Melanie Fritsch Gitarrensimulant*innen und Daumenartist*innen? Überlegungen zum Einsatz von Computerspielen im Musik-, Instrumental- und Sportunterricht Die Nutzung von Computerspielen im Musik- und Instrumen- talunterricht wird nicht nur in den Erziehungswissenschaf- ten oder der Medienpädagogik, sondern auch in jenem Teil- gebiet der Game Studies verhandelt, welches sich auf die Erforschung von Computerspielen und Musik spezialisiert hat: der Ludomusicology. Im vorliegenden Beitrag wird aus ludomusikologischer Perspektive anhand einiger Beispiele aus dem kommerziellen Musikspielbereich überlegt, inwie- weit sich diese für den Instrumental-, Musik- und Sportunter- richt eignen könnten. Die Idee, Spiele zur Vermittlung bestimmter Wissensbestände zum Beispiel für den Musik- und Instrumentalunterricht zu nut- zen, ist nicht neu. Schon das mittelalterliche Zahlenkampfspiel (RITHMOMACHIE, hierzu z. B. Borst 1986) diente didaktischen Zwecken. Es fand seine Verbreitung ab dem 11. Jahrhundert und sollte die Proportionslehre des Boëthius lehren, in der Überarbei- tung von Fortolf auch in Bezug auf die in Zahlen ausgedrück- ten musikalischen Tonverhältnisse. Im Jahr 1801 ließ sich die in Edinburgh wirkende Konzertpianistin und Pädagogin Ann young eine Brettspielsammlung mit sechs Spielen „for Amusement and Instruction“ (young in Ghere und Amram 2007: 1) patentieren, mit deren Hilfe junge Performer*innen Musiktheorie für die prakti- sche Anwendung erlernen sollten. in: Didaktik des digitalen Spielens, hg. von Sebastian Möring, Manuela Pohl und Nathanael Riemer, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam 2021, 066 – 094. https://doi.org/10.25932/publishup-52670 066 Musik Dies findet sich auch im Computerspielbereich wieder. So er- schien 1990 zum Beispiel das MIRACLE PIANO TEACHING SySTEM von Software Toolworks für mehrere Plattformen. Nut- zer*innen sollten mithilfe von spielerischen Übungen und Mini- spielen das Piano- bzw. Keyboardspielen erlernen. Von pädago- gischer Seite wurde das Spiel zwar gelobt, war mit rund $ 500 für Software und Peripheriegeräte wie das mitgelieferte Keyboard jedoch recht teuer und verkaufte sich dementsprechend eher mä- ßig. Ein anderes Spiel, welches neben Grundlagen der Musiktheo- rie auch Instrumentenkunde, Gehörbildung und Musikgeschichte vermitteln soll, ist das für Windows-PCs und Mac veröffentlich- te Point-&-Click-Adventure OPERA FATAL (1996). Das Spiel ver- setzt die Spieler*innen in den Traum eines namenlosen Maestros, dem am Abend vor der Premiere von Beethovens Fidelio die No- ten gestohlen wurden. Der geheimnisvolle Notendieb schickt den Maestro auf eine Schnitzeljagd durch das Opernhaus. Es gilt, in- nerhalb der sieben Level jeweils zehn Zettel mit musikspezifi- schen Fragen aufzuspüren und diese korrekt zu beantworten, um den jeweils nächsten Level freizuschalten. Auf weiteren Zetteln sind Lösungen für die Puzzles und Rätsel notiert. Für Spieler*in- nen ohne Vorwissen oder für besonders kniff lige Fragen steht ein innerspielerisches Nachschlagewerk zur Verfügung, welches sich aus einer Bibliothek, der CD-Sammlung des Maestros und einem Instrumentenraum zusammensetzt (vgl. Solfaghari 2018). Bei all diesen Beispielen handelt es sich allerdings um Educa- tional oder Serious Games, die dezidiert zu ebenjenen pädago- gischen Zwecken produziert wurden. Dementsprechend ist die Idee der gamifizierten Vermittlung bestimmter Kompetenzen de- signseitig bereits mitbedacht. Im Rahmen der Vorlesungsreihe an der Universität Potsdam im Sommer 2017 sollte es jedoch explizit nicht um solche Lernspiele gehen, sondern um eigentlich zu Un- terhaltungszwecken entwickelte Spiele, die sich dennoch – oder 067 Fritsch vielleicht sogar gerade deshalb? – für einen Einsatz im Unterricht eignen könnten. Im Rahmen dieses Beitrags widme ich mich dem Thema aus einer ludomusikologischen Perspektive, die wiederum auf einem theaterwissenschaftlichen Ansatz basiert, den ich in meiner Dis- sertation entwickelt habe (vgl. Fritsch 2018) und der hier zusam- menfassend dargestellt wird. Zugleich wird der Fokus erweitert, indem ich mich nicht nur mit einer Verwendung von Computer- spielen aus dem Bereich der Musikspiele für den Musik- und In- strumental-, sondern auch für den Sportunterricht befasse. Vor dem Einstieg in die inhaltliche Diskussion ist es notwendig, einen kurzen Überblick über die Fragestellungen und Ansätze der Ludo- musicology zu geben, um die anschließenden Überlegungen fach- lich zu kontextualisieren. Ludomusicology Ludomusicology (auch als Ludomusikologie eingedeutscht) ist ein Teilbereich der Game Studies, der bis dato vornehmlich von Musikwissenschaftler*innen vorangetrieben wird, jedoch ver- stärkt auch interdisziplinäre Ansätze inkludiert (für einen ein- führenden Überblick über das Feld siehe Fritsch und Summers 2021). Dabei werden Herangehensweisen entwickelt, die auf die Analyse von Computerspielmusik und ihren Einsatz als Design- element in Computerspielen zugeschnitten sind. Denn obschon neben Computerspiel-spezifischen Kompositionstechniken (vgl. z. B. van Geelen 2008) auch aus anderen Medienformen über- nommene Strategien und Techniken in der Vertonung zum Ein- satz kommen, darunter beispielsweise das aus dem Filmbereich bekannte „Mickey Mousing“ oder Underscoring, stoßen Film- musik-spezifische Ansätze oder auch musikwissenschaftliche Methoden wie die Partituranalyse spätestens bei Musikspieltiteln 068 Musik oder bei prozeduraler Musik (das heißt, die Musik wird vom Com- puter auf Basis bestimmter Regeln live generiert) an ihre Grenzen. Des Weiteren ist die Musikkultur, welche rund um die Com- puterspiele entstanden ist, Gegenstand des ludomusikologischen Interesses. Erforscht werden zum Beispiel Live-Aufführungen von Computerspielmusik oder ihre Verwendung in anderen Me- dienformen, fankulturelle und partizipatorische Praktiken wie zum Beispiel die Erstellung von Fanvideos mit eigenen Arrange- ments oder das Schreiben eigener Songs, die Spiele oder Spielse- rien zum Thema haben (Tribute-Songs, vgl. hierzu Fritsch 2018: 245 – 251), sowie die Entstehung eigener musikalischer Genres (z. B. Chipmusik, Ataricore, Bliphop). Interkulturelle Fragestellun- gen wie etwa die Entwicklung der Computerspielmusik-Fankul- tur in bestimmten Regionen oder der Einfluss auf und die Wech- selwirkungen von Computerspielen und ihrer Musik mit anderen musikalischen Traditionen oder Genres wie zum Beispiel Hip-Hop oder Formen der elektronischen Musik wie Techno rücken eben- falls immer stärker in den Blick. Eine theoretisch ausgerichtete Teildebatte geht von dem Ge- danken aus, dass es sich sowohl bei Musik als auch bei Computer- spielen um performative Praktiken handelt, die auf einem Set von Regeln basieren und erst dann ihre volle Wirkung entfalten kön- nen, wenn sie gespielt bzw. „performed“ werden. Die Stoßrich- tung ist hierbei ein Perspektivwechsel in der Musikforschung weg von einer textbasierten Herangehensweise hin zu einer Analyse unter dem Vorzeichen des Play, also des spielerischen Umgangs, während des Spielvorgangs bzw. der Spiel-Performance. Dieser letztgenannte Ansatz ist es auch, der wie einleitend erwähnt für die Entwicklung meines theoretischen Ansatzes und somit auch für den vorliegenden Beitrag als Ausgangspunkt der Überlegun- gen dient. Dementsprechend wird dieser Ansatz im folgenden Abschnitt zusammenfassend skizziert. 069 Fritsch Computerspiele und ihre Musik als Performances Die Betrachtung von Computerspielen und Musik als Formen der Performance wurde im ludomusikologischen Diskurs vor allem durch den Erfolg von Musikspielen wie GUITAR HERO (2005) an- gestoßen. Ludomusikolog*innen wie Kiri Miller, Roger Moseley, Anahid Kassabian und Freya Jarman, Michael Austin, David Ar- diti und viele andere diskutieren dabei vor allem Fragen wie die folgenden: Handelt es sich beim Spielen solcher Spiele überhaupt um echte musikalische Aktivität? Wie viel kreativen Einfluss ha- ben Spieler*innen tatsächlich auf das im Moment des Spielens erklingende Opus? Muss von Live- oder mediatisierten Perfor- mances gesprochen werden und wie sind in der Folge Fragen der Authentizität zu bewerten? Welche für das echte Instrumental- spiel nützlichen Fertigkeiten wie zum Beispiel Rhythmusgefühl, Hand-Augen-Koordination, eine bestimmte Form aktiven Hörens, Notenlesen usw. werden eingeübt? Bemerkenswert ist, dass in diesem englischsprachigen Dis- kurs der Begriff der Performance (häufig ohne Abgrenzung zum Begriff des Performativen) zwar benutzt, anders als Begriffe wie „game“, „play“, „authenticity“ oder „liveness“ jedoch nicht weiter definiert wird. Darüber hinaus machen gerade Musikspiele wie GUITAR HERO oder ROCKSMITH (2011) einen weiteren Umstand sicht- bar, den Karen Collins bereits 2008 in Bezug auf alle Spiele her- vorgehoben hat: „Although the goal of many game developers is to create an immersive experience, the body cannot be removed from the experience of video game play […] Unlike the consumption of many other forms of media, in which the audience is a more passive ‚receiver‘ of a sound signal, game players play an ac- 070 Musik tive role in the triggering of sound events in the game“ (Collins 2008: 3). Fragen des Embodiment und des Verhältnisses von Spieler*in- nenkörper und Spiel müssen dementsprechend ebenfalls mit in die Überlegungen einbezogen werden. Zu diesem Zweck hat sich die Definition des Performance-Forschers Marvin Carlson als nützlicher Ausgangspunkt erwiesen: „If we […] ask what makes performing arts performative, I imag- ine the answer would somehow suggest that these arts require the physical presence of trained or skilled human beings whose demonstration of their skills is the performance“ (Carlson 2004: 2 – 3). Im Folgenden spezifiziert er diesen Ansatz und kommt zur folgen- den Unterscheidung: „[W]e have two rather different concepts of performance; one involving the display of skills, the other also involving display, but less of particular skills than of a recognized and culturally coded pattern of behavior“ (Carlson 2004: 4). Carlson argumentiert weiter, dass Performance auch als Leistung verstanden werden kann, die evaluiert wird auf der Basis von „some standard of achievement which may not itself be precisely articulated“ (Carlson 2004: 4). Dabei sei es unwichtig, ob externe Zuschauer*innen präsent seien, denn „all performance involves a consciousness of doubleness, according to which the actual execution of an action is placed in mental comparison with a po- tential, an ideal, or a remembered original model of that action“ (Carlson 2004:5 ). Jemand muss die Performance also evaluieren und ihre Bedeutung verstehen, wobei es keine Rolle spielt, ob es sich dabei um eine andere Person handelt. Zugleich hat der 071 Fritsch Begriff der Performance eine zweite Ebene, auf die insbesonde- re die deutschsprachige Theaterwissenschaft abhebt: die Auffüh- rung. „Der Aufführung kommt ihr Kunstcharakter – ihre Ästhetizität – nicht aufgrund eines Werkes zu, das sie schaffen würde, son- dern aufgrund des Ereignisses, als das sie sich vollzieht. Denn in der Aufführung, wie Herrmann sie erläutert, kommt es zu einer einmaligen, unwiederholbaren, meist nur bedingt beein- fluß- und kontrollierbaren Konstellation, aus der heraus etwas geschieht, das sich so nur dieses eine Mal ereignen kann – wie es eben unvermeidlich ist, wenn eine Gruppe von Akteuren mit einer Zahl von Besuchern […] zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort konfrontiert werden“ (Fischer-Lichte 2004: 53 – 54). Fischer-Lichte betont, dass es außerdem zielführender sei, von Mit-Erzeugern zu sprechen als von Rezipienten und Produzen- ten, da sich diese Zuschreibungen erst während der durch alle Teilnehmer*innen erzeugten Aufführung etablierten und Rollen- wechsel jederzeit möglich sind (Fischer-Lichte 2004: 81). Der Begriff der Performance muss also in einem zweifachen Sinne verstanden werden. Zum einen beschreibt er die Ebene der Leistung. Diese unterteilt sich in erstens „a display of skills“, wel- ches zweitens im Rahmen eines kulturellen Kontextes und dessen Regeln stattfindet und drittens nicht nur von entsprechend kom- petenten Spieler*innen aus- und damit aufgeführt, sondern von einem gleichermaßen kompetenten Publikum evaluiert bzw. ver- standen wird, sei dieses nun extern oder die ausführende Person selbst. Zum anderen beschreibt Performance die Ebene der Auf- führung, das heißt im Falle von Computerspielen und Musik den aktuellen Akt des Aus- und Aufführens, das kompetente und so- mit für Rezipient*innen evaluierbare aktuelle Play von Spiel und 072 Musik Musik. Collins’ Bemerkung folgend, findet diese Spielaufführung nicht nur auf dem Bildschirm statt, sondern Spieler*innen, ihre Körper und Fähigkeiten sind Voraussetzung und zugleich aktiver Bestandteil, da durch ihre Beteiligung das Spiel und damit die da- zugehörigen „sound events“ erst realisiert werden. Um sich nun Computerspielen und ihrer Musik bzw. Musikspie- len zu nähern, ist es insofern sinnvoll, auch eine erweiterte Per- spektive auf Musik jenseits eines Verständnisses als schriftlich niedergelegtem (Noten-)Text zu etablieren, um die von Carlson beschriebenen „recognized and culturally coded pattern of behav- ior“ begriff lich fassen und in die Analyse einbeziehen zu können. Der Musiksemiotiker Gino Stefani hat ein fünfstufiges Modell ent- wickelt, welches Stefan Strötgen wie folgt zusammenfasst und das in der von ihm noch einmal konkretisierten Form für unsere Zwecke fruchtbar gemacht werden kann: „Die erste Stufe sind die ‚General Codes‘, die psychoakusti- schen Grundlagen der Hörwahrnehmung. Auf der zweiten Stu- fe stehen die ‚Social Practices‘, der Umgang mit Musik in der Gesellschaft und der daraus entstehende Bezug zu Personen, Gruppen, Institutionen etc. Durch diesen Umgang bilden sich unterschiedliche ‚Musical Techniques‘ als Organisationsprinzi- pien für Klang heraus, zum Beispiel in Form von Tonsystemen und Kompositionstechniken. Diese drei Faktoren konstituieren die ‚Styles‘ und schließlich das konkret erklingende ‚Opus‘“ (Strötgen 2014: 119). Für den anhand der folgenden Fallbeispiele diskutierten Zusam- menhang ist insbesondere die Stufe der sozialen Praktiken von Belang. Stefani verstehe darunter ein „network of sense“, auf dem „the relationships between music and society or, rather, between the various social practices of a culture“ (1987:1 1 – 12) aufgebaut sind. Musik, so fasst Strötgen den Kerngedanken zusammen, er- 073 Fritsch hält erst durch die Verwendung in der Gesellschaft eine Bedeu- tung, „indem sie ins Verhältnis zu anderen Inhalten gesetzt und damit Teil eines sozialen Bedeutungsnetzwerks wird“ (2014: 129). Diese Bedeutungen müssen erlernt werden und sind der Musik nicht inhärent. Um der Aufführung eine weitere Bedeutung bei- zumessen bzw. die Performance evaluieren zu können, reicht es also nicht, die Musik zu hören. Performer*innen müssen zum Bei- spiel Rock in seinen verschiedenen Ausdrucksformen und den dazugehörigen Interpretationsmodi schon einmal begegnet sein, um die entsprechenden Verknüpfungen aktiv herstellen bzw. die entsprechenden Verhaltensweisen kompetent performen zu kön- nen, sodass sie als Rock und der Rockkultur zugehörig von einem gleichermaßen kompetenten Publikum identifiziert werden kön- nen (hierzu ausführlich Strötgen 2014: 129 – 137). All dies lässt sich exemplarisch bei GUITAR HERO beobach- ten. So beschreibt Kiri Miller, dass sich bei regelmäßigen Spie- ler*innen zwei grundlegende Spielstile herausgebildet haben. Zum einen seien da „[t]he score-oriented [players who, M. F.] treat these games as well-defined rule-bound systems, in which the main challenge and satisfaction lies in determining how to exploit the scoring mechanism to best advantage“ (Miller 2009:4 18). Die- ser Gruppe gehe es um eine Optimierung des numerischen Spiel- ergebnisses in Form von Punkten und dem erfolgreichen Durch- spielen der Songs auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad. Hierzu sind bestimmte allgemeine kognitive, soziale und persönlichkeits- bezogene Kompetenzen sowie Sensomotorik und Medienkom- petenz (nach der Systematik von Gebel, Gurt und Wagner 2005) vonnöten, darunter Konzentration, Aufmerksamkeit, Frustrations- toleranz oder Hand-Augen-Koordination. In der ludomusikolo- gischen Debatte werden diese Kompetenzen üblicherweise als für den echten Instrumental- und Musikunterricht nützlich her- vorgehoben. Gleichermaßen ist eine Reihe konkret auf das Spiel 074 Musik bezogener Wissensbestände notwendig („game literacy“, hierzu z. B. Zagal 2010), zu der zum Beispiel das Wissen um die spielspe- zifischen technischen Spiel- und Fingerfertigkeiten (Hammer-on- und Pull-off-Techniken), die genaue Kenntnis der Songs, das Erler- nen eines spielspezifischen Hörens, musikalischen Struktur- und Rhythmusverständnisses sowie das Lesen der Ingame-Notation gehören (vgl. hierzu Miller 2009: 410). Da es sich hierbei um spiel- spezifische Fertigkeiten handelt, helfen sie zum Beispiel beim Er- lernen des Gitarrespielens nicht weiter, können aber von einem spielliteraten Publikum erkannt und goutiert werden. Zum anderen beschreibt Miller die „[r]ock-oriented players [who] recognize that rock authenticity is performative. They ge- nerally do value their videogame high scores, but they also be- lieve creative performance is its own reward. As they play these games, they explore the implications of their role as live perfor- mers of prerecorded songs“ (Miller 2009:4 18). Diese rockorientierten Spieler*innen legen also besonderen Wert auf weitere Kompetenzen: das Wissen um den kulturellen Kontext von Rockmusik und ihre Fähigkeit, die entsprechenden Verhaltensweisen wie etwa das „Guitar Face“ (vgl. Roesner 2012) oder das Hochreißen des Gitarrenhalses (welches auch für die „score-oriented players“ an bestimmten Stellen relevant ist, da es den besonders Punkte-ergiebigen Star-Power-Modus aktiviert) als rockspezifische „recognized and culturally coded pattern of be- havior“ wiedererkennbar nachzuahmen. In beiden Fällen jedoch erfolgt eine intensive und aktive Auseinandersetzung mit der ge- spielten Musik, die sich von einem reinen Anhören unterscheidet und sogar über das Spiel hinausgeht, wie Miller erklärt: „When asked how these games changed their listening ex- perience, players explained that the combination of reading notation and the physical act of playing a particular part (gui- 075 Fritsch tar, bass, drums) made them hear songs differently, including songs they had never played in the games. Several reported ‚playing along‘ mentally as they listened to music, sometimes also playing air guitar or drums (with game controller perform- ance mechanics in mind) and/or visualizing appropriate on- screen notation“ (Miller 2009:4 10). Auf Basis dieser Vorüberlegungen gehe ich bei meinen weiteren Betrachtungen von folgenden Grundannahmen aus: 1. Computerspiele können nicht nur inhaltlich Wissensbestän- de wie zum Beispiel Musiktheorie oder Musikgeschichte ver- mitteln, sondern durch ihre spezifische Konstellation Formen der aktiven Musikerfahrung evozieren, die andere Rezep- tionsformen so nicht bieten. 2. Dabei ist der Aspekt der aktiven Involvierung der Spieler*in- nen und ihrer Körper in den Spielvorgang zentral, da die Musik nicht nur gehört, sondern auf verschiedene Art und Weise aktiv und spielerisch erfahren und erfahrbar gemacht werden kann. 3. Diese anderen Formen der Musikerfahrung können für Lern- zwecke genutzt werden. 4. Dazu eignen sich nicht nur mit pädagogischer Stoßrichtung produzierte Lernspiele, sondern auch auf Unterhaltung aus- gerichtete Titel. Musikspiele im Musik- und Instrumentalunterricht Die oben genannten Grundfragen ludomusikologischer Beschäf- tigung mit Musikspielen zu pädagogischen Zwecken hat zuletzt Jan Torge Claussen in seinem Dissertationsprojekt Musik als Vi- deospiel. Guitar Games in der digitalen Musikvermittlung (2021) an- hand von Titeln wie ROCKSMITH ausführlich diskutiert. 076 Musik Eine erste interdisziplinäre Annäherung unter pädagogischen Vorzeichen fand bereits in den Jahren 2014 und 2015 im Rahmen eines internationalen Forschungsnetzwerks unter der Leitung von Gianna Cassidy und David Roesner statt (vgl. Roesner ohne Jahr). Gemeinsam mit Kolleg*innen aus der Erziehungs-, Musik- und Theaterwissenschaft, Musiker*innen und Praktiker*innen aus der Computerspielindustrie und musikalischen Praxis wur- den eine Reihe von Fragen ausgelotet. Zum Beispiel: Wie kann das Drücken eines Knopfes eine kreative Erfahrung bieten? In- wieweit ist körperliche Performance Teil des Musikmachens? Wie verändert sich unsere Beschäftigung mit Musik durch Spie- le? Wie verändern Tanzspiele unsere Erfahrung populärer Musik? Und was sind die aktuellen und in naher Zukunft erwartbaren Entwicklungen im Bereich der musikbasierten Spiele? Ein von den Mitinitiatorinnen Gianna Cassidy und Anna Pais- ley zuvor an der Glasgow Caledonian University durchgeführtes pädagogisches Projekt mit dem Titel „Music Games: Supporting New Opportunities in Music Education“ (2011 – 2013), auf dem das Netzwerkprojekt aufbaute, machte sich den im vorherigen Ab- schnitt diskutierten Aspekt der sozialen Praktiken und die damit verbundenen „recognized and culturally coded pattern of behav- ior“ für die Lernerfahrung zunutze (vgl. Roesner/Paisley/Cassidy 2016: 207 – 213). Im Anschluss an eine theoretische Auseinander- setzung führten sie zunächst eine Testreihe mit Spieler*innen verschiedenen Alters durch. In einem nächsten Schritt ließen sie Schüler*innen einer „primary 6 class“ (entspricht etwa der fünf- ten Klasse im deutschen Schulsystem) im Alter zwischen 10 und 11 das Spiel ROCK BAND 3 (2010) spielen. Zusätzlich sollten sie, aufgeteilt in Gruppen, eigene Rockbands gründen und diese mit Leben füllen, indem etwa gemeinsam ein zum kulturellen Rah- men des Rock passender Name gewählt und Biografien für Band- mitglieder erdachten wurden. Des Weiteren entwarfen die Schü- 077 Fritsch ler*innen passende Albumcover und Merchandise-Bildmaterial, stellten eine Debüt-Single sowie eine Trackliste zusammen und planten eine imaginäre Tour durch Großbritannien. Anhand von David Bowies Song Space Oddity erprobten sie außer dem spiele- risch, wie sich Musiker*innen auf der Bühne verhalten müssten. Cassidy und Paisley nennen zwei Hauptergebnisse dieses Pro- jekts im Rahmen eines gemeinsam mit David Roesner verfassten Textes im Zusammenhang mit dem oben genannten Netzwerk- projekt: „The nature of the music game provided an immediate gateway for further exploration into the subjective rewards of standard musicianship. This appeared to bypass the many confines of musical aptitude and skill that can often present a barrier in formal musical participation […] [B]oth the children and teacher repeatedly referenced the benefits of being able to adopt a variety of musical personas within the game (for example, via instrument choice) as a means with which to explore and ne- gotiate their own musical identities. […] It was further apparent that this ability to reconstruct and negotiate an internal repre- sentation of what it means to be ‚musical‘ was subsequently bolstered via direct involvement in related Rock Band activities, often thought privy to that of accomplished musicians. […] Per- haps most importantly, however, the children were free to do so in the absence of the constraints that typically accompany formal modes of musical participation, such as the presence of performance evaluations, consequences, and influential others that can often present a subjective threat to one’s identity“ (Roesner/Paisley/Cassidy 2016:2 12 – 213). Nach dem Projekt schätzten sowohl die Schüler*innen als auch die Testpersonen der vorherigen Testreihen die eigene Musikali- tät bzw. ihre Berechtigung zu musizieren bzw. musikalische Hand- 078 Musik lungen aus- und aufzuführen wesentlich höher ein als zuvor (vgl. Roesner/Paisley/Cassidy 2016: 213). Die Schüler*innen wurden also nicht von fehlenden Instrumental- oder Notenlesefertigkeiten eingeschränkt. In diesem Zusammenhang kommt ein Umstand zum Tragen, auf den David Roesner an anderer Stelle explizit hin- weist: GUITAR-HERO-Spieler*innen erlernten Songs zunächst auf der Makro- und erst sukzessiv auf der Mikroebene, da sie auf den leichteren Schwierigkeitsstufen mit einem Knopfdruck ganze Riffs auslösen und auf diese Weise direkt den ganzen Song zum Erklingen bringen könnten. Erst im Expert-Modus sei beinahe je- dem Knopfdruck auch ein Klangereignis zugeordnet, während sich Instrumentalschüler*innen Songs gerade in kleinere Ein- heiten aufteilten, die sie Note für Note einübten, bevor sie zum nächsten Abschnitt übergehen (Roesner 2012: 594). „Interessanterweise erfordert Guitar Hero also, dass in den frühen, einfacheren Phasen des Spiels stärker analytisch und mit Blick auf Makrostrukturen gespielt wird, während die späteren Phasen des Spiels sich den eher mechanisch-virtuo- sen Aspekten einer präzisen Abbildung der Mikrostrukturen widmen, die dem Spieler allerdings zunehmend das Gefühl ver- mitteln, er spiele das Stück tatsächlich“ (Roesner 2012: 594). Da auch ROCK BAND nach diesem Prinzip funktioniert, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass auch Schüler*innen mit Vorkennt- nissen im Instrumentalspiel nicht besser spielen konnten als ihre Mitschüler*innen. Sogar das Gegenteil könnte der Fall gewesen sein, wie Dominic Arsenault anhand seiner eigenen Spielerfah- rung beschreibt: „My fingers were fumbling between the large plastic buttons. I was frequently missing notes – easy notes! – and the structure of chords seemed confusingly arbitrary. At times I had trouble 079 Fritsch understanding the link between what the screen was telling me to play and what my ears were decoding. I was often play- ing many more notes than the game was asking me to. This was not right. After all, I was both a good gamer and a good guitar and bass player“ (Arsenault 2008: 1). Zudem fanden keine Evaluation bzw. Bewertung durch Lehrer*in- nen im Rahmen des Projektes statt. Einzig das Spiel selbst gab eine Leistungsschwelle und -evaluation vor, die jedoch mithilfe der einstellbaren Schwierigkeitsgrade an die vorhandenen spiel- spezifischen Fertigkeiten der Schüler*innen angepasst werden konnte. Zwar wäre eine solche erleichterte Einstiegsschwelle auch beim klassischen Musizieren möglich, indem etwa eine vereinfachte Version eines Songs eingeübt wird. Das erklingen- de Opus wäre jedoch weniger zufriedenstellend und auch dann bliebe fraglich, ob ebenso schnell ein Erfolgserlebnis eingetre- ten wäre. Ob den Schüler*innen – ähnlich wie den von Miller für ihre Studie interviewten Spieler*innen – klar war, dass sie das erklingende Opus nicht im klassischen Sinne erzeugten, bleibt offen. Das Game Design und der Kontext des Spielerischen sorg- ten jedenfalls für eine Absenkung einer offenbar vorhandenen Hemmschwelle, sich musikalisch zu betätigen, auszuprobieren und spielerisch an die kulturellen Kontexte und sozialen Prakti- ken des Rock anzunähern. Dies eröffnet zugleich einen interessan- ten Blick auf Fragen musikalischer Partizipationsmöglichkeiten und eines bestehenden (oder gefühlten) Gatekeepings, die ich an- dernorts angerissen habe (vgl. Fritsch 2018: 299 – 302). Und auch dies ist offenbar nichts Neues: Schon im eingangs erwähnten Pa- tent zu Ann youngs Brettspielsammlung wird dieser Aspekt als Motivation für die Produktion des Spiels genannt: 080 Musik „Interestingly, young refers to a ‚game or exercise‘. She makes no distinction between the fun and the practice. Indeed, ‚ex- ercise‘ becomes even more appropriate when we learn that she intends to teach young ‚performers‘ and to free them from embarrassment“ (Ghere/Amran 2007: 13). Einen Designansatz, der ebendies in den Vordergrund rückt, fin- den wir bei dem Musikspiel WII MUSIC (2008). Das Spiel nimmt den Aspekt der Leistung, der bei Rhythm-Action-Spielen wie GUITAR HERO oder ROCK BAND vorhanden ist, völlig aus dem Blick (vgl. Fritsch 2012). Spieler*innen müssen nicht in einem be- stimmten Rhythmus bestimmte Knöpfe drücken, sondern das Spielen eines Instrumentes wird durch das Nachahmen der ty- pischen Bewegungen simuliert, wobei die Wii-Controller in den Händen gehalten werden müssen. Bis zu vier Spieler*innen kön- nen im Jam-Modus zusammen musizieren. Dieser ist noch einmal in „Improv“, „Quick Jam“ and „Custom Jam“ unterteilt (vgl. Fritsch 2012: 613 – 614). Des Weiteren gibt es vier Minispiele, darunter zum Beispiel „Mii Maestro“, in dem Spieler*innen ein Mii-Orches- ter mithilfe der Wii-Remote dirigieren. Das Spiel bietet 66 Instru- mente und Sounds, man kann 50 verschiedene klassische und traditionelle Songs spielen, darunter 15 lizenzierte Stücke und na- türlich auch sieben beliebte Songs aus anderen Nintendo-Titeln. In pädagogischen Zusammenhängen kam das Spiel bereits in Kin- dergärten, Grundschulen und Seniorenheimen zum Einsatz. Das Ziel war dabei, Spaß am Umgang mit Musik zu vermitteln und Neugier zu wecken. Der Leistungsaspekt, immer besser und prä- ziser zu spielen, fällt hier ebenso weg wie eine Einstiegsschwelle, stattdessen liegt die Betonung auf dem reinen Ausprobieren von und dem Spielen mit musikalischen Bewegungen, die am eigenen Körper ausagiert werden und einen immer gut klingenden akusti- 081 Fritsch schen Effekt erzeugen. Der Spieleratgeber NRW hat das Spiel ge- testet und pädagogisch beurteilt: „Musizieren wird einfach. Wunderbar einfach und für einen Pädagogen, dessen Kernaufgabe das Lernen ist und nicht Notenschemata, die Erfüllung alter Träume. Denn die Macher verzichteten auf jede Form der Leistungskontrolle, es gibt vom System weder Punkte noch einen Highscore. Die Spieler kön- nen sich selbst bewerten, was Spieler verwirrt, aber als ‚Selbst- reflexion‘ wichtig ist. Das Nachdenken darüber [sic!] was man gelernt hat, hilft im Sinne des ‚konstruktivistischen Lernens‘ und ist inzwischen ein gängiges schulmethodisches Instru- ment. Dies ist mit ein Grund dafür, dass viele Gamer ‚Wii Music‘ nicht verstehen und mit einem Spiel um Punkte verwechseln. Ihre Denkschemata bewegen sich um Wertungen, Vergleiche, Besser-Sein und Besser-Werden. Hier aber ist der Weg das Ziel“ (Fileccia ohne Jahr). Das Fazit lautet: „Gemeinsam musizieren ohne Notenkenntnis, mit anderen spielen ohne ein Musikstück durch Inkompetenz zu ruinieren, Dutzende [sic!] Instrumente auszuprobieren mit einer Band von Freunden – darin liegt die Kraft von ‚Wii Music‘. […] ‚Wii Music‘ ist vor allem Kindern bis zehn Jahren empfohlen, da es zum zwanglosen Musizieren und Musik entdecken [sic!] ein- lädt“ (Fileccia ohne Jahr). In der Bewertung klingt erneut der Aspekt der (schamvollen) In- kompetenz an, durch welche das Musikstück ruiniert werde. Roesner, Paisley und Cassidy fassen die Möglichkeiten, die alle bis zu diesem Punkt diskutierten Musikspiele bieten, in ihrer im oben genannten Text vorgenommenen Abschlussbewertung des eingangs genannten Netzwerkprojektes treffend zusammen: 082 Musik „Music games bring to the fore a notion of music as an activ- ity for which its performance and embodiment are integral – both in music production and perception […]. While the actual agency in the production of sound can indeed be quite limited or highly regulated, these games offer creative license with or within the game to embody, perform, and play […]. They give the player opportunity to invent or experiment with his or her ‚musical persona‘“ (Roesner/Paisley/Cassidy 2016: 205). Ein weiterer Ansatz, Musik erfahrbar und damit zugänglich zu ma- chen, findet sich in der deutschen Musikpädagogik. So berichtete Thade Buchborn, Professor der Musikpädagogik, in seinem Vor- trag „Musizieren – Bewegen – Reflektieren. Integrative Ansätze der Songanalyse“ im Rahmen des Symposions The Song Is You – Aktuelle Fragen und Methoden der Songanalyse an der Universität Freiburg im Oktober 2016 von einem Projekt, bei dem er zusam- men mit Künstler*innen mithilfe des Lichtmalens neue Möglich- keiten der Visualisierung und des Erfahrens von Musik und musi- kalischer Strukturen erprobte (siehe Buchborn 2013). Ein Computerspiel, das in einem vergleichbaren Sinne eine Vi- sualisierung von Musik jenseits klassischer Notation und zugleich eine spielerische Erfahrung musikalischer Strukturen bietet, ist das im Jahr 1999 für die PlayStation erschienene Musikspiel VIB- RIBBON. Auf den ersten Blick handelt es sich auch hierbei um ein einfaches Rhythm-Action-Spiel: Spieler*innen müssen ihren Avatar Vibri erfolgreich im Rhythmus der Musik über einen Hin- dernisparcours steuern. Avatar und Parcours sind in einfacher Strichmännchenoptik gehalten. Das Spiel generiert den Hinder- nisparcours jedoch auf Basis der musikalischen Intensität. Auf diese Weise bietet es eine Erfahrung musikalischer Struktur und Bewegung. Darüber hinaus können Spieler*innen anstelle des mitgelieferten Soundtracks eine eigene CD einlegen und auf die- 083 Fritsch se Weise ihre eigene Musik spielerisch visualisieren, erfahren und erforschen. Ein letztes Beispiel geht noch einmal auf andere Art mit Mu- sik um. Held des in Anime-Optik produzierten JRPGs (Japanese Role-Playing Game) ETERNAL SONATA (2007) ist der im Sterben liegende Komponist Frédéric Chopin. Zusammen mit dem tod- kranken Mädchen Polka und anderen Charakteren erlebt er im Traum ein letztes Abenteuer. Alle innerspielerischen Orte, Cha- raktere und Gegner sind mit musikalischen Begriffen benannt. Es gibt musikalische Minispiele und die erzählte Geschichte ist in acht Kapitel untergliedert, die sich thematisch je an einer Kom- position Chopins und Ereignissen aus seinem Leben orientieren. Letztere werden in Zwischensequenzen mit pädagogischer Inten- tion erzählt. Der direkte Umgang mit Musik steht hier nicht im Vordergrund. Was ETERNAL SONATA jedoch in unserem Zusam- menhang interessant macht, ist die von mir andernorts angestell- te Überlegung: „The idea of a dreamworld as the underlying narrative context for gameplay is a romantic one, blurring the lines between fantasy and reality, in a way not dissimilar to other works in Romantic literature, music and paintings. In this way, Eternal Sonata thematizes Romantic concepts such as the dissolution of boundaries, the romantic hero, escapism, and a blending of the mythical and the real worlds. […] A player who is not familiar with Chopin or his music will be introduced not just to the com- poser and his work, but rather to the entire ideational discourse bound to it by interacting with the game“ (Fritsch 2014: 174). Ähnlich wie bei GUITAR HERO oder ROCK BAND steht Musik hier als soziale Praxis im Vordergrund, jedoch nicht als Gameplay verarbeitet, sondern als Grundlage des angebotenen Narrativs, welches auf Diskursen und Ideen der Romantik basiert. Insofern 084 Musik böte sich das Spiel dazu an, neben den tatsächlich pädagogisch intendierten informativen Zwischensequenzen und dem angebo- tenen Wissen über Chopin und einer Begegnung mit seiner Musik auch ebenjene Diskurse und Ideen anhand des Spiels zu vermit- teln: das romantische Ineinanderfließen von Traum und Realität, Musik als die einzig wahrhaft entgrenzende Kunstform, wie sie zum Beispiel von Autor*innen wie E. T. A. Hoffmann diskutiert wurde, und dergleichen. Musikspiele im Sportunterricht Tanz- und Bewegungsspiele wie DANCE DANCE REVOLUTION (1998), DANCE AEROBICS (1987) oder mittlerweile auch gezielt auf Kinder abgestimmte Tanz- und Bewegungsspiele, wie sie für Nintendo Wii, Microsoft Xbox Kinect oder PlayStation Move produziert wurden, stellen wiederum nicht die kulturellen Kon- texte von Musik, sondern den sich zur Musik bewegenden bzw. die musikalische Bewegung ausagierenden Körper in den Mittel- punkt. Das erste kommerziell auch in den USA erfolgreiche Tanzspiel, DANCE DANCE REVOLUTION, wurde bei seinem Erscheinen von Spieler*innen, aber auch von der Fachpresse sehr positiv auf- genommen (vgl. Liu 2002), schon bevor es in pädagogischen Zu- sammenhängen verwendet wurde. Statt bewegungslos vor Kon- sole oder PC zu sitzen und dabei immer dicker und ungelenker zu werden (so zumindest die Horrorszenarien amerikanischer Medien und Eltern seit Mitte der 1980er), sprangen amerika- nische Kinder und Jugendliche nun sichtbar aktiv auf mit Pfeilen versehenen Tanzplattformen und Tanzmatten herum oder traten in Wettbewerben gegeneinander an. 2007 berichtete die New York Times über ein landesweites Projekt, bei dem das Spiel in amerika- nischen Schulen auch im Sportunterricht zum Einsatz kam: 085 Fritsch „Children don’t often yell in excitement when they are let into class, but as the doors opened to the upper level of the gym at South Middle School here one recent Monday, the assem- bled students let out a chorus of shrieks. […] In less than a minute a dozen seventh graders were dancing in furiously ki- netic union to the thumps of a techno song called ‚Speed Over Beethoven‘. […] ‚Traditionally, physical education was about team sports and was very skills oriented,‘ said Chad Fenwick, who oversees physical education for the Los Angeles Unified School District, where about 40 schools now use Dance Dance Revolution. ‚What you’re seeing is a move toward activities where you don’t need to be so great at catching and throwing and things like that, so we can appeal to a wider range of kids‘“ (Schiesel 2007). 2012 brachte die Herstellerfirma Konami in Zusammenarbeit mit der American Diabetes Association, The National Foundation on Fitness, Sports, and Nutrition und dem Projekt Let’s Move in Schools sogar eine spezielle Edition für den Schulunterricht her- aus (DANCE DANCE REVOLUTION: CLASSROOM EDITION 2012). Neben dem potenziellen Abnehmeffekt trainieren solche Tanzspiele zwar weitere Fähigkeiten wie Gedächtnis, Rhythmus- gefühl und Körperkoordination. Ähnlich wie beim pädagogischen Einsatz von WII MUSIC ging es jedoch im Rahmen der Schulpro- jekte um den Spaß an der Bewegung zur Musik, weniger um den Leistungsaspekt, zumindest, wenn man der entsprechenden Be- richterstattung Glauben schenken darf und wie auch das hier zi- tierte Beispiel zeigt. Denn dieser stand durchaus im Hintergrund, da der Spielfortschritt und der Abnehmerfolg der Schüler*innen mithilfe mitgelieferter personalisierter Karten gemessen wurden: Im Werbespot zu Classroom Edition betont Konami, dass die ver- brannten Kalorien, der Body-Mass-Index sowie die Spielaktivität 086 Musik der Schüler*innen nachverfolgt werden können. Dass Spiele wie DANCE DANCE REVOLUTION darüber hinaus bestimmte „skills“ verlangen, um die teilweise sehr komplexen Choreografien ins- besondere auf den höheren Schwierigkeitsgraden zu absolvieren und dabei gut auszusehen, gerät hingegen offenbar aus dem Blick. Denn wie auch schon beim ROCK BAND-Projekt und der Bewer- tung von WII MUSIC wird durch den von Schiesel zitierten Lehrer der Aspekt der gesenkten Einstiegshemmschwelle angesprochen. Auch hier überschreiben der spielerische Kontext und die daraus folgende Leistungsbewertung in Bezug auf die Spielkompeten- zen aufgrund ihrer Nicht-Ernsthaftigkeit in der Wahrnehmung des Lehrers anscheinend den Aspekt einer echten in diesem Falle sportlichen Leistung (wie Dinge werfen oder fangen). Anders for- muliert: Beim Herumspringen auf der DANCE DANCE REVOLU- TION-Matte Fehler zu machen, wird insofern als weniger beschä- mend eingeschätzt, als etwa einen Ball nicht fangen zu können. Welche Höchstleistungen bezüglich des sportlichen als auch des kreativen Umgangs mit Musik im Rahmen solcher Spiele mög- lich sind, lässt sich bei regelmäßigen Spieler*innen beobachten, die in der DANCE DANCE REVOLUTION-Community aktiv sind. Während Perfect-Attack-Spieler*innen die schnellsten Songs auf der höchsten Schwierigkeitsstufe durchspielen und neben kör- perlicher Fitness auch eine unglaubliche Koordinationsfähigkeit demonstrieren, erschaffen Freestyle-Spieler*innen auf Basis der vorgegebenen Tanzschritte eigene Choreografien, die sie an öf- fentlich aufgestellten Arcade-Automaten oder bei Wettbewerben vorführen. Dabei übersetzen beide Gruppen musikalische in kör- perliche Bewegung und sind sich des Schauwertes ihrer Perfor- mances im Sinne einer Leistungsschau und ästhetischen Auffüh- rung durchaus bewusst (vgl. Fritsch 2012: 611 – 612). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Bei allen hier vor- gestellten Versuchen, Spiele wie ROCK BAND 3, WII MUSIC oder 087 Fritsch DANCE DANCE REVOLUTION im Unterricht einzusetzen, sei es nun Musik- oder Sportunterricht, tauchte als positives Argument auf, dass die Spiele trotz ihnen inhärenter Leistungsaspekte vor allem den Leistungsdruck von den Schüler*innen genommen und ihnen damit einen freieren Zugang zu bzw. Umgang mit Mu- sik ermöglicht hätten. Neuere musikwissenschaftliche Herange- hensweisen wie etwa der Diskurs um Musik als Performance, der Ende der 1990er aufkam, und nun auch die ludomusikologi- sche Forschung erweitern jenseits von Textparadigma und Genie- ästhetik die Perspektive auf Musik als soziale Praxis, das heißt als Phänomen der Aufführung und des gemeinsamen Spiels. Da- bei geht es nicht nur um die Vermittlung von inhaltlichem Wissen, sondern von spielerischer Erfahrung, der Einbeziehung des Kör- pers und dem Ausagieren und Ausprobieren musikalischer Erfah- rung. Der hier immer wieder auftauchende Aspekt der Scham be- züglich fehlender „echter“ Kompetenzen müsste an anderer Stelle noch einmal intensiver betrachtet werden. In der hier etablierten Perspektive liegt zugleich die Chance, nicht nur Ansätze zu ent- wickeln, um Musik spielerisch zu erforschen und – wie etwa im Falle von VIB-RIBBON oder ETERNAL SONATA vorgeschlagen – Computerspiele in pädagogischen Zusammenhängen zu nutzen, sondern auch neue Technologien spielerisch zu erschließen und diese gleichzeitig zu musikalischen Zwecken zu nutzen, wie es etwa das AG-Projekt App2Music an Berliner Schulen ausprobiert (vgl. 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