THESIS SERIES innsbruck university press Valentin Dander Zones Virtopiques Die Virtualisierung der Heterotopien und eine mediale Dispositivanalyse am Beispiel des Medienkunstprojekts Zone*Interdite Valentin Dander Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung, Universität Innsbruck Diese Publikation wurde aus Mitteln des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck finan- ziert: Dr. Otto Seibert-Preis 2013 zur Förderung wissenschaftlicher Publikation, Druckkostenzuschüsse für NachwuchswissenschaftlerInnen der Universität Innsbruck 2013 © innsbruck university press, 2014 Universität Innsbruck 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten. www.uibk.ac.at/iup ISBN 978-3-902936-53-0 Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................................................... 7 Einleitung und Kapitelüberblick ............................................................................... 13 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien .................................................................... 17 1.1. Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Zugang ....................................................... 18 1.2. Ein „Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“ .................................................... 26 1.3. Medien[-Kultur-Gesellschaft] .................................................................................... 32 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien ............................................................... 37 2.1. Historischer Abriss über Verständnis, Produktion und Rezeption von Utopien ................................................................. 38 2.1.a. Ursprünge des utopischen Denkens ................................................................. 38 2.1.b. Utopie im Feuer der Kritik ................................................................................ 40 2.1.c. Negationen des Utopischen: Dystopie und Anti-Utopie .............................. 42 2.1.d. Zwischenfazit ....................................................................................................... 44 2.2. Das Utopische als Datum und Faktum: konkret, gelebt und paradox ............... 44 2.2.a. Das Utopische vs. die Utopie ............................................................................ 44 2.2.b. Zum Konzept der Konkreten Utopie bei Ernst Bloch ................................. 47 2.2.c. Die negative Wendung: Konkrete Dystopien? ................................................ 48 2.2.d. Gelebte Utopien: die paradoxe utopische Praxis ........................................... 50 2.2.e. Zwischenfazit ....................................................................................................... 52 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum .................. 53 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ ......................... 55 3.1.a. Ein Utopie-Begriff nach Foucault? .................................................................. 55 3.1.b. Gegenstand und Grundsätze der Heterotopologie ....................................... 56 3.1.c. Heterotopien als postmoderne Utopien? ......................................................... 60 3.1.d. Zwischenfazit ....................................................................................................... 64 5 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum .................................................... 65 3.2.a. Medialisierte Heterotopien : Heterotopisierte Medien .................................. 66 3.2.b. Virtuelle und virtualisierte Heterotopien ......................................................... 69 3.2.c. Zwischenfazit ....................................................................................................... 74 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv .................................................. 77 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive ................................... 78 4.1.a. Vorbemerkungen ................................................................................................. 79 4.1.b. Die Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider ................................. 83 4.1.c. Zur Modifikation der Dispositivanalyse zur ‘Analyse medialer Dispositive’ ............................................................................ 92 4.1.d. Grundlagen der (Inter-)Diskurstheorie ......................................................... 100 4.1.e. Zur Methodologisierung .................................................................................. 111 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite ................................................... 114 4.2.a. Allgemeine Eckdaten zum Online-Kunstprojekt ......................................... 114 4.2.b. Zur Medialität: Zone*Interdite als komplexes Medienangebot ................. 116 4.2.c. Zur Faktizität: Zone*Interdite als faktuales Medienangebot ...................... 128 4.2.d. Erfahrungs-Räume: die ästhetische Topologie von Zone*Interdite ......... 131 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse ........................................ 142 4.3.a. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite im medialen Dispositiv ..................................................................................... 143 4.3.b. Zone*Interdite als mediale/virtuelle/virtualisierte Heterotopie ............... 167 4.3.c. Das Utopische in Zone*Interdite ................................................................... 170 5. Schlüsse und Anschlüsse ....................................................................................... 175 Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 183 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................. 191 Online-Quellen ................................................................................................................ 192 6 Vorwort Die vorliegende Arbeit ist ein „Experiment“, ein Versuch und ein riskantes Unterfangen, insofern theoretisches wie auch methodisches Neuland betreten wird. An viele theo- retische, mehr oder weniger ausgefranste Fäden wird angeknüpft, auf manche wird nur aus der Ferne hingewiesen und viele müssen bewusst oder unbewusst auf ihren Spu- len belassen werden. Ob und inwieweit diese ‘Spinnerei’ es schafft, aus ihrer textuellen Linearität auszubrechen und tatsächlich ein mehrdimensionales Gewebe darzustellen, in welchem Muster, Formen und deren Anordnungen, vor allem aber der sie verbindende Sinn erkennbar werden, wird erst die Lektüre anderer zeigen können. Diese Perspektive bleibt dem Weber selbst (man könnte auch sagen: dem ‘Spinner’) verwehrt. An dieser Stelle kann also nur die Einladung stehen, sich entlang der angebotenen Fäden durch das „Foucault’sche Labyrinth“ (vgl. Chlada 2002) und die sich damit überlagernden Irrgärten führen zu lassen. Einige Sätze sollen zunächst schrittweise die Genese der Forschungsfragen nachzeich- nen. In einer Lehrveranstaltung an der Universität Innsbruck1 wurden zahlreiche Filme Terry Gilliams unter literaturtheoretischer Perspektive – unter anderem mit der ‘Heter- otopie-Brille’ – analysiert. Schnell zeigte sich uns TeilnehmerInnen: wenn man sie sucht, sind sie überall, die Heterotopien – und nirgends.2 Von wenigen Seiten Textgrundlage klare definitorische Anweisungen zu erwarten, mag hoch gegriffen sein, und doch: das Konzept an sich erschien spannend. Insbesondere als der Film Brazil (1985)3 von unserer Referatsgruppe zu bearbeiten war und damit das Heterotopie-Konzept auf die verrückte 1 Das Seminar fand unter der Leitung von Dunja Brötz und dem Titel Heterotopie, Heterochronie (Foucault) und Chrono- topos (Bachtin) in den Filmen von Terry Gilliam im Sommersemester 2009 im Rahmen des Studiums der Vergleichen- den Literaturwissenschaften statt. Vgl. dazu den Eintrag im Vorlesungsverzeichnis: https://orawww.uibk.ac.at/ public/ lfuonline_lv.details?sem_id_in=10S&lvnr_id_in=641205 [Stand 04-08-2014]. 2 Was mit Heterotopien (‘Andere Orte/Räume’) gemeint ist, wird im Verlauf der Einleitung wie auch in Kapitel 3 erläutert, daher wird hier eine ausführliche Erklärung ausgespart. An dieser Stelle mag der Hinweis ausreichen, dass es sich dabei um gesellschaftliche ‘Gegen-Orte’ der Krise oder der Abweichung handelt, die nach Foucault ein gewisses Naheverhältnis zu Utopien (und Dystopien) aufweisen. Die textliche Grundlage an Primärtexten von Foucault selbst bieten nur zwei verschriftliche Vorträge (vgl. Foucault 1992; 2005). Auch die Begriffsarbeit an ‘Utopien’ und ‘Dystopien’ steht an späterer Stelle dieser Arbeit (Kapitel 2). 3 Vgl. dazu den Eintrag auf der International Movie Database: http://www.imdb.com/title/tt0088846/ [Stand 04-08- 2014]. 7 Dystopie Gilliams traf. In der Filmwelt von Brazil wird für ihre EinwohnerInnen vor allem durch Werbeplakate und -videos ein heterotopisches ‘Anderswo’ in einer Medienre- alität ‘zweiter Ordnung’ konstruiert (also durch Plakate/Werbespots, welche von Menschen im Film rezipiert werden). Im Zuge der Diskussionen innerhalb der Gruppe und später in der Seminarsitzung stellten sich mehrere Fragen, die sich als konstitutiv für diese Arbeit erweisen sollten: Warum werden in kulturellen Produktionen der Gegenwart wie auch der letzten Jahrzehnte keine (E-)Utopien (Idealvorstellungen einer besseren Gesellschafts- ordnung) geschaffen, sondern vorwiegend Dystopien (Darstellung negativer, vorwiegend totalitärer Gesellschaftsordnungen)? Haben Utopien heute ihre Funktion verloren? Und welche Funktion ist das (gewesen)? Wie ‘real’ sind Räume/O rte in fiktionalen, medialen Darstellungen zu werten und wie real müssen diese ‘Räume’ sein, um als Heterotopien bezeichnet werden zu können, die per definitionem „einen genau bestimmbaren, realen [...] Ort besitzen“ (Foucault 2005b:9)? Die Frage war vor allem: Sind Foucaults Heterotopien in medialen bzw. virtuellen Räumen denkbar und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Die ersten konkreteren Überlegungen zu einer Forschungsfrage tendierten in Rich- tung des Utopie-Pols und zielten auf mediale Artikulationen utopischer Gedanken, etwa in Form des „Film-Essays“ Kulturimpuls Grundeinkommen,4 und auf mögliche politische, so- ziale und insbesondere pädagogische Verwendungsweisen und Konsequenzen ab. Einige Hoffnung knüpfte sich in diesem Zusammenhang an den Begriff der ‘Utopiefähigkeit’, welchen Oskar Negt gemeinsam mit der ‘Erinnerungsfähigkeit’ als ‘Historische Kompe- tenz’ bezeichnet. Diese wiederum sei eine von fünf (manchmal auch sechs) ‘gesellschaftli- chen Schlüsselkompetenzen’, welche er in verschiedenen Veröffentlichungen skizziert hat (1998; 1997) – im Detail ausbuchstabiert hat er sie allerdings nicht. Daher schien die theo- retische Grundlage einer ‘Utopiefähigkeit’ etwas zu vage und innerhalb des Negt’schen Kompetenzkatalogs zu marginalisiert, um sinnvoll damit arbeiten zu können. Im Zuge der Recherche und Lektüre hatte sich jedoch eines recht deutlich gezeigt: Utopien sind wortwörtlich in vielen Spielarten anzutreffen und sowohl die Vorstellung und Produktion von idealen Gesellschaften als auch der Begriff scheinen im Laufe der Jahrhunderte reichlich zerfasert zu sein. Dadurch rückten wiederum die Heterotopien in den Mittelpunkt meines Projekts: jung, flexibel, progressiv, postmodern; nicht gut oder böse, sondern einfach: ‘anders’. Und sie stehen immerhin nicht nur in einer etymolo- 4 Informationen zum Film und der Film zum legalen Download stehen online zur Verfügung: http://www.kultki- no.ch/kultkino/besonderes/grundeinkommen [Stand 14-04-2011]. 8 gischen Analogie zu Utopien, sondern werden von Foucault mehr oder minder direkt aus ihnen abgeleitet. Jetzt galt es, die Heterotopien an die Neuerungen gegenwärtiger Räumlichkeit heranzuführen: den ‘Cyberspace’. So wurden die Forschungsfrage und ihre Subfragen fixiert: Wie kann Foucaults Konzept der Heterotopien auf mediale und im Speziellen auf virtuelle Räume übertragen werden und wie können ‘virtuelle/v irtualisierte Heterotopien’ aussehen? (a) In welchem Verhältnis stehen Heterotopien zur Tradition utopischen Denkens und sind sie als dessen Verlängerung bzw. Verlagerung zu verstehen? (b) Inwieweit lassen sich in Heterotopien und im Speziellen in virtuellen Heterotopien Restbestände des Utopischen/e ines utopischen Impulses aufspüren? Um diesen Fragen und ihrer Beantwortung auch empirisch näher zu kommen, sollten diese in einem zweiten Teil der Arbeit anhand eines Beispiels überprüft und damit bestä- tigt oder widerlegt werden. Nachdem ich viele Optionen in Betracht gezogen und wieder verworfen hatte, erwähnte der Innsbrucker Philosoph Andreas Oberprantacher in einem Vortrag5 ein Medienkunstprojekt von Christoph Wachter und Mathias Jud, zwei Züricher Künstlern: Zone*Interdite. Auf der Projekt-Homepage6 stellen diese eine Datenbank zur Verfügung, welche eine Vielzahl von öffentlich zugänglichen Informationen über mil- itärische Sperrzonen (‘zones interdites’) verzeichnet. Als Steigerungsform dieses Instru- ments der Sichtbarkeit haben sie insgesamt vier dieser Zonen als virtuelle Durchgänge re-konstruiert, und ermöglichen so, die Anlagen in ‘Ego-Shooter-Perspektive’ (beinahe) uneingeschränkt zu begehen. Aus mehreren Gründen war dies für das Forschungsvorhaben ein passendes Beispiel: Erstens finden sich unter den Sperrzonen unter anderem auch Militärgefängnisse. Nach Foucault (vgl. 2005a) sind Gefängnisse ein Beispiel für Abweichungsheterotopien. Zweit- 5 Der Vortrag fand im Rahmen der Tagung Activist Media and Biopolitics: Critical Media Interventions in the Age of Biopo- wer, (12.-13. November 2010, Innsbruck) statt. Auf der Homepage der Tagung stehen die Präsentationsfolien der Vortragenden. So auch zum Vortrag Off-Limits? Border Regimes, Indefinite Detention, and the (Visual) Politics of Making Things Public von Andreas Oberprantacher: http://media.brainity.com/uibk/amab2010/index.php?option=com_ content&view=article&id=4&Itemid=4 [Stand 04-08-2014]. 6 Zu finden unter http://www.zone-interdite.net/P/ [Stand 04-08-2014]. 9 ens kann durch die Beschäftigung mit diesem Thema angenommen werden, dass die Künstler Anlagen wie extra-legale Militärgefängnisse und vor allem ihre (scheinbare) Unsichtbarkeit nicht gut heißen, sich also aus Ablehnung kritisch mit gesellschaftlichen Bedingungen auseinander setzen. In Konsequenz daraus lässt sich, drittens, zumindest ein Restbestand des Utopischen im Projekt vermuten, der natürlich von der konkreten Nutzung abhängt. Und schließlich liegt der Schluss nahe, dass sie mit ihren 3D-Walk- throughs, viertens, noch einen Schritt weiter gehen als filmische Darstellungen, was die ‘Realisierung’ und Erfahrbarkeit einer medialen Wirklichkeit betrifft. An das komplexe Medienangebot von Zone*Interdite sollen also die Forschungsfragen gerichtet werden. Valentin Dander, Rovereto im Frühjahr 2011 Drei Jahre später muss sich dieses Buch die folgende Frage gefallen lassen: Warum kann es sinnvoll sein, eine Diplomarbeit drei Jahre nach ihrer Abgabe zu veröffentlichen? Die Publikation in dieser Form ist natürlich ein Weg, die darin gewonnenen Erkenntnisse einem größeren Publikum zugänglich zu machen und zur Diskussion zu stellen. Da sich die Gelegenheit geboten hat, die Arbeit nicht nur in Buchform, sondern auch digital als Open Access Publikation zu veröffentlichen, schien die Entscheidung stimmig. Wenn drei Jahre im Kontext medientechnologischer (und auch wissenschaftlicher) Entwick- lungen auch unendlich lang erscheinen mögen, so bleiben die Grundfragen und – so die Annahme – damit auch die Überlegungen in diesem Band über weite Strecken die selben. Wie formiert sich und wie formieren wir die ‘medial konstruierte Wirklichkeit’? Welche Potenziale bieten mediale Räume und Raumanordnungen nicht nur zur Retrospektive und zur Reflexion, sondern auch für gestaltende Perspektiven? Und welche Rolle spielen darin Nutzerinnen und Nutzer als disponierte, aber auch als disponierende Subjekte? Dass die diskutierten Themenfelder anhaltend relevant sind, lässt sich an mehreren Publikationen ablesen, die seither insbesondere im Bereich der medialen Diskurse und Dispositive veröffentlicht wurden: so z.B. einige Beiträge in den Sammelbänden Mediend- iskursanalyse (Dreesen et al. 2012), Verortungen des Dispositiv-Begriffs (Caborn Wengler et al. 2013) und Verflechtungen: Medien – Bildung – Dispositive (Othmer & Weich, in Druck). Allerdings wurden diese Texte nicht mehr in die vorliegende Buchpublikation einge- arbeitet. Das gilt gleichermaßen für hilfreiche Anregungen und Kritikpunkte, die an ver- 10 schiedenen Stellen in Bezug auf die Überlegungen im Text eingebracht wurden: weiter- hin wurden Marc Augés Orte und Nicht-Orte (vgl. 1994) nicht in den Abschnitt zum Uto- pischen eingearbeitet, hinterlassen also gewissermaßen eine Leerstelle, die ein anderer Text zu füllen versucht (Dander 2012: Sich Selbst Überschreiten, http://medienimpulse.at/ articles/view/485). Die Passung der modularen Anordnung innerhalb der vorgeschla- genen Mikroanalyse medialer Dispositive verlangt nach weiterer Konkretisierung, Über- prüfung und Revision. Und auch neuere Arbeiten der beiden Künstler Mathias Jud und Christoph Wachter (vgl. etwa picidae, Hotel Gelem oder qaul unter http://www.wachter-jud. net/) wurden nicht berücksichtigt, wenngleich sie denkbar spannende, neue Fragehori- zonte im Kontext von Medien, Kunst, und Raum-/Politik erscheinen lassen. Bis auf einige, geringfügige Korrekturen und Aktualisierungen, etwa der Weblinks, liegt die Abschlussarbeit hier also in ihrer ursprünglichen Form vor – in der Hoffnung, dass die Gedanken darin auch an ‘Anderen Orten’ rezipiert, weitergedacht und in Frage gestellt werden. Dank ...für ihre Unterstützung, ihre Geduld, ihre Zeit, ihre Nachsicht, ihr Interesse und ihr Da- Sein in der stets krisenhaften Zeit des Schreibens gilt gleichermaßen meinen Eltern und Wibke, meinen Betreuern Theo Hug und Hermann Mitterhofer sowie Max, Loreen und Andreas. Sie alle haben durch Aufmunterungen, Anregungen, Diskussionen, Kritik und Korrekturen die Arbeit in dieser Form ermöglicht – und können trotzdem mit gutem Gewissen jegliche inhaltliche Verantwortung an mich abschieben. ...für ihre spannenden und relevanten Ideen und die Präzision und Konsequenz in deren Umsetzung sowie für ihre bereitwillige Unterstützung der Forschungsarbeit ge- bührt den Initiatoren von Zone*Interdite, Mathias Jud und Christoph Wachter. ...für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation gilt dem Vizerektorat für Forsc- hung an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck ...und, schließlich, dem Team von innsbruck university press für die freundliche und kompetente Begleitung und Umsetzung der Publikation. Valentin Dander, Innsbruck im Sommer 2014 11 Einleitung und Kapitelüberblick „Hope had two beautiful daughters: anger and courage. Anger at the way things are and courage to change them“ (Augustinus)7 Als Einstieg in die Arbeit werden in Kapitel 1 die grundlegenden Begriffe Wirklichkeit, Virtualität und Medien diskutiert und für den weiteren Verlauf entsprechende Begriffe entwickelt. Gerade ein differenziertes Verhältnis von Wirklichkeit und Virtualität spielt im Zusammenhang der Relationen von Wirklichkeit und Medienwirklichkeit, Utopie und Heterotopie, sowie Heterotopie und virtueller Heterotopie eine tragende Rolle und wird vielfach wenig reflektiert, wenn von ‘virtueller Realität’ und anderen Virtualitätskombi- nationen die Rede ist. Als tragendes Gerüst zur Einführung in diesen Zusammenhang bediene ich mich des Modells zur Wirklichkeitskonstruktion von Siegfried J. Schmidt (vgl. 2002), in welchem er nicht nur die Zusammenhänge zwischen Wirklichkeitsmo- dellen auf Grundlage von Differenzierung in Wahrnehmen, Denken und Handeln systematisiert, sondern diese mit moralisch und emotional wertenden und verknüpfen- den Kulturprogrammen als einen Wirkungszusammenhang konzipiert. Dieses Modell erweist sich aus mehreren Gründen als tragfähig für die vorliegende Arbeit. Schmidt operiert mit systemtheoretisch-konstruktivistischen Grundannahmen, die es erlauben, jenseits ontologischer Dogmen die Bedeutung von Medienwirklichkeiten angemessen in den Zusammenhang einzuarbeiten. Wenngleich der Machtfaktor darin nicht eingehend verhandelt wird, scheint das Modell zudem anschlussfähig an Foucaults Diskurstheorie zu sein. Es lässt sich als neutrales Grundgerüst verstehen, das anhand grundlegender Begriffe und Zusammenhänge einen Rahmen absteckt, um über ‘Wirklichkeit’ sprechen zu können. Schließlich geht Schmidt auch auf Virtualität und Virtualisierung ein und führt – zumindest kurz – aus, wie diese innerhalb des Konzepts zu verstehen sind. Um die Problematik von Wirklichkeit und Virtualität differenzierter in den Blick zu bekom- 7 Zitiert nach dem Film 11‘09‘‘01 September 11 (2002): http://www.imdb.com/title/tt0328802/ [Stand 04-08-2014]. 13 Einleitung und Kapitelüberblick men, wird dieser theoretische Rahmen anhand weiterer Perspektiven kontrastiert und ergänzt. Ohne ausführliche Diskussionen übernehme ich hingegen seinen vierdimensio- nalen Medienkompaktbegriff (2008; 2002; 2000), in welchen er den vieldiskutierten Me- dienbegriff systematisch aufschlüsselt. Durch das Zusammenwirken der Dimensionen Kommunikationsinstrumente, Medientechniken und Institutionen seien demnach Medi- enangebote differenziert analysierbar. Kapitel 2 stellt überblicksartig die Geschichte des Utopiebegriffs und verwandter Konzepte dar., Beginnend mit Utopia von Thomas Morus, werden, ausgehend von der literarischen Utopieproduktion vor allem sozialwissenschaftliche und philosophisch-historische Ver- wendungs- und Deutungsweisen des Begriffs aufgegriffen (vgl. Hölscher 1979; Neusüss 1986b; Saage 2008). Über die Weiterentwicklung von Utopien seit Beginn des 16. Jahrhun- derts, ihre Rezeption und Wertungen wird der geschichtliche Zusammenhang deutlich. Entsprechend kontextualisiert können die Diskussionen und theoretischen Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts dargestellt werden, die sich grob zwischen Totalitarismusvor- würfen von Seiten der Wissenschaft (vgl. Popper 1980) und einer dystopischen Wende in der Kunst (vgl. etwa Orwells 1984) einerseits und Versuchen begrifflicher Rehabilita- tion andererseits abspielte. Die zweite Position vertraten etwa um und kurz nach 1900 Gustav Landauer, Karl Mannheim und Ernst Bloch (vgl. etwa Bloch 1969; Hölscher 1979; Mannheim 1986) oder in den späten 60er-Jahren Herbert Marcuse (vgl. 1980). Zwei Konzepte aus dieser früheren Periode werden ausführlicher diskutiert: Das Uto- pische, welches im Gegensatz zu Utopie als utopisches Bewusstsein postuliert wurde (vgl. Hölscher 1979; Neusüss 1986b) und von Saage (vgl. 2008) neu konzipiert wurde. Und Blochs Konzept der konkreten Utopie, womit er das Moment der Veränderung von Gesell- schaft näher an die gesellschaftlichen Bedingungen und die konkrete Umsetzbarkeit von alternativen (in seinem Fall: sozialistischen) Gesellschaftsordnungen bindet (vgl. Bloch 1969; 1986; Schiller 2002). Eine interessante Übertragung dieses Konzepts auf konkrete Dystopien leistet Maria Varsam (vgl. 2003), die am Beispiel der Sklaverei und sich damit auseinander setzenden, literarischen Werken das utopische Potenzial gerade in der di- rekten Beschäftigung mit und Ablehnung von gesellschaftichen Verhältnissen verortet. Schließlich wird mit Versuchen der Realisierung von Utopien als gelebte Utopien (vgl. Saage 2008) im Kleinen bereits ein großer Schritt hin zum nächsten Kapitel vollzogen: zu den Heterotopien Michael Foucaults. 14 Das Konzept der Heterotopien steht für den Versuch, Orte utopischen (aber nicht prin- zipiell ‘guten’) Charakters auszumachen und in ihren Relationen zu ‘normalen’ Orten zu begreifen. Heterotopien sind gleichsam ‘Gegen-Orte der In-Frage-Stellung’ und werden in Kapitel 3 entlang der entsprechenden Texte Foucaults anhand der von ihm vorgeschlagenen Grundsätze einer (noch) nicht-existierenden ‘Heterotopologie’ vorge- stellt (vgl. Foucault 1992; 2005b). Hierbei liegt zunächst ein spezieller Fokus auf den Anschlussstellen zum Utopie-Begriff und auf der Frage, inwiefern Heterotopien (Andere Orte/R äume) als postmoderne Fortführung und Weiterentwicklung des utopisches Den- kens verstanden werden können (vgl. Chlada 2005; Dehaene & De Cauter 2008; Moylan 1990). Eine Dimension, die von Foucault nur flüchtig am Beispiel des Spiegels angedacht wurde, ist die der Medialität von Heterotopien. An dieser Stelle greifen nun die Erkennt- nisse aus den Abschnitten zu Wirklichkeit, Virtualität und Medien, wenn diskutiert wird, wie ‘real’ mediale, virtuelle und virtualisierte ‘Andere Orte’ zu verstehen sind und wie die Übertragung von Heterotopien diesbezüglich aussehen kann. In der Folge werden Konzepte von virtuellen und virtualisierten Heterotopien vorgeschlagen, die diese Frage zu beantworten versuchen. Diese schließen an bereits formulierte, meist rudimentäre Texte zum Verhältnis von Heterotopien und Medialität/V irtualität an (vgl. Apprich 2009; Bury 2005; Lootsma 2010; Wunderlich 1999). Schließlich gilt es in Kapitel 4 diese theoretischen Erkenntnisse im Zuge einer Beispiel- analyse anzuwenden. Nämlich am Beispiel des Medienkunstprojekts Zone*Interdite von Christoph Wachter und Mathias Jud und insbesondere des komplexen, in diesem Rah- men online zur Verfügung stehenden Medienangebots. Um dieses angemessen in den Blick zu bekommen, wird ausgehend von der Dispositivanalyse nach Bührmann/ Schneider (vgl. 2008) ein analytischer Rahmen entwickelt, der eine Mikroanalyse des medialen Disposi- tivs von Zone*Interdite und dessen Medienangebot ermöglicht. Dazu werden ein medien- wissenschaftlicher Dispositivbegriff im Anschluss an Jean-Louis Baudry (vgl. 1975) und Knut Hickethier (vgl. 1995) und der Medienkompaktbegriff nach Siegfried J. Schmidt in den Analyserahmen eingearbeitet. Dimensionen der analytischen Arbeit sind somit sowohl das Medienangebot selbst in seinen verschiedenen Facetten, als auch relevante Diskurse, Praktiken, Vergegenständlichungen, Subjektformierungen und der weitere ge- sellschaftliche Kontext. Schließlich gilt es, das dispositive Netz, welches zwischen diesen Dimensionen liegt, in Verhältnisbestimmungen zu beschreiben und zu interpretieren. Der Analyse liegen dann ausgehend von den dispositiven Anordnungen die oben formu- 15 Einleitung und Kapitelüberblick lierten Fragen nach Zone*Interdite als virtualisierter Heterotopie und möglicherweise darin aufzufindenden utopischen Potenzialen zugrunde. Die Zusammenführung der Fäden in Form einer Ergebnisübersicht, sowie weiterfüh- rende Verweise auf mögliche Anknüpfungspunkte über den Webrahmen dieser Arbeit hinaus, insbesondere im Bereich der politischen und Medienbildung, wird im abschlie- ßenden Kapitel 5 geleistet. 16 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien „reality was virtual to begin with“ (Wolfgang Welsch) Diese Arbeit erhebt den Anspruch, ein für die ‘reale’ Welt gedachtes Konzept auf die ‘vir- tuelle’ Welt umzudenken. Alleine in diesem Satz jedoch wird ein Problem virulent, dessen Verhandlung diesem Unterfangen konsequenterweise voran gehen muss: die Frage nach der Bedeutung von ‘real’ und ‘virtuell’, von ‘Wirklichkeit’ und ‘Virtualität’. Diese Benen- nung ist mit Absicht völlig unsystematisch gewählt – die Begriffspaare könnten auch anders heißen. In diesem Kapitel sollen diese Begriffe, die in der Alltagssprache greifbar und eindeutig (jedenfalls verwendbar) zu sein scheinen, mit Bedeutungen angereichert werden, um in diesem Text trennscharf damit operieren zu können. Die Verwendung von Begriffen wie ‘virtuelle Realität’ oder ‘virtuelle Welten’ ist in- nerhalb der letzten Jahrzehnte gang und gäbe geworden – gerade dann, wenn im Rah- men von Wirklichkeit und Medienwirklichkeit argumentiert wurde. Vielfach lassen die Verwendungsweisen jedoch hinreichende Reflexion und Präzisierung vermissen. Zwei Extrempositionen in der Diskussion um ‘virtuelle Realität(en)’ markiert Wolfgang Welsch (1998:169) wie folgt: Auf der einen Seite werde ‘Virtual Reality’ als die neue (und bessere?) Wirklichkeit ausgerufen. Auf der anderen Seite folge man einem „neue[n] Bedürfnis nach Wirklichkeit – sozusagen nach ‘wirklicher Wirklichkeit’“. Was dabei schnell aus dem Blick gerate, sei die nötige begriffliche Differenzierung, die erst das möglich macht, was Polemiken und Apodiktionen tunlichst vermeiden wollen: Eine sachliche Diskussion, die auf Verständigung zwischen den Positionen abzielt (vgl. bspw. Jörissen 2007:13ff). Ich werde in der Folge den Zusammenhang zwischen Realität, Virtualität und Medien diskutieren. Die Auswahl an zur Verfügung stehenden Konzepten ist hingegen unüber- schaubar groß. Siegfried J. Schmidt bietet einen theoretischen Rahmen für das Verstän- dnis von Wirklichkeitsmodellen und Wirklichkeitskonstruktion, in welchem unter an- derem Wirklichkeiten, Handlungen, Beobachtungen und Kommunikation(sinstrumente) in einen wechselseitigen Zusammenhang gestellt werden. Er beschreibt ‘wirkliche’ Wirklichkeit und Medienwirklichkeit nicht als völlig trennbare Sphären, deren Verhält- nis zueinander in der klaren Dominanz der einen über die andere zu beschreiben wäre, 17 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien sondern betont den Prozesscharakter der Konstruktion von Wirklichkeiten. In weiter- führenden Gedanken weist er zumindest in eine mögliche Richtung, was Virtualisierung in diesem Zusammenhang bedeutet. Deshalb wird sich die vorliegende Arbeit an diesem beschreibenden, recht neutralen Ansatz orientieren und ihn mit Hilfe weiterer Konzepte kontrastieren und ergänzen. Der Virtualitäts-Begriff wird in Anlehnung daran – sowie aus mehreren Texten zu seiner Geschichte und Semantik – rekonstruiert. Des Weiteren erscheint es notwendig, den grundlegenden und umstrittenen Begriff der ‘Medien’ für diese Arbeit zu klären, um die uneindeutige Rede von ‘den Medien’ im weiteren Verlauf zu vermeiden. Auch hier bietet sich ein analytisches Angebot Schmidts an, welches in Form eines Medienkompaktbegriffs einen differenzierten Blick auf vier semantische Dimensionen der ‘Medien’ erlaubt. Auch wenn ‘Medien’ nicht im Titel der Arbeit genannt werden, so geht es immerhin darum, das Heterotopie-Konzept auf Me- dienangebote umzudenken, ein konkretes Medienangebot zu analysieren und schließlich auch mögliche Implikationen für die medienwissenschaftliche und -pädagogische Theo- rie und Praxis zu erarbeiten. Die Frage nach der Wirklichkeit würde sich ohne die Evi- denz medialer Wirklichkeiten schlichtweg nicht auf diese Weise stellen. Da die Funktion dieses Kapitels nicht über eine Klärung von Grundlagen für den weiteren Verlauf hinaus reicht, können die angeschnittenen Themenkomplexe – Wirklichkeit, Virtualität, Medien – nicht erschöpfend diskutiert werden. 1.1. Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Zugang Siegfried J. Schmidt bietet einen konstruktivistisch-systemtheoretischen Ansatz zur Be- schreibung und Analyse von Wirklichkeitskonstruktionen an, der, wie er schreibt, durch eine „andere Sichtweise“ (2002:17) das ‘Problem um die (Konstruktion von) Wirklich- keit’ auflösen könne. Er bestimmt Wirklichkeitsmodelle als „konzeptionelle Arrange- ments, mit deren Hilfe individuelle Erfahrungen gesellschaftlich einsehbar und handhab- bar gemacht werden können“ (ebd.:20) und bestimmt diese gemeinsam mit ‘Kulturpro- grammen’ als „Wirkungszusammenhang W+K“ (vgl. ebd.:24f). Sozial erfolgreiches Handeln setzt demnach für jeweils Beobachtende und Handelnde voraus, das entsprechende gesellschaftliche Wirklichkeitsmodell zu kennen, für Hand- lungen als „Sinnorientierungs-Rahmen“ zu nutzen und es damit zugleich immer wie- der zu bekräftigen. Dieser Rahmen bietet ein „Netzwerk von semantischen Kategorien“ 18 1.1. Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Zugang (ebd.:18f) und darin verknüpfte Unterscheidungsoptionen (prozesshafte „Differen- zierungen“), die das Grundgerüst gleichermaßen für Setzungen und Voraussetzunge- nund somit allgemein für Beschreibung, Beobachtung und Handlung darstellen. Dieser Zusammenhang ist als ein prozessualer gedacht, der durch jede Beobachtungs- und Han- dlungsentscheidung innerhalb des Rahmens bestätigt und potenziell auch verändert wird (vgl. ebd.:21ff). Kultur als Programm emergiert nun vor allem aus der Verknüpfung der Untersche- idungen und ihrer „affektiven Gewichtung und moralischen Besetzung“ (ebd.). Hierbei gilt erneut, was bereits für Wirklichkeitsmodelle festgestellt wurde: Kultur schreibt zwar einerseits Orientierungsschemata vor, wird aber andererseits erst durch ihre beständige Aktualisierung durch Aktanten (und damit ihre potenzielle Veränderung) immer von Neuem vollzogen (vgl. ebd.:24): „Ohne Aktanten würden Kulturprogramme im wörtlichen Sinne des Wortes keinen Sinn machen. Insofern arbeitet jeder Aktant an ‘Kultur’ mit, obwohl er im Vollzug der Anwendung zugleich an die Anwendungs- spielräume von Kulturprogrammen gebunden ist“ (ebd.). So lassen sich etwa die Konnotation von Bergen als schrecklich/gefährlich im Mittel- alter oder als erhaben/schön seit der romantischen Ästhetisierung, welche Wolfgang Welsch beispielhaft für verschiedene Wirklichkeits-/Wahrnehmungsmuster anführt (vgl. 1998:205), als jeweils selektive und kontingente Kulturprogramme verstehen8, die auf lange Sicht zwar veränderbar, in einzelnen Anwendungen jedoch relativ starr sind (vgl. Schmidt 2002:22). Wichtig erscheint der Verweis auf zwei Perspektivierungen von Kul- tur: zum einen als Summe bereits realisierter Programmanwendungen; zum anderen als Möglichkeitsraster von anderen, realisierbaren Anwendungsvarianten. Aus der Spannung zwischen diesen Blickweisen entstehe also das dynamische Potenzial von Kultur (vgl. ebd.:23). Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm werden zusammen als co-emergierender Wirkungszusammenhang gedacht, „auf den alle Sinnoperationen (in) einer Gesellschaft ausgerichtet sind“ (ebd.:23). Das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft bezeichnet 8 Schmidt merkt hier an, dass die Übereinstimmungen der Wirklichkeitsmodelle aller Kulturen relativ groß sind, wogegen sich die größeren Unterschiede auf Ebene der Kulturprogramme abzeichnen (vgl. ebd.:23). 19 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien demzufolge die systematische Ordnung von semantischen Kategorien und ihrer Funk- tionsbereiche, das Kulturprogramm steht für vorgezeichnete Verbindungen der einzel- nen Kategorien miteinander und ihre emotionale Besetzung und moralische Wertung. Aktanten, die in einer Gesellschaft sozialisiert werden, erwerben im Zuge dessen eine sogenannte „Wirklichkeitskompetenz“ (ebd.:25), die zum Umgang mit diesem Wirkung- szusammenhang, also zu „gesellschaftlich akzeptablem Entscheidungsmanagement […] auf der Grundlage kollektiv geteilter Sinnorientierung am Wirklichkeitsmodell durch Kulturprogramme“ (ebd.:26) befähigt. Wirklichkeitskompetent wird also die ‘Wirklich- keit’ (im Sinne der ‘Erfahrungsumwelt’) fortlaufend in Handlungen und Kommunika- tionen anhand erlernter, pragmatischer Kriterien (bisheriges Wissen, Kurz-/Langzeit- effekte, Nützlichkeit, emotionale/moralische Befriedigung) auf ihre ‘Wirklichkeit’ hin getestet. Über die jeweiligen Testresultate entstehen so etwas wie stets nur vorläufige Wirklichkeitskonstruktionen. An dieser Stelle kommt ein neuer Faktor ins Spiel der Konstruktion von Wirklichkeit: Die technologische Weiterentwicklung und damit einher gehend die fortschreitende Aus- differenzierung des Mediensystems, der Medienanbieter und -angebote9 führt zu einer weitgehend konsensualen Feststellung, welche Schmidt mit Modularisierung von Wirklich- keit beschreibt. Damit ist gemeint, dass Wirklichkeitskonstruktion „zunehmend und unausweichlich über die bzw. mit Hilfe der Verwendung von Modulen aus dem komplexen Mediensystem […] sowie durch die Adaptation und Transformation von Inszenierungsstilen in den Medien [erfolgt]“ (ebd.:27). Schmidt weicht von der verbreiteten Vorstellung ab, die Medienwirklichkeit schaffe eine zusätzliche, fiktionale Wirklichkeit neben der ursprünglichen, ‘wirklichen Wirklichkeit’. Vielmehr erlaube ‘Wirklichkeitskompetenz’, im jeweiligen Kontext über den ‘Wirklich- keitswert’ zu befinden oder auch vielfältige, mediale wie außermediale Wirklichkeiten als anwendbar zu erachten (oder diese Anwendbarkeit zu erproben) und teilweise Übertra- gungen von ‘Testresultaten’ in eine ‘andere Wirklichkeit’ vorzunehmen. Unter Modalisier- ung der Wirklichkeit versteht er die Öffnung gewohnter Bewertungsraster wie wahr/falsch, 9 Der Medienkompaktbegriff nach Schmidt (vgl. 2002:27, 2000:93ff) wird ausführlich unter Abschnitt 1.3. erläutert. An dieser Stelle und für den gegebenen Zweck reicht die unkommentierte Aufzählung aus. 20 1.1. Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Zugang wirklich/unwirklich, real/virtuell etc, in Richtung einer möglichen, probeweisen Unents- cheidbarkeit (Indifferenz), die für sich schon eine Entscheidung darstellt (vgl. ebd.:28). So tritt an „die Stelle einer Wirklichkeit als normativer Ortho-Wirklichkeit [...] in der neueren Diskussion die Vorstellung von einem Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“ (ebd.). Das soll an zwei Beispielen erläutert werden: Die allerwenigsten NutzerInnen von dreidimensionalen Spielwelten wie SecondLife10 werden das Testresultat „Ich/mein Ava- tar sterbe/stirbt nicht, wenn ich/es vom Dach eines Hochhauses springe/springt“ in die Handlungsoptionen außerhalb der Spielwelt integrieren. Umgekehrt muss als grundleg- ende Unterscheidung mitbedacht werden, dass für den Avatar meist gleichgültig ist, wann er zuletzt Flüssigkeit zu sich genommen hat. Für den Spieler/die Spielerin selbst spielt das durchaus eine Rolle. An anderer Stelle, etwa wenn es sich um politische Prozesse handelt, ist der Modus der Darstellung (z.B. im Fernsehen) ein anderer als in einem Computerspiel. Meistens erweisen sich die durch diverse Medienangebote (Diskussionsformate, Nachrichtensend- ungen etc.) vermittelten Inhalte durchaus als mit der ‘wirklichen Wirklichkeit’ kompati- bel. Nur sind die jeweiligen Angebote den Logiken verschiedener Produktionsfaktoren unterworfen, die das Medienprodukt maßgeblich mitbestimmen. Im Fall einer Wahl, im Zuge derer die Einzelnen aufgerufen sind, selbst ‘politisch’ zu handeln, indem sie ihre Stimme abgeben, wird die Gesamtheit der außermedialen und medial vermittelten, rel- evanten Erfahrungen als Entscheidungsgrundlage herangezogen. Die öffentliche Mei- nung als Synthese persönlich gebildeter Meinungen ist konstitutiv für demokratische politische Prozesse.11 Die Differenzierung im Rahmen dieser unterschiedlichen Wirklichkeitsangebote mit verschiedenen Referenzansprüchen wird nach Schmidt der ‘Wirklichkeitskompetenz’ der einzelnen Aktanten zugestanden. 10 Zur Selbstdarstellung vgl. die offizielle Homepage von SecondLife unter http://secondlife.com/whatis/?lang=en- US [Stand 04-08-2014]. 11 Vgl. etwa Merten: „Das öffentliche Meinen hat durch die Einführung der Medien ja gerade seine besondere Kraft gewonnen, und dies so stark, dass öffentliche Meinung heute leicht mit veröffentlichter Meinung gleichgesetzt wird“ (2002:44). 21 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien Wirklichkeit lässt sich vor diesem Hintergrund wie folgt charakterisieren12: • Wirklichkeit ist immer eine 'Zwischenlösung', ein vorläufiges, historisch wandel- bares und kommunikatives Konstrukt. • Als Sinnordnung dient sie erfolgreichem sozialem Handeln; Beobachten, Besch- reiben und Handeln basieren auf Unterscheidungen und dienen wiederum ihrer Aus- und 'Aufführung'. • An der Re-/Konstruktion von Wirklichkeit sind alle Handelnden beteiligt. • Der Umgang mit und die Bewertung von Wirklichkeit ist voraussetzungsvoll (Wirklichkeitskompetenz). • Die 'mediale Wirklichkeit' lässt sich nicht per se von der 'sozialen Wirklichkeit' abgrenzen. • Die Beschreibung von Wirklichkeit als komplexem Prozess lässt die Frage nach dem 'Beginn oder Ursprung von Wirklichkeit' obsolet werden. Diese Befunde werden vor allem dann relevant, wenn es um die Frage geht, wie ‘real’ respektive ‘wirklich’ Utopien sein dürfen, um Utopien zu sein bzw. wie ‘realisiert’ Het- erotopien sein müssen, um noch Heterotopien zu sein. Anhand der medialen Darstel- lungen von Räumen wird die Frage nach ihrer ‘Wirklichkeit’ also mehr als virulent. Das begriffliche und analytische Angebot Schmidts erscheint diesbezüglich hilfreich, da es klare Kategorien eröffnet, ohne in überholte Dualismen zwischen ‘wirklicher’ Wirklich- keit und anderen ‘weniger wirklichen’ Wirklichkeiten zu verfallen. Zudem bezieht er in sein Modell von Wirklichkeitskonstruktion explizit den Faktor ‘mediale Wirklichkeit’ mit ein, der im Hinblick auf die Zielsetzung dieser Arbeit eine wesentliche Rolle spielt. Dieser theoretische Rahmen zum Verständnis von Wirklichkeit mit den zugrunde liegenden Setzungen stimmt in vielen Punkten mit verwandten konstruktivistischen Erk- 12 Offen bleibt bislang, wie die Beziehung zwischen (ontologischer) ‘Realität’ und (konstruierter) ‘Wirklichkeit’ zu verstehen sei. Schmidt (vgl. 2000:51ff) weist an anderer Stelle darauf hin, dass hier auch innerhalb des konstrukti- vistischen Diskurses keine konsensuale Klärung besteht und s.E. die Feststellung einer ‘Realität’ obsolet sei, wenn diese 1. nur innerhalb der (konstruierten) Wirklichkeit und 2. keine weitere Aussage darüber getroffen werden könne. Er schlägt also vor, von der Frage nach der ‘tatsächlich existenten Realität’ abzurücken, denn „[w]er genug Wirklichkeit hat, braucht keine Realität mehr“ (ebd.:53). Im Englischen (wie auch in den romanischen Sprachen) entfällt die Unterscheidung ohnehin, da mit ‘reality’ sowohl als auch bezeichnet werden: http://oxforddictionari- es.com/view/entry/m_en_gb0690180#m_en_gb0690180 [Stand 04-08-2014]. Es kann also im Laufe der Arbeit vorkommen, dass englischsprachige Zitate von ‘reality’ sprechen. Dies ist in erster Linie im jeweiligen Kontext aufzufassen, i.w.F. jedoch im dieser Arbeit immanenten Verständnis von ‘konstruierter Wirklichkeit’. 22 1.1. Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Zugang lärungsmodellen überein und setzt den Fokus auf bestimmte Aspekte, während andere notwendigerweise weniger ausgeleuchtet bleiben. Marcus S. Kleiner schließt sich der „These von der grundsätzlichen Konstruktivität von Wirklichkeit“ (2006:109) an und fokussiert den Zusammenhang mit der medialen Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. ebd.:71f). Er versteht diese als „alle Faktoren [um- fassend], mit denen Medien Wirklichkeit selektieren, inszenieren und kommunizieren“ (ebd.:70). Diese Definition lässt jedoch darauf schließen, dass an dieser Stelle nach einem gemeingebräuchlichen Verständnis von ‘Medien’ mehrheitlich Institutionen des (Massen) Mediensystems (Rundfunk, Presse) gemeint sind. Die Frage des Medienbegriffs, welche Kleiner für seine Zusammenhänge mit einer heuristischen Arbeitsdefinition von Medien als klassische Massenmedien (vgl. ebd.:114) löst, wird später in diesem Kapitel zu ver- handeln sein. Benjamin Jörissen (vgl. 2007) verhandelt die Frage nach der Realität anhand verschie- dener Perspektiven bis hin zur beobachtungstheoretisch ausgerichteten Systemtheorie Luhmanns, welche er als dienliches Grundgerüst für seine Studie ansieht. Allerdings konfrontiert er diese mit gewissen Schwerpunkten der historischen Anthropologie (vgl. ebd.:158ff). Vor allem der Körper wird der sterilen, körperlosen Luhmann’schen Auffas- sung vom Beobachter als „zentrales Moment“ entgegen gesetzt13, womit sich der Blick sowohl „im Hinblick auf individuelle Weltverhältnisse als auch im Hinblick auf soziale Vollzüge“ (ebd.:175) verschiebt. Handelnde und welterzeugende Körper sind demnach immer an soziale Situationen gebunden14, welche wiederum Systemeigenschaften haben können. Er greift also auf systemtheoretische Grundannahmen zurück und ergänzt diese u.a. um einen spezifischen Blick auf den sozialen Raum der „Körper als Beobachter“ 13 Am Beispiel des Mimesis-Konzepts (des mimetischen Handelns) versucht Jörissen zu verdeutlichen, dass die An- nahme, jegliche Handlung würde a priori auf selbst gemachten Unterscheidungen basieren, nicht unhintergehbar sei: „Mimesis könnte aus beobachtungstheoretischer Sicht formal als eine Praxis des Verwendens von Unterscheidun- gen, bevor sie vom Handelnden selbst gemacht werden betrachtet werden: wer sich mimetisch verhält, macht in gewissem Sinn noch nicht selbst die Unterschiede, die er aufführt – Mimesis ist nicht Verwendung eigenen Sinns, sondern gewissermaßen die Verwendung (noch nicht Beobachtung) fremden (sozialen) Sinns, fremder Unterscheidungen“ (Jörissen 2007:154f; Herv. im Orig.). 14 Er spricht hier von „emergenten sozialen Situationen“, welche anhand mehr oder minder ‘systemspezifischer’ Charakteristika beschreibbar seien: emergente Konstitution, Autopoiesis, simultane Handlungen und Beobach- tungen (polylogische Verfasstheit) und Komplexität: die Bedeutung der Körper sei zentral, solche Situationen jedoch nicht auf räumliche Kopräsenz reduzierbar, da der „‘unbezweifelbare’, sprich unbeobachtbare ‘Körper’ […] in allen Unterscheidungen denknotwendig, über sein praktisches, inkorporiertes Wissen auch konkret ein konstitutives Element sozialer Situationen, auch in sog. ‘virtuellen’ Umgebungen’“ (Jörissen 2007:176f) sei. 23 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien (ebd.:157). Dadurch wird der Wirklichkeits-Begriff um eine vor-kognitive Ebene erweit- ert. Diese Blickverschiebung kann gerade dann besondere Bedeutung erlangen, wenn über die bewusst wahrgenommene Wirklichkeit hinaus Effekte körperlicher Wirklich- keitskonstruktionen in Form bestimmter Praktiken in den Blick genommen werden. Ergänzend soll hier angemerkt werden, dass Schmidt (vgl. 2000:22ff) – im Gegensatz zu Luhmann – von ‘Aktanten’ anstatt ‘Beobachtern’ spricht und Unterscheidungsvollzüge sowohl in Beobachtungen als auch in Handlungen und Beschreibungen verortet. Den- noch versteht er das systemische Subjekt als „kognitiv autonomes System“. Somit ist die körperorientierte Kritik Jörissens durchaus auf seine Theorie übertragbar. Ein weiterer Zusammenhang, den Schmidt nur am Rande streift, ist jener zwischen Wissen und Macht, welchem im Werk Michel Foucaults eine tragende Rolle zukommt. Da Diskurs- und Dispositivzusammenhänge im zweiten, anwendungsorientierten Teil dieser Arbeit ausführlich thematisiert werden, mag an dieser Stelle der Verweis ausreichen, dass der Wirkungszusammenhang aus Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm (W & K) unweigerlich Machteffekte mit sich bringt. Um das Schmidt’sche Beispiel der Katego- risierung von männlich/weiblich aufzugreifen, lässt sich sowohl am Kategoriensystem (die normierenden Kategorien könnten auch anders aussehen: z.B. männlich/ weiblich/ transsexuell/ asexuell) als auch an der kulturellen Programmierung (männlich → stark; weiblich → schwach) illustrieren, inwiefern hier machtvolle Ein- und Ausschlüsse pro- duziert werden (vgl. Foucault 2007). Der einschränkende Charakter des Wirkungszusam- menhangs W & K wird auch in folgender Aussage Schmidts deutlich: „Jede Wahrnehmung, jede Beschreibung ist eine durch Sinnorientierung gesellschaftlich (vor-)geprägte Form von Unterscheidungsmanagement, über die Aktanten nur in Ausnahmefällen willkürlich verfügen können“ (2002:25). Ausgehend von seiner Modellierung von Wirklichkeitskonstruktion und der Bedeutung von Medienwirklichkeiten dafür stellt Schmidt (vgl. ebd.:28) Gedanken zur Virtualität an. Nach seinem Konzept wird die Entscheidung über Phänomene als wirklich/nicht- wirklich zum einen anhand der Wirklichkeitskompetenz der Einzelnen ertestet und zum anderen teils vorerst ausgesetzt, da eine eindeutige Entscheidung nicht ad hoc getroffen werden kann: 24 1.1. Wirklichkeit. Ein systemtheoretischer Zugang „An die Stelle einer Wirklichkeit als normative Ortho-Wirklichkeit tritt in der neueren Diskussion die Vorstellung von einem Kontinuum von sinn- haften Virtualitäten, die zunächst einmal nach der Art ihrer Entstehung oder Herstellung voneinander unterschieden sind und die dann von Ak- tanten in Geschichten und Diskursen je nach ihren Wirklichkeitstests auf Zeit und mit guten Gründen als eine Wirklichkeit pragmatisiert werden“ (ebd.). Ergebnis dieser Gedanken ist die Diagnose einer dreifachen Verschiebung von Wirklich- keit, die er als Modalisierung von Wirklichkeit (Ergänzung der dichotomen Entscheidungsraster wahr/ falsch, wirklich/nicht-wirklich um ‘indifferent’ u.a.), Modularisierung von Wirklichkeit (Bedeutung von Medienangeboten für eine mischför- mige Wirklichkeitskonstruktion) und Virtualisierung von Wirklichkeit (vorläufige Pragmatisierung virtueller Wirklichkeiten) beschreibt. Während dieser wissenschaftliche Diskurs (vgl. den Kapitelbeginn) nicht endgültig da- von ablässt, auf die Dichotomie wirklich/nicht-wirklich als Bezugsraster zurückzugrei- fen, bescheinigt Schmidt dem wirklichkeitskompetenten Menschen, Differenzierungen außerhalb dieses binären Codes in Anspruch zu nehmen. Das ‘Entweder/Oder’ wird teilweise oder auf Zeit ausgesetzt und damit um ‘(vorerst) indifferent’ ergänzt. Ein ‘neuer Modus von Wirklichkeit’ erfahre demzufolge seine Etablierung. Das kann u.a. als Strat- egie gewertet werden, mit den unzähligen medialen Wirklichkeitsangeboten umzugehen. Was Niklas Luhmann vielzitiert zum Zusammenhang von Weltwissen und Massenme- dien postuliert hat, betrifft nicht nur Massenmedien. Der Effekt nach Schmidt wären ‘Patchwork-Wirklichkeiten’, die entstehen, indem je eigene Wirklichkeitskonstruktionen angesichts vielfältiger Angebote um jeweils als sinnvoll erachtete ‘Wirklichkeits-Module’ erweitert – oder geändert werden. Entgegen ontologischer Fragen führt die pragmatische Perspektive des Alltags anhand einer Wirklichkeit, die teils in den Status eines ‘vielleicht wirklich’ gerückt wird, einerseits zum vorläufigen Aufschub einer näheren Entscheid- ung, andererseits aber auch zu einer Pluralisierung der einstweilen ‘virtuellen’ Wirklich- keiten, welche wirklich ‘wirklich’ werden können – oder eben nicht. Für die Anwendung in konkreten Situationen kann diese Entscheidung aber auch obsolet werden, solange 25 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien eine Problemlösungs-Wirklichkeit funktionert. Das versteht Schmidt unter der ‘Virtual- isierung von Wirklichkeit’. Einer näheren Betrachtung des Virtualitäts-Begriffs soll der nächste Abschnitt dienen. 1.2. Ein „Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“ Angesichts der zunehmenden Konstruktion von Wirklichkeiten unter Rückgriff auf Medienangebote verschiedenster Art, insbesondere die Möglichkeiten des Cyberspace, wurde die Frage nach der Wirklichkeit sowie deren Auswirkungen höchst virulent. „Neue Realitäten“ (vgl. Moser 2010:38ff) entstehen, werden geschaffen, rezipiert und konstrui- ert und ebenso entfaltet sich das Spiel um die Begrifflichkeiten von Realität und Virtu- alität: Reality TV, „virtuelle Realitäten und Welten“ oder „virtuelles Lernen“ bis hin zur „Hyperrealität“15 in verschiedenen Diskursen des Alltags, der Populärkultur und auch der Wissenschaften. Die Verwendung von ‘Virtualität’ als alltagssprachliche abgrenzende Be- zeichnung des künstlich geschaffenen ‘Nicht-Realen’, ‘Nicht-Materiellen’, ‘Unwirklichen’ führt gleichsam zu einer Verwässerung der Bedeutung und trägt zugleich die implizite Annahme in sich, eine klare Trennlinie zum ‘Wirklichen’ sei vorhanden (2008; Hug & Hipfl 2006; Welsch 1998). Um im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll mit dem Begriff des ‘Virtuellen’ operieren zu können – oder anders: die Re-Transformation in einen ‘Begriff ’ nachzuvollziehen –, sol- len in diesem Kapitel verschiedene theoretische Positionen vorgestellt werden. All diese – soweit die Vorauswahl – stimmen mit dem bereits konstatierten Verständnis konstruiert- er Wirklichkeit weitgehend überein.16 Wie bei Schmidt schon angeklungen ist, erscheint es aufgrund konstruktivistischer Grundannahmen sinnvoll, auf eine scharfe Trennlinie 15 Die apokalyptische Position Jean Baudrillards erscheint für den Kontext dieser Arbeit nicht dienlich. Seine Ex- tremposition markiert die Ausdehnung des Virtuellen (in seinen Worten: der ‘Hyperrealität’) auf alle Lebensbe- reiche und das Verschwinden der Realität im selbstreferenziellen Verweisspiel der Zeichen aufeinander (Schetsche & Vähling 2006:71ff): „We might believe that we exist in the original, but today this original has become an exceptional version for the happy few. Our own reality doesn’t exist anymore“ (Baudrillard 1995:97). 16 Sybille Krämer schreibt dazu in der Einleitung zum Sammelband ‘Medien Computer Realität’: „Daß wir keinen unmittelbaren Zugang haben zu unserer Außenwelt, kann nahezu als ein Konsens der philosophischen Reflexion seit Beginn der Neuzeit gelten“ (1998:15). Auch wenn diese Aussage mit Sicherheit nicht unwidersprochen ist und die Positionen innerhalb dieses ‘Konsenses’ denkbar unterschiedlich aussehen können, schließe ich mich diesem Befund unter Vorbehalt an. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Realitätsbegriffe verschiedener konstruktivistischer Positionen können bei Benjamin Jörissen (vgl. 2007) nachgelesen werden. 26 1.2. Ein „Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“ zwischen Wirklichkeit und Virtualität (wie auch zwischen ‘Wirklichkeit’ und ‘Medien- wirklichkeit’) zu verzichten. Zu diesem Schluss kommt auch Welsch nach seiner Analyse der zahlreichen Bedeutungsvarianten von ‘wirklich’ und ‘Wirklichkeit’ (1998:210f): „Das Wirkliche ist nicht durch und durch wirklich, sondern schließt Vir- tualitätsanteile ein, und ebenso gehören zum Virtuellen zu viele Wirklich- keitsmomente, als daß es als schlechthin virtuell gelten könnte. Ein simp- ler Dualismus – wirklich versus virtuell – wäre jedenfalls zu einfach, wäre falsch“ (ebd.). Diese Aussage gründet auf einem Blick in die Geschichte der Philosophie, welcher ausgewählte Konzeptionen von Virtualität offen legt.17 Anhand von wenigen Schlaglich- tern soll dieser Blick hier nachvollzogen werden. Bei Aristoteles beginnend und auf die Ontologie bezogen wird demnach Potentialität (erst bei Thomas von Aquin: ‘Vir- tualität’) als bereits vorhandene Möglichkeiten verstanden, die ‘aktual’ werden können. Nach diesem Verständnis wäre das ‘Aktuale’ als aus dem ‘Virtualen’ schöpfend und ent- stehend zu denken, mit der Konsequenz, beide Sphären strikt zu trennen (vgl. Welsch 2000). Das klassische Beispiel hierfür ist später nach Michelangelo die Statue, die virtuell bereits im Marmorblock ‘ist’ und aus dem Status des (noch-)nicht-aktualen vom Bild- hauer befreit wird. Ein Bild, das Leibniz aufnimmt und von ontologischen Aussagen auf die Epistemologie, sowie in ein dynamisches Verständnis von Virtualität überträgt (vgl. ebd.). Virtualität ist nach diesem Verständnis streng genommen nicht als Gegensatz zu Realität zu denken: „En toute rigueur philosophique, le virtuel ne s’oppose pas au réel mais à l’actuel: virtualité et actualité sont seulement deux manières d’être différentes“ (vgl. Lévy 1998).18 17 Obwohl die Referenzen auf zwei verschiedene Texte verweisen, kann dabei von einem ‘Projekt’ gesprochen werden, das den Fokus im ersten Fall (1998) auf ‘Wirklichkeit’, im zweiten auf das ‘Virtuelle’ verlagert. Die theo- retischen Grundlagen sowie die Argumentation verlaufen weitestgehend parallel (vgl. Welsch 2000, 1998). Da in diesem Rahmen nicht die Begriffsgeschichte des Virtualitätsbegriffs in der Philosophie insgesamt nachgezeichnet werden kann, folge ich Welsch in seiner Auswahl der Konzeptionen – wissend, dass damit ich wie auch er auf Vollständigkeit verzichten. 18 Zwischen den verschiedenen Verwendungen von virtuell/virtual sowie aktuell/aktual auf Deutsch, Englisch oder Französisch lassen sich keine signifikanten semantischen Unterschiede feststellen. Lediglich das Deutsche ‘aktuell’ wird aufgrund der alltagssprachlichen Bedeutung auch weiterhin nicht verwendet. 27 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien Diese Feststellung klärt Verwirrungen um zeitgenössische Verwendungsweisen von ‘Virtualität’ zumindest teilweise auf: Der Begriff entstammt demnach einem anderen Korrespondenzpaar (virtuell/aktual), während das ‘Wirkliche’ in diesem Rahmen dem ‘Unwirklichen’ (Fiktiven) gegenüber steht. Teilweise auch der Unklarheit des Verhältnisses von Realität/Wirklichkeit im Deutschen und in Übersetzungen geschuldet, führen die zahlreichen Bedeutungsvariant- en von ‘wirklich’ zur scheinbar problemlosen Paarung wirklich/virtuell, womit die jew- eiligen Kategorien aufgebrochen und durchmischt werden. Im Englischen erscheint das Problem deutlicher: ‘Virtual memory’ is not actually real, but functions virtually the same. ‘Virtual’ wird sowohl im Alltagsgebrauch als auch im Zusammenhang mit simulierter Hardware im Sinne von ‘as good as’ gebraucht. ‘Virtueller Speicher’ kann nicht direkt angefasst werden, erfüllt aber die selben Funktionen wie äquivalente Hardware. Damit wären nach Welsch schon zwei Varianten der Wortnutzung in der Gegenwart genannt. Neben der (englischen) alltagssprachlichen und technischen Verwendung macht Welsch eine ‘internetbezogene’ (bspw. in Virtual Community) aus, und eine in ‘Virtual Reality’ im engeren Sinne, gedacht als Umwelt/Umgebung, welche mit Cyberbrille/-handschuhen etc. ‘betreten’ werden kann (vgl. Welsch 2000). Die Vorläufigkeit des Schemas zeigt sich allein anhand der Inkompatibilität mit 3D-Simulationen (bspw. First-Person-Shooter), die sowohl online als auch offline gespielt werden können. Sie können zwar den Charak- ter einer ‘Virtual Community’ aufweisen und sind wohl als ‘internetbezogen’ zu bezeich- nen, kommen aber – ohne Cyber-Equipment – aufgrund der Faktoren Immersion, Selbst- Gegenwärtigkeit und Objekt-Gegenwärtigkeit (vgl. Schindler 2001:319) einer ‘Virtual Reality’ (im Sinne einer simulierten Umwelt) sehr nahe.19 Im ‘Virtuellen’ verbinden sich also unterschiedliche Bedeutungsebenen, die de- mentsprechend auf seine semantische Beziehung zum ‘Realen’/‘Wirklichen’ rückwirken. Diese Bedeutungen verweisen auf eine Trennlinie, die ähnlich derer zwischen außer- medialer und medialer Erfahrung zu ziehen wäre, während nach dem philosophisch hergeleiteten Verständnis sowohl ein Tisch als auch die programmierte Simulation eines Tisches als aktualisiert aufzufassen seien. Die beiden Les- und Verwendungsarten sind so gesehen nur sehr bedingt kompatibel (vgl. Jörissen 2007:19f). Jörissen versucht, diese semantischen Spiele zu erklären, indem er die Bildhaftigkeit von ‘Virtueller Realität’ und mit Verweis auf Platon das ‘Bild’ als Gegensatz zur ‘Realität’ 19 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Hölterhof am Beispiel von virtueller Lehre offline (vgl. 2008:5). 28 1.2. Ein „Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“ betrachtet. Die Rahmung des Bildes werde in der Rede von ‘Virtueller Realität’ allerdings ausgeblendet: „Das Bild wird als (quasi magisches) Vorbild oder Nachbild, als Reprä- sentation einer möglichen Aktualität verstanden und gerade darin nicht als Bild, als ein – wenn auch seiner Natur nach besonderes – ‘Ding’ unter anderen, gesehen“ (ebd.:21). Diese Art Bilder zu betrachten gründet auf kulturellen Traditionen und unreflekti- erten Gewohnheiten (vgl. ebd.) und führt zwangsweise zu einer engen Verschränkung von ‘Wirklichkeit’ und ‘Medienwirklichkeit’, von ‘Realität’ und ‘Virtualität’ oder auch ‘Bild’sowie den zugrunde liegenden Modi der Wahrnehmung. Gleichzeitig bleibt die Be- trachtung ungleich reduziert, da viele ‘virtuelle Welten’ sich gerade durch ihre Nicht- Aktualisierbarkeit auszeichnen und vielmehr aus dem Illusionären, Fiktionalen schöpfen (vgl. ebd.:20). Als erste Konklusion darf Folgendes festgehalten werden: Von ‘virtueller Realität’ zu sprechen, birgt die Gefahr, alles und nichts zugleich zu sagen. Jedoch das sprichwörtliche Kind mit dem Bade auszuschütten, sprich ‘Virtualität’ (oder wahlweise: das ‘Virtuelle’) gänzlich zu verabschieden20, würde Potenziale (‘mögliche Aktualisierungen’) des Begriffs verkennen. Voraussetzung dafür ist die möglichst eindeutige Markierung dessen, was gemeint sein soll. Alternative, teils weniger problematische Begriffe haben sich in der Verwendung kaum durchgesetzt (vgl. ebd.).21 Pierre Lévy (vgl. 1998) konzipiert bspw. mit „virtualisation“ eine Gegenbewegung zur Aktualisierung, welche die Dinge und ‘Lösungen’ der gegebenen Welt wiederum problematisch werden lässt, „als seien sie Antworten auf Fragen, denen wir uns zuwen- den“ (Hölterhof 2008:9). Konsequenz dieser Denkweise wäre, dass scheinbar ‘wirkliche’ Dinge ihre fixierte Identität aufgäben. 20 Jörissen spricht sich dafür aus, weiterhin auf etablierte Formulierungen wie ‘virtuelle Welt/Umgebung’ für „simu- lierte dreidimensionale Kultur- und Interaktionsräume“ zurückzugreifen, um sich umständliche Umschreibungen zu ersparen (vgl. 2007:21). 21 Jörissen nennt als Alternativbezeichnungen für „virtuelle Realität“ bspw. „‘Artificial Reality’, ‘Virtual Environ- ments’, ‘Telepresence’, ‘Cyberspace’, ‘Tele-Existence’ und ‘Tele-Symbiosis’“ (2007:20). An vielen Stellen würde es bereits ausreichen, konkreter zu benennen, was damit gemeint sein soll, wie etwa Online-Anwendungen, digitale oder elektronische Medientechniken, dreidimensionale Raumsimulationen etc. 29 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien „[La virtualisation] transforme l’actualité initiale en cas particulier d’une problématique plus générale, sur laquelle est désormais placé l’accent on- tologique. Ce faisant, la virtualisiation fluidifie les distinctions instituées, augmente les degrés de liberté, creuse un vide moteur“ (Lévy 1998). Wenn Lévy hier die ‘Verflüssigung gesetzter Unterscheidungen’ als einen Effekt seiner Version von Virtualisierung markiert, können wir den Rückbezug zu Schmidt (2002:28) angehen, der mit der Indifferenz als bewusste Entscheidung zur Nicht-Unterscheidung die Modalisierung von Wirklichkeit konstatiert, welche im pragmatischen Sinne zu ihrer Virtualisierung beiträgt, oder auch zu einer „Vorstellung von einem Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“. Schmidt schlägt vor, „zwischen primär technisch, kognitiv und medial fabrizierten Virtualitäten“ zu unterscheiden, ohne dabei Mischformen auszus- chließen. Begünstigt durch medientechnologische Entwicklungen, der Pluralisierung von Medienwirklichkeiten, „in denen mit Fakten und Fiktionen gespielt werden kann“22, und somit der Häufung von Kontingenzerfahrungen (vgl. ebd.) liegt es nahe, ‘Wirklichkeiten’ als ‘Möglichkeiten’ zu denken. Folgende Erkenntnisse können aus diesem Abschnitt festgehalten werden: • Die Bedeutung von 'virtuell' lässt sich genauso wenig eindeutig auf 'so gut wie', 'internetbezogen', 'auf Basis von Digitalisierung' oder 'simuliert' reduzieren, wie auf 'existent aber (noch) nicht aktualisiert', sondern verlangt nach Spezifikation der jeweiligen Verwendung: 22 Das Moment der Fiktion und Illusion erscheint in mehreren Texten zu Wirklichkeit und Virtualität – in mehr oder weniger bestimmtem Nähe-/Distanzverhältnis (vgl. Baum & Schmidt 2002; Esposito 1998; Jörissen 2007:10ff; Schindler 2001:321ff; Waldenfels 1998:238f; Welsch 2000; 1998:202ff). Ohne darauf ausführlicher eingehen zu können, sei zumindest festgestellt, dass unsere Erfahrungswirklichkeiten durch Fiktionen (kulturelle Schemata der Kunst, des Ritus etc.) mitgeprägt sind; dass das Verhältnis Wirklichkeit/Fiktion dem von Realität/Virtualität in seiner wechselseitigen Verwobenheit ähnlich ist. Verschiedene kulturelle Formate zielen darauf ab, die Beziehung zwischen ‘Fakten und Fiktionen’ so eng zu knüpfen, dass die Grenze (nach alltäglichem Verständnis) inhaltlich und/oder formal nicht mehr bestimmbar ist. Zahlreiche Beispiele dafür lassen sich nennen: Kino (3D-Kino, Mockumentaries, Ulrich Seidls Gratwanderungen zwischen Dokumentation und Spielfilm etc.), TV-Formate (Re- ality TV), Radiosendungen (Orson Welles’ Krieg der Welten), Kunst (the Yes Men als Medienkünstler; Unsichtbares Theater, Performance Art) und natürlich (Online-)Videospiele (First-Person-Shooter, etc.) und die Anreicherung der ‘Wirklichkeit’ durch technical devices unter dem Stichwort ‘Augmented Reality’. Neben die traditionellen Un- terscheidungen Wahrheit/Lüge, Sein/Schein, Realität/Fiktion, Wirklichkeit/Utopie und Realität/Simulation tritt nun die Unterscheidung Realität/Virtualität/Hyperrealität, womit alle anderen Unterscheidungen neu kontextua- lisiert werden und entsprechend semantisch uminterpretiert werden müssen“ (Schmidt 2007:142). 30 1.2. Ein „Kontinuum von sinnhaften Virtualitäten“ „[T]he relationship between the virtual and the real is a complex one and is to be re- duced neither to a traditional, realistic, nor to a postmodern, virtual monism. Dif- ferentiation – taking into account intertwinement as well as distinction – ought to prevail“ (Welsch 2000). • Virtualität(en) im Sinne Schmidts stellen die 'Ortho-Wirklichkeit' in Frage und steigern potenziell die Reflexivität in Bezug auf Wahrnehmungsmodalitäten und -konstruktionen; sowohl Medienwirklichkeiten, als auch die scheinbar unhinter- fragbare 'Lebenswirklichkeit' betreffend. Das macht der Vorschlag verschiedener Formen von Virtualität deutlich (technisch, kognitiv, medial). • Immersion, das heißt das Ausblenden von Rahmungen, ist entscheidend für die Wahrnehmung, Unterscheidung und Bewertung virtueller (im Sinne fiktiver oder bildhafter) Phänomene. Das gilt gleichermaßen für ironische Aussagen, Theate- raufführungen oder dreidimensionale Computerwelten. Mit ‘Rahmung’ ist also der wörtliche Rahmen eines Bildes (oder des Bildschirms) wie auch der metaph- orische Rahmen (der situativen Art des Wirklichkeitsanspruchs und der Bezug- nahme auf Wirklichkeit) gemeint (vgl. Welsch 1998:202ff). • Während es zu unnötigen Komplikationen führt, von 'Virtueller Realität' zu spre- chen, birgt der Begriff des 'Virtuellen' an sich Möglichkeiten der Beschreibung und des Anschlusses an Diskurse über virtuelle Räume und ihre Medienwirklich- keiten. Angesichts dieser Befunde wird mit ‘virtuell’ im weiteren Verlauf dieser Arbeit, sofern nicht anders markiert, in erster Linie „auf Digitalisierungsprozessen beruhend“ (Hug & Hipfl 2006:14) benannt werden. Damit soll ‘Virtualität’ aus dem irreführenden Dualis- mus Realität/ Virtualität herausgelöst werden.23 Solche virtuellen Angebote können also als Teil einer Medienwirklichkeit in die prag- matisierte Wirklichkeit Einzelner integriert werden → Virtualität und Wirklichkeit Sie können unterschiedlich geartete Wirklichkeitsansprüche stellen und authentische, rein fiktionale (vorgestellte oder erfundene) und illusionäre (täuschende, täuschend echte) 23 Diese Entscheidung ignoriert vorerst bewusst eine mögliche Eingrenzung, etwa auf dreidimensional gestaltete Räume (Simulationen, Spielwelten etc.) oder gar auf den Cyberspace im engeren Sinne (der nur mit Cyberbrille und/oder -anzug zu betreten ist). Diese Abstufungen lassen sich jedoch graduell verstehen, zum anderen gilt es, auch die tiefer liegenden, dem philosphischen Diskurs entnommenen Bedeutungslagerungen nicht ad acta zu legen, sondern die eröffneten Denkmöglichkeiten als diskursive Bereicherung mitzudenken. 31 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien Anteile einschließen, welche teils aktualisierbar, teils (noch) nicht aktualisierbar sein kön- nen → Virtualität und Fiktion/Simulation/Lüge Gleichzeitig eröffnen sie Möglichkeiten, die Wirklichkeit erster Ordnung anders wah- rzunehmen, zu denken und Aktualisierungen stärker repräsentationaler Anteile anzus- treben. Umgekehrt können Anteile ‘aktualisierter Wirklichkeit’ eine in Frage stellende Virtualisierung erfahren. Hier finden sich Aspekte eines Virtualitäts-Verständnisses von Lévy wieder; indem das Virtuelle dem Aktualen vorgeschaltet wird, können wir auch Anleihen der kurz skizzierten Gedanken von Leibniz und von Aquin wiedererkennen → Virtualität/Virtualisierung und Aktualität/Aktualisierung Die Rahmung kann stark variieren und in Bezug auf Bildschirmgröße, Einbezug eines oder mehrerer Sinneskanäle, Ritualisierung etc. die Immersionsschwelle (das Ein- treten in das Bild) heben oder senken → Virtualität und Bildhaftigkeit Wenn also im Folgenden der Versuch unternommen wird, die Heterotopien Foucaults als Konzept in den ‘virtuellen Raum’ umzudenken, so gilt es, diese Feststellungen im Hinter- kopf zu behalten. Mit der gebotenen Vorsicht kann – so der Anspruch – ein differenziert- er Blick auf begriffliche Kreationen und entsprechende Phänomene gewährleistet werden. 1.3. Medien[-Kultur-Gesellschaft] Im bisherigen Verlauf war häufig von ‘Medienwirklichkeit’ und ‘Medienangeboten’ die Rede, ohne genauer darauf einzugehen, wie in dieser Arbeit der Medienbegriff zu verste- hen sei. Das ‘Medienangebot’ an Begriffskonzeptionen ist ein reichliches und ein reichlich verwirrendes, wie vielerorts konstatiert wird. Die Notwendigkeit zu bestimmen, wovon geredet wird, ist darum umso essenzieller. Trotzdem lassen nicht nur Alltagsdiskurse, sondern lässt auch wissenschaftliche Literatur diese Bestimmung in der Hitze des Wort- gefechts vielfach vermissen (vgl. Jörissen 2007:197; Kleiner 2006:113; Schmidt 2008:93). An dieser Stelle soll nicht versucht werden, etymologische Bedeutungen zu destillie- ren oder zahlreiche Medienbegriffe zu referieren. So ist es in anderen Texten zum Thema zur Genüge geschehen und kann nachgelesen werden (für eine Auswahl vgl. Kloock & Spahr 1997; Sesink 2008:211-269). Stattdessen soll in diesem Abschnitt das Konz- ept eines systemischen „Medienkompaktbegriffes“ vorgestellt werden, wie ihn Siegfried J. Schmidt seit gut zehn Jahren vertritt (vgl. Schmidt 2008; 2002; 2000; 1999). Dieser 32 1.3. Medien[-Kultur-Gesellschaft] scheint die Pluralität des Medienbegriffs sinnvoll zu strukturieren und die zentralen As- pekte greifbar zu machen, ohne dabei zu normativ vorzugehen. Daher soll er der vorlieg- enden Arbeit als analytisches Raster für Medienangebote zugrunde gelegt werden. Schmidt unterscheidet vier Komponenten des Kompaktbegriffs, die er in einer syste- mischen und selbstorganisierenden Kooperation konzipiert: • Kommunikationsinstrumente (communication instruments) • Medientechniken/-dispositive (technological devices)24 • Institutionelle Einrichtungen und Organisationen (the social system's bodies of such devices) • Medienangebote (media offers) Als Kommunikationsinstrumente bezeichnet er „alle materialen Gegebenheiten, die semiosefähig sind und zur geregelten, dauerhaften, wiederholbaren und gesellschaftlich relevanten strukturellen Kopplung von Systemen im Sinne je systemspezifischer Sinnproduktion genutzt werden können“ (Schmidt 2000:94). Diese Lesart von Zeichen oder Bedeutungs(über)trägern beinhaltet gesprochene Sprachen, Schriften, Bilder (sofern ohne technische Entstehungsgeschichte) und auch Töne. Auch Gesten sind dazu zu zählen (2008:93). Demzufolge wäre Sprache an sich nicht als Medium zu bezeichnen. Medientechniken (oder technisch-mediale Dispositive) sind der infrastrukturelle „Apparatus“ (vgl. Baudry 1974), welcher insbesondere auf Produktions- wie Rezeptionsseite25 erhebli- 24 Auf die Bezeichnung Mediendispositive wird hier nach Möglichkeit nicht zurückgegriffen, da dies in Kapitel 4 zu Verwirrung führen kann. Dort geht es nämlich um die Zusammenführung der Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider (vgl. 2008), die mit einem Foucault’schein Dispositivbegriff operieren, mit jenem von Baudry (vgl. 1975), der eher im Sinne Schmidts zu verstehen ist. 25 In der vorläufigen, deutschsprachigen Version des Beitrags von 2008 („Medienphilosophie – ein sinnvolles Pro- gramm?“) schließt Schmidt die Verbreitung von Medienangeboten explizit ein. In den publizierten Texten werden Verteilungstechnologien nicht mehr als solche genannt. Im weitesten Sinne können darunter Entwicklungen ge- fasst werden, die z.B. von Organisationen wie der Post benutzt wurden (Kutschen, Dampfschifffahrt, etc.), aber auch Techniken zur Distributionsreduktion (Verschlüsselungsverfahren, Virtual Private Networks, ‘blurred ima- ges’ bei Google Maps) und Speichertechnologien. Dass diese auch die „Produktion und Rezeption von Medienan- geboten nachhaltig beeinflussen“ (Schmidt 2000:94), ist naheliegend. Insofern werden diese zwar mitgemeint, an dieser Stelle jedoch nicht expliziert. Die Unterscheidung wird jedoch später unter der Kategorie ‘action domains’ 33 1. Wirklichkeit – Virtualität – Medien chen Einfluss ausübt. Hierzu zählen technologische Errungenschaften wie Buchdruck, Fotografie, Radio, Film, Fernsehen und Digitale Medientechniken (Computer, Internet). Die sozialsystemische Komponente, bestehend aus Institutionen und Organisationen, hat nun die Funktion, Kommunikationsinstrumente und Medientechniken gesell- schaftlich einzuführen, durchzusetzen, zu organisieren und zu etablieren. Hier sind sowohl ProduzentInnen wie Verlagshäuser, öffentlich-rechtliche wie private Rundfunk- anbieter und Internetanbieter gemeint, als auch Bildungsanstalten oder staatliche In- stanzen, die die rechtlichen Rahmenbedingungen verhandeln, definieren und Regelver- stöße sanktionieren. Aus dem komplexen Zusammenwirken dieser Komponenten entstehen spezifische Medienangebote. Es sei also geboten, bei der Analyse ihre Entstehungsbedingungen an- hand der vorgängigen Dimensionen mit einzubeziehen. „The systemic interplay of the four components named above, I call medium system“ (Schmidt 2008:93). Gleichzeitig finden all diese Prozesse der Produktion und Rezeption von Medienangeboten nicht im neutralen Raum statt, sondern eingebettet in den Wirkungszusammenhang aus Wirklich- keitsmodellen und (Medien-)Kulturprogrammen. Letzteres ist im Sinne eines Problem- lösungs- bzw. Orientierungsprogrammes zentraler Bezugspunkt für die Mediennutzung von und in Gesellschaften (vgl. ebd.:95). „All processes ongoing in a medium system are oriented by those subsystems of the culture of a society (= media culture) which shape media processes“ (ebd.). Das analytische Raster zur Beobachtung und Beschreibung von Medienprozessen differenziert Schmidt nun weiter aus und nennt zusätzlich zu den vorgestellten vier Kom- ponenten des Medienkompaktbegriffs: „action roles (production, distribution, reception, post processing) reference systems (technique, economy, politics, law, socioculture) reaches (regional, national, international, global) directions of observation (diachronical, synchronical) kinds of observation (descriptive, normative)“ (ebd.:95). wieder aufgegriffen und umfasst diesmal sowohl Produktion und Rezeption als auch Verbreitung (distribution) und Verarbeitung (post processing) (2008:93f). 34 1.3. Medien[-Kultur-Gesellschaft] Am Ende dieses Kapitels, in dem die Begriffe Wirklichkeit, Virtualität und Medien erar- beitet und mit der Schmidt’schen Modellierung in einen sinndienlichen Zusammenhang gestellt wurden, steht ein Zitat, das die Vielzahl an Differenzierungen und Genauigkeiten in einer grundlegenden Hypothese zusammenfließen lässt: „The evolution of the total media system of modern media-culture soci- eties from writing to the Internet has fundamentally changed our relation to the world and our modes of communication. This change can be de- scribed as transition from communicativity to mediality“ (ebd.:95). Ebendiese Medialität und ihre Bedeutung für Utopien wie Heterotopien gilt es nun ge- nauer zu beleuchten. Denn mit den „modes of communication“ ändern sich auch die Modi des utopischen Denkens sowie der utopischen Praxis, während die Grenze dazwi- schen zusehends verschwimmt. Ihren Beitrag dazu leisten Verschiebungen im Bereich der Kommunikationsinstrumente (Stichwort: visuelle Kompetenz), der Medientechniken (und ihre immer schnelleren Innovationen) und der Institutionen (wie etwa community- basierte Programmentwicklung). Mediale Heterotopien als konkrete Medienangebote, sofern es so etwas geben sollte, sind, wie auch ihre Analyse, auf diese Faktoren angewie- sen, die von der bloßen Rede von ‘Medien’ eher verschüttet als benannt werden. 35 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien „Etwas stimmte da nicht, dachte er; da ist eine Kluft, eine Verschiebung zwischen Wort und Wirklichkeit. Wenn sie die Welt verbessern wollen, dachte er, warum nicht gleich hier anfangen, im Mittelpunkt, bei sich selbst?“ (Virginia Woolf, Die Jahre) Anschließend an das erste Kapitel zur theoretischen Grundlegung der Begriffe Wirklich- keiten, Virtualität und Medien folgt ein Abschnitt, in welchem ein Überblick über Vor- stellungen und begriffliche Fassungen von ‘Utopie’ und Folgekonzepten geliefert werden soll. Die Relevanz des Exkurses ist eine doppelte: Zum einen steht Foucaults Konzept der Heterotopien (erstmals 1967) in relativ direkter Weiterführung utopischer Vorstellungen von Raum, auch wenn dieser Aspekt in zahl- reichen Anwendungen unterschiedlicher Disziplinen entweder ganz ausgeblendet wird, oder nur kurz Erwähnung findet. Daher scheint es sinnvoll, diesen Kontext in die weit- eren Überlegungen miteinzubeziehen. Zum anderen lautet eine der Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit, dem ‘Utopischen’ in ‘virtuellen Heterotopien’ nachzuspüren, was nach einer Bestimmung des Phänomens verlangt. Im Allgemeinen kann festgestellt werden, dass sich die Beschäftigung mit Utopien in der Gegenwart mehrheitlich innerhalb kultur- und literaturwissenschaftlicher Disziplinen abspielt.26 Ich will in diesem Kapitel jedoch primär Arbeiten aus der Philosophie und Soziologie zum Thema aufgreifen. ‘Utopie’ wird in diesem Fall weniger als Gattung, sondern vielmehr als Beschreibungsfigur von geschichtlichen Entwicklungen, Reflexion- sangebot über die jeweilige historische Gegenwart und/oder als Impulsgeberin für Pro- zesse gesellschaftlichen Wandels verstanden.27 26 Einschlägige Zeitschriften zum Thema verorten sich in den literaturwissenschaftlich ausgerichteten ‘Utopian Stu- dies’. Vgl. das Suchergebnis eines elektronischen Zeitschriftenkatalogs: http://rzblx1.uni-regensburg.de/ezeit/ searchres.phtml?bibid=UBI&colors=7&lang=de&jq_type1=KT&jq_term1=utop* [Stand Stand 04-08-2014]. 27 Eine methodische Anwendung, die sich der Utopie als Praxis bedient, sei zumindest erwähnt: In der Zukunfts- werkstatt nach Jungk wird die zweite von drei Phasen als Phantasie- oder Utopiephase bezeichnet, die – ausge- 37 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien Anschließend an einen begriffs- und ideengeschichtlichen Überblick werden theo- retische Kategorisierungen eingeführt, die es erlauben, gerade im Hinblick auf Heteroto- pien differenziert von Utopien und dem Utopischen, konkreten Utopien und Dystopien sprechen zu können. 2.1. Historischer Abriss über Verständnis, Produktion und Rezeption von Utopien Im ursprünglichen Wortsinne wird mit ‘Utopie’ als ou-topos (griech.) ein „Nicht-land“ oder „Nirgendwo“ bezeichnet (Dudenredaktion 2003). Ein Ort also, der nicht real exis- tiert. Wie das erste Kapitel allerdings deutlich gemacht hat, ist bei der Rede von ‘Existenz’ und ‘Realität’ Vorsicht angebracht. 2.1.a. Ursprünge des utopischen Denkens Utopien sind laut alltagssprachlichem Verständnis nicht-existierende, ideale Orte, die (z.B. in Form von politischen und literarischen Werken, Filmen, architektonischen Zeich- nungen und Modellen28 oder auch im weiteren Sinne von Gedankenexperimenten) als Ideen oder Fiktionen ausgearbeitet und geschaffen werden.29 Die Utopie kann also ver- standen werden als hend vom Ist-Zustand – der Imagination eines Soll-Zustandes dient, um in der dritten Phase konkrete Lösungen zu suchen (Kuhnt & Müller 2004:12ff). Von Oskar Negt stammt der Vorschlag, in Bildungsprozessen gesell- schaftliche Kompetenzen zu fokussieren. Eine von fünf genannten bezeichnet er als Historische Kompetenz, welche sich aus Erinnerungs- und Utopiefähigkeit zusammen setzt (vgl. Negt 1997). Teilweise findet dieser Vor- schlag sogar Anwendung, wie sich an einem EU-Projekt zu „politische[r] Grundbildung“ erkennen lässt (vgl. Dvorak u.a. 2005). 28 Zum Zusammenhang von Architektur und Utopie erschien ein Sammelband unter dem Titel Constructing Utopia (vgl. Zinsmeister 2005). 29 Zur Komplikation und Erklärung zugleich kann in Bezug auf die literarische Gattung gesagt werden, dass hier „die Fiktion eines als wirklich existent vorgestellten idealen Gemeinwesens, das ein aus Europa kommender Reisender auf einer fernen Insel am Rande des bekannten Erdkreises entdeckt und nach seiner Rückkehr den daheim Zurückgebliebenen schildert [dominiert]“ (Hölscher 1979:740). Die Geschichten werden also in ein re- präsentationales Setting (z.B. Naturgesetze gelten) in einem fernen unbekannten Land eingebettet, was angesichts der unvollständigen Entdeckung der Welt leichter fiel. Der prinzipiell realistische Charakter erscheint jedoch als grundlegender. So werden fantastische Elemente (Drachen, Zwergen, Riesen) mehrheitlich ausgelassen. 38 2.1. Historischer Abriss über Verständnis, Produktion und Rezeption von Utopien „Vorstellung, die in der Welt der äußeren Erscheinungen nirgends ver- wirklicht anzutreffen ist, gleichwohl aber wert erscheint, daß man sich ih- rer Verwirklichung immer mehr nähere“ (Hölscher 1979:775).30 Die erste begriffliche Verwendung fand die ‘Utopie’ oder eigentlich ‘Utopia’ in der gleichnamigen Fiktion von Thomas Morus, die 1516 erschien (vgl. Schwendter 1994:8ff). Wenngleich schon vorher Vorstellungen eines idealen Staats geschaffen wurden (bspw. die ‘Politeia’ Platons), geschah es durch Morus zum ersten Mal unter diesem Titel (Kre- isky 2000:26). In diesem Traktat oder dialogischen Werk wird eine fiktive ideale Gesell- schaft anhand zentraler Aspekte gesellschaftlicher Organisation (Staatsform und Gese- tze, Religion, Erziehung etc.) beschrieben, die sich in der ‘neuen Welt’ befinden soll, eben in einem Land namens ‘Utopia’ (vgl. Morus 1981). In der Folge entstand eine Vielzahl vergleichbarer Werke, wodurch sich der eine Nicht-Ort ‘Utopia’ bei Morus erst zu einer literarisch-künstlerischen Gattungsbezeichnung entwickelte (vgl. Hölscher 1979:740f), wie auch zu einem allgemeineren Begriff für idealisierte Vorstellungen von Staat und gesellschaftlicher oder gemeinschaftlicher Organisation des Zusammenlebens.31 „Bis ins frühe 20. Jahrhundert setzt sich der utopisch-sozialistische Dis- kurs so gut wie bruchlos fort. Als allgemeiner Grundsatz kann dabei fest- gehalten werden, daß, je mehr die Produktion von Utopien sich häuft, 30 Das ist zu Recht vorsichtig formuliert, denn schnell wird Autoren von Utopien (gerade auch der Frühphase) unterstellt, sie hätten ihre fiktionale Gesellschaft tatsächlich für die beste gehalten und dem entsprechend auf die unbedingte Umsetzung (‘Realisierung’) abgezielt. Richard Saage setzt dem entgegen, dieser Verwirklichungs- gedanke sei erst 250 Jahre nach der ‘Utopia’ von Thomas Morus (1516) aufgekommen, „als sich das utopische Denken um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit der geschichtsphilosophischen Fortschrittsideologie verband. Dass diese Konvergenz kontingent ist, zeigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das utopische Konstrukt vom Fortschrittsdeterminismus löste, den der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts diskreditierte“ (Saage 2008:131f). Schließlich bleibt die Frage der prinzipiellen Realisierbarkeit teils unbeantwortbar, gerade wenn es sich um zukünf- tige Utopien handelt, die technologische Neuerungen in das gesellschaftliche Setting integrieren. Hier wird auch das Naheverhältnis zur Science-Fiction sichtbar. 31 Hölscher hält zur Begriffsgeschichte fest: „Der Übergang des Utopiebegriffs von der Werkbezeichnung und geographischen Metapher zur abstrakten Bedeutung einer unpraktikablen Idee ist in den europäischen Sprachen zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Bedingungen erfolgt. Gemeinsam ist diesen Übergängen, daß sie jeweils durch nationale Revolutionsperioden stark beschleunigt wurden. So trat der Begriff in England schon zur Zeit der Bürgerkriege nach 1640 aus dem exklusiven Sprachgebrauch der gelehrten Welt in den allgemeinen politischen Wortschatz über. In Frankreich und Deutschland wurde er dagegen, nach spärlichem Gebrauch im 17. und frühen 18. Jahrhundert, erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in den gelehrten Sprachschatz eingeführt und ging erst nach 1830 in den allgemeinen politischen Sprachgebrauch ein“ (1979:756f). 39 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien desto stärker wird die ökonomische Strukturkrise fühlbar“ (Schwendter 1994:11).32 Diese Vorstellungen können mehrheitlich als sozialistische Utopien bezeichnet werden. Sowohl was die Schaffung von Utopien als auch ihre Kritik und die Verwendung des Beg- riffs als pejorative Kampfformel betrifft, lässt sich jedoch nicht sagen, dass nur eine poli- tische Ideologie sich Utopien und ihrer Diffamierung als Mittel bedient hätte (Hölscher 1979:766).33 2.1.b. Utopie im Feuer der Kritik Durch die teils heftige Kritik an Utopien entstand die Konnotationskomponente, die aus heutiger Sicht an Verwendungsweisen wie etwa „Das ist doch eine Utopie!“ erkennbar ist. Gemeint als: ‘Das ist ganz und gar unmöglich, undurchführbar’, „nur in der Vorstel- lung, Fantasie möglich“ (Dudenredaktion 2003) wird solchen Ideen Realitätsferne und Träumerei vorgeworfen.34 Geschichtliche Entwicklungen haben gewisse Argumente gegen Utopien35 zerstreut. Alleine dadurch, dass sich einige Ideen aus vergangenen Utopien, die aus damaliger Zeit unmöglich umsetzbar schienen, zu einem späteren Zeitpunkt ‘Wirklichkeit’ wurden (z.B. die Abschaffung der Todesstrafe). Man kann also von einer ‘Einholung’ des Utopischen sprechen (Hölscher 1979:781ff). An dieser Entwicklung lässt sich eine weitere Verschiebung in der Produktion von utopischen Romanen ablesen, welche als „Verzeitlichung der Utopie“ (vgl. Koselleck 1982) bezeichnet werden kann.36 Beginnend mit Louis-Sébastien Merciers Roman L‘an 32 Angesichts der seit 2008 ausgerufenen Wirtschaftskrise wäre es demnach wieder an der Zeit für erhöhte Uto- pieproduktionen. Dass sich diese Erwartung anhand Schwendters These als haltbar erweisen kann, darf jedoch angesichts der veränderten Situation in Kunst und Populärkultur bezweifelt werden. 33 Diese Entwicklung setzte sehr früh ein und führte dazu, dass so gut wie jeder politische Schriftsteller sich früher oder später mit dem polemischen Utopie-Vorwurf konfrontiert sah; so z.B. auch Thomas Hobbes, Immanuel Kant oder Jean-Jacques Rousseau (vgl. Hölscher 1979:744). 34 Vgl. dazu auch Saage 2010:823. 35 Hier wird die Doppeldeutigkeit des Begriffs deutlich, da an dieser Stelle – aus heutiger Sicht – ‘Utopie’ als Gattung gemeint ist, während die damaligen Autoren ihre Werke wohl eher nicht als – pejorativ verstandene, unrealistische – ‘Utopie’ bezeichnen hätten wollen. Dies hängt natürlich vom jeweiligen Geltungsanspruch der Realisierbarkeit ab. 36 An dieser Entwicklung verdeutlicht sich die Ablösung des Utopiebegriffs von Raumvorstellungen und geographi- 40 2.1. Historischer Abriss über Verständnis, Produktion und Rezeption von Utopien 2440 (1771) entstanden zunehmend Werke, die einen bekannten Ort in der Zukunft beschrieben (in diesem Fall Paris). Diese ermöglichten es, von Utopien als noch nicht rea- lisierten Vorstellungen zu sprechen, wodurch die Diskussionen um die Realisierbarkeit zu einer zwischen Fortschrittskritik und -gläubigkeit geriet und der Utopiebegriff Einzug in geschichtsphilosophische Überlegungen hielt (Hölscher 1979:769ff).37 Wobei die Utopie ja genau genommen jene Vorstellungen bezeichnete, welche als nicht realisierbar ange- nommen wurden (vgl. ebd.:778). Auch innerhalb der akademischen Linken wurde dies an den Ideen von ‘(Sozial-) Utopisten’38 bemängelt, so distanzierten sich etwa auch Marx und Engels von diesen und versuchten, den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu überführen, indem sie meinten, „die gesellschaftliche Zukunft lasse sich durch die Erforschung der histo- rischen Gesetzmäßigkeiten prognostisch einfangen“ (Hölscher 1979:779). Ein weiterer Vorwurf, mit dem sich Utopien konfrontiert sahen, lag in der absoluten Geschlossenheit der Vorstellungen. Ein völlig reguliertes und in sich scheinbar perfektes gesellschaftliches System sei totalitär und widerspreche der Vorstellung einer offenen, demokratischen Ge- sellschaft.39 Der wahrscheinlich berühmteste Vertreter dieser Totalabsage an Utopien war Karl R. Popper (vgl. 1980), der damit im Jahr 1945 solche Versuche scharf zurückwies, die Utopien als philosophisch-ethische oder soziologische, jedenfalls aber sinnvolle Kat- egorie und positiven Begriff zu rehabilitieren (vgl. Hölscher 1979:783ff). Die Diskredi- tierung sozialistischer (politischer) Utopien erstarkte im Zuge der Auseinandersetzungen vor und während des Kalten Krieges – bis hin zum Zusammenbruch des real existieren- schen Verortungen. Wortschöpferisch könnte auch von einer ‘Uchronisierung der Utopien’ gesprochen werden. 37 Die literarischen Zeit-Utopien waren jedoch noch lange davon geprägt, keinen kohärenten narrativen Übergang von der Gegenwart in die erzählte Zukunft zu liefern. Diese Entwicklung zu einer fiktiven „echten Geschichtser- zählung“ lässt sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts nachweisen (vgl. Hölscher 1979:770f). 38 Auch wenn nicht allen Utopien ein sozialistischer Charakter diagnostiziert werden kann (vgl. dazu Saage 2008:123 am Beispiel von ‘Neu-Germanien’), so hält Saage doch im Hinblick auf politische Utopien fest, „[d]er Ausgangs- punkt des utopischen Konstrukts“ sei „nicht – wie beim subjektiven Naturrecht – die Vernunft des autonomen Individuums, sondern die des Kollektivs: Das Ganze ist dem einzelnen stets vor- und übergeordnet“ (2010:823). 39 Die Utopiekritik verschiebt sich also von der Nicht-Einlösbarkeit utopischer Versprechen praktisch ins Gegenteil: „Illusionär erscheint hier nicht der Glaube an die Möglichkeit, diese einzuführen, sondern die Hoffnung auf die glücklichen Folgen, die sich an ihre Einführung knüpfen“ (Hölscher 1979:785). Dass diese in Romanen z.T. autoritär ausgestaltet wurden, verdeutlicht folgendes Zitat, das sich auf ‘Utopia’ und Campanellas ‘Sonnenstaat’ bezieht: „Andererseits gleicht der einzelne, eingebunden in das lückenlose Netzwerk sozialer und staatl. Kon- trollen, einem ‘gläsernen Menschen’. Persönliches Glück ist die Erfüllung dessen, was die staatl. Institutionen dem einzelnen vorschreiben“ (Saage 2010:823). George Orwells Roman 1984 fällt unvermittelt als kritisches Vergleichsmoment ein, wo genau diese Kontrollstrukturen angegriffen werden. 41 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien den Sozialismus (vgl. Kreisky 2000:15f). Die Versuche der positiven Wendung utopischer Impulse um und ab 1900 werden im weiteren Verlauf noch ausführlicher dargestellt.40 Auf die spätere Hochkonjunktur der Beschäftigung mit dem Utopie-Begriff kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht weiter eingegangen werden. Es sei jedoch ange- merkt, dass Herbert Marcuses Vortrag zum Ende der Utopien (vgl. 1980) im Rahmen der Studierendenproteste im deutschsprachigen Diskurs sicherlich als Eckpfeiler zu werten ist (vgl. 1980).41 2.1.c. Negationen des Utopischen: Dystopie und Anti-Utopie Während der Utopiebegriff im politischen Diskurs durchaus in Verwendung bleibt, zeichnet sich im 20. Jahrhundert innerhalb der literarischen Produktionen eine weitere Entwicklung ab, die als Abkehr von positiven Utopien (Eutopien) zu lesen ist: „Dieses Säkulum ist eher als Zeitalter von Dystopien als eines von Utopien zu beschreiben“ (Kreisky 2000:15). Unter den bekanntesten Autoren dystopischer bzw. anti-utopischer42 Romane finden sich George Orwell (1984), Aldous Huxley (Brave New World) und Ray Bradbury (Fahrenheit 451). Es ist z.T. vom „Ende des utopischen Denkens“ die Rede, womit in diesem Fall die „autoritäre Linie der p[olitischen] U[topie]“ gemeint ist (Saage 2010:825).43 Eine Tendenz, welche sich auch an populärkulturellen Filmproduktionen 40 Zu nennen wären hier auszugsweise Gustav Landauer (Topie und Utopie als Muster historischer Entwicklungen), Karl Mannheim (die „seinssprengende Kraft“ von Utopien als Differenz zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein), Ernst Bloch (konkrete Utopien) oder Max Horkheimer (Utopie versus Ideologie) (vgl. Bloch 1986; Hölscher 1979; Mannheim 1986; Neusüss 1986b). 41 Auch nach der Jahrtausendwende erschöpft sich der wissenschaftliche Diskurs um Utopien nicht innerhalb der Literaturwissenschaft, wie sich etwa am sozialistisch-realpolitisch orientierten Sammelband „Aufschrei der Uto- pie“ erkennen lässt (vgl. Hawel & Kritidis 2006). 42 Darko Suvin (2003:189)(2003) versucht sich an einer Differenzierung und beschreibt Dystopien als das genaue Gegenteil der Eutopien (positiven Utopien); sie seien „organized according to a radically less perfect principle [than in the authors community; Anm. V.D.]“ Die Anti-Utopie stelle eine Sonderform der Dystopie dar, welche sich weniger gegen gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse richte. Sie sei „designed to refute a currently proposed eutopia. It is a pretended eutopia – a community whose hegemonic principles pretend to its being more perfectly organized than any thinkable alternative, while our representative ‘camera eye’ and value-monger finds out it is significantly less perfect than an alternative, a polemic nightmare.“ 43 Im Zuge der Bewegungen der 60er- und 70er-Jahre lassen sich hingegen eine Reihe kleiner oder konkreter Utopi- en verzeichnen (vgl. Kreisky 2000:16). 42 2.1. Historischer Abriss über Verständnis, Produktion und Rezeption von Utopien der letzten Jahrzehnte beobachten lässt.44 Innerhalb der Künste wurde also sowohl die Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, als auch an bereits vorhandenen utopischen Gesellschaftsentwürfen eingearbeitet und in pessimistischen Zukunftsvisio- nen ausgestaltet. Insofern lässt sich Neusüss (1986a:32) nur bedingt zustimmen, wenn er schreibt: „Zwar sind die verschiedenen Erscheinungsweisen utopischen Denkens und ihre gemeinsame Intention nicht voneinander zu lösen, aber ihr Ge- meinsames liegt nicht in irgendwelchen Ähnlichkeiten positiver Zukunfts- bilder [...], sondern in der kritischen Negation der bestehenden Gegenwart im Namen einer glücklicheren Zukunft, die noch so verschieden ausge- malt sein mag“.45 Das „positive Zukunftsbild“ als Resultat kann nur als eine Option unter mehreren gehan- delt werden, wie die Erläuterungen zu Dystopien deutlich gemacht haben. Die „kritische Negation“ betrifft – im Sinne eines zunehmenden Gattungsbewusstseins der AutorInnen – über die bestehende Gegenwart hinaus potenziell auch ‘bisherige kritische Negationen’ der jeweils bestanden habenden Gegenwart. Während sich der Begriff der Dystopie stär- ker auf die Bedeutung eines fiktionalen Werkes festlegen lässt, bleibt beim Utopiebegriff – wie zur Genüge verdeutlicht – stets die Vieldeutigkeit bestehen: als Ortsbezeichnung für Thomas Morus’ Inselstaat, wie auch für den gleichnamigen Roman; in der Folge als literarische Gattungsbezeichnung für Werke in dessen Tradition, als Konzeption einer – aus Sicht der AutorInnen – ‘idealen’ oder zumindest ‘besseren’ (meist sozialistischen) Gesellschafts- oder Gemeinschaftsordnung und schlussendlich als abwertender politi- scher Kampfbegriff. 44 Eine mehr als unvollständige Liste an Beispielen seit den 60er-Jahren: Jean-Luc Godard: Alphaville (1965), Fran- cois Truffaut: Fahrenheit 451 (1966), Stanley Kubrick: A Clockwork Orange (1971), Ridley Scott: Blade Runner (1982), Terry Gilliam: Brazil (1985), Terry Gilliam: Twelve Monkeys (1995); Andrew Niccol: Gattaca (1997), Andy/Lana (ehemals Larry) Wachowski: The Matrix (1999), Kinji Fukasaku: Battle Royal (2000), Andy/Lana Wa- chowski: V for Vendetta (2005), Alfonso Cuarón: Children of Men (2006), Richard Linklater: A Scanner Darkly (2006), Neill Blomkamp: District 9 (2009). Auch wenn diese nicht für eine dystopische Dominanz innerhalb der gesamten Filmproduktion sprechen, so stehen sie zumindest einer nicht vorhandenen Menge an Utopien gegenüber. 45 Rolf Schwendter fasst diese Einsicht in die griffige Formel: „Sage mir, welche Utopien in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit geschrieben worden sind, und ich sage Dir, wie, im Gegensatz dazu, die gesellschaftli- chen Bedingungen damals dort gewesen sein müssen“ (1994:21). 43 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien 2.1.d. Zwischenfazit Schließlich lassen sich mehrere Momente von Utopien (allgemein verstanden als Über- begriff für Eutopie und Dystopie, literarische und politische Utopien) markieren, die das semantische Feld abstecken und je nach Verwendung und Fall enger oder weiter gefasst werden können: Realisierbarkeit und Realisierungsanspruch, Medialität, Fiktionalität und Reichweite (regional, national, global wie auch in naher oder ferner Zukunft). In dieser Arbeit soll mit ‘Utopie’ im Weiteren eine prinzipiell realisierbare, wün- schenswerte, über verschiedene Kommunikationsinstrumente und Medientechniken darstell- und vermittelbare Vorstellung von Gemeinschafts- oder Gesellschaftsordnung verstanden werden, welche sowohl in narrativer (Roman, Spielfilm) als auch rein in ideal- theoretischer Form ausgestaltet sein kann. Mischformen sind innerhalb dieser Rahmung durchaus denkbar. Diese Folie soll den heuristischen Idealtypus ersetzen, als welchen Saage Morus’ Utopia vorschlägt (vgl. Saage 2008:10f). 2.2. Das Utopische als Datum und Faktum: konkret, gelebt und paradox Bevor der Schritt von der Utopie zur Heterotopie gewagt werden kann, muss noch eine Konkretisierung innerhalb der Begriffskämpfe um Utopie nachgeholt werden. Das be- strifft die Unterscheidung zwischen Utopie und dem ‘Utopischen’ und die Konkretisier- ung von Utopien in Form von ‘konkreten Utopien’ bei Ernst Bloch oder als ‘realisierte Utopien’ – erst noch in diesem Sinne als ‘gelebte Utopien’, welche tatsächlich an der Um- setzung vorab formulierter Utopien arbeiten und dann als Heterotopien. Wobei letzteres eine Analyseperspektive bereitstellt, um auf Räume zu blicken – auch solche, die nicht ursprünglich als Utopie erdacht und umgesetzt wurden. 2.2.a. Das Utopische vs. die Utopie Wie schon oben angedeutet, beschäftigten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere Theoretiker intensiv mit dem Utopiebegriff. Sie versuchten, in den Bedeutungskämpfen eine positive Wendung herbei zu führen, indem sie den Begriff für die Wissenschaft 44 2.2. Das Utopische als Datum und Faktum: konkret, gelebt und paradox nutzbar machten. Im Anschluss an richtungsweisende Überlegungen im 19. Jahrhun- dert entwarf Landauer ein Geschichtsmodell, nach welchem Topie und Utopie in einem ständigen Wechsel stehen. Während er mit Topie historische Phasen der Stabilität und Ordnung bezeichnete, war mit Utopie eine Phase gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Gerechtigkeit gemeint. Utopien speisen sich demnach aus vergangenen Utopien sowie aus der Kritik gegenwärtiger Verhältnisse. „Zum Ausbruch kamen Utopien allerdings jeweils nur als individuelle Wünsche und Hoffnungen in gesellschaftlichen Krisenzeit- en“ (Hölscher 1979:784). Utopien wären Anlass zur Veränderung und würden am Ende des Prozesses gesellschaftlicher Umbrüche wieder zur Sedimentierung einer topischen Phase führen. In dieser Denkweise stehen Utopien also für heterogene Wünsche und Intentionen, welche sich unter bestimmten Bedingungen zu einem gemeinsamen gesell- schaftlichen Willen einen und so zu Veränderungen führen können (vgl. ebd.:784ff). Diesen Gedanken von Utopie als Bewusstseinslagerung innerhalb einer Gesellschaft führte Karl Mannheim weiter aus, indem er im Anschluss an Marx zwischen ‘Sein’ und ‘Bewusstsein’ unterschied. Klafften nun die Bedingungen (das Sein) und Denkweisen (das Bewusstsein) auseinander, entständen alternative Ideen und Vorstellungen, das Sein zu gestalten – entweder im Rückgriff auf schon bekannte, dysfunktionale Lösungsstrat- egien (Ideologien) oder eben als funktionale, neue Strategien, welche er als Utopien be- zeichnet. Hier noch ‘Utopie’, später eher ‘das Utopische’ wird also mit einem ‘utopischen Bewusstsein’ gleichgesetzt, welches erst die Produktion von spezifischen (literarischen) Utopien ermögliche: „Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Utopie, wiewohl als unrealisierbares Hirngespinst immer noch abgelehnt, in soziologischer Perspektive immer häufiger als Ausdruck einer kollektiven Mentalität dar- gestellt worden. Das einzelne literarische Werk oder sozialreformerische Projekt trat zunehmend hinter der kollektiven Bewußtseinslage zurück, die sie hervorgebracht hatte“ (Hölscher 1979:786). Während, wie schon angemerkt wurde, Utopien zwar vorwiegend, aber nicht ausschließlich von der politischen Linken vereinnahmt wurden, weisen diese Versuche der Re-Definition und Neueinordnung von ‘Utopie’ (sowie des Utopischen) einen erkennbaren, positiven Einschlag auf, welcher im weitesten Sinne in den dichotomen Begriffspaaren konservativ- progressiv, rechts-links, reaktionär-revolutionär zu verorten ist (vgl. Neusüss 1986a:34). 45 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien Die Bestimmung des Utopischen als Denkweise wirft nun die Frage des Verhältnisses zwischen Utopie und dem Utopischen auf, welche auch gegenwartsnah kontrovers disku- tiert wird: Sind sie völlig getrennt von einander zu betrachten, stellen sie ähnliche Begriffe mit gewissen semantischen Schnittmengen dar oder aber ist das erste dem zweiten unter- zuordnen? Während der Utopiebegriff vielen Deutungs- und Bestimmungsvarianten un- terworfen ist, die immerhin in sich relativ greifbar werden, scheint das Utopische schwer bestimmbar. „Denn das Utopische ist völlig undifferenziert: Es umfasst alle Energien, die auf eine Transzendierung des bestehenden Status quo drängen, ob sie sich nun in der Frühen Neuzeit aus christlichen oder antiken Quellen speisen: sei es in Gestalt der chiliastischen Heilserwartung, der christlichen Paradiesvorstellung oder der klösterlichen Ordnung; sei es in Form antiker Schlaraffenlandvisionen der kleinen Leute, als Mythos des goldenen Zeit- alters oder als platonische Idealstaatskonzeption“ (Saage 2008:38f). In diesem noch nicht ausdifferenzierten Verständnis des Utopischen wäre der ide- ologische Einschlag ausgeräumt. Auch völkische Denkweisen wären hier durchaus zu subsumieren. Es „nenne Potenzen, die auf eine unspezifische Veränderung des Status quo hinauslaufen, ohne auf eine bestimmte Entwicklungsrichtung, auf eine inhaltliche Bestimmung […] festgelegt zu sein“ (ebd.:203). Saages Schlussfolgerung lautet dies- bezüglich, das Utopische als das Unbewusste zu verstehen – und damit noch vor Absicht und Willen konkreter Utopien zu verorten. Utopien wären hingegen die ausgestalteten Momente der Bewusst-Machung dieses unbewussten Utopischen (vgl. ebd.:203f). Rück- bezogen auf die Vorstellungen von Mannheim wäre das Utopische dann das ‘utopische Unbewusstsein’ einer Gesellschaft, welches sich erst in spezifischen Utopien verfestigen könne und zu einem ‘utopischen Bewusstsein’ werde. Das Ungenügen an gegenwärtigen Verhältnissen und das implizite Wissen um ideale, alternative Zustände von Gesellschaft (und seien sie noch so realitätsfern) führen zu einer Synthese von Konkretion und Ab- straktion hin zu gesellschaftlicher Veränderung. 46 2.2. Das Utopische als Datum und Faktum: konkret, gelebt und paradox 2.2.b. Zum Konzept der Konkreten Utopie bei Ernst Bloch „Eine seinstransformierende Kraft erlange das utopische Bewußtsein seiner Meinung nach allerdings erst dadurch, daß es konkret […] wurde“ (Hölscher 1979:787). Ernst Bloch differenziert also innerhalb der bewusst gewordenen „Träume nach vorwärts“ (Bloch 1969:239) zwischen utopistischen Vorstellungen, welche rein abstrakt „über die Wirklichkeit greif[en]“ (ebd.; Herv. im Orig.) und solchen, die „immerhin […] das Bauzeug von draußen“ (ebd.) heranziehen, um die Verhältnisse zu verbessern, sprich: konkreter an und mit der Gegenwart und den vorherrschenden Bedingungen zu arbeiten suchen. Erstere verurteilt er, im Rückgriff auf die Kritiken durch Marx und Engels wie auch der Anti-Utopisten, als rationalistische, bürgerliche Utopien, welche sich im Stil von „Sozialingenieuren“ gebärden (vgl. ebd.:131). Zweitere heißt er gut und möchte er als positiv gewendete Utopien gerettet wissen: „[F]ällig ist die Rettung des guten Kerns der Utopie (als eines Begriffs, der höchstens im Nebel, niemals im Betrug lag); die konkret-dialektische, die in der wirklichen Tendenz erfaßte und lebendige Utopie des Marxismus ist diese Rettung“ (Bloch 1986:217). Die Konkretion der Utopie beziehe sich also nicht auf die ‘konkretere’ Ausgestaltung der vorgestellt besseren Gesellschaft, sondern auf „die Vermittlung mit den historischen Bedingungen und Tendenzen“ (Schiller 2002). Sie ist eine sowohl realisierbare Utopie, als auch eine mit erhobenem Realisierungsanspruch (vgl. ebd.). Zu erklären ist dieses Verständnis durch die Marx-Rezeption, die Blochs Denken stark beeinflusst hat. So arbe- itet er aus Marx’ Werk die Zukunftsdimension heraus und vermittelt sie mit utopischem Denken (vgl. Bloch 1969:179) und betont darin den Prozesscharakter: „Marx hat ebenfalls Ideale als Kritik- und Wegmaß, nur eben nicht trans- zendent herangebrachte und fixe, sondern in Geschichte befindliche und so unabgeschlossene, das ist: Ideale konkreter Antizipation“ (ebd.:133f). Aus dem Nicht-Ort der Utopie wird bei Bloch also der Ort des „Noch-Nicht“ (ebd.:241). Antwort auf die Frage nach der Transformation der Gesellschaft zu einer konkreten Utopie bleibt auch bei Bloch letztlich die Revolution (vgl. Saage 2008:107). Ein Schritt, 47 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien den Bloch jedoch nicht mit einbezieht, ist jener, den dystopische Romane zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits vollzogen haben: die kritische Haltung gegenüber Eutopien oder gesellschaftlichen Verhältnissen in teilweise oder gänzlich negativen Vorstellungen von Gesellschaftsordnungen experimentell durchzuspielen. 2.2.c. Die negative Wendung: Konkrete Dystopien? Blochs Konzept der ‘konkreten Utopien’ wird von Maria Varsam ins Negative gewendet, wenn sie von Sklaverei als „concrete dystopia“ schreibt. Ihr geht es in Fortsetzung der Bloch’schen Gedanken um eine enge Anbindung von Utopien und Dystopien an die gesellschaftliche Realität: „What concrete utopia shares with concrete dystopia is an emphasis on the real, ma- terial conditions of society that manifest themselves as a result of humanity’s desire for a better world. For both, reality is not fixed but fluid, pregnant with both positive and negative potential for the future. It implies that present and past conditions are dystopian in their function and effects because of the ever present need for change and improve- ment“ (Varsam 2003:208). Sie hebt dabei die dystopische Funktion hervor, welche durch die Präsenz des Ge- genwärtigen ausgelöst wird. Diese betrifft Utopien wie auch Dystopien. Weiters geht sie in der Anwendung des Begriffs auf alte wie neue Formen der Sklaverei davon aus, dass – auch wenn sich diese notwendigerweise auf ökonomische Bedingungen beziehen müs- sen – der Begriff der konkreten Dystopie (und somit im Vergleich auch der konkreten Utopie) es zulässt, in Bezug auf bestimmte Aspekte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angelegt zu werden. Sie hält es also nicht unbedingt für eine Grundbedingung der dystopischen Funktion gegenwärtiger Verhältnisse in fiktiver Narration und Wahr- nehmung der konkreten Umwelt, eine Gesellschaft in allen zentralen Aspekten zu zeich- nen. Mit der Institution der Sklaverei als zentralem Topos greifen mehrere dystopische Beispieltexte einen möglichen Aspekt gesellschaftlicher Wirklichkeit heraus, der betont verhandelt wird (vgl. ebd.:204). Die Funktion besteht nun darin, „to select elements of the present material world”, um diese qua Erzählung (in ihren Beispielen fiktiver Na- tur) zu analysieren, bewusst zu machen und somit das Potenzial für eine andere (besse- re/ schlechtere) Zukunft offen zu legen (ebd.:207). Indem darauf verzichtet wird, eine der möglichen besseren Welten auszugestalten, bleibt den RezipientInnen dieser Schritt 48 2.2. Das Utopische als Datum und Faktum: konkret, gelebt und paradox selbst überlassen. Wenn hier von einer dystopischen Funktion gesprochen wird, so lässt sich konstatieren, dass diese Funktion in (e)utopischen Angeboten in der Negation ge- genwärtiger Verhältnisse aufgehoben ist. Die dystopische Funktion wäre demnach als Teilfunktion einer ‘utopischen Funktion’ zu verstehen. Es lässt sich erkennen, dass der von Bloch holistisch (vielleicht besser: marxistisch, sprich materialistisch-ökonomisch) gedachte Begriff der konkreten Utopien von einer ähnlichen Rückbindung an die Gegenwart lebt, wie die Analogie der konkreten Dysto- pien bei Varsam (vgl. ebd.:209). In diesem Zusammenhang gewinnen gerade die Gegen- strategien der ProtagonistInnen in solchen dystopischen Texten an Wichtigkeit, da hier der Widerstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit konkret Gestalt erhält. Was bei Bloch im Großen, mit der gesamtgesellschaftlichen, proletarischen Revolution im Hinterkopf, gedacht wird, wendet sich bei Varsam zum Mikrokosmos der widerständigen Praxen, denn: „the capability and responsibility lie within everyone not only to coun- teract oppression, violence, and alienation but also to do so by making connections, forming ties, and fostering hope in their promise […]. In this context it is necessary to reassert the relevance of Bloch’s concrete utopia as those moments that rupture the dystopian continuum to reveal glimpses of what the world may still become“ (ebd.:221). Die großen klassischen Utopien werden also auf selektive gesellschaftliche Teilberei- che eingeschrumpft, an die gegenwärtige Realität rückgebunden, welche in konkreten, möglichst kollektiven Handlungsschritten in Richtung einer wenig konkreten, vermutlich besseren Zukunft gestaltet werden soll. Zumindest lässt sich Maria Varsams Deutungs- weise der Bloch’schen Konkretion so verstehen, dass durch die diskursive Verhandlung von konkreten dystopischen Fiktionen einer Tendenz Vorschub geleistet werden kann, welche in Blochs Verständnis als Bedingung für konkrete Utopien gehandelt wird. Die konkrete Dystopie – und in diesem Verständnis auch die konkrete Utopie – werden wie- derum dem utopischen Bewusstsein vorgeschaltet; beide erfüllen potenziell die Funktion der Bewusstseinsbildung. 49 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien 2.2.d. Gelebte Utopien: die paradoxe utopische Praxis Je nach Engführung und Verständnis des Begriffes der ‘gelebten Utopie’ lässt sich dar- unter sehr viel oder sehr wenig verstehen. Im engeren Sinne würden darunter Gemein- schaftsprojekte fallen, die sich direkt an zuvor formulierten Utopien orientieren. Nach Saage waren solche speziell nach der Wende von Raum- zu Zeitutopien um 1750 zu finden. Mit der Verzeitlichung der Utopien rückte der Gedanke ihrer Umsetzung ent- sprechend näher und verschiedenste Projekte wurden gestartet – mit mehr oder weniger Erfolg.46 Als Idealtypus der strengeren Bedeutung lässt sich die Familistère des französischen Ofenfabrikanten Jean-Baptiste Godin (1817-1888) verstehen, die dieser im Anschluss an das Fourier’sche utopische Genossenschafts- und Wohnmodell Phalanstère gegen Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben rief. In einem groß angelegten Gebäudekomplex wohn- ten Arbeiter mit ihren Familien (und Godin selbst), arbeiteten vor Ort und erhielten bald den Status von Genossenschaftern. Die Familistère blieb in vergleichbarer Form immerhin bis 1968 bestehen, als sie zu einer Aktiengesellschaft umgeformt wurde (vgl. Saage 2008:114f). Im weitest möglichen Verständnis ‘alternativer Lebensentwürfe’ birgt der Begriff der ‘gelebten Utopie’ die Gefahr, in die Beliebigkeit abzudriften. So bringt Saage drei zentrale Argumente vor, die ihn, wenn nicht unhaltbar, so doch höchst problematisch machen:47 Erstens liegt mit diesem Begriff ein Widerspruch in sich vor, wenn unter Utopie per se ein Raum verstanden wird, der nicht (außerhalb von Fiktionen) existiert. Er hält, im 46 Durch den neu eroberten Raum am amerikanischen Kontinent stand den europäischen ‘Kolonialherren’ eine (so empfundene) tabula rasa zur Verfügung, solche Experimente zu verorten. Saage nennt als Beispiele u.a. „New Harmonie (Robert Owen), Ikaria (Etienne Cabet) und [die] Brook Farm (Fourier)“ (2008:120). 47 Saage operiert am Beispiel eines Sammelbandes mit dem Titel „Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe“ von Dorothee Meyer-Kahrweg und Hans Sarkowicz (Hrsgg.), in welchem ‘gelebte Utopien’ anhand ihrer Orien- tierung an Märchen (und derart artikulierten, kollektiven Zielen) und ihrer Wirkung als ‘seinssprengende Kraft’ (d.h. dem Mannheim’schen Utopie-Begriff) charakterisiert werden. Da ist u.a. von Klöstern, dem Kopenhagener Stadtteil Christiania, den Kibbutzim und Hippie-Kommunen die Rede (vgl. 2008:124f). Dass solche Kommunen und Gemeinschaftsprojekte auch heute nicht verschwunden sind, sei am Beispiel von Auroville demonstriert, das zu Beginn dieses Jahres in der Wochenzeitung ‘Die Zeit’ ausführlich im Abschnitt ‘Reisen’ besprochen wurde: „In der südindischen Siedlung Auroville leben seit mehr als 30 Jahren Aussteiger aus aller Welt: Eine Gemein- schaft ohne Armut, Leistungsdruck und Egoismus. Nur das Karma macht Arbeit“ (Radisch 2011:1). Christiania hingegen sieht einer unbestimmten Zukunft entgegen, nachdem die Selbstverwaltungsrechte von einem Gericht gekippt wurden: http://derstandard.at/1297818383289/Daenemark-Freistaat-Christiania-verlor-Selbstbestim- mung-vor-Gericht-endgueltig [Stand 04-08-2014]. 50 2.2. Das Utopische als Datum und Faktum: konkret, gelebt und paradox Verständnis von Morus, fest, dass die Verwirklichung ursprünglich nicht Ziel der Utopien war, sondern gerade die Differenz von gegenwärtigen Lebensbedingungen und Utopien. Zweitens würden unter ein solches, auf die ‘seinssprengende Kraft’ reduziertes Verstän- dnis auch Mythen, Prophezeiungen und ähnlich inspirierte Idealvorstellungen fallen, wodurch der Utopie-Begriff s.E. überansprucht würde. Und drittens hält er den „ratio- nalistischen Kernbestand“ der Utopien (und damit auch grundlegende Naturgesetze) für eines ihrer zentralen Merkmale (vgl. ebd.:124f). Wie man auch zu diesen Argumenten stehen mag; ob die Rationalität von Utopien als gesetzt verstanden wird, ob Widersprüche in Begriffen als produktiv gut geheißen werden und wie man sich – als außerhalb oder innerhalb der Utopieforschung stehend – zur weiten Öffnung des Utopie-Begriffs verhält: Gerade die Konkretion von Utopien betreffend wird deutlich, wie grobschlächtig der ‘große’ klassische Utopie-Begriff nach Morus’ Vorbild wirkt, wenn es um gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, homogene Lebensweisen und die Nicht-Realisierbarkeit der idealen Gesellschaft geht. Im Kleinen, in Gemeinschaften, an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten wird durchaus praktisch experimentiert, erprobt, erfahren – nicht hegemonial und vielleicht nicht einmal gegen- hegemonial (d.h. mit der Absicht hegemonial zu werden). Daran wird ersichtlich, dass sich diese Experimente nicht an begrifflichen Kategorien orientieren, sondern diese im- merfort herausfordern. Nicht ganz zufällig überschneiden sich die Beispiele für praktische utopische Expe- rimente bei Saage sowie für Heterotopien bei Foucault und Chlada teilweise. So tauchen da wie dort Christiania, Kibbutzim, Klosterkolonien in Lateinamerika oder Godins Fami- listère auf (vgl. Chlada 2005; Foucault 2005b; Saage 2008:124ff). Während Saage jedoch um die Schärfung eines Utopie-Begriffs bemüht ist, öffnen sich Foucaults Heterotopien – wie im kommenden Kapitel zu zeigen sein wird – allen Spielarten abweichender Er- fahrungsräume: „Foucault will der (abstrakten) Utopie einer vollkommenen Gesellschaft, die (konkrete) Erfahrung und das Experiment an einem wirklichen anderen Ort entgegensetzen. Nicht um den Abschied von der Utopie geht es also, son- dern um deren Radikalisierung. Heterotopie, vom Kino bis zum Kibbutz, ist immer ein Stück verwirklichte, d.h. gelebte Utopie“ (Chlada 2005:9f). Doch dazu ausführlicher im dritten Kapitel. 51 2. Utopien – Dystopien – Heterotopien 2.2.e. Zwischenfazit Der Utopie-Begriff wird in Theorie und Praxis der Diskurse für vieles herangezogen, was von einer engen Definition abgestoßen würde. Die verschiedenen Lesarten des Beg- riffs verkomplizieren Diskussionen zwischen einzelnen ForscherInnen und den beteilig- ten Disziplinen (vgl. Chlada 2005:9ff). Die Pluralisierung von Lebensweisen, Ideen und Wirklichkeiten sowie die Reflexivität von literarischen und politischen Utopien erodieren genau jene Grenzen, die eine orthodoxe Fassung von Utopie zu schärfen sucht. Das ‘Utopische’ als Konzept für ein implizites utopisches Unbewusstes, das Utopien und ihre intentionale Umsetzung ermöglicht, kann helfen, den nicht objektivierten Anteil uto- pischer Impulse zu fassen. An der Kategorie der Realisierbarkeit arbeitet sich Bloch mit seinem Begriff der konkreten Utopie ab, indem er sie für sinnvolle Zukunftsvorschläge einfordert. Maria Varsam wiederum ergänzt diese Perspektive um konkrete Dystopien, welche in Negation bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse eine ähnliche Funktion erfüllen und gleichermaßen einer ‘utopischen Bewusstseinsbildung’ zuarbeiten können. Wenn Mannheim einräumt, in der jeweiligen Gegenwart sei nicht eindeutig zwischen Ideologie und Utopie zu unterscheiden (vgl. Hölscher 1979:784f), so kann postuliert werden, dass dieselbe Unentscheidbarkeit für die Realisierbarkeit von konkreten Utopien gelten mag, wie auch für die Annäherung einer Gemeinschaft und der konkreten Umset- zung in Form einer sogenannten ‘gelebten Utopie’ an ihren vorgestellten Idealzustand. In diesem unbestimmten Zustand des ‘Noch-Nicht’ kommt auch eine Parallele zur ver- handelten Frage der Virtualität zum Ausdruck, welche sich beispielsweise mit Leibniz als eine Existenz des noch-nicht Aktualisierten verstehen lässt. Der experimentelle Charak- ter von virtuellen Welten (verstanden als ‘auf Grundlage digitaler Prozesse ausgestaltet’) erhält dadurch potenziell utopische Züge, wenngleich damit keinesfalls die Gleichsetzung von virtuellen Welten und Utopien vollzogen werden soll. Nur so viel: Utopien wie Dys- topien können auch mit Hilfe digitaler Medientechniken dargestellt werden. Anhand der Möglichkeit, mehrere Kommunikationsinstrumente und Sinneskanäle zu bedienen (Seh-, Hörsinn sowie Richtungs- und eventuell sogar Gleichgewichtssinn) sowie der Immersion als Rezeptionstechnik des ‘Ins-Bild-Eintauchens’ lässt sich dieser Form eine spezifische Qualität der ‘Realisierung’ zuschreiben. 52 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum „Ich muss dir was sagen. Ich bin anders als die Andern.“ „Aber das weiß ich doch.“ „Nein, nein. Ich bin ganz anders“ (Otto der Film)48 Nach den Nicht-Orten, den Utopien, im vorhergehenden Teil werden in diesem Kapitel die Heterotopien (wörtlich übersetzt die ‘Anderen Räume’) nach Foucault (2005b) ein- geführt und diskutiert. Foucault etabliert die Rolle des Raums in den entsprechenden Vorträgen und Texten49 erneut als zentrale Kategorie, indem er u.a. die für ihn „aktuelle Epoche“ als „Epoche des Raumes“ benennt (1992:34). Wir haben es beim Konzept der Heterotopien mit einem starken Rückbezug auf räumliche Anordnungen zu tun. Im Utopie-Begriff standen zwar zu Beginn der Begriffsgeschichte ebenfalls Orte im Vor- 48 Die zitierte Passage des Films ist auf YouTube zu sehen: http://www.youtube.com/watch?v=qx9HEn8aq1c [Stand 04-08-2014]. 49 Erstmals verwendet Michel Foucault den Begriff der Heterotopien 1966 in der Einleitung zu Les Mots et les Cho- ses/Die Ordnung der Dinge (vgl. Foucault 2002:xix), allerdings nur andeutungsweise und im Zusammenhang mit utopischer und heterotopischer Sprache: „Utopias afford consolation: although they have no real locality there is nevertheless a fantastic, untroubled region in which they are able to unfold; they open up cities with vast avenues, superbly planted gardens, countries where life is easy, even though the road to them is chimerical. Heterotopias are disturbing, probably because they secretly undermine language, because they make it impossible to name this and that, because they shatter or tangle common names, because they destroy ‘syntax’ in advance, and not only the syntax with which we construct sentences but also that less apparent syntax which causes words and things (next to and also opposite one another) to ‘hold together’. This is why utopias permit fables and discourse: they run with the very grain of language and are part of the fundamental dimension of the fabula; heterotopias (such as those to be found so often in Borges) desiccate speech, stop words in their tracks, contest the very possibility of grammar at its source; they dissolve our myths and sterilize the lyricism of our sentences“ (ebd.; Herv. im Orig.). Wenn auch der destruktive, irritierende, den Heterotopien des Raumes teilweise ähnelnde Charakter der hetero- topischen Sprache hervortritt, so wird über diese begriffliche Trennung in den Foucault’schen Vorträgen zu den ‘Anderen Räumen’ kein Wort über heterotopische Sprache verloren (vgl. auch Ruoff 2007:174). Dass irgendeine Form der Übertragung stattfindet, ist zwar naheliegend, wie Cenzatti anmerkt: „In his 1967 lecture notes the same theme continues, but with a different focus: space, instead of ‘words and things’. The ‘possible orders’ now refer to fragments of different possible spatial orders“ (2008:75). Die sprachliche Ebene des ‘Heterotopischen’ kann ich im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht ausführlicher diskutieren. 53 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum dergrund, die Weiterentwicklung der Utopieproduktionen führte jedoch zu einer seman- tischen Ausdehnung und entfernte sich von der rein räumlichen Deutungsvariante. So legt der Begriff nunmehr nahe, ihn im Sinne von „Fiktionen von Gesamtgesellschaften“ (Saage 2010:823) zu verstehen. Dadurch wird weniger der Ort selbst, als vielmehr die Verfasstheit des Zusammenlebens an diesem Ort bezeichnet. Das Heterotopie-Konzept richtet, in der Tradition utopischen Denkens gedacht, den Fokus erneut auf räumliche Verhältnisse. Doch ‘Andernorts’ kann nur in Relation zu seiner Nutzung, zu anderen Räumen etc. Bedeutung erhalten. Auch wenn Räume also als Ankerpunkt des Konzepts fungieren, beschränkt sich die Analyse nicht darauf. Chlada etwa bezeichnet Heterotopi- en bezeichnenderweise als „den Ort einer anderen Verfassung im Anderswo der Paral- lelgesellschaft“ (Chlada 2005:8). Das Heterotopie-Konzept Foucaults, welches in dieser Einleitung nur angerissen wurde, werde ich in seinen Grundzügen im ersten Abschnitt des Kapitels vorstellen. Im zweiten Abschnitt wird erörtert, inwiefern diese Heterotopien in der Tradition utopischen Denkens stehen und ob sie als ‘postmoderne Utopien’ bezeichnet werden können. Nachdem das Ende des utopischen Denkens proklamiert wurde, stellt sich natürlich die Frage, was danach kommen solle. Die Postmoderne und damit das „Ende der großen Erzählungen“ (vgl. Lyotard 1999), das „Ende der Geschichte“ (vgl. Fuku- yama 1992) und einige Enden mehr wurden ebenfalls ausgerufen, die Post-Zeit scheint angebrochen. Können Utopien hier noch eine sinnvolle Funktion erfüllen? Oder überne- hmen Heterotopien – wenn auch in eingeschränktem Maße – diese Funktion? Im dritten Abschnitt gilt es, Heterotopien mit verschiedenen Mediendispositiven zusammenzudenken. Im Rückgriff auf die bereits verhandelten theoretischen Grundla- gen zu Virtualität und Medien wird umrissen, inwiefern Heterotopien auf virtuelle Räume übertragbar sind, wodurch sie sich auszeichnen und anhand welcher Dimensionen sie beschrieben werden können. Der fragmentarische Charakter des Heterotopie-Konzepts weist gerade im Bereich der Medien und der Medialität flächendeckende Lücken auf, deren Schließung hier zumindest so weit versucht werden will, dass in der analytischen Anwendung im zweiten Teil der Arbeit damit gearbeitet werden kann. Im Gegensatz zu den vorhergehenden stellt dieser dritte Abschnitt weitgehend theoretisches Neuland dar und ist dementsprechend explorativ angelegt. 54 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ Unter dem Titel „Andere Räume“ erstellte Michel Foucault sein Konzept von Hetero- topien, von „lokalisierten Utopien“ (Foucault 2005b:10).50 Doch was genau sollen Hete- rotopien sein? Sind damit die weiter oben umrissenen ‘gelebten Utopien’ gemeint – und wenn nein: worin liegt der Unterschied? 3.1.a. Ein Utopie-Begriff nach Foucault? Die erste Frage, die sich stellen muss, ist jene nach dem Utopie-Begriff Foucaults. Der Einstieg in den Radiovortrag lautet: „Es gibt also Länder ohne Ort und Geschichten ohne Chronologie. Es gibt Städte, Planeten, Kontinente, Universen, die man auf keiner Karte findet und auch nirgendwo am Himmel finden könnte, und zwar einfach deshalb, weil sie keinem Raum angehören. Diese Städte, Kontinente und Planeten sind natürlich, wie man so sagt, im Kopf der Menschen entstan- den oder eigentlich im Zwischenraum zwischen ihren Worten, in den Tie- fenschichten ihrer Erzählungen oder auch am ortlosen Ort ihrer Träume, in der Leere ihrer Herzen, kurz gesagt, in den angenehmen Gefilden der Utopien“ (Foucault 2005b:9). Utopien sind also für ihn – im Wortsinn – nicht außerhalb von Fiktionen existente, po- sitiv konnotierte Orte („angenehme Gefilde“), die nicht auf eine bestimmte Größen- einheit fixiert sein müssen, sondern Städte wie auch unbekannte Planeten sein können. Die Trennschärfe zur Science-Fiction Literatur verschwimmt ein wenig, was nicht wei- ter stören muss. Den positiven Beigeschmack räumt er hingegen an anderer Stelle aus, 50 Heterotopien als Gegenstand einer zu gründenden Wissenschaft namens Heterotopologie und im Sinne der vorlie- genden Arbeit umreißt Foucault schon in einem Radiovortrag 1966 und einem Vortrag vor einer Architekten- vereinigung (Cercle d’études architecturales) 1967 (Foucault 2008:13). Offiziell verschriftlicht und veröffentlicht wurden die Vorträge erst 1984, kurz vor Foucaults Tod (vgl. Chlada 2005; Foucault 2008; 2005b; 1992). Das Konzept wird von Foucault alles andere als konsequent durchdekliniert. Es bleibt somit fragmentarisch und lässt vieles offen. 55 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum wenn er seine Deutung konkretisiert: „Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume“ (Foucault 1992:39). Foucaults Verständnis von Utopien scheint demnach den Sinn zu erfüllen, nicht reale (nicht aktualisierte und nicht aktualisierbare51) Orte zu kennzeichnen (obwohl: „Es gibt also [...]“), welche eine sehr breit angelegte Funktion erfüllen: eine Funktion der Illusionen, der Wunsch- und Alpträume. Es ist auch nicht von Bedeutung, dass in der Zukunft verortete und -zeitete Utopien durchaus auf Karten zu finden sein kön- nen. Auch sie würden diese Funktion so oder ähnlich erfüllen. Diese utopischen Orte, oder vielleicht sogar das utopische Un-/Bewusstsein entsteht „zwischen den Worten, in den Tiefenschichten ihrer Erzählungen“. Das Nicht-Materielle ist der Nährboden für so verstandene utopische Orte. Foucault geht also nicht weiter auf die Dimensionen der Realisierbarkeit, des Realisierungsanspruches oder der Techniken medialer Darstellung ein, er lässt die räumliche und zeitliche Reichweite offen und verortet die Nicht-Orte aus- schließlich im Fiktionalen, „denn wir sollten diese Bezeichnung nur Dingen vorbehalten, die tatsächlich keinen Ort haben“ (ebd.:11). 3.1.b. Gegenstand und Grundsätze der Heterotopologie Ausgehend von solchen Utopien stellt er nun fest, „dass es – in allen Gesellschaften – Utopien gibt, die einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort be- sitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit“ (ebd.:9) haben. Diese zeichnen sich in ers- ter Linie durch ihre vollkommene Andersheit52 in Relation zu dem normalen, normierten Raum des Alltags und des ‘Mainstreams’ aus; jener Raum, „in dem sie [jede menschliche 51 In einem weiteren Radiovortrag über den „utopischen Körper“ kennzeichnet Foucault den Körper als „das ge- naue Gegenteil einer Utopie […], er ist der absolute Ort, das kleine Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin“, während er die Utopie von fiktionalen, aber realisierbaren Orten auf Märchenländer ausdehnt: „Die Utopie ist ein Ort jenseits aller Orte, aber ein Ort, an dem ich einen körperlosen Körper hätte […]. Es könnte durchaus sein, dass die allererste und unausrottbarste Utopie die eines körperlosen Körpers war. Das Land der Feen, das Land der Kobolde und Geister, der Zauberer [...]“ (Foucault 2005b:26). 52 Hier lässt sich eine weitere Parallele zu Utopien verbuchen, wenn etwa Fredric Jameson (2004:45) „radical dif- ference peculiar to utopias“ bezeichnet. Auch bei Darko Suvin findet sich „radical otherness“ als Definitions- merkmal für (literarische) Utopien: „Utopia will be defined as the construction of a particular community where sociopolitical institutions, norms, and relationships between people are organized according to a radically different principle than in the author’s community; this construction is based on enstrangement arising out of an alternative historical hypothesis; it is created by social classes interested in otherness and change“ (2003:188; Herv. im Orig.). 56 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ Gruppe] wirklich lebt und arbeitet“ (ebd.). Die funktionale Beziehung zwischen Räumen und Anderen Räumen kann sehr heterogene Formen annehmen: subversive oder syste- merhaltende, neutralisierende, reinigende – oder auch eine ganz ‘andere’. Indem er diese Räume erst als Utopien bezeichnet, vorab jedoch andeutet, was mit Utopien gemeint ist, zeichnet sich schon ab, dass das von ihm beschriebene Phänomen nicht unter sein Begriffsverständnis von Utopien fallen kann. Also führt er die ‘Heterotopien’53 ein, „die vollkommen anderen Räume“ (ebd.)54 und charakterisiert diese anhand von fünf Grund- sätzen der (noch) nicht existenten wissenschaftlichen Disziplin, der ‘Heterotopologie’:55 1. seien Heterotopien eine anthropologische Grundkonstante und „wahrscheinlich“ (ebd.:11) in allen menschlichen Gesellschaften zu finden, auch wenn sie jeweils sehr unterschiedliche Formen annehmen könnten und diese auch beständig än- dern. Als Beispiele führt er Krisenheterotopien an, welche Menschen in Krisen- situationen vorbehalten seien. So etwa jungen Menschen in der sexuellen Reife- phase oder Frauen zur Geburt. Auch werde hier bereits die enge Bindung von Heterotopien an Heterochronien erkennbar, indem die Funktion an Krisenzeiten gebunden wird. Krisenheterotopien seien allerdings mit der Zeit verschwunden und von Abweichungsheterotopien abgelöst worden. Diese wiederum seien von Gesellschaften für randständige und abnormale Gruppen geschaffen wor- den. Er nennt hier beispielhaft Strafanstalten, Psychiatrien und Altersheime (vgl. ebd.:11ff). 2. können Heterotopien innerhalb von Gesellschaften geschaffen, transformiert werden oder verschwinden. Foucault setzt hier syntaktisch „jede Gesellschaft“ als handelndes Subjekt, welches solche Änderungen „ohne Weiteres“ durchführen 53 Der Begriff ‘Heterotopie’ stammt ursprünglich aus der Medizin und bezeichnet „die Bildung von Gewebe am falschen Ort“ (Chlada 2005:8). 54 Zum Zusammenhang von Batailles Heterologie und Foucaults Heterotopien vgl. (Chlada 2005:77ff). „Die Hete- rotopologie kann als Teil einer allgemeinen Heterologie gelesen werden, wie sie von Bataille in den 1930er Jahren entworfen wurde. Beide haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Lust an der Überschreitung“ (ebd.:85). 55 Ruoff schreibt von einem Lehrstuhl für Heterotolopogie als Zeichen des Erfolgs der Heterotopologie innerhalb der Architektur (vgl. 2007:174). Auf der Homepage der University of California sind unter dem Stichwort ‘Hete- rotopology’ (und ähnlichen) keine Treffer zu verbuchen. Entweder der Lehrstuhl besteht nicht mehr oder nicht mehr unter diesem Namen. http://websearch.ucop.edu:8765/custom/uc/query.html?col=ucal&qp=&qs=&qc= ucal&pw100%25&ws=0&qm=0&st=1&nh=10&lk=1&rf=1&rq=0&qt=heterotopology&Search.x=0&Search. y=0&Search=Search [Stand 04-08-2014]. 57 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum könne. Gleich darauf belegen allerdings die Beispiele die Unberechenbarkeit sol- cher Versuche, wie sich am Versuch der Abschaffung von Bordellen zeigen lässt, welche nur „mit mäßigem Erfolg“ durchgesetzt werden konnte. Das Telefon sei an seine Stelle getreten und habe als „weitaus feineres Netz“ die Funktion über- nommen (ebd.:13).56 Am Beispiel des Telefons lässt sich sehen, dass den Verän- derungen von Heterotopien nicht ausschließlich intentionale Strategien zugrunde liegen, sondern auch bspw. von technologische Entwicklungen Impulse ausgehen können. 3. vereinen Heterotopien innerhalb eines Raumes mehrere Räume. Bühne oder Ki- noleinwand schaffen illusionäre, widersprüchliche und einander fremde Räume im Rahmen des Theaters oder des Kinos. Gärten, „das älteste Beispiel einer He- terotopie“ (ebd.:15), symbolisieren verschiedene Teile der Welt und sollen die- se an einem Ort verdichten, einem Teppich oder auch Roman vergleichbar (vgl. ebd.:14f). Räume werden vervielfältigt, entfremdet oder gebrochen, entstellt und einander gegenüber gestellt. Sowohl die Beziehung dieser Räume innerhalb einer Heterotopie zu einander als auch das Verhältnis zwischen Heterotopien und ‘nor- malen’ gesellschaftlichen Räumen generiert erst die Wirkung. 4. gelte das selbe auch für Zeiten und deren Brechung. Heterotopien stehen „oft in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen […] [und] sind, wenn man so will, mit den Heterochronien verwandt“ (ebd.:16). Während Friedhöfe den Endpunkt der Zeiterfahrung markieren, verdoppeln und -vielfachen Museen, Bibliotheken oder auch Kinos diese. Sie können als „Heterotopien der Zeit“ bezeichnet wer- den (ebd.). Dinge aus der Vergangenheit werden angehäuft und zu einander ange- ordnet, mit einander konfrontiert. Auch temporäre Heterochronien sind denkbar, etwa in Form von Festen (Jahrmarkt, Karneval etc.), die dem Ewigkeitsgedanken von Museen opponieren. Die enge Verbindung von Krisenheterotopien mit spe- zifischen Zeitabschnitten wurde bereits erwähnt (vgl. ebd.:16f). 56 Dass das Telefon bzw. das Kommunikationsnetz, das sich durch die neue Medientechnik eröffnet, auch als Hete- rotopie gewertet wird – jedenfalls funktional, wenn nicht im strengeren Sinne räumlich –, ist eine ‘mediale Spur’, welche im weiteren Verlauf noch aufzugreifen sein wird. 58 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ 5. werden Heterotopien stets durch einen Öffnungs- und Schließungsmechanismus von anderen Räumen abgetrennt. Entweder kann der Eintritt natürlich durch Zwangsmaßnahmen geschehen, wie bspw. im Gefängnis, oder aber es werden ge- wisse Rituale vollzogen, welche erst den Zutritt erlauben. Selbst dem Brauch, sich vor Betreten einer finnischen Sauna zu waschen, unterstellt Foucault, „mit allerlei religiösen und naturistischen Bedeutungen aufgeladen“ (ebd.:18) zu sein. Durch diese Mechanismen werden Heterotopien erst für bestimmte soziale Gruppen und Individuen zugänglich. Bordelle können erst ab einem gewissen Alter betre- ten werden, bestimmte Heterotopien des Festes zeichnen sich durch Kleiderord- nungen aus etc. (vgl. ebd.:18). „Das eigentliche Wesen der Heterotopien“ bestünde jedoch darin, „alle anderen Räume in Frage [zu stellen]“ (ebd.:19). Zwei Formen der In-Frage-Stellung der ‘normalen’ Räu- me macht Foucault fest: einerseits, wie oben genannte Bordelle Illusionen zu schaffen, die ihrerseits wieder „die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt“ (ebd.:19) und an- dererseits, indem Räume perfekter Ordnung konstruiert werden, die im extremen Ge- gensatz zur Unordnung aller anderen Räume stehen. Foucault führt an dieser Stelle Ge- meinschaften an, welche ab dem 17. bis ins 20. Jahrhundert in den Kolonien gegründet wurden und in vielen Merkmalen ‘gelebten Utopien’ entsprechen (z.B. eine Jesuitenko- lonie in Paraguay). Sie zeichneten sich durch streng hierarchische Strukturen und nahezu vollständige Reglementierung aller Lebensbereiche aus. „In der Kolonie haben wir eine Heterotopie, die gleichsam naiv genug ist, eine Illusion verwirklichen zu wollen. Im Freudenhaus haben wir dage- gen eine Heterotopie, die subtil und geschickt genug ist, die Wirklichkeit allein durch die Kraft der Illusion verwirklichen zu wollen“ (Foucault 2005b:21). Auch bewegliche Heterotopien hält Foucault für denkbar, wie etwa Schiffe als „die Hete- rotopie par excellence“ (ebd.:21; Herv. im Orig.). Durch seine Eigenschaft als Transferraum fungiere es verbindend zwischen den Orten und sei so „das größte Reservoir für die Fan- tasie“ schlechthin. Interessanterweise öffnet der Schluss des Radiovortrags seinerseits ein rhetorisches und gedankliches Illusionsfenster, welches in seiner Offenheit für zahlreiche Fantasien und Anschlüsse Anregung birgt. So findet sich kaum ein Text über Foucaults 59 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum Heterotopien, der nicht früher oder später (gerne auch zum Abschluss) beinahe trium- phierend darauf verwiese: „Zivilisationen, die keine Schiffe besitzen, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett haben, auf dem sie spielen können. Dann versiegen ihre Träume. An die Stelle des Abenteurers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der glanzvollen Freibeuter die häßliche Polizei“ (ebd.:22). Gerade das Träumen selbst anzuregen sei also eine wichtige Funktion dieser Heteroto- pie. Die „Abenteurer“ und „glanzvollen Freibeuter“ stehen symbolisch als ideale Figu- ren außerhalb der Gesetze und als solche den Agenten des Autoritären und Totalitären als widerständiger, subversiver, sprich: ‘anderer’ Gegenpol entgegen. Der Abschluss des Vortrages scheint wiederum eine dichotome Logik zu stützen, obwohl es genau darum eigentlich nicht geht, denn entgegen der ‘idealen, guten Utopie’ idealisiert Foucault seine Heterotopien nicht. Eher sollen sie, wie er eingangs feststellt, die feinen Unterschiede zwischen Räumen markieren können: „Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach un- terteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit wei- chen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten“ (Foucault 2005b:9f). 3.1.c. Heterotopien als postmoderne Utopien? Auf Grundlage der beiden vorhergehenden Abschnitte können wir festhalten, dass der Heterotopie-Begriff zwar deutlich an Begriff und Konzeption von Utopien (im All- gemeinen) angelehnt und davon inspiriert ist, jedoch in seiner Spezifik deutlich davon abweicht. Im Gegensatz zu den klassischen Utopien à la Morus’ Utopia sind Heteroto- pien als bereits umgesetzt, worin sicher der markanteste Unterschied zu finden ist. Der Realisierungsanspruch besteht zwar im Hinblick auf Teil-Räume, aber nicht per se für ganze Gesellschaften. Allerdings werden sie in einem relativ funktionalen Verhältnis zu alltäglichen Räumen in Gesellschaften beschrieben, womit sich die Frage stellt, inwiefern oder ob völlig abgeschottete Gemeinschaften und ihr geschaffener Lebensraum (z.B. 60 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ Micronations im Stile des „Gay and Lesbian Kingdom of the Coral Sea Islands“57) in funktionaler Beziehung zu ‘normalen Räumen’ stehen. Für Menschen, die diese nie be- treten haben, bestehen diese in erster Linie in ihrer medialen Vermittlung. Der Zugang ist also potenziell möglich, aber denkbar unwahrscheinlich. Um im Sinne von Hetero- topien (etwa als illusionäre Heterotopie) wirksam sein zu können, reicht möglicherweise das Wissen um diesen Ort und seine Verfasstheit qua mediale Repräsentation aus. Um ein näherliegendes Beispiel einzubringen: Wie viele Mitglieder einer Gesellschaft haben jemals ein Bordell betreten, wissen aber darüber ‘Bescheid’? Die Aspekte Medialität und Realitätscharakter werden jedoch im folgenden Unterkapitel ausführlich diskutiert wer- den. Die Reichweite des Heterotopie-Begriffs wird jedenfalls nicht streng begrenzt, lässt sich aber eher auf der Mikro- bzw. Mesoebene ansiedeln als auf einer gesamtgesellschaft- lichen. So lässt sich eher von Friedhöfen oder Gärten als heterotopischen Sozialräumen sprechen, als von Ländern des real existierenden Sozialismus während des Kalten Kriegs. Im Gegensatz zu Saages Vorstellung des Morus’schen Idealtypus einer Utopie gibt es keine Ideal-Heterotopie. Vielmehr steht die Pluralität, die Viel- und Verschiedenheit der Heterotopien im Zentrum. Nicht eine ideologische Strömung bietet Orientierung – was Utopien vielfach im Rahmen der Sozialismus-/Totalitarismus-Kritik vorgeworfen wurde –, sondern das Primat des Raums steht über ideologischer-definitorischen Ausschlusska- tegorien eines Heterotopie-Begriffs. „Der Postmodernist kann die Empfindung vieler teilen, daß die Gesell- schaft eine neue Begeist(er)ung brauche. Aber die Vorstellung, daß diese Begeisterung, die integrativ wirken müsse, nur eine an einer neuen Einheit sein könne, hält er genau für falsch. Er plädiert […] für eine Vision der Vielheit, denn allein diese vermag den Aporien der Mono-Utopien zu ent- gehen und doch zugleich deren berechtigte Motive einzulösen“ (Welsch 1991:184). 57 Nähere Informationen zum „Gay and Lesbian Kingdom of the Coral Islands“ finden sich unter http://web. archive.org/web/20070627181837/http://www.gayandlesbiankingdom.com/ [Stand 04-08-2014]. Eine definito- rische Selbstbeschreibung zu ‘Micronations’ bietet etwa die Homepage des Micronations News Network: http:// www.micronations.net/ [Stand 04-08-2014]. 61 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum Möchte man dem Statement Welschs folgen, lassen sich Heterotopien also zweifelsohne als postmoderne Nachkommen der Utopien bezeichnen.58 Sie können intentionalen Cha- rakter haben (konservativ oder progressiv), dieser ist aber kein grundständiges Merkmal, wodurch sie möglicherweise den pejorativen Beigeschmack des Utopie-Begriffs ablegen. Der utopische Aspekt scheint jedoch von mehreren AutorInnen euphorisch aufgenom- men worden zu sein, ohne das ‘Andere’ in den Anderen Räumen weiter mitzudenken:59 „Foucault will der (abstrakten) Utopie einer vollkommenen Gesellschaft, die (konkrete) Erfahrung und das Experiment an einem wirklichen ande- ren Ort entgegensetzen. Nicht um den Abschied von der Utopie geht es also, sondern um deren Radikalisierung. Heterotopie, vom Kino bis zum Kibbutz, ist immer ein Stück verwirklichte, d.h. gelebte Utopie“ (Chlada 2005:9f). Eine ähnliche Haltung vertritt Tom Moylan (1990:175), wenn er schreibt, die Heterotopie „bewahrt den utopischen Impuls, befreit ihn aus den traditionellen Gat- tungsgrenzen und markiert das Terrain für eine radikal neue Entwicklung in jenem spezifischem Diskurs, in dem unsere Träume und unsere Fiktio- nen sich überschneiden“. 58 Eine Konsequenz aus diesem Postmoderne-Befund der pluralen Ansichten und Wirklichkeiten ist die Frage, „whether the heterotopic space-time constellations that he [Foucault] describes do have the same meaning for all actors involved. If the bourgeois male visitor to the brothel has a liberating experience in which he can temporari- ly step out of his daily existence and momentarily see his own subjectivity as an illusory construction, should one assume that the prostitute who serves him shares a similar epiphany? Or is his heterotopia her constricted and normative everyday?“ (Heynen 2008:320; Herv. im Orig.). 59 Bart Lootsma schreibt zu diesem Aspekt der Rezeptionsgeschichte: „This liberating aspect of the text may have blinded architects – and others – for its underlying ambivalence, because prisons and other disciplinary institu- tions are still an essential part of Foucault’s heterotopias“ (2010:327). Dass in Lootsmas Artikel ein Schwerpunkt auf diesen disziplinierenden Räumen liegt, ist durch den Kontext leicht zu erklären, da er im Katalog zur 2009 in einem römischen Zellenkomplex abgehaltenen Ausstellung Cella erschien (vgl. Bertsch & Alge 2010). Heynen weist in ihrem abschließenden Artikel des Sammelbandes Heterotopia and the City ebenfalls auf dieses Doppelge- sicht hin: „Heterotopias can be sites of hegemonic violence and oppression, but they might also harbour the potentials for resistance and subversion. This doubleness differentiates them from utopias, which are supposedly just benign and non-oppressive – and therefore non-real“ (2008:319). 62 3.1. Michel Foucaults ‘Andere Räume’ – ‘Andernorts’ – ‘Anderswo’ Dieses Verständnis weist entweder einen denkbar weiten Utopie-Begriff auf (‘Irgendet- was ganz anderes’), oder im Umkehrschluss einen sehr spezifischen und enggeführten Begriff von Heterotopie.60 Denn: zählen Gefängnisse oder Gated Communities dann noch zu den Heterotopien?61 Dieser intentionalen Version von Heterotopien möchte ich mich in diesem Text nur begrenzt anschließen und zwar insofern, als diese Spielart der Heterotopien als eine mögliche begriffen werden soll. So mögen die Heterotopien durch- aus einerseits „für die postkapitalistische, postmoderne, postindustrielle und nachauf- klärerische Gesellschaft“ auch das sein, „was die Utopie für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft war“ (ebd.), nämlich „ihre verzerrte und veränderte Verwirklichung“ (Vat- timo 1992:94), aber eben nicht nur das. Wie sich unter anderem an dieser Frage zeigen lässt, bietet Foucaults Skizze der He- terotopien ausreichend definitorischen Freiraum für verschiedenste Anschlüsse, Fortfüh- rungen und Anwendungen. Während Utopien jedoch in ihrem Bedeutungsrahmen den Schritt aus den ‘Räumen’ ihrer Ursprünge vollzogen haben, fokussieren Heterotopien wieder genau darauf und dienen unter anderem in kultur- und sozialwissenschaftlichen Raumanalysen als Referenzrahmen. Gleichzeitig rücken sie diese realisierten Utopien aber auch in sichere Distanz zu Utopien und dem Utopischen. Es lassen sich hinsichtlich der Frage nach dem Utopischen grob zwei Diskurstenden- zen ausmachen, die bei Foucault bereits widersprüchlich angelegt sind: Einerseits die Be- tonung der realisierten ‘Utopien’ und dem begrifflichen und positiv-intentionalen Erbe, andererseits die Heterotopien als Institutionen und Räume der Disziplinierung, wie sie auch in Überwachen und Strafen (vgl. Foucault 1994) untersucht werden. Zweitere könnten zwar natürlich als Dystopien verstanden werden. Sie werden aber selten als solche be- zeichnet oder in Anbindung an utopische Diskurse diskutiert. In diese Arbeit sollen beide 60 Gewissermaßen widerspricht sich Chlada selbst, wenn er an anderer Stelle schreibt: „In diesem Spannungsver- hältnis von Varianz und Invarianz, das der Heterotopie ihre Qualität verleiht, steckt gleichsam ihr Potential. Denn die qualitative Abweichung vom realen Restraum ist an sich wertfrei, kann aber einer politischen, kulturellen oder religiösen Fluchtlinie oder Ideologie untergeordnet und damit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung nutz- bar gemacht werden“ (Chlada 2005:92). 61 Die Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen unter dem analytischen Blickwinkel der Heterotopologie findet durchaus statt, allerdings weniger im Hinblick auf einen ‘utopischen Impuls’ (vgl. Bertsch 2010; Dehaene & De Cauter 2008; Konrad 2010; Wunderlich 1999). Während Kibbutzim auch bei Saage als Beispiel für ‘gelebte Uto- pien’ ausführlichere Erwähnung finden (vgl. Saage 2008:124f), kann das Kino höchstens als ‘potenziell utopischer Ort zweiter Ordnung’ benannt werden. Natürlich bleibt auch noch offen, ob Utopien bzw. utopische Impulse hierbei in postmoderner ‘Vielheit’ gedacht werden. Insofern lässt sich selbstverständlich auch – etwa von Ben- thams Panopticon – von einem ‘utopischen Gefängnis’ sprechen. 63 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum Anteile einbezogen werden, da dieser scheinbare Widerspruch durch eine Varsam’sche Perspektive durchaus reduziert, wenn nicht gar aufgelöst werden kann. Wie oben bereits erläutert, geht sie von konkreten Dystopien aus, welche ebenfalls eine utopische Funktion erfüllen, einen utopischen Impuls ausdrücken oder hervorru- fen können. Verankert seien diese jedoch in der gesellschaftlichen Realität der (nahen) Vergangenheit oder Gegenwart. Während AutorInnen mit utopischen Idealgesellschaf- ten auf die gesellschaftlichen Bedingungen reagieren und positiv gewendete Visionen darlegen, verzichten konkrete Dystopien auf diesen zweiten Schritt. Und doch werden laut Varsam, etwa in Romanen zum Topos ‘Sklaverei’, konkrete widerständige Strategi- en aufgezeigt, die in ihrer Negation des Bestehenden auf die utopische Leerstelle einer ‘besseren Zukunft’ verweisen. Gerade diese – wenig beachtete – Schnittstelle gilt es, im weiteren Verlauf und insbesondere für die Analyse am Beispiel des Medienkunstprojekts Zone*Interdite zu berücksichtigen. Ansonsten droht das analytische Potenzial von Utopien und dem Utopischen (Eutopischem und Dystopischem) zu zerlaufen. 3.1.d. Zwischenfazit Das Konzept der Heterotopien kann in der utopischen Tradition verortet und, wenn auch nur bedingt, als postmoderne Utopie gelesen werden. Darin erschöpfen sich Fou- caults Heterotopien jedoch nicht. Sowohl der Utopie-Begriff als auch jener der Hete- rotopien erfährt bei Foucault eine entideologisierende Läuterung, hin zu einem Primat der Vielfalt, der feingliedrigen Abstufungen und Unterschiede, wodurch auch die Unter- scheidung von utopischen und dystopischen Heterotopien im Entweder-Oder von gut/ schlecht fraglich wird. Spätestens dann nämlich, wenn wie etwa bei Heynen (vgl. 2008) die Frage aufgeworfen wird, für wen das Bordell erstens heterotopischen und zweitens eutopischen Charakter aufweist. Für Sexarbeiterinnen bedeutet das Bordell vielmehr Alltagserfahrung als für Freier und dementsprechend subjektiv muss diese Deutung verstanden werden. Die Kategorien, welche Foucault innerhalb der Heterotopien eröffnet, stellen kein geschlossenes, vollständiges System dar, sondern betonen unterschiedliche Spielarten, welche als Markierungspunkte Bedeutungsfelder auf-, jedoch nicht restlos umspannen. Krisen- und Abweichungsheterotopien stehen in einer gewissen historischen Abfolge, Heterotopien der Illusion oder der Kompensation lassen sich diesen zwar beistellen, fü- 64 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum gen sich aber nicht in eine zeitliche Ordnung. Sie verdeutlichen vielmehr Funktionen oder Funktionsweisen von Anderen Räumen. Ein Grundsatz lautet, Heterotopien hätten stets eine Verbindung zur Dimension der Zeit. Es entsteht der Eindruck, die zeitliche Dimension sei gewissermaßen unter dem Begriff der ‘Heterotopie’ subsumierbar. Und doch werden Heterochronien eigens benannt und an Beispielen illustriert. Das Begriffs- angebot zeigt sich offensichtlich als ein, wenn auch nicht gänzlich unsystematisches, so doch arbiträres, welches die eigene Unvollständigkeit nicht verschleiern soll, sondern im Gegenteil produktiven Anschlüssen Vorschub leistet.62 Während Foucault nur am Rande den Zusammenhang von Heterotopien und Medi- alität thematisiert, soll im folgenden Abschnitt eben diesem nachgespürt werden, um im Hinblick auf diese Dimension und mit Schwerpunktsetzung auf ‘virtuelle Räume’ – ein klareres Bild davon zu zeichnen, wie Heterotopien diesbezüglich konzeptionell verortet werden können. 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum Die Zusammenführung von Heterotopien und Medien findet bei Foucault so gut wie gar nicht statt (vgl. Kleiner 2006:342) – und schon gar nicht systematisch. Da in dem Kon- zept jedoch der reale, physische Raum im Mittelpunkt steht, ist es durchaus verständ- lich, diese Komplikation vorerst auszusparen. Schon in Bezug auf Utopien stellt sich die Frage, wie real oder realisiert sie sein dürfen, um noch Utopie genannt zu werden. Bei Heterotopien drängt sich dieses Problem ebenfalls auf – nur eben von der anderen Seite: Ab welchem Grad der Realisierung lässt sich von einer Heterotopie sprechen? Wie stark muss sie im physischen Raum verankert sein? Welche Formen der Medialisierung sind denkbar und wie gestaltet sich der ‘Andere Raum’ im Virtuellen? 62 Im Einstieg zu Die Ordnung der Dinge zitiert Foucault ein Zitat von José Luis Borges aus einer chinesischen Enzyk- lopädie als Beispiel für ‘heterotopische Sprache’, welches in einem gewissen unsystematischen Näheverhältnis zu seinen Formen der Heterotopien steht. Es geht darin um eine Klassifizierung von Tieren, welche unterschieden werden „into: (a) belonging to the Emperor, (b) embalmed, (c) tame, (d) sucking pigs, (e) sirens, (f) fabulous, (g) stray dogs, (h) included in the present classification, (i) frenzied, (j) innumerable, (k) drawn with a very fine camel- hair brush, (l) et cetera, (m) having just broken the water pitcher, (n) that from a long way off look like flies“ (zit. nach Foucault 2002:XV). Die seltsame Unvollständigkeit des Heterotopie-Essays kommentiert Canzetti mit der trockenen Bemerkung, er sei „as famous as it is confusing“ (2008:75). 65 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum 3.2.a. Medialisierte Heterotopien : Heterotopisierte Medien Der Gebrauch des Heterotopie-Begriffs führte in der Literaturwissenschaft bereits zur Konstruktion von „fiktionalen Heterotopien“. Damit sind fiktionale Räume gemeint, „die zugleich wirklich und unwirklich, utopisch und dystopisch […] sind und damit die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung verwischen“ (Chlada 2005:28). Im Zusam- menhang mit Romanen handelt es sich dabei zwar ebenfalls um medialisierte Formen von Heterotopien, aber dieses Merkmal trifft auch auf so ziemlich jede klassische Utopie zu. Bevor wir hier allerdings tiefer einsteigen, wollen wir noch einmal einen Schritt zu- rück gehen und im Primärtext Foucaults nach Spuren des Medialen suchen. Zwischen Utopien und Heterotopien gebe es „eine Art Misch- oder Mittelerfahrung“ (Foucault 1992:39), welche die Schnittstelle der Verortung und Ortlosigkeit symbolisiert: der Spiegel. Er sei zugleich utopisch, indem er Dinge da zeige, wo sie nicht sind, „in einem unwirkliche [sic!] Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut“ (ebd.) und heterotopisch, da er materiell existiere und „den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet“ (ebd.). Vom Spiegel als Mittel – als Medium – zu sprechen, wirkt gleichsam wie ein Platzhalter, welchen Foucault in seinem Text für die Rolle der Medien hinterlassen hat: Der Spiegel markiert den maximalen Realitätsanspruch eines Mediums, oder genauer: eines Mediendispositivs. Die Übereinstimmung von physikalischer Wirklichkeit und der vermittelten, rein visuellen Spiegel-Wirklichkeit unterliegt dem kontrollierenden Blick in Abstimmung mit der eigenen Bewegung. Während dieses Moment der ‘unvermittelten’ Mittelbarkeit im Fall des Spiegels auf der Hand liegt, lassen sich vermittels anderer Tech- nologien graduell stärkere Verschiebungen einführen. Zum Beispiel entlang der Dimen- sionen Synchronizität, geographische Distanz der Kommunizierenden, Fiktionalität oder auch des Medienkompaktbegriffs nach Schmidt. Foucault selbst führt das Telefon als Beispiel für die De- bzw. Re-Lokalisierung von Bordellen an. Das Telefon „hat an die Stelle der alten Bordelle ein viel feineres Netz tre- ten lassen“ (Foucault 2005b:13). Nun lässt sich eine Telefonleitung zwar ebenso wie ein Telefonhörer verorten, sie aber als ‘Ort’ oder ‘Raum’ im engeren Sinne zu bezeichnen, erscheint unzutreffend. Der Raum, der sich in einem Telefonat öffnet, ist ein Raum der Kommunikation, ein Raum der Möglichkeiten – unter anderem für Telefon-Sex. Das dritte Beispiel, das bei Foucault selbst thematisiert wird, ist das Kino: „ein großer recht- eckiger Saal, an dessen Ende man auf eine zweidimensionale Leinwand einen dreidimen- 66 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum sionalen Raum projiziert“. Wie etwa das Theater bringe es „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen“ (vgl. ebd.:15), was natürlich auch für Telefonleitungen gilt. Die Bedeutung des Kino- oder Theatersaals als Raum der Rezeption rückt hier stärker in den Blick. Da wie dort, vor dem Spiegel, am Hörer oder im Kino gilt vor allem eines: An- dere Erfahrungen werden ermöglicht – wenn auch auf verschiedene Arten und Weisen. Wenn diese Erfahrungen also, wie Chlada aus Foucaults Texten herausarbeitet, den Kern der Heterotopien ausmachen, indem Foucault „der (abstrakten) Utopie einer voll- kommenen Gesellschaft die (konkrete) Erfahrung und das Experiment“ (Chlada 2005:9) entgegensetzt, so muss auch der ‘mediale Raum’ als Erfahrungsraum im Sinne eines „wirklichen anderen Ort[es]“ (ebd.) gedacht werden. Nun haben sich, seit der Vortrag via Radio ausgestrahlt wurde, die Kommunikationsinstrumente, die Medientechniken und damit auch der ‘mediale Raum der Erfahrung’ weiter ausdifferenziert zu und „eine[r] Vervielfältigung von kleinen, unabhängigen, vor allem aber ästhetischen Kommunikati- onsgemeinschaften“ (ebd.:41) geführt. Gerade mit dem Internet als dem Medium der Medienkonvergenz (vgl. Uricchio 2006) schlechthin, steht ein solcher Erfahrungs- oder Möglichkeitsraum zur Verfügung, der durch seine technische Struktur relativ unabhängig von geographischen Grenzen, mobile Kommunikation und Interaktion erlaubt und vielerseits euphorisch als demokra- tischer Raum ohne Restriktionen gefeiert wurde.63 Unabhängig davon stellt sich im Zuge dessen natürlich die Frage, inwieweit Kommunikationsräume in den ‘Neuen Medien’64 als Heterotopien zu bezeichnen sind. In Analogie zu Foucaults Bestimmung des Telefons als potenzielle Heterotopie scheint die Antwort naheliegend. In seiner Denkart sind He- terotopien nicht strikt an rein physikalische Räume in engerem Sinne gebunden. Mit der 63 Die Vergangenheitsform markiert hier die berechtigte Kritik an dieser uneingeschränkten Begeisterung, auch wenn solche Stimmen heute noch zu hören sind. Materielle Faktoren wie Zugang zu technischem Equipment und Netzanbindung, aber auch das nötige Anwendungswissen für entsprechende Nutzungsweisen müssen a priori als Schließungsmechanismen begriffen werden. Darüber hinaus wird im oder auch um das Internet ein erbitterter Kampf ausgetragen, in welchen Positionen für und wider die relative Rechtsfreiheit, pro und contra Datenschutz der NutzerInnen und Rechte von UrheberInnen aufeinander prallen. Gerade wurde etwa in Österreich ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen, das auf EU-Ebene von allen Mitgliedstaaten eingefordert wird und in Österreich ab 2012 in Kraft treten soll. Vgl. dazu den Artikel von Andreas Wetz in der Tageszeitung ‘Die Presse’: http://diepresse.com/home/techscience/internet/640022/ [Stand 04-08-2014]. Vergleiche dazu auch Löw et al. 2007:91). 64 Zu einer lustvollen Dekonstruktion dieses ‘Begriffs’ empfiehlt sich unter Vorbehalt der entsprechende Artikel von Christian Swertz (vgl. 2006). Eine nüchternere Übersicht zum Thema ‘Neue Medien’ im Kontext der Medienpä- dagogik findet sich bspw. bei Hüther (vgl. 2005) oder Sesink (vgl. 2008). 67 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum Pluralisierung der Mediendispositive muss dem zu Folge die Vervielfältigung potenziell heterotopischer ‘Räume’ einher gehen. Die gängige Metaphorik des Raums (vgl. Löw u.a. 2007:78), welche vielfach herangezogen wird, um über das Internet, Homepages, Websites, Netzwerke, Datenhighways usw. zu sprechen und Analogien zu physikalischen Topologi- en zu plausibilisieren,65 kann also getrost als Argumentationsfigur ausgelassen werden. Ähnliches gilt für ‘Social Communities’ oder ‘Virtuelle Gemeinschaften’66 als mögliche Äquivalente zu Vattimos „Gemeinschaften ästhetischer Erfahrung“ (1992:94). In erster Linie soll hier erst einmal die Feststellung ausreichen, dass die Übertragung der Heteroto- pien auf ‘mediale Räume’ durchaus im Sinne des Foucaultschen Konzeptes oder zumin- dest darin angelegt ist. Allerdings muss die sprachliche Trennung in physikalischen und medialen Raum als eine analytische Zwischenlösung betrachtet werden, welche sich aus zumindest zwei Gründen als problematisch erweist: Erstens lässt sich – wie auch bei der Konstruktion von Wirklichkeit nach Schmidt – von einer starken Interdependenz ausge- hen, die nicht nur zu mischförmigen Wirklichkeiten, sondern auch zu Raum als „Com- bine“ (vgl. Schmidt 2002) führt67, denn „[d]ie Veränderung von Medientechnologien ist ein wichtiges Element der Konstituierung von Raum. Medien sind nicht nur hilfreich, sondern notwendig für jede Form des Handelns und somit für räumliche Praxis“ (Kon- rad 2010:322). Zweitens konstituieren sich Heterotopien – da wie dort – stets anhand der sozialen Beziehungen. Cenzatti (2008:81) liest Heterotopien mit Lefebvre (vgl. 2009) als Räume der Repräsentation und hält fest, dass 65 So z.B. bei Bachmair (2010:26): „Medien, Netze, mobile Zugangsgeräte, Programme und Events bilden Räume, die die Menschen nutzen, indem sie aus dem Angebot auswählen. […] Heute sind Medien- und Ereignisarrange- ments wichtiger, innerhalb derer Nutzer sich auswählend und Bedeutung konstituierend ‘bewegen’.“ 66 Van den Boomen postuliert, wir bezögen uns auf ‘digitale Medien’ notwendigerweise stets in Form von Meta- phern und zeigt diese „metaphorical displacements“ (2008:48) am Beispiel der ‘Virtuellen Gemeinschaften’. Bei Hipfl und Hug (2006:11ff) findet sich eine aufschlussreiche Entwirrung und Kontextualisierung des Begriffs- Schwammes ‘Communities’ im Zusammenhang von Medien-Gemeinschaften allgemein. 67 An einem Beispiel wird dieser Zusammenhang recht deutlich: „We see only the perplexing consequences, such as people who lurk in corners or walk along the street with a vacant, preoccupied gaze, while they emit loud, anima- ted utterances. Are they just insane or are they talking to someone on a cell phone?“ (Lootsma 2010:332) Gerade durch die Verbreitung und Anwendung von mobilen Endgeräten, über Mobiltelefone hinaus, verstärkt sich dieser Effekt, der auch bei einem simplen Walkman zu verzeichnen ist bzw. war. Lootsma geht sogar so weit, als nächste Ära nach der von Foucault proklamierten „Epoche des Raums“ das Zeitalter der kleinen Gerätschaften auszuru- fen: die „era of gizmos“ (ebd.:331). Diese seien es, welche relativ raumunabhängig Städte, subkulturelle Zugehö- rigkeiten und Heterotopien bestimmten und „ensure that fractures will be overcome almost without effort“ (ebd., 331f). Mit den Worten von van den Boomen werden „boundary media objects: fuzzy artifacts situated somewhere between private memory and public communication“ zu „digital objects, nested in other digital assemblages“ (ebd.:49; Herv. im Orig.). 68 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum „[h]eterotopias, as spaces of representation, are produced by the presence of a set of specific social relations and their space. As soon as the social relation and the appropriation of physical space end, both space of repre- sentation and heterotopia disappear.“ Die ergänzende These lautet nun, dass der “physical space” nicht notwendigerweise im Sinne eines physikalischen Gefängnisses oder Bordells vorliegen muss, um von einer Heterotopie in sozialen und eben auch medialisierten Beziehungen sprechen zu können. Diese führt neben der Medialität zu einer weiteren zentralen Dimension zur Beschreibung und Analyse von Heterotopien: soziale Beziehungen. Wer befindet sich im ‘Raum’ oder hat Zugang zu ihm? Auf welche Arten und Weisen finden Kommunikation und Interaktion im Rahmen von Heterotopien statt? Ist informationeller oder kommunikativer Zugang von ‘Außen’ gewünscht und/oder möglich?68 Aber auch: In welchem wechselseitigen Verhältnis stehen medialisierte Heterotopien und heterotopische Kommunikation- sräume zum physischen Raum – bspw. im Kino, beim Telefonat in der Straßenbahn oder vor dem Computermonitor? 3.2.b. Virtuelle und virtualisierte Heterotopien Wenn nun Räume der ‘primären Wirklichkeit’ in Medienangeboten Darstellung finden69, zum Beispiel in einer Dokumentation über Bordelle, Gefängnisse oder einen Flug zum Mond, wird der Realitätsanspruch – anders als in einem Spielfilm – maximal. Das heißt, die Übertragbarkeit in die konstruierte Wirklichkeit wird qua Rahmung Programm. Die Erfahrbarkeit des Raums hält sich in diesem Fall zwar in Grenzen, dafür erlaubt die medi- 68 Cenzatti sieht Heterotopien der Differenz (heterotopias of difference) in engem Zusammenhang von Öffent- lichkeit (public sphere) und öffentlichem Raum (public space): „It is the very difference of a social group (its marginality) that makes the appropriation of a physical space relevant and gives specificity to the space produ- ced“ (2008:83). Heterotopien der Differenz werden in vorsichtig periodisierender Fortsetzung der Krisen- (fixed spaces/changing population) und Abweichungsheterotopien (fixed spaces/fixed population) konzipiert und zeichnen sich durch „a multiplicity of changing spaces with changing populations“ (ebd.:84) aus. 69 Noch einen Schritt weiter geht Henri Lefebvre, wenn er – ausgehend vom Verständnis von Raum als ‘social space’ die Frage nach dem ‘medialen Raum’ umkehrt: „Is space indeed a medium? A milieu? An intermediary? It is doubtless all of these, but its role is less and less neutral, more and more active, both as instrument and as goal, as means and as end. Confining it to so narrow a category as that of ‘medium’ is consequently woefully inadequate“ (2009:411). 69 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum ale Darstellung des jeweiligen Raums, wie oben bereits erwähnt, den ‘Zutritt’ anhand ver- änderter Mechanismen. So gilt nicht mehr – wie etwa am Beispiel Gefängnis – Häftling, WärterIn, BesucherIn oder anderweitig primär zutrittsberechtigt zu sein, sondern ein Fernsehgerät oder Kinoticket reicht in diesem Fall aus. Neben den Zutrittsbedingungen verschieben sich auch die Dimensionen der Kommunikativität, indem zwar mit anderen über den Film gesprochen werden kann, jedoch der Kontakt zu den ProtagonistInnen im Film nur einseitig audio-visuell stattfinden kann.70 Stärker als bei medialen ‘Erfahrungsräumen’ im metaphorischen Sinne drängt sich räumliche Erfahrung beim Einsatz von digitalen Technologien auf, „die Räume durch Simulationen erzeugen (meist ausschließlich visuell) oder reale Räume um künstlich er- zeugte visuelle Artefakte ergänzen“ (Löw u.a. 2007:78). Sofern diese auf einem Comput- ermonitor dargestellt werden können, bezeichnen Löw, Steets und Stoetzer diese als ‘vir- tuelle Räume’ und sprechen von einer „Konvergenz virtueller und realweltlicher Räume“ (ebd.:81; Herv. im Orig.). Diese zeige sich an zahlreichen Beispielen wie virtuellen Pil- gerreisen, militärischen Trainings-Simulationen oder Anwendungen in Stadtplanung und Architektur (vgl. ebd.:80ff). Diese Beispiele können sich sowohl an realweltlichen als auch an (noch) fiktiven Räumen orientieren. So pilgerte Papst Johannes Paul II. aufgrund der Verweigerung Husseins ‘virtuell’ nach Ur im heutigen Irak71, während die bereits er- wähnten BürgerInnen von Micronations nicht nötigerweise eine realweltliche Verortung ihrer Nationen vornehmen (vgl. ebd.:82). „Virtuelle Räume ersetzen nicht realweltliche, sondern die neue soziale Qualität besteht darin, dass durch den cyberspace eine bewusste Wahr- nehmung gleichzeitig existierender Räume ermöglicht wird und damit sich raumzeitliche Orientierungsmuster (z.B. Nähe-Distanz-Relation) neu her- ausbilden“ (Löw u.a. 2007:92). 70 Bis auf das ‘Wissen’ um den dokumentarischen Charakter, die audio-visuelle Darstellung und vielleicht die Mög- lichkeit der gemeinsamen Rezeption, rückt diese vermittelte Variante der heterotopischen Erfahrung verdächtig nahe an fiktiv-utopische Szenarios anhand der Lektüre eines utopischen Romans. Statt einer Regisseurin oder einem Regisseur verläuft der Erzählmodus oft entlang des Schemas ‘Ein Reisender berichtet’. 71 Diese Reise fand allerdings nicht mit technischen Hilfsmitteln statt, sondern in Form einer kollektiven Meditati- on, auch wenn zumindest in der Berichterstattung die Bezeichnung ‘virtuelle Pilgerreise/-fahrt’ gewählt wurde: http://religion.orf.at/projekt02/news/0302/ne030218_irak_papst_fr.htm [Stand 04-08-2014]. 70 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum In Erinnerung an das erste Kapitel und die dort diskutierten Begriffe ‘Wirklichkeit’ und ‘Virtualität’ muss zumindest darauf hingewiesen werden, dass darüber hinaus füh- rende Bezugnahmen auf Virtualitätskonzepte von den AutorInnen gänzlich ausgespart werden. Sie docken am bestehenden Virtualitätsdiskurs an, ohne Implikationen der in diesem Kontext zentralen Begriffspaare Aktualität/Virtualität oder Realität/Potenzialität aufzugreifen. Wie bereits erwähnt, will ich mich aus Gründen der Anschlussfähigkeit ebenfalls an diesem zeitgenössischen Verständnis von Virtualität und ‘virtuellen Räumen’ anschließen. Ich will aber zumindest versuchen, um weitere Anschlüsse und das begrif- fliche ‘Surplus’ der philosophischen Diskussion zu ergänzen. Welche dieser Räume als Heterotopien zu bezeichnen sind, ist an dieser Stelle nicht die vorrangige Frage. Dass sich darunter durchaus auch Heterotopien im engeren (räumliche Simulationen) oder weiteren Sinne (‘Andere Kommunikationsräume’) finden lassen, darf auf Basis der bisherigen Ausführungen als gesetzt angenommen werden. Diese könnten als Sonderform der ‘Anderen Räume’ und der ‘virtuellen Räume’ mit virtuelle Heterotopien bezeichnet werden.72 In diesem Ausdruck finden sich in erster Linie die Produktions- bedingungen elektronischer bzw. digitaler Technologien bezeichnet, aber auch die – bere- its erarbeiteten – weiteren Implikationen des Virtualitäts-Begriffs: die Nicht-Opposition zur Wirklichkeit, die Nicht-Aktualisierung, aber auch die teilweise Aktualisierbarkeit. „Virtual Heterotopias“ wurden bereits mindestens zweifach von anderen AutorInnen angeführt. Genauer ging es dabei um die Bezeichnung des gesamten digitalen Raumes bzw. Cyberspace als „virtual Heterotopia“ (vgl. Apprich 2009; Bury 2005). In beiden Fäl- len steht jedoch weder eine umfassende systematische Betrachung von Heterotopien im virtuellen Raum, noch eine begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der zahlreichen seman- tischen Sedimente von Virtualität und Heterotopie im Fokus.73 72 Bei Wunderlich findet sich die versuchsweise Bezeichnung „elektrische Heterotopie“ (vgl. 1999), welche er an am McLuhan’schen ‘elektrischen Zeitalter’ ausrichtet. In seinem Abgleich des Panopticon mit virtuellen Räumen verhandelt er einerseits die Vervollständigung der überwachenden Blicke, andererseits aber auch die befreienden Potenziale der ermöglichten Grenzüberschreitungen durch die „Suspendierung und Dispersion der selbstidenti- schen Subjektivität“ und beschreibt die „Welt der digitalen Doppelgänger […] als ein[en] Raum, schließlich, der es erlaubt, die gegebenen Denkstrukturen hinter sich zu lassen und anders zu denken“ (ebd.:364). Eine differenzierte Diskussion von ‘elektrisch’ und ‘virtuell’ findet leider nicht statt. Ergebnis seines Abgleichs ist die Ambivalenz des virtuellen Raums als leicht überwachbar einerseits und disziplinierende Subjektivierung subvertierende Angebote. 73 Bury bezeichnet in einer Analyse von ‘women-only-Mailinglists’ den dadurch entstehenden exklusiven Kommu- nikationsraum als ‘virtuelle Heterotopie’, das entsprechende Kapitel steht unter dem Titel: „Cyberspace as Virtual Heterotopia“ (Bury 2005:173ff). Apprich nutzt das Bild der Heterotopie in einem Vortrag mit dem Titel ‘Urban Utopias’, um anhand davon das Utopische in der ‘Information City’ aufzuspüren: „I argue that digital space itself 71 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum Es muss betont werden, dass die Trennschärfe zwischen virtuellen Heterotopien und anderen rein analytischer Art ist. Die Vermengung der verschiedenen ‘Räume’ wird an einem Beispiel sehr klar: wenn etwa in Gefängnissen oder in U-Bahnstationen Überwa- chungssysteme eingesetzt werden, welche digitale Videoaufzeichnungen anfertigen und diese zum Teil anhand von Programmen zur Gesichtserkennung oder emotionalen Ver- fassung von Menschen auswerten und selegieren74 oder im Sinne der sogenannten ‘Aug- mented Reality’ (AR), welche als ‘erweiterte Wirklichkeit’ die Ergänzung der primären Wirklichkeit um Informationen durch ein digitales Endgerät bezeichnet.75 Im Beispiel von AR findet bereits eine Verschiebung statt, welche im Sinne von Lévy als Virtualisier- ung bezeichnet werden kann: Der physikalische Raum, die scheinbar reale Wirklichkeit erfährt Veränderungen verschiedener Art durch digitale Prozesse und damit auch eine potenzielle In-Frage-Stellung ihrer Verfasstheit. Die Konstruiertheit der Wirklichkeit wird im Zuge des Konstruktionsprozesses offenbar. In erster Linie vollzieht sich darin natürlich eine Reflexion auf das Medium der AR selbst, im zweiten Schritt jedoch kann auch die primäre Wirklichkeit fraglich werden, wenn sie durch Anwendungstechnolo- gien derart verändert werden kann. Diese Potenziale sind freilich an die Bedingungen konkreter Anwendung gebunden und keineswegs garantiert.76 Ähnlich verhält es sich, wenn Heterotopien der primären, physikalischen Wirklichkeit in virtuelle Räume übertragen werden. Das kann in Form von Text, Fotografien, Videos constitutes such a counter-site, namely, a heterotopia in the Foucaultian sense. Cyberspace – considered as virtu- alized reality“ (Apprich 2009). 74 Ein Beispiel ist der 2010 von Texas Instruments unter dem Namen ‘daVinci’ auf den Markt gebrachte Kamera- Chip mit solchen und ähnlichen Funktionen: http://newscenter.ti.com/Blogs/newsroom/archive/2010/05/10/ texas-instruments-launches-davinci-dmva2-video-processor-the-first-megapixel-ip-camera-soc-with-smart-ana- lytics-407918.aspx [Stand 04-08-2014]. Wunderlich vergleicht in einem Aufsatz von 1999 ein Gedankenexperi- ment zu ‘Gobal Neighborhood Watch’ (ursprünglich von 1995) mit Benthams Panopticon. Dieses Gedankenex- periment wäre mittlerweile – in elaborierterer Ausführung – technisch durchaus umsetzbar (vgl. 1999). 75 Vergleiche dazu auszugsweise Martina Löw et al. (2007), ausführlicher Lev Manovich (2002:5f) oder zur Illustrati- on einen auf seinem Blog verlinkten Beitrag von BBC News Technology auf blip.tv: http://blip.tv/file/695570/ [Stand 04-08-2014] – leider ohne Zeitangabe. Manovich spricht in diesem Zusammenhang von ‘Augmented Space’ als Ergebnis von Technologien der Videoüberwachung, mobile media und öffentlich platzierten, elektro- nischen Video-Displays. 76 Wie bspw. im Rahmen der Tagung zu ‘Media Activism and Bio Politics’ 2010 in Innsbruck deutlich wurde, ist es gerade die Medienkunst, die sich an solchen Schnittstellen reibt und abarbeitet – und damit daran mitwirkt, Blindstellen, Graubereiche etc. aufzuzeigen. Vgl. dazu die Homepage unter http://media.brainity.com/uibk/ amab2010/ [Stand 04-08-2014]. Während Kunstschaffende zumeist unter Einbezug der Öffentlichkeit arbeiten, hält sich der ebenfalls äußerst innovative Bereich der Sicherheits- und militärischen Technologieforschung mehr- heitlich im Arkanbereich des gesellschaftlich Unsichtbaren. 72 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum oder auch 3D-Simulationen geschehen. Gerade der letzte Fall, welcher durch die (mehr oder weniger) synchrone Koppelung der Sichtachse an die Steuerung der NutzerInnen die Immersionsschwelle sinken lässt (vgl. Krämer 1998:13; Waldenfels 1998:230), eröff- net (relativ) reichhaltige Erfahrungsmöglichkeiten. Wir können hier plötzlich von anderer Seite den Hinweis von Cenzatti auf die Verbindung von Heterotopien und öffentlichen Räumen bzw. Öffentlichkeit wieder aufgreifen (vgl. Cenzatti 2008:82ff), denn die vo- rhin genannten Techniken der Darstellung ‘wirklicher’ Räume mit maximalem Realität- sanspruch werden in erster Linie von JournalistInnen angewandt.77 Eine zentrale Funk- tion ist in diesem Fall die Herstellung von Öffentlichkeit78, von Repräsentationsräumen79 im weiteren Sinne. Cenzatti postuliert in Bezug auf die von ihm konzipierten ‘heteroto- pias of difference’80: „As these heterotopias fluctuate between contradiction and accep- tance, their physical expression equally fluctuates between invisibility and recognition“ (ebd.:79). Diese Heterotopien werden oft in der Hoffnung gelebt, ‘public spaces’ „such 77 Ein aktuelles Beispiel liefert die interaktiv vergleichende Darstellung verschiedener Küstenabschnitte in Japan vor und nach dem Tsunami vom 11. März 2011: http://www.nytimes.com/interactive/2011/03/13/world/ asia/satellite-photos-japan-before-and-after-tsunami.html [Stand 04-08-2014]. Aber auch Animationen werden z.T. eingesetzt, um Sachverhalte zu visualisieren. So geschehen nach dem Autounfall Jörg Haiders in der Na- chrichtensendung Zeit im Bild im Oktober 2008: http://www.youtube.com/watch?v=PvWw9TSwjN4 [Stand 04-08-2014]. 78 Die übliche Definition von Öffentlichkeit lautet in den Politikwissenschaften etwa so: „Ö. bezeichnet jenen ge- sellschaftlichen Bereich, der über den privaten, persönlichen, relativ begrenzten Bereich hinausgeht, für die Allge- meinheit offen und zugänglich ist. Ö. und damit (z.B. durch Massenmedien hergestellte) Transparenz in öffentli- chen Angelegenheiten (z.B. auch politischen Entscheidungen) sind eine wichtige Voraussetzung der öffentlichen Kontrolle politischer Macht. […] Allerdings leitet die Vorstellung, es gäbe lediglich eine einzige Ö., zu falschen Rückschlüssen. Pluralistische Demokratien erzeugen eine Vielzahl von Teil-Ö., wie sie z.B. in den Bezeichnun- gen parlamentarische Ö., Gewerkschafts-Ö. oder Verbands-Ö. etc. zum Ausdruck kommen“ (Schubert & Klein 2006). Interessanterweise ist auch hier von ‘zugänglich’ die Rede, was eine Vorstellung von Öffentlichkeit als Raum (oft auch: Arena) impliziert. 79 Lefebvre selbst beschreibt Repräsentationsräume als „space as directly lived through its associated images and symbols, and hence the space of ‘inhabitants’ and ‘users’, but also of some artists and perhaps of those, such as a few writers and philosophers, who describe and aspire to do no more than describe. This is the dominated – and hence passively experienced – space which the imagination seeks to change and appropriate. It overlays physical space, making symbolic use of its objects. Thus representational spaces may be said, though again with certain exceptions, to tend towards more or less coherent systems of non-verbal symbols and signs“ (2009:39; Herv. im Orig.). 80 Cenzatti stellt diese in eine periodisierende Nachfolge zu Krisen- und Abweichungsheterotopien und versteht darunter Räume, die in Folge u.a. der „increasing social fragmentation and self-identification“ und „[g]lobaliza- tion“ mit den daraus entstehenden „different lifestyles and social, cultural or sexual identities“ entstanden sind. „[P]laces in which irreconcilable spaces coexist, but what constitutes irreconcilability is constantly contested and changing“ (2008:78f). 73 3. Andere ‘Andere Räume’: Heterotopien im virtuellen Raum as city halls and community centres, or known spaces of representation, such as those produced in political rallies“, zu erobern (vgl. ebd.:83). Als Beispiel dient ihm das eman- zipatorische Projekt der zweiten Frauenbewegung. Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf Abweichungsheterotopien übertragen. Am Beispiel von „new forms of extra-legal, ‘abhorrent’ subjectivit[ies]“, welche in „outsourced and de-territorialized border-regimes and detention centers – may they be termed reception centers, refugee homes or deportation centers“ (Oberprantacher 2010; Herv. im Orig.) geschaffen werden, lässt sich das illustri- eren. Lager-ungen von nicht-verurteilten Menschen in Schubhaft oder ähnlichen außer- rechtlichen Situationen (z.B. auch Guantànamo, Abu Ghraib) schaffen einen rechtsfreien Raum der Unfreiheit, der üblicherweise nicht oder marginal öffentlich wird (vgl. Gan- der 2010; Oberprantacher 2012; 2010). „Recognition“ und ‘visibility’ wird seitens der ‘Ge-lagerten’ durchaus auch angestrebt, beides vor allem auch in Form medialer und politischer Repräsentation. Zu unterscheiden ist hier jedenfalls zwischen den primären Erfahrungen der jeweils Inhaftierten und den Informationen, die die Öffentlichkeit er- reicht, auch wenn sich erst aus der Verbindung eine öffentliche Meinung zu Abschaffung oder Veränderung dieser dystopischen Heterotopien bilden kann. Hier können virtuelle Heterotopien ein Mittel zur Verfügung stellen, Räume der Repräsentation zu schaffen oder sie zu beeinflussen. Ich halte es für sinnvoll, solche virtuell repräsentierenden Heterotopien, aber auch solche, die im Sinne von Augmented Reality zu einer Ergänzung der unmittelbaren Wah- rnehmung führen, also diese spezifischen virtuellen Heterotopien als virtualisierte Heter- otopien zu bezeichnen. Zum einen kommt dadurch ihr Hybridcharakter zum Ausdruck, zum anderen wird damit die Verbindung zu Lévys Virtualisierung als Umkehrbewegung zur Aktualisierung betont, die durch den direkten, prozessualen Zusammenhang der ver- schiedenen ‘Wirklichkeiten’ virulent wird. Der zentrale Unterschied zu anderen virtuellen Heterotopien ist vor allem in der Dimension des Realitätsanspruchs bzw. der Faktizität zu suchen, welcher im Fall von virtualisierten Heterotopien durch die direktere Arbeit mit und an physikalischen Räumen einen höheren Grad erreicht. 3.2.c. Zwischenfazit Andere Räume können nicht nur in der primären Wirklichkeit ihren Ort finden, sondern auch als medialisierte Heterotopien in medialen Räumen – sei es als Kommunikationsräume, 74 3.2. Heterotopien im medialen und virtuellen Raum die sich durch die Vielzahl an Medientechniken eröffnen oder als Repräsentationsräume. Zwischen der metaphorischen Rede von Kommunikationsräumen und dreidimensional ausgestalteten ‘virtuellen Räumen’ zeigt sich ein breites Feld solcher medialer Räume, die vielfach in engem, wechselseitigen Verhältnis zur physikalischen Wirklichkeit stehen. Am Beispiel der Augmented Reality, aber auch in der Referenzialität medial repräsentierter Räume zeigt sich diese Mischförmigkeit, begünstigt durch mobile Endgeräte und elabori- erte Erkennungsprogramme, sehr deutlich. Sofern es sich um vollständig oder teilweise simulierte Andere Räume handelt, welche auf Grundlage digitaler Datenverarbeitung geschaffen wurden, schlage ich vor, von virtu- ellen Heterotopien zu sprechen. Virtualisierte Heterotopien schließlich sind nach der hier vorge- schlagenen Taxonomie einerseits solche virtuellen Heterotopien, die sich durch eine sehr direkte Übertragungsleistung physikalischer Räume auf virtuelle Räume und damit ein- hergehend durch einen maximalen Realitätsanspruch, oder anders: durch weitestgehen- den Ausschluss fiktiver Anteile, auszeichnen. Andererseits sollen damit umgekehrt auch physikalische Heterotopien bezeichnet werden, die sich durch die Integration digitaler Endgeräte auszeichnen. Mit ‘Virtualisierung’ soll nicht nur auf die Übertragung in den virtuellen Raum, sondern auch auf das Lévy’sche Konzept der Virtualisierung verwiesen werden, welches durch diese Umkehrbewegung zur Aktualisierung eine Problematisierung der Wirklich- keit und eine Verflüssigung subjektivierender und identifikatorischer Kategorien be- zeichnet. Damit öffnet sich zudem eine weitere Schnittstelle zu Foucaults Heterotopien, welchen dieser u.a. eine in-Frage-stellende Funktion gegenüber der dominanten Mehrhe- itsgesellschaft zuschreibt. Ein Verhältnis, das sich in ähnlicher Form in der Bezugnahme und Wirkung von Virtualisierung auf scheinbar ‘wirklichere Wirklichkeit’ aufspüren lässt. Natürlich verschieben sich durch die Medialisierung und Virtualisierung von Het- erotopien einige Parameter, wie etwa die Mechanismen der Öffnung und Schließung, die involvierten sozialen Gruppen, die geografische Fixierung oder die Konkretion des erfahrbaren Raums durch spezifische Modalitäten der Darstellung. Gerade in Bezug auf ‘spaces of representation’ tut sich eine bemerkenswerte Schnitt- stelle zu Journalismus und Dokumentarismus auf, denn beide arbeiten einer (Teil-)Öf- fentlichkeit zu, die für die gesellschaftliche und politische Bearbeitung insbesondere dys- topischer Heterotopien als unumgänglich gesehen werden muss. 75 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv „NO PICTURES NO DISCUSSION NO PROBLEMS [NO PHOTOGRAPHS] Dare a Glance“ (Zone*Interdite) In diesem Kapitel wird nun, auf Grundlage der ausgeführten theoretischen Erkennt- nisse, das Medienkunstprojekt Zone*Interdite exemplarisch analysiert und interpretiert. Die beiden Künstler, Christoph Wachter und Mathias Jud, stellen in ihrem Online- Medienangebot neben einer Art Datenbank militärischer Sperrgebiete auch 3D-Simula- tionen solcher Sperrgebiete kostenfrei zur Verfügung. Diese ‘3D-Walkthroughs’ können durch Download und Installation auf einem Rechner ausgeführt werden. Dadurch wird beispielsweise die Anlage der US Army auf Guantanamo Bay ‘begehbar’. Der Analyse gehen zumindest zwei Annahmen voraus, welche im weiteren Verlauf nach Überprüfung verlangen: erstens, dass es sich bei militärischen Sperrgebieten um Heterotopien im Sinne Foucaults handelt und zweitens, dass das Ergebnis der von den Künstlern vorgenommenen Übertragungsleistung (Virtualisierung) in Form der 3D- Walkthroughts demzufolge virtuelle sowie virtualisierte Heterotopien sein müssen. Erst abschließend wird zu bestimmen sein, inwieweit dieses als heterotopisch angenommene Medienangebot von einem utopischen Impuls ausgeht, einen solchen (mit-)produziert oder zumindest begünstigt. Im ersten Abschnitt gilt es, ein Analyseraster und eine Methode zu finden, die es ermöglichen, das komplexe Medienangebot in seiner Vielschichtigkeit angemessen zu be- schreiben und auszuwerten. Dabei müssen nicht nur die strukturellen Vorgaben der me- dialen Anordnung, sondern auch ihre Einbettung in diskursive und institutionelle Zusam- menhänge sowie die Implikationen für konkrete Nutzungsformen und mögliche Effekte berücksichtigt werden. Die Dispositivanalyse eignet sich aufgrund ihrer umfassenden Berücksichtigung von Diskurs- und Machteffekten, Praktiken und Objektivationen für diese Absichten (vgl. Bührmann & Schneider 2008). Wie genau sich diese gestaltet und 77 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv welche Modifikationen vorgenommen werden müssen, um damit ein komplexes Medien- angebot adäquat analysieren zu können, wird im folgenden Abschnitt ausgeführt. Der zweite Abschnitt stellt eine ausführliche Beschreibung des Medienangebots dar, welche gleichzeitig Ausgangspunkt für den dritten Abschnitt ist: erstens für die Analyse der einzelnen Elemente des medialen Dispositivs von Zone*Interdite und das zwischen ihnen zu spannende Netz von Machteffekten und zweitens für die synthetische Interpre- tation mit Blick auf die zentralen Fragestellungen. 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Im folgenden Unterkapitel soll eine geeignete Analyseform zur Interpretation des Me- dienangebots von Zone*Interdite (Z*I) gefunden werden. Dieses setzt sich aus einer meh- rschichtigen Homepage und virtuellen Durchgängen durch rekonstruierte militärische Anlagen zusammen. Letztere sind zwar mit der Homepage verlinkt, müssen jedoch herun- tergeladen und am eigenen Rechner installiert werden. Das Medienkunstprojekt insgesamt reicht über die Grenzen des Medienangebots hinaus (und erweitert dieses z.B. in Ausstel- lungen etc.), was im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht berücksichtigt werden kann. Das Forschungsinteresse zielt einerseits darauf ab, das Medienangebot von Zone*Interdite mit dem erarbeiteten Konzept der virtuellen bzw. virtualisierten Heteroto- pie abzugleichen. Andererseits stellt sich die Frage, ob an dem von Zone*Interdite auf- gespannten Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum und seiner Struktur Utopisches abzulesen ist. Indem das Medienangebot erstens denkbar vielschichtig ist, zweitens mit multiplen Kommunikationsinstrumenten und Medientechniken operiert und drittens außerhalb hegemonialer Massenmedienangebote anzusiedeln ist, stellt sich die Frage, welches Analyseraster diese Phänomene in ihrer Gesamtheit und in ihren Zusammen- hängen in den Blick bekommen kann. Wie der Überschrift bereits zu entnehmen ist, wurde zu diesem Zweck die Dispositivanalyse im Anschluss an Foucault gewählt, welche – so die Annahme – diesen Spagat ermöglicht. Da diese in der Variante von Andrea Büh- rmann und Werner Schneider (vgl. 2008), die unten vorgestellt wird, nicht direkt auf Me- dienangebote anwendbar ist, sind einige Modifikationen in Anlehnung an entsprechende Konzepte der Medienwissenschaften notwendig. Am Ende dieses Abschnitts steht ein funktionaler und mit den theoretischen Grundlagen kompatibler Analysezusammenhang in Form einer ‘Mikroanalyse medialer Dispositive’. 78 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive 4.1.a. Vorbemerkungen Um die Entscheidung für die Dispositivanalyse nachvollziehbar zu machen, werden nun die dahingehenden Überlegungen kurz nachgezeichnet. Freilich wäre auch eine andere Methodenwahl möglich – und begründbar. Die Frage nach dem Utopischen im Me- dienangebot von Zone*Interdite wäre beispielsweise mittels einer Inhaltsanalyse entlang möglicher Dimensionen wie Intentionalität oder Funktionalität zu beantworten. Das al- leine würde jedoch aufgrund des vorliegenden Datenmaterials entweder zu sehr unvoll- ständigen Aussagen oder Spekulationen führen. Die Intentionalität ließe sich rudimentär anhand der Textbelege der beiden Künstler re-konstruieren, die Funktionalität hängt von der jeweiligen Nutzung ab, die – wie den Kommentaren auf der Homepage zu entnehm- en ist – stark voneinander abweichen. Der Zugang zu NutzerInnen der Seite beschränkt sich jedoch auf die hinterlassenen, schriftlichen Einträge. Würde für die Analyse des verfügbaren Textmaterials eine diskursanalytische Methode gewählt, ließe sich zumindest mit sämtlichen online verfügbaren Texten der Künstler (Erläuterungstexte auf Homep- age und Blog, E-Mail Wachters) und NutzerInnen, also den Gästebucheinträgen, arbe- iten. Worauf allerdings auf diesem Wege nur bedingt zugegriffen werden kann, ist die Gesamtheit der ästhetischen Erfahrungen, welche laut Chlada (vgl. 2005) Foucaults Het- erotopien zentral kennzeichnen. Hiermit sind unter anderem konkrete Nutzungspraxen und insbesondere der Erfahrungsraum der 3D-Walkthroughs – in enger Verflechtung mit der Homepage – gemeint. Nun wird die Diskursanalyse teils auch auf visuell-ikonische Phänomene angewandt, wie etwa Meier unter dem Namen der „multimodalen Diskur- sanalyse“ (vgl. Meier 2011) ausführt. Damit wird bereits ein Aspekt unterstrichen, der sich gerade in Analysen wie der vorliegenden durchaus lohnt, in eine Diskursanalyse einbezogen zu werden. Einen anderen und doch verwandten Weg gibt die noch junge und wenig erprobte Dispositivanalyse vor. Bisher liegt im deutschsprachigen Raum mit dem von Bührmann und Schneider (vgl. 2008) dazu lediglich ein Einführungswerk vor, das einen Anwend- ungsvorschlag unterbreitet. Die Anwendung und Diskussion dieser Forschungsperspe- ktive – Bührmann und Schneider weisen darauf hin, dass sie damit keine ‘Methode’ im engeren Sinne formulieren – wird häufig im Lichte der Diskursanalyse diskutiert81 und 81 So etwa in zwei Artikeln von Siegfried Jäger (vgl. Jäger 2001a; 2001b), einer Dispositivanalyse am Beispiel des institutionellen Rassismus von Margarete und Siegfried Jäger (vgl. 2002) oder einem vorbereitenden Artikel zum 79 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv baut gewissermaßen darauf auf. Beide orientieren sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung stark an den Arbeiten Michel Foucaults, der den Dispositivbegriff aufgeg- riffen und neu besetzt hat (vgl. Foucault 1978). Wie auch bei den Heterotopien handelt es sich beim Foucault’schen ‘Dispositiv’82 um ein nicht in letzter Konsequenz ausgear- beitetes Konzept (vgl. Jäger & Jäger 2002:23), welches wiederum weite Interpretations- spielräume eröffnet. Als Startpunkt der Exegese dient in vielen Fällen das folgende Zitat aus einem Gespräch Foucaults mit PsychoanalytikerInnen, in dem er eine dreiteilige Be- griffsbestimmung vornimmt. Dem zufolge versteht er das Dispositiv als „erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Instituti- onen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, phi- losophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen ge- knüpft werden kann“ (Foucault 1978:119f). Zweitens markiert er das wechselseitige und sehr heterogene Verhältnis dieser Elemente zueinander. Es gebe zwischen ihnen „ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Position- swechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können“ (ebd.:120). Und drittens versteht er darunter eine „Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strat- egische Funktion“ (ebd.). Einführungsband von Bührmann und Schneider (vgl. 2007). 82 Im Französischen ist das Wort ‘le dispositif ’ durchaus im alltäglichen Sprachgebrauch zu finden. Die Über- setzung von ‘dispositif ’ aus dem Französischen ins Deutsche oszilliert zwischen ‘Werkzeug’, ‘Einrichtung’ und ‘Maßnahme’, beinhaltet also eine intentionale und funktionale Bedeutungsebene, bezogen auf vorwie- gend materielle Phänomene. Vgl. dazu die Übersetzungen im Online-Wörterbuch ‘LEO’: http://dict.leo.org/ frde?lp=frde&search=dispositif [Stand 04-08-2014]. In fachsprachlicher (juristischer, medizinischer, militäri- scher) Verwendung sind die Bedeutungen ebenfalls auf Vorkehrungen bezogen, „die es erlauben eine strategi- sche Operation durchzuführen, also ein Ensemble von Einsatzmitteln, die entsprechend einem Plan aufgestellt werden“ (Ruoff 2007:51). Zu weitergehenden etymologischen Zusammenhängen mit ‘dispositio’, einem Termi- nus aus der Rhetorik, und ‘disposition’, im Sinne von ‘Veranlagung’ oder ‘Anlage’ vgl. den Artikel von Joachim Paech (2003:479ff). Dessen „interlinguale Verblüffungsmagie“ kritisiert wiederum Günter Dammann vehement (2002:6). 80 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive In ‘Überwachen und Strafen’ hat Foucault am Beispiel der ‘Geburt des Gefäng- nisses’ bereits Raumanordnungen dispositivanalytisch bearbeitet (vgl. Jäger 2001a:119), auch wenn sie nicht als solche ausgeschrieben ist, da der Begriff in Foucaults Arbeit erst später, nämlich 1976, auftaucht (vgl. Ruoff 2007:51). Die wenigen, zum Teil be- reits genannten, Versuche dispositivanalytisch zu arbeiten, erweisen sich im Gegensatz dazu primär an thematischen Problemfeldern orientiert, so etwa am (institutionellen) Rassismus (vgl. Jäger/Jäger 2002), am Geschlechter- oder Sterbe-/Todesdispositiv (vgl. Bührmann & Schneider 2008). Zudem werden hierbei gesellschaftlich dominante Dis- positive auf der Makroebene verhandelt, sozusagen dem Counterpart spezifischer het- erotopischer Raumanordnungen und den zugehörigen Macht-/Wissensverflechtungen. Verflechtungen dieser Elemente im Mikrokosmos sozialer Räume, sprich (widerständige) Mikro-Dispositive, sollte es solche per definitionem geben, wurden in diesem Kontext bis- lang eher außen vor gelassen, wie auch Möglichkeiten ‘dispositiven Wandels’.83 Ander- erseits deuten Bührmann und Schneider in ihrem Band an, dass die vollständige und lückenlose Bearbeitung eines Dispositivs forschungspraktisch ohnehin nicht bewältigbar sei und dementsprechend je nach Interessenslage Schwerpunkte gesetzt werden müssen (vgl. Bührmann & Schneider 2008:119f). Ein weiterer Strang der Begriffsgeschichte des Dispositivs verläuft im Feld der Me- dienwissenschaften und hat – relativ früh – den Dispositiv-Begriff für kritische Medi- enforschung fruchtbar zu machen versucht. Vielfach wird als Ausgangspunkt ein 1975 erschienener Artikel von Jean-Louis Baudry mit dem Titel The Apparatus: Metapsychologi- cal Approaches to the Impression of Reality in the Cinema gewählt (vgl. Baudry 1986). In der deutschsprachigen Übersetzung – wie auch im französischen Originaltext – ist nicht von ‘apparatus’, sondern von ‘das Dispositiv’ bzw. ‘le dispositif ’ die Rede.84 Dieser Dis- 83 Diese Formulierung ist als Parallele zu ‘diskursivem Wandel’ zu verstehen. Unter diesem Titel wurde 2010 ein Sammelband herausgegeben (vgl. Landwehr 2010), in welchem ein Artikel von Hilmar Schäfer (vgl. 2010) auf die bislang vernachlässigte Perspektive der „Mikrophysik der Praxis“ hinweist. Diesen Hinweis, der vorwiegend ‘diskursive Praxis’ benennt und somit an Diskursforschende gerichtet ist, greife ich also im Zusammenhang der Dispositivanalyse auf. Einen vergleichbaren Verweis bringen auch Bührmann und Schneider, indem sie Alltags- wissen, -gespräch und -praxis als „bisherige Leerstellen in der Diskursforschung“ bezeichnen (2008:93). 84 Bereits 1970 entwickelt Baudry in dem Artikel Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus eine Analogie des Platonischen Höhlengleichnisses mit der Anordnung während des Kinoerlebnisses, um daran den „ideolo- gischen Effekt“ zu verdeutlichen. In diesem Fall sind mit Apparatus v.a. die technischen, audio-visuellen Geräte gemeint, die von der Aufnahme bis zur Projektion nötig sind, um eine Kinoaufführung zu ermöglichen. Aller- dings würde die Analogie ohne die Topologie des Kinosaals nicht funktionieren. Baudry operiert zudem mit psychoanalytischen Traumtheorien, die für diese Arbeit keine Rolle spielen (vgl. Baudry 1986a). Auf dessen The- 81 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv kursstrang scheint in dem Synonym auf, welches Siegfried J. Schmidt innerhalb seines Medienkompaktbegriffs für Medientechniken anführt: Mediendispositive.85 Bei der Übertra- gung der Bedeutungen von Foucault zu Baudry und vice versa ist jedoch Vorsicht gebo- ten. Trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes des Dispositiv-Begriffs und der zeitlichen Nähe der Texte (1976/1975)86 entwickeln nicht nur die beiden Autoren unterschiedliche Verständnisse eines Dispositivs, auch die Lesarten in der Rezeption haben sich erheblich auseinander entwickelt. Selbst zwischen den Begriffsbestimmungen innerhalb der Me- dienwissenschaften finden sich markante Unterschiede. Wenn etwa Schmidt Mediendis- positive mit Medientechniken gleichsetzt und damit die für ein Medienangebot grundle- gende technische Infrastruktur bezeichnet, weicht dies deutlich von einem Verständnis nach Hickethier ab, welcher in einer stärker an Foucault orientierten Variante die „Vernetzung heterogener Elemente: der Vernetzung von Gesetzen, Richt- linien und Medienkonzepten, von Institutionsaspekten, Technik, Ökono- mie, Formen und Inhalten der Sendungen miteinander und mit Wahrneh- mungsphänomenen, Rezeption, Nutzungs- und Wirkungserfahrungen“ (Hickethier 2002) als mediales Dispositiv bezeichnet. An einem solchen Verständnis orientiert analysiert er bspw. das Dispositiv Fernsehen (vgl. Hickethier 1995).87 Zwischen dieser Konzeption des Dispositivs und dem Ansatz der Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider gilt es im nächsten Schritt zu vermitteln, um letztere orie und seine Rezeption, sowie auf die Problematik der Übersetzung ins Englische und Zusammenhänge zum Foucault’schen Dispositiv geht Paech näher ein (vgl. 2003:466ff). 85 Um begrifflichen Unklarheiten auszuweichen, verzichte ich im weiteren Verlauf auf den Begriff des Medien- dispositivs und werde stattdessen die technische Infrastruktur, weiterhin Schmidt folgend, als Medientechniken bezeichnet. 86 Zum gegenseitigen Bezug der Autoren aufeinander finden sich unterschiedliche Angaben, die, wie es scheint, selbst eher auf Vermutungen als auf klaren Indizien fußen. Die alltagssprachliche Bedeutung von ‘le dispositif ’ im Französischen verkompliziert die Lage zusätzlich und lässt auch die unabhängige Verwendung der Begriffe bei Foucault und Baudry denkbar erscheinen. Link (vgl. 2007:220) legt nahe, Baudry habe Foucault rezipiert; die Jahreszahl der Erstnennung in veröffentlichten Texten würde jedoch Baudry vorreihen; und vielleicht war ja doch Gilles Deleuze schneller (Hans 2001:22 vgl. )? Es lässt sich nicht eindeutig klären und ist gerade nicht zu neben- sächlich für eine Fußnote. 87 Eine vergleichbare, wenngleich historisch angelegte, Analyse zum medialen Dispositiv des Videorekorders und des Diskurses über Horrorfilme führt Pletz durch (vgl. 2010). 82 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive auf die spezifischen Bedingungen der Anordnungen von Online-Medienangeboten ab- zustimmen. Gerade von einer Synthese beider Deutungsweisen lässt sich im Hinblick auf das bescheidene und doch komplexe Forschungsvorhaben eine umfassende und viable Analyseperspektive erhoffen. 4.1.b. Die Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider Wie bereits im Ansatz begründet, erscheint die Dispositivanalyse als Analyseraster aus mehreren Gründen geeignet, die diskursive und praktische Anordnung in und um das komplexe Medienangebot von Zone*Interdite umfassend in den Blick zu bekommen. Denn wie sich im Folgenden ausführlich zeigt, werden hierbei nicht nur diskursive Macht-/ Wis- senszusammenhänge zum Forschungsgegenstand erklärt, sondern auch nicht-diskursive Praktiken, wie auch Effekte und Verstrickungen von Subjekt(trans)-formierungen, Verge- genständlichungen und weiterreichende gesellschaftliche Folgen in aufeinander bezogenen Relationen beschreib- und analysierbar. Zudem erweist sich dieser Versuch gleichsam als Testlauf, die unscharf definierten Foucault’schen Konzepte der Heterotopie und des Dis- positivs in medialen Anordnungen zu fassen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, wird anschließend an die knappe Darstellung des Vorschlags einer Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider eine Modifikation des Analysemodells vorgenommen. Erstens gilt es hierbei, mit Hilfe des im zweiten Kapitel vorgestellten Medienkompak- tbegriffs von Schmidt eine Übertragung von Dispositiven „zur Bearbeitung bestimmter gesellschaftlicher Problemfelder“ (Bührmann & Schneider 2008:94) auf die Ebene eines medialen Dispositivs zu leisten. Zweitens muss geklärt werden, welche Verschiebungen sich dadurch ergeben, dass das Forschungsvorhaben in relativ beschränktem Rahmen und auf Mikroebene angesiedelt ist, welche Datengrundlage genutzt werden kann und wie mit dieser verfahren werden soll. Und drittens ist die Frage zu klären, wie mit der – vorangenommenen – Beurteilung des Medienangebots von Zone*Interdite als nicht hege- monial und möglicherweise utopisch methodisch umgegangen werden kann. Die Frage stellt sich insofern, als sowohl mit ‘Diskurs’ als auch mit ‘Dispositiv’ in erster Linie gesell- schaftlich dominante Formationen und (An-)Ordnungen bezeichnet werden. Ziel dieses Kapitels ist es, für das experimentelle Forschungsvorhaben konzeptu- elle, methodologische und methodische Grundlagen zu erarbeiten, welche einerseits an die theoretische Vorarbeit anschlussfähig sind und sich andererseits hinsichtlich der zu 83 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv untersuchenden Zusammenhänge in und um Zone*Interdite als funktional und gangbar erweisen. Konzeptionelle Grundbegriffe und Zusammenhänge der Dispositivanalyse Bührmann und Schneider (vgl. 2008) konzeptualisieren das Dispositiv im Anschluss an Foucault (siehe oben) und lassen dabei den Titel der Einführung in die Dispositivanalyse Programm sein: Vom Diskurs zum Dispositiv entwickeln sie das begriffliche und analytische Raster. Das Diskurskonzept lässt sich stark verkürzt dargestellt als „aus Aussagen bestehende, geregelte, institutionalisierte Redeweisen fas- sen, mit denen jeweils Wissen prozessiert wird, welches mittels damit verbundener Handlungsweisen Machteffekte, Machtwirkungen entfaltet“ (ebd.:25). Diese Perspektive zielt also auf den in Foucaults Werk zentralen Zusammenhang zwisch- en Wissen bzw. Wissensordnungen (diskursive Praktiken) und Macht (Effekte auf das Wahrnehmen, Denken, Handeln) ab und fokussiert darin insbesondere auf etablierte und regulierte Diskurszusammenhänge. Letztendlich sei es zwar möglich, „alle sozialen Phänomene“ (ebd.:43) auf die diskursive Ordnung der Dinge rückführbar zu konzipie- ren, gewisse Phänomene entziehen sich aber möglicherweise dem „Primat des Diskur- siven“ (ebd.:44). Bührmann und Schneider fragen über das Diskursive hinaus nach nicht- diskursiven Praktiken und Vergegenständlichungen. Sie wollen die diskursanalytische Perspektive anhand des Dispositivkonzepts erweitern, um diese zusätzlichen Elemente adäquat in den Blick zu bekommen. Sämtliche Schritte der Entwicklung ihres Konzepts hier ausführlich zu referieren, muss in diesem Rahmen ausspart werden. Ich verweise auf den Band selbst und möchte mich auf die zentralen Argumentationen auf dem Weg zu einem Dispositivkonzept und in weiterer Folge zu einer Dispositivanalyse beschränken. Die für die Analyse benötigten diskursanalytischen Grundlagen werden am Ende dieses Kapitels in Form der (Inter-)Diskurstheorie Jürgen Links nachgereicht. Zudem wird der eine oder andere theoretische Einwand – nach Darstellung der Dispositivanalyse – ohne- hin über die Hintertür der anschließenden Diskussion den Weg in diese Arbeit finden. Während das Dispositiv vielfach „als ‘die materielle und ideelle Infrastruktur’ von Diskursen bzw. diskursiver Formationen“ (ebd.:52) verstanden wird, erweitern die Auto- 84 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive rInnen diese Sichtweise anhand einer Re-Lektüre Foucaults um mehrere Punkte: Die Be- tonung Foucaults liege demnach nicht auf der Gesamtheit der Elemente selbst (als Infra- struktur), sondern auf dem Netz, das dazwischen gesponnen werden könne. Dies unter- streiche die Bedeutung der Machtbeziehungen im Rahmen der Analyse. Der strategische und damit historisch-kontingente Charakter der Dispositive heiße zudem, „dass die Formierung von Dispositiven die De-Formierung anderer Dispositive bzw. des Zusam- menspiels anderer diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken impliziert“ (ebd.:53). Das Verhältnis zwischen Diskurs und Dispositiv zeigt sich also als ein wechselseitiges, welch- es nicht restlos von diskursiven Formationen determiniert werde. Weiters wird die Funk- tionsweise des Dispositivs – entsprechend dem Foucaultschen Macht-Konzept88 – als grundlegend produktiv gekennzeichnet. Ausgehend von einem historischen ‘Notstand’ werden also nicht nur „materiale Vergegenständlichungen, Objektivationen diskursiver Prozesse“, sondern gerade auch „bestimmte Subjektivitätsformen bzw. -typen“ (ebd.:54) ‘produziert’. Diese Hervorbringung wollen Bührmann und Schneider jedoch nicht als einer kausalen oder instrumentellen Logik folgend verstanden wissen. Sie betonen den spielerischen Charakter der Machtspiele und sprechen im Anschluss an Foucault von „einer funktionellen Überdeterminierung“, sowie „einer strategischen Wiederauffüllung“ (ebd.) von Dispositiven. Die Synthese aus ihren Ausführungen und Diskussionen mün- det schließlich in einen im weiteren Verlauf (ihrer und dieser Arbeit) zu Grunde gelegten Dispositivbegriff: „Mit Dispositiven […] sind folglich sowohl die – in diesem Sinne als machtvoll zu verstehenden – Effekte der diskursiv erzeugten und vermit- telten Wissensordnungen auf die (nicht-diskursiven) Praktiken in den be- treffenden Praxisfeldern wie auch die (Rück-)Wirkungen dieser Praktiken auf die diskursiven ‘Wahrheitsspiele’, auf die Wissenspolitiken selbst ge- meint, die als solche immer in eine historisch spezifische gesellschaftliche Situation eingebettet sind“ (ebd.:55). Als Dimensionen ihres Dispositivkonzepts benennen sie also zunächst Diskursordnun- gen, und (diskursive wie nicht-diskursive) Praktiken. Wie zuvor bereits erwähnt, ergänzen sie 88 Eine sehr knappe Definition Foucaults lautet, „[s]ie [die Machtausübung; V.D.] ist auf Handeln gerichtetes Han- deln“ (Foucault 2005a:256). 85 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv diese zweifache konzeptuelle Anordnung um „ihre symbolischen Objektivierungen und mate- rialen Vergegenständlichungen sowie Fragen nach Subjektivationen/Subjektivierungen und ihren möglichen (Trans-)Formierungen“ (ebd.; Herv. V.D.). Die Einbettung in den weiteren gesellschaftlichen Kontext – sowohl die ‘urgence’ als auch mögliche (Neben-)Folgen betreffend ist in ihrem Sinne eher als Rahmung zu betrachten und wird nicht direkt dem Dispositiv zugerechnet (vgl. ebd.:55f). Hiermit haben wir bereits die für dieses Dispositivkonzept grundlegenden Begriffe in einem angedeuteten Zusammenhang isoliert. Ihre Analy- seprogrammatik auf Grundlage dieses Konzepts adressiert „die […] Bestimmung des je über Wissen vermittelten Verhältnisses von Diskurs, Macht und dem gesellschaftlichen Sein“ (ebd.:32; Herv. im Orig.). Mit ‘gesellschaftlichem Sein’ bezeichnen sie den Komplex von Menschen in ihren sozialen Beziehungen und ihrer Umwelt (den ‘Dingen’), „sowie ihre damit jeweils verbundenen (Selbst-)Erfahrungen – als Subjekte“ (ebd.:33), welche dadu- rch (trans-)formiert werden. Es stellen sich nun einige zu klärende Fragen, um in diesen Zusammenhängen analytische Trennschärfe zu gewinnen: Erstens fragt sich, worin der Unterschied zwischen diskursiver und nicht-diskursiver Praxis besteht. Bührmann und Schneider stellen klar, dass diese ihnen „als analytische Differenz“ (ebd.:47) dient. Auch diskutieren sie die Unterscheidung nach Siegfried Jäger, der bereits eine Differenzierung zwischen beiden Praxis-Formen einführt. Diskursive Praxis meint hierin solche Praktiken, „die primär Wissen transportieren“ (ebd.:57). Nicht- diskursive Praktiken fungieren dann gleichsam als Scharnier zwischen Diskurs (Sagbares/ Gesagtes) und Vergegenständlichungen (Sichtbares). Sie bezeichnen Tätigkeiten, „die zwar auch Wissen transportieren bzw. besser: denen Wissen vorausgeht, die aber primär als ‘Dinge produzierende Tätigkeiten’ letztlich zu Sichtbarkeiten/Vergegenständlichun- gen führen“ (ebd.). Die Ergänzung des ‘primär’ deutet in beiden Fällen darauf hin, dass sich keine letztgültige Trennschärfe erreichen lässt, da beide Kategorien eng miteinander verflochten sind. Bührmann und Schneider orientieren sich in ihrer Fassung weniger an der Herstellung von ‘Dingen’ als an diskurstheoretischen Grundlagen und versuchen ‘nicht-diskursive Praktiken’ in Negation zu ‘diskursiven Praktiken’ zu fassen. Sie „bezeichnen dann jene Äußerungen, Artikulationen bzw. Praktiken, die als nicht-sprachliche zu einem gegebenen Zeitpunkt keinen Bestandteil einer geregelten, institutionalisierten Redeweise bilden, d.h. noch keinem Diskurs zugehörig sind“ (ebd.:47). 86 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Sie weisen allerdings auch darauf hin, dass Foucault selbst die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken für wenig bedeutsam hielt (vgl. ebd.). Sie selbst wählen also im oben stehenden Zitat eine rein analytische Trennung, welche sich nicht an der Grenze sprachlich/nicht-sprachlich ausrichtet, sondern an der Regelhaftig- keit und Etabliertheit von Diskursen. Dadurch werden bspw. sprachliche Praktiken des Alltags, welche noch nicht oder nicht mehr einem Spezialdiskurs zuzurechnen sind, als ‘nicht-diskursive Praktiken‘ bezeichnet. Zweitens ist eine Dimension, die Jäger in seinem Vorschlag zur Dispositivanalyse nach Ansicht der AutorInnen nicht weiter berücksichtigt, jene des Subjekts, wie auch die Frage nach Subjektivationen und Subjektivierungen (vgl. ebd.:57). Was ist damit gemeint und woher rührt diese – von Bührmann und Schneider konsequent doppelte Anführung der beiden Begriffe? Subjekte „als Akteure als Individuen und/oder Kollektive, als Handelnde oder ‘Erleidende’“ (ebd.:68) stellen eine zentrale Schnittstelle im Konzept dar. Sie sind nicht nur die ‘Praktiker’, welche als Sagende und Tuende tätig werden und somit reproduktiv an den Spielen von Wissen und Macht beteiligt sind, sondern mithin AdressatInnen strat- egischer Dispositive. Insofern stellt sich die Frage nach der „praktischen Verselbststän- digung (deutlicher noch als ‘Ver-Selbst-ständigung’) von Wissen über sich und die Welt“ (ebd.:60). Die Unterscheidung zwischen Subjektivation und Subjektivierung führen Büh- rmann und Schneider nun ein, um auf zwei verschiedene Dimensionen hinzuweisen: Mit Subjektivationen bezeichnen sie die „diskursiv vermittelten Subjektformierungen und -positionierungen“ (ebd.:69). Sie stellen das Wissen darüber bereit, als wen man sich selbst im Verhältnis zu anderen verstehen solle, und schließen zugehörige Praktiken und Bewertungen mit ein. Es handelt sich also um das diskursiv dominante ‘Angebot’ an „Subjekt-Wissen“ (ebd.).89 Ob, inwieweit und wie im Speziellen dieses Angebot genutzt, umgesetzt, hinterfragt und angeeignet wird, wird unter Subjektivierung (auch Subjek- tivierungsweisen) gefasst. Hier geraten die spezifischen „(Selbst-)Praktiken“ (ebd.) der Individuen in den Blick, genauso wie die Aspekte ihrer „Selbst-Deutung, des Selbst- Erlebens und die Selbst-Wahrnehmung“ (ebd.:71). Das Verhältnis von Subjektivation und Subjektivierung lässt sich gewissermaßen in loser Analogie zu den beiden extremen Forschungspositionen in der Medienforschung zwischen massenmedialer Indoktrination 89 Bei Louis Althusser wäre hier vom ideologischen Effekt der Anrufung die Rede, welcher bereits durch die direkte Adressierung in der Anrede ‘als jemand’ zum Subjekt ‘unterwirft’ (1971:170ff). Bührmann und Schneider referie- ren in diesem Zusammenhang ebenfalls auf dessen Text zu Ideologie und ideologische Staatsapparate, um die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser Subjektformierungen und -positionierungen zu verdeutlichen (vgl. 2008:68f). 87 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv einerseits und eines an selbstgesteuerter Mediennutzung interessierten ‘Gratifikations’- orientierten Ansatzes andererseits beschreiben. Eine Ergänzung, die die AutorInnen zwar erst durchführen, welche später jedoch teilweise aus dem Blick gerät, weist mit Verweis auf Jürgen Link auf eine weitere Dop- pelbödigkeit der Frage nach dem Subjekt im Dispositiv hin. In diesem Zusammenhang sei zumeist vom ‘Erleidenden’ (wahlweise auch: ‘dem Knecht’) innerhalb dispositiver Anordnungen die Rede. Link spricht nun von zwei Polen, an derer einem sich eben ‘Er- leidende’ befänden. Diese erscheinen in diesem Bild gleichsam als Objekt und Machtef- fekt und werden als ‘Disponierte’ bezeichnet. Indem diese durch das Dispositiv pro- duziert werden, konstituieren sich aber zugleich ‘Disponenten’ als oppositionelle, am Gegenpol verortete Subjektivität. Jene, „die als Effekt des Dispositivs sich dessen, was es zur Verfügung stellt (‘Klaviatur’, ‘Menü’), bedienen und dabei andere Subjektivitäten gleichsam ‘instrumentalisiert’ disponieren kann“ (ebd.:63). Die extreme Dichotomie der Sprachbilder sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass der zwischen den Polen aufgespannte Raum zum einen als Kontinuum von Zwischenpositionen zu begreifen ist. Zum zweiten hängen diese subjektiven Zuschreibungen stark von der Kadrierung und dem dadurch umrahmten Ausschnitt von ‘Gesellschaft’ ab. So kann sich, wer in der einen Perspektive auf eine dispositive Anordnung als disponierend erscheint, in größeren Zusammenhängen desselben Dispositivs als disponiert erweisen. Sehr plaka- tiv lässt sich das anhand des geflügelten Worts Nach oben buckeln, nach unten treten veran- schaulichen. Drittens sollte noch die Dimension der Objektivationen geklärt werden. Bührmann und Schneider führen diese stets als „symbolische Objektivationen und materiale Verge- genständlichungen“ (ebd.:55) oder später verkürzt als „symbolische und materiale Ob- jektivationen“ (ebd.:94) an. Diese Formulierung ist erläuterungsbedürftig. Sie lässt sich zunächst aus dem bereits angeführten Zitat Foucaults ableiten, in welchem als „Elemente des Dispositivs“ neben dem Diskurs an sich „architekturale Einrichtungen, reglemen- tierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen“ (Foucault 1978:119f) genannt werden. Es handelt sich hier also ebenfalls um Elemente, welche nicht direkt unter diskursive Praxis subsumiert werden können, aber doch durch „über spezifische Diskurs- und Machttechniken“ (Bührmann & Schneider 2008:54) eines Dispositivs her- vorgebracht werden. Die AutorInnen versuchen also, objektivierte, vergegenständlichte Techniken diskursiver (symbolischer) wie nicht-diskursiver (materialer) Art in einer Kat- egorie zusammen zu fassen, welche sowohl Architekturen, Rituale und Artefakte wie 88 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive bspw. Passbilder als auch Gesetze, Regelwerke etc. inkludiert (vgl. ebd.:54f). Was bei Jäger „Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen“ (ebd.:58) heißt, wird bei Bührmann und Schneider zu „symbolischen und materialen Objektivationen“. Relativ offen bleibt dabei, wie genau diese nun zu verstehen sind. Die Art und Beschaffenheit dieser Objektiva- tionen hängt von der jeweiligen Forschungsfrage ab: So wird sich eine Analyse auf Mi- kroebene eher mit solchen Vergegenständlichungen auseinander setzen, die als Effekte von Dispositiven zu verstehen sind (Alltagsgegenstände), als mit solchen, die durchaus selbst ein bestimmendes Element in einem Dispositiv darstellen, wie etwa Gesetze oder ein universitärer Gebäudekomplex. Diese Differenzierungen geraten bei Bührmann und Schneider leider etwas kurz. Ebenfalls bleibt ungeklärt, wo sich Institutionen in der Dispositivkonzeption einor- dnen lassen. Bührmann und Schneider sprechen diese Frage zwar kurz an (vgl. ebd.:73) und betonen die Notwendigkeit, „die jeweilige ‘funktionale’ Bedeutung von einzelnen Institutionen innerhalb eines Praxis-Feldes zu bestimmen“ (ebd.) und regen dazu an, ein im Hinblick auf die Dispositivanalyse entsprechendes Institutionenkonzept durch- zudeklinieren (vgl. ebd.:74), gehen aber nicht darauf ein, inwieweit Institutionen selbst als Vergegenständlichungen/ Objektivationen – symbolischer wie auch materialer Art – zu betrachten seien. In der später folgenden Konzeption einer Analyse medialer Disposi- tive werden die Institutionen gesondert innerhalb des Schmidt’schen Medienkompaktbe- griffs Eingang in den Analyseraster finden. Vier Leitfragen der Dispositivanalyse Anhand der für Dispositive wie auch ihre Analyse fundamentalen Elemente (Diskurs, Praxis, Objektivationen, Subjektformierung und gesellschaftlicher Wandel) erstellen Büh- rmann und Schneider einen Orientierungsrahmen, in welchem erstens diese Elemente zu einander angeordnet werden und worin zweitens – der Foucault’schen Netzmetapher entsprechend – jeweils zwischen den Elementen die Fragen nach den Verhältnis-bestim- mungen platziert werden. Bührmann und Schneider (ebd.:95) betonen, dass auch diese vorformulierten Leitfragen „rein analytisch zu trennende[...]“ seien. Ebenfalls seien sie dem speziellen Forschungsvorhaben entsprechend unterschiedlich zu gewichten, sprich: eine ‘Viabilisierung’ entlang der spezifischen Bedingungen und Zielsetzungen vorzune- hmen. Auch empfehlen sie, wenn keine explizite Diskursanalyse an sich durchgeführt wird, so zumindest die entsprechende Ein- und Zuordnung des vorliegenden Daten- 89 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv materials in die Zusammenhänge von entsprechenden Spezial-, Inter- und Elementa- rdiskursen vorzunehmen (vgl. ebd.:94f). Diese Differenzierungen der Diskurse werden weiter unten (Abschnitt d.) ausführlich erläutert. Die vier Leitfragen nach den „Verhältnisbestimmungen“ (ebd.:95) lauten nun folgen- dermaßen (ebd.:95): Praktiken (1): „In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken in Gestalt z.B. von Spezialdiskurs(en), Interdiskurs(en) und/oder Elementar- bzw. Alltagsdiskurs(en) und (alltagsweltliche) nicht-diskursiven Praktiken?“ Subjektivationen/Subjektivierungen (2): „In welchem Verhältnis stehen diskur- sive Praktiken, nicht-diskursive Praktiken, symbolische wie materiale Objektiva- tionen und Subjektivation/Subjektivierung?“ Objektivationen (3): „In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken mit den vorherrschenden Wissensordnungen, die sich in der ‘Ordnung der Dinge’ mani- festieren (im Sinne von symbolischen wie materialen Objektivationen insbeson- dere in Alltags-/Elementarkulturen?“ Gesellschaftstheoretische Kontextualisierung (4): „In welchem Verhältnis stehen diskursive Praktiken, nicht-diskursive Praktiken und Objektivationen kurzum: Dispositive – mit sozialem Wandel (z.B. gesellschaftlichen Umbruchsituationen) und dispositiven (nicht-)intendierten (Neben-)Folgen?“ Ohne diese Fragen jetzt ausführlich zu kommentieren, möchte ich zu einer fünften Leitfrage überleiten, nämlich: In welchem Verhältnis stehen diese Leitfragen (und das dahinter stehende Modell) zum Vorhaben, das komplexe Medienangebot Zone*Interdite dispositivanalytisch zu betrachten. Als einen ersten Schritt habe ich versucht, es in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in das von Bührmann und Schneider bereit gestellte Schema einzupassen (siehe Abb. 1). 90 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Abbildung 1: Dispositiv(e) in Z*I; adaptiert nach Bührmann/Schneider (2008:146) Diese bieten zur methodischen Anwendung ein ‘Making of ’ zu zwei exemplarischen Arbeiten der eigenen Forschungspraxis. Das betrifft im ersten Fall das Geschlechterdis- positiv (vgl. ebd.:120ff) und im zweiten das Sterbe-/Todesdispositiv (vgl. ebd.:136ff). Die dispositiven Anordnungen um die ‘Forschungsobjekte’ fügen sie jeweils in das von ihnen erstellte Schema zur Dispositivanalyse ein und genau daran ist die adaptierte Grafik (siehe Abbildung 1) ausgerichtet. Die Ziffern in der Grafik korrelieren mit den Num- merierungen der Leitfragen (siehe oben). Die Sonderstellung der ‘Subjektkonstitution’ in der Grafik, welche den Rahmen des Dispositivs übertritt, erklärt sich durch die doppelte Perspektivität, die sich in Subjektivation einerseits (Subjektformierungen und -positionen als der dispositive Anteil) und Subjektivierung (Subjektivierungsweisen als konkrete An- eignungsformen) andererseits gliedert. Allerdings wird an dieser simplen Übertragung des Schemas auf das Medienangebot von Zone*Interdite klar, dass an allen Positionen deutliche Verschiebungen auftreten, welche sich nicht im Rahmen des Dispositivkonz- epts von Bührmann und Schneider aufgehoben finden. Daher wird im nächsten Schritt 91 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv die notwendige Modifikation des Schemas vorgenommen, um aus einer Synthese der Konzepte von Medien und Dispositiv zum ‘medialen Dispositiv’ einen für das Forschun- gsvorhaben funktionalen, konzeptionellen Zusammenhang erstellen zu können. 4.1.c. Zur Modifikation der Dispositivanalyse zur ‘Analyse medialer Dispositive’ Wie bereits angesprochen, unterscheidet sich Zone*Interdite und das Dispositiv/die Dis- positive darin als Forschungsobjekt markant von den Beispielanwendungen von Büh- rmann und Schneider. Denn als Ausgangspunkt der Analyse haben wir es in diesem Fall mit einem komplexen Medienangebot zu tun, wie in Abschnitt 4.2. mit Hilfe des Schmidt’schen Medienkompaktbegriffs gezeigt wird. Dieses Medienangebot ist zweifel- los in eine Vielzahl von Dispositiven eingebettet und durch solche mit-formiert. Zu nennen wären hier bspw. Dispositive von Zugehörigkeiten entlang sozialer Grup- pen (Freund oder Feind, Inländer oder Ausländer, Militärzugehörige oder Zivile, Ter- roristIn oder lautere/r BürgerIn etc.) oder das Dispositiv medialer Berichterstattung/ Wirklichkeitskonstruktion (über militärische Anlagen/ Praxen/...). Unter dieser Perspe- ktive wären vor allem die Künstler und Autoren Christoph Wachter und Mathias Jud, und erst in weiterer Folge NutzerInnen des Medienangebots, als (trans-)formierte Subjekte zu nennen und das Medienangebot selbst als symbolische Objektivation (unklar bleibt hier, inwieweit ‘Programmarchitekturen’ symbolisch oder material zu fassen sind). Doch so spannend ein solches Unterfangen auch wäre, steht diese Perspektive nicht im Mit- telpunkt des Forschungsinteresses, abgesehen davon, dass diese umfassende Forschun- gsarbeit im Rahmen einer Diplomarbeit unmöglich zu leisten wäre. Die andere Ebene setzt an der Re-Formierung des Dispositivbegriffs an und in der Folge an der Übersetzung des Konzepts auf die Mikroebene: auf die Ebene eines medi- alen Dispositivs. Das mediale Dispositiv Ziel kann hier nicht sein, eine reine Übertragung des medialen Dispositivs im Sinne Baudrys (vgl. 1986) zu versuchen, obwohl dieses als Ausgangspunkt dienen wird. Glei- chermaßen abgelehnt werden muss für die Zwecke der geplanten Analyse das dem 92 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Baudry’schen „basic cinematographic apparatus“ (vgl. 1974) verwandte Verständnis von Siegfried J. Schmidt, welcher Mediendispositive synonym zu Medientechniken begreift und damit aus Sicht eines weiten Dispositivbegriffs eine semantische Reduktion vornim- mt (vgl. Schmidt 2000). Um einem für diese Arbeit verwendbaren Begriff vom ‘medialen Dispositiv’ näher zu kommen, möchte ich mich vor allem auf Texte von Joachim Paech und Knut Hickethier stützen, in denen sich die Autoren im Anschluss an Baudry mit Konzeptionen von „Mediendispositiv“ (vgl. Hickethier 2002; 1995) und „Dispositiv als Theorie medialer Topik“ (vgl. Paech 2003) auseinandersetzen. Im Gegensatz zum Begriff des „basic cinematographic apparatus“ (frz. l’appareil de base; dt. Basisapparat), womit Baudry (vgl. 1974) im französischen Original bereits 1970 alle an der Produktion und Projektion beteiligten technischen Gerätschaften (bei ihm jeweils am Beispiel des Kinos) bezeichnet, beschränkt sich sein Dispositivbegriff (frz. le dispositif; engl. the apparatus) fünf Jahre später auf die Projektionssituation als technisch-in- frastrukturelle und topologische Anordnung. Interessanterweise berücksichtigt er hier – im Unterschied zum Basisapparat – auch das Subjekt.90 Mit dieser theoretischen Umord- nung, ist „[d]ie optische, perspektivische (etc.) Ordnung der Apparate [...] gewissermaßen in ihrer dispositiven An-/Ordnung oder medialen Topik aufgegangen“ (Paech 2003:471). Auch wenn ich Baudrys Argumentationen zu ideologischen Realitätseffekten, zum Unterbewusstsein und zur Analogie von Kino- und Traumsituation an dieser Stelle nicht weiter ausführen will, zeigt sich in seinen Ausführungen ein Aspekt gerade im Hinblick auf Foucaults Heterotopien als anschlussfähig und spannend. Baudry versteht das Dis- positiv nämlich unter anderem als „a metaphorical relationship between places or a relationship between metaphorical places, with a topography, the knowledge of which defines for both philosopher and analyst the degree of relationship to truth or to description, or to illusion“ (1986:300). 90 Allerdings muss angemerkt werden, dass die Passage auch anders verstanden werden kann: „In a general way, we distinguish the basic cinematographic apparatus [l’appareil de base], which concerns the ensemble of the equip- ment and operations necessary to the production of a film and its projection, from the apparatus [le dispositifj discussed in this article, which solely concerns projection and which includes the subject to whom the projection is addressed. Thus the basic cinematographic apparatus involves the film stock, the camera, developing, montage considered in its technical aspects, etc., as well as the apparatus [dispositif] of projection“ (Baudry 1986:317). 93 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Angelpunkt dieser metaphorischen Relation ist bei Baudry die Kinoleinwand, die er wie- derum analog „mit dem Spiegel der Spiegelphase“ (Paech 2003:472) denkt. Wir erinnern uns an die Passage in Foucaults Text zu den „Andere[n] Räumen“ (1992), in welchem er selbst den Spiegel als Sonderform der Heterotopie anführt. Dieser sei „eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut [...]. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme“ (ebd.:39). Wie bei Foucault der Spiegel mit der Realitätserfahrung zwischen Utopie und Hetero- topien sein Vexierspiel treibt, tendiert die spiegelhafte Leinwand bei Baudry – je nach Gerichtetheit des Bewusstseins oder Wissens um seine Medialität – „to truth or to de- scription, or to illusion“. Hier wäre mit Rückgriff auf Schmidt (vgl. 2002) die ‘Wirklich- keitskompetenz’ ins Feld zu führen, anhand derer MediennutzerInnen über den Umgang mit dargebotenen Bildern und Räumen der Wirklichkeit befinden. Nachdem Baudry auf die ideologischen Realitätseffekte des kinematografischen Ap- parates bzw. des Kinodispositivs abzielt, bezieht er zwar das Subjekt in das kinematogra- fische Dispositiv mit ein,91 fokussiert jedoch in seinen Ausführungen – stets parallel zum Höhlengleichnis – auf die Bedingungen der Passivierung des Publikums durch „Bewe- gungslosigkeit, Dunkelheit des Saales und Kontinuität der filmischen Wiedergabe einer Diegese (fiktionalen Erzählung)“ (Paech 2003:474). Dadurch zeichnet er das Bild einer Masse unmündiger Träumender. In diesem Sinne ist das Subjekt, ohnehin schon ‘unter- worfen’, zusätzlich „the subject who is acted or who is felt“ (Baudry 1986:300). Nicht nur lässt er im Sinne von Bührmann und Schneider das Moment der Subjektierung(-sweisen) völlig außer Acht, auch die Auswahl an Subjektivationen reduziert seine Perspektive auf ein Minimalmaß. Das Schema zur Dispositivanalyse vor Augen hieße das, dass das Sub- jekt-Element nicht nur schrumpfen, sondern völlig innerhalb des Dispositiv-Rahmens zu finden sein würde. Auf die Problematik dieses Aspekts und speziell auf die großen 91 So sei es nötig, anstatt sich in der Analyse des Kinos und seines (ideologischen) Realitätseffekts auf filmische For- men und Inhalte zu konzentrieren, „pour rendre compte de l’effet-cinéma, l’envisager sous l’angle du dispositif qu’il constitue, dispositif d’ensemble comprenant le sujet“ (Baudry 1975:68). 94 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Unterschiede in den Rezeptionsweisen verschiedener Subjektivitäten (hinsichtlich Alter, soziale und kulturelle Herkunft etc.) weist auch Paech hin (vgl. 2003:476f).92 Gerade hin- sichtlich neuer audio-visueller Medientechniken verändern sich Rezeptionsformen zum Teil radikal: „Dieses Zuschauer-Subjekt kann sich inzwischen einbilden, einen Teil der Macht (des Handelns) zurückgewonnen zu haben, wenn es Filme vor dem Fernseh- oder Videomonitor per Fernbedienung zappend kontrolliert“ (ebd.:491).93 In Loslösung des Dispositivkonzepts von dieser kulturpessimistischen Tradition der Kritischen Theorie und Psychoanalyse einerseits und vom Phänomen des Cinéma an- dererseits, versuchen Paech und Hickethier, dieses näher an den Foucault’schen Disposi- tivbegriff heranzuführen. Mit Blick auf Verschiebungen des medialen Dispositivs durch neue Rezeptionsmedien wie den Videorekorder fordert etwa Paech, „das Modell des Dispositivs muß beweglich genug sein, um diese Verlagerung als Strukturwandel deutlich zu machen“ (ebd.:489). In seinen abschließenden Bemerkungen weist er vor allem auf die neue dispositive Anordnung des Netzes hin, womit er Foucaults Metaphorik des Dis- positivs aufnimmt und zugleich auf zeitgenössische mediale Formen – er schreibt den Artikel 1997 – anspielt: „Die mediale Topik und ihre Dispositive haben sich grundlegend gewandelt“ und der „in ihnen gefangene Blick“ hat sich „in einem Netz verfangen […], das die Topographie des Sehens globa- lisiert und das (lokale) Kino in seine Elemente aufgelöst hat, um sie neu (anzu-)ordnen und seinem Dispositiv, der Heterogenität des Internet, un- terzuordnen“ (ebd.:491).94 92 So sei es nötig, anstatt sich in der Analyse des Kinos und seines (ideologischen) Realitätseffekts auf filmische For- men und Inhalte zu konzentrieren, „pour rendre compte de l’effet-cinéma, l’envisager sous l’angle du dispositif qu’il constitue, dispositif d’ensemble comprenant le sujet“ (Baudry 1975:68). 93 In seiner Übertragung des Dispositivkonzepts auf das Fernsehen arbeitet auch Hickethier die Unterschiede der Rezeptionssituation zwischen Kino und Fernsehen heraus und widmet einen Abschnitt der Subjektfrage (vgl. Hickethier 1995:64ff). 94 In einem kurzen Artikel zum Internet-Dispositiv beschäftigt sich Arndt Neumann mit der Genese des Internet und widerständigen Strategien bspw. der Studentenbewegung. Die von ihm aufgearbeiteten Bearbeitungen des Dispositivbegriffs von Gilles Deleuze sowie bei Tony Hardt und Antonio Negri kann in diesem Rahmen nicht 95 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Die demnach implizit in einem dunklen Winkel des globalen Arkan-Raums lauernde Spinne furchtlos beiseite schiebend, möchte ich anschließend an diese Überlegungen zu einer Deutung des medialen Dispositivs kommen, die der intendierten Analyse zuarbe- iten kann. Hickethier (vgl. 1995:69ff) erarbeitet, bevor er konkret auf das Beispiel Fernsehen eingeht, im Anschluss an Baudry, Foucault und Deleuze eine Konzeption des medialen Dispositivs, welche sowohl explizite und implizite Regularien (Gesetze, Konventionen, gängige Praktiken), den umfassenden Produktions- und Rezeptionsapparat (inklusive ökonomischer, personeller und materieller Gegebenheiten), als auch die „konkreten Manifestationen der Fernsehkommunikation“ (ebd.:69) (Verlagshäuser, Antennen und Satellitenschüsseln etc.), „staatliche und halbstaatliche Einrichtungen als Machtinstan- zen“ (ebd.:70) mit einschließt. Die dispositive Betrachtungsweise ziele auf die jeweiligen Vernetzungen und Relationen zwischen diesen Elementen.95 Im Unterschied zum Dispositivkonzept von Bührmann und Schneider verzich- tet er jedoch erstens auf die Feststellung, dass die meisten, wenn nicht alle, Elemente des dispositiven Netzes nicht nur an verschiedenen Diskursen teilhaben (Stichwort: Programme), sondern selbst erst durch diskursive Ordnungen und Praktiken formiert werden. Zweitens blendet er den ‘strategischen Charakter’ von Dispositiven als Reak- tion auf spezifische, gesellschaftliche Umbruchsituationen nach Foucault weitestgehend aus, wenngleich er sowohl die Einflussnahme von politischen Instanzen, als auch die tendenziell unterschiedliche Intentionalität von öffentlich-rechtlichen und privaten Sen- deanstalten erwähnt. Schließlich positioniert er das Subjekt in starker Abweichung von Baudry – und dem Kino-Dispositiv – als ein aktiv rezipierendes und betont die „Beweglichkeit des Zuschau- ers innerhalb des Fernseh-Dispositivs“ (ebd.:81). Diese ist natürlich unter anderem der veränderten Rezeptionssituation des Fernsehens geschuldet, welche im Vergleich zum Dispositiv des Kinos zumeist selbst hergestellt wird und sich in Bezug auf Dunkelheit, mehr berücksichtigt werden. Hier verweise ich auf Neumann und die Quellenangaben in seinem Artikel (vgl. 2002). 95 Richtungsweisend für Analysen von Mediendispositiven abseits von Einzelmedien kann der Vorschlag von Mat- thias Tiele gesehen werden, stärker auf „Mikrodispositive“ und „Kombinate aus (Mikro-)Dispositiven“ (2009:44f) zu fokussieren. Ähnliches fordern Parr und Thiele in einem Artikel zu „Foucault in den Medienwissenschaften“, nämlich mehr Augenmerk der Medienwissenschaften auf die „medialen Realisierungen der von Foucault auch materialiter in den Blick genommenen Dispositive“ (vgl. Parr/Thiele 2007:95). 96 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Bildgröße und -auflösung, Projektionsrichtung, räumliche Anordnung (im Privaten) und soziale Situation deutlich unterscheidet (vgl. ebd.:65). Veränderungen der dispositiven El- emente und damit des Dispositivs insgesamt nehmen in diesem dynamisch verstandenen Dispositivkonzept nach Hickethier eine zentrale Stellung ein. So weist er auf die anfän- gliche Anpassung des Fernseh-Rezeptionsverhaltens an die Kinosituation (vgl. ebd.) wie auch auf die zu erwartenden Re- und Neu-Formierungen der medialen Dispositive durch neue Medientechniken (vgl. ebd.:81) hin. Wir sehen also: Der Begriff des „medialen Dispositivs“ (ebd.:82) bei Hickethier greift Gedanken sowohl von Baudry als auch von Foucault auf und erweist sich gegenüber Versuchen der Begriffsausdehnung „enger, weil direkt auf die mediale Kommunikation bezogen. Mit dem Ansatz des Dispositivs lassen sich die verschiedenen Aspekte zusammen- sehen, entsteht ein stärker rezeptionsorientiertes Modell der Fernsehkom- munikation, das sich dennoch nicht unabhängig von der Angebotsebene, den Programmen, ihren Strukturen, Sendungen und Bedeutungen ver- steht“ (ebd.:82). Zur Übertragung auf das mediale Dispositiv um und von Zone*Interdite Wollen wir nun dieses Konzept in das Schema der Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider einpassen, so muss zuerst vor allem das Medienangebot selbst im Mittelpunkt stehen, da es den Ausgangspunkt markiert. In diesem Fall handelt es sich also um das komplexe Medienangebot des Medienkunstprojekts Zone*Interdite. Setzen wir die konstitu- tiven Zusammenhänge des Medienkompaktbegriffes nach Schmidt ein, scheinen bereits angewandte und angebotene Kommunikationsinstrumente und Medientechniken (der ‘Basisap- parat’), beteiligte Institutionen im Rahmen des Dispositivs auf. 97 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Abbildung 2: Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite im medialen Dispositiv Analog zum Schema der Dispositivanalyse ist das Element der Subjektkonstitution am Rande des dispositiven Rahmens anzusiedeln, um nicht nur die limitierten Subjektivationsanord- nungen, sondern auch die je spezifischen Subjektivierungsweisen der NutzerInnen in den Blick zu bekommen. Doch nicht nur auf die ‘Disponierten’ soll fokussiert werden, auch die Rolle der ‘Disponierenden’ nach innen (und gleichzeitig ‘Disponierten’ nach außen), nämlich die der Künstler Wachter und Jud als machtvolle ‘Anordner’ (nicht ‘Befehlshaber’) muss berücksichtigt werden. Gleichzeitig geben diese teilweise Anordnungsmacht an die ‘Disponierten’ NutzerInnen weiter, indem diese innerhalb des eröffneten Handlungsrah- mens selbst zu GestalterInnen werden können (vgl. Bührmann & Schneider 2008:62ff). Die Dimension der Praktiken soll in diesem Zusammenhang für diskursive und nicht- diskursive Praktiken gleichermaßen stehen, um der heiklen Frage der Trennschärfe aus- zuweichen, gerade wenn diese als minder bedeutend eingestuft wird (vgl. ebd.:47). Allerd- ings ist diese Dimension – wie auch die der Vergegenständlichungen – nicht vollständig vom medialen Dispositiv einverleibt. Damit soll angedeutet werden, dass die Frage, ob 98 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive entfernt in Beziehung stehende Praktiken und Objektivationen noch als Teil dieses me- dialen Dispositivs zu werten seien, nicht so einfach zu beantworten ist. Während diese Frage etwa für direkte Anschlusskommunikation mit ziemlicher Sicherheit bejaht werden kann, gilt diese Einschätzung nur mehr bedingt für die Neuformatierung einer Festplatte, auf der der 3D-Walkthrough durch die Bagram Airbase installiert ist. Über die Konzeptualisierung Hickethiers hinaus sollen so weit als möglich die Ein- bindungen durch Spezial-, Inter-, und Elementardiskurse bearbeitet werden, wobei hier insbesondere dem Interdiskurs in Form von medialer Berichterstattung eine tragende Rolle zukommt. Das Medienangebot von Zone*Interdite lässt sich zwar auch selbst als künstlerischer Interdiskurs beschreiben, in dem verschiedene Diskursformationen ihren Niederschlag finden, ist aber in seinem medialen Dispositiv durch diese bereits vor- strukturiert. Diese diskursiven Formationen sind nicht nur dem Medienangebot selbst, sondern auch den darin angelegten Praktiken, Subjektivationen und Vergegenständlic- hungen und den stattfindenden Prozessen vorgeschaltet. In der Grafik zieht sich daher die gestrichelte Linie um die Dimension des Diskurses quer durch das mediale Dispositiv und umschließt auch die Elemente der Praktiken, Subjektivkonstitution und Objektiva- tionen fast gänzlich. Der nicht-eingeschlossene Rest steht jeweils für die ungeklärte Frage der möglichen nicht-diskursiven Anteile. Was genau im Rahmen der Analyse mit (Spe- zial-, Inter-, Elementar-)Diskurs gemeint ist, wird im nächsten Abschnitt (d.) mit Hilfe der Terminologie von Link (vgl. 2007; 2006; 1988; 1986) und Jäger (vgl. 2009) geklärt. Auch wenn im Zusammenhang von Zone*Interdite schwerlich von einem Motor sozi- alen Wandels auf Makroebene gesprochen werden kann, ist das Projekt doch eine Reak- tion auf soziale, kulturelle und politische Problemlagen globaler Art und muss eine de- mentsprechende Kontextualisierung erfahren. Die Einschränkung gilt gleichermaßen für etwaige (Neben-)Folgen, welche in erster Linie auf Subjektebene zu suchen sein werden. Doch auch hinsichtlich eines institutionellen Wandels des medialen und künstlerischen Interdiskurses sowie – wofür diese Diplomarbeit exemplarisch stehen kann – bestim- mter Spezialdiskurse lassen sich intendierte wie nicht-intendierte Folgen und Reaktionen aufspüren. Gerade mit Blick auf die Frage nach dem heterotopischen wie utopischen Charakter des Projekts gilt es hierauf besonders zu achten. Abschließend müssen also auch die Leitfragen von Bührmann und Schneider entspre- chend ergänzt und modifiziert werden. Indem das Medienangebot sozusagen das struk- turelle Zentrum der Analyse darstellt, muss in jede der vier Leitfragen nach Praktiken, Subjektkonstitution, Objektivationen und gesellschaftlichem Kontext die Rolle des Me- 99 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv dienangebots mitbedacht werden. Welche Möglichkeiten und Einschränkungen bietet es jeweils, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen kann die Nutzung stattfin- den? Um dies entsprechend einarbeiten zu können, muss am Beginn der Analyse eine Beschreibung des komplexen Medienangebots selbst stehen (vgl. Abschnitt 4.2.). Im An- schluss daran lassen sich die Verhältnisse zu den weiteren Elementen des medialen Dis- positivs beschreiben, analysieren und interpretieren (Abschnitt 4.3.). Zunächst werden je- doch grundlegende Zusammenhänge und Begriffe der (Inter-)Diskurstheorie nach Link und Jäger/Jäger ergänzt, die bisher nur rudimentär dargestellt wurden. Die methodolo- gische Grundlegung des Projekts wird abschließend in diesem Abschnitt (4.1.) ausgeführt. 4.1.d. Grundlagen der (Inter-)Diskurstheorie In diesem Unterkapitel sollen die zentralen Begriffe der Diskurstheorie nach Jürgen Link nachgereicht werden, um im Rahmen der umfassenderen Dispositivanalyse die dis- kursiven Anordnungen und Praxen entsprechend begrifflich fassen und einordnen zu können. Bisher wurde nur der Diskursbegriff bei Bührmann und Schneider angerissen, welcher sich in seiner Definition stark an der Regelhaftigkeit und dem Grad an Institu- tionalisierung orientiert. Damit sind in erster Linie (wissenschaftliche) Spezialdiskurse gemeint. Im Schema zu Zone*Interdite im medialen Dispositiv (vgl. Abbildung 2) sind darüber hinaus Interdiskurs und Elementardiskurs zu finden, welche Bührmann und Schneider – und auch ich – von Link übernehmen. Dieser hat seine Diskurstheorie konsequent weiterentwickelt und vielerorts ausbuchstabiert (vgl. etwa 2007; 2006; 1988; 1986). Diese soll in ihren Grundzügen dargestellt werden und – soweit als möglich – in Beziehung zur Konzeption von Wirklichkeitsmodellen nach Schmidt (vgl. 2002) gestellt werden, um die theoretische Anschlussfähigkeit zu überprüfen. Von besonderem Interesse für die Analyse von Zone*Interdite als Kunstprojekt, öffentliches Medienangebot und subversiver Datenbank (soweit die Annahmen vorab) scheint der Link’sche Interdiskurs zu sein, we- shalb dieser mehr Raum einnehmen wird. Insbesondere das für Link zentrale Konzept der Kollektivsymbolik gilt es in diesem Zusammenhang auszuführen. Siegfried Jäger bietet vor allem ein griffiges Begriffsinstrumentarium für die konkrete methodische Anwend- ung der (Kritischen) Diskursanalyse, welches dabei helfen soll, bei der Analyse zwischen Diskursfragment, -strang und -ereignis differenzieren zu können. Bis zum Ende dieses Abschnitts (d.) sollen alle genannten, bislang ungeklärten Begriffe geklärt werden. 100 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Die Diskurstheorie nach Jürgen Link: Spezial-/ Inter-/ Elementardiskurs Link kennzeichnet den von ihm verwendeten Diskursbegriff „im sinne foucaults“96 durch mehrere Eigenschaften. Es handelt sich dabei jeweils „um spezielle wissensbereiche, deren wissen geregelt und institutio- nalisiert, mit bestimmten handlungen gekoppelt […] sowie nur von be- sonders legitimierten sprechern legitim ausgesprochen werden kann (z.B. professoren, analytiker)“ (Link 1986:4; Kleinschreibung im Orig.).97 Diese Diskurse sind insofern machtvoll, als sie durch ihren legitimierten Status, der ihnen erlaubt über bestimmte Wissensbereiche und Gegenstände zu sprechen, eben diese Be- reiche und Gegenstände erst hervorbringen. Dies gilt sowohl für Dinge als auch für die Macht, „konkrete menschen in solche gesellschaftlichen ‘gegenstände’ zu verwandeln“ (ebd.:5). Der Inbegriff diskursiver Formationen sind demzufolge die wissenschaftlichen Spezialdiskurse, die sich fortlaufend spezialisieren und „bloß den spezialisten zugänglich“ (ebd.) sind. Diese gliedert Link in folgende drei Teilbereiche: naturwissenschaftliche, hu- man- und sozialwissenschaftliche und kultur- und geisteswissenschaftliche Diskurse98 und setzt diese Spezialdiskurse in eins mit der Foucault’schen Wendung ‘Diskurs’ bzw. ‘dis- kursive Formation’ (vgl. Link 2006:410). Foucault hat sich in seinen diskurstheoretischen Arbeiten vorwiegend auf die wissenschaftliche Ebene konzentriert, Alltagsgespräche, -wissen und „mediopolitische sowie mediounterhaltende Diskurse“ (ebd.:408f) blieben ausgeklammert. 96 Zur Abgrenzung sollte angemerkt werden, dass sich dieser an Foucualt orientierte Diskurs-begriff stark von einem Diskursbegriff etwa nach Jürgen Habermas unterscheidet, sie geradezu als „völlig entgegengesetzte kon- zepte“ (Link 1986:5) bezeichnet werden können. Mit einem Verweis auf die entsprechende Stelle bei Link (vgl. ebd.) sowie auf einen Überblick über diskursanalytische Positionen bei Siegfried Jäger (vgl. 2009:120ff) unterlasse ich hierzu nähere Ausführungen. 97 Link schreibt im Rahmen der Zeitschrift KultuRRevolution konsequent alles klein. Diese Abweichungen von der Rechtschreibung werden im Folgenden nicht markiert [sic!]. 98 Link schreibt dazu: „Die Logik der Wissensspezialisierung zielt dabei tendenziell auf Eindeutigkeit, spezielle Definition der Begriffe, Dominanz der Denotation und möglichst Beseitigung aller Uneindeutigkeiten und Kon- notationen mit dem Idealtyp der mathematischen Formel“ (2007:228). Damit wird bereits deutlich, warum Link die kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen (Philosophie, Pädagogik, Geschichte etc.) als „interdiskursiv dominierte spezialdiskurse“ bereits mit einem Bein im Interdiskurs verortet, da diese „in der tat keine speziellen empirischen gegenstände als korrelat ihres wissens“ besitzen (1986:5). 101 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Wenn Spezialdiskurse jedoch als sich ständig ausdifferenzierende Diskurse begriffen werden, stellt sich die Frage nach einer gegenläufigen Bewegung der Reintegration des Wissens. Daher schlägt Link vor, als missing link zwischen den Spezialdiskursen von In- terdiskursivität zu sprechen, welche er als „entdifferenzierende, partiell reintegrierende“ (ebd., S.411) Tendenz beschreibt. Denn zwischen allen spezialisierten Wissensbereichen bis hin zum Alltagswissen seien gewisse basale Übereinstimmungen zu finden, oder wie Link sie nennt „Wissenskomplexe [...] mit spezialdiskursübergreifender Verwendbarkeit“ (ebd.): bestimmte Modelle, Narrationen, Systematiken (z.B. wertende Reihungen) usw., welche im Interdiskurs „netzartige Konnotationsknoten“ (ebd.) bilden und somit dis- kursübergreifende Kommunikation ermöglichen. Der Interdiskurs zeichet sich nun – im Gegensatz zu den Spezialdiskursen – dadurch aus, dass „seine Spezialität sozusagen die Nicht-Spezifität ist“ (ebd., S.412). Seine Funk- tion liegt demnach vor allem in „selektiv-symbolischen, exemplarisch-symbolischen, also immer ganz fragementarischen und stark imaginären Brückenschlägen über Spezialgren- zen hinweg“ (Link 2007:229). Dies geschieht anhand „elementar-literarischer Formen“ (2006:413f) (insbesondere mit Hilfe von Kollektivsymbolik), welche im nächsten Abschnitt vorgestellt werden. Als Beispiele für den Interdiskurs nennt Link Populärwissenschaft, Pädagogik, Kunst und Literatur oder Mediopolitik und -unterhaltung (vgl. ebd.:412). Wie sich an der von Link übernommenen Abbildung (siehe Abbildung 3) erkennen lässt, lässt sich die Trennlinie zwischen Interdiskurs und Elementardiskurs nicht prob- lemlos erkennen. Statt klarer Trennschärfe wählt Link eine differenzierte vertikale Ab- stufung, die sich sowohl an ihrer Diskursdominanz (hegemonial/n icht hegemonial) als auch am Grad ihrer Annäherung an der Intellektualität (elaboriert/ populär) orientiert. So finden sich zwischen „elaborierten Interdiskursen hegemonial“ und „nicht hegemoni- alen Elementardiskursen (‘Subkulturen’)“ weitere vier Diskurse bzw. Diskurspositionen, welche Link in einen „Kreativzyklus von elementarer und elaborierter Kultur“ verstrickt konzipiert (vgl. 2007:231ff). Diese vertikale Achse bezeichnet er als „Achse der Stratifi- kation“ und führt damit quer zur „Achse der Spezialisierung“ (des Wissens) eine hierar- chische Achse der Macht in das Schema ein. Je näher am unteren Ende der Macht-Achse, desto stärker sei die „Subjektivierung des Wissens“ (ebd.:232). 102 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Abbildung 3: Diskursschema (Wissen/Macht) nach Link (2007:231) 103 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Im Fließtext kippt dann bei Link die Bezeichnung ‘Elementardiskurs’ zu ‘Elementarkul- tur’, zum ‘gewussten’ und ‘gelebten’ Alltag.99 Hier werden „sogenannte anthropologische Grundkonstanten (wie allgemeinste Lebensstrategien, Liebe, Generationen, Feindschaft, Kampf, Arbeit […], Krankheit und Tod)100 mit dominanten interdiskursiven Komplexen kombiniert“ (2006:414). Dadurch erfahren diese sowohl eine Aktualisierung als auch eine Historisierung. Während von ‘oben’ Wissen in Interdiskurs und weiter in Elementa- rdiskurse eingespeist wird, werden „umgekehrt subjektive und sozial alternative Akzen- tuierungen und Identifizierungen ‘aufwärts’ in die elaborierten Interdiskurse projiziert“ (2007:232), wodurch sich der Kulturkreislauf ergibt. Damit ergibt sich eine interessante Perspektive auf die Gesamtheit der Diskurse als Re-Produktionsstätte von Kultur. Wid- erständige, alternative, gegen-hegemoniale Bewegungen und Diskurse verortet er vor al- lem in zwei Diskursen bzw. Diskurspositionen: in den „nicht-hegemonialen diskursiven Positionen in hegemonialen elaborierten Interdiskursen“ und in „nicht-hegemonialen elaborierten Interdiskursen (diese nennt er ‘Gegendiskurse’)“ (vgl. ebd.). Zur Kompatibilität von (Inter-)Diskurstheorie und Wirklichkeitsmodell nach Schmidt Auf Schmidts Wirklichkeitskonzept (vgl. 2002:20ff) übertragen heißt das nun, dass (beobachtungs-, denk- und handlungsbestimmende) semantische Kategorien und Un- terscheidungen als differenzierbar gesellschaftlich vorhanden sind und weiterhin in die Spiele um Wirklichkeitsmodelle eingespeist werden. Durch jede weitere Unterscheidung qua Beobachtung, Denkprozess und Handlung werden diese gefestigt und potenziell ab- geändert. Das scheint dem Diskurs als Möglichkeitsrahmen des Sagbaren (und Denkbar- en) durchaus zu entsprechen. Die Dinge werden erst anhand ihrer Benennung und Tren- nung von anderen Dingen wahrnehmbar, ihre Bestimmung gleichermaßen vorausgesetzt und gesetzt. Gleichzeitig scheint alles, was nicht benennbar ist, nicht zu ‘existieren’ (vgl. ebd.:18ff). 99 Bührmann und Schneider (vgl. 2008:66f) verweisen bei der Erläuterung der Link’schen Diskurstheorie auf die Kritik an der lediglich marginalen Position des Elementardiskurses und erweitern den Begriff um den Alltagsdis- kurs. Darin verorten sie die zentrale Schnittstelle des Wissens-/Machtkomplexes mit dem Subjekt. Gewisserma- ßen klingt diese Betonung bei Links Feststellung an, der Interdiskurs und noch mehr der Elementardiskurs (die Elementarkultur) zeichnen sich im Gegensatz zu den Spezialdiskursen durch zunehmende Subjektivierung des Wissens aus (vgl. Link 2007:232). 100 Die Formulierung „anthropologische Grundkonstanten“ kontextualisiert Link gleich anschließend und betont auch deren historische Konstitution (vgl. 2006:414). 104 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Jene Ebene, die bei Schmidt im Gegensatz zu Links Diskurstheorie nicht aufscheint, ist die der Macht. Er geht in seinem Text nicht darauf ein, welche Unterscheidungen woher stammen und ob manche davon mehr oder weniger wahrscheinlich getroffen werden. Die meisten sind eben gesellschaftlich vorgegeben. Sein Konzept wirkt wie die Zeichnung einer Landschaft im Grundriss. Die hierarchische Dimension der Höhe (der Stratifikation) tritt durch diesen Blickwinkel nicht hervor. Indirekt wird sie angedeutet, insofern Schmidt auf die a priori vorhandenen Unterscheidungen und Kategorien ver- weist, sowie auf ihre Verbindung untereinander. Zudem entfällt in seinem Konzept die Entscheidung auf Links horizontaler Ebene – nämlich zwischen verschiedenen Formen spezialisierten Wissens.101 Indem die wirklichkeitskonstituierenden Unterscheidungen und ihre Kategorien nun durch Kulturprogramme miteinander verknüpft werden und emotionale wie mor- alische Wertungen erhalten, integriert das Schema ein gesellschaftlich vorgegebenes Nor- malitätsraster, das sich an den grundlegenden Unterscheidungen angenehm/ unangene- hm bzw. gut/s chlecht ausrichtet. Während der wirklichkeitskonstruierende Mensch bei ihm mit der erforderlichen Wirklichkeitskompetenz (vgl. ebd.:26) konzipiert wird, um mit Wirklichkeitsangeboten umgehen zu können, spricht er nicht von einer Kulturkompe- tenz. Indem Link Diskurs und Kultur in der vertikalen Achse ineinander übergehen lässt (vom Spezialdiskurs zur Elementarkultur), muss von der Annahme abgerückt werden, Diskurs und Wirklichkeitsmodelle könnten sich in etwa entsprechen. Die Gesamtheit der Diskurse scheint vielmehr auf der Ebene von Schmidts Synthese von Wirklichkeitsmo- dellen und Kulturprogrammen zu liegen: als Wirkungszusammenhang W+K (ebd.:22f), wodurch die analytische Trennung zwischen Kultur und Wirklichkeit revidiert wird. In der Diskurstheorie von Link werden beide Dimensionen wieder in ein übergeordnetes Konzept integriert. Nichtsdestoweniger stimmen die Grundannahmen über die Konstruiertheit von Wirklichkeit und Kultur in einem historisch-dynamischen Prozess gewissermaßen überein. Während Schmidt ein sehr steriles und neutrales Schema erstellt, das als grun- dlegende Matrix verstanden werden kann, wird dieser rudimentäre Zusammenhang von 101 Link formuliert an der Systemtheorie Niklas Luhmanns eine Kritik an der „theoretischen Gleichbehandlung bei- der Wissenstypen [Spezial-/Interdiskuse; Anm. V.D.]“, da Luhmann sehr unterschiedliche Wissensbereiche wie Religion, Kunst, Massenmedien und auch Wissenschaften strukturell-funktional nicht trennt. Bei Schmidt liegt (zumindest im verwendeten Text zur Wirklichkeitskonstruktion) eine ähnliche Gleichsetzung vor, indem nicht zwischen verschiedenen Wissensbereichen differenziert wird. 105 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv der Diskurstheorie durch den Interdiskurs enger miteinander verwoben und die Dimen- sionen der Macht und der verschiedenen Wissensformen (als Produzenten von Kat- egorien) zusätzlich in das Bild eingefügt. Beide Theorien gehen schließlich von einer äußerst begrenzten Rolle des Subjekts aus. Schmidt formuliert immerhin eine Wirklich- keitskompetenz, welche zwar den Umgang mit multiplen Wirklicheitsangeboten, aber nur unwesentlich ihre Veränderung erlaubt. Ähnlich die Position Links in der Antwort auf „die frage, ob es für empirische subjekte einen subjektivitätsraum außerhalb jeglicher diskurse geben kann. […] das leugnen wir“ (Link 1986:6). Eine interessante Perspektive eröffnet Schmidts Hinweis auf Kultur nicht nur als Summe sämtlicher umgesetzter Programmanwendungen, sondern auch als Möglich- keitsraster aller noch nicht realisierten (vgl. 2002:.22). Diese Position ließe sich bei Link vielleicht in der Möglichkeit anti- oder gegen-hegemonialer Diskursprojekte (vgl. Link 2007:232) einordnen, was dem ‘Möglichkeitsraster’ allerdings nicht denkungsgleich ver- standen werden kann. Die Diskurstheorie nach Link formuliert also indirekt ebenfalls ein Modell dynamischer, machtvoller und untereinander konkurrierender ‘Wirklich- keitsproduktions-maschinen’, welche nicht strikt getrennt von Kultur(-programmen) ver- standen werden.102 Die Gesamtheit historisch relativ stabiler (in erster Linie inter-)diskur- siver Formationen entspräche somit der Gesamtheit der gesellschaftlich vorgegebenen Kategorien und Unterscheidungen und ihrer kulturellen Verknüpfung untereinander in Form des Wirkungszusammenhangs W+K.103 Der Dispositivbegriff reichert nun die Diskurstheorie um nicht-diskursive Praktiken an, welche dort nicht mitgedacht werden und bei Schmidt mit Handlungen genauso wirklichkeits(re)konstruktiv wirksam werden. 102 Die Diskurstheorie erfuhr in ihrer Weiterentwicklung nach Foucault durchaus unterschiedliche Ausprägungen. So betonen etwa die Herausgeber des Sammelbandes Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit in der Einleitung, „dass es in den anschließenden Beiträgen nicht um die Gesamtheit der Prozesse gesellschaftlicher Wirklichkeits- konstruktion geht. Vielmehr konzentrieren sie sich auf einen spezifischen Teilbereich von ‘Konstruktionsvor- gängen’, die wir näher als ‘diskursive’ qualifizieren“ (vgl. Keller u.a. 2005). Dieser Kommentar soll betonen, dass diskurstheoretische Konzepte unterschiedlich umfassend gedacht werden und die vollzogene In-Bezug-Setzung zum Modell der Wirklichkeitskonstruktion nach Schmidt sich nicht ohne Weiteres übertragen lässt. 103 Siegfried Jäger (vgl. 2009:144ff) widmet dem Zusammenhang von Diskurs und ‘Wirklichkeit’ ein Unterkapitel. Er betont darin die wirklichkeitskonstruktive Rolle sowohl der Diskurs-formationen, als auch diskursiver wie nicht-diskursiver (Gegenstände schaffender) Praxen. Offen bleibt hier wieder die Frage, ob der diskursiven ‘Wirk- lichkeit’ eine materielle (ontologische) ‘Wirklichkeit’ vorgeschaltet sei und ob und wie auf diese außer durch diskursiv strukturierte Wahrnehmung zugegriffen werden könne. Diese Frage wird jedoch auch an dieser Stelle nicht diskutiert, geschweige denn geklärt werden. 106 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive Der Interdiskurs: Kollektivsymbolik und andere elementar-literarische Formen Nach dieser Einführung in die (Inter-)Diskurstheorie nach Jürgen Link und den Abgleich theoretischer Grundpositionen mit dem Konzept der Konstruktion von Wirklichkeits- modellen von Schmidt soll nun der Interdiskurs, seine Wirkungsweisen und Analyse- möglichkeiten vertieft werden. Wie bereits im Zusammenhang der Diskurstheorie erläutert, verortet Link den In- terdiskurs als reintegrierendes, vermittelndes Bindeglied komplementär zu den sich ten- denziell weiter spezialisierenden Spezialdiskursen. Er hat damit die Funktion „partiell- symbolischer Reintegration der Wissens- und Diskursteilung für die Subjekte und damit der Subjektivierung des Wissens“ (Link 2006:413). Dadurch nimmt er einerseits eine Koppelungsposition zwischen den Spezialwissenschaften (und damit -diskursen) ein und überliefert andererseits höchst selektiv Wissensbestände in den Elementardiskurs (und in weiterer Folge in die Alltagskultur). Umgekehrt werden von Elementardiskurs/ -kultur Diskurse, Diskurspositionen, Praktiken etc. als Topoi oder als womöglich konflikthafte Diskursmotoren via Interdiskurs nach ‘oben’ (wieder auf der vertikalen Achse des Sche- mas gedacht) weitervermittelt (vgl. 2007:231f). Dies geschieht jeweils mit Hilfe bestim- mter Symbole, Modelle und (Erzähl-)Formen, die Link als „elementar-literarische For- men“ (2006:413) bezeichnet. Als Beispiele nennt er neben Kollektivsymbolen, auf welche gleich noch weiter eingegangen wird, „Polysemie, ‘Reizwort’, ‘Charakter’, prägnante[...] Subjekt-Situation, ferner elementare[...] Erzählformen, die Narrative heißen sollen: z.B. Mythen“ (ebd.). Über Gleichsetzungen, Metaphern, Sprachbilder usw. werden Dis- kurselemente sowohl in andere Spezial- als auch in Elementardiskurse übersetzbar. Diese Formen zeichnen sich durch Komplexitätsreduktion aus, welche diese Diskurselemente eher auf imaginärer, konnotativer als auf operativer, denotativer Ebene verarbeiten und in den Interdiskurs integrieren. Diese Tendenz lässt sich auch dem Schema (siehe Ab- bildung 3) entnehmen und (indirekt) auf den Dualismus elaboriert/ populär übertragen (vgl. ebd.:413f). Die strengen Regeln der Spezialdiskurse gelten nicht für den Interdiskurs: „ihm werden keine definitionen abgefordert, keine widerspruchsfreiheit usw.“ Link be- zeichnet ihn daher als „fluktuierendes gewimmel“ (vgl. 1986:5). Die Kollektivsymbole bilden nun den analytischen Kern dieser elementar-literarisch- en Formen. Sie sind, so Link (2006:413), „die Gesamtheit der am weitesten verbreit- eten Allegorien und Embleme, Vergleiche und metaphorae continuatae, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und Analogien einer Kultur“. An einer anderen Stelle (vgl. Link 107 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv 1988) verdeutlicht er dies am Beispiel des Ballon-Symbols, das durch seine mythisch- symbolisch wie auch technisch-fortschrittsgewandt aufgeladene Bedeutung, seine Bewe- gungsrichtung nach oben (zum Himmel, in die Zukunft, zu den Göttern,...) und die stete Gefahr des jähen Falls zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für sinn-bildliche Verwend- ungsweisen bietet. Das Ballon-Symbol tendiert, wie Kollektivsymbole im Allgemeinen, zur Ambivalenz, wie sich am „Hin und Her der Wertungen“ (Link 1988:300) zeigt. Somit kann es für sowohl positive als auch negative Wertungen eingesetzt werden. Diese positiv oder negativ wertende Verwendung von Kollektivsymbolen bezeichnet Link mit „diskur- siver Position“ (ebd.:290). Diese können umschlagen und sich in ihr Gegenteil verkehren: „[D]ieses System der Kollektivsymbole ist selbst das Schlachtfeld einer permanenten diskursiven bzw. interdiskursiven Guerrilla, auf dem es stets nur vorübergehend und partiell zur Herausbildung von Fronten kommt – und auf dem die Fronten plötzlich wechseln können“ (ebd.:291f; Herv. im Orig.). An diesem Zitat wird erstens ersichtlich, wie Kollektivsymbole eingesetzt werden kön- nen, da Link selbst sprachlich damit spielt (Schlachtfeld, Guerrilla, Fronten) und zweit- ens, dass es sich nicht nur um historisch stabile, rein semantische Aufladungen handelt, sondern diese in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von situativen, historisch-kon- textuellen Bedingungen stehen. Ein kleines Begriffslexikon der Diskursanalyse Diesen Abschnitt (d.) abschließend soll in Orientierung an Siegfried Jäger (vgl. 2009:118ff u. 158ff) ein basales Begriffslexikon zur „Struktur des Diskurses“ (ebd.:158) erstellt werden. Im vorigen Abschnitt war die Rede von Diskurselementen, wobei unklar bleibt, was genau damit gemeint ist. Handelt es sich dabei um thematische Elemente oder spezi- fische Textfragmente, ist die (wertende) diskursive Position bereits inkludiert oder geht es ausschließlich um das ‘Wissen’? Solche Unklarheiten sollten mit Hilfe der folgenden Aus- führungen für den weiteren Verlauf ausgeräumt werden. Diese gehen in der Rezeption Jägers selektiv vor, da innerhalb der Dispositivanalyse auf Mikroebene zum einen die (In- ter-)Diskursanalyse nur einen Teilbereich darstellt und dadurch zum anderen Aussagen über gesamtgesellschaftliche Diskurszusammenhänge lediglich als Kontext angerissen 108 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive werden (können), ohne diese im Speziellen zu analysieren. Aus diesem Grund werden außerdem gegebenenfalls Definitionen für die Gegebenheiten auf Mikroebene sowie in komplexen Medienangeboten adaptiert. Die ‘Lexikoneinträge’ verweisen notwendiger- weise aufeinander. Text/A ussage Jäger versteht unter Text ein konventionalisiertes sprachliches Kommunikat als Resul- tat menschlichen Tuns, welches Diskurselemente (besser: Diskursfragmente) aus potenziell verschiedenen Diskursen (besser: Spezialdiskursen oder Diskurssträngen) enthält. Diesem Text bzw. seiner Produktion sind weitere Dimensionen wie konkrete Entstehungsbedin- gungen, ein bestimmtes Motiv, eine Intention etc. inhärent (vgl. ebd.:117f). In dieser Fas- sung sind Texte als sprachliche gedacht. In Bezugnahme auf den Begriff der ‘Aussage’ sollte dieser Textbegriff jedoch um grafische Darstellungen erweitert werden. Link zählt hierzu auch Graphen, Illustrationen, Tabellen etc. (2006:409). Gerade im Hinblick auf ein nicht nur sprachliches Medienangebot erscheint diese Erweiterung wichtig. Im weit- eren Verlauf wird also ein erweiterter Textbegriff verwendet. Anstatt von Aussagen zu sprechen, welche bei Foucault einen besonderen Stellenwert einnehmen, werde ich von Diskursfragmenten sprechen: Diskursfragment Als Diskursfragment ist ein Textteil zu verstehen, der sich einem Thema zuordnen lässt. Ein Text kann mehrere Diskursfragmente enthalten, indem er – was in der ‘Natur’ des Interdiskurses liegt – mehrere Themen anspricht oder anschneidet (oder auch ein Thema an mehreren Stellen). Nur sehr selten decken sich Text und Diskursfragment – möglich ist es aber (vgl. ebd.:159). Thema: Haupt- und Unterthemen Unter Thema fasst Jäger den „inhaltlichen Kern einer Aussage, also das, wovon die Rede ist“ (ebd.; Herv. im Orig.). Er legt die Unterscheidung zwischen Haupt- und Unterthemen zwar in manchen Fällen nahe, hält aber eine prinzipielle Fixierung der Begriffe nicht für notwendig. Das jeweilige Verständnis habe sich am Forschungsfokus auszurichten. So können etwa ‘Militärmacht’ und ‘Gefängnisse’ als sich überschneidende Hauptthemen eingerichtet werden, als Unterthemen wären demzufolge bspw. ‘Irakkrieg’, ‘Haftbedin- gungen in Guantanamo’ und ‘Darstellungen militärischer Sperrgebiete’ zu verstehen. 109 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Diskursstrang Diskursfragmente zum selben Thema bilden gemeinsam einen Diskursstrang. Dieser ist also ebenfalls thematisch orientiert, bildet aber eine den Diskursfragmenten übergeord- nete Einheit. Je nach Forschungsinteresse kann dieser synchron (zu einem bestimmten Zeitpunkt) oder diachron (über einen gewissen Zeitraum) betrachtet werden. Diskurs- stränge sind – ähnlich den Themen – untereinander verwoben, beeinflussen sich ge- genseitig und können sich stützen oder widersprechen (vgl. ebd.:160f). Jäger betont be- sonders das Moment der „Verschränkung“ (ebd.:161). Diskursereignis und diskursiver Kontext Jäger fasst als Diskursereignis ausschließlich solche Ereignisse, „die medial groß heraus- gestellt werden und als solche medial groß herausgestellten Ereignisse die Richtung und die Qualität des Diskursstrangs, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflus- sen“ (ebd.:162). Diese Ansicht relativiert Link, indem er mit Foucault argumentiert. Die Bedeutung diskursiver Ereignisse „changiert bei Foucault zwischen der Mikro- und der Makroebene: Auf der Mikroebene zählen dazu bereits einfache, zum Beispiel häufig wie- derholte ‘Aussagen’“ (2006:408). Im Kontext dieser Arbeit wird mit Diskursereignis also auch bspw. die Veröffentlichung der Homepage von Zone*Interdite gemeint sein, da diese zu einer (relativ begrenzten) Rezeption in der medialen Berichterstattung führte. Mit dem diskursiven Kontext markiert Jäger die Verstrickung von Diskurssträngen und -fragmenten untereinander, ihre Bezugnahmen auf andere Diskursstränge und diskursive Ereignisse. Diese können für die Analyse entsprechend wichtig und hilfreich sein, um Diskursfragmente einordnen zu können (2009:162). Diskursebenen Ein Diskursstrang wird nicht nur von einer, sondern von einer Vielzahl von Diskurse- benen mehr oder weniger aufgegriffen und mitproduziert. Diskursebenen sind also mit Jäger „die sozialen Orte […], von denen aus jeweils ‘gesprochen’ wird“ (2009:163). Er nennt als Beispiele Wissenschaft(en), Politik und Medien. Da in dieser Aufzählung die Link’schen Termini Spezial- und Interdiskurs verschwimmen, schlage ich vor, die Dis- kursebenen in spezialdiskursive und interdiskursive Ebenen zu unterscheiden. Auf diese Weise wird klar, dass Spezialdiskurse vielmehr durch ihren jeweiligen Gegenstand und ihren etablierten Status als wissenschaftliche Disziplinen eine eigene Diskursebene eröff- nen. Bezüglich der anderen Beispiele (Politik, Medien, Erziehung, Geschäftsleben, Ver- 110 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive waltung, etc.) handelt es sich um heterogene, mehr oder weniger geregelte und machtvolle soziale Ensembles, die alle – wenn auch unter sehr unterschiedlichen Bedingungen – im Interdiskurs verortbar sind. Diskursposition Der Terminus der „diskursiven Position“ bezieht sich auf die Wertung von Themen und Symbolen (vgl. Link 1988:290). Jäger bezieht die Diskursposition aber nicht nur auf einzelne Texte oder Diskursfragmente, sondern bezeichnet damit den „spezifische[n] politische[n] Standort einer Person oder eines Mediums“ (2009:164). Es geht ihm also um die ideologische Ausrichtung eines (individuellen oder kollektiven) Subjekts oder auch ganzer Diskursstränge. Innerhalb hegemonialer Diskurse seien solche Positionen relativ einheitlich, „was bereits als Wirkung des jeweils hegemonialen Diskurses verstan- den werden kann“ (ebd.:165). Diskurspositionen (vor allem makrostrukturelle) werden vor allem im Ergebnis einer Analyse sichtbar, da sie erst in Relation zu Diskursfragment- en, -strängen etc. Konturen erhalten (vgl. ebd.). 4.1.e. Zur Methodologisierung In diesem letzten Abschnitt soll nun die methodologische Position der Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider nachvollzogen werden. Ausgehend von ausgewählten methodologischen Überlegungen zur theoretisch und forschungspraktisch verwandten (sozialwissenschaftlichen) Diskursanalyse erarbeiten Bührmann und Schneider in einem ersten Schritt ein entsprechendes Verständnis davon, um dieses in einem zweiten Schritt um für die Dispositivanalyse adäquate Aspekte zu ergänzen (vgl. Bührmann & Schneider 2008:75f). So kommen sie zur Ansicht, dass der Fokus in diesen Fällen fast ausschließlich auf die diskursive Praxis gerichtet wird und nur am Rande das ‘diskursive Außen’, „das, was nicht direkt, nicht mehr oder noch nicht einen Gegenstand der je vorherrschen- den, diskursiv prozessierten Wissensordnungen bildet“ (ebd.:83), berücksichtigt wird. Sie wenden sich also gegen das Diskursive als Ausgangspunkt sämtlicher Überlegungen und formulieren den für die Dispositivanalyse interessanten Fragenkomplex mit Schwerpunk auf die Verhältnisbestimmungen wie folgt: 111 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv „Wie spielen diskursive und nicht-diskursive Praktiken zusammen, so dass soziale Realität von Akteuren in ihren jeweiligen Subjektivierungen sym- bolisch wie materiell ‘machtvoll’ hervorgebracht wird? Aus welchen sozi- alen Anlässen und mit welchen beabsichtigten (Neben-)Folgen geschieht dies?“ (ebd.:84). Die Beantwortung dieser Fragen sei, aufgrund der Komplexität der formulierten Pro- grammatik, nach Meinung der AutorInnen weder durch eine exakt vorgeschriebene Verfahrensabfolge, noch durch ein vordefiniertes Instrumentarium an Methoden und Verfahrensschritten zu garantieren. Stattdessen stellen sie ihre vier Leitfragen, die als Orientierung für die weitere Konkretisierungen anhand konkreter Forschungsvorhaben dienen sollen (vgl. ebd.:84). Bührmann und Schneider beziehen aus den Diskussionen diskursanalytischer Methodologien Anregungen, die sie auf die Zwecke der Dispositiva- nalyse übertragen: Die Wissensformation der Spezialdiskurse – insbesondere der eigenen Episteme – werden als praktische Prinzipien betrachtet, mit denen von den Forschenden gebrochen werden kann – und soll. Es sei abzulehnen, die zu untersuchenden Praktiken „einfach zu ‘verstehen’“ (ebd.:85), indem indirekt und mit Analogien gearbeitet wird. Stattdessen sollen ausgehend von den Praktiken alle genannten Zusammenhänge ausgelotet werden; das subjektive Verstehen und Vorgehen der Forschenden ist transparent und nachvol- lziehbar zu machen, Bührmann und Schneider empfehlen „den systematischen Einbau des Zweifelns […] in Bezug auf die ‘Vor-Urteile’ der Forschenden’ auch über sich selbst, in Bezug auf die ‘Gewissheiten des Alltags’ auch in den Wissenschaften und […] auf ‘reduktionistische Erklärungen’“ (vgl. ebd.:85f). Schließlich nehmen Bührmann und Schneider die Bestimmung der Dispositivanalyse als einer „re-konstruktiven Analytik“ (ebd.:88; Herv. im Orig.) vor, welche sie in einer zweifachen Erweiterung des in der Methodologie der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse etabli- erten Begriffs der ‘interpretativen Analytik’ verstehen. Jene wird verstanden als an Foucault angelehnte Analyseposition, welche das Moment der kombinatorischen Interpretation der Forschenden anhand verschiedenster Datengrundlagen hervorhebt. Die von Bührmann und Schneider vorgeschlagene Erweiterung umfasst zum einen das „deutende Verstehen nicht-diskursiver Praktiken“ (ebd.:87) und des Zusammenhangs mit diskursiven Praktiken, und zum anderen seien auch die Forschenden selbst, als Interpretierende und Verstehende, „zugleich immer auch selbst Teil des (Re-)Konstruktionsprozesses“ (ebd.) und als solche in 112 4.1. Dispositivanalyse und Mikroanalyse medialer Dispositive die Analyseposition mit einzubeziehen. Die AutorInnen (ebd.:88f) fassen diese Position der ‘re-konstruktiven Analytik’ kompakt zusammen, indem sie schreiben, dass „nicht nur die in Diskursen prozessierten Deutungen der Welt interpretie- rend zu erschließend sind, also das (Nicht-)Gesagte im Raum des Sagba- ren zu erschließen ist, sondern auch eine praxeologische Brücke hin zum (Nicht-)Gesehen im Raum des Sichtbaren und zum (Un-)Erfahrenen im Raum des Erfahrbaren als Konstituens von Subjektivität zu schlagen ist“. Die Frage der wissenschaftlichen Gütekriterien der Dispositivanalyse bearbeiten Büh- rmann und Schneider denkbar zurückhaltend. Mit Blick auf die sehr verschiedenen An- sichten dazu, sowie auf die sehr heterogene Bandbreite qualitativer Forschungsmethoden an sich, wie auch der Umsetzungsmöglichkeiten der von ihnen vorgeschlagenen Disposi- tivanalyse verzichten sie auf einen obligatorischen Katalog von Gütekriterien. Stattdes- sen beziehen sie sich auf einen bestehenden Vorschlag dreier Gebote von Ines Steinke, welchen sie zur Orientierung hinsichtlich der Spezifika dispositivanalytischer Forschung konkretisieren (vgl. ebd.:90ff): Visibilität des Forschungsprozesses: Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses sollen zumindest für Methodenwahl, Datenmate- rial und -auswertung sowie für Forschungsentscheidungen allgemein gewährleistet werden. Gerade die Bestimmung von Dispositiv, disposi- tiven Elementen und ihre Zusammenhänge sei in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben. Viabilität des Forschungsprozesses: Die gewählten Methoden zur Erhebung und Auswertung der Daten sollen für das Forschungsvorhaben brauchbar, auf einander abgestimmt und – sofern dem komplexen Vorhaben der jew- eiligen Dispositivanalyse zuträglich – kreativ gewählt sein. Interne und externe Validität der Forschung: Intern müssen vor allem plausible Theorien gewählt werden, um angesichts der Daten angemessen operi- eren zu können. Die Interpretationen können wahlweise Beforschten zum Gegencheck vorgelegt werden. Extern stellt sich die Frage nach der 113 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv möglichen Verallgemeinerung und Übertragbarkeit von Erkenntnissen auf mehr und weniger nahe Anwendungsbereiche. Diesen Ausführungen möchte ich mich anschließen und versuche, soweit in diesem For- schungsprojekt möglich und relevant, diesen methodologischen Grundannahmen und Gütekriterien zu folgen. 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite Das Medienkunstprojekt Zone*Interdite zeichnet sich durch ein vielfältiges Angebot aus, welches sich nicht in einer Homepage erschöpft. Die folgende Beschreibung des komplexen Medienangebots beginnt mit einem allgemeinen Überblick über Entstehung, Ziele und Ge- schichte der Seite und konzentriert sich anschließend auf die als für virtualisierte Heterotopien zentral bestimmten Aspekte Medialität, Faktizität und Räumlichkeit. Wo die rein strukturelle Beschreibung der Homepage an sich Ergänzungen bedarf, greife ich auf zusätzliche Texte des Projekts zurück. Dabei handelt es sich einerseits um Texte der Künstler selbst – inner- und außerhalb der Homepage – sowie um Kommentare und Beiträge der NutzerInnen.104 4.2.a. Allgemeine Eckdaten zum Online-Kunstprojekt Hinter dem Projekt Zone*Interdite105 und der zugehörigen Homepage www.zone-interdite. net stehen die beiden Schweizer Künstler Christoph Jud und Mathias Wachter, die sich 104 Die E-Mail-Antwort von Christoph Wachter wird wie folgt ohne Seitenangaben zitiert: (vgl. Wachter 2011). Die Textpassagen aus dem Mailverkehr wie auch aus den Gästebucheinträgen werden im gesamten Text, ungeachtet der sprachlichen Varianten oder Flüchtigkeitsfehler, in ihrer Originalschreibweise übernommen. Verweise auf Unterseiten der Homepage werden in Fußnoten angegeben, im abschließenden Literaturverzeichnis wird hin- gegen nur die tatsächliche Homepage gelistet (vgl. Wachter & Jud 2007). Ursprünglich sollten auch Beiträge aus Rundfunk, Print- oder Online-Medien wie etwa von der Nachrichtenagentur SwissInfo (vgl. Eichenberger 2006), von Deutschlandradio Kultur (vgl. Stratmann 2006) und der 10vor10-Redaktion des Schweizer Fernsehens (vgl. SF:10vor10 2006) in die Analyse miteinbezogen werden. Diese Intention musste aus Gründen der Forschungs- ökonomie fallen gelassen werden. 105 Mit der Abkürzung ‘Z*I’ wird im weiteren Textverlauf das Projekt in seiner Gesamtheit bezeichnet. Je nach Fokus wird dann von Medienangebot oder speziell von einer der beiden Komponenten (Homepage und 3D- Walkthroughs) gesprochen. 114 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite zuvor und auch nachher in Netzkunst-Projekten mit den Zusammenhängen zwischen In- ternet, Machtverhältnissen und deren Bearbeitung beschäftigt haben.106 Um 2000 haben sie begonnen, Bildmaterial zu militärischen Sperrgebieten (‘military restricted areas’)107 zu sammeln, um daraus in den Folgejahren eine umfassende, wenn auch zwangsweise unvollständige Weltkarte anzulegen, auf welcher militärische Sperrgebiete verzeichnet sind.108 Diese Karte dient als Startseite von Zone*Interdite und damit der Datenbank der Sperrgebiete. Die Datenbank ist seit 2003 online und seither im Wachsen begriffen. Die digitalen 3D-Walkthroughs wurden 2005 online gestellt; die gegenwärtig jüngsten zehn Einträge von verschiedenen UserInnen stammen aus den vergangenen drei Tagen.109 Wachter und Jud beschreiben die Seite folgendermaßen: „Zone*Interdite (franz. für verbotene, militärische Zone) basiert auf einem Widerspruch: militärische Gebiete dürfen wir nicht betreten, die Dar- stellung ist verboten. In den Medien tauchen dennoch Abbildungen auf. www.zone-interdite.net ist eine Sammlung, Verortung und Verdichtung dieser Abbildungen“ (ebd.). Im Gegensatz zu Seiten wie Wikileaks oder Openleaks110 dient Zone*Interdite nicht als vermittelnde Schnittstelle zwischen sogenannten ‘Whistleblowern’, welche geheime In- 106 Für eine Übersicht der Projekte der Künstler vgl. deren Homepage: http://www.wachter-jud.net/projects [Stand 04-08-2014]. 107 ‘Zone Interdite’ heißt auf Deutsch ‘(militärisches) Sperrgebiet’. Vgl. http://dict.leo.org/frde?lp=frde&lang=de& searchLoc=0&cmpType=relaxed§Hdr=on&spellToler=&search=zone+interdite [Stand 04-08-2014]. 108 Die Trennlinie, was genau als solches zu bezeichnen sei, ist denkbar schwierig zu ziehen, weshalb das Thema auch im Gästebuch verhandelt wird, wie etwa von ‘florian spaelty’: „worauf ich hinaus möchte ist, dass ich in eurer aufstellung eine qualifizierung der orte vermisse. ich bin mir bewusst, dass die klassen zur qualifizierung schwierig zu definieren sind“ unter http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=35 [30-03-2011]. Eine Qualifizierung von historischen Militäranlagen schlagen ‘Dr. Mabuse’ und ‘Gandalf ’ vor: http://www.zone-inter- dite.net/forum/discussion/?zico_page=25 [Stand 30-03-2011]. Leider lassen sich die Kommentare nicht direkt verlinken. Das bedeutet, wenn neue Einträge erfolgen, kann es passieren, dass die zitierten Kommentare auf die nächste Seite ‘rutschen’. Mit einigen Klicks weiter sind sie aber trotzdem online abrufbar. Diese Verschiebungen betreffen insbesondere die Verlagspublikation 2014. 109 Vgl. dazu http://www.zone-interdite.net/forum/?page_id=-1 [Stand 25-03-2011]. Angesichts des fortdauernden Konflikts in Libyen verwundert es wenig, dass acht der neuesten zehn Bearbeitungen oder Einträge militärische Anlagen in Libyen benennen. Mehr als drei Jahre später wurden die neuesten zehn Einträge (sechs davon für Spanien, vier für Frankreich) allesamt am Tag der Überarbeitung erstellt [Stand 01-08-2014]. Diese Beobachtung spricht dafür, dass das Projekt anhaltend gespeist und belebt wird. 110 Vgl. http://www.wikileaks.ch/ und http://www.openleaks.org/ [Stand 04-08-2014]. 115 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv formationen anonym weitergeben, und der interessierten Öffentlichkeit, sondern stellt zwischen öffentlichem Bild- und Datenmaterial Verbindungen her, wodurch sich erst kohärente Abbildungen ergeben.111 In ähnlicher Form wie gegenwärtig ist Zone*Interdite seit Anfang 2006 online, der größte Anteil am Projekt also abgeschlossen. Wachter weist jedoch darauf hin, dass Jud und er „seit einiger Zeit daran [sind], die Plattform zu überholen – denn Z*I ist natürlich ein nie endendes Projekt“ (Wachter 2011). Die BesucherInnenzahlen durchlaufen seit dem Startschuss zwar – gekoppelt an die Berichterstattung über das Projekt (vgl. ebd.) – gewisse Konjunkturen, liegen aber nach wie vor bei „um die 1000 bis 10 000 BesucherIn- nen pro Tag“ (ebd.). 4.2.b. Zur Medialität: Zone*Interdite als komplexes Medienangebot Der Name Zone*Interdite bezeichnet in erster Linie die Gesamtheit des Medienkunstpro- jekts der beiden Künstler. Im Zentrum des Projekts stehen die Homepage www.zone- interdite.net, sowie die darauf zu findenden 3D-Walkthroughs, auf welche im Rahmen dieser deskriptiven Annäherung und anschließenden Analyse auch in erster Linie referi- ert wird. Dieses mediale Konglomerat bezeichne ich im Folgenden als komplexes Me- dienangebot. Darüber hinaus schließt das Projekt zwar auch Ausstellungen, Workshops und Vorträge mit ein, die in dieser Arbeit jedoch weitestgehend ausgeklammert werden. Zum einen besteht im komplexen Online-Medienangebot, wie bereits angesprochen, der öffentliche Hauptteil des Projekts und zum anderen sind zu weiterführenden Verans- taltungen außer Programmhinweisen und einigen Bildern kaum Dokumentationen zu finden. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich nun ausführlich mit dem komplexen Me- dienangebot Zone*Interdite anhand der Dimensionen des Medienkompaktbegriffs nach Siegfried J. Schmidt, wie sie zuvor (siehe Abschnitt 1.3.) ausgeführt wurden: Kommuni- kationsinstrumente, Medientechniken, Institutionen und – als Synthese daraus – Medienangebote. 111 In einem Artikel auf Deutschlandradio Kultur wird Christoph Wachter zitiert: „Wenn wir jetzt Zuschriften krie- gen von Leuten und sagen: Ja, ich hab’ da noch geheime Fotos oder so etwas, das interessiert uns eigentlich nicht“ (zit. nach Stratmann 2006). Selbst die unter Namensangabe (vermutlich) legal angebotenen Fotografien zu einem Gefängnis in der Schweiz wurden nicht in die Datenbank aufgenommen: „hello interdite […] ich koennte euch bildmaterial (1989, rs) von kasserne,vergittertem parkplatz usw. ueberlassen ist das von interesse fuer euch ?“; zu finden unter http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=939 [Stand 30-03-2011]. 116 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite Kommunikationsinstrumente Die Homepage operiert in erster Instanz auf den üblichen kommunikativen Grundlagen von Websites: einerseits mit Schriftsprache (englisch, deutsch)112 und andererseits mit meist statischen und teilweise dynamischen Bildern. Nicht alle Inhalte sind zweisprachig verfügbar.113 Die eindeutige Zuordnung der Kommunikationsinstrumente fällt schwer. Streng genommen dürften nach Schmidt darunter ausschließlich die sprachlichen Anteile der Seite fallen, die Bildsprache besteht ausschließlich aus technisch (re-)produziertem Bild- material, welches dieser aus seiner Definition exkludiert. Unklar bleibt auch die Zuord- nung von Programmiersprachen, die in dieser Arbeit unter Medientechniken gezählt werden. Abbildung 4: Screenshot Zone*Interdite: Home [Stand 07-08-2014] 112 Diese Einschränkung hält allerdings viele, die dieser Sprachen nicht mächtig sind, nicht davon ab, im Gästebuch Einträge zu hinterlassen. Unter anderem auch Beschwerden über die lediglich zweisprachige Ausgestaltung, wie von einem Nutzer aus Argentinien „Insisto con unicamente dos idiomas la discusión es entre Uds lo cual me pa- rece subjetivo por lo tanto imparcial. No se olviden que en el mundo hay más latinos que todos los anglo alemanes juntos“ unter http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=36 [Stand 30-03-2011]. 113 Darauf verweist auch folgender Foren-Kommentar von ‘John’ am 22. Dezember 2005, 19h10: „Thanx for the well-founded articles about restricted areas and military secrecy. Although almost all articles in the blog are writ- ten in german, it was very interesting! I look forward to read those articles ones in english too“, einsehbar unter http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=42 [Stand 28-03-2011]. 117 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Medientechniken Wie bereits angedeutet handelt es sich bei Zone*Interdite um ein äußerst komplexes Me- dienangebot im Stil medienkonvergenter Online-Angebote. Die Navigation innerhalb der Seite basiert auf der gängigen Maussteuerung per Klick auf bezeichnete Links. Die folgenden Beschreibungen umfassen die Homepage an sich in ihren einzelnen Kom- ponenten sowie die 3D-Rundgänge, welche eher als integraler Teil des Projekts als der Homepage zu werten sind. Wie für Homepages und andere Online-Angebote notwendig, ist auch die Homepage von Zone*Interdite auf einem Server abgelegt. Laut Geotool, einer Online-Applikation zur Lokalisierung von Serverstandorten, nutzt das Online-Angebot von Zone*Interdite einen Server in Frankfurt am Main/D eutschland.114 Medientechniken der Homepage www.zone-interdite.net Die Startseite von Zone*Interdite ist eine interaktive Weltkarte (siehe Abb. 4), auf welcher in Form einer interaktiven Grafik sämtliche in der Datenbank enthaltenen militärischen Sper- rzonen als grüne Punkte verzeichnet sind. Zusätzlich sind Flüge, auf welchen identifizierte Menschen transportiert wurden, als gelbe (Flugverbindungen) und rote Linien (Menschen) eingetragen. Anhand eines +/ -Reglers kann der angezeigte Maßstab vergrößert und verk- leinert werden. Eine kleine Übersichtskarte im rechten unteren Eck zeigt jeweils an, wo der Bildausschnitt auf der Weltkarte zu verorten ist. Zusätzliche Steuerelemente sind die Option, die verschiedenen Eintragskategorien ein- und auszublenden, ein Vollbildmodus sowie eine Suchfunktion. Insgesamt sind in die Karte fünf Grafiken eingebettet, welche als Links zu den vier elaboriertesten Dokumentationen (den 3D-Simulationen bzw. -Walk- throughs) sowie zur Dokumentation des einzigen US-Militärgefängnisses auf deutschem Boden, in Mannheim, weiterleiten. Bewegt sich der Mauszeiger über eine der farbigen Markierungen (für Ort/ Flug/M ensch) auf der Karte, werden zusätzliche Informationen angezeigt (z.B. Ort; Bezeichnung und Funktion der Basis; z.T. weitere Angaben).115 Das zugehörige Fenster öffnet sich bei Links-Klick und ergänzt diese Informationen nach Verfügbarkeit um weitere Eckdaten (Längen- und Breitengrad werden immer an- gegeben), Verweise auf Online-Quellen und teilweise Screenshots derselben. Ein wich- 114 Vgl. die Seite von Geotools unter http://geo.flagfox.net/?ip=88.84.152.170&host=www.zone-interdite.net [Stand 08-04-2011]. 115 Am Beispiel Zeltweg in Österreich: „Zeltweg, airbase; Überwachungsgeschwader Staffel 1; Flar 2 Batn; Flieger- werft“. Bei Klick auf den jeweiligen Punkt öffnet sich das Fenster mit dem Datenbankeintrag und sämtlichen verfügbaren Angaben. In diesem Fall: http://www.zone-interdite.net/P/zone_2896.html [Stand 04-08-2014]. 118 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite tiges Element, das für zusätzliche Vernetzung mit Online-Daten sorgt, ist die Einbind- ung von dynamischen Links zu Suchanfragen nach der betreffenden Militäranlage in verschiedenen Suchmaschinen für Maps, Satellite Images, Wikis, Texts, Images und Videos. Zusätzlich besteht auf den Seiten der einzelnen Datenbankeinträge die Möglichkeit, Kommentare zu hinterlassen oder die verschiedenen Inhaltsfelder zu überarbeiten oder ergänzen. Ein weiterer Link führt unter dem Namen Forum zur klassischen ‘Homepage’ (siehe Abbildung 5),116 die neben der Übersichtsseite sechs Unterpunkte aufweist: Blog, About Zone*Interdite, Discussion, Contact, ZONE*INTERDITE @ public und Media. Auf der Übersichtsseite finden sich die zehn beliebtesten (Most visited zones) und die zehn neuesten Einträge (Newest entries & recently edited) in der Datenbank. Außerdem können RSS- und Atom0.3-Feeds für die Seite abonniert werden.117 Der Blog der Künstler118 bietet mehrere, ausschließlich deutschsprachige Texte zu ihrem medienkünstlerischen Experiment, ein Add-on für Mozilla Firefox, um direkt über den Browser an die Zone*Interdite-Datenbank Suchanfragen stellen zu können, sowie ein ‘Trailer-Video’ zum Projekt. Das knapp einminütige Video ist während des stipendiierten Aufenthalts der Künstler in Halle an der Saale119 unter dem Titel No Pictures entstanden und verbindet Video-, Audio- und Schriftelemente. Fotografien werden Auszügen aus den Simulationen gegenüber gestellt, knappe grafische Spracheinheiten umreißen das Projekt, während im Hintergrund Soundfragmente zu hören sind.120 Vergleichbar zum Blog listet der Abschnitt About Zone*Interdite Einträge zu den Hintergründen des Pro- jekts, seiner Entstehungsgeschichte, Absichten der Künstler sowie Links zur medialen Berichterstattung. Unter Discussion121 findet sich ein Diskussionsforum nach Vorlage eines Gästebuchs. 116 Zu finden unter: http://www.zone-interdite.net/forum/?page_id=-1 [Stand 04-08-2014]. 117 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/feed/. Zur Erläuterung der beiden Funktionen vgl. http:// en.wikipedia.org/wiki/Atom_%28standard%29#Atom_compared_to_RSS_2.0 [beide Stand 04-08-2014]. 118 Zu finden unter http://www.zone-interdite.net/forum/index.php [Stand 04-08-2014]. 119 Vgl. dazu den Blogeintrag der Künstler unter http://www.zone-interdite.net/forum/articles/6.html, sowie die Homepages der beteiligten Einrichtungen http://werkleitz.de/ (Werkleitz Gesellschaft e.V., Zentrum für künst- lerische Bildmedien) und http://www.emare.eu/concept.html (European Media Artists in Residence Exchange: EMARE) [jeweils Stand 04-08-2014]. Ausführlicher dazu unter dem nächsten Punkt: Institutionen. 120 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/38.html [Stand 04-08-2014]. 121 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/ [Stand 25-03-2011]. Der letzte Eintrag stammt vom 22- 03-2011 von ‘Ezatullah’ und ist als Spam- oder Merchandise-Eintrag zu werten: „[...] WMC can work for you gentlemen more properly with full confidence in every branch of transportation, logistic services, excellent ma- 119 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Allerdings können nicht nur dort Kommentare hinterlassen werden (direkte Reaktionen darauf sind Kommentierenden ohne zusätzliche Administratorrechte nicht möglich); auch alle Kommentare, die unter den einzelnen Unterseiten und Datenbankeinträgen hinterlassen werden, werden hier verbucht und entsprechend verlinkt. Abbildung 5: Screenshot Zone*Interdite: FORUM [Stand 7-08-2014] Die Menüpunkte Contact (Verweis auf Kontaktaufnahme mit den Künstlern), ZONE*INTERDITE @ public (Verweis auf vergangene und mögliche weitere Ausstel- lungen) und Media (Screenshots und Downloads der 3D-Simulationen) sind vergleichs- weise statisch und entsprechen ihren Bezeichnungen. chinery for hiring, construction and others for every location in the country or out side of the country such as Kandahar, Farah, Delaram, Hilmand, Qalath, Kabul [...]“. Mit Stand Stand 04-08-2014 wird das Gästebuch v.a. von Spambots gefüllt. Das betrifft zumindest die letzten 100 Einträge im Forum und gibt der ‘Diskussion’ eine interessante, weitere Dimension, die allerdings für die Analyse nicht berücksichtigt werden konnte. 120 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite Die Grafiken dienen der Dokumentation der Datenbankeinträge sowie als Belege für die präzise Rekonstruktion bestimmter Sperrzonen. Sie sind ausschließlich statische Bilddateien ohne Animationen – zumeist Screenshots von anderen Homepages oder den hauseigenen Simulationen. Soweit als möglich wurden Verweise auf externe Homepages in Form von Hyperlinks integriert. Nicht mehr aktive Links werden durchgestrichen angezeigt. Die 3D-Walkthroughs am Beispiel von US Naval Base Guantanamo Bay (GTMO) Den virtuellen Kern im Rahmen von Zone*Interdite stellen die bereits angesprochenen 3D-Simulationen dar. Auf der Seite werden diese als ‘(3D) Walkthroughs’ bezeichnet. Aktuell sind derer vier verfügbar: US Naval Base Guantanamo Bay auf der kubanischen Insel, Bagram Airbase in Afghanistan, ein US-Gefangenenlager im Irak: Camp Bucca und ein sogenanntes Islamic Training Camp im Sudan.122 Die Gefängnisanlagen von Guanta- namo Bay und Bagram haben im Zuge der Kriege im Nahen Osten seit 2001 traurige Berühmtheit erlangt. Camp Bucca war ebenfalls ein Militärgefängnis unter US-Hoheit. Auf die Frage, warum seitens der Künstler gerade diese Auswahl getroffen wurde, an- twortet Wachter: „Es gab für diese Orte ein besonderes Interesse und viele Leute, die etwas beitragen wollten, die viele Fragen dazu hatten. So hat sich das entwickelt“ (2011). Die Programmentwicklung fand auf Basis unterschiedlicher Software statt123, zum Teil aus Eigenproduktion. Wachter begründet dies mit den Lizenzbedingungen der Her- steller, denn „wenn ein Projekt politisch nicht gefällt, können die Softwarehersteller die Nutzungsrechte entziehen, daher waren wir auf eigene Entwicklungen und offene Communities angewiesen. Ziel wäre eigentlich eine durchgän- 122 Unter den folgenden Links finden sich die jeweiligen Einträge. Guantanamo Bay: http://www.zone-interdite. net/P/zone_756.html; Bagram Airbase: http://www.zone-interdite.net/P/zone_1251.html; Camp Bucca: http://www.zone-interdite.net/P/zone_1181.html; Islamic Training Camp: http://www.zone-interdite.net/P/ zone_1173.html; [jeweils Stand 04-08-2014]. 123 Im Lizenztext zum 3D-Walkthrough Camp Bucca werden vor der Installation folgende Komponenten genannt: „ZONE*INTERDITE Walkthroughs uses the crystal space library (http://www.crystalspace3d.org/) that stays under the LGPL (Library General Public Licence). It makes also use of the PLIB library (http://plib.source- forge.net) that stays under the LGPL licence. [...] The Webupdater is from the wxWidgets Project (http://www. wxwidgets.org/) and stays under the wxwidgets Licence (a modified LGPL licence).“ (Wachter/Jud 2000). Die not-wendige Hardware zur Entwicklung der Anwendungen anzuführen, spare ich aus, möchte aber zumindest darauf hinweisen, dass hier natürlich technisches Equipment – und das nötige Fachwissen – eine zentrale Arbeits- grundlage darstellen. 121 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv gige Open-Source Tool-Chain, in der alle Komponenten frei zugänglich bleiben bis hin zu den 3D Walkthroughs. Das ist aber noch mit einigen Hürden verbunden, weil auch die Bedienung, die Partizipation usw prob- lematisch sind“ (2011).124 Die Voraussetzungen an Soft- und Hardware, um den 3D-Walkthrough durch die Mil- itäranlagen von Guantanamo Bay, Bagram etc. virtuell beschreiten zu können, werden auf der Downloadseite125 wie folgt angeführt: „Windows XP (recommended); A recent grafics card with at least 128MB Video-RAM; 512 MB RAM (1GB recommended); Display resolu- tion 1024*728; 80MB free disc-space“ (Herv. im Orig.).126 Zusätzlich dazu sind freilich auch ein Internetzugang, die nötigen technische Kennt- nisse, sowie die nötige Berechtigung am Rechner erforderlich, um Download und Instal- lation vornehmen zu können.127 Genau genommen handelt es sich bei den Walkthroughs nicht in erster Linie um Online-Applikationen, sondern um Programme, die am eigenen PC installiert werden müssen und von da aus gestartet und verarbeitet werden, einzelne Funktionen verweisen jedoch wiederum auf die Homepage und vernetzen mit der On- line-Datenbank. Im Folgenden werde ich mich in der Beschreibung lediglich auf einen der Walkthroughs konzentrieren, da sie sich in ihrer Grundstruktur gleichen und somit 124 Wachters Angaben zufolge ist die ausschließlich Community- und OpenSource-basierte „Tool-Chain {...] Gimp – Blender – Cristal Space [sic!]“ (2011) in Vorbereitung. Gimp als Bildbearbeitungsprogramm: http://www.gimp. org/; Blender als „free open source 3D content creation suite “: http://www.blender.org/ und Crystal Space als software development kit (SDK) providing real-time 3D graphics for applications such as games and virtual reality: http://www.crystalspace3d.org/main/Main_Page. Alle Programmangebote arbeiten auf relativ offener Lizenzbasis, wie z.B. GNU General Public License oder GNU Lesser General Public License: http://www.gnu.org/ licenses/licenses.html [jeweils Stand 04-08-2014]. 125 Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/download_756.html [Stand 25-03-2011]. 126 Im Gästebuch findet sich die Frage von ‘Gunnar’ am 26-02-2006, 03h16, ob das Guantanamo-Programm auch für das Betriebssystem MAC OS X verfügbar sei. Die Antwort lautete damals: „Leider zur Zeit noch nicht. Wir arbeiten aber an einer Mac OSX und einer Linux Version.“ Nachzulesen unter: http://www.zone-interdite.net/ forum/discussion/?zico_page=38 [Stand 30-03-2011]. 127 Dass die nötigen Rechte (am Rechner oder im Land) nicht immer gegeben sind, zeigt folgender Eintrag von M. A Sarek vom 21. Dezember 2005, 00h58 im Diskussionsforum: „Because I’m not allowed to download the Gu- antanmamo [sic!] Game, I would like to see more Screenshot and maybe movie?“; zu finden unter http://www. zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=42 [Stand 28-03-2011]. 122 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite Redundanzen vermieden werden können. In der Annahme, dass der Rundgang durch Guantanamo Bay (im Folgenden abgekürzt durch GTMO) aufgrund der langjährigen globalen medialen Berichterstattung sowohl der am besten dokumentierte sein dürfte, als auch der meistgenutzte, habe ich diesen für die Beschreibung gewählt. Dieser ist als einziger in Version 4.0.0 verfügbar (im Vergleich zu 1.0 bzw. 3.5 bei den anderen An- wendungen), die letzte Modifikation wurde 2007 vorgenommen. Die Anwendung zu GTMO besteht im Wesentlichen aus dem dreidimensional aus- gestalteten Gefängniskomplex und seiner Umgebung. Nach einer anfänglichen Vide- osequenz, welche einen kurzen Überblick verschafft und noch keine Steuerung erlaubt, kann sich die Userin/ der User durch die Pfeiltasten auf der Tastatur durch den virtuel- len Raum bewegen. Der Blick kann durch ‘Bild auf/ ab’ zusätzlich gelenkt werden. Der eigene Standort wird stets exakt verzeichnet und in der Informationsleiste am rechten Bildrand in Längen- und Breitengrad angegeben. Dort finden sich ebenfalls zusätzliche Angaben in Schrift und Bild zum jeweiligen ‘Standort’ bzw. nahen Blickbereich, welche mit der Homepage korrespondieren – das betrifft allerdings nur bestimmte, genauer be- schriebene Orte (z.B. das Gate)128. Das heißt, die Texte entsprechen den Kurzbesch- reibungen online, per Mausklick auf den zugehörigen Pfeil wird im Browser die zuge- hörige Seite geöffnet und somit die entsprechenden Informationen indirekt zugänglich. Nach dem Öffnen und während des Programmladevorgangs erscheint ein Fen- ster, in welchem neben einem Hintergrundbild aus der Simulation, dem Schriftzug ‘ZONE*INTERDITE’, dem Ladebalken und der Versionsangabe ein kurzer Erläuter- ungstext zu den GTMO-Anlagen des US-Militärs zu finden ist. Sobald das Programm geladen wurde, gelangt man per Klick auf den Startbutton weiter. Eine nachgestellte Kamerafahrt zeigt einen vorprogrammierten Panoramaschwenk von etwa 180° aus eini- gen Metern Höhe über den dargestellten Gebäudekomplex und senkt sich nach einigen Sekunden direkt vor dem Eingangstor zu Camp Delta, von wo aus man selbst die Steuer- ung übernimmt. Jetzt werden unter dem Reiter ‘Information’ zusätzliche ‘Werkzeuge’ und Informa- tionen eingeblendet (siehe Abb. 6):129 der exakte Standort in Längen- und Breitengradang- aben (Geodaten); soweit vorhanden schriftliche Informationen und Bildbelege zum 128 Die vollständige Liste ist online abrufbar: http://www.zone-interdite.net/P/zone_756.html [Stand 04-08-2014]. 129 Die folgenden Grafiken weisen jeweils rote Inserts und Markierungen auf, welche in den Screenshots selbst nicht zu finden sind, sondern nachträglich von mir eingefügt wurden. 123 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv jeweiligen Blickfeld (z.B. zum Gate selbst)130 inklusive Links zu weiteren Informationen auf der Homepage; ein kleines Chatfenster, in welchem kurze Nachrichten hinterlassen werden können und eine kleine Übersichtskarte, über die per Klick andere Standorte ausgewählt werden können. Zu betonen ist, dass stets auf den möglichen eigenen Beitrag hingewiesen wird („read or write more“; „add information“; „write your message“; Herv. V.D.). Zudem findet sich ein kleiner Fotoapparat, über welchen Screenshots erstellt werden können.131 Am oberen Bildschirmrand werden zur Orientierung Ortsmarkierungen an- gezeigt, die je nach Nähe/ Distanz zur Markierung größer oder kleiner werden. Abbildung 6: Zone*Interdite: Guantanamo Walkthrough Legende 130 In Fall des Tors zu Camp Delta wird vermerkt: „Guards are positioned between each door and only permitted to open one door at a time, after the following door has been locked“. Zu finden unter http://www.zone-interdite. net/P/insideareas_1.html [Stand 04-08-2014]. 131 Die Funktion öffnet wiederum einen Browser-Tab, in welchem der Bildausschnitt angezeigt werden sollte, um ihn speichern zu können. In meinem Fall hat es auch nach zahlreichen Versuchen nicht funktioniert. 124 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite Unter dem Reiter ‘Configuration’ können diese Elemente an- und abgewählt werden. Auch findet sich dort ein Menüpunkt ‘Instructions’, in welchem in kurzen Worten das Projekt selbst, sowie die Steuerung erklärt werden. Zudem wird für weitere Fragen auf die E-Mail-Adresse der Künstler und auf die Homepage des Projekts hingewiesen. Voll- bildmodus ist keiner verfügbar, das heißt, das Fenster füllt nicht den ganzen Bildschirm aus. Auch unter „Configuration“ findet sich ein Menüpunkt ‘Map’, welcher zur großen Übersichtskarte führt und ‘Standortwechsel’ erlaubt. Institutionen Den größten Teil der Produktionskosten von Zone*Interdite haben die Künstler, Christoph Wachter und Mathias Jud, laut eigenen Angaben selbst getragen. Wie oben bereits erwähnt, haben sie im Programmierprozess teils auf Ressourcen zurückgegriffen, welche von Ent- wicklerInnen-Communities unter relativ offenen Lizenzen zur Verwendung und Weiterent- wicklung bereit gestellt werden. Weiters wurde das Projekt im Form eines Stipendiums für den Aufenthalt 2005/ 06 in Halle an der Saale von den Gastgebern von Werkleitz und vom ‘European Media Art Network’ (EMAN)132 im Rahmen des Programms ‘European Media Artists in Residence Exchange’ (EMARE) unterstützt. Das Netzwerk wiederum wird vom EU-Kulturprogramm finanziert und beschreibt die eigenen Absichten so: „The basic purpose of the program is to enable European artists to collaborate on projects and consequently to create closer bonds between European media organisations.“133 Allerdings muss mit bedacht werden, dass das Projekt zu diesem Zeitpunkt weit fortgeschritten war; bereits 2005 stellten die Künstler die ersten Walkthroughs online. Der Verein Werkleitz, selbst Mitglied im EMAN, sei die erste Institution gewesen, die sich zu Unterstützungsleistungen entschlossen hatte (vgl. Wachter 2011). Mittlerweile – 2011 – „fühlen wir uns mehr als getragen, dh wir haben verschiedene staatliche Stipendien und Förderungen für unsere gesamte Arbeit erhalten, aller- dings dauerte das eine Weile und könnte sich natürlich auch jederzeit wie- der ändern“ (ebd.). 132 Noch einmal der Verweis auf die beiden Homepages: http://www.werkleitz.de/ueber-uns.html und http://www. emare.eu/concept.html [beide Stand 04-08-2014]. 133 Ausführlicher nachzulesen unter http://www.emare.eu/concept.html [Stand 04-08-2014]. 125 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Wachter erwähnt zwar, dass manchen Förderzusagen juristische Drohungen im Weg standen, verweist aber auf die Komplexität der institutionellen Strukturen. Diese „sind nicht so schwarz-weiss (Geheimdienst versus Bürgerinnen) sondern komplexer“ (ebd.), die Machtverhältnisse fänden sich in Förderentscheiden, Ausgrenzung und der Ableh- nung „bestimmter Kunstpositionen“ (ebd.) wieder. Das Sichtbar-Machen solcher Proz- esse und die Reflexion darüber sind als integraler Bestandteil des Projekts zu betrachten. Insofern haben viele Institutionen indirekt produktiv am Projekt mitgearbeitet, indem sie ablehnend oder ausschließend darauf reagiert haben. Weiters müssen Multiplikatoren (mediale Berichterstattung im Print-, Rundfunk und Online-Sektor) und (Kunst-)Institutionen (Galerien, Vereine, universitäre Einrichtun- gen, etc.) im weiteren Sinne genannt werden, welche den Künstlern durch Vortrags- und Ausstellungsangebote eine Plattform in der Öffentlichkeit geboten haben und somit – wenn auch weniger zu seiner Produktion, so doch zu seiner Distribution (im Sinne des Bekanntheitsgrades) beigetragen.134 Ungewollt kommt hier auch der restriktiven mil- itärischen Informationspraxis eine Rolle zu, denn erst dadurch entsteht der Bedarf an Plattformen wie Zone*Interdite. Immerhin „stellte [Z*I] auch mehrere Jahre die einzigen Bildersammlungen und Pläne von Guantánamo dar“ (ebd.). Somit stieg das Interesse von Universitäten, ArchitektInnen und JournalistInnen, aber auch von US-Militärakademien und SoldatInnen (vgl. ebd.). Natürlich sind an diesem Projekt indirekt auch Anbieter von technologischer Infra- struktur, der nötigen Energie etc. beteiligt, jedoch wäre es unverhältnismäßig und den vorliegenden Intentionen nicht angemessen, hierauf näher einzugehen. Medienangebot Insgesamt präsentiert sich das Projekt Zone*Interdite also in Form eines komplexen medi- alen Konglomerats, welches eine Vielzahl an Medienangeboten einschließt, die nicht gän- zlich getrennt von einander analysiert werden können. Selbst wenn in der Analyse also 134 Auf der folgenden Seite sind Linksammlungen angeführt, die die mediale Berichterstattung, Ausstellungen und Vorträge dokumentieren: http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. Die journalistischen Beiträge sind fast ausschließlich in den Monaten Januar bis März 2006 erschienen, die Ausstellun- gen und Vorträge finden jedoch auch in den Jahren danach statt. Bspw. die Ausstellung ‘Cella’ in Rom 2009 (vgl. Bertsch/Alge 2010). Dass sich die Verbreitung nicht im journalistischen und künstlerischen Bereich erschöpft, zeigt ein Online-Travel-Guide, der unter „Guantànamo Bay on the Web“ auf Z*I verwies: http://iguide.travel/ Guant%C3%A1namo_Bay [Stand 29-03-2011]. 126 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite ein Schwerpunkt auf die 3D-Walkthroughs gelegt wird, müssen die Vernetzungen mit der Homepage mit bedacht werden. Genau genommen können auch die seither stattfindenden Ausstellungen und Vorträge als Teil des Projekts begriffen werden, da Wachter und Jud „oft eingeladen werden für Vorträge, Workshops und Ausstellungen, die Internetforen und Plattformen also nur fragmentiert das Projekt wieder- geben. Leider sind die Diskussionen nicht zentral auffindbar, sondern ver- teilen sich überall hin auf Kunstforen, Kataloge, Arbeiten oder verschie- denste Diskussionsplattformen“ (Wachter 2011). Diese werden ausgeklammert, da der Fokus dieser Arbeit auf der Homepage und insbe- sondere den Walkthroughs als heterotopischem Kernelement liegt und gerade Vorträge und ähnliche Veranstaltungen nicht in für diese Analyse verwendbarer Form dokumen- tiert sind.135 Deshalb muss an dieser Stelle der Hinweis auf die partielle Deckungsunglei- chheit des gesamten Projekts Zone*Interdite und des Online-Medienangebots ausreichen. Letzeres setzt sich also aus folgenden Komponenten für NutzerInnen zusammen: Homepage 3D-Walkthroughs www.zone-interdite.net Interaktive Weltkarte mit verzeichneten Übersichtskarte (Grundriss der Anlagen) militärischen Sperrgebieten und exakte Ortsangabe des Standorts in Längen-/B reitengraden Datenbank der militärischen Sperrgebiete Virtueller Rundgang auf Grundlage der mit Bearbeitungsfunktion für UserInnen Datenbankeinträge Informationen zu Projekt und Künstlern Weiterführende Informationen (allgemein (Texte, Fotografien und Screenshots, Video, und spezifisch, Text und Bild) weiterführende externe Links inklusive Kontakt zu den Künstlern) Gästebuch/ Diskussionsforum Chat-Funktion 135 Ein Beispiel findet sich in einem Videobeitrag zur Ausstellung ‘BILDERSCHLACHTEN’ im Rahmen des Eu- ropean Media Art Festival (EMAF) 2009 in Osnabrück, wo in einer Kirche auf einer Leinwand einer der Z*I- Walkthroughs beschritten werden konnte: http://vimeo.com/8796330; [Stand 04-08-2014; 1min55-3min58]. Vgl. dazu auch das zugehörige Programmheft (vgl. European Media Art Festival 2009). 127 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Downloads (Screenshots, 3D-Walkthroughs, Screenshot-Werkzeug/ ‘Kamera’ Firefox-Suchmaschine) RSS-Feed Links zur Homepage (gilt für fast alle Funktionen) Abbildung 7: Online-Medienangebot von Zone*Interdite (eigene Darstellung) Insgesamt erweist sich Zone*Interdite als komplexe und relativ offene Plattform: Das Angebot bedient sich verschiedener Kommunikationsinstrumente, die angewandten Medientechniken sind untereinander vernetzt, ohne damit eine eng gefasste, lineare Nutzungsstruktur aufzuzwingen. NutzerInnen sind im Gegenteil an mehreren Stellen eingeladen, sich innerhalb vorstrukturierter Formen am Projekt zu beteiligen – so etwa im Gästebuch, in der Datenbank, im direkten Kontakt mit den Künstlern. Noch grundle- gender gilt dies natürlich für die perzeptive Konstruktionsleistung der NutzerInnen im Umgang mit den Daten und den Walkthroughs. Der Versuch der Künstler, möglichst unabhängig von potenziell restriktiven Struk- turen und doch innerhalb des legalen Rahmens zu arbeiten, verschafft auch auf dieser Ebene ein höheres Maß an Freiheit von Konzessionen gegenüber Softwarefirmen, sta- atlichen Institutionen und Geldgebern. Der Zugang zur Homepage sowie der Download der Walkthroughs sind kostenlos, beide Angebote ohne kommerzielle Werbung gehalten. Als Administratoren der Webseite besteht für die Künstler natürlich die Gefahr, selbst zur sanktionierenden Instanz zu werden (vgl. Wachter 2011). Laut Wachter versuchen sie, bspw. im Diskussionsforum, ihren „Einfluss gering zu halten, was zB Zensur betrifft“ (2011). 4.2.c. Zur Faktizität: Zone*Interdite als faktuales Medienangebot Alle Orte, die in Zone*Interdite verhandelt werden, werden primär als ‘wirklich existier- ende’ Räume geführt. Darüber hinaus sind nur solche Räume zu finden, über welche andernorts – insbesondere im Internet – Informationen zu finden sind: „Die Stärke von ZONE*INTERDITE liegt daran, Orte und Dinge sichtbar zu machen, die eigentlich vor unseren Augen geschehen“ (Wachter 2011).136 Der Widerspruch, den Zone*Interdite 136 Anhand eines Beispiels wird dies deutlicher: „Gerade an Guantánamo konnten wir zeigen, dass die Materialien, 128 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite aufwirft, liegt zwischen einerseits dem Verbot, militärische Orte zu fotografieren und abzubilden und andererseits dem nahezu unvermeidlichen Durchdringen von Informa- tionen an die Öffentlichkeit. Der Realitätsanspruch des Projekts ist also weniger projek- timmanent zu suchen, sondern ein geliehener, abgeleitet von zahlreichen, potenziell für alle zugänglichen Belegen, denn „[d]ie Tarnung der militärischen Anlagen wird am signifikantesten aufge- löst durch: Satellitenaufnahmen, die von unterschiedlichen Firmen angeboten wer- den. Kommunikationsbedürfnisse: Glorifizierende Propaganda und individu- elle Kommunikation von Armeeangehörigen mittels privaten Fotos und Berichten. Globale Kommunikationskanäle: Internetplattformen, Suchmaschinen wie Google, private Blogs aber auch Mobiltelefone usw.“ (Zone*Interdite).137 Diese fragmentarischen Belege werden de-emotionalisiert, de-personalisiert und in Beziehung zu einander gesetzt, sodass das intendierte Produkt, „eine nüchterne, formale und räumliche Betrachtung“ (Wachter 2011), als solches erfahrbar wird. Insofern ist die Formulierung Wachters irritierend, wenn er schreibt, „Z*I evaluiert primär die verbote- nen Zonen, die Gelände“ (ebd.), denn gerade die (emotionale, moralische) Aus-Wertung findet im Rahmen von Zone*Interdite qua vorgegebener Struktur (noch) nicht statt. Eher kann diesbezüglich von einer Devaluation gesprochen werden. Eine Aus-Wertung der Belege für Topographien wird zwar durchgeführt, jedoch auf einer fast ausschließlich auf räumliche Beschreibungen und ein „konsequentes Ausloten“ (Z*I)138 reduzierten Ebene. Dass die Wahl des delikaten Themas ‘militärische Sperrgebiete’ nicht frei von Wertung ist, insofern es den Künstlern ‘wert’ ist, sich jahrelang damit zu beschäftigen, verbleibt auf einer anderen Ebene. die öffentlich sichtbar sind, längst ausreichen, um ein sehr detailliertes Bild der Anlage zu erstellen“ (Wachter 2011). 137 Die Textstelle findet sich im Blogeintrag Militärische Geheimhaltung ist ein Auslaufmodell von Wachter und Jud: http:// www.zone-interdite.net/forum/articles/6.html [Stand 04-08-2014]. 138 Diese Bezeichnung findet sich im Z*I-Blog unter Landschaftsmalerei: http://www.zone-interdite.net/forum/artic- les/3.html [Stand 04-08-2014]. 129 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Die rekonstruktive Arbeitsweise der Künstler, die Quellen, ihre Methoden und Absichten und die Rahmung des Projekts werden relativ umfassend offen gelegt.139 Herangezogenes Bild- und Textmaterial wird referenziert, zum Teil in Screenshots ab- gelegt. Die exakte Verortbarkeit der jeweiligen Anlagen anhand der Längen- und Breiten- grade vermittelt vor allem eines: all dies befindet sich auf unserem Planeten, ist ‘wirklich’. Oder anders formuliert: Ihr könnt dieses Wirklichkeitsangebot direkt mit eurer Wirklich- keit in Beziehung setzen. Die ‘faktualisierende’ Brücke zwischen Fotografien und sol- chen Belegen und den simulierten Räumen wird durch exakte Übereinstimmung von Fotografien und Screenshots, sowie auch hier durch die genaue Ortsangabe geschlagen. Gleichzeitig bleibt die Konstruiert- und Gemachtheit (vgl. ‘factum’) der scheinbar gegebenen Räume stets offenbar: etwa durch die nicht verstellbare Fenstergröße der Walkthrough-Programme, farbliche Abweichungen zwischen Foto und Screenshot der Simulation,140 oder den Unvollständigkeitscharakter der Datenbank. Zusätzlich ist das Projekt selbst deklariert weniger an der ‘Wirklichkeit’, sondern vielmehr an „Prozessen des Wahr-nehmens“141 (Wachter 2011) und an der Verflechtung der beiden Dimensionen interessiert: „Diese militärischen Gebiete sind trotz der Verbote wahrnehmbar und tauchen auch in allen möglichen militärischen, staatlichen und zivilen Dar- stellungen auf. [...] Prekär ist deshalb nicht die Darstellung, sondern die Wahrnehmung. In dieser Wahrnehmung findet die eigentliche Überschrei- tung von ZONE*INTERDITE statt“ (Z*I).142 Es ergibt sich also ein enger Zusammenhang von fragmentarischen Belegen von öffentli- chen Stellen, SoldatInnen, JournalistInnen etc., welche für die Erstellung von Zone*Interdite 139 Was sich dem Blick der NutzerInnen wiederum weitestgehend entzieht, sofern nicht ausreichende Fachkenntnis über Programmstrukturen und Suchalgorithmen vorhanden sind, ist die Funktionalität hinter der Maske, dem Zwischengesicht: dem ‘Interface’. 140 Geschweige denn die vermutete Abweichung der Fotografie von der wahrnehmbaren ‘Wirklichkeit’. 141 Der fundamentale Widerspruch in Z*I zwischen Abbildungsverbot militärischer Anlagen und öffentlichem Bild- material dazu, in Verbindung mit der weit verbreiteten Ansicht, nichts über diese Sperrgebiete wissen zu können, verdeutliche das „Phänomen, dass wir als subjektive Betrachter bestimmte Dinge ausblenden, dass wir sehr spe- zifisch wahrnehmen und so auf unsere eigene Ansicht stark einwirken“ (Wachter 2011). 142 Der exakte Blogeintrag findet sich unter dem Titel Überschreitung auf http://www.zone-interdite.net/forum/artic- les/2.html [Stand 04-08-2014]. 130 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite herangezogen wurden, der Kompilation durch Wachter und Jud und der Rezeption von Zone*Interdite wiederum durch SoldatInnen, JournalistInnen, andere EinzelnutzerInnen und Institutionen, die jeweils ihre eigenen Wirklichkeiten aus dem virtuellen Raumange- bot generieren und gleichzeitig selbst Informationen und Teile ihrer Wirklichkeiten in die Datenbank einspeisen können. Im Rahmen derer können nicht nur die Beschaffen- heit der (virtuellen/ virtualisierten) Phänomene selbst (militärische Sperrzonen), sondern auch Mechanismen der Darstellung (Medialität) sowie die prekäre Faktizität des Faktualen (Wirklichkeits-konstruktionen) zur Disposition gestellt werden. Inwiefern die Intention der Künstler, „gewisse Macht- und Verhaltensformen angesichts des Betrachtens und des Involviert-seins auch in zweiter und dritter Ordnung [...] zu reflektieren“ (Wachter 2011), den Nutzungsformen der UserInnen entspricht, muss in dieser Arbeit zu großen Teilen unbeantwortet bleiben. Die Potenzialität dieser Reflexion sind in Zone*Interdite als Medi- enangebot jedoch angelegt: „Zone*Interdite” reconstructs the terrain which our reflection has been deprived of“ (Z*I)143, nicht die Reflexion selbst. 4.2.d. Erfahrungs-Räume: die ästhetische Topologie von Zone*Interdite Sowohl Projekt als auch Seite tragen den Namen ‘Zone*Interdite’, der an sich schon eine Ort- sangabe und Qualifizierung darstellt. Eine ‘Verbotene Zone’, die weder verboten ist, noch ‘einen Raum’ konstituiert. Jedoch ‘la zone’ ist auch eher mit ‘Zone’, ‘Bereich’ oder ‘Gebiet’ zu übersetzen.144 ‘Die räumlichen Konstruktionsleistungen oder -angebote sind auf ver- schiedenen Ebenen zu finden und diese gilt es aufzuschlüsseln: Welche Art von Räumen eröffnet sich nun durch Zone*Interdite und wie sind diese beschaffen? Wie bereits in der Beschreibung des Medienangebots deutlich geworden ist, gliedert sich die Beschreibung durch den Zusammenhang von Homepage und 3D-Walkthroughs. Erstere bietet nur we- nige im direkten Sinne räumliche Elemente, mehrere auf metaphorischer und diskursiver Ebene. Zweitere sind nach dem Verständnis von Löw et al. eindeutig als ‘virtuelle Räume’ zu bezeichnen (vgl. 2007). Die Trennung zwischen beiden lässt sich nicht strikt vollziehen, da ihre Verschränkung ineinander das Medienangebot und auch das Projekt konstituiert. 143 Vollständig zu lesen unter About Zone*Interdite: http://www.zone-interdite.net/forum/?page_id=25 [Stand 04-08- 2014]. 144 Vgl. dazu http://dict.leo.org/frde?lp=frde&search=zone [Stand 04-08-2014]. 131 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Kommunikationsraum – gemeinschaftlicher Raum Im Hinblick auf Kommunikationsräume im weiteren Sinne bietet Zone*Interdite zwar ei- nige Kanäle, diese sind jedoch nicht als räumliches Kernstück des Projekts zu betrachten. Im Vergleich zu zahlreichen Kommunikations- und SocialNetwork-orientierten Angebo- ten nach dem Muster von Facebook,145 zeigen sich die Möglichkeiten auf Zone*Interdite relativ reduziert.146 Wie bereits erwähnt, können zwar dynamische Lesezeichen abonniert werden, um neue Entwicklungen mitverfolgen zu können – auch in der Diskussion. Eine Registrierung auf der Seite oder gängige SocialMedia- und Web2.0-Anwendungen (wie etwa integrierte Buttons, um ‘likes’ oder ‘dislikes’ zu markieren) gibt es neben Feeds und der Wiki-förmigen Bearbeitungsfunktion keine. Die Einschätzung von Wachter, Diskus- sionsplattformen seien „eigentlich ohnehin überholt“ (2011), weist darauf hin, dass im Projekt kein besonderes Augenmerk darauf gelegt wurde, das Gästebuch bzw. den Dis- cussion-Bereich grundlegend zu überarbeiten. Viele Kommentare, Ein- und Beiträge zielen weniger auf den Dialog im Rahmen von Zone*Interdite ab, sondern fügen – sofern Anschlusskommunikation gewünscht wird – ihre E-Mail-Adresse, teilweise auch die Postadresse, bei. Wie viele Zuschriften die Pro- jektbetreiber direkt erhalten, lässt sich natürlich nicht beantworten. Das Angebot steht allerdings explizit und an mehreren Stellen im ‘Raum’. Ingesamt haben diese nur äußerst selten direkt auf Anfragen im Gästebuch geantwortet. Die Diskurse haben sich auf an- dere Angebote verlagert, wie auch Wachter feststellt: „Leider sind die Diskussionen nicht zentral auffindbar, sondern verteilen sich überall hin auf Kunstforen, Kataloge, Arbeiten oder verschiedenste Diskussionsplattformen“ (ebd.). Insofern auf dem Zone*Interdite- Gästebuch keine themenzentrierten ‘Threads’ geöffnet werden können, keine direkten Antworten auf andere Einträge möglich sind und verschiedenste Einträge auf allen Un- terseiten hier gesammelt werden, ist die Struktur keineswegs auf dialogische Kommuni- kationsformen ausgelegt. Die Chatfunktion innerhalb der Walkthroughs ist ähnlich rudimentär verfasst. Ich kann in meinem Fenster zwar Einträge anderer BenutzerInnen sehen, weiß aber nicht, ob gerade jemand zeitgleich das Programm nutzt oder wer wann und wie lesen kann, was ich schreibe. Der zugehörige Link führt zwar wieder zum Gästebuch, die Einträge sind 145 Siehe http://www.facebook.com/ [Stand 04-08-2014]. Der vollständige Zugang zur Social Network Site ist aller- dings nur nach Registrierung im Netzwerk möglich. 146 Allerdings muss hierbei die Kurzlebigkeit von Online-Angeboten und die schnelle Weiterentwicklung bedacht werden. Zone*Interdite war bereits 2006 in vergleichbarer Form online. 132 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite dort jedoch nicht zu finden. Ein VoIP-Angebot wie auf elaborierten Kommunikations- Plattformen wie SecondLife oder Skype,147 um mit Anderen kommunizieren zu können, wird ebenfalls nicht angeboten. Die einzige audiovisuelle Kommunikation im Rahmen des Online-Angebots findet ohne direkte Antwortmöglichkeit statt (vgl. das Video No Pictures), selbst die 3D-Walkthroughs laufen vollständig ohne Ton ab. Ein wichtiger Grund dafür ist sicherlich, dass seit 2005/0 6 fünf Jahre vergangen sind und in diesem Zeitraum zahlreiche Programm-Entwicklungen im Social Media-Sektor Verbreitung gefunden haben, welche mittlerweile zur Gewohnheit geworden sind. Ein zweiter Grund liegt wohl darin, dass nicht nur kein Schwerpunkt darauf liegt, sondern gerade die Abwesenheit von Möglichkeiten einen anderen Rezeptionsmodus begünstigt. Dieser Verdacht erhärtet sich angesichts der Tatsache, dass nicht nur der Kontakt mit anderen ‘Avataren’148 nicht vorgesehen ist, sondern auch KI-gesteuerte AgentInnen völ- lig ausgespart bleiben. Es gibt nicht einmal Hunde im Hundezwinger der Militäranlagen von Guantanamo Bay.149 Das heißt also, man ist beim virtuellen Rundgang fast völlig auf sich selbst, auf die eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen zurück geworfen, denn Zone*Interdite gibt nicht alles vor, lässt innerhalb des gesteckten Rahmens ‘Raum’ für die eigenen Imaginationen, für Variationen des Themas: „Unser Vorstellungspotenzial und unsere Phantasie übersteigen die Vor- hersehbarkeit der Selbstvorstellung und die Idee der Integrität und Bere- chenbarkeit. Hier birgt das Projekt ZONE*INTERDITE eine Erfahrung: In der Auflösung projizierter Selbstvorstellung und dem Erlebnis des eige- nen Vorstellungspotenzials manifestiert sich eine grundlegende Entschei- dungsfreiheit und Mündigkeit, die resistent ist gegenüber jeder Vorschrift und jedem Vorbild“ (Z*I).150 147 Vgl. http://secondlife.com/ und http://www.skype.com/intl/de/home [beide Stand 04-08-2014]. 148 Die Bezeichnung trifft das Phänomen des virtuellen Körpers in den Z*I-Walkthroughs nicht ganz, da der eigene virtuelle Körper nie zu sehen ist, nicht am Bildrand, nicht in Glasscheiben, und somit auch nicht als identifikato- risches Element in Erscheinung tritt. 149 Vgl. dazu den Screenshot auf der Homepage: http://www.zone-interdite.net/P/document.php?idx=175 [Stand 04-08-2014]. 150 Vollständig nachzulesen unter: http://www.zone-interdite.net/forum/articles/6.html [Stand 04-08-2014]. 133 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Ein zusätzlicher Raum, welcher durch Zone*Interdite aufgespannt wurde – und zum Teil noch wird –, gilt dem Bereich der medialen Öffentlichkeit. Gerade im ersten Quartal 2006, der Hochzeit der Berichterstattung über Zone*Interdite, fokussierten für kurze Zeit Aufmerksamkeitsanteile auf militärische Einrichtungen. Insbesondere wurden die 3D- Simulationen der US-amerikanischen Anlagen in Guantanamo auf Kuba und Bagram im Irak diskutiert. Dieser Raum – nur im weitesten Sinne – spielt für diese Analyse des Medienangebots aber nur eine nebensächliche Rolle. Re-präsentierter Raum – Re-konstruierter Raum – Wahr-genommener Raum Die Homepage von Zone*Interdite Eine rechteckige Weltkarte dient als Startseite von Zone*Interdite (siehe Abb. 4): eine grafische Repräsentation des Planeten Erde, die bestimmte Aspekte betont, andere ver- nachlässigt und damit ein sehr spezifisches Bild erzeugt: die Landmasse ist abgesehen von der Antarktis und Grönland (weiß) in grau gehalten, Landesgrenzen werden erst ab ei- nem bestimmten Maßstab eingeblendet – allerdings ohne die einzelnen Länder zu benen- nen oder zu deklarieren, nach welchen Vorgaben diese verzeichnet wurden. Während der Titel des Projekts ‘Zone*Interdite’ den Fokus eindeutig benennt, nämlich (militärische) Sperrzonen, sind auf der Karte nicht nur diese markiert. Alle Einträge bezüglich Sper- rgebieten (grüne Quadrate), Flugverbindungen (gelbe Linien) und Menschen (rote Li- nien) sind unabhängig von deren Herkunft oder ‘nationaler Hoheit’ in den selben Farben verzeichnet. Diese Markierungen können, wie auch die kleinen Screenshots zu den meist dokumentierten Zonen aus- und eingeblendet werden. Zudem bietet die kleine Übersich- tskarte mit dem darunter liegenden Regler die Möglichkeit, den Maßstab zu ändern und den Bildausschnitt zu verschieben. Dadurch erlangen UserInnen direkten Zugriff auf die räumliche Konstruktion. Allerdings innerhalb einer relativ engen strukturellen Vorgabe. Da auf dieser Startseite keine weiteren Erläuterungen zum Projekt zu finden sind, müssen uninformierte ErstnutzerInnen explorativ zu Werke gehen. Die Menüpunkte Add New Data und Extended Search verweisen immerhin auf den kollaborativen Aspekt der Seite und legen den Gedanken an eine Datenbank nahe; zudem eröffnet die Suchfunk- tion die Option, sich gezielt bestimmten Orten schriftlich anzunähern. Die Suchergeb- nisse werden auf einer eigenen Seite jeweils als Links gelistet und führen wiederum zu den Datenbankeinträgen. So gefundene Einträge wiederum auf der Karte zu verorten erweist sich als schwierig, denn zumeist ist zwar das Land angegeben, jedenfalls auch 134 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite der Ort in Längen- und Breitengraden, jedoch beides nicht auf der Karte. Um also die Verbindung zur Weltkarte herzustellen, ist es nötig, direkt in der Karte zu suchen, was sich bei großen Ländern mit vielen verzeichneten Stützpunkten als denkbar schwierig erweisen kann. Erst mit einem Mausschwenk über die Markierungen werden die Links offenbar, die darin eingebettet sind. Jede Markierung zeigt zuerst in einem Kurzvermerk, was bezeichnet wurde und führt durch Links-Klick zum vollständigen Datenbankein- trag, der in einem neuen Browser-Fenster geöffnet wird. Beinahe das selbe gilt für die eingebetteten Screenshots. Um zu entdecken, was diese zu bedeuten haben, muss jedoch geklickt werden, das zugehörige Fenster öffnet sich mit einer Detailkarte der Anlage und dem Link zur Download-Seite des 3D-Walkthroughs. Auch wenn die Simulationen von der Startseite aus verlinkt sind, so ist der ‘Weg’ dorthin relativ ‘weit’ und reduziert ‘aus- geschildert’. Die Datenbankeinträge selbst sind durch ihre dichte Anbindung an weitere Suchmaschinen, Karten etc. als Kreuzungs-, Sammel- oder Verdichtungspunkte zu ver- stehen. Sie erfüllen eine Art Meta-Suchfunktion, welche entsprechend einen Meta-Raum erzeugt – inklusive Schaltflächen zur Bearbeitung des ‘Raums’. Abbildung 8: Zone*Interdite: Guantanamo Walkthrough Zentralperspektive 135 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Medientechniken der 3D-Walkthroughs von Zone*Interdite Aus sämtlichen, öffentlich zugänglichen Bildbelegen haben Wachter und Jud 3D-Nach- stellungen von bisher vier militärischen Sperrzonen erstellt und in Form von Walk- throughs, also virtuellen Rundgängen, veröffentlicht. Die räumliche Konstruktion sowie die Steuerung funktionieren überwiegend wie bei klassischen Ego-Shooter-Spielen: Der Fluchtpunkt liegt in der Bildmitte, das heißt, es liegt eine Zentralperspektive vor (siehe Abb. 7). Die Künstler beschreiben die Bedeutung dieser Darstellungsform wie folgt: „Eine perspektivische Wahrnehmung gilt auch als Voraussetzung für Ent- deckungen und Eroberungen der Welt, besonders für Entdeckerfahrten und kriegerische Eroberungszüge. Denn erst musste das Verständnis ge- deihen, dass die Erde rund ist, und in der Tiefe des Raumes nicht das Ende, sondern neue Horizonte folgen“ (Z*I).151 Mit der durch die Userin oder den User gesteuerten Vorwärts- oder Rückwärtsbewe- gung bewegt sich das Bild scheinbar auf den Fluchtpunkt zu oder von ihm weg – er- reicht wird er freilich nie. Rechts und links streichen entsprechend die Fassaden und Gegenstände aus dem Bildrand und simulieren so die Bewegung im Raum. Im Text zur Landschaftsmalerei (ebd.) weisen Wachter und Jud darauf hin, dass in der Renaissance „die verjüngenden Linien und Fluchtpunkte systematisch analysiert“ wurden und „fortan die Grundlage jeder räumlichen Darstellung“ bildeten. Mittlerweile sind diese zu bewegli- chen Bildern ausgestaltet worden, wodurch sich der Effekt der Raumtiefe verstärkt. Der Vergleich zu Ego-Shootern und ähnlichen Videospielen drängt sich förmlich auf. Jedoch sind dabei vor allem die Abweichungen spannend. Während in Videospielen umfas- sende Steuerungsbefehle ausgeführt werden können (seitlich gehen, springen, schießen/ nachladen, zoomen, Gegenstände aufheben etc.), reduzieren sich diese Befehle in den Zone*Interdite-Walkthroughs auf vorwärts-/ rückwärts bewegen, nach rechts/ links schwen- ken, Blickachse nach oben/ unten verschieben und das Abfotografieren des Blickfeldes per Mausklick. Vor allem gibt es aber kein deklariertes Ziel, keine zu bewältigenden Aufgaben. Relativ ähnlich sind zusätzlich eingeblendete Instrumente gestaltet: Die Übersichts- karte der Umgebung im Grundriss ist Videospielern ebenso bekannt, wie die Einblend- 151 Dem Blogeintrag Landschaftsmalerei entnommen: http://www.zone-interdite.net/forum/articles/3.html [Stand 04-08-2014]. 136 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite ung von ‘Wegpunkten’. Im Fall von Zone*Interdite sind letztere als Orientierungspunkte am oberen Bildrand zu finden. Zum Teil erneut in Verbindung mit Links zu weiteren Informationen. Mit Hilfe des Umgebungsplans lassen sich auch größere Distanzen über- brücken, ohne die ganze Strecke durch den Walkthrough steuern zu müssen. Mit drei Mausklicks kann ein anderer Orientierungspunkt ausgewählt werden. Die Körperlosigkeit geht – wie bereits erwähnt – noch weiter. Im Vergleich zu Vid- eospielen können UserInnen etwa nicht nur nicht sterben, sondern haben keine virtuelle Identifikationsfigur, die zumindest teilweise (in Spiegeln oder videoartigen Zwischense- quenzen, Arme im Bildausschnitt, Atmen/S prechen) sicht- oder anders erfahrbar wird. Auch ist die Fortbewegung des Blickkaders eher mit einer ruhigen Kamerafahrt verglei- chbar, wodurch ein körperloser Schwebezustand geschaffen wird. Lediglich über Stufen und Leitern springt die Blickachse unvermittelt auf/a b, um den Regelabstand zum Unter- grund wieder herzustellen. Insofern erweist sich die Bezeichnung ‘Walkthrough’ als irre- führend. Zwar bewegt sich das Blickfenster im Raum, dessen perspektivische Darstellung räumliche Tiefe simuliert, Schritte sind aber weder auditiv noch visuell wahrnehmbar. Schließlich fehlen virtuelle Gegenüber völlig. Den verbotenen Zonen wird ihre direkte virtuelle Sozialität völlig entzogen. Gleichzeitig wird der Vorstellung und Imagination der NutzerInnen großer Freiraum eingeräumt. Denn indem ich mich in diesen Räumen aufhalte, „befinde [ich] mich quasi im Spannungsfeld. Ich kann mir vorstellen, Ge- fangener oder Wärter zu sein, Bedrohter oder Bedroher, Verteidiger oder Angreifer. Dennoch bleibe ich aber involviert, gewissermassen befragt und davon durchdrungen (– zumindest bis ich die Applikation schließe.)“ (Wachter 2011). Dieser Aspekt von Zone*Interdite führt auch dazu, dass an keinem Tor WärterInnen ste- hen, die mich aufhalten oder kontrollieren, die Tore gar verschlossen sind. Grundsätzlich stehen Tür und Tor bis auf wenige Ausnahmen offen, gewähren Zutritt zu speziellen Räumen innerhalb des Sperrgebiets: Zellen, Überwachungsraum, Befragungsraum etc. Erst dadurch werden auch die verschiedenen Rollen vorstellbar, denn nicht alle Orte sind für alle Rollen vorgesehen. Die Mechanismen der Öffnung und Schließung greifen – so die gemeinhin bekannte Ordnung – für WärterInnen gänzlich anders als für Inhaftierte oder JournalistInnen. Die einzigen Räume, die im Rahmen der Walkthroughs für alle Rol- 137 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv len, alle NutzerInnen ausschließlich visuell wahrnehmbar bleiben, sind jene außerhalb der programmierten Umgebung liegenden: das Ende der ‘virtuellen Welt’. Es ist nicht sicht- bar, doch eine unsichtbare Wand verwehrt den Durchgang. Diese kann nicht durchbro- chen werden, es lässt sich lediglich daran entlang schrammen – ohne Verletzungen, ohne Kratzgeräusche. Ich werde also nicht nur auf mich selbst, sondern auch auf die begrenzte virtuelle Umgebung zurück geworfen – „zumindest bis ich die Applikation schließe“. Der ‘entleerte soziale Raum’ wird auf anderem Weg angereichert, nämlich durch ihre eindeutigen Referenzialität auf physikalische Räume, durch welche eine gewisse Vor- strukturierung der Vorstellungsoptionen produziert wird. Sämtliche Anlagen haben den Anspruch, möglichst exakt ihren physikalischen Entsprechungen nach empfunden zu sein, denn „[f]ür ZONE*INTERDITE steht nicht die Gestaltung virtueller Räume oder die Kreation neuer Bildräume im Mittelpunkt“ (Z*I),152 sondern eben die Reproduktion bestehender Räume. Besonders gut erkennbar ist dies an der direkten Gegenüberstel- lung von Fotografien, welche die Künstler im Internet oder anderswo aufgespürt haben, und Screenshots aus den Walkthroughs.153 Durch diese virtuelle Repräsentation entsteht zugleich eine unvermeidliche Verknüpfung der 3D-Walkthroughs mit zusätzlichen In- formationen über diese Orte. Teils liefert Zone*Interdite diese gleich selbst, insofern die Datenbank viele der verfügbaren Informationen kompiliert und die entsprechenden Links darauf verweisen. Teils wissen NutzerInnen aus der Berichterstattung Allgemeines oder Details über die konkreten Anlagen; Konzepte wie ‘militärische Sperrzone’, ‘Ge- fängnis’ oder ‘Interrogation Room’ rufen gewisse Sinnzusammenhänge ab. Um es mit Schmidt zu sagen: Unterscheidungen werden im Beobachten und Handeln getroffen, Wirklichkeit im Zuge dessen beständig re-konstruiert. Das gilt auch für die zugehörigen moralischen und emotionalen Wertungen und Verbindungen im Sinne von Kulturpro- grammen. Auf diese subjektiven Konstruktionen von Zusammenhängen setzen Wachter und Jud: 152 Erneut dem Blogeintrag zur Landschaftsmalerei entnommen: http://www.zone-interdite.net/forum/articles/3. html [Stand 04-08-2014]. 153 Ein schönes Beispiel ist das Kalashnikov-Monument im Islamic Training Camp: http://www.zone-interdite. net/P/insideareas_26.html. In diesem Fall handelt es sich um die Fotografie eines Fernsehers, auf dem eine Do- kumentation (Operation Blindflug von Hubert Seipel) gezeigt wird: http://www.zone-interdite.net/P/document. php?idx=62 [beide Stand 04-08-2014]. Die Techniken, Filter und Rahmen, die an der gegenwärtigen Betrachtung dieses Bildes direkt beteiligt sind, sind bereits nicht mehr an einer Hand abzuzählen: Kamera der Dokumentar- filmer (auch Postproduktion und Ausstrahlung); Empfang am Fernseher; Fotoapparat; Homepage und Browser und schlussendlich wieder ein Bildschirm, der es darstellen kann. 138 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite „ZONE*INTERDITE geht also mehr darum, die Perspektive zu wech- seln, auch die Perspektive von Soldaten, Planern, Zulieferfirmen, Kom- mandeuren, politischen Verantwortlichen, Journalisten usw. einzubezie- hen. Z*I ist deshalb so neutral oder offen [...]. Es gibt keine ausschliesslich bedeutende Information, es gibt aber auch keine falsche Information. Die Bilder sind betrachtbar, und diese Betrachtung ist wie ein Puzzle-Spiel, aus der sich ein immer dichteres, grösseres oder genaueres Bild ergibt“ (Wachter 2011) Die Plattform hält durch die de-personalisierte und de-valuierte Form multi-perspektiv- ische Nutzungsformen offen. Die angebotenen räumlichen Konstruktionen können als vi- suelle Komponenten auf unterschiedliche Weisen gedeutet, in verschiedene Wirklichkeiten integriert werden. Die Künstler sehen das als Gewinn, ja als zentral für ihr Projekt an, während eine Nutzerin gerade diese ästhetische Neutralität in ihrem Kommentar kritisiert: „Wir wissen alle, dass dort am Ende der ästhetisch verpackten, abstrakten Informationen, Menschen im Auftrag und im Interesse von Macht ge- quält, gefoltert, umgebracht, oder in Schach gehalten werden. Die jeweils andere Seite darf lernen, alle diese Dinge zu tun. Also gar nicht so ange- nehm und schön! Warum wird von Euch entsprechendes Bildmaterial, völlig ausgespart??!“ (Z*I).154 Es handelt sich bei Zone*Interdite zwar auch um repräsentierte Räume, insofern die Ref- erenzen jeweils klar markiert werden, jedoch zeigt sich die Repräsentation als absichtlich geläuterte. Ihre Konstruiertheit ist nicht nur stark bedingt durch die Auslassungen (von Personen, Körperlichkeit, vorgegebenen Rollenbildern), sondern bleibt selbst möglichst offenbar. Wenn etwa der Rahmen als solcher sichtbar bleiben soll, wird das Moment der Immersion gerade nicht begünstigt, sondern im Gegenteil die Reflexion über die eigene, gegenwärtige Wahrnehmung, sowie auch die bisherige Wahrnehmung von militärischen Sperrzonen und die partielle Ignoranz dem gegenüber. 154 So schreibt ‘Annette’ am 31. März 2006, 13h04. Der vollständige Eintrag findet sich unter: http://www.zone- interdite.net/forum/discussion/?zico_page=36 [Stand 31-03-2011]. 139 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Zone*Interdite als reflexiver Raum Direkt an die vorherigen Ausführungen anschließend stellt sich also die Frage, ob Zone*Interdite – insbesondere die Walkthroughs – nicht weniger auf der Grundlage primär- er Erfahrungen operiert, sondern vielmehr erschwert, diese Erfahrungen und Wahrnehm- ungen gedankenlos hinzunehmen. Ein Nutzer schreibt im Gästebuch: „Herzlichen Glück- wunsch zu diesem großartigen Kunstprojekt! Die Sache mit der Wahrnehmung gibt zu denken!“155 Diese Funktionsweise lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen. Zum einen auf der Ebene von Informationen, textlichen und bildlichen Wissensbeständen. Diese werden als öffentlich online zugänglich präsentiert, könnten also von jeder Nutzerin und jedem Nutzer auch selbst gefunden und kombiniert werden. Zudem weisen die entsprech- enden Links zu Ergebnislisten von Suchmaschinen zum jeweiligen Datenbankeintrag glei- chzeitig auf die prinzipielle Zugänglichkeit der Information156 und auf die Unabgeschlos- senheit von Zone*Interdite hin. Die zur Verfügung stehenden Informationen können von NutzerInnen ergänzt werden, sofern sie über zusätzliche Informationen verfügen. Kom- mentare ermöglichen ebenfalls die Relativierung oder Korrektur von Angaben. Die Kon- struiertheit der Informationen steht also außer Frage, wird nicht nur als solche deklariert, sondern sogar zur kollektiven Aufgabe gemacht. NutzerInnen werden zu KomplizInnen und somit direkt in den Prozess der Konstruktion medialer Wirklichkeit einbezogen. „Ich denke, wir intendierten mit Z*I eine nüchterne, formale und räum- liche Betrachtung, um gewisse Macht- und Verhaltensformen angesichts des Betrachtens und des Involviert-seins auch in zweiter und dritter Ord- nung (also bezüglich medialer Repräsentationen, Abbilder und den Bild- materialien) zu reflektieren“ (Wachter 2011). Der Aspekt der Konstruiertheit wird besonders in den 3D-Walkthroughs deutlich, da diese noch einen Schritt weiter gehen als die Homepage bzw. Datenbank: Nicht nur werden Daten gesammelt, verlinkt und veröffentlicht, sondern aus der Gesamtheit der zugänglichen Informationen schaffen Wachter und Jud sterile 3D-Architekturen, die ‘durchschritten’ werden können. Die Interaktion zwischen steuernden BeobachterInnen 155 Der Kommentar von User ‘Christoph’ wurde am 23. Februar um 00h57 hinterlassen und ist auf http://www. zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=40 nachzulesen [Stand 08-04-2011]. 156 Dies geschieht allerdings ohne die Häme von Seiten wie Let me google that for you, die auf lehrmeisterliche Weise die EmpfängerInnen des Links vorführt: http://lmgtfy.com/ [Stand 04-08-2014]. 140 4.2. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite und der Umgebung hält sich dabei in relativ engen Grenzen: Grenzen der Einflussnahme und Handlungsoptionen, der Bildkadrierung (kein Vollbild), des begrenzten programmi- erten Raumes (Anstoßen am ‘Ende der virtuellen Welt’), der Körperlichkeit und Sozialität. An jede dieser Grenzen zu stoßen, lässt auf einer weiteren Ebene die Funktionsweisen der eigenen Wahrnehmung augenscheinlich werden und stellt sich einem entrahmenden Eintauchen in die virtuelle Bildwelt entgegen. Das spielt sich auf der Ebene der Medialität ab, welche auf die Zone*Interdite-Datenbank verweist, während diese wiederum auf weit- ere Online-Medienangebote verweist. Die Kette der Referenzen ist lang, die re-konstrui- erte Wirklichkeit dem entsprechend geformt. Gleichzeitig haben die virtuellen Räume in Zone*Interdite den Anspruch, den räumlichen Anordnungen der Militär- und Gefängnisan- lagen möglichst ähnlich zu sein, was anhand des verfügbaren Bildmaterials als NutzerIn überprüft werden kann. Die handelnde und reflektierende Bezugnahme darauf obliegt jedoch den NutzerInnen und ihrem Wissen, ihrer Imagination, ihrem Spiel innerhalb der strukturellen Anordnungen und schließlich auch ihrer Wirklichkeitskompetenz. Allerdings können Wirklichkeitstests nur in einem sehr begrenzten Rahmen durchgeführt werden. Dieses Spiel ist jedoch nicht frei von naheliegenden Assoziationen und Topoi, welche die Gegenstände der Walkthroughs vorformulieren. Es handelt sich um verbotene Zonen, um militärische Sperrgebiete, um extra-legale Haftanstalten. Themen wie Krieg, Terroris- mus, Sicherheit, Freiheitsentzug, Folter, Öffentlichkeit, militärische Macht, Zugehörigkeit und viele mehr wurden und werden in diesem Kontext im öffentlichen Diskurs diskutiert. Jenseits der Dimension der Medialität thematisiert Zone*Interdite die repräsentierten Phä- nomene im losen Kontext dieses elementaren und spezifischen Wissens der einzelnen NutzerInnen. Die Art und Weise der Anschlüsse ist dabei wiederum offen gehalten, da qua Struktur vorab kein Urteil erfolgt. Die Vielfalt der Nutzungsweisen innerhalb der thematischen Vorgaben scheint in den Kommentaren durch. So wird Zone*Interdite als Kunstwerk, politisches Statement, Erinnerungsplattform, Programmstruktur, Marketing- forum, Kontakt-börse, Informationsangebot etc. von Menschen wahrgenommen und genutzt, für die im weitesten Sinne einer oder mehrere der oben genannten Themenkom- plexe eine Rolle spielen. Nicht alle dieser kommentierenden NutzerInnen werden die 3D- Walkthroughs installiert und intensiv erkundet haben. Auch wird nicht in jedem Fall ein tiefgehender Reflexionsprozess über militärische Sperrzonen an sich oder, wie es Wachter nennt, „zweiter oder dritter Ordnung“ durchlaufen worden sein. Aber das Angebot an sich ist unter anderem darauf ausgelegt, genau solche Prozesse zu begünstigen. 141 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse Nach der Erarbeitung methodischer Grundlagen in Abschnitt 4.1. und der ausführlichen Beschreibung des Medienangebots von Zone*Interdite im vorhergehenden Abschnitt (4.2.) folgt nun Analyse und Interpretation entlang der Mikroanalyse medialer Disposi- tive und unter Einbezug der (Inter-)Diskurstheorie Jürgen Links. Ähnlich Bührmann/ Schneider orientiert sich diese an Leitfragen, die nicht auf die Elemente selbst, sondern auf die Verstrickungen und Verbindungen zwischen den Elementen, auf Diskurs- und Machteffekte, die sich durch die komplexe dispositive Anordnung ergeben – können. ‘Können’ steht hier aus mehreren Gründen. Zum einen beschreibt Foucault (2005b:256) Machtausübung als „ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln rich- ten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten han- delnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenz- fall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können.“ Zum anderen ist das vorliegende Datenmaterial über die öffentliche Struktur der Homep- age, ihre Sprach- und Bildinhalte und 3D-Walkthroughs begrenzt. Die Analyse kann sich also nur auf die medialen Strukturen, die Texte der Kün- stler und Gästebucheinträge der NutzerInnen, sowie auf die online verfügbaren Artikel der medialen Berichterstattung beziehen. Dadurch sind bspw. Informationen über die Subjektivierungsweisen einzelner NutzerInnen – es sei denn, sie schreiben darüber im Gästebuch – von der Analyse ausgeschlossen und müssen dadurch indirekt, im Sinne von Möglich- und Wahrscheinlichkeiten rekonstruiert werden. Insofern es sich hierbei jedoch um eine exemplarische und experimentelle Analyse handelt, die keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann (wie auch), werden diese Defizite in Kauf genommen. Ähnliches gilt für die der Dispositivanalyse inhärenten (Inter-)Diskursanalyse, die – stünde sie im Mittelpunkt der Analyse – nach allen Regeln der Kunst durchgespielt werden könnte. Ich werde mich darin stärker auf die zentralen Verstrickungen der rel- 142 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse evanten Diskursstränge beschränken und einige beispielhafte Diskursfragmente heran- ziehen, um in einer Grobanalyse zentrale symbolische und strukturelle Merkmale her- auszuarbeiten. 4.3.a. Das komplexe Medienangebot Zone*Interdite im medialen Dispositiv Nachdem das Medienangebot von Zone*Interdite im vorhergehenden Abschnitt bereits eingehend beschrieben wurde, gilt es nun, diese medialen Strukturen in Verbindung mit den weiteren Elementen des Dispositivs in und um Zone*Interdite zu setzen. Besonderen Stellenwert haben aufgrund der Beschaffenheit des komplexen Medienangebots die dis- kursiven Verstrickungen, die Praktiken sowie die Subjektkonstitution. (1) Zone*Interdite als Interdiskurs – der (Inter-)Diskurs in und über Zone*Interdite Diskursiver Kontext – Diskursereignisse auf Makroebene In einem Eintrag zur Entstehungsgeschichte (History of Origins) führen die Künstler zu Beginn an, dass 1999 in Berlin Studien für Zone*Interdite stattgefunden haben und sch- reiben dazu: „Einige deutsche Betrachter sind sehr erstaunt über Bilder der Amerika- nischen Stützpunkte. Die militärische Präsenz der Amerikaner in Deusch- land [sic!] scheint mit dem Ende des kalten Krieges und der deutschen Wiedervereinigung auch aus dem Blickfeld der Bevölkerung verschwun- den zu sein. Militärische Macht wird wenig thematisiert, Jugoslawien ist weit weg“ (Z*I).157 Damit wird das Projekt in Hinblick auf den diskursiven Kontext verortbar: Der (oder ein) Ausgangspunkt lag in Deutschland (Berlin), es wurden Abbildungen von (US-) Amerikanischen Militärstützpunkten produziert und von Anderen (‘Deutschen’) rezipi- 157 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/entstehungsgeschichte/ [Stand 04-08-2014]. Das Zitat ist nicht aus dem Kontext gerissen, sondern genau so auf der verlinkten Seite zu finden. Darüber steht die Überschrift: „Berlin, 1999 Studien für ZONE INTERDITE“ (ebd.; Herv. im Orig.), darunter die nächste Jahresangabe (2000). 143 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv ert. Die thematisierte Militärmacht ‘fremder’ Streitkräfte im eigenen Land schien un- gewöhnlich. Das letzte ‘große’ nationale Diskursereignis ist die deutsche Wiederver- einigung, die Berlin in einer Hauptrolle sah. Nachher wurden US-amerikanische Sol- daten in Deutschland nicht mehr wahrgenommen. Der (zeitlich wie räumlich) nächste bewaffnete Konflikt war der Balkankonflikt Anfang der 90er-Jahre. Es handelt sich beim Thema ‘(fremde) Militärmacht’ und (vorerst) ‘Deutschland’ um diskursiv ver- nachlässigtes ‘Terrain’. Sowohl die diskursive Anbindung an Ereignisse als auch die Beschränkung auf Deutschland änderten sich im Jahr 2001 schlagartig: „Die Ereignisse um 9-11 verlangen nach einer Neupositionierung, das Projekt gerät in eine Krise. In einem Augenblick des Schreckens schei- nen die Macht- und Ordnungsstrukturen obsolet. Bald aber leben die alten Muster wieder auf, stärker als je zuvor. Freund-Feind-Konstella- tionen dramatisieren die Reaktionen, und machen die Reflexion betref- fend der eigenständigen Wahrnehmung anhand der Restrictid Areas von ZONE*INTERDITE ungeahnt brisant“ (ebd.) 9-11, also die Anschläge auf das World Trade Center in New York, können als das seither größte diskursive Ereignis nach der Jahrtausendwende aufgefasst werden. In mehrfacher Hinsicht sorgt es für eine Verschiebung bisheriger Verhältnisse, „die Macht- und Ord- nungsstrukturen [scheinen] obsolet“: Die Angreifer werden als islamistisch-fundamen- talistische Terroristen beschrieben und operieren laut Darstellung nicht mit militärischer Macht, sondern durch Zivilisten, Schläfer, einzelne Zellen. Der ‘Angriff ’ erfolgt zudem erstmals in der Geschichte auf US-amerikanischem Festland, wird aber gleichzeitig ‘live’ im Fernsehen übertragen, von zahlreichen Anwesenden dokumentiert und somit prak- tisch synchron zum globalen Diskursereignis. In der Folge „leben die alten Muster wieder auf“: Freund-Feind-Schemata greifen zwischen Christentum und Islam, USA und Al- Kaida, dem ‘Bündnis der Anti-Terror-Mächte’ und der ‘Achse des Bösen’, US-Patriotis- mus und Antiamerikanismus etc. Es ist kaum möglich, eine neutrale Position zu beziehen – weder als Staat(-sregierung) noch als Individuum. Der ‘War on Terror’158 hat als Feind 158 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/War_on_Terror [Stand 22-04-2011]. Ich verweise in diesem und in ähnlichen Fällen auf Wikipedia, da dort aufgrund der hohen Brisanz der Themen sehr ausführliche Artikel zu finden sind, 144 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse allerdings keine Nation, sondern schwer lokalisierbare ‘Terroristen’. Durch diese Ereigni- skette wird Zone*Interdite plötzlich „ungeahnt brisant“. Da das Projekt eine starke Referenz auf reale (militärische) Orte aufweist, liegt die direkte Anbindung an den (Massen-)Mediendiskurs auf der Hand. Dem entsprechend hoch sind die Informationsdichte und das Interesse etwa in Bezug auf die Kriege in Irak und Afghanistan, über die ausführlich (wenn auch sehr selektiv)159 berichtet wurde. Im Zuge dessen wurden auch Militärgefängnisse und die jeweiligen Haftbedingungen zum Thema: so etwa in der Guantanamo Bay auf Kuba160 oder in Abu-Ghraib (Irak).161 Nicht zufällig wurden von den Künstlern gerade die Anlagen von GTMO (US-Territorium auf Kuba), der Bagram Airbase (Afghanistan) und Camp Bucca (Irak) als 3D-Walkthroughs ausgestaltet. Diese Wechselwirkung zwischen Zone*Interdite und der medialen Berichterstattung von militärischen Aktivitäten und ihren Folgewirkungen führen bis in die Gegenwart zu Änderungen und Aktualisierungen in der Datenbank. Es wurde bereits angeschnitten, dass zu Beginn des Libyen-Konflikts (seit Februar 2011)162 auf Zone*Interdite erhöhte Ak- tivität für die Datenbankeinträge für Libyen festgestellt werden konnte. welche sich zu großen Teilen auf etablierte Massenmedien (Print-, Online-, Audio-/Visuelle Medien) beziehen. Auch wenn Einzelheiten sicher fraglich sind, so werden in diesen Artikeln grundlegende Fragen beantwortet, wie etwa: Was ist mit ‘War on Terror’ gemeint und in welcher Periode kam es auf? Wo liegt Guantanamo Bay? Wann wurde das Gefängnis eingerichtet, wann öffentlich bekannt? Zudem lässt sich an den Artikeln, ihrer Länge und Zahl der Verweise durchaus ablesen, welch breites Interesse die Themen generieren. 159 Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass mediale Berichterstattung grundsätzlich auf Selektivität beruht, im Konfliktfall behalten sich Staaten und Armeen jedoch stärkere Einflussnahme vor. So betonen die Künstler in einem Blogeintrag, dass: „Medien […] als Machtfaktor längst in die Kriegsführung einbezogen“ werden. „Es herrscht eine zweite Front in Form eines Krieges der Bilder. Diesen Krieg der Bilder nutzen die Streitmächte sehr gezielt. Darstellungen von angeblichen chemischen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, die Präsentation einer sauberen Kriegsführung im zweiten Golfkrieg 1991, gezielte Reportagen – das ist die heutige Form einer Propagandaschlacht. Den Krieg der Bilder versucht man aber gleichzeitig einzuschränken: Embeded [sic!] Journalists bei den Amerikanern, Dämonisierung des Webs bei Arabischen Fundamentalisten, Zensur in China usw.“. Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/6.html [Stand 04-08-2014; Herv. V.D.]. Die kursiven Markierungen sollen neben dem Inhalt auf die metaphorische Übertragung der Kriegsmetapher auf den Umgang mit Medien- berichterstattung hinweisen. Dieses Symbol wird aus Platzgründen – auch später – nicht genauer analysiert. 160 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Guantanamo_Bay_detention_camp [Stand 04-08-2014]. Eine Übersicht der New York Times verzeichnet Zahl, Herkunft, Tod etc. von Inhaftierten: http://projects.nytimes.com/guantana- mo [Stand 04-08-2014]. 161 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Abu_Ghraib_torture_and_prisoner_abuse [Stand 22-04-2011]. 162 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/2011_Libyan_civil_war [Stand 04-08-2014]. 145 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Zone*Interdite als Diskursereignis auf Mikro-Ebene Mit einem weiter gefassten Begriff von ‘Diskursereignis’ lässt sich auch Zone*Interdite selbst als solches begreifen. Genauer: Kurz nach der Veröffentlichung der Homepage inklusive der ersten Walkthroughs erschienen in einigen Zeitungen und einschlägigen Weblogs in der Schweiz und auch in anderen Ländern Artikel und Radio-/ TV-Sendebe- iträge über das Projekt. Diese Periode intensiver Rezeption beschränkt sich auf die erste Hälfte des Jahres 2006. Einen Teil der Berichterstattung verlinken Wachter und Jud auf Zone*Interdite.163 Die Diskursposition von Zone*Interdite und Christoph Wachter/M athias Jud Im Laufe dieser Arbeit wurde Zone*Interdite vorwiegend als ‘Medienkunstprojekt’ be- zeichnet. Somit wäre das Medienangebot in erster Linie eine Artikulation und Objek- tivation innerhalb des künstlerischen Interdiskurses. Die Bezeichnung im Rahmen der Arbeit ist jedoch auf Meta-Informationen angewiesen. Inwiefern findet aber innerhalb der Online-Präsenz eine derartige Selbst- und Projekt-Verortung statt?164 Ein Impressum im gängigen Sinne findet sich auf der Seite nicht unter diesem Namen. Christoph Wachter und Matthias Jud kennzeichnen ihr Werk und sich als ihre Urheber auf unterschiedliche Weise. Relativ versteckt (unter Contact) schreiben sie, „ZONE*INTERDITE is an artproject by Christoph Wachter & Mathias Jud“ (Z*I).165 Wird im Erklärungstext ‘About Zone*Interdite’ noch die „artistic ambition of gaining our own picture of the world“ (Z*I; Herv. V.D.)166 als Start des Projekts benannt, ist ab dann nur mehr von Zone*Interdite als „Internet project“, „test arrangement“, „a combination of search engine and atlas“ und schlicht „project“ die Rede. Während damit die sprachlichen Antworten auf die Frage ‘What’s that?’ für englischsprachige NutzerInnen bereits enden, deutet ein Blogeintrag besonders auf das Selbstverständnis der Künstler als eben solche hin: In Landschaftsmalerei 167 stellen sie Zone*Interdite in die Tradition derselben, ziehen Par- allelen zwischen beiden und knüpfen durch einen kunsthistorischen Exkurs zu Darstel- 163 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/articles-on-zoneinterdite/ und http://www. zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/online-magazine-zu-zoneinterdite/ [beide Stand 04-08-2014]. 164 Die folgenden Zitate sind jeweils in der Originalsprache abgebildet. Im Zuge dieser Analyse werden also deutsch- wie auch englischsprachige Texte miteinbezogen. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass – wie bereits ange- merkt – nicht alle NutzerInnen verstehenden Zugriff auf alle Texte haben. 165 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/contact/ [Stand 04-08-2014]. 166 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. 167 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/3.html [Stand 04-08-2014]. 146 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse lungsperspektiven in der Geschichte der Malerei klar an einem künstlerischen Inter- und kunstgeschichtlichen Spezialdiskurs an. Relativ eindeutig ist Christoph Wachter auf seiner Profilseite als Künstler gekennzeichnet:168 in der Kurzbeschreibung seiner Personen scheinen die Kategorien Ausstellungen, Akademietätigkeit, Stipendien auf; zudem wird in wenigen Sätzen das bisherige Werk umrissen. Über Mathias Jud werden diese Daten nicht angeführt. Er ar- beitet laut Profil seit 2000 an Zone*Interdite.169 Von beiden sind Geburtsjahr, Geburtsland und Wohnort angegeben. Überdies setzen all diese schriftlichen Informationen voraus, die Seite zu öffnen, – weg von der Startseite (Weltkarte) das Forum anzuwählen und sich dort durch die ver- schiedenen Einträge zu klicken. Nachdem schon die Startseite durch direkte Links zu den Datenbankeinträgen und 3D-Walkthroughs verweist, ist dies nicht sehr naheliegend. Das heißt, die Künstler verschweigen zwar nicht, dass das Projekt als Medienkunstprojekt geführt und betrieben wird, legen aber auch keinen besonderen Stellenwert auf die Defini- tion der Plattform als ‘Kunstwerk’. Je nach Wissensstand und Lesart ist sie demnach so- wohl als solche als auch als politisches Statement, journalistischer Blog, etc. wahrnehmbar. Durch die Hintergrundinformationen aus dem Mailwechsel lässt sich sagen, dass die institutionelle Einbindung der Künstler im Rahmen dieses Projekts fragmentarisch und lose ist. Einerseits sind da Communities von ProgrammentwicklerInnen zu finden, welche indirekt an der Programmarchitektur mitgewirkt haben, andererseits durch Sti- pendien oder Projektaufenthalte unterstützende Kunstvereine und Fördergeber, sowie schließlich alle Institutionen, die die Anschlusskommunikation des Projekts in Ausstel- lungen und Vorträgen, in Artikeln und anderen öffentlichen Beiträgen ermöglichten. Die Diskursposition im Sinne einer ideologischen Haltung der Künstler zu beschreiben muss zumindest auf zwei Ebenen betrachtet werden. Auf der einen Ebene können die Themenschwerpunkte und die Spezifizität der Struktur und Absichten des Projekts als dur- chaus starke Positionierung gegenüber einer Haltung der militärischen Geheimhaltung und des Primats der ‘nationalen Sicherheit’ angesehen werden. Auf der anderen Ebene – der der konkreten Texte auf der Projektseite selbst – scheint diese Position kaum durch. In den Er- läuterungstexten finden sich Fragmente, die diese andeuten – und gleichzeitig relativieren: 168 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/contact/christoph-wachter/ [Stand 04-08-2014]. Ein Eintrag unter dem Titel Background verbindet (auf Deutsch) Informationen über Z*I mit weiteren Angaben zu Wachters bishe- rigem Werk: http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/hintergrund/ [Stand 04-08-2014]. 169 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/contact/mathias-jud/ [Stand 04-08-2014]. 147 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv „The power of the project lies in the disarming and lapidary view of a world of military power. Individual imagination and the joy of disco- vering occurs, i.e. spotting, replacing the patriotic and pacifistic duty of a knee-jerk avowal, and undermining censorship, as well as the restriction of perception“ (Z*I).170 Die Macht des Projekts liege also gerade im „entwaffnenden und lapidaren Blick auf eine Welt militärischer Macht“. Das „entwaffnend“ lässt sich mehrdeutig verstehen, denn auf der Datenbank sind keine gefährlichen Waffen zu finden, in den Walkthroughs gar keine. Zugleich werde aber auch der eigene, vorbelastete Blick entwaffnet, indem die Struktur von Zone*Interdite ermöglicht, „patriotische und pazifistische reflexartige Bekenntnisse zu ersetzen“. Hier wenden sie sich also gegen voreingenommene Positionen sowohl pro als auch contra Militärmacht und ziehen sich auf eine ästhetische Diskursposition für die Wahrnehmung zurück. Subversive Wirkungsweisen gegen selbst- und von außen aufer- legte Zensur scheinen ihnen ein Anliegen zu sein: „Diese abgegrenzten Gebiete zu betreten ist verboten. Weiter besteht ein Verbot, diese Gebiete bildlich festzuhalten. [...] Diese militärischen Gebie- te sind trotz der Verbote wahrnehmbar und tauchen auch in allen mögli- chen militärischen, staatlichen und zivilen Darstellungen auf. Das Verbot zielt also darauf, dass wir für diese ‘Restricted Areas’ keine Zeichen und keine Sprache haben. Prekär ist deshalb nicht die Darstellung, sondern die Wahrnehmung. In dieser Wahrnehmung findet die eigentliche Überschrei- tung von ZONE*INTERDITE statt“ (Z*I).171 Wachter und Jud verorten sich in dieser Praxis der Überschreitung gewissermaßen als Sammler von ‘Bits and Pieces’, die eigentlich alle sammeln könnten, um daraus ein nie- mals vollständiges Mosaik, Zone*Interdite, zusammenzusetzen. Sie sagen nicht, ob das sich konstituierende Gesamtbild gut oder schlecht, schön oder hässlich ist, sondern dass es da und wahrnehmbar ist und wahrgenommen werden kann und darf, ist ihre so zentrale wie 170 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. 171 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/2.html [Stand 04-08-2014]. 148 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse neutrale Position.172 In dieser vereinfachten Darstellung bleibt die Tatsache unterbelich- tet, dass die von ihnen gewählten Darstellungsformen (Datenbank in Schrift und Bild; 3D-Rundgänge) in diesem Wahrnehmungsspiel eine bedeutende Rolle spielen. Was sie durch ihr Medienangebot schaffen, ist eine Anordnung (ein Dispositiv), mit dem sie (als disponierende Subjekte) die NutzerInnen (als disponierte Subjekte) zu dieser Überschreitung verführen wollen. Vielleicht sogar ‘müssen’, denn mit der Darstellung ist das von ihnen formulierte Ziel keineswegs erreicht. Zone*Interdite als Interdiskurs(-Plattform) und ihre Themen Die Online-Plattform kann in ihrer Gesamtheit als Hypertext (als Geflecht von untere- inander und extern verlinkten Texten) im Sinne eines interdiskursiven Textbeitrags der Künstler verstanden werden. Gleichzeitig bietet es NutzerInnen Strukturen, Textbeiträge und Verweise auf Textbeiträge (jeweils in Bild- und Schriftform) zu hinterlassen. In- sofern kann Zone*Interdite als Plattform elementar- und interdiskursiver Praxis (innerhalb des medialen Dispositivs) bezeichnet werden. Diese zeichnet sich durch ein Minimum von expliziter Regulierung aus. Weder finden sich Regeln für Einträge im Gästebuch, noch wurden Einträge (offensichtlich) zensuriert. Für einen Kommentar müssen keine Pflichtangaben (Name, E-Mail-Adresse, etc.) gemacht werden. Die Geregeltheit ergibt sich in erster Linie durch die Programmarchitektur, die gewisse Handlungsoptionen er- laubt, andere nicht. Die Texte, die Wachter und Jud bereit stellen, sind sehr vielfältig und verschränken sich mit unterschiedlichen Teildiskursen, sind aber an klaren Hauptthemen ausgerichtet. Diese lassen sich an der Startseite (also der Weltkarte)173 ablesen und können in etwa mit den beiden großen Blöcken Militärmacht (sämtliche Einträge beziehen sich darauf: Zonen, 172 Wachter (2011) schreibt in seiner Mail: „Es gibt keine ausschliesslich bedeutende Information, es gibt aber auch keine falsche Information. Die Bilder sind betrachtbar, und diese Betrachtung ist wie ein Puzzle-Spiel, aus der sich ein immer dichteres, grösseres oder genaueres Bild ergibt.“ 173 Diese positioniert, wie üblich, Europa in der Mitte der Karte. Diese – vermutlich unbeabsichtigte – Diskursposi- tion wird von den Künstlern nicht weiter berücksichtigt. Im ersten Überblick erscheint gerade Europa völlig grün (als grüne Punkte sind militärische Sperrgebiete markiert). Die eingezeichneten Grenzen in der Karte stimmen nicht in allen Fällen mit dem aktuellen Stand überein, so ist etwa die Republik Kosovo (noch?) nicht als eigenstän- diger Staat eingezeichnet. Die Unabhängigkeit wurde allerdings 2008 proklamiert – die Unstimmigkeit kann also an der Aktualität der Staatsgründung liegen. Vgl. dazu. http://de.wikipedia.org/wiki/Kosovo [Stand 04-08-2014]. Abgesehen davon zeigt sich die geografische Anordnung sehr neutral, in eher satten, dunklen Blau- und Grautö- nen, während die Markierungen in grellen Farben (grün, rot, gelb) ‘aus dem Bild springen’. 149 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Flüge, Gefangene)174 und (Un-)Sichtbarkeit/ Wahrnehmung(-sverbot) umrissen werden, denn sämtlichen Einträgen wird ihre ‘Unsichtbarkeit’ entzogen. Werden diese vor dem Hin- tergrund des skizzierten diskursiven Kontexts betrachtet, lassen sich einige Unterthemen listen: Einerseits sind hier ‘(ehemalige und aktuelle) militärische Sperrzonen’, ‘(extra-legale) Militärgefängnisse’, ihr ‘Darstellungsverbot’ und der ‘Darstellungsdrang (von SoldatIn- nen etc.)’ zu nennen. Damit ist eher die Objektseite umrissen, die Fragen ‘Was wird gezeigt? Wie ist das? Andererseits – und hier bewegen sich die Künstler thematisch eher auf Subjektseite – thematisieren sie innerhalb des Hauptthemas ‘(subjektiver) Wahrne- hmung’ Unterthemen wie ‘selektive und reflexive Wahrnehmung’, den Zusammenhang von ‘Wahrnehmung und Wirklichkeit/I magination’ sowie ‘Wahrnehmung und Subjek- tivierung’ (wer werde ich, wenn ich aus dieser Perspektive so wahrnehme?).175 Im Text über das Projekt schreiben die Künstler „When observing military restricted areas, our attention got blurred. […] “Zone*Interdite” reconstructs the terrain which our reflection has been deprived of“ (Z*I).176 Durch ihre mediale Anordnung wollen sie entzogene Handlungsmacht, die überlicherweise in militärischen Sperrzonen den (nationalen) Mil- itärs obliegt, an die einzelnen NutzerInnen ‘zurückgeben’: „These virtual tours enable expeditions to take place on a terrain where sovereignty no longer belongs to the national state but to each human being. Therefore, ‘Dispositif of Power’ (power relations) can be detected right to the base of our self-imagination. By experiencing that self-censorship and 174 Zudem kann das Symbol von Zone*Interdite, ein Stern im Kreis, durchaus als gängiges Zeichen von Streitkräften gele- sen werden. Nicht nur die Sowjetische Rote Armee verwendete, sondern auch die US Army als zwei prominente Bei- spiele verwendet einen Stern als Symbol. Vgl. unter http://www.google.it/search?um=1&hl=en&client=firefox- a&rls=org.mozilla%3Ade%3Aofficial&biw=868&bih=645&site=search&tbm=isch&sa=1&q=symbol+army+s tar&aq=f&aqi=&aql=&oq= [Stand 04-08-2014]. Zudem gleicht die Schrift (zumindest auf zwei PR-Grafiken) der Schriftart ‘Stencil’, welche ebenfalls für die Verwendung in militärischen Kontexten (wie auch mittlerweile von StreetArt) bekannt ist: http://www.zone-interdite.net/download/images/Wachter-Jud_Zone-Interdite_World. jpg [Stand 04-08-2014]. 175 Obwohl die Künstler in der Projektbeschreibung auf diese subjektorientierten Themenblöcke hinweisen, liegen sie dem Projekt eher implizit zugrunde. Denn die ‘Objekte’ (Militäranlagen) sind wesentlich offensichtlicher und erst der – im wahrsten Sinne – reflektierte Blick, der von den ‘Objekten’ widergespiegelt wird und sich auf sich selbst richtet, erkennt den Subjekt-Pol als zentrales Anliegen des Projekts. Das gilt zumindest für diejenigen, die die schriftlichen Texte nicht lesen oder nicht lesen können. 176 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. 150 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse heteronomy interfere with our own perception, we gain the possibility to realize what freedom and self-determination could be“ (ebd.; Herv. V.D.) Indem sie selbst bereits von „Dispositif of Power“ schreiben, bedienen sie sich spezi- aldiskursiven Vokabulars der Soziologie oder Geschichtswissenschaft. Sie konstruieren eine Opposition von Selbstzensur und Fremdbestimmung einerseits und Freiheit und Selbstbestimmung andererseits. Eine Vorstellung vom zweiten, positiven Pol stellen sie anhand der Erfahrung der virtuellen Rundgänge in Aussicht. Als Schaltstelle zwischen den Polen setzen sie die je subjektive Wahrnehmung und deren Bedingtheit durch selbst- und fremdgesetzte Grenzen. Die Bedeutung der theoretischen und konzeptionellen Begleittexte von Zone*Interdite muss jedoch relativiert werden. Erstens sind diese nur zu einem geringen Teil in eng- lischer Sprache verfasst (der Großteil ist auf Deutsch und nicht übersetzt), zweitens ist es aufgrund der nötigen ‘Klickzahl’ naheliegender, direkt auf die Datenbank und die Walkthroughs zuzugreifen, also die Plattform direkt zu nutzen und drittens erfordert das ‘Lesen’ über die Homepage, das Projekt oder Kunstwerk bereits eine bestimmte Haltung, die hinter dem praktischen Nutzen des Medienangebots Theorie und Konzept annimmt, es also a priori als Kunstwerk anerkennt und – nach dem Muster von Ausstellungen oder Galerien – die Erklärung zum Kunstwerk als (zum Verständnis teils notwendigen) Teil desselben begreift und daher gezielt aufsucht.177 Dies gilt nicht für eine Auffassung als Datenbank, „combination of search engine and atlas“ (ebd.) oder virtuelle 3D-Durch- gänge, deren Sinnhaftigkeit und Nutzung aus dem Alltag bekannt sein können und nicht zwingend weiterer Erläuterungen bedarf. Ein weiterer Aspekt des ‘Interdiskurses’ Zone*Interdite sind die externen Links, die allgemein ein zentrales Merkmal von Homepages speziell aber dieses Projekts bilden. Denn die Bezeichnung als Kombination von Suchmaschine und Atlas nimmt vor al- lem die Funktionsweise der Datenbankeinträge in den Blick, welche sich ausschließlich 177 Das ist natürlich nicht die einzige Möglichkeit, Kunst in Ausstellungsräumen zu rezipieren. Neben Führungen sind auch vagabundierende, intuitive Rezeption etc. denkbar. In Bezug auf Konzeptkunst bspw. spielt jedoch das ‘Konzept’ eine tragende Rolle und liefert oft den ‘Schlüssel’ zum Verständnis. Auch wenn Zone*Interdite nicht als solche zu verstehen ist (und die Künstler das Projekt eher in Tradition der Landschaftsmalerei stellen), kann der Subjekt-Pol durch diese Herangehensweise (des Lesens und nicht nur Erleben Wollens) leichter aufgeschlüsselt und somit transparent werden. Diese Meinung ist jedoch stark durch meine eigene Rezeptionshaltung (mit-) geprägt. 151 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv aus öffentlich zugänglichen Informationen speisen. Die jeweiligen Links führen zu Suchergebnissen, zu bestimmten offiziellen oder privaten Seiten, auf denen wiederum Daten zur jeweiligen Sperrzone zu finden sind. Dadurch wird der Hypertext der Seite eng an das informationelle Inter-Netz angebunden – an institutionelle Seiten (bspw. die Homepage des Österr. Bundesheers) wie auch an elementardiskursive Seiten von dienen- den oder ehemaligen SoldatInnen, die ihren Dienstalltag abbilden. Inwiefern der Quelltext der Programme und der Homepage als informations-tech- nologischer Spezialdiskurs zu werten ist, geht aus Links Texten nicht hervor. Ausgehend von seiner Definition für Spezialdiskurse scheint die Einordnung als solche jedoch recht eindeutig, denn deren Logik zielt demnach unter anderem „tendenziell auf Eindeutigkeit, [...] möglichst Beseitigung aller Uneindeutigkeiten und Konnotationen mit dem Ideal- typ der mathematischen Formel“ (2007, S.228). Indem dieser Quelltext für NutzerInnen zwar nicht direkt einsehbar, sondern nur über die Programmanwendung und die Darstel- lung der Homepage als Endprodukt zugänglich wird, kann auch diese Gesamtheit als interdiskursives Element des Medienangebots bezeichnet werden: Das Interface bildet die Schnittstelle zum Elementardiskurs bzw. zur Elementarkultur des Internet und von Videospielen. Kollektivsymbole in Zone*Interdite: Überschreitung und die Zentralperspektive Insgesamt halten sich die Künstler mit der Verwendung von (sprachlichen) Kollektivsymbolen sehr zurück. Sie machen denkbar wenige Konzessionen in der sinn-bildhaften Übertragung von ihren elaborierten Interdiskursen und halten die sprachlichen Ausführungen (insbe- sondere in den englischsprachigen Einträgen) überwiegend neutral. Ausgenommen sind hier die Übersetzung des spezialdiskursiven Quellcodes in das Seitenlayout der Homepage und die Programmstruktur der Rundgänge. Der Aufbau beider Strukturen kann durchaus als elementare Form178 gedacht werden (wenngleich Links Bezeichnung der elementar-lit- erarischen Formen hier unpassend erscheint), indem die ‘Narration’ (im rudimentären Sinne eines sequenziellen Ablaufs) durch Maus und Tastatur gesteuert werden kann. Sowohl auf sprachlicher wie auch auf bildlicher Ebene lässt sich zumindest ein Struk- 178 Natürlich gilt auch dies nur eingeschränkt, nämlich für Personen, die mit PC-Anwendungen und Internetnut- zung ausreichend vertraut sind. Noch eingeschränkter ist vermutlich die zentralperspektivische Ansicht in den 3D-Rundgängen als elementar zu verstehen. Je nach Kenntnis von Videospielen oder ähnlich aufgebauten Simu- lationen kann diese höchst vertraut oder völlig fremd wirken. Im Gegensatz zu Programmiersprachen ist diese Bildsprache jedoch wesentlich schneller zu erlernen und zu verstehen. 152 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse turelement hervorheben, das gewissermaßen auf kollektivsymbolischer Ebene funktioni- ert. Allerdings mit zwei Einschränkungen: Erstens nutzen die Künstler diese Symbole nicht, um damit persuasiv eine diskursive Position zu behaupten, sondern – so die These – ziehen sich auf einen dritten Ort außerhalb der Dichotomie von pro und contra- zurück. Und zweitens ist der Text, auf den sich das sprachliche Symbol, die Überschreitung, primär bezieht, ausschließlich auf Deutsch zu lesen. Allerdings erweist sich dieser viel- leicht als Schlüssel, das bildhafte Kollektivsymbol zu deuten: die Zentralperspektive. Die beiden ‘Symbole’ scheinen eng miteinander verknüpft, wie sich im Folgenden zeigen soll. Das Bild der Überschreitung wird bereits am Widerspruch zwischen dem Titel des Projekts, Verbotene Zone, und seiner Eigenschaft als Mittel, genau dieses Verbot zu über- schreiten, geöffnet. Denn das Medienangebot stellt Wege bereit, diese scheinbar verbote- nen Zonen legal zu inspizieren, zu betreten, sie sogar zu fotografieren. Es stellt sich also die Frage, ob die Grenze, die dabei überschritten wird, überhaupt existiert und wenn ja, wo. Ist es nur die Grenze der Selbstzensur der Einzelnen oder eine von außen aufgez- wungene? Oder doch beides? Die Künstler schreiben in einem eigenen Blog-Eintrag zur Überschreitung, „wir [unterstehen] einer Situation, die wir zwar für unser Selbst halten, die aber nicht unserer eigenen Urheberschaft unterliegt, sondern von außen verordnet ist. Die Grenzen des Selbst werden mit ZONE*INTERDITE evident“ (Z*I).179 Gleichzeitig bietet das Medienangebot (speziell mit der Weltkarte als Ankerpunkt der Datenbank)180 „[a] military overview that overrides nation states and power blocks“ (Z*I).181 Auch diese Grenzen werden also partiell überschritten und ausgeblendet.182 179 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/2.html [Stand 04-08-2014]. 180 Die Datenbank als solche könnte ebenfalls als elementar-literarische Form genannt werden. Allerdings ist die Bezeichnung ‘Datenbank’ etwas irreführend. Insofern viele Einträge entlang bestimmter Kategorien abgespei- chert und zugänglich sind, trifft sie zwar zu, die Daten können jedoch nur sehr bedingt quantitativ ausgewertet und somit in scheinbar verallgemeinerbare Aussagen, Tabellen und Diagramme übertragen werden. Die Such- maschine lässt sich dafür z.T. einsetzen, dient jedoch eher der Suche einzelner Einträge. Die ‘Datenbank’ zielt in ihrer Struktur also tendenziell nicht auf in Zahlen erfassbare Auswertungsergebnisse, sondern auf Lokalisierung einzelner, spezifischer Suchanfragen. 181 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. 182 Trotzdem sind nationale Grenzen – wie bereits angemerkt – auf der Weltkarte verzeichnet, während sämtliche Einträge (Orte, Flüge, Menschen) unabhängig von Standort und Herkunft in der selben Farbe angezeigt werden. 153 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Die Überschreitung symbolisiert konnotativ durch ihr hoheitsvolles ‘Schreiten’ und dem machtvollen ‘sich über etwas183 hinweg setzen’ einen öffentlichen Akt. Auf der anderen Seite (in der vertikalen Achse gedacht, also: ‘unten’) dient die mediale Anordnung aber auch dem subversiven „undermining censorship, as well as the restriction of perception“ (ebd.). Daher rührt die neutrale Form der Darstellung, denn „Strategien der Präsenta- tion untergraben die Geheimhaltung“ (Z*I; Herv. im Orig.),184 ohne allerdings den le- galen Rahmen zu überschreiten. Die Überschreitung des ‘Bilderverbotes’ ist diesen Strat- egien bereits vorgelagert.185 Die Grenzen der restriktiven Wahrnehmung dieser Darstel- lungen werden hingegegen durch Zone*Interdite sicht- und überschreitbar. Insofern stellt das Medienangebot in erster Linie ein Angebot zur Überschreitung und Bearbeitung subjektiver Grenzziehungen bereit, wodurch „eine Selbstvorstellung und die Befangen- heit in dieser Vorstellung aufbricht“ (Z*I).186 Nun findet sich diese Symbolik in der grafischen Darstellung der 3D-Rundgänge wie- der, indem perspektivisch die Grenzen der Zweidimensionalität ‘überschritten’ werden. Die Walkthroughs sind in Zentralperspektive konstruiert, sodass die Bewegung in der Tiefe des Raums simuliert werden kann. Die Künstler selbst umreißen aus ihrer Sicht die kulturelle Bedeutung dieser Perspektive in seiner Geschichte und für ihr eigenes Projekt folgendermaßen: „In der Renaissance werden die verjüngenden Linien und Fluchtpunkte systematisch analysiert und bilden fortan die Grundlage jeder räumlichen Darstellung. Eine perspektivische Wahrnehmung gilt auch als Vorausset- zung für Entdeckungen und Eroberungen der Welt [...]. Denn erst muss- te das Verständnis gedeihen, dass [...] in der Tiefe des Raumes nicht das Ende, sondern neue Horizonte folgen. Die territoriale Besitznahme ent- springt dem räumlichen Verständnis. […] Den Horizont zu weiten und Perspektiven zu öffnen ist folglich die Arbeit an unserem konkreten Um- 183 Ohne dieses ‘Etwas’ – eine Grenze, Barriere oder ein Hindernis – ist die Überschreitung nicht möglich. Somit müssen diese Grenzen (des Selbst, der Selbst- und Fremdbestimmung, der Wahrnehmung der Funktionsweisen von Machtausübung etc.) erst „evident“ werden. 184 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/6.html [Stand 04-08-2014]. 185 Die Künstler zählen drei Faktoren der Enttarnung militärischer Geheimhaltung auf: „Satellitenaufnahmen, […] Kommunikationsbedürfnisse […] Globale Kommunikationskanäle“. Vgl. http://www.zone-interdite.net/fo- rum/articles/6.html [Stand 04-08-2014]. 186 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/6.html [Stand 04-08-2014]. 154 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse feld. […] Für ZONE*INTERDITE steht nicht die Gestaltung virtueller Räume oder die Kreation neuer Bildräume im Mittelpunkt. Vielmehr ver- folgt ZONE*INTERDITE ein konsequentes Ausloten unseres Lebens- raums“ (Z*I).187 Die Perspektive sorgt für eine elementar verständliche Darstellungs- und Erzählform, welche folgende Annahmen – ohne sie explizit zu machen – konstituiert und selbst- verständlich erscheinen lässt:188 Der Raum auf dem Bildschirm ist dreidimensional. Ich bewege mich darin, soweit es die architektonischen Anlagen erlauben. Der Sichthorizont kann damit beständig verändert bzw. erweitert werden. Erst unter diesen Grundannah- men kann ich innerhalb des erkundbaren Areals die „territoriale Besitznahme“ vollziehen und weite (oder: überschreite) meinen bisherigen Horizont. Der strukturelle Rahmen des Programms gibt hierbei kein Ziel vor, es gibt keinen Ort, der erreicht, keine Aufgabe, die bewältigt werden muss. Die Zielsetzung obliegt den NutzerInnen, alle Türen stehen ihnen offen, alle Schwellen können überschritten werden. Gleichzeitig beschränkt sich die perspektivische Wahrnehmung auf den bildlichen Rahmen des Programmfensters. Damit wird mit den oben getroffenen Annahmen ge- brochen und eine zweite Serie von impliziten Feststellungen nahegelegt: Es ist nur eine Programmanwendung. Wahrnehmung, Raum(-tiefe) und meine (verbotenen) Handlun- gen konstituieren sich in erster Linie in meiner Vorstellung. Die Effekte meiner Han- dlungen betreffen demnach in erster Linie mich selbst. Durch die Perspektive werden NutzerInnen an die Stelle der fiktiven ‹Kamera› gerückt und somit in die mediale Anord- nung eingebunden. Die Überschreitung der Bildgrenze, das Eintauchen in das Bild, lässt den imaginären Blick ‹aus dem Bild› zu, welcher – gleich einem Spiegel – sich selbst zeigt. Dies wird für gewöhnlich in immersiven Anordnungen ausgeblendet. Für das Funktion- ieren von Zone*Interdite spielt es eine zentrale Rolle. (2) Objektivationen/Vergegenständlichungen/Sichtbarkeiten Zone*Interdite selbst kann zwar unter Makroperspektive als Objektivation aufgefasst werden. In diesem Abschnitt geht es aber eher um die Frage, welche Sichtbarkeiten in- 187 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/articles/3.html [Stand 04-08-2014]. 188 Wobei angemerkt werden muss, dass perspektivische Darstellung in dieser Form stark kulturell bedingt ist und nicht überall gleichermaßen als ‘normal’ empfunden wird. 155 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv nerhalb des medialen Rahmens von Zone*Interdite geschaffen werden. Die Seite selbst bietet diesbezüglich ein bestimmtes Set von programmierten Optionen (Kommentare, Datenbankeinträge bearbeiten, ‘Fotografien’ in Rundgängen). Darüber hinaus können natürlich weitere Vergegenständlichungen entstehen, die nicht direkt durch die Struk- tur des Medienangebots vorgegeben werden (Zeitungsartikel oder Diplomarbeiten über Z*I, ähnliche Plattformen, etc.). Diese sollen hier zwar, wie eben geschehen, angeführt, jedoch nicht genauer ausgeführt werden. Zone*Interdite lebt in erster Linie durch die Nutzung und spricht an vielen Stellen Be- sucherInnen als aktive NutzerInnen oder Mit-GestalterInnen an. Diese Aktivität besteht zum einen in der ‘Performanz’ selbst, also darin, die Angebote der Seite lesend und durch- bzw. überschreitend wahrzunehmen. Gleichzeitig können und sollen diese Prak- tiken jedoch in verschiedenen Formen Spuren hinterlassen: Zum einen sind die NutzerI- nnen eingeladen, sich selbst an der Ergänzung und Bearbeitung der Datenbankeinträge zu beteiligen. ‘Edit’-Funktionen sind in (fast) alle Einträge integriert, wodurch die Ein- träge nach Vorlage der Wiki-Sprachen überarbeitet werden können. An keiner Stelle stehen Regeln, mögliche Zensur der Künstler oder eine Funktion zur Meldung von Missbrauch. Die Einzelnen haben also Handlungsfreiheit, sich am Projekt zu beteiligen und werden als MitgestalterInnen ernst genommen. Dass diese Verfügungsfreiheit eines zweiten Blicks bedarf zeigen die beiden Einträge von ‘Cyrill’ (bzw. ‘C’) am 04. April 2008, der erst schreibt, dass eine Angabe inkorrekt ist. Zwei Minuten später schreibt er „ok, i’ve changed it.. ;)“ (Z*I).189 Viele schicken Korrekturen und Anmerkungen als Kommentar190 oder vermerken zumindest zusätzlich in einem Kommentar ihre Änderung.191 Auch zahlreiche von einzelnen Datenbankeinträgen unabhängige Kommentare fin- den sich im Gästebuch. Sie unterscheiden sich sehr stark in Länge und Inhalt, besch- reiben eigene Erlebnisse, nutzen oder beziehen sich auf Zone*Interdite als Kunstwerk, Datenbank, Kommunikations- oder Werbeplattform, Jobbörse etc. Diese Varianz der (symbolischen) Objektivationen wird erst durch die neutrale Diskursposition der Kün- stler wie auch der Plattform selbst ermöglicht. Das Gästebuch ermöglicht keine direkten Antworten auf Kommentare, auch gibt es keine Funktion, Sympathien oder Antipathien 189 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=25 [Stand 24-04-2011]. 190 Vgl. z.B. den Eintrag von ‘nuttenpeter’ vom 26. August 2008 auf http://www.zone-interdite.net/forum/ discussion/?zico_page=22 [Stand 24-04-2011]. 191 Vgl. den Eintrag von ‘Mappy’ am 25. Februar 2009: http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_ page=19 [Stand 24-04-2011]. 156 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse per ‘like/ dislike’-Funktion auszudrücken. Die Sichtbarkeiten bleiben in erster Instanz für sich stehen und werden nur in wenigen Fällen von anderen NutzerInnen oder den Kün- stlern beantwortet. Es handelt sich somit um einen (relativ) neutralen Raum unbestim- mter und (zumindest nicht offensichtlich) zensierter Öffentlichkeit. Die Einträge richten sich nur zum Teil an die Künstler selbst, zumeist aber an alle potenziellen NutzerInnen. Ein interessanter Aspekt ist die Sammelfunktion des Gästebuchs. Da dort alle Einträge aufscheinen, die entweder direkt dort oder auf irgendeinem anderen Daten- bankeintrag hinterlassen werden, ergibt sich eine willkürliche Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Postings. Dadurch werden (aus Sicht des Gästebuchs) direkte Antworten eher getrennt und Einträge, die zusätzlich im Gästebuch aufscheinen, sind doppelt vorhanden. Das ist nicht von vornherein klar und wird erst deutlich, wenn ent- weder nach dem Schreiben eines Eintrags das Gästebuch aufgesucht wird – oder einer der hinzugefügten Links in den Betreffzeilen der Einträge angeklickt wird. Diese führen zum ursprünglichen Eintragsort. Ähnlich – nur flüchtiger – verhält es sich mit der Chat-Funktion in den Rundgängen. Die Äußerungen scheinen so lange im Chat-Fenster auf, bis einige (ca. 1-5) neue Nachrichten geschrieben wurden. Dann kann auf die Vorgeschichte nicht mehr zugegriffen werden. Im Gegensatz dazu ist der ‘simulierte Fotoapparat’, mit Hilfe dessen per Klick Screenshots der Rundgänge erstellt werden können (sollten), für private Nutzung gedacht. Die Screenshots sind für andere NutzerInnen nicht einsehbar und können auf dem je eigenen Rechner ab- gespeichert werden. Ex negativo könnten diese Abbildungen als ‘materiale Objektivationen’ verstanden werden, indem sie nicht direkt symbolisch sind und in Form von Speicherplatz auf einer Festplatte materialisiert werden. Gleichzeitig können sie Schriftelemente enthalten (z.B. ‘Camp Delta’) und hätten somit zugleich symbolischen Charakter, der aber einer Zel- lentür, einer Nationalflagge oder Stacheldraht ebenfalls zugeschrieben werden kann. (3) Praktiken in Zone*Interdite Die Praktiken im Medienangebot von Zone*Interdite umfassen per definitionem diskur- sive und nicht-diskursive wie auch sprachliche und nicht-sprachliche Tätigkeiten. Die Trennschärfe zwischen diesen Benennungen ist nicht restlos gegeben, daher wird die Kategorisierung der Praktiken diesbezüglich keine tragende Rolle spielen. Die grundlegende Tätigkeit im Umgang mit Websites und 3D-Rundgängen, so auch in Zone*Interdite, besteht in der Bedienung von Maus und Tastatur. Die Bewegung des 157 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Mauszeigers über die Bildschirmoberfläche sowie des ‘Kamera-Standorts’ in den Rund- gängen bestimmt über die jeweilige Verortung. Auch wenn diese für andere NutzerIn- nen nicht manifest wird, handelt es sich dabei um aktive Nutzung des Medienangebots. Das selbe gilt für Download und Installation eines Walkthroughs, um diesen überhaupt ausführen zu können. Programm- und Seitenaufbau, Erklärungen und Links weisen den Weg, der auf diese Weise beschritten werden muss. Da die insgesamt begehbaren Wege in beiden Fällen durch die jeweilige Struktur vorgegeben sind, besteht ein integraler Teil der praktischen Nutzung darin, die Vorgaben zu ‘lesen’ (im wörtlichen und übertragenen Sinne). Diese Formen primärer Nutzung sind sehr stark durch die Struktur determiniert, auch wenn die topologische, technologische und sequenzielle Anordnung im Vergleich zum kinematografischen Apparatus von Baudry wesentlich variabler gestaltet ist. Die Rezeption (und Co-Produktion) ist erstens mit jedem ausreichend leistungsfähigen ans Internet angebundenen Rechner möglich, die räumliche und soziale Situation relativ frei gestaltbar. Zweitens zeichnen sich die Homepage und die Rundgänge im Gegensatz zu einem Kinofilm durch minimale narrative Vorgaben aus. NutzerInnen sind ‘gezwungen’192 eigenen Vorstellungen, Vorgaben und Interessen zu folgen – das Wahrnehmungsangebot durch eigene Erfahrungen und Assoziationen anzureichern und dem entsprechend zu strukturieren. Diese reflektierende Praktik kann also durchaus zu den primären Nutzungs- formen des Medienangebots gezählt werden, da diese durch die Nicht-Vorgabe produziert wird. Analog zu einem erweiterten Verständnis des ‘Lesens’ kann hier von einer erweit- erten Praktik des ‘Schreibens’ gesprochen werden: sowohl in Einträgen als auch in der je subjektiven Strukturierungsformen wird Zone*Interdite unterschiedlich ‘geschrieben’. Als sekundäre Nutzungsformen könnten solche bezeichnet werden, die außerhalb des konkreten Medienangebots stattfinden. Damit können Anschlusskommunikation in Form von Artikeln, Gesprächen oder Forschungsprojekten genauso gemeint sein, wie auch die gestalterische Bearbeitung von Screenshots aus einem Rundgang.193 Während einige dieser Formen (wie die vorliegende Arbeit) manifest und zugänglich sind, werden 192 NutzerInnen sind natürlich nicht ‘gezwungen’, Zone*Interdite zu nutzen. Daher muss die Formulierung einge- schränkt verstanden werden, indem die Entscheidung Z*I zu besuchen und sich darauf einzulassen diesem ‘Zwang’ vorausgehen muss. 193 Wie wenig repräsentativ die ‘Diskussionen’ im Gästebuch für die gesamte Anschlusskommunikation sind, ver- deutlicht sich an einem Statement Wachters. Demnach „sind die Diskussionen nicht zentral auffindbar, son- dern verteilen sich überall hin auf Kunstforen, Kataloge, Arbeiten oder verschiedenste Diskussionsplattformen“ (2011). 158 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse andere nicht öffentlich. Um sich keinen Spekulationen hinzugeben, wird hierauf nicht näher eingegangen.194 Es wird in Bezug auf (primäre) Praktiken deutlich, wie stark diese durch das mediale Dispositiv von Zone*Interdite prästrukturiert sind, obwohl es sehr offen konzipiert wurde. Der Großteil der Ausführungen ist implizit bereits in der Beschreibung des Medienange- bots enthalten. Ob das Projekt als kritisches Statement zur globalen Militärmacht oder als dankbare Dokumentation der eigenen Zeit des Armeedienstes aufgefasst wird: auf dieser Ebene spielt das (fast) keine Rolle. (4) Subjektivation und Subjektivierung „Bei ZONE*INTERDITE wird der Betrachter zum Spion, wenn er sich interessiert: er verstößt gegen ein Wahrnehmungsverbot. Oder der Be- trachter wird zum Verräter an einem Selbst, wenn er behauptet, ‘Das in- teressiert mich nicht’, denn so macht er sich zu einem Vollstrecker für ein Wahrnehmungsverbot, das er sich nicht selbst auferlegt hat und dessen Autor er nicht ist“ (Z*I)195 Mit dieser Aussage subjektivieren die Künstler alle, die eine Entscheidung für oder ge- gen die Nutzung von Zone*Interdite fällen. Die einen, NutzerInnen, bezeichnen sie als „Spion“, die anderen, bewusste Nicht-NutzerInnen, als „Verräter an einem Selbst“. Trennlinie ist die Nutzung selbst, von der angenommen wird, dass sie alleine bereits ge- gen das subjektkonstitutive Wahrnehmungsverbot verstoßen lässt. Damit ist bereits die zentrale Intention der Künstler formuliert: Man soll sich für oder gegen den Bruch des gefühlten Wahrnehmungsverbots entscheiden – und durch die Entscheidung die Trenn- linie zwischen Wahrnehmung und Verweigerung wahrnehmen müssen. Erst nach Über- 194 Einen kleinen Einblick gewährt Wachter, wenn er in Bezug auf weiterführende Nutzung schreibt, dass diese z.T. auch institutionell stattfindet: „Ja, vielfach auch von US Universities und von US-Militär Akademien. Z*I stellte auch mehrere Jahre die einzigen Bildersammlungen und Pläne von Guantánamo dar. Deshalb gab es auch viel In- teresse im Zusammenhang mit Lagerbau von Architekten [...]. Das Camp im Sudan interessierte u.a. den Ankläger betr. Menschenrechtsverletzungen in Dafur. Viele Zugriffe hatten wir auch aus Guantánamo, das ist ein grosser Stützpunkt, da sind auch die Journalisten stets mehrere Tage und die Informationen sind auch für Militärs nur gerade auf ihre Zuständigkeit beschränkt. Ich denke, auch unter den betroffenen BesucherInnen und SoldatInnen gab Z*I eine bestimmte Offenheit und Vorstellbarkeit des Ganzen. (Wachter 2011).“ 195 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/hintergrund/ [Stand 04-08-2014]. 159 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv schreitung dieser Scheidelinie, nach dem Bekenntnis zur Wahrnehmung, greifen weitere Subjektivations-angebote innerhalb eines mehr oder minder abgesteckten Rahmens. Diese verorten sich sämtlich im diskursiven Kontext der Militärmacht im weiteren Sinne: „Ich kann mir vorstellen, Gefangener oder Wärter zu sein, Bedrohter oder Bedroher, Verteidiger oder Angreifer. Dennoch bleibe ich aber involviert, ge- wissermassen befragt und davon durchdrungen (– zumindest bis ich die Applikation schließe.)“ (Wachter 2011; Herv. V.D.). Die Vorstellungen, die mit diesem diskursiven Komplex verbunden sind, funktionie- ren unwahrscheinlich außerhalb dieser Subjektivationen und gerade dadurch kann das ‘Machtdispositiv des Militärs’ sichtbar gemacht werden Das Angebot jedoch überlässt die Zuordnung den NutzerInnen. In den Rundgängen wird kein ‘virtueller Doppelgän- ger’ vorgegeben, angedeutet oder irgendwie anders als durch die gleitende ‘Kamerafahrt’ wahrnehmbar. Es bleibt neutral in der Darstellung und stellt dadurch den „Bekenntnis- Reflex“ umso mehr bloß: „Freund oder Feind? Patriot oder Verräter?“ (ebd.), WärterIn oder Häftling, SoldatIn oder ZivilistIn, StaatsbürgerIn oder WeltbürgerIn? Oder beides? Indem mich niemand explizit fragt, stelle ich mir selbst die Fragen und will mir keine Antwort schuldig bleiben. Indem die Künstler diese Fragestellung ermöglichen, ja sogar nahelegen, disponieren sie sich gleichzeitig selbst als disponierende Subjekte und müssen sich selbst die Frage stellen lassen: „Seid Ihr wenigstens noch ein bisschen Schweizer in Euch oder gefällt es Euch etwa, Euer Land so zu verraten?“ (Z*I)196 Antwort erhält er oder sie im Rahmen des Gästebuchs keine. Alleine durch die Frage werden Wachter und Jud indirekt selbst disponiert und subjektiviert. Die Zuordnungen und Bekenntnisse finden im Rahmen der Nutzung von Zone*Interdite statt und ihre Wirkung beschränkt sich weitestgehend auf die NutzerInnen selbst sowie die Kommunikation und Interaktion auf Zone*Interdite. Die Handlungsoptionen in den 3D-Walkthroughs beschränken sich auf die Wahrnehmung und ihre Reflexion. Was sonst kann ich tun, denn als Freund und Feind sind mir im virtuellen Raum gleichermaßen die Hände gebunden: „Ich bin nicht physisch bedroht im Virtuellen und kann nichts ents- cheiden und auch niemanden tatsächlich retten“ (Wachter 2011). 196 Diese Frage stellt ‘justice’ am 4. Januar 2010 in einem Kommentar zum Datenbankeintrag ‘Kandersteg’ in der Schweiz: http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=1110 [Stand 24-04-2011]. 160 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse Die Subjektivierungsweisen der einzelnen NutzerInnen sind schwer nachzuzeichnen und müssen sich an den vergegenständlichten Einträgen orientieren. Die Vielfalt der eingenommenen Subjektpositionen lässt sich hier nicht vollständig wiedergeben, soll aber anhand weniger Beispiele illustriert werden: Der Eidgenosse: Zone*Interdite als Verrat Als ‘eidgenosse’ schreibt ein Nutzer am 9. August 2010 unter den Datenbankeintrag zum schweizer Bundesratsbunker ‘Kandersteg’ die kurz gehaltene Nachricht: „ir seid Schweizer und nicht Eidgenossen (verräter)“ (Z*I).197 Die Anrede in der Mehrzahl und als ‘Schweizer’ lässt darauf schließen, dass mit „ir“ Wachter und Jud angesprochen sind. Denkbar wäre auch, dass es sich auf die drei ersten Kommentare von ‘Raphael’, ‘nut- tenpeter’ und ‘Reto’ bezieht, in welchen nähere Daten erfragt und die exakte Ortsangabe korrigiert werden. Als Betreffzeile gibt ‘eidgenosse’ ‘bunker’ an und nennt demonstrativ eine ungültige E-Mailadresse: ‘keine@angabe’. Was passiert hier? In dem Datenbankeintrag wird – wie bei jedem anderen Ein- trag – der ‘leadership bunker’ des Schweizer Bundesrats anhand mehrerer Links und grundlegender Daten dargestellt. Die heftige Reaktion zeigt, dass das als Verrat (eines Geheimnisses, des ‘Vaterlandes’, etc.) angesehen wird. Der Kommentar macht einen eigenwilligen Unterschied zwischen ‘Schweizern’ und ‘Eidgenossen’ auf.198 Indem der Nutzer sich selbst als ‘eidgenosse’ bezeichnet, lässt sich davon ausgehen, dass dieser Pol positiv konnotiert konstruiert wird, während vor dem ‘Schweizer’ ein pejoratives ‘nur’ zu denken wäre. Demnach wären ‘Schweizer’ keine vollständigen Angehörigen der ‘Schweizer Eidgenossenschaft’,199 während der ‘eidgenosse’ sich selbst als vollständiges ‘Mitglied’ betrachtet. Seltsam mutet die Bezeichnung ‘verräter’ in Klammer an, da sie hinter den ‘Eidgenossen’ gestellt ist. Sie müsste sich aber auf die mit ‘ir’ und ‘Schweizer’ Angesprochenen beziehen. Der Nutzer positioniert sich also entsprechend einem gut/ 197 Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=1110 [Stand 04-08-2014]. 198 ‘Eigenwillig’ deshalb, weil der direkt vorhergehende Kommentar zwar ähnlich gegen das Projekt und die Künstler (als Verräter) argumentiert, jedoch gerade ihren Status als ‘Schweizer’ hinterfragt: „Euch ist schon klar, dass Ihr Euch mit solchen Aussagen strafbar macht? Zweitens ist es selten dämlich via Netz solche Daten zu verbreiten... Seid Ihr wenigstens noch ein bisschen Schweizer in Euch oder gefällt es Euch etwa, Euer Land so zu verraten? Wirklich himmeltraurig!“. Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=1110 [Stand 04-08-2014]. Hier schließt es sich aus, ‘Schweizer’ zu sein und das ‘Land so zu verraten’. 199 Bei Wikipedia wird als solches der offizielle deutschsprachige Name des Staates genannt: http://de.wikipedia. org/wiki/Schweiz [Stand 04-08-2014]. 161 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv schlecht-Schema auf der ‘guten’ Seite (der Eidgenossen) und markiert sich deutlich als ‘eidgenosse’. Die Künstler werden als Verräter gekennzeichnet und somit das Projekt als politisches, anti-patriotisches aufgefasst. Solchen Formen der Anrufung setzen sich die Künstler durch ihr Projekt bewusst aus und werden dadurch nicht nur ein Stück weit subjektiviert, sondern auch disponiert. Ehemalige Soldaten: Zone*Interdite als Erinnerungsort In eine ganz andere Richtung geht die Nutzung – und die damit einher gehende Sub- jektivierung – einiger ehemaliger Soldaten, die die Plattform als Erinnerungsort be- trachten, sich untereinander vernetzen und – zumeist positiv – die ‘gute alte Zeit’ zu rekapitulieren. Die fünf Kommentare zum ehemaligen Stützpunkt der US-Armee in Münster-Dieburg (Z*I)200 stehen stellvertretend dafür. Da der Stützpunkt als ‘US Ar- my’-Stützpunkt gekennzeichnet ist, bekennt sich jeder Kommentar als ehemals dort Stationierter gleichzeitig die Nationalität als US-Bürger. Im Gegensatz zur Brisanz ak- tueller Stützpunkte – vor allem im Kontext zeitnaher Konflikte – kann mehr als vierzig Jahre später aus sicherer Distanz zurück geblickt werden. Zusätzlich waren die Soldaten nicht im Konflikt mit Deutschland, sondern lediglich einige Jahre auf dem NATO-/ US-Stützpunkt stationiert. So schreibt der erste, Bill, am 7. November 2010 wann und in welcher Einheit er dort war, beschreibt Fahrradtouren aufs Land und seine Zuneigung zur deutschen Kultur und Bevölkerung. Schließlich teilt er mit, wie ihn diese Zeit verändert hat: „While I was there I received Jesus as my Savior and lord. Haven’t been the same since. […] We were young soldiers once. Blessings to all“ (ebd.). Ein Link führt zu einer „inspirational message“, durch welche er anhand von Bibelzitaten eine Friedensbotschaft plaziert. Durch Angabe des vollständigen Namens und der (vermutlich) korrekten E-Mail-Adresse identifiziert er sich eindeutig und öffnet die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme, bspw. für andere Soldaten. Gleichzeitig öffnet er als ‘gläubiger friedliebender Mensch’ für andere NutzerI- nnen die Perspektive auf Soldaten unabhängig eines Freund-Feind-Schemas, da seine Stationierung nicht mit einem bewaffneten Konflikt einherging. Die ‘Deutschen’ waren eben auch ‘Freunde’. 200 Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=1293 [Stand 04-08-2014]. Da von diesem ehemaligen Sperrgebiet nur der Datenbankeintrag in Schrift und Bild vorhanden ist, können sich die Kommentare auch nur darauf beziehen. Dadurch wird auch sichtbar, dass nicht nur die elaborierten 3D-Rundgänge Reaktionen hervor- rufen. 162 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse Ähnlich gestaltet sich der Tenor der weiteren Kommentare: „Had a great time and met some great guys“ (Ed), „The town of Munster and Dieburt treated the GI’s nicely […]. Often wondered about the old base“ (Ron), „What a time“ (Dennis). Auffällig sind jeweils die Zeitangaben der Stationierung, teilweise die Einheit und deren Aufgabe und die bereitwillige Angabe vollständiger Namen und (mit einer Ausnahme) der Kontak- tadresse. Es entstehen Assoziationen von familienähnlicher Freundschaft, sogar über die Grenze Soldat-Zivilisten hinaus. KünstlerIn und Kunstinteressierte: Zone*Interdite als Kunstwerk Einige Einträge beziehen sich eindeutig auf Zone*Interdite als Kunstwerk und sprechen Wachter und Jud als Künstler an. Der längste stammt von ‘Annette’, die das Projekt einer- seits lobt, andererseits Kritik formuliert, die sich auf die Form der Darstellungen bezieht: „Mir fehlen allerdings ein paar Hinweise, auch in gestalterischer Form ( und da spreche ich Euch als Künstler an!), was die schwarzen Löcher, und gerade das derzeitige, zunächst militärische Thema eurer Seite betrifft. Wir wissen alle, dass dort am Ende der ästhetisch verpackten, abstrakten In- formationen, Menschen im Auftrag und im Interesse von Macht gequält, gefoltert, umgebracht, oder in Schach gehalten werden. [...] Also gar nicht so angenehm und schön! Warum wird von Euch entsprechendes Bildma- terial, völlig ausgespart??!“ (Z*I).201 Sie bringt die Inhalte der künstlerischen Darstellungen in Verbindung mit dem diskursiv- en Kontext, den Handlungen, die in militärischen Sperrzonen stattfinden und öffentlich wurden. Indem nur die Räume dargestellt werden, sind die Handlungen nur implizit präsent. Sie bezeichnet sich selbst als ‘Künstlerin’ und stellt sich damit auf eine subjek- tive Ebene mit Wachter und Jud, die sie als Künstler anspricht: „Als Künstlerin denke ich, gehören diese Dinge bei Eurem Thema mit auf die erste Seite“ (ebd.). Indem sie sich als „Künstlerin“ in die Rolle von Wachter und Jud versetzt, überträgt sie ihre Vorstellung einer (direkt) politisierten Intentionalität des Kunstwerks auf Zone*Interdite und fordert die nicht vorhandene Positionierung, „pro Menschenleben“ (ebd.), ein: „Vielleicht solltet Ihr einen guten Bildjournalisten aus der Kriegs-, Krisenberichterstattung hinzuziehen in 201 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=37 [Stand 01-05-2011]. 163 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Euer Team“ (ebd.). Die „schwarzen Löcher“, die auf Zone*Interdite von den NutzerInnen selbst gefüllt werden müssen, sollten die Künstlern selbst füllen. Eine Rolle, die ihres Erachtens virtuelle, relativ sterile Bilder nicht übernehmen können, denn „Eure, teilweise computergenerierte, Bilddarstellung ist zu abstrakt und schön“ (ebd.). ‘Annette’ bezieht sich explizit auf die grafischen Darstellungen von Zone*Interdite und nicht auf die erläuternden Texte der Künstler, die die Intentionalität des Projekts in erster Linie auf der Wahrnehmungsebene beschreiben. Sie gibt keine Kontaktadresse an und überschreibt ihr Posting mit „Ergänzung zur Gestaltung“ (ebd.). Anders ein kurzer Kommentar von ‘Christoph’, der sich vermutlich auf die Texte zur Wahrnehmung und deren Verbot bezieht: „Herzlichen Glückwunsch zu diesem großar- tigen Kunstprojekt! Die Sache mit der Wahrnehmung gibt zu denken!“ (Z*I).202 ‘Ana’ deponiert in einem Kommentar unter den Eintrag von Guantanamo Bay eine Bitte um eine Abbildung von Guantanamo für eine Kunstausstellung in Barcelona. Damit konsti- tuiert sie sich indirekt ebenfalls als Künstlerin (oder Kuratorin) und spricht die Macher der Seite auf rein technisch-informatorischer Ebene an, ohne Zone*Interdite in irgendeiner Form zu kommentieren: „Dear all, I need for an art exhibition in Barcelona, spain, An image in 300 dpi of Guantanamo bay and the prison. It would be perfect a satelital view or a bird view. I hope you can help me, Best Wishes...“ (Z*I).203 An diesen ausgewählten Beispielen von spezifischen Subjektivierungsweisen im Rahmen des Medienangebots von Zone*Interdite wird ansatzweise die Bandbreite der Nutzungs- und Subjektivierungsweisen deutlich. Weitere Beispiele könnten etwa in Bezug auf die Fremdenlegion als Arbeitgeber,204 die Anreicherung von Datenbankeinträgen um persön- liche oder allgemeine Erzählungen,205 die Suche nach Familienangehörigen,206 rechtliche Beschwerden über bestimmte Bildtexte207 oder Anmerkungen zur Spezifik historischer Sperrzonen208 usw. angeführt werden. Sie alle würden jeweils unterschiedliche Formen 202 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=40 [Stand 25-04-2011]. 203 Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=756 [Stand 04-08-2014]. 204 Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=2651 [Stand 04-08-2014]. 205 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=19 oder http://www.zone-interdite.net/fo- rum/discussion/?zico_page=20 [Stand 25-04-2011]. 206 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=22 oder http://www.zone-interdite.net/fo- rum/discussion/?zico_page=40 [Stand 25-04-2011]. 207 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=18 [Stand 25-04-2011]. 208 Vgl. http://www.zone-interdite.net/P/zone.php?idx=2564 [Stand 04-08-2014]. 164 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse der Selbst- und Fremdsubjektivierung offenbaren, die sämtlich in der offenen Struktur von Zone*Interdite eine Plattform finden. Je nachdem, wie vollständig Zone*Interdite und mit welchen persönlichen Erlebnissen, Einstellungen und Diskurspositionen wahrgenom- men wird (und werden kann: Sprachbarriere und Voraussetzungen für Walkthroughs). Während dienende und ehemalige SoldatInnen ohne große Hindernisse das Angebot für sich nutzen können (und das offensichtlich getan haben), finden sich keine erkennbaren Spuren der Nutzung durch (ehemalige) Häftlinge einer der Gefängnisanlagen. (5) (Nicht-)intendierte (Neben-)Folgen: Kontextualisierung auf Mikro- und Mesoebene Eigentlich bringt Zone*Interdite ‘nichts Neues’. Alle Informationen waren vorher bere- its öffentlich. Die Künstler sind „mehr an den aktiven, partizipativen Wahrnehmung- sprozessen interessiert, und weniger an der Verwaltung von Bildmaterial und exklusiven Zugängen“ (Wachter 2011), wie es etwa Wikileaks mit entsprechender medialer Wirkung betreibt.209 Die eine Wirkungsebene des Projekts liegt also in der subjektiven Wahrneh- mung der NutzerInnen und beschränkt sich auf diese in ihrem Verhältnis zum Medien- angebot. Dass Zone*Interdite jedoch teilweise die Sichtbarkeit von scheinbar unsichtbaren Informationen begünstigt hat, zeigt sich an einem Beispiel in Leipzig:210 „Auch Zivilflughäfen etc partizipieren an geheimen militärischen Aktio- nen, dem spürten wir zB in Leipzig-Halle nach, das war ein ziemlicher Skandal, weil die US-Truppenverschiebungen über den Zivilflughafen ille- gal sind. Anlässlich einer Ausstellung in Leipzig zeigten wir klare Beweise, öffentliche Soldatenblogs“ (ebd.). Ob dieser „Skandal“ zu direkten Folgen geführt hat, lässt sich schwer ermitteln, dass die öffentliche Diskussion darüber (erneut) angeregt wurde, scheint anhand der Aussage jedoch naheliegend.211 209 Aktuelle Berichterstattung bezieht sich erneut auf „top-secret files“, die Wikileaks veröffentlichte. So auch ein Ar- tikel des Daily Telegraph vom 25. April 2011: http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/wikileaks/8471907/ WikiLeaks-Guantanamo-Bay-terrorist-secrets-revealed.html [Stand 04-08-2014]. 210 Der Zone*Interdite-Eintrag dazu findet sich unter http://www.zone-interdite.net/P/zone_2753.html [Stand 04-08-2014]. 211 Dass die militärische Nutzung des Flughafens schon vorher (2006) bekannt war, zeigen die Beiträge auf fol- 165 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Allgemein lässt sich die öffentliche Berichterstattung über Zone*Interdite als (poli- tisches?) Medienkunstprojekt als Folgewirkung bezeichnen. Im Zuge dessen (v.a. 2006) wurden allgemein Militärmacht und ihre Sichtbarkeit, (US-)Kriege und die Beteiligung anderer Staaten sowie die Haftbedingungen in umstrittenen Militär-gefängnissen wie Guantanamo erneut thematisiert und kritisch diskutiert. Dies lässt sich, wie auch private Gespräche im kleinen Rahmen, unter Anschlusskommunikation zusammenfassen. Durch die neutrale und offene Gestaltung von Zone*Interdite wird das Zielpublikum nicht a priori auf Menschen bestimmter Ansichten eingeschränkt. Es umfasst prinzipiell alle Interessierten und versucht, für gänzlich verschiedene Perspektiven offen zu sein: „auch die Perspektive von Soldaten, Planern, Zulieferfirmen, Kommandeuren, politisch- en Verantwortlichen, Journalisten usw.“ (Wachter 2011). Entsprechend vielfältig ist die über den privaten Bereich hinaus reichende Nutzung des Medienangebots. Erneut kann auf die Aufzählung Wachters verwiesen werden, der US-Universitäten, Militärakademien, Architekten, einen Menschenrechtsbeauftragten, JournalistInnen und SoldatInnen als NutzerInnengruppe nennt (vgl. ebd.). Da jedoch gleichzeitig die Intention des Projekts Zone*Interdite relativ begrenzt ge- halten ist, müssen Ideen, die darüber hinaus führen, andere Plattformen für ihre Real- isierung finden. Laut Wachter ist das in vielen Fällen geschehen und wichtig, denn – so schreibt er –, „es sind gewisse Spielregeln entscheidend, damit etwas neues, bestimmtes sichtbar wird“ (ebd.). „ZONE*INTERDITE inspirierte viele Leute auch in Südamerika, in Ka- lifornien etc. und es entstanden Projekte und Communities daraus, poli- tische aber auch künstlerische oder architektonische. Leute fingen an Fir- men und Mülldepots in dieser Weise zu analysieren und zu tracken“ (ebd.). Diese Projekte nehmen unter anderem eine Übertragung der Funktionsweise von Zone*Interdite in andere Themengebiete vor. Das Aufspüren, Sammeln, Verzeichnen und Zusammenfügen von verfügbaren Informationen ohne dabei Gesetze überschreiten zu gender Seite: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Standorte/leipzig.html [Stand 04-08-2014]. Auch die AG Flughafen natofrei setzt mindestens seit 2007 Aktionen gegen diese Nutzung des Flughafens: http://www. flughafen-natofrei.de/index.php?article_id=3 [Stand 25-04-2011]. Noch im Mai 2009 beschäftigt sich ein Artikel auf Indymedia mit dem Sachverhalt (die Ausstellung von Wachter/Jud in Leipzig fand Ende 2008 statt): http:// de.indymedia.org/2009/05/248965.shtml [Stand 04-08-2014]. 166 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse müssen, scheint eine Vorgangsweise zu sein, die dem Überangebot an Informationen und dem Zwang der Selektion entgegenarbeiten kann. Von Folgen auf Makroebene zu sprechen, ist der Größenordnung einerseits des Pro- jekts Zone*Interdite und andererseits der vorliegenden Forschungsarbeit nicht angemessen. 4.3.b. Zone*Interdite als mediale/virtuelle/virtualisierte Heterotopie ‘Verbotene Zonen’ als militärische Gelände und Militärgefängnisse entsprechen den Fou- caultschen Heterotopien ziemlich genau. Sie mögen sich zwar in ihrer jeweiligen Spezifik unterscheiden, haben aber die grundsätzlichen Eigenschaften von Heterotopien gemein: Es handelt sich um ein exakt definiertes Gebiet, das von der ‘Norm’ insofern abweicht, als dort bestimmte Regeln gelten. Zutrittsberechtigt sind in erster Linie an ihrer Uniform erkennbare ‘Freunde’, also Militärzugehörige (lange Zeit und in manchen Ländern noch immer nur Männer). Diese finden sich in einer klar hierarchisch gegliederten Ordnung wieder, die sie nach Dienstgrad, Funktion und Zugehörigkeit zu einer Einheit katego- risiert. Das „System der Öffnung und Abschließung“ (Foucault 2005b:18) wird streng gehandhabt, Ankommende müssen sich identifizieren und legitimieren. Für gewöhnlich ist der Tagesablauf strikt geregelt, Räume der persönlichen oder privaten Freiheit beste- hen nur marginal. Vergleichen wir diese Beschreibung mit der restlos durchstrukturierten „Kompensationsheterotopie“ (Foucault 1992:45) der Jesuiten-kolonie, die „so vollkom- men, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige [Raum] ungeordnet, mißraten und wirr“ (ebd.), lassen sich viele Übereinstimmungen finden. Gleichzeitig befinden sich innerhalb dieser Zonen häufig weitere Heterotopien in Form von Militärgefängnissen. Die Häftlinge oder Kriegsgefangenen sehen sich zwar ebenfalls einem überaus geregelten Alltag gegenüber, sind jedoch aufgrund ihrer Eigen- schaft als ‘Feinde’ ihrer Freiheit beraubt. Als ‘Feinde’ weichen sie von der ‘Norm’ ab und werden, aus Sicht der Militärs, notwendigerweise räumlich isoliert werden. Diese „Abwei- chungsheterotopien“ (ebd.:40) finden sich in den 3D-Rundgängen von Zone*Interdite (GTMO, Camp Bucca und Bagram Airfield) an exponierter Stelle wieder, obwohl prozen- tual die wenigsten Einträge in der Datenbank Militärgefängnisse aufweisen. Diese ineinander verschränkten und durcheinander bedingten Heterotopien übertra- gen Wachter und Jud im Rahmen von Zone*Interdite in ihr Online-Medienangebot. Zum einen entstand dadurch die schriftlich und bildhaft ausgearbeitete Datenbank, die die 167 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv militärischen Sperrzonen anhand von grundlegenden Daten und zusätzlichen Textfrag- menten ‘beschreibt’. Zum anderen haben sie vier ausgewählte Sperrzonen in 3D-Simula- tionen rekonstruiert und somit mittels Programmanwendung ‘begehbar’ gemacht. Diese beiden medialen Formen müssen bezüglich ihres heterotopischen Charakters unterschiedlich bewertet werden. Die reine Darstellung einer Heterotopie in Form von sprachlichem oder bildhaftem Text bereits als mediale Heterotopie zu bezeichnen, würde der Begriffsverwendung keinen Dienst erweisen. Nun lässt sich argumentieren, dass die Homepage von Zone*Interdite immerhin einen kommunikativen Raum eröffnet, sich über die Datenbankeinträge auszutauschen und mit anderen NutzerInnen, sowie per Mail mit den Künstlern selbst, in Kontakt zu treten. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob wir es damit wirklich mit Heterotopien oder einer medialen Heterotopie zu tun haben. Ähnliche Voraussetzungen würde etwa ein Artikel über Guantanamo Bay auf der Online-Präsenz einer Tageszeitung bieten. Üblicherweise können auch da Kommentare hinterlassen und Diskussionen geführt werden. In erster Instanz ist das Urteil über die Homepage von Zone*Interdite als Heterotopie also ein negatives. Im Fall der 3D-Walkthroughs sind die Verhältnisse relativ klar. Die zuvor bestimmten Heterotopien werden in den virtuellen Raum übertragen und werden somit anhand der simulierten Raumerfahrung begeh-, wahrnehm- und erfahrbar. Sie sind also nicht nur als mediale, sondern auch als virtuelle Heterotopien im Sinne der in Kapitel IV bestimmten Begrifflichkeiten zu bezeichnen. Darüber hinaus führen die Rundgänge nicht nur durch konstruierte, sondern durch re-konstruierte Anlagen. Das heißt, diese referieren offensich- tlich auf Orte der ‘physischen Welt’ und belegen diese Referenzialität anhand zahlreicher Text- und Bildbelege. Wir können von den 3D-Rundgängen somit nahezu als ‘Idealtypen’ virtualisierter Heterotopien sprechen. Allerdings schöpft die Umsetzung der virtuellen Räume nicht sämtliche ästhetischen Möglichkeiten aus, denn Geräusche, Avatare, weitere Interaktionsformen mit der Umgebung sind ausgeschlossen (wie natürlich auch taktile oder olfaktorische Sinnesreize). Auch bleibt das Programmfenster stets als Rahmen präsent. Durch die Hintertür kommt nun die Datenbank wieder hinzu, indem sich die äs- thetische Erfahrung der Rundgänge einerseits auf die rein visuelle Wahrnehmung und ein Minimum an Kommunikationstechniken beschränkt, andererseits jedoch das Ge- sehene durch zusätzliche Informationen aus der Datenbank anreichert. Zudem ist die Chat-Funktion im Verhältnis zu den elaborierten kommunikativen Medientechniken der Homepage sehr rudimentär gehalten – der beistehende Link in der Programmanwend- ung verweist allerdings auf das Gästebuch der Homepage. Auch an anderen Stellen sind 168 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse die Walkthroughs durch Verweise eng an die Homepage angebunden und lassen dadurch die scharfe Trennung beider Elemente des Medienangebots nur in begrenztem Maße zu. Obwohl also die 3D-Rundgänge den Kern der virtualisierten Heterotopien bilden, sind Homepage und Datenbank als peripherer Teil davon zu verstehen. Durch die Virtualisierung der Heterotopien ergeben sich weitere, zentrale Ver- schiebungen: bezüglich des Zugangs und der produzierten Ausschlüsse, der Regeln, der Sozialität, ihrer Bewertung und dem ‘Realitätsanspruch’. Voraussetzungen für den Zutritt zu den virtualisierten Heterotopien sind in erster Linie technischer Art. Hinzu kommen das Wissen um das Angebot und die Entsche- idung, es zu nutzen, die ausreichende Fähigkeit, die Technik zu bedienen und – noch grundlegender – die nötige Freiheit, das zu tun. Denn während SoldatInnen sich sowohl in einer der militärischen Sperrzonen als auch – sofern sie virtualisiert wurde – in ihrem ‘digitalen Doppelgänger’ bewegen können, gilt dies nicht für die Inhaftierten. Weitere Einschränkungen bestehen jedoch nicht. Indem abgesehen von den schriftlichen Kommunikationswegen (Chat, Gästebuch, E-Mail) keine Form sozialer Kontakte in den Heterotopien vorgesehen sind, besteht die Sozialität vor allem in einer imaginativen, die die Vorstellungen der NutzerInnen über Militär, Gefängnisse usw. in die wahrnehmbaren topologischen Anordnungen integri- ert. Die Funktion dieser Vorstellungen greift bereits in den zweischneidigen ‘Realität- sanspruch’ über. Durch die transparente, mehrfach belegte Referenzialität wird die Behauptung auf- gestellt, „All diese Orte gibt es“. Gleichzeitig wird an mehreren Stellen mit der Vorstel- lung gebrochen, dass die dargestellten Orte „wirklich so“ seien, wie die der ‘physischen Welt’: das unveränderbar kleine Programmfenster der Walkthroughs ist ein solcher Hin- weis, die Menschenleere und Körperlosigkeit darin ein weiterer. Auch die transparente Vorgehensweise der Künstler und die ständige Unabgeschlossenheit des Projekts bis hin zum Angebot, selbst mitzugestalten, zeigen die fragmentarische Grundlage ihrer Rekon- struktionen auf. All diese Bedingungen führen zu einem Moment der Distanzierung, das zu einem speziellen Verhältnis von NutzerIn und virtueller Umgebung führt und somit Reflexionsprozesse ‘ver-wahrscheinlicht’. Im Zuge dieser Reflexionsprozesse ist es an den einzelnen, eine wertende Diskurspo- sition zu beziehen – oder eben nicht. Die Heterotopien sind gleichermaßen als ästhetisch zu wertendes Kunstwerk, als nostalgische Erinnerungsorte, als menschenrechts-verach- tende, unmoralische Feindbilder oder als themenspezifisches Diskussionsforum lesbar 169 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv – und erhalten je nachdem positiven, wünschenswerten (eutopischen) oder negativen, verabscheuungswürdigen (dystopischen) Charakter. Unabhängig davon führen Handlungen im Rahmen der virtualisierten Heterotopien von Zone*Interdite im Vergleich zur physischen Welt zu anderen Effekten. Wie das folgen- de Zitat Wachters zeigt, liegen die Bedingungen der virtuellen Räume von Zone*Interdite somit absichtlich und erfolgreich „diametral zur militärischen Machtfrage, der Realpolitik, der Drohszena- rien, der Gewaltakte, der Ein- und Ausschlüsse. Ich bin nicht physisch bedroht im Virtuellen und kann nichts entscheiden und auch niemanden tatsächlich retten. Um so schwerer wiegen dann aber die existenziellen und fundamentalen Dimensionen der Fragestellung rund um Ethik, Be- drohung, Sicherheit, Macht – die nun als Planspiel und Ansichtssache wie- derzufinden sind. [...] ich bin also auf mich selbst zurückgeworfen und befinde mich im Dilemma, dass die eigene Ansicht und Einsicht (k)eine Konsequenz hat“ (Wachter 2011) Im Hinblick auf die zweite Forschungsfrage kommen angesichts dieses Befundes Zwe- ifel auf, denn wie kann unter diesen Bedingungen Utopisches aufzuspüren sein? 4.3.c. Das Utopische in Zone*Interdite Zone*Interdite stellt die Sperrzonen nicht als ‘gut’ oder ‘schlecht’ dar. Durch die Entscheid- ung, sie überhaupt abzubilden, werden sie immerhin als ‘wahrnehmungswürdig’ markiert und erhalten im Rahmen des Kunstprojekts ein anderes Maß an Aufmerksamkeit. Da die moralische und emotionale Wertung der Zonen erst durch die Nutzung erfolgt, kann nicht von einer konkreten Dystopie im Sinne Maria Varsams (vgl. 2003) die Rede sein. Wobei sich allerdings die Frage stellt, ob nicht auch ein konkret dystopischer Roman zur Sklaverei von einem Anhänger des Ku-Klux-Klan völlig anders gelesen werden kann – wodurch die widerständigen Praktiken der SklavInnen im Roman selbst den dystopischen (nicht erwünschten) Part übernähmen. Eher lässt sich formulieren, dass beide Beispiele – Militärmacht und Sklaverei – ein stark polarisierendes Problem aufgreifen, sodass kaum eine neutrale Position bezogen werden kann. Unter Einbezug dieser Feststellung kann 170 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse die Position der Künstler in Zone*Interdite als eine bezeichnet werden, die die Reflex- ion, Diskussion und Bearbeitung des Themenkomplexes ‘Militärmacht’ herausfordert und prinzipiell gut heißt. Darin bereits eine Utopie erkennen zu wollen, wäre allerdings unangemessen, denn was in Zone*Interdite keinesfalls zu finden ist, sind Vorschläge für mögliche Alternativen. Dafür ist die betont konkrete und möglichst neutrale Anbindung des Projekts an die gesellschaftliche Gegenwart zu zentral. Es sei denn, das ‘freie Bewe- gen’ in den Militär- und Gefängniskomplexen würde bereits als Utopie bezeichnet. Nun lässt sich unter Einbezug der Anschlusskommunikation und Folgen für ein uto- pisches Moment argumentieren. Denn immerhin werden in den Kommentaren zum Teil klare Positionen gegen die machtvolle Stellung des Militärs und Kriege im Allgemeinen und im Speziellen (US-Army, Irak-Krieg etc.) bezogen.212 Die Positionierung der NutzerI- nnen konstituiert erst den subjektiv eu-/d ystopischen Charakter des Medienangebots und seiner Inhalte. Wäre nicht in dieser reflektierenden und wertenden Praxis die Möglichkeit utopischer Praxis angelegt? Im Verhältnis zu Nachrichtensendungen oder Dokumentar- filmen – etwa über Guantanamo Bay – werden immerhin dramaturgische und narra- tive Elemente, Einzelschicksale und dadurch eine gewisse Vorverurteilung überwiegend abgelegt. Dadurch wird das Füllen dieser Lücken implizit den NutzerInnen abverlangt, die anhand dieser aktiven Rezeptionsform stärker sich selbst in den Blick bekommen und ihre Gedanken imaginieren und narrativisieren können und zwar anhand der bisher einzigartigen Darstellungsform der 3D-Walkthroughs. Wenn nun vom ‘Utopischen’ gesprochen wird, so teilt sich die Frageperspektive. Ein- erseits ist die Frage, ob Zone*Interdite für sich Ausdruck eines utopischen (Un-)Bewussten ist und andererseits, ob es dazu dient, ein solches zu generieren oder zu verstärken. Denn Vorstellungen einer ‘besseren Gesellschaft’ können erst auf Grundlage der wertenden Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bedingungen entstehen. Indem die Wahrne- hmung militärischer Sperrzonen durch das von Wachter und Jud postulierte ‘Wahrneh- mungsverbot’ nur in sehr reduziertem Maße ermöglicht wird, kann diese Auseinander- setzung ebenfalls nur sehr eingeschränkt stattfinden. „Deshalb fokussierten wir auch auf 212 So schreibt etwa ‘skype_fan’ am 14. Februar 2006 unter dem Betreff ‘Super Seite’: „Nun werden wohl einige Leu- te mal merken das Europa und im speziellen Deutschland alles andere als frei ist. Überall haben die Amis ihre Fin- ger drin. Die Russen sind schon längst abgezogen, aber das Imperium herrscht weiter, im verborgenen aber im- mer im interesse der eigenen Wirtschaft“. Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/discussion/?zico_page=41 [Stand 26-04-2011]. DieseR NutzerIn sieht also vor allem in einem Bewusstwerdungsprozess eine wichtige Folge des Projekts, also im ‘Erkennen der gegenwärtigen Bedingungen des Seins’. 171 4. Zone*Interdite: Heterotopisches Dispositiv Orte und Geschehnisse, die sichtbar sind, aber (scheinbar) nicht gesehen werden (nicht gesehen werden sollen oder/u nd gesehen werden wollen)“ (Wachter 2011). An dieser Stelle kann also Zone*Interdite verortet werden: Das Projekt destilliert vorhandene Infor- mationen und konzentriert diese in Form seines Medienangebots. Dieses ist zwar nicht an sich Ausdruck eines utopischen Bewusstseins und formuliert nur eine implizite Kritik an der spezifischen (Un-)Sichtbarkeit der ‘verbotenen Zonen’, eröffnet aber NutzerIn- nen die Entscheidung, das Angebot als ein eu- oder dystopisches aufzufassen. Anhand der neutralen Darstellungen kann das potenziell vorhandene individuelle utopische Un- bewusstsein bewusst gemacht werden – weitere Schritte, wie die konkrete Formulierung eines utopischen Anderen, können erst auf dieser Grundlage folgen. Auf dieser Ebene spielen sich die Folgewirkungen von Zone*Interdite zu großen Teilen ab. Die Auswirkungen auf Institutionen durch bestimmte Nutzungsformen, sowie die Anregung der öffentlichen Diskussionen wurden unter den (Neben-)Folgen bereits beschrieben. Inwieweit das Zusammenspiel von Informationsangebot und seiner Nut- zung, kollektiver Mentalität, Anschlusskommunikation und -handlungen bestimmend für die Bedeutsamkeit von Zone*Interdite als Utopisches ist, zeigen etwa die Aktivitäten der AG Flughafen natofrei.213 Bereits vor der Veröffentlichung von Zone*Interdite bestand eine aktive politische Gruppe, die sich unter anderem mit der militärischen Nutzung des Flughafens Leipzig-Halle beschäftigte. Durch die informationelle Anordnung von Zone*Interdite (verbunden mit der konkreten Ausstellung 2008) standen jedoch weitere Daten sowie öffentliche Aufmerksamkeit zur Verfügung, um die öffentliche Diskussion erneut zu initiieren. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse muss die Funktion von Zone*Interdite noch vor dem Utopischen und seiner Konstitution und Konkretion eingeordnet werden. Es kann in diesem Sinne oder auch ganz anders genutzt werden, utopische Bewusstwerdung be- günstigen sowie jenseits dieser Kategorie funktionieren. Das Medienangebot ist so offen angelegt, dass es nur schwerlich als Ausdruck des ‘Utopischen’ oder eines ‘utopischen Impulses’ bezeichnet werden kann. In Rückbezug auf die Feststellung, dass das darin verhandelte Thema eine immense Polarisierung aufweist, die eine starke Positionierung einzelner NutzerInnen immerhin nahelegt, ist aber doch zu erwägen, ob nicht die For- mulierung ‘utopische Heterotopie’ insofern zulässig ist, als erstens unter ‘utopisch’ so- wohl eu- als auch dystopische Denkweisen subsumierbar sind und diese Bezeichnung 213 Vgl. http://www.flughafen-natofrei.de/ [Stand 26-04-2011]. 172 4.3. Zone*Interdite: eine utopische, virtualisierte Heterotopie? Eine dispositivanalytisch-heterotopologische Analyse zweitens die Ambivalenz heterotopischer Orte in Abhängigkeit einzelner Subjekte und ihrer Subjektposition berücksichtigt. Dagegen spricht wiederum die Feststellung, dass Foucaults Heterotopien generell in die Tradition utopischen Denkens zu stellen sind und somit der adjektivische Zusatz eine unnötige Tautologie produziere. Anstatt also Zone*Interdite als ‘utopische Heterotopie’ zu bezeichnen oder ein Primat des Utopischen in seiner Funktionsweise zu erkennen, kann das Projekt als ein Instru- ment, ein Vehikel gesehen werden, das im weitesten Sinne utopische Verwendungsweisen zulässt und begünstigen kann. Gewisse qualitative Eigenschaften des medialen Disposi- tivs markieren die Trennlinie etwa zu journalistischen oder anderen dokumentarischen Darstellungsformen. Über den informativen Gehalt und anstatt einer vorgegebenen zu beziehenden Position der NutzerInnen rücken die Reflexion und die eigene Positions- bestimmung in Relation zum Wahrgenommenen in den Vordergrund. Diese eher for- male als inhaltliche Anordnung wird jedoch auch seitens der Künstler von der Erwartung getragen, eine Vorstellung von Freiheit und Selbstbestimmung denkbar werden zu lassen: „By experiencing that self-censorship and heteronomy interfere with our own percep- tion, we gain the possibility to realize what freedom and self-determination could be“ (Z*I).214 214 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. 173 5. Schlüsse und Anschlüsse „Maschentausendabertausendweit“ (Else Lasker-Schüler) Zu Beginn der Arbeit wurde mit Hilfe des ‘Wirklichkeitskonstruktionsmodells’ nach Schmidt (vgl. 2002) die Komplexität von Wirklichkeitskonstruktionen angesichts der ständigen Weiterentwicklung von Medientechniken und damit einhergehend die Bedeut- samkeit von Medienrealitäten skizziert (Modularisierung von Wirklichkeit). Die Frage nach der einen ‘Wirklichkeit’ kann demnach so nicht gestellt (oder zumindest nicht beantwor- tet) werden. Die im Beobachten, Beschreiben, Denken und Handeln re-produzierenden Prozesse müssen nicht nur auf den direkten Zugriff auf die ‘physische Realität’ (sollte diese ‘existieren’), sondern vielfach auch auf die unvermittelte (nicht mediengestützte) Wahrnehmung differenzierter Sinneinheiten verzichten. In Konsequenz wird die Ent- scheidung über das ‘wirklich’/ ‘nicht-wirklich’ oder ‘wahr’/ ‘falsch’ zunehmend aufge- schoben. Bestehende Wirklichkeitskonstruktionen setzen sich zum Teil aus Einheiten ‘möglicher Wirklichkeiten’ zusammen, deren Status erst anhand von Wirklichkeitstests auf ihre Gangbarkeit und Praktikabilität überprüft werden muss (Modalisierung von Wirk- lichkeit). Trotzdem können diese bereits in Form vorläufiger Pragmatisierungen in Be- obachtungen und Handlungen einfließen und somit wirksam werden (Virtualisierung von Wirklichkeit). Während einerseits der Virtualitätsbegriff in Aussagen zu digitalen Medien an vielen Stellen benutzt wird, um das Besondere elektronischer und internetbasierter Medientech- niken in Opposition zur ‘Realität’ zu konstruieren, löst ein Blick auf einige exemplari- sche historische Verwendungsweisen des Virtualitätsbegriffs diese Dichotomie auf (vgl. Welsch 2000). Virtualität rückt damit – wie auch bei Schmidt – weg von der Bedeutung des ‘Irrealen’ hin zu einem (noch-)nicht-aktualisierten Zustand von Wirklichkeit, der po- tenziell bereits der bestehenden ‘Wirklichkeit’ inhärent ist und durch Aktualisierung in einen anderen Wirklichkeitsstatus übergehen kann. Beispielgebend ist dafür die Pflanze, deren ‘virtuale Wirklichkeit’ im Samenkorn angelegt ist. Aus dieser Sicht erweist sich das Virtuelle dem Wirklichen vorgereiht, zweites als potenzieller Teil des ersten. Diese Über- legungen führen Welsch zur markanten Aussage: „Reality was already virtual to begin 175 5. Schlüsse und Anschlüsse with“ (ebd.). Während die Aktualisierung die Bewegung vom Virtuellen ins Aktuelle be- schreibt, formuliert Lévy (vgl. 1998) in einer Gegenbewegung die Virtualisierung, durch welche scheinbar unhinterfragbar ‘wirkliche’ Sachverhalte diesen Status verlieren und in Frage gestellt werden können. Diese Bewegung ist bei Schmidt bereits angeklungen und wird durch Formen der Medialität begünstigt (siehe oben). Auf dem Weg zur konzeptionellen Klärung von medialen, virtuellen und virtualisier- ten Heterotopien ist damit bereits ein wichtiger Schritt getan. Doch sollten Foucaults Heterotopien im Kontext und in der Tradition des utopischen Denkens verortet wer- den, weshalb ein schlaglichtartiger, historischer Überblick über selbiges geboten wurde. Indem an den Dichotomien wirklich/ unwirklich und aktual/ virtual angeschlossen wird, lässt sich diesbezüglich die These formulieren, dass seit Thomas Morus’ Utopia tenden- ziell eine Verschiebung utopischer Werke stattgefunden hat. Neben der Verzeitlichung der Utopien und der Genese pessimistischer Genres (Dystopien, Anti-Utopien) näherte sich das utopische Denken in Kunst und später in der Wissenschaft von den eher fiktio- nalen Utopien der Anfangszeit faktualen Formen an. Mit ‘fiktional’ sind hier erfundene Orte gemeint, deren Aktualisierung nicht angenommen oder direkt angestrebt wurde. Sie wurden als imaginäre Gegen-Orte zur gesellschaftlichen Realität platziert, um ein Spannungsfeld zwischen bestehenden Gesellschaftsordnungen und anderen Denkmög- lichkeiten zu öffnen. Mit dem Naheverhältnis sozialistischen Denkens zum Utopischen und den damit einher gehenden Ansprüchen, den formulierten Gesellschaftsordnugnen näher zu kom- men, wandelten sich die Produktionen zu ‘virtualen’ Utopien. Sie waren bereits ‘wirklich’ und als solche prinzipiell ‘aktualisierbar’. Dem spielte die zunehmende Verzeitlichung der Utopien insofern zu, als früher oder später die Frage aufkommen musste, wie die Geschichte verlaufen müsse, um in der Zukunft die vorgestellte Ordnung ‘wirklich’ wer- den zu lassen. Zumindest zwei Antworten lassen sich finden: einerseits die Revolution (seltener auch die Reform), durch die erst der Wandel ermöglicht werden könne, und andererseits, bereits in der Gegenwart damit zu beginnen, wie sich an zahlreichen Versu- chen „gelebter Utopien“ (Saage 2008:114) zeigen lässt. Durch die Verwissenschaftlichung des Sozialismus und die Absage an den Utopis- mus durch Marx und Engels erfuhr das sozialistische Denken eine stärkere Anbindung an die gegenwärtigen (und historischen) gesellschaftlichen (Produktions-)Bedingungen; eine Trennung, die durch geschichtsphilosophische Konzepte, etwa von Ernst Bloch (vgl. 1969) durch eine Reformulierung des Utopiebegriffs als „konkrete Utopie“ gekittet 176 werden sollte: ein weiterer Schritt in Richtung Konkretion und Aktualisierbarkeit, der die theoretischen Grundannahmen des Marxismus berücksichtigte und innerhalb dieser Denkweise Vorstellungen einer „besseren Gesellschaftsordnung“ zu legitimieren suchte. Trotz dieser und weiterer Hochkonjunkturen des utopischen Denkens – etwa zur Zeit der Studentenrevolten Ende der 1960er-Jahre – scheint die künstlerische Produktion gegenwärtig weitestgehend auf (positive) Utopien zu verzichten; Kunst- und Literatur- wissenschaften befinden sich innerhalb der Utopieforschung beinahe in ‘Monopolstel- lung’. Das Konzept der „konkreten Dystopien“ (vgl. Varsam 2003) deutet auch hier die zentrale Bedeutung der gesellschaftlichen Realität als aktualem Bezugsrahmen an. Sowohl die Formulierung positiver (sozialistischer) Gesellschafts-modelle, wie auch die politik- und sozialwissenschaftliche Beschäftigung damit, stoßen spätestens seit Bekanntwerden von Einzelheiten aus der stalinistischen Sowjetunion und dem Ende des Ostblocks 1989 auf heftige Kritik und sind öffentlich nicht präsent. An die Position utopischen Denkens rückt gewissermaßen die Foucault’sche Konz- eption der Heterotopien (vgl. 1992, 2005), welche die Verschiebung des utopischen Den- kens vom Irrealen über das Virtuale beim Aktualen ankommen lässt. Denn die Heteroto- pien verortet er inmitten der aktualen Wirklichkeit(en), sie müssen nicht erst umgesetzt werden, sie bestehen bereits. In mehrerer Hinsicht unterscheiden sie sich – neben ihrer Aktualisierung – von den als ideal gedachten Gesellschaftsordnungen klassischer Uto- pien: Sie gelten nicht per se für ganze Gesellschaften, sondern stehen im Gegenteil stets in einem oppositionellen Verhältnis zu ‘normalen’ Orten der Gesellschaft. Ihre Totalität bedeutet gleichzeitig ihre Auslöschung. Durch ihre Benennung als ‘Andere Räume’ entz- ieht sich Foucault der positiven oder negativen Zuschreibung, denn Garten und Ge- fängnis gelten ihm gleichermaßen als Heterotopie. Noch stärker als für Utopien gilt für Heterotopien das Moment der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung, denn – wie Heynen bemerkt (vgl. 2008) – das Bordell etwa hat für Sexarbeiterinnen und Freier eine gänzlich andere soziale, topologische wie auch ‘utopische’ Bedeutung. Allgemein muss bemerkt werden, dass die konzeptionelle Offenheit der Heterotopien eine differenzierte Verwendung des Begriffs genauso erschwert wie nötig macht. Foucaults tentative Differ- enzierungen können nicht im engeren Sinne als Systematik bezeichnet werden, sondern als auszugsweise Verallgemeinerungen auf verschiedenen Ebenen. So ist es anzuraten, in der Arbeit mit dem Heterotopie-Konzept zu spezifizieren. Die begrifflichen Angebote bei Foucault beschränken sich auf Krisen-, Abweichungs-, Illusions- und Kompensa- tionsheterotopie, die keine Differenzierung anhand einer Dimension zulassen, sondern 177 5. Schlüsse und Anschlüsse Faktoren wie die historische Periode, die Funktionsweise oder ihren Zweck nach Beli- eben als Kriterium verwenden. Eine Frage, die sich aus der Foucault-Lektüre nicht beantworten lässt, ist jene nach dem notwendigen Grad der Aktualisierung von Räumen, um sie als Heterotopien be- zeichnen zu können. Je nachdem, ob medial, digital oder ‘virtuell’ konstruierte Räume als ‘unwirklich’, als ‘virtuell wirklich’ oder ‘aktualisiert’ aufgefasst werden, ist diese Frage unterschiedlich zu beantworten. Mit der Schmidt’schen Konzeption von Wirklichkeits- konstruktion wird diese Entscheidung vorwiegend auf die Wirklichkeitskompetenz der NutzerInnen übertragen und potenziell aufgeschoben, prinzipiell sind demnach mediale Angebote als Wirklichkeitsangebote aufzufassen. Überdies betonen Schmidt und auch Welsch die Verschränkung von (Medien-)Wirklichkeiten, die rein analytische Trennung zwischen ihnen und ihre wechselseitige Konstitution. So ist ein Gefängnis, in welchem ein Videoüberwachungssystem installiert ist, ebenso als medialisierte Heterotopie zu ver- stehen, wie ein Flirtchat für homosexuelle Männer, wenn auch jede ihre spezifischen Bedingungen aufweist – eben ‘anders’ ist. Aus diesen Überlegungen resultiert nun ein konzeptioneller Vorschlag für virtuelle und virtualisierte Heterotopien. Erstere seien demnach solche Heterotopien, die vollständig oder teilweise simuliert werden. Nicht berücksichtigt werden damit reine digitale Kommuni- kationswerkzeuge wie etwa ausschließlich auf Schrift und einfacher Symbolik ((-:) basier- ende Chat-’Rooms’ oder digitale Videotelefonie. Virtualisierte Heterotopien sind teilweise in virtuellen Heterotopien enthalten, reichen aber an anderer Stelle über diese hinaus. Denn diese bezeichnen zwar einerseits auf „virtuelle Räume“ übertragene, ‘physikalisch wirkli- che’ Heterotopien, andererseits aber auch von digitalen Medien und virtuellen Wirklich- keitsextensionen durchdrungene Heterotopien. Damit wird an Lévys Virtualisierung An- schluss gesucht und die damit verbundene In-Frage-Stellung und Problematisierung von scheinbar ontologischer Wirklichkeit mit dem Begriff mitbezeichnet. Gerade in medial oder virtuell rekonstruierten Heterotopien muss eine heteroto- pologische Analyse konsequenterweise auf den doppelten Charakter der räumlichen Anordnung achten. Denn die Heterotopie selbst (militärische Sperrzonen) und ihre Rekonstruktionen (Zones*Interdites) unterscheiden sich im Hinblick auf einige Faktoren wesentlich. Der Zugang wird gänzlich anders organisiert und produziert neue Ein- und Ausschlüsse, die geographische Lage verflüssigt sich angesichts schneller Datentransfers ebenso, wie die Relation zu ‘einer’ Mehrheitsgesellschaft. Schließlich gestalten sich die Modalitäten der Rezeption, der Wahrnehmung und der Erfahrung fundamental unter- 178 schiedlich und öffnen damit ein Spannungsfeld zwischen der Heterotopie und ihrer vir- tuellen Rekonstruktion. Überdies kann festgestellt werden, dass materiell aktualisierte Heterotopien in vielen Fällen nicht durch direkte Anwesenheit erfahren werden (können). Das gilt für viele Men- schen gleichermaßen für Gefängnisse wie für Bordelle. Ihre ‘Existenz’ und Funktionalität besteht in einer vermittelten, sekundär erfahrenen. Diese Möglichkeit der sekundären Erfahrbarkeit gilt immer weniger nur für geografisch nahe Heterotopien. Am Nicht-Ort der Öffentlichkeit, der informationellen Netze, der Medienwirklichkeiten entfalten Het- erotopien erst ihre breite Wirksamkeit auf (welt-)gesellschaftlicher Ebene. Insofern lässt sich insgesamt von einer Medialisierung der Heterotopien sprechen, mit der eine Tendenz analog zu vielen medialisierten Bereichen beschrieben werden kann. Und schließlich ist es dann weniger die (wahrgenommene) Existenz von Heterotopien, die sie wirksam werden lässt, sondern die Anordnung von Mediendispositiven und ihren NutzerInnen, im breiten Angebot von dystopischen, eutopischen oder ganz anderen Heterotopien zu selektieren. Denn ihre Aktualisierung ist durch die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der disponierenden und disponierten Subjekte bedingt. Als ein Beispiel für eine virtuelle und virtualisierte Heterotopie kann das komplexe Me- dienangebot des Medienkunstprojekts Zone*Interdite bezeichnet werden. Die beiden Kün- stler und Urheber, Christoph Wachter und Mathias Jud, tragen darin in einem ersten Schritt bildhafte und schriftliche Informationen über tausende militärische Sperrgebiete in einer Datenbank zusammen und rekonstruieren in einem zweiten Schritt vier dieser Sperrgebiete in dreidimensionalen 3D-Walkthroughs, die als Programmanwendungen heruntergeladen, installiert und ‘begangen’ werden können. Anhand der oben genannt- en Unterschiede zwischen physikalischen Räumen und ihren Rekonstruktionen sowie vermittels dem diskursiven Kontext, der an Diskursstränge und -ereignisse vor allem auf elementar- wie auch interdiskursiver Ebene anknüpft, entsteht für NutzerInnen ein Spannungsfeld, das ‘Normalität’ mehrfach in Frage stellt. Um diese komplexe mediale Anordnung anhand einer experimentellen Forsc- hungsarbeit adäquat analysieren zu können, wurde die „Dispositivanalyse als Forsc- hungsstil“ (vgl. Bührmann & Schneider 2008) gewählt und dem Forschungsobjekt entsprechend adaptiert. Insbesondere die Ergänzung um den Medienkompaktbegriff nach Schmidt (vgl. Schmidt 2000) verschärfte den Fokus auf das mediale Setting von Zone*Interdite. 179 5. Schlüsse und Anschlüsse Die Methodenwahl gründet erstens auf der Analyseperspektive des Dispositivs, welche sowohl an Gedanken Foucaults anknüpft (vgl. 1978), als auch Schnittmengen mit Konzepten der Medienwissenschaft aufweist (vgl. Baudry 1974; Hickethier 1995; Paech 2003; Thiele 2009). Zweitens bezieht die Dispositivanalyse nicht nur sprachliche und/o der nicht-sprachli- che Symbolebene ein, sondern erweitert diese etwa um Praktiken, die gerade für die Nut- zung von 3D-Rundgängen unerlässlich schien. Drittens kann mit der Dispositivanalyse das komplexe, machtvolle Netz zwischen den Elementen Diskurs, Praktiken, Subjekt, Sichtbarkeiten und gesellschaftlichem Kon- text, rekonstruiert und sichtbar gemacht werden, welches das Dispositiv primär bezeich- net. Diese Verbindung von Diskursformationen und Machteffekten ist nicht nur in Be- zug auf die möglicherweise widerständige Gegen-Macht von Heterotopien interessant, sondern lässt überdies den Blick auf mögliche utopische Effekte dieser Anordnung zu. Viertens sprechen die Künstler selbst in einem der zugehörigen Texte, durch die virtuel- len Rundgänge „‘Dispositif of Power’ (power relations) can be detected“ (Z*I).215 Umso spannender ist natürlich die Frage, wie dies funktionieren kann und welches Machtdis- positiv sie selbst zu diesem Zweck strategisch ‘in Stellung bringen’. Weitere Akzentuierungen in der Analyse betrafen die Übertragung der Dispositva- nalyse auf die Mikroebene sowie die Anordnung der Analyse um das Medienangebot. Zudem wurde mit Zone*Interdite ein Fokus gewählt, der keineswegs als hegemonialer Interdiskurs bezeichnet werden kann. Vielmehr handelt es sich dabei mit Jürgen Link um einen Komplex aus Diskursfragmenten „nicht-hegemoniale[r] elaborierte[r] Inter- diskurse (‘Gegendiskurse’)“ (2007:231). Diese Akzentsetzungen sind bislang atypisch für sozialwissenschaftliche dispositivanalytische Zielsetzungen, die in den wenigen veröffentlichten Studien auf dominant-hegemoniale Dispositive auf Meso- und Makroe- bene abzielen. Im Verlauf des Forschungsvorhabens hat sich jedoch gezeigt, dass sich der Forschungsstil mit einigen Modifikationen auch für ‘kleinere’ Forschungsvorhaben fruchtbar machen lässt. Zudem erweist sich die Zusammenführung einer an Foucault orientierten sozialwissenschaftlichen und einer medienwissenschaftlichen Perspektive als sehr gangbarer Weg, um dispositive Anordnungen auch nur anhand eines Medienange- bots rekonstruieren zu können.216 215 Vgl. http://www.zone-interdite.net/forum/about-zoneinterdite/ [Stand 04-08-2014]. 216 Diese Erkenntnisse weichen nur marginal von bereits formulierten Überlegungen von Rolf Parr und Matthias 180 Während die Bestätigung der Vorannahme, es handle sich bei Zone*Interdite (und insbe- sondere deren 3D-Rundgängen) um eine virtuelle und virtualisierte Heterotopie nahe lag, konnte die Frage nach einem möglicherweise inhärenten utopische Impuls nicht positiv beanwortet werden. Das mediale Setting bezieht sich zwar auf konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und die Themenwahl lässt darauf schließen, dass die Künstler die öffentliche Meinungsbildung darüber als wichtig erachten, ihre absichtlich nicht-vollzogene Positionier- ung steht jedoch der Vorannahme eines utopischen Charakters von Zone*Interdite entgegen. Das Projekt fügt sich eher ins Zusammenspiel von Informationsweitergabe, ihrer Wahrneh- mung und dem Wissen um militärische Heterotopien. Da gerade in Bezug auf dieses Thema Informationsflüsse restriktiven Bedingungen unterliegen und zudem die dadurch generierte Selbstzensur die Gegenwehr auf ein Minimalmaß reduziert, werden jedoch gerade durch Zone*Interdite (wie auch durch investigativen Journalismus, Whistleblower-Plattformen wie Wikileaks etc.) die Vorbedingungen geschaffen, sich von Phänomenen ‘ein Bild zu ma- chen’ und dazu Position zu beziehen. Wenn also das Utopische (als kollektive Mentalität des Veränderungswillens) der konkreten Produktion von Utopien vorangeht, so lassen sich diesem Zusammenhang noch fundamentaler subjektive und kollektive Information, Wah- rnehmung, Wissen und Meinungsbildung voranstellen. Erst durch diese Rezeptions- und Reflexionsvorgänge kann Zone*Interdite (auf Objektebene: Militäranlagen; auf kommuni- kativer Ebene: Gästebuch und Anschlusskommunikation; auf medialer Ebene: Wirklich- keitsangebote; auf subjektiver Ebene: Wahrnehmungs- und Subjektivierungsweisen; auf politischer Ebene: Folgeprojekte und -aktionen) eutopischen oder dystopischen Charakter erhalten und diese Anschlüsse ermöglicht das Projekt eher als es sie verunmöglicht. Aus diesen Ergebnissen lassen sich auf theoretischer wie praktischer Ebene zahlreiche Anschlüsse für weitere Forschungsfragen und Anwendungskontexte ableiten. Beginnend bei den Heterotopien, die zwar in zahlreichen Kontexten aufscheinen, jedoch an keiner Stelle eine umfassende Systematisierung erfahren haben. Besonders im Hinblick auf ihre funktionellen Anschlüsse an das utopische Denken und auf ihre Medialität lassen sich zahlreiche blinde Flecken ausmachen. Beides sind Felder, die Foucault nur angedeutet, aber keineswegs erschöpfend diskutiert hat. Und selbst wenn, lägen diese Ausführungen 44 Jahre hinter der aktuellen technologischen Entwicklung zurück. Thiele ab, die im Zusammenhang von Dispositivanalyse, Foucault und Medienwissenschaften empfohlen werden können (vgl. Parr/Thiele 2007; Thiele 2009). 181 5. Schlüsse und Anschlüsse Darüber hinaus scheint es fruchtbar, die Konvergenzlinien von Dispositivanalyse und der von Foucault lediglich skizzierten Heterotopologie im Lichte der Raumsoziologie und der Medienwissenschaften unter verschiedenen Schwerpunktsetzungen weiter auszuloten. So ließen sich etwa mit Fokus auf Subjektivierungsweisen die konkreten verschiedenen Nutzungs- und Erfahrungsweisen von virtuellen Heterotopien in Form von Interviews oder teilnehmender Beobachtung, auch unter Zuhilfenahme von Videoaufzeichnungen näher untersuchen. Unter der Perspektive ‘Dispositiven Wandels’ könnte eine instituti- onelle Ebene stärker in den Blick genommen werden, auf der sich das Spannungsver- hältnis von hegemonialen und gegen-hegemonialen Dispositiven der Macht vielleicht am deutlichsten abzeichnet. Interessant scheint auch die Anwendung der Link’schen Inter- diskursanalyse auf Online-Kommunikation verschiedener Art, etwa anhand der Frage, inwiefern sich auf Ebene der kulturell und historisch bedingten Kollektivsymbole eine global anschlussfähige ‘lingua franca’ der Symboliken herausbildet. Gerade in Bezug auf eine Brücke zwischen kultureller Distanz und kommunikativer Nähe eröffnet sich hier die Frage nach einem interdiskursiven Brückenschlag. Unter diesem Licht müssten die Inter- pretationen der Kollektivsymbole in Zone*Interdite möglicherweise völlig redigiert werden. Am konkreten Beispiel Zone*Interdite lassen sich Anwendungsbeispiele für formale, non-formale oder informelle Szenarien der politischen Bildung, der Medienbildung oder des Globalen Lernens imaginieren, in welchen die individuelle oder kollektive virtuelle Erfahrung der militärischen Heterotopien als Ausgangspunkt für weiterführende Dis- kussionen dient. So können Themen wie Militärmacht, asymmetrische Kriege, Freund- Feind-Schemata, Staatsbürgerschaft als politische Souveränität oder Informationspoli- tik (Zensur, Bilderverbote), embedded Journalism, verschiedene Wahrnehmungen und verschiedene Wirklichkeiten (bspw. anhand der Gästebucheinträge), die Rolle kritischer Öffentlichkeit und unabhängiger Medienträger, die Validität von Informationen etc. an- hand eines Beispiels erfahrbar gemacht werden. Weiterführende Aktivitäten könnten je nach Altersgruppe in eigenständiger Online-Recherche, Interviews mit Zugehörigen von Militär, freien Medien oder NGOs (z.B. Amnesty International) oder Flüchtlingen aus Krisengebieten bestehen. Und schließlich besteht ja noch die Möglichkeit, die dargestellten Orte bezüglich ihrer ‘positiven’ oder ‘negativen’ Wertung zu diskutieren – und Überlegungen anzustellen, wie diese Orte idealerweise aussehen könnten. Ob diese utopisierende Praxis dann im Kon- text von „Utopiefähigkeit“ (vgl. Negt 1997), Revolution oder Hirngespinsten anzusiedeln ist, muss an dieser Stelle allerdings unbeantwortet bleiben. 182 Literaturverzeichnis Althusser, Louis 1971. Ideology and Ideological State Apparatuses. Notes towards an Investigation. In ders. Lenin and Philosophy and Other Essays. New York: Monthly Re- view Press, 127–186. http://www.marxists.org/reference/archive/althusser/1970/ ideology.htm [Stand 2011-04-11]. Apprich, Clemens 2009. 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