Chris Steyaert verfassten, sich von Städten. hervorragend ergänzenden Einträge "Atmosphäre" und "Creative Cities". Ersteren leiten sie mit der knappen These ein, Atmosphären seien als "Affekte Der Kreativitätskomplex führt gewandt durch die der Massen" (S. 44) zu begreifen: Nichts, so die Ko- facettenreiche Vielgestaltigkeit des Kreativitäts- Autoren, beeinflusse "unser emotionales Befinden und imperativs. Ob pointierte Kritik an dessen unsere persönliche Befindlichkeit" (S. 44) so sehr wie oxymoronischen Zielvorgaben (z. B. 'geplante Atmosphären, wie sie nur allzu anschaulich am Innovation' oder 'gezielte Kreativität'; vgl. die Artikel Beispiel einer täglichen Pendelfahrt im öffentlichen "Kreativitätstechniken", "Innovation"), humorvolle großstädtischen Nahverkehr demonstrieren. Gerade Schilderung seiner Absurditäten und obsessiven Züge weil dies so sei, befassten sich Architektur- und (etwa der Wahlmöglichkeit zwischen "566 Billiarden Stadtplanungsbüros mit der "Gestaltung des Müslivariationen", S. 146), denkwürdige Problema- affektiven Potenzials" (S. 46) urbaner Räume, um so tisierung seiner Konsequenzen für Individuum und maßgeschneiderte, atmosphärisch bekömmliche Gesellschaft (vgl. "Selbstgenerierung", "Schuld") oder Konfigurationen von Menschen, Dingen, Gebäuden selbstreflexive Anerkennung seiner Grenzen und und Landschaften zu erzeugen. Fragt sich nur – Potenziale (vgl. "Konsum", "Museum") – die bekömmlich für wen? Denn wo Städte von einer Perspektivenvielfalt der Beiträge, die Plastizität ihrer "gigantischen Beratungsmaschinerie" (S. 72) eine Beschreibungen und die Differenziertheit ihrer "permanente ästhetische Selbsterneuerung verordnet" Argumentationen geben einen eindrucksvollen (S. 71) bekämen und sich so die Gestaltung urbaner Einblick in die Komplexität der Kreativität. Atmosphären entweder zum Selbstzweck verselbständige oder nur Tourist_innen bediene, sei die Sozialverträglichkeit der implementierten Design- lösungen nicht immer gegeben. Dies verdeutlichen Michels und Steyaert in "Creative Cities" anhand der Autor/innen-Biografie Marcel Behn studierte in Erlangen und Bern Englische Literaturwissenschaft und Theater-/Tanzwissenschaft. Er ist Doktorand am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern und forscht dort im Rahmen des SNF- geförderten Forschungsprojekts Offene Manipulation. Figurentheater als Movens spartenübergreifender Theater-, Tanz- und Musiktheaterforschung zu Bühnenadaptionen von Heinrich von Kleists "Über das Marionettentheater". Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2019/1; Veröffentlichungsdatum: 2019-05-15. Gesamte Ausgabe verfügbar unter: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2019-1 Marcel Behn [rezens.tfm] 2019/1 Dieser Rezensionstext ist verfügbar unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0. Diese Lizenz gilt nicht für eingebundene Mediendaten. [rezens.tfm] erscheint halbjährlich als e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen und veröffentlicht Besprechungen fachrelevanter Neuerscheinungen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medien- und Kulturwissenschaft; ISSN 2072-2869. https://rezenstfm.univie.ac.at Diese Rezension ist erschienen in [rezens.tfm] 2019/1; Veröffentlichungsdatum: 2019-05-15. Gesamte Ausgabe verfügbar unter: https://rezenstfm.univie.ac.at/index.php/tfm/issue/view/2019-1