Rezension Heinz-Elmar Tenorth Alkemeyer, Thomas/Buschmann, Nikolaus/Etzemüller, Thomas (Hg.) (2019): Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld: transcript, 626 S., ISBN 978-3-8376-4134-9, 34,99 €. Open Access. © 2020 Heinz-Elmar Tenorth, published by Sciendo. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivatives 3.0 License 14 10.2478/kwg-2020-0075 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 13-18 *Heinz-Elmar Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, GERMANY, tenorth@hu-berlin.de Dieses Buch ist ein herausforderndes Werk – schon gegenwärtigen Zeitalters“ von 1805/06 erinnert. wegen der mehr als 600 Seiten und der sehr dis- Irritiert und inspiriert durch Fichte sucht man paraten 30 Beiträge. Es ist aber auch herausfor- dann bei seinen Nachfolgern (nicht Adepten!) dernd, weil zwar angekündigt wird, primär „Ver- nach neuen Perspektiven in der Diagnose der suchsanordnungen des Programms“, aber nicht Gegenwart: Fichte versprach z. B., methodisch, „weitere Gegenwartsdiagnosen zu präsentieren“, „ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen obwohl es sie dann doch in großer Fülle gibt. Der Zeitalters“.1 Die primär metaphorische Qualifizie- Band analysiert auch nicht, wie versprochen, rung der Methode gilt offenbar bis heute, denn primär „das ‚Making‘ der Diagnosen“. Das kommt Alkemeyer et al. schließen keine Praxis und Quelle natürlich vor, aber man bekommt in sieben Kapi- der Diagnose aus, schon gar nicht visuelle oder teln sehr viel mehr, eine erschöpfende Fülle an künstlerische. Aber sie haben dann nicht selten Denkanstößen und Material, Zeitphilosophie und Mühe, die jeweilige analytische Qualität der Quel- Reflexionen über „Gegenwart“ (Augustinus bis len und Referenzen auszuzeichnen oder die dazu Husserl, natürlich), Grundsatzüberlegungen zu passende Therapie zu zeigen, die doch mit Diag- den Formen und Möglichkeiten von Diagnose und nose immer verbunden sein soll, wie sie systema- Therapie, höchst diverse, aber immer unterhalt- tisch unterstellen. Seit Fichte vertraut ist auch die sam-belehrende Exempel diagnostischer Aktivitä- Basisoperation, dass eine Gegenwartsdiagnose ten, Praxeologisches und Soziologisches, Histori- „vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf sches und Aktuelles, bis hin zur Analyse „sozialer die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Prin- Aushandlungen auditiver Emissionen“ – und da cips zurückführt und wiederum aus dieser Einheit geht es schlicht um „Lärm“. Auch angesichts des jedes Mannigfaltige erschöpfend erklärt“, und sich hier und da nicht gemiedenen Jargons sehnt sich damit vom „blosse[n] Empiriker“ unterscheidet. der Leser nach einem Leitfaden, um das Empiri- Theorie muss auch heute sein, jetzt sind Soziolo- sche und das Theoretische verbinden zu können gen – statt der Philosophie – prominent präsent, und zu lernen, was Gegenwartsdiagnosen im als Beobachter erster wie zweiter Ordnung, aber Unterschied zu Gesellschafts- und Sozialtheorien Alternativen zu dieser Referenz werden erneut sind, und wie sie, besser oder schlechter, gemacht nicht systematisch diskutiert. Zeitbezogen geht werden, welchen Status dabei „Therapie“ und es natürlich um „unsere Gegenwart“ (Fichte), „Interventionen“ haben oder wie sich „Selbstprob- diese Referenz wird 1806 primär sozial qualifi- lematisierung“, Selbstbeschreibung und Selbstbe- ziert und, heute, als „janusköpfige Mittelstellung“ obachtung präzise unterscheiden. Register gibt es bezeichnet (Einleitung Alkemeyer et al.). Diese leider auch nicht, um die disparate Argumentation Verortung der Gegenwart eröffnet die „Selbstpro- systematisch oder personenbezogen nachzuver- blematisierung“ (2019) des Zeitalters, kühn und folgen. Philosophie könnte hilfreich sein. Hier und eigenständig, paradoxierend und Widersprüche da wird, erwartbar, Hegel mit seinem Diktum aus vereinend, früher wie aktuell. Heute kann man der Rechtsphilosophie bemüht, das Philosophie z. B. vom „Zeitalter des Idioten“2 lesen, das ist als „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ bestimmt. Aber schon die Lesart dieses Satzes ist kontrovers, ein 1 Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwär- neuer Hegel wird auch nicht präsentiert, allenfalls tigen Zeitalters. In: Johann Gottlieb Fichtes sämtliche viel disparate Sozialphilosophie und -theorie, kei- Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 238–254, hier Zitate neswegs konsensual rezipiert. aus der ersten Vorlesung. (Ich zitiere Fichte nach dem hand- Ein alter weißhaariger männlicher Geistes- lichen Zugang in http://www.zeno.org/nid/20009168826). wissenschaftler wie der Rezensent (um die Dia- 2 Zoran Terzić: Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten. Zürich 2020. Terzić erläutert im Übrigen seine gnose meiner Bemerkungen zu erleichtern), wird Diagnose als Analyse einer „Figur“, als die man den Idioten bei der Lektüre an die (im Band nicht präsenten) sehen könnte („Sozialfiguren“ werden bei Alkemeyer et al. Vorlesungen Fichtes über „Die Grundzüge des im Beitrag Schlechtriemen diskutiert, unterschieden von Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 15 so scharf und eindeutig wie bei Fichte, der sein des Neuen“, in Wissenschaften und Philosophie „Zeitalter“ als das dritte von fünf in der Gattungs- sonst nicht verfügbar. Wird die Frage nach der geschichte platziert, in der Spannung der über- Leistung, die Gegenwartsdiagnosen gesellschaft- wundenen und der zu erwartenden Zeitalter, des- lich, kulturell, lebensweltlich und wissenschaftlich halb im „Stand der vollendeten Sündhaftigkeit“. haben, seit sie „in der Moderne“ versucht wer- Es stelle zwar die „Epoche der Befreiung, unmit- den, quasi von Fichte bis Alkemeyer et al., jetzt telbar von der gebietenden Autorität, mittelbar positiv beantwortet? von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und In der „Einleitung“ der Herausgeber werden der Vernunft überhaupt“ dar, aber doch auch „das die wesentlichen Merkmale resümiert, die solchen Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Argumentationsformen zukommen, ihre diagnos- Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne tische Funktion, die eine Problematisierung der einigen Leitfaden“ (und das muss man ja nicht als jeweiligen Gegenwart ebenso einschließt wie Diagnose avant la lettre über die Geltung human- Therapie- und Interventionsangebote zur Abhilfe wissenschaftlicher Argumentation lesen). Natür- der Probleme. Der Band selbst thematisiert in den lich kennt er auch Therapie, gut alteuropäisch in ersten drei Abteilungen in 13 Beiträgen zuerst die „Verstand“ und „wahrer Religion“, zuversichtlich, systematischen Fragen: „Gegenwart als Objekt dass die Menschheit „ihre Verhältnisse mit Frei- der Diagnose“, das Zeitproblem (I), dann (II) heit nach der Vernunft“ einrichten wird. Aber das „Sehen und zu-Sehen-geben“, die methodischen gab zugleich den Anstoß, dass sich andere Diag- Ambitionen, und (III) „Soziologische Gegen- nosen an ihm reiben und die Sequenz der Diag- wartsdiagnostik“, den Bezug zu und die Abgren- nosen fortspinnen, die bis heute andauert. zung von vergleichbaren wissenschaftlichen Akti- Liefern Alkemeyer et al. mehr als die Iteration vitäten. Dann folgen drei Abteilungen und 17 einer Argumentationsfigur und eine hoch interes- Beiträge mit Exempla, für die (IV) „Historischen sante Zäsur in diesem kontinuierenden Prozess Formen“, für (V) „Felder des Diagnostischen“ und der „Diagnostizierung“? Was lernt man Neues? (VI) über „Medienwandel und Formenwandel des Zumal viel zitierte Beobachter der Gegenwarts- Diagnostischen“. Und es ist signifikant, dass hier oder Zeitdiagnose, wie Fran Osrecki oder Walter vom „Diagnostischen“, nicht von der „Gegen- Reese-Schäfer, mit eigenen Beiträgen beteiligt wartsdiagnose“ die Rede ist; denn der Rückbe- sind und der Band mit einem Text (von Frieder zug auf die eingangs eingeführten Merkmale ist Vogelmann) endet, in dem gegen die gängige Kri- weder immer gesucht noch durchgängig gegeben tik, in der die „Gegenwartsdiagnose“, die man als – ohne dass die Lesefreude darunter leidet. Am „unwissenschaftlich, unphilosophisch, unkritisch“ Ende stehen metatheoretische Bemerkungen, destruiert, jetzt über ihre genuinen Praktiken neu rhetorisch in einer Permutation eingeführt, „Dia- gerechtfertigt wird. „Isolieren, Generalisieren, gnose als Kritik – Kritik der Diagnose“, um höchst Signifizieren“, wie die apologetische Triade lautet, heterogene Referenzen zu bündeln. Neben der seien eine unentbehrliche Form der „Behandlung bereits erwähnten Apologie, die Gegenwartsdiag- nosen als „zeitdiagnostisches Wissen“ qualifiziert den „Gestalten“ der Moderne, diskutiert bei Etzemüller). (Vogelmann) – aber nicht (wie vorne bei Knob- Bei Terzić heißt es systematisch: „Diese Figur des besin- lauch) in präziser Unterscheidung von „Zeit-” nungslosen Wissens zieht sich durch die gesamte Kultur- und „Gegenwartsdiagnose“ – stehen Reflexionen, geschichte.“, und aktuell: „Ich würde sagen, Trump ist das in denen auch künstlerische Praktiken, u. a. der Paradebeispiel eines ‚neuen Idioten‘. Das ist ein Begriff von Popmusik, als Form von „Gegenwartskritik“ oder Gilles Deleuze, der diesen ‚neuen Idioten‘ von dem ‚alten Idioten‘, von dem ich gerade eben sprach, unterscheidet. „Gesellschaftskritik“ gelten, mit eher paradoxen Es ist ein neuer Typus, der das Absurde will, jemand, der Befunden, wenn sie als „(nicht-)diagnostische … wörtlich handelt, der eine Mauer will, der Bedeutung will, Gegenwartskritik“ (583) bezeichnet werden oder der das Beste will. Und wenn er es nicht kriegt, böse wird.“ als „Kreativitätsdispositiv“, das zeige, wie Gesell- (so Terzić in einem Rundfunkinterview, dokumentiert unter schaften durch Kritik und Protest lernen. Aber Bayrischer Rundfunk: Der gute und der böse Idiot - ein erneut ist nicht nur offen, was sie lernen, sondern Gespräch mit Zoran Terzić. 30.1.2020. https://www.br.de/ nachrichten/kultur/der-gute-und-der-boese-idiot-ein-ge- auch, wer denn hier wie lernt. spraech-mit-zoran-terzi,Rp3QNyh). Aber offene Forschungsfragen, wie sie hier entstehen, sind im Grunde, bilanziert man das 16 10.2478/kwg-2020-0075 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 13-18 Gesamtangebot, der erste Ertrag, den die Bei- über „Gestalten“ und ihre „Wahrnehmung, Visu- träge bieten. Der Forschungsbedarf wird auch alisierung und Intervention“, ohne die bekannten sowohl in den systematischen Texten als in epistemologischen Probleme der Gestaltpsycho- den Exempla sichtbar, und das ist ja nicht das logie seit Wertheimer und Koffka wirklich auflö- Schlechteste, was man von einem solchen Rea- sen zu können und ohne zu zeigen, ob und wie der erwarten darf. Die zeittheoretischen Fragen, z. B. die für ihn exemplarische „Gestalt“, der auch die eindeutige Bestimmung von „Gegen- „Arbeiter“ (von Ernst Jünger), lebensweltlich oder wart“, bleiben dabei in der multiplen Referenz, gar gesamtgesellschaftlich wirksam war. Betrach- in der sie auch ansonsten zwischen den Natur-, tet man die „Gestalt“, wie er es vorschlägt, als Geistes- und Sozialwissenschaften unversöhnt „Latentes in einer spezifischen Form“, handelt aufgeworfen werden. Augustinus ist dafür klas- man sich alle Probleme der Messung von laten- sisch, aber nur eine Stimme in diesem Konzert, ten Variablen ein und überzeugt meist doch nur von Soziologen gut unterscheidbar; nicht zufäl- literarisch-rhetorisch, wie sein Verweis auf Bart- lig kommt Luhmann immer wieder vor, weniger hes‘ „Mythen des Alltags“ auch schon zeigt. Auch schon die Historiker,3 gar nicht Einstein oder Haw- die Abgrenzung zur „Sozialfigur“ und zu deren king. Das ist aber kein Makel,4 sondern unver- „epistemischen und sozialen Funktionsweisen“ meidbar, wenn man sozial-kulturelle Praktiken im Beitrag von Tobias Schlechtriemen bleibt dis- untersucht, die sich in Diagnosen üben und ver- kussionsbedürftig, bis zu dessen These, solche festigen, dabei auch an Zukunft denken, „zur Figuren seien „nicht widerlegbar“ – sozial oder Schaffung sozialer Wirklichkeiten“ (16) beitragen epistemisch? Auch Verweise auf andere, z. B. und deshalb auch eigenständig „Chronoreferen- visuelle Quellen – von Atlanten bis zu Fotos – zen“ (Kreuzer) konstruieren. Wie sie das tun, das lassen die Wirkungsfrage ungelöst zurück. Alke- ist das interessante Problem, und das ist ohne meyer untersucht in seiner Abhandlung z. B. gar Methodenüberlegungen nicht zu klären. Exemp- nicht erst die Realität oder auch nur Bilder der larisch dafür ist Kap. (II) und vor allem der einlei- Olympischen Spiele als „Fest der Bürgerreligion“, tende Text von Etzemüller. Er bestimmt die Praxis sondern beschränkt sich auf eine Interpretation von Gegenwartsdiagnosen über die – höchst all- der einschlägigen Annahmen in den alten Papie- gemeine, erkenntnistheoretisch so vertraute wie ren des Barons de Coubertin. Auch Timo Luks triviale, weil notwendige, aber nicht hinreichende Plädoyer für „intervenierende Soziographie“ lebt – Praxis des „etwas als etwas sichtbar machen“. primär vom Exempel, der Beobachtung der fac- Er konkretisiert sie aber primär psychologisch, tory girls, nennt die Wirkung bei Sozialreformern (ohne für sie „soziale Diagnose“ als eigenstän- 5 3 Luhmann selbst hat im Kontext der historiographischen dige methodische Praxis zu sehen), aber hinter- Debatte u. a. die Überlegungen zu „Weltzeit und System- lässt zuerst die Frage, was Gegenwartsdiagnose geschichte“ publiziert, um zu zeigen, mit welcher Vielfalt mehr kann als die Sozialforschung. an Zeiten historisch-gesellschaftlich zu rechnen ist und Kap. III gilt dieser Relation. Hubert Knoblauch welche Koordinations- und Analyseprobleme damit auf- liefert dafür primär Unterscheidungen, u. a. von geworfen werden, wenn man „die Konstitution temporaler Modalität und die Selektion dessen, was in ihnen relevant Gesellschaftstheorie und -diagnose, Sozialtheo- wird“ (Luhmann, zit. S. 103) untersucht und sieht, wie rie und Soziologischer Theorie, Gegenwarts- und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „mit Hilfe einer Zeitdiagnose, u. a. nach dem Grad der „Evidenz“ Strukturierungstechnik“ unterschieden werden, die er als (ohne Details), räumt aber selbst – wen wundert „Mehrfachmodalisierung oder reflexive Modalisierung“ be- es angesichts der Diskussionslage in den Sozial- zeichnet (ebd., 112), vgl. Niklas Luhmann.: Weltzeit und Systemgeschichte. (zuerst: 1973, in: P. C. Ludz, Hgrs.: So- wissenschaften – die „Unschärfe der Unterschei- ziologie und Sozialgeschichte Opladen, S. 81– 115, SH 16 dungen“ ein, schon bei der Referenz auf Sozio- der Kölner Zeitschrift) In: Niklas Luhmann: Soziologische logie, noch ganz ohne die anderen Geistes- und Aufklärung 2. Opladen 1975, S. 103– 133. Humanwissenschaften oder die Philosophie ein- 4 Ich teile deshalb auch die Kritik nicht, die Christian Ge- ulen in seiner Rezension an der fehlenden systematischen Bestimmung von „Gegenwart“ als zentrales Defizit hervor- 5 Bekanntlich hat schon Alice Salomon dazu eine eigene, gehoben hat, vgl. seine Kritik von Alkemeyer et al. in: H- sozialpädagogisch höchst relevant gewordene Kunstlehre Soz-Kult 14.02.2020, vermisse aber wie er eine distinkte der Beobachtung und Intervention entwickelt, vgl. A. Sa- Relationierung zur Zeitgeschichte lomon: Soziale Diagnose. Berlin 1926. Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 2/2020 17 zubeziehen (was die Komplikationen steigern pel: die Analyse der theatralischen kulturellen würde).6 Soziologisch argumentieren auch Uwe Selbstinszenierungen (A. Landwehr: „Theatrum Schimank und Ute Volkmann, wenn sie die Diffe- Europeum“ des M. Merian) oder des Umgangs renz von Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdi- mit Bedrohungen durch die Natur (N. Hannig agnose und die Ambivalenzen ihrer „engen“ oder für Hydrotechnik und Überschwemmungen), „losen Koppelung“ explizieren. Sie halten aber, wie für die Betrachtung der wiederkehrenden und Fichte,7 deutlicher als die meisten anderen Texte immer neu falsifizierten Untergangsprognosen fest, dass „Gesellschaft als Ganze“ die Referenz für die Familie (G. Budde) oder für die Rhetorik darstellt und diagnostisch in „Hypothesen mitt- im Bildungssystem, wie sie z. B. universitär für lerer Reichweite“ betrachtet wird. Für die anste- die propagandistische Nutzung des deutschen hende Arbeit liefern sie zudem ein soziologisch Universitätsmodells in Rektoratsreden unter- inspiriertes „Themenpanorama“. Matthias Leanza sucht wird (D. Langewiesche), oder für die nur zeigt, wissenschaftshistorisch, wie sich im 19. scheinbar stabile, in Wahrheit sehr kontexab- Jahrhundert die Soziologie auch dadurch entwi- hängige Semantik der Pädagogen angesichts der ckelt, dass sie die Logik des „ärztlichen Blicks auf „Unaufmerksamkeit“ der Lernenden (Y. Ehren- zwischenmenschliche Beziehungen“ überträgt, speck-Kolasa). Aktuell werden zudem „Felder des die Pathologiezuschreibung eingeschlossen (aber Diagnostischen“ ebenso lehrreich ausgewertet: ohne Virchows Methode und wohl auch ohne die „Makroökonomische Zeitdiagnosen“ (H. Pahl), naturwissenschaftliche Prüfungsmöglichkeit der der aktuelle Bildungsdiskurs (bei H. Peter sehr modernen Medizin). Fran Osrecki, Experte in der eng nur für Globalität und Inklusion als problem- Beobachtung der Diagnosen, thematisiert die in generierende Referenzen), zu dem man auch vielen Zeitdiagnosen unterstellte „Latenz sozialen die spätere, auf Medialität zielende Analyse von Wandels“, also die häufig reklamierten „stillen Engel und Jörissen nehmen könnte, die sich auf Revolutionen“. Vor allem aber plädiert er für die die gängige Thematisierung von Digitalisierung „Legitimität zeitdiagnostischen Argumentierens“ beziehen und jugendliche Medienpraktiken nicht und gegen ihre „akademische Exkommunikation“, nur pädagogisch besorgt dagegenstellen. Natür- freilich mit Argumenten, die zugleich die Diffe- lich fehlt „Nachhaltigkeit“ nicht, das als „integ- renz zu Forschung markieren, denn er lobt vor ratives Konzept“ in „Postkollapsgesellschaften“ allem die massenmediale Anschlussfähigkeit, die analysiert wird (N. Buschmann), und auch nicht Simulation von Praxisbezug und die Nivellierung die Migrationsgesellschaft als „Arena“, in der Dia- von Paradigmenstreitigkeiten von Zeitdiagnosen. gnosen von der Differenz von „wir“ vs. die „ande- Die drei Kapitel mit Exempeln belegen his- ren“ leben (P. Mecheril). Aber Romane, hier von torisch und bereichsspezifisch, dass es konstant M. Houllebecq und J. Raspail, werden von einem wiederkehrende Anlässe für Diagnosen gab und Experten für Diagnosen wie W. Reese-Schäfer gibt, aber auch konstante Argumentformen und schon als „Folgemodell nach dem Bedeutungs- -probleme. Die revierspezifischen Experten zei- verlust soziologischer Zeitdiagnostik“ vorgestellt gen bisher nämlich vor allem die Grenzen und – getreu der seit Balzac bekannten Diagnose, Idiosynkrasien der je feldbezogenen Diagnosen dass die Welt nichts ist als eine schlechte Kopie und dann auch zeittheoretische Probleme. Denn unserer großen Romane. Kap. VI. verstärkt diese es sind primär Eigenzeiten und je spezifische These, wenn „Wissenschaftsopern“ (A. Langen- Gegenwarten sozialer Systeme, die hier thema- bruch), künstlerische Inszenierungen (M. Butler) tisch werden, nicht die Zeit der Gesellschaft als oder die alltägliche Aushandlung von Lärmkon- Ganzer. Solche Beobachtungen bestätigen sich flikten (S. Binas-Preisendörfer) und der schon auch angesichts der hier präsentierten Exem- erwähnte jugendkulturelle Umgang mit Digita- lisierung die mediale Basis von Gegenwartsdia- gnosen belegen sollen, ohne deren Ambitionen 6 Man lese nur die scharfe Kritik von Jürgen Habermas an doch so einzulösen, wie es die Systematik der den zeitdiagnostischen Argumenten von Andreas Reckwitz, Herausgeber gattungsspezifisch unterstellt. um erneut die disziplinären und theoretischen Differenzen zu finden (in Leviathan 48, 2020, 1, S. 7–28). Das ruft abschließend die „Kritik der Diagnose“ 7 Schon in der ersten Vorlesung Fichtes findet man: „Das auf den Plan, schon, weil der Ort der Kritik unklar gegenwärtige Zeitalter im Ganzen meine ich …“. wird. Er wird jetzt z. B. künstlerisch, in „Mitteln 18 10.2478/kwg-2020-0075 | 5. Jahrgang 2020 Heft 2: 13-18 des Affekts“, – aber vergeblich – gesucht oder das man hier bekommt, das starke Annahmen nur als „Lust der Unentschiedenheit“ identifiziert einführt, exemplarisch diskutiert und problema- (E. Bippus), auch nicht in der Pop-Musik gefun- tisiert, immer lehrreich und unterhaltsam. Des- den, die allenfalls die große Frage neu aufwirft, halb stellt es insgesamt wohl doch ein künftig was denn Kritik sei (F. Hillenbrand). Der Versuch unentbehrliches Kompendium von Problemen und einer Ehrenrettung steht nicht zufällig am Ende exemplarischen Lösungen dar, denn es bietet pro- des Bandes (Vogelmann). Der Autor lobt, dass duktive Exempel und wichtige Referenzen, zeigt „Isolieren, Generalisieren, Signifizieren“ Prakti- methodische Möglichkeiten und theoretische Pro- ken von Diagnose darstellen, die in unterschied- bleme, die weitere Diskussionen und Forschungen lichen Kontexten genutzt werden und sich deshalb provozieren. Wahrscheinlich wäre es für Fichte zu aber auch vor ganz unterschiedlichen Gütekrite- wenig philosophisch, aber niemand verbietet ja rien bewähren. Aber gerade weil die Referenzen den Philosophen, auch jenseits der üblichen Ver- wissenschaftlich oder popkulturell, lebensweltlich dächtigen, die man jetzt in den Fußnoten schon oder pädagogisch, im Alltag oder in künstlerischer findet, sich ebenfalls zu beteiligen. Praxis gesucht werden, müssten diese Praktiken auch in ihrer Differenz deutlicher unterschieden Literaturverzeichnis werden. Deshalb ist es vielleicht doch eine Über- generalisierung, diese Vielfalt unter dem Titel der Fichte, Johann Gottlieb (1845/1846): Die Grundzüge des „Gegenwartsdiagnose“ noch bündeln zu wollen gegenwärtigen Zeitalters. In: J. G. Fichtes sämmtliche und im Blick auf den Umgang mit dem Neuen Werke. Band 7. Berlin, S. 238-254. als genuine Leistung aufzuweisen. Ein Blick auf Jürgen Habermas (2020): Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression. Jürgen Habermas im andere, aber für die Moderne nicht ganz untypi- Gespräch über die Gegenwart und sein Lebenswerk. sche Praktiken der Selbstproblematisierung z. B. In: Leviathan, 2020/Nr. 48, 1, S. 7-28. in Kulturkritik oder kritischer Theorie, die aber Luhmann, Niklas (1975): Weltzeit und Systemgeschichte. ausgeblendet werden (weil sie nur noch vergan- In: Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2. gene Gegenwarten, nicht mehr gegenwärtige Opladen, S. 103-133. Salomon, Alice (1926): Soziale Diagnose. Berlin. Vergangenheit darstellen?), hätte genügt, eher Terzić, Zoran (2020): Idiocracy. Denken und Handeln im Skepsis zu entwickeln, als den Blick so auszuwei- Zeitalter des Idioten. Zürich. ten. Wie auch immer, es ist ein work in progress,