Hartmut -ü/inkler Der filmischeR aum und der Zuschauer Apparatus-' Semantik- 'Ideology' RE, IHES IEGEN1 10 CARL \TINTER . UNIVERSITATSVERLAG HEIDELBEF*G 1992 REIHE SIEGEN Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft Band 110 Eine Schriftenreihe der Universität- Gesamthochschule- Siegen Herausgegeben von Wolfgang Drost, Helmut Kreuzer Wolfgang Raible, Kar/ Riha und Christian W Thomsen MEDIENWISSENSCHAFT Verantwortlicher Herausgeber dieses Bandes: Christian W Thomsen Gedruckt mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen HARTMUT WINKLER Der filmische Raum und der Zuschauer 'Apparatus'- Semantik - 'Ideology' HEIDELBERG 1992 CARL WINTER UNIVERSITÄTSVERLAG Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Wink/er, Hartmut: Der filmische Raum und der Zuschauer: 'Appa- ratus'- Semantik - 'Ideology' I Hartmut Wink! er. - Heidelberg: Winter, 1992 (Reihe Siegen; Bd. 110: Medienwissenschaft) ISBN 3-533-04496-3 kart. ISBN 3-533-04497-1 Gewebe NE:GT ISBN 3-533-04496-3 kart. ISBN 3-533-04497-1 Ln. Alle Rechte vorbehalten. © 1992. Carl Winter Universitätsverlag, gegr. 1822, GmbH., Heidelberg Photomechanische Wiedergabe nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Verlag lmprime en Allemagne. Printed in Germany Reproduktion und Druck: Carl Winter Universitätsverlag, Abteilung Druckerei, Heidelberg Inhalt 0. Einleitung 9 1. Die 'Apparatus and Ideology' - Debatte 1.1 Der Ausgangspunkt und die zentralen Texte 19 1.2 Technik-orientierte Ansätze 39 1.3 Der psychoanalytisch orientierte Ansatz von Chr. Metz 45 1.4 Suture-Theorie 54 1.5 Zum Ideologiebegriff der Apparatus-Autoren 62 1.6 Zwischensumme und Kritik der Apparatus-Debatte 68 2. Vier Überlegungen zum filmischen Raum 2.1 Die Raummechanismen des Films 77 2.2 Mechanismen am Punkt des Schnitts 84 2.3 Maßnahmen gegen den Raum 92 2.4 'Vom Sinn der Perspektive' 101 3. Der filmische Raum und das symbolische System des Films 3.1 Theorie der Segmentierung auf Basis der Gestalttheorie 3.1.1 Räumliche Kontinuität versus Zeichenbegriff 118 3.1.2 Das Problem der Segmentierung 126 3.1.3 Gestalttheorie 127 3.1.4 Objekte der filmischen Wahrnehmung 137 3.1.5 Film und Sprache 141 3.1.6 Zwischensumme: der filmische Raum als Objektfeld 148 3.2 Theorie der Konnotationen auf Basis der Metapherntheorie 3.2.1 Konnotationen 151 3.2.2 Zum Verhältnis von Diskurs und symbolischem System 158 3.2.3 Das symbolische System als Netz negativ-differentieller Verweise 164 3.2.4 Das symbolische System der Bilder 174 3.2.5 Summe: Transparenz und Überhöhung der Zuschauerposition 178 4. Subjekt und Objekt. Zum Verhältnis von Zuschauerposition und Objektsphäre im Film 4.1 Das Problem 185 4.2 Blick und Macht. Die Obszönität des militärischen Blicks 186 4.3 Die Rolle des Blicks im System der Disziplinen 192 4.4 Geschlechtermacht 199 4.5 Naturbeherrschung auf dem Feld des Symbolischen 211 5.1 Zusammenfassung: Filmische Technik, Semantik und Zuschauerposition 225 5.2 Ausblick 239 Literatur "Imagine an eye unruled by man-made laws of perspective, an eye unprejudiced by compositional logic, an eye which does not respond to the name of everything" Stan Brakhage Einleitung 1 An den Beginn seines Buches 'Die Ordnung der Dinge' hat Foucault eine brillante und verblüffende Analyse des Bildes 'Las Meninas' von Diego Velázquez gestellt. Das Bild, 1656 entstanden, zeigt einen tiefen, abgedunkelten Raum, dessen hellerer Vordergrund durch eine quer angeordnetete Personengruppe eingenommen wird. Im Mittelpunkt dieser Gruppe steht die etwa achtjährige Infantin, die, von Höflingen und Zwergen umsorgt, den Betrachter direkt anblickt; links hinter ihr, im Mittelgrund, hat der Maler sich selbst dargestellt. Die linke Seite des Bildes wird durch die Rückseite einer riesigen Leinwand begrenzt, von der der Maler gerade zwei Schritte zurückgetreten scheint; wie die Infantin blickt auch er aus dem Bild heraus und den Betrachter an. In seiner Deutung dieses Bildes folgt Foucault zunächst der Blickrichtung der abge- bildeten Personen: das eigentliche Zentrum ihrer Aufmerksamkeit liegt offensichtlich außerhalb des Bildraums und dort, wo nun der Betrachter steht; gleichzeitig aber fehlt der inhaltliche Mittelpunkt des Bildes, das Modell, das gerade portraitiert werden soll und das der Maler, die Palette in der Hand, gerade zu fixieren scheint. Foucault also entdeckt eine Art Austauschverhältnis zwischen dem fehlenden Modell und dem Be- trachter, die Doppelbelegung einer Position, die den Betrachter in die abgebildete Situation geradezu hineinzieht. Doch damit nicht genug. Velázquez hat, um das Spiel des Austauschs in Gang zu setzen, die Position des Modells nicht einfach offengelassen. Im Bild selbst findet sich ein Hinweis, um wen es sich bei dem fehlenden Portraitierten eigentlich handelt: An der Rückwand des Raumes nämlich hängt ein Spiegel, der schemenhaft erkennbar das Königspaar zeigt, das dem Maler Modell gestanden haben muß; und wie die Blicke der Beteiligten verweist auch der Spiegel durch die gesamte Tiefe des Raums – auf den Betrachter. Bezieht man, wie Foucault vorschlägt, als viertes schließlich die Phase der Produktion des Bildes selbst ein, in der der tatsächliche Maler – Velázquez – malend wiederum gerade dort gestanden haben muß, wo nun der Betrachter, das fehlende Modell und das gespiegelte Königspaar sich austauschen, wird die volle Komplexität dieser iro- nischen Inszenierung deutlich. Eine Arbeit über den Film und bestimmte seiner medialen Gesetze und Eigenheiten mit der Beschreibung eines Gemäldes, d.h. eines einzelnen, noch dazu vor-techni- schen Bildes zu beginnen, mag wenig zwingend erscheinen; tatsächlich aber war die Lektüre der Foucaultschen Deutung der Anstoß, in den Raummechanismen des Films überhaupt ein Problem, einen kritischen Punkt der mit dem Film befaßten Theorie und schließlich das Thema für die vorliegende Arbeit aufzutun. 1 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt 1974, S. 31ff (O., frz.: 1966) 10 Velázquez' Inszenierung nämlich, dies macht die Analyse deutlich, thematisiert den Blick, mit dem der Zuschauer dem Bild gegenübertritt. Die zentralperspektivische Raumkonstruktion, die Blicke der Portraitierten und der Spiegel wirken darin zusam- men, den Appell des Gemäldes bewußt und fühlbar zu machen und die Position des Betrachters als eine vordefinierte aufzuweisen; gleichzeitig aber wird diese Vordefini- tion deutlich karikiert: nicht allein, daß durch die Mehrfachbelegung des Raums vor dem Bild eine Art 'Gedränge' entsteht, eine Ambiguität, die der Betrachter nachvoll- ziehen, letztlich aber nicht entscheiden kann, ironisch vor allem ist die Tatsache, daß, ganz entgegen dieser Unsicherheit, die Position des Betrachters in einzigartiger Weise aufgeladen und überhöht erscheint. Alle Aufmerksamkeit der abgebildeten Personen konzentriert sich auf ihn, ihm hat der Maler seinen Platz geräumt, und, dies ist der 2 wohl deutlichste Hinweis, das Spiegelbild weist ihn als einen 'König' aus. Für Foucaults Deutung spielt diese ironische Überhöhung des Betrachters eine geringe Rolle; was aber könnte Velázquez motiviert haben, die Position des Betrachters ironisch zu steigern, oder, was weiterginge, eine vorhandene, 'systematische' Selbst- überhöhung des Betrachters ironisch offenzulegen? Die Einbeziehung der Raumkonstruktion in die Liste der Inszenierungsmittel deutet es bereits an: Der 'Austausch mit dem König' kann als das inhaltliche Äquivalent für eine formale Eigenheit gelesen werden, die seit der Renaissance (und bis an die Schwelle der Moderne) nahezu allen Bildwerken eingeschrieben ist und die unsere Auffassung einer 'realistischen' Darstellungsweise bis heute bestimmt: Die zentralperspektivische Konstruktion des Bildraumes, oder, in der Sprache der darstellenden Geometrie, die zentralperspektivische Flächenprojektion. Diese Art des Bildaufbaus beinhaltet zunächst die Festschreibung eines Augenpunktes dem Bild gegenüber, eines Standortes, der dem Betrachter vom Bild selbst vorge- geben wird; gleichzeitig aber, und darauf kommt es hier an, bedeutet diese Art der Darstellung, daß der gesamte Bildraum für die Betrachtung und auf den Betrachter hin konstruiert ist. Beim perspektivischen Bild ist ein Teil des Appells, des kommuni- kativen Gestus in die formale Grundkonstruktion selbst eingegangen, und wo ein Moderator sein "hochverehrtes Publikum" explizit als solches ansprechen muß, sagt das perspektivische Bild vor jeder inhaltlichen Aussage: 'Siehe! Hier. Eine Welt FÜR DICH.' Das Tückische dieses Appells ist, daß das Abgebildete dem Blick immer schon unter- worfen erscheint; seine Autonomie und seine Position dem Betrachter gegenüber sind in eigentümlicher Weise geschwächt, der Betrachter selbst scheint eine herausgehobe- ne und definitionsmächtige Stellung einzunehmen 2 Velázquez malte im Auftrag des spanischen Königs; daraus zu folgern, das Bild im Spiegel adressiere allein diesen tatsächlichen Auftraggeber, aber griffe sicher zu kurz. 11 Niemand, der ein zentralperspektivisches Bild betrachtet, wird diese Konnotationen heute noch unmittelbar fühlen können; durch die darstellende Geometrie scheinbar objektiviert, ist diese Art der Flächenpropjektion so weitgehend ins kollektive Unbe- wußte eingegangen, daß alle nicht-zentralperspektivischen Bilder als 'falsch' oder 3 zumindest als abweichend erscheinen. Dennoch aber hat die Kunsttheorie immer wieder darauf hingewiesen, daß es sich bei der Perspektive zum einen um eine 4 'symbolische Form' handelt, der weitreichende inhaltliche Implikationen zugeordnet werden können, und daß zum zweiten der Zeitraum ihrer verbindlichen Gültigkeit für die bildende Kunst auf einen bestimmten Zeitabschnitt innerhalb der Antike und dann noch einmal von der Renaissance bis etwa zum Ende des 19. Jh., insgesamt also auf wenige Jahrhunderte eingeschränkt ist. Vor allem die moderne Malerei hat sich von der Perspektive weitgehend abgewandt. Um so bemerkenswerter, und dies nun berührt das engere Thema der vorliegenden Arbeit, ist die Tatsache, daß die technischen Bilder, die Photographie und der Film, die zentralperspektivische Flächenprojektion übernommen haben. Jedes der unzäh- ligen Photos, die uns umgeben, jeder Kinofilm, und jedes Realbild, das das Fernsehen überträgt, gehorcht dem zentralperspektivischen Flächencode, und ganz anders als im Fall der Malerei sind es nun die bilderproduzierenden Maschinen selbst, die diese Art der Flächenprojektion erzwingen. Die Photographie und der Film haben die Zentral- perspektive von der Camera Obscura ererbt; ein Apparat, der als ein Spielzeug und als ein Hilfsmittel zur manuellen Produktion von Bildern benutzt wurde, geriet damit zum Ausgangspunkt einer ungeheuren Bezeichnungsmaschinerie, ohne daß parallel die hi- storischen und kulturellen Implikationen reflektiert worden wären, die mit der Über- nahme des mechanischen Grundprinzips als Konterbande in die neuen Techniken ein- gegangen sind. Die grundlegende Fragestellung dieser Arbeit ist damit umrissen. Wie können, wenn die Zentralperspektive mit einem 'Realismus' der Darstellung nicht einfach gleichzu- setzen ist, die Implikationen ausbuchstabiert werden, die die Raumkonstruktion in die technischen Bilder hineinträgt? Welche Rolle spielt der Mechanismus der Raumkon- stitution für das Medium Film? Und reaktualisieren die technischen Bilder tatsächlich den spezifischen Appell der zentralperspektivischen Bilder und befestigen damit – die vorgeschlagene Deutung als gültig unterstellt – jene Zuschauerposition, die Velázquez 1656 als 'überhöht' karikierte? Träfe dies alles zu, müßte man folgern, daß Photogra- phie und Film eine Weltsicht aufrechterhalten, die in der Kunst seit langem und viel- leicht aus guten Gründen aufgegeben worden ist. 3 Beispiel sei das 'Paradiesgärtlein' des Oberrheinischen Meisters (1410) im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt. 4 Titel eines Aufsatzes von E. Panofsky (P., Erwin: Die Perspektive als symbolische Form. In: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985, S. 99-168 (O.: 1924)) 1 2 Die Frage nach dem filmischen Raum wirft eine Vielzahl von Folgeproblemen auf, denen im weiteren nachzugehen sein wird, und das Befremden gegenüber dieser scheinbar selbstverständlichen 'Grundgegebenheit' des Mediums wird sich vor allem dann beweisen, wenn auch auf bereits etablierte Fragen der Filmtheorie eine neue Sicht ermöglicht wird. Zunächst aber sei ein zweiter Antrieb genannt, der neben der Foucault-Lektüre als ein, wenn auch sehr persönliches Motiv in die vorliegende Untersuchung eingegangen ist. Dieses zweite Motiv ist eine persönliche, fast übersteigerte Raumfaszination, die, in der biographischen Abfolge, eine Obsession für Bauklötze, ein Architekturstudium, bestimmte Fahr- oder Taucherfahrungen und, inzwischen dominierend, die 'Droge' 5 Kino miteinander verbindet. In diese Raumfaszination allerdings mischt sich ein erhebliches Mißtrauen gegenüber der bruchlosen Verschränkung, ja, der Vereinbarkeit von Erkenntnis und Progression auf der einen Seite, und dem unmittelbar sinnlichen Genuß auf der anderen; einer Verschränkung, wie sie das Kino anders als etwa die Schrift immer versprochen hat; die Spannung beider Momente, denke ich, erklärt ein investigatives Bedürfnis, das die ursprüngliche Faszination bricht und im Zweifel mit dem filmischen Raum auch einen 6 Teil des Genusses zu demontieren bereit ist. Daß Theorie immer ein Moment der Aggression gegenüber ihrem Gegenstand enthält, ist bekannt, ebenso die Tatsache, daß die Medizin sich mit der Autopsie ungleich leichter tut als im Umgang mit lebendigen Objekten; im Fall des Kinos scheint das Verhältnis dadurch kompliziert, daß das Medium selbst, in seiner Sinnlichkeit und in seinem scheinbar irreduziblen Überschuß an Bedeutungs- und Bezeichnungsmöglich- keiten, eine Art Gegenpol zum zergliedernden Verstand zu bilden scheint und jeden Fund der Theorie geradezu höhnisch dementiert; gerade in diesem Zusammenhang, dies wird zu zeigen sein, kommt dem filmischen Raum eine zentrale, um nicht zu sagen strategische Bedeutung zu Der Weg der Untersuchung ist von solchen Widerständen des Gegenstandes zumin- 5 Ich erinnere mich genau, daß bereits meine erste Begegnung mit bewegten Bildern, wie vermittelt auch immer, mit dem filmischen Raum zu tun gehabt hat: Eine Hausangestellte meiner Eltern hatte mich – sechsjährig und entgegen einer ausdrücklichen Weisung – mit ins Kino genommen, in einen jener Fünfzigerjahrefilme, die auf bunte Bilder, glückliche Teenager, glänzende Autos und die landschaf- tliche Schönheit Oberitaliens setzten. Ich bezweifele, die Handlung damals auch nur im Groben ver- standen zu haben; eine nachhaltige Wirkung und eine präzise Erinnerung bis zum heutigen Tag aber hinterließ eine Autofahrt, die, mit Musik unterlegt eine Serpentinenstraße hinunterführte; diese Fahrt muß eine spezifische Euphorie, um nicht zu sagen einen subjektiven Raumrausch ausgelöst haben, und ich weiß genau, sie pfeifend auf einem Tretroller unzählige Male nachgespielt zu haben. 6 Chr. Metz benennt am Anfang seines 'Signifiant imaginaire' eine ähnliche Erfahrung, wenn er berich- tet, in welcher Weise die theoretische Beschäftigung mit dem Film seine Filmfaszination beschädigt und umstrukturiert hat. 13 dest ebenso bestimmt worden wie durch die Ausgangsfragestellung; und auch wenn die Argumentation sowohl von der Zentralperspektive als auch von der oben skiz- zierten Zuschauerdefinition sich weit entfernen wird, so bleibt im Zentrum dennoch die Hypothese, daß die spezifische Lust, die das Kino dem Zuschauer gewährt, oder ein bestimmter Teil dieser Lust, mit den Mechanismen der filmischen Raumkonstitu- tion erklärt, und über eine Analyse des filmischen Raumes der Theorie zugänglich gemacht werden kann. Um dieses Zentrum herum sind die konkreten Teile der vorliegenden Arbeit gruppiert: Eine erste ausführlichere Recherche erbrachte die Einsicht, daß zwar nicht die deut- sche, sehr wohl aber die französische Filmtheorie die skizzierte Raum-Problematik erkannt und in der sogenannten 'Apparatus'-Debatte der siebziger Jahre bearbeitet hat. Der narzißtischen Kränkung, den eigenen Ansatz bereits diskutiert zu finden, stand der Gewinn gegenüber, sich nun auf einem vorstrukturierten Terrain bewegen, und die eigenen Vorstellungen in der Kritik an bereits entwickelten Theorien präzisieren zu können. Die Gliederung der vorliegenden Arbeit vollzieht diese Bewegung nach; indem sie von einem Referat der genannten Theorien ausgeht, und in einem zweiten Schritt zusätzliches Material aus der Kunsttheorie und der Filmtheorie heranführt, schafft sie eine Basis, bestimmte Grenzen der Apparatus-Debatte offenzulegen, und ein eigenes Projekt relativ zu diesen Grenzen zu entwerfen. Zentral für die Kritik wie für die Weiterentwicklung sind Überlegungen, die tradi- tionell in das Gebiet der Semiotik fallen würden. Das Funktionieren des Films als eines symbolischen Systems ist nach wie vor theoretisch weitgehend ungeklärt; als ein 'analoges' Medium scheinbar irreduzibel kontinuierlich und an aller Semiotik vorbei 'direkt' an die äußere Realität gebunden, scheint der Film auf semiotische Mechanismen und Modelle nicht reduzierbar, und die entwickelten Konzeptionen ihrem Gegenstand gegenüber eigentümlich steril Vom filmischen Raum aus nun erscheint es möglich, dieses Problem, wenn auch nicht zu lösen, so doch einer Modellierung zugänglicher zu machen, und ein Weg dazu wird im dritten Abschnitt der vorliegenden Arbeit skizziert. Die Grundvorstellung der Apparatus-Theorien, das Funktionieren des Films auf eine Struktur regelhafter Verkennungen zurückzuführen, nämlich scheint nicht nur auf die Apparatur selbst, sondern ebenso auch auf das symbolische System des Films an- wendbar zu sein; und da das Problem des filmischen Raums in beiden Aspekten zentral bleibt, ergibt sich die Möglichkeit, zumindest im Feld dieses Teilproblems Hypothesen zu entwickeln, auf welche Weise die filmische Technik und das sym- bolische Systems des Films zusammenspielen. Die Überlegungen zum symbolischen System des Films führen von der Ausgangsfrage weit ab und machen es notwendig, Theorien einzubeziehen, die den Apparatus- Ansätzen, vor allem was die philosophische Grundorientierung angeht, deutlich 14 zuwiderlaufen; das für den Leser wohl befremdendste Element in diesem Zusammen- hang dürfte ein Abschnitt sein, der bestimmte Ergebnisse der Metapherntheorie und 7 der traditionellen deutschen Sprachtheorie in den Kontext der Argumentation ein- bringt. Auch dieser Abschnitt aber ist, zumindest nach dem Stand meiner Erkenntnis, durch kein anderes, thematisch näherliegendes Modell zu ersetzen, und das Ergebnis dieser Recherche, dies wird, so hoffe ich, deutlich werden, hat innerhalb der Gesamtargu- 8 mentation eine eigene und genau kalkulierte Last zu tragen. Die Schwierigkeit, sehr heterogene Theorien in Anspruch nehmen zu müssen, bedingt das zentrale Darstellungsproblem der vorliegenden Arbeit, das gleichzeitig aber, davon bin ich überzeugt, ein allgemeineres Problem der Medienwissenschaft und vielleicht der Geisteswissenschaften allgemein berührt. Bedingt durch die Internatio- nalisierung der theoretischen Debatten, die Beschleunigung der Theoriekonjunkturen und das rapide Auseinanderdriften der philosophischen Projekte und Sprachspiele, ja, ganzer Diskursformationen im Hintergrund selbst sehr schlichter Überlegungen, sieht der einzelne Schreibende sich vor die unerquickliche Wahl gestellt, sich entweder einem einzelnen Subdiskurs (im Extrem einer 'Theoriesekte') anzuschließen und den entsprechenden Sprachgebrauch als schlicht verbindlich zu übernehmen, oder aber, zumindest ebenso problematisch, sich zu jener Instanz zu erklären, die eine Modera- tion zwischen den Sekten und Sprachspielen unternimmt. In ihrem berechtigten Bemühen zu vermitteln und partikulare Wahrheiten für einen allgemeineren Diskurs zurückzugewinnen, vernachlässigen die 'Moderatoren' oft genug die völlig unterschiedlichen theoretischen und philosophischen Voraussetzun- gen, die die einzelnen Theorien motivieren, und nivellieren damit, was diesen Theo- rien überhaupt erst ihre Prägnanz, ihre Untertöne und ihre spezifische Suggestion ver- schafft. Die vorliegende Arbeit hat sich deshalb entschieden, ein mittleres Niveau der Integra- tion anzustreben. Vielen Einzelansätzen wird jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet, in der Absicht, so die Theorie zunächst isoliert entfalten, und auch ihren Hintergrund zumindest atmosphärisch einbeziehen zu können. Für den Leser allerdings bedingt diese Art des Vorgehens eine spezifische Anstren- gung: er muß eine Vielzahl von Motiven, die nach und nach aufgebaut und durch verschiedene Kontexte hindurch fortentwickelt werden, in sehr unterschiedlicher Ge- stalt wiedererkennen, und bereit sein, diejenigen Relationen selbst zu verfolgen, die eine entschlossener subsumierende Darstellung verbindlich vorgegeben hätte. Dennoch stellt der Text keine Theoriecollage dar; indem von den referierten Ansätzen 7 repräsentiert etwa durch den Namen Bühlers 8 Ein Leser, der diesen sprachtheoretischen Teil – meiner Bitte um Geduld zum Trotz – dennoch als zu speziell empfindet, kann den Faden bei der Zusammenfassung in Teil 3.2.4 wiederaufnehmen. 15 ein sehr eigenütziger Gebrauch gemacht wird, bestimmte Motive immer wieder aufge- nommen und der Bezug zur Gesamtargumentation explizit hergestellt wird, wird, dies jedenfalls ist die Hoffnung, das eigene Projekt sichtbar und die Gefahr der Zerfalls reduziert. Der vierte Abschnitt der Arbeit kehrt vom symbolischen System des Films zum Zuschauer und damit zur Ausgangsthese, seine Position sei durch die Regeln der filmi- schen Raumkonstitution vordefiniert, zurück. Anders als in den Apparatustheorien wird das Zuschauerverhältnis nun als ein Verhältnis zu Objekten – zu Objekten der Abbildung und solchen der Referenz – aufgefaßt und die 'Überhöhung' des Zuschauers als ein Verhältnis realer oder halluzinierter Macht ausbuchstabiert. Die sehr umfangreiche Zusammenfassung schließlich verfolgt das Ziel, die unter- schiedlichen Stränge der Argumentation zu einem zumindest ansatzweise kohärenten Modell zusammenzuführen. Um Redundanzen zu vermeiden, sind die Zwischenergeb- nisse der vorangegangenen Recherchen nicht oder nur mit Verweischarakter wie- derholt; obwohl also eine 'Zusammenfassung', wird dieser abschließende Teil, wenn er isoliert gelesen wird, kaum plausibel erscheinen können. Die Arbeit, der kursorische Überblick dürfte dies bereits deutlich gemacht haben, trifft Aussagen über den Film ausschließlich auf der Ebene medientheoretischer Modelle und Überlegungen. Die Untersuchung konkreter Filme, sei es als 'Beleg', sei es zur Erarbeitung bestimmter Thesen, ist damit ebenso bewußt ausgeschlossen, wie die Ge- wohnheit vieler Autoren, zumindest gegen Schluß ihres Textes durch einen Rekurs auf einzelne Filme noch Konkretion zu signalisieren. Die so getroffene Richtungsentscheidung hat ihren Grund zunächst in der lapidaren Feststellung, daß die getroffenen Aussagen auf der Ebene filmphilologischer Unter- suchungen weder wahrscheinlicher gemacht, noch falsifiziert werden können; anders als die Literaturwissenschaft, wo Modelle, die nicht an Texten entwickelt sind, wenig 9 Sinn machen, wirft der Film als ein technisches Medium Fragen auf, die nur in der Auseinandersetzung mit dem Medium selbst, seiner Technik und seinem symboli- schen System, beantwortet werden können. Es sei daran erinnert, daß die Literaturwissenschaft bestimmte Fragen en bloc an die Sprachwissenschaft, bzw. Linguistik abgetreten, und damit aus ihrem Zuständigkeits- bereich ausgeklammert hat. Auch wenn man die so vollzogene Trennung nicht für glücklich hält (und wenn es Indizien dafür gibt, daß diese Art der Grenzziehung in 9 Da auch die Schrift ein technisches Medium ist, müßte man korrigieren: ein der Schrift gegenüber stärker von der Technik bestimmtes Medium Allgemein wird der Begriff der Technik im folgenden auf materiell-maschinelle Anordnungen einge- grenzt bleiben; zu einem Begriff der ästhetischen Technik, wie ihn etwa Adorno entwickelt hat, also ergibt sich zunächst kein Anschluß. 1 6 10 beiderseitigem Interesse wird revidiert werden müssen ), bleibt das Problem beste- hen, daß Aussagen auf der Ebene des Mediums mit solchen zu konkreten Produkten nicht sofort und bruchlos zu vereinigen sind. Der zweite, pragmatischere Grund ist eine Schwierigkeit der Darstellung. Da die Mehrzahl der verwendeten Theorien sich auf einem sehr hohen Niveau der Abstrak- tion bewegen, und einige in ihrem sprachlichen Gestus die Grenze zwischen Theorie 11 und Literatur zumindest berühren, hätte die Einbeziehung einer zusätzlichen mate- rialanalytischen Ebene die ohnehin gefährdete Kohärenz des Textes endgültig infrage- gestellt. Dies alles bedeutet weder, daß die entwickelten Modelle jede Verbindung zu filmi- schen Rezeptionserfahrungen eingebüßt hätten, noch daß sie für eine Arbeit am Material irrelevant wären und konkrete Analysen nicht anstoßen und motivieren könnten. Auch dies zu zeigen aber wird aus dem hier gesteckten Rahmen ausge- 12 schlossen. Der Horizont des hier Beabsichtigten ist damit auf eine Theoriedebatte eingeschränkt. Zu lokalisieren wäre diese Debatte zwischen der Film- und einer allgemeineren Medientheorie, sofern man als 'medientheoretisch' Ansätze bezeichnet, die verschie- dene Medien miteinander vergleichen, Spezifika, Leistungsfähigkeit und Grenzen der einzelnen Medien herausarbeiten und ihr Funktionieren innerhalb der kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge analysieren. Wie die Apparatustheorien geht auch die hier vertretene Argumentation vom Problem der filmischen Technik aus. Sie in den Kontext kunst- bzw. kulturgeschichtlicher Entwicklungen einzustellen, bedeutet eine grundsätzliche Perspektivverschiebung sowohl gegenüber einer naiven Technikgeschichtsschreibung, die 'epochemachende Erfindungen' auflistet und technische 'Mittel' benennt, als auch gegenüber den seit Ende der siebziger Jahre häufiger unternommenen Versuchen eine 'Geschichte der 10 Als Indiz wären etwa die Überlegungen Kristevas zu nennen, die in der Analyse bestimmter avancierter literarischer Texte deutlich macht, daß sowohl der Text- und Sprachbegriff der Literaturwissenschaft als auch die verdinglichte Linguistik einer Revision bedürfen, und deren Argumentation exakt auf der Grenze zwischen Sprachtheorie und Literaturwissenschaft operiert (Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Ffm 1978 (O., frz.: 1974)) 11 dies gilt für nahezu alle Theorien, die auf Lacan zurückgehen, in anderer Weise aber auch für Foucault und für Adorno 12 Ich selbst habe parallel zu der Arbeit am hier vorliegenden Text und auf Basis der hier entwickelten Vorstellungen drei kürzere materialanalytische Texte vorgelegt. - W., H.: Verhärtung. In: Erlhoff, Michael (Hrsg.): Gold oder Leben. Aufsätze zum Verhältnis von Gegenstand und Ritual. Darmstadt 1988 - Beschlagene Spiegel. Zu den Fotografien Klaus Pohls. In: Rogue, Nr. 6, Okt. 1990 - Das Ende der Bilder? Das Leitmedium Fernsehen zeigt deutliche Symptome der Ermüdung. In: Fernsehtheorien. Dokumentation der GFF-Tagung 1990. Berlin 1991 (in Vorber.) 17 Wahrnehmung' oder des 'photographisch/filmisch/panoramatischen Blicks' zu schrei- ben. Am begrenzten Problem des filmischen Raumes erscheint es möglich, bestimmte Verbindungslinien zu ziehen, die die filmische Technik mit der Subjektivität der Zuschauer in Relation setzen, und an einem begrenzten Modell zu verdeutlichen, welche Funktion die Medientechnik im Rahmen allgemeinerer kultureller und ge- sellschaftlicher Prozesse übernimmt. Die Theorie kommt damit letztlich auf die Vorstellung McLuhans zurück, das Medi- um selbst sei alles andere als ein neutrales Mittel (z.B. für den Nachrichtentransport), sondern enthalte – quasi eingekapselt – selbst 'die Botschaft', die es zu begreifen und für den Diskurs zurückzugewinnen gelte. Diese Bestimmung gilt sicher für nahezu alle Technologien; im Fall der Medien- technik aber kommt ihr eine besondere Relevanz insofern zu, als die Medien zu einem wesentlichen Mittel der Welterschließung geworden sind und die unmittelbare Erfa- hrung als die einzig mögliche Kontrollinstanz immer weiter zurückgedrängt haben. Gleichzeitig distribuieren Medien nicht Gebrauchsgüter sondern Symbole; wenn die technische Struktur der Medien auf das Transportierte also Einfluß hat, so hat dies Konsequenzen für den Diskurs selbst und für die Struktur des symbolischen Univer- sums, die – letztlich – das Sagbare vom Unsagbaren und das Denk-bare vom Unvor- stellbaren trennt; und auch die Theorie selbst muß, an die Struktur des symbolischen Universums gebunden, sich Rechenschaft geben, von welcher Position aus sie diese Einflüsse überhaupt in den Blick nehmen kann. Die Vielfalt und die Verschränkung dieser Ebenen macht die besondere Schwierigkeit aller Aussagen zur Medientheorie und zur Medientechnik aus, und birgt die grund- sätzliche Gefahr in sich, bei plausiblen aber unterkomplexen Modellen stehenzublei- ben Die letzte der einleitenden Überlegungen hängt hiermit unmittelbar zusammen: Auch die theoretische Reflexion über die Medien nämlich durchläuft eine Entwicklung, die mit derjenigen der Medien selbst, wenn auch vermittelt, in einer Wechselbeziehung steht. Wenn also zumindest ansatzweise der Ort bezeichnet werden soll, den die Apparatustheorien (und alle Folge-Überlegungen) relativ zur Entwicklung der Medien einnehmen, so wird man eine eigentümlich zwiespältige Situation der Medien kon- statieren müssen. 13 Einerseits nämlich scheint der Siegeszug der technischen Bilder, der das Monopol 13 Wie an dieser Stelle bereits deutlich wird, ist die hier vorgetragene Argumentation gezwungen, ihren eigentlichen Gegenstand, den Film, von Zeit zu Zeit zu verlassen und auf die Ebene der technischen Bilder allgemein überzuwechseln. Hintergrund für dieses Vorgehen ist die Vorstellung, daß das Medium Film, in seinem Anspruch, ein optimal ähnliches Abbild der Realität zu liefern, eine Art Kul- minationspunkt in der Geschichte der Bildmedien darstellt, so daß deren Schicksal insgesamt mit dem Schicksal des Films sich entscheidet. 18 der Schrift gebrochen und die sprachgebundenen Medien in eine inzwischen fast marginale Position abgedrängt hat, noch keineswegs beendet; so ist der Umbau der bundesdeutschen wie der europäischen Fernsehlandschaft mithilfe ungeheurer In- vestionen vorangetrieben worden, der Endgerätemarkt erfreut sich einer anhaltenden Konjunktur, und selbst das Kino hat seinen oft vorhergesagten Tod bisher überdauert. Gleichzeitig aber zeichnen sich bestimmte Grenzen, z.B. in der Quantität der Fernseh- nutzung und der in Umfragen subjektiv geäußerten Zufriedenheit der Rezipienten ab; auf diesem Hintergrund drängt sich der Eindruck auf, der hektische Ausbau des Angebots sei nicht als ein Zeichen von Vitalität, sondern als Symptom einer sich ab- zeichnenden Krise oder eine vorweggenommene Gegenstrategie der Verantwortlichen zu entziffern. Und dies umso mehr, als dem Bilderuniversum mit der explosions- artigen Verbreitung der Computer und ihrer ganz und gar unsinnlichen Modelle der Welterschließung eine ernsthafte Konkurrenz entstanden ist. Ich halte es keineswegs für einen Zufall, daß Ansätze wie die Apparatustheorien, die in ihrem entmystifizierenden Anspruch über frühere Theorien zum Film weit hin- ausgehen, zu einem Zeitpunkt auftreten, wo die Bilderherrschaft selbst nicht mehr unerschütterbar stabil erscheint. Die Theorie der Bilder, so könnte man sagen, hat sich gegen die Bilder gewandt und begonnen, den Vertrauensvorschuß abzutragen, auf den das Bilderuniversum bis dahin so scheinbar selbstverständlich rechnen konnte. Und so machtlos theoretische Diskurse zweifellos sind, so falsch wäre es, sie auf einen reinen Kommentar zu ohnehin und blind ablaufenden Vorgängen zu reduzieren. Am Maßstab solcher Überlegungen gemessen, kommt dem filmischen Raum allenfalls die Rolle eines Symptomträgers zu. In diese Rolle aber scheint er alles andere als zufällig geraten zu sein: das für den Film spezifische Realismuskonzept, sein grund- sätzlich problematisches Verhältnis zum Publikum, eine Technik, die als solche nicht in Erscheinung tritt und ein symbolisches System, das keines zu sein scheint, – all diese Bestimmungen der Maschine Kino schneiden sich in den Mechanismen der filmischen Raumkonstitution, und diese Tatsache bereits legt es nahe, speziell hier eine Detailanalyse anzusetzen. Der folgende Text wird den genannten Aspekten isoliert und in ihren Wechselwirkungen nachgehen; Symptome aber weisen meist auf Gebrechen hin; im Hintergrund wird deshalb immer der 'Gesamtzustand des Patienten' mitzudenken sein, und das heißt letztlich die Frage, welche Prognose den technischen Bildern und der auf sie gegründeten Öffentlichkeit für die Zukunft gestellt werden kann. 1. Die 'Apparatus and Ideology' – Debatte 1.1 Der Ausgangspunkt und die zentralen Texte Zu Beginn der 70er Jahre fand in verschiedenen französischen Filmzeitschriften eine Debatte statt, die für die umrissene Fragestellung von äußerster Wichtigkeit ist, und die hier deshalb schrittweise und systematisch zu rekonstruieren sein wird. 'Apparatus and Ideology', das Stichwort, unter dem diese Debatte in der amerikani- schen Filmtheorie heute firmiert, geht auf den Titel eines Aufsatzes von Baudry (1970) 1 zurück; früher, und der eigentliche Anstoß aber war ein Interview, das M. Pleynet 2 1969 der Zeitschrift Cinéthique gegeben hatte. Das Interview behandelt eine Vielzahl von Themen; sie kreisen um die zentrale Fra- gestellung, welcher politische Stellenwert dem Kino und dem durch die Nouvelle vague völlig veränderten französischen Film zuzumessen ist, wie Kriterien für eine politische Beurteilung einzelner Filme gewonnen werden können und wie der 'Formalismus' der Nouvelle vague in den Rahmen politischer Ansprüche eingeordnet werden kann. Pleynet, und deutlicher noch der ebenfalls am Gespräch beteiligte Thibaudeau, vertre- 7ten leninistische Positionen, wie sie nach 1968 in Frankreich (und in Deutschland) die Diskussion in der Linken dominierten. Etwas kurzschlüssig wird nach den ökonomi- schen Bedingungen der Filmproduktion gefragt, das formale Experimentieren wird als 3 elitär kritisiert, und die Metzsche, damals semiotisch orientierte Filmtheorie als blind gegenüber den ideologischen Inhalten verworfen. All diese Überlegungen wären heute von eher zeitgeschichtlichem Interesse; fast unvermittelt aber formuliert Pleynet dann einen Gedanken, der den Rahmen enggefaßt politischer Fragen sprengt: "Avez-vous remarqué comment tous les discours que l'on peut tenir sur le film, sur le cinéma (et on en tien des quantités) partent tous de cet à priori l'existence non signifiante d'un appareil producteur d'images, qu'on peut indifféremment utiliser à ceci ou à cela, à droite ou à gauche. Ne vous semble-t-il pas qu'avant de s'inter- roger sur 'leur fonction militante', les cinéastes auraient intérêt à s'interroger sur l'idéologie que produit l'appareil (la caméra) qui détermine le cinéma. L'appareil cinématographique est un appareil proprement idéologique, c'est un appareil qui 1 Baudry, Jean-Louis: Effets idéologiques produits par l'appareil de base. In: Cinéthique, Nr. 7/8, 1970 (am.: Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus. In: Film Quarterly, Vol. 27, Nr. 2, Winter 1974/75) 2 Pleynet, Marcelin: Économique, idéologique, formel . In: Cinéthique, Nr. 3, 1969. 3 "[...] il serait beaucoup plus important, probablement, de pouvoir 'marquer' le cinéma commercial, la télévision, que faire des petits films individuel militants." (ebd., S. 10) (Übers.: "Es wäre vielleicht viel wichtiger, das kommerzielle Kino und das Fernsehen zu 'zeichnen', als kleine, individuelle militante Filme zu machen." (Alle französischen Zitate werden im folgenden übersetzt, auf eine Übersetzung der – sicher zugänglicheren – englischsprachigen Zitate wurde aus Platzgründen verzichtet.)) 2 0 diffuse de l'idéologie bourgeoise, avant même de diffuser quoi que ce soit. Avant même de produire un film, la construction technique de la caméra produit de l'idé- 4 ologie bourgeoise." Pleynet also verlangt, die technische Apparatur des Kinos in die Kritik am bürger- lichen Film und an der bürgerlichen Ideologie miteinzubeziehen. Er ordnet die Tech- nik der Kamera einer bestimmten historischen Situation und bestimmten historisch- lokalisierbaren Interessen zu. Der so vollzogene Wechsel der Blickrichtung von den Inhalten hin zur Technik des Films ist umso bemerkenswerter, als er, wie schon gesagt, im Kontext einer lenini- stisch orientierten Argumentation auftritt. Man wird daran erinnern müssen, daß dieser Zweig der Linken, zumindest bis zum Beginn der ökologischen Bewegung Mitte der 70er Jahre, die Technik und Maschinerie als weitgehend neutral ansah. Technik und Maschinerie wurden als gesellschaftlicher Reichtum und als ein Teil jener 'Produktiv- kräfte' betrachtet, die die Herrschaft des Bürgertums zwar hervorgebracht hatte, deren Entwicklung aber gleichzeitig die objektive Basis für eine Umgestaltung der gesell- schaftlichen Struktur darstellte. Pleynets Frage nach der in der Technik vergegenständ- lichten Ideologie also stand quer zu einem ganzen Diskurs. Interessant – und zwar vor allem für die hier verfolgte Frage nach den raumkonstitu- ierenden Mechanismen des Films – ist zum zweiten die Tatsache, daß Pleynet seinen allgemein formulierten Verdacht gegenüber der Kinotechnik exakt anhand der Frage nach dem filmischen Raum zu präzisieren sucht: "[...] le problème reste le même [...] à savoir une caméra productrice d'un code perspectif directement hérité, construit sur le modèle de la perspective scientifique du quattrocento. Il faudrait [...] montrer comment la caméra est minutieusement construite pour 'rectifier' toute anomalie perspective, pour reproduire dans son autorité le code de la vision spéculaire, tel qu'il est défini par l'humanisme renais- sant Il n'est pas sans intérêt de remarquer que c'est justement au moment où Hegel clôture l'histoire de la peinture, au moment où la peinture commence à prendre conscience que la perspective scientifique qui détermine son rapport à la figure relève d'une structure culturelle précise Il n'est pas sans intérêt de con- 4 ebd., S. 10 (Übers.: "Haben Sie bemerkt, daß die Debatten, die um den Film, um das Kino geführt werden (und es werden eine Menge geführt), alle von der a priori Existenz einer bilderproduzierenden Maschinerie ausgehen, die für sich genommen nichts bedeutet, die man unterschiedslos für dieses oder jenes gebrauchen kann, rechts oder links. Sind Sie nicht der Meinung, daß die Filmer sich, vor der Frage nach ihrer 'militanten Funktion', dafür interessieren sollten, nach der Ideologie zu fragen, die die Apparatur (die Kamera) produziert, die das Kino determiniert? Die Kinomaschinerie ist eine vollständig ideolo- gische Maschine, d.h. ein Apparat, der bürgerliche Ideologie verbreitet, bevor er was auch immer verbreitet. Bevor sie einen Film produziert, produziert die technische Konstruktion der Kamera bürgerliche Ideologie.") 21 stater que c'est à ce moment-là que Niepce invente la photographie (Niepce, 1765- 1833, est contemporain de Hegel, 1770-1831) appelée à redoubler la clôture hege- lienne, à produire d'une façon mécanique l'idéologie du code perspectif, de sa nor- malité et de ses censures. Ce n'est à mon avis que lorsqu'un phénomène comme celui-là aura été pensé, ce n'est que lorsque auront été pensées les déterminations de l'appareil (la caméra) qui structure la réalité de son inscription, que le cinéma 5 pourra objectivement envisager son rapport à l'idéologie." Eine Relaisstation bürgerlicher Ideologie also ist die Kinomaschinerie vor allem des- halb, weil sie einen bestimmten Mechanismus der Raumkonstitution, den Code der Renaissance-Perspektive festschreibt. Damit spricht bereits der erste Artikel der Apparatus-Debatte jene Problematik an, die als ein 'privilegiertes Beispiel' in nahezu allen Beiträgen dieser Debatte eine Rolle spielen wird. Die Funktion aber, die diesem privilegierten Beispiel jeweils beigelegt wird, davor sei schon jetzt gewarnt, ist äußerst unterschiedlich. Wie Pleynet hat jeder der Apparatus-Autoren ein thematisches Interesse, das die Frage nach dem Raum und dem in diesem Raum vorentworfenen Zuschauer weit übersteigt; es wird deshalb jeweils zu unterscheiden sein, auf welcher Ebene die einzelnen Aussagen zum hier verfolgten Thema gemacht werden, und es wird die Frage gestellt werden müssen, was die Faszination ausmacht, die die Autoren immer und immer wieder auf das privi- legierte Beispiel des filmischen Raumes zurückkommen läßt. Pleynet schließt seine Überlegung mit einem Blick auf den Zuschauer: "Par exemple 'La Chinoise', film barbouillé de politique n'en est pas moins un film entièrement investi par l'idéologie bourgeoise. Vous mettez un slogan sur un mur, vous filmez, mais filmant vous faites entrer ce slogan dans un appareil précis, 5 ebd. ((Übers.:) "das Problem bleibt das gleiche [...]: Eine Kamera erzeugt einen perspektivischen Code, den sie auf direktem Wege ererbt hat, konstruiert nach dem Modell der wissenschaftlichen Perspektive des Quattrocento. Man wird zeigen müssen, wie die Kamera genauestens darauf ausgelegt wurde, jeg- liche perspektivische Unregelmäßigkeit zu 'begradigen' und in ihrer Autorität den Code der Spiegel-Sicht zu reproduzieren, wie er durch den wiedererstehenden Humanismus festgeschrieben worden ist. Es ist nicht ohne Interesse hervorzuheben, daß es gerade derselbe Zeitpunkt war, in dem Hegel die Geschichte der Malerei für abgeschlossen erklärte, derselbe Zeitpunkt, als die Malerei ein Bewußtsein davon ausbildete, daß die wissenschaftliche Perspektive, die sie determiniert, von einer präzis beschreibbaren kulturellen Struktur gekennzeichnet ist Es ist nicht ohne Interesse festzustellen, daß es derselbe Zeitpunkt war, zu dem Niepce die Photographie erfand (Niepce, 1765-1833, ist ein Zeitgenosse Hegels, 1770-1831), dazu bestimmt, das Hegelsche Ende der Malerei zu verdoppeln und auf mechanische Weise die Ideologie des perspektivischen Codes hervorzubringen, die Ideologie seiner Normalität und seiner Ausschlüsse. Nur, wenn Phänomene wie diese durchdacht worden sind, nur wenn die Determinationen der technischen Apparatur (der Kamera) reflektiert worden sind, die die Realität seiner Aufzeichnung strukturieren, nur dann kann das Kino meiner Meinung nach seinen Beitrag zur Ideologie in den Blick nehmen.) 2 2 construit à des fins précises, ayant si je puis dire une structure mentale idéologique précise (pour aller au plus vite, celle de la perspective scientifique monoculaire) et dès lors ce n'est plus votre slogan qui parle, c'est votre appareil qui se sert du slo- gan, qui produit du double, de l'image spèculaire. Vous avez un type assis dans le noir qui regarde une image et qui, s'y identifiant, est forcé d'accepter ce que depuis toujours la société bourgeoise lui propose, à savoir de n'agir jamais que par procuration. [...] L'éffet de distanciation possible au théâtre où le spectateur voit toutes les scènes d'un même point de vue, et dans un même cadre, se complique considérablement au cinéma, où le point de vue et le cadre se trouvent déterminés par une instance souveraine (le metteur en scène) [...] Je pense qu'avant d'aller plus avant, un des problemes les plus actuels du cinématographe en France est un problème de déconstruction, un problème théorique de déconstruction de l'idéo- 6 logie produite par la caméra." Der zweite Text, der hier zu diskutieren ist, ist der schon erwähnte Aufsatz von J.-L. 7 Baudry. 'Effets idéologiques' ist der am häufigsten zitierte und wohl auch wichtigste Text der Apparatus-Debatte; er erschien 1970 und, wie der Text Pleynets, in 'Cinéthi- que'. Auch Baudry setzt mit dem 'privilegierten Beispiel' der zentralperspektivischen Raumkonstitution ein: "(the birth of Western science) coincides exactly with the Development of the optical apparatus which will have as a consequence the decentering of the human universe, the end of geocentrism (Galileo). But also, and paradoxically, the optical apparatus camera obscura will serve in the same period to elaborate in pictorial work a new mode of representation, perspec- tiva artificalis. This system, a recentering or at least a displacement of the center 6 ebd., S. 11 (Übers: "'La Chinoise' zum Beispiel; ein Film voll von Politik, aber nicht weniger ein Film, der voll- ständig von bürgerlicher Ideologie gekennzeichnet ist. Du setzt eine Parole auf eine Mauer, du filmst, aber indem du filmst, sorgst du dafür, daß diese Parole in einen bestimmten Apparat eintritt, der zu bestimmten Zwecken konstruiert ist und der sozusagen eine bestimmte geistig-ideologische Struktur hat (kurzgesagt die der wissenschaftlichen monokularen Perspektive). Und demzufolge ist es nicht mehr deine Parole, die spricht, es ist dein Apparat, der sich der Parole bedient, der ein Double herstellt, ein Spiegelbild. Du hast einen Burschen im Dunklen sitzen, der ein Bild betrachtet und der, indem er sich identifiziert, dahin gebracht wird zu akzeptieren, was die bürgerliche Gesellschaft ihm schon immer vorgeschlagen hat, nämlich niemals ohne Auftrag zu handeln. [...] der Distanzeffekt im Theater, wo der Zuschauer alle Szenen vom gleichen Punkt der Betrachtung aus sieht und im selben Ausschnitt, kompliziert sich erheblich im Kino, wo der Punkt der Betrachtung und der Ausschnitt von einer eigen- ständigen Instanz festgelegt sind (vom Regisseur). [...] ich denke in erster Linie, eines der aktuellsten Probleme des Kinos in Frankreich ist ein Problem der Dekonstruktion; ein theoretisches Problem der Dekonstruktion der Ideologie, die die Kamera produziert.") 7 Baudry, Jean-Louis: Effets idéologiques produits par l'appareil de base. In: Cinéthique, Nr. 7/8, 1970 (am.: Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus. In: Film Quarterly, Nr. 27, Winter 1974/75. Im Folgenden wird die sprachlich zugänglichere amerikanische Fassung zitiert). 23 (which settles itself in the eye), will assure the setting up of the 'subject' as the 8 active center and the origin of meaning." Baudry geht es von vornherein um den Zuschauer; die Position, in die die Maschinerie des Kinos den Zuschauer bringt, ist der Bezugspunkt eines konstruierten, homogenen und zentrierten Bildraumes, der die Tatsache, daß er ein Konstrukt ist, unter dem 9 Mantel wissenschaftlicher 'Richtigkeit' und subjektiver Evidenz verbirgt. Die Konti- nuität des Bildraums und die scheinhafte Kontinuität der Bewegungen und der Abläufe in der Zeit – scheinhaft, weil die Apparatur materiell-tatsächlich nichts als distinkte Einzelbilder präsentiert – wirken darin zusammen, die Position des rezipierenden Subjekts zu definieren. Die ganze Apparatur ist darauf angelegt, daß der Zuschauer die Technik und die Viel- zahl von Operationen, die die Abbildung überhaupt nur möglich machen, – vergißt. "Between 'objective reality' and the camera, site of the inscription, and between the inscription and projection are situated certain operations, a work which has as its result a finished product. [...] This product does not allow us to see the trans- 10 formation which has taken place." Die so skizzierte Konstellation erinnert Baudry zunächst an den Begriff der Ideologie, wie er ihn den Texten Althussers entnimmt: wenn das fertige Produkt den Blick auf den Produktionsprozeß verstellt, aus dem es hervorgeht, und wenn diese Verkennung einen ideologischen 'surplus' zugunsten der bestehenden Verhältnisse bewirkt, dann muß auch dem Kino ein ideologischer Effekt, und der Verleugnung der filmischen 11 Technik ein strategischer Ort innerhalb der Gesamtanordnung zugewiesen werden. "Couldn't we thus say that cinema reconstructs and forms the mechanical model (with the simplifications that this can entail) of a system of writing constituted by a material base and a counter-system (ideology, idealism) which uses this system 12 while also concealing it?" Nur in den wenigen exklusiven Momenten, wenn der Film während der Projektion 8 ebd., S. 40 (Erg. H.W.). 9 "Does the technical nature of optical instruments, directly attached to scientific practice, serve to conceal not only their use in ideological products but also the ideological effects which they may provoke themselves? Their scientific base assures them a sort of neutrality and avoids their being questioned." (ebd.) 10 ebd., S. 40 11 Obwohl Baudry sich an dieser Stelle ausdrücklich auf Althusser bezieht, und der amerikanische Her- ausgeber zusätzlich erläutert: "Althusser opposes ideology to knowledge or science. Ideology operates by obfuscating the means by which it is produced. Thus an increase in ideological value is an increase in mystification" (ebd., S. 41), wird man feststellen müssen, daß die referierte Konzeption auf die Theorie des Warenfetischs bei Marx zurückgeht, daß diese Konzeption bei Althusser aber eine eher unter- geordnete Rolle spielt. 12 ebd., S. 42 24 hängenbleibt und seine scheinbare Kontinuität für einen Augenblick zusammenbricht, 13 sieht sich der Zuschauer abrupt auf die materielle Basis des Mediums zurückgewor- fen. Solche Momente parallelisiert Baudry den Versprechern und Fehlleistungen, in denen die Psychoanalyse die 'Sprache' des Unbewußten aufgedeckt hat, und die eben- falls einen kontinuierlichen Fluß, den Fluß der Rede, unterbrechen. Zwischen dem politischen Begriff der Ideologie und dem psychoanalytischen der Verdrängung ist damit eine enge Verbindung unterstellt; parallel ist beiden Modellen die Trennung in eine Oberflächen- und eine Tiefenstruktur, und Baudry läßt keinen Zweifel daran, daß er auch im Fall des Kinos der verdrängten materiellen Basis – gegen die Oberfläche – zur Geltung verhelfen will. Zunächst also geht es Baudry wie Pleynet um eine Technikkritik, um eine Kritik der illusionären Struktur, die die symbolische Maschine Kino auf Seiten des Zuschauers erzeugt. Der eigentliche Interpretationsrahmen aber ist ein anderer: Hatte sich Pleynet damit begnügt, die Vorgeschichte der Filmkamera der Geschichte und der Weltsicht des aufsteigenden Bürgertums zuzuordnen, macht Baudry nun den Versuch, die These über den Bezug auf einen philosophischen Begriff zu begründen; dieser Begriff ist der des Subjekts. "Monocular vision [...] calls forth a sort of play of 'reflection.' Based on the prin- ciple of a fixed point by reference to which the visualized objects are organized, it specifies in return the position of the 'subject', the very spot it must necessarily 14 occupy." Liest man die Stelle flüchtig, scheint es sich zunächst um eine Wiederholung der These selbst zu handeln. In der Formulierung aber bereits steckt mehr: Zunächst deckt sie ein Moment der Idealisierung auf, insofern die vorentworfene Zuschauerposition vom empirischen Zuschauer erst eingenommen werden muß, dann zweitens ein – man könnte sagen – Verhältnis der wechselseitigen Gewalt, insofern die Objekte einerseits nach Maßgabe der Subjektposition organisiert, dieser Position also unterworfen werden, das 'Subjekt' umgekehrt aber genötigt ist, seine Position, den Dingen gegen- über, einzunehmen. Es ist ein 'transzendentales' Subjekt, das der zentralperspektivische Raum vorent- 15 wirft. "[...] the optical construct [...] lays out the space of an ideal vision and in this way assures the necessity of a transcendence – metaphorically (by the un- known to which it appeals – here we must recall the structural place occupied by 13 Baudry schreibt: 'to the body' 14 ebd., S. 41 15 Baudry spielt hier bewußt mit dem Kantschen Terminus, den er aus dem gereinigten Diskursraum der Philosophie auf den 'Boden' einer erweiterten Gesellschaftstheorie zurückholt; 'transzendental' ist das Subjekt des zentralperspektivischen Raums, insofern es als eine Abstraktion die empirischen Subjekte übersteigt 25 the vanishing point) and metonymically (by the displacement that it seems to carry out: a subject is both 'in place of' and 'a part of the whole'). Contrary to Chinese and Japanese painting, Western easel painting, presenting as it does a motionless and continuous whole, elaborates a total vision which corresponds to the idealist con- ception of the fullness and homogeneity of 'being', and is, so to speak, represent- ative of this conception. In this sense it contributes in a singularly emphatic way to the ideological function of art, which is to provide the tangible representation of metaphysics. The principle of transcendence which conditions and is conditioned by the perspective construction represented in painting and in the photographic image which copies from it seems to inspire all the idealist paeans to which the 16 cinema has given rise". Baudrys Skizze genügt den Ansprüchen einer philosophiegeschichtlichen Rekon- struktion sicher in keiner Weise, ein Einwand, der auch mit dem Verweis auf seine 17 längere Husserl-Rekonstruktion nicht zu entkräften ist. Wichtig aber ist hier zu- nächst, daß der Ideologieverdacht auf einen Metaphysikverdacht ausgeweitet wird, und daß Baudry seine kunstgeschichtlichen Überlegungen nicht mehr direkt und allein auf die Realgeschichte, sondern nun auf die Philosophie bezieht. Zudem sind seine Schlußfolgerungen zum Thema selbst, und speziell diejenigen zum Verhältnis von Subjekt und Objekt konkreter und unmittelbar plausibel: "There is both fantasmatization of an objective reality (images, sounds, colors) and of an objective reality which, limiting its powers of constraint, seems equally to 18 augment the possibilities or the power of the subject." "Limited by the framing, lined up, put at the proper distance, the world offers up an object endowed with meaning, an intentional object, implied by and implying the 19 action of the 'subject', which sights it." Der zweite Begründungsrahmen bei Baudry ist die Psychoanalyse. Nachdem er seinen Text bereits mit einer Freud-Stelle eröffnet hatte, unternimmt Baudry im fünften und abschließenden Abschnitt den Versuch, den psychoanalytischen Subjektbegriff für eine Theorie der Kino-Apparatur fruchtbar zu machen. In der Konstellation, daß der Zuschauer, in seiner Bewegung gehemmt und völlig auf seine optische Wahrnehmung reduziert, die Bilder auf der Leinwand dennoch begrüßt, als 'gehörten' sie von vornherein ihm, sieht Baudry eine deutliche Parallele zu jener 'Spiegelsituation', an der Lacan den historisch-imaginären Charakter der Subjektkon- 20 stitution beschreibt. In einem Aufsatz von 1949 hatte Lacan die Beobachtung, daß 16 ebd., S. 41f 17 ebd., S. 44 18 ebd., S. 43 19 ebd. 20 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: ders.: Schriften. Bd. 1, Olten 26 Säuglinge im Alter zwischen 6 und 18 Monaten ihrem Bild im Spiegel mit einem deut- lichen Jubel begegnen, dahingehend gedeutet, daß das Spiegelbild offenbar als eine Art Substitut für die noch mangelnde Verfügung über den eigenen Körper, als Instanz einer imaginativ vorweggenommenen Ich-Integration fungiert. Lacan ging es primär darum, zu zeigen, daß die Ich-Identität, insofern sie sich einer Re-flexion, einer äußeren materiellen Vergegenständlichung des eigenen Bildes verdankt, nichts ursprünglich Gegebenes, und keine etwa in der Geschlossenheit des Hautsackes ga- rantierte Selbstpräsenz darstellt. Seine zweite Folgerung war, daß bereits bevor das Kind mit der ödipalen Konstellation in die Ordnung der Sprache eintritt, sich eine konstitutive Spaltung gerade dort vollzogen hat, wo das Allgemeinbewußtsein ge- wohnt ist das Gegenteil, Identität nämlich, anzunehmen. Für den Kinozuschauer vermutet Baudry nun eine entsprechende Art des Wiederer- kennens: "[...] possibly this very point explains the 'impression of reality' so often in- voked in connection with the cinema for which the various explanations proposed seem only to skirt the real problem. In order for this impression to be produced, it would be necessary that the conditions of a formative scene be reproduced. This scene would be repeated and reenacted in such a manner that the imaginary order (activated by a specularization which takes place, everything considered, in reality) fulfills its particular function of occultation or of filling the gap, the split, of the 21 subject on the order of the signifier." Die Leinwand ist derjenige Spiegel, der die gesamte äußere Realität, nicht aber den Körper des Zuschauers widerspiegelt. Baudry aber beharrt darauf: "The 'reality' 22 mimed by the cinema is [...] first of all that of a 'self'". Die Brücke hin zum Lein- wandgeschehen nämlich schlägt der Zuschauer durch zwei Arten der Identifikation: der Identifikation mit dem Protagonisten und, konstitutiv für das Kino, der Identi- fikation mit dem Blick der Kamera. "The second level permits the appearance of the first and places it 'in action' – this is the transcendental subject whose place is taken by the camera which constitutes and rules the objects in this 'world'. Thus the spectator identifies less with what is represented, the spectacle itself, than with what stages the spectacle, makes it seen, obliging him to see what it sees; this is exactly the function taken over by the camera as a sort of relay. Just as the mirror assembles the fragmented body in a sort of imaginary integration of the self, the transcendental self unites the discon- tinuous fragments of phenomena of lived experience, into unifying meaning. [...] Between the imaginary gathering of the fragmented body into a unity and the 1973 (O., frz.: 1949) 21 Baudry, Ideological, a.a.O., S. 45 22 ebd. 27 transcendentality of the self, giver of unifying meaning, the current is indefinitely reversible. The ideological mechanism at work in the cinema seems thus to be concentrated in the relationship between the camera and the subject. [...] The cinema [...] constit- utes the 'subject' by the illusionary delimitation of a central location – whether this be that of a god or of any other substitute. [...] It collaborates with a marked efficacity in the maintenance of idealism. [...] Everything happens as if, the subject himself being unable – and for a reason – to account for his own situation, it was necessary to substitute secondary organs, grafted on to replace his own defective ones, instruments or ideological formations capable of filling his function as subject. In fact this substitution is only possible on 23 the condition that the instrumentation itself be hidden or repressed." Baudrys Lacan-orientierte Sprache ist nicht einfach; und im Text deutlich uneingelöst ist die implizierte These, auch der Begriff der Bedeutung sei in jedem Fall an das Konzept des Subjekts als seinen Ursprung und Garanten gebunden. Plausibel, ja fast zwingend aber erscheint die Vorstellung, daß der 'Sammlung' des Subjekts gegenüber einer potentiell überwältigenden Objektwelt ein fundamentales psychisches Bedürfnis entspricht, daß die zentralperspektivischen Bildkonstruktion zumindest ein schlagen- des Bild für diese 'Sammlung' auf Seiten des Subjektes darstellt und, nicht zuletzt, daß die Identifikation, mit der der Zuschauer sein Verhältnis zum Leinwandgeschehen aufbaut, nicht ein psychischer Luxus, oder 'allgemein-menschlich', sondern ein durch die Maschinerie selbst konstituierter Mechanismus ist. All diese bei Baudry nur ange- legten Motive werden in anderen Texten weiterzuverfolgen sein. Auf ein grundsätzliches Problem aber sei an dieser Stelle bereits hingewiesen: Baudry benutzt, wie andere Autoren der Debatte auch, den Begriff des Subjekts im Singular. Dieser Kollektivsingular ist vor allem dann aber problematisch, wenn implizit Aus- sagen eben doch über empirische Zuschauer gemacht werden. Zudem besteht zwi- schen dem philosophischen Begriff des Subjekts, wie ihn Baudry im ersten Teil seines Textes verwendet, und dem Subjektbegriff der Lacanschen Psychoanalyse eine Kluft, die bislang keine Metatheorie befriedigend überbrückt hat. Man wird also die verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Subjektbegriffes und seinen grundsätzli- chen Abstand zu den Bedürfnissen, Nöten und Befriedigungen der empirischen Zu- schauer im Kino gerade dann im Kopf behalten müssen, wenn die Autoren der Appa- ratusdebatte diese Unterscheidungen vernachlässigen. Die Apparatustheoretiker machen Aussagen über eine Maschinerie, die, vollständig identisch in ihrer Struktur, Millionen von Zuschauern mit technischen Bildern ver- sorgt. Nicht die Verallgemeinerung selbst also wird man zu kritisieren haben; sondern allenfalls die ungeprüfte Übernahme von Konzepten, deren Gültigkeitsbereich am Ort 23 ebd., S. 45f 2 8 ihrer Entstehung anders definiert oder aber unproblematisch war. Mit seinen drei Bezugsachsen: der Philosophiegeschichte, der Lacanschen Psycho- analyse und der zeichentheoretischen Überlegung, daß ein wesentliches Merkmal des Films (oder der technischen Medien allgemein) in der Verdrängung eines an sich auffälligen, weil maschinell-komplizierten Signifikanten besteht, hat der Aufsatz Baudrys die drei wesentlichen Themen angesprochen, die die gesamte folgende De- batte bestimmen werden. Im folgenden wird es dementsprechend vor allem darauf ankommen, die Differenzen und den Gewinn herauszuarbeiten, den der jeweilige Beitrag zusätzlich zum bereits Gesagten gebracht hat. Der dritte Beitrag zur Apparatus-Debatte ist eine umfangreiche Artikelserie, die J.-L. 24 Comolli 1971-72 in den Cahiers du Cinéma veröffentlichte. Interessant ist, daß Comollis Text bereits auf eine erste Kritik an den grundsätzlichen Überlegungen der Debatte zu reagieren hat. Bereits 1970 nämlich hatte J.-P. Lebel gegen Pleynet und gegen Baudry gewandt geschrieben: "La caméra n'est donc pas un appareil idéologique en lui-même. Il ne produit aucune idéologie spécifique, pas plus que sa structure ne le condamne à reflécter fatalement l'idéologie dominante. C'est un instrument idéologiquement neutre, dans la mesure précisément où c'est un instrument, un appareil, une machine. Il repose sur une base scientifique et il est construit non pas selon une idéologie de la 25 représentation (au sens spéculatif du terme) mais sur cette base scientifique." "[...] le cinéma [...] repose sur un savoir vrai, sur les propriétés de la matière qu'il met en jeu; la preuve c'est qu'il fonctionne et que, mettant en oeuvre une certaine matière (appareillage divers + propriétés de la lumière + persistance rétinienne) 26 pour filmer un objet matériel, il obtient und image matérielle de cet objet." "Ce n'est pas le cinéaste mais la caméra, appareil passif, enregistreur, qui reproduit 24 Comolli, Jean-Louis: Technique et idéologie. Caméra, perspective, profondeur du champ. In: Cahiers du cinéma, Nr. 229, Mai 1971, bis Nr. 241, Sept.-Okt. 1972. 25 Lebel, Jean-Patrick: Cinéma et idéologie. Paris 1971, S. 26 (Der erste der im Buch gesammelten Auf- sätze war in der Zeitschrift La Nouvelle Critique, Nr. 34, Februar/März 1970, erschienen.) (Übers.: "Die Kamera also ist kein von sich aus ideologischer Apparat. Sie produziert keineswegs eine spezifische Ideologie, und genauso verdammt sie ihre Struktur nicht dazu, die herrschende Ideologie unabwendbar wiederzuspiegeln. Sie ist ein ideologisch neutrales Instrument, exakt in dem Maße wie sie ein Instrument, ein Apparat, eine Maschine ist. Sie basiert auf einer wissenschaftlichen Grundlage und ist konstruiert nicht gemäß einer Ideologie der Repräsentation (im theoretischen Sinn des Begriffs), sondern auf dieser wissenschaftlichen Basis.") 26 ebd., S. 22 (Übers.: "Das Kino [...] beruht auf einem wirklichen Wissen, auf den Eigenschaften der Materie, die es ins Spiel bringt. Der Beweis ist, daß es funktioniert und, indem es bestimmte materielle Eigenschaften aufbietet um ein Objekt zu filmen (verschiedene Apparate + Lichteigenschaften + Trägheit der Netz- haut), ein materielles Bild dieses Objektes herstellt.") 29 le ou les objets filmés, sous forme d'une image-reflet construite selon les lois de la propagation rectiligne des rayons lumineux; lois qui définissent précisément l'effet dit de perspective. Ce phénomène s'explique parfaitement scientifiquement et n'a 27 rien d'idéologique." Lebel also hatte exakt noch einmal jene Position ausformuliert, gegen die die Appara- tus-Autoren von Beginn an aufgetreten waren. Comolli nun setzt sich von Lebels naiver Technikauffassung, in einem zweiten Schritt aber auch gegen ein Kernstück der bisherigen Apparatusdebatte ab, indem er die Fixie- rung auf die Kamera als eine unerlaubte Einengung der Problematik kritisiert: "Deputizing the camera to represent the whole of film technique is not only taking 'the part for the whole' – it's also a reductive operation (from the whole to the part). It needs to be questioned because on the level of theory it reproduces the separation which still marks the technical practice of cinema – between the visible part of film technique and its 'invisible' part. [...] The visible part of film technique (camera, shooting, crew, lights, screen) suppresses the invisible part (frame lines, chemistry, fixing and developing, baths, and laboratory processing, negative, the cuts and joins of montage technique, sound track, projector, etc.) and the latter is generally 28 relegated to the unreasoned, 'unconscious' part of cinema." Das 'Unbewußte des Films'. Comolli warnt vor der Gefahr, auf dem Terrain der Theorie jene Verwechselung des 'Sichtbaren' und des 'Realen' zu wiederholen, die den Film selbst kennzeichnet. Eingebettet in eine geschichtliche Situation, die das 29 Sichtbare hypostasiert, "in a world where 'I see' is readily used for 'I understand'", postuliert das Kino, daß auf dem Weg vom Realen zum Visuellen und vom Visuellen zu seiner Reproduktion im Film dieselbe Wahrheit ohne Verlust oder 27 ebd., S. 24 (Übers.: "Es ist nicht der Filmende, sondern die Kamera, ein passiver Apparat, ein Aufnahmegerät, die das oder die gefilmten Objekte reproduziert, in Form einer Bildreflexion, konstruiert nach den Gesetzen der gradlinigen Ausbreitung der Lichtstrahlen; Gesetzen, die exakt jenen Effekt bestimmen, den man Perspektive nennt. Dieses Phänomen erklärt sich absolut wissenschaftlich und hat mit Ideologie nichts zu tun.") 28 Comolli, Jean-Louis: Technique and Ideology. Camera, Perspective Depth of Field. (Part 1). In: Film Reader, Nr. 2. Northwestern University, Film Division, Evanston (USA) 1977, S. 131 (am. Fassung des ersten Artikels der o.g. Cahiers-Serie) 29 ders.: Machines of the Visible. In: Lauretis, Teresa de; Heath, Stephen (Hg.): The Cinematic Apparatus. London 1980, S. 126 (Der Text ist eine überarbeitete Zusammenfassung der ursprüng- lichen Artikelserie; vor allem dieser Text wird im Folgenden zitiert.) 3 0 30 Bruch erhalten bleibt. Nur zu leicht also kann auch die Debatte um die Technik des Films wiederum nur den sichtbaren Teil der filmischen Technik, die Kamera, zum Gegenstand der Analyse machen, wo es gerade darauf ankäme, die Technik insgesamt als eine verdrängte Voraussetzung des filmischen Erlebnisses zu thematisieren. Daß die Technik des Films darauf angelegt ist, daß der Zuschauer sie vergißt, hatte Baudry bereits gesagt; Comolli nun prägt, in deutlicher Parallelsetzung zu psychischen Vor- gängen, den Begriff des technisch 'Unbewußten', und bringt damit, wie man sehen 31 wird, ein relativ weit tragendes Konzept in die Debatte ein. Der zweite neue Gedanke ergibt sich aus Comollis Beharren darauf, daß die Ge- schichte der filmischen Techniken nicht entlang eines isolierten und als linear unter- stellten 'technischen Fortschritts' konstruiert werden kann. Die Technik ist keine autonome Sphäre, kein Reservoir, aus dem sich die Filmer jeweils frei bedienen; immer bedarf es einer sozialen Konstellation – einer Konstellation, die etwa auch bestimmte Bedürfnissstrukturen auf seiten des Publikums einbegreift –, damit eine Technik relevant werden kann. Seine These 'the machine is always social before it is 32 technical' belegt Comolli an der eigentümlichen Geschichte der 'Realitätsindizien' im Film. Comolli modifiziert den Gedanken Bazins, die Technikentwicklung des Films ziele 33 auf einen immer größeren 'Realismus' ab; zunächst indem er 'Realismus' durch 'impression of reality' ersetzt und damit hervorhebt, daß der Bezug auf Realität in sich selbst problematisch ist, dann zweitens, indem er zeigt, daß der Film unter dem Etikett des 'überwältigenden Realitätseindrucks' zwar bereits antrat, dann aber mit dem pan- chromatischen Film, dem Ton und der Farbe immer wieder neue Realitätsindizien hinzunahm. Woraus Comolli folgert, daß jeweils neu und rückwirkend bestimmt wurde, was am bisherigen Film defizitär und 'unrealistisch' gewesen sei und damit der Akzent dessen, was aktuell 'Realismus' anzeigte, sich immer wieder verschob. "As soon as they are produced, sound and speech are plebiscited as the 'truth' which was lacking in the silent film [...]. And at once this truth renders no longer valid all films which do not possess it, which do not produce it. The decisive 30 ders.: Technique 1, a.a.O., S. 131 (Comolli zitiert Serge Daney) 31 An vielen Stellen bei Comolli und besonders hier, beim Begriff des 'technisch Unbewußten', drängt sich die Assozitaion zu Benjamin auf; Benjamin spricht vom 'Optisch-Unbewußten', das erst die besondere, technisch vermittelte Sicht der Kamera an den Dingen aufdeckt, und er parallelisiert diesen Zuwachs der Wahrnehmung mit der Entdeckung des 'Triebhaft-Unbewußten' durch die Psychoanalyse. (Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. (Erste Fassung). In: Ges. Schriften, Bd. I-2, Ffm 1980, S. 461 (der Text stammt von 1935); und: ders.: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ges. Schr., Bd. II-1, Ffm 1980, S. 371 (O.: 1931)). 32 Comolli, Machines, a.a.O., S. 122 33 ebd., S. 133 31 supplement [...] constituted by sound and speech intervenes straightaway, there- 34 fore, as perfectionment and redefinition of the impression of reality." Besonders deutlich macht Comolli diesen Mechanismus am Beispiel des 'deep focus', eines Stilmittels, das, betrachtet man die frühe Filmgeschichte, für die Tiefe und Plasti- 35 zität des Bildes gestanden hat. Zunächst also ein wichtiges 'Realitätsindiz', wurde der deep focus dennoch plötzlich aufgegeben, als (mit Robert Flahertys 'Moana' 1926) der panchromatische Film sich durchsetzte, der unempfindlicher war und um dessent- willen zunächst Einbußen der Schärfentiefe in Kauf genommen werden mußten. Co- molli zeigt nun, daß die Illusion der Tiefe überhaupt nur aufgegeben werden konnte, weil nun ein völlig anderes Mittel, die differenziertere Textur des neuen Materials vor allem in der Wiedergabe der Hauttöne, dieselbe Funktion –'Realität' anzuzeigen- übernommen hatte. Mit Renoir betritt der deep focus dann ein zweites Mal die Bühne der Filmgeschichte, um von Bazin wiederum als nun endlich erreichter Realismus gefeiert zu werden. Die Konstanz des Ziels und die Variabilität der Mittel, mit denen dieses Ziel jeweils redefiniert und immer wieder aufs neue erreicht wird, deuten darauf hin, daß die Ebene der technischen Mittel und die Ebene der Inhalte (der implizierten Ziele, der Ideologie) als ineinander verschränkt, und beide als Teil einer gemeinsamen Struktur aufgefaßt werden müssen. Um diese Struktur zu beschreiben, greift Comolli auf den Fou- caultschen Begriff des 'Dispositivs' zurück. Dispositive sind Diskursformationen, "carried out by a social configuration in order to represent itself, that is, at once to grasp itself, identify itself and itself produce itself in 36 its representation". Der so gesteckte begriffliche Rahmen hat den Vorteil, Funktionen und Diskurserfor- dernisse benennen zu können (Beispiel: Impression of reality als Ziel der Technikent- wicklung, wechselnde technische Mittel als Repräsentanten dieses – immateriellen – Ziels), ohne auf subjektive Intention zurückgehen zu müssen oder, fast wichtiger noch, den Akteuren die Bewußtheit solcher Ziele unterstellen zu müssen. Auf diese Weise vereinigt Comolli scheinbar mühelos immaterielle Ziele auf der einen und ein subjektfrei-technisches Unbewußtes auf der anderen Seite. 37 Nachteil der Konstruktion ist die etwa von Habermas kritisierte Außerhalb-der- Welt-Position des solche Dispositive Beobachtenden, eine gewisse Unklarheit der Begriffe (z.B. in der Abgrenzung Diskurs versus Code) und – was unten aufzunehmen sein wird – die Vernachlässigung des Aspekts, daß die Technik sich eben doch 34 ebd., S. 132 (Hervorh. H.W.). 35 'Deep focus' bezeichnet eine Technik der Aufnahme, die sowohl Teile des Vordergrundes als auch den Hintergrund scharf abbildet. 36 ebd., S. 121 37 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Ffm 1985, S. 279ff 32 auch entlang technischer Zwänge entwickelt, die nicht unmittelbar gesellschaftlichen 'Sinn' machen, daß die Technik eine bestimmte 'Blindheit' und materielle Schwere hat, die die von Institutionen und Codes übersteigt. Das technisch Unbewußte verliert bei Foucault/ Comolli etwas von seinem technischen Charakter. All das aber ist Vorgriff; Bleibt man zunächst im Rahmen der von Comolli vorgetra- genen Argumentation, ist als eine dritte Neuerung, die sein Artikel in die Debatte einführt, der Brückenschlag von der Technikkritik hin zur Zeichentheorie zu nennen. Das Problem des filmischen Realismus beschäftigt Comolli vor allem deshalb, weil der scheinbar privilegierte Bezug des Films auf die Realität für eine ganz grundsätz- liche Frage, die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit nämlich, einzustehen hat. "Deep focus was not 'in fashion' in 1896, it was one of the factors of credibility in the cine- 38 matic image." Das System des Films ist das bislang perfekteste System analogischer, ikonischer Repräsentation. Zunächst also scheint seine Glaubwürdigkeit so ungefährdet zu sein, daß Comolli noch einmal wiederholt, was Mitry gegen Bazin geschrieben hatte: "'The real of film is a mediated real: between the real world and us, there is the film, the camera, the representation, in the extreme case where there is not in addition an author'. [...] 'It is supremely naive to think [...] that because the camera automa- tically records an element given in reality, it provides us with an objective and im- partial image of that reality. ... By the very fact that it is given in an image, the real captured by the camera lens is structured according to formalising values which create a series of new relations and therefore a new reality – at very least a new appearance. The represented is seen via a representation which, necessarily, trans- 39 forms it.'" Dann aber wendet Comolli ein: "Secure in his insistence against Bazin on the distinc- tion film/real, Mitry fails to see how, far from acknowledging the difference, film tends to reduce it by proposing itself as adequate to the norms of perception, by ceaselessly restoring the illusion of the homogeneous and the continuous, which is precisely the basis of Bazin's error – the postulation as the same value of the 40 unifying functions of both perception and film representation." Die Tatsache, daß der Film im Verlauf seiner Geschichte immer neue Realitätsindizien hinzunimmt, also läßt sich interpretieren als der immer neue Versuch, die Differenz zu eliminieren, die das Bild vom Abgebildeten trennt: "It is at the cost of a series of blindnesses (of disavowals) that the silent image was able to be taken for the reflection, the objective double of 'live itself': disavowal 38 Comolli, Machines, a.a.O., S. 130 39 ebd., S. 134f 40 ebd., S. 135 33 of colour, relief, sound. Founded on these lacks (as any representation is founded on a lack which governs it, a lack which is the very principle of any simulacrum: the spectator is anyhow well aware of the artifice but he/she prefers all the same to believe in it), filmic representation could find its production only by working to 41 diminish its effects, to mask its very reality." Seine Ikonizität treibt den Film in den eigentümlichen Widerspruch hinein, seine eigenen materiellen Effekte, die Transformationen, denen er das Abgebildete unter- wirft, zunächst leugnen, und dann Schritt für Schritt minimieren zu müssen, so, als kämpfe er gegen den eigenen Zeichencharakter an. Die Frage nach der Glaubwürdig- keit des Films also läßt sich aufweiten in Richtung der allgemeineren Frage, was die besondere Leistung eines Zeichensystems ist, das, indem es die Grenze des Ikonischen immer weiter vorverlegt, sich geriert, als sei es 'an sich' gar keines; "The most analogical representation of the world is still not, is never, its redupli- cation. Analogical repetition is a false repetition, staggered, disphased, deferred and different; but it produces effects of repetition and analogy which imply the disavowal (or the repression) of these differences and which thus make of the desire for identity, identification, recognition, of the desire for the same, one of the principal driving forces of analogical figuration. In other words the spectator, the ideological and social subject, and not just the technical apparatus, is the operator 42 of the analogical mechanism." Über die falsche Identität –die Leugnung dessen, was eben nicht 'analogisch' ist- also führt der Weg zurück zu den Bedürfnissen des empirischen Zuschauers. Er ist es, auf den die ganze Maschinerie abzielt, und letztlich ist es seine Identität, die auf dem Spiel steht, sobald er das Vertrauen verliert, in den filmischen Zeichen tatsächlich ein Analogon der außerfilmischen Realität zu besitzen. Und wenn die technische Ver- 43 vollkommnung, "the work of suturing, of filling in, of patching up the lacks" auch zunächst den 'Mängeln' des Zeichensystems gilt, das, aller Vervollkommnung zum Trotz, mit der Realität dennoch nicht zusammenfällt, so geht es letztlich eben doch ausschließlich darum, das bedrohte Vertrauen des Zuschauers zu stabilisieren. Ausgehend vom Begriff der Glaubwürdigkeit also deckt Comolli ein grundlegendes Problem auf, das der Zuschauer mit den ikonischen Zeichen hat, die der Film ihm präsentiert. Der Film hat die besondere Eigenschaft, seine Glaubwürdigkeit herzustel- len, indem er sich selbst entmaterialisiert; er macht dem Zuschauer das Angebot, 'seinen eigenen Augen zu trauen' und durch die gesamte Maschinerie hindurchzu- schauen, als sei sie entweder nicht vorhanden oder aber 'transparent', wie übrigens der Filmstreifen selbst. 41 ebd., S. 132 (Hervorh. H.W.) 42 ebd., S. 138 (Hervorh. H.W.) 43 ebd., S. 132 34 'Travail de la 'transparence'' überschreibt Comolli den zweiten Abschnitt seines 44 Artikels und führt damit einen Begriff in die Apparatusdebatte ein, der, hier zum erstenmal kritisch gegen den Film gewendet, in ihrem Fortgang eine große Rolle spielen wird. In seiner Analyse der Zuschauerposition aber relativiert Comolli den neugewonnenen Begriff zunächst, indem er zeigt, daß die Transparenzillusion nur die eine Seite des Rezeptionserlebnisses beschreibt. Denn auf einer bestimmten Ebene 'weiß' der Zu- schauer natürlich um jene Differenz, die die filmische Maschinerie ihn vergessen- machen will, "the spectator is anyhow well aware of the artifice but he/she prefers all 45 the same to believe in it". Comolli beschreibt die Position des Zuschauers deshalb als eine Situation doppelten Bewußtseins, und entwirft eine Rezeptionshaltung, in der die Leugnung und die Anerkennung des Zeichencharakters nebeneinander existieren. "The 'yes, I know' calls irresistibly for the 'but all the same', includes it as its value, its intensity. We know, but we want something else: to believe. [...] We want the one and the other, to be both fooled and not fooled, to oscillate, to swing from 46 knowledge to belief, from distance to adherence, from criticism to fascination." Comolli will diese in sich widersprüchliche Struktur ausdrücklich nicht ausschließlich erkenntniskritisch/skeptisch verstanden wissen; seine Formulierung bereits kündigt jene Wendung an, die der Artikel gegen Schluß vollziehen wird: Das doppelte Be- wußtsein des Zuschauers ist nicht nur ein Defekt, es ist auch Spiel, und insofern eine Chance: "Which is why realist representations are successful: they allow this movement to and fro which ceaselessly sets off the intensity of the disavowal, they sustain the spectator's pleasure in being prisoner in a situation of conflict (I believe/I don't believe). [...] In this sense, analogical fiction in the cinema is bound up with narra- 47 tive fiction". Und: "Cinema [...] is no doubt more profoundly, more decisively undermined than those other apparatuses by everything that separates the real from the representable and even the visible from the represented. It is what resists cinematic representation, limiting it on all sides and from within, which constitutes equally its force; what makes it falter makes it go. [...] Yet it is also, of course, this structuring disillusion which offers the offensive strength of cinematic representation and allows it to work against the completing, 44 ders.: Technique et idéologie, In: Cahiers du cinema; 229, Mai 1971, S. 19 (In die englische Be- arbeitung wurde diese Zwischenüberschrift nicht übernommen.) 45 Comolli, Machines, a.a.O., S. 132 46 ebd., S. 139 47 ebd., S. 139f 35 reassuring, mystifying representations of ideology. It is that strength that is needed, and that work of disillusion, if cinematic representation is to do something other than pile visible on visible, if it is, in certain rares flashes, to produce in our sight 48 the very blindness which is at the heart of the visible." Der relative Optimismus dieses Schlusses scheint mir ebenso bemerkenswert wie der Versuch, auch in der Perspektive noch einmal die zeichentheoretisch begründete Erkenntniskritik und eine Kritik des Sichtbaren zusammenzudenken. 'More real or 49 more visible?' war die Frage, die am Anfang gestanden hatte, und die Comollis Kritik am beschränkten Blick der Theoretiker nur auf die Kamera motivierte. Dieselbe Frage nun markiert die Richtung, in die Comolli den Horizont der Apparatusdebatte überschreitet, noch bevor sie eigentlich Wirkung entfaltet hat. Als zweites ist hervorzuheben, daß Comolli, sieht man vom Begriff des Unbewußten und der Verleugnung ab, nur einen relativ lockeren Bezug zur Psychoanalyse etabliert, die den verbindlichen Rahmen für nahezu alle anderen Apparatustheoretiker stellt und deren Rolle als Theoriehintergrund nicht immer unproblematisch ist. Zum Problem der Raumwahrnehmung schließlich ist festzuhalten, daß zwar auch Comolli sie als 'pri- vilegiertes Beispiel' verwendet, ihre Bedeutung aber gleichzeitig relativiert, indem er sie als eines von mehreren Realitätsindizien betrachtet, die in ihrer Funktion weit- gehend austauschbar sind. Von Comolli aus wird deutlich, daß die Apparatusdebatte in der Favorisierung dieses Beispiels bereits die ältere französische Filmtheorie beerbt, und daß die Attraktivität dieses Themas vor allem auch auf die persönliche Raum- faszination Bazins zurückzugehen scheint. Der letzte Text, der im Detail vorgestellt werden soll, schließt an die von Comolli skizzierte Perspektive eines Kinos, das die 'Grenze des Sichtbaren' reflektiert und, zu- mindest der Möglichkeit nach, überschreitet, unmittelbar an; im Jahre 1975 nämlich 50 veröffentlichte Baudry einen zweiten Artikel, der einen Randeinfall des ersten Tex- tes ausbaut, indem er die Kinosituation mit Platos Höhlengleichnis parallelisiert. 51 Platos bekannter Text beschreibt eine quasi maschinelle Anordnung; eine Gruppe von Menschen, die, in einer dunklen Erdhöhle gefesselt, sich weder bewegen noch den Blick wenden können, sieht von frühester Kindheit an nichts als die Schattenbil- 48 ebd., S. 141 49 Die Formulierung selbst taucht als Zwischenüberschrift auf (ebd., S. 134). 50 Baudry, Jean-Louis: Le dispositif: approches métapsychologiques de l'impression de réalité. In: Com- munications, Nr. 23, 1975. ((am.:) ders.: The Apparatus: Metapsychological Approaches to the Impression of Reality in Cinema. In: Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader. NY 1986, S. 299-318) 51 Platon: Der Staat. Über das Gerechte. (7. Buch). Hamburg 1961, S. 268-274 (der Text wurde 374 v. Chr. geschrieben). 36 der von Gegenständen, die in ihrem Rücken und vor einem Feuer vorbeigetragen werden. Die Schattenbilder fallen auf die Höhlenwand vor ihnen, die auch die Töne, die zu den Gegenständen gehören, reflektiert. Die Anordnung selbst entspricht der Situation im Kinosaal in frappanter Weise; Baudry aber interessiert die Parallele vor allem auf dem Hintergrund einer dritten 'Topologie', der quasi-räumlichen Vorstel- lung, die Freud in der Traumdeutung vom Unbewußten entwirft. Dem Träumenden, der durch den Schlaf immobilisiert und von der Außenwahrneh- mung abgeschnitten ist, eröffnet sich die 'andere Szene' seiner psychischen Repräsen- tationen; der Kinozuschauer begibt sich aus seiner Alltagsrealität ins Dunkel des Kinoraums, um Bilder auf sich wirken zu lassen, denen zu allererst 'the impression of reality' zugutegehalten wird. Und auch in Platons Gleichnis gibt es eine ähnliche Auf- teilung in zwei Orte, insofern einer der Gefangenen die Höhle verläßt und, ein Bild für die Schau der Ideen, die Dinge nun direkt und im vollen Sonnenlicht betrachten kann. Bei Freud wie bei Platon steht der 'Wechsel der Szene' für eine Überwindung dessen, was bis dahin für Realität zu gelten hatte, und damit für ein 'more-than-real', das – ganz wie bei Comolli – dem Sichtbaren deutliche Grenzen setzt. Zwischen dem Gefangenen bei Platon, der in die Helle der Ideenwelt hinauf-, und dem Träumenden, der in die innere Welt seiner Repräsentationen hinabsteigt, liegt sicher viel; aber "isn't it curious that Plato, in order to explain the transfer, the access from one place to another and to demonstrate, reveal, and make understood what sort of illusion underlies our direct contact with the real, would imagine or resort to an apparatus that doesn't merely evoke but quite precisely describes in its mode of operation the cinematographic apparatus and the spectator's place in relation to 52 it." Baudry ist tatsächlich der Meinung, daß die Konstruktion des Höhlengleichnisses und die 'Erfindung' des Kinos auf eine gemeinsame Basis in der psychischen Grundkon- stitution und in der Architektur der Wünsche zurückgehen. "Cave, grotto, 'sort of cavernous chamber underground', people have not failed to see in it a representation of the maternal womb, of the matrix into which we are 53 supposed to wish to return." Das Zitat verkürzt die Argumentation; aber zweifellos ist es eine regressive Situation, in die der Kinozuschauer sich begibt; seine Bewegungshemmung und seine Reduzie- rung aufs Schauen erinnern an eine frühkindlich-hilflose Situation, und daß er, wie die Gefangenen der Höhle, dennoch nicht flieht, provoziert die Frage nach den Wünschen, auf die das Kino, seiner sadistischen Anordnung zum Trotz, eine Antwort ist. Baudry beantwortet diese Frage mit der Rekonstruktion der spezifischen Wahrneh- 52 Baudry, The Apparatus, a.a.O., S. 302 53 ebd., S. 306 37 mungssituation im Kino. Hatte Freud den Traum vom Wachzustand u.a. dadurch unterschieden, daß der 'regressive Pfad' der inneren Wahrnehmungen die Perzeption äußerer Reize überwiegt, so daß die psychischen Repräsentationen aufsteigen und den Wahrnehmungsapparat des Träumenden halluzinatorisch affizieren, so ist die saubere Trennung der inneren von den äußeren Reizen, die die Voraussetzung für unserer Wachleben und unsere Realwahrnehmung ist, dem Kleinkind zunächst noch nicht möglich. Im Kino nun, das ist die These, wiederholt sich dieselbe Situation lustvoller Auflösung, in der das Perzipierte und der von innen kommende Strom der Repräsen- tationen sich zu einem untrennbaren Amalgam vermischen. "The hallucinatory factor, the lack of distiction between representation and perception – representation taken as perception which makes for our belief in the reality of dream – would correspond to the lack of distinction between active and passive, between acting and suffering experience, undifferentiation between the limits of the body (body/breast), between eating and being eaten, etc., 54 characteristics of the oral phase". "[...] we would find ourselves in a position to understand the specific mode in which the dreamer identifies with his dream, a mode which is anterior to the mirror stage, to the formation of the self, and therefore founded on a permeability, a fusion 55 of the interior with the exterior." "In any case, this deviation through the 'metapsychological fiction' of dream could enlighten us about the effect specific to cinema, 'the impression of reality', which, as is well known, is different from the usual impression which we receive from reality, but which has precisely this characteristic of being more than real which we 56 have detected in dream." Folgt man Baudry also, ist die Lust im Kino vor allem anderen das Wiedererkennen einer älteren Lust, und das Kino als Machine der technische Nachbau einer psychi- schen Konstellation, in der Innen und Außen, Lust und Befriedigung, Trieb und Rea- lität noch nicht in antagonistische Positionen übergegangen waren. "If cinema was really the answer to a desire inherent in our psychical structure, how can we date its first beginnings? Would it be too risky to propose that painting, like theater, for lack of suitable technological and economic conditions, were dry runs in the approximation not only of the world of representation but of what might result form a certain aspect of its functioning and which only the cinema is in a 57 position to implement?" Bevor die Kinomaschine also Realität simuliert, simuliert sie das Subjekt, das Lacan 54 ebd., S. 311 55 ebd. 56 ebd., S. 312 57 ebd., S. 307 3 8 58 seinerseits einen 'apparatus' nannte. Zumindest aber schließt die Kinomaschinerie die Subjektivität des Zuschauers ein, insofern Kinolust und 'impression of reality' nur auf dem Hintergrund eines Subjekteffekts, des Wiedererkennens einer zurückliegen- den Realität zusammenzubringen sind. Baudry hat in diesem zweiten Artikel nahezu alle Definitionen umgestülpt, die in der sonstigen Apparatusdebatte Konsens sind: So ist 'Apparatus' hier von Beginn an vor allem die Projektion, der Abspielort und nicht mehr primär die Kamera; der Vorgang der Aufnahme und der im Film vorentworfene Zuschauer treten hinter einen anderen Zuschauer zurück, der ebenfalls stark typisiert, nun aber seinen Platz im Kino einge- nommen hat. 'Raum' entsprechend ist nicht mehr der durch die Kamera konstituierte Bildraum, sondern der Saal der Projektion, in dem die technischen Bilder und die Projektionen des Zuschauers sich austauschen. Und 'Subjekt' schließlich ist in diesem Artikel weder das bürgerlich-transzendentale, das der erste Baudrytext der Philoso- phiegeschichte und der Realgeschichte der Philosophie entnommen hatte, noch das gespaltene, um seine Einheit ringende Subjekt Lacans, sondern die ungleich versöhn- lichere Konstruktion eines in seinen Strebungen zwar strukturierten Subjekts, eines Subjektes aber, das sich mit der Kinoapparatur eine Maschine geschaffen hat, die es ihm erlaubt die ödipale Spaltung, ja sogar die subjektkonstituierende Spaltung vor dem Spiegel zumindest temporär zu überwinden. Betrachtet man die Debatte als ganzes, stellt die hier von Baudry vertretene These einen Nebenzweig dar. Gerade in ihrer Abweichung aber ist sie ein wichtiges Korrek- tiv, indem sie dazu zwingt, 'impression of reality' und Realität auseinanderzuhalten und zweitens die Kinoapparatur nicht auf die Kamera zu reduzieren. Und noch ein drittes ist aus der Auseinandersetzung mit Baudrys Text zu lernen: zum ersten Mal in der Debatte nämlich wird nun deutlich, daß hinter der sonst eher abstrakt konstatierten Spaltung des Subjekts das reale Leiden empirischer Subjekte sich verbirgt, und daß die Kinoapparatur, zumindest der Möglichkeit nach, als eine symbolische Maschine begriffen werden kann, die auf den Punkt dieses tatsächlichen Leidens hin konstruiert 59 ist. 58 ebd., S. 313 59 Auch bei Baudry deutet sich diese Perspektive nur an. Indem er das Subjekt als ein immer schon be- dürftiges konstruiert, 'the individual's evolution' als eine Leidensgeschichte, und das Realitätsprinzip als eine zwangsförmige, den Subjekten auferlegte Struktur, distanziert er das Kino von der Realität und bringt es auf die Seite der Wünsche und Strebungen; das Kino also nimmt sich derjenigen Wünsche an, deren Befriedigung die Realität den Subjekten leidvoll verweigert. Gleichzeitig (und anders als in 'Ideological effects') aber bleibt Baudrys Argumentation hier auf das Terrain der Psychoanalyse eingeschränkt; sowohl das Begehren als auch das psychische Elend der Subjekte können deshalb als a-historisch, als anthropologische Konstanten erscheinen; im 4. Teil der vorliegenden Arbeit wird deshalb aus der völlig anderen Perspektive Adornos noch einmal zu prüfen sein, ob die Dimension des Leids rekonkretisiert und an beschreibbare historische Konstellationen angeschlossen werden kann 1.2 Technik-orientierte Ansätze Ausgehend von den vier referierten Autoren begann Mitte der siebziger Jahre eine verzweigte Diskussion um verschiedene Aspekte der These vom filmischen Raum, der Technik und dem vorentworfenen Zuschauer. Die Differenzen in der Zielrichtung und der inhaltlichen Orientierung der einzelnen Beiträge sind extrem groß, ebenso groß sind die Unterschiede im Konkretionsgrad, der von hochabstrakten Überlegungen auf dem Feld der Psychoanalyse bis zu konkreten Untersuchungen am Beispiel einzelner Filme reicht; erstaunlich schnell sickerten bestimmte Essentials und vor allem das Vokabular der Apparatustheoretiker auch in relativ pragmatische Texte ein, eine Tatsache, die es schwer macht, innovative Beiträge von reiner Redundanz, und die Bemühung um eine Klärung oder Konkretion bestimmter, der These inhärenter Probleme von ihrer reinen Funktionalisierung als Theoriehintergrund zu unterschei- den. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, bestimmte inhaltliche Fragen, die die Apparatusthese aufwirft, quer durch die Beiträge der Debatte hindurch zu verfolgen. Eine erste, relativ klar abzugrenzende Gruppe von Texten beschäftigt sich mit techni- schen Fragen, mit der Geschichte der optischen Maschinerie und Wahrnehmung, sowie mit der Frage, welche inhaltlichen Dimensionen den untersuchten Wahrneh- mungsmustern jeweils zuzuordnen sind. Ausgehend von relativ konventionellen Re- feraten der optisch-geometrischen Gesetzmäßigkeiten und der Geschichte der opti- 1 2 schen Maschinen etwa kommen Bailblé und Wees zu Ergebnissen, die die bis dahin rein kunstgeschichtlichen Überlegungen der Debatte in wichtigen Punkten ergänzen. Beide betonen zunächst, daß – trotz 'impression of reality' – grundsätzliche Differen- zen zwischen dem perspektivischen Kinobild und dem 'natürlichen Sehen' bestehen; so schließt das Kinobild die biokulare Tiefenwahrnehmung durch Akkommodation aus, wodurch ein wichtiger Indikator für die Raumwahrnehmung entfällt, zum zweiten ist die 'Projektionsfläche' des Auges, die Netzhaut, im Gegensatz zu Film und Leinwand gewölbt, was eine Vielzahl von Konsequenzen für Größenwahrnehmung, Parallelität und räumliche Verzerrungen hat, und drittens setzt die Renaissanceperspektive grundsätzlich ein unbewegtes Auge voraus, was wiederum bestimmte Tests auf die 'Realität' des Dargebotenen unmöglich macht. Obwohl also nach dem Muster der subjektiv-optischen Wahrnehmung konstruiert, bedeutet die Zentralperspektive eine 1 Bailblé, Claude: Programming the Look. A New Approach to Teaching Film Technique. In: Screen Education, Nr. 32/33, Herbst/Winter 1979/80, S. 99-131 (der Artikel erschien erstmals 1977 in den Cahiers du Cinéma, Nr. 281-282). 2 Wees, William C.: The Cinematic Image as a Visualization of Sight. In: Wide Angle, Vol. 4, Nr. 3, 1981, S. 28-37 40 Abstraktion gegenüber der tatsächlichen Wahrnehmung, eine Abstraktion, die als eine 3 Rektifizierung, bzw. Programmierung des Blicks aufgefaßt werden muß, und die auch der nach wie vor 'subjektive' Blick auf die Leinwand nicht mehr rückgängig machen kann. "Producing a picture by these means was like catching images in a rigid net strung between the eye of the observer and the objects observed. No matter how complex or ambiguous those objects might be – in form, spatial relationships, emotional content – they were caught in the same geometrical net, and seen/depicted within the same rigid framework. Anything unmeasurable, idiosyncratic or subjective was 4 ruled out by this mechanical system of grids and immobilized points of view." Das technische Bild vereinfacht das Abgebildete in seiner Struktur und es schließt bestimmte Inhalte aus, die für die subjektive Wahrnehmung eine Rolle spielen würden, und, die, das ist entscheidend, in andere Formen der Bildproduktion die Chance hätten einzugehen. Ganz unmittelbar ausschließend ist der Frame, auf den das zentralperspektivische Bild, anders als andere Formen der Projektion, besonders angewiesen ist. Allgemein ist die zentralperspektivische Bildkonstruktion immer wieder als der Blick durch den 5 Rahmen eines Fensters beschrieben worden. Da, eine flache Leinwand vorausgesetzt, die Verzerrungen einer zentralperspektivischen Projektion nach außen hin zunehmen, muß der Bildausschnitt stark eingeschränkt werden, zunächst auf jenen Bereich, der mit der 'average vision' des natürlichen Gesichtsfeldes übereinstimmt. Weitwinkel- objektive können zwar die innere Geometrie des Bildes verändern, weder aber weiten sie den Frame auf, noch erreichen sie annähernd jene 200, die das periphere Ge- 6 sichtsfeld umfaßt. Der Frame und seine spezielle Rolle im Fall des Filmbildes, etwa auch im Unterschied zur Photographie, beschäftigt eine Vielzahl von Apparatus- Autoren. So zitiert etwa Bonitzer eine Bazinstelle: "'the screen is not a frame like that 7 of a picture but a mask which allows a part of the action to be seen'", um dann aus dem Gegensatz zwischen dem, was im Bild sichtbar, und dem was nicht sichtbar ist, eine eigene Theorie der filmischen Spannung (Suspense) zu entwickeln, Chr. Metz schreibt in seinem Buch 'Imaginary Signifier': "Censorship is involved here: censorship of films and censorship in Freud's sense. Whether the form ist static (framing) or dynamic (camera movements), the prin- 3 'Programming' ist der Titel bei Bailblé. 4 Wees, a.a.O., S. 32 5 "Alberti lehrt den Künstler, ein Rechteck anzulegen nach dem Modell des Fensterrahmens. Mann könnte sagen, daß dieses Bild selbst Albertis große Erfindung war." (Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln 1985, S. 105) 6 Bailblé, a.a.O., S. 102, 123 7 Bonitzer, Pascal: Partial Vision. Film and the Labyrinth. In: Wide Angle, Vol. 4, Nr. 4, 1981, S. 58 41 ciple is the same; the point is to gamble simultaneously on the excitation of desire 8 and its non-fulfilment." 9 Und Heath schreibt mit und gegen Bazin, die spezifische Illusion des Kino bestehe darin, daß der Frame zwar das Bild, nicht aber den Raum der Erzählung limitiere, und das Gezeigte damit in ein quasi-metonymisches Verhältnis zur Gesamtheit des Off- 10 screen space trete. Gerade weil der zentralperspektivische Bildraum in sich kontinuierlich ist, und gerade weil das Gleiten der Kamera die Illusion dieser Kontinuität unterstützt, also treten am Rand dieses Bildraumes spezifische Probleme auf. Comolli bereits hatte die frame lines zum unbewußten Teil der Kinomaschinerie gerechnet; eine detaillierte Ausein- andersetzung aber war nötig um herauszuarbeiten, daß die Limitierung des Filmbildes dem Zuschauer nicht bewußt werden darf, soll dieser nicht mit der Tatsache in Kon- flikt geraten, daß sein Blick auf das Geschehen in Wirklichkeit ein gelenkter Blick, und 11 auf bestimmte Inhalte eingegrenzt ist. "As described by Oudart, the process of reading a film goes in stages, the first of which is a moment of sheer jubilation in the image (the spectator 'fluid, elastic, expanding' [...]). [...] Awareness of the frame than breaks this initial relation, the image now seen in its limits; the space which, just before, was the pure extend of the spectator's pleasure becomes a problem of representation, of being there-for – 12 there for an absent field". Der Rand des Bildes also ist eine Art Krisenzone, in der die Wünsche des Zuschauers, das Geschehen visuell zu beherrschen, und die Intention des Films (der Kamera) auf- einanderstoßen. Will der Film diesen Konflikt aber vermeiden, so hat er einen hohen Preis zu zahlen: Er muß den Blick der Kamera 'motivieren' und jeweils eine so 'ideale' 13 Perspektive auf das Geschehen wählen, daß das Gezeigte keine Wünsche offenläßt. Das Problem des Frames also wirkt auf Ausdruckmöglichkeiten und auf die komposi- tionelle Logik des Bildes unmittelbar zurück. 8 Metz, Christian: The Imaginary Signifier. Psychoanalysis and the Cinema. Bloomington (USA) 1982, S. 77 (O., frz.: 1975/77) Der 'Imaginary Signifier' hat ein Anliegen, das von dem der technikorientierten Ansätze sich grundsätzlich unterscheidet. In seinem Versuch, den filmischen Signifikanten als einen tech- nisch-materiellen zu beschreiben aber nähert sich Metz den 'Technikern' ein Stück weit an 9 Heath, Stephen: Narrative Space. In: ders.: Questions of Cinema. London and Basingstoke 1981 (der Aufsatz erschien erstmals in Screen, Vol. 17, Nr. 3, Herbst 1976) 10 ebd., S. 45 Quasi-metonymisch im Sinne einer Stellvertretung des Ganzen durch den Teil 11 Oudard und Dayan hatten diesen Gedanken im Rahmen der sogen. 'Suture'-Theorie entfaltet 12 Heath, Stephen: On Suture. In: ders.: Questions, a.a.O., S. 87 (Heath referiert Oudard; seine eigene Position weicht von der Oudards ab.) 13 Suspense-Einstellungen sind ein interessanter Ausnahmefall. 42 Eine kritische Zone aber ist der Bildrand noch aus einem zweiten Grund: Entlang der 14 framelinies stoßen Bildraum und Zuschauerraum, 'objectfield' und 'subjectfield' zusammen. 'The original schism' überschrieb Bailblé den Abschnitt, in dem er die dop- pelte Pyramide der Sehstrahlen beschreibt, die ausgehend vom Auge des Zuschauers bis zur Leinwand auseinander-, und innerhalb des Bildraumes –scheinbar– wieder zu- sammenlaufen, bis sie sich im Fluchtpunkt treffen. "A third factor [is] [...] the segregation of spaces that characterises a cinema per- formance and not a theatrical one. The 'stage' and the auditorium are no longer two areas set up in opposition to each other within a single space; the space of the film, represented by the screen, is utterly heterogeneous, it no longer communicates with that of the auditorium: one is real, the other perspective: a stronger break than any 15 line of footlights." Das Kino als Maschine antwortet auf das Problem der zwei Räume, indem es den realen Raum der Zuschauer in Dunkelheit versenkt und indem es den anderen Raum, den Bildraum, durch das Verbot an die Schauspieler, in die Kamera zu blicken, voll- ständig in sich abschließt. "The actor [...] should carry on with his antics in a closed room taking the utmost care not to notice that a glass rectangle has been set into one 16 of the walls, and that he lives in a kind of aquarium". Daß es sich bei der Trennwand zwischen beiden Räumen um eine Glas-Wand handelt, ist alles andere als gleichgültig; denn eines der wichtigsten Kennzeichen des proji- zierten Filmes ist, daß er, im Gegensatz etwa zum Papierabzug eines Fotos, sowohl seine Bildfläche als auch die Textur des materialen Trägers negiert. Bailblé etwa erinnert daran, daß der Begriff der Perspektive vom lateinischen per-spicere (hin- 17 durchsehen) abgeleitet ist, und wenn die Malschulen die Perspektive mithilfe eines Tüllschleiers demonstrieren, auf dem sich der dahinterliegende Raum flächig abbildet, so fehlt dem Filmbild selbst dessen materiale Struktur. Das Filmbild ist vollständig 'durchsichtig' und der Bildraum scheint sich tatsächlich ohne Grenze zum Zuschauer- raum zu öffnen. Bei Comolli bezeichnete der Begriff der 'Transparenz' die Illusion, durch die gesamte Kinomaschinerie hindurch 'unmittelbar' auf den Gegenstand zu blicken; der technische Begriff der Per-spektive und die Überlegung, daß die Bildfläche des Filmbildes tatsächlich 'durchsichtig' ist, nun fügt der Transparenzüberlegung eine neue Dimen- sion hinzu. Heath führt beide Gedanken zusammen, indem er auf die Tatsache auf- 14 Bailblé, a.a.O., S. 110 15 Metz, a.a.O., S. 64 (Erg. H.W.). Der Gedanke der Dissoziierung der Räume geht auf Michotte (1948) zurück (Metz, Semiologie, a.a.O., S. 30). 16 ebd., S. 96 17 Bailblé, Programming, a.a.O., S. 108 43 merksam macht, daß das Kino sein Bild gerade nicht – und zwar von Anfang an nicht – nach dem Muster des Tüllschleiers von hinten auf die Leinwand projiziert, sondern die Apparatur im Rücken des Publikums installiert hat: "(on the screen) a space is established with no 'behind' (it is important that the Lumière brothers should set the screen as they do in the Grand Café and not with the audience on either side of a translucent screen, that cinema architecture should take its forms in consequence, that there should be no feeling of machinery to the 18 side of or beyond the screen [...].)" Die technischen Überlegungen, die hier als ein erster Strang der Apparatusdebatte zu nennen waren, haben gemeinsam, daß sie den engeren Raum traditioneller Film- Technikgeschichtsschreibung überschreiten. Die These einer Rektifizierung der opti- schen Wahrnehmung, die Überlegungen zum Frame und zur 'segregation of spaces' und schließlich die modifizierende Wiederaufnahme des Begriffes der Transparenz zielen darauf ab, bestimmte Bedeutungsgehalte auszubuchstabieren, die die apparative Gesamtanordnung des Kinos produziert, ohne daß zunächst geklärt werden könnte, ob diese Bedeutungsgehalte intentional in die Maschinerie hineinkonstruiert wurden, ob sie als ein Nebenprodukt des 'blinden' Fortschreitens der Sozialgeschichte angesehen werden müssen, und welche Funktion sie in dieser Geschichte gegebenenfalls über- nehmen. Das unmittelbar politische Interesse, das die Debatte zu Beginn motivierte, tritt in diesem, ihrem technischen Zweig weitgehend zurück und auch die vorläufig- grobe Einordnung etwa der Zentralperspektive in die Geschichte des Bürgertums spielt für die genannten Theoretiker kaum eine Rolle. Gerade der Verzicht auf diese Kontextverweise aber macht andererseits die Eigenheit der referierten Texte aus: Indem sie die Effekte verschiedener technischer Konstella- tionen ohne Bezug auf eine scheinbar gesicherte 'Semantik' untersuchen und auch solche Wechselwirkungen aufdecken, die unvermutet sind und zunächst Rätsel aufge- ben – Beispiel sei die Wechselwirkung zwischen Raumkontinuität und Frame –, erweitern sie die Basis, die Schlüsse auf die 'Funktion' der untersuchten Technik überhaupt erst möglich macht. Den 'Technikern' der Appartatusdebatte ist zugutezu- halten, daß sie ihre Frage sehr grundsätzlich stellen; Schritt für Schritt entkleiden sie das Filmbild seiner scheinbaren Selbstverständlichkeit und zeigen, daß das Analogie- verhältnis zur subjektiven Wahrnehmung auf einem ganzen Bündel von Konventio- nen, Sehgewohnheiten und geleugneter Differenzen beruht. Auf diese Weise entsteht 19 ein Gefühl für das Eigengewicht der Apparatur und das Filmbild wird, zumindest 18 Heath, Narrative Space, a.a.O., S. 37f (Erg. H.W.) 19 "Every shot or reframing adds a difference, but that difference is always the same image, with the organisation - the continuity, the rules, the matches, the pyramid structures - constantly doing the sum of the scene." "The images pass [...], the screen remains". (Heath, Narrative, a.a.O., S. 49, S. 38) 44 für den Moment der Analyse, opak. Deutlich dabei ist, daß dieses wichtige und allein mit relativem Kraftaufwand überhaupt erreichbare Befremden gegenüber der allzu vertrauten Kinomaschinerie im Rahmen einer Argumentation erreicht wird, die, wie Comolli es forderte, auch außertechnische Faktoren wie ästhetische Traditionen und Bewußtseinsstrukturen aufseiten des Publikums einbezieht und sich gerade nicht auf die vorgefundene Isolation der Technik und ihren Fetischcharakter verläßt. Ähnlich wie bei Baudry und Comolli erscheint die Gesamtapparatur des Kinos als eine komplexe Struktur, in der technische und sozial-habituelle, ästhetische und scheinbar 'naturgegebene', bewußte und verdrängte Faktoren in einem Verhältnis wechselseitiger Determination zusammenspielen. Der Bedürfnishintergrund der Gesamtinstallation aber bliebe völlig dunkel, gäbe es nicht auch in den Texten der 'Techniker' die Perspek- tive auf einen Zuschauer, der auf das Kino mehr oder minder angewiesen ist. Die implizite These der Techniker zum Zuschauer ist ein weiteres Mal die These der Subjektüberhöhung. Die plakativste, aber am häufigsten zitierte Stelle stammt von Brakhage, der über die Renaissanceperspektive des Filmbildes schrieb: "[...] 'that form of seeing we could call 'westward-hoing man,' which is to try to clutch a landscape or the heavens or whatever. That is a form of sight which is 20 aggressive and wich seeks to make any landscape a piece of real-estate'". Ähnlich Heath: "the eye in the cinema is the perfect eye, the steady and ubiquitous control of the scene passed from director to spectator by virtue of the cinematic 21 apparatus", Bailblé: "[...] all that world contracted in such a small space at the back of the eye. [...] all rays converge on my eyes and I am the centre of what I see. In imagination I 22 contain all of space; I survey the universe", und schließlich Metz: "[...] the role of the monocular perspective (hence of the camera) and the 'vanishing point' that inscribes an empty emplacement for the spectator- subject, an all powerfull position which is that of God himself, or more broadly of 23 some ultimate signified." 20 Stan Brakhage zit. bei: Wees, a.a.O., S. 32 Das Zitierte ist bemerkenswert insofern, als die Tiefendimension des Bildes als eine Achse der Hand- lung, der raumgreifenden Eroberung aufgefaßt wird. Derselbe Gedanke tritt, wenn auch in völlig ande- rem Kontext, bei Laura Mulvey auf, die zeigt, daß die Raumachsen entsprechend dem Geschlechter- widerspruch codiert sind, und die Tiefe des Raumes einer männlich-sadistischen Weltsicht zugeordnet werden kann. (Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski/Sander/Gorsen (Hg.): Frauen in der Kunst. Bd. 1, Ffm 1980, S. 30-46 (O., engl: 1973-75)) 21 Heath, Narrative, a.a.O., S. 32 22 Bailblé, a.a.O., S. 112 23 Metz, Imaginary Signifier, a.a.O., S. 49 Zwei Dinge fallen an diesen Äußerungen auf: Zum einen, daß die Autoren, sobald sie die Subjektüberhöhung zum Thema machen, eine deutlich verstärkte Neigung zu Metaphern und Rhetorik zeigen, zum zweiten, daß die Vielzahl der vorher diskutierten Technikaspekte immer wieder auf ein und dasselbe privilegierte Beispiel der Zentral- perspektive zusammenbricht. Vor allem an diesem Beispiel, und das vielleicht macht sein Privileg aus, scheint die Überhöhung der Zuschauerposition festzumachen zu sein, und die Kinolust, die den Fluchtpunkt auch der Technikdebatte bildet, scheint zunächst nur über diese Überhöhung zu begründen. 1.3 Der psychoanalytisch orientierte Ansatz von Christian Metz Beide Punkte der Kritik bilden den Hintergrund für die Befragung eines zweiten Stranges der Apparatusdebatte, der von vornherein die Kinolust und den Zuschauer in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Diesen zweiten Strang bilden die explizit psy- choanalytisch argumentierenden Texte, denen es vorrangig um eine Theorie des Zu- schauers geht, und die entsprechend nur sporadisch auf die von Baudry und Comolli 1 aufgeworfenen Fragen zurückkommen. Zur Apparatusdebatte aber sind diese Texte dennoch zu rechnen, insofern sie, ähnlich wie der zweite Text Baudrys, nicht primär Filminhalte, sondern das Kinoerlebnis und das Medium Film als solches auf dem Hintergrund bestimmter Annahmen über die Strukturen des psychischen Apparats zu deuten versuchen. Der wohl umfassendste und auch bekannteste Ansatz zu einer psychoanalytischen 2 Theorie des Kinos ist der schon erwähnte 'Imaginary Signifier' von Christian Metz. Da Metz eine Vielzahl von Gedanken anderer Autoren aufnimmt und die Herkunft nicht immer eindeutig ausweist, sollte man das Buch primär als die integrative Dar- stellung eines bestimmten Standes der Diskussion um die Mitte der siebziger Jahre lesen. Die zentrale These des ersten Teiles, eine These, die in der Folge immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzung war, nimmt die Unterscheidung Baudrys zwi- schen der 'primären' Identifikation mit der Kamera und der 'sekundären' Identifi- kation mit dem Darsteller auf; Metz nun spitzt diese These zu: "the spectator can do 1 Wie verwoben der 'technische' und der 'psychoanalytische' Strang der Debatte untereinander sind, ist daran abzulesen, daß etwa auch Bailblé als Exponent der 'Techniker' immer wieder auf dem Hintergrund der Lacanschen Psychoanalyse argumentiert. In der Rückschau aber sind beide Stränge dennoch zu trennen, insofern, sieht man von Metz ab, keiner der Autoren auf jeweils beiden Terrains Innovationen beizubringen hatte. 2 Metz, Christian: The Imaginary Signifier. Psychoanalysis and the Cinema. Bloomington (USA) 1982 (Der erste Teil des Buches erschien unter dem Titel 'Le signifiant imaginaire' in: Communications, Nr. 23, 1975, die frz. Buchausgabe unter gleichem Titel 1977) 46 3 no other than identify with the camera", und er bringt sie in ein eigenes konsistentes Modell ein. Baudry nämlich hatte vernachlässsigt, daß der 'Spiegel der Leinwand' zwar die gesamte physische Welt wiedergibt, anders als der Lacansche Spiegel das Kör- perbild des Säuglings, den Körper des Zuschauers aber gerade ausspart. In dieser Besonderheit des Leinwandspiegels nun sieht Metz den Schlüssel, nicht nur den Me- chanismus der Identifikation, sondern auch den Rausch zu erklären, den diese Iden- tifikation beim Zuschauer auszulösen imstande ist. "The spectator is absent from the screen: contrary to the child in the mirror, he cannot identify with himself as an object, but only with objects which are there without him. [...] there is no longer any equivalent of the own image, of that unique mix of perceived and subject (of other and I) [...]. I take no part in the perceived, on the contrary, I am all-perceiving. All-perceiving as one says all-powerful (this is the famous gift of 'ubiquity' the film makes its spectator); all-perceiving, too, be- cause I am entirely on the side of the perceiving instance: [...] a great eye and ear, [...] the instance, in other words, which constitutes the cinema signifier (it is I who 4 make the film)." Gerade die Differenz zur Lacanschen Spiegelsituation erlaubt es Metz, die drei bis dahin heterogenen Gedanken der Identifikation, der 'segregation of spaces' und der Subjektüberhöhung zusammenzuschließen. Zentral, zentral zumindest für die hier vorgetragene Argumentation, ist dabei, daß Metz die Subjektüberhöhung nicht wie die 'Techniker' allein aus der Konstruktion der Kamera ableitet; die Auslieferung der Welt an den Zuschauer ('the famous gift') kommt vielmehr dadurch zustande, daß die Leinwand wie der Spiegel die Welt kontinuierlich und vollständig präsentiert, den Zuschauer aber aus dieser vollständigen Welt hinausdrängt und ihn in eine Position der 'Überwachung von außen' einsetzt. Es wird nun deutlich, daß das häufig bemühte Bild des Spiegels u.a. das Phänomen zu beschreiben versuchte, daß die Fülle des auf der Leinwand Gezeigten sich nicht allein als Fülle, sondern darüberhinausgehend als 'Vollständigkeit' gerieren kann; ein Tafelbild zeigt einzelne Gegenstände, einen Raum oder eine Situation, zu denen sich der Betrachter in einer Position des Gegenüber befindet. Im Fall des Kinobildes, das ist die Konsequenz der Metzschen Überlegung, funktioniert die Gegenübersetzung anders: damit das 'Fehlen' des Zuschauers auf der Kinoleinwand überhaupt fühlbar, und damit zur Grundlage für die kinospezifische Identifikation werden kann, muß das Leinwandgeschehen sich als eine 'Welt', als Äquivalent 'der' Welt, und eben nicht als eine Ansammlung von Gegenständen oder eine Abfolge von Situationen darstellen. Die photographische Treue der Abbildung, die potentielle Ubiquität der Kamera 3 ebd., S. 49 4 ebd., S. 48 47 und die latente Überforderung des Zuschauers durch die Simultaneität und die Flüch- tigkeit des Gezeigten also wirken darin zusammen, zunächst die Fülle, und in der Fülle jene fühlbar leere Stelle zu schaffen, in die der Zuschauer via Identifikation eintritt. Die Offenlegung dieser Implikationen geht über den Metzschen Text hinaus; nur auf diesem erweiterten Hintergrund aber wird deutlich, daß seine Betonung des fehlenden Zuschauers die Chance bietet, den etablierten Bezug auf Lacans Spiegeltheorie noch einmal zu überprüfen, und darüberhinaus, den inneren Zusammenhang nicht nur der bereits genannten, sondern auch einiger weiterer Begriffe zu zeigen, die bei Metz eine Rolle spielen. Der erste dieser Begriffe ist der der Fiktionalität, der fast ebensohäufig wie die These der Identifikation mit der Kamera, und meist auf die Kernaussage: "every film is a 5 fiction film" reduziert, zitiert wird. Auf dem Hintergrund des Gesagten nun wird diese Aussage verständlich; 'fiktional' nämlich wird der Raum des Films in dem Maße, wie die 'segregation of spaces' wirksam wird und der Bildraum sich gegen den Raum des Zuschauers abschließt und 'vervollständigt'. Von den konkreten Inhalten des Films, Narration oder Dokumentation, also ist die Metzsche Definition vollkommen unab- 6 hängig; und Fiktionalität wird zu einer Kategorie, die nicht mehr mit dem Inhalt, sondern eher mit der apparativen Anordnung, und dort speziell mit den Mechanismen der Raumkonstiution zu tun hat. Der Begriff des 'fiktionalen Raums', wie er etwa aus der Literaturtheorie bekannt ist, verliert seinen metaphorischen Charakter, wenn nun der tatsächliche Raum, die räumlichen Verhältnisse und die apparative Anordnung des Mediums für die Fiktionalität verantwortlich gemacht werden. Die Vorstellung einer Abrundung des auf der Leinwand gezeigten Raumes hatte Metz von den bereits genannten 'Suture'-Theoretikern übernommen. Mit der 'segregation of spaces' ebenfalls in direktem Zusammenhang stehen zwei weitere Thesen, die das Kinoerlebnis mit den beiden klassisch psychonalytischen Kategorien des Voyeurismus und des Fetischismus in Beziehung bringen. Im Fall des Voyeurismus ist die Verbindung fast unmittelbar plausibel: "The practice of cinema is only possible through the perceptual passions: the desire 7 to see (= scopic drive, scopophilia, voyeurism) [...] [and] the desire to hear [...]." Scopophilia und desire of hear sind beide an die Distanz, die Abwesenheit des be- gehrten Objektes gebunden: 5 ebd., S. 44 6 auch wenn ihm in der Folge immer wieder vorgeworfen wurde, sein Buch einseitig am Mainstream- Kino zu orientieren und den Avantgardefilm zu vernachlässigen. 7 ebd., S. 58 (Erg. H.W.) 48 "These two sexual drives are distinguished from the others in that they are more dependent on a lack, or at least dependent on it in a more precise, more unique manner, which marks them from the outset, even more than the others, as being on the side of the imaginary. [...] Because, as opposed to other sexual drives, the 'perceiving drive' – combining into one the scopic drive and the invocatory drive – concretely represents the absence of its object in the distance at which it maintains it and which is part of its very definition: distance of the look, distance of listening. Psychophysiology makes a classic distinction between the 'senses at a distance' (sight and hearing) and the others all of which involve immediate proximity and which it calls the 'senses of 8 contact' [...]: touch, taste, smell, coenaesthetic sense, etc." Metz geht es nicht darum, durch den Verweis auf die Architektur der menschlichen Triebe dem Kino quasi eine Naturbasis zu verschaffen. Die strukturelle Parallele in der Anordnung aber ist deutlich, wenn das Kino als diejenige Maschine anzusehen ist, die dem Voyeur einen von vornherein eigenen, vom beobachteten Geschehen abge- trennten Raum zuweist und ihn trotz 'impression of reality' vor einer tatsächlichen Konfrontation zuverlässig schützt: "[...] in the cinema, the actor was present when the spectator was not (= shooting), and the spectator is present when the actor is no longer (= projection): a failure to 9 meet of the voyeur and the exhibitionist whose approaches no longer coincide". Modelliert man den Zuschauer nach dem Muster des Voyeurs, ist es kein Defekt des Kinos, daß die Bilder nur zu sehen, nicht aber beispielsweise zu fühlen sind; ein Voyeur legt keinen Wert drauf, mit all seinen Sinnen involviert zu sein. Und ent- scheidet man sich mit der Psychoanalyse dafür, den Voyeurismus nicht einfach als 'Abweichung', sondern als ein Anzeichen dafür einzustufen, daß 'der' menschliche Trieb sich aus verschiedenen partialen Trieben zusammensetzt, die eine deutliche Tendenz haben sich zu verselbständigen, so wird deutlich, daß das scheinbar die Sinne integrierende Kino ebensosehr eine Maschinerie des Ausschlusses ist. Weniger voraussetzungslos verständlich ist die These des Fetischismus. Den Feti- schismus, also die libidinöse Besetzung von peripheren Körperpartien oder von Ge- 10 genständen, versteht die Psychoanalyse als eine Reaktionsbildung. Das männliche Kind, das den Geschlechterunterschied entdeckt, erschreckt darüber, daß die Frau nicht wie vermutet ebenfalls über einen Penis verfügt; es muß nun annehmen, daß auch der eigene Penis bedroht ist, und es reagiert auf diese Bedrohung, indem es 8 ebd., S. 58f 9 ebd., S. 63 10 siehe etwa: Freud, Sigmund: Fetischismus. In: ders.: Studienausgabe, Ffm 1975, Bd. 3, S. 379-388 (Der Text stammt von 1927) 49 seine Entdeckung zunächst verleugnet. In den meisten Fällen wird diese Phase über- wunden; in anderen Fällen aber wird das sexuelle Interesse, das zu der Entdeckung führte, dauerhaft auf einen anderen, unverfänglichen Gegenstand übertragen, dem nun die ganze Liebe gilt. Freud bereits betonte, daß die erschreckende Entdeckung kaum je vollständig verleugnet wird; das Wissen und das Nicht-wissen-wollen existieren nebeneinander fort und die konkrete Wahl des Fetischs läßt in vielen Fällen die Kompromißbildung noch erkennen. Der Fetisch steht für das weibliche Genital, das abwesende Ziel des Begehrens, und gleichzeitig ist er ein Zeichen des Triumphes über die Kastrations- drohung und macht auf diese Weise das Bedrohliche handhabbar. Anders als im Fall des Voyeurismus also bewegt sich eine Fetischtheorie des Kinos ausschließlich auf psychoanalytischen Terrain und die Verbindung zum alltäglichen Sprachgebrauch ist weitgehend abgerissen. Die Fragestellungen, die Metz mit dem Begriff des Fetisch zu klären versucht, aber sind relativ übersichtlich: In dem Neben- einander von Wissen und Nicht-wissen-wollen, das den Fetisch konstituiert, sieht Metz das Muster für jene Konstellation 'doppelten Bewußtseins' auf Seiten des Zu- schauers, das dem Leinwandgeschehen immer zugleich partizipierend und skeptisch gegenübersteht und das Kino zu einer grundsätzlich fiktionalen Maschine macht. Die zweite Strukturanalogie ist, daß das Kino, anders als andere symbolische Systeme, dem Zuschauer die Technologie, den Apparat als ein Ersatzobjekt offeriert; die Posi- tion des Kenners oder des Cinephilen ist u.a. dadurch gekennzeichnet, daß er das Kino zu 'durchschauen' meint, hinter den Illusionseffekten die technischen Maßnahmen zu detektieren und die technischen Fortschritte des Mediums aufzulisten weiß, ohne daß dies seine Kinoliebe beschädigte. Die dritte Überlegung betrifft ein weiteres Mal den Frame. Indem der Frame das Blickfeld begrenzt und bestimmte Bildinhalte abschnei- det, schränkt er die halluzinatorische Verfügung über das Gezeigte zunächst ein; dann aber entwickelt sich jene Art von Spiel – "the point is to gamble simultaneously on the exitation of desire and its non-fulfilment" –, die das Kino erst eigentlich zur Wunsch- maschine macht. Das doppelte Bewußtsein und der ständige Aufschub, die halluzina- torische Verfügung und die Auslieferung an die unsichtbare, das Bild zensierende Instanz greifen auf eine Weise ineinander, die spezifisch für das Kino ist, und die das spezifische Kinovergnügen produziert. Insbesondere mit dieser dritten Überlegung verläßt Metz den Rahmen dessen, was mit der engeren psychoanalytischen Definition des Fetisch in Einklang zu bringen ist und er variiert, hart an der Grenze zur Metapher, Motive aus dem allgemeineren psycho- analytischen Diskurs. Plausibel, und ein Fortschritt gegenüber den bisher referierten Thesen zum Frame aber ist die Vorstellung, daß die das Bild begrenzende Instanz nicht einfach verdrängt wird, sondern in einer 'division of belief' kopräsent, und mit dem Kinovergnügen vereinbar bleibt. 5 0 Der wohl interessanteste, komplizierteste, aber, so muß man sagen, letztlich wohl gescheiterte Ansatz des Metzschen Buches ist sein Versuch, die jüngeren sprachtheo- retischen Reflexionen der Psychoanalyse für eine Theorie des Kinos fruchtbar zu machen. Bezugspunkt ist ein weiteres Mal Lacan, der in den fünfziger Jahren in der Sprache das entscheidende Medium der psychoanalytischen Kur aufgedeckt hatte; eine scheinbare Selbstverständlichkeit, die bis dahin dennoch nahezu unbeachtet und 11 ohne Folgen für die psychoanalytische Theoriebildung geblieben war. Lacan hatte vorgeschlagen, die Mechanismen des Unbewußten als eine quasi-sprach- liche Struktur zu interpretieren, als einen Apparat formaler Regeln, die die unbewußten Inhalte im Traum oder im psychoanalytischen Gespräch überhaupt erst an die Ober- fläche gelangen lassen. 'Verdichtung' und 'Verschiebung' – nach Freuds 'Traum- deutung' die beiden entscheidenden Entstellungsmechanismen des Traums – wurden von Lacan also als Darstellungstechniken aufgefaßt, und, im Rückgriff auf die 12 Aphasieuntersuchungen Jakobsons, mit den sprachlichen Mechanismen der Me- tapher und der Metonymie in Verbindung gebracht. Metz nun setzt beim Problem filmischer, d.h. visueller Metaphern an. Weder die Metonymie, noch die Metapher nämlich sind an das Medium der Sprache gebunden; schwenkt ein Film von einer Liebesszene auf ein Kaminfeuer, so wird das Bild der Flammen die Liebesszene kommentieren und man wird mit einer gewissen Selbstver- ständlichkeit von einer Metapher sprechen können. Eine Metonymie tritt auf, etwa 13 wenn – ein Beispiel aus dem Film 'M' – anstelle eines getöteten Mädchens der Luft- ballon gezeigt wird, mit dem es vorher eine Straße entlanggelaufen war, und der Ballon auf diese Weise die Anwesenheit/Abwesenheit des Mädchens deutlich macht. In beiden Fällen ist ein akzeptabler Gegenstand an die Stelle eines tabuisierten getre- ten, auch die Assoziation zur psychischen, bzw. gesellschaftlichen Zensur also liegt auf der Hand. Bereits die Typisierung derartiger Muster aber erweist sich als schwierig; hatte Jacob- son die Metonymie als das Umschlagen einer Kontiguitätsbeziehung in eine Substitu- tion beschrieben – das bekannteste Beispiel ist die räumlich-funktionale Zusammen- gehörigkeit von Segel und Schiff, die es möglich macht, metonymisch von '40 Segeln' statt von 40 Schiffen zu sprechen –, und die Metapher umgekehrt als ein Verhältnis semantischer Ähnlichkeit (Similarität), das in eine syntagmatische Reihung umschlägt, so sieht sich Metz gezwungen, diese relativ klare Zuordnung wieder einzuziehen. Grund dafür ist seine Beobachtung, daß sowohl Metonymien als auch Metaphern 11 Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. In: ders.: Schriften. Bd. 2, Olten 1975 (Der Aufsatz erschien erstmalig (frz.) 1957) 12 Jakobson, Roman: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen. In: ders.: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. München 1974, S. 117-141 (Der Aufsatz erschien erstmals 1956) 13 D 1931, R.: Fritz Lang 51 Elemente im Text substituieren können, was die Definition Jakobsons hinfällig macht. Metz' Gegenmodell allerdings verringert die Probleme nicht: Sein Vorschlag Meta- pher und Metonymie vom Referenten, und damit von der Sphäre des Bezeichneten abhängig zu machen, steht in krassem Widerspruch zu dem Grundanliegen Lacans, gerade nicht Annahmen über Signifikate, sondern die materialen Mechanismen der Sprache selbst zur Grundlage der Analyse zu machen; ein Rückfall, der in terminolo- gische, und dann auch inhaltliche Verwirrungen mündet. Nicht auf die Lösung dieser Probleme aber kommt es an dieser Stelle an; bemerkens- wert vielmehr ist bereits der Anspruch, die Sprache des Films mit Hilfe von Kategorien zu analysieren, die ursprünglich der Linguisitk entstammen, deren Verwendung im Kontext der Psychoanalyse sie aber verändert und mit völlig neuen Konnotationen angereichert hat. Dieses Vorgehen nämlich stellt Verbindungen her, die vorher nicht gedacht werden konnten und von denen die Apparatusdebatte, wenn sie sie aufgegrif- fen hätte, hätte ausgesprochen profitieren können. Ging es den Apparatustheoretikern darum, den technischen Apparat des Films mit dem psychischen Apparat der Zuschauer in Verbindung zu bringen, und andererseits zu zeigen, daß die filmische Technik in einer bestimmten psycho-sozialen Konstellation immer schon situiert ist, ist bei Metz nun ein völlig anderes Modell der Vergesell- schaftung vorentworfen; nun nämlich ist es das symbolische System des Films, auf das psychoanalytische Kategorien angesetzt werden. Weniger bei Metz selbst als der Möglichkeit nach rücken damit die technische Apparatur des Films und sein symboli- sches System in eine neue Konstellation, und der Rückgriff auf eine linguistisch belehrte Psychoanalyse verspricht, beide in einer neuen, verglichen mit der mechani- stischen Filmsemiotik der sechziger Jahre ungleich komplexeren, und entsprechend 14 leistungsfähigeren Semiotik zu vermitteln. Dies, selbstverständlich, ist kaum mehr als ein Programm; ein Programm allerdings, das eine deutliche Grenze des in der Apparatusdebatte Bearbeiteten aufzeigt und das eigenen Fragen über die Apparatustheorie hinaus einen Weg, oder zumindest eine Richtung weisen kann. Und wenn sowohl die psychoanalytischen Kategorien bei Metz als auch die Perspektive einer semiotischen Reinterpretation des in der Debatte Thematisierten von der ursprünglichen Frage nach dem filmischen Raum sich zu entfernen scheinen, so wird auch diese Beziehung im Verlauf Argumentation wieder einzuholen sein 14 Es sei daran erinnert, daß Metz selbst zwei filmsemiotische Standardwerke geschrieben hat, bevor er sich der psychoanalytischen Filmtheorie zuwandte. Daß diese Umorientierung nicht einen völligen Bruch darstellt, wird allein in diesem vierten Teil des Imaginary Signifier deutlich, auch wenn Metz auch in diesem Text in keiner Weise auf das früher Erarbeitete zurückkommt. 52 Um die skizzierte semiotische Frage plausibler zu machen, aber seien noch einige weitere Stichworte des Metzschen Textes aufgegriffen. So zunächst seine Vorstellung, die Worte selbst – die semiotische Grundeinheit der Sprache, Metz überträgt die These erst relativ spät auf den Film – seien im Spannungsfeld der Begriffe der 'Verdichtung' und der 'Isolation' zu beschreiben. Freud hatte den Begriff der 'Verdichtung' aus der Beobachtung entwickelt, daß Traumelemente (Worte, Bilder) in den wenigsten Fällen einzelne Bedeutungen re- präsentieren, sondern weit häufiger mehrere, ja, selbst widersprüchliche Bedeutungen in sich vereinigen. Er schreibt: "Das Wort, als der Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen, ist sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit, und die Neurosen (Zwangsvorstellungen, Phobien) benützen die Vorteile, die das Wort so zur Verdichtung und Verkleidung bietet, 15 nicht minder ungescheut wie der Traum." Der Traum nutzt die Vieldeutigkeit der Worte, um verschiedene Traumgedanken in einem Element zusammenzuziehen, sie dadurch unkenntlich zu machen und, der zen- sierenden Instanz zum Trotz, zur Darstellung zu bringen. Die Analyse entsprechend wird solche Elemente in ihre Bestandteile zerlegen müssen, will sie Schritt für Schritt die Traumgedanken zurückgewinnen, die in der Verdichtung untergegangen sind. Der zweite Aspekt der Verdichtung ist ein energetischer; mehrfach determinierte Elemente sind in der Lage, psychische Besetzungen zu akkumulieren, also Intensitäten auf sich zu ziehen, die ihnen – ihrem normalen semantischen Stellenwert nach – in 16 keiner Weise zukämen. Metz nun hält es für möglich, dieses Modell auf die Sprache allgemein auszuweiten: "For Freud [...] the word (any ordinary word) was 'the nodal point of numerous ideas' [...]. Past condensations meet in each word of the language as though at a cross-roads; they have become bound and 'extinct', but the least of our dreams can rekindle and reactivate them [...]. In linguistics the basis of polysemy is explained by the fact that there are more possible thoughts than words available to express them: surely this is to define the lexicon itself as the product of an enormous con- 17 densation (broken down into thousands of localised condensations)?" Und: "It is indeed a characteristic of language – and another aspect of the 'problem of the word' – that it has this constant but never fully realised tendency to en- capsulate a kind of complete (but concentrated, compressed) 'argument' in every word: a tendency which is also intrinsically condensatory. Even the most ordinary word, lamp for instance, is the meeting-point for several 'ideas' (in the terminolo- 15 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: Studienausgabe, Bd. 2, Frankfurt 1972, S. 336 (Der Text stammt aus dem Jahr 1900) 16 siehe Metz, a.a.O., S. 240ff, bzw. Freud, a.a.O., S. 565ff 17 Metz, a.a.O., S. 239 (Hervorh. H.W.) 53 gy of the linguist, several 'semes', or 'semantic factors' or 'componential features') each of which, if it were unravelled, or decondensed, would require a whole sentence: 'A lamp is a man-made object', 'A lamp is an object designed to give 18 light', ect." Wenn sich in den verdichteten Elementen des Traums also verschiedene Traum- gedanken überschneiden, Traumgedanken, die einzelne und für den Träumer spezi- fische Inhalte repräsentieren, so 'überschneiden' sich in den Worten verschiedene Bedeutungsdimensionen, Komponenten der Bedeutung, die die Sprache selbst in den Worten eingekapselt hat. Das Bild der Kapsel bereits verweist auf den zweiten Begriff der Psychoanalyse, den Metz in eine allgemeinere Theorie der Sprache einbringen will, den Begriff der Iso- lierung. Innerhalb der Psychoanalyse bezeichnet 'Isolierung' einen sehr speziellen Mechanismus der Abwehr: Ein unliebsames Erlebnis wird von seinem Kontext frei- gestellt, "seine assoziativen Beziehungen sind unterdrückt oder unterbrochen, so daß es wie isoliert dasteht und auch nicht im Verlaufe der Denktätigkeit reproduziert wird. Der Effekt dieser Isolierung ist dann der nämliche wie bei der Verdrängung 19 mit Amnesie." Und Freud selbst erweitert diesen Mechanismus auf Phänomene auch außerhalb der Psychopathologie, wenn er fortfährt: "Einen Vorwand für dieses Verfahren der Neu- rose gibt der normale Vorgang der Konzentration. Was uns bedeutsam als Ein- druck, als Aufgabe erscheint, soll nicht durch die gleichzeitigen Ansprüche anderer Denkverrichtungen oder Tätigkeiten gestört werden. Aber schon im Normalen wird die Konzentration dazu verwendet, nicht nur das Gleichgültige, nicht Dazu- gehörige, sondern vor allem das unpassende Gegensätzliche fernzuhalten. Als das Störendste wird empfunden, was ursprünglich zusammengehört hat und durch den 20 Fortschritt der Entwicklung auseinandergerissen wurde". Der Begriff der Isolation also beschreibt eine notwendige Beschränkung, andererseits aber auch, daß eine Grundtendenz von Abwehr in jeder solchen Beschränkung erhal- ten bleibt. Diesen Gedanken nun greift Metz auf, um einen weiteren Zug der Sprache offenzulegen: "Every classification and every undertaking of a taxonomic nature [...] rests on a desire to separate things one from another. [...] And here we come back to the word-unit [...], for the word [...] has remarkable powers of isolation, if only because 21 it can itself be easily isolated." 18 ebd., S. 225 19 Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst. In: Studienausgabe, Bd. 6, Frankfurt 1971, S. 264 (O.: 1926(25)) 20 ebd., S. 264f 21 Metz, a.a.O., S. 227 54 Das System der Worte bildet eine Taxonomie eigener Art, und Bedeutung kommt bekanntlich durch Differenz, und d.h. durch Ausschluß zustande. Überlegungen wie diese haben die Stärke, psychische Basismechanismen mit be- stimmten Formgesetzen der symbolischen Systeme in Beziehung setzten. Dabei kommt es zunächst kaum darauf an, in welche Richtung die These geht, ob also der Sprache eine Art tiefenpsychologische Grundlage nachgewiesen, oder umgekehrt 22 gerade die Sprachabhängigkeit psychischer Vorgänge belegt werden soll; wichtig ist die Installation solcher Verbindungen selbst. Zum einen weil sie ausgesprochen unvermutet sind und dem Frageraster einer immer mechanistischer argumentierenden Linguistik verborgen bleiben müssen, zum zweiten – und wichtiger – aber auch des- halb, weil der Allgemeinheitsgrad der gewonnenen Kategorien von vornherein einen Typus von Semiotik anvisiert, der die verschiedenen symbolischen Systeme zu ver- binden in der Lage wäre. Der Apparatus-Fragestellung, es wurde gesagt, wird mit dem Entwurf einer psycho- analytisch erweiterten Semiotik eine völlig neue Perspektive aufgewiesen; eines ihrer Kernprobleme aber ist gleichzeitig fast völlig aus dem Blick geraten: Bei Metz selbst nämlich führt von den zuletzt referierten Überlegungen keinerlei Weg zurück zur Maschine selbst, zur filmischen Apparatur, die, so der Anspruch der Apparatus- theoretiker, auf ihre semantischen Gehalte hin befragt werden sollte. Ein weiteres Mal also hat sich die 'Sprache' des Films als Untersuchungsgegenstand verselbständigt und der im Titel gestellte Anspruch, den filmischen 'Signifikanten' zu analysieren – ein Begriff, der den maschinellen Charakter dieser Zeichenmaschine ja gerade mitzu- reflektieren hätte – ist im Verlauf der Argumentation abhandengekommen. Es käme also, so könnte man sagen, darauf an, den Beginn der Metzschen Argumen- tation mit ihrem Schluß in eine systematische Beziehung zu setzen; bislang verbindet 23 beide allein der Rückgriff auf die Psychoanalyse, und damit eine Basis, die von der hier vertretenen Argumentation nicht im selben Maße als verbindlich angesehen wird 1.4 Suture-Theorie Einen Sonderfall innerhalb der psychoanalytisch orientierten Filmtheorie stellt die sogenannte Suturetheorie dar; zum einen, insofern sie eine einzelne, geschlossene These verfolgt und nicht, wie die meisten anderen Ansätze, verschiedene Motive der Psychoanalyse variiert. Zum zweiten, insofern sie überraschend früh auftrat; bereits 22 zweiteres ist der sicher vielversprechendere Ansatz 23 Es sei daran erinnert, daß der Imaginary Signifier vier Aufsätze zusammenfaßt, die tatsächlich vor allem der Untertitel 'Psychoanalysis and the Cinema' zusammenhält. im Jahr 1969 – gleichzeitig also mit dem Pleynet-Interview, das die Apparatus-Debatte 1 auslöste – hatte Jean-Pierre Oudart seinen Text 'La suture' veröffentlicht, und die Suturetheorie ist damit einer der ersten Ansätze, die Theorie Lacans in das Feld der 2 Filmtheorie einzubringen. In die hier verfolgte Fragestellung gehört die Suturetheorie aus zwei Gründen hinein: Zum einen, weil sie, vor allem in der prägnanten, aber etwas verkürzten Fassung 3 Dayans, einen Raummechanismus des Films in den Mittelpunkt stellt, zum zweiten, weil sie die Position des Betrachters mit einem bestimmten Konzept psychischer Subjektkonstitution in Verbindung bringt. Den Begriff der Suture (wörtlich: 'Naht') hatte Oudard von Miller, einem Schüler 4 Lacans, übernommen; er bezeichnet das grundsätzliche Problem des psychischen Subjekts, seine Identität nur über dem Abgrund einer vorgängigen Spaltung errichten zu können, einer Spaltung, die bereits vor dem Spiegel beginnt, wenn das gespiegelte Ideal-Ich jene Einheit substituieren muß, die das Körpergefühl und die Motorik dem Kleinkind noch nicht garantieren können. Die Identität des Subjekts, darauf kommt es Lacan an, ist eine hergestellte; sie verdankt sich dem materiellen Bild im Spiegel, und damit einem Signifikanten, und sie wird im Fortgang der Entwicklung an die endlose Kette immer weiterer Signifikanten gebunden bleiben. Die Sprache, bzw. die Gesamtheit der symbolischen Systeme ist damit nicht länger ein Mittel, das einem stabilen und identischen Subjekt sich andient, etwa um, auf Basis der Identität, nun luxurierend auch noch Kommunikation zu ermöglichen; das Subjekt selbst verdankt sich der Sprache, und muß seine Einheit im Medium der Sprache sich immer wieder bestätigen. Für eine Texttheorie bedeutet dies, daß im Text selbst das imaginäre Sub- jekt immer vorentworfen ist, etwa in Form bestimmter Leerstellen, in die das Subjekt eintritt; für eine Theorie des Subjekts, daß es Kohärenz ('Sinn') in den Text einerseits 5 hineinträgt, wie es andererseits den eigenen Zusammenhalt dem Text entnimmt. Der 1 Oudart, Jean-Pierre: La suture. In: Cahiers du Cinema, Nr. 211, April 1969, S. 36-39 und Nr. 212, Mai 1969, S. 50-55. (Engl. Fassung:) ders.: Cinema and Suture. In: Screen, Vol. 18, Nr. 4, Winter 1977/78, S. 35-47 2 Die Suture-theorie liegt zeitlich früher als die meisten hier referierten Ansätze, insbesondere auch als der Imaginary Signifier von Metz; eine Tatsache, auf die man aufmerksam machen muß, gerade wenn die Darstellung diese Reihenfolge nicht einhält. 3 Dayan, Daniel: The Tutor-Code of Classical Cinema. In: Film Quarterly, Vol. 28, Nr. 1, 1974, S. 22-31 4 Miller, Jacques-Alain: La suture. In: Cahiers pour l'analyse. Nr. 1, 1966 (Engl. Fassung:) ders.: Suture. Elements of the Logic of the Signifier. In: Screen, Vol. 18, Nr. 4, Winter 1977/78, S. 24-34 5 "Lacan stresses the unifying function of the imaginary, through which the act of reading is made possi- ble" (Dayan, a.a.O., S. 27) 56 Begriff der 'Suture' also meint, daß die Interaktion mit dem Text es dem Subjekt erlaubt, die eigene, innere Kluft zu überbrücken. Diese Grundstruktur nun glaubt Oudard auch am Film ablesen zu können; als Beispiel wählt er die Spannung zwischen dem Triumph das Bild zu 'besitzen' ("the spectator – fluid, elastic, expanding") und dem Frame: Sobald die Begrenzung des Filmbildes zu Bewußtsein kommt, so Oudart, muß der Zuschauer sich fragen, mit wessen Augen er eigentlich sieht; die Dinge, die eben noch 'unschuldig' und für sich selbst da waren, scheinen nun plötzlich einem fremden Blick und einem fremden Zweck zu gehorchen, und sie scheinen, alle gemeinsam, auf einen 'unsichtbaren Anderen' zu verweisen, der den Blick der Kamera beherrscht und damit vor allem auch das, was auf der Leinwand nicht zu sehen ist. "Every filmic field is echoed by an absent field, the place of a character who is put 6 there by the viewer's imaginary, and which we shall call the Absent One." Auch Oudard also konfrontiert zwei verschiedene Räume miteinander. Bei ihm aber steht dem 'filmic field' nicht der Raum des Zuschauers gegenüber, sondern 'the absent field', ein Raum, der definiert werden kann als derjenige Ort, von dem aus 'der Abwesende', d.h. die Instanz, die die Kamera beherrscht, blickt. Und dieser Raum hat die Besonderheit, daß das Kino ihn, wie den 'unsichtbaren Anderen' selbst, verbergen muß. Warum aber ist dies nötig? Warum muß die Frage "'Who is watching this?', 'Who is 7 ordering these images?'" eine Krise auslösen? Wäre es nicht möglich, die Frage mit dem Hinweis auf den jeweiligen Regisseur (Autor) zu beantworten, so wie ein litera- risches Werk einem Autor zugeordnet und – wie vermittelt auch immer – als seine Äußerung gelesen wird? Dies, für Oudart und Dayan ist das so selbstverständlich, daß sie die Möglichkeit gar nicht diskutieren, widerspräche dem grundsätzlichen Anspruch, unter dem das Kino angetreten ist. Die technischen Bilder, es wurde mehrfach gesagt, beziehen ihre Sug- gestion vor allem daraus, daß sie auf apparativem Wege, also ohne den direkten Eingriff des Menschen entstehen; und das Vertrauen in ihre welterschießende Kraft ist an diese Ausklammerung subjektiver 'Autorschaft' – die 'Transparenz' des Mediums – 8 unmittelbar gebunden. 6 Oudard, a.a.O., S. 36 (Hervorh. H.W.) 7 Dayan, a.a.O., S. 28 8 Der Sonderfall des 'Autorenfilms' erscheint im Horizont der Transparenz-Überlegung eigentümlich gespalten: zum einen nimmt er die Behauptung filmischer 'Unmittelbarkeit' ein Stück weit zurück, arbeitet der Transparenzillusion also entgegen; zum anderen aber fällt er, indem er die Bilder einem einzelnen organisierenden Subjekt zuschreibt, hinter die Einsicht zurück, daß Filme nur im Kollektiv hergestellt werden können, daß der 'abwesende Andere' also in keinem Fall mit einem einzelnen Autor in eins gesetzt werden kann. 57 Auf dem Spiel also steht nicht mehr und nicht weniger als das Vertrauen in das refe- 9 rentielle Verhältnis zur Realität. Der Film, will er sich retten, muß deshalb Gegenmaßnahmen treffen. Als besonders deutliches Beispiel einer solchen Gegenmaßnahme sehen Oudart und Dayan die Kon- vention der 'subjektiven' Kamera an. Der einfachste Fall ist, daß die Kamera zunächst die Totale einer bestimmten Szene zeigt, um dann, in einer zweiten Einstellung, den Blick eines der Protagonisten zu übernehmen. Dieser Wechsel, so Oudart, ist geeignet, exakt jene Frage zu beantworten, die der Zuschauer sich stellt, die Frage, die ihn beunruhigt und die sein Rezeptionserlebnis bedroht; der Blick der Kamera nämlich wird auf diese Weise motiviert. Nicht auf einen abwesenden 'Anderen' verweist der Kamerablick nun zurück, sondern auf einen der Darsteller, jemanden der bekannt ist und gerade eben noch dem Blick des Zuschauers unterworfen war. Ein beunruhigend- Abwesendes wird in ein beruhigend-Anwesendes umgedeutet. "(So) the spectator can resume his previous relationship with the film. The reverse shot has 'sutured' the hole opened in the spectator's imaginary relationship with the 10 filmic field". Gleichzeitig aber, und unter der Hand, hat ein Wechsel der Ebene stattgefunden; denn was eine Beunruhigung auf der Ebene des Mediums, der Repräsentation, des Codes war, ist nun zu einem Teil der Diegese, d.h. der Botschaft geworden. "As a result of this, the code effectively disappears and the ideological effect of the film is thereby secured. The code, which produces an imaginary, is hidden by the message. [...] The spectator thus absorbs an ideological effect without beeing aware 11 of it, as in the very different system of classical painting." Und Dayan summiert für das narrative Kino: "the image [...] exists independently. It has no cause. It is. In other terms, it is its own cause. By means of the suture, the film-discourse presents itself as a product without a producer, a discourse without an origin. It speaks. Who speaks? Things speak for themselves and of course, they tell the truth. Classical cinema establishes 12 itself as the ventriloquist of ideology." Um den Autorenfilm entspann sich Mitte der Siebziger Jahre eine entsprechend kontroverse Debatte, in der die medien- und erkenntniskritischen Argumente, die hier referiert wurden, eine große Rolle spiel- ten. (Eine Zusammenfassung der verschiedenen Standpunkte findet sich in: Caughie, John (Hg.): Theo- ries of Authorship. London 1981) 9 "The conjunction of the language system and the imaginary (Lacans Begriff für die Subjektivität; H.W.) produces the effect of reality: the referential dimension of language." (Dayan, a.a.O., S. 25) 10 ebd., S. 30 (Erg. u. Hervorh. H.W.) 11 ebd. 12 ebd., S. 31 58 Kritiker der Suturetheorie haben darauf hingewiesen, daß der Fall einer wirklich 'sub- jektiven' Kamera auch im fiktionalen Film wesentlich seltener ist, als man annehmen sollte; wesentlich häufiger sind Mischformen, denen eine vergleichbar eindeutige Aus- 13 sage nicht zugeschrieben werden kann. Für die hier verfolgte Argumentation aber ist diese Theorie dennoch relevant; zum einen, weil sie nicht wie die anderen Theorien zum filmischen Raum die einzelne Einstellung zur Basis ihrer Aussage macht, sondern einen raumdefinierenden Mecha- nismus aufzeigt, der über den Punkt des Schnitts gerade hinausgreift. Zum zweiten, insofern man die Suturetheorie in eine Richtung weiterdenken kann, die von Metz zwar aufgegriffen, in ihren Implikationen auch bei ihm aber nur teilweise ausformu- liert worden ist. Vom Sonderfall der subjektiven Kamera nämlich lassen sich Aussagen zum allgemei- neren Mechanismus von 'Schuß und Gegenschuß' ableiten. Jede Einstellung, jeder einzelne 'Schuß' ist partikular; er präsentiert zwar einen bestimmten Blick in einen Raum hinein, durch den Frame limitiert aber ist er nie in der Lage, 'alles', d.h. den Raum als ganzen zu zeigen. Die von Oudard analysierte Beunruhigung also beginnt nicht erst mit der Frage, wer diesen Blick organisiert und ausgewählt hat, sondern hat eine Basis bereits in der Partikularität solcher Blicke selbst. Hier nun tritt die Kon- vention des 'Gegenschusses' ein; im Winkel zwischen 90 und 180 Grad versetzt zeigt die Kamera nun den 'Rest' des Raumes, hebt die Partikulariät der ersten Einstellung auf und vervollständigt das Bild, das erst in dieser 'Abrundung' wirklich Genuß und Sicherheit verspricht. Die Schuß/Gegenschuß-Technik also hat weniger die Funktion, zum bislang gezeigten Protagonisten den Dialogpartner, als zum bislang gezeigten Raum den jeweils komplementären Raum zu präsentieren. 'Siehe hier: auch sonst im Raum (in deinem Rücken) nichts, was du nicht erwartet hättest, dieselbe Geschichte, dieselbe Fiktion'. Metz hatte die 'Abrundung' des Raumes im Sinne einer grundsätzlichen Fiktionalisie- rung des Mediums gedeutet. Dieser Aspekt läßt sich nun ergänzen; zunächst nämlich schleudert der Bildraum, indem er im Gegenschuß sich schließt, den Zuschauer aus sich heraus. Nicht allein die Plötzlichkeit des Ortswechsels ist es, die den Beobachter in Richtung einer masse-enthobenen Allgegenwart stilisiert; indem der Gegenschuß zwangsläufig auch diejenige Stelle zeigt, die soeben noch Ort des Beobachters (und 13 Wichtige Einwände gegen die Suturetheorie finden sich in: - Rothman, William: Against 'the System of the Suture'. In: Film Quarterly, Vol. 29, Nr. 9, 1975, S. 45-50, - Salt, Barry: Film Style and Technology in the Forties. In: Film Quarterly, 1977, S. 46-57, und - Heath, Stephen: On Suture. In: ders.: Questions of Cinema. London and Basingstoke 1981 (O.: 1977) (dt. Fassung (Auszüge)): ders.: Bemerkungen zur Sutur. In: Paech, Joachim u.a. (Hg.): Screen Theory. Osnabrück 1985 59 fiktiv: des Zuschauers) war und, oft genug, die Unmöglichkeit dieses Ortes aufweist (etwa wenn der gerade noch gezeigte Blick, wäre er ein 'natürlicher', eine Wand hätte durchdringen oder über einem Abgrund hätte schweben müssen), drängt er den Zu- schauer aus dem fiktionalen Rahmen hinaus und in eine eigene Sphäre hinein, die, mit derjenigen der Fiktion verflochten und von ihr getrennt, allein dem Beobachter vorbehalten scheint. Der Satz von Metz, daß jeder Film ein fiktionaler Film sei, wird an diesem Punkt besonders plastisch: Die Rundung des Bildraumes und die Schlie- ßung der vierten, gegen das Publikum normalerweise geöffneten Wand, verlegt die Bühnenrampe endgültig und ausschließlich in die Imagination; der Bildraum scheint rund, vollständig und unberührt/unberührbar in sich selbst zu ruhen, als sei er auf keinen Zuschauer angewiesen. Gerade das aber weist ihn als ein diegetisches Univer- sum aus, als eine Puppenstube, ein Schatzkästchen, das dem Zuschauer in die Hände gegeben ist. Ein zweiter, und sehr wichtiger Aspekt der Schuß/Gegenschuß-Problematik ist, daß sie in jedem Fall und immer eine Leugnung der Maschinerie einschließt. Es ist eben nicht allein – abstrakt – der Beobachtungsstandort, der im Gegenschuß ins Bild kommt oder ins Bild kommen müßte, es ist die gesamte 'Rückseite des Mediums Film', der phy- sische Ort, wo die Kamera, die Lichttechnik, der Ton, der Regisseur und der gesamte übrige Stab während der Aufnahme sich drängen. Gerade dies aber ist nicht der Fall. Sekundenbruchteile nach der ersten Einstellung überzeugt der Gegenschuß den Zuschauer davon, daß all diese Technik und all diese Leute nicht vorhanden sind, oder den Bildraum massefrei-behende inzwischen ge- räumt haben Comolli wies darauf hin, daß der Blick allein auf die Aufnahmesituation ohnehin einen Großteil der Technik des Films (die Chemie, das Kopierwerk,) verschwinden läßt; fragt man aber danach, wie die Verleugung der Technik im 'Text' der Filme selbst repräsentiert ist, ist die Abrundung des Raums ein wirklich schlagendes Beispiel. Der dritte Punkt kehrt zur Suturetheorie selbst zurück. In seinem Text 'On suture' nämlich hat Stephen Heath eine immanente Kritik dieser Theorie vorgetragen, die bestimmte Akzente noch einmal verschiebt und vor allem eine wesentliche Konkretion 14 bedeutet. Heath vermißt, kurz gesagt, den historischen Bezug der in der Suturetheorie verwen- deten Begriffe, und er hält es für eine Verkürzung, etwa den Begriff der Ideologie, der in der Debatte immer wieder einmal auftaucht, mit Lacans Begriff des Imaginären schlicht in eins zu setzen. Lacan selbst hat auf eine historische Lokalisierung seiner Theoreme immer verzichtet; um den Preis, daß, ganz im Gegensatz zum Gehalt und 14 Heath, On Suture, a.a.O. 60 zur Aussage seiner Theorie, seine Begrifflichkeit in die Nähe überzeitlicher Geltungs- ansprüche rückt. Heath nun schlägt ein Modell vor, daß vom prozessualen Charakter der Suture selbst ausgeht. Versucht dieser Begriff doch gerade die Tatsache zu fassen, daß Position und Identität des Subjekts nicht gegeben sind, sondern in Interaktion mit der Signifi- kantenkette jeweils aktuell produziert werden; zumindest in dieser Perspektive also ist Suture eine diskursrelative Kategorie, und das Subjekt hängt nicht vom Signifikanten allgemein, sondern von tatsächlichen, konkreten und historisch differenten Diskurs- 15 ereignissen ab. Dies eröffnet die Möglichkeit, die technischen Medien als eine bestimmte Phase, eine spezifische Formation von Signifikantenkette und Subjekt zu beschreiben. "With post-Quattrocento painting itself, images are multiplied and the conditions are laid for a certain mechanical reproduction, that the photograph will fulfil, the multiplication now massive, with image machines a normal appendage of the 16 subject." Und gleichzeitig ändert sich der Begriff des Subjekts: Nun nämlich tauchen hinter der Abstraktion konkrete, geschichtlich situierte Subjekte auf, Subjekte – oder wie Heath nicht weniger problematisch schreibt: Individuen – die zu Subjekten allererst gemacht werden müssen. 17 "Individuals are constituted as subjects through the discursive formation". Heath nimmt damit ein politisches Interesse wieder auf, das zu Beginn der Appara- tusdebatte zentrale Bedeutung hatte, das in ihrem Fortgang aber durch traditionell psychoanalytische Kriterien weitgehend verdrängt worden war. Und indem er zwi- schen dem Ideologiebegriff Althussers und der Psychoanalyse noch einmal eine Ver- bindung herstellt, zeigt er auf, daß der Frage nach der Identität der Subjekte und den Mechanismen, die diese Identität produzieren, eine unmittelbare gesellschaftliche Relevanz zukommt. Und zwar auf zwei Ebenen: Die erste, die der Rückgriff auf die Psychoanalyse immer konnotiert, die aber allzuoft und gerade dann vergessen wird, wenn die Psychoanalyse von der therapeutischen Praxis abgespalten und als rein wissenschaftlicher Hinter- grund verwendet wird, ist die des individuellen psychischen Leids. An psychischen Erkrankungen und insbesondere den Fällen manifester Schizophrenie läßt sich able- sen, wie gefährdet die subjektive Identität und die psychische Kohärenz des Einzelnen sind und welcher Druck potentiellen Leidens den 'Normalfall' psychischer Gesund- 15 ebd., S. 88ff 16 Heath, Stephen: Narrative Space. In: ders.: Questions of Cinema, a.a.O., S. 53 (Der Text erschien 1976, also ein Jahr vor 'On Suture') (Hervorh. H.W.) 17 Heath, On Suture, a.a.O., S. 102 61 heit umgibt. Psychische Identität ist immer abgerungen; und zudem – darin stimmen so 18 verschiedene Ansätze wie derjenige Lorenzers und der Lacans überein – ein Produkt der Strukturierung durch die Sprache, Produkt eines gesellschaftlichen Eingriffs also, der, sobald er versagt hat, in der 'talking cure' wiederhergestellt werden muß. "The psychoanalyst's task is, through the patient's speech, to re-link the patient to the symbolic order, from which he has received his particular mental configura- 19 20 tion." Die zweite Ebene, und nur sie wird bei Heath ausgeführt, ist diejenige gesell- schaftlicher Ideologie. Wenn die subjektive Identität von der strukturierenden Leistung und der Kohärenz der Sprache abhängt, gewinnt das System der Sprache selbst eine überragende Bedeutung; umso beunruhigender muß es sein festzustellen, daß der Suture-Mechanismus vollständig diskursrelativ funktioniert, von der 'Wahrheit' oder 'Unwahrheit' der sprachlichen Struktur, ihrer möglichen ideologischen Verzerrung also kaum berührt wird. Heath schreibt deshalb dem Mechanismus als Ganzem ideo- logische Funktion zu. Subjekt-Identität und psychische Gesundheit werden in der Tat verdächtig, wenn sie sich an beliebigen Signifikantenketten stabilisieren, oder wenn die Gesellschaft es schafft, scheinbar formale Mechanismen wie die Schuß/Gegen- schuß-Konvention an die Stelle zumindest der Möglichkeit nach inhaltlich prüfbarer Diskurse zu setzen. Lacan ist mit solch politischen Implikationen seiner Theorie nicht befaßt. Sie werden aber spätestens dann virulent, wenn man die Ebene der Philosophie oder der psycho- analytischen Theoriebildung verläßt und damit den Bereich, in dem allein es sinnvoll ist, von 'dem' Subjekt im Singular zu sprechen. Das individuelle psychische Leid und die gesellschaftliche Subjektdefinition korrelieren eng – das wird deutlich, sobald die Sprache, bzw. die symbolischen Systeme in die Mitte des Modells gerückt werden; Subjektidentität, wie die Suture sie produziert, koppelt die einzelnen Subjekte letztlich an die gesellschaftliche Struktur, auf Gedeih und Verderb, und mit geringem Spiel- raum für Abweichungen von der vordefinierten Normalität. Und gleichwohl ist Suture ein Mechanismus der Stabilisierung, der, wäre er der Wahrnehmung zugänglich, wahr- scheinlich als Entlastung erlebt würde. Für eine Theorie der symbolischen Systeme (oder speziell des Films) sind damit fast ebenso viele Probleme eröffnet wie gelöst; so die Frage, auf welche Weise das 18 Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt 1973 19 Dayan, a.a.O., S. 24 (Das Zitierte umreißt die Lacan'sche Position in der etwas plakativen Weise der amerikanischen Lacan-Rezeption). 20 Guattari beschreibt im gleichen Sinn konkreter individueller Lebenshilfe das Kino als 'die Couch des Ar- men' (G., Félix: Le divan du pauvre. In: Communications, Nr. 23, 1975 (dt. Fassung): In: ders.: Mikro-Politik des Wunsches. Berlin 1977) sprachliche System, das scheinbar doch allen denkbaren Inhalten eine Form zu geben vermag, eine partikulare gesellschaftliche Struktur spiegeln kann; die zweite, inwie- fern die Gesellschaft auf die Indentität des jeweils Einzelnen eigentlich angewiesen ist, und die weitere, wie das Moment von Gewalt, das dem Zwang zur Identität anhaftet, lokalisiert werden kann. Die Suturetheorie aber macht diese Fragen zumindest formulierbar; der Subjektbe- griff, der in den Apparatus-Artikeln zwar auf bestimmte subjektkritische Philosophe- me zurückverweist, der in seiner Bedeutung aber relativ offenbleibt, wird als eine konkret krisenhafte Größe faßbar, und der Austausch mit den symbolischen Systemen rückt von einem kommunikativen 'Luxus' zu einer Art Existenzfrage auf; das Subjekt, kehrt man zum Singular zurück, besteht in den Zyklen seiner Reproduktion, dazu verurteilt, seine Spaltung und deren Aufhebung immer wieder zu durchlaufen. Und man sieht, auf die Gefahr, das Bild der 'Naht' überzustrapazieren, die Spiralbewegung, die die Nadel beschreibt 1.5 Zum Ideologiebegriff der Apparatus-Autoren Im Referat der verschiedenen Apparatus-Ansätze ist deutlich geworden, daß die ein- zelnen Autoren mit dem Begriff der 'Apparatur' sehr unterschiedliche Inhalte ver- binden. Wesentlich verschwommener noch, und einer Klärung bedürftig, aber er- scheint der Begriff der 'Ideologie'. Stand bei Pleynet 'Ideologie', relativ schlicht und rein inhaltlich bestimmt, für das Welt- und Selbstbild der bürgerlichen Gesellschaft, der Bourgeoisie und damit des politischen Gegners, ist bei Baudry der Begriff bereits differenzierter gefaßt: an vielen Stellen seines Aufsatzes ist der Einfluß spürbar, den die Texte und die Ideologie- definition Althussers zu dieser Zeit ausgeübt haben. Althusser hatte 1969/70 den Text 'Ideologie und ideologische Staatsapparate' ver- 1 öffentlicht, der, obwohl in keinem der Texte explizit zitiert, als ein verbindlicher Hintergrund der Apparatusdebatte angenommen werden muß. Althussers Projekt war es, das traditionelle marxistische Schema von Basis und Überbau (Ökonomie vs. Staat und Kultur) zu modifizieren, und so auch den kulturellen Apparat und die zunehmende Zahl nicht-staatlicher Kulturinstitutionen einer marxistischen Analyse zugänglich zu machen. Der Begriff der Ideologie spielt dabei eine zentrale Rolle: wie eine Maschine sich im Produktionsprozeß abnutzt, und deshalb periodisch ersetzt oder erneuert werden muß, muß auch eine gesellschaftliche Formation, will sie bleiben, was sie 1 Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. (Anmerkungen für eine Untersuchung). In: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin 1977, S. 108-168 63 ist, dafür sorgen, daß ihre grundlegenden Strukturen in einem ständigen Zyklus sich reproduzieren. Neben der unmittelbaren staatlichen Repression wird sie deshalb 'ideologische Apparate' ausbilden, Sozialisationsinstanzen und Kulturinstitutionen, die in die Vorstellungen und in das "imaginäre Verhältnis" investieren, das "die Individu- 2 en zu ihren realen Existenzbedingungen" unterhalten. Anders als die repressiven Institutionen des Staates zielen Ideologien (und die ideolo- gischen Apparate) auf das Einverständnis der Betroffenen ab; sie distribuieren Sinn-Angebote, die – bis zu einem gewissen Grad freiwillig – angenommen oder abgelehnt werden können; es ist möglich, daß sie innere Widersprüche enthalten, und es kann ihnen in einem bestimmten Rahmen auch widersprochen werden. Zunächst sind 'Ideologien' also funktional bestimmt; sie sind eingebunden in die Selbsterhaltung des gesellschaftlichen Systems, und sie haben eine eigene Geschichte, die von der Geschichte der Klassenauseinandersetzungen abhängig ist. Gleichzeitig aber, sagt Althusser, ist das Verhältnis, das die Individuen zu ihren realen 3 Existenzbedigungen entwerfen, immer und notwendig imaginär. Die Frage, ob dieses 4 Verhältnis "verzerrt" ist, wie weit eine Ideologie also die tatsächlichen Verhältnisse – die 'Wahrheit' – verfehlt, tritt damit deutlich in den Hintergrund. Dies ist insofern bemerkenswert, als die klassische Vorstellung, Ideologie sei ein 'falsches', durch In- teressen korrumpiertes Bewußtsein, damit verabschiedet oder zumindest relativiert erscheint. Althusser scheint den Begriff der Ideologie zu totalisieren. Den geschichtsgebundenen Ideologien im Plural stellt er 'die' Ideologie (im Singular) gegenüber, über die er sagt, 5 daß sie zunächst "keine Geschichte [habe]". Dies wirft die Frage auf, von wo aus Ideologie überhaupt in den Blick genommen werden kann, von welcher Position aus der die Ideologie Beobachtende spricht. Althusser gibt hier eine doppelte Antwort: Ideologien im Plural relativieren sich gegenseitig; die herrschende Ideologie etwa kann von einem differenten Klassenstandpunkt aus analysiert werden, und über Wahrheit und Unwahrheit werden die ideologische Auseinandersetzung und letztlich der Ver- lauf der Geschichte entscheiden. Völlig anders im Fall 'der' Ideologie. Eine Erkenntnis der Ideologie im Singular ist nur dann zu erreichen, "wenn man – obwohl man in der Ideologie und aus der Ideologie heraus spricht – einen Diskurs entwerfen will, der mit der Ideologie zu brechen versucht und riskiert, der Beginn eines wissenschaftlichen Diskurses [...] über die Ideologie zu 6 sein." 2 ebd., S. 133 3 ebd., S. 136 4 ebd., S. 135 5 ebd., S. 131 (Erg. H.W.) 6 ebd., S. 142 64 Diese eigentümlich gespaltene Position Althussers muß m.E. als das Symptom eines theoretischen Paradigmenwechsels verstanden werden, der sich zu Beginn der siebzi- ger Jahre ereignet hat; die traditionell marxistische Sicht, die zentriert um eine ökono- mische Analyse zu wissen beanspruchte, welche Faktoren die tatsächlichen Verhält- nisse bestimmten, und was, jenseits der Bilder und Selbstbilder, die 'Wahrheit' dieser Verhältnisse war, wurde zunehmend verunsichert durch poststrukturalistische Theo- rien, die allein diskursrelativ argumentierten und glaubten, jeden Wahrheitsbegriff als unhaltbar erweisen zu können. Auf Althusser übertragen wäre der Streit der Ideologien dem zweiten Paradigma zuzuordnen, während in der Vorstellung, eine diesem Streit enthobene 'Wissenschaft der Ideologie' entwerfen zu können, der Kern des traditionell marxistischen Modells sich erhält. Eine zweite wichtige Bestimmung bei Althusser ist, daß er den Ideologien einen materiellen Charakter zuschreibt. Explizit gegen 'idealistische' Auffassungen gewandt, die 'Ideologie' einerseits als eine Konstellation von Vorstellungen und 'Ideen' definieren würden, und andererseits ihre große Wirksamkeit für das Handeln der In- dividuen betonen, spielt Althusser diesen Widerspruch aus, und geht von den Ideen direkt auf das Handeln zurück; allein in einer bestimmten Praxis manifestiert sich die jeweilige Ideologie; widersprechen sich die Ideen und die Praxis, sind die Ideen irre- levant. Die Ideen, sagt Althusser, sind "in die Handlungen der Praxen eingeschrie- 7 ben". Dieser argumentative Schachzug erlaubt zum einen eine 'Veräußerlichung' des Be- griffs, insofern die Ideologien nun in materieller Praxis sich niederschlagen, und damit der Beobachtung zugänglich werden. Zum anderen – und dies bedeutet tatsächlich einen Zuwachs – ermöglicht er die Einbeziehung auch solcher Haltungen und Wert- systeme, die den Individuen selbst unbewußt sind, und schon deshalb nicht zum Inventar ihrer 'Ideen' zählen können. Der Verweis auf die Praxen und die solche Praxen steuernden Regelapparate zeigt die enge Verbindung zu den Erkenntnismodellen der strukturalen Ethnologie, die 1970 8 einen großen Einfluß gewonnen hatte, zur Diskursanalyse und, ebenfalls explizit, zur Psychoanalyse. Ohne daß das Verhältnis völlig geklärt würde, werden der Begriff des 9 Unbewußten und der der Ideologie weitgehend in eins gesetzt. In der Orientierung auf die Praxen wie in seinem das Basis-Überbau-Schema ablösenden Funktionsmodell ist Althusser deutlich darum bemüht, den Begriff der Ideologie auf eine materialisti- sche Grundlage zu stellen. 7 ebd., S. 139 8 explizit erwähnt wird die Ethnologie auf S. 134; dort findet sich auch der Begriff der Mythen, der der 'materiellen Rituale' auf S. 139. 9 ebd., S. 133 65 Von Althussers Text aus nun lassen sich eine Vielzahl von Anschlußpunkten zu den Überlegungen der Apparatusautoren zeigen. Zwar bezieht Althusser materielle Appa- raturen (Maschinen) in seine Analyse nicht ein; wenn er den Staat und die Kultur- institutionen aber als 'Apparate' bezeichnet – im Rahmen einer funktionalen Beschrei- bung sicher mehr als eine Metapher –, ergibt sich eine Parallele zu Baudry bis in den Titel der Aufsätze hinein. Ebenso deutlich gemeinsam ist das Anliegen, Ideologie dort zu aufzusuchen, wo sie die Form materieller Gegebenheiten angenommen hat. Ideologie wird nicht auf der Ebene von 'Meinungen' oder Weltanschauungen untersucht, sondern materialistisch (oder positivistisch?) aus beobachtbaren Strukturen – apparativen Anordnungen oder Praxen – herausgelesen. Eine dritte und im hier verfolgten Zusammenhang besonders interessante Parallele ist, daß Althusser dem Begriff des Subjekts und den Mechanismen der Subjektkonstitution den gesamten Schlußabschnitt seines Textes gewidmet hat. Da seine Argumentation bei explizit soziologischen Modellen ansetzt, überrascht dieser Übergang zu einer scheinbar individualpsychologischen Sicht, und dies besonders dann, wenn der Begriff des Subjekts als der "zentrale, [...] entscheidende Begriff" bezeichnet wird, "von dem 10 alles andere abhängt." 'Entscheidend' allerdings ist dieser Begriff ausschließlich für die Analyse der Ideolo- gie; denn Ideologie und Subjektbegriff, sagt Althusser, bedingen einander; erst Ideo- logie konstituiert überhaupt Subjekte, "die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte 11 an." Wie bei den Apparatustheoretikern also ist es eine deutlich subjektkritische Position, die Althusser diesen Zusammenhang herstellen läßt. Die politische Ideolo- giekritik und die psychoanalytisch/philosophische Kritik des Subjektbegriffs sollen in Verbindung treten, oder – bescheidener – die erstere soll in den Erkenntnissen der zweiten eine zusätzliche Stütze finden. Da Althusser Ideologie als ein imaginäres 12 Verhältnis zu den eigenen realen Lebensverhältnissen definiert hatte, also letztlich als eine Selbstverkennung, und da er diese Selbstverkennung auf den Mechanismus eines scheinhaften Wiedererkennens, ein scheinhaftes Evidenzerlebnis bestimmten 13 Vorstellungen oder Bildern gegenüber zurückgeführt hatte, lag es nahe, Lacans Spiegelsituation als ein paralleles Modell heranzuziehen. Dies geschieht nur implizit, 10 ebd., S. 140 11 ebd. 12 ebd. Daß Althusser das vorgestellte Verhältnis 'imaginär' nennt, dürfte bereits dem hier rekonstruierten Zusammenhang sich verdanken 13 "'Das ist evident! Genau so ist es! Das ist wahr!' In dieser Reaktion findet die Funktion der ideologischen Wiedererkennung/Anerkennung (reconnaissance) ihren Ausdruck, die eine der beiden Funktionen der Ideologie als solcher ausmacht (ihr Gegenstück ist die Funktion der Verkennung (méconnaissance))." (ebd., S. 141) 66 und am offensichtlichsten dort, wo Althusser den Ausdruck 'spéculaire' (spiegelhaft) verwendet, um die Funktionsweise des ideologischen Wiedererkennens auf den Be- griff zu bringen. In diesem Zusammenhang sind zwei Momente wichtig, die sich in den Apparatus- texten unmittelbar wiederfinden: zum einen, daß "jede Ideologie [wie das Bild des 14 Spiegels] zentriert [sei]", zentriert auf ein ideales, letztlich absolutes Subjekt, das im absoluten Subjekt Gottes sein Modell und seine Entsprechnung findet, zum zweiten die Vorstellung, daß jeder Ideologie eine Anrufung, eine Appellfunktion zugrundeliegt. "Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäg- lichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: 'He, Sie da!' [...] Wie die Erfahrung zeigt, verfehlen die praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann: Ob durch mündlichen Zuruf oder durch ein Pfeifen, 15 der Angerufene erkennt immer genau, daß gerade er es war, der gerufen wurde." Althusser nimmt diese Appellfunktion sehr ernst; er, der Appell, stellt die kommunika- tive Brücke her, die das ideologische Bild für den Betracher verbindlich macht, und – sehr viel weitergehend – erst die Anrufung ist es, die die konkreten Individuen in konkrete 'Subjekte' umarbeitet. "Wir behaupten [...], daß die Ideologie in einer Weise 'handelt' oder 'funktioniert', daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte 'rekrutiert' [...] oder diese Indivi- 16 duen in Subjekte 'transformiert'". Das passivische Moment, das in der Anrufung liegt, tritt in ein Spannungsverhältnis zu der ideologischen Gewißheit des Subjekts, das sich als aktiv und autonom handelnd, und seinen Subjektstatus nicht als eine Erwerbung, sondern als immer schon gegeben 17 betrachten will. Die Motivik und die Argumentation ist derjenigen der Apparatustexte so frappierend ähnlich, daß diese nun als eine Re-Konkretisierung, als eine Ausarbeitung der Althus- serschen Thesen an einem konkreten Gegenstand erscheinen können. Dieser Eindruck aber ist sicher nur teilweise richtig; sowohl die Texte Althussers als auch diejenigen der Apparatusautoren greifen Motive auf, die die politisch-philosphische Debatte in Frankreich zu jener Zeit bestimmten, und die die Autoren, unterschiedlich plausibel und mit unterschiedlicher Wirkung, in ihre konkreten Projekte integriert haben. 14 ebd., S. 147 (Erg. H.W.) 15 ebd., S. 142f 16 ebd., S. 142 17 Althusser benutzt in diesem Zusammenhang das Wort 'assujetti', und der Übersetzer erläutert: "Man beachte [...] die Doppelbedeutung des Französischen 'assujettir' im Sinne von 'unterwerfen' und 'zum Subjekt machen', die im Deutschen nur noch bei der gelegentlichen Verwendung von 'Subjekt' im Sinne von 'Untertan' mitklingt". (ebd., S. 146) 67 Über die genannten Parallelen hinaus wird man deshalb fragen müssen, wie der spe- zifische Ideologiebegriff Althussers in die Apparatustexte eingegangen ist, und was seine Kenntnis zum Verständnis dieser Texte beitragen kann. Wichtig für die Übernahme ist zunächst, daß Althusser den Begriff der Ideologie von seiner sehr klaren, inhaltlich-historischen Bestimmung ablöst und ihm Anschluß an ein allgemeineres, letztlich erkenntniskritisches Modell verschafft. Damit wird er verfüg- bar auch für solche medienkritischen Überlegungen, die sich nicht als im unmittel- baren Sinne politisch verstehen. Die Einbeziehung einer individualpsychologischen Dimension zweitens verstärkt diese Tendenz; und wenn in Althussers Text der Über- gang zwischen der Gesellschaftstheorie und der Psychoanalyse als ein nicht völlig vermittelter Bruch der Argumentation zumindest noch ablesbar ist, wird in den Appa- ratustexten die psychologische Ebene sich weitgehend durchsetzen und der Begriff der Ideologie wird – aus seinem gesellschaftstheoretischen Umfeld gelöst – als zuneh- mend isoliert erscheinen. Gleichzeitig aber wird man feststellen müssen, daß der Begriff durch seine Erweite- rung schon bei Althusser an Klarheit verloren hat; wenn der Ideologiebegriff im Ver- lauf der Debatte also zu schwimmen beginnt, so ist auch diese Entwicklung bereits bei Althusser angelegt und die Spätwirkung von Problemen, die seine Definition aufge- worfen hat, nicht aber hat lösen können. Wie andere Vorgaben auch, haben die Apparatusautoren den Begriff der Ideologie eher assoziativ aufgegriffen als konzentriert und stringent weiterentwickelt. Solange ein politisches Grundverständnis (ein politisch gefärbter Umraum der theoretischen Diskussion) vorausgesetzt werden konnte, hatte der Ideologiebegriff zumindest einen Verweiswert und einen vebindlichen Hof von Konnotationen; auch der Verweiswert aber sollte, wahrscheinlich schneller als selbst den Beteiligten bewußt, mit dem Um- raum abhanden kommen. Nicht dies eigentlich aber macht den Begriff für die heutige Sicht problematisch; weitaus schwerwiegender ist, daß er, gerade in seiner Doppelfunktion, einerseits immer schon fast überklar auf ein Wahrheitsmodell bezogen, und andererseits fast beliebig erweiterbar zu sein, relativ lange den Blick auf bestimmte Fragen verstellt hat, die die unter anderen Umständen sich aufgedrängt hätten. Die hier vertretene Argumentation wird deshalb einen zweifachen Weg beschreiten: sie wird den Begriff der Ideologie, bzw. der Ideologizität weitgehend aussparen, sein Projekt, wenn man so sagen kann, aber weiterverfolgen, und die gestellten Fragen mit anderen Mitteln und auf anderem Terrain zu klären versuchen; dies ist der Grund, warum schon im bisherigen Vorgehen einige Male statt von 'Ideologie' von 'Semantik' die Rede war; wie beide Begriffe zusammenhängen, und warum der eine den anderen zwar nicht substituieren, sehr wohl aber noch einmal verflüssigen und schrittweise einer Klärung näherbringen kann, wird im Verlauf der Auseinandersetzung, dies ist die Hoffnung, deutlich werden. 1.6 Zwischensumme und Kritik der Apparatusdebatte Will man das Referierte nun auf einige wenige Punkte zusammenziehen, so sind es vor allem drei zentrale Gedanken, die die die Überlegungen der Apparatus-Autoren in die Filmtheorie neu eingebracht haben. Der erste und wohl wichtigste Punkt ist, daß die Apparatus-Autoren die filmische Technik in einer völlig neuen Weise aufgefaßt, und sie auf ihre geschichtlich/soziale Dimension, die subjektiven Bedürfnisstrukturen in ihrem Umfeld und auf die Gesetze ihrer Fortentwicklung hin befragt haben. Man wird sich vergegenwärtigen müssen, daß die traditionelle Filmgeschichts- schreibung gewohnt war, die filmische Technik als ein Reservoir von 'Mitteln' zu denken, als ein Arsenal, das die Macher der Filme mehr oder minder souverän be- herrschen und das sie entlang ästhetischer Kriterien zum Einsatz bringen. Und ebenso selbstverständlich schien, daß der Fortschritt der technischen Möglichkeiten dieses Arsenal Schritt für Schritt vervollkommnet hat. Auf dieser Basis hatte sich eine Technikgeschichtsschreibung entwickelt, die aufliste- te, welche Apparatur wann zum ersten Mal eingesetzt worden war und welcher Re- gisseur in Zusammenarbeit mit welchem Ingenieur diesen oder jenen entscheidenden Fortschritt der filmischen Technik und damit der ästhetischen Möglichkeiten bewirkt hatte. Die Apparatus-Autoren brechen mit dieser Auffassung radikal. Zum einen, indem sie das Kino nicht als gegeben hinnehmen, sondern fragen, welche Funktion es – im Kontext anderer Medien und im Kontext bestimmter historischer Bedürfniskonstella- tionen – erfüllt. Zum zweiten, indem sie die Kriterien untersuchen, entlang derer sich der 'Fortschritt' der filmischen Technik vollzogen (oder gerechtfertigt) hat. So das Kriterium der größtmöglichen Naturnähe oder des 'Realismus', das das Kino von Beginn an zu regieren scheint, und das die Frage aufwirft, was es bedeutet, wenn eine zeichengenerierende Maschine ihre Zeichen für Realität, das Bezeichnende also für das Bezeichnete ausgibt Die Grundannahme der Apparatustheorien, daß die für das Medium relevanten Motivkomplexe unbewußt sind, und, weitergehend, daß diese Tatsache eine kon- stitutive Bedingung für sein Funktionieren darstellt, fügt scheinbar disperse Eigen- heiten des Kinos zu einem relativ konsistenten Modell zusammen. Selbst dem Schwarz des Kinoraums, um das Beispiel Baudrys aufzugreifen, kann nun eine präzise Funktion zugeschrieben werden, die psychische Mechanismen wie den semiregressiven Zustand des Rezipienten mit der 'segregation of spaces', einem spezi- fischen Modell der Fiktionalität also, in Beziehung setzt. Die Theorie weiß nun tatsächlich mehr als der Praxis oder dem Alltagsbewußtsein zugänglich ist, und sie kann die Technik in einer Weise erschließen, die nicht durch die Regeln der Technik selbst vordefiniert ist. 69 Insgesamt zielt die Argumentation darauf ab, die Technik ihres 'neutralen' Charakters zu entkleiden. Feiert die traditionelle Technikgeschichtsschreibung jede technische Entwicklung, und eben auch die Maschinerie des Films, als eine Synthese des tech- nisch-materiell Möglichen und der möglichst 'idealen' Erfüllung bestimmter mensch- licher Bedürfnisse - eine Sichtweise, die beide Pole letztlich auf 'Natur' zurückführt - so schwindet dieser Schein dahin; es wird deutlich, daß die Technik nicht nur ganz anders aussehen könnte, sondern daß in ihr, determiniert durch die geschichtliche Entwicklung, eben nicht beliebige, sondern ganz bestimmte Inhalte niedergelegt sind, daß die Technik in direktem Sinne also 'Bedeutung' hat. Die Apparatustheorien nun versuchen solche Bedeutungen dem Bewußtsein zurück- zugewinnen und die verdeckte 'Semantik' – den ideologischen Gehalt – der filmischen Technik offenzulegen. Damit aber, das wird man hervorheben müssen, wird die bis- lang für sicher gehaltene Grenze, die die bezeichnende Maschine von den Zeichen selbst trennte, obsolet. Die Apparatur ist nicht länger nur die technische 'Vorausset- zung' der Kommunikation; das Medium selbst vielmehr wird zu einem Teil der Bot- schaft, und dies in einem präzisieren Sinn als McLuhan es für den monologischen, zen- tralistischen und instantanen Charakter der Massenmedien behauptet hat. Die Grenze wird von zwei Seiten aus überschritten; zunächst dringen bestimmte Inhalte in die Maschinerie ein und geben ihr die spezifische Struktur, Form und Funktion. So, wenn der 'bürgerliche', raumbeherrschende Blick in der materialen Struktur der Kamera vergegenständlicht, dort also quasi 'festgeschrieben' wird. Dann aber ist ein zweiter Schritt zu nennen. In der Folge nämlich wird die Maschine diesen Blick reproduzieren, und sie wird beliebigen Inhalten aufprägen, was ihr selber auf- geprägt worden ist. Pleynet hatte am Beispiel der gefilmten Wandparole gezeigt, wie der Modus der photographisch/filmischen Abbildung das Abgebildete in seiner Sub- stanz affiziert. Die signifizierende Apparatur also – selbst Produkt einer Festschreibung – infiltriert die konkreten Abbildungen. Sie entwickelt ein 'Eigengewicht', das der Intention des Filmenden entgegenwirken und sie zunichtemachen kann; ein 'Eigengewicht des Signifikanten', wenn man die signifizierende Maschinerie in diesen Begriff mitein- beziehen will. Dieses Eigengewicht zu thematisieren, hat eine doppelte Wirkung; so wird zum einen deutlich, daß der Film offensichtlich nicht alles sagen kann, daß die Fläche seiner 'Gegenstände' also eingeschränkt ist. Die zweite und ungleich einschneidendere Wir- kung ist, daß mit dieser Erkenntnis das Vertrauen in seine 'Durchsichtigkeit' verlo- rengeht, das Vertrauen, der Film bilde qua Konstruktion die Dinge so ab 'wie sie seien' und die Referenz der Bilder (ihr Weltbezug) sei durch die Technik selbst gewährleistet. Comolli und Metz hatten diese Grundvorstellung als konstitutiv für das Medium erkannt und mit dem Begriff der 'Transparenz' bzw. der Transparenzillusion bezeich- net. 7 0 Für eine Filmtheorie, die dem Medium ein Eigengewicht nachweist aber bedeutet dies, daß sie seinem Transparenzversprechen unmittelbar entgegenarbeitet. Sie demontiert, so könnte man sagen, ihren eigenen Gegenstand, oder zumindest eine der Säulen, auf die das Filmerleben sich stützt; (ein relativ neuer Gestus der Theorie, wenn die 'Liebe zum Kino' bis dahin Voraussetzung dafür war, sich mit ihm überhaupt zu beschäf- tigen). Auf der anderen Seite aber wird deutlich, daß nicht alle Filme in gleichem Maß auf das Transparenzversprechen angewiesen sind; der Experimentalfilm etwa, in vielen der Texte als ein Gegenmodell thematisiert, dementiert schon in der Wahl seiner technischen Mittel die Illusion, hier bilde 'Natur' qua Maschine sich selber ab, oder die Maschine sei zumindest in Richtung auf den Gegenstand 'durchsichtig'; und auch in narrativen Filmen kann man auf dem Hintergrund dieser Frage unterscheiden, welche Elemente der 'referential illusion' zuarbeiten und welche sie, wenn schon nicht aufzu- brechen, so doch zu umgehen oder ihr gegenzusteuern suchen. Die Transparenzproblematik also geht von der Frage nach der Technik aus, über- schreitet sie aber in verschiedener Richtung. Der dritte Punkt, der die Apparatustheorien kennzeichnet, ist die Art und Weise, wie der Zuschauer thematisiert und konzipiert wird. Die traditionellen Theorien schwan- ken, stark polarisiert, zwischen der Vorstellung, der Zuschauer 'kommuniziere' als ein souveräner Partner mit dem Autor oder vollziehe dessen Produkte kongenial nach, und der entgegengesetzten Vorstellung der behavioritischen Modelle, der Zuschauer könne 1 auf das, was die Leinwand ihm biete, nur quasi mechanisch 'reagieren'. Wie also sind die Apparatustheorien in diesem Spektrum zu lokalisieren? Die Apparatustheorien gehen davon aus, daß das Medium eine bestimmte Zuschauer- definition vorgibt – Stichwort war der 'vorentworfene' Zuschauer –, eine Position, in die der empirische Zuschauer jeweils nur eintritt. Dem Medium also wird eine be- stimmte Definitionsmacht zugesprochen, der der Zuschauer sich ausliefert und die seinen 'Blick auf die Dinge' und – darüber hinaus – seine psychischen Mechanismen einer Restrukturierung unterwirft. Nur scheinbar aber geraten die Apparatus-Texte damit in die Nähe der offen determi- nistischen Behaviorismus-Modelle. Zum einen nämlich ist Voraussetzung dieser Ein- wirkung, daß das Medium selbst nach Maßgabe des psychischen Apparats konstruiert ist, einer bestimmten historischen Ausprägung dieses Apparats, die durch die Ein- wirkung des Mediums nur bestätigt wird. Zum zweiten ist die Determination auf be- stimmte Spezifika des Mediums eingeschränkt, so daß sowohl der Produktseite als auch der Interpretation des Zuschauers ein weiter Spielraum verbleibt. 1 Selbstverständlich sind damit nur die beiden Pole innerhalb der Theoriebildung benannt; Sowohl die Informationstheorie, als auch Systemtheorie, Psychologie, Kognitions- und Gestalttheorie, sowie die Ansätze zu einer Rezeptionsästhetik haben eigene Konzepte zu dieser Frage vorgelegt. 71 In einem bestimmten Kernbereich aber unterliegt der Zuschauer der Strukturierung durch das Medium. Sein Ich wird als eine Art 'Schauplatz' gedacht, auf dem äußere Einflüsse und unbewußte, innere Determinationen interagieren, sein Anspruch, 'Herr im eigenen Haus' zu sein, also wird von Grund auf infrage gestellt. Diese passive oder zumindest rezeptive Komponente tritt in ein eigentümliches Spannungsverhältnis zu der inhaltlichen Ausrichtung der Strukturierung selbst; hier nämlich hatten die Apparatustheorien eine Überhöhung des Zuschauers behauptet, die als eine Bemäch- tigung dem Gezeigten gegenüber und als eine – zumindest der Tendenz nach – aktiv-sadistische Haltung ausbuchstabiert werden kann Kennzeichnend für die Strukturierung selbst ist die Tatsache, daß sie sich unterhalb der Bewußtseinsschwelle vollzieht. Die spezifischen Verkennungen, die das Rezeptions- erlebnis bestimmen, eröffnen überhaupt erst den Zugang zu jenen sehr tiefliegenden Schichten der Subjektivität, die die das Objekt des formenden Eingriffs sind. Wären die transportierten Inhalte Teil der Botschaft, so könnten sie vom Bewußtsein abge- wiesen werden; da sie aber Teil des Mediums sind, 'objektiviert' und scheinbar ohne Alternative, fehlt die Gegeninstanz und das Distribuierte kann seine Wirkung ent- falten. Die Zusammenfassung droht die Argumentation zu simplifizieren. Der Zusammen- hang selbst aber ist wichtig, will man die Linie nachvollziehen, die die Apparatus- Autoren von der Technikkritik zur Psychoanalyse geführt hat. Der vierte und letzte Punkt betrifft die Rolle, die der filmische Raum für die referierten Theorien spielt. Es wurde schon gesagt, daß die Raumdefinition des Films als ein 'pri- vilegiertes Beispiel' eine Vielzahl sehr heterogener Argumentationen miteinander verbindet. Dies, so glaube ich, ist alles andere als ein Zufall: Die 'Entdeckung' der Zentralperspektive als einer semantischen Determination der Maschinerie war geeig- net, technikkritischen Argumenten, der Kritik bestimmter Inhalte, und einer allgemei- neren, historisch argumentierenden Ideologiekritik eine gemeinsame Basis zu bieten. Daß diese Art der Flächenprojektion zweitens die Achse des Appells, den Bezug zum Publikum also in besonderer Weise thematisierte, kam dem Gesamtinteresse einer filmtheoretischen Debatte entgegen, die sich von der Ebene der Textanalysen gerade abzulösen, und der Theorie des Zuschauers immer mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden begann. Und als drittes dürfte wichtig sein, daß die spezifische Illusion von Kontinui- tät, die für das Medium allgemein wie für den damals hart kritisierten 'Hollywood 2 Continuity Style' eine zentrale Bedeutung hat, mit der Kontinuität des filmischen Raums eng zusammenhängt. Die Definition des filmischen Raums also weist in sich selbst jene Vielzahl von Dimensionen auf, die die Debatte strukturierten und die in den Einzelbeiträgen in verschiedene Richtungen weiterverfolgt worden sind. 2 Zu diesem Begriff siehe etwa Bordwell, David u.a.: The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960. London 1985, S. 194ff 7 2 Die Apparatustheorien und die Autoren, die auf sie reagiert haben, haben damit einen äußerst komplexen und, wie ich meine, vielversprechenden Neuansatz innerhalb der Medientheorie versucht, einen Neuansatz, dessen Implikationen bei weitem noch nicht ausgelotet, und dessen Folgerungen noch in keiner Weise abzuschätzen sind. Den- noch, und dies wird man deutlich sagen müssen, scheint die Debatte zu einer Art Stillstand gekommen zu sein. Nach einer Anzahl von Artikeln zwischen 1970 und 1985, verschiedenen Tagungen zu diesem Thema und drei Sammelbänden 1980 und 3 1986 gibt es gegenwärtig kaum noch Beiträge, die die mehr als Einzelaspekte dieser Debatte aufgreifen; bestimmte Grundvorstellungen, ein Set von Beispielen und ein bestimmtes Vokabular der Apparatustheorien haben sich etablieren können, die Kom- plexität der Ausgangsfrage, ihr integrativer Anspruch und ihre kritische Potenz aber scheinen weitgehend aus dem Blick geraten zu sein. Die so beschriebene Entwicklung, so scheint mir, wird auf bestimmte systematische Gründe innerhalb der Debatte selbst zurückgeführt werden müssen; Gründe, die be- stimmte Schwächen dieser Diskussion anzeigen, die gleichzeitig aber auch Möglich- keiten eröffnen, sie unter einer veränderten Perspektive wiederaufzunehmen. Der erste und handgreiflichste Mangel dürfte mit der Tatsache zusammenhängen, daß die Apparatustheorien ausschließlich in Form von Aufsätzen präsentiert und fortent- wickelt wurden, daß größere geschlossene Texte, die den Ansatz zu einer wirklichen Theorie hätten ausbauen können, also nicht vorgelegt worden sind. Bereits die Kürze der Texte legte es nahe, Probleme eher anzureißen als wirklich durchzuarbeiten, die Anstrengung genauer Definitionen zu vermeiden und an problematischen Punkten der Argumentation in eine eher metaphorische Sprache auszuweichen. Auf diese Weise wurde eine Tendenz zur Rhetorik verstärkt, die den Lacan-orientierten Theorien 4 ohnehin häufig vorgeworfen wird. Das zweite Problem dürfte sein, daß die Psychoanalyse, die zu Beginn nur als einer von mehreren theoretischen Orientierungsrahmen fungiert hatte, sich fast vollständig durchgesetzt und die Debatte zunehmend dominiert hat. Die Folge war, daß interne 3 Die Titel wurden schon genannt: - Lauretis, Teresa de; Heath, Stephen (Hg.): The Cinematic Apparatus. London 1980 - Hak Kyung Cha, Theresa: Apparatus. Cinematographic Apparatus: Selected Writings. NY 1980 - Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader. NY 1986 4 Daß wichtige Debatten in Fachzeitschriften ausgetragen werden, ohne irgendwann in Büchern oder größeren geschlossenen Texten ihre dauerhafte Form zu finden, scheint mir darüber hinaus das allgemei- nere Symptom eines hektischer werdenden Wissenschaftsbetriebs zu sein. Die Theoriekonjunkturen folgen einander in derart kurzen Abständen, und auch die thematische Orientierung der einzelnen For- scher wechselt derart schnell, daß der größere und ausgearbeitete Text in jedem Fall 'zu spät' käme, das ebenfalls wechselnde Interesse seiner Leser also immer zu verfehlen droht. 73 Probleme der psychoanalytischen Theoriebildung in den Vordergrund traten und ein Spezialdiskurs entstand, der mit anderen Sparten der Filmtheorie kaum noch vermit- telt, und auf die verschiedenen Ausgangsfragen kaum noch zurückbezogen werden konnte. Diese Vereinseitigung, so könnte man sagen, kam weder der Filmtheorie noch der Psychoanalyse zugute. Auch der Psychoanalyse nämlich muß daran gelegen sein, ihren Status – ihren Status außerhalb der klinischen Praxis – zu klären und im Kontakt mit anderen Wissenschaften und anderen Gegenstandsbereichen die eigenen Grundla- gen zu reflektieren. Eine solche Reflexion deutet sich an, wenn Lacan Erkenntnisse der Sprachtheorie in die psychoanalytische Theoriebildung einbringt, den Begriffsapparat und das Selbstverständnis der Psychoanalyse dadurch verändert, und den psychoanaly- tischen Strukturannahmen auf diese Weise eine völlig neue und unvermutete Evidenz verschafft. Von der Vorstellung einer ähnlich produktiven Rückwirkung auf die in Anspruch genommene Theorie sind die meisten filmtheoretischen Texte weit entfernt; mehr noch: in der überwiegenden Zahl der Fälle bleibt der Status der psychoanalytischen Kategorien selbst völlig unklar. Froh, nach mehr oder minder aufwendigen Rekon- struktionen endlich bei Lacan angekommen zu sein, wird kaum ein Gedanke darauf verwendet, ob die Lacanschen Theoreme eine Kulturtheorie, die Theorie einer histo- risch lokalisierbaren Subjektivität oder eben doch 'anthropologische Grundkonstanten' zum Gegenstand haben. Auf diese Weise bildet sich ein isolierter Diskurs innerhalb der Filmtheorie heraus, der seine Grundlage nicht mehr reflektiert und die Entschei- dung für oder gegen die Psychoanalyse letztlich zu einer Frage der Weltanschauung macht. Mit der Entscheidung für die Psychoanalyse geriet auch die politische Dimension, die zumindest den Beginn der Debatte motiviert hatte, zunehmend in Vergessenheit. Der Begriff der Ideologie – im Etikett 'Apparatus and ideology' ja dauerhaft konserviert – wurde entschärft bzw. mehrfach umgedeutet, so daß er schließlich nahezu jeden nicht-bewußten Gehalt des Mediums und die Gesamtheit der filmspezifischen Ver- kennungsstrukturen bezeichnen konnte. 'Ideologie' wurde das Gegenüber eines all- gemeinen theoretischen Aufklärungsanspruches, das politische Interesse, und damit die unmittelbare Relevanz der Frage aber wurde auf diese Weise nivelliert. Fast noch erstaunlicher ist, daß auch der wohl zentrale Punkt der Apparatusfragestel- lung, der Technikaspekt nämlich, immer weiter in den Hintergrund trat. Die frühen Texte hatten die Technik doppelt, und in hohem Maße widersprüchlich bestimmt: zum einen nämlich als eingebunden in den sozialen Prozeß, der ihren Inhalt (die in ihr vergegenständlichten Ideologeme) determinierte, zum anderen als eine Struktur, die, allen Beteiligten unbewußt, die Subjekte und Diskurse nach eigenen, technisch-mate- riellen Gesetzmäßigkeiten formt. 74 Beiden Wegen nachzugehen und die innere Spannung dieser beiden Definitionen aus- 5 zutragen, wäre mehr als fruchtbar gewesen. Gerade dies aber geschah nicht. Indem sich die Theorie zunehmend auf den Zuschauer und Konzepte seiner Subjektivität zurückzog, machte sie das Feld frei für die Restauration einer Technikgeschichts- schreibung, die sie als naiv und als naiv-isoliert bereits für unmöglich erklärt hatte. Eine Theorie des Kinos hätte gerade diejenigen Dimensionen der filmischen Technik hervorzuheben, die sich einem traditionellen Technikverständnis entziehen. Anders als die Maschinen der materiellen Produktion können die symbolgenerierenden Maschi- nen eben nicht als ein schlichtes Mittel, d.h. in Funktion überschaubarer Zwecke 6 beschrieben werden; immer deutlicher tritt in den Vordergrund, daß die materiellen Effekte dieser Maschinen Intentionen wie 'Kommunikation' oder 'Welterschließung' übersteigen, und Realitäten eher schaffen als 'vermitteln'. Gleichzeitig aber scheint es unmöglich, diese Entwicklung als einen von allem Sinn befreiten 'Selbstlauf' der immanenten Gesetzmäßigkeit der Technik selbst zuzuschreiben; und dies um so mehr, als ein anderer Gebrauchswert als die Produktion von 'Sinn' (um den weitesten Begriff zu wählen) den Medienmaschinen kaum wird zugeschrieben werden können All diese Momente waren zu Beginn der Debatte präsent und gingen, im Versuch, einzelne Aspekte zu prüfen und auszubauen, Schritt für Schritt verloren. Gerade mit Blick auf die Technikproblematik also wäre die Debatte zu jenem relativ frühen Zeit- punkt noch einmal aufzunehmen, als der Zusammenhang zumindest als Fragestellung noch deutlich war. Der entscheidende Punkt aber, und der wohl entscheidende Fehler, der die Debatte in ihrem Verlauf strukturiert hat, ist ein anderer. Dem linguistisch orientierten Vokabular ihrer Autoren zum Trotz nämlich hat sie einen ganzen Bereich ausgespart, der von Wichtigkeit gewesen wäre und der, hätte man ihn einbezogen, eine Vielzahl von Ein- zelfragen tatsächlich hätte orientieren können. Dieser Bereich ist die 'Sprache', d.h. das symbolische System des Films. Selbstverständlich gibt es in den zitierten Texten eine Vielzahl von Einzelüberlegun- gen, die einer Semiotik des Films entweder zuarbeiten, semiotische Vorstellungen implizieren, oder Gegenstände berühren, die zum Gegenstandsbereich einer filmi- 7 schen Semiotik gehören. Ausdrücklich keiner der Autoren aber hat den Versuch ge- macht, die 'Sprache' des Films als solche in dem neu-errichteten Dreieck zwischen der 5 Ausnahme, daran sei hier erinnert, war der Suture-Text von Stephen Heath. 6 Auch im Fall der materiellen Produktion wird dieses Bild zunehmend zweifelhaft 7 Zu nennen ist vor allem der Ansatz Comollis und die Metaphernüberlegung von Metz, die einer semio- tischen Reinterpretation der Apparatus-Fragestellung zweifellos am nächsten kommt. 75 filmischen Technik, der Zuschauerdefinition und der Ebene der filmischen 'Inhalte' zu lokalisieren. Dies ist umso verwunderlicher als die zentrale These der Apparatusdebatte ja besagt, daß die filmische Technik auf die Bildinhalte einwirkt, daß der Apparat in die Bilder eine bestimmte Struktur und damit eine bestimmte 'Semantik' hineinträgt, die durch die Intention des Filmenden nicht mehr hinterschritten werden kann. Die Technik also wird als die Festschreibung von Bedeutungen aufgefaßt, und zwar bestimmter Bedeu- tungen, die außerhalb dieser apparativen Festschreibung zur wahlfreien Verfügung und damit in Konkurrenz zu anderen, möglichen Bedeutungen ständen. Eine solche Konkurrenz, die Metapher der 'Semantik' deutet es an, wäre nur auf der Ebene des symbolischen Systems überhaupt denkbar. Es erscheint also eigentümlich kurzschlüssig, zwischen der filmischen Technik und der Ebene der Inhalte eine un- mittelbare Verbindung herstellen zu wollen, und das symbolische System, den Code, die Sprache des Films dabei zu überspringen. Wenn die Technik die Inhalte determiniert, kann sie dies nur, indem sie den Code einschränkt, d.h. indem sie Wahlmöglichkeiten ausschließt, die der Code ohne den Eingriff der Technik zulassen würde. Das Tückische ist, und hier dürfte der erste Grund für die Aussparung liegen, daß das symbolische System des Films solche Alternativen tatsächlich nicht mehr enthält. Baudry mußte auf ein anderes System, dasjenige der Kunst nämlich ausweichen, um die Partikularität der Zentralperspektive überhaupt zeigen zu können; der Code der Malerei also fungiert als ein externer Maßstab, der die technische Einschränkung überhaupt erst sichtbar macht; auf dem Terrain des Films erscheint die technische Definition als primär, und der Code scheint nur noch diejenige Fläche zu strukturieren, die die technische Vordefinition ihm offenläßt. Die Reflexion auf den Code also scheint zunächst kaum mehr zu erbringen als eine Klärung der Begriffe und des methodischen Vorgehens; warum aber kann, wenn die Hierarchie zwischen Technik und Code einmal klargelegt ist, die Ebene des Codes nicht tatsächlich aus der Überlegung herausgelassen werden? Ein entscheidender Fehler war diese Aussparung vor allem deshalb, weil bestimmte Wechselwirkungen zwischen der Technik und dem filmischen Code auf diese Weise aus dem Blick (und dem Modell) verdrängt worden sind. Die Technik beschränkt eben nicht allein den Umfang dessen, was im Film gesagt werden kann, sondern die Technologie und der Code des Films gehen darüberhinaus ein intensives, und für das Funktionieren des Mediums konstitutives Wechselverhältnis ein. Dieses Verhältnis zu analysieren, seine Konsequenzen aufzuzeigen und beide schließlich in das von den Apparatustheorien entworfene Modell einzubringen, wird das zentrale Anliegen dieser Arbeit sein. In ihrer Begrifflichkeit, in ihrem Grundinter- esse und dem Ziel, die 'Bedeutung' der filmischen Apparatur einer Klärung näherzu- 7 6 bringen, wird die hier vorgetragene Argumentation sich eng an das Vorgegebene an- lehnen; und dies auch dann, wenn die Frage nach dem Code die Inanspruchnahme eines vollständig anderern Theoriehintergrundes verlangen wird Um zunächst aber die Kritik der Apparatusdebatte abzuschließen, sei ein weiterer Punkt genannt. Auch die Definition der Zuschauerposition nämlich veränderte sich, je deutlicher die Ausrichtung auf die Psychoanalyse wurde. Waren Pleynet und Baudry davon ausgegangen, daß das Kino eine 'Überhöhung' der Zuschauerposition impliziert, eine illusorische Überhöhung, die der Zuschauer als einen Triumph und als eine Auslieferung des Leinwandgeschehens an seinen Blick genießt, so wurden nun sehr verschiedene 'Zuschauerlüste' rekonstruiert und dem Kino der Appell an sadistische, fetischistische, oder masochistische Befriedigungsmuster zugeschrieben. Die Diffe- renzierung bedeutete einen Gewinn, insofern nun differente Filminhalte auf differente Zuschauerhaltungen bezogen werden konnten, die Zuschauerdefinition also Kriterien auch für die Beurteilung einzelner Produkte zu liefern versprach. Gleichzeitig und unter der Hand aber hatte man die Ebene gewechselt; von einer Aussage über das Medium, seiner möglichen Relation zu anderen Medien und seinem Bezug auf die von ihm strukturierte Realität, war man zu Aussagen übergegangen, die allein innerhalb des Mediums neues Terrain erschließen, und man hatte das spezifische Objekt- verhältnis, das der Film etabliert, aus dem Auge verloren. Damit aber war gleichzeitig die Chance vergeben, die Ausgangsthese auf ihre Substanz hin zu prüfen; und wenn ihr von Beginn an der Verdacht anhaftete, eine Metapher für eine Theorie auszugeben, so war der gewählte Weg weder geeignet, diesen Verdacht zu erhärten, noch, umgekehrt, durch Beibringung zusätzlichen Mate- rials das Ausgangsargument zu unterstützen. Auch dieser Frage soll deshalb noch einmal nachgegangen werden, und der vierte Teil dieser Arbeit wird die These der Zuschauer-, bzw. der 'Subjekt'-Überhöhung noch einmal aufgreifen. Die Stärke der Apparatusdebatte war der Anspruch, die filmische Technik, deren historisch/gesellschaftlichen Bedürfnishintergrund und eine bestimmte Definition des Zuschauers aufeinander zu beziehen. Mit dieser These bereits hatte sie bislang isolierte Untersuchungsfelder in Korrelation gebracht und etablierte Grenzziehungen innerhalb der Filmtheorie zutiefst irritiert. Eine Vielzahl möglicher Querbezüge tat sich plötzlich auf und ein ganzes Feld möglicher Untersuchungen war damit abgesteckt. Ihre Schwäche war, daß immer dann, wenn ein einzelner Punkt vertieft werden sollte, ein Stück der ursprünglichen Komplexität auf der Strecke blieb, so daß die späteren Texte nicht nur weniger zwingend, sondern auch konventioneller ausfielen. Der Un- terschied zwischen der inspirierten Skizze und der eher enttäuschenden Ausführung wird vollständig nicht zu eliminieren sein; durch bestimmte Richtungsentscheidungen aber will die vorliegende Arbeit sicherstellen, daß zumindest die Schlußsynthese der Argumentation das vorgegebene Integrationsniveau noch einmal erreicht. 77 2. Vier Überlegungen zum filmischen Raum 2.1 Die Raummechanismen des Films Will man über den Horizont des in der Apparatus-Debatte Thematisierten hinaus, liegt es nahe, sich zunächst – genauer als dies in den Apparatustexten geschieht – der tech- nischen Mittel zu vergewissern, mit denen der Film den Eindruck von Räumlichkeit hervorbringt. Die Leinwand ist flach, physisch also verfügt das Filmbild über aus- 1 schließlich zwei Dimensionen; dennoch aber ist der Eindruck von Räumlichkeit konstitutiv für das filmische Erleben. Im Film scheint der Raum nicht nur wesentlich präsenter als etwa in der Photographie, sondern oft sogar dominierender als in der Realwahrnehmung, ein Phänomen, das zunächst rätselhaft erscheinen muß. Diese gesteigerte Räumlichkeit hat die Filmgeschichte von Anfang an und, so muß man sagen, in fast exzessiver Weise genutzt. Daß Lumières 'L'arrivée d'un train en gare' (1895) panische Reaktionen unter den Zuschauern auslöste, war ein Effekt u.a. der damals noch ungewohnten Räumlichkeit und Tiefe des Bildes, die die Grenze zwischen dem Bild- und dem Zuschauerraum auf- zuheben schien. Die ersten Fahraufnahmen Pastrones, berichten Zeitzeugen, haben 2 ebenfalls außerordentlich stark gewirkt und noch heute, im Zeitalter hydraulischer 3 4 Kräne und computeranimierter Raumillusionen bewirkt der Kameraflug, der den Welles-Film 'Touch of Evil' von 1941 eröffnet, eine Art raum-initiierter Euphorie, die aus dem Filmerleben nicht wegzudenken ist. Schon im Vorspann der verschiedenen Filmgesellschaften wird die Räumlichkeit des Filmbildes geradezu beschworen: Die im Leeren rotierende Weltkugel der 'Univer- 1 und über die sogenannte vierte Dimension der Zeit. 2 "'Besessen von der dritten Dimension bringt Pastrone Einstellungen von bemerkenswerter Tiefe zustande, indem er die Bildebenen durch eine ständig bewegte Kamera gegeneinander absetzt.' Im systematischen Ge- und Mißbrauch des von ihm entwickelten 'carello', der Fahrtaufnahme, hatte Pastrone gezeigt, daß die Aufgabe der Kamera nicht darin besteht, Bilder zu erzeugen - das machten Maler und Photographen seit langem, sondern darin, die Dimensionen zu manipulieren und zu verfäl- schen." (Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München 1986, S. 28 (O., frz.: 1984) (Virilio zitiert Brownlow)). Die Fahraufnahme allerdings wurde nicht, wie Virilio sagt, von Pastrone 'entwickelt', sondern vorher bereits von Méliès, Promio, der für Lumière arbeitete, und anderen einge- setzt. 3 Beispiel sei die Eingangssequenz des Bowie-Filmes 'Absolute Beginners' (GB 1985), wo eine einzige Kranfahrt Nahaufnahmen, Tanzszenen auf der Straße und einen Flug über die Dächer in die Parallel- straße hinein verbindet. 4 Das bekannteste Beispiel im Spielfilmbereich ist 'Tron' (USA 1982, Regie: Steven Lisberger), ein Film, der Realbilder der handelnden Personen in computeranimierte Räume einbringt und seine eindrucksvoll- sten Szenen in den Verfolgungsjagden durch die Tiefe dieser Räume hat. 7 8 sal', der gebäudeähnlich in die Tiefe des Raums aufgetürmte und von Flakschein- werfern umspielte Schriftzug der 20. Century Fox und vor allem der Flug durch den planetaren Raum, den die Constantin, die Gaumont und andere Firmen zu ihrem Emblem gewählt haben, nehmen die Raumillusion der filmischen Realbilder vorweg und stimmen das Publikum auf die spezifische Tiefenillusion des Mediums ein. Die- selbe Rolle spielt die Gewohnheit, die Titel zu Beginn der Filme perspektivisch oder schattiert zu setzen, und die Schrift aus der Tiefe auftauchen oder nach hinten ver- schwinden zu lassen. In den Filmen selbst ist die Räumlichkeit meist subtiler, und unauffälliger, damit aber nicht weniger wirkungsvoll eingesetzt. In der Mehrzahl der Einstellungen wird der Zu- schauer sie als ein selbstverständliches Attribut dem Gezeigten selbst zurechnen, und die Räumlichkeit wird ihm weitgehend unbewußt bleiben; sie wird die spezifischen Illusion von 'Realität' stützen, die der Film aufbaut, und in dieser Bindung an 'Realismus' und Wahrscheinlichkeit ist ihr zugleich eine deutliche Grenze gesetzt. Vielleicht gerade weil er das Bewußtsein nur selten erreicht, aber ist der Eindruck von Räumlichkeit mit dem spezifischen Genuß, den das Kino bietet, aufs engste verbun- den. Vor allem Fahraufnahmen und die Totale auf größere Architekturen oder Landschaften bieten Gelegenheit, in vollem Einklang mit der Wahrscheinlichkeit besonders räumliche und extrem lustvolle Einstellungen zu präsentieren: "In classic Hollywood film", schreibt Laura Mulvey, "eruption of, say, a very excessive crane movement or a very excessive tracking movement may come in as 5 a disruption but is also extremely pleasurable, giving you that sense of élan." Solcher 'Élan' kann sich bis zu einer Art Raum-Rausch steigern; so in der bekannten und oft wiederholten Einstellung der Fernsehserie Miamy Vice, in der die Kamera, unmittelbar neben dem Vorderrad montiert, zu einer ebenso dominierenden wie raumgreifenden Musik nur dieses Rad und den rasenden Asphalt darunter zeigt, oder, 6 ganz anders, in jener Szene Viscontis, die einen geradezu 'erhabenen' Blick schräg über das Schiff der Mailänder Kathedrale, zwei Protagonisten auf ihrem Dach und hinunter auf die Straße mit den winzigen Autos bietet. Einer der unglaublichsten Kameraflüge war in dem ansonsten eher unspektakulären 7 Fernsehfilm 'Lockvögel' zu sehen; einer Einstellung aus der 'subjektiven Sicht' eines Falken, der, deutlich unter Baumhöhe, eine lange und gerade Waldschneise entlang- 8 flog. 5 Mulvey, Laura in: Discussion Technology, Ideology and the Avantgarde. In: Lauretis, Teresa de; Heath, Stephen (Hg.): The Cinematic Apparatus. London 1980, S. 167 6 'Rocco und seine Brüder' (Italien 1960) 7 Regie: Rolf Silber, ZDF 23. 1. 89. 8 Spektakulär ist die Einstellung u.a. wahrscheinlich deshalb, weil ein Hubschrauber in der Waldschneise keinen Platz gefunden hätte, das 'sehende Objekt' also als ungewohnt klein indiziert ist. Die Einstellung dürfte technisch relativ schlicht realisiert worden sein, indem die Kamera vom Hubschrauber abgehängt wurde. 79 Was also sind die technischen Mittel, die solche Wirkungen ermöglichen und die, allgemeiner, den spezifisch filmischen Raum erzeugen? Eine erste Gruppe bilden all diejenigen Raummechanismen, über die auch die Malerei und die Photographie bereits verfügten. Als erstes und einfachstes Raumindiz ist die Abdeckung der Objekte untereinander zu nennen. Objekte im Vordergrund überlagern solche, die räumlich hinter ihnen stehen, wobei diese Abdeckung nur dann zuverlässig erkannt werden kann, wenn die Gestalt und der gewöhnliche Umriß der Objekte bekannt oder zu erschließen ist. Bereits bei diesem relativ einfachen Raumindiz also muß zu der optischen Wahrnehmung ein bestimmtes 'Weltwissen' hinzutreten, auf dessen Hintergrund die Wahrnehmung als räumlich interpretiert wird. Als zweites können Größenunterschiede zwischen Objekten räumliche Tiefe anzeigen; nahe Objekte werden groß, ferne Objekte werden klein abgebildet. Dies wieder unter der Bedingung, daß die 'reale' Größe der Objekte als bekannt vorausgesetzt werden kann. Und eine zweite Bedingung tritt hinzu: Es muß die Zentralperspektive oder eine ähnliche, an der subjektiven Sicht orientierte Art der Flächenprojektion unterstellt werden, denn nur bei dieser Art der Flächenprojektion werden die Objekte mit zuneh- mendem räumlichen Abstand kleiner abgebildet. Die Zentralperpektive nun, wie sie Photographien oder mathematisch konstruierte Gemälde bestimmt, geht über die Größenverschiebung und die Objektabdeckung hinaus; beide treten in einen regelhaften Zusammenhang und beide werden mathema- tisch wie intuitiv prognostizierbar. Es entsteht ein 'homogener' Bildraum, der jedem Objekt seinen Ort und seine exakte räumliche Relation zu allen anderen Objekten zuweist. Die Raumkanten, die dem Fluchtpunkt zustreben und die das wohl deutlichste Kennzeichen einer zentralperspektivischen Konstruktion sind, orientieren den Raum ebenso zuverlässig wie jene Rasterfußböden, die die Renaissancemaler ihren Bildern als räumliche Grundorientierung mitgaben. Im homogenen, zentralperspektivischen Bildraum stützen alle Tiefenindizien sich gegenseitig; bleibt die Objektabdeckung ambig, klären die Größenverhältnisse sie auf und umgekehrt; beide gemeinsam können durch eine Raumkante vereindeutigt oder in ihrer Aussage relativiert werden. Auf diese Weise können, in Relation zu bekannten Objekten, auch Objekte, deren reale Größe nicht bekannt ist, ihrer Größe und Lage nach eindeutig bestimmt werden. Eine besondere Rolle kommt deshalb Innenräumen und Bauten, d.h. der Architektur als einem Teil der Inszenierung zu; wie auf den Renaissancegemälden schaffen sie den Rahmen für die Raumwahrnehmung, reduzieren deren Komplexität und machen eine schnelle räumliche Orientierung möglich. So ist, um ein Beispiel zu nennen, die Orien- tierung in einer Säulenhalle ungleich leichter als etwa in einem Wald. 8 0 Ein Raum-Indiz, das für die Malerei unwesentlich, für Photographie und Film dafür umso wichtiger ist, ist die unterschiedliche Schärfe der verschiedenen Bildebenen. Wie das Auge kann auch die Kamera nur eine begrenzte Tiefe vollständig scharf abbil- den; sowohl die Zone davor als auch diejenige dahinter erscheinen unscharf, abgestuft unscharf je nach ihrer Entfernung vom Fokus, der die Lage der Schärfeebene be- 9 stimmt. Die Schärfe also kann als Indiz für die räumliche Lage gelesen werden. Ein zweiter Typ von Unschärfe resultiert aus der Tatsache, daß die Luft, zumindest auf größere Entfernung, alles andere als durchsichtig ist. Wie die technische Schärfe der Kamera also trennen bei besonders tiefen Aufnahmen auch der zunehmende Dunst und das Temperaturflimmern der Atmosphäre den Bildhintergrund vom klareren Vorder- grund ab. Ebenfalls Einfluß auf die Räumlichkeit des Bildes hat die Wahl der Optik; Weitwin- 10 kelobjektive dehnen die Tiefendimension des Bildes aus, Teleoptiken verkürzen sie. Vernachlässigt man den gestalterischen Aspekt dieser Wahl, bleibt die Deformation zu beachten, die der Raum durch die Wahl der Optik erfährt. Der deformierte Raum nämlich weicht von der Wahrnehmung des 'unbewaffneten' Auges ab, auch wenn dieses dem normalen Rezipienten nur bei extremen Weitwinkelaufnahmen auffallen wird; die Deformation also ist für die photographischen Medien spezifisch und ihre Entzifferung muß innerhalb dieser Medien gelernt werden. Dies gilt insbesondere für die Wirkung von Zoomobjektiven, die häufig mit Kamerafahrten verwechselt wird, 11 deren Auswirkung auf den Raum aber eine völlig andere ist. Eine zweite Gruppe von Raumindizien kann man zusammenfassend als Licht-Codes bezeichnen. Licht und Schatten modellieren die Körper im Raum und verschaffen ihnen eine Plastizität, die mit anderen Mitteln nicht zu erreichen ist. Das Licht trägt 9 Orson Welles war ein Meister darin, die Schärfentiefe über jedes Maß hinaus auszudehnen; eines der bekanntesten Bilder aber, die als Beispiel für seine extrem tiefenscharfen Einstellungen immer wieder angeführt wird, ist montiert: Das Wasserglas im Vordergrund, das Bett im Mittelgrund, und der Prota- gonist im Hintergrund dieser Einstellung in 'Citizen Kane' waren nur durch die Maskentechnik in einem Bild zu vereinigen. 10 Schwab etwa schreibt zum Weitwinkel: "Eindruck einer perspektivischen Dehnung von deren ästheti- scher Wirkung Eisenstein schwärmt: 'Durch die Darstellung eines gewaltigen perspektivischen Größenunterschiedes zwischen Vordergrund und Hintergrund wurde eine maximale räumliche Illusion erreicht.'" (Schwab, Lothar: Kinematographische Raumwahrnehmung durch Schärfentiefe. In: Frauen und Film, Nr. 27, Feb. 1981, S. 19) 11 In gewisser Weise kann man von einer Vernichtung des Raums im Zoom sprechen: "Zooms sollen Travelings ersetzen, lassen aber im Gegensatz zu jenen Räume nicht räumlich erscheinen, sondern flächig." (Kurowski, Ulrich: Lexikon Film. München 1972, S. 186). Und besonders krasse Veränderungen des Raums kommen zustande, wenn Zoom und Fahrt gleichzeitig eingesetzt werden; so in einer Einstellung der Fernsehserie 'Kir Royal', wo ein Zoom auf die Hauptper- son zu mit einer Rückwärtsfahrt kombiniert wurde, so daß die Person exakt gleich groß blieb, der Raum hinter ihr aber 'explodierte' ('Kir Royal', 2. Folge, wiederholt in der ARD am 15. 1. 90). 81 zudem zur Entstehung einer einheitlichen Raumerfahrung bei; indem es verschiedene Gegenstände einer gemeinsamen Lichtquelle unterwirft, bezieht es sie räumlich auf- einander und läßt sie als Teil eines umfassenderen Ganzen erscheinen. Mit kaum einem Mittel haben die Photographie und der Film mehr experimentiert als mit dem Licht; der 'Aura' der Stars wurde durch eine Lichtkorona aufgeholfen, die sie gegen den Hintergrund freistellte – ein räumlich-semantischer Effekt –, die Jalousien der schwarzen Serie rasterten die Räume und die Gesichter und machten subtilste Bewegungen im Raum zu einem abrupten optischen Ereignis. Und auch die geradezu fetischistische Leidenschaft Hollywoods für glänzende Stoffe kann auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß der Glanz die Plastizität und Körperlichkeit der Figuren 12 überhöht. Schatten und Glanz generieren einen eigenen Typus von Bewegung, der geeignet ist, das Bild rein optisch aufzuladen. Wichtig dabei ist, daß dieser Typus von Bewegung nicht wie die Bewegung von Personen vorausberechnet werden kann, den- noch aber motiviert und mit der Diegese vollständig vereinbar erscheint Allgemein stehen Licht und Oberflächenstruktur in enger Wechselwirkung zueinan- der. Auch der Wahl der Oberflächen – als einem ein Teil der Inszenierung – wird des- halb ein räumlicher Effekt zugeschrieben werden müssen. Hitchcock führte in einem Interview an, die Art, wie er in den frühen sechziger Jahren die Farbe eingesetzt habe, sei ein Versuch gewesen, das "Rembrandtsche Hell/Dunkel" hinter sich zu lassen. Auch die Farbgestaltung also wird unter die Licht-Codes gerechnet werden müssen, die den filmischen Raum definieren, in der Absetzung der Objekte voneinander, durch das unterschiedliche Reflexionsvermögen der verschiedenen Farben, aber auch im 13 Sinn einer direkten Herstellung von Plastizität. Alle bisher genannten Mittel der Raumdefinition, es wurde gesagt, gehören nicht dem Film allein. Spezifisch aber ist das entscheidende Mittel, mit dem der Film seinen Raum definiert: der räumliche Effekt der Bewegung. Bewegung meint zunächst die Bewegung der abgebildeten Objekte im Raum; Men- schen, Fahrzeuge, Tiere gewinnen Kontur erst wenn sie ihren Ort verlassen, sich als 14 unabhängig vom Hintergrund und als unabhängig von einander präsentieren. 'Kon- tur' meint in diesem Fall tatsächlich jene Umrißlinie, die das Objekt von seinem 12 Interessant ist, daß die in den vierziger Jahre Filmen ebenso beliebten Paillettenkleider die entgegenge- setzte Wirkung haben: hier bricht die Plastizität zusammen und es wird mit der Aufhebung der Körper- lichkeit gespielt. 13 Dies gilt insbesondere auch für die Virage der frühen Stummfilme; viragierte Kopien wirken ungleich räumlicher als Schwarz/weiß-Kopien 14 "Die Bewegung gibt den Objekten eine 'Körperlichkeit' und eine Autonomie, die ihrem unbeweglichen Bildnis versagt waren; sie entreißt sie der flachen Oberfläche, auf die sie beschränkt waren, sie ermög- licht es ihnen, sich als 'Figuren' besser von einem 'Hintergrund' abzuheben; befreit von seinem Halt 'substantialisiert' sich das Objekt." (Metz, Christian: Semiologie des Films. München 1972, S. 26 (Metz greift auf Texte von Morin und van den Berck (1948) zurück)). 8 2 15 Umraum trennt. Zum zweiten wird auch die Plastizität durch die Bewegung gestei- gert: bewegt sich ein Körper durch wechselnde Lichtzonen hindurch oder dreht er sich in konstantem, von der Seite her einfallendem Licht, wird seine räumliche Gestalt stark hervortreten, seine Modellierung und seine Oberflächenstruktur werden tiefer er- scheinen. Und nicht zuletzt verändert sich auch die Bewegung selbst je nach dem, an welcher Stelle des Raumes sie sich vollzieht: Bewegungen im Vordergrund wirken schnell, Bewegungen im Hintergrund langsam, jedenfalls dann, wenn die Bewegung quer zur Blickrichtung verläuft. Das entscheidene Tiefenindiz aber liefert nicht die Bewegung der Objekte; vor allem und an erster Stelle nämlich wird die Räumlichkeit des filmischen Bildes durch die Bewegung der Kamera selbst konstituiert. "Der entscheidende Unterschied zwischen Photographie und Film", schreibt Virilio, "besteht darin, daß der Blickpunkt in Bewegung versetzt werden und der Stagnation der Schärfen- und Standortfixie- rung entgehen kann. [...] Die Geschwindigkeit erscheint [...] somit als Ursprung der 16 Tiefe." Die Bewegung der Kamera ergreift den gesamten Bildraum und reißt schlagartig die Dimension der Tiefe auf; am deutlichsten tritt dieser Effekt bei einer Querbewegung der Kamera ein: wie beim Blick aus dem Eisenbahnfenster wird sich der Vordergrund relativ schnell, der Hintergrund langsam im Bild verschieben. Hauptwirkung also ist, daß die Tiefenstaffelung des Bildes deutlich, jedes Objekt in der Tiefe des Raums lokalisierbar, und der räumliche Gesamtzusammenhang damit transparent werden. Als zweite Wirkung ergibt sich eine leichte Drehung der Objekte, da durch die Querfahrt der Blickwinkel auf das einzelne Objekt sich verändert. Auch solche Drehungen, es 17 wurde gesagt, erhöhen die Plastizität. 15 "Was es bedeutet, daß Form zugleich Selbstreferenz und Fremdreferenz ist, wird deutlich an dem Sach- verhalt, daß man Formen visuell durch die Umriß-Linien vergegenwärtigt, welche die Grenzen zwischen Phänomenen, die Form haben, und ihren Umwelten beschreiben, also zugleich an diesen Phänomenen und ihren Umwelten teilhaben." (Gumbrecht, Hans Ulrich: Rhythmus und Sinn. In: ders.; Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt 1988, S. 718) 16 Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München 1986, S. 28f (O., frz.: 1984) (Hervorh. H. W.) 17 Ein Extrembeispiel für Querfahrten enthält der Film 'Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers' von Helke Sander (BRD 1978): Autofahrten durch Berlin, jeweils im Winkel von 90o zur Fahrtrichtung gefilmt, kehren leitmotivisch im Film wieder, ja, halten den Film ästhetisch zusammen. Die Fahrten sind ruhig, erzeugen aber allein aufgrund der Querstellung des Blicks einen spezifischen visuellen Streß. Besonders auffällig ist das Aufplatzen der Tiefe, wenn eine Querstraße oder eine Hofeinfahrt sich öffnet. Die berühmte Straub-Fahrt längs des Münchener Straßenstrichs (in: 'Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter' (1968), übernommen in Faßbinders 'Liebe ist kälter als der Tod'), ist trotz ihrer Zurück- haltung männlich-'bemächtigend', vergleicht man sie mit diesem starren Blick eines transportierten 'Objekts' 83 Bewegt sich die Kamera nicht quer, sondern in die Tiefe des Raumes hinein, so ergibt sich ein räumlicher Effekt, der dem Blick durch die Windschutzscheibe eines Autos vergleichbar ist. Geometrisch ist die räumliche Veränderung des Bildes hoch kom- pliziert, aus der Alltagserfahrung der subjektiven Fortbewegung aber so vertraut, daß auch sie normalerweise kaum als filmspezifisch angesehen wird. Die dritte Möglich- keit, der Kameraschwenk, kann zur Räumlichkeit des Bildes kaum etwas beitragen. Der letzte Faktor, der für die Räumlichkeit der filmischen Wahrnehumg Bedeutung hat, ist der Ton. Lange bereits vor der Stereophonie war es möglich, Nähe und Ent- fernung, die Größe und Beschaffenheit von Räumen und die räumliche Relation ver- schiedener Schallquellen zueinander durch die Art und Weise der Tonaufnahme fest- zuschreiben. Dies vor allem durch den Einsatz subtiler Echo- und Halleffekte, die zunächst durch die Aufnahme in präparierten Realräumen, und seit Mitte der sechziger Jahre elektronisch erzeugt wurden. Akustische Räume werden kaum je mit Bewußt- sein, sondern meist intuitiv wahrgenommen, für die Orientierung und das psychische Wohlbefinden aber spielt der Raumklang eine erhebliche Rolle. Umso erstaunlicher ist, daß die Stereophonie im Kino eine nach wie vor eher unglückliche Rolle spielt; wahrscheinlich aufgrund der sehr unterschiedlichen Sitzpositionen wirken die Links- rechts-Effekte immer noch hölzern und der Klangraum droht häufig gerade dann auseinanderzubrechen, wenn der Ton auf emotionale Überwältigung der Zuschauer 18 angelegt ist. Die große Bedeutung, die die Bewegung für die Raumwahrnehmung hat, erklärt, warum Filme ungleich plastischer wirken als etwa projizierte Photographie. Daß die Räumlichkeit des Filmbildes auch diejenige der Realwahrnehmung übertrifft, dagegen wird mit den genannten Inszenierungsmitteln, der elaborierten Lichtsetzung und all- gemein damit erklärt werden müssen, daß Film den Raum einer bewußten Gestaltung unterwirft. Und dies umso mehr, als dem Film bestimmte Tiefenindizien fehlen, über die die Realwahrnehmung verfügen kann. So ist die binokulare Raumwahrnehmung im Kino weitgehend stillgestellt, die durch Überlagerung der beiden Augenachsen an einem bestimmten Punkt in der Tiefe des Raumes normalerweise zur Tiefenwahr- nehmung beiträgt. Ebenso ausgeschlossen ist die Möglichkeit, den Tiefeneindruck durch eine subjektive Querbewegung oder den Wechsel des Beobachtungsstandortes zu prüfen, die ebenfalls ein wichtiges Mittel zur Orientierung in realen Räumen dar- 19 20 stellt. Diese zweite Möglichkeit ist an die Kamera delegiert. 18 Dies gilt auch für das gepriesene und extrem teure THX-Sound-System, das für jedes Kino individuell eingemessen und angepaßt wird. 19 Hat man die Gelegenheit, sich vor der Leinwand hin- und herbewegen zu können, macht man die Erfahrung, daß die Plastizität des Filmbildes in sich zusammenbricht. 20 Im Fall der Holographie verbleibt sie auf Seiten des Zuschauers, um den Preis allerdings, daß das Bild in anderer Weise an Evidenz verliert. 84 Dem Film aber 'fehlen' diese Raumindikatoren ganz offensichtlich in keiner Weise. Insbesondere das traurige Schicksal des 3-D-Filmes zeigt, daß der Film andere Gren- 21 zen als die seiner Räumlichkeit zu bearbeiten hat. Die Vielzahl der genannten Raumindikatoren, dies ist hinzuzufügen, überlagern sich gegenseitig; sie bilden ein geschlossenes System, daß in seinem Kern im Prinzip der Kamera verbürgt und festgeschrieben ist und das nur an bestimmten Punkten, der Wahl der Optik, des Lichts, der Inszenierung beeinflußt werden kann. Die Tiefen- indizien einzeln aufzuzählen, also hat vor allem darin einen Sinn, das Leseverfahren transparent zu machen, das die Bilder als räumliche Bilder decodiert, und dies auch dann, wenn bestimmte Indizien ausgelassen oder bewußt vieldeutig gehalten sind. Daß die Raumindizien ein geschlossenes System bilden, dem nur wenige beeinfluß- bare Parameter gegenüberstehen, macht den Kern der hier behandelten Problematik aus; anders als in der Malerei eben ist der filmische Raum auch gegen den Eingriff der Autoren weitgehend abgeschirmt; und zumindest dies läßt erahnen, daß der filmische Raum auch als ein Gefängnis sich entpuppen könnte 2.2 Mechanismen am Punkt des Schnitts Es ist häufig behauptet worden, daß der zentralperspektivische Bildraum der Kamera zwar die einzelne Einstellung beherrsche, daß am Punkt des Schnitts seine Macht aber zu Ende sei. Bezöge man die Montage ein, sei der Film als Medium gerade durch seine multiplen Räume und seine 'Multiperspektivität' gekennzeichnet. Besonders deutlich wird diese Position etwa bei James Monaco formuliert, der den Film mit dem Kubismus in eine enge Verbindung bringt: "Der Kubismus stellt eine entscheidende Wendemarke in der Geschichte aller Künste dar; der Künstler befreite sich vom existierenden Muster der realen Welt 21 Vergl. Hagemann, Peter A.: Der 3-D-Film. München 1980 Der 3-D-Film hat sich nicht nur nicht durchsetzen können, sondern ist so etwas wie ein Kuriosum geblieben. Der Grund dafür dürfte weniger in der Unbequemlichkeit der Pappbrillen als darin zu suchen sein, daß der 3-D-Film eine sehr spezifische Räumlichkeit produziert; zu den genannten 'Raummecha- nismen des Films' tritt allein die binokulare Sicht hinzu; wie beim normalen Film aber wird auch beim 3-D-Film der Beobachtungsstandort als starr unterstellt, der Test durch subjektive Querbewegung also ausgeschlossen. Ergebnis ist ein Raumeindruck, der einerseits als künstlich und andererseits als über- steigert erscheint; vergleichbar dem – im übrigen ganz anderen – Raumeindruck der Holographien, die auf der Ebene der technischen Erprobung zwar frappieren, die bisher aber weder ästhetische Evidenz noch jenen Eindruck von 'Natur' haben herstellen können, den der Film mit seinen Mitteln fast mühelos erreicht. 85 und konnte seine Aufmerksamkeit dem Konzept eines Kunstwerkes zuwenden, das getrennt von seinem Subjekt existierte. Aus einer anderen Perspektive gesehen, entwickelte sich der Kubismus parallel zum Film. Bei dem Versuch, mehrere Perspektivebenen auf der Leinwand fest- zuhalten, reagierten Picasso, Braque und andere direkt auf die Herausforderung des Films, der als ein sich bewegendes Bild komplexe, ständig wechselnde Perspekti- ven erlaubte, ja diese sogar förderte. In diesem Sinne ist 'Nu descendant un escalier' ein Versuch, die vielfältigen Perspektiven des Films auf die Leinwand zu bannen. [...] Sowohl der Kubismus als auch die Montage vermeiden einen einzigen 1 Blickwinkel und erforschen die Möglichkeiten von mehreren Perspektiven." Sieht man davon ab, daß Monacos Formulierung sowohl die Mimesis-Problematik als auch das Projekt der künstlerischen Moderne bereits verkürzt, könnte sein Argument, hielte es einer Überprüfung stand, die hier vertretene Argumentation tatsächlich in einigem beschädigen. Gerade der Bezug auf die künstlerische Moderne und, wenn auch nur eingestreut, die Thematisierung der Subjektposition, scheint das Medium Film in einen völlig anderen Interpretationsrahmen einzustellen und der hier versuch- ten Rekonstruktion diametral zu widersprechen. Aber ist, so wird man fragen müssen, die von Monaco vertretene Parallele wirklich plausibel? Daß Werke wie Duchamps 'Nu descendant' von der Erfahrung des neuen Mediums beeinflußt sind, dürfte außer Frage stehen. Wie die Impressionisten mit der Photographie hatten die Kubisten sich mit dem Film auseinanderzusetzen, und daß die Kunst die Entwicklung der technischen Bilder ebenso aufmerksam wie kritisch-faszi- niert verfolgt hat, ist durch eine Vielzahl von Künstleraussagen der Zeit belegt. Dies aber bedeutet in keiner Weise, daß die Entwicklung der Kunst und diejenige der Medientechnologie auf gemeinsame Ziele sich ausgerichtet und dieselben Probleme bearbeitet hätten, oder daß gar, wie bei Monaco angedeutet, die Kunst darum bemüht gewesen wäre, die technischen Neuerungen mit ihren Mitteln nachzuvollziehen. Als Ausgangshypothese sehr viel wahrscheinlicher dürfte es sein, ein Verhältnis der Ab- stoßung anzunehmen, der Abstoßung in dem Sinne, daß die Kunst das Terrain räumt, das die technischen Bilder okkupieren, und zweitens mit der neustrukturierten Bil- derwelt sich auseinandersetzt und kritisch-komplementär solches Terrain erschließt, das den technischen Bildern qua Konstruktion verschlossen ist. Untersucht man die von Monaco behauptete Parallele konkret, so fällt zunächst auf, daß die 'Nu descendant' die Assoziation weniger zum Film als zu den Serienaufnah- men Mareys und Muybridges nahelegt. Wie diese projiziert das Gemälde einen raum- zeitlichen Ablauf in die Fläche zurück, und die Dimension der Zeit, die der Film als eine Neuerung in das Universum der Bilder gerade eingebracht hatte, wird im selben 1 Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films. Reinbek 1988, S. 36 (O., am.: 1977) 8 6 Moment repräsentiert und – wieder ausgestrichen. Dies allein auf die technischen Gegebenheiten des Ölbildes zurückzuführen, griffe sicher zu kurz. Als zweites nämlich fällt ins Auge, daß das Bild gerade nicht den Eindruck einer konti- nuierlich-gleitenden Veränderung hervorrufen will, sondern distinkte Bewegungs- phasen in deutlicher Absetzung überlagert. Die Illusion von Bewegung, die das Kino durch die Verschmelzung distinkter Bilder erreicht, wird also in diskrete Einheiten wieder zerfällt; ein Bild, das maschinell allenfalls dadurch zu simulieren wäre, daß die Projektionsgeschwindigkeit willkürlich verlangsamt und die Trägheit der Wahr- nehmung unterschritten würde. In diesem Sinne also hat Duchamps Bild eher mit dem 2 Daumenkino und dem Mutoscop zu tun, die den Umschlag zwischen dem stehenden Bild und der Bewegungsillusion der subjektiven Wahrnehmung zugänglich machen; und wie die Serienphotographien Mareys wird man auch diese Technologien dem Film als eine 'Vorgeschichte' nicht einfach subsumieren dürfen. Interessanter als diese Differenzen aber ist die gerade umgekehrte Frage, ob nämlich der Film tatsächlich in einer der kubistischen Kunst vergleichbaren Weise 'Multiper- spektivität' erzeugt. Zunächst ist festzustellen, daß der Film 'multiple' Perspektiven ausschließlich in der Abfolge, d.h. in einem strengen Nacheinander präsentieren kann. Die Perspektive also wechselt, und sie kann sprunghaft wechseln, eine 'multiple' Per- 3 spektive oder ein multipler Raum aber ergibt sich dadurch nicht. Noch mehr: man könnte sagen, daß der Film die Dimension der Zeit dazu benutzt, die Identität und Kohärenz des Raums gerade aufrechtzuerhalten. Wenn die Kohärenz des Raums – und seine zentralperspektivische Repräsentation – also einem Zweifel 4 anheimgefallen sind, so wird dieser Zweifel aufgenommen, dann aber vom Raum weg auf die Zeitachse projiziert. Der Effekt dieser Verschiebung wurde im Zusammenhang der Suture-Theorie bereits angesprochen. Bei einem wesentlich früheren Zeugen, bei Morin, ist der Umschlag im Detail vorgeführt: "Das Kino sprengt den objektiven raumzeitlichen Rahmen des 5 Kinematographen. [...] Die Kamera springt von Ort zu Ort, von Einstellung zu 2 Mutoskope waren Automaten, die der Betrachtung von bis zu 850 Phasenbildern dienten und deren Handkurbelantrieb es möglich machte, die Geschwindigkeit des Ablaufs selbst zu bestimmen. (siehe etwa: Deutsches Filmmuseum Frankfurt: Perspektiven. Zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung. Bd. 1, S. 18) 3 Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß Splitscreen-Techniken, die schlichteste Form 'multiple' Räume auf die Leinwand zu bringen, äußerst selten verwendet werden, und daß die Überlagerung mehrerer Bilder, die im Film der zwanziger Jahre noch relativ häufig zu sehen war, heute ausschließlich noch in Musikvideos eingesetzt wird. 4 Einem Zweifel, wie er in der Kunst seinen deutlichen Ausdruck gefunden hat 5 Morin unterscheidet die frühen Kinematographenbilder vom Kino dadurch, daß erstere nur eine einzige kontinuierlich gedrehte Einstellung zeigten. Die Geschichte des Kinematographen wird damit auf wenige Jahre eingeschränkt. 87 Einstellung, ja sogar innerhalb der gleichen Einstellung dreht sie sich herum, dringt vor, weicht zurück, fährt hin und her. Wir haben diese Ubiquität und diese Be- weglichkeit einem System emotionaler Intensivierung zugeordnet. Ebensogut kann man sagen, [...] die Kamera spiele die Handlungen unserer optischen Wahrneh- mung. Die Studien zur Gestaltlehre haben gezeigt, daß der menschliche Blick, wenn er wahrnehmend die Wirklichkeit entziffert, immer in Bewegung ist. [...] Die Be- weglichkeit der Kamera und die Folge von Teileinstellungen, die ein gemeinsames Interessezentrum umkreisen, bilden einen doppelten Wahrnehmungsprozeß, der vom Fragmentarischen zur Totalität und von der Vielheit zur Einzigkeit des Ge- genstandes fortschreitet. Fragmentarische Ansichten verbinden sich zu einer abgerundeten Wahrnehmung. [...] Die einzelnen Blickwinkel sind oft vielfache Blickwinkel auf das gleiche Ob- jekt oder die gleiche Situation. Diese multifokale Mobilität der Kamera [...] führt uns zu objektivem Ergreifen und Aneignen. Ein Gegenstand ist erst Gegenstand, wenn er psychologisch unter allen Blickwinkeln erfaßt wird. 'Man muß die Objekte lernen, das heißt ihnen unter allen möglichen Blickwinkeln gegenübertreten', sagt Sartre. [...] Wir erkennen den Würfel mit einem einzigen Blick und unter einem einzigen Ansichtswinkel, weil seine Würfelform uns bereits in früheren Umkreisungserfahrungen geläufig geworden ist. Sonst wäre er für uns nur ein Sechseck. [...] Nicht nur die Konstanz der Objekte stellen wir immer wieder her, sondern auch die des raumzeitlichen Rahmens. [...] Im wirklichen Leben sind das homogene raumzeitliche Milieu, seine Gegen- stände und Ereignisse gegeben; innerhalb dieses Rahmens entziffert sich die Wahr- nehmungswelt mit Hilfe vielfältiger Sprünge, Erkenntnisse und Einkreisungen. Im Kino ist diese Entzifferungsarbeit vorfabriziert, und ausgehend von diesen frag- mentarischen Serien rekonstruiert die Wahrnehmung das Homogene, das Objekt, 6 das Ereignis, die Zeit, den Raum." Daß die 'fragmentarische Wahrnehmung' allein auf die Zeitachse projiziert ist, also sorgt dafür, daß die Zerstückelung in eine neue Homogenität umschlägt. Als Zerstük- kelung, dies muß man deutlich sagen, ist sie damit aufgehoben. Und konsequent erscheint selbst die Vorstellung einer Totalität (der Wahrnehmung, der Gegenstände, der Situation) noch einmal möglich. Und diese Synthesis, sagt Morin, ist nicht der Wahrnehmung des Zuschauers über- antwortet – wo sie ausfallen könnte –, sondern durch den Film selbst 'vorfabriziert'. Auf einer technischen Ebene wäre deshalb zu fragen, wie, außer durch die Abfolge selbst, der Film seine heterogenen Einstellungen verkettet. Morin nennt vor allem die 6 Morin, Edgar: Der Mensch und das Kino. Stuttgart 1958 (O., frz.: 1956), S. 138ff (Hervorh. H.W.) 8 8 Konstanz auf Seiten des Abgebildeten; Objektkonstanz, Konstanz der Situation und des 'Milieus' stiftet auf einer sehr konkreten Ebene Kohärenz und arbeitet einer all- gemeineren Kohärenz-Erwartung zu, die, ist sie einmal stabilisiert, auch 'harte' 7 Schnitte zu überbrücken in der Lage ist. Und konstant vor allem ist der Kameraraum selbst. Was auch immer die Kamera als nächstes in den Blick nehmen wird, es wird dem selben Typus von Räumlichkeit unterworfen sein, denselben Regeln der Projektion, demselben räumlich tiefen 'Blick'. Der 'Glaskeil' der Perspektive selbst also verbindet die Einstellungen und trägt bereits 8 für sich genommen Kohärenz in das Material hinein. Und umgekehrt, es wurde gesagt, definiert die Zentralperspektive eine konstante Subjektposition. Da diese Subjektposition nur implizit, d.h. im abgebildeten Material selbst festgeschrieben ist, aber wird man auch hier noch einmal fragen müssen, was eine 'Konstanz' dieser Position eigentlich bedeutet. Wenn der Blick am Punkt des Schnitts nämlich umspringt, um, einen kohärenten Zeitablauf unterstellt, dieselbe Situation aus einem anderen Winkel in Augenschein zu nehmen, so tut er dies offensichtlich ohne Rücksicht auf die physische Masse, die einen empirischen Beobachter an vergleichbar rapiden Wechseln hindern würde. Daraus folgt, daß das Subjekt des Blicks nicht als ein empirischer, masseschwerer, kurz menschlicher Beobachter indiziert ist; die Subjektposition erscheint 'spirituali- 9 siert', und nur die abstrakte Position scheint durchgängig erhalten. Wenn die 'Kon- stanz' auf seiten des Abgebildeten also an die Stabilität und Dauer der physischen Welt sich anlehnt, so gilt dies für die Subjektposition nicht oder nicht im selben Maß; mit der Folge, daß sich zwei vollständig unterschiedliche Typen von 'Dauer' gegen- übertreten Nach diesen Überlegungen nun ist auch die Frage nach der Montage noch einmal zu stellen. Ist nicht die Montage – selbst wenn sie, wie beschrieben, im Fall des Films 7 "You can also see the interaction of the positional and the semantic as working in the reverse direction: it is then the filmic contiguity which, retroactively, creates the impression that there was already some contiguity existing between the referents: this being the notorious referential illusion, the foundation of all fiction and all 'impressions of reality': the spectator thinks that the different images have all been taken out of a single huge block of reality endowed with some kind of prior existence (and called 'the action', or 'the setting', etc.) whereas in fact this feeling derives solely from the juxtapositions operating by the filmic signifier." (Metz, Christian: The Imaginary Signifier, a.a.O., S. 185f (Hervorh. H.W.)) 8 Daß die Kohärenzleistung dieser Gewißheit nicht zu unterschätzen ist, wird deutlich, sobald sie fortfällt; etwa wenn in Musikvideos Realbilder mit grafischen Elementen ohne jede Räumlichkeit gemischt werden. Im Fall der Musikvideos ist es die Tonspur, das geschlossene Musikstück, das trotz extrem heterogener Bildelemente die Kohärenz garantiert. 9 Baudry hatte davon gesprochen, daß an die Stelle des empirischen ein 'transzendentales' Subjekt tritt 89 ausschließlich entlang der Zeitachse sich vollzieht – geeignet, dem vereinheitlichen- den, zentralperspektivischen Blick entgegenzuwirken? Und entsteht nicht in der Montage – in der Zeit – ein narrativer, diegetischer Raum, der ganz anderen Regeln unterliegt als der 'mechanische' Raum, den der Blick der Kamera konstituiert? 10 11 Diese These ist verschiedentlich, und am deutlichsten von Browne, Heath und 12 Branigan vertreten worden. Alle drei Artikel setzen sich unmittelbar mit den Appa- ratusthesen auseinander, und versuchen diese mit Hilfe narrationstheoretischer Modelle entweder zu ergänzen oder zu widerlegen. Zunächst aber, so meine ich, wird man zwischen beiden Argumenten unterscheiden, und die Differenz zwischen Montage und Narration hervorheben müssen. Montage – begriffen als ein Terminus der Kunsttheorie – ist im Kern ein materiales Verfahren; Elemente, die aus unterschiedlichen Zusammenhängen stammen oder eine unter- schiedliche ästhetische Anmutung haben, werden zu einem neuen Ganzen kombiniert, wobei die relative Eigenständigkeit der Materialien zumindest soweit gewahrt bleibt, daß sie als einzelne erkannt werden, und in ein für die Montage konstitutives Span- nungsverhältnis zum neu entstehenden 'Werk-' oder Gesamtzusammenhang treten. Dieses Spannungsverhältnis wird in den dadaistischen 'Materialbildern' besonders deutlich, kennzeichnet die dokumentarisch-operative Montage und die Bildraum- 13 Montage aber in ähnlicher Weise. Und vom Schock der dadaistischen Montagen 14 ausgehend ist Montage tatsächlich "zu einem Paradigma der Moderne geworden". Bezogen auf den Film aber verliert der Begriff bereits einiges an Gewicht; sieht man von dem emphatischen Montagebegriff der russischen Avantgarde als einem Sonder- fall ab, bezeichnet Montage im Film zunächst nichts als die Verkettung vorgefertigter Einstellungen und Sequenzen, wobei das Kriterium, erkennbar heterogene Materialien zu verwenden, in den Hintergrund tritt. Der Montagebegriff, so könnte man sagen, kehrt zu seinem technischen Ausgangspunkt zurück, und statt einer Stahlhalle werden nun Zelluloidstreifen 'montiert'. Montage in diesem abgeschwächten Sinne nun kann in Narration übergehen, und Narration, umgekehrt, sich der Montage bedienen. Beide Begriffe aber, dies wird man 10 Browne, Nick: The Spectator-in-the-Text. The Rhetoric of Stagecoach. In: Rosen, Philip (Hg.): Narra- tive, Apparatus, Ideology. a.a.O., S. 102-119 (O., frz.: 1975) 11 Heath, Stephen: Narrative Space. In: ders.: Questions of Cinema. London/Basingstoke 1981, S. 19-75 (O.: 1976) 12 Branigan, Edward: The Spectator and Film Space. Two Theories. In: Screen, Vol. 22, Nr. 1, 1981, S. 55-78 13 zur Unterscheidung dieser drei Typen siehe: Lindner, Burkhardt; Schlichting, Hans Burkhard: Die Destruktion der Bilder: Differenzierungen im Montagebegriff. In: Alternative, Vol. 21, Nr. 122/123, Okt./Dez. 1978, S. 209-225 14 ebd., S. 210 9 0 deutlich sagen müssen, fallen deshalb nicht zusammen. Während der Begriff der Montage nämlich die Materialität der Operation hervorhebt, und die Tatsache, daß Sinneffekte sich häufig erst sekundär – aus dem 'Spiel mit dem Material' oder sogar erst auf Seiten des Rezipienten – ergeben, ist Narration – in diesem Punkt das wesent- lich traditionellere Konzept – an die Vorstellung einer Intention gebunden, die das narrative Material organisiert und die aus diesem Material mehr oder minder zuver- 15 lässig rekonstruiert werden kann. Im Übergang von der Montage zur Narration also wird eine Grenze übersprungen, die für die hier verfolgte Argumentation von zentraler Wichtigkeit ist: Montage, sofern man eine vorläufige und grobe Zuordnung treffen will, bezeichnet eine Signifikantenoperation, Narration wird ohne die Vorstellung verbürgter Signifikate kaum gedacht werden können. Diese Differenz ist bei Heath noch relativ deutlich; so ist er im Mittelteil seines Textes bemüht, die materialen Mechanismen zu benennen, die den Eindruck von Kontinuität im Kino produzieren, und beschreibt, wie aus den wenigen partikularen Ansichten, die die Kamera zeigt, jener zusammenhängende und ungleich größere – nun diegetische – 16 Raum entsteht, den der Film, obwohl die Kamera ihn nicht zeigt, suggeriert. Diese Konstruktion stützt er ab, indem er zeigt, daß auch die materialen Basismechanismen des Mediums immer schon ein Element von 'Narration' enthalten, und er nennt den wechselnden und immer gewählten Augenpunkt der Perspektive, und die ästhetischen 17 Kompositionsregeln des Filmbildes als Beispiel. Wie der von Metz übernommene 'materialistische' Ansatz mit dem Begriff der Nar- ration allerdings zu vermitteln ist, bleibt bei Heath vollständig unklar. Fast selbstver- 18 ständlich spricht er vom diegetischen Raum als einem "repräsentierten", obwohl bei Metz die Pointe gerade darin bestand, daß dieser Raum nirgends 'präsent' ist und deshalb nicht 're'-präsentiert, sondern allenfalls suggeriert, signifiziert werden kann, und daß an diesem Beispiel ablesbar wird, auf welche Weise dem Spiel mit Signi- fikanten Signifikate entspringen. Und ebenso selbstverständlich spricht Heath von 15 Die Gegenüberstellung gilt am reinsten für den ersten der drei genannten Montagetypen, das dadaisti- sche Materialbild. In operativ-dokumentarischen Montagen bereits spielt die gestalterische Intention eine wesentlich größere Rolle, sie kommen der 'Narration' entsprechend näher 16 "When a person leaves the field of the camera, we recognize that he or she is out of the field of vision, though continuing to exist identically in another part of the scene which is hidden from us." (Heath, Narrative, a.a.O., S. 45) 17 ebd., S. 30-32, 44 "In fact, composition will organize the frame in function of the human figures in their actions; what enters cinema is a logic of movement and it is this logic that centres the frame. Frame space, in other words, is constructed as narrative space." (ebd., S. 36) 18 "The former [shot] matches screen space and narrative space (the space represented in the articulation of the images), ground and background". (ebd., S. 41 (Erg. u. Hervorh. H.W.)) 91 'Narration', ohne die Folgeprobleme von Autorschaft, Intentionalität und Werkkohä- renz auch nur anzudiskutieren. Die beiden anderen genannten Autoren gehen das Problem von vornherein von der 19 entgegengesetzten Seite her an. Browne, der gegen Baudry und Comolli – plausibel – einwendet, daß ein Film dem Zuschauer wechselnde, einander möglicherweise widersprechende 'Positionen' anbietet, und daß die Identifikation mit der Kamera mit anderen, narrativ oder 'rhetorisch' aufgebauten Identifikationen in Konflikt geraten kann, muß den Autor exakt in jene Position von Schöpfertum und Verantwortung wiedereinsetzen, aus der ihn u.a. die Montage gerade vertrieben hatte. Daß der Autor 20 hinter das filmische Material zurücktritt, wird nun als eine 'Maskierung' interpretiert, und der hermeneutischen Gewißheit entsprechend wird dem Zuschauer der 21 'kongeniale Nachvollzug' anempfohlen. Branigan schließlich unterscheidet bereits in der Grundkonstruktion seines Artikels 'empirizistische' Positionen (denen er die Apparatustheorien zurechnen würde) von 'rationalistischen', um dann die rationalistischen, von ihm so genannten 'reading hypothesis theories' weiterzuverfolgen. "According to a reading hypothesis theory, then, the camera is not a profilmic object which is shifted from place to place, but a construct of the spectator, a hypothesis about space – about the production and change of space. The camera is 22 simply a label applied by the reader to certain plastic transformations of space." Warum zwar der Spectator und der betrachtete Film pro- bzw. außerfilmische Objekte, und damit der Analyse zugänglich sein sollen, die filmische Technik, die die 'plastic transformations of space' produziert, aber nicht, bleibt dunkel. Das Interesse gilt nun ausschließlich dem filmischen Text und der Kompetenz des Zuschauers, die Branigan 23 nach den Vorgaben Chomskys modelliert. Branigan markiert damit den Übergang zu den 'reinen' Narrationstheorien, die in der Folge erheblich an Gewicht gewonnen, gleichzeitig aber jeden Bezug auf die Appara- tusFragestellung eingebüßt haben. Der 'story space', der Raum der Fiktion, ersetzt vollständig die Frage nach der Repräsentation des physischen Raumes (und seinen 19 Browne, The Spectator-in-the-Text, a.a.O. 20 "The author has effaced himself, as in other instances of indirect discourse, for the sake of the characters and the action. Certainly he is nowhere visible in the same manner as the characters. Rather he is visible only through the materialization of the scene and in certain masked traces of his action. The indirect presence to his audience that the narrator enactes, the particular form of self-effacement, could be described as the masked displacement of his narrative authority". (ebd., S. 114) 21 "As a correlative of narration, reading could be said to be a process of reenactment by fictionally occu- pying the place of the narrator." (ebd., S. 118) 22 Branigan, The spectator and film space, a.a.O., S. 61 23 ebd., S. 67ff 92 semantischen Implikationen), und auffällig spielt auch die Ausgangsthese, die 'narra- tiven' Perspektivwechsel schafften in der Montage 'Multiperspektivität', innerhalb der Narrationstheorien keine Rolle mehr. Für die hier vertretene Argumentation also verspricht der so vorgezeichnete Weg wenig. Hält man an dem Programm fest, zunächst materiale Mechanismen und erst dann ihre semantischen Wirkungen zu untersuchen, und den filmischen Raum als eine quasi physikalische Anordnung, die bestimmte diegetische und narrative Techniken überhaupt erst erlaubt, so dürfte deutlich geworden sein, daß dieser Raum am Punkt des Schnitts in keiner Weise seine Grenze hat. Die Kamera kann sich einem neuen Geschehen zuwenden, sie kann eine neue Per- 24 spektive wählen und sie kann den 'Blick' einzelner Charaktere übernehmen, die Montage kann Bilder sehr unterschiedlicher Art und sehr unterschiedlicher Herkunft miteinander verketten, und entlang der Zeitachse ähnliche Wirkungen erzielen wie Montagen der bildenden Kunst sie in der Fläche hervorgebracht haben: solange es sich um photographisch hergestellte 'Real'-bilder handelt, wird der Film nie den Schock und die raum-sprengende Kraft erreichen, die mit den dadaistischen Materialmontagen 25 bis heute sich verbinden. 'Multiperspektivität' – wenn der Begriff mehr meint als eine Abfolge differierender Perspektiven – ist nur durch gezielte Eingriffe zu erreichen; der filmische Raum er- weist sich als ein Ordnungsfaktor, der im Material sehr weitgehend sich durchsetzt; und was entlang der Zeitachse an Diskontinuität möglich ist, erscheint eigentümlich machtlos und der Kohärenz des Raumes immer schon unterworfen 2.3 Maßnahmen gegen den Raum Wenn die hier vorgetragene Argumentation vertritt, daß der filmische Raum nicht eine unhinterfragbare Voraussetzung der filmischen Produktion darstellt, sondern eine in sich problematische Größe, eine Art neuralgischer Punkt, um den sich einige der zentralen Gesetzmäßigkeiten und Illusionen des Mediums gruppieren, so liegt die Frage nahe, wie der Film selbst das Problem bearbeitet hat. Die Filmgeschichte hat ein ungeheures Potential von Kreativität, Sensibilität und Reflexion dem Medium gegenüber entfaltet, und es wäre insofern mehr als verwunder- lich, wenn allein die Theorie die Problematik entdeckt und mit ihr sich beschäftigt hätte. Ein filmgeschichtlicher Aufriß zu diesem Problembereich ist hier weder zu leisten, noch gehört die Analyse konkreter Filme zu den Zielen dieser Arbeit; geord- 24 Die 'subjektive' Kamera wird sowohl bei Browne als auch bei Branigan diskutiert 25 Lindner/Schlichting weisen darauf hin, daß die Montage wie jede andere künstlerische Technik einen Prozeß des Alterns und der Gewöhnung durchlaufen hat. (a.a.O., S. 210) 93 net nach drei Kategorien aber sollen einige wenige, fast willkürlich gereihte Beispiele genannt werden, die als eine solche Reflexion, oder als Maßnahmen gegen den filmi- schen Raum zumindest interpretiert werden können. Daß es sich teilweise um heraus- ragende und fest kanonisierte Werke der Filmgeschichte handelt, Werke, die bereits einer Vielzahl von anderen Interpretationsrahmen zugeordnet worden sind, macht deutlich, wie perspektivisch die hier vorgeschlagene Lektüre ist; es verbietet sich daher ebenso, den Aspekt des Raums zu verabsolutieren, wie den Autoren bewußte 'medienpädagogische' Absichten zu unterstellen. Die erste Gruppe von Beispielen wird dadurch zusammengehalten, daß sie den Zu- schauer in seiner räumlichen Orientierung bewußt verunsichern, oder eine solche Verunsicherung zumindest in Kauf nehmen. Besonders häufig in diesem Zusammen- hang werden die Filme J. v. Sternbergs genannt. Sternberg entwickelte in den dreißiger Jahren eine vollständig eigene Bildästhetik, die von verschiedenen Autoren als ein Gegenpol zum männlich-bemächtigenden Blick interpretiert worden ist. Besonders signifikant ist die Wiederkehr von Aufnahmen, die den Bildraum mit diffusen oder amorphen Strukturen anfüllen: "Sternberg spielt die Illusion der Bildtiefe herunter, seine Leinwand neigt zur Ein- dimensionalität, so wie auch Licht und Schatten, Spitze, Dampf, Laubwerk, Netz, 1 Luftschlangen etc. das Blickfeld einschränken." Das Blickfeld ist in diesen Bildern weniger eingeschränkt, als seiner räumlichen Tiefe – oder seiner dreidimensionalen Lesbarkeit – beraubt. Der Wald von Luftschlangen, 2 der in 'Dishonored' von der Decke herabhängt und die Protagonisten vollständig einhüllt, kann weder als eine räumliche Struktur gelesen werden, noch schlägt er umgekehrt in eine flächenhaft-grafische Struktur um; der Raum erscheint eigentümlich suspendiert und zwischen beiden Polen unentschieden; und es entsteht eine traumähnlich-desorientierte Situation, die nur dann genossen werden kann, wenn der Zuschauer sein Orientierungsbedürfnis lockert und sich dem Bild als solchem hingibt. 3 Da solche Arrangements mit anderen Bildstrategien seiner Filme korrelieren, wird man davon ausgehen müssen, daß Sternberg dem filmischen Raum tatsächlich gezielt entgegengearbeitet hat. Das inhaltliche Anliegen seiner Filme ließ es nicht zu, den raumbeherrschenden Blick der Kamera als solchen bestehen zu lassen; und diesen Blick mit den Mitteln der Inszenierung zu unterlaufen, war eine Möglichkeit, die sich dem Medium besonders unauffällig fügte 1 Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski, Gislind u.a. (Hg.): Frauen in der Kunst. Bd. 1, Ffm 1980, S. 41 (O., engl.: 1973-75) 2 USA 1931 3 Siehe etwa die Analyse der Blickbeziehungen in 'Blonde Venus' und 'The Scarlet Empress' bei Studlar, Gaylyn: Schaulust und masochistische Ästhetik. In: Frauen und Film, Nr. 39, 1985, S. 34f (O., am.: 1983) 9 4 Eine ähnliche Strategie, wenn auch der späteren Entstehungszeit entsprechend 4 wesentlich drastischer, findet sich bei Antonioni. Sein Film 'Rote Wüste' etwa enthält eine Vielzahl von Einstellungen, in denen der Bildraum als ein geschlossenes Ganzes zusammenbricht. So, wenn die Protagonisten vor einem extrem unscharfen Hinter- grund wie vor einem unkonturiert gemusterten Theatervorhang freigestellt werden, wenn Rauch oder Dampfschwaden – durch eine industrielle Szenerie motiviert – den Bildhintergrund in eine unkenntlich-grau bewegte Masse verwandeln, oder wenn die Kamera über riesige monochrome Flächen schwenkt, so daß einzelne Bilder nichts als den Farbwert und subtile Texturen der Oberfläche zeigen. Bildfüllende einfarbige Flächen sind von Antonioni häufig und in sehr unterschied- 5 lichem Zusammenhang eingesetzt worden. Riff nennt das Beispiel einer Szene, wo eine vollständig abstrakte Farbfläche erst durch den Auftritt einer winzigen Frau als eine hohe fensterlose Hauswand sich zu erkennen gibt und er folgert, daß Film als ein Medium der Oberflächen allgemein durch Diskontinuitäten und Ambiguitäten ge- kennzeichnet sei. Ein solcher Schluß aber, denke ich, ist unzulässig. Einstellungen wie diese vielmehr müssen als eine bewußte Polemik gegen die Eindeutig- und Einfältig- keit des filmischen Raums verstanden werden, als Maßnahme eines Regisseurs, der die Grenzen seines Mediums auslotet und seinem Publikum – nicht einem Massen- publikum – ästhetischen Genuß gerade dadurch verschafft, daß er die Deutungsfähig- keit bis hin zum Zusammenbruch jeglicher Deutung belastet. Bilder wie die genann- ten, kommen bestimmten Anliegen der künstlerischen Moderne äußerst nahe. Unmittelbar aus der Kunst – der Kunst der zehner und der frühen zwanziger Jahre – abgeleitet war der Versuch des expressionistischen Films, den filmischen Raum mit- hilfe einer eigengesetzlichen Architektur in seinen Grundgegebenheiten zu verändern. Schon die expressionistische Kunst selbst polemisierte gegen Realismus und Abbild- verhältnis als Orientierungslinien der Kunst; sobald man die expressionistische Filmarchitektur aber aus ihrem Kontext löst und sie auf den technischen Eingriff ins 6 Material reduziert, wird deutlich, daß ihre bizarre und artifizielle Welt ein bewußtes Gegenmodell eben nicht nur zum 'Realismus' anderer Filmarchitekturen bildete, son- dern auch zur rektifizierten Geometrie der Zentralperspektive selbst. An die Stelle der 'winkeltreuen' Abbildung regelmäßiger Raumkanten trat für kurze Zeit eine Welt, deren Gesetze vollständig verfügbar waren und deren Entwurf den Ort der Kamera immer schon einbezog; winklige Gassen, die an die Städte des Mittelalters erinnerten, Kostüme, die die Physiognomie der Figuren bizarr übersteigerten, und gemalte Schat- 4 I 1963/64 5 Riff, Bernhard: Das Auge sieht nichts. In: Hickethier, Knut; Winkler, Hartmut (Hg.): Filmwahrneh- mung. Dokumentation der GFF-Tagung 1989. Berlin 1990, S. 111 6 beides ist nur im Rahmen der hier verfolgten, sehr engen Fragestellung zulässig 95 ten, die die bereits entwickelte Lichttechnik des Films geradezu verhöhnten – all dies war geeignet, dem Bildraum die eigenen Gesetze aufzuzwingen und den Film aus seiner Bindung an den Augenschein weitgehend zu lösen. Einen vergleichbar radika- len Versuch gegen die von der Kamera diktierte Geometrie des Raums hat es in der Filmgeschichte kein zweites Mal gegeben. Und während bestimmte Lichteffekte, atmosphärische Entdeckungen und Figurentypen in der Filmästhetik lange nachwirk- ten, wurde die Verzerrung der Geometrie ebenso schnell wie endgültig wieder fal- lengelassen. Fast könnte man sagen 'reumütig' kehrte der Film zum 'Realismus' zurück und alle späteren Versuche gegen den filmischen Raum hatten – sieht man vom Experimentalfilm ab – sich innerhalb engerer Grenzen zu bewegen. Die expressionistische Filmarchitektur hatte weniger die räumliche Orientierung des Zuschauers verunsichert als den Raum selber infragegestellt. In einer zweiten Gruppe von Beispielen gilt der Angriff von vornherein nicht der räumlichen Orientierung, sondern der spezifischen Lust, die mit der filmischen Raumerfahrung verbunden ist. Diese Lust war einer Vielzahl von Filmenden zumin- dest verdächtig, und am meisten jenen Experimental- oder Avantgardefilmern, die bewußte Strategien gegen die traditionellen Sehgewohnheiten und das mit ihnen verbundene Kinovergnügen entwickelten; Gidal etwa schreibt: "The spontaneous, untheorised practice of film [...] of the [London Film Makers-] Co-op" – "made for the possibility of films which, already disallowed a position of imaginary knowledge for the spectator, equally disallowing for the spectator a 7 position – identified with the camera/film maker – of superiority." Entsprechend oft werden Avantgardefilme als Beleg für die im Medium angelegten, 8 vom Mainstreamkino aber negierten Möglichkeiten diskutiert. Bleibt man beim narrativen Film, drängen sich zumindest zwei Autoren auf, die der raum-initiierten Kinolust – mit völlig unterschiedlichen Mitteln und mit völlig unter- schiedlichem Ziel – bewußt entgegengesteuert haben. Der erste ist Yasujiro Ozu, der zwischen 1927 und 1962 eine große Zahl von Filmen gedreht hat, die für ihren ästhe- tischen Purismus, ihre sensible Menschendarstellung und ihre Verpflichtung gegen- über der japanischen Tradition berühmt geworden sind. In der Ästhetik Ozus spielt der Umgang mit dem Raum eine herausragende Rolle gerade insofern, als er auf fast 7 Gidal, Peter: Technology and Ideology in/through/and Avantgarde Film: An Instance. In: Lauretis, Teresa de; Heath, Stephen (Hg.): The Cinematic Apparatus. London 1980, S. 152 (Erg. H.W.) 8 Siehe etwa: - Wees, The Cinematic Image, a.a.O. - Heath, Narrative Space, a.a.O. - Doane, Mary Ann: When the Direction of Force Acting on the Body is Changed. The Moving Image. In: Wide Angle, Vol. 7, Nr. 1/2, 1985 9 6 alle Mittel verzichtet, die einer räumlichen Interpretation des Bildes normalerweise zuarbeiten. Bis auf seltene Schwenks bleibt die Kamera vollständig unbewegt auf ein Geschehen gerichtet, das mit einer großen Sorgfalt in den Kader hineinkomponiert ist und das sich meist quer zur Blickachse entfaltet. Ebenso ist der Hintergrund der Bilder – meist die Wand eines Innenraums – exakt quer angeordnet; sowohl die senkrechten als auch die waagerechten Raumkanten verlaufen parallel zum frame des Bildes, was eine völlig ungewohnte Ruhe in die Bilder hineinträgt und dem Blick der Kamera jeden Anschein von 'Natur' nimmt. Der Purismus dieser Raumkompositionen ist umso verblüffender, als Ozu seine Ka- mera fast grundsätzlich in einer sehr tiefen Position dem Geschehen gegenüber pla- 9 zierte, einer Position, die im westlichen Kino als 'Untersicht' mit einem ganzen 10 Bündel semantischer Werte konnotiert wäre. Zu dieser eigentümlichen Kamera- position Ozus sind ebenso viele wie widersprüchliche Deutungen vorgetragen worden, deren am häufigsten vertretene besagt, die Kamera nehme den Blick eines sitzenden 11 Menschen auf. Sicher ist, daß eine solche Kamerastellung den Blick in eine be- wußt 'machtlose' Position dem Gezeigten gegenüber bringt; der Kamera ist es weder 9 Im Umfeld dieser Eigenheit ist eine Vielzahl von Legenden entstanden; eine von ihnen besagt, daß Shigera, der nahezu alle frühen Filme Ozus photographierte, so viel Zeit flach auf dem Boden liegend verbrachte, daß er mit einem Magenleiden seine Arbeit aufgeben mußte. Yushun Atsuta, sein Nach- folger bis zu Ozus Lebensende, wird nachgesagt, er habe einen 'eisernen Magen' gehabt 10 Die Untersicht wird meist im Sinne einer 'Überhöhung' des Abgebildeten eingesetzt, sei es, um Macht oder Überlegenheit von Personen, Maschinen oder Gebäuden zu symbolisieren, sei es im Sinne eines allgemeinen und zumeist verdächtigen Pathos der Darstellung. Das wohl deutlichste Beispiel für die letztgenannte Funktion bieten die Filme Leni Riefenstahls, die die Untersicht in geradezu exzessiver Häufung verwendet hat; so ist ihr Parteitagsfilm 'Triumph des Willens' (D 1934) zu fast 50 % aus dieser Perspektive gedreht, was den bekanntlich eher kleinwüchsigen Führer zu einem Heroen stilisierte, aber auch die sorgfältig ausgewählten Arbeiter- und Bauernphysiognomien des Generalappells ("und ich aus Schlesien!") mit einer Aura des Ergriffenseins, des einzigartigen Moments und zugleich des Exemplarischen ausstattete. H. Schlüpmann hat darauf aufmerksam gemacht, daß Riefenstahl in ihrem Olympiafilm sorgfältig zwischen Turnern und Turnerinnen unterschieden hat; während erstere in der Untersicht gefilmt und damit gegen den Himmel freigestellt wurden, ist den Turnerinnen ein überwiegend 'irdischer' Hinter- grund (Erde, Wasser) zugeordnet. (Schlüpmann, Heide: Faschistische Trugbilder weiblicher Autono- mie. In: Frauen und Film, Nr. 44/45, Okt. 1988, S. 46ff) Eine völlig andere Verwendung der Untersicht findet sich bei Orson Welles, der, etwa in 'Touch of Evil' (USA 1958), die Untersicht vor allem zur Dramatisierung und zur Dämonisierung (oft des eigenen Bildes) einsetzt. Die karikiert-heroische Untersicht eines Stiefmütterchens enthält der Film 'Stief' von Noll Brinckmann. 11 Standphotos verschiedener Aufnahmesituationen aber zeigen deutlich, daß die Kamera noch wesentlich tiefer, und oft weniger als 50 cm über dem Boden positioniert war. Den Blick der Kamera dem eines sitzenden Menschen zu parallelisieren, scheint mir darüberhinaus auch insofern irrig, als die Kamera damit in das gefilmte Geschehen hineingezogen und seinem Maßstab unterworfen würde, was Ozu, indem er ihre Beweglichkeit beschränkt, ja gerade vermeidet. 97 erlaubt, das Geschehen eigenständig zu recherchieren, noch auch nur soweit vorzu- dringen, daß die Sphäre der handelnden Personen berührt wäre. Gleichzeitig aber schlägt der so skizzierte Blick niemals in Demut, in Unterwerfung unter das Gezeigte um. Und es entsteht eine eigentümliche 'Objektivität', die mit Realismuskonzepten kaum in Verbindung zu bringen ist und die dem Abgebildeten eine ungewohnt weit- reichende Autonomie zugesteht. Interessiert man sich für die reine Geometrie, so ist es ein besonderes Rätsel, warum 12 trotz der tiefen Kamera keine stürzenden Linien in diesen Bildern auftreten. Die Lösung ist, daß Ozu fast ausschließlich ein bestimmtes Objektiv mit einer leichten Telecharakteristik verwendete, das die Senkrechte weitgehend bestehen läßt. Die Wahl dieser Optik hat eine auffällige Nebenwirkung darin, die wenigen Straßenszenen zu 13 einer eigentümlich puppig-geschlossenen Szenerie zusammenzuziehen. Ozus überlegter Umgang mit dem Raum, und seine grundsätzliche Weigerung, dem Zuschauer den gewohnten Raumgenuß zu bieten, eröffnet ihm die Möglicheit, einen anders gearteten, zurückhaltenderen Genuß – auch des filmischen Raumes – zu ent- werfen. Vom westlich-bemächtigenden Zugriff auf das Abgebildete hat sich diese Art der Raumbehandlung denkbar weit entfernt Gleichsam am anderen Pol des Spektrums, ebenfalls aber in einer gewissen Front- stellung gegen die 'Anmaßung' des filmischen Raums und die Überhöhung des Zu- schauers, sind die Filme Hitchcocks zu nennen. Hitchcock hat sich, was die Raum- behandlung angeht, keinerlei Beschränkungen auferlegt, umso gezielter aber den Blick seines Publikums beschränkt. Klaustrophobische und agoraphobische Motivwelten regieren sowohl das Bildrepertoire Hitchcocks als auch eine Vielzahl seiner Ge- schichten. Das wohl bekannteste Beispiel für klaustrophobische Bilder, gepaart mit Bildern der 14 Höhenangst ist der Film 'Vertigo', der den Genuß am filmischen Raum, der räum- lichen Tiefe des Bildes oder an Überblick gewährenden, erhöhten Positionen in alptraumhafte Bilder von Abgründen, einschließenden Interieurs und ausweglosen 15 Situationen umschlagen läßt. 'Lifeboat' drängt eine Gruppe von Reisenden in einem 16 winzigen Rettungsboot zusammen, 'Rear Window' zeigt den Protagonisten an ei- 12 Es wurde gesagt, daß auch die senkrechten Raumkanten parallel zur Bildkante bleiben, was ein wesent- licher Faktor für die Bildkompositionen ist. 13 Siehe etwa 'Der Chor von Tokyo' (Japan 1931) oder 'Ich wurde geboren, aber' (Japan 1932). Zweifellos ist dieser Eindruck gewollt, denn Ozu unterstützt ihn, indem er Straßen an einem Querge- bäude enden läßt, einen riesenhaften Damm im Bildhintergrund errichtet oder die Straße durch ein Gefälle optisch begrenzt. Auch die Straße wird damit zu einer Art Innenraum gemacht. 14 USA 1958 15 USA 1944 16 USA 1954 9 8 17 nen Rollstuhl gefesselt und 'Spellbound' benutzt die Fesselungsmetapher im Titel, um die psychischen Determinationen der Beteiligten plastisch werden zu lassen. Weitet der Raum sich auf, so wird die Situation für den Zuschauer kaum angenehmer; 18 in 'North by Northwest' sieht sich der Hauptdarsteller inmitten unübersehbarer Getreidefelder den Angriffen eines Flugzeuges ausgesetzt und die Weite der ame- rikanischen Plains erweist sich als ebenso angsterregend wie vorher der Einschluß. Selbstverständlich, das zeigt der Erfolg der genannten Filme, bieten auch solche Raum-Ängste dem Publikum einen bestimmten Genuß. Dieser Genuß aber ist völlig anderen Typs als der im Kino übliche; er ist weniger an die Maschinerie des Kinos und die geometrischen Gesetze des Bildes gebunden, als an den Eingriff eines 'sadistischen' Autors, der das Publikum die spezifischen Raumerfahrungen der frühen Kindheit noch einmal durchleben läßt, und die Mittel der Inszenierung, der Kameraführung und der Narration dazu einsetzt, innerhalb 'des' filmischen Raumes eigene, sehr spezielle Räume zu definieren. 19 Bonitzer hat herausgearbeitet, daß Hitchcock mit der Technik des Labyrinths arbei- tet. Steht das Kino einerseits für die 'royal overlooking position', die halluzinatorische 20 und lustvolle Beherrschung des filmischen Raums, so erlaubt es gleichzeitig, das visuelle Feld zu beschränken, das Publikum von bestimmten Informationen aus- zuschließen und diese 'restricted vision' im Sinne einer Steigerung der Spannung und des affektiven Engagements einzusetzen. "Suspense necessarily implies closeups", schreibt Bonitzer, "and a constrained and 21 dense visual field." Auf diese Weise ergeben sich zwei Pole in der Grundkonstruktion des Kinos; und neben den Feldherrenhügel tritt das Labyrinth als diejenige Architektur, die den Blick systematisch verstellt, das Publikum in Verwirrung stürzt und, auf narrativer Ebene, den Weg zur schließlichen Lösung in eine Vielzahl kurzer und der Möglichkeit nach widersprüchlicher Einzelschritte auflöst. Bonitzer weist darauf hin, daß auch dieser Mechanismus ein Mechanismus des Raums ist, und daß einige der großen Regisseure – so etwa Fritz Lang – von der Ausbildung her Architekten waren. Das Stichwort des 'Labyrinths' ist insofern mehr als eine Metapher. Gleichzeitig aber, und dies übersieht Bonitzer, verweist der Begriff des Labyrinths auf Planung und Konstruktion, d.h. auf eine bewußte Gestaltung; wenn ein Film also 17 USA 1945 18 USA 1959 19 Bonitzer, Pascal: Partial Vision. Film and the Labyrinth. In: Wide Angle, Vol. 4, Nr. 4, 1981, S. 56-65 (O., frz.: 1979) 20 Auch Bonitzer bezieht sich ausdrücklich auf Velázquez und die Analyse Foucaults 21 ebd., S. 62 (Hervorh. H. W.) 99 labyrinthischen Charakter hat, so ist dies Resultat organisierender Eingriffe, Resultat einer Verschlüsselung; die Decodierung entsprechend kann sich auf eine Sinnannahme stützen, die dem scheinbaren Chaos einen Plan, und der Verwirrung ein Ziel und ein schließliches Ende unterstellt. Obwohl also räumlich oder quasi-räumlich und nicht etwa rein narrativ organisiert, ist das 'Labyrinth' damit auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt als der filmische Raum, wie die Kamera ihn konstituiert. Hitchcock, ohne Zweifel, spielt das Labyrinth gegen den Renaissanceraum der Kamera aus, und er hat ein sehr wirkungsvolles Set von 'Maßnahmen gegen den filmischen Raum' entwickelt. All diese Maßnahmen aber, um dies noch einmal zu sagen, operieren innerhalb des vordefinierten Rahmens, sie überlagern und kon- terkarieren bestimmte seiner Wirkungen und sie setzen bestimmte Publikumslüste zugunsten anderer außer Kraft; bezogen auf den filmischen Raum aber ist damit nicht mehr als ein Grenzwert markiert, der Grenzwert seiner Plastizität und Überform- barkeit, und gleichzeitig seiner Indienstnahme für bestimmte gestalterische Zwecke. Wie Ozu riskiert Hitchcock bereits die 'Auffälligkeit', d.h. den offenen Zusammenprall der medialen Gegebenheiten und der eigenen, abweichenden Gestaltung. Sobald diese Diskrepanz das Bewußtsein erreicht, aber wechselt das Problem sein Niveau; dann nämlich tritt, was bis dahin ästhetisches 'Mittel' war, aus dem dienenden Status heraus, und das Medium neigt sich auf sich selbst zurück. In der dritten Gruppe von Beispielen ist exakt dies der Fall. Anders als im narrativen Film, der die filmische Technik immer nur implizit zum Problem machen kann, treten im Experimentalfilm die Technik und die formale Seite des Mediums, seine Gesetz- mäßigkeiten und Grenzen, in den Mittelpunkt des Interesses. Und mit ihnen der filmi- sche Raum. An erster Stelle sind hier die Filme Brakhages zu nennen. Das als Motto dieser Arbeit verwendete Zitat Brakhages "Imagine an eye unruled by man-made laws of perspec- 22 tive", weist bereits darauf hin, wie intensiv und wie bewußt zumindest dieser Filmemacher sich mit dem filmischen Raum auseinandergesetzt hat. Man wird sich vergegenwärtigen müssen, daß sein Artikel im Jahr 1963, also sechs Jahre vor den ersten Apparatustexten erschien, abgeleitet aus einer filmischen Praxis, die bis heute Material für Analysen zum filmischen Raum liefert. "Brakhage stellte ein Filmnegativ ohne Kamera her, indem er Mottenflügel und Pflanzen und ein andermal einen zerschnittenen Film direkt auf das Filmmaterial 23 klebte ('Mothlight' und 'Dog Star Man' Part II ). Er machte Klebestellen bewußt 24 sichtbar ('Dog Star Man' Part I, und 'Plasht' ), überzeichnete seine Filme, zer- 22 Brakhage, Stan: Metaphors on Vision. In: Film Culture, Nr. 30, 1963 23 beide Filme: 1963 24 1963, bzw. 1965 100 kratzte sie, durchlöcherte sie, wiederholte Einstellungen, stellte sie auf den Kopf; das Bild kann negativ erscheinen, kann über- oder unterbelichtet sein, verwackelt, 25 unscharf, mehrfachbelichtet oder kaum zu sehen, da nur wenige Kader lang [...]." Die Aufzählung der materialen Operationen, denen Brakhage seine Filme unterwirft, macht deutlich, daß hier eine Bildwelt regiert, die bewußt gegen diejenige der Photo- graphie und deren Realismus gesetzt ist. Brakhage tastet den materiellen Träger der Bilder unmittelbar an. Kratzer und Löcher im Material zwingen den Betrachter dieser Filme, über den Produktionsprozeß und die materialen Gegebenheiten des Mediums nachzudenken und seine Aufmerksamkeit auf den 'Träger' der Information zu richten, statt wie gewohnt auf die Information selbst. Dieselbe Umorientierung vom Abgebildeten auf den Modus der Abbildung ist, außerhalb des Films und früher, von der künstlerischen Moderne vollzogen worden. Auf dem Terrain des Films allerdings verändert sich ihre Bedeutung noch einmal; wenn eine der grundlegenden Eigenschaften dieses Mediums nämlich in seiner 'Transparenz', d.h. seinem Abbildungsrealismus bestanden hatte, so wird mit der phy- sischen Transparenz des Materials auch die Transparenz auf das Abgebildete hin, und mit Offenlegung des Bildcharakters auch das Vertrauen in die referentielle Kraft des Mediums beschädigt. Die Betonung der Abbildungs-Fläche – etwa auch in der Bemalung des filmischen Materials – arbeitet der Tiefenillusion besonders drastisch entgegen, und sobald Brakhage die Kamera aus der Bildproduktion ausschließt, hat der Renaissanceraum seine Macht endgültig verloren. Auffällig ist, daß auch die subtileren Mittel wie Bildüberlagerungen, Negativprojek- tion und Unschärfe den filmischen Raum beschädigen. So 'robust' dieser Raum also einerseits ist, und so schwierig es ist, ihn sukzessive in Räume anderen Typs zu über- führen, so einfach scheint es, ihn schlicht außer Kraft zu setzen und seinen Zusammen- bruch experimentell vorzuführen. Ähnliche Mittel wie Brakhage haben auch andere Filmer eingesetzt – Wees nennt etwa Peterson, Conrad, Kubelka, Sharits und Mekas – und die Techniken selbst gehören inzwischen zum ästhetischen Repertoire des experimentellen Films, der sich zu einem eigenen Genre mit eigenem Publikum, eigenen Festivals und eigenen Auf- führungskonventionen verfestigt hat. Michael Snow hat auf verschiedene Weise mit 26 dem Raum experimentiert; sein Film 'Back and Forth' besteht aus sehr schnellen Schwenks der Kamera in einem Innenraum, und die Geschwindigkeit dieser 25 Scheugl, Hans; Schmidt, Ernst jr.: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Bd. 1, Ffm 1974, S. 102 26 1969, 'Back and Forth' ist ein in vielen Publikationen verwendeter Ersatztitel; Originaltitel ist ein Ikon, das eine waagerechte Linie mit zwei Pfeilenden rechts und links zeigt. 101 Schwenks wird so weit gesteigert, bis das Bild in abstrakte Quer-Lineaturen übergeht. 27 In 'La Region Centrale' arbeitet ein Automat eine lange Serie unregelmäßiger o 360 -Schwenks ab, die eine Berglandschaft in ebenfalls nahezu abstrakte Strukturen verwandeln. Beide Filme zerstören den filmischen Raum in augenfälliger Weise; eigentümlich aber ist, daß inmitten des abstrakten Farbenwirbels eine neue, vom ursprünglichen Bild völlig unabhängige Räumlichkeit entsteht; eine Art optischer Täuschung, die im heterogenen Material plastische Strukturen hervortreten läßt. Scheugl verweist darauf, daß Duchamp in einem filmischen Experiment bereits 28 1926/27 ähnliche Effekte erzielt hat. 29 Der deutsche Experimentalfilmer Nekes schließlich hat mit 'Spacecut' das hoch- abstrahierte Bild einer Landschaft in der Sierra Nevada gezeichnet, das, aus zehn- tausenden von Einzelbildern zusammengesetzt, erst in der Projektion nach und nach Kontur gewinnt. Hier ist es die Überlagerung der strukturähnlichen Bilder, die mit der Zeit eine Horizontlinie und die Textur des Bodens und des Himmels erkennen lassen. Filme wie die genannten haben den filmischen Raum hinter sich gelassen und eigene Raumgesetze etabliert; und die Rezeptionserfahrung solcher Filme macht es möglich, einen neuen, erfrischten und in neuer Weise 'fremden' Blick auf den realistischen und transparenten Raum der normalen, oder zumindest üblichen Filme zu werfen. Teilweise, wie gesagt, sind die Experimente als eine bewußte Reflexion auf die Ge- setzmäßigkeiten des Mediums entstanden, und immer enthalten sie eine Polemik gegen die Klarheit und die scheinbar voraussetzungslose Notwendigkeit der vom Medium gelieferten Bilder. Vom Film als einem Massenmedium, von seinem Versprechen der Welterschließung und den zentralen, das Medium tragenden Illusionen aber, das sei deutlich gesagt, sind solche Experimente durch einen Abgrund getrennt. Diesseits des Abgrunds kann der Raum zwar angelöst, nicht aber verabschiedet werden; und wenn der filmische Raum tatsächlich ein 'Gefängis' darstellt, so ist dieses Gefängnis in Funktion, auch wenn an seinen Gittern – intensiv und immer wieder – gerüttelt worden ist. 2.4 'Vom Sinn der Perspektive' Die letzte Recherche im Vorfeld eigener Überlegungen betritt das Terrain der Kunst- theorie. Innerhalb der Kunsttheorie nämlich ist über die Raummechanismen der Zen- tralperspektive intensiv nachgedacht worden; zum einen um die Phasen ihrer histori- 27 1970 28 Marcel Duchamp: 'Anémic Cinéma'. Der Film ist 7 Min. lang und ist mit Hilfe bemalter Glasscheiben hergestellt, die vor der Kamera rotieren. 29 1971 102 schen Herausbildung zu rekonstruieren, zum anderen um zu klären, was zentralper- spektivische Bilder von Bildern anderer Flächencodes unterscheidet. Vor allem zwei dieser Ansätze sind interessant: der Aufsatz 'Die Perspektive als "symbolische Form"', 1 den E. Panofsky 1924/25 geschrieben hat, und 'Vom Sinn der Perspektive', ein Text, 2 den B. Schweitzer 1945 veröffentlichte. Beide wollen zeigen, daß die Zentralper- spektive mit bestimmten Inhalten in Verbindung gebracht werden muß, und beide gehen, obwohl Jahrzehnte früher formuliert, über das in den Apparatustheorien The- matisierte deutlich hinaus. Wie die Apparatus-Autoren haben auch die kunsttheoretischen Rekonstruktionen zunächst die Schwierigkeit, eine scheinbare Selbstverständlichkeit noch einmal zum Problem machen zu müssen. Die technische Handhabung der Zentralperspektive, ihre Analogie zum menschlichen Blick und ihre mathematische 'Richtigkeit' schienen so gewiß, daß eine Debatte über den 'Sinn', d.h. über mögliche Gehalte dieser 'sym- bolischen Form' sich zu erübrigen schien. Das erste Anliegen also mußte jeweils sein, eine Verwunderung wiederherzustellen, die die Gewohnheit verschüttet hatte, ja, die Tatsache aufzuweisen, daß allein die Zeit und die Sehgewohnheit diese Art der Flächenprojektion akzeptabel gemacht haben "Wir berufen uns hier auf die Eindrücke des Physikers Ernst Mach. 'Ich weiß mich sehr wohl zu erinnern,' schreibt Mach, 'daß mir in einem Alter von etwa drei Jahren alle perspektivischen Zeichnungen als Zerrbilder der Gegenstände erschienen. Ich konnte nicht begreifen, warum der Maler den Tisch an der einen Seite so breit, an der anderen so schmal dargestellt hat. Der wirkliche Tisch schien mir ja am fernen 3 Ende ebenso breit als am näheren, weil mein Auge ohne mein Zutun rechnete.'" In der zentralperspektivischen Flächenprojektion also erfahren die Gegenstände spezifische Deformationen. Sie nehmen ein Aussehen an, das ihrer objektiven Gestalt und unserem Wissen um diese Gestalt widerspricht. Was wir wissen und was wir sehen also fällt in einer spezifischen Weise auseinander. Andererseits aber sind die Deformationen natürlich regelhaft, sie gehorchen einem Gesetz. Dieses Gesetz kann gelernt, und damit ebenfalls zu einem Wissensbestand werden, so daß die Deformationen voraussagbar, und damit immer weniger verblüf- fend erscheinen. Der scheinbar unteilbare sinnliche Eindruck also erweist sich als ein äußerst vermittelter; er ist abhängig von verschiedenen Wissenskomplexen, die in 1 Panofsky, Erwin: Die Perspektive als symbolische Form. In: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985 2 Schweitzer, Bernhard: Vom Sinn der Perspektive. In: Die Gestalt. Abhandlungen zu einer allgemeinen Morphologie. Heft 24, Tübingen 1953 3 Uspenskij, Boris A.: Zur Untersuchung der Sprache alter Malerei. Vorwort in: Shegin, L.F.: Die Sprache des Bildes. Form und Konvention in der alten Kunst. Dresden 1982 (O., russ.: 1970), S. 10 103 Konkurrenz zueinander aufgebaut werden müssen und in spezifischer Weise vonein- ander abhängig sind. Gestützt wird dieser Lernprozeß über die Analogie zur subjektiven Seherfahrung; auch diese Analogie aber erweist sich bei näherem Zusehen als problematisch; nicht allein, daß das zentralperpektivische Bild signifikante geometrische Unterschiede zum 4 subjektiven Seheindruck aufweist, die zitierte Kindheitserfahrung Machs zeigt auch, daß die Analogie nicht selbstverständlich erkannt, die Bildstruktur eines äußeren, materiellen Bildes also nicht ohne weiteres mit dem 'inneren' Augeneindruck ver- glichen wird. Als drittes schließlich müßte es verblüffen, daß die subjektive Wahr- nehmung mit der geometrischmathematischen 'Richtigkeit' der Abbildung so schein- bar problemlos zu vermitteln ist. Stand doch, im Alltagsbewußtsein wie in der philo- sophischen Reflexion, über Jahrhunderte der subjektive Augeneindruck für den täu- schenden 'Schein', den es zu hinterschreiten galt, wollte man zur tatsächlichen Ver- fassung der Dinge vorstoßen Fragen wie diese zeigen, daß die 'Selbstverständlichkeit' der Perspektive in eine Vielzahl von Faktoren zerfällt, deren Gewicht und deren Zusammenhang durchaus der Klärung bedürfen. Einer Klärung, die Voraussetzung dafür ist, in einem zweiten Schritt dann nach einer 'Bedeutung' oder einem 'Sinn' der Perspektive zu fragen. Panofsky wie Schweitzer – beide Kunstgeschichtler – stützen ihre Deutung auf eine historische Rekonstruktion. Ansatzpunkt ist jeweils die Kunst der Antike, beide klam- mern die vor- oder nichtperspektivische Kunst also weitgehend aus. Als Vorüberle- gung ist es deshalb sinnvoll sich zunächst zu vergegenwärtigen, einen wie außer- 5 ordentlich eingeschränkten Raum die Perspektive in der Geschichte der Kunst ein- nimmt: Weder die ägyptische, noch die römische Kunst, weder die mittelalterliche Malerei noch die östlichen Ikonen, und weder die chinesische noch die japanische Kunst kannten oder verwendeten der Perspektive ähnliche Arten der Darstellung. Es sind also nur wenige Jahrhunderte, einmal vom 5. Jh.v.Chr. bis in den Hellenismus, und dann vom 14. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in denen die Perspektive die Kunst dominierte, zudem ein geographisch äußerst eingeschränkter Teil der Welt, so daß letztlich erst die technischen Bilder die Perspektive rund um den Globus durch- gesetzt haben. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, daß die nicht-perspektivische Kunst nicht ebenfalls über Mittel der räumlichen Darstellung verfügt hätte. In einem 6 interessanten Buch über die Ikonenmalerei Rußlands etwa führt L.F. Shegin aus, 4 Die Differenz zur subjektiven Wahrnehmung (ebene Projektionsfläche vs. gewölbte, Rektifizierung usw) betonen alle in diesem Abschnitt zitierten Autoren; sie wird hier vorausgesetzt, da sie oben bereits besprochen wurde. 5 und zwar nicht allein die Zentralperspektive sondern die perspektivische Raumillusion überhaupt 6 Shegin, Die Sprache des Bildes, a.a.O. Einen guten Überblick über Shegins Theorie und die Relevanz seiner Überlegungen gerade auch für eine Relativierung der Perspektive bietet das bereits zitierte Vorwort von B.A. Uspenski in diesem Band. 104 daß die räumlichen 'Verzerrungen', die in der Ikonenmalerei auftreten, ein eigenes, in sich geschlossenes Regelsystem bilden, das in völlig eigener Weise 'Raum' indiziert. Der wesentliche Unterschied dieses Systems zur perspektivischen Darstellung besteht darin, daß der Beobachtungsstandort nicht als starr, sondern gerade als bewegt an- genommen wird. Portraits etwa zeigen neben der frontalen Ansicht auch Teile der Wangen, eine Sicht also, die eine genaue, den Gegenstand umrundende Beobachtung imitiert. Auch die Darstellung architektonischer Versatzstücke verändert sich völlig; gerade Linien erscheinen gewölbt, Größenverhältnisse verändert, und es treten Über- schneidungen auf, die außerhalb dieses Codes nicht zu erklären wären. Ähnliche Rekonstruktionen sind auch für die chinesische Malerei und für andere Formen der Flächenprojektion vorgenommen worden, die dem westlichen Auge zu- nächst als willkürlich erscheinen müssen. Es wäre also gefährlich, allein aus der Tat- sache ihrer historischen Durchsetzung so etwas wie eine 'Berechtigung' oder einen Wahrheitsanspruch der Perpektive abzuleiten; fruchtbarer scheint es, von einer Kon- kurrenz der Flächencodes auszugehen, einer Konkurrenz, die das Feld der jeweils realisierten 'Bedeutungen' zwar unmittelbar betrifft, für deren letztendliche Entschei- dung externe, den Diskurs bestimmende Machtformationen aber zumindest ebenso wichtig sind wie die Wahrheit oder die Unwahrheit der jeweils realisierten Gehalte. Tritt man nun in die historische Rekonstruktion der Phasen ein, die die Perspektive zu ihrer Herausbildung durchlief, ist als erste dieser Phasen die Antike zu betrachten. Die antike Kunst, an der die Renaissancekünstler sich später orientieren sollten, hatte sowohl in der Malerei als auch im Relief bereits Vorformen der räumlich-perspektivi- schen Darstellung ausgebildet. Wichtig nun ist, daß diese Vorformen sich von der ausgebildeten, mathematisch- konstruierten Perspektive der Renaissance erheblich unterschieden. Die antike Perspektive, bis weit ins 'klassische' 5. Jahrhundert hinein, war zunächst eine 'Kör- perperspektive'. "Alle Körper werden perspektivisch gesehen, d.h. sie erscheinen in Schräg- ansichten, Verkürzungen, verlorenem Profil und bewegen sich scheinbar frei im dreidimensionalen Raum. Es fehlen aber alle Merkmale einer einheitlichen Bild- perspektive: Verkleinerung der entfernten Gegenstände, Konvergenz der Par- allelen, Horizont und Augenpunkt. Jeder Körper hat vielmehr seine Perspektive, die an der Körpergrenze aufhört und nicht auf den allgemeinen Raum übergreift. Die Größenverhältnisse zwischen den Körpern und die Richtungsgerade entspre- chen den objektiven Maßverhältnissen der Naturdinge, nicht den Beugungen und 7 Verzerrungen der menschlichen Sehapparatur." Die Gegenstände und der sie umgebende Raum also werden nach völlig unterschiedli- 7 Schweitzer, a.a.O., S. 13 105 chen Regeln behandelt. Den Grund dafür sehen Panofsky/Schweitzer in der grund- sätzlichen Weltanschauung dieser Zeit, die den Raum entweder als leer, gestaltlos – ja, gestaltfeindlich – von der gestalteten Welt absetzte (Platon), oder zumindest als in- kommensurabel, als die letzte Grenze eines eigenen, allergrößten Körpers, nämlich der äußeren Himmelssphäre, auffaßte (Aristoteles). Dies drückt aus, "daß das antike Denken noch nicht vermochte, die konkret erlebbaren 'Eigen- schaften' des Raumes, und namentlich den Unterschied zwischen 'Körper' und 'Nichtkörper' auf den Generalnenner einer 'substance étendu' zu bringen: die Körper gehen nicht auf in einem homogenen und unbegrenzten System von Grö- ßenrelationen, sondern sie sind die aneinandergefügten Inhalte eines begrenzten 8 Gefäßes." Von heute aus müßten man sagen, daß es sich bei der frühen griechischen Kunst um die Darstellung einer immer schon 'semantisierten' Welt handelt. Die Gegenstände sind als solche konstituiert, bevor sie in die Abbildung eingehen, das besondere Inter- esse an ihnen hat sie gegen den Hintergrund abgesetzt; der Hintergrund wird, etwa im Fall der Vasenmalerei, auf ein einheitliches Rostrot reduziert. Das Interesse also gilt zunächst den Gegenständen selbst, und erst dann ihrem Verhältnis zueinander; das Verhältnis zum Umraum, zum Kontext des Dargestellten wird nicht repräsentiert. Von dieser ersten Phase setzen Panofsky/Schweitzer eine zweite Phase der antiken Kunst ab, die etwa um 460 v. Chr. begann und im Verlauf mehrerer Jahrzehnte zu einer 'Raumperspektive', d.h. zur Ordnung aller Bildgegenstände, auch der leblosen, im perspektivischen Bildraum, führte. "Höchst wichtig ist nun der Ort, von dem diese Eroberung der Raumperspektive ihren Ausgangspunkt genommen hat. Es war dies weder die Wandmalerei noch die Tafelmalerei, sondern der Bühnenprospekt. [...] Die gemalten Hintergründe des griechischen Theaters stellten vorzugsweise eine Palastfassade oder Häuser dar, deren Säulen und Kapitelle, vorspringende Flügel oder Dächer, Türen, Fenster und Gesimse durch das Mittel der perspektivischen Darstellung Körperlichkeit und 9 Raumvolumen vortäuschten." Die Illusionsmalerei auf den antiken Bühnen ist von verschiedenen Zeitgenossen und 10 insbesondere von Platon hart angegriffen worden; interessant aber ist, daß es gerade die Architektur, bzw. architektonische Versatzstücke waren, die zwischen der Welt der Gegenstände und dem 'leeren' Raum eine erste Verbindung hergestellt haben. 8 Panofsky, a.a.O., S. 110 9 Schweitzer, a.a.O., S. 15f (Hervorh. H. W.) 10 Platon benutzte das Beispiel der Malerei zur Illustration der von ihm verachteten nachahmenden Funk- tion von Dichtung und Kunst überhaupt: "Auf diese Schwäche unserer Natur hat es nun die perspektivische Malerei abgesehen und läßt kein Mittel der Täuschung unversucht und ebenso die Gauklerkunst sowie die vielen andern Blendwerke dieser Art." (Platon: Der Staat. Über das Gerechte. 10 Buch. Hamburg 1961, S. 396 (Der Text entstand 374 v. Chr.)). 106 Der Raumeindruck großer Bauten, lang durchlaufender Raumkanten und exakt kon- struierter Innenräume nämlich scheint notwendig, um räumliche Tiefe als mathema- tisch-gesetzmäßig überhaupt erleben zu können. Die zweite Natur, nicht die erste scheint die Perspektive zu lehren. Bereits im 5. Jahrhundert dann stand die wissenschaftliche Theorie der Perspektive fest. "Um so auffallender ist es, daß die künstlerische Perspektive mit der Wissenschaft nicht Schritt hielt. Sie blieb auf die Bühnendekoration beschränkt. Von der reinen Malerei wurde sie trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zunächst abgelehnt. Nur sehr zögernd drang sie auch dort ein, und es hat ganze hundert Jahre gedauert, 11 bis sie sich auch die Wand- und Tafelmalerei erobert hat." Und auffallend ist zweitens, daß die perspektivische Konstruktion den Bildinhalt auch dann nie vollständig, in einer der Renaissance vergleichbaren Weise, ergriffen hat. "Die wichtigste Abweichung ist, daß sie [die antike Perspektive] das Bild nicht von einem einzigen Blickpunkt aus aufbaut, wie es der Konstruktionsperspektive ent- spräche, sondern eine Mehrzahl von Blickpunkten bestehen läßt. Das Auge des Betrachters wird nicht in einem Standpunkt fixiert, sondern wandert dem Bild entlang, indem es von einzelnen Bildgegenständen, die zugleich Brennpunkte des Aufbaus sind, gefangen genommen wird und von diesen aus ihre räumliche Umgebung erfaßt. [...] [Sie] ist also nicht Simultanperspektive, sondern bleibt [...] 12 Sukzessionsperspektive." 13 Der Raum, entsprechend, bleibt ein 'Aggregatraum', und die Kenntnis der optischen Gesetze scheint als eine eher 'unverbindliche Konstruktionshilfe' benutzt worden zu 14 sein. Auf welche Ursache nun wird man das Zurückbleiben der künstlerischen Perspektive gegenüber ihrer theoretischen Durchdringung, und die zögernde Übernahme der in der Bühnenmalerei bereits entwickelten Techniken zurückführen müssen? Schweitzer bietet eine ebenso weitreichende wie plausible Erklärung an, indem er auf den unge- heuren Skandal verweist, den der Übergang zur perspektivisch-räumlichen Darstel- lung für das Denken und die theoretisch-philosophischen Grundvorstellungen bedeu- tete. Und dieser Skandal betraf vor allem das Verhältnis zu den dargestellten Objekten. Die Körperperspektive, das wurde gesagt, hatte die Objekte in relativer Autonomie abgebildet; jedes Objekt hatte seine eigene Räumlichkeit, stand für sich und konnte, 11 Schweitzer, a.a.O., S.16 12 ebd., S. 14 (Erg. H.W.) 13 ein Begriff von Panofsky, a.a.O., S. 109 14 "Sie [die griechische Perspektive] ist zwar grundsätzlich Raumperspektive, aber sie ist nicht streng nach den Gesetzen der Optik von einem Blickpunkt aus konstruiert; sie hält sich vielmehr in einer Annähe- rung an die uns geläufige geometrische Konstruktion der Bildperspektive. Sie kennt die Gesetze der Optik; aber sie verhält sich in Freiheit zu diesen Gesetzen". (Schweitzer, a.a.O., S. 14 (Erg. H.W.)) 107 obwohl bewußt präsentiert, sich dem betrachtenden Blick gegenüber behaupten. Mit dem Übergang zur Raumperspektive nun bricht dieses über lange Zeit stabilisierte Kräfteverhältnis ein: Nun werden die Gegenstände dem Blick des Betrachters unter- worfen; der 'subjektive' Blick beginnt, die Abbildung zu dominieren. Das Zögern in der Entwicklung der griechischen Perspektive also muß als eine Art Skrupel verstanden werden; als der Wunsch, an der Eigenständigkeit und 'Objektivität' der gegenständlichen Welt festhalten zu wollen; Schweitzer schreibt: "Die Spannung zwischen dem objektiven Fürsichbestehen der Gegenstandswelt, wie sie alle vor- und nichtperspektivische Kunst vorträgt, und der subjektiven Wahrnehmungswelt der Perspektive wie sie seit 460 in der Kunst allmählich ent- steht, wird nicht ganz aufgehoben, sondern in das Bild hineingenommen. [...] Griechische Raumperspektive hält als Sukzessionsperspektive gewissermaßen die Mitte zwischen reiner Körperperspektive und rein optischer Perspektive. Letzte- nendes bleibt noch ein Stück Wirklichkeit im Bildgegenstand fundiert; das Seiende 15 geht nicht ganz verloren." Geht also, so wird man in der Umkehrung fragen müssen, den technischen Bildern, die auf die 'rein optische Perspektive' festgelegt sind, gerade das verloren, was sie besonders selbstbewußt beanspruchen? Das Seiende in seinem Sosein, und 'fast ohne menschliches Zutun', abzubilden? Die Frage selbst wurde bereits gestellt; von der hier referierten Überlegung aus aber wird deutlich, daß sie nur auf dem Hintergrund einer allgemeineren wird beantwortet werden können, der Frage nach dem Verhältnis, das 'das Subjekt' (der subjektive Blick) zur Gesamtheit der Objekte unterhält. Schweitzer lokalisiert den Skandal, den die Perspektive für die griechische Wahrneh- mung bedeutete, auf der Ebene sehr grundsätzlicher, letztlich philosophischer Ein- stellungen. Faßbarer, und dennoch vollständig kompatibel mit dem bisher Referierten läßt sich die Veränderung darstellen, wenn man sich die konkrete Bühnensituation vergegenwärtigt, die die Perspektive als Prospektmalerei hervorgebracht hat. Griechische Theater waren Amphitheater, gruppierten ihr Publikum also im Halbrund um die Bühne, auf der während der jährlichen Theaterfestspiele vom Morgengrauen 16 bis zum Abend Theater gespielt wurde. Das Halbrund der Steinsitze, das nahezu die gesamte Stadtbevölkerung aufnehmen konnte, erscheint uns heute als ein Symbol jener 'Polis', die ihre Bürger wie zur politischen Selbstverwaltung, so eben auch zu 17 großen zentralen Kulturereignissen von gleich zu gleich zusammenführte. Wie aber 15 Schweitzer, a.a.O., S. 15 16 Beispiel sei das Theater in Athen, wo im Jahr 413 v. Chr. im Verlauf von 4 aufeinanderfolgenden Tagen 15 vollständig neue Stücke gespielt, und von 14.000 Menschen gesehen wurden. 17 Daß die 'demokratische' griechische Gesellschaft ihre Ökonomie über Sklavenarbeit organisierte, wird in Darstellungen dieser Art meist vernachlässigt. 1 08 paßt zu dieser Vorstellung ein Bühnenbild, das – perspektivisch konstruiert – die weni- gen in der Mitte sitzenden Zuschauer eindeutig privilegierte? Aufschluß in dieser Frage kann eine Untersuchung bringen, den S. Melchinger 1974 18 veröffentlichte. Thema dieses Textes ist der Umbau des Athener Dionysostheaters; eine aufwendige Baumaßnahme, die die Athener um 460 durchführten, für die die For- schung aber bis heute keine völlig schlüssige Begründung beibringen konnte. In einer umfangreichen Rekonstruktion, die archäologische Befunde über die antiken Spiel- stätten ebenso einbezieht wie Textanalysen der damals gespielten Stücke und theater- praktische Überlegungen, stellt Melchinger die These auf, es seien Notwendigkeiten der Bühne selbst gewesen, ein neuer Typus von Stücken und eine veränderte Form 19 Theater zu spielen, die den Umbau erzwungen hätten. Die ursprüngliche Bühne der Anlage war quer orientiert. Sie hatte zwei seitliche Zugänge, einen tief gelegenen im Westen und einen erhöhten im Osten; die Bühne selbst war durch eine Terrassenmauer begrenzt, die ein niedriges technisches Gebäude oder Zelt verbarg, das der Vorberei- tung der Schauspieler diente. Der Umbau nun, so Melchingers These, wurde nötig, als die Querorientierung der Bühne zugunsten einer neuen, nun symmetrisch-zentrierten Anordnung aufgegeben wurde. Um 460 wurde das erste Stück gespielt, das drei statt bisher zwei Protagonisten vorsah, die ursprüngliche Zahl von 12 Choreuten wurde auf 15 und damit auf eine ungerade Zahl erhöht, was eine symmetrische Anordnung, gruppiert um den Chor- führer erlaubte, und mit der Orestie entstand 458 das erste Stück, das ein Gebäude im Bühnenhintergrund voraussetzte. Dieses Gebäude vor allem zeigt an, daß tiefgrei- fende, ja, grundsätzliche Veränderungen den Umbau motivierten. Nicht allein, daß nun Auftritte aus einem Portal, in der Bühnenmitte also möglich waren, und speziell, wie Melchinger hervorhebt, Überraschungseffekte, die eine völlig neue Zeitstruktur in die Stücke hineintrugen; das erste Gebäude, das zunächst aus einer leichten Holzkon- struktion bestand, markiert auch den Beginn der Bühnenmalerei, die als 'Skenographie' 20 der Perspektive für lange Zeit den Namen gab. "Niemand weiß, seit wann auf der Bühne solche Tafeln (pinakes) verwendet worden sind; aber irgendwann müssen sie eingeführt worden sein; das war nicht möglich, ehe es Wände gegeben hatte, an denen sie befestigt waren, also Häuser; jetzt gab es diese, und die nackten 18 Melchinger, Siegfried: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit. München 1974 19 Die Thesen Melchingers scheinen durch die archäologischen Funde nicht völlig zu erhärten, seine Met- hodik und seine Ergebnisse entsprechend sind nicht ohne Widerspruch geblieben; weder aber liegt es im Bereich der vorl. Arbeit, in diesen Streit einzutreten, noch verliert die Kernthese Melchingers durch methodische Einwände ihre Kraft. 20 Im Altgriechischen gab es keinen eigenen Begriff für die Perspektive; jede räumlich-perspektivische Darstellung wurde mit 'Skenographie' bezeichnet. 109 Holzwände riefen geradezu nach Malerei. Bei Damianos lesen wir: 'Die Skeno- graphie ist ein Teil der Optik und untersucht, wie die Wiedergabe von Häusern in der Malerei beschaffen sein muß'. [...] Die [alte] Bühne [...] bedurfte keiner Male- rei: die Zelte waren echt; die Grotten wurden so echt wie möglich den Felsen hin- zugefügt; Bäume gab es im Hain. Aber jetzt wurden Häuser gebaut. Ihre Wände, Säulen, Friese, Gesimse, Decken, Türen waren aus blankem Holz; sie mußten bemalt werden, wenn sie als das erkennbar werden sollten, was sie vorzustellen hatten: Tempel, einfache oder prächtige [...], Hütten oder Paläste. Was Agathar- chos erfunden hat, war die Kunst der täuschenden Schatten. So malte er wohl auf die hölzernen Säulenschäfte, was der Meißel sonst in den Stein schnitt: Kaneluren, 21 Rillen, Kapitelle [...]". 22 Die Entwicklung der zentralperspektivischen Malerei also trat nicht isoliert, sondern im Zusammenhang einer sehr grundlegenden Umstrukturierung auf, die die Textvor- lagen, das gesamte Bühnengeschehen und schließlich auch die Architektur der Bühne selbst ergriff. An der Bereitschaft, die Steine des Theaters umzubauen, läßt sich able- sen, welche Bedeutung dieser Veränderung zugemessen wurde. Worauf aber zielte der Umbau als ganzer ab? Kern der Veränderung, wie gesagt, war eine Zentrierung des Geschehens, die Abwertung der Querachse und eine neue Betonung der Tiefe der Bühne. Damit wurde diejenige Achse wichtig, die die Bühne mit dem Publikum ver- band. Und tatsächlich scheint das Publikum der eigentliche Adressat der Änderung gewesen zu sein. Alle Neuerungen nämlich konvergieren darin, daß sie die Apellfunktion des Dargebotenen erheblich verstärkten und, allgemein gesagt, ein völlig verändertes Verhältnis zum Zuschauer anzeigen. Für die Bühnenmalerei formuliert dies Melchin- ger so: "Die Perspektive setzt voraus, daß der Bühnenbildner [...] sich in den Zuschauer- raum begibt und prüft, wie sich das Spiel in seinem Bild zeigt: 'So sehen wir ihn, den Architekten der Skene, im Polygon des Zuschauerraums umherwandern, über die Treppe zur Höhe der oberen Ränge steigen, hier und da auf einer Stufe sitzen, immer den Spielplatz im Blick, dessen neue Form eine bis dahin völlig ungekannte 23 Rücksicht auf den Zuschauer forderte.'" Auf der einen Seite also eine 'neue Rücksicht', eine Umorganisation des Bühnen- geschehens 'auf den Zuschauer hin'; die zweite Wirkung aber war, daß die neue Organisation nun tatsächlich einen bestimmten Teil des Publikums in vorher nicht gekannter Weise privilegierte. Man wird also annehmen müssen, daß der 'Skandal' der Perspektive auch ein politischer war, zumindest insofern, als bestehende soziale 21 Melchinger, a.a.O., S. 31ff (Erg. H.W.) 22 immer berücksichtigt, daß 'zentralperspektivisch' hier nicht die ausgebildete Renaissanceperspektive meint. 23 ebd., S. 34 1 10 24 Hierarchien in der Sitzordnung des Publikums nun ihr Abbild fanden. Daß dieser Art der Flächenprojektion ein Aspekt von Macht und von Ausschluß anhaftet, jedenfalls dürfte kaum je deutlicher geworden sein als in jener tatsächlichen Spaltung, die sie in dieses frühe Publikum hineingetragen hat, in der Trennung in jene, die 'richtig', und jene anderen, die 'nicht richtig' saßen. Die Guckkastenbühne und der Film haben den Unterschied als konkret sozialen wieder eliminiert, indem sie nur die frontalen, 'privilegierten' Sitze übriggelassen haben; um den Preis allerdings, daß das Publikum 'sich selber aus dem Blick verloren hat' und den Charakter einer Versammlung weitgehend einbüßte. Auf den Herrschaftsaspekt der Perspektive also wird zu achten sein, auch wenn man ihn in völlig verändertem Gewand wird wiederauffinden müssen Kehrt man von Melchinger und der konkreten Realität der antiken Bühne zu der Frage zurück, welche 'Bedeutungen' man der perspektivischen Flächenprojektion wird zuordnen müssen, ist nun zunächst die zweite Phase ihrer historischen Herausbildung darzustellen; auch die Renaissancekünstler nämlich brauchten relativ lange Zeit, um die antiken Muster zu adaptieren, sie in Wechselwirkung mit der geometrischen Theorie fortzuentwickeln und schließlich auf jene mathematisch exakte Form zu bringen, die dann für etwa vierhundert Jahre, bis zum Anbruch der künstlerischen Moderne, den verbindlichen Flächencode darstellen sollte. Auch das Zögern und die Hemmnisse innerhalb dieser zweiten Entwicklungsphase lassen Rückschlüsse auf die Inhalte, auf den 'Skandal' der Perspektive zu. Zunächst muß man sich vergegenwärtigen, daß mit der griechischen Kunst auch die Ansätze räumlich-perspektivischer Darstellung untergegangen waren; weder die römische, noch die christlich-mittelalterliche Kunst war – außerhalb der Architektur – mit dem Raum befaßt; das inhaltliche Anliegen, die mit ihm verbundenen Konnota- tionen und auch die Darstellungstechniken waren weitgehend in Vergessenheit geraten. Weitgehend, allerdings nie völlig; Panofsky zeigt, daß vor allem die byzanti- nische Kunst einzelne Elemente der räumlichen Darstellung immer bewahrte, so daß die Renaissance hier und in der Raumauffassung der gotischen Plastik das Material für 25 ihren Neuansatz vorfand. Giotto und Duccio werden von Panofsky als die ersten genannt, die die Synthese dieser Elemente vollzogen. Ihre Bilder zeigen geschlossene Innenräume, die erstmals wieder deutlich als Hohlkörper empfunden werden. Dies "bedeutet eine Revolution in der formalen Bewertung der Darstellungsfläche: diese ist nun nicht mehr die Wand oder die Tafel, auf die die Formen einzelner Dinge und Figuren aufgetragen sind, sondern sie ist wieder die durchsichtige Ebene, durch die hindurch wir in einen, wenn auch noch allseitig begrenzten Raum hin- 24 Aus keinem der zitierten Texte geht hervor, ob dieser Aspekt bei zeitgenössischen Autoren diskutiert worden ist 25 1266-1337 bzw. 1255-1309 111 einzublicken glauben sollen [...]. Der seit der Antike versperrte 'Durchblick' hat sich aufs neue zu öffnen begonnen, und wir ahnen die Möglichkeit, daß das Ge- mälde wieder zum Ausschnitt aus einer unbegrenzten, nur der Antike gegenüber 26 fester und einheitlicher organisierten Räumlichkeit wird." Der Weg dahin allerdings sollte mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nehmen; zunächst nämlich sind es nur einzelne Teile des Bildes, die die Tiefe des Raumes 27 anzeigen; Gegenstände, wie der Thron der Maria oder Raumkästen, die das Bild als ganzes noch in keiner Weise organisieren. Zudem konvergieren die Tiefenlinien dieser Gegenstände noch nicht in einem Punkt, ja, ihre einzelnen Ebenen weisen in sich noch verschiedene Fluchtpunkte, bzw. Fluchtzonen auf. Der Weg zur mathematisch 'kor- rekten' Perspektive kann deshalb als ein Prozeß der Vereinheitlichung dieser Einzel- perspektiven beschrieben werden. Wichtige Zwischenstufen waren etwa die Werke 28 der Brüder Lorenzetti oder, im Norden, die Bilder Jan van Eycks. Der Gestaltung der Grundfläche kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Zunächst endete diese Fläche am Bildrand; schon bald aber drängte die perspektische Darstel- lung dahin, die Grundfläche als der Tendenz nach unbegrenzt anzusehen, und den Bildrahmen entsprechend als einen 'zufälligen' Ausschnitt, dessen Grenze das Abge- bildete willkürlich durchschneidet. "[Bereits bei Lorenzetti ist die Grundebene] nicht mehr die Bodenfläche eines rechts und links abgeschlossenen Raumkastens, der mit den seitlichen Bildrändern zu Ende ist, sondern die Grundfläche eines Raumstreifens, der, wenn auch hinten noch durch den alten Goldgrund und vorn noch durch die Bildebene begrenzt, doch "29 seitlich beliebig weit ausgedehnt gedacht werden kann. Zum einen also stellt die Perspektive die Frage, ob die Sphäre des Abgebildeten als endlich, oder vielmehr als unendlich gedacht werden soll; ein Problem, das auch in der Tiefe des Bildes sich wiederholen wird, sobald alle Linien in einem gemeinsamen Fluchtpunkt vereinigt sind, sowie im Vordergrund, sobald die Grundfläche das Bild 30 überschreitet und auf den Standort des Betrachters zuzulaufen scheint. Zum ande- ren aber übernimmt die Grundfläche nun eine völlig neue, die Bildgegenstände ord- 26 Panofsky, a.a.O., S. 116 27 Beispiel sei die 'Madonna di Ognissanti' von Giotto (1310) oder die 'Maestà' von Duccio (1308-11); abgebildet z.B. in: Malerei Lexikon. Geschichte der Malerei von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zug 1986, S. 267, bzw. S. 189 28 L., Ambrogio, um 1290-1348 und L., Pietro, um 1280-1348. 29 Panofsky, a.a.O., S. 117 (Erg. H.W.) 30 "In Jan van Eycks Kirchenmadonna [...] fällt der Beginn des Raumes nicht mehr mit der Grenze des Bildes zusammen, sondern die Bildebene ist mitten durch ihn hindurch gelegt, so daß er dieselbe nach vorn zu überschreiten, ja bei der Kürze der Distanz den vor der Tafel stehenden Beschauer mitzuum- fassen scheint". (Panofsky, a.a.O., S. 119) 112 nende Funktion: "Die Grundebene dient nunmehr deutlich der Absicht, uns sowohl die Maße als auch die Distanzen der auf ihr angeordneten Einzelkörper ablesen zu lassen. Das schachbrettartige Fliesenmuster [...] läuft jetzt tatsächlich unter den Figuren hin und wird dadurch zum Index für die Raumwerte [...]. Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, daß ein in diesem Sinne verwendetes Fliesenmuster (ein von nun an mit einem erst von hier aus ganz verständlichen Fanatismus wiederholtes und abgewandeltes Bildmotiv) gleichsam das erste Beispiel eines Koordinatensystems darstelle, das den modernen 'Systemraum' in einer künstlerisch konkreten Sphäre veranschaulicht, noch ehe das abstrakt-mathematische Denken ihn postuliert hat- 31 te". Die Krisenzone der Grundfläche lag dabei im Randbereich; relativ lange Zeit wurde zwar die Mittelzone nach dem Fluchtpunktverfahren konstruiert, die Randorthogona- len aber entweder verdeckt oder paralleler konstruiert, als der Fluchtpunkt es verlang- te; "es ist, als ob es den Künstlern geradezu widerstrebt[e], auch die seitlichen Tiefen- linien so stark zu drehen, daß sie demselben Punkt zustreben wie die mittleren. Erst etwa auf der Stilstufe der Eyck [...] scheint die vollkommen einheitliche Orientie- 32 rung der ganzen Einzelebene [...] mit Bewußtsein verwirklicht worden zu sein." Widerstände wie dieser zeigen, wie schwer es war, die neue Raumauffassung gegen die tradierten Sehgewohnheiten durchzusetzen. Nach wie vor behauptete das male- rische Auge sich gegen die mechanische Konstruktion und stellte das eigene Raum- gefühl höher als die innere Logik und die Kohärenz des zugrundeliegenden Systems. Eine Wechselwirkung zwischen der geometrischen Theorie und der malerischen Pra- xis scheint es ohnehin nur in Italien gegeben zu haben. Etwa um 1420 wurde dort die 33 'construzione legittima' entwickelt, die erste Theorie, die den einheitlichen Flucht- punkt geometrisch begründete. Die Malerei griff diese Konstruktionslehre auf, und mit Masaccios berühmtem Dreifaltigkeitsfresco (1426-28) schließlich hatte die Kunst die Stufe der exakt und einheitlich konstruierten Perspektive erreicht. Im Norden war es allein die malerische Praxis, die die Entwicklung vorantrieb; und 34 hier war es, wie man annimmt, Dirk Bouts, der das erste Bild gemalt hat, das nach den neuen Maßstäben als geometrisch 'korrekt' bezeichnet werden kann. Auch damit aber war die Perspektive noch bei weitem nicht durchgesetzt; denn auch 31 ebd., S. 11 32 ebd., S. 119 (Erg. H.W.); das Zitierte bezieht sich auf die Situation im Norden Europas, Panofskys Bei- spiel ist Jan Eycks 'Madonna v. d. Paele' (1436). 33 Die erste Ausformulierung dieser geometrischen Theorie wird dem Architekten und Bildhauer Bru- nellesco (1377-1446) zugeschrieben. 34 1410(1420)-1475; eines seiner bekanntesten Bilder ist der Abendmahlsaltar in der Peterskirche in Lö- wen (1464-67). 113 in der Folge entstanden Bilder, die an Raumproblemen nur wenig interessiert waren, und "in Deutschland vollends scheint, von den Werken des halb italienischen Pacher abgesehen, im ganzen XV. Jahrhundert kein einziges richtig konstruiertes Bild entstanden zu sein – bis, namentlich durch die Vermittlung Albrecht Dürers, die "35 exakt mathematisch begründete Theorie der Italiener aufgenommen wurde. Es ist also ein ebenso langer wie widersprüchlicher Prozeß, bis die Perspektive als ein verbindlicher Code der Flächenprojektion sich etabliert hatte; ein Prozeß, in dem das Wissen um geometrische Gesetzmäßigkeiten und das Vertrauen in deren 'Objektivität' eine ebenso große Rolle spielte wie die Überwindung von Widerständen, die sich in Traditionen – durchaus also inhaltlich und nicht allein im Festhalten an 'defizitären Formen der Darstellung' – begründeten. Noch einmal, und nun auf dem Niveau der entwickelten Perspektive, ist deshalb zu fragen, welche Bedeutungen und Inhalte die perspektivische Flächenprojektion in die nun 'korrekt' konstruierten Bilder einbrachte. Die erste Neuerung betrifft die Zeit- struktur der Bilder: "Die Perspektive hat es [...] auch, so wenig das beachtet zu werden pflegt, mit der Zeit zu tun. Denn sie bringt eine neue Aktualität des Bildganzen. [...] In der vor- perspektivischen Kunst [...] waren die Teile vor dem Ganzen da; Raumperspektive aber heißt, daß das räumliche Ganze vor den Teilen, nämlich den dargestellten Teilen, vorhanden ist [...]. Weil aber das Ganze sich einem Blick eröffnet, wirkt es als Momentbild, und weil es in einem 'Augenblick' zusammengefaßt erscheint, 36 trägt es in sich die Plötzlichkeit jeder sinnlichen Erscheinung." Die Plötzlichkeit, die als Eigenschaft der Photographie immer wieder hervorgehoben worden ist, ist also im Flächencode der Perspektive bereits angelegt. So könnte man sagen, daß eine künstlerische Form der Bildauffassung – der künstlerische Entwurf einer bestimmten Zeitstruktur – eine Technik der Bildproduktion nach sich gezogen hat, die dann tatsächlich die instantane Produktion von Bildwerken ermöglichte. Ver- bindungen wie diese sind mehr als wichtig, wenn die Entwicklung der technischen Medien in eine allgemeinere Theorie der kulturellen und gesellschaftlichen Entwick- lung eingebunden, und von dem Schein befreit werden soll, sie sei durch die isolierte Rationalität eines ausschließlich technischen 'Fortschritts' bestimmt. Der zweite Komplex neu konstituierter Bedeutung weckt ebenfalls Assoziationen zur Photographie: im zentralperspektivischen Bild nämlich spielt der Zufall eine neue und wichtige Rolle. Der Rahmen, das wurde gesagt, durchschneidet nun 'zufällig' das Kontinuum des Abgebildeten und die bewußte Komposition des Bildes wird durch die 'Wahl der Ansicht' abgelöst. 35 Panofsky, a.a.O., S. 119 36 Schweitzer, a.a.O., S. 20 (Hervorh. H.W.) 114 "Je ausschnitthafter [...] mit der sich entwickelnden Perspektive das Bild wurde und die geschlossene Komposition ihre zusammenfassende Kraft an die Per- spektive abgab, je mehr sich das Bild einem scheinbar zufällig sich einstellenden Augeneindruck anglich, desto mehr mußte es die scheinbar verlorene Flächen- 37 konzentration in der räumlich-zeitlichen Einheit der Perspektive wiederfinden." Die Perspektive also stellt eine Einheit her, die vorher mit den Mitteln der Komposi- tion erreicht werden mußte; und umgekehrt entlastet die Perspektive die Bildkom- position, bis, eben auf der Stufe der Photographie, auch solche Gegenstände im Bild akzeptabel werden, die ihre Anwesenheit nicht der Intention des Künstlers verdanken. Als drittes und vor allem aber ist zu sagen, daß die entwickelte Renaissanceperspektive die Spannung zwischen der 'Objektivität' und der 'Subjektivität' der Darstellung ver- schärft. Wenn die Abkehr von der griechischen Körperperspektive bereits einen Ver- lust an Eigengesetzlichkeit auf der Seite der Objekte bedeutet hatte, so wird nun die dem Menschen gegenüberstehende Dingwelt endgültig nach dem Maßstab seines Auges organisiert. Die Perspektive, schreibt Schweitzer, "bedeutet Anpassung der Dinge an das Auge des Betrachters. Die Objekte im Bild erleiden einen Verlust an Eigengesetzlichkeit, und das Gesetz der Darstellung wan- 38 dert von jenen zum aufnehmenden Subjekt." Und gleichzeitig wird dieses Subjekt umdefiniert; denn wo die griechische Raum- perspektive noch von einer sukzessiven Wahrnehmung und multiplen Beobachtungs- standorten ausgegangen war, das Publikum hierarchisierte, es als Kollektiv aber bestehen ließ, wird der Betrachter nun als unbewegt, vor allem aber als einsam adressiert. Aus dem Kollektiv der Zuschauer ist der singuläre 'ideale Betrachter' geworden und Schweitzer schreibt lapidar: "Der Mensch als Empfänger des Bildes verwandelt sich in das neu eingesetzte Individuum, auf das die Bildstruktur abzielt, weil erst in seinem Auge die Linien 39 der Darstellung zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschießen." Dieser 'Subjektivierung' aber steht – quasi komplementär – eine 'Objektivierung' gegenüber, insofern die Perspektive eine neue 'Distanz schafft zwischen den Men- schen und den Dingen', den Raum in die Darstellung miteinbringt und das Bild einer rationalen und kohärenten Regel unterwirft. Und die Mit-Thematisierung des Raumes ist tatsächlich ein Gewinn: "[denn nun geht] die Wesenhaftigkeit der Bildgegenstände [...] in der neuen Realität des Erscheinungszusammenhanges auf, der sich in der Summe seiner hundertfältigen Raumbeziehungen erschließt. In dem Zurückgehen auf den Augeneindruck liegt [auch] eine neue Wahrhaftigkeit. Sie liegt in dem 37 ebd., S. 20 38 ebd., S. 18 39 ebd., S. 18 115 Verzicht auf die die Objekte isolierende Erfassung und befreiende Deutung ihrer Wesenheit in der vorperspektivischen Kunst und in dem Zurückgeworfensein auf die verwirrende Fülle und Problematik des in optischer Einheit sich darbietenden 40 Wahrnehmungszusammenhanges." Wenn die Welt der Körperperspektive also eine 'immer schon semantisierte' genannt werden konnte, so nimmt die Perspektive diese 'menschliche Zutat' ein Stück weit zurück; das perspektivische Bild scheint ohne die Konstitution von Objekten auszu- kommen, und statt vordefinierter Gegenstände scheint sie ein Raumkontinuum zu präsentieren, das in der 'verwirrenden Fülle' seiner Beziehungen unmittelbar Realität 41 zu spiegeln scheint. Auffällig nun ist, daß sowohl Schweitzer als auch Panofsky zwischen den Tendenzen der 'Subjektivierung' und der 'Objektivierung' eigentümlich unentschieden bleiben. "So läßt sich", schreibt Panofsky, "die Geschichte der Perspektive mit gleichem Recht als ein Triumph des distanziierenden und objektivierenden Wirklichkeits- sinns, und als ein Triumph des distanzverneinenden menschlichen Machtstrebens, ebensowohl als Befestigung und Systematisierung der Außenwelt, wie als 42 Erweiterung der Ichsphäre begreifen", um die Entscheidung dann schließlich dem einzelnen Künstler und seinem inhaltlichen Anliegen zu übertragen. Das Problem selbst aber ist damit nur scheinbar entschärft; denn sofort meldet es sich wieder zu Wort, wenn Panofsky fortfährt: "In allen diesen Fragen steht, um einen modernen Terminus zu gebrauchen, ein 'Anspruch' des Gegenständlichen der Ambition des Subjektiven gegenüber." Und: "[Die Perspektive] mathematisiert [den] Sehraum, aber es ist eben doch der 43 Sehraum, den sie mathematisiert." Wie also kann die Frage nach dem 'Sinn' der Perspektive beantwortet werden? Ver- längert man die bei Panofsky und Schweitzer vorgeführten Kriterien über deren Ter- rain hinaus, so wird deutlich, daß es die Gesamtkonstellation, letztlich also der Widerspruch selbst ist, der als ganzer – und nur als ganzer – 'Sinn' macht. So wird man zunächst die 'Objektivierung' des Abgebildeten und die 'Subjektivierung' des Betrachters in enger Wechselwirkung sehen müssen; das Aufkommen der Zentralperspektive fällt in eine historische Phase, in der der Abstand zwischen Subjekt und Objekt sich zu vergrößern begann; der Aufbruch der Naturwissenschaften 'objektivierte' die Realität, das Subjekt umgekehrt trat in dem Maß aus der Verflech- 40 ebd. (Erg. H.W.) 41 "Im perspektivischen Bild, das so sehr dem Augenschein angenähert ist, muß die Wahrheit wiederum gesucht werden wie in der Natur selbst." (Schweitzer, a.a.O., S. 23) 42 Panofsky, a.a.O., S. 123 43 ebd., S. 124, 126 (im Original: "diesen Sehraum", H.W.) 116 tung mit der Natur hinaus, als es sich als deren Beobachter, und der Tendenz nach: deren Meister, setzte. Die Distanz, die die Perspektive festschreibt, also ist die Distanz, die die optischen Geräte und der 'kalte Blick' der frühen Bürger produzierten. Indem es die Position des Betrachters aber scheinbar einbegreift, den Vordergrund bis unter seine Füße verlängert und seinen Blick als das organisierende Zentrum der Abbildung akzeptiert, schlägt das zentralperspektivische Bild gleichzeitig jene 'Brüke', um die es dem Betrachter gerade dann zu tun sein muß, wenn ihm sein zunehmender Abstand zur Objektwelt und seine 'Einsamkeit' bedrohlich zu Bewußtsein kommt. Die zentralperspektivische Flächenprojektion also stellt eine Kompromißbildung dar; sie verkörpert das Versprechen, das Wissen um die Objektivität der Welt, der sub- jektive Augenschein und der Herrschaftsanspruch des Menschen seien vereinbar, die Konstellation als ganze sei zu stabilisieren. Eine außerordentlich erfolgreiche Kompromißbildung und ein erfolgreiches Verspre- chen, das über mehrere Jahrhunderte lang Gültigkeit behielt, obwohl die Kluft mit dem Fortschreiten der Naturbeherrschung extrem zunahm und der Bedarf nach ihrer Über- brückung, der Animation und der 'Vermenschlichung' des Abgebildeten entsprechend sprunghaft angewachsen sein muß. Erst mit dem Anbruch der künstlerischen Moderne brach dieser Kompromiß zusam- men, und auch dies nur auf dem Terrain der Kunst selbst; die Kunst gab die Vor- stellung auf, Subjekt und Objekt, Betrachter und 'Realität', Objektivität und Macht in einem gemeinsamen Code zur Ruhe bringen zu können; und sie gab diesen Anspruch erst dann auf, als sie die bisherige Lösung an die Photographie, d.h. an die Technik 44 delegiert hatte. Daß die zitierten Autoren sich zu dieser oder einer ähnlichen Bewertung nicht haben durchringen können, dürfte seinen systematischen Grund darin haben, daß die huma- nistische Wissenschaftstradition es ihnen verbot, in der 'Orientierung auf den Men- 45 schen' etwas anderes als eine Errungenschaft zu sehen. Erst die subjektkritische Philosophie und, in völlig anderer Weise, die Einsicht in die ökologische Problematik 46 haben das Bewußtsein dafür geschärft, daß der 'Anthropokratie' ein Aspekt von Hybris, nicht allein in der Überwindung religiöser Grundorientierungen, anhaftet. Und erst auf diesem Hintergrund wird die Zentralperspektive letztlich dechiffrierbar; dechiffrierbar als ein historisch relativer Code, der, partikular wie er ist, mit anderen 44 Innerhalb der Kunst gibt es außerordentlich interessante Ansätze gegen die Zentralperspektive bereits vor Entwicklung der Photographie; daß der Impressionismus als Markstein der anbrechenden Moderne aber unmittelbar auf die Photographie reagierte, dürfte in der Kunstgeschichte inzwischen Konsens sein. 45 Schweitzer, a.a.O., S. 22 46 ein Begriff bei Panofsky. 117 Codes konkurriert, der eine bestimmte Wahrheit behauptet, die er gleichzeitig setzt, und dessen strukturierende Wirkung zumindest zu einem Teil darauf beruht, die eigene Partikularität immer wieder vergessen zu machen. Die historische Rekonstruktion, wie die Kunstgeschichte sie leistet, hat deshalb einen besonderen Sinn darin, diese Partikularität ins Gedächtnis zurückzurufen. Von den vielen tausend Jahren künstlerischer Produktion wurden nur wenige hundert durch die Zentralperspektive bestimmt, und dennoch schreibt dieser Flächencode bis heute fest, was für Realität und für 'realistisch' gehalten wird. In dieses Realismuskonzept, das war zu zeigen, geht ein ganzer Horizont von Bedürf- nissen und Überzeugungen ein, alle höchst menschlich und historisch höchst relativ; ein Gefüge, das umbrechen könnte, vielleicht lange hätte umbrechen müssen, das sich einstweilen aber erfolgreich stabilisiert. Ist die Partikularität einer historischen Konstellation erwiesen, wird umgekehrt ihre Stabilität zum Rätsel; zwei Vorschläge sollen im Folgenden gemacht werden, die Härte und die Dauer der Zentralperspektive und der mit ihr verbundenen Weltsicht plausibler zu machen; beide gehen davon aus, daß Bedürfniskonstellationen einer Vergegenständlichung im Material bedürfen, daß sich in materiellen Strukturen (Co- des, Institutionen, Maschinen) also die jeweilige Weltsicht nicht nur spiegelt, sondern auch perpetuiert. Der erste Ansatz entsprechend wird auf den Codecharakter abheben, der der Zentralperspektive das materielle Gewicht einer Institution verleiht, der zweite auf die Tatsache, daß es inzwischen technisch-maschinelle Medien sind, die die zen- tralperspektivischen Bilder herstellen und distribuieren. 118 3. Der filmische Raum und das symbolische System des Films 3.1 Theorie der 'Segmentierung' und der Gestalterkennung auf Basis der Gestalt- theorie 3.1.1 Räumliche Kontinuität versus Zeichenbegriff Der zentrale theoretisch-systematische Einwand gegen die Apparatustheoretiker war, daß sie die filmische Technik, deren geschichtliche und soziale Situiertheit sie nach- weisen, unmittelbar auf bestimmte Bedeutungsgehalte, d.h. auf die Ebene der filmi- schen Inhalte beziehen, und damit die Ebene des symbolischen Systems, d.h. die 1 Sprache des Films, überspringen. Entsprechend wird nun in den Blick zu nehmen sein, auf welche Weise das symbolische System des Films der Frage nach der Konsti- tution des filmischen Raumes, nach der Position des Zuschauers und allgemeiner der Frage nach Apparatus and ideology zugeordnet werden kann. Die Apparatustheoretiker, wie gesagt, haben diese Frage ausgespart. Der Hauptgrund für diese Auslassung dürfte darin zu suchen sein, daß die Filmsemiotik, die mit dem hohen Anspruch angetreten war, die spezifischen Mittel des Films zu systematisieren und seine Sprache in einem quasi-mathematischen Regelsystem abzubilden, gegen Ende der Sechziger Jahre als weitgehend gescheitert angesehen werden mußte. Die Probleme der Filmsemiotik aber machen die Frage selbst in keiner Weise gegen- standslos; ohne Zweifel handelt es sich beim Film um ein symbolisches System, d.h. um eine Sprache; ohne Zweifel hat der Film referentiellen Charakter, sowie be- schreibbare Parallelen und Differenzen zu den anderen semiotischen Systemen, mit denen er konkurriert. Schon dieser Kern jeder semiotischen Überlegung müßte davor warnen, der filmischen Technik bestimmte 'Bedeutungen' zuzuordnen, ohne die Mechanismen der Bedeutungskonstitution innerhalb des Mediums in die Überlegung miteinzubeziehen; filmische Technik und Filminhalte – das ist die These – sind durch einen Regelapparat vermittelt, der aus der Sicht der Apparatusfragestellung neu und anders in den Blick genommen werden kann. Für das zentrale Rätsel, das der Film jeder Semiotik aufgibt und das die filmsemioti- schen Ansätze der sechziger Jahre letztlich nicht befriedigend haben klären können, liefern die Apparatustheoretiker zwei wichtige Stichworte, die bereits mehrfach, an ihrem Ort aber ohne den Bezug auf die semiotische Dimension des Films zu diskutie- ren waren: Das Stichwort der Kontinuität und das der 'Transparenz'. 1 Der Begriff des 'Symbolischen' wird im Folgenden ausschließlich im abgeschliffenen amerikanischen Sinn einer allgemeinen Frage nach der sprachlichen Struktur des Films verwendet; die Konnotationen von 'Symbolgehalt', Symbolismus oder tieferer Bedeutung, die der Begriff im deutschen Sprachge- brauch traditionell hat, sind damit ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen wird der Begriff des Sym- bolischen im Sinne Lacans, der ihn dem des Imaginären gegenüberstellt. 119 Die Filmsemiotik der sechziger Jahre hatte versucht, den in der philosophischen Tradition und vor allem am Modell der Sprache entwickelten Zeichenbegriff auf die Bilder zu übertragen und ihn auf Basis strukturalistischer Grundannahmen in ein hartes, mathematischen Kriterien genügendes Modell zu überführen. Mit diesem Programm bereits aber waren Schwierigkeiten – Schwierigkeiten sowohl der theoretischen Modellierung als auch der zugrundeliegenden Strukturannahmen – gesetzt. Denn waren der Begriff des Zeichens und allgemeiner das Modell der Sprache auf die technischen Bilder wirklich übertragbar? Das erste und augenfälligste Problem ist das der 'Segmentierung'. Von einem 'Zeichen' – wörtlich und im Singular – nämlich wird man nur dann sprechen können, wenn das signifizierende Material in distinkte Einheiten sich gliedert, wenn den einzelnen und materiell unterschiedenen Signifikanten also einzelne, konventionalisierte Bedeutun- gen zugeordnet werden können. Im System der Sprache ist dies offensichtlich und relativ problemlos der Fall. Das Lautkontinuum der gesprochenen Sprache zerfällt in eine Abfolge von Worten, die die Träger der konventionalisierten Bedeutungen sind, und das Schriftbild macht diese Trennung durch den Einschub von Leerstellen zusätzlich deutlich. Im System der Bilder aber ist, ebenso offensichtlich, eine vergleichbare Gliederung zu- nächst nicht auszumachen. Sowohl in der Malerei als auch in der Photographie bildet das Abgebildete ein 'Kontinuum' und es scheint geradezu das Spezifische der Bilder zu sein, daß sie ihre 'Bedeutung' als ganzes, 'analog', und das heißt ungegliedert artiku- lieren Hier also von 'Zeichen' im Sinne benennbarer, distinkter Einheiten zu sprechen, widerspricht der Intuition, und eine Theorie, die auf diesem Begriff dennoch beharrte, mußte den theoretischen Gewinn, zunächst aber überhaupt erst einmal die Anwend- barkeit des Begriffes plausibel machen. Dieselbe Schwierigkeit reproduziert sich am Problem der 'Ikonizität'. Wenn seit Saussure der Begriff des Zeichens an die Vorstellung eines Zeichen-Systems gebunden ist, wenn 'Bedeutung' also nicht dem einzelnen Zeichen zukommt, sondern aus- 2 schließlich in der Differenz und im Kontrast zu anderen Zeichen artikuliert wird, so scheint auch diese Definition im Feld der Bilder keine Gültigkeit zu haben; scheint 3 doch die Abbildung dem Abgebildeten (mehr oder minder stark) zu 'ähneln', und 2 Der in der Semantik übliche Ausdruck ist der der 'binären Opposition' (siehe etwa: Lyons, John: Se- mantik. Bd. 1, München 1980, S. 296, 327ff, 291ff); dieser Begriff aber hat die Schwierigkeit, daß der Bezug der verschiedenen Oppositionsachsen untereinander kaum ebenfalls als 'binär' beschrieben werden kann, das 'Netz' der Sprache den negativ-differenziellen Bezug also in irgendeiner Weise über- steigt 3 Im Fall der technischen Bilder ist es die technische Anordnung selbst, die die 'Ähnlichkeit' gewährleistet. 1 20 via Ähnlichkeit der Verweis 'direkt' hergestellt, den im Fall der Sprache nur das System und die gesellschaftliche Vereinbarung garantieren können 4 Auf Basis dieser Überzeugung unterschied man 'arbiträre' von 'ikonischen' Zeichen, und machte nur die ersteren vom gesellschaftlichen Konsens abhängig. Eine wesent- liche Dimension des Zeichenbegriffs aber war damit, zumindest für die Bilder, zurück- gezogen; wie auch immer man das Problem der Segmentierung lösen würde – die 'Bedeutung' der Bilder schien in jedem Fall garantiert, ihre Referenz schien quasi 'natürlich' gegeben und damit gegen die Einsprache der Gesellschaft weitgehend immun. Und mehr noch. Man wird sich vergegenwärtigen müssen, daß die Einsicht in die 'Arbitrarität' und in die Systemabhängigkeit der sprachlichen Zeichen im Kontext einer zunehmend erkenntniskritisch ausgerichteten Sprachphilosophie entstanden war; immer deutlicher war in der Reflexion hervorgetreten, daß in der Struktur der Sprache 5 ein 'Weltbild' abgelegt ist, das alle konkreten Äußerungen präformiert, und daß in einer gegebenen Sprache keineswegs 'alles' gesagt werden kann, weil ihre vorgege- bene Struktur die Artikulation, ja sogar die Erkenntnis von Inhalten erschwert, die dieser Struktur widersprechen. Dies alles nun schien für die ikonischen Zeichen nicht oder nicht in gleichem Maße zu gelten; dieselbe Kritik also, die der Sprache den Schein von Universalität und Neutra- lität raubte, war geeignet, die Bilder – in der platonisch-christlichen Tradition Inbegriff des 'täuschenden Scheins' – als die Sphäre einer relativ unproblematischen 'Wahrheit' zu privilegieren und die Macht, die die Bilder durch die technische Reproduzierbarkeit 6 errungen hatten, weiter zu stabilisieren. Für die Filmsemiotik der Sechziger Jahre nun bedeutete dies, daß sie es einerseits mit einem besonders schwierigen Gegenstand zu tun hatte, und andererseits mit einem von vornherein verkürzten Zeichenbegriff. Zur 'Kontinuität' in der Fläche der Bilder trat mit dem Film deren ständige Veränderung, ihr kontinuierliches Gleiten nun auch in der Zeit hinzu, was eine 'Segmentierung' vollends unmöglich zu machen schien; und die Nähe zur unmittelbaren, physischen Wahrnehmung, die der Film erreichte, ließ die Frage nach der Vermittlung durch ein symbolisches 'System' fast absurd erscheinen. 4 Der Begriff des Ikons wurde von Peirce eingeführt. Siehe etwa P., Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt 1983, S. 64ff (O.: Syllabus of Certain Topics of Logic, Boston 1903) 5 Das Argument ist in verschiedener Form und von sehr verschiedenen Philosophen vorgetragen, und am entschiedensten wohl von Nietzsche und dann von Wittgenstein vertreten worden. Ein wichtiges Beispiel, gerade weil es nicht den unmittelbar semantischen Bereich der Sprache betrifft, ist die Tatsache, daß die indogermanischen Sprachen alle Zusammenhänge einer Subjekt-Objekt-Syn- tax, und damit implizit einem Handlungsmodell unterwerfen. 6 Die Problematik muß hier in fast unerlaubter Weise verkürzt werden; sie überhaupt anzusprechen aber ist unerläßlich, wenn der Begriff des Zeichens nicht von vornherein simplifiziert werden soll. 121 Dennoch wurde die Frage nach der Existenz filmischer Zeichen gestellt. Neben dem Motiv, die Filmwissenschaft auf eine ähnlich solide Basis zu stellen, wie sie die Textwissenschaften mit der sprunghaft sich fortentwickelnden Linguistik gerade er- 7 reicht zu haben schienen, spielte die Vorstellung eine Rolle, den 'Naturcharakter' des Mediums aufbrechen, und in der Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine Art Grundelement ideologischer Produktionen – die Propagandafilme des dritten Reichs waren ein besonders häufiger Gegenstand der Analyse – auffinden zu können. Was den wissenschaftlich-systematischen Teil dieser Debatte angeht, so wurden ins- besondere drei Aspekte intensiv diskutiert: Das Problem der Segmentierung wurde aufgegriffen, indem man nach den 'kleinsten Einheiten' fragte, auf denen der filmische 8 Code als ein Regel- und Bedeutungssystem sich aufbaue; die Antworten oszillierten zwischen dem Versuch, die Narration der Filme in 'Syntagmen' (Szenen, Sequenzen, ... 9 autonome Einstellungen) zu zerlegen, und, auf der anderen Seite des theoretischen Spektrums, Ansätzen, die in den formalen Mitteln des Films (Einstellungsgrößen, Kamerapositionen, Licht) das spezifisch filmische Zeichenreservoire aufgefunden 10 sahen. Die verschiedenen Konstruktionen wichen in hohem Maß voneinander ab und die Widersprüche konnten auch in der ausführlichen Debatte nicht ausgeräumt werden. Der zweite, und strukturell einigende Aspekt war, daß nahezu alle Theoretiker von multiplen, einander überlagernden Codes ausgingen, und die Komplexität dieser Struktur in Form von Hierarchien abzubilden und zu ordnen suchten. So Umberto Eco, der acht verschiedene Ebenen (von Wahrnehmungscodes bis hin zu (bild-)rhetorischen 11 Codes) unterschied, oder Metz, der auch die technologischen, in der Konstruktion 12 der Kamera abgelegten Codes einbezog. Der filmische Code wurde allgemein als komplexer eingeschätzt als der zweigliedrige Code der Sprache und die Komplexität selber wurde als ein spezifisches Problem des Films und der Filmtheorie in den Blick genommen. 7 Auch die Hoffnungen der Textwissenschaften wurden, wie man heute weiß, weitgehend enttäuscht. 8 "Dabei ist die Lexikonfrage derzeit die wichtigste und umstrittenste in der Semantik und Sigmatik des Films; sie ist zugleich eine entscheidende Frage der gesamten zeichentheoretischen Diskussion." (Knilli, Friedrich: Einführung. In: ders.; Reiss, Erwin (Hg.): Semiotik des Films. München 1971, S. 11) 9 Diese Position wurde vor allem von Christian Metz vertreten (M., Chr.: Semiologie des Films. München 1972 und ders.: Sprache und Film. Ffm 1973 (die Bände fassen Aufsätze der Jahre 1964-72 zusammen)). 10 siehe etwa Ekke Kämmerling: Rhetorik als Montage. In: Knilli/Reiss, Semiotik, a.a.O., S. 94f 11 Eco, Umberto: Die Gliederung des filmischen Code. In: Knilli/Reiss, Semiotik, a.a.O., S. 76ff (O., it.: 1967) 12 Metz, Sprache und Film, a.a.O., S. 208 1 22 Als ein dritter Aspekt schließlich ist festzuhalten, daß das semiotische Projekt explizit gegen die spezifische Realismus-Illusion des Kinos gesetzt worden ist. Eco, der einen seiner Texte mit einer 'Kritik des Bildes' begann, schrieb: "Die natürliche Ähnlichkeit eines Bildes mit der Wirklichkeit, die es darstellt, ist theoretisch durch den Begriff 'ikonisches Zeichen' ausgedrückt. Nun wird dieser Begriff immer wieder einer Revision unterzogen [...]. [...] Die Naturgesetzlichkeit des ikonischen Zeichens, die uns unanfechtbar er- schien im Gegensatz zur Willkür des sprachlichen Zeichens, bricht zusammen und läßt in uns den Verdacht zurück, daß auch das ikonische Zeichen gänzlich will- 13 kürlich, konventionell und unbegründet ist." Der Eindruck von Wirklichkeit, den die bewegten Bilder erwecken, dies war das Ergebnis seiner Rekonstruktion, muß in Abhängigkeit vom Code selber, seiner Kom- plexität und Überfülle, und einer strukturellen Überforderung des Zuschauers gesehen werden: "Der Schock ist so stark, daß wir angesichts einer reicheren Konventionalisierung, d.h. einer Formalisierung, die lockerer ist als alle anderen, uns einer Sprache ge- genüber vermeinen, die uns die Wirklichkeit zurückgibt. Es ist ein gerechtfertigter Eindruck, der uns aber zu der methodologisch falschen Feststellung führen kann, ein spontanes, vitales, dem Realen analoges Kontinuum dort zu sehen, wo immer noch Kultur ist, umgesetzt in Code, Konvention, Kom- bination diskreter Elemente, auch wenn sie uns nicht diskret erscheinen und viel- 14 leicht nie erscheinen werden". So wichtig und plausibel das medienkritische Grundargument selbst ist, so wenig kann die geradezu beschwörende Versicherung, der Film bestehe wirklich und tatsächlich aus diskreten Einheiten, überzeugen, solange die Theorie nicht in der Lage ist, diese Einheiten eindeutig und zweifelsfrei aufzuweisen. Die Auskunft von Pasolini, der Film 15 sei eine 'Sprache ohne Lexikon' und die schließliche Formulierung von Metz, der 16 Film sei 'langage sans langue', d.h. eine Ausdrucksweise ohne sprachliches System, mußte deshalb einer Kapitulation nahekommen. 13 Eco, Die Gliederung, a.a.O., S. 73f (Hervorh. H.W.) 14 ebd., S. 93. Die Formulierung schließt unmittelbar an die programmatische Äußerung Ecos an, "eine semiotische Analyse müsse vor allem, so weit dies möglich ist, jede Spontaneität auf Konvention, jedes Faktum der Natur auf Faktum der Kultur, jede Analogie auf Übereinstimmung in den Codes, jeden Gegenstand auf Zeichen, jeden Referenten auf Bedeutung und damit Wirklichkeit auf Gesellschaft reduzieren." (ebd., S. 71) 15 Pasolini, Pier Paolo: Die Sprache des Films. In: Knilli/Reiss, Semiotik, S. 40 16 Metz, Semiologie, a.a.O., S. 51ff Als Zwischenstationen auf dem Weg zu diesem Ergebnis sind etwa folgende Aussagen zu nennen: - "Zunächst müssen wir feststellen, daß das Kino selbst keine distinktiven Einheiten besitzt [...]. Selbst dort, wo es sich um bedeutungstragende Einheiten handelt, besitzt das Kino auf den ersten Blick keine diskreten Elemente. Es geht in ganzen 'Realitätsblöcken' vor, die in der Rede ihren globalen Sinn 123 Zu Beginn der siebziger Jahre, und gleichzeitig mit dem Ende der Semiotikdebatte auch in anderen Bereichen, brach der Diskurs der Filmsemiotik in sich zusammen; es erschienen verschiedene Sammelbände mit den bis dahin erreichten Ergebnissen, und mit Christian Metz wechselte ihr wohl profiliertester Vertreter zur psychoanalytischen Filmtheorie über. Der Hauptgrund für dieses abrupte Ende dürfte sein, daß es weder gelungen war, die erarbeiteten Kategorien zu einem auch nur ansatzweise kohärenten Modell zusammen- zufassen, noch einzelne Begriffe soweit zu präzisieren, daß sie innerhalb konkreter Analysen als ein Werkzeug hätten fungieren können. So wird die Filmsemiotik an den Hochschulen zwar weiter gelehrt, ihre Rolle als Hoffnungsträger aber hat sie voll- ständig eingebüßt. Der Film als Medium, so könnte man sagen, hatte dem Angriff der zergliedernden Vernunft erfolgreich widerstanden. Zur Verteidigung der Filmsemiotik ist zunächst zu sagen, daß das Ergebnis, sowenig es mit einem definierbaren Zeichenbegriff zusammenzubringen ist, bestimmten Intui- tionen gegenüber dem Film dennoch relativ nahekommt. Auch das Alltagsbewußtsein nämlich sieht den Film zwar als ein Medium an, das auf eine außerfilmische Realität verweist, würde die Annahme filmischer Zeichen im Sinne vordefinierter Einheiten aber sicher als kontraintuitiv abweisen. Mehr noch: der Anschein von Kontinuität und Gleiten scheint zentral für unser Verständnis des filmischen Mediums und seiner besonderen Leistungsfähigkeit zu sein: Die räumliche Kontinuität des Bildes und seine kontinuierliche Veränderung in der Zeit bewirken den Eindruck, daß grundsätzlich Situationen und nicht etwa einzelne Gegenstände den Inhalt der Bilder ausmachen, eine Art der Abbildung, die als eine besondere Behutsamkeit den Gegenständen gegenüber verstanden werden kann. Der Film erbt von der Photographie die Utopie, daß der einzelne Gegenstand sich via Lichtreflexion, und quasi ohne Zutun des Menschen, selbst abzubilden in der Lage aktualisieren. Diese nennt man 'Einstellungen'." (ebd., S. 158f) → - "Man begibt sich auf die Suche nach der kleinsten kinematographischen Einheit, die man gelegentlich in der Aufnahme oder im einzelnen photographischen Bild, d.h. im Photogramm, im gefilmten Gegen- stand (Anm.: oder im 'Kinem' (cinème) bei Pier Paolo Pasolini) [...] zu finden glaubt." (ders.: Sprache und Film, a.a.O., S. 204) - Aber: "Der Vielfältigkeit der Codes entspricht die Vielfältigkeit der kleinsten Einheiten. Die kleinste Einheit ist nicht im Text gegeben, sie ist ein Werkzeug für die Untersuchung. So viele Untersuchungs- arten es gibt, so viele Arten von kleinsten Einheiten gibt es auch." (ebd., S. 211) - "Die gegenwärtige Situation der kinematographischen Semiologie, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sicher und unter allgemeiner Übereinstimmung identifizierte kleinste Einheiten fehlen, hat also nichts weiter Entmutigendes". (ebd.) 1 24 17 sei. Auf dem Filmmaterial als konkreter einzelner re-präsentiert und am Vorgang der Abbildung physisch beteiligt, scheint die Abbildung jedes Verhältnis falscher oder gewaltförmiger Abstraktion überzeugend zu dementieren. Und der Anschein von Behutsamkeit reproduziert sich in der Tatsache, daß der Gegenstand sich niemals isoliert dargestellt sieht, sondern immer, wie in ein Futteral, in seinen tatsächlichen Kontext eingebettet, der gleichzeitig mit ihm die Linse passiert. Das Vertrauen in diese Behutsamkeit der Abbildung ist mit der Vorstellung photographischer Wahrheit aufs engste verknüpft. Eine analogische Repräsentation, wie die technischen Bilder sie bieten, also bedeutet immer zweierlei: Repräsentation entlang einer Achse der Ähnlichkeit (Analogie), und – 'analog' bildet den Gegensatz zu 'digital' – Repräsentation im Rahmen eines Kon- tinuums, das sich der Auflösung in eine Summe distinkter Elemente widersetzt. So betrachtet erscheint der Film als das analoge Medium schlechthin und das Scheitern einer Semiotik des Films als zwangsläufig. Ganz anders im Fall der Sprache. Die Sprache der Worte erscheint aus der so skiz- zierten Perspektive tatsächlich als jenes 'Bretterwerk', als das Nietzsche sie zwischen 18 der Welt und dem menschlichen Erkenntnisvermögen aufgerichtet sieht, als eine Konstruktion aus künstlichen und falsch-abstrakten Elementen, die ihre Existenz 17 Der französische Theoretiker Bazin etwa hatte 1945 formuliert: "Die Originalität der Fotografie im Unterschied zur Malerei besteht also in ihrer Objektivität. So hieß die Kombination der Linsen, die das fotografische Auge an die Stelle des menschlichen Auges setzte, treffend 'Objektiv'. Zum ersten Mal stellt sich zwischen das auslösende Objekt und seine Darstellung nur ein anderes Objekt. Zum ersten Mal - einem rigorosen Determinismus entsprechend - entsteht ein Bild der Außenwelt automatisch, ohne das kreative Eingreifen des Menschen. Die Persönlichkeit des Fotografen spielt nur für die Auswahl und Anordnung des Objektes eine Rolle, und auch für die beabsichtigte Wirkung. Wenn auch auf dem fertigen Werk Spuren der Persönlichkeit des Fotografen erkennbar sind, so sind sie dennoch nicht vom gleichen Rang wie die des Malers. Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit. Sie wirkt auf uns wie ein 'natürliches' Phänomen, wie eine Blume oder eine Schneeflocke, deren Schönheit nicht trennbar ist von ihrem pflanzlichen oder tel- lurischen Ursprung. Diese Entwicklung zur Automatik des Bildes hat die Psychologie des Bildes radikal erschüttert. Die Objektivität der Fotografie verleiht ihr eine Stärke und Glaubhaftigkeit, die jedem anderen Werk der bildenen Künste fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten Objektes zu glauben, des tatsächlich re-präsentierten, das heißt, des in Zeit und Raum präsent gewordenen. Die Fotografie profitiert von der Übertragung der Realität des Objektes auf seine Reproduktion." Und später: "Unter dieser Perspektive erschien der Film wie die Vollendung der fotografischen Objektivität in der Zeit." (Bazin, André: Ontologie des fotografischen Bildes. In: ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln 1975, S. 24f (Hervorh. H. W.)) 18 Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: ders.: Werke Bd. 5, München/ Wien 1980, S. 321 125 allein dem gesellschaftlichen Konsens verdanken. Daß es sich bei den Worten der Sprache um konventionelle, d.h. um nicht- oder allenfalls historisch motivierte Be- deutungseinheiten handelt, würde inzwischen wahrscheinlich niemand mehr bestrei- 19 20 ten; und insbesondere die von Nietzsche ausgehende Sprachkritik hat die Tatsache reflektiert, daß die konventionellen Einheiten in ihrer Abstraktion und ihrer Abhän- gigkeit vom gesellschaftlichen Prozeß den Referenten grundsätzlich verfehlen. In der Sprache spricht das gesellschaftliche Wissen, und jedes Mißtrauen diesem Wissen gegenüber, muß auf die Sprache zurückschlagen, auch und gerade wenn sich auch die Kritik des gesellschaftlichen Prozesses auf das Instrument der Sprache zurückgewor- fen sieht Der Film scheint diesem Vorwurf zunächst zu entgehen. Insofern er – gleitend, kon- tinuierlich und analog – auf das Wissen und die Konventionen der Gesellschaft nicht angewiesen scheint und den Gegenstand via Maschinerie nicht nur am 'Menschen', sondern auch am gesellschaftlichen Prozeß vorbei auf die lichtempfindliche Fläche bringt. Dem Vertrauen in die 'Behutsamkeit der Abbildung' und der Konzeption der photographischen Wahrheit also wird immer eine Dimension von Mißtrauen gegen- über dem gesellschaftlichen Prozeß zugeordnet werden müssen. Der Hintergrund hat sich aufgeweitet; deutlich aber dürfte nun sein, daß dem 'Blick in den Raum' eine Bedeutungsdimension zukommt, die in der Apparatus-Debatte nicht thematisiert ist und die im Begriff der räumlichen Kontinuität allenfalls anklingt: Daß der Film nicht Gegenstände, sondern Bildräume (und ihre gleitende Veränderung) präsentiert, hat ihn bislang nicht nur vor dem Zugriff der Filmsemiotik, sondern vor allem davor bewahrt, vom Alltagsbewußtsein als ein arbiträres System erkannt zu werden, das wie alle arbiträren Systeme in die gesellschaftliche Relativität rettungslos verstrickt ist. Auf dem Hintergrund der Apparatusdebatte aber entsteht der Verdacht, daß die Kon- tinuität weniger eine Eigenschaft des Films als vom Medium eigens produziert sein könnte, und daß die Schwierigkeit, den Zeichencharakter des Films zu erfassen, als ein Teil des Spiels und als ein direkter Effekt einer bestimmten semiotischen Anordnung wird angesehen werden müssen. 19 Der Begriff der Arbitrarität allerdings hat die Schwäche, daß er zwischen der Bedeutung der 'willkürli- chen Festlegung' einerseits und der Vorstellung, sprachliche Zeichen bildeten sich in einem konkreten historischen Prozeß heraus, seien also zumindest historisch 'motiviert', eigentümlich unentschieden bleibt. Die Spannung dieser beiden Definitionen aber wird immer dann relevant, wenn es um die kon- kreten Mechanismen der Bedeutungskonstitution geht, oder um die Frage, wie die Wechselbeziehung zwischen der Realgeschichte und der Fortentwicklung der symbolischen Systeme gedacht werden kann. 20 Hier ist vor allem die Negative Dialektik Adornos zu nennen. (A., Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt 1982 (O.: 1966)) 126 Es könnte sich, anders gesagt, um eine weitere Variante der Transparenzillusion handeln, die eine Theorie des Films aufzubrechen hätte: wenn der Film seinen sym- bolischen Charakter tatsächlich verleugnet, ähnlich wie er, Comolli hatte es gezeigt, seinen technischen Charakter verleugnet und nur um diesen Preis seine Effekte erzielt, so hätte dies weitreichende Konsequenzen sowohl für die Art und Weise, wie eine neu angesetzte Filmsemiotik ihr Medium zu befragen hätte, als auch für die Prognose, die der Kinolust und der Position des Films in der Konkurrenz der Medien zu stellen wäre. Konsequenzen ergäben sich, ließe die skizzierte Sicht der Dinge sich erhärten, auch für die Analyse der Zuschauerposition. So wird durch die Abwesenheit einer semiotischen Theorie des Films zunächst suggeriert, es sei, wie in der Realwahrnehmung, dem Zuschauer überlassen, welche Gegenstände im Filmbild er sich heraussucht, die Sou- veränität des Blickes sei – zumindest innerhalb des Bildes – an den Zuschauer dele- giert. Wäre diese Vorstellung haltbar, so bedeutete sie im Wesentlichen, daß nicht die Gesellschaft (der Code), sondern der einzelne Zuschauer einen wesentlichen Anteil an 21 der Semiose beanspruchen könnte. Es wird also zu klären sein, ob eine solche Vorstellung erhärtet werden kann. Was die Methode des Vorgehens angeht, so scheint die Frage nach der symbolischen Struktur des Films zu reformulieren, wenn statt von den 'kleinsten Einheiten' von der Kontinuität des Bildes, und statt von bestimmten Strukturannahmen und taxonomischen Bedürfnissen von der konkreten lesenden Tätigkeit des Zuschauers ausgegangen wird. 3.1.2 Das Problem der Segmentierung Ohne Zweifel sucht sich der Zuschauer innerhalb des kontinuierlichen Bildraumes bestimmte Gegenstände heraus; er rekonstruiert die 'Architektur' des Bildes, er verfolgt die Bewegungen der Personen, identifiziert Gegenstände der Ausstattung – Vor- gänge, die in das Filmverstehen unmittelbar eingehen, die normalerweise aber un- beachtet bleiben, weil sie sich vollständig selbstverständlich und in ähnlicher Weise auch außerhalb des Filmes in der Realwahrnehmung vollziehen. Sobald man den Film als eine Sprache betrachtet, aber gewinnt die Frage nach der Erkennung von Gegenständen eine eigene Relevanz. Auch im Fall der Wortsprache nämlich ist die Erkennung der einzelnen signifizierenden Einheiten ein Problem, zumindest sobald man die Schrift verläßt und den Lautstrom der gesprochenen Spra- che zum Gegenstand der Untersuchung macht. Anders als die Schrift kennt die gesprochene Sprache keine völlig eindeutigen Laute und nicht einmal ein eindeutiges 21 Semiose ist in der nachstrukturalistischen Zeichentheorie der Begriff für den Zeichenprozeß, den Pro- zeß, in dem die Zeichen gesellschaftlich produziert und distribuiert werden. 127 Zeichen für die Trennung der verschiedenen Worte. Konsequent hat die Linguistik eigene Theorien der Segmentierung entwickelt, Theorien also, die danach fragen, auf welche Weise derjenige, der Sprache hört, distinkte, identifizierbare Laute aus dem Schallkontinuum gewinnt. Auf den Film, auf ästhetische Phänomene oder ikonische Systeme sind diese Theorien unmittelbar nicht zu übertragen; die Parallele aber deutet darauf hin, daß das Problem der Segmentierung, das Problem also, ein scheinbares Kontinuum in distinkte Ein- heiten überführen zu müssen, ein eigenes Problem der Semiotik darstellt, das in den verschiedensten ihrer Teilbereiche immer aufs neue auftritt. Wichtig dabei ist, daß die Frage nach der Segmentierung diejenige nach den 'kleinsten Einheiten' gewissermaßen umkehrt; eine Semiotik, die die Mechanismen der Seg- mentierung zu klären versucht, kann beanspruchen, zunächst nur die empirischen Prozesse nachzuzeichenen, die ein Verstehen des dargebotenen Zeichenkonglomerats ermöglichen, und einen Vorgang zu beschreiben, den der Rezipient konkret in jedem einzelnen Akt des Verstehens zu vollziehen hat; die Strukturannahme, daß die Segmentierung kleine, 'kleinste' oder was auch immer für Einheiten zum Ergebnis haben müsse, ist damit ebenso ausgespart wie das Bedürfnis, diese Einheiten un- mittelbar in ein 'System' einzubringen, das es an Klarheit und Rigidität mit demjenigen der Phonologie, dem Idealmodell der strukturalistischen Semiotik, aufnehmen kann. Gegenstand, Objekt und potentielles Opfer der Segmentierung, dies sei schon jetzt gesagt, ist die Kontinuität des filmischen Raums. Das Bedürfnis, ihn zu hinterschrei- ten, den Anschein von Natur zu demontieren und den letztlich semiotischen Mecha- nismus offenzulegen, auf dessen Basis er operiert, teilt die hier vertretene Argumenta- tion mit der referierten Semiotik, oder zumindest mit ihrem ideologiekritisch-skepti- schen Zweig, der bei Eco wohl am deutlichsten Kontur gewonnen hat. Die scheinbare Evidenz der räumlichen Kontinuität steht der Segmentierung gegenüber; und letzere wird nur dann eine Chance haben, wenn sie ähnlich starke, konkurrierende Evidenzen aufbieten kann. 3.1.3 Gestalttheorie Einen möglichen, wenn auch bislang unerprobten Zugang zum Problem der Segmen- tierung und der 'Dekonstruktion' des filmischen Raumes bietet die von Wertheimer 1 2 und anderen entwickelte Gestaltpsychologie. 1 Wertheimer, Max: Über Gestalttheorie. Berlin 1925 (Die ersten Arbeiten Wertheimers wurden 1911 veröffentlicht). Zwei weitere zentrale Autoren sind K. Koffka (Die Grundlagen der psychischen Entwicklung. 1925) und W. Köhler (Veröff. ab 1917). 2 Es ist eigentümlich, daß es nur wenige Versuche gibt, die Gestalttheorie für eine Theorie des Films fruchtbar zu machen; an erster Stelle ist Rudolf Arnheim zu nennen, der als ein Schüler Wertheimers und Köhlers verschiedentlich gestaltpsychologische Vorstellungen in seine Theorie eingebracht hat (A., R.: 1 28 Die Gestaltpsychologie trat zunächst als eine Kritik der von ihr so genannten 'ato- mistischen' Psychologie auf, die, einseitig an den Naturwissenschaften orientiert, quantitativ-additive Erklärungen vor allem der Wahrnehmung versucht hatte. Dem Bemühen dieser älteren Psychologie, 'reine Empfindungen' zu konstruieren, die gegen jegliche interpretierenden Beigaben abzusetzen seien, der Annahme einer konstanten und kausalen Relation zwischen einem gegebenen Sinnesreiz und dem erlebten Ein- druck, und der allgemeinen Tendenz der Atomisten, Phänomene als ein Zu- sammenspiel von Einzelelementen zu betrachten, setzte die Gestaltpsychologie die Überzeugung entgegen, daß jeder Detailwahrnehmung die Wahrnehmung eines 'Gan- zen', die sogenannte 'Gestaltwahrnehmung' vorangehe. 3 In seiner zusammenfassenden Darstellung der Gestaltpsychologie illustriert Katz das dem Gestaltbegriff zugrundliegende Problem in einer fast filmischen Szenerie: "Vor mir auf dem Schreibtisch steht meine Schreibmaschine, daneben liegen Schreibutensilien, einige Bücher, eine Streichholzschachtel, ein Aschenbecher. Alle diese Dinge liegen in der für einen Arbeitstisch üblichen Unordnung umher. Wie kommt es, daß ich diese Dinge jedes für sich als eine Einheit, als einen selb- ständigen Gegenstand auffasse? [...] Warum sehe ich nicht das Tintenfaß mit dem 4 es optisch berührenden Aschenbecher als eine Einheit"? Das Problem der Segmentierung und das Problem der Gestalterkennung scheinen eng zusammenzuhängen. Auf welche Weise also stellt die Wahrnehmung die jeweils wahrgenommenen Gegenstände gegen ihren Hintergrund frei? Die Gestaltpsychologie beantwortet diese Frage auf zwei Ebenen: So formuliert sie zunächst die sogen. Ge- staltgesetze, die die Voraussetzungen dafür benennen, daß divergente Sinneseindrücke 5 zu einer 'Gestalt' zusammengezogen werden: räumliche Nähe der Einzelwahrneh- Film als Kunst. Frankfurt 1979, S. 2, 17, 28, 43 (O.: 1932)), Hugo Münsterberg geht in seinem Kapitel 'Depth and Movement' auf die Rolle des Vorwissens für die Gestalterkennung ein (M., H.: The Photoplay. A Psychological Study. NY/London 1916, S. 61-71), bei Morin und bei Monaco wird die Gestaltpsychologie zumindest erwähnt (Morin, Edgar: Der Mensch und das Kino. Stuttgart 1958, S. 135, 143 (O., frz.: 1956). Monaco, James: Film verstehen. Hamburg 1988, S. 85 (O., engl.: 1977)), und als ein weiteres Beispiel ist Gaubes 'Film und Traum' zu nennen, ein Buch, das die Gestaltpsychologie in eine Theorie der Symbolbildung einzubinden versucht (Gaube, Uwe: Film und Traum. Zum präsentativen Symbolismus. München 1978, S. 20, 62, 91). Keine der linguistisch oder semiotisch orien- tierten Untersuchungen zum Film aber hat mit dieser Theorie bislang etwas anfangen können. 3 Katz, David: Gestaltpsychologie. Basel/Stuttgart 1969 (Das Buch wurde 1943 erstmals veröffentlicht) 4 ebd., S. 31 (Hervorh. H.W.) 5 "Eine Gestalt ist, abgesehen von ihrer Ganzheit, dadurch gekennzeichnet, daß sie abgesondert [!], abge- hoben, geschlossen und gegliedert ist." (ebd., S. 57 (Hervorh. H.W.)) (Die Formulierung der Gestaltgesetze findet sich bei Katz auf S. 33-37) 129 mungen, Gleichheit in Farbe und Form, Geschlossenheit der Form und eine gemein- same Bewegung sind die wichtigsten dieser Voraussetzungen. Die zweite Antwort, und darauf wird unten ausführlicher einzugehen sein, hebt die Tatsache hervor, daß jede Wahrnehmung an Erwartungen, Konzepte, an Interpretation und an das Wiedererkennen gebunden ist. Die erstgenannten ästhetisch-technischen Voraussetzungen der Gestalterkennung bereits verweisen auf bestimmte strukturelle Annahmen, die die Theoretiker in verschiedenen Definitionen des Gestaltbegriffs of- 6 fengelegt haben. So impliziert der Gestaltbegriff eine innere Gliederung der Gestalt; 7 ihre Glieder sind der Gestalt untergeordnet, können ihre Kohärenz aber bedrohen, und sie haben für die Konstitution der Gesamtgestalt einen jeweils unterschiedlichen 8 Stellenwert. Gestalten also sind zunächst einmal Einheiten der visuellen Wahrneh- mung. Indem die Wahrnehmung mit den Gestalten aus der kontinuierlichen Realität Stücke herausschneidet, die ihrerseits wieder aus Einzeleindrücken bestehen, sich diesen Einzeleindrücken gegenüber aber behaupten und als stabil erweisen, ist eine besondere Ebene konzipiert, auf der die Wahrnehmung die Realität erschließt: Der erste grobe Eindruck identifiziert ein 'Etwas', eine Person oder ein Ding, das gegen seinen Hinter- grund zunächst freigestellt wird, und erst einer eingehenderen Betrachtung bleibt es überlassen, Details zu isolieren oder den Gegenstand von anderen gleichartigen Ge- genständen zu unterscheiden. Die Wahrnehmung betritt die Realität also auf einer Art 'mittleren Ebene', die zwischen dem Gesamteindruck und der Ebene der Details eine hierarchische Zwischenposition einnimmt. Die 'mittlere' Ebene der Gestalten, so wird man ergänzen müssen, ist die Ebene, auf der die Wahrnehmung Objekte konstituiert. Ebenfalls zu den ästhetisch-technischen Überlegungen der Gestalttheorie gehört das Gesetz der Prägnanz. Das Gesetz der Prägnanz besagt, daß die Wahrnehmungsapparat des Menschen zu Eigenschaften "wie Regelmäßigkeit, Symmetrie, Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Ausgeglichenheit, maximale[r] Einfachheit [und] Knappheit" 9 tendiert. So führt Katz als Beispiel an, daß Punkte, die nahezu auf einer Kreislinie liegen, so aufgefaßt werden, als lägen sie wirklich auf einem Kreis, oder Figuren, die 6 Katz zitiert Matthaei: "'In dem Gefügezusammenhang einer Gestalt bestimmen das Ganze und seine Teile sich wechselseitig: die Teile sind im Ganzen unselbständig gebunden; sie prägen ihm aber seine Gliederung auf.'" (ebd., S. 104) 7 "Die Gestaltauffassung hindert die Herauslösung von gewissen Stücken, und das klare Heraustreten derselben Stücke stört die Gestalt." (ebd., S. 58) 8 "Die Stücke eines Gestaltgefüges besitzen verschiedene Wertigkeit. Es gibt solche, die für die Erfassung des Ganzen unentbehrlich sind, und daneben relativ entbehrliche Stücke." (ebd.) 9 Katz bezieht sich in dieser Definition auf Koffka. (Katz, a.a.O., S. 51) 1 30 deutliche Lücken enthalten, so, als seien sie geschlossen. Das Gesetz der Prägnanz läßt sich als eine Tendenz zur Idealisierung deuten, insofern die Wahrnehmung den je- weiligen Gegenstand 'begradigt', vor allem aber als ein Eingriff, der die Komplexität der Wahrnehmung reduziert. Implizit stellt die Gestalttheorie damit die interessante Behauptung auf, daß die Wahrnehmung nach ökonomischen Kriterien verfährt, inso- fern das Gesetz der Prägnanz der Knappheit der mentalen Ressourcen entgegen- kommt. Die zweite und, wie ich meine, zentrale Antwort auf die Frage, wie Gestalten im Kontinuum des Sichtbaren isoliert werden, verläßt das Gebiet ästhetisch-technischer Überlegungen. Eine der Grundüberzeugungen der Gestalttheoretiker besagt, daß die verstreuten Sinnesdaten grundsätzlich auf dem Hintergrund von Erwartungen und Konzepten gedeutet werden, die der Wahrnehmung vorangehen und gegen die eine 'reine' Wahrnehmung nicht abgesetzt werden kann. Bereits das Beispiel zum Prägnanzgesetz deutete darauf hin, daß die annähernd kreis- förmig verteilten Punkte auf ein allgemeineres Konzept des Kreises bezogen werden, ein Konzept, das, offensichtlich präexistent, in der Anordnung der Punkte nur wieder- erkannt wird. Die Gestalttheoretiker sind davon überzeugt, daß absolut jede Wahr- nehmung als ein Wiedererkennen in diesem Sinne verstanden werden muß. Die Bin- dung der Wahrnehmung an Erwartungen und Konzepte ist ebenso plausibel wie, das wird zu zeigen sein, folgenreich. Folgenreich vor allem aber ist, daß mit dem Wieder- erkennen ein Modell der Iteration in den Wahrnehmungsprozeß hineingetragen wird. Sobald man die Gestalttheorie allerdings auf die Herkunft der präexistenten Konzepte befragt, stößt man auf ein Problem, das die philosophischen Grundannahmen dieser Theorie betrifft, und das ihrer ansonsten eher erkenntniskritischen Tendenz in krasser Weise widerspricht; zumindest soweit Katz sie referiert nämlich weist die Gestalt- 10 theorie eine Herkunft dieser Konzepte aus der Erfahrung ausdrücklich ab. Der Grund für diese Entscheidung dürfte darin zu suchen sein, daß – eine Tatsache, die leicht verlorengeht, wenn man die Gestalttheorie primär als eine Theorie der Wahr- nehmung rekonstruiert – die Gestaltpsychologen die Existenz von Gestalten eben nicht nur auf der Seite der Wahrnehmung, sondern auch auf der Seite der wahrgenommenen Realität – und der Realität vor aller Wahrnehmung –, voraussetzen. Der Begriff der 'dynamischen Selbststeuerung' etwa, der als inneres Organisationsprinzip von Gestalten genannt wird, benennt eine Eigenschaft, die auf die Seite der Objekte fällt und die ganz offensichtlich vom Modell sich selbst erhaltender biologi- 11 scher Organismen abgeleitet ist. Dasselbe gilt für die Vorstellung einer 'spontanen 10 siehe etwa ebd., S. 31f 11 Auf die Tatsache, daß lebende Organismen tatsächlich eine Art Muster für die Konzeption des Gestalt- begriffs darstellen, deutet u.a. hin, daß Katz mit dem Satz, das Ganze sei mehr als seine Teile (ebd., S. 13), den Grundeinwand zitiert, den der Vitalismus gegen eine mechanistisch naturwissenschaftliche Betrachtung biologischer Vorgänge immer vorgebracht hat. Und ähnlich wie in der Systemtheorie Luhmanns oder S.J. Schmidts bildet der Begriff der Selbststeue- 131 12 13 Selbstgliederung'; und die These eines 'Isomorphismus' zwischen den "phänome- nologisch konstatierbaren" Gestalten einerseits und den "psychophysischen" Gestalten andererseits überschreitet endgültig die Grenze zu einer Ontologie, die ihre Gewiß- heiten an die begrenzten Mechanismen der Erkenntnis nicht mehr glaubt binden zu müssen. Sowohl in ihren Beispielen als auch in bestimmten theoretischen Bemerkungen lokalisieren die Gestalttheoretiker die Gestalten "am ehesten in einer mittleren Sphäre 14 unreflektierten seelischen Geschehens", also auf halbem Wege zum Instinkt, der, selbst zur Natur gehörig, die prästabilisierte Harmonie der Gestalten und der Objekte garantiert Ihre Wurzel hat die so skizzierte 'ontologische Verwirrung' der Gestalttheorie in der irritierenden Tatsache, daß die Gestalttheorie zu beschreiben versucht, auf welche Weise visuelle Objekte konstituiert werden, daß das Allgemeinbewußtsein die Exi- stenz distinkter 'Objekte' in der objektiven Welt aber immer schon voraussetzt. Sprengkraft also können die Konzepte der Gestalttheorie nur dann erhalten, wenn, wie in der Überlegung zur Segmentierung skizziert, die Untersuchung auf ontologische Annahmen zunächst verzichtet und sich darauf konzentriert, den Mechanismus zu rekonstruieren, der es möglich macht, daß Bilder als Bilder 'gelesen' werden. Es ist deshalb wichtig festzustellen, daß die Gestalttheorie auf ihren Vorbehalt gegen- über der Erfahrung als Ort des Ursprungs der Gestalten tatsächlich in keiner Weise angewiesen ist. 15 So skizziert Kittler, im Rückgriff auf Stern und Ebbinghaus ein Modell, das als Auskunft darüber gelesen werden kann, auf welche Weise Gestalten im Prozeß der Erfahrung entstehen: "'Ehe wir also untersuchen, wie sich einzelne Empfindungen assoziieren, müssen wir zuvor fragen, wie denn das Kind überhaupt dazu komme, aus diesem wirren Gesamtzustand ein Einzelphänomen [...] zu isolieren.' [...] 'Ein ganz junges Kind blicke von einer bestimmten Stelle aus in ein bestimmtes Zimmer. Es empfängt davon einen wenig gegliederten, diffusen Eindruck. Nun werde es von der Mutter in seinem Wagen in ein benachbartes Zimmer geschoben; in der Hauptsache tritt dann ein anderer Gesamteindruck an die Stelle des ersten. Aber rung (Autopoiesis) auch im Fall der Gestalttheorie die Brücke, die es erlaubt, den Begriff der Gestalt auch auf immaterielle und der unmittelbaren Wahrnehmung entzogene Strukturen anzuwenden, wie sie etwa 'Aufgaben' oder gesellschaftliche Institutionen darstellen. (Katz, a.a.O., S. 115f) 12 ebd., S. 62, 70 13 ebd., S. 69 14 ebd., S. 50 15 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985 132 die Mutter und der Wagen sind doch dieselben geblieben. Die von ihnen ausgehen- den optischen Reize finden also die ihnen mögliche materielle und seelische Wir- kung bereits etwas vorbereitet [...], den übrigen, abgeänderten Teilreizen fehlt diese zwiefache Begünstigung. [...] Der vom Anblick (der Mutter) herrührende Eindruck kommt damit einerseits immer leichter zustande, andrerseits reißt er sich immer mehr los von den verschiedenen diffusen Hintergründen, in denen er ur- sprünglich aufging: die Anschauung der Mutter wird ein immer selbständigeres Glied des jeweiligen Gesamteindrucks.' Wenn man das frühkindliche Isolieren also 16 streng genug isoliert, ist es gar nicht mehr das des Kindes." Und dann kommt der entscheidende Sprung, Kittler nämlich fährt fort: "[Überlegungen wie diese also] erfragen nur den um 1900 elementaren Bezug zwischen Einzelheit und Hintergrund, Zeichen und Urbrei, Sprache und Urge- räusch. Und darauf kann die Antwort immer nur lauten, daß diskrete Zeichen aus 17 schierer Iteration entstehen." Die Stelle bedeutet einen gleich zweifachen Sprung: Denn zum einen zieht Kittler die zitierten Überlegungen auf den Begriff der Iteration zusammen, und macht damit eben jene Wiederholung, die die Gestalttheoretiker indirekt bereits anvisiert hatten, indem sie das Wiedererkennen betonten, zum Grundmechanismus nun auch der Genese, der Herausbildung von Gestalten. Zum zweiten bringt er, völlig unvermittelt in einem Kontext, in dem zunächst ausschließlich die unmittelbare Wahrnehmung ange- sprochen ist, den Begriff des Zeichens ins Spiel. Gestalten beginnen sich von ihrem Hintergrund abzuheben, wenn ihre Erscheinung vor wechselndem Hintergrund sich wiederholt. Gestalten also bauen sich auf; jede einzelne verfestigt sich in einem Prozeß wiederholter Wahrnehmung zu einem Kon- zept, das bestimmte kennzeichnende Eigenschaften in sich aufnimmt; jeder aktuelle Eindruck trifft auf den Resonanzboden aller bestehenden Konzepte und wird auf diesem Hintergrund überhaupt erst 'wahrnehmbar'. Man wird hervorheben müssen, daß die so umrissene Konzeption vollständig unabhängig davon ist, ob den wieder- holten Wahrnehmungen Entitäten der objektiven Welt entsprechen oder ob sie etwa durch Sinnestäuschung zustandegekommen sind. Grenzt man die Wahrnehmung auf die visuelle Wahrnehmung ein, also werden 'Objekte' allein in der Wiederholung konstituiert. Diesselbe Eingrenzung berechtigt Kittler dazu – zugegeben etwas übergangslos – von 'Zeichen' zu sprechen. Kittler geht davon aus, daß der menschlichen Erkenntnisappa- 16 ebd., S. 326f Kittler zitiert zunächst einen Text des Psychologen William Stern von 1914, dann Hermann Ebbinghaus (1905). 17 ebd., S. 327 (Erg. u. Hervorh. H.W.) 133 rat durch ein System ineinandergreifender Zeichensysteme strukturiert ist, was eine 'unmittelbare' Wahrnehmung an diesen Rastern vorbei grundsätzlich ausschließt. Wie aber sind 'Zeichen' denkbar, die lange vor dem Spracherwerb die Wahrnehmung strukturieren? Der Schlüsselbegriff, den Kittler anbietet, ist ein weiteres Mal der der Iteration. Die Vorstellung, daß Zeichen ihre Identität allein der Iteration verdanken, entnimmt Kittler der poststrukturalistischen Zeichentheorie, und dort vor allem der Schrifttheorie 18 Derridas. Derrida hatte das von Saussure hinterlassene Rästel, an welchem Ort das System der Sprache abgelegt sei, wenn jeder konkrete Sprechakt nur eine Verwendung bzw. Aktualisierung dieses Systems darstellte, schlagend damit beantwortet, daß sprachliche Regularität nur und ausschließlich in den konkreten Äußerungen ihren Ort habe. Und er hatte gefolgert, daß ausschließlich die Wiederholung die Identität der sprachlichen Zeichen und der sprachlichen Strukturen garantiere. "Liegt es nicht auf der Hand," schreibt Derrida, "daß keinem Signifikanten, weder der Substanz, noch der Form nach, eine 'einzigartige und besondere Wirklichkeit' zukommen kann? Ein Signifikant ist von Anfang an die Möglichkeit seiner eigenen Wiederholung, seines eigenen Abbildes oder seiner Ähnlichkeit mit sich selbst. 19 Das ist die Bedingung seiner Idealität." Die erste Auswirkung der so getroffenen Definition ist, daß – Desiderat jeder Über- 20 legung zur 'Materialität der Kommunikation' – es plötzlich möglich erscheint, den semiotischen Prozeß auf einen materiellen Vorgang, einen Signifikanten-Mechanis- mus zu reduzieren. Gleichzeitig aber, und dies ist der Punkt, den Derrida herausarbei- tet, ergibt sich ein eigentümliches Paradox; wenn es nämlich allein die Wiederholung ist, die die Identität des sprachlichen Zeichens garantiert, und wenn Wiederholung eine Abfolge einzelner, und damit niemals völlig identischer Aktualisierungen bedeutet, so muß man folgern, daß Identität im Bereich der Sprache einer irreduziblen Nicht- Identität sich verdankt, und damit, bildhaft gesprochen, über einem Abgrund errichtet ist. Kittler also dreht ein zutiefst skeptisches Argument pragmatisch um, wenn er mit der zumindest relativen Stabilität, die aus der Wiederholung hervorgeht, sich bescheidet. Das damit skizzierte Zeichenmodell aber ist mühelos auf die Welt der Bilder, und, das ist Kittlers These, auch auf die Realwahrnehmung zu übertragen. Das vom Gegenstand reflektierte Licht mag für den Netzhautreiz verantwortlich sein; daß der Gegenstand von seinem Hintergrund isoliert wird, aber ist, ganz wie die Gestalttheo- 18 Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt 1983 (O., frz.: 1967) 19 ebd., S. 165. Vergleichbare Stellen finden sich auf S. 248-272, 284, 496 und 500. 20 Zur Problematisierung des Begriffs und der Untersuchungsrichtung siehe: Gumbrecht, Hans Ulrich; Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt 1988. 134 retiker behaupteten, bereits ein Effekt des Wiedererkennens; und damit Effekt einer symbolischen Ordnung, in die der Gegenstand, und sei es in seiner allgemeinsten Form wiedererkannt als ein 'Etwas', immer schon eingerückt ist. Kehrt man von ihrer zeichentheoretischen Erweiterung nun wieder zur Gestalttheorie selbst zurück, sind zunächst zwei Dinge nachzutragen. So hat der Rekurs der Gestalttheoretiker auf die Biologie zumindest an einer Stelle eine gewisse Plausibilität, dann nämlich, wenn in Frontstellung gegen die atomistische 21 Psychologie von einem 'Drang zur Dingkonstitution' gesprochen wird. Unterstellt man diesen Drang zunächst nur dem erkennenden Subjekt (und eben nicht auch der amorphen Sphäre des zu Erkennenden), könnte der 'Drang' auf eben jenen Zwang zu einer Ökonomie mentaler Vorgänge verweisen, der im Zusammenhang der Prägnanz bereits aufgetaucht war. Ausdrücklich wird ein solcher Zwang nicht thematisiert, er klingt aber noch an einer dritten Stelle an, die besagt, daß der 'Gestaltdruck' zunehme, sobald durch Verminderung der Expositionszeit oder der Beleuchtung die Wahrnehmung erschwert, der Zwang zur Ökonomie der Wahrnehmung also verstärkt wird. Wichtig sind diese Überlegungen vor allem deshalb, weil sie eine Brücke von dem zunächst rein qualitativen Begriff der Gestalt hin zu den Quantitäten schlagen, die, meist zum Begriff der 'Informationsdichte' verdinglicht, für die Beurteilung ästheti- scher Produkte eine Rolle spielen. Der zweite Nachtrag betrifft die Tatsache, daß es vor allem die individuelle Erfahrung 22 ist, die die Gestalttheoretiker als Quelle der Gestalten abweisen. Hier eröffnet der Kittlersche Bezug auf den Mechanismus der Zeichenkonstitution eine neue Di- mension, insofern der Begriff des Zeichens sinnvoll nur auf überindividuelle, d.h. intersubjektive Strukturen bezogen werden kann. Im ständigen Bemühen, die 'Nicht-Beliebigkeit' seelischer Vorgänge, ihre ursprüng- 23 liche 'Sinnhaftigkeit' und Ganzheitlichkeit zu betonen, sieht sich die Gestalttheorie immer wieder auf die Natur geworfen; obwohl sich der Begriff der Konvention gerade- zu anböte, eine individuell eben nicht beliebige, kollektiv aber arbiträre Zwischenzone zwischen der individuellen Erfahrung und der vorgängigen 'Natur' zu installieren. Interessanterweise bedauert Katz selbst mehrfach, daß die Gestaltpsychologie eine 24 Theorie des Symbolischen nicht zuzulassen scheine; und es wird zu zeigen sein, ob das Kittlersche Modell der Iteration allein auch die intersubjektive Verbindlichkeit der generierten Zeichen sicherstellen kann. 21 siehe Katz, a.a.O., S. 32 22 ebd., S. 31, 170 23 ebd., S. 54, 97 24 ebd., S. 102, 170 135 Als drittes schließlich soll der Gedanke des Wiedererkennens noch einmal aufgenom- men, und nun unter dem Aspekt des Gedächtnisses diskutiert werden. Aus den Über- legungen der Gestaltpsychologen nämlich ergeben sich bestimmte Folgerungen für Wiedererkennen, Gedächtnis und Identität, die für die hier verfolgte Argumentation wichtig sind. So schreibt Katz: "Spricht man von Gedächtnisphänomenen, so denkt man wohl in erster Linie an Lernen, Erinnern und Reproduzieren, doch wären auch Vergleichen 25 und Wiedererkennen ohne Gedächtnis nicht möglich." Nach einem Angriff auf die Assoziationspsychologie, die Assoziation und Gedächtnis allein auf raum-zeitliche Nähe in der Vergangenheit zurückführe, und dabei vernach- lässige, daß jede Assoziation eine quasi energetische Basis in Bedürfnis und Interesse brauche, fragt er: "Was liegt vor, wenn ich einen früher gesehenen Menschen wiedererkenne oder von ihm sage, er habe sich in der Zwischenzeit sehr verändert? Man ist geneigt zu glauben, es müsse in diesen Fällen ein Vorstellungsbild von dem Menschen, wie er früher ausgesehen hat, gegeben sein. Die sorgfältige Selbstbeobachtung muß das verneinen. Ebensowenig muß eine selbständige Vorstellung mit im Spiel sein, wenn ich einen vergangenen Eindruck bewußt mit einem gegenwärtigen verglei- che. Die Leistungen des Wiedererkennens und des Vergleichens wären aber sicher nicht möglich, wenn nicht recht genaue Äquivalente der früheren Eindrücke im zentralen Nervensystem vorhanden wären. Diese Äquivalente bezeichnet man als 26 Spuren." Die Spuren sind von der Gesamtwahrnehmung, und damit auch von der Deutung des visuellen Eindrucks abhängig; "das Netzhautbild als solches hinterläßt [...] keine Spur, 27 sondern das eintretende Figurerlebnis." Auch die Überlegungen der Gestaltpsychologie zum Gedächtnis und ihre Opposition gegenüber der Assoziationspsychologie also gehen von der Vorstellung 'organisierter Gedächtniseinheiten' aus – ein Synonym für die Gestalten –, die das Wesentliche des visuellen Eindrucks und den affektiven Hintergrund des visuellen Erlebnisses inte- griert haben. Katz sieht in der Theorie des Gedächtnis' ein Anwendungsgebiet der Gestaltpsychologie unter vielen; von der hier verfolgten Fragestellung aus aber kommt dieser Teilüberlegung ein ungleich höherer Stellenwert zu: vollständig parallel zu Kittler nämlich scheint an dieser Stelle die Möglichkeit zugestanden, Gestalten könnten eben nicht allein natürlich gegeben sein, sondern durch Erfahrungen auch je- weils neu und different entstehen. Die Erinnerung an ein Gesicht mag auf allgemeine Gesetze der Wahrnehmung und der Erinnerung gegründet sein, konkret ist diese Erinnerung abhängig von der ursprünglichen Wahrnehmungssituation und ein konkre- 25 ebd., S. 108 26 ebd., S. 110 27 ebd., S. 111 136 ter Besitz dessen, der sich der ursprünglichen Begegnung erinnert. Und von der indi- viduellen Erinnerung aus wird es möglich, nach jener konventionellen zu fragen, die das eigentliche Thema darstellt. Noch deutlicher wird die so umrissene Tendenz an einer Stelle, an der Katz (wenn auch im Rückgriff auf die Tierpsychologie) sogar die Identität des Gegenstandes von bestimmten Wahrnehmungsstrukturen abhängig macht: "Die Jungen des Fischreihers begrüßen den zurückkehrenden Vater nach einem bestimmten Handlungszeremoniell. Wenn er aber unter besonderen Umständen die Begrüßungsszene ausfallen läßt, so nehmen die jungen Vögel eine drohende Hal- tung gegen ihn ein und hacken nach seinem Kopf. Der Vater wird also nicht in eindeutiger Weise behandelt, sondern verschieden, je nach den gegebenen Situ- 28 ationsgestalten." Auf der Seite des Gegenstandes also mag Identität von vornherein gegeben sein, für die Wahrnehmung ist sie abhängig vom Wiedererkennen bestimmter Merkmale, ab- hängig von Erinnerungsbildern. Unter der Hand, das ist der Zuwachs an dieser Stelle, hat Katz seine naiv-ontologischen Grundannahmen verlassen. Und mehr noch: deutlich ist es im Beispiel eine Art Bewegungs-Code, der das Wie- dererkennen garantiert; die Katzsche Argumentation also scheint sich dem Gedanken konventioneller Gestalten anzunähern, den sie sonst so hartnäckig umschifft. Der Code aber, und das ist der Rückfall, ist im Instinkt garantiert; der Code ist wiederum Natur. Die instinktverbürgten Wahrnehmungsgestalten sind starr, den Menschen dagegen sieht Katz dadurch gekennzeichnet, "daß er sich im Gegensatz zum Tier von ihnen emanzipieren kann. [...] [Und] auch Gedächtnisgestalten binden das Tier viel stärker 29 als den Menschen. Das Tier unterliegt mehr als wir dem Zwang der Gewohnheit". Instinktzwang, Freiheit, Gewohnheit; den entscheidenden Schritt, die Kette Erfahrung, Wiederholung, Konvention, und in der Konvention das Substitut aufzufinden, das auf Seiten des Menschen den zurücktretenden Instinkt vertritt, tut Katz nicht. So bleibt der Begriff der Gestalt zwischen Naturzwang und 'Freiheit' im Ungewissen, die Erfahrung muß abgewiesen, und die Konvention und das Symbolische können ins Modell nicht integriert werden. Die Gestalttheorie, wie Katz sie sieht, ist eine Theorie der Wahrnehmungsvorausset- zungen, nicht eine Theorie der Erfahrung; der Versuch aber, sie gegen diese Intention zu lesen und auf die Sphäre der Erfahrung gerade einzuschränken, kann sich zumindest auf bestimmte Implikationen des jeweils Vorgetragenen berufen. 28 ebd., S. 155 29 ebd., S. 155 137 3.1.4 'Objekte' der filmischen Wahrnehmung Was nun bedeutet dies alles für den Film? Zunächst und an erster Stelle ist aufgrund der gestaltpsychologischen Überlegungen die scheinbare Selbstverständlichkeit zu relativieren, daß der Rezipient auf der Leinwand 'Objekte' identifiziert. Vom All- gemeinbewußtsein gegenüber dem Film bis in die Filmsemiotik hinein hält sich der eigentümliche Widerspruch, daß auf der einen Seite der kontinuierliche Charakter des Films betont wird, die Unmöglichkeit, eine bestimmte Landschaftsstimmung oder einen blau-grauen Himmel auf der Leinwand als distinktes 'Objekt' zu isolieren, daß auf der anderen Seite aber die Erkennung von Objekten durch die Gewißheit ihrer Existenz innerhalb der objektiven Welt verbürgt erscheint Vom Standpunkt der Gestalttheorie aus nun stellt sich die Frage vollständig anders: 'Objekt' der filmischen Wahrnehmung aus dieser Perspektive ist grundsätzlich alles, was wiedererkannt wird, und 'Gegenstände' werden konstituiert, allein insofern die Wahrnehmung auf bereits bestehende Erwartungen oder Konzepte trifft. Der wesentliche Unterschied ist, daß es für den so skizzierten Mechanismus völlig gleichgültig ist, woher die Erwartungen oder Konzepte stammen, ob aus der Real- wahrnehmung, ob aus der Teilnahme an außerfilmischen Diskursen oder aus der Filmwahrnehmung selbst; es wird nun vorstellbar, daß der Film selbst seine eigenen Objekte konstituiert, bzw. daß die Realwahrnehmung ihrerseits von der distinktiven Leistung der verschiedenen Zeichensysteme sich als abhängig erweisen könnte. Ins- besondere die letztgenannte Überlegung ist ein Vorgriff auf eine Klärung der – natür- lich alles andere als gleichgültigen – Frage nach der Wechselbeziehung, die die Zei- chensysteme untereinander eingehen. Wichtig ist einstweilen nur, daß mit der Iteration und dem Wiedererkennen zwei Mechanismen in den Blick gekommen sind, die es möglich machen, die Frage in dieser Allgemeinheit überhaupt zu stellen. Konkret ist zunächst die Rolle zu klären, die das Wiedererkennen speziell für den Film und für das Kino spielt. Das Wiedererkennen als eine Urlust des Kinos ist einer der 1 Pfeiler, auf denen Morin seine Kinotheorie errichtet; neben dem Erstaunen vor dem Fremdartigen, Neuen oder Amüsanten gab es von Beginn an die Lust an der Abbildung selbst, die Lust, das Vertraute, Banale auf der Leinwand verdoppelt zu sehen; "Die Einführung des Films in Regionen, wo er unbekannt ist, ruft immer die glei- chen Erscheinungen hervor. Leutnant Dumont notiert die Reaktionen der marok- kanischen Berber: 'Der Anblick des Hufschmiedes, der einen Esel beschlägt, des Töpfers, der Ton knetet, eines Mannes, der geröstete Heuschrecken verzehrt, eines Esels, der vorbeigeht [...], entfesselt eine allgemeine Begeisterung: freudige und 2 erstaunte Ausrufe kommen von allen Seiten.'" 1 Morin, Edgar: Der Mensch und das Kino. Stuttgart 1958 (O., frz.: 1956) 2 ebd., S. 18 138 Und Morin besteht darauf, daß solche Lust an der Verdopplung nicht an eine Erst- begegnung mit dem Film gebunden ist, sondern als eine Grundlage der Kinolust entlang der gesamten Filmgeschichte mitgedacht werden muß. In dieser ersten Stufe ist das Wiedererkennen zunächst ausschließlich als ein Wiedererkennen außerfilmi- scher Realität gedacht; in einer anderen Terminologie als derjenigen Morins also könnte man sagen, daß der Film als Medium eine Stufe der Ikonizität bezeichnet, die für sich genommen bereits Lust zu produzieren in der Lage ist. Noch eine zweite und völlig andere Dimension des Wiedererkennens aber klingt bei Morin an: Am Beispiel bestimmter filmischen Darstellungsmittel nämlich diskutiert er, wie allein die Tatsache der Wiederholung den Charakter des Wiederholten sukzes- sive verändert, wie Wiederholung in Konventionalisierung mündet und – dies dritte wird zu erläutern sein – wie Inhalt in 'Sprache' übergeht. "In gewissen Fällen (Abblenden, Überblenden, Doppelbelichtung) können wir sogar den vollständigen Kreislauf verfolgen, die gesamte Enwicklung, die von der phantastischen Metamorphose zum grammatischen Zeichen geht. Bei Méliès läßt die Metamorphose die Überblendung entstehen, und das Ver- schwinden äußert sich im Abblenden. Seiner Magie entkleidet, wird das Über- blenden zum poetischen oder traumhaften Effekt. Diese Wirkungen nutzen sich mehr und mehr ab; die Überblendung (ebenso wie das Abblenden, das im Durch- blenden aufzugehen bestrebt ist), wird auf einen syntaktischen Zweck zurück- geführt; sie wird zum Zeichen einer wesenhaften Verbindung zwischen zwei Ein- stellungen. So ist die Magie nicht nur verkümmert, um der emotionalen Partizipation Platz zu machen, sondern diese hat sich durch Benutzung und Abnutzung fortschreitend zur Abstraktion verhärtet: der magische Trick hat sich in ein Zeichen der Verständi- 3 gung verwandelt." Der thematische Wechsel von den Objekten der filmischen Darstellung hin zu den Darstellungsmitteln beinhaltet nur scheinbar einen Sprung; Morin nämlich legt klar, daß er auch auf der Ebene der Objekte den gleichen Mechanismus in Wirkung sieht: "Über Abblenden, Durchblenden und Doppelbelichtung hinaus ließe sich ein Katalog von Symbolen, die unter der verflachenden Wirkung der Wiederholung zu Zeichen erstarrt sind, aufstellen: der welkende Blumenstrauß, die davonflatternden Kalenderblätter, die rasch herumkreisenden Uhrzeiger, die Anhäufung von Stum- meln in einem Aschenbecher; alle diese figürlichen Darstellungen, welche die Zeitdauer verdichten, sind erst Symbole geworden, dann Zeichen der vergehenden Zeit. Ebenso der in die Landschaft geschleuderte Zug, das in den Himmel jagende Flugzeug, (als Zeichen, daß die Helden des Films auf Reisen sind) usw Der Vorgang ist derselbe wie in unserer Wortsprache, wo die wundervollsten Me- 3 ebd., S. 195 139 taphern zu 'Klischees' erstarrt sind. Ebenso sind die stereotypen Zeichen des Films Symbole, die ihr emotionales Leben verloren haben. Um so besser behaupten sie ihre Bedeutungsfunktion, ja sie rufen sogar eine Verbegrifflichung hervor: es sind nicht begleitende Eigenschaften, sondern beinahe Ideen (die Idee der vergehenden Zeit, die Idee der Reise, die Idee der Liebe, ebenso wie die Idee des Traumes, die Idee der Erinnerung), die am Ende einer authentischen intellektuellen Ontogenese in Erscheinung treten. Von hier aus kann man die Kontinuität erfassen, die vom Symbol zum Zeichen 4 geht." Morin also skizziert einen Mechanismus der Konventionalisierung, der die Ebene der filmischen Darstellungstechniken und die der Objekte des Films in völlig paralleler Weise ergreift. Am Anfang steht jeweils das nie gesehene Objekt, der magische Effekt, die Verblüffung oder der starke Eindruck, am Ende ein Klischee, das seine originäre 'Kraft' eingebüßt, im System der Erwartungen und Konzepte aber einen festen Platz gefunden hat. Das Klischee ist sicher und verstehbar, es ist zum Bild-Zeichen 5 geworden. Auch Morin also beschreibt einen Mechanismus der Zeichengenese, der allein auf die faktische Wiederholung gegründet ist. Verschiedene Anzeichen in Morins Text und vor allem die relative Isoliertheit der zitierten Stellen deuten darauf hin, daß Morin selbst die eigentliche Tragweite dieser Konzeption nicht völlig bewußt geworden ist. So zeigt zunächst die Wahl der Beispiele an, daß Morin vor allem einzelne, heraus- ragende Bildklischees vor Augen hatte, die mit der Konventionalisierung zunehmend abstrakte Bedeutung bekommen. Dieselbe Konzeption aber, und das ist die erweiterte Deutung, die hier vorgeschlagen werden soll, ist auf das Problem filmischer Objekt- konstitution allgemein anwendbar. Absolut jedes im Film gezeigte 'Ding' durchläuft den von Morin skizzierten Weg, oder besser: es wird zu einem 'Ding' erst dadurch, daß es außer- oder innerhalb des Mediums Film einen vergleichbaren Weg der Wieder- holung und der 'Konzeptualisierung' durchlaufen hat. Fühlbare Bildklischees also 4 ebd., S. 196 5 Der Weg vom nie gesehenen Objekt hin zum Klischee und zum Code gilt für die Mikroebene der einzelnen Bilder und Techniken wie für die Geschichte des Kinos insgesamt; wo das frühe Kino Bilder hervorbrachte, die auch heute noch verblüffen und dem Zuschauer eigene Entdekungsreisen erlauben, erfordert es heute erhebliche Anstrengungen, vergleichbar frische und unverbrauchte Bilder zu produ- zieren. Umso erstaunlicher ist, daß die Kinoindustrie dem naturwüchsig ablaufenden Kodifizierungsprozeß nicht etwa entgegen-, sondern bewußt zugearbeitet hat, indem sie das im frühen Kino relativ breit angelegte Spektrum ästhetischer Möglichkeiten gezielt und bewußt einengte. (Zu dieser Entwicklung und insbesondere der Kodifizierung der Geschlechterrollen im Kino der Zeit vor dem erstem Weltkrieg siehe: Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Frank- furt/M. 1990). 1 40 sind nur der Sonderfall eines Prozesses, der das filmische Verstehen überhaupt erst möglich macht. Eines Prozesses allerdings, der normalerweise unbemerkt bleibt, zum 6 einen weil er sich in der Realwahrnehmung weitgehend parallel vollzieht, zum ande- ren weil es nur im Rahmen einer relativ speziellen Problemstellung sinnvoll sein kann, nach der Konstitution filmischer oder außerfilmischer Objekte zu fragen und ihre Existenz nicht ein weiteres Mal schlicht vorauszusetzen. Die zweite Verschiebung gegenüber Morin betrifft seine implizite Annahme, daß der Konventionalisierungsprozeß jeweils auf eine originäre Schöpfung an seinem Aus- gangspunkt angewiesen sei. Der von Méliès entdeckte Metamorphose-Effekt der Überblendung stellt sicher eine solch originäre 'Erfindung' dar; das Sprengende an der Vorstellung einer Zeichengenese durch Wiederholung aber ist gerade, daß die Wiederholung absolut jedes Element und damit auch solche Elemente aufgreifen kann, die zufällig in Filmbildern auftreten. Auch Zufälliges, Randständiges oder Miß- verstandenes kann in den Prozeß der Iteration hineingezogen werden und den be- schriebenen Prozeß der Verfestigung durchmachen; was zur Folge hat, daß die Zei- chengenese von Kategorien wie der subjektiven Intention oder Schöpfungskraft weit- gehend gelöst werden kann. Modellhafte Überlegungen wie die skizzierten, das sei eingeschoben, sind weniger abstrakt und von den empirischen Problemen der Filmproduktion weniger weit ent- fernt, als es scheinen will. Der Film unterscheidet sich von anderen Bildmedien u.a. dadurch, daß er seine Bilder jeweils nur eine Zeitlang exponiert. Der Frage nach den Wahrnehmungsvoraussetzungen, den Hintergrundkonzepten und dem Wiedererken- nen kommt dadurch eine unmittelbar empirische Relevanz zu, insofern etwa die Expositionszeit der Gegenstände darüber entscheidet, was, wie und wie genau der Rezipient im Bild zu lesen imstande ist, was an Information also für den Fortgang des 7 Geschehens zur Verfügung steht. Ein grundsätzliches Problem zumindest des narra- tiven Films ist die Wiedererkennung von Personen. Vor allem Hollywood löst dieses Problem schematisch durch die Maximierung von Differenzen, indem etwa die Kom- bination zweier blonder Hauptdarstellerinnen konsequent vermieden wird. Solch pragmatische Lösungen aber haben ihren Preis in einer deutlichen Tendenz zur Stili- 8 sierung, die dem Realismusversprechen des Films widerspricht und die, das kann 6 Die Differenzen werden zu diskutieren sein 7 Der Begriff der Information ist im Zusammenhang der Bildmedien immer problematisch; wenn er dennoch verwendet wird, sollte jeweils klar sein, daß es bislang kein auch nur annähernd schlüssiges Modell für die Quantifizierbarkeit von Bildinformationen gibt. 8 Morin etwa beklagt die Stilisierung in der Auseinandersetzung mit einer Äußerung von 1929, nach der es "'nicht darauf an(komme), das Kostüm der letzten Mode zu zeigen, sondern ein Kostüm, welches das Wesentliche aus der zeitgenössischen Linie herausholt. Diese zusätzliche Stilisierung ist besonders bei raschem Einstellungswechsel notwendig: ein Maximum an Suggestion in einem Minimum an Zeit' (Bilinsky)." Und Morin wendet ein: "Das typische Objekt ist gewissermaßen das übergegenständliche Objekt. Aber die Essenz des Realen kann die Form in ein konventionelles Zeichen verwandeln und sich schließlich gegen das Reale kehren: die typischen Landschaften, die typischen Kostüme, die typischen 141 man nun ergänzen, den Prozeß der 'natürlichen' Zeichengenese durch Wiederholung über Gebühr beschleunigt. Und es ergibt sich eine noch konkretere Folgerung: Auf dem Hintergrund der skiz- zierten Theorie wird man die häufig beklagten Kino-Klischees mit dem Prozeß der 'Abnutzung' der Bilder in der Wiederholung in eine regelhafte Verbindung bringen müssen: Der Film neigt ganz offensichtlich dazu, seinen Gegenstand – jeden Gegen- stand – zu erschöpfen; so daß zum einen die Frage entsteht, ob die Innovation der filmischen Gegenstände und Mittel als ein potentiell infiniter Progreß gedacht werden kann oder ob eine grundsätzliche Erschöpfung dieses Mediums in den Bereich des Denkbaren rückt. Zum zweiten entsteht der Verdacht, die Klischees könnten nicht allein Kennzeichen eines bestimmten, gesellschaftlich oder wirtschaftlich funktionali- sierten Kinos, im Rahmen eines anderen, 'befreiten' Kinos also vermeidbar sein. Vielleicht sind die Klischees eine Art systematischer Defekt des Mediums, und damit der Preis, der für den Sieg der technischen Bilder zu zahlen ist. 3.1.5 Film und Sprache Kehrt man auf die Ebene des theoretischen Modells zurück, ist nun ein Problem in den Blick zu nehmen, das den Horizont der Gestalttheorie überschreitet, das sich bei Morin aber bereits angedeutet hatte. Bislang nämlich fehlen zwei wesentliche Elemente, die jede Rede von einem 'Symbolischen' des Films stillschweigend unterstellt, die aber weder im Rahmen der Semiotik noch in der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion des Symbolischen über die Gestalttheorie umstandslos gegeben sind: das Moment der Intersubjektivität und das Verhältnis, das der Film – so wie er hier modelliert wird – zur Sprache unterhält. Die Gestalttheorie selbst hat sich mit dem Problem der Intersubjektivität nicht kon- frontiert; die universelle Geltung des Gestaltprinzips, sein Changieren auch auf die Seite der Objekte und seine Nähe zum Instinkt schienen für die Intersubjektivität pro- blemlos einzustehen. Und erst im Versuch, die Gestalttheorie auf eine Theorie der Wahrnehmung einzuschränken, tritt der zunächst rettungslos private Charakter der im Wiedererkennen akkumulierten Konzepte und Erwartungen hervor. Wie also schlägt das Massenmedium Film zwischen dem individuellen Wiedererkennen und der zwei- fellos intersubjektiv verständlichen filmischen Aussage eine Brücke? Die Beantwortung der so gestellten Frage hängt mit der zweiten nach dem Wohnungen usw. verlieren jede Wahrheit." (a.a.O., S. 181 (Erg. H.W.)) 1 42 Sprachcharakter des Films und nach dem Verhältnis zwischen Film und Wortsprache eng zusammen. Diese zweite Frage ist deshalb nun zunächst zu klären. Ein erster Schritt legt, wenn auch noch keinen systematischen Bezug, so doch eine deutliche Parallele offen. Eine entscheidende Stärke der auf die Gestalttheorie ge- stützten Rekonstruktion der Filmwahrnehmung als Wiedererkennen und Iteration nämlich ist, daß sie erlaubt, Sprache und Film in gleichen Termen zu beschreiben. Wie im Zusammenhang mit Kittler angesprochen, hat Derrida eine ganze Sprachtheorie vom Mechanismus der Wiederholung abhängig gemacht und die Identität des sprachliche Zeichens aus seiner Wiederholung in wechselnden Kon-Texten abgelei- 1 tet. Für die Sprachphilosophie hatte dies vor allem die Konsequenz, den Blick auf die konkreten materialen Mechanismen der Kombination, auf das Signifikantenspiel in konkreten materialen Diskursen zu lenken. Und das Wiedererkennen der sprachlichen Zeichen, das man bisher für eine unhinterfragbare Voraussetzung sprachlichen Ver- stehens gehalten hatte, war nun als ein Effekt über der sprachlichen Kette, ein Effekt konkreter Diskursereignisse zu detektieren. Die erste Parallele also ist, daß Sprache und Filmwahrnehmung in gleicher Weise von wiederholten materialen Ereignissen im jeweiligen Diskurs abhängig sind, eine Parallele, die die Kluft zwischen dem 'ikonischen' Filmbild, dessen Weltbezug durch seine Ähnlichkeit garantiert erscheint, und dem 'arbiträren' sprachlichen Zeichen deutlich in den Hintergrund treten läßt. Will man über diese erste Strukturanalogie hinaus, bietet eine Theorie sich an, die 1942 – u.a. ebenfalls auf Basis der Gestalttheorie – das Verhältnis zwischen der Sprache und anderen Formen symbolischer Praxis zu klären versuchte. S.K. Langers 'Philosophie 2 auf neuem Wege' geht es in erster Linie darum, den Primat der Sprache in Frage zu - stellen; Langer interessiert sich für jene Schicht 'präsentativer Symbole', die neben, vor und unterhalb der Ebene sprachlicher Symbole die Wahrnehmung und die symbo- lische Produktion des Menschen strukturieren, und sie untersucht als Beispiele solch 3 präsentativer Symbolismen den Mythos, den Ritus und die Kunst. Für die hier vorgetragene Argumentation ist der Text vor allem deshalb interessant, 1 Derrida, Grammatologie, a.a.O. 2 Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt 1965 (O., am.: 1942) Das Buch hat in vieler Richtung Einfluß aufgeübt; so greift vor allem Lorenzer in seiner Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs auf Langer zurück (L., Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruk- tion. Ffm 1973), für den Bereich des Films wäre Gaube zu nennen, der Traumsymbolik und filmische Symbolik auf der Grundlage des präsentativen Symbolismus zusammenbringen will (G., Uwe: Film und Traum. München 1978). (Da Gaube bestimmte idealistisch-subjektphilosophische Grundannahmen Langers eher noch steigert, ist sein Text für die Zwecke dieser Arbeit allerdings nahezu unbrauchbar). 3 Im Zusammenhang mit der Langerschen Terminologie sei noch einmal daran erinnert, daß 'Symbol' und 'Symbolismus' in der hier vorgetragenen Argumentation nicht im deutschen, sondern im amerikanischen Sinn, synonym also etwa mit dem allgemeinen Begriff des Zeichens verwendet werden. 143 weil Langer eine sprachtheoretisch belehrte Variante der Gestalttheorie präsentiert, die relativ mühelos die Brücke zwischen Bildwahrnehmung und Sprachverstehen schlägt. Die erste Textstelle bereits belegt diese der Gestalttheorie gegenüber erweiterte Per- spektive: "Unsere reine Sinneserfahrung ist bereits ein Prozeß der Formulierung. [...] Die Welt der reinen Sinnesempfindung ist so komplex, fließend und reich, daß bloße Reizempfindlichkeit nur das antreffen würde, was William James 'eine blühende, schwirrende Konfusion' genannt hat. Aus diesem Chaos müssen unsere Sinnes- organe bestimmte vorherrschende Formen auswählen, wenn sie Dinge und nicht bloß sich auflösende Sinnesempfindungen melden sollen. Auge und Ohr müssen ihre Logik [...] haben. Ein Objekt ist kein Sinnesdatum, sondern eine durch das sensitive und intelligente Organ gedeutete Form, eine Form, die gleichzeitig ein erlebtes Einzelding und ein Symbol für dessen Begriff, für diese Art von Ding ist. [...] Dieser unbewußte 'Sinn für Formen' aber ist die primitive Wurzel aller Abstraktion, die ihrerseits der 4 Schlüssel zur Rationalität ist." Langer also legt Wert darauf, daß es sich bei dem Wiedererkennen, das die 'Dinge' konstituiert, bereits um ein Wiedererkennen von Formen handelt, und damit um jenen Grundmechanismus der Abstraktion, der in allgemeinerer Form der begrifflichen Sprache zugrundeliegt. In der 'wirklichen' Welt sind Formen nicht gegeben; der menschliche Verstand trägt sie an das Gewirr der Sinnesdaten heran, um mit ihrer Hilfe Gegenstände zu isolieren; soweit der gestalttheoretische Grundgedanke. Die For- men aber, folgert Langer, sind notwendig allgemein, allgemeiner als die Sinnesdaten, allgemeiner aber auch als jene 'Einzeldinge', die mithilfe der Formen erschlossen werden. Langer also zeigt, daß die Formen, klammert man die Frage der Intersubjektivität einstweilen aus, auf völlig vergleichbarer Ebene anzusiedeln sind wie die Begriffe der Sprache, die in einem Verhältnis der Subsumption zu ihren Gegenständen stehen. Dies, und zunächst nur dies, berechtigt Langer dazu, auch im Fall der Realwahrneh- mung von einer symbolischen Strukturierung zu sprechen: "Die von Auge und Ohr vollzogenen Abstraktionen – die Formen der direkten Wahrnehmung – sind die primitivsten Instrumente unserer Intelligenz. Sie sind 5 echtes symbolisches Material". Und mit dem notwendig allgemeinen Charakter der symbolischen Formen gewinnt sie ein Kriterium, das die verschiedenen symbolischen Systeme zuverlässig miteinander verbindet. 4 Langer, a.a.O., S. 95f (Hervorh. H.W.) 5 ebd., S. 98, siehe auch S. 76f (Hervorh. H.W.) 1 44 Abstraktion aber bezeichnet bei Langer auch einen Prozeß. Die Frage, auf welchem Wege die symbolischen Formen entstehen, würde sie nicht allein mit dem Hinweis auf die Wiederholung beantworten, sondern darüber hinaus mit dem Modell einer fortschreitenden Abstraktion, einer Abstraktion, die sich im Lauf der Wiederholungen vollzieht. Allgemeinheit also ist den symbolischen Formen nicht von vornherein ge- geben, sondern sie bildet sich heraus. Die zugrundeliegende Vorstellung ist die einer fortschreitenden Kontextentbindung. Jede neu auftretende symbolische Form ist eingebettet in einen konkreten und engen Kontext, dem sie ihre Enstehung verdankt; zur eigentlich symbolischen Form, im Gegensatz etwa zum 'Anzeichen', aber wird sie erst dadurch, daß sie sich von diesem ursprünglichen Kontext löst und Schritt für Schritt in neue Sitationen und Kontexte eintritt; indem sie einen Prozeß durchläuft, der sie in ihrer Substanz vom Konkreten 6 zum Abstrakten hin verändert. Und auch zum Antrieb dieser Entwicklung hat Langer eine bestimmte Vorstellung: Den Motor, zumindest im Bereich der Sprache, sieht sie im metaphorischen Prozeß, der die Knappheit der zur Verfügung stehenden Symbole dadurch aufwiegt, daß er vorhandene Symbole nach dem Gesetz der Strukturanalogie auf immer neue, bislang fremde Gegenstände appliziert, "so daß unsere wörtliche Sprache geradezu ein Wa- 7 renlager von abgeblaßten Metaphern darstellt." Allgemeinheit in diesem Sinne also ist die relative Unabhängigkeit von konkreten 8 Kontexten, die Symbole im Verlauf einer langen Anwendungstradition erreichen. Der Zuwachs an dieser Stelle ist, daß nun so etwas wie ein 'Zeichenschicksal' an- 9 genommen werden muß. Die symbolischen Formen durchlaufen bestimmte 'Lebens- phasen' und offensichtlich weisen sie nicht in jeder dieser Phasen jene Härte und distinktive Kraft auf, die der Begriff von vornherein zu implizieren scheint. Folgt man dem Modell, verdankt sich ihre Stabilität vielmehr einer prozessualen Verhärtung, 10 einer Verhärtung, die der Gebrauch in wechselnden Kontexten mit sich bringt. 6 ebd., S. 39, 135, 142, 243 7 ebd., S. 142 (Erg. H.W.) 8 ebd., S. 73 Das so skizzierte Modell ist ebenso fruchtbar wie - in bestimmten Voraussetzungen und Folgerungen - kritisch. Eine einfachere Vorstellung des Abstraktionsprozesses ist, daß am Anfang der Iteration der Verweis auf ein Einzelding steht, das niemals völlig identisch wiederauftritt, als ein 'Gleiches' also nur wiedererkannt werden kann, wenn die konkreten Differenzen vernachlässigt werden. 9 Den Begriff des Zeichens verwendet Langer nicht, vielleicht weil dieser Begriff deutlicher noch als der des Symbols den Anspruch auf intersubjektive Geltung einschließt. 10 Der Gedanke eines 'Zeichenschicksals' korrespondiert mit der Grundvorstellung Langers, nach der die präsentativen Symbole als Vorstufe der diskursiven anzusehen sind, so daß die 'Artikulation' von präsentativen zu diskursiven Symbolen voranschreitet, und mit dem Begriff der Artikulation selbst, der die Formung eines ungeformten, bis dahin fluiden Inhalts unterstellt. 145 Drei Mechanismen also sind bislang benannt, die die Bild- bzw. die Realwahrneh- mung mit der Sprache teilen: Die Abhängigkeit der symbolischen Formen von der Iteration, ihr notwenig abstrakter, d.h. subsumierender Charakter und ihr Eingebun- densein in einen Prozeß der Migration zwischen Kontexten, der ihre Abstraktheit und ihre Distinktionskraft überhaupt erst herstellt. Ein viertes Kriterium tritt nun hinzu. Ein wesentlicher Zug in Langers Modell nämlich ist, daß die symbolischen Formen, obwohl sie ein individuelles 'Schicksal' durchlaufen, in ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, in einen Systemzusammenhang eingebettet sind. Der systemische Zusammenhang der Einzelsymbole ist seit Saussure das entschei- dende Kriterium für Sprachlichkeit überhaupt. Zeichen beziehen sich aufeinander, bevor sie sich auf irgendetwas in der Welt beziehen können, und ihr negativ-diffe- rentielles Verhältnis konstituiert jenes 'Netz', das der einzelnen Bedeutung ihren Ort überhaupt erst zuweist. Langer, die der deutschen Sprachphilosophie sicher näher steht als der französischen, thematisiert den Systembezug nicht als Problem; vor allem das Bild des Symbol-'Gewebes' aber, auf das ihr Buch zuläuft, kann vom einzelnen Symbol her nicht gedacht werden. Als Hintergrund der Wahrnehmung fungieren nicht einzelne Symbole, sondern jeweils ein ganzes System; es ist ein Raster, mit dem wir den Sinnesdaten begegnen, ein Konstrukt, das dem Wahrgenommenen seine Struktur aufprägt. Erst durch das sym- bolische System als Ganzes "erhält unser Leben einen Hintergrund von eng ineinander verwobenen vielfältigen Bedeutungen, vor dem alle bewußten Erfahrungen und Deutungen gemessen werden. [Und erst auf diese Weise hat] jeder Gegenstand, der in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit tritt, [...] Bedeutung über die 'Tatsache', in der er figuriert, 11 hinaus." Zumindest vier grundlegende Züge also teilen die Sprache und die präsentativen Symbole. Wie aber, man wird die Frage jetzt konkreter stellen können, ist ihr Ver- hältnis zu denken? Langer gibt die eindeutige, und in der Semiotik keineswegs selbst- verständliche Antwort, daß präsentative und diskursive Symbole aufgrund spezifischer Eigenschaften sich ergänzen, und daß sie zweitens in einem Verhältnis wechselseitiger 12 Unübersetzbarkeit zueinander stehen. Insbesondere der Geltungsbereich der Sprache hat Grenzen; während Wittgenstein und Carnap das Gebiet außerhalb dieser Grenzen aber zum logischen 'Jenseits', etwa des ungeformten Gefühls erklärten, sieht 11 ebd., S. 280 (Erg. H.W.) 12 Roland Barthes enttäuschende Entscheidung, statt der 'Sprache der Mode' von vornherein die Sprache zu untersuchen, in der über Mode geschrieben wird, – Grundlage dieser Entscheidung war seine Über- zeugung, daß die Wort-Sprache das mächtigere semiotische System, und eine Theorie der Mode als Theorie von vornherein auf das Terrain der Sprache eingeschränkt sei – negiert sowohl das Ergän- zungsverhältnis als auch die Unübersetzbarkeit. (ders.: Die Sprache der Mode. Frankfurt/M. 1986 (O.: 1967)) 146 Langer das Gefühl oder die ästhetischen Phänomene als das Terrain eines eigenen Symbolismus, desjenigen der präsentativen Symbole nämlich, an. Langer geht von einem Stufenmodell der Artikulation aus, das ungeformte Erfahrungsgehalte Schritt 13 für Schritt Form gewinnen läßt; präsentative Symbole fungieren in dieser Hierarchie deutlich als Vorstufe des diskursiv Artikulierbaren, "die Regeln des wörtlichen Denkens [...] können nur dort Anwendung finden, wo die Erfahrungen vorher schon – geformt durch ein anderes zur Auffassung und 14 Bewahrung geeignetes Medium – präsentativ angeboten wurde." Die Sprache umgekehrt erscheint gerade wegen ihres definitiven, distinkten Charak- ters kaum geeignet, wirklich Neues zum Ausdruck zu bringen. Unübersetzbar also sind die Inhalte, insofern sie 'jeweils noch nicht' übersetzbar sind, bzw. insofern sie, sobald sie diskursiv darstellbar werden, ihren spezifisch präsentativen Charakter verlieren. Das Postulat der Ergänzung aber eröffnet eine Perspektive, die das bei Langer Gesagte verläßt; gerade wenn die Sprache die Bilder an Distinktionskraft übertrifft nämlich, liegt der Gedanke nahe, daß die Bilder an dieser Leistung der Sprache partizipieren, daß die Bilder in einem verdeckten, man könnte sagen, parasitären Verhältnis zur Sprache stehen. Metz etwa formuliert diese Vorstellung, wenn er von den "Codes der ikonischen Benennungen" spricht, "die es den Zuschauern [...] erlauben, die erkenn- baren und wiederkehrenden Formen zu identifizieren und ihnen einen der Sprache ent- 15 nommenen Namen zu geben". Wiedererkannt also wird u.a., was einen Namen hat. Plausibel an dieser Vorstellung ist, daß der Anblick eines Pferdes das Wort, und mit diesem Wort einen bestimmten Komplex gesellschaftlichen Wissens um Eigenarten, Verhalten und typische Kontexte von Pferden evoziert. So gehört, wenn ein Pferd auf der Leinwand auftaucht, sicher zum Erwartungshintergrund, daß das gezeigte Tier Schwierigkeiten haben wird, seitwärts zu gehen. Wichtiger aber ist, daß im Begriff des Identifizierens, den Metz gebraucht, die Bilderkennung nun zum zweiten Mal nach dem Muster begrifflicher Subsumption gedacht wird. War es bei Langer die in der Wiederholung produzierte Allgemeinheit, die dem konkret wiedererkannten Ge- 13 Die Grundannahme dieser Artikulation ist einer der kritischen Punkte in Langers Text; deutlich sub- jektzentriert wie etwa der Begriff des 'Ausdrucks', der ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, unterstellt dieser Begriff daß Symbole sich aufgrund inneren Drucks oder inneren Reichtums der Subjektivität eines Einzelnen entringen (Langer, a.a.O., S. 51, 122, 136, 202). Umso wichtiger sind jene Stellen in Langers Text, die, einer materialistischeren Deutung gegenüber zumindest offen, die Möglichkeit einbeziehen, daß Ideen sich an äußerem Material überhaupt erst bilden und stabilisieren. (ebd., S. 120ff, 129f, 136) 14 ebd., S. 201f 15 Metz, Christian: Sprache und Film. Frankfurt 1973, S. 217 147 genstand gegenübertrat, bedeutet Identifizieren von vornherein, daß etwas 'als etwas' identifiziert wird. Die Dinge im Filmbild tragen Namenschilder – ob dies für wirklich alle Dinge gilt und ob alles auf der Leinwand Gezeigte umstandslos als 'Ding' anzusprechen ist, sei einst- weilen dahingestellt; bemerkenswert ist zunächst allein, daß die Einsicht in die Sprach- abhängigkeit des Wiedererkennes, wie hoch auch immer man sie ansetzt, die gerade frisch gewonnene Trennung zwischen den präsentativen und diskursiven Symbolen beschädigt, oder zumindest eine eindeutige Zuordnung der Bilder zu den ersteren unmöglich macht. Und noch ein zweites ist bemerkenswert; Metz selbst nämlich hat in seiner 'Semiolo- gie' eine Hierarchie der kinematographischen Codes konstruiert, die, trotz ihrer beste- chenden Klarheit, nun ebenfalls geopfert werden muß: "Man könnte beispielsweise sogar annehmen, daß die gesamte kinematographische Nachricht fünf große Ebenen der Kodifizierung mit sich bringt, von denen jede eine Art von Gliederung darstellt: 1. Die Perzeption an sich (die Systeme der Raumkonstruktion [sic!] und der 'Figuren' etc.), und zwar in dem Maß wie sie schon ein System erworbener Verstehensweisen darstellt, das je nach der betreffen- den Kultur variiert, 2. das Erkennen und die Identifizierung visueller und auditiver Objekte, die auf der Leinwand bzw. durch den Lautsprecher wiedergegeben wer- den; mit anderen Worten: die Fähigkeit, die ihrerseits auch durch die Kultur erworben wurde, das denotierte Material, das der Film darbietet, richtig zu hand- 16 haben; 3. die Gesamtheit der Symbolismen und Konnotationen" Auf dem Hintergrund des Gesagten ist eine 'Perzeption an sich', und sei sie auch kulturell erworben, ebensowenig denkbar, wie, und dies wird noch zu zeigen sein, eine Trennung zwischen Denotation und Konnotation. Als drittes schließlich ist eine Lieblingsvorstellung einer Vielzahl von Filmtheore- tikern zumindest zu relativieren, die Vorstellung, der Film sei eine Sprache ohne Lexikon. Im 'Imaginary Signifier' etwa hatte Metz geschrieben: "Natural language is made up of words (and lexemes); whereas film language has no semiotic 'level' that would correspond to these: it is a language without a lexicon 17 (without a vocabulary), insofar as this implies a finit list of fixed elements." Polemisch nun könnte man sagen: das Lexikon des Films ist das der Sprache. Sobald 'Objekte' isoliert und identifiziert werden, ist das Lexikon bereits in Tätigkeit. Der Film kann Objekte generieren, für die es im Wortschatz nur sehr allgemeine Bezeich- nungen gibt, er kann Effekte und Stimmungen hervorrufen, die in der Sprache kein Äquivalent haben und, allgemein gesagt, bleibt das Postulat der 'Unübersetzbarkeit' 16 Metz, Christian: Semiologie des Films. München 1972, S. 76 17 Metz, The Imaginary Signifier, a.a.O., S. 212 148 ganz sicher bestehen; das Feld des Filmes aber, und darauf dies zu zeigen kommt es an, ist semantisch strukturiert. Es ist gerastert, bevor eine 'reine' Perzeption ihm jung- fräulich sich nähern kann und, um im Bild zu bleiben, der Film unterhält ein verdecktes Verhältnis zur Sprache, der er als das 'ganz andere' bis eben noch gegenüberzustehen schien 3.1.6 Zwischensumme: Der filmische Raum als Objektfeld Die Ausgangsfrage war, wie zwischen Apparatus (filmischer Technik) und Ideology (der Inhaltsebene, die durch die Gehalte und Funktionserfordernisse vorstrukturiert wird, die in dieser Technik festgeschrieben sind) das symbolische System des Films lokalisiert werden kann. Und interessanterweise hatte der hier skizzierte Weg, dieses Symbolische über die Gestalttheorie zu rekonstruieren, als erstes die Vorstellung räumlicher Kontinuität zu zerstören, die, obwohl konstitutiv für das Erlebnis des Films, von den Apparatustheo- retikern lapidar und ohne nähere Begründung unter die 'Ideologeme' des Films ge- rechnet worden war. Auf Basis der Gestalttheorie zerfällt die Kontinuität des Film- bildes in bestimmte Einheiten, Einheiten, die wiedererkannt werden, und die, um wiedererkannt werden zu können, durch Iteration notwendig vorgeformt sein müssen. All dies wurde gesagt. Der filmische Raum ist ein Raum von 'Objekten'. Und dies nicht, weil Objekte im außerfilmischen Raum 'gegeben' wären, sondern ausschließlich durch den Mecha- nismus der Iteration selbst, so daß der Film – als Diskurs und unabhängig von jeder 'Realität' – in der Lage ist, seine eigenen 'Objekte' zu konstituieren. Der filmische Raum also ist gegliedert. Oder besser: er gliedert sich im Prozeß der Wahrnehmung, die die Einheiten, mit denen allein sie umgehen kann, gegen ihren Hintergrund freistellt. Und umgekehrt, dieser Schluß ist nun zu ziehen, arbeiten all diejenigen Mechanismen, die eine räumliche Strukturierung in das Filmbild hinein- tragen, der Erkennung von 'Objekten' zu. Die Plastizität des Filmbildes also hat unmittelbar 'semantische' Funktion, sie ist nicht allein 'Realitätsindiz', wie Comolli vermutete, noch eine Art luxurierender Beigabe, die die objektive Zweidimensionalität der Filmbilder vergessen läßt, sie ist vielmehr die notwendige Voraussetzung dafür, daß Objekte auch bei kurzer Expositionszeit sich nicht in den Hintergrund 1 auflösen. Die Plastizität des Filmbildes, die Geschwindigkeit, mit der die Bilder 1 Noch einmal die bereits zitierte Stelle bei Metz: "Die Bewegung gibt den Objekten eine 'Körperlichkeit' und eine Autonomie, die ihrem unbeweglichen Bildnis versagt waren; sie entreißt sie der flachen Oberfläche, auf die sie beschränkt waren, sie ermöglicht es ihnen, sich als 'Figuren' besser von einem 'Hintergrund' abzuheben; befreit von seinem Halt 'substantialisiert' sich das Objekt." (Metz, Semiolo- gie, a.a.O., S. 26) 149 gelesen werden können, und die Konstitution von Bedeutung sind untrennbar mitein- ander verbunden. Der filmische Raum also ist immer schon 'semantisch', verwendet man diesen Begriff zunächst in quasi-alltagssprachlichem Sinn. Die Objekte des filmischen Raums tragen Etiketten, wenn auch die Sprache nicht für jedes dieser Etiketten einen Begriff zur Ver- fügung stellt. "The world (the film) offers up an object endowed with meaning" hatte 2 Baudry formuliert. Und Meaning, Bedeutung, kommt den Objekten nicht als ein- zelnen zu. Der Begriff vielmehr verweist auf ein System, in dem die wiedererkannten Objekte immer schon ihren Ort haben; ein System von Vorerwartungen (Gestalt- theorie) oder Abstraktionen (Langer), das in der Iteration der Wahrnehmung sich auf- baut, und das den Hintergrund für die aktuellen Wahrnehmungen stellt. Die Einsicht in den 'semantischen' Charakter des filmischen Raums verschiebt be- stimmte Auffassungen, die bis dahin für sicher gelten durften. So ist die erste Konse- quenz, daß der filmische Raum, entgegen allem Anschein, dem von Panofsky soge- nannten 'Aggregatraum' sich wieder annähert. Während Panofsky den 'Systemraum' der Zentralperspektive dem Aggregatraum etwa der griechischen Kunst gegenüberge- stellt hatte, weil dieser einzeln dargestellte und voneinander abgegrenzte Gegenstände quasi aufaddiert, wird nun deutlich, daß zumindest die Wahrnehmung den System- raum der technischen Bilder in einen Aggregatraum 'endowed with meaning' zurück- verwandelt. Die zweite Konsequenz ist, daß die 'Ikonizität' des Filmbildes in ihrer Bedeutung für die Theorie zurücktritt. Nicht eine ursprüngliche 'Ähnlichkeit' mit dem Abgebildeten garantiert, daß die Abbildung wiedererkannt wird – dies würde im übrigen die Vor- erfahrung aller im Film auftretenden Gegenstände in der Realität voraussetzen –, sondern Filmwahrnehmung wie Realwahrnehmung bauen in gleicher Weise an jenem System visueller Konzepte mit, auf dessen Hintergrund die einzelnen Objekte wieder- erkannt werden. Ein System, das wie alle symbolischen Systeme primär ein Wissen um signifikante Unterschiede darstellt, ein System also, das den Weltbezug der ein- 3 zelnen Konzepte erst vermittels solcher Unterschiede produziert. Der Blick auf den filmischen Raum also hat sich entscheidend verändert. Hatten die Apparatus-Theoretiker diesen Raum seiner Neutralität entkleidet, indem sie gezeigt hatten, daß die technischen Mechanismen seiner Konstitution ihn mit bestimmten In- halten, Vorstellungskomplexen, 'Ideologien' aufladen, so zeigt die Reflexion auf den Sprachcharakter des Films, daß die symbolisch strukturierte Wahrnehmung diesen Raum (zusätzlich?) dem Raster konstituierter Bedeutungen unterwirft. 2 Baudry, Ideological Effects, a.a.O., S. 43 (Erg. H.W.) 3 Ein beliebtes Beispiel der Gestalttheoretiker ist die Skizze einer Katze, die, verlängert man die Ohren, 'unverkennbar' zur Abbildung eines Hasen wird. 150 Ein weiteres Mal also ist das 'menschliche Maß' an die Stelle einer vorschnell behaupteten Objektivität getreten. Ein wesentlicher Unterschied allerdings ist, daß anders als die von den Apparatustheoretikern anvisierten Mechanismen der Raum- konstitution die als 'symbolisch' bezeichnete Struktur der visuellen Konzepte aus- 4 schließlich auf die Seite des Zuschauers zu fallen scheint. Die visuellen Konzepte und Erwartungen sind sein Besitz und sie scheinen auf der Ebene des Signifikanten zunächst nicht repräsentiert. Aber ist das wirklich der Fall? Stehen einem objektiv nun doch 'kontinuierlichen' Signifikanten die Segmentierung und das symbolvermittelte Wiedererkennen als Me- chanismen ausschließlich des Zuschauers gegenüber? Es wurde schon gesagt, daß von der Problematik des semantisierten Raumes zu den bewußten oder unbewußten Kompositionsprinzipien filmischer Bilder eine enge Ver- bindung besteht. Die fast grundsätzliche Zentrierung der Bilder auf eine Person, ein Objekt oder eine Situation, die Tatsache, daß die Kamera Personen und Objekte 'ver- folgt', d.h. auch dann im Zentrum des Bildes hält, wenn ihre Bewegung sonst den frame verlassen würde – all diese 'Selbstverständlichkeiten' der filmischen Sprache sind außerhalb der semantisch-symbolischen Erwartungsstruktur, auf die der Film abzielt, alles andere als selbstverständlich. Die Erwartungsstruktur des Zuschauers also ist auf der Seite des Signifikanten sehr wohl repräsentiert. Und mehr noch: Man wird in diesem Zusammenhang einbeziehen müssen, daß es sich bei weitaus dem größten Teil der produzierten Filme um fiktionale Filme handelt, was nichts anderes heißt, als daß in einem fast vollständig synthetischen Setting selbst die Details im Hintergrund noch der 'Gestaltung' und damit jenem Mechanismus des Zeigens unterworfen sind, der dem semantisierten Lesen auf Seiten des Zuschauers korrespondiert. Schienen Film und Realwahrnehmung, gemeinsam abhängig von der symbolischen Struktur visueller Konzepte, also eben noch zusammenzufallen, erscheint der Film nun als eine symbolische Maschine, die die Produktion der visuell- semantischen Konzepte ihrer Naturwüchsigkeit entreißt und der bewußten Gestaltung zugänglich macht 5 Der filmische Raum also ist nicht wie Heath in einem seiner Texte schreibt 'narrative', er ist 'semantic'. Um diesem Begriff einen präzisen, technischen Sinn zu geben, aber ist ein weiterer Anlauf notwendig; eine weitere Klärung auf dem Gebiet der Sprach- theorie, die bei einem bislang ungelösten Problem ansetzen, und die nach einer bestimmten Anzahl von Zwischenstationen schließlich zur Grundfrage der Arbeit zurückkehren wird. 4 Ob des einzelnen Zuschauers oder des vergesellschafteten Zuschauers wird noch zu klären sein 5 Heath, Stephen: Narrative Space. In: ders.: Questions of Cinema, a.a.O. 151 3.2 Theorie der Konnotationen auf Basis der Metapherntheorie 3.2.1 Konnotationen Folgt man der bisher vorgetragenen Argumentation, sind der Film und die Sprache einander deutlich nähergerückt. Der Film ist eine Sprache, nicht wegen seiner 'kommunikativen Funktion' und nicht in jenem metaphorischen Sinne, in dem augen- blinzelnd der Bedeutungsgehalt zugestanden, die materialen Mechanismen, die eine Sprache kennzeichnen, aber geleugnet werden. Der Film ist eine Sprache im direkten, materialen Sinn. Er gliedert seinen scheinbar kontinuierlichen Raum in semantische Einheiten, er etabliert diese Einheiten im Me- chanismus der Wiederholung, und wie die Sprache setzt er Abstraktion und Sub- sumption voraus – die sprachparallelen Mechanismen sind beschrieben worden. Eine zentrale Frage aber, obwohl bereits gestellt, ist nach wie vor offen; die Frage nach der intersubjektiven Verbindlichkeit der vom Film etablierten semantischen Einheiten. Die Rede von 'semantischen' Einheiten, und insofern war diese Bezeichnung ein Vorgriff, setzt Intersubjektivität zwingend voraus; aus der Gestalttheorie allein aber, das wird man deutlich noch einmal sagen müssen, ist die Intersubjektivität nicht abzuleiten. Den Gestalten, den Erwartungen und Konzepten, die die Wahrnehmung strukturieren, haftet etwas Privates an, sie scheinen in der individuellen Erfahrung fundiert und intersubjektiv nur über die Objektseite vermittelt, d.h. über ontologische Gewißheiten, die die Gestalttheorie voraussetzen muß. Die so skizzierte Struktur stimmt in verblüffender Weise mit der verbreiteten Meinung überein, der Film sei durch die Objektwelt (und eventuell die Narration und den Autor) strukturiert, lasse dem Betrachter ansonsten aber die größtmögliche Freiheit, Bedeutungen auf dem Hintergrund seiner individuellen Erfahrung zu konstituieren. Immer wieder wurde die Vielzahl von Lesarten, die ein Film zuläßt, nicht als ein hermeneutisches Problem verstanden, wie es in ähnlicher Weise auch Texten gegen- über auftritt, sondern als Beleg dafür, daß der Film als ein 'offenes System' von den 1 festgelegten Bedeutungen der Sprache sich grundsätzlich unterscheide. Die Formulierung bereits macht deutlich, daß die so gestellte Frage weniger den Film selbst betrifft, als daß sie eine Position des Betrachters, eine Position in Relation zu den Objekten auf der Leinwand, konstituiert. Die Frage, ob es sich um individuelle oder um intersubjektive Konzepte handelt, die im Film wiedererkannt werden, also ist der zentralen Fragestellung dieser Arbeit äu- ßerst nahe; und sie nimmt ein Problem wieder auf, das auf anderer Ebene die Appa- ratustheoretiker sich gestellt hatten. Waren dort die Mechanismen der Raum- konstitution und der Zentralperspektive in Verdacht geraten, eine illusionäre Über- höhung der Zuschauerposition zu bewirken, kehrt die Souveränität des Zuschauers 1 Exponent dieser Position in der klassischen Filmtheorie ist etwa Bazin. 152 nun als eine individuelle Freiheit der filmischen Objektwelt gegenüber wieder; und es zeichnet sich die Möglichkeit ab, beide Vorstellungen könnten miteinander zu tun haben. Um die Frage nach der Intersubjektivität zu klären, bedarf es einer weiteren Recherche auf dem Gebiet der Sprachtheorie. Die Richtung dieser Recherche wurde in der Langerschen Überlegung vorgezeichnet, die das Zeichen als geworden und als das Resultat eines Gebrauchsprozesses zu fassen versuchte; zum zweiten bei Metz in der Vorstellung eines parasitären Verhältnisses der Bilder zur Sprache. Das Terrain aber ist nun zunächst zu wechseln; ein Modell für die Intersubjektivität der in den Bildern wirksamen Konzepte nämlich findet sich nicht unter den Essentials der Sprachtheorie oder den Theoremen, die traditionell die Grenzlinie zwischen Sprache und Bildern beschreiben, sondern auf einem relativ abgelegenen Teilgebiet der Linguistik: in der 2 Metapherntheorie, und – daraus abgeleitet – einer Theorie der Konnotationen. Der Exkurs in die Metapherntheorie, es wurde in der Einleitung gesagt, erfordert etwas Geduld. Da nicht eine geschlossene Theorie referiert, sondern Material aus verschie- denen Ansätzen zusammengetragen werden muß, und außerdem zwischen dem Sy- stem der Sprache und demjenigen der Bilder immer wieder zu moderieren ist, ist eine relative Vielzahl von Einzelfragen durchzugehen, deren Zusammenhang zum Thema dieser Arbeit zunächst eher lose scheint; nur auf diese Weise aber, dies sei noch einmal versichert, kann das begriffliche Werkzeug zurechtgelegt werden, das die hier verfolgte These und vor allem die Schlußargumentation allein plausibel machen kann. Und eine zweite Vorbemerkung erscheint notwendig: Der Rückgriff auf die Meta- pherntheorie legt zwei Mißdeutungen nahe, die bereits im Vorfeld ausgeschlossen werden sollen: Als Theoriehintergrund für die skizzierte Fragestellung ist die Meta- pher nicht deshalb geeignet, weil sie traditionell als die bildhafte Seite der Sprache angesehen wird; die Ansätze, die zu referieren sein werden, bemühen sich vielmehr gerade darum, ihrerseits metaphorische Begriffe wie den Bildcharakter aus der Theorie zurückzudrängen. Die zweite mögliche Assoziation könnte sich auf die Versuche verschiedener Autoren beziehen, dem Film selbst metaphorische, bzw. metonymische Verfahren nachzuweisen. Die am weitesten ausgebaute dieser Theorien wurde ein weiteres Mal von Christian Metz, im bereits erwähnten vierten Teil seines 'Imaginary Signifier' vorgetragen; dieser äußerst inspirierte Ansatz allerdings ist in seiner Begrifflichkeit derart verworren, daß auch er, trotz seiner thematischen Nähe, 2 Die folgenden Abschnitte wurden als ein abgeschlossener Text und in leicht veränderter Form bereits außerhalb dieser Arbeit publiziert (W., H.: Metapher, Kontext, Diskurs, System. In: Kodikas/Code. Ars Semeiotika, Vol. 12, Nr. 1/2, 1989, S. 21-40) 153 3 hier ausgeschlossen werden muß. Zu ventilieren also sind Theorien, die sich zunächst ausschließlich auf die Sprache beziehen. Im Jahr 1954 schrieb Max Black einen Aufsatz über die Metapher, der den Durchbruch 4 zu einer völlig neuen Anschauung markierte; gestützt auf einen älteren Text von I.A. 5 Richards entwarf er eine Theorie, die die Metapher nicht mehr als einen 'Schmuck der Rede', sondern als einen der grundlegenden Mechanismen der Sprache überhaupt ansieht, und in der erstmals die Möglichkeit aufscheint, die Metapher als eine formale Struktur, als eine Teilmaschinerie im großen Funktionszusammenhang der Sprache zu beschreiben. Um diesen Wechsel der Perspektive richtig einzuschätzen, wird man sich vergegen- wärtigen müssen, daß traditionell die 'figurative' Sprache als sekundär und abgeleitet betrachtet wurde; während die wörtliche Bedeutung durch die Konvention verbürgt, verläßlich und gewiß erschien, schien die Metapher, sieht man von konventionali- sierten Metaphern ab, ausschließlich der Situation und der spontanen Eingebung zu entspringen. Sowohl im Rahmen der Rhetorik als auch später im Rahmen der Poetik wurde die Metaphorik zwar als ein unverzichtbares Ausdrucksmittel angesehen, das die Sprache belebt und ihrer Verhärtung entgegenarbeitet, Kern der Sprache aber war und blieb ihr 'eigentlicher', wörtlicher Gebrauch. Blacks Theorie nun, und aus diesem Grunde ist sie hier zu referieren, stellt diese Stabilität der Sprache grundsätzlich infrage. Black wendet sich gegen die beiden zentralen Theoreme der Rhetorik, die die Metapher entweder als einen impliziten Vergleich analysiert hatte, oder als die Substitution eines wörtlichen Ausdrucks im Text, der etwa durch Paraphrase zurückzugewinnen sei. Beide Vorstellungen hält Black für irrig. Und er macht den alternativen Vorschlag, die Metapher als eine 'In- teraktion' zu beschreiben. Ausgangspunkt seines Modells ist die Tatsache, daß der metaphorische Ausdruck in seinen konkreten textuellen Umraum thematisch nicht zu passen scheint; eine Meta- pher also sei nur dann zu verstehen, wenn die Differenz überwunden und die Bedeu- 3 Metz, Imaginary Signifier, a.a.O., S. 149-315. Dieser vierte Teil des Metz'schen Buches hat in krassem Gegensatz vor allem zum ersten Teil bislang kaum Resonanz gefunden. Ein Grund könnte, neben den erwähnten terminologischen Schwierigkeiten, ein weiteres Mal in dem Trauma liegen, das das Scheitern der Filmsemiotik bei allen Beteiligten hin- terlassen hat. Obwohl sie sich an bestimmten sprachtheoretischen Annahmen orientiert, aber stellt die Metz'sche Theorie der filmischen Metapher keinen Rückfall in die verdinglichten Modelle der Semiotik dar, und es wäre zweifellos der Mühe wert, auf dem Hintergrund einer tragfähigeren Terminologie das bei Metz Skizzierte noch einmal zu rekonstruieren. 4 Black, Max: Die Metapher. In: Haverkamp, A. (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983 5 Richards, I.A.: Die Metapher. In: Haverkamp, a.a.O. (Der Aufsatz erschien erstmals 1936 in den USA) 154 tung des metaphorischen Ausdrucks und die des Kontextes miteinander abgeglichen werde. Will man ein Beispiel übernehmen, das Black zur Illustration seines Modells verwen- det, so setzt die Aussage, der Mensch sei 'ein Wolf', eine Interaktion zwischen dem Begriff des Wolfes und demjenigen des Menschen in Gang. Die Eigenschaften, die normalerweise Wölfen zugeschrieben werden, 'interagieren' mit den Eigenschaften des Menschen, alle Merkmale des Wolfes, die auf Menschen anwendbar sind, werden im metaphorischen Prozeß auf den Menschen 'projiziert'. Der Mensch wird durch die dem Wolf zugeschriebenen Eigenschaften und Merkmale hindurch wahrgenommen. Neben dem Begriff der Interaktion und der Projektion verwendet Black das Bild eines Filters: Das 'Wolf-System' bildet den Filter, durch den bestimmte Eigenschaften des Menschen hervorgehoben, und andere in den Hintergrund gedrängt werden. Black also geht davon aus, daß zu jedem Begriff der Sprache ein System von Merk- malen und Eigenschaften existiert, das als Wissen im Umfeld des Begriffs vorausge- setzt werden kann, und daß dieses Wissen im Fall seiner metaphorischen Verwendung in andere Kontexte und auf andere Gegenstände übertragen wird. Um zu betonen, daß es sich um ein konventionelles Wissen handelt, um eine gesellschaftliche Verein- barung, die von Wahrheit oder Unwahrheit vollständig unabhängig ist, spricht Black 6 7 nicht von 'Eigenschaften', sondern von einem 'System assoziierter Gemeinplätze'. Die Vorstellung, daß der Mechanismus der Metapher die Gesamtbedeutung der Worte in verschiedene Einzelkomponenten, Eigenschaften oder Merkmale aufspaltet, ist die grundlegende Strukturannahme, durch die die Metapherntheorie für ein allgemeines Modell der Sprache – und vermittelt eben auch der Bilder – Relevanz gewinnt. Zunächst aber wirft diese Vorstellung einige schwerwiegende Probleme auf. Welcher Status nämlich, so wird man fragen müssen, kommt diesen Teilbedeutungen zu? Die 'Gemeinplätze' Blacks können intersubjektiv vorausgesetzt werden, sie sind in Bündeln, d.h. in Sub-Systemen organisiert, und sie haben den Status eines Wissens, das sich um die Begriffe der Sprache herum ablagert. Genau damit aber ist die Schwierigkeit bereits benannt: Während die Begriffe selbst der Sprache angehören, 6 Zu der konkreten Begriffswahl ist zu sagen, daß 'commonplaces' im Englischen nicht den selben irre- führend-pejorativen Beigeschmack hat wie die Übersetzung 'Gemeinplätze' im Deutschen. 7 Die Vorstellung der Bedeutungskomponenten übernimmt Black von Richards; deutlicher als bei diesem aber wird bei Black, daß in der metaphorischen Interaktion jeweils ein System, d.h. ein organisierter Zusammenhang auf den neuen Gegenstand appliziert wird. Bei Black wird deutlich, daß jeder Begriff ein 'Knotenpunkt im Netz der Sprache' ist, und die Metapher jeweils einen ganzen Netzausschnitt, d.h. konkrete semantische Werte und gleichzeitig ein Strukturmodell auf den neuen, bislang fremden Kon- text projiziert. 155 bleibt der Ort jenes assoziierten Wissens vollständig unklar; das Wissen um die 'Ge- meinplätze' scheint eine eigene Sphäre einzunehmen, die von der Sprache isoliert erscheint, auf die die Sprache in ihrem Funktionieren aber dennoch angewiesen ist Bei Black selbst ist dieses Problem nicht zu lösen. 1962 aber erschien ein weiterer Text 8 zur Metapher, der einen neuen Begriff in den Mittelpunkt stellt: den Begriff der Konnotationen. "Die Erklärung [der analysierten Beispiel-Metapher 'briars'] kann nun entweder auf der Objekt-Ebene beginnen (indem man über die charakteristischen Eigenschaften von 'briars' spricht), oder auf der metasprachlichen Ebene (indem man über die Konnotationen des Wortes 'briars' spricht). [...] Obgleich sich diese beiden Ebenen überschneiden, da sich die Konnotationen des Wortes zum Teil von den Eigen- 9 schaften der Objekte herleiten, so fallen sie dennoch nicht völlig zusammen." Der Begriff der Konnotationen ist ein ungeheurer Gewinn: Im Gegensatz zu Blacks 'Gemeinplätzen' oder dem umstandlosen Durchgriff auf die 'Eigenschaften der Ob- jekte' ist der Begriff der Konnotationen deutlich auf die Sphäre der Sprache einge- schränkt. Nun scheint die Sprache selbst in der Lage, jene 'Eigenschaften' zu verwalten, die eben noch den Objekten zugeschrieben werden mußten, und es wird deutlich, daß das 'Wissen' im Umfeld der Begriffe, zumindest der Möglichkeit nach, in der Sprache selbst seinen Ort hat. Der zweite Vorteil des neuen Begriffes ist, daß nun zwei Arten von Eigenschaften gegeneinandergesetzt werden können: "Die Möglichkeit metaphorischer Ausdrucksweise [...] [hängt] von einem spür- baren Unterschied ab [...], der zwischen zwei Klassen von Eigenschaften [...] be- steht: erstens diejenigen Eigenschaften, die [...] als notwendige Bedingungen für die korrekte Anwendung des Ausdrucks in einem bestimmten Sinn angesehen werden. (Dies sind die definierenden oder kennzeichnenden Eigenschaften oder auch die Hauptbedeutung in diesem Kontext.) Zweitens jene Eigenschaften, die zur Nebenbedeutung des Ausdrucks gehören, oder seine [...] Konnotationen sind. [...]. Wenn ein Wort mit anderen derart kombiniert wird, daß zwischen seiner Haupt- bedeutung und den anderen Wörtern ein logischer Gegensatz entsteht, tritt [...] jene Verschiebung von der Hauptbedeutung zur Nebenbedeutung ein, die uns anzeigt, 10 daß wir das Wort metaphorisch verstehen sollen." Beardsley also entwirft das Modell eines Konflikts auf der Ebene der Merkmale: Es sind bestimmte zentrale Merkmale des metaphorischen Ausdrucks, die mit dem neuen 8 Beardsley, Monroe C.: Die metaphorische Verdrehung. In: Haverkamp, a.a.O. 9 ebd., S. 122 (eckige Klammer H.W.) 10 ebd., S. 129 1 56 Kontext nicht harmonieren und gerade dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die peri- pheren Merkmale, die Beardsley Konnotationen nennt, um. Das Modell der Metapher also ist das einer ringförmigen Applikation: Die Eigenart der Metapher besteht darin, daß sie zentrale Merkmale des applizierten Begriffs ausspart, die peripheren aber in 11 den neuen Kontext einbringt. Auffällig nun ist, daß Beardsley seinem Begriff der Konnotationen nicht den der Denotation gegenüberstellt. Der Grund für diese Aussparung dürfte sein, daß das skizzierte Metaphernmodell mit der tradierten Vorstellung einer einzelnen Bedeutung, einer Denotation im Singular, vollständig unvereinbar ist. Wenn die Definition der Metapher darauf angewiesen ist, den 'Gegenstand' in 'Merk- male' (und diese in definierende und periphere) aufzuspalten, dann kann die 'Denota- tion' eines Wortes nicht eine singuläre Bedeutung bezeichnen, sondern wird von den definierenden Merkmalen abhängig gemacht werden müssen. In den scheinbar so festen Kern der sprachlichen Bedeutung trägt dies eine eigentüm- liche Verunsicherung hinein; dem einzelnen und in seiner materiellen Identität garan- tierten Signifikanten steht nicht mehr ein Signifikat, sondern eine Pluralität von Merkmalen gegenüber, denen zunächst kein materielles Äquivalent zu entsprechen scheint; und es ist bezeichnend, daß die einzige Theorie, die die Vorstellung einer pluralischen Denotation zu operationalisieren suchte, die von Jakobson und Hjelmslev ausgehende 'Komponentenanalyse', die in die prominente Theorie der 'Seme' mündet, zumindest eine endliche Zahl 'atomarer' Bestandteile glaubte annehmen zu müssen. Von dem bisher referierten Modell der Metapher aus, so denke ich, ist auf die Frage nach den Bestandteilen der Bedeutung eine veränderte Perspektive möglich. So gibt es m.E., ganz entgegen der Terminologie der referierten Autoren, weder eine Möglichkeit noch eine Notwendigkeit, zwischen der pluralisch aufgefaßten Denotation und den Konnotationen überhaupt eine Grenze zu ziehen. Die 'definitorischen Merkmale' (Denotation) unterscheiden sich von den 'peripheren' Konnotationen allenfalls graduell; und die Beobachtung gerade des durch metaphori- schen Gebrauch initiierten Sprachwandels zeigt, wie schnell ehemals periphere zu zentralen Merkmalen aufrücken, und zentrale Merkmale in den konnotativen Umraum 11 Greift man ein zweites Beispiel auf, das Black verwendet, so schließt die Formulierung, daß 'der Vor- sitzende durch die Diskussion pflügte', fast alle Merkmale aus, die das Pflügen normalerweise definieren würden; wollte man sie aufzählen, so wären wahrscheinlich die agrarische Sphäre, der Zusammenhang von Saat und Ernte, sowie die Bindung an ein bestimmtes Gerät unstrittig solche definitorischen Merk- male, die in den neuen Kontext einer Sitzung oder Versammlung nicht mit eingebracht werden können. Appliziert dagegen werden bestimmte periphere Merkmale des Pflügens, so die Assoziation, die Tätigkeit des Pflügens 'kehre das Unterste zu oberst', Vorstellungen von Rücksichtslosigkeit, Kraft und Macht, sowie eventuell die Konnotationen 'ordnend' und 'fruchtbar'. 157 der Bedeutung abfallen können. Es mag 'wichtigere' und 'unwichtigere' Teilbedeu- tungen geben; 'wichtig' und 'unwichtig' aber sind Kategorien ausschließlich der Funktion; der Funktion im Rahmen eines Modells, das der Klärung bedarf und das mir eher zu klären scheint, wenn die funktionellen Unterschiede nicht in der Wortwahl bereits garantiert erscheinen Ein erster Vorschlag zur Neudefinition wäre also, auf die Unterscheidung zwischen den denotierenden Merkmalen und den Konnotationen überhaupt zu verzichten und sowohl die definierenden als auch die peripheren Merkmale als 'Konnotationen' zu bezeichnen. 'Kon'-Notationen, weil sie gemeinsam die Applizierbarkeit in Kontexte, und damit die 'Bedeutung' steuern. Der Vorschlag, auch die definierenden Merkmale in den Begriff der Konnotationen einzubeziehen, kehrt zu einem Begriff der Konnotation zurück, der 1843 schon einmal 12 vertreten worden ist; J.S. Mill, der die Trennung in Denotation und Konnotation überhaupt einführte, setzte den Begriff der Konnotation noch mit dem der 'Intension' der Bedeutung gleich, bezeichnete also all jene Eigenschaften als Konnotationen, die es erlauben, Individuen als Elemente einer Klasse zu erkennen, sie unter einen Begriff zu subsumieren. (Denotation entsprechend nannte er die Extension der Bedeutung, die Beziehung auf die Gesamtmenge der bezeichneten Gegenstände). 13 Bei Ogden und Richards bereits geht diese Definition unter, wenn Mills Begriff der Denotation in die Begriffe Denotation und Referenz unterschieden, und diesen beiden eine 'emotive' Nebenbedeutung zur Seite gestellt wird, die nun den Bereich der Konno- 14 tationen bildet. Sowohl gegen seine alltagssprachliche Bedeutung also wird man den Begriff der Konnotationen in Schutz nehmen müssen, als auch gegen eine Theorietradition, die sich von Mill weit entfernt hat; Konnotationen im hier skizzerten Sinn sind weder 'emotiv' noch unabgrenzbar, und vor allem treten sie nicht zu einem Bedeutungskern 15 'hinzu', der anderen Gesetzen gehorcht als sie selbst 12 Mill, J.S.: A System of Logic. London 1843 13 Ogden, C.K.; Richards, I.A.: The Meaning of Meaning. London 1923, dt.: dies.: Die Bedeutung der Bedeutung. Frankfurt 1974 14 Eine zusammenfassende Darstellung dieser Entwicklung findet sich in Lyons, John: Semantik. Bd. 1, München 1980, S. 187ff 15 Die Vorstellung einer Konnotation, die der 'eigentlichen Bedeutung' parasitär aufhängt, hat sich aus der Linguistik fast unbeschädigt in die Semiotik hinüberretten können. So bezeichnet etwa Barthes in den 'Elementen der Semiologie' (1963) als 'Konnotation', was er in den 'Mythen des Alltags' (1957) noch 'Mythos' genannt hatte und er verwendet für beide Begriffe die gleiche graphische Darstellung, in der eine wuchernde Konnotation die 'eigentliche' Sprache fast zu erdrücken scheint. (Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt 1981, S. 93; und ders.: Elemente der Semiologie. Frankfurt 1983, S. 77) 158 Die Metapherntheorie also führt zu einem veränderten Bild der Sprache und es ist verführerisch, den Begriff der Konnotationen jetzt bereits auf das Gebiet der Bilder, auf die Frage nach ihrer symbolischen Struktur zu übertragen. Wenn bislang nämlich spezifisch für die Sprache zu sein schien, daß das sprachliche System – anders eben als die Bilder – über von vornherein distinkte Elemente verfügte, deren Signifikantenhärte für die Identität ihrer Bedeutung einstand, so erscheint diese Vorstellung nun erschüttert. Dem singulären Signifikanten steht eine schwirrende Pluralität von Teilbedeutungen gegenüber, jene 'Konnotationen' eben, ohne die zu- mindest der Mechanismus der Metapher nicht erklärt werden kann. Weisen Bilder nun eine vergleichbare Struktur pluraler Bedeutungen auf? Und muß die Differenz zwischen Sprache und Bildern demzufolge neu und anders gedacht werden? Noch ist diese Frage nicht zu entscheiden, denn es fehlen wichtige Elemente, die die neugewonnenen Begriffe überhaupt erst wirksam machen. So fehlt vor allem ein Modell, auf welche Weise Konnotationen – Konnotationen im hier vorge- schlagenen technischen Sinn – überhaupt entstehen. 3.2.2 Zum Verhältnis von Diskurs und symbolischem System Dafür ist zunächst ein weiteres Teilproblem im Umfeld der Metapher in den Blick zu nehmen: Eigentümlicherweise nämlich bezieht keines der referierten Modelle die 1 wörtliche Bedeutung in die Untersuchung ein. Bis auf eine Bemerkung bei Richards erscheint der wörtliche Gebrauch durchweg als der feststehende, stabile Hintergrund, auf den die figurative Sprache angewiesen ist, und den die Intervention der Metapher allenfalls von Fall zu Fall in Bewegung bringt. Auf dem Hintergrund der referierten Metapherntheorie aber ist der wörtliche Gebrauch zunächst nichts als ein Grenzfall des metaphorischen: Wenn die Metapher bewußt gegen einige der Merkmale verstößt, die üblicherweise Voraussetzung für die Appli- kation sind (im Fall des 'Pflügens' der agrarische Kontext), ist der wörtliche Gebrauch entsprechend durch nichts anderes als durch eine relative Harmonie der Konnotationen gekennzeichnet. Es ist wichtig hervorzuheben, daß diese Harmonie auch im Fall wörtlicher Verwen- dung immer nur eine relative ist; jede Applikation eines Begriffes in einen Kontext schließt Bedeutungsdimensionen aus, die dieser Begriff in anderen Kontexten hätte, nie also werden alle 'Konnotationen' aktualisiert, immer werden einzelne als 'unpas- send' ausgegrenzt. 1 "Wörtlich verwandte Sprache ist außerhalb der inneren Bereiche der Naturwissenschaften selten. Wir glauben, sie komme häufiger vor, weil uns jene Form der Doktrin vom Sprachgebrauch beeinflußt, die den Wörtern einzelne genau festgelegte Bedeutungen zuschreibt". (Richards, a.a.O., S. 44) 159 Mehr noch: selbstverständlich gibt es einen systematischen Zusammenhang zwischen den im Kontext bereits vorgefundenen Konnotationen und denjenigen, die der neu applizierte Begriff in diesen Kontext einbringt: Ein Teil der Konnotationen wird übereinstimmen müssen, damit der Begriff 'passend' erscheint (Redundanz), ein be- stimmter Teil wird durch den Begriff neu hinzukommen (Information), und ein dritter 2 3 Teil wird der Applikation zum Opfer fallen und als 'unpassend' ausgeschlossen. Daß die Metapher zentrale Bedeutungsdimensionen ausschließt, wird bei Black und bei Beardsley benannt; daß dieser Mechanismus für den wörtlichen Gebrauch aber in völlig gleicher Weise gilt, ist nur dann wirklich plausibel zu machen, wenn man der vorgeschlagenen Umdefinition folgt, auf die Vorstellung einer singulären Denotation verzichtet und auch die 'definierenden Merkmale' in die 'Konnotationen' einbezieht. Spezifisch für die Metapher wäre also nur, daß auch solche Konnotationen ausge- schlossen werden, die in der Mehrzahl aller Kontexte für unverzichtbar gehalten worden wären. Die Formulierung suggeriert bereits ein quasi-statistisches Modell; und in der Tat wird man zu Vorstellungen statistischer Akkumulation greifen müssen, wenn man die Entstehung der Konnotationen, und das Verhältnis der 'zentralen' zu den 'peripheren', näher klären will. Woher – das ist die allgemeinere Frage – stammen die Konnotationen, die Bedeu- tungsdimensionen eines Wortes überhaupt? Schließt man mit Ricoeur die Annahme aus, es gäbe "eine sogenannte ursprüngliche, 4 grundlegende, einfache oder eigentliche Bedeutung", können die Konnotationen nur als eine Art Ablagerung vergangener Diskurse gedacht werden. Diese zunächst einfache Vorstellung, eine Vorstellung allerdings, die weitreichende 5 Folgen hat, findet sich bereits in der Sprachtheorie Bühlers. Daß gerade Bühler hier als Zeuge in Anspruch genommen wird, ist kein Zufall: Bühler nämlich, der auf den Schock, den Saussure in der deutschen Sprachwissenschaft ausgelöst hatte, als einer der ersten reagierte, sah sich vor die Aufgabe gestellt, zwi- schen der neuen Vorstellung eines synchronen sprachlichen Systems und der tradier- 2 In der Semantik wurden diese Unterschiede am Problem der 'Selektionsrestriktionen' diskutiert. (Bloomfield, zit. bei Lyons, a.a.O., S. 276, 337) 3 Beispiel für diesen Mechanismus sei 'das Auto in der Hand des Kindes', eine Formulierung, die weder eine Metapher enthält, noch 'Auto' zu einem Polysem für große und für kleine Autos macht. Es handelt sich um eine wörtliche Verwendung, die, wie alle Kontextapplikationen, bestimmte Bedeutungsdimen- sionen ausschließt; man könnte allenfalls von einem Grenzfall sprechen, insofern ungewöhnlich viele und ungewöhnlich wichtige Konnotationen ausgeschlossen sind. 4 Ricoeur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Haverkamp, a.a.O., S. 361 5 Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934 160 ten diachronen Anschauung auf irgendeine Weise zu vermitteln. Eines seiner be- stechendsten Theoreme besteht deshalb darin, daß er einen Mechanismus des Über- gangs konstruierte, der die einzelnen Äußerungen – die konkreten Diskurse – mit dem 6 System der Sprache verbindet. Bühler ging von der Beobachtung aus, daß schriftlich fixierte Texte vor allem deshalb relativ kontextunabhängig funktionieren, weil die für ihr Verständnis notwendigen 7 "synsemantischen Umfeldfaktoren [...] [im Text] weitgehend mitkonserviert [sind]". Geschlossene Texte also zielen auf Kontextentbindung ab und sie haben die Tendenz, in sich hineinzuziehen, was im Fall situativer Äußerungen die Situation zur Bedeutung beitrüge. In diesem Mechanismus nun sieht Bühler ein Modell, das nicht allein die Textkon- stitution regiert, sondern das auf allen Ebenen der Sprache wiederkehrt. Er entwirft ein Bild der Sprache als eines Systems, das typische Kontexte in seiner eigenen Struktur vergegenständlicht. "[...] Es kann doch sein, ja, es muß im ausreichenden Maße der Fall sein, daß die Sprache (la langue) das Stadium einer amöbenhaften Plastizität von Sprech- situation zu Sprechsituation in einigem aufgibt, um auf höherem Niveau mit teilweise festgewordenem, erstarrtem Gerät dem Sprecher in neuer Hinsicht 8 Produktivität zu gestatten." Bühler beschreibt die Sprache also als eine Apparatur, die die Situationen ihres Ge- brauchs in sich aufnimmt, um sie dem neuerlichen Gebrauch konventionalisiert zur Verfügung zu stellen. Von Bühlers Modell aus also wären die 'Konnotationen' ein Resultat konkreter Äuße- rungen (bzw. Diskurse) in der Vergangenheit; sie wären eine Art Niederschlag, den die konkreten Verwendungen im Diskurs an den Wörtern hinterlassen haben. Jede ein- zelne Verwendung appliziert etwas von der komplexen kontextuellen Bedeutung der Sequenz, in der das Wort steht, auf das einzelne Wort, jede einzelne Verwendung hinterläßt eine Spur; diese Spur allerdings wird nur dann Bestand haben, wenn nach- folgende Diskurse sie aufgreifen und bestätigen; in allen anderen Fällen wird sie im Rauschen der Diskurse untergehen. Ein weiteres Mal also ist Bedeutung ein Wiederholungsphänomen; Bedeutung, das ist bei Bühler zu lernen, ist ein statistischer Effekt über der unübersehbaren Menge par- allellaufender Diskurse. Und umgekehrt sind es die konkreten Kontexte, die die Worte 'informieren'; die 6 Er nimmt damit ein Problem in den Blick, das sich sowohl der – in der Folge dominierenden – syn- chronischen Perspektive, als auch der tradierten diachronischen entzieht, und das in einer Theorie der Diskurse, die heute noch eher eine sprachphilosophische als bereits ein linguistische Problemstellung ist, eine ungeahnte Aktualität entfaltet. 7 ebd., S. 168 8 ebd., S. 144 161 Diskurse 'arbeiten am System', bauen Bedeutungen auf und tragen Bedeutungen ab; zunächst vollständig unabhängig davon, ob es sich um metaphorische oder um wört- liche Verwendung handelt Der Entschluß, auf die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation grund- sätzlich zu verzichten, bewährt sich, so denke ich, im Bild der statistischen Akkumu- lation: Wenn die Konnotationen Ablagerungen konkreter Diskurse sind, wird man nur zwischen solchen unterscheiden können, die häufig, und solchen, die seltener bestätigt werden. Die 'notwendigen' Merkmale also, wie die Lexikondefinition sie aufzählt, bilden eine Art 'Kern' in einer weit größeren Menge von Konnotationen; am Rand dieser Menge finden sich vollständig flüchtige oder idiosynkratische Konnotationen ohne intersubjektive Bedeutung; die Konnotationen schließlich, die im Zusammen- hang der Metapher wichtig sind, wären in der Mittelzone zwischen dem Kern und dem Rand zu finden Ein zweiter Gewinn aus der Vorstellung einer quasi statistischen Akkumulation ist die Vorstellung, daß es typische Kontexte sind, die in die Strukur der Sprache und in die Konnotationen eingehen; erst die statistische Häufung schafft jenen Kompressions- druck, der den Eindruck erweckt, dem singulären Signifikanten stehe ein ebenfalls singuläres Korrelat gegenüber. Die Härte und relative Stabilität der Begriffe ist nicht gegeben, oder etwa in der materiellen Härte der Signifikanten garantiert; sie ist das Resultat einer Verhärtung 9 durch den wiederholten Gebrauch. Eine dritte Folgerung schließlich lenkt den Blick auf das so gut wie nie beachtete Problem der Kontextquantitäten. Beschränkt man mit Black den Kontext auf den physischen Text im Umraum eines Worts oder einer Äußerung, so wird im Bild der statistischen Akkumulation mehr als wichtig, ob es sich konkret um viel oder um wenig Text im Umraum handelt. Zum einen nämlich schafft jeder Beitrag zum Diskurs (die einzelne Äußerung, das 'Werk') einen Innenraum, in dem, solange er existiert, andere Regeln gelten als im Raum der Diskurse allgemein; die Erfahrung der Literatur zeigt, daß neue Konnotationen innerhalb eines Werkes relativ schnell aufgebaut und stabilisiert werden können. Und zweitens ist das Problem der Kontextquantitäten dasjenige, das die intensivste Verbindung zu jeder Vorstellung von Diskursmacht unterhält; wenn der Aufbau sprachlicher Bedeutung tatsächlich einer quasi-statistischen Akkumulation gehorcht, 9 "Man müßte sich einmal eine neue linguistische Wissenschaft ausdenken; sie müßte nicht mehr die Herkunft der Wörter, oder Etymologie, untersuchen, ja nicht einmal mehr ihre Verbreitung, oder Lexi- kologie, sondern ihr fortschreitendes 'Hart- und Starrwerden', ihre Verdickung im Laufe des histo- rischen Diskurses; eine solche Wissenschaft wäre zweifellos subversiv und würde viel mehr als den historischen Ursprung der Wahrheit aufzeigen: nämlich ihren rhetorischen, ihren Sprachcharakter." (Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt 1974, S. 64) 1 62 10 werden Kontextquantitäten zu einem unmittelbaren Machtfaktor auf dem Terrain der Sprache Geht man noch einmal auf die Metapher zurück, ergeben sich aus dem Gesagten zwei zunächst verwirrende Konsequenzen. Zum einen wird die etablierte Vorstellung auf- gegeben werden müssen, es sei allein die Metapher, die zur Anreicherung der Sprache 11 mit Konnotationen führe, allein sie halte die Sprache 'lebendig'. Denn selbstverständlich werden auch im 'wörtlichen' Gebrauch der Worte Konnota- tionen akkumuliert. Da es keinen Kontext gibt, in dem ausschließlich redundante Be- deutungen vorkommen, wird immer ein Teil der kontextuellen Bedeutung auf den ap- plizierten Begriff zurückwirken und seine 'Spur' an dem Begriff hinterlassen. Und da- rüber hinaus wird man auch die Aktualisierung der redundanten Konnotationen als eine 'Arbeit am System' auffassen müssen; als eine konservative Arbeit, die die etablierten zentralen Konnotationen bestätigt, sie 'pflegt', und ihrem 'natürlichen Ver- fall' entgegenarbeitet. Die Besonderheit der Metapher also wäre zu modifizieren: Im Gegensatz zum wörtli- chen Gebrauch ist die Metapher dadurch gekennzeichnet, daß sie dazu zwingt, die Konnotationen bewußt und einzeln durchzugehen; der Ausfall der gewohnten, zen- tralen Teilbedeutungen zwingt zu einer Prüfung, welche der Konnotationen im Kon- text anwendbar sind und welche nicht. Diese Prüfung geschieht blitzschnell, fast simultan, und ist als solche selbstverständlich nicht bewußt; ihr Resultat aber ist ein verzweigter Komplex von Einzelvorstellungen, der bildhaft-simultan in den neuen Kontext eingestellt wird – vielleicht verdankt sich die Rede von der Metapher als einem sprachlichen Bild überhaupt nur diesem Eindruck einer Simultaneität verschie- dener Einzelvorstellungen. Kennzeichen des Bildes (etwa im Gegensatz zur Sprache) ist bekanntlich, daß es seine Information simultan präsentiert Der Eindruck von 'Frische' und 'Lebendigkeit', den die Metapher hervorruft, also entsteht nicht, weil die einzelnen Konnotationen selbst aktuell produziert wären, sondern weil ihre Auswahl, ihre Kombination und Integration zu einem Komplex 'neu', d.h. kontextabhängig 12 hergestellt ist. Eine zweite Vorstellung, die in der Theorie der Metapher immer wieder auftaucht, allerdings ist aufrechtzuerhalten: denn auch wenn man die Bedeutung der Worte nicht als starr, sondern als Resultat einer Erstarrung begreift, ist es die Metapher, die 'Be- wegung' in diese erstarrten Bedeutungen bringt. 10 und etwa auch Druck-Auflagen 11 die Vorstellung findet sich etwa bei Richards (a.a.O., S. 32) oder, extremer noch, in Beardsleys mehr als eigentümlicher Erklärung, auf welche Weise die Metapher auf das System der Sprache zurückwirkt (a.a.O., S. 133ff). 12 Die Rede ist von neuen, von 'kreativen' Metaphern; selbstverständlich können Metaphern wiederum konventionalisiert werden. 163 Auch dies aber, darauf lohnt es zu beharren, nicht dank einer genuinen 'Kreativität', sondern in einem äußerst reduzierten, technischen Sinn: Indem die Metapher nämlich dazu zwingt, die einzelnen Konnotationen auf Anwendbarkeit im Kontext zu prüfen, löst sie – die sprachtheoretische Reflexion zeichnet diesen Weg im Grunde nur nach – den Schein einer starren oder gar singulären Bedeutung auf. Eine Metapher kann konkret nur dann verstanden (oder produziert) werden, wenn bestimmte Bedeutungs- komponenten als verzichtbar, wenn das Wort also als zusammengesetzt, als Zusam- menspiel seiner Konnotationen wahrgenommen wird. So verflüssigt die Erfahrung der Metapher jene Bedeutungskomponenten wieder, die im Fall des wörtlichen Gebrauchs zu einer festen Kristallstruktur zusammengerückt erscheinen. 'Bewegung' in diesem Sinn also ist zunächst die Bewegung der Konnotationen, eine Bewegung im Inneren der Worte. Die Metapher entsprechend ist der Mechanismus, der die Aufmerksamkeit zwingt, auf die Mikro-Ebene der Teilbedeutungen zu wech- seln Meist jedoch, wenn die Metapherntheorie von der dynamisierenden Funktion der Metapher spricht, ist nicht die Dynamisierung der Teilbedeutungen gemeint; au- genfälliger nämlich schafft die Metapher 'Bewegung' im Wortschatz, insofern die Metapher ihren 'Ort' zu verlassen, und in einer anderen Bedeutungssphäre zu vaga- bundieren scheint. Am deutlichsten ist diese Vorstellung bei Richards formuliert, der die Metapher einen "Austausch und Verkehr von Gedanken, eine Transaktion zwischen Kontexten" 13 nennt. An der Formulierung fällt zunächst auf, daß nur einer der beiden Kontexte ein mate- riell-konkreter Kon-Text zu sein scheint, der Text nämlich, in dem die Metapher auf- tritt; daß jener zweite Kontext aber, aus dem der metaphorisch vagabundierende Aus- druck ursprünglich stammt, einen weit weniger materiellen Charakter hat. Diesem zweiten Kontextbegriff vielmehr liegt die Vorstellung einer quasi-topologischen Ein- 14 teilung des Wortschatzes in thematische Sphären zugrunde, wie sie etwa Trier in seiner Theorie der Wortfelder/Wortumfelder entwickelt hat. Zunächst also scheint diese zweite 'Bewegung' der Metapher eine Bewegung auf der Makro-Ebene zwischen den Worten zu sein. Die Metapher bewegt sich von einer Sphäre des Wortschatzes in die andere, und sie setzt darüberhinaus den Wortschatz selbst in Bewegung, indem sie die Grenzen zwischen den Sphären überschreitet und, zumindest langfristig, unterminiert. Löst man Triers Begriff des "Wortfeldes" aber auf, der, seinerseits eine Metapher, dem Wortschatz letztlich eine zweidimensionale Ausdehnung unterstellt, wird deut- lich, daß sich hinter Triers Begriff der Sphären exakt jenes Wissen um typische Kon- 13 Richards, a.a.O., S. 35 (Hervorh. H.W.) 14 Trier, J.: Das sprachliche Feld. Eine Auseinandersetzung. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung. Nr. 10, 1931, S. 428-429 164 texte verbirgt, das – nach der hier entwickelten Vorstellung – zu den zentralen Kon- notationen gehört, die jedes Wort mit sich führt. Beide Typen von 'Bewegung' also, diejenige im Inneren der Worte und die scheinbar äußere Migration der Metapher zwischen den Sphären, sind eng verwandt. Und die Auseinandersetzung mit Trier macht deutlich, daß die von Richards beschriebene 'Transaktion zwischen Kontexten' Entfernungs- bzw. Näherelationen im Wortschatz anspricht, die, will man sie nicht einfach metaphorisch-räumlich auffassen, auf Nähe- relationen in konkreten materiellen Kon-Texten zurückgeführt werden müssen. Nähe- relationen, die sich wiederholen und auf dem Weg statistischer Akkumulation in jenes Wissen um 'typische Kontexte' übergehen, das die Worte als Konnotation konventio- nalisiert zur Verfügung stellen. Der Begriff der Konnotationen und das Beharren auf dem Zusammenhang von System und Diskurs also scheint sich darin zu bewähren, einige der äußerst heterogenen Einzelbehauptungen, die in der Metapherntheorie eine Rolle spielen, auf ein zumindest in der Skizze konsistentes Modell zu beziehen. Vor allem aber, und nur deshalb ist sie hier ausführlicher zu diskutieren, zwingt die neue Sicht der Metapher dazu, die Struktur der Sprache als einer Gesamtmaschinerie noch einmal zu reflektieren. Die Metapher, so fremd sie im thematischen Kontext dieser Arbeit erscheinen mag, ist der zentrale semiotische Mechanismus, an dem das Verhältnis zwischen den konkreten Sprachereignissen und dem System der Sprache (der materiell vorfindlichen langage und der materiell abwesenden (?) langue) zu studieren ist. Für eine Theorie der Bilder bedeutet dies zunächst, daß das semiotische Modell und damit das Bezugssystem sich ändert, auf dessen Hintergrund Bilder als 'symbolisch' überhaupt nur angesprochen werden können. Konkret rückt die Frage in den Blick, ob auch den Bildern ein Systembezug – der Bezug auf ein konventionalisiertes symboli- sches System – zugeordnet werden kann und ob dieser Systembezug wie im Fall der Sprache aus den konkreten Diskursereignissen, nun also den konkret und materiell realisierten Bildern, abzuleiten ist. Bislang aber hat das skizzierte Modell einen entscheidenden Defekt, der eine dritte (und damit letzte) Recherche auf dem Gebiet der Sprachtheorie notwendig macht. Das Modell der Metapher tritt nun zurück, noch einmal aber sind Gegenstand zunächst die Worte, an denen sowohl der Begriff der Konnotationen als auch ein möglicher, sehr grundsätzlicher Einwand gegen diesen Begriff entwickelt worden ist. 3.2.3 Das symbolische System als Netz negativ-differentieller Verweise Zwei Implikationen des bisher Gesagten nämlich sind unbefriedigend: Zum einen evoziert der Begriff der Akkumulation, und in geringerem Maß auch der der Kon- notation selbst, ein weiteres Mal die tradierte Vorstellung, die Worte der Sprache 165 seien etwas 'Volles' und ruhten gesättigt – gesättigt am Diskurs, wenn auch nicht mehr mit 'Bedeutung' unmittelbar – in sich selbst; nach der tradierten Vorstellung der Fülle und 'Präsenz' der Bedeutung 'vertreten' die Worte zwar den Gegenstand, entschädigen für seine Abwesenheit aber durch die Fülle eines differenzierten Wissens Eine solche Vorstellung, fast überflüssig das zu sagen, wird nach der poststruktura- listischen Sprachkritik niemand mehr unreflektiert vortragen können. Die Plausibilität des Gesagten wird deshalb davon abhängen, ob der Begriff der Konnotation mit der Vorstellung der Sprache als eines Netzes aus negativen Verweisen in Einklang ge- bracht werden kann. Der zweite bislang wenig befriedigende Punkt betrifft den Begriff des Kontextes. Dieser Begriff wurde mit Black bislang nur dahingehend einge- schränkt, daß er den materiellen Kon-Text, nicht aber etwa die außersprachliche Situation oder die Äußerungsbedingungen umfassen solle. Wenn die im Kontext realisierten Konnotationen aber die metaphorische Applikation steuern, so wäre es wünschenswert zu wissen, wie kontextuelle Bedeutung, anders als aus Wortbedeutungen aufaddiert, gedacht werden kann 1 Der Begriff der Konnotation hat den grundsätzlichen Fehler, 'Fülle' zu suggerieren. Die Konnotationen erscheinen als eine Art Besitz der Worte, als ein aufgehäufter Reichtum; die Worte umgekehrt, als akkumulierten sie etwas, um dann in sich zu ruhen. Der Mangel dieser Vorstellung liegt vor allem darin, daß sie unausgesprochene ontologische Implikationen enthält; das Bild der Fülle nämlich korreliert mit der An- nahme, die Sprache greife aus sich heraus und reichere etwas an, was selbst nicht Sprache sei, Erfahrung etwa, oder gar unmittelbar Realität. Die Kritik solcher ontologischen Präsuppositionen ist der Kern der strukturalistischen und nachstrukturalistischen Sprachtheorie. Und Schritt für Schritt hat das Beharren auf dem Systemcharakter der Sprache als eines ausschließlich sich selbst stützenden Netzes aus Verweisen, und auf dem Signifikanten als der einzig zugänglichen, weil materialen Seite des Zeichens zu einer Reinigung der Terminologie geführt, die sich auch in der Metapherntheorie nachweisen läßt. Auf dem selben Hintergrund hob die hier vorgetragene Argumentation an der Theorie Beardsleys hervor, mit dem Über- gang von den 'Eigenschaften' zu den 'Konnotationen' einen wichtigen Schritt hin zu einer Beschränkung auf das Terrain der Sprache getan zu haben. Die Frage aber, und darum geht es hier, reproduziert sich auch am Begriff der 'Kon- notationen'; denn welchen Status hat das doch scheinbar irreduzibel qualitative Wis- sen, das die Konnotationen vorhalten? Und wie verhält sich dieses Wissen zum nega- tiv-differenziellen Netz der Sprache? Bilden die Konnotationen eine Art parasitärer Struktur, die das Netz mit von außen kommenden Qualitäten anreichert? 1 wie der der Denotation und der Bedeutung 166 Daß der Begriff der Konnotationen nicht zwangsläufig jene verschwommen-emotive Bedeutung hat, die ihm in der Alltagssprache anhaftet, dürfte plausibel geworden sein. Was aber kann über die Konnotationen ausgesagt werden, wenn ihnen – schlimmer als im Fall des Signifikats – kein materieller Signifikant gegenüberzustehen scheint? Zufriedenstellend sind Fragen solcher Reichweite wahrscheinlich nicht zu beantwor- ten. Eine skizzenhafte Antwort aber wird versucht werden müssen, wenn der Begriff der Konnotation vor seiner unseligen Begriffsgeschichte, und vor dem Vorwurf, er restauriere das Signifikat, in Schutz genommen werden soll. Ansatzpunkt sei noch einmal die Lexikondefinition. Ein Lexikoneintrag beschreibt die 2 Bedeutung eines Begriffs, indem er "hervorstechende Merkmale", Eigenschaften und typische Kontexte aufzählt. Die Lexikondefinition also besteht aus Worten, und zwar ausschließlich aus Worten, und sie funktioniert, sieht man von rudimentären syntaktischen Strukturen ab, weitge- hend additiv, d.h. kommt mit einer einfachen Anreihung der Worte aus. Ein Lexikoneintrag also definiert einen Begriff, indem er von diesem Begriff auf eine bestimmte Anzahl anderer Begriffe verweist, und – er zeichnet in diesen Verweisen exakt jene Teilbedeutungen nach, die oben die 'zentralen Konnotationen' (bzw. die Denotation im Plural) genannt worden sind. Nur scheinbar also wechselt man die Ebene, wenn man von einem Begriff zur Analyse seiner Teilbedeutungen, seinen Eigenschaften oder seinen typischen Kontexten über- geht: Die Lexikondefinition zeigt, daß die Konnotationen ihrerseits lexikalisiert, daß sie Worte sind wie der Begriff selbst; Teil des selben symbolischen Systems, oder zumindest ein bestimmter Typus von Verbindung, der zwischen den Worten der 3 Sprache besteht. Konnotationen, im hier vorgeschlagenen technischen Sinn, sind Worte. Andere Worte, gesehen aus der Perspektive desjenigen Wortes, das jeweils gerade zur Debatte steht. Die Konnotationen installieren zu jedem Begriff eine sternförmige Verweisstruktur, (die die Lexikondefinition nur nachzeichnet): Jeder einzelne Begriff zeigt mit unter- schiedlicher Intensität auf eine Anzahl anderer Begriffe; die jeweiligen Verweise überlagern sich reziprok oder sie überlagern sich nicht, in ihrer Gesamtheit jedenfalls 2 Lyons, a.a.O. S. 222 3 Ob die Konnotationen tatsächlich vollständig lexikalisiert sind, ist eine interessante sprachphilosophi- sche Frage insbesondere für die 'peripheren' flüchtigen oder idiosynkratischen Konnotationen; Lyons etwa diskutiert das Problem am Konzept der Bedeutungskomponenten und warnt ausdrücklich davor, z.B. die Komponenten 'männlich'/'weiblich' mit den entsprechenden Lexemen gleichzusetzen. (ebd., S. 328f). Jedes Modell aber, das den Bedeutungskomponenten eine eigene Sphäre außerhalb der Sprache zuweist, hätte zu zeigen, wie, wenn nicht durch die strukturierende Leistung der Sprache, diese Sphäre ihre Form erhält 167 bilden sie jenes 'Netz', das sich allein mit der Kraft netz-relativer Verweise vom Erdboden hochstützt und das seit Saussure das verbindliche Bild für die Sprache ist. Die falsche Vorstellung der 'Fülle' also scheint relativ mühelos in eine Verweisstruktur aufzulösen; die Konnotationen sind nicht 'Besitz' des jeweiligen Begriffs, sondern selber Begriffe und insofern Besitz ihrer selbst. Begriffe fungieren als Konnotationen, wo der Verweis sie trifft; alle Begriffe gemeinsam werden von der Sprache verwal- tet Als ungleich hartnäckiger erweist sich im hier skizzierten Modell die von der struk- 4 turale Semantik gleichfalls abgelehnte Vorstellung bestimmter Verweisqualitäten. Die Tatsache, daß die Lexikondefinition neben isolierten Begriffen eben auch rudi- 5 mentäre Textteile und syntaktische Strukturen enthält, ist dabei weniger irritierend, als die im Modell irreduzible Tatsache, daß Verweise von unterschiedlicher Intensität angenommen werden müssen. Geht man auf die Vorstellung einer quasi-statistischen Akkumulation zurück, nach der oben die zentralen von den peripheren Konnotationen unterschieden wurden, wären 'intensive' Verweise im Netz die, die im Diskurs häufig bestätigt werden (Interessant ist, daß der Charakter der peripheren, selten oder nie bestätigten Konnotationen sich vollständig ändert, sobald man die Konnotationen als Verweise im Netz der Sprache auffaßt: So sind grundsätzlich keine zwei Worte vor- stellbar, die keinerlei – auch keine mögliche – Beziehung unterhalten; für absolut jedes Wortpaar läßt sich ein Kontext konstruieren, der ihre Konnotationenbündel in 6 Interaktion bringt. ) Ohne die Vorstellung einer Hierachie der Verweise also kommt das hier vertretene Modell nicht aus; die Frage nach den Verweisqualitäten aber kehrt sich gewisserma- ßen um: Was der Sprachbenutzer als 'Nähe im Netz', als definitionsnotwendigen Verweis oder als 'Ähnlichkeit' im Wortschatz vorfindet, ist ein quasi-statistischer, d.h. ein quantitativer Effekt über der Gesamtheit der Diskurse. 4 Daß auch die strukturale Semantik sich äußerst schwertut, das Netz der Sprache als ausschließlich binär-oppositional/negativ/funktional plausibel zu machen, sei mit einer skeptischen Äußerung bei Lyons belegt: "Oppositionen werden entlang einer Dimension der Ähnlichkeit gemacht" (ebd., S. 296) 5 Auch wenn keine Theorie existiert, auf welche Weise die syntaktischen Strukturen sich etwa aus ur- sprünglich lexikalischen entwickelt haben, ist dennoch die Annahme plausibel, daß die Syntax als eine Art Abkürzung, als eine Ausgliederung von Strukturmerkmalen angesehen werden muß, die im Diskurs besonders häufig aktualisiert werden 6 Es war eine der Entdeckungen der Surrealisten, schreibt Lacan, "daß eine jede Konjunktion zweier Signifikanten eine Metapher konstituieren könnte", um dann höhnisch einzuwenden, "wäre nicht die Be- dingung der größten Disparität der bezeichneten Bilder gefordert [...], damit die metaphorische Schö- pfung stattfinden kann". (Lacan, J.: Das Drängen des Buchstaben im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. In: ders.: Schriften. Bd. 2, Olten 1975, S. 31 (Der Text stammt von 1957)) 168 Das Modell als ganzes, auch das soll angesprochen werden, nähert sich einem Begriff Saussures wieder an, der in der Rezeptionsgeschichte seiner Texte besonders hart kritisiert worden ist. Im Begriff der 'Assoziation' hatte Saussure versucht, die Nähe- relationen im Wortschatz zu fassen; wobei die Entscheidung für den schillernden Begriff der Assoziation mit der Tatsache korrespondiert, daß Saussure unter die para- digmatischen Reihen umstandslos auch solche rechnete, die entlang semantischer Ähnlichkeiten sich aufbauen. Der Begriff der Assoziation wurde entsprechend zum einen als 'psychologisch' angegriffen und zum anderen als Durchgriff aufs Signifikat abgelehnt. Beide Vorwürfe, denke ich, treffen zu; aus der Perspektive des hier vorgeschlagenen Modells aber ergäbe sich eine eigentümliche Umbewertung, wenn gezeigt werden könnte, daß zwar die Linguistik nicht vom psychologisch/psychoanalytischen Begriff der Assoziation, daß dieser ungekehrt aber von einer sprachtheoretischen Klärung profitieren könnte. Denn in der Tat fällt auf, daß der Begriff der Konnotationen, der hier über den Me- chanismus der Metapher und das Verhältnis von Diskurs und System entwikelt worden ist, eine gewisse Nähe zu der Alltagsvorstellung bewahrt, eine Konnotation oder eben auch eine Assoziation sei das, was einem durchschnittlichen Mitglied der Sprach- gemeinschaft zu einem genannten Begriff einfalle. Assoziationen, so situativ und individuell sie im Konkreten jeweils sein mögen, bedienen sich mit Sicherheit jener Wege im Netz, die die Diskurse im System vorgebahnt haben und die die wörtliche Applikation und, auffälliger, die Metapher nutzen. So unklar der Begriff der 'Assoziation' also ist, seine Schlüsselposition zwischen Psychoanalyse und Linguistik könnte quasi miniaturisiert das Programm enthalten, das in den psychoanalytisch/linguistischen Theorien Jakobsons, Lacans, Metz' und in ganz 7 anderer Weise bei Lorenzer Schritt für Schritt Kontur gewinnt. Und noch aus einem weiteren Grund scheint es mir lohnend, über den geschmähten Begriff der Assoziationen noch einmal nachzudenken: gerade die 'semantischen' unter den paradigmatischen Reihen Saussures haben die Stärke, nicht allein den möglichen Austausch im Kontext, sondern auch eine verdeckte Kopräsenz im Kontext nicht realisierter Worte in den Bereich des Vorstellbaren zu rücken. Die Konnotationen eines Wortes, dem Alltagsbewußtsein ist das selbstverständlich, 'schwingen mit', wann immer das Wort auftritt. Begreift man also, wie hier vorgeschlagen, die Konnotationen als Verweise auf andere Worte, so wird man folgern müssen, daß diese 8 Worte – obwohl, wie Saussure sagt "in absentia" – verdeckt und 'vertreten' durch 7 Dieses Programm, es wurde gesagt, besteht darin, sprachtheoretische Überlegungen in eine Metatheorie der Psychoanalyse miteinzubeziehen. 8 Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967, S. 148 (O., frz.: 1905) 169 das präsente Wort eben doch anwesend sind. Die 'Vertretung' aber ist die Rolle des Zeichens allgemein; und es ergäbe sich zwischen dem anwesenden Wort und den abwesend/anwesenden Worten, auf die es verweist, ein quasi-metonymisches Ver- hältnis Kehrt man zu solideren Überlegungen zurück, so sind es vor allem zwei Fragen, die im Zusammenhang geklärt werden sollten: die Frage, wie das kontextuelle Nebenein- ander konkret aussieht, das in die konventionalisierten Näherelationen des Wortschat- zes umschlägt, und die zweite, schon einmal gestellte Frage, wo der materielle Ort zu denken ist, den die Konnotationen einnehmen. Die strukturalistische Semantik nimmt die Netzrelation bekanntlich als gegeben hin. Behauptet man aber, wie hier skizzert, einen regelhaften Mechanismus zwischen Diskurs und System, tritt die Frage auf, was 'Nähe im Diskurs' und 'Nähe im Kontext' eigentlich heißt, wenn diese in die konventionalisierte Nähe im Wortschatz münden soll. Auch diese Frage wird nicht völlig zu beantworten sein; zunächst aber lassen sich drei Ebenen kontextueller Nähe unterscheiden: die einfach additive Nebenordnung, die im Zusammenhang der Lexikondefinition bereits genannt wurde; die Ein- oder Mehr-- Wort-Sätze kleiner Kinder wären ein Beispiel solcher Nebenordnung, und auch die Sprache militärischer Befehle weist nur Rudimente syntaktischer oder morpho- logischer Strukturen auf. Die zweite, ungleich kompliziertere Ebene ist die der Syntax. Die syntaktische Struktur verteilt von sich aus Gewichte, und bringt Bedeutungen hervor, die zwar regelhaft, nicht aber ein einfacher Interaktionseffekt der beteiligten Lexeme sind. Die dritte Ebene stellt ein Extrem solch syntaktisch produzierter Bedeu- tung dar: Die explizite Definition ist mit syntaktisch minimalem Aufwand in der Lage, 9 einen beliebigen Signifikanten mit beliebigen Konnotationen zu verketten. Alle drei Mechanismen produzieren in jeweils spezieller Weise kontextuelle Nähe; die Nebenordnung sicher im geringsten, die explizite Definition im stärksten Maß, der semantische Effekt der verschiedenen syntaktischen Muster dürfte am schwierigsten zu evaluieren sein. In der Theoriegeschichte gab es zwei Versuche, den semantischen Effekt speziell der syntagmatischen Reihung zu beschreiben: die Theorie der 'Kollokationen' von 10 11 Porzig und die von J.R. Firth, der sich des gleichen Begriffs bediente. Porzig interessierte sich etwa für den Zusammenhang der Lexeme 'Zunge' und 'lecken', die 9 Es sei daran erinnert, daß oberhalb der Syntax ohnehin nur die Reihung, d.h. die unhierarchisierte Abfolge der syntaktischen Einheiten herrscht. Kontextuelle Nähe oberhalb der Ebene des Satzes also wäre wieder als Nebenordnung, und quantitativ etwa über Abstandswerte zu beschreiben. 10 Porzig, Walter: Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 58, Nr. 1/2, 1934, S. 70-96 11 Firth, J.R.: Papers in Linguistics. 1934-51. London 1957 170 extrem oft im gleichen Kontext und häufig in gleicher syntaktischer Abhängigkeit auftreten. Firth behauptete eine Ebene zwischen der Syntax und der außersprachlichen Situation, die er als die eigentliche Quelle lexikalischer Bedeutung ansah. Beide Theorien aber konnten weder ihr Problem völlig lösen, noch allgemeineren Einfluß 12 gewinnen. Die letzte Frage im unmittelbaren Zusammenhang ist die nach dem materiellen Ort der Konnotationen. Es wurde schon gesagt, daß es aussichtslos wäre, sie im einzelnen 13 materiellen Signifikanten aufsuchen zu wollen; zweifellos ebenso wenig wird ihr materielles Äquivalent im einzelnen aktuellen Diskurs aufzufinden sein, insofern – nach Bühlers Modell – die konventionalisierte Bedeutung gerade die ist, die im ein- zelnen Kontext nicht mehr aktuell produziert werden muß. Und dennoch hängt die hier vorgetragene These, die einen systematischen Mecha- nismus zwischen Diskurs und System behauptet, ganz und vollständig davon ab, ob ein materialer Träger der Konnotationen benannt werden kann. Die Antwort, die hier versucht werden soll, ist in zwei Antworten aufgespalten: Mate- riell repräsentiert sind die Konnotationen zum ersten in den Diskursen der Vergan- genheit. Materielle syntagmatische Kombination, materielle Nähe in konkreten Diskursen der Vergangenheit ist im hier vertretenen Modell die unabdingbare Voraussetzung, daß paradigmatische Nähe im Netz sich herausbilden kann. Oder, deutlicher noch und auf eine Formel gebracht: Was nie syntagmatische Reihung war, kann in der Gegenwart nicht als Konnotation, als Teilbedeutung eines Wortes auftreten. Der zentrale Mechanismus der Sprache besteht darin, daß syntagmatische Nähe in paradigmatische Nähe umschlägt. Diese Bestimmung, so denke ich, löst das von Saussure hinterlassene Rätsel, das syntagmatische Reihung und paradigmatische Reihung als gleichberechtigte 'Achsen' einfach nebeneinandergestellt hatte, und sie gibt zum erstenmal der Tatsache Raum, daß allein die syntagmatisch gereihten Textelemente materiell zugänglich sind. Die zweite Antwort auf die Frage nach dem materiellen Ort der Konnotationen hängt, so ungenau sie bleiben muß, mit der ersten eng zusammen: Was die Gegenwart an- 12 Was sicher auch auf die lange Zeit der einseitigen Ausrichtung der Sprachwissenschaft auf die syn- chronische Perspektive der Untersuchung zurückzuführen ist; Firth und Porzing können aus heutiger Sicht, allen Verschrobenheiten ihrer Texte zum Trotz, als Avantgardisten der Diskurstheorie angespro- chen werden. 13 Die Rede vom 'Signifikanten' hat ohnehin häufig die Schwäche, dessen materiale Härte und Evidenz auch für solche Mechanismen der Sprache in Anspruch zu nehmen, die am einzelnen, im Text konkret und materiell vorfindlichen Signifikanten nicht zu zeigen sind. Und in vielen Fällen wird der Begriff des Signifikanten zu einer Metapher gerade für diejenige Seite der Sprache, die dem Bewußtsein (und damit der Theorie) abgewandt oder entzogen ist. 171 geht, so ist der materielle 'Ort' der Konnotationen auf jene Unzahl empirischer Ge- dächtnisse verteilt, die an vergangenen Diskursen teilgenommen, syntagmatische Nähe festgehalten und durch vergangene Kon-Texte ihre Form erhalten haben. Auch in dieser Verteilung auf die empirischen Köpfe ist Bedeutung ein Redundanzphäno- men. Die Konnotationen als Netz aus Verweisen, die wichtigen Konnotationen also als 'Bahnung' zu beschreiben, mag an die physischen Synapsen des Gehirns erinnern – eine materialistischere Antwort ist die Neurophysiologie bislang schuldig geblieben. Die hier vertretene Argumentation kommt mit einer wesentlich schlichteren Konzep- tion des Gedächtnisses aus, und verlangt von diesem nur, daß es die Erfahrung der vergangenen Diskurse den aktuellen Diskursen zur Verfügung stellt. Will man das Gesagte nun auf einen Punkt bringen, so erscheint als das Zentrale der hier aufgewiesenen Mechanismen – die Konvention. Regelgeleitet-konventionell verläuft zunächst der Aufbau der Konnotationen. Es ist gesagt worden, daß bereits im einzelnen Text beobachtet werden kann, wie neue Konnotationen ausschließlich über den Mechanismus der syntagmatischen Reihung installiert, und dadurch, daß der Fortgang des Textes sie bestätigt, stabilisiert werden. Solche Konnotationen allerdings haben Gültigkeit zunächst nur innerhalb des jewei- ligen Textes; sie sind daher scharf von jenen Konnotationen zu unterscheiden, die irgendwann einmal auf gleichem Wege entstanden sind, dann aber von Text zu Text aufgegriffen wurden, bis sie schließlich intersubjektiv etabliert und zu einem Teil der Sprache selbst geworden waren. Konnotationen diesen zweiten Typs gehen dem ein- 14 zelnen Text voran. Konventionell-regelhaft also ist der Mechanismus, und konventionell sind die Kon- notationen selbst; sie sind intersubjektiv-verbindlich, folgt man der hier vorgeschla- genen Festlegung und begreift als 'Konnotationen' all jene Teilbedeutungen, die die Struktur eines Wortes, seine Beziehung zu anderen Worten und im Kern: seine Defi- nition ausmachen. Daß sprachliche Bedeutung überhaupt intersubjektive Geltung erlangt, und daß inter- subjektiv redundante Gedächtnisinhalte überhaupt vorausgesetzt werden können, muß als ein Effekt der Diskurse, und genauer: der gemeinsamen Teilnahme am unendlich verzweigten, gleichzeitig aber kohärenten Gesamtdiskurs dechiffriert werden. Die Intersubjektivität des sprachlichen Systems ist damit von tatsächlichen 15 Interaktionen abhängig gemacht, was eine Verbindung zu so 'äußerlichen' Diskurs- 14 Die Metapher, der kurze Blick zurück sei erlaubt, benutzt Konnotationen sowohl der einen als auch der anderen Art; bei der konkreten Analyse muß deshalb der bereits konventionalisierte Anteil streng von denjenigen Konnotationen abgesetzt werden, die der Text selbst aufgebaut hat. 15 Interaktionen sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Menschen und Texten 172 gegebenheiten wie Auflagen, Zentralisierungs- oder Dezentralisierungstendenzen der Textproduktion, den Architekturen der Kommunikationsnetze oder konkreten Zu- gangsberechtigungen herstellt. Und wenn die poststrukturalistischen Theorien 'das' Subjekt schließlich als einen 'Schauplatz' beschreiben, auf dem die gesellschaftlichen Diskurse sich kreuzen, so ist damit sowohl der materielle Vorgang umschrieben, wie der Diskurs Bewußtseins- inhalte in den Köpfen überhaupt etabliert, als auch, weitergehend, die Kolonisierung des Einzelnen durch den gesellschaftlichen Prozeß, der über die Sprache und das sprachlich verfaßte Weltwissen die Subjekte vor aller individuellen Differenzierung immer schon strukturiert. Vollständig regelhaft zum zweiten ist der Mechanismus der Kontextapplikation. Der wörtliche wie der metaphorische Gebrauch unterliegen dem selben Gesetz, daß Worte jeweils nur entlang bestimmter 'Angemessenheitskriterien' in Kontexte eingebracht werden können. Die Applikation also muß durch bestimmte Konnotationen vorge- 16 bahnt sein, die der Kontext und das neu applizierte Wort von vornherein teilen. Der wörtliche Gebrauch mag durch eine relative Harmonie der Konnotationen gekenn- zeichnet sein, während die Metapher Konflikte auch der zentralen Konnotationen zuläßt; als ein 'Filter' (Black) aber kann die Metapher nur dadurch fungieren, daß sie unter den möglichen Konnotationen diejenigen hervorhebt, die der Kontext und der metaphorische Ausdruck gemeinsam haben. Gleichfalls und zum dritten regelhaft vollzieht sich die "Deformation", die die kon- ventionalisierte innere Struktur der Begriffe im konkreten Kontext erfährt. Nie, auch das wurde gesagt, werden im Kontext alle Konnotationen realisiert, die den konven- tionalisierten Bedeutungsumfang eines Begriffes ausmachen; immer werden die Kon- notationen der syntagmatisch gereihten Begriffe miteinander 'abgeglichen', und Kon- 17 notationen, die im Kontext als 'unpassend' erscheinen, ausgeschlossen. Die syntagmatische Nähe anderer Begriffe und der Abgleich der Konnotationen waren es, die, folgt man dem hier skizzierten Modell, den Begriff 'informieren' und jene 'Spur' hinterlassen, die, wenn sie bestätigt wird, in konventionalisierte Nähe, Nähe im Wortschatz, in paradigmatische Beziehung umschlagen kann. Trotz einer Vielzahl ungeklärter Teilprobleme also ergibt sich das Bild einer fast geschlossenen Mechanik ausgerechnet auf demjenigen Terrain der Sprache, das aus einer theoretischen Beschreibung fast völlig herauszufallen schien; die Metapher, und in ähnlicher Weise auch der Begriff der Konnotationen, schienen dafür einzustehen, 16 Selbstverständlich sind die Selektionsrestriktionen an sich komplizierter strukturiert, nicht um sie aber geht es hier 17 Black verwendete den Begriff der 'Interaktion', der, wie gezeigt, für Metapher und wörtlichen Gebrauch in völlig gleicher Weise gilt. 173 daß die Spontaneität des Sprechens irreduzibel subjektiv, und die Sprache in Regeln und Praktiken nicht aufzulösen sei. Eigentümlicherweise aber hatte gerade das Beharren auf der Spontaneität und Kreati- vität der Sprache die Konsequenz, die Verläßlichkeit des sprachlichen Systems zu überschätzen: Solange die 'Konnotationen' nämlich zu einer fixierten, garantierten und als singulär gedachten Denotation nur hinzutraten, solange sie als eine subjek- tiv-luxurierende Sphäre gegen die 'eigentliche' Bedeutung abgesetzt werden konnten, solange schien 'die Sprache' vor ihrer Unbeherrschbarkeit – der Unübersehbarkeit der unzähligen parallellaufenden Diskurse – zuverlässig geschützt. Unzweifelhaft sind die Konnotationen tatsächlich unbeherrschbar. Ihr am einzelnen Begriff konventionell und intersubjektiv/redundant verhärteter Kern ist umgeben von einer Korona weit weniger verläßlicher Teilbedeutungen; Teilbedeutungen, die (ver- einzelt, sich verhärtend, oder in Auflösung begriffen) nicht in allen empirischen Ge- dächtnissen redundant vorausgesetzt werden können. Jeder einzelne Begriff löst sich gegen seinen Rand hin auf und nimmt vom Gedächtnis zu Gedächtnis und von Text zu Text eine je persönliche Färbung an; was als 'Kern' erscheint, ist nur über die gesell- schaftliche Praxis (die statistische Akkumulation) stabilisiert, und ständig von jenem 'Sprachwandel' bedroht, der über die peripheren Konnotationen in den Kern der Bedeutung vordringt Jede Theorie der Sprache wird sich der Tatsache stellen müssen, daß diese Unwäg- 18 barkeit und intersubjektive 'Unschärfe' den Kern der Sprache selbst affiziert und mit dem Mittel schlichter Definition ('Konnotation' versus 'Denotation') aus diesem Kern nicht vertrieben werden kann. Daß ausgerechnet die Metapher einen Begriff der Konnotation erzwingt, der die scheinbare Sicherheit der Bedeutung unterminiert, ist alles andere als ein Zufall: indem sie die Aufmerksamkeit von der scheinbar gesicherten Mitte auf die pluralisch wimmelnden Teilbedeutungen umlenkt, bietet die Metapher die paradoxe Erfahrung, daß eine Konstellation von Teilbedeutungen mechanisch-regelhaft appliziert und inter- subjektiv verstanden werden kann, ohne daß dieses Konnotationenbündel quantitativ abgeschlossen wäre oder intersubjektiv-verbindlich ausbuchstabiert werden könnte. Die Metapher ist das privilegierte Beispiel dafür, daß die Sprache, obwohl sie vollstän- dig mechanisch funktioniert, auf gesicherte und fixierte "Grundelemente" in keiner Weise angewiesen ist. Sicherheit und Gewißheit innerhalb der Sprache gibt es nur in Form intersubjektiver und intertextueller Redundanz – eine in 'regelhaftem Gleiten' begriffene Basis, die jeden Mathematiker das Fürchten lehren würde Das Zentrum des skizzierten semiotischen Modells also ist die Konvention. Die Kon- vention allerdings nicht im Sinne einer 'Beliebigkeit' oder singulären gesellschaftli- 18 Der Theorie der Seme etwa wäre vorzuwerfen, daß sie diese Tatsache zu leugnen versucht. 174 chen 'Vereinbarung' wie sie der Begriff der Arbitrarität der Sprache immer einzu- 19 schließen schien, sondern der Konvention als Resultat eines beschreibbaren Pro- zesses der Konventionalisierung. Das sprachliche System ist Resultat konkreter Dis- kurse (Sprachereignisse), die historisch konkret lokalisiert, aufeinander bezogen und in gesellschaftliche Praxis eingebettet sind. Das hier vertretene Modell, das alle Bedeutung auf Wiederholung in wechselnden Textzusammenhängen, und paradigmatische Nähe allein auf wiederholte syntagmati- sche Nähe zurückführt, hat den Vorteil, den Systemcharakter der Sprache, der für ihr 'technisches' Funktionieren und für ihre intersubjektive Verbindlichkeit einsteht, mit der verstreuten Menge einzelner und divergenter Sprachereignisse in einen wechsel- seitigregelhaften Mechanismus zusammenzuschließen. Vor allem aber hat die so gefundene Bestimmung einen Grad der Allgemeinheit, der ihre Übertragung auch auf den Bereich nichtsprachlicher Symbolsysteme – und damit vor allem auf die Bilder – möglich macht. 3.2.4 Das symbolische System der Bilder Was nun, so wird man fragen müssen, bedeuten die am Modell der Sprache ent- wickelten Begriffe auf dem Terrain der technischen Bilder? Ausgangspunkt der Recherche war das Problem, ob die 'Gestalten', die bildhaften Vorstellungen also, in die der Rezipient die Bilder zerlegt, rein subjektive Erwar- tungsstrukturen darstellen, wie die Texte der Gestalttheoretiker es nahelegten, oder ob und auf welche Weise sie intersubjektive Geltung beanspruchen können. Auf dem Hintergrund des nun entwickelten Sprachmodells ist diese Frage ungleich leichter zu beantworten. Wenn sprachliche 'Bedeutung' nämlich bislang mit der Vorstellung verknüpft war, den identifizierbar/identischen Signifikanten stünden ebenfalls singuläre Signifikate gegenüber, so hat sich diese Vorstellung als unhaltbar erwiesen; das Modell der Me- tapher hatte deutlich gemacht, daß die Bedeutung sprachlicher Elemente als irreduzi- bel pluralisch modelliert werden muß; als ein Effekt jener 'Konnotationen', die das Netz der Sprache als eine qualitative Verweisstruktur errichten. Der Begriff der Konnotationen nun kann für die Sphäre der Bilder unmittelbar über- nommen werden. Die erste Bestimmung der Konnotationen bei Black und Beardsley war – der alltagssprachlichen Bedeutung noch relativ nahe –, daß die Konnotationen 19 "arbiträr: 1. nach Ermessen, willkürlich. 2. als sprachliches Zeichen (Wort) willkürlich geschaffen, keinen erkennbaren naturgegebenen Zusammenhang zwischen Lautkörper und Inhalt aufweisend, son- dern durch Konvention der Sprachgemeinschaft festgelegt [...]; Ggs.: motiviert." (Duden. Bd 5. Fremd- wörterbuch. Mannheim 1974). Siehe auch Lyons, a.a.O., S. 84, 90, 113ff. 175 das gesellschaftliche Wissen um typische Eigenschaften und Kontexte vorhalten, das im Umfeld der einzelnen Begriffe vorausgesetzt werden kann. Es kann kein Zweifel bestehen, daß auch die Gestalten oder visuellen Konzepte, die das Wiedererkennen von Gegenständen und das 'Lesen' der technischen Bilder ermöglichen, in ein ver- gleichbares System gesellschaftlichen Wissens eingebettet sind. Auch die visuellen Konzepte also verfügen über 'Konnotationen' zunächst in diesem naturwüchsigen Sinn. Im Bemühen, den Ort dieses gesellschaftlichen Wissens auszumachen, war der zweite Schritt, nach der Herkunft der Konnotationen zu fragen. Die Antwort, die Konnota- tionen allein als das Resultat konkreter Sprachverwendungen in der Vergangenheit anzusehen, und paradigmatische Relation allein auf syntagmatische Nähe in vergan- genen Diskursen zurückzuführen, ist ebenfalls unmittelbar auf die Bilder zu übertra- gen. 'Wissen' in der Sphäre der Bilder – betrachtet man diese zunächst für sich und koppelt sie von den vielfältigen Wechselbeziehungen zu anderen symbolischen Systemen ab – kann vollständig parallel zum Mechanismus der Sprache durch wie- derholtes syntagmatisches Nebeneinander entstehen. Eine Besonderheit der Bilder allerdings wäre, daß 'Syntagmen' auch außerhalb der 1 Zeit, als ein Nebeneinander in der Fläche entstehen. Ein Hirsch, ein Jagdhund und eine Margarinepackung können gleichzeitig im Bild erscheinen, syntagmatisch nebeneinandergestellt von einer Inszenierung, die für die Margarine einen neuen und ungewöhnlichen Kontext suchte und die Konnotation unverfälschter Natur in An- spruch nehmen will Visuelle Elemente, die wiederholt im gleichen Zusammenhang auftauchen, werden in paradigmatische Beziehung zueinander treten, Schritt für Schritt wird sich die 'Bedeutung' dieser Elemente verhärten und in einem ebenfalls sich zunehmend verhärtenden Kosmos von Kontexterwartungen lokalisiert werden. Entscheidend nun ist dieser Mechanismus für solche visuellen Elemente, die neu in den Diskurs eingespielt werden, die für sich genommen also noch keinerlei etablierte 'Bedeutung' mitbringen. Tritt nämlich statt der Magarine ein zunächst nicht identifi- zierbares 'Etwas' in den Kontext von Hirsch und Jagdhund ein, so wird der Betrachter zunächst über Analogiebildung versuchen, das Objekt zu identifizieren; wenn diese versagt aber wird allein der Kontext von Wald und Natur die Bedeutung dieses Ele- ments bestimmen. Und damit die Konnotationen, die es in weitere Kontexte hinein- tragen wird. Daß visuelle Formen auftreten, die keinerlei Analogiebildung zu bekann- ten Gegenständen zulassen, scheint gerade in dem an 'Gegenständlichkeit' und 2 'Realismus' gebundenen Medium Film ein eher seltener Fall zu sein; auch die Ana- 1 Im Fall der Schrift ist die Zeitachse selbst durch ein räumliches Nebeneinander repräsentiert.. 2 Ganz anders etwa in der Kunst der Moderne, die in der 'Abstraktion' solchen Analogiebildungen syste- matisch entgegenarbeitet 1 76 logiebildungen aber, dies wird man deutlich sagen müssen, entkommen dem Kontext- Mechanismus nicht: da nämlich auch die Analogie sich häufiger als auf die 'Realität' auf andere Bilder bezieht, das mobilisierte 'Wissen' also dem Bilderuniversum selbst entstammt, sind es wiederum Syntagmen in der Vergangenheit, die steuern, was gegenwärtig als 'Bedeutung' auftritt. Nur so ist es zu erklären, daß inmitten des 'realisti- schen' Mediums Film Genres wie der Western oder der Sciencefiction entstehen konnten, die jeweils einen ganzen Kosmos eigener visueller Konzepte ausgebildet haben; Konzepte, die nur im Rahmen der Genreerfahrung überhaupt verständlich sind. Die Syntagmen in der Fläche also sind der erste Unterschied zur Sprache und dem hier entwickelten semiotischen Modell; eine zweite Spezialität der Bilder besteht ohne Zweifel in der geringeren Randschärfe des Signifikanten: Die akustischen oder schriftlich-graphischen Realisationen des Lexems 'Pferd' lassen, sollen sie wieder- erkannt werden, eine geringere Schwankungsbreite zu als die verschiedenartigen opti- schen Phänomene, die als Realisationen des visuellen Konzeptes 'Pferd' wiedererkannt werden – man denke an krasse Wechsel der Lichtverhältnisse, das Erkennen allein eines Ausschnittes oder einer graphischen Repräsentation in wenigen Tuschestrichen. Gerade die offensichtliche Streubreite dieser konkreten Signifikanten aber weist darauf hin, welche Rolle das 'Wissen', bzw. die Konnotationen für das Wieder- erkennen spielen: das visuelle Konzept des Pferdes kann nur dann auf die wenigen charakteristischen Züge abgemagert werden, die etwa eine Skizze bietet, wenn es in Kontrast und in Beziehung zu anderen differenten Konzepten tritt. Was die konkreten materiellen Eigenschaften des Signifikanten angeht, wird das Photo eines Pferdes dem einer Kuh ungleich näher stehen als einem Pferdebild in Tusche; sein Wiedererkennen als Exemplar des Konzeptes 'Pferd' also ist einerseits vom Wissen um die Regelhaftigkeit bestimmter graphischer Repräsentationstechniken, vor allem aber vom Wissen um bestimmte optische Charakteristika von Pferden abhängig, ein Wissen, das bereits in den Bereich der Konnotationen fällt. 'Wiederholung' im Feld des Optischen, und davon abhängig die Identität der visuellen Konzepte, ist damit nicht allein ein Signifikanten-Mechanismus; bevor überhaupt entschieden werden kann, ob es sich um einen Fall von Wiederholung handelt, muß der Signifikant selbst in signifikante und nicht-signifikante Züge aufgespalten werden; und umgekehrt, darauf lohnt es zu beharren, stammt das Wissen um die signifikanten Züge aus keiner anderen Quelle als der Wiederholung selbst Die Konnotationen, die die optischen Konzepte aufeinander beziehen, also sind anders als im Fall der Sprache nicht allein Voraussetzung für die Interpretation, sondern sie gehen in das Wieder- 3 erkennen selbst ein. Ein weiteres Mal also wird deutlich, daß auch im Fall der Bilder nicht primär die 3 Polemisch also könnte man sagen, daß mehr 'Wissen' zum Wiedererkennen eines Pferdes gehört als zum Wiedererkennen des Lexems 'Pferd' 177 'Ähnlichkeit' oder 'Ikonizität' den Bezug auf das Abgebildete garantieren, sondern daß immer ein 'Wissen', ein System gesellschaftlicher Überzeugungen in diesen scheinbar so direkten Bezug hineinregiert. Zur dritten Eigenheit der Konnotationen ist damit schon einiges gesagt; die dritte Bestimmung war, daß allein die Konnotationen in der Lage sind, das negativ-diffe- renzielle Netz der Sprache qualitativ zu strukturieren, d.h. die zunächst gleichrangigen Kontraste, die durch die Signifikantenunterschiede gesetzt sind, in hierarchisierte Relationen von 'Nähe' und 'Entfernung' (in paradigmatische Ketten) umzuwerten. Die Konnotationen eines sprachlichen Elements, es wurde gesagt, sind nicht 'Substanz', sondern Struktur: eine bestimmte Perspektive auf das Netz der Sprache als einer Gesamtstruktur, der systemische Bezug, der das einzelne sprachliche Element mit der Gesamtheit aller anderen Elemente in Beziehung bringt. Nur durch seine Konnotatio- nen ist der 'Ort' bestimmt, den das einzelne Element im System einnimmt. Auch diese Vorstellung nun ist auf die 'Semantik' der Bilder übertragbar. Die System- vorstellung selbst tauchte bereits bei Langer auf, auf dem Hintergrund des veränderten Sprachmodells nun ist es möglich, den Systembezug regelhaft aus Diskursmechanis- men, aus der wiederholten syntagmatischen Nebeneinanderordnung in vergangenen Diskursen abzuleiten. Auch für die Bilder, genauer: die visuellen Konzepte, also kann nun behauptet werden, daß sie untereinander paradigmatisch verbunden sind, allein aufgrund der Tatsache, daß sie in konkreten Bild-Kontexten der Vergangenheit syntagmatisch nebeneinandergestanden haben. Allein die syntagmatische Nebenord- nung der Bildelemente ist es, die zu paradigmatischen Relationen, und das heißt zu einem semantisch qualifizierten 'Netz' der visuellen Konzepte führt. Dieses Netz, es wird nun kaum noch überraschen, ist zwingend intersubjektiv. Auch im Fall der Sprache, dies deutlich zu machen war eine der entscheidenden Leistungen des veränderten Sprachmodells, kann Intersubjektivität nur als ein Effekt intersub- jektiver Redundanz verstanden werden, als die Überschneidung zwischen Konnota- tionssystemen, die in ihrem Randbereich von Sprachbenutzer zu Sprachbenutzer deutlich differieren. Weder im System der Sprache aber, noch in dem der Bilder, beschädigt diese 'Unschärfe' die grundsätzliche Kommunikabilität der Konnotationen. Die Dinge haben ihren 'Ort' im System der gesellschaftlichen Überzeugungen, und selbst der Kunst fällt es schwer, sie für einen Moment aus diesen Zusammenhängen zu 4 lösen. 4 Wie verbindlich die konventionalisierten Nähe- oder Entfernungsrelationen auch im System der Bilder sind, mag daran deutlich werden, daß Man Ray das Lautréamont-Zitat vom "Zusammentreffen eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch" kommentarlos in eine Photomontage umsetzen konnte, ohne daß dieses Zusammentreffen von seiner provokativen Kraft etwas eingebüßt hätte. (Man Ray: 'Enquète', Photomontage 1933. (Reprod. z.B. in: Absolut modern sein. Culture technique in Frankreich 1889-1937. Berlin 1986, S. 70)) 178 Die Bilder, bzw. visuellen Konzepte sind in einem Netz immer schon aufeinander bezogen, sie sind einander 'nah', oder sie stehen sich fern. Das Netz der Bilder also ist 'semantisch'. Und so schwer es ist, das 'Wissen' um die Bilder und die strukturierende Leistung dieses symbolischen Systems von der Sprache und vom sprachlich verfaßten Wissen abzusetzen, so sicher kann gesagt werden, daß es nicht der 'Zusammenhang der Dinge selbst' ist, der die semantischen Netzrelationen stiftet. Gerade damit aber ist der Kern berührt. Der 'unmittelbare' Blick auf die Gegenstände nämlich – es sei noch einmal wiederholt – war das zentrale Versprechen, das die technischen Bilder gemacht hatten 3.2.5 Summe: Transparenz und Überhöhung der Zuschauerposition Der Bogen hat sich nun geschlossen und die Argumentation kehrt zu einem zentralen Begriff der Apparatustheoretiker zurück. Mit dem Begriff der 'Transparenz' bzw. der Transparenzillusion hatten diese Autoren die Tatsache zu fassen versucht, daß das Kinoerlebnis die Verdrängung der filmischen Maschinerie zur Voraussetzung hat. Ungeachtet der komplizierten technischen Prozesse, die zwischen den abgebildeten Gegenstand und das Abbild getreten sind, glaubt der Rezipient zumindest auf einer bestimmten Ebene seines Bewußtseins, mit dem Abgebildeten 'unmittelbar' konfron- tiert zu sein. Die verschiedenen Mechanismen, mit deren Hilfe das Medium Film diesem Eindruck als einen seiner Effekte produziert, seinen technischen Charakter verbirgt, hatten die Apparatustheoretiker benannt. Der Begriff der Transparenz ist nun um eine völlig neue Bedeutungsdimension zu erweitern. Als 'transparent' nämlich kann sich der Film vor allem auch deshalb gerie- ren, weil er seinen symbolischen Charakter, und damit seine Bindung an den gesell- schaftlichen Konsens, in gleichfalls systematischer Weise verdeckt. Die Frage also gilt ein weiteres Mal der filmischen 'Wahrheit', dem "irreduzibel 1 dokumentarischen Charakter" des Mediums Film, bzw. jenem 'impression of reality', 2 aus dem auch der fiktionale Film einen Großteil seiner Evidenz bezieht. Der Film präsentiert dem Betrachter einen Technik-freien Bildraum 'reiner' Gegen- ständlichkeit; darüber hinaus aber, und darum geht es hier, errichtet der Film eine ganze Anzahl zusätzlicher Wahrnehmungssperren, die dem Filmbild seine Leuchtkraft und Glaubwürdigkeit verleihen, und die auch die Theorie nur mit einigem Aufwand zu rekonstruieren in der Lage ist. 1 eine Formulierung von Kracauer 2 Es sei noch einmal daran erinnert, daß nahezu zwei Drittel der Amerikaner das Fernsehen für das informativste Nachrichtenmedium halten, obwohl die Zeitungen dasselbe Agenturmaterial verarbeiten und, was den Text angeht, ein Vielfaches an Fläche zur Verfügung haben. 179 Die Abfolge dieser Wahrnehmungssperren spiegelt sich in den Stationen der hier vorgeführten Argumentation. Der erste Punkt war die scheinbare Kontinuität des filmi- schen Raumes, bzw. die Tatsache, daß der filmische Raum in seiner zentralperspekti- vischen Geometrie zunächst überhaupt darauf zu verzichten scheint, 'Gegenstände' als solche zu konstituieren. Das Filmbild, es wurde gesagt, repräsentiert einen 'Ausschnitt der Welt', der tatsächlichen Welt oder einer konstruierten, inszenierten Welt, und damit gerade nicht jene aufaddierten Einzeldinge, die die 'Aggregat-Räume' der vor- perspektivischen Malerei beherrschen; und wenn auch die Wahl des Ausschnitts einem 'Autor' zuschrieben werden muß, so scheint bereits die Segmentierung des Bildes in 'Gegenstände' in den Macht- und Zuständigkeitsbereich des Betrachters zu fallen. Die Argumentation hatte gezeigt, daß die Grenze tatsächlich anders verläuft: Der scheinbar euklidisch-neutrale Raum ist auf eine bestimmte Position hin hierarchisiert, der Bildraum endet an den frame lines alles andere als zufällig, bewußte oder unbe- wußte Kompositionsprinzipien und vor allem die Zentrierung steuern die lesende Aufmerksamkeit fern und schließlich arbeiten all diejenigen 'Mittel', die dem Filmbild Plastizität verleihen, der Konstituierung von 'Gegenständen' im filmischen Raum zu. Die entscheidende Differenz ist nicht, daß die scheinbare Souveränität des Betrachters, weit mehr als dieser ahnt, vom Autor eingeschränkt würde; die Mehrzahl der genann- ten Mechanismen steht den Autoren als Gestaltungs-'mittel' überhaupt nicht zur Dispo- sition, insofern etwa gegen die Zentrierung nur um den Preis extrem hoher Auffällig- keit verstoßen werden kann. Zwischen den Betrachter und den Autor vielmehr schie- ben sich ein weiteres Mal die Gesetze der Maschinerie, und, bislang von diesen kaum zu trennen, bestimmte Konventionen, die sich zu maschinenähnlicher Härte verfestigt haben. Die Kontinuität des Bildraums ist ein Ideologem. Anders als der Aggregatraum der vorperspektivischen Malerei, der zugestand, daß Autor und Rezipient sich über 'Ge- genstände' verständigen, die ihre Isolation aus dem Kontinuum der Natur immer schon dem menschlichen Eingriff, der symbolischen Ordnung verdanken, scheint der Film diesen isolierenden Eingriff vermeiden zu können, und Natur, ungeschieden wie die Natur selbst, darzubieten. Die zweite Wahrnehmungsbarriere hängt mit der ersten eng zusammen: denn gleich- zeitig mit der Behauptung der Kontinuität würde jeder Rezipient natürlich zugestehen, daß sein Verstehen 'Gegenstände' im Filmbild isoliert. Weder der Widerspruch zur 'Kontinuität' des Bildes aber wird ihm normalerweise auffallen, noch die Frage sich aufdrängen, wer das Raster liefert, das ihn überhaupt in die Lage setzt, Gegenstände wiederzuerkennen. Das Bewußtsein pendelt also zwischen dem Genuß an der 'Kon- tinuität', die, so sie denn bestände, unerschließbar-abweisend und damit alles andere als genußvoll wäre, und dem Genuß an der erschließenden 'Semantik', einer Bedeu- 1 80 tungsfülle, die den Dingen selbst zuzugehören, und die der Härte und Begrenztheit der symbolischen Systeme entkommen scheint. Der entscheidende Punkt ist, daß die Dinge im Film auf kein vorgängiges Ordnungs- system, keinen Code und keine Decodierung angewiesen scheinen. Wie sich durch die Eigenbewegung der Kamera, die die Plastizität ins Filmbild hin- einträgt, das Bild räumlich scheinbar 'spontan' gliedert, so scheint allein die 'Wahr- nehmung' ausreichend, in diesem Raum sich zu orientieren. Im Begriff der Wahr- nehmung aber, das hat der Rekurs auf die Gestalttheorie gezeigt, ist bereits ein ganzes Bündel von Voraussetzungen unterschlagen. Die Wahrnehmung selbst ist 'semantisch' strukturiert und niemals 'spontan', insofern sie von Wiederholung, von Vorerfahrungen abhängig ist, und sie mündet, spätestens mit dem Erwerb der Sprache und dem Eintritt in den Diskurs der technischen Bilder, in jene zweite Semantik ein, die endgültig nicht mehr der Besitz des Einzelnen ist. All diese Voraussetzungen bleiben dem Rezipienten verborgen. Er sieht sich als Herr im Haus der eigenen Wahrnehmung, glaubt seinen Augen trauen zu dürfen und – dies 3 ist zentral – glaubt die Ein-sprache der Gesellschaft im Reich der Bilder loszusein. Der Rezipient, das ist die entscheidende Wirkung des Filmbildes, wähnt sich mit dem 'Material' – vermittelt allenfalls durch die Intention des Autors – allein. Die so beschriebene Konstellation erinnert an eines der großen geschichtsphilosophi- schen Modelle Foucaults. In seinem Buch 'Die Ordnung der Dinge', das die Geschichte des Wissens, und speziell der Sprache als der wohl entscheidenden epistemologischen Grundstruktur zu rekonstruieren versucht, behauptet Foucault, daß auch die Sprache einmal als völlig 'transparent' wahrgenommen worden ist. In der 'klassischen' Phase, der mittleren der drei in diesem Buch konstruierten Ab- schnitte in der Geschichte des Wissens, einer Phase, die Foucault mit dem Ende des 16. Jahrhunderts beginnen und gegen 1780 enden läßt, ist die Sprache das Medium der Repräsentation. Die Zeichen sind den Dingen, die sie bezeichnen, nicht mehr durch Ähnlichkeit verbunden, sie werden nicht mehr auf deren Oberfläche (als Markierung) gesucht; die Zeichen vielmehr bilden eine eigene Sphäre, deren ausschließliche Funktion die Bezeichnung ist, und die die Ordnung der Dinge in ihren Tableaus garantiert. So steht das Zeichensystem als ein selbstverständlicher Mittler zwischen dem Menschen und den Dingen; es rastert alle Erfahrungen auf, als reines Instrument 3 Daß das Fernsehen Fern-Sehen und nicht etwa Ferngezeigtbekommen heißt, ist im Zusammenhang der Transparenzproblematik alles andere als ein Zufall; der Begriff des Fernsehens impliziert, daß ich als individueller Rezipient - vermittelt allenfalls durch die Technik - in eigener Souveränität fern-sehe. Dem Film gegenüber bedeutet das Fernsehen noch einmal einen Sprung in Richtung Transparenz: Indem es die Zeitdifferenz zwischen Aufnahme und Projektion überwindet (und, wie McLuhan sagt, 'Gleichzeitigkeit' etabliert), bringt sich das Medium noch einmal zum Verschwinden. 181 aber, das auf keinem Wege umgangen, nie also von außen angesehen werden kann, 4 bleibt seine Funktion unproblematisch und die Sprache dem Denken koextensiv. 'Transparent' also ist die Sprache in der klassischen Phase, weil jeder Weg zu den Dingen durch ihr Raster führt, dieses Raster dem Denken aber keinen nennenswerten Widerstand entgegenzubringen scheint. In der Renaissance, der ersten Episteme, war die Sprache opak (Foucault sagt: volu- minös), insofern sie mit den Dingen selbst, ihren Eigenschaften und den Legenden in ihrem Umfeld aufs engste verwoben war; in der Moderne, der dritten Episteme, wird sie wiederum opak werden, weil sie sich von der Repräsentation ablöst und die Sprach- theorie wie die Literatur ihren formalen, maschinellen Charakter in den Vordergrund stellen werden. Folgt man Foucault, also ist die 'Transparenz' auf dem Terrain der Sprache auf eine genau begrenzbare Phase eingeschränkt. Und so artifiziell diese geschichtsphiloso- phische Konstruktion als ganze ist, so wenig wird die Kernthese, in der Moderne sei das Vertrauen in die 'Transparenz' der Sprache zusammengebrochen, sich abweisen lassen. Die Wirkungen dieses Zusammenbruchs lassen sich auf einer Vielzahl von Ebenen nachweisen. So zielt eine radikale Sprachkritik, wie sie – im Kontext sehr unter- schiedlicher Philosophien – Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger und Adorno vorge- tragen haben, zunächst darauf ab, das eigene begriffliche Instrumentarium zu reflektieren; darüberhinaus aber wird sie als ein Anzeichen dafür verstanden werden müssen, daß die Sprache als ganze sich, ausgelöst u.a. durch den zunehmenden Druck der Naturwissenschaften, gegen einen universalisierten Rhetorikverdacht zur Wehr setzen muß. In der Literatur zeigt das Aufkommen der verschiedenen 'Realismen' an, daß das referentielle Verhältnis zur Welt nur noch durch bestimmte literarische Ver- fahren zu gewährleisten scheint, während die Lyrik, auch bei Foucault eines der Beispiele, sich der materialen Seite der Sprache und einer hermetischen Kombinatorik zuwendet, die eine ihrer Wirkungen gerade darin hat, das Vertrauen in schlichte Refe- renzverhältnisse zu unterminieren. Vor allem aber, und dies ist im hier vorliegenden Zusammenhang wichtig, wird die Transparenzproblematik in der Auseinandersetzung zwischen der Sprache und den Bildmedien thematisch. Sowohl die Debatte um die 'Wahrheit' der Photographie als auch die ganz anders geartete, die das frühe Kino zum Gegenstand hatte, spiegeln in vielen Facetten das wachsende Mißtrauen der Sprache gegenüber wider. "Wir werden heutzutage nicht mehr so geneigt sein", schrieb Egon Friedell 1912 in einer häufig zitierten Stelle zum frühen Film, "dem Wort eine so absolute Hege- monie einzuräumen. Man darf vielleicht eher sagen, daß Worte für uns heutzutage 4 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt 1974, S. 360 (O., frz.: 1966) 1 82 5 schon etwas Überdeutliches und dabei etwas merkwürdig Undifferenziertes haben". Eine Äußerung, die umso auffälliger ist, als sie von einem Literaten stammt, von jemandem also, der in der Sprache lebt und in besonderer Weise auf dieses Medium angewiesen ist. Ohne daß die genannten Anzeichen den von Foucault beobachteten Zeitschnitten bestätigend oder kritisch genau zuzuordnen wären, scheint deutlich, daß die 'Krise der Sprache' mit dem Siegeszug der technischen Bilder in einem engen Wechselverhältnis steht. Verkürzt man diesen Prozeß grob, also scheint das Vertrauen in die 'Wahrheit', die Referenz und die welterschließende Kraft der menschen-gemachten Zeichen von der Sprache auf die technischen Bilder übergegangen zu sein. Für die 'Transparenz' der Bilder aber bedeutet die Reflexion auf Foucault und die Überlegung zum 'Schicksal' der Sprache eine Bedrohung: Es erscheint nun denkbar, daß auch die Wahrheit der Bilder historisch-relativ, und wie diejenige der Sprache zumindest langfristig dem Untergang geweiht sein könnte. Interessanter als diese Perspektive selbst aber sind bestimmte Rückschlüsse, die jetzt zu ziehen sind; nun nämlich ist es möglich, die genannten Wahrnehmungssperren, die das Filmbild produziert, in ihrer Funktion zu begreifen. Das gleichzeitige Beharren auf der Kontinuität und auf dem gegenständlichen Charakter, die Tatsache, daß das Filmbild seine symbolische Struktur abdeckt und so die Voraussetzungen leugnet, die seine Rezeption überhaupt erst möglich machen, sind nun als Strategeme einzuord- 6 nen. Als Strategeme, die die referentielle Funktion sichern und das Vertrauen in die Transparenz bereits im Vorfeld gegen jeden grundsätzlichen Zweifel imprägnieren. Der Film, das ist die den Apparatustheoretikern gegenüber erweiterte These, stellt 'Transparenz' nicht allein durch eine bestimmte technische Anordnung her, sondern er strukturiert vor allem sein symbolisches Feld auf eine Weise, daß 'Transparenz' und als deren Effekt: Referenz sichergestellt erscheint. Wenn Referenz (Weltbezug) das Versprechen aller symbolischen Systeme ist, also kommt es im Fall des Films zu der eigentümlichen Einstülpung, daß eine vorgängige, technisch verbürgte Referenz gegen das Symbolische sich durchgesetzt zu haben scheint. Und man könnte summieren, daß das Symbolische des Films seine Verkennung orga- nisiert wie jene Wasservögel, die, in ihrer Schutzhaltung erstarrt, den Eindruck er- wecken, 'nicht da' oder ein Teil des Schilfs zu sein, das sie umgibt. 5 Friedell, Egon: Prolog vor dem Film. In: Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. Zum Verhältnis von Litera- tur und Film 1909-1929. Tübingen 1978, S. 45 6 'Strategeme' selbstverständlich nicht im Sinne einer die gesellschaftlichen Verhältnisse bewußt gestal- tenden Instanz, sondern einer Systemrationalität, die weitgehend blind entlang der historisch varianten funktionalen Erfordernisse sich entwickelt. 183 Bezugspunkt dieser strategischen Anordnung, das sei noch einmal gesagt, ist die Not und die Lust des Zuschauers. Ihm, dem Zuschauer, garantiert der Film nicht nur Weltbezug – Orientierung und Referenz –, vor allem erlaubt er ihm, die Vorausset- zungen und die vielfältigen Interdependenzen zu vergessen, in die er, objektiv wie symbolisch, eingespannt ist. Der Schein einer 'unmittelbaren' Begegnung mit dem Abgebildeten verdrängt die vermittelnde Apparatur aus dem Bewußtsein, vor allem aber versperrt sie den Zugang zu der Erkenntnis, daß die Gesellschaft – das Vermit- telnde schlechthin – in der Struktur der symbolischen Systeme und eben auch der symbolisch strukturierten Wahrnehmung immer schon 'mitgesprochen hat'. Daß die scheinbar unvermittelte Konfrontation mit dem Abgebildeten und die mühe- lose Außerkraftsetzung der ebenso erstickenden wie undurchschaubaren Interdepen- denzen eine Art Ich-Rausch auslösen muß, steht außer Frage, und ohne Frage geht dieser Ich-Rausch als ein konstitutiver Bestandteil in die Kinolust, in das Kinoerlebnis als ganzes ein. Der Preis für diesen Zuwachs an psychischer Stabilität allerdings ist hoch: Wenn die Sprache des Films nicht als die der Gesellschaft, und das Konnotations- system der Bilder nicht als ein konventionalisiertes durchschaut wird, das den Regeln eines konkret historisch situierten Diskurses unterliegt, kann eine 'falsche Sprache' oder Ideologie allenfalls noch auf der Ebene der Inhalte, der Aussage, des Narrativen 7 lokalisiert werden. Dieser reduzierten Perspektive gegenüber erscheint der umfas- sende Rhetorikverdacht, dem die Sprache anheimgefallen ist, als der zuverlässigere Spiegel. Das zweite Problem betrifft die Subjektivität des Einzelnen, der der Ich-Rausch, oberflächlich betrachtet, ja zuarbeitet. Tatsächlich, so wird man sagen müssen, wird die Krise reorganisiert. Wenn Subjektivität als ein Differenzphänomen beschrieben werden muß, als eine Art Lücke, die zwischen der individuellen unartikulierten Be- findlichkeit und der symbolischen Ordnung aufklafft, so stellt der Film eine vor- schnelle Versöhnung in Aussicht: Die Wahrnehmung, als voraussetzungsloser und individueller Besitz angesehen, scheint mühelos die Brücke zum bereits Artikulierten zu schlagen und auch der differenten, abweichenden Wahrnehmung scheint in der Ambiguität der Bilder genügend Spielraum zu verbleiben. Die Versöhnung aber, wie gesagt, ist vorschnell. Indem der Film seinen Sprachcharakter verleugnet, negiert er die Differenz, an der er dennoch arbeitet; wie die Sprache drängt auch er den Einzelnen letztlich dahin, das etablierte Konnotationssystem zu teilen, und er tut dies, gerade indem er nichts als die individuelle Wahrnehmung vorauszusetzen scheint. Im Fall der Sprache scheint das 'Hineinreden' der Gesellschaft, wenn auch noch nicht 7 Beispiel sei der schon erwähnte Artikel 'Narrative Space' von Heath, oder die Verkürzung der Holly- woodkritik auf entweder die Sujets oder einzelne Darstellungsmittel, deren ideologische Funktion im Mechanismus der Kanonisierung unabweisbar wird. 1 84 das Bewußtsein erreicht zu haben, so doch in Form eines nagenden Zweifels zuneh- mend lästig zu fallen. Im Fall der bewegten Bilder steht ein vergleichbarer Zweifel bisher noch aus. Vielleicht kündigt er sich in dem Überdruß an, den die Klischees, die Redundanz und die Wiederholung auf dem Terrain der technischen Bilder auszulösen 8 beginnen. Vom Bewußtsein aber ist dieser Überdruß noch weit entfernt. So scheint es einstweilen Sache der Theorie, die Mythen der Ikonizität, der 'Unmittelbarkeit' und eines privilegierten, weil von Zeichen befreiten Zugangs zur Wirklichkeit zu relati- vieren. Eine Semiotik des Films, die ihren Ort exakt in diesem Zusammenhang hätte, ist Desiderat; die hier vorgetragene Argumentation hatte pragmatischere Interessen: Sie füllt eine Lücke, die die Fragen der Apparatus-Theoretiker offengelegt, ihre Antworten aber nicht geschlossen hatten. Und sie rekonstruiert die Position des Zuschauers ein weiteres Mal, nun in anderer Weise, als 'vorentworfen'. Der Blick hat sich der 'Ob- jektwelt' zugewendet, der der Zuschauer sich gegenübersieht, einer Objektwelt, die symbolischen Regeln unterliegt und sich dennoch für Natur ausgibt; und im Ich-Rausch, der sich der Ausblendung der symbolischen Interdependenz verdankt, schließlich trat ein weiteres Mal jene 'Subjektüberhöhung' auf, der die Frage, zumin- dest was den Zuschauer betrifft, gilt. Diese Frage und das Verhältnis von Subjekt und Objekt, das dem Ich-Rausch zugrun- deliegt, bilden den Gegenstand des nun folgenden, letzten Theorieteils der vorliegen- den Arbeit. 8 1985 war das erste Jahr, in dem die Fernsehnutzung in der BRD signifikant zurückgegangen ist, und die Wiederholung von Spielfilmen ist zu einer Art Dauerthema der Programmpresse geworden 185 4. Subjekt und Objekt. Zum Verhältnis von Zuschauerposition und Objektsphäre im Film 4.1 Das Problem Das Objektfeld des Films ist gegliedert und konventionalisiert. Das Filmbild ist ein gegenständliches Bild und der Film konstituiert Objekte, denen er einen festen Platz in seiner symbolischen Ordnung zuweist. In welchem Sinn aber, so wird man nun zu fragen haben, kann von 'Objekten' ei- gentlich die Rede sein? Schließt dieser Begriff, wie übrigens der des Gegenstandes auch, nicht Bedeutungsdimensionen ein, die im Fall des Filmbildes in keiner Weise gegeben sind? Bei den Worten 'betrachten' oder 'ansehen' handelt es sich zweifellos um transitive Verben, um Verben also, die auf der Ebene der Grammatik ein Subjekt-Objekt-Ver- hältnis setzen. Aber hat sich dieses grammatikalische Modell nicht so weitgehend abgeschliffen, daß es nur im Kern noch auf tatsächliche Handlungszusammenhänge verweist? Und verlangt nicht ein exakter gefaßter Begriff des Objekts einen darüber hinausgehenden, d.h. tatsächlichen Handlungszusammenhang, eine Aktivität auf sei- ten des Subjekts und, auf der anderen Seite, eine Unterwerfung des Objekts? Auf den ersten Blick scheinen für den Film beide Bestimmungen unzutreffend. 'Passiv' scheint zunächst gerade der Zuschauer zu sein, der, in seinen Sessel festgebannt, dem Geschehen auf der Leinwand sich ausliefert; und die Objekte, deren Schatten über die Leinwand gleiten, scheinen, weil materiell 'abwesend', ohnehin vor jedem Zugriff zuverlässig geschützt. Dieses simplifizierende Bild wurde durch Zuschauertheorien relativiert, die auf die Phantasietätigkeit des Zuschauers abgehoben haben. "Never 'passive', the spectator, 1 works", hatte Comolli geschrieben; aber reicht die Phantasietätigkeit des Zuschauers aus, ein Objektverhältnis zu begründen? Die Zuschauertheorien deuten zumindest darauf hin, daß es sich nicht zwangsläufig um ein tatsächliches, sondern eben auch um ein halluzinatorisches Verhältnis der Bemächtigung handeln könnte; welche Funktion aber könnte eine solche gesellschaft- lich inszenierte Phantasie haben? Eine Vielzahl von Fragen tut sich auf, wenn das Kino als eine bestimmte Anordnung von 'Subjekt' und 'Objekt' verstanden, und die abgeschliffene Rede vom Zuschauer- 'Subjekt' auf diese Weise einer Überprüfung unterzogen werden soll. Dies aber scheint nicht allein im Hinblick auf die Apparatus-Texte nötig; die Kinolust nämlich, die im ersten Anlauf als ein Vergessen des Symbolischen, und damit der Unlust stiftenden gesellschaftlichen Interdependenz, zu fassen war, könnte sich – ungleich hand- 1 Comolli, Machines of the Visible, a.a.O., S. 140 186 greiflicher – als ein Effekt der Macht, einer halluzinatorischen Macht, vermittelt durch eine bestimmte maschinelle Anordnung, erweisen. Der 'Blick in den Raum' könnte lustvoll sein, wenn der Raum als ein unterworfener oder zur Unterwerfung bestimmter Raum vorstrukturiert wäre, und wenn der Zu- schauer in eine Position vordefinierter Souveränität sich jeweils nur einzusetzen hätte. Von der Analyse der Objektseite, der Analyse des filmischen Raumes und der filmi- schen 'Gegenstände' also ist jetzt zu jener Längsachse zu wechseln, die den Zuschauer mit dem Leinwandgeschehen verbindet. Diese Achse fällt mit der Achse seines Blicks zusammen, der die Leinwand weniger trifft, als daß er sie durchstößt, um in der per- spektivischen Illusion des filmischen Raums das vordefinierte Spiel seiner Macht zu entfalten. Die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt also hat u.a. diejenige nach der Macht des Blickes zu klären; denn in welchem Verhältnis steht der Blick zu – zunächst: tatsächlicher – Macht? Wenn Macht ein materielles, und das heißt letztlich körperliches Verhältnis ist, so scheint der Blick dieses Verhältnis zunächst kaum mehr als symbolisieren zu können; ist die Macht des Blicks also von vornherein 'halluzinatorisch', zeichenhaft, oder geht, wie Virilio es beschreibt, der Blick der destruktiven Tat unmittelbar voran? 4.2 Blick und Macht. Die Obszönität des militärischen Blicks In der Tat ist Virilio ein potenter Zeuge, wenn es um die Machtdimension des Blikes 1 und der technischen Bilder geht. In seinem Buch 'Krieg und Kino' beschreibt er die vielfältigen Wechselbeziehungen, die zwischen der Entwicklung der militärischen Destruktionstechniken und dem Fortschritt der der optischen Geräte bestehen; und er legt eine Anzahl gemeinsamer Wahrnehmungsmuster offen, die beide miteinander verbinden. Der handgreiflichste Bezug ergibt sich aus der Tatsache, daß die Militärs wissen müssen, wohin sie zu schießen haben; von der Aufklärung des gegnerischen Terrains hängt die Wirksamkeit der militärischen Aktionen ab und eine ganze Ge- schichte der optischen Technologien ließe sich allein entlang der voranschreitenden Zieltechniken schreiben. Aber nicht nur im Vorfeld der direkten Aktion hat die Optik ihren Stellenwert; Virilio beschreibt, daß bereits im ersten Weltkrieg eine systemati- sche Auswertung von Luftbildern die Wirkung der eigenen Angriffe kontrollierte, daß diese Luftbilder von den angreifenden Verbänden selbst angefertigt wurden, und daß die Piloten, die zu Beginn des Krieges oft noch allein flogen, gleichzeitig zu steuern, zu schießen und zu filmen hatten; im deutlichsten Fall war der Abzug der Kamera mit 2 dem des Maschinengewehrs mechanisch gekoppelt. 1 Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München 1986 (O., frz.: 1984) 2 ebd., S. 35 und Abb. 29 187 In gewissem Sinn war eine solche Kopplung in der 'photographischen Flinte' Mareys 1882 bereits vorvollzogen; nach dem Vorbild des Trommelrevolvers konstruiert, erlaubte diese direkte Vorläuferin der Filmkamera Reihenaufnahmen, sog. Chrono- photographien, und sie wurde vor allem zur Analyse kontinuierlicher Bewegungen eingesetzt. Wie Kracauer, Benjamin und etwa auch Sontag gezeigt haben, hat die 3 Photographie in vieler Hinsicht mit dem Tod zu tun; und gerade im Fall der photo- graphischen Flinte ist bis in die äußere Gestalt der Apparatur hinein deutlich, daß ein bewegtes Objekt anvisiert, 'getroffen' und stillgestellt werden soll. Virilios Text aber ist gerade darin interessant, daß er der Metaphorik solcher Begriffe eine materiale Basis zu verschaffen sucht. Die Verflechtung der technischen Entwick- lung, der gemeinsame Verwendungszusammenhang und die Einbettung der tatsächli- chen Destruktion in eine Flut technischer Bilder untermauern den Verdacht, daß das Militär nicht eine an sich neutrale Technologie der Bildherstellung einfach 'miß- braucht' hat, sondern daß optische und militärische Technologien in tieferliegenden Dispositionen eine gemeinsame Basis haben. Virilio zeigt, daß militärische Aufklärung seit 1914 vor allem Luftaufklärung war; der Blick von oben, aber auch eine bestimmte Form der Bewegung determinert die Form der militärischen Bilder, eine Bewegung, die über Geschwindigkeit und die Verfüg- 4 barkeit aller drei Dimensionen den Raum der Souveränität des Einzelnen unterwirft. Bewegungs- bzw. Raumerfahrungen sind für Virilio deshalb ein entscheidender Punkt, in dem die Macht und der Blick konvergieren; mit der Idee Bitzers 1898, seine Kamera auf eine Lokomotive zu montieren und ihre Fahrt auf einem Film festzuhalten, begann die enge Mesalliance, die der Film bis heute mit dem Fahren und dem Fliegen unter- hält. Die Bewegung des Fahrens ist die Bewegung in den Raum hinein. "Schon die 'Hale's Tour' [eine Jahrmarktsattraktion vor dem ersten Weltkrieg] [...] versetzte den Zuschauer in die Position eines Angreifers. Sie setzte ihn in einen etwa fünfzehn Meter tiefen Raum mit Sitzen zu beiden Seiten eines Mittelgangs, wie in einem Eisenbahnwagen in voller Fahrt. Der von einer Lokomotive aus aufgenommene Film wurde projiziert auf die Leinwand am Kopfende des Saals, 5 die so zu einer Art Windschutzscheibe wurde." 3 Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt 1980 (O., am.: 1977) 4 In Hitchcocks 'Rear Window' (USA 1954), der in der Filmtheorie immer wieder als ein Extrembeispiel filmischen Voyeurismus (und als eine Parabel auf diese Tendenz des Kinos) analysiert wird, erwähnt der männliche Protagonist nicht nur, daß er seinen Freund, den Polizisten, den er zu Rate zieht, aus dem Krieg und speziell aus der Air Force kennt, sondern auch, daß das gemeinsame Flugzeug ein 'Aufklärer' war 5 Virilio, a.a.O., S. 71 (Erg. H.W.) 188 In seiner Faszination für die Machtdimension der Bewegung ist Virilio zweifellos an 6 den Futuristen orientiert. So hebt er an Pastrones 'Cabiria' den futuristischen Hinter- 7 grund hervor und er verweist auf Vertov, der in seinen theoretischen Texten wie in 8 seinem bekanntesten Film 'Der Mann mit der Kamera' das "bewaffnete Auge des Filmers" und die Beweglichkeit der Kamera gefeiert hat. "Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbe- weglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenstän- den und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zu- 9 sammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern." Der futuristische Ton dieser Stelle und die Begeisterung für die Ubiquität des mecha- nischen Auges ist offensichtlich; gerade Vertov aber wird man nicht schlichte Macht- phantasien unterstellen können, ist doch gerade der 'Mann mit der Kamera' in der Absicht gedreht, die filmische Technik und die anti-naturalistischen Möglichkeiten des Mediums offenzulegen. Aus der Perspektive der hier verfolgten Frage ist deshalb interessant, auf welche Weise der aufklärerische Grundimpuls und zweifellos eben- falls vorhandene Omnipotenzphantasien sich mischen, an welchen Punkten das jeweils eine in das andere umschlägt. Die wohl deutlichsten Bilder der zweiten Tendenz liefert der Protagonist, der, äußerst viril gekleidet, mit geschultertem Dreibeinstativ den Bildraum mit festen Schritten durchmißt, seine Kamera auf fahrenden Autos, in schwindelnder Höhe über Wasser- fällen und zwischen Bahngleisen installiert, und als eine Art Stellvertreter-Heros die Bilder einsammelt, die das mechanische Auge dem Publikum versprochen hat. Die Eindeutigkeit dieser Figur und die Fülle phallischer Symbole in ihrem Umfeld illu- striert die von Virilio für das Medium als ganzes behauptete Tendenz fast unmittelbar. Weniger deutlich, im Zusammenhang aber nicht weniger wichtig, ist die Ausstellung der technischen Apparatur selbst, die fetischisierende Züge trägt und die die phallischen Motive auf anderer Ebene noch einmal aufnimmt. So in einer Einstellung, in der die Kamera, mit einem langen Teleobjektiv versehen, einem Flugabwehrge- 6 I 1912 7 ebd., S. 28 8 UdSSR 1929 9 Vertov, Dziga: Kinoki-Umsturz. In: ders.: Schriften zum Film. München 1983, S. 20 (Der Text stammt von 1922/23). Virilio zitiert dieselbe Stelle a.a.O., S. 35. 189 10 schütz zum Verwechseln ähnlich sieht, und einer zweiten, in der sie, auf eine Brücke montiert, langsam über eine Menschenmenge schwenkt als sei sie das Maschinen- gewehr eines die Menge bewachenden Soldaten Bilder wie diese sprechen tatsächlich Implikationen aus, die das Medium normaler- weise verbergen würde; daß Vertov sein Auge umstandslos 'bewaffnet' nennt, geht sicher u.a. darauf zurück, daß die russische Revolution den Waffen eine völlig neue Bedeutung gegeben hatte; daneben aber kommt darin eine subjektive Lust zum Aus- druck, die Vertov wahrscheinlich mit einer Vielzahl von Filmenden teilt und die er mit derselben Offenheit thematisiert, mit der er die normalerweise verborgene Technik des Films in die Bilder eintreten läßt. Virilio also bezieht sich zu Recht auf Vertov und er zeigt die Verbindungslinie auf, die, allen Differenzen zum Trotz, Vertovs Kamerarausch mit der quasi-diktatorischen 11 Position einzelner Hollywood-Regisseure in Beziehung setzt. Die Verfügung über Menschen und Material auf dem Set und der Aufbau einer gigantischen Illusionsma- schinerie, beides Vertovs Konzeption völlig entgegengesetzt, entpuppt sich nicht allein als ein Erbe des Theaters, sondern eben auch als das des Kamerablickes; eines Blickes, der die Welt immer schon unterworfen hat, bevor die Inszenierung diese Unterwerfung fiktional-real noch einmal vollzieht. Mit der Raumwahrnehmung ist die Machtdimension des Blickes auf mehrfache Weise verbunden; neben der Bewegung in die Tiefe des Raums hebt Virilio die Distanz zum 12 Gegenstand hervor, die alle optische Wahrnehmung kennzeichnet, und, paradigma- tisch für das Medium des Films, die Sicht von oben, die eine Position des Überblicks 13 und die Erfassung des jeweils ganzen Geschehens suggeriert. Die Flugerfahrung hat ihre Besonderheit darin, daß sie alle drei genannten Dimensionen, die Bewegung in die Tiefe des Raums, die Distanz und die Draufsicht in sich zusammenfaßt. 10 dokumentiert in der Abbildung 218 'Cameraman shooting with telescopic lens' in: Vlada Petric: Con- structivism in Film. The Man with the Movie Camera. A Cinematic Analysis. Cambridge 1987, S. 304 11 "Von Cecil B. DeMille heißt es, er hätte sich, als er 'Die zehn Gebote' drehte, selbst für den lieben Gott gehalten, der das jüdische Volk durch das rote Meer führte. Die Diktatur, der er seine Umgebung unterwarf, grenzte an Leibeigenschaft". (Virilio, a.a.O., S. 103) 12 ebd., S. 156 13 "1934 beauftragte Hitler Leni Riefenstahl damit, 'Triumph des Willens' zu drehen. Der jungen Filmerin stand ein unbegrenztes Budget zur Verfügung, 130 Techniker, 90 Kameraleute, die in Aufzügen, auf Türmen und eigens für diesen Anlaß konstruierten Plattformen placiert wurden, um den nationalsozia- listischen Parteitag zu filmen". (ebd., S. 107 (Hervorh. H.W.)). Tatsächlich spielen Draufsichten im Triumph des Willens eine große Rolle und selbst die ansonsten strenge Symmetrie der architektonischen Inszenierung des Geländes wurde geopfert, indem an einem der gigantischen Fahnenmasten des Kopfbaus ein Kameraaufzug installiert wurde; die Draufsichten und die bereits erwähnte Fülle von Untersichten in diesem Film arbeiten gemeinsam einem ebenso hohlen wie falschen Pathos zu 190 Die Wurzeln allerdings liegen tiefer. Denn bereits "lange vor dem Staffeleimaler, dem Photographen und dem Filmer", schreibt Virilio, hatten die Schießscharte und der verengte Blick des Zielenden die Kadrierung des Bildes vorvollzogen. Mit dem Effekt, daß "die Verengung des Blickfeldes [...] den Eindruck einer größeren Tiefenschärfe" 14 bewirkt. "Die Obszönität des militärischen Blicks, der sich zunächst auf die nähere Um- gebung, dann auf die ganze Welt richtete, diese Kunst, sich dem Blick des anderen zu entziehen, um selbst sehen zu können, war nicht nur ein Voyeurismus mit schlimmen Folgen; sie brachte in das grundsätzliche Chaos des Sehens eine dau- erhafte Ordnung, die die synoptischen Operationen der Architektur und später der Filmleinwand vorwegnahm. Zieleinstellung, Blickwinkel, toter Winkel, toter Punkt, Expositionszeit: in der Visierlinie kündigte sich schon die Fluchtlinie an, mit deren Hilfe der Staffeleimaler – der nicht selten, wie Dürer oder Leonardo, 15 auch Militäringenieur und Belagerungsfachmann war – die Perspektive schuf." Auch Virilio also sieht in der perspektivischen Raumkonstitution einen Code der Bemächtigung, der eine 'dauerhafte Ordnung' in das 'grundsätzliche Chaos des Sehens' bringt. Virilio betont aber auch eine Gegentendenz, die Tendenz nämlich, daß die Moderne die Sichtbarkeit und die räumliche Kontinuität als Paradigmen der Wahrnehmung unterminiert. Ebensosehr wie die Apotheose der Sichtbarkeit ist die Flut der techni- schen Bilder im ersten Weltkrieg als ein Krisensymptom zu lesen, als ein Anzeichen, daß die Realität des Krieges dem 'unbewaffneten' Auge sich zunehmend entzieht. Die Wahrnehmung, die durch die Geschwindigkeit der tatsächlichen Vorgänge überfordert und durch die zunehmende Abstraktheit der Bedrohung zutiefst verunsichert ist, findet in den technischen Bildern eine Art Substitut für die verlorene konkrete Sinnlichkeit auf. Und sie findet ein Trainingsfeld, das es ihr möglich macht, sich in die neue Zer- stückelung des Raumes und der Zeit einzuüben. Vertov hat seinen Platz auch in diesem zweiten Zusammenhang; "diese Filmer, die das Bild 'aus der Bahn werfen' wie die Surrealisten die Sprache, hatte ihrerseits der Krieg aus der Bahn geworfen. Auf dem Schlachtfeld waren sie nicht nur zu Kriegern geworden; sie rechneten sich, wie die Flieger, zu einer Art technischen Elite. Der Krieg hatte ihnen die militärische Technologie in Aktion als höchstes Privileg der Kunst dargestellt. Die technologische Überraschung löste in der Avantgardeproduktion der unmittelbaren Nachkriegszeit eine sagenhafte Fu- sion/Konfusion aus. Während Kriegsaktualitäten und chronophotographische Flugdokumente in den Archiven verschwanden, [...] boten die Filmer dem großen 14 Virilio, a.a.O, S. 89 15 ebd., S. 89f (Hervorh. H. W.) 191 Publikum diese technologischen Effekte als neuartiges Schauspiel dar und setzten 16 so den Krieg und die von ihm ausgelöste Formenzerstörung fort." "Auch die Kinosäle wurden Trainingslager, in denen eine ungeahnte agonistische Einstimmigkeit hergestellt wurde; hier lernten die Massen, die Angst vor dem 17 Unbekannten zu beherrschen". Auf der einen Seite die Konstituion einer gewaltförmigen Ordnung des Sehens, auf der anderen Seite die Einstimmung auf eine veränderte Form der Wahrnehmung, die auf die Unifizierung des Raumes und der Zeit nicht mehr angewiesen scheint – Virilio bleibt zwischen diesen beiden Vorstellungen der Kinowirkung eigentümlich unent- schieden. Wie aber, sofern es auf eine Entscheidung nicht ankommt, wäre das Ver- hältnis beider zu denken? Daß die gesellschaftliche Realität, die gesellschaftlich relevanten Fakten und Struk- turen, sich von sinnlicher Konkretion zunehmend wegentwickeln, ist unabweisbar, und umso auffälliger ist, mit welcher Hartnäckigkeit die technischen Bilder den Schein solcher Konkretion perpetuieren. Wie bei Comolli erscheint bei Virilio die Sicht- barkeit selbst als Ideologie, während die sprengende Kraft (und die Hoffnung?) auf die Mechanismen der Montage, die Rhythmen und die Überraschung übergegangen ist; auf Mechanismen also, die mit dem zentralen Versprechen der technischen Bilder, sie bildeten 'unmittelbar' Realität ab, kaum zusammenhängen. Virilio weist auf, daß beide Tendenzen, ihrer Gegensätzlichkeit zum Trotz, in der militärischen Technik ihren gemeinsamen Ursprung haben, in verschiedenen Phasen dieser Technik, d.h. verschiedenen Konstellationen technikvermittelter Macht. Zu ergänzen wäre, Virilios Begriffen sicher fremd, daß beide Phasen durch Jahrhunderte getrennt, durch die Klassengeschichte des Bürgertums dennoch verklammert sind; nicht die Schießscharte, sehr wohl aber die Zentralperspektive fällt in die Frühphase des Bürgertums, die Photographie fällt in die Phase seiner Machtvollkommenheit und der Film schließlich in jene Krise, die der Bürgerherrschaft ein Ende hätten setzten können – die Zuordnung ist grob, doch sie zeigt, daß 'Macht' auf eine spezifische Macht wird eingeschränkt werden müssen, wenn sie als 'Macht der Blicke' Kontur gewinnen soll. Macht, Krieg und Technologie sind keine anthropologischen Konstan- ten, sie sind historisch lokalisiert und Faktoren jener 'Dispositive', die historisch rela- tive Mittel mit historisch relativen Zwecken, Ordnungen des Wissens mit Ordnungen des Sozialen, Produktion und Kultur in äußerst fragilen Konstellationen jeweils zu- sammenbringen. Virilio, wie gesagt, adressiert seine Thesen nicht; es ist deshalb sinnvoll, die Frage nach der Macht der Blicke an andere Autoren heranzutragen, sinnvoll auch dann, wenn diese sich nicht wie Virilio direkt auf das Kino bezogen haben. 16 ebd., S. 36 17 ebd., S. 72 192 4.3 Die Rolle des Blicks im System der Diszipinen 1 In seinem Buch 'Überwachen und Strafen' untersucht Foucault eine Serie von Straf- rechtsreformen, die um die Mitte des 18. Jhs die Folter abgeschafft und die körper- lichen Strafen durch das Gefängnis ersetzt haben. In der Abkehr von der Marter, die in den Geschichtsbüchern durchweg als ein Sieg der Humanität gefeiert wird, deckt Foucault einen höchst ambivalenten Prozeß auf, der nicht allein das Strafrecht, sondern darüberhinaus die gesamte gesellschaftliche Struktur einem neuen Typus von Rationalität unterwirft. Im Gefängnis macht Foucault den Kern eines ungleich verzweigteren und verwo- beneren Netzes aus, das die Schulen, die Fabriken, die Arbeitshäuser, die Spitäler, die Gefängnisse und die Irrenhäuser miteinander verknüpft. 'Totale Institutionen' bilden eine Art Modell für eine Gesamtgesellschaft, die auf eine lückenlose Kontrolle ihrer Mitglieder angewiesen ist und die sich von der Abschreckung allein keine Gesetzes- furcht mehr erhoffen kann. Die totalen Institutionen setzen deshalb auf Erziehung, auf die lückenlose Durchdringung der Unterworfenen selbst. Sie errichten unterhalb der 'egalitären' gesetzlichen Normen und unterhalb des Vertrags-Ideals ein 'kleinliches' System hierarchischer Kontrolle, das bis in die Mikrostruktur der Zeiteinteilung hin- einreicht, ein System, das Foucault als ein System von 'Disziplinen' bezeichnet. In den vorliegenden Zusammenhang gehört diese Untersuchung vor allem deshalb hinein, weil Foucault der Macht der Blicke und der Sichtbarkeit eine zentrale Bedeu- tung in der Gesamtanlage dieses Kontrollapparates zuspricht. Den Mittelteil seines Buches bildet die Analyse einer Gefängnisarchitektur, die Jeremy Bentham 1787 im Entwurf vorlegte, und die strukturgleich in einer Vielzahl anderer Entwürfe wieder- kehrt. Benthams Gefängnis, 'Panopticon' genannt, ist folgendermaßen konstruiert: "An der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turmes gerichtet ist, und eines nach außen, so daß die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur 2 allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar." 1 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1977 (O., frz.: 1975) 2 ebd., S. 256f 193 Die so beschriebene Anordnung unterscheidet sich von früheren Kerkern in verschie- dener Hinsicht; so sind die Gefangenen von vornherein in Einzelzellen isoliert, was ein Faktor der Sicherheit ist, was vor allem aber weitreichende psychische Folgen hat. Die dicken Mauern und Gewölbe, die die früheren Kerker von der Außenwelt getrennt hatten, sind durch transparente Gitter ersetzt, und an die Stelle des schlichten Ein- schlusses ist der überwachende Blick getreten, der das Verhalten der Gefangenen kontrolliert. Den beobachtenden Blick ordnet Foucault der erzieherischen Absicht zu, bezieht ihn aber auch auf das Modell des naturwissenschaftlichen Experiments und auf den Aufbruch der Humanwissenschaften, die das menschliche Verhalten zum Gegen- stand systematischer Beobachtung, Katalogisierung und gezielter Eingriffe gemacht 3 haben. Eine Besonderheit der Benthamschen Architektur ist, daß die Gefangenen den Blick ihrer Wächter nicht erwidern können. Die Lichtverhältnisse und zusätzliche Jalousien an den Fenstern des zentralen Turmes sorgen dafür, die überwachende Instanz "sichtbar, aber uneinsehbar" erscheinen zu lassen, "sichtbar, indem der Häftling ständig die hohe Silhouette des Turmes vor Augen hat, von dem aus er bespäht wird; uneinsehbar, sofern der Häftling niemals wissen darf, ob er gerade überwacht wird [...]. Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Ge- sehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; 4 im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden." Das Benthamsche Gefängnis ist eine optische Maschine, eine Maschine, die Blicke organisiert. Der offene Voyeurismus dieser Maschine erinnert unmittelbar an jenen, den die Apparatustheoretiker am Kino hervorgehoben hatten. Und noch weitere Parallelen zu der hier vertretenen Argumentation drängen sich auf: Da ist zunächst die Zentralität o der Beobachterposition, die den Blickkeil der Zentralperspektive zum 360 -Kreis vervollständigt, sowie, im Namen der Anlage dokumentiert, ein weiteres Mal die Vorstellung, 'Pan-', d.h. ein jeweils Ganzes zu sehen. Da ist die Erhöhung der Beob- achterposition in der konkreten Form eines Turms, und da ist vor allem jenes Macht- gefälle, das die Maschinerie ebensosehr voraussetzt – schließlich handelt es sich um ein Gefängnis – wie auf technischem Wege reproduziert. Bei Bentham/Foucault, und dies geht über die bisherige Argumentation hinaus, eta- blieren Blicke Macht. Sie haben einen festen Ort innerhalb der Gesamtanordnung, sie unterwerfen die Subjekte dem 'kleinlichen' Reglement und sie forschen sie in der Beobachtung aus; die technische Anordnung also hat eine eindeutige Subjekt-Objekt- Zuweisung zur Folge, die in der Unmöglichkeit zurückzublicken ihren unmißverständ- 3 Foucault macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß der Begriff der 'Aufklärung' zu- mindest in einer seiner Bedeutungsdimensionen eine optische Metapher lebendighält. (ebd., S. 285) 4 ebd., S. 258f 194 lichen Ausdruck findet, und die in diesem Fall, anders als im Kino, einem tatsächlichen Gewaltverhältnis entspricht. "Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrich- tung des zwingenden Blicks", schreibt Foucault, "eine Anlage, in der die Techniken 5 des Sehens Machteffekte herbeiführen." Und an anderer Stelle: "Der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten 6 kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist". Daneben aber, und das verschiebt den Akzent, wirkt die Anordnung auch auf den Beobachtenden zurück: Seine zentrale Beobachterposition wird für die staatlichen Gefängnisinspektoren ebenso zugänglich wie, von Bentham eingeplant, für einen Besucherstrom, der den Gefängnisbetrieb einer öffentlichen Kontrolle unterwerfen soll. Die Übersichtlichkeit und 'Transparenz' der Anlage also bezieht auch die Kontrolle der Kontrolleure ein. Sie errichtet ein System von Blicken, das letztlich die Internalisierung der Überwachung zum Ziel hat, eine Selbstüberwachung aller Be- teiligten, die eine unmittelbare Machtausübung ersetzt und dafür sorgt, daß, wie Fou- 7 cault sagt, die Gewalt den Gesellschaftskörper 'überall gleichmäßig durchdringt'. Die hierarchisch-zentralistische Anordnung also bildet nur den Kern eines Geflechts, sie fungiert als ein Modell, an dem der neue 'mikrologische' Typus der Macht eingeübt wird. Eine Gefängnismaschinerie, die auf eine Art Theatereffekt angelegt ist und ihre Haupt- wirkung in den Köpfen der Beteiligten entfalten soll, aber rückt schon in dieser Funk- tion in die Nähe der Medien, denen hier die Frage gilt. Foucault sieht dieselbe Parallele, wenn er verschiedene historische Medien andisku- tiert: So erinnern ihn der Strom der Besucher und der unterirdische Gang, durch den sie Bentham zu der zentralen Beobachtungsplattform seines Gefängnisses führen will, an das Panorama, ein Massenmedium des 19. Jhs, das einem zahlenden Publikum den 8 Rundblick auf eine gemalte Landschaftsszenerie präsentierte; an anderer Stelle erwähnt er einen Menageriebau, der den zentralen Beobachtungsraum inmitten der Gehege der königlichen Familie vorbehalten hatte. Von anderen Medien allerdings setzt Foucault das Panopticon ab: so vom Theater und vom Zirkus, wo, wie im Fall der Massenmedien auch, einige wenige Protagonisten den Blick der Vielen auf sich ziehen, ein Verhältnis, das im Panopticon gerade umgekehrt erscheint. Eine zweite Differenz zu den modernen Medien ist, daß die Individualisierung, die Foucault als eine der Konstituentien der bürgerlichen Gesell- 5 ebd., S. 221 6 ebd., S. 258 7 ebd., S. 102 8 Das erste Panorama wurde 1787 von Robert Barker ausgestellt. Zur Geschichte der Panoramen und zu ihrer Bedeutung in der Geschichte des Blicks siehe: Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt 1980 195 schaft betrachtet, in Benthams Entwurf durch die Trennung der Häftlinge untereinan- der erreicht wird, wofür zwar das Fernsehen, nicht aber der Film eine Parallele bietet; eine Individualisierung durch den Blick selbst, wie im Fall der Zentralperspektive, gibt 9 es im Panopticon nicht. Erstaunlich, erstaunlich zumindest wenn man das verbreitete Bild Foucaults als eines der konventionellen Geschichtsschreibung feindlichen Denkers zugrundelegt, ist, wie genau Foucault die Herrschaft des Blicks und die Entstehung der 'Disziplinen' histo- risch lokalisiert. Die zweite Hälfte des 18. Jhs ist für ihn die Zeit einer tiefgreifenden Veränderung vor allem der ökonomischen Struktur; das Aufkommen der Manufak- turen und der expandierende Handel hatten große Massen beweglichen Eigentums aufgehäuft und völlig neue Formen der Kriminalität hervorgebracht, auf die die Straf- rechtsreformen reagieren. Das Bedürfnis nach Ordnung, Transparenz und Überblick, das im Panopticon zum Ausdruck kommt, kann als ein direkter Reflex auf die Un- übersichtlichkeit eines verbreiteten Bandenwesens, des Schleichhandels und des Diebstahls verstanden werden, die die erste Aufbauphase der Bürgerherrschaft begleitete – gleichzeitig übersteigert Benthams Gefängnis das allgemeinere Modell der Fabrik, jenes Kernstücks der bürgerlichen Ökonomie, das Bentham mit 'workhouses', 'poorhouses' und 'shools' umstandslos zu "any Sort of Establishment, in which Persons 10 of any Description are to be kept under Inspection" aufsummiert. Foucault also ordnet die Herrschaft des Blicks einer bestimmten Phase und bestimm- ten Funktionsnotwendigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft zu. Dies ist vor allem 9 "Das Fernsehen [...] ist die ideale Synthese aus Gefängnis und Theater [...]. 'Wenigen die Übersicht vieler zu gewähren', das war nach Foucault das Problem, welches die Gefängnisarchitektur des neun- zehnten Jahrhunderts lösen mußte. 'Der Menge den Anblick und die Über schauung weniger zu ver- schaffen', das war das Problem, das die Architektur der Theater lösen mußte. Dem Fernsehen gelingt nun die Synthese derart, daß eine möglichst große Anzahl von Zuschauern von einem Punkt aus kontrolliert werden kann, aber so, daß diese in ihrer Privatheit eingesperrten Überwachten und Kontrollierten sich einbilden können, sie wären Zuschauer." (Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. München 1983, S. 331f) und: "Das Aufstellen von Fernsehgeräten in Gefängniszellen, statt wie bisher ausschließlich in den Gemein- schaftsräumen, hätte uns alarmieren sollen. Diese Entscheidung, die schließlich kaum analysiert wurde, stellt dennoch eine charakteristische Veränderung in der Entwicklung der Sitten im Bereich der Ein- kerkerung dar. Seit der Zeit von Bentham hatte man sich daran gewöhnt, das Gefängnis mit dem Pan- optikum zu identifizieren, oder anders gesagt, mit jener zentralen Überwachung, bei der die Verurteilten sich immer unter der Beobachtung und im Blickfeld ihrer Wärter befinden. Heute dagegen können die Gefangenen die Aktualität überwachen, die vom Fernsehen übertragenen Ereignisse beobachten und damit das alte Verhältnis umkehren; sobald die Zuschauer ihre Empfänger einschalten, befinden sie sich, ob Gefangene oder nicht, im Blickfeld des Fernsehens, in einem Bereich, auf den sie allerdings keinen Einfluß ausüben können" (Virilio, Paul: Die Sehmaschine. Berlin 1989, S. 147 (O., frz.: 1988)) 10 Bentham, Jeremy: Panopticon. zit. in Foucault, a.a.O., S. 258 196 deshalb von Bedeutung, weil sein Begriff der 'Macht' dadurch auf eine spezifische Macht eingegrenzt wird – Habermas etwa hat Foucault eine Ontologisierung dieses 11 Begriffes vorgeworfen –, seine Abstraktheit verliert und als ein Instrument konkreter Analysen handhabbar wird. Methodisch sind zwei weitere Punkte wichtig: So zunächst die Beobachtung, daß 12 Foucault von einer 'politischen Ökonomie der Strafgewalt' selbst spricht, was die traditionelle Trennung in eine ökonomische Grundstruktur und einen rechtlich-admi- nistrativen Überbau unterläuft und zumindest die materialen Mechanismen der Strafe einer Ökonomie der Körper und den materialen Reproduktionszyklen der Gesellschaft zurechnet. Zum zweiten, und damit eng verbunden, daß Foucault mit dem Bentham- schen Gefängnis eine Maschine analysiert, und nicht z.B. Texte, die das Selbstbe- wußtsein und die Intentionen der Strafrechtsreformer spiegeln würden. Sein Vorgehen rückt so in die unmittelbare Nähe der Apparatus-Theoretiker, die ebenfalls eine Maschine, die Maschinerie des Films, auf die in ihr enthaltenen Inhalte hin befragt 13 haben. Ebensosehr wie für die Macht selbst interessiert sich Foucault für den Übergang von einer personengebundenen zu einer mechanisierten Macht, einer Maschinerie, die ein selbsttätiges Funktionieren der Machtmechanismen gewährleistet. Benthams Anlage, sagt Foucault, "ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindivi- dualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken [...]. Die Zeremonien, Rituale und Stigmen, in denen die Übermacht des [personalen] Souveräns zum Ausdruck kam, erweisen sich als ungeeignet und überflüssig, wenn es eine Maschinerie gibt, welche die Asymmetrie, das Gefälle, den Unterschied 14 sicherstellt." 15 Es ist im direkten Sinn eine 'Physik der Macht', die Foucault rekonstruieren will; eine Macht, die nicht allein in Institutionen, sondern in Apparate, Maschinen und Archi- tekturen sich verfestigt hat. In dieser materialen Form aber, so könnte man ergänzen, scheint die Macht zunächst verschwunden; sie hat sich unsichtbar gemacht und nur in einer Strukturanalyse der Apparate und ihres gesellschaftlichen Umraums kann sie dem Bewußtsein wieder zugänglich gemacht werden. Hier liegt die Aufgabe eines neuen Typs der Interpretation. 11 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt 1985, S. 313-343 12 Foucault, a.a.O., S. 103 13 Bis in das Vokabular hinein ließen sich Parallelen und der gemeinsame Hintergrund in der französischen Theorie der siebziger Jahre zeigen. 14 ebd., S. 259 (Erg. H.W.) 15 ebd., S. 277 197 Was Foucaults Deutung ans Tageslicht bringt, allerdings ist nicht dieselbe Macht, die vorher außerhalb der Apparate vorzufinden war; sie hat sich strukturell verändert und mikroskopisch fein verteilt, und vor allem, das wurde gesagt, will sie nun von innen statt von außen wirken. In diesem Sinne sind die fraglichen Techniken nicht einfach 'Instrumente' der Macht; sie verändern die Macht selbst und sie verändern die Indivi- duen, die in ihren Einflußbereich geraten. Und auch dies spezifiziert den Begriff der Macht bei Foucault; denn in ihrer spezifisch bürgerlichen Ausprägung als 'Disziplin' ist die Macht dadurch gekennzeichnet, daß sie 16 Individuen weniger vorfindet als 'verfertigt'; Individualität in diesem Sinne ist keine Errungenschaft; sie ist zunächst das Resultat objektiver Herrschaftstechniken, Loka- lisierung und Parzellierung, "Antidesertions-, Antivagabondage-, Anti-Agglomera- 17 tionstaktiken", dann, sobald die Disziplinen ihre Wirksamkeit erreicht haben, das notwendige Komplement einer Macht, die objektiviert und damit scheinbar ver- schwunden ist. "In einem Disziplinarregime [...] ist die Individualisierung 'absteigend': je anony- mer und funktioneller die Macht wird, umso mehr werden die dieser Macht 18 Unterworfenen individualisiert." "Man sagt oft, das Modell einer Gesellschaft, die wesentlich aus Individuen be- stehe, sei den abstrakten Rechtsformen des Vertrags und des Tausches entlehnt. [...] Doch darf man nicht vergessen, daß es in derselben Epoche eine Technik gab, mit deren Hilfe die Individuen als Macht- und Wissenselemente wirklich herge- stellt worden sind. Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer 'ideologi- schen' Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der 'Disziplin' produziert worden ist. Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur 'ausschließen', 'unterdrücken', 'verdrängen' [...] würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsberei- che und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse 19 dieser Produktion." Einer Produktion, wie schon gesagt, die sich maschinell/materieller Mittel bedient. Und noch ein dritter Punkt, der für eine auf Foucault gestützte Medientheorie relevant sein könnte, fällt bei der Lektüre auf. An die Seite der Maschinen nämlich tritt der Begriff des Codes. Foucaults immer auch sprachtheoretischem Hintergrund entspre- chend, tritt der Begriff in einer Vielzahl von Verwendungen auf; einige Bedeutungs- 16 ebd., S. 220 17 ebd., S. 183 18 ebd., S. 248 19 ebd., S. 249f 198 dimensionen aber sind besonders interessant. So zunächst, daß Foucault nicht, wie es einer orthodox strukturalistischen Orientierung entsprechen würde, den Code als vorhanden voraussetzt, sondern vielmehr gerade sein Entstehen, den Vorgang der Konventionalisierung zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. Ganz deutlich begreift Foucault die Encodierung als eine reduktionistische Operation, die eine ur- 20 sprünglich vorhandene Vielfalt einer Ordnung, einer repressiven Struktur unterwirft. Ein Beispiel liefert seine ausführliche Darstellung der militärischen Reglements, die die Aufgabe hatten, aus Bauernburschen Soldaten und aus differenten menschlichen Körpern, wie Foucault sagt, normierte militärische Maschinen zu machen. Die Marter bereits grub sich in den Körper des Verurteilten ein, um das Gedächtnis der Zuschauer zu erreichen; die militärische Ausbildung aber, wie die Disziplinen allgemein, ergreift die Körper selbst und errichtet eine Art von Gedächtnis, die von der körperlichen Existenz nicht mehr unterschieden werden kann. Das Beispiel der Körper-Codes ist vor allem deshalb suggestiv, weil es eine Art Zwischenzone in den Blick rückt: wenn Codes traditionell als körperlose Regelsyste- me betrachtet werden, die sich ihrer jeweiligen Signifikanten als eines austauschbaren Körpers nur bedienen, und Maschinen, Bauten und technische Medien auf der anderen Seite als materiell und als allein nach Maßgabe bestimmter Zwecke strukturiert, so zeigt das Beispiel der körperlichen Ausbildung, wie das eine unter Schmerzen in das andere übergeht. Codes, Konventionen und Regelsysteme sind Maschinen, oder zumindest stellen sie eine Vorstufe dar, die mit der unmittelbar materiellen Fest- schreibung einen Aspekt von Gewalt gemeinsam hat. Foucault weist darauf hin, daß der Körperdrill nicht einfach bestimmten Idealen folgt; 21 von der Pique auf geht es u.a. um die Anpassung der Subjekte an die bereits beste- 22 hende Technologie, um die "Zusammenschaltung von Körper und Objekt". "Die gesamte Berührungsfläche zwischen dem Körper und dem manipulierten Objekt wird von der Macht besetzt: die Macht bindet den Körper und das manipu- lierte Objekt fest aneinander und bildet den Komplex Körper/Waffe, Körper/In- 23 strument, Körper/ Maschine." Da die Synthese durch Mechanisierung des Körpers, von vornherein also auf dem Terrain der Maschinen stattfindet, ist fraglich, ob wirklich das Objekt das 'mani- pulierte' genannt werden kann. Auch die Perspektive der 'Kerkerstadt', die Foucault zum Schluß seines Buches aus einem Text des 19. Jhs übernimmt, schließt noch ein- 20 etwa ebd., S. 184 21 "'Die Pique ist ein ehrliches Gewehr, und welches wohl wert ist, daß es getragen werde mit tapferen und kecken Gebärden.'" (Foucault zitiert einen Text L. de Montgommerys von 1617; (ebd., S. 173)) 22 ebd., S. 196 23 ebd., S. 197 199 24 mal materielle Festschreibungen, Institutionen und Diskursformationen zusammen. Für eine Theorie der Medien und speziell des Kinos bedeutet das Beharren Foucaults auf den Effekten gerade zwischen diesen scheinbar unabhängigen Instanzen einen weiteren Hinweis, daß die traditionelle Trennung in Medientechnik, Medienkonven- tionen und Medieninhalte wird aufgegeben werden müssen. Daß Foucault die sub- jektiven Effekte bestimmter Techniken als Encodierung und diese als Normierung/ Mechanisierung auffaßt, stellt Verbindungen her, die auf das Kino ebenso zu übertra- gen sind, wie sein Modell der Technik als eines verfestigten Sozialzusammenhangs. Die Ausgangsfrage aber galt der Macht der Blicke. Macht für Foucault ist nicht ein individuelles, sondern immer schon gesellschaftliches Verhältnis; die jeweils einzel- nen Subjekt-Objekt-Relationen, die etwa Benthams Maschine installiert, sind einge- bettet in ein allgemeineres Programm der Sozialisation, das Wächter wie Bewachte, wie alle anderen Teile der Gesellschaft einbegreift. Für die hier vertretene Argumen- tation ergibt sich daraus eine Verschiebung des Akzents; die fiktionale Macht des Zuschauers im Kino ist, folgt man Foucault, nicht nur deshalb fiktional, weil sie ein Medium zum Vehikel hat, sie ist es auch, insofern jede Subjekt-Objekt-Relation nur das Übungsfeld einer allgemeinen Einstellung, Anpassung an die Struktur gewordene Gewalt der bürgerlichen 'Disziplinen' ist. Dies bedeutet weder, daß es reale, auch personal-konkrete Macht nicht mehr gäbe, noch, daß im Austausch der Rollen irgend- wann jeder an dieser Macht teilhätte; als sozialisierende Erfahrung aber scheint das Erlebnis, zumindest temporär die Position des Überwachenden innegehabt zu haben, nicht ohne weiteres ersetzbar zu sein. 4.4 Geschlechtermacht Der dritte theoretische Rahmen, der hier in Anspruch genommen werden soll, ist der der feministischen Filmtheorie. Die feministische Filmwissenschaft, die seit Beginn der siebziger Jahre in Großbritannien und in den USA einen eigenen Diskurs mit einer Vielzahl von Einzelansätzen etabliert hat, kann für sich in Anspruch nehmen, die Frage nach dem Zusammenhang von Blick und Macht von Beginn an in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt zu haben. Macht in diesem Kontext ist Geschlechtermacht, und es waren feministische Autorinnen, die die Relevanz der Geschlechterdifferenz für 25 eine Theorie des Kinos überhaupt erst aufgewiesen haben. 24 "[...] im Herzen dieser Stadt und ihres Getriebes gibt es nicht ein 'Machtzentrum' oder einen Mittelpunkt der Kräfte, sondern ein komplexes Netz aus unterschiedlichen Elementen – Mauern, Raum (!), Institu- tionen, Regeln, Diskursen." (ebd., S. 396 (Hervorh. H.W.)) 25 Im zweiten Teil ihrer Arbeit 'Unheimlichkeit des Blicks' weist Heide Schlüpmann nach, wie konsequent etwa die frühe Filmtheorie die Geschlechterdifferenz und die Tatsache, daß es ein überwiegend weibliches Publikum war, das die Kinos der Anfangszeit bevölkerte, zwischen den Zeilen bearbeitet, im Text selbst aber ausgeblendet hat. Eine Änderung setzte erst in den fünfziger Jahren mit der Kritik an Hollywood, und Ende der sechziger Jahre mit der neuen Frauenbewegung ein. (Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Frankfurt 1990) 200 Männer sehen anders als Frauen. Von der Alltagserfahrung der Frauen, männlichen Blicken ausgesetzt zu sein, die als unmittelbarer Übergriff erlebt werden, über die Blickcodes, die den Frauen zwar nicht mehr das Niederschlagen der Augen, sehr wohl aber eine besondere 'Zurückhaltung' auferlegen, wenn ihr Verhalten nicht als Provo- kation oder Aggression verstanden werden soll, bis hin zur feministischen Kritik an einer gesellschaftlichen Ikonographie, die weibliche Körper im selben Maß ausstellt wie sie den Anblick des männlichen Geschlechts tabuisiert, zieht sich ein kontinuier- liches Interesse für den Blick und seine gesellschaftliche Überformung, seine Stellung innerhalb etablierter Machtdifferenzen und seinen Beitrag zu ihrer Reproduktion. In den feministischen Diskurs um den Film geht dieses Interesse unmittelbar ein. Der Blick, das ist seine Besonderheit innerhalb der kinematographischen Anordnung, ist dabei doppelt bestimmt: Während eine Produktanalyse untersuchen kann, nach welchen Regeln die Blicke der Protagonisten auf der Leinwand organisiert sind, ist es ein zweiter Blick – der Blick des Zuschauers – der dieses Geschehen überhaupt erst er- schließt; die Frage nach dem Blick also bietet sich von vornherein als eine Brücke an, von den traditionellen inhaltsanalytischen Ansätzen zu einer Theorie des Zuschauers und der Filmrezeption überzugehen. Und mehr noch: Theorien zur 'subjektiven Kamera' und vor allem die oben bereits erwähnte 'Suture'-Theorie hatten offengelegt, daß die innerdiegetischen Blicke und der Blick des Zuschauers auf systematische Weise zusammenhängen: Blicken die Personen auf der Leinwand nach einer be- stimmten Seite aus dem Bild heraus, wird der Zuschauer den nächsten Auftritt von dort erwarten; konzentriert sich der Blick einer Person auf ein Detail, wird auch der Zu- schauer neugierig werden und wünschen, daß die Kamera ihm dieses Detail in einer größeren Einstellung zeigt; umgekehrt schließlich wird immer dann, wenn die Kamera den Blick eines der Protagonisten übernimmt, dem Zuschauer die 'subjektive' Position dieser Figur aufgenötigt, ein extremes Mittel in der Hand des Regisseurs, die Identifi- kation der Zuschauer zu steuern und den Blick der Kamera zu 'motivieren'. Die Orga- nisation der innerdiegetischen Blicke und die Möglichkeit, den Blick der Kamera in dieses Spiel einzubringen, ist damit eines der wichtigsten Mittel, die Aufmerksamkeit und die Erwartungen des Publikums zu steuern und konkrete Identifikationsangebote zu machen. Die feministische Filmtheorie griff diese Zusammenhänge auf und baute das Bewußt- sein um ihre theoretische Relevanz in völlig neuer Richtung aus. Im Gegensatz zur frühen feministischen Filmkritik nämlich, die, inhaltsanalytisch ausgerichtet, die sexi- 201 stische Ideologie vor allem in der hohen Stereotypisierung der Frauendarstellung und dem Ausschluß realistischerer und von Frauen selbst produzierter Frauenbilder aufge- 2 funden hatte, fragen die beiden grundlegenden Artikel, die hier eine Neuorientierung vollziehen, wie es zu der augenfälligen Asymmetrie auf der Ebene des Abgebildeten überhaupt kommen kann. Vollständig parallel zur politischen Ideologiekritik, in deren 3 Rahmen die neue Frauenbewegung ja entstanden war, gehen Johnston und Mulvey davon aus, daß hinter den beobachtbaren Ideologemen strukturelle Gesetzmäßigkeiten auszumachen sind, die deren fortwährende Reproduktion erst sicherstellen. Der Be- griff der sexistischen Ideologie also war um eine Tiefendimension zu erweitern, und die Kritik dieser Ideologie entsprechend war gezwungen, das eigene theoretische In- strumentarium auszubauen, wollte sie an die strukturellen Gesetzmäßigkeiten über- haupt heranreichen. Das Bemühen um einen neuen theoretischen Rahmen ist sowohl bei Johnston als auch bei Mulvey deutlich erkennbar; beide Texte allerdings greifen auf sehr unterschiedliche Modelle der Ideologiekritik zurück und kommen entspre- chend zu zunächst sehr unterschiedlichem Ergebnis. Johnston, die mit dem Mythos- Begriff Barthes' und der Autor-Theorie Peter Wollens argumentiert, zielt auf eine Rehabilitation der drei einzigen Frauen ab, die sich innerhalb des klassischen Holly- 4 woodkinos als Regisseurinnen haben durchsetzen können. Gerade die Tatsache, daß Hollywood Stereotypen produzierte, läßt es Johnston möglich erscheinen, diese Bild- Zeichen auch gegen die sexistische Ideologie zu wenden, die sie eigentlich zu transpor- tieren haben, und, zumindest im Fall der genannten 'Frauenfilme', die Spannung zwischen dem Hollywoodmythos der Frau und 'weiblichen Perspektive' zurückzu- gewinnen. Interessanter für die hier verfolgte Frage nach der Macht des Blickes ist der Text von Laura Mulvey. Basis ihres Textes ist ein weiteres Mal die Psychoanalyse Lacans. Mulvey, Johnston und verschiedene andere Frauen, die später als Autorinnen film- theoretischer Texte hervortraten, gehörten einer Gruppe an, die sich bereits seit 5 Beginn der siebziger Jahre mit Lacan beschäftigt hatte, und es waren wesentlich die 2 Die skizzierte Richtung wurde vor allem von der amerikanischen Zeitung 'Woman and Film' vertreten, so daß die Neuorientierung u.a. auch eine Kritik der britischen an der amerikanischen Frauenbewegung war. (Eine Kurzdarstellung dieser Zusammenhänge findet sich in: Donnerberg, Gabi; Hartweg, Inge: Ein- leitung in Feminismus und Film in Screen. In: Paech, Joachim u.a. (Hg.): Screen-Theory. Osnabrück 1985) 3 - Johnston, Claire: Frauenfilm als Gegenfilm. In: Frauen und Film, Nr. 11, 1977(O., engl.: 1973) - Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. In: Nabakowski, Gislind u.a. (Hg.): Frauen in der Kunst. Bd. 1, Ffm 1980 (O., engl.: 1973/75) 4 Es handelt sich um Dorothy Arzner, Lois Weber und Ida Lupino, denen Johnston in der Folge noch weitere Artikel und schließlich das Buch The Work of Dorothy Arzner widmete. 5 Donnerberg/Hartweg, a.a.O., S. 153 202 feministischen Autorinnen, die die psychoanalytischen Ansätze der französischen Filmtheorie aufgegriffen und die Psychoanalyse als eine der zentralen Referenzwis- senschaften innerhalb der Filmwissenschaft durchgesetzt haben. Mulvey will die Faszination des Mediums Film auf Faszinationsmuster zurückführen, die nicht nur wesentlich älter sind als dieser, sondern der sozialen Formation als Ganzer und der psychischen Struktur des Einzelnen zugrundeliegen. "Es soll gezeigt werden, wie das Unbewußte der patriarchalischen Gesellschaft die 6 Filmform strukturiert hat." Die Formulierung macht deutlich, daß Mulvey das 'Unbewußte' nicht primär als den Niederschlag einer individuellen Geschichte oder eines individuellen Triebschicksals ansieht, sondern gerade die überindividuell gemeinsame Strukturierung der Subjekte hervorheben will; auf der anderen Seite aber werden die von der Psychoanalyse auf- gedeckten Strukturen als spezifisch für eine bestimmte Gesellschaftsformation – in diesem Fall die patriarchalische – angesehen, in keiner Weise also zu einer unver- rückbaren 'Natur des Menschen' erklärt. Nur auf dieser 'mittleren' Ebene besteht eine Chance, die Psychoanalyse in einen letztlich politischen Diskurs einzubringen. Die Frage, die Mulveys Text zugrundeliegt, ist dieselbe, die bereits die feministische Kritik an Hollywood motiviert hatte: Welche Rolle spielt das Bild der Frau auf der Leinwand; und wie kommt es, daß der Film einerseits von nichts anderem spricht als 7 der Frau, die Frau aber dennoch in spezifischer Weise ausspart? Mulveys Lacan-orientierte Antwort ist, daß die Schaulust, die das Bild der Frau zum Objekt wählt, einen inneren Widerspruch zu bewältigen hat, insofern dem Bild der Frau in der patriarchalischen Ordnung eine zwar zentrale, in sich aber widersprüch- liche Bedeutung zukommt. Im selben Maß nämlich wie die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht, symbolisch: der Besitz des Phallus, zum Synonym gesell- schaftlicher Macht aufrückt, muß die Frau als phallus-los, als kastriert erscheinen, und damit zum Symbol einer Drohung werden, die an ihr bereits vollzogen scheint. "Das Paradox des Phallozentrismus in all seinen Manifestationen ist, daß er auf das Bild der kastrierten Frau angewiesen ist, um seiner Welt Ordnung und Sinn zu verleihen. Eine bestimmte Vorstellung von der Frau gehört zu den Grundpfeilern des Systems: da sie keinen Phallus besitzt, produziert sie die symbolische Gegen- wart des Phallus, und sie hat das Bedürfnis, das, was das Fehlen des Phallus an- 8 zeigt, auszugleichen." 6 Mulvey, a.a.O., S. 30 7 Eine der Schwierigkeiten bei der Lektüre des Textes von Mulvey ist, daß weder diese Ausgangsfrage noch der argumentative Umraum im Text selbst thematisiert sind; die Argumentation bewegt sich bereits nach wenigen Sätzen innerhalb eines hoch spezialisierten psychoanalytischen Vokabulars, so daß selbst der Bezug zurück zum Film immer wieder selbst hergestellt werden muß. 8 ebd. 203 Die Entdeckung des Geschlechterunterschieds, die Hypothese der Kastration und die Gleichsetzung von Phallus und Penis fallen in die frühe Kindheit, entwickeln ihre die Psyche formende Kraft also in einer Zeit, in der die Grunddispositionen für alle spä- teren Erfahrungen aufgebaut werden. Lacans Behauptung ist, daß die symbolische Ordnung insgesamt auf der signifikanten Polarität Phallus-Nichtphallus, und damit auf der Erfahrung des Geschlechter- unterschieds aufruht – die spezifische Suggestion bei Mulvey besteht darin, daß von dem Blick des Kindes, das diesen Unterschied entdeckt, zum Blick auf die Leinwand und den weiblichen Star eine direkte Linie zu führen scheint. Daß bereits bei Lacan der Geschlechterunterschied von zentraler Bedeutung ist, qualifiziert seine Theorie zur Grundlage einer feministischen Reinterpretation, die das Interesse hat, den Ge- schlechterunterschied auf seinen gesellschaftlichen Kern, das patriarchale Macht- verhältnis zurückzuführen. Das Bild der Frau also ist zentral, aber bedrohlich. Wie nun geht das Kino mit diesem Bild um, wie kann es die Frau abbilden und dennoch die Kinolust retten? Nach Mulvey sind es vor allem zwei Strategien, mit deren Hilfe zumindest der klassische, narrative Film das Problem bewältigt: zwei Strategien, die, folgt man Freud, bereits das männliche Kind dazu einsetzt, sein erotisches Interesse gegen das bedrohliche Bild der 'kastrierten' Frau durchzusetzen: Das Kino kann das Bild der Frau einem voyeuristi- schen, sadistisch-investigativen Blick unterwerfen, vor dem ihr 'Geheimnis' nicht standzuhalten vermag, oder aber es kann das Bild selbst in einer Weise inszenieren, daß die bedrohliche Frau zu einem Fetisch, einem Objekt oder, mit Freud, einem Ersatz für den verlorenen Phallus umdefiniert wird. Die Begriffe des Voyeurismus und des Fetischismus haben ihre besondere Qualität darin, sowohl im Interpretationsrahmen der Psychoanalyse, als auch in dem ganz anderen der traditionellen Hollywoodkritik Sinn zu machen. Daß es, zunächst im alltagssprachlichen Sinn des Begriffs, ein voyeuristischer Blick ist, den das Kino auf seinen Gegenstand wirft, war plausibel, schon bevor Metz die apparative Anordnung des Kinos und die Konvention, den diegetischen Raum als einen fiktionalen in sich 9 abzuschließen, auf diesen Begriff brachte. Verdinglichung und Fetischismus ande- rerseits waren feststehende Begriffe der Kultur- und der Ideologiekritik, ob sie sich nun auf die marxistische Terminologie oder wiederum nur auf das Alltagsverständnis dieser Begriffe bezogen. Der Warenfetisch, das Bild der Frau als einer Ware im Kino, die verfertigte Aura des weiblichen Stars und sein falscher Glanz als Objekt unter Objekten, all dies waren Dimensionen des Fetischbegriffs, die die feministische Theorie von der Ideologiekritik übernehmen konnte. 9 Es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß die Erstveröffentlichung des 'Signifiant imaginaire' in exakt die gleiche Zeit fällt wie die beiden hier besprochenen Aufsätze, und daß dieser sowohl wie jene auf die 'Apparatustheorien' reagieren. 2 04 Mulvey nun benutzt diese Konnotationen, auch wenn ihr Text auf seiner Oberfläche nur um die strengen, psychoanalytischen Bedeutungen beider Begriffe bemüht scheint. Gerade der Brückenschlag zwischen Ideologiekritik und feministisch verstandener Psychoanalyse aber war die Innovation dieses Textes – eine Tatsache, an die es zu erinnern gilt, gerade weil sich die psychoanalytische Filmtheorie inzwischen zu einem eigenen, der Tendenz nach aber eben auch isolierten Diskurs verselbständigt hat. Innerhalb der Psychoanalyse nun gewinnen Voyeurismus und Fetischismus eine Vielzahl von Bestimmungen hinzu. Den Voyeurismus teilt Mulvey in zwei unter- schiedliche, zunächst widersprüchliche Strukturen auf: Die 'aktive' Skopophilie hat ihr Spezifikum darin, daß "andere Leute zu Objekten gemacht, dem kontrollierenden und 10 neugierigen Blick ausgesetzt werden." Modell ist die sexuelle Neugier der Kindes, das den Geschlechterunterschied aktiv erforscht oder den Verkehr der Eltern 11 beobachtet. Auf das Kino wird dieser erste Typ des Voyeurismus – wie bei Metz – aufgrund der apparativen Anordnung übertragen: Die Beobachterposition im Dunkeln, die Beschränkung auf die optische Wahrnehmung, die Distanz zum Leinwandgesche- hen und, so könnte man ergänzen, der Verzicht auf Interaktion oder Eingriff bilden die Basis einer ganzen Reihe zusätzlicher Konventionen, die den Zuschauer davor 12 schützen, von den Protagonisten angesprochen oder direkt angeblickt zu werden. Die dritte Ebene bilden narrative Schemata, die das 'Geheimnis' der Frau, um das die Geschichte sich aufbaut, schließlich entweder als nicht existent erweisen, oder aber – eine unabsehbare Reihe von Frauenleichen durchzieht die Geschichte des narrativen Films – die Protagonistin schließlich opfert. 'Sadistisch' also ist dieser erste Typ des Voyeurismus nicht allein in metaphorischem Sinn; denn ist bereits der Voyeurismus selbst ein Partialtrieb, der auf eine sadistische Komponente angewiesen scheint, ist die skizzierte Variante zusätzlich, deutlich ablesbar, von Machtverhältnissen, patriarcha- lischen Ängsten und ihrer Bewältigung, überformt. Den zweiten Typus bildet die 'narzißtische' Skopohilie. Die besondere Aufmerksam- keit des Kinos auf den Menschen, die Faszination von Ähnlichkeit und Wiedererken- nen, sowie, davon abgeleitet, die Mechanismen der Identifikation mit dem Darsteller führt Mulvey auf eine autoerotische Komponente zurück. Identifikation ist dabei 10 ebd., S. 33 11 In Hitchcocks bereits erwähntem Film 'Rear Window' wird das Teleobjektiv des detektivischen Journa- listen an einer Stelle ein 'tragbares Schlüsselloch' genannt. 12 In der Frühzeit des Kino waren diese Konventionen noch keineswegs verbindlich: Darsteller verneigten sich zum Schluß, blickten in die Kamera oder suggerierten eine Interaktion, wie sie zwischen der Varieté-Bühne und ihrem Publikum möglich und üblich waren. Die voyeuristische Tendenz der Maschi- nerie wurde in der Entwicklung des Mediums also eher ausgebaut als gemildert; wichtige Ausnahmen finden sich in den Filmen von Godard, Straub und Kluge. 205 keineswegs die umstandslose Verschmelzung mit dem Gegenstand; im Rekurs auf die Spiegelsituation Lacans läßt sich sagen, daß auch die narzißtische natürlich eine Objektwahl ist, kommt es doch Lacan gerade auf die Spaltung zwischen Betrachter und Spiegelbild, das Moment der Idealisierung und der Fehl-Erkennung des ver- meintlichen Selbst an. In der aktiven Skopophilie sieht Mulvey eine Funktion der Sexualtriebe, in der narzißtischen eine Wirkung der Ich-Libido, die für die Selbster- haltung zu sorgen hat; beide interagieren, überlagern einander und bilden eine der Spannungsachsen, die die menschliche Lust strukturieren. "Im Laufe seiner Geschichte hat das Kino offenbar eine ganz bestimmte Illusion von Realität vorangetrieben, in deren Rahmen aus dem Widerspruch zwischen 13 Libido und Ego eine wunderbar ergänzende Phantasiewelt entsprungen ist." Der Fetischismus ist, Freud zufolge, eine Form, das Bild der 'kastrierten' Frau durch Verleugnung abzuwehren. Das erotische Interesse wird entweder auf periphere Kör- perteile verschoben oder auf Objekte, die an die Stelle der geliebten und gefürchteten Frau treten. Hollywood hat eine reiche Palette von Fetischisierungen ausgebildet: Die 14 Fragmentierung des weiblichen Körpers in Großaufnahmen einzelner Körperteile arbeitet einer fetischistischen Wahrnehmung ebenso zu, wie die Gewohnheit, in den Fluß der Handlung nahezu statische Einstellungen auf das Gesicht des weiblichen Protagonisten einzuschalten, die eine der Tendenz nach zeitenthobene, kontemplative Wahrnehmung erzwingen. Vor allem aber sind es Licht- und Schminktechniken, die das Bild der Frau der Welt der Dinge annähern: eine vollständig homogenisierte Hautoberfläche, die rigiden Körpernormen Hollywoods und die Überhöhung der Kleidung bis hin zu jenen metallisch glänzenden Stoffen, die der Dreißiger- und Vier- zigerjahrefilm so liebte. In der Modellbildung der Psychoanalyse, wie gesagt, tritt die so inszenierte Frau als Ganze an die Stelle des vermißten Phallus, eine Deutung, der ein Starphoto von Mae West, ragend-glänzend in ein silbernes Pallettenkleid gezwängt und in leichter Untersicht aufgenommen, ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Das Bild der Frau erscheint in der Funktionale eines männlichen Blicks. Sein Voyeu- rismus und seine Kastrationsangst sind es, die das Bild strukturieren, die apparative Anordnung des Kinos, die narrativen Konventionen und die Inszenierungsgewohn- heiten Hollywoods wirken darin zusammen, die Frau in der Position des Angeblickten zu fixieren. "Die Frau als Bild, der Mann als Träger des Blickes", ist die Formel, auf 15 die Mulvey die Wirkung der Geschlechterdifferenz im Kino bringt. 13 Mulvey, a.a.O., S. 36 14 Eine relevante Anzahl von Hollywoodfilmen führt die Hauptdarstellerin ein, indem sie zunächst nichts als ihre Beine zeigt (Beispiel seien 'Dishonored' (USA 1931) und 'The postman always rings twice' (USA 1946)). 15 ebd., S. 36 Diese Fixierung vor allem ist es, die Mulvey den narrativen Film und die Kinolust schließlich generell ablehnen läßt, zugunsten eines experimentellen Films, dem sie sich auch in ihrer praktischen Filmarbeit widmete. 206 Dem Zuschauer also wird der männliche Blick aufgenötigt. 'Subjekt' des Blicks ist er in dem Maße, wie das Objekt, paradigmatisch das Bild der Frau, als passiv vordefiniert wird. Eine Konstellation, die der aktiv-sadistischen Komponente der Schaulust entspricht. Doch auch der zweite Typ der Schaulust, die narzißtische Identifikation, ist entlang der Geschlechterdifferenz strukturiert: denn es ist ausschließlich der männliche Protagonist, der die Identifikation des Zuschauers auf sich zieht und, stellvertretend für diesen, innerhalb des diegetischen Universums handelt. Für den männlichen Zu- schauer also fällt die Macht des Protagonisten, der das Geschehen auf der Leinwand kontrolliert, mit der Macht des erotischen Blicks zusammen; "das Ergebnis" für den 16 Zuschauer, der diese Position annimmt, "ist ein Omnipotenz-Gefühl". Und Mulvey summiert: "[So] inaugurieren die filmischen Codes einen Blick, eine Welt und ein Objekt, die eine Illusion erzeugen, die auf den Maßstab des Verlangens [des männlichen 17 Verlangens] zugeschnitten sind." Für die Frauen, Mulvey zieht diese harte Konsequenz, sind "Vergnügen und Schönheit" des bisherigen Kinos unbrauchbar. Interessanterweise bringt Mulvey die Trennung in eine männliche Subjekt- und eine weibliche Objektrolle zusätzlich mit zwei unterschiedlichen Auffassungen des filmi- schen Raumes in Beziehung: "Im Gegensatz zu der Frau als Abbild verlangt die aktive männliche Figur (das Ichideal des Identifikationsprozesses) einen dreidimensionalen Raum [...]. Sie ist 18 eine Gestalt in einer Landschaft." Die Körperdetails und die Großaufnahmen des weiblichen Stars dagegen lassen den Raum, zumindest der Tendenz nach, auf eine Fläche zusammenbrechen. Ein weiteres Mal ist damit die räumliche Tiefe des Bildes als die Achse der Handlung bestimmt; be- frachtet mit einer deutlichen Konnotation von Handlungs-Macht, die in diesem Fall Geschlechtermacht ist. Subjekt und Objekt, Macht und Ohnmacht, Aktivität und Passivität, männlich und weiblich, Handlungsraum und (Bild-)Fläche, dies, stark verkürzt, sind die Opposi- tionen, die Mulvey im narrativen Film festgeschrieben und mithilfe einer komplizier- ten signifikativen Anordnung einander zugeordnet sieht; wie viele Mechanismen darin 16 ebd., S. 38 17 ebd., S. 45 (beide Erg. H.W.) 18 ebd., S. 38f Eine zweite, ähnliche Stelle zeigt deutliche Anklänge an die Apparatus-Texte: "Die Kamera wird zu einem Mechanismus, der die Illusion des Renaissance-Raumes herstellt, fließende Bewegungen, die dem menschlichen Auge angepaßt sind, eine Ideologie der Repräsentation, die mit der Wahrnehmung des Subjekts zu tun hat; der Blick der Kamera wird unterdrückt, um eine Welt zu schaf- fen, in der der Stellvertreter des Zuschauers überzeugend handeln kann." (a.a.O., S. 46) 207 zusammenwirken, diese Konstellation stabil, und letztlich als naturgegeben erscheinen zu lassen, wird in der Schwierigkeit deutlich, das Gefüge über die Kategorien 'männ- lich' und 'weiblich' aufzubrechen. Einer politisch motivierten Anstrengung, die sich der Psychoanalyse als eines analytischen Mittels bedient. Die Offenlegung der unbewußten Strukturen aber, auf die das Kino als eine Maschine der Lust und der Signifikation rekurriert, hat Konsequenzen über die bei Mulvey gestellte Frage nach der Geschlechterdifferenz hinaus. Unabhängig davon nämlich, ob man in der patriarchalischen Machtdifferenz die Urform aller Machtausübung oder eine ihrer Spielarten zu erkennen glaubt, haben die Aussagen zur Geschlechtermacht zur Folge, daß der 'Natur'Charakter nun auch der anderen oppositionell-gesetzten Kategorien ins Wanken gerät. Die Einsicht, daß die patriarchale Machtdifferenz auf materielle Mechanismen ihrer Reproduktion angewiesen ist, Mechanismen, die so scheinbar starre Instanzen wie das individuelle Unbewußte mit so scheinbar disponi- blen wie bestimmten technischen Anordnungen und einzelnen Filminhalten in Bezie- hung setzen, ist der Denkweise der Apparatustheoretiker äußerst verwandt. Vollständig neu aber ist die Perspektive, aus der die Frage nach der Macht und nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt gestellt wird: Ging es Baudry darum zu be- schreiben, auf welche Weise der Film zur Stabilisierung des in die Krise geratenen Subjektes beiträgt, ging seine Argumentation also wie selbstverständlich von der Sub- jektseite, der Seite des Betrachters aus, so hat die feministische Theorie den gerade entgegengesetzten Standort zu ihrem Ausgangspunkt gewählt. Die Erfahrung, Objekt zu sein, Objekt eines männlichen Blicks, der den Alltag, in gleicher Weise aber eben auch das Kino beherrscht, ermöglicht es den feministischen Autorinnen, nun – der Anordnung wie der Grammatik nach an sich unmöglich – von dieser Objekt-Postion aus zu sprechen. Damit ist eine Art magischer Grenze übersprungen und, so könnte man sagen, der 19 Objektwelt des Filmbildes wird zum ersten Mal Stimme verliehen. Bei Foucault bereits war es eine Form der politischen Sympathie, der Sympathie für die im Panoptikon eingesperrten Opfer der Macht, die den Text, wenn auch unter- gründig, motivierte. Hier nun geht es nicht mehr um solche Sympathie; die 'Objekte' selbst fordern ihre Rechte ein, und es wird deutlich, daß die überhöhte Position des 'Subjekts', die Baudry als ideologisch detektierte, einen tatsächlichen Preis auf der Seite der Objekte hat. 19 zur These der veränderten Perspektive siehe etwa: - Koch, Gertrud: Von der weiblichen Sinnlichkeit und ihrer Lust und Unlust am Kino. Mutmaßungen über vergangene Freuden und neue Hoffnungen. In: Dietze, Gabriele (Hg.): Die Überwindung der Sprachlosigkeit. Texte aus der neuen Frauenbewegung. Darmstadt/Neuwied 1979 - Schneider, Gisela; Laermann, Klaus: Augen-Blicke. Über einige Vorurteile und Einschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung. In: Kursbuch 49, Berlin 1977 208 Der Film, das scheint nun unabweisbar, erkauft die Kinolust durch eine Zurichtung der Objekte; der Seite des Dargestellten wird jene Souveränität geraubt, die der Betrachter- seite dadurch überhaupt erst zugeschlagen werden kann Selbstverständlich sind solche Annäherungen zunächst metaphorisch; ihre Funktion aber haben sie darin, daß sie es möglich machen, das Verhältnis von Subjekt und Objekt tatsächlich als ein Verhältnis, und genauer: als ein Verhältnis der Unterwerfung zu denken. Wobei die 'Unterwerfung', eine weitere Metapher, eben auch die Möglich- keit einer Insurrektion einschließt. Verlängert man die feministische Filmtheorie, stehen 'Subjekt' und 'Objekt' als fixierte Positionen nun überhaupt in Frage. Ist das 'Objekt' eine Frau, sträubt sich bereits der alltägliche Sprachgebrauch, den Begriff aufrechtzuerhalten. Allgemein aber ist nun, was bisher als eine grammatisch-neutrale Struktur erschien, auf seinen konkreten Gehalt an Macht, eventuell Gewalt hin zu befragen. Subjekt und Objekt verharren nicht länger in antagonisitscher Gegenübersetzung, ihr konkreter Abstand wird wichtig, der von Fall zu Fall (und von medialer Anordnung zu medialer Anordnung) sehr unterschiedlich sein kann, und die 'Einsprache der Objektseite' ist auch dann mitzudenken, wenn diese sich nicht unmittelbar Gehör verschafft. Im Kino, das ist die These, bleibt es bei der Unterwerfung. (Nicht zuletzt deshalb sah sich Mulvey zu der radikalen Konsequenz genötigt, den narrativen Film und die Kinolust als Ganze schließlich abzulehnen). Selbst wenn dies aber so ist, selbst wenn das Bedürfnis, das starre Verhältnis von Subjekt und Objekt wieder zu verflüssigen, die Grenzen des Mediums sprengt, selbst dann wird zumindest die Theorie des Kinos dieses Verhältnis zu reflektieren haben. Als ein Weg, dies zu tun, bietet es sich an, die 'Weltsicht' des Kinos auf Theoreme zu beziehen, die auf einer allgemeineren Ebene beanspruchen, die 'Weltsicht' der Moderne – als eine spezifische und mehr als problematische – zu beschreiben; dies soll anhand verschiedener Texte Adornos in einem abschließenden Abschnitt geschehen; zuvor aber sind noch einige Bemerkungen notwendig, auf welche Weise die bei Mul- vey eröffnete Problematik in der seither stark angewachsenen Debatte der feministi- schen Filmtheorie diskutiert und weiterentwickelt wurde. Zum einen nämlich sind verschiedene Positionen ihres Textes in der Folge stark angegriffen worden, und darunter auch solche, die in der hier verfolgten Argumenta- tion Gewicht zu tragen haben, zum zweiten sind selbstverständlich auch zur Frage nach dem Verhältnis von Blick und Macht weitere Überlegungen angestellt worden. Drei hauptsächliche Probleme sind es, die Mulveys Ansatz aufwirft und die die femi- nistische Filmtheorie bis heute beschäftigen: Zunächst die Frage, wie die weibliche Lust am Kino und die Tatsache, daß es lange Zeit überwiegend Frauen waren, die die Kinos besuchten, mit der These eines männlich-sadistischen Blicks übereingebracht 209 20 werden können; zweitens, im theoretischen Hintergrund dieser Frage, ob die Psy- choanalyse Lacans mit ihrer Fixierung auf den Phallus nicht ihrerseits eine patriarchale Sicht der Dinge verkörpert, und ob im Feld der Psychoanalyse nicht alternative Kon- zepte zur Verfügung stehen, die die Frau anders als durch die Abwesenheit des Phallus 21 beschreiben. Als drittes schließlich wurde die Frage gestellt, ob die radikale Ableh- nung der Kinolust und des narrativen Films tatsächlich die einzig mögliche Kon- sequenz feministischer Filmtheorie sei, eine Frage, die für die Interpretation der Film- 22 geschichte, vor allem aber auch für die feministische Filmpraxis Relevanz hat. Die Texte, die nach der Lust der weiblichen Zuschauer fragen, rücken zwangsläufig von der bei Mulvey zentralen These des grundsätzlich sadistischen Charakters der Schaulust ab. Interessant aber ist, daß die meisten dieser Texte, die die Vielfalt mög- licher Identifikationsmuster und Rollenangebote betonen, die grundlegende Asymme- trie, die Mulvey zu ihrer Sadismusthese führte, durchaus übernehmen. Die Position der Zuschauerin im Kino wird als in jedem Fall widersprüchlich beschrieben; ihre Schau- lust kann masochistische Züge tragen, wobei die masochistische Schaulust keineswegs als ein direktes Komplement der ungleich schlichteren sadistischen gedacht werden kann, oder Züge von Travestie, wenn sie etwa den männlichen Helden zum Ziel weiblicher Identifikationen macht; Lesarten gegen den Strich der Produkte können selbst in Mainstreamfilmen sehr spezielle Lustpotentiale auffinden und viele Frauengestalten der Filmgeschichte haben mit der Rolle des Schauobjekts in sehr komplexer Weise gespielt. Die 'unmittelbare' Lust des männlichen Blicks jedenfalls hat beim weiblichen Zuschauer keine Entsprechung. 20 diese Frage stellen etwa: - Koch, Gertrud: Warum Frauen ins Männerkino gehen. Weibliche Aneignungsweisen in der Filmrezep- tion und einige ihrer Voraussetzungen. In: Nabakowski, Frauen in der Kunst, a.a.O., S. 15-29 - Doane, Mary Ann: Film and the Mascerade. Theorizing the Female Spectator. In: Screen, Vol. 23, Nr. 3/4, Sept./Okt. 1982, dt. in: Frauen und Film, Nr. 38, 1984 - Rodowick, D.N.: The Difficulty of Difference. In: Wide Angle, Vol. 5, Nr. 1, 1982/83 - Williams, Linda: When the Woman Looks. In: Re-vision: Essays in Feminist Film Critique. Los Angeles 1984 - Lauretis, Teresa de: Desire in Narrative. In: dies.: Alice doesn't. Feminism, Semiotics, Cinema. Bloomington 1984 21 Studlar, Gaylyn: Schaulust und masochistische Ästhetik. In: Frauen und Film, Nr 39, Dez. 1985 (O., am.: 1983) 22 siehe etwa - Johnston, Claire (Hg.): The Work of Dorothy Arzner. Towards a Feminist Cinema. London 1975 und - dies.: The Subject of Feminist Film Theory/Practice. In: Screen, Vol. 21, Nr. 2, 1980, dt. in: Paech u.a., Screen-Theory, a.a.O., S. 167-174 210 Daß keine der Autorinnen vertritt, statt handelnder Männer solle das Kino nun han- delnde Frauen zur Identifikation anbieten oder statt weiblicher Schauobjekte nun männliche, hat nicht primär moralische Gründe: Zum einen, das wurde gesagt, operiert die männliche Schaulust auf Basis des patriarchalischen Unbewußten, das, auch aufseiten der Frauen, einer reinen Vertauschung der Positionen Widerstand entgegen- setzen würde; zum zweiten, und dies ist wichtig, hat die Unmöglichkeit (und die Weigerung), die männliche Schaulust zu teilen, diese in ihrer Verbindlichkeit relati- viert. Die scheinbar 'natürliche' Verbindung von Blick und Macht hat ihre Gültigkeit nur in einer bestimmten gesellschaftlichen Anordnung und auch dort nur für eines der beiden Geschlechter; und indem die Frauen beginnen, die eigene kompliziertere, weib- liche Schaulust zu untersuchen, finden sie Beschädigungen durch die patriarchale Struktur, daneben aber eben auch die Möglichkeit einer anderen, weniger transitiv strukturierten Weltsicht auf. Als Theoriehintergrund werden zunehmend solche Konzepte der Psychoanalyse in Anspruch genommen, die nicht, wie Lacan in seiner Theorie des Symbolischen, ödi- pale Strukturen in den Mittelpunkt stellen, sondern vorödipale, und dort vor allem 23 solche, die die frühe Mutter-Kind-Beziehung zum Gegenstand haben. Studlar etwa, die auf Texte von Deleuze, Chasseguet-Smirgel und Laplanche zurückgeht und die wie Mulvey vor allem die Filme Sternbergs analysiert, sieht im Kino die Situation kindlicher Ohnmacht reproduziert; im Blick des Kindes auf die Urszene sieht sie gerade nicht das Modell einer sadistisch-investigativen Schaulust, sondern eine Situa- tion, in der Lust und Ohnmacht sich verbinden. Der Masochismus scheint ihr deshalb die kennzeichnendere Struktur, wenn es darum geht, das Kino und seine Identifika- tionsmuster zu beschreiben. Von dieser Position aus greift sie die – u.a. auch hier vertretene – These von der Macht des Zuschauers frontal an: "Die gegenwärtige Theoriebildung hat durch die Betonung der 'falschen' Herr- schaft des Zuschauers (insbesondere des männlichen) über das Bild nur eine sehr 24 begrenzte Vorstellung von der Lust und übersieht ihre Wandlungsfähigkeit" Der Widerspruch aber ist weniger tief als er zunächst erscheint; beansprucht die Sadismus-These im wesentlichen, die nach Metz 'primäre' Identifikation mit dem Blick der Kamera zu beschreiben, geht es Studlar zum einen um das Spiel der 'se- kundären' Identifikationen, zum anderen um die Kinosituation, die den Zuschauer in der Tat in eine Position realer 'Ohnmacht' bringt. Sadismus und Masochismus teilen die Eigenheit, daß sie das Subjekt-Objektverhält- nis, das im sexuellen Verkehr zu verschwimmen droht, durch ein besonderes Setting 23 Studlar, a.a.O., S. 17ff 24 Studlar, a.a.O., S. 26 211 vereindeutigen. Bei weitem nicht komplementär oder 'zusammengehörig', können beide dennoch als verschränkt vorgestellt werden, als verschränkt in eine Struktur, die, soll sie Lust produzieren, auf eine Kluft zwischen Sujekt und Objekt angewiesen ist. Auch der Masochismus ist eine Struktur der Macht. Und es ist bezeichnend, daß Studlar die Basis der präödipalen Mutterbeziehung gerade nicht dazu benutzt, Modelle 25 der Verschmelzung und Entgrenzung daraus abzuleiten. Das Kino als maschinelle Anordnung verbietet eine solche Deutung, trotz des 'semiregressiven Zustands', in dem der Zuschauer sich befindet, und trotz der Grundvorstellung des Films, die Objekte bildeten sich ohne menschliches Zutun ab und kämen schon deshalb zu ihrem Recht. Verlassen die Frauen die Rolle des Abgebildeten und beginnen, über die Modalitäten der Abbildung zu sprechen, wird deutlich, wie wenig dies der Fall ist. 4.5 Naturbeherrschung auf dem Feld des Symbolischen "Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter der Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusam- 26 menzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an". Diese Stelle aus der 'Dialektik der Aufklärung' versammelt nahezu alle Motive, auf die das bisher gesagte nun zusammengezogen werden soll. Die zentrale Frage nämlich ist, auf welche Weise die Subjektproblematik, der Antagonismus von Subjekt und Objekt und der Machtaspekt, der dieser Gegenübersetzung anhaftet, in den Kontext einer allgemeineren Gesellschaftstheorie eingebracht werden kann. Von der Beantwortung dieser Frage hängt ab, ob die am Film herausgearbeiteten Strukturen überhaupt 'Rele- vanz' für sich beanspruchen können; der Begriff des Subjekts, es wurde mehrfach gesagt, ist im falschen Sinne abstrakt, solange es nicht gelingt, ihn mit den tat- sächlichen Schwierigkeiten – Orientierungsschwierigkeiten, psychischen Problemen, gesellschaftlich-strukturellen Problemen – in Bezug zu setzen, mit denen die empiri- schen Subjekte konfrontiert sind; dasselbe gilt für den Begriff der Macht. Auf der anderen Seite kann es nicht darum gehen, den ursprünglich philosophischen Begriff des Subjekts auf einen ausschließlich empirischen zu verkürzen und damit jene Allgemeinheit aus der Hand zu geben, die auf der Ebene der Begriffe der Abstraktheit 25 Dies versucht etwa Kaplan, die in der frühen Mutter-Kind-Beziehung das Beispiel einer nicht hierarchischen Blickbeziehung aufgefunden sieht. (Kaplan, E. Ann: Ist der Blick männlich? In: Frauen und Film, Nr. 36, Feb. 1984) 26 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frank- furt 1986, S. 40 (im folgenden: DdA) 2 12 der gesellschaftlichen wie der medialen Strukturen allein angemessen ist. Die Philo- sophie Adornos nimmt eine herausragende Stellung u.a. deshalb ein, weil sie bean- spruchen kann, beide Momente tatsächlich zu vermitteln. Das Zitierte bereits greift das Problem der Ich-Identität in diesem doppelten Sinne auf; phylogenetisch wie ontogenetisch ist die Einheit des Subjekts eine hergestellte; eine Einheit, die die empirischen Subjekte sich in einem schmerzlichen Prozeß abzuringen hatten, durch dessen Spuren sie gezeichnet sind und die sie nur durch eine fortdauernde Anstrengung aufrechterhalten können. Die Parallele dieser Sicht zu Lacan und den Lacanorientierten Folgetheorien ist frappant; anders als bei diesem aber wird die Subjektkonstitution hier als ein tatsächlicher, geschichtlicher Prozeß begriffen, dessen Stationen, wenn auch weit zurückverlegt, benennbar sind, und – das ist der grund- legende Unterschied – dessen Zwangscharakter noch einmal in Frage steht. Das hat politische Konsequenzen, Konsequenzen aber auch für die Theorie selbst: Nun nämlich wird es möglich zu fragen, wie ein weniger identisches Ich vorgestellt werden könnte, wie dessen Weltbezug (Objektbezug) zu denken wäre und welche Kräfte um- gekehrt, trotz der Schmerzen und der Anstrengung, den Subjekten ihre Identität konkret aufnötigen. Im Text Horkheimers und Adornos ist die Alternative eines weniger identischen Subjekts nur angedeutet; so findet sich in den Texten Homers, die Horkheimer und Adorno als den Übergang vom Mythos zur Aufklärung analysieren, das Bild der Lotosesser, das, wenn auch als Gefahr gebrandmarkt, die Utopie eines Lebens in Lust und befreit von Arbeit bewahrt; ein zweites Bild ist das der Kirke, die Menschen in bewußtlose und glückliche Tiere, und die Gefährten des Odysseues in Schweine verwandelt. In Bildern wie diesen sehen Horkheimer/Adorno Äußerungen einer Sehnsucht, die sich dem Progressionsdruck und der Zweckrationalität widersetzt, die bereits die antike Gesellschaft zu dominieren begannen. Kennzeichnend ist, daß die Hingabe an die Lust jeweils als Auflösung, als Gefahr für die Identität des handelnden Subjektes gefaßt wird; monströse Gestalten, die die umherirrenden Helden mit dem Tode bedrohen, erscheinen kaum gefährlicher als die Verführung, die vom Ver- sprechen unmittelbarer Lust ausgeht, das Gegenmittel des Helden entsprechend ist nicht die Körperkraft sondern die List und, fast wichtiger noch, die Härte gegen sich selbst, die in der Selbstfesselung an den Mastbaum des am Gesang der Sirenen vorübergleitenden Schiffes ein prägnantes Bild gefunden hat. Auf der einen Seite also der Trieb, der Rausch, die Hingabe und, bereits eine Stufe der Sublimierung, das Fest, das eine kurze und festgelegte Zeit lang noch einmal den gesellschaftlichen Zwang aufhob. Die Assoziation zu den Texten Batailles drängt sich auf, die, fast ungebrochen sehnsüchtig, die Erlebnisintensitäten beschwören, die der bürgerlichen Welt auf ihrem Siegeszug zum Opfer fielen. Auf der anderen Seite das identische Ich, das all seine Kraft dafür aufwenden muß, als solches zu überleben. 213 Mit dem Zwang zum Überleben, zur Selbsterhaltung ist das entscheidende Motiv angegeben, von dem der Identitätszwang ausgeht. Bereits im Bild des herumirrenden Odysseus aber sind Selbsterhaltung und Identität auf komplizierte Weise verschränkt: Nicht in jedem Fall eben ist es der Tod, der den Helden bedroht; das Ziel der Heimkehr aufrechtzuerhalten und das eigene Sosein durch die Mannigfaltigkeit der sich bie- tenden Situationen hindurchzuretten, erscheint als ein ebenso starkes Motiv wie das Überleben selbst; und mehr noch: Die Irrfahrt mit ihren wechselnden Szenerien liefert den Hintergrund, vor dem der Held als identischer überhaupt erst Gestalt gewinnen kann. Horkheimer/Adorno schreiben: "Im Gegensatz des einen überlebenden Ich zum vielfältigen Schicksal prägt sich derjenige der Aufklärung zum Mythos aus. Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen. [...] Die einfache Unwahrheit an den Mythen aber, daß nämlich Meer und Erde wahrhaft nicht von Dämonen bewohnt werden, Zaubertrug und Diffusion der überkommenen Volks- religion, wird unterm Blick des Mündigen zur 'Irre' gegenüber der Eindeutigkeit des Zwecks seiner Selbsterhaltung, der Rückkehr zu Heimat und festem Besitz. Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen. Er überläßt sich ihnen immer wieder aufs neue, probiert es als unbelehrbar Lernender, ja zuweilen als töricht Neugieriger, wie ein Mime unersättlich seine Rollen ausprobiert. 'Wo aber Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch.': das Wissen, in dem seine Identität besteht und das ihm zu überleben ermöglicht, hat seine Substanz an der Erfahrung des Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden, und der wissend Überlebende ist zugleich der, welcher der Todesdrohung am verwegensten sich überläßt, an der er zum Leben hart und stark wird. Das ist das Geheimnis im Prozeß zwischen Epos und Mythos: das Selbst macht nicht den starren Gegensatz zum Abenteuer aus, sondern formt in seiner Starrheit sich erst durch diesen Gegensatz, Einheit bloß in der 2 Mannigfaltigkeit dessen, was jene Einheit verneint." Die Stelle läßt sich sowohl als eine Theorie der Subjektkonstitution lesen, als auch – vermittelt – als eine Literaturtheorie. Der Text, der den Helden durch seine Abenteuer nur zu begleiten scheint, stiftet in Wahrheit jene Kohärenz und Identität, die sich am 3 Mannigfaltigen bewähren. Homers Darstellung, und nicht der Mythos des Odysseus 2 ebd., S. 53f 3 Horkheimer/Adorno selbst schlagen diese Lesart vor: "Die homerische Rede schafft Allgemeinheit der Sprache, wenn sie sie nicht bereits voraussetzt; sie löst die hierarchische Ordnung der Gesellschaft durch die exoterische Gestalt ihrer Darstellung auf [...]. Am Epos, dem geschichtsphilosophischen Widerspiel zum Roman, treten schließlich die romanähnlichen Züge hervor, und der ehrwürdige Kosmos der sinnerfüllten homerischen Welt offenbart sich als Leistung der ordnenden Vernunft, die den Mythos zerstört gerade vermöge der rationalen Ordnung, in der sie ihn spiegelt." (ebd., S. 50) 214 ist der Gegenstand der Analyse. Daß Horkheimer/Adorno eine bestimmte Textstrate- gie analysieren, öffnet ihre Theorie einer Deutung, die eine vergleichbar identitäts- stiftende Funktion auch anderen Medien und speziell dem Film zuschreibt; dem Film, der auf den ersten Blick durch ein Maximum an 'Vielfältigem, Ablenkenden, Auf- lösenden' gekennzeichnet scheint, und dennoch, das ist die Behauptung, 'zum Leben hart und stark' macht. Dies aber, selbstverständlich, ist ein Vorgriff. Die andere Lesart, wie gesagt, betrifft das Schicksal des Subjekts. Daß das Subjekt sich als Einheit gegenüber dem Mannigfaltigen, in einer Situation struktureller Überfor- derung also konstituiert, macht die Anstrengung plausibel, die der Subjektidentität anhaftet; die Schwäche des Subjekts ist der Ausgangspunkt jenes gnadenlosen Pro- gramms, das es sich zu seiner Stärkung auferlegt, eines Programms, das das Fremde und Bedrohliche schließlich in die Funktionale dieser Stärkung rutschen läßt. Was immer dem Odysseus begegnet, wird zu einer Probe, und letztlich zum Objekt, er mißt sich mit den mythischen Gewalten und er geht als Sieger aus diesen Begegnungen hervor. Sein Vorwärtsschreiten und seine Taten konstituieren auf diese Weise eine Weltsicht, der ihre Herkunft aus der Schwäche kaum mehr anzumerken ist. Erkauft aber wird die Subjektkonstitution mit der Zurichtung des Gegenstandes. Eben noch fremd und übermächtig bleibt der Zyklop geblendet und getäuscht zurück – ein Opfer der Gewalt, ohne die auch die List sich nicht behaupten kann. Der Tat kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Sie ist es, die die Einheit des Subjektes eigentlich 4 stiftet: wo "die Signatur der Kirke [...] Zweideutigkeit [ist]", sind Taten, Handlungen immer einfach: Um überhaupt handeln zu können, muß das Subjekt sich versammeln; und sei es nur für den Moment, muß es sich zu einer Einheit durchringen, Alternativen 5 ausschließen und bereit sein, Fakten zu schaffen. Auch insofern also greifen Selbst- beherrschung und die Möglichkeit, den Gegenstand zu meistern, ineinander, und die Gewalt gegen das eigene Selbst wird zur Basis der Souveränität im Felde der Objekte. Das Gesagte macht deutlich, daß es um einen spezifischen Typus von Selbsterhaltung geht, der in der Sorge um die physische Subsistenz nur seine Basis hat. Selbst- erhaltung, so könnte man sagen, wird zur Erhaltung des Selbst. Das Moment der Abstraktion und der Verselbständigung, das diesem Prozeß innewohnt, prägt für Horkheimer/Adorno den Verlauf der Geschichte ebenso wie den Weg des Einzelnen, der in diese Geschichte hineinsozialisiert wird. Die Souveränität und 'List' des einzelnen Helden hat sich dabei entgegenständlicht; sie geht zunehmend auf im gesell- 4 ebd., S. 77 (Erg. H.W.) 5 "Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegenlassen, was zur Seite liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimie- ren. So werden sie praktisch." (ebd., S. 40) 215 schaftlichen Prozeß, der nun als ganzer, als Struktur und als Maschine, die 'Selbst- erhaltung' der jeweils Einzelnen zu garantieren hat. Das Gegenüber der Selbsterhaltung bleibt die Natur; im Fall des Odysseus in mythi- sche Figuren gefaßt, ist sie es, der die Selbsterhaltung abgetrotzt wird, und bis in die Gegenwart hinein, in der die zweite Natur die erste zu verschlingen droht, finden die Produktion, die Wissenschaft und der gesellschaftliche Prozeß in ihr die Existenzbe- dingung und die Grenze ihrer Möglichkeiten vor. 'Naturbeherrschung' entsprechend ist der Begriff, auf den Horkheimer/Adorno die gesellschaftliche Praxis bringen. Dieser Begriff nun hat eine Vielzahl von Facetten, die im vorliegenden Zusammen- hang relevant sind. So fällt zunächst der Machtaspekt ins Auge, den der Begriff selbst auszusprechen scheint. Und in der Tat heben Horkheimer/Adorno das Moment der Gewalt hervor, das der Naturbeherrschung innewohnt, und zeigen, daß die Gewalt sowohl die äußere Natur, als auch die innere der Menschen selber trifft. Hatte die traditionell marxistische Verwendung des Begriffs die Naturbeherrschung fast aus- schließlich als Entfaltung der Produktivkräfte, und damit als Voraussetzung jeder gesellschaftlichen Fortentwicklung aufgefaßt, wird nun der Preis benannt, den diese Form des Fortschreitens einfordert, auf seiten der beteiligten Subjekte wie auf seiten 6 der unterworfenen Natur. Der zweite Aspekt, der im Begriff der Naturbeherrschung zugänglich wird, ist die Rolle der Technik, die, auf Medientechnik eingeschränkt, das Thema dieser Arbeit bildet. Technik, daran lassen Horkheimer und Adorno keinen Zweifel, ist wie die odysseische List vor allem anderen ein Herrschaftsmittel gegenüber der Natur. Die Vernunft, die sich auf eine instrumentelle eingeschränkt hat, produziert Instrumente der Naturbeherrschung, die sich ihrem ursprünglichen Zweck, der Sicherung der phy- sischen Subsistenz, und schließlich allen Zwecken gegenüber verselbständigen. Der Dingcharakter der Technik also ist nur der unmittelbare Ausdruck einer Abstraktion und einer Ver-Dinglichung, die, angetrieben durch die Existenzangst der Subjekte, deren Verhältnis zur Umwelt bestimmt und diese Umwelt in eine Sphäre der 'Objekte' allererst verwandelt. "Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in 7 der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt." 8 Der Beherrschte ist hier der physisch Arbeitende, der den 'Grundbesitzer Odysseus' 6 Das wachsende Bewußtsein um die ökologische Katastrophe hat diesem Gedanken ein Gewicht ver- liehen, das 1947, als das Buch erschien, wahrscheinlich selbst für die Autoren nicht in vollem Umfang abzusehen war. Eine einseitig ökologische Ausdeutung allerdings ist unzulässig, vor allem auch deshalb, weil die Subjektproblematik nur vermittelt als eine ökologische angesprochen werden kann. 7 ebd., S. 19 8 ebd., S. 20, 82 216 vom Boden, seiner materiellen Existenzgrundlage, distanziert. Der Technik, später, kommt die gleiche Rolle zu; schiebt das einzelne Werkzeug sich physisch zwischen Subjekt und Objekt, so trennt die universalisierte gesellschaftliche Vermittlung, deren integraler Teil die Technik wird, alle Subjekte von allen Objekten ab. Wobei die Machtdimension transformiert, als Struktur aber erhalten und ausgebaut wird. Das Subjekt-Objekt-Verhältnis also ist immer schon eines der Herrschaft, und die Technik als Mittel und als Ausdruck der Distanz in dieses Verhältnis immer schon integriert. Ein Gesellschaftsmodell, das auf dem Begriff der Naturbeherrschung aufbaut, ist in Gefahr, die historische Spezifität der einzelnen aufeinanderfolgenden Gesellschafts- formationen aus dem Auge zu verlieren; und in der Tat ist es kühn, Odysseus als einen frühen 'Bürger' anzusprechen, wie Horkheimer/Adorno dies nicht nur implizit durch 9 die Wahl ihrer Parabel, sondern an verschiedenen Stellen auch explizit tun. Die bürgerliche Gesellschaft wird so, anders als bei Marx, nicht der feudalistischen oder der Sklavenhaltergesellschaft gegenübergestellt; Horkheimer und Adorno kommt es vielmehr darauf an, die Fundamente offenzulegen, auf denen die gegenwärtige Ver- fassung der Gesellschaft aufgebaut ist. Die gegenwärtige, bürgerliche Gesellschaft, die sich aktuell mit den Wirtschaftsreformen in den sozialistischen Ländern die letzte ihrer möglichen Alternativen einverleibt, macht sich, totalisiert, zum Telos der Geschichte; alle Geschichte, entsprechend, wird zur Vorgeschichte, deren Relevanz allein an der Gegenwart sich mißt. Die Art und Weise, in der die 'Dialektik der Aufklärung' argumentiert, vollzieht diese Bewegung nach, in der kritischen Absicht, gerade darin die Partikularität des faktisch übermächtigen bürgerlichen Gesellschaftsmodells aufzuweisen. Diese Vorüberlegung ist wichtig, soll der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht auch hier, wie allzu oft, im Vagen bleiben. Die Identitätsprobleme 'des Subjekts' sind die des bürgerlichen Individuums, und letztlich der empirischen Subjekte, die, in die bürgerliche Maschine eingespannt, nicht die Identitätsprobleme selbst, sondern allenfalls die Anstrengung spüren, mit der sie, folgt man dem Eingangszitat, 'ihr Ich zusammenhalten'. Ein Gesellschaftsmodell, wie Horkheimer und Adorno es entfalten, also ist vor allem dafür notwendig, die Anstrengung als solche zu dechiffrieren und hinter dieser Anstrengung die spezifische gesellschaftliche Struktur aufzufinden, deren Zwangscharakter und deren systematische Ausschlüsse den Druck überhaupt hervorbringen, den die einzel- nen Subjekte auszutragen haben. Der Gedanke, die Identitätsproblematik auf die Notwendigkeit zu handeln, und diese Notwendigkeit auf den spezifisch bürgerlichen Selbstlauf der Produktion und letztlich eine zum System gewordene Existenzangst zurückzuführen, verbindet Aspekte, die traditionell von der Philosophie, der Psychologie und der Ökonomie getrennt verhan- 9 ebd., S. 20, 50, 66f, 82 217 delt werden. Es entsteht ein kompexes Bild der Gesellschaft, das die Verortung auch scheinbar peripherer Gegenstände erlaubt und einer philosophisch-abstrakten Frage wie der nach dem Subjekt eine materiale Basis verschafft. 'Spezifisch bürgerlich' ist eben nicht allein das Privateigentum an den Produktionsmitteln; im Selbstlauf des Kapitals, das unter dem Zwang sich zu verwerten alle Zwecke und alle Qualitäten hinter sich läßt, kommt ein Prozeß der Abstraktion zu sich selbst, der weit vor dem Aufstieg des Bürgertums begann, ihn möglich gemacht hat und alle Alternativen von vornherein mit einer Hypothek belastet. Der Aufweis solch übergreifender Zusam- menhänge aber nimmt der Gegenwart nichts von ihrer spezifischen Struktur; ihrer Problematik gilt der Blick, und die Rekonstruktion ist vom Punkt der Krise aus ge- schrieben. Und diese Krise – wie gesagt – ist u.a. eine des Subjekts. Angesichts der universellen gesellschaftlichen Vermittlung und Abstraktion aller Vorgänge, denen die empirischen Subjekte ihre physische Subsistenz verdanken, wird es ihnen zunehmend schwer, die Rolle jenes 'frisch und konzentriert' vorwärts blickenden Täters einzunehmen, auf den die Ökonomie nach wie vor angewiesen ist. Und so sehr die gegenwärtige Gesellschaft mit der Existenzangst der jeweils Einzelnen operiert, so wenig kann sie das Vertrauen aufrechterhalten, die eigene Existenz liege in der eigenen Hand, vom Handeln des Einzelnen hinge auch nur der enge Kreis seiner persönlichen Verhältnisse ab. Dies nun ist das Terrain, das die symbolischen Maschinen, und insbesondere der Film, besetzen. Nach einem Handlungsmodell strukturiert und in der Lage, die Identität der Subjekte mit technischen Mitteln zu stützen, übernehmen sie Funktionen, die die gesellschaftliche Praxis aus strukturellen Gründen ausgeschieden hat Das Modell aber wäre allzu schlicht, liefe es allein auf ein Verhältnis der Substitution – Substitu- tion der Praxis durch Symbole – hinaus. Es lohnt deshalb noch einmal zu Adorno zurückzukehren und zu fragen, welche Rolle in seiner Konstruktion die symbolischen Systeme spielen. Schon die 'Dialektik der Aufklärung', vor allem aber die 'Negative Dialektik' von 10 1966 enthält ein Sprachmodell, das Aufschluß zu dieser Frage bringen kann. Spra- che in diesem Fall meint die philosophische Sprache; und Adornos Sprachkritik ist eine Reflexion auf das eigene Instrumentarium, insofern Philosophie sich immer im Medium der Sprache bewegt. Um so erstaunlicher ist, daß Adorno die Sprache, und in ihrem Zentrum den Begriff, wie selbstverständlich unter die Instrumente der Naturbe- herrschung rechnet. "Sprache, Waffen [und] [...] Maschinen" nennt bereits die 11 Dialektik der Aufklärung in einem Atemzug und der Text führt aus: 10 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt 1982 11 DdA, a.a.O., S. 44 2 18 "Die Menschen distanzieren denkend sich von der Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werk- zeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an den Dingen paßt, "12 wo man sie packen kann. Die Sprache und das sprachabhängige Denken haben instrumentellen Charakter, und dies eben nicht allein im Rahmen der instrumentellen Vernunft; Sprache und Denken vielmehr sind immer bereits eingespannt in die Selbsterhaltung der menschlichen Gattung, und bilden insofern nicht eine Sphäre, die der gesellschaftlichen Praxis als 'symbolische' einfach gegenübersteht. In der Negativen Dialektik nun untersucht Adorno, wie der Werkzeugcharakter der Sprache sich auf die Sprache selbst und auf ihr Verhältnis zur 'Realität' auswirkt. Für diese Überlegung wechselt er auf die Ebene der einzelnen Begriffe, und er fragt nach der systematischen Differenz, die den Begriff vom jeweils Begriffenen (oder dem zu begreifenden) trennt. Kennzeichnend für den Begriff ist das Verhältnis der Subsump- tion, d.h. die Tatsache, daß eine Vielzahl von konkreten Referenten unter den gleichen Begriff gefaßt werden. Dies bedeutet zunächst, daß dem Begriff, und sei er noch so ge- genständlichkonkret, notwendig ein Moment von Abstraktion anhaftet; eine unifizie- rende Tendenz, die die konkreten Unterschiede, die zwischen den einzelnen Referen- ten bestehen, negiert und jedem einzelnen Objekt etwas wegschneidet, damit es in die allgemeine Bestimmung paßt. Im Mechanismus der Subsumption sieht Adorno ein Grundelement der Gewalt gegenüber dem konkreten einzelnen Objekt; einer Gewalt in der Sphäre des Sym- bolischen, die sich eben nicht allein aus deren Funktion im Kontext der Selbsterhaltung ableitet, sondern in die Struktur der Sprache selbst eingedrungen ist. Die zitierte Stelle der 'Dialektik der Aufklärung' bereits konfrontierte den Begriff als das 'bekannte, eine, identische Werkzeug', das durch verschiedene Situationen hindurch in der Hand verbleibt, mit der 'chaotisch-vielseitigen und disparaten Welt', die es mit seiner Hilfe zu begreifen gilt. Die Unempfindlichkeit der Begriffe gegenüber der konkreten Si- tuation ihrer Anwendung also ist Voraussetzung für ihr Funktionieren überhaupt, gleichzeitig aber ist sie die Krankheit, an der das begriffliche Denken von allem Anfang an leidet. Ein weiteres Mal also steht die 'Identität' in Frage; diesmal nicht die der Subjekte, 13 sondern die der Begriffe, die ebenso scheinhaft, instrumentell und gewaltförmig ist. 12 ebd., S. 46 (Hervorh. H.W.) 13 "Das Wort Identität war in der Geschichte der neueren Philosophie mehrsinnig. Einmal designierte es die Einheit persönlichen Bewußtseins: daß ein Ich in all seinen Erfahrungen als dasselbe sich erhalte. Das meinte das Kantische 'Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können'. Dann wieder sollte Identität das in allen vernunftbegabten Wesen gesetzlich Gleiche sein, Denken als logische Allgemeinheit; weiter die Sichselbstgleichheit eines jeglichen Denkgegenstandes, das einfache A=A. Schließlich, erkenntnistheoretisch: daß Subjekt und Objekt, wie immer auch vermittelt, zusammenfal- 219 Identität nämlich ist auch auf Seiten der Begriffe nicht einfach gegeben; sie entsteht durch einen Akt des Identifizierens, dem das Inkommensurable jeweils zum Opfer fällt; Identität also ist falsche Identität, und entsprechend tritt dieser Begriff bei Adorno in fast ausschließlich pejorativem Sinne auf. Andererseits aber, und auch dies betont der Text, ist kein Denken möglich, das nicht an Begriffe gebunden, und dem- entsprechend 'identifizierendes Denken' wäre. Die philosophische Reflexion also wird diese Aporie aufnehmen müssen, will sie ihre Sprachgebundenheit nicht entweder 14 leugnen, oder durch Postulate wie den Seins-Begriff überspringen. Die Arbeit an dieser Aporie ist zentral für die Negative Dialektik; Adornos Überlegung nämlich schränkt sich nicht auf eine reine Erkenntnis- oder Sprachkritik ein. Vielmehr geht es ihm gerade darum, einen Modus der Reflexion aufzuzeigen, der das 'Nicht-Identische', dasjenige also, was der Begriff an dem Begriffenen verfehlt, dem Denken zumindest approximativ zugänglich macht. Selbstverständlich kann das Nicht-Identische nicht als ein Positives in den Blick genommen werden; Adorno aber hält es für möglich, das begriffliche Denken zu einer Art Selbstkritik zu veranlassen, wenn das Denken sich dem einzelnen konkreten Gegenstand zuwendet und 'in Kon- stellationen von Begriffen von außen repräsentiert, was der einzelne Begriff im Innern 15 weggeschnitten hat'. Dabei schwebt Adorno eine reziproke Kritik des Allgemeinen und des Besonderen vor: "Das Einzelne ist mehr sowohl wie weniger als seine allge- 16 meine Bestimmung"; mehr, insofern jeder einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten 17 sind, zugleich aber auch weniger, insofern – Adornos Beispiel – der Begriff der Freiheit alle konkreten Gegenstände, auf die er applizierbar wäre, übersteigt. Worauf aber nun zielt diese Selbstkritik der Sprache letztlich ab? Adorno gibt eine eindeutige Antwort: "Durchgeführte Kritik an der Identität tastet nach der Präpon- 18 deranz des Objekts." Die Objektseite ist es, der das begriffliche Denken Gewalt an- 19 tut, und der "Vorrang des Objekts" muß wiederhergestellt werden, soll das Denken len." (Neg. Dial., a.a.O., S. 145 (FN)) 14 Adornos Kritik an Heidegger zielt darauf ab zu zeigen, an welcher Stelle dieser Begriff den Bereich der Sprache verläßt. 15 Neg. Dial., a.a.O., S. 164 16 ebd., S. 154 17 ebd., S. 153 18 ebd., S. 184 19 ebd., S. 185 220 nicht den Maßstab verlieren, an dem es allein zu messen ist. Ohne den Vorrang des Objekts, auch diese Drohung spricht Adorno deutlich aus, wird sich das an den Ob- 20 jekten Unbegriffene hinter dem Rücken der Subjekte Geltung verschaffen. Unter anderem also enthält Adornos Sprachmodell eine Aussage zum Subjekt/ Objekt-Verhältnis. Die Selbstüberschätzung der begrifflichen Sprache wird als Hybris des Subjekts verstanden, das, im Rausch der praktischen Naturbeherrschung und blind gegenüber den tatsächlichen Kräfteverhältnissen, die Objektseite bereits für unter- worfen hält. Die von Adorno anvisierte Selbstkritik der Sprache nähme zunächst die- sen Herrschaftsanspruch zurück; mit der Folge, daß die Objektseite nicht mehr aus- schließlich in Funktion der Selbsterhaltung gesehen werden müßte, und mit der zwei- ten Folge, daß die Sprache in ein kritisches Verhältnis zur Naturbeherrschung über- gehen könnte, auch wenn diese nach wie vor die Praxis dominiert. Es ist ein Modell der Behutsamkeit, das Adorno vertritt; an genaue materiale Analy- sen, wie er selber sie an den verschiedensten Gegenständen durchgeführt hat, knüpft sich die Hoffnung, die Gegenstände, gleichzeitig aber immer auch die Sprache auszu- loten, die sich den Gegenständen zu nähern versucht. Die Hoffnung, das mimetische Potential der Sprache mache es möglich, den Gewaltmechanismus der Subsumption noch einmal zu hinterschreiten. "Das Subjekt muß am Nichtidentischen wiedergutmachen, was es daran verübt 21 hat." 22 'Behutsamkeit', Mimesis und nicht zuletzt der explizite Verweis im eingangs Zitier- ten, daß der 'identische, zweckgerichtete Charakter des Menschen' eben nicht der des Menschen, sondern primär der des Mannes ist, rückt Adornos Theorie in die Nähe der feministischen Ansätze, die Subjekt und Objekt ja ebenfalls aus ihrem starren Antagonismus zu lösen versuchen. Auch Adorno sieht den Abstand beider als variabel an. Er betont ihr Auseinandertreten in der Naturbeherrschung, und er weist die Illusion zurück, der Abgrund könne am begrifflichen Denken vorbei, also quasi im Sprung überwunden werden; sein ganzes Denken aber zielt auf den Nachweis ab, daß die Spaltung eben nicht 'Natur', sondern Gesellschaft, nicht zeitlos, sondern geschicht- lich-relativ und damit – zumindest der Möglichkeit nach – auch revidierbar ist. 20 Als unmittelbare Äußerungen dieses Unbegriffenen nennt Adorno das physische Leid, dem die Men- schen nach wie vor ausgesetzt sind, und die Ideologie, die im Nicht- oder Falsch-Begreifen ihre Basis hat. ("Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphiloso- phie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte" (ebd., S. 203)) Aus heutiger Perspektive ließe sich die ökologische Problematik hinzufügen, die ebenfalls als die 'Ra- che' einer ungenügend verstandenen Natur begriffen werden kann. 21 ebd., S.149 22 Der Begriff spielt in Adornos Ästhetischer Theorie (1970) eine größere Rolle als in der Negativen Dialektik. 221 Der 'Vorrang des Objekts' bedeutet eine Einschränkung der Subjektposition, eine Beschränkung seiner realen und seiner illusorischangemaßten Macht. Perspektivisch aber bedeutet er vor allem einen Abbau der Macht selbst, die als Regulativ auf dem Feld der Sprache, gegenüber der Natur und im Verhältnis der Menschen untereinander inzwischen selbst am schlichten Zweck der Selbsterhaltung gemessen versagt hat. Was nun bedeutet dies alles für den Film? Ein symbolisches System ähnlich der Sprache, scheint doch gerade er den Mechanismus der Subsumption vermeiden zu können. Indem er nicht ein Allgemeines – den Begriff –, sondern immer schon ein Einzelnes zum Gegenstand der Abbildung macht, scheint das Objekt – selbst 'anwe- send' – jede Gewalt zu dementieren und auch seine Spezifität und seine Differenz in den Diskurs miteinbringen zu können. Das so entworfene Bild aber, denke ich, ist nicht haltbar. Zunächst, dies wurde schon gesagt, ist das Objekt eben gerade nicht 'anwesend', sondern es wird vertreten durch sein Bild, das als ein Verweisendes die 'Präsenz' des Objekts gerade verneint. Zum zweiten ist die Tatsache, daß das Einzelne als ein konkretes Einzelnes überhaupt erscheint, ein Effekt optischer Detailinformationen, die die Photographie mit den Objekten selbst aufzeichnet, und die diese Objekte als spezifische ausweisen. Die Überlegung zur Segmentierung nämlich hatte gezeigt, daß die Rezeption den kon- tinuierlichen filmischen Raum in Objekte zerlegt, Objekte, die im symbolischen Sy- stem des Mediums Film immer schon verortet sind, und insofern gerade nicht als 'spezifisch', konkret oder 'einzeln' angesprochen werden können. Die mitgelieferten optischen Detailinformationen also fungieren als eine Ebene sekundärer Deskription, nachdem die Objekte als solche bereits konstituiert sind. Pointiert man diesen Aspekt, so kann man sagen, daß eine Subsumption sehr wohl stattfindet, als Subsumption sich aber nicht zu erkennen gibt. Das Allgemeine betritt die Leinwand im Gewand der Konkretion, auch dies wird man als eine der spezifischen Illusionen, die den Film als Medium kennzeichnen, festhalten müssen. Adornos Bestimmungen also sind – möglicherweise modifiziert – auch für den Film gültig. Die 'Konzepte', auf die die Wahrnehmung angewiesen ist, will sie Objekte als solche identifizieren, treten dem konkreten Einzelnen ebenso abstrakt und 'falsch' gegenüber wie die Begriffe, denen Adornos Kritik gilt. Mit der Option, daß die des- kriptive Ebene der optischen Details eine ähnlich relativierende Rolle spielt wie jene 23 Begriffs-'Konstellationen', auf die Adorno seine Hoffnung setzt. 23 In beiden Fällen handelt es sich um Typen syntagmatischer Reihung: 'Objekte' und 'Details' stehen in der Fläche des Bildes nebeneinander (möglicherweise überlagernd: ein einfaches Beispiel sei ein Mann mit einem Orden) wie die syntagmatisch gereihten Begriffe, die Adorno in 'Konstellation' rückt. Es sei an das Konnotationen-Modell in Teil 3.2 dieser Arbeit erinnert, wo deutlich wurde, daß die syn- tagmatische Reihung (der Kon-Text) tatsächlich bestimmt, welche Konnotationen aktualisiert werden, den Begriff also tatsächlich in seiner Stabilität antastet 222 Alle filmspezifischen Mittel der symbolischen Unterwerfung – Zentralperspektive, Voyeurismus – also treten hinzu. Und unterworfen wird eben nicht allein das abge- bildete Objekt: Es ist die Stärke des Modells, daß Adorno zwischen der Unterwerfung in der Sphäre der Symbole und der Unterwerfung der tatsächlichen Welt eine fak- tisch-funktionale Verbindung herstellt. 'Naturbeherrschung auf dem Felde des Symbolischen' ist deshalb mehr als eine Me- tapher; ein nach Machtkriterien strukturiertes Symbolsystem dient nicht allein der Einübung von Herrschaft im Sinne einer Sozialisationsinstanz, und nicht allein der psychischen Entlastung; es produziert und reproduziert tatsächliche Herrschaft, inso- fern das Denken selbst Instrument, und als solches in die Herrschaft immer schon verflochten ist. Virilios phänomenologische Parallelsetzung wird damit ebenso bestätigt wie der zu- nächst kaum begründete Verdacht der Apparatustheoretiker, es sei die 'bürgerliche' Sicht der Welt, in die das Kino einzuordnen sei. Wenn spezifisch für die bürgerliche Gesellschaft ist, daß im Selbstlauf der Produktion und der technischen Möglichkeiten die Naturbeherrschung ins Zentrum rückt und alle anderen Formen der Herrschaft in 24 deren Funktionale geraten, so verschiebt sich der Begriff der 'Macht', der bei Fou- cault auf die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschränkt schien, auf eine Ebene, die wesentlich allgemeiner ist. Macht bezeichnet nun die Unterwerfung der Natur, zunächst der äußeren Natur als einer Sphäre von 'Objekten', dann der inneren Natur des Menschen, dessen identisches Ich eine Vielzahl von heterogenen Strebungen niederringen muß, um als solches sich zu konstituieren, und als drittes erst eine soziale Struktur In diesem ausgeweiteten Rahmen verändert die Frage nach der Machtdimension des filmischen Blicks ihre Implikationen und ihre Bedeutung. Nun nämlich ist es möglich, eine Anzahl von Einzelkonzepten zu integrieren, die in der bisherigen Argumentation eine Rolle gespielt, bisher aber weitgehend unverbunden nebeneinander gestanden haben. So erweist sich, um damit zu beginnen, die Problematik des Subjektes als eine objektive: die empirischen Subjekte, die der gesellschaftliche Prozeß in den Selbstlauf einer abstrakt gewordenen Selbsterhaltung einspannt, sind dem Widerspruch ausgesetzt, einerseits Funktion in diesem Prozeß übernehmen zu müssen, von vornherein also in Front gegen die Objektwelt und gegen die unterworfene Natur gestellt zu sein, andererseits die Gewalt und die Unwahrheit dieses Verhältnisses aber am eigenen Leibe zu erfahren. Das Problem der Subjektidentität, das die Apparatus- theoretiker allein in den Kategorien der Psychoanalyse behandeln konnten, wird nun 24 Das wohl anschaulichste Beispiel, wie politische Herrschaft aus 'Sach'-zwängen heraus entstehen und sich stabilisieren kann, ist nach wie vor die Technologie der atomaren Stromerzeugung, die einen halben Polizeistaat nach sich zieht, will sie ihr gesellschaftliches Risiko im Rahmen halten 223 als ein Objektverhältnis dechiffrierbar; als eine verordnete Identität der tatsächlichen Welt gegenüber, und eine zweite auf dem Felde des Symbolischen, die, funktional mit ihr verschränkt, der ersteren zuarbeitet. Der Subjektbegriff also muß auf ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, und die Mechanismen des Symbolischen auf die gesellschaftliche Praxis als ihre materielle Basis zurückbe- 25 zogen werden; erst dann besteht die Chance, auch den anderen Teilkonzepten einen Ort zuzuweisen. Die 'Subjektüberhöhung' etwa, gesetzt sie sei tatsächlich ein Zug der filmischen Anordnung, muß nun nicht mehr als reine Entschädigung für die reale Ohnmacht der Subjekte, d.h. ausschließlich als Kompensation gedacht werden; denn 'ohnmächtig' sind die Subjekte als politische, nicht aber in ihrer objektiven Funktion innerhalb der abstrakten Produktionsordnung, die die Herrschaft über die Natur übernommen hat. Die Besonderheit dieser Apparat gewordenen 'Macht' ist, daß sie dem eigenen Handeln nicht mehr zugeordnet, subjektiv nicht mehr realisiert und entsprechend nicht mehr genossen werden kann. Der objektiven 'Macht' also tritt ein Gefühl subjektiver Ohn- macht gegenüber, und das psychische Leiden der Subjekte droht, der Apparatur die Basis zu entziehen. Wenn der Film also das Bild des 'frischen, gesammelten Täters' noch einmal be- schwört, und dem Zuschauer eine konkrete, sinnliche Welt, nach Maßgabe seiner Zwecke strukturiert, quasi 'zu Füßen' legt, so ist dies weder 'funktional', noch einfach Illusion; es ist der Versuch, dem Einzelnen noch einmal zugänglich zu machen, was 26 der gesellschaftliche Prozeß lange an sich gerissen hat. 'Rückversinnlichung' also, auf einer äußerst abstrakten Ebene der Medienfunktion. In diesem Sinne ist beides in gleicher Weise wirksam: die strukturelle Parallele, die, wie Adorno zeigt, das symbolische System und die tatsächliche Naturbeherrschung verbindet, und der Abstand, der die Welt der Symbole von der tatsächlichen immer trennt. Im Tatsächlichen, daran besteht kein Zweifel, bleibt die 'royal overlooking position' unbesetzt. Der letzte Gedanke schließlich, den Adornos Modell integriert, spricht den Film als ein technisches Medium an; der zentralperspektivische Raum ist technisch verbürgt, und die filmische Technik der Gegenstand, den die Apparatustheoretiker einer Inter- pretation zugänglich machen wollten. Indem Adorno nun das Denken, wie das symbolische System, wie die Technik als 'Werkzeuge' auffaßt, wählt er einen Begriff, der per se bereits der Technik zuzuordnen ist. Die Integration also findet bereits auf dem Terrain der Technik statt, eine Tatsache, die für das Verständnis der Medien, 25 die erste Vorstellung liegt diesem Kapitel als ganzem zugrunde 26 ein Begriff aus der Fernsehtheorie Prokops. (Prokop, Dieter: Faszination und Langeweile. Die populären Medien. Stuttgart 1979) 224 deren Eigenheit ja darin besteht, daß sie technische und symbolische Systeme ver- schränken, eine neue Perspektive eröffnet. Wie bei den Apparatustheoretikern auch, tritt als drittes eine bestimmte Verken- nungsstruktur hinzu; der Begriff verleugnet seinen Gewaltaspekt ebenso wie die Differenz zum Begriffenen, die Adorno als das Grundelement ansieht, auf dem Ideologie überhaupt nur aufgebaut werden kann. Verkennung, Verleugnung, ein 'funktionales Unbewußtes', das die Struktur des Symbolischen notwendig einschließt, und schließlich der Begriff der Ideologie – all dies erinnert an den Ansatz Baudrys und Comollis, von dem die hier vorgetragene Argumentation ausgegangen war. Die gemeinsame Basis bei Adorno wie bei Baudry und Comolli ist eine politisch gewen- dete Psychoanalyse, eine sehr unterschiedlich gewendete Psychoanalyse allerdings, die in sehr unterschiedliche gesellschaftstheoretische Modelle mündet; der Blick auf die Technik aber ist vergleichbar, ein Blick, den die Medientheorie bislang in keiner Weise ausgeschöpft hat. Im folgenden Schlußteil soll deshalb versucht werden, das Verhältnis von Technik, symbolischem System und der spezifischen Verkennungsstruktur, die den Film kenn- zeichnet, auf dem Hintergrund der Ausgangsthese noch einmal zusammenzufassen. Die Kategorien dazu stehen bereit, und auf dem Hintergrund Adornos scheint es möglich, sie nun in ihrem Zusammenhang zu denken. 225 5.1 Zusammenfassung: Filmische Technik, 'Semantik' und Zuschauer- position Hauptergebnis der Arbeit ist, daß die filmische Technik, das symbolische System des Films und die Position des Zuschauers in eine neue Konstellation gerückt werden müssen. Die Beschäftigung mit dem 'privilegierten Beispiel' des filmischen Raums zwingt dazu, Aspekte zusammenzudenken, die in der klassischen Filmtheorie streng getrennt voneinander verhandelt worden sind, und die etablierten Grenzen zwischen Inhaltsanalyse, Filmästhetik, Filmsemiotik, Technikgeschichte, Publikumssoziologie und Rezeptionsästhetik einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen. Ergebnis dieser Revision kann selbstverständlich nicht ein neues und kohärentes Gesamtmodell sein, das die genannten Aspekte der Theoriebildung neu zu lokalisieren imstande wäre – ein solcher Anspruch wäre schon deshalb absurd, weil die partikulare Frage nach dem filmischen Raum zu partikularen Ergebnissen führt, deren Übertrag- barkeit auf andere Fragen im Feld des Films nicht von vornherein garantiert erscheint. Alle Aussagen gelten deshalb zunächst für den filmischen Raum. Die grundsätzlichen Fragen, die die Untersuchung motivieren, allerdings scheinen mir größere Allgemeinheit beanspruchen zu können; der Wunsch etwa, die Technikge- schichte aus ihrer Isolation (und Fetischisierung) zu erlösen, und zu einem Begriff des filmischen Signifikanten durchzudringen, der sowohl die symbolische als auch die technische Dimension einbegreift, scheint mir Grundlage dafür, vom Film als einer 'signifizierenden Maschine' überhaupt sprechen zu können. Der filmische Raum nun, das ist das handgreiflichste Ergebnis der vorliegenden Un- tersuchung, stellt zwischen der Technik und dem symbolischen System des Films eine konkrete und beschreibbare Verbindung her. Zunächst ist zu sagen, daß die filmische Technik die Fläche des mit filmischen Mitteln Artikulierbaren einschränkt. Die Apparatusautoren hatten den zentralperspektivischen Raum des Films mit dem ungleich mächtigeren Code der bildenden Kunst konfron- tiert, der neben der zentralperspektivischen eben auch andere Arten der Flächen- projektion kennt; gemessen an solcher Vielfalt erscheint der filmische Raum zum einen als starr und unflexibel, vor allem aber als partikular; und es wird deutlich, daß dieselbe Technik, die die symbolischen Systeme erweitert (etwa indem sie die Bewegung in die Welt der Bilder einführt), im Gegenzug bestimmte, sehr harte 1 Restriktionen enthält. 1 Vergleicht man verschiedene symbolische Systeme, etwa die von Schrift (Sprache) mit der Malerei, ist es relativ selbstverständlich, daß Inhalte des einen Systems nicht unbedingt auch im anderen ausdrück- bar sein müssen. Meist aber ist schwer zu entscheiden, ob Restriktionen dieser Art wirklich der zugrundeliegenden Technik zugerechnet werden müssen und entsprechend oft werden Technik und symbolisches System deshalb im Begriff des Signifikanten nivelliert. 226 Auf einer ersten Ebene also fungiert die Technik selbst als ein 'Code', indem sie Bedin- gungen festschreibt, die das jeweils Artikulierte nicht mehr überschreiten kann. Und wie ein Code funktioniert die Technik noch in einem zweiten Sinne: Die Einschrän- kung des Artikulierbaren nämlich schlägt in eine inhaltliche Strukturierung um. Die Apparatusautoren hatten gezeigt, daß man dem als partikular erkannten Flächen- code der Zentralperspektive eine bestimmte Geschichte, spezifische Eigenschaften und exakt umrissene 'Bedeutungsgehalte' zuordnen kann. Der technik-verbürgte Raum des Films liefert damit ein besonders klares Bild der allgemeineren Gesetzmäßigkeit, daß Codes eben alles andere als 'neutral' gegenüber den Inhalten (den Botschaften, dem Artikulierten) sich verhalten. Wenn Codes nämlich durch die Geschichte (die geschichtliche Akkumulation von Wissen und das Vergessen, bewußte Eingriffe und bewußtlose Praxis) ihre Struktur erhalten, und umgekehrt keine Aussage oder Erkenntnis möglich ist, die durch die 2 Struktur der symbolischen Systeme nicht überformt wäre, so scheint dies völlig parallel auch für die filmische Technik zu gelten; auch sie hat ihre spezifische Form gefunden, indem sie bestimmte Inhalte in sich aufgenommen und Alternativen ausge- schlossen hat, und auch sie wird die Inhalte, die sie mit sich schleppt, dem jeweils aktuell Artikulierten aufprägen. Auf dieser ersten Ebene also scheinen Technik und Code sehr verwandten Mechanismen zu unterliegen. Auf einer zweiten Ebene aber, und diese ist vor allem deshalb wichtig, weil die Ap- paratustheorien sie ausgeklammert haben, wird man Code und Technik sauber von- einander trennen müssen. Betrachtet man als 'Code' nun nämlich das symbolische System des Films selbst, so kann der Code nur jene Fläche strukturieren, die die Technik ihm übrigläßt; die mate- riale Definition der Technik geht der konventionell-symbolischen mit Sicherheit vor- an. Dem symbolischen System des Films ist damit eine 'mittlere' (und vermittelnde) Sphäre zwischen derjenigen der Technik und der Ebene der Inhalte, der einzelnen Botschaft zugewiesen. Und wenn die Erkenntnis der Apparatus-Autoren war, daß die filmische Technik auf die Inhalte zurückwirkt, so ist dies richtig und falsch zugleich; zwischen der filmischen Technik und der Ebene der Inhalte nämlich, das ist die nun modifizierte Position, steht der Code, so daß die Restriktionen der Technik zuerst auf den Code, und dann erst auf die Inhalte wirken. Den Code in dieser Rolle überhaupt aufzufinden, bedurfte einer relativ aufwendigen Rekonstruktion. Als das entscheidende Spezifikum des filmischen Codes nämlich wird man die Tatsache ansehen müssen, daß er sich unsichtbar macht. 2 Während die erste Annahme relativ selbstverständlich ist, wurde die zweite erst in der Philosophie dieses Jahrhunderts und am klarsten bei Wittgenstein formuliert. 227 Die technischen Bilder, schreibt der Medientheoretiker Flusser, "sind aus einem seltsamen Grund schwer zu entziffern. Allem Anschein nach müssen sie nämlich gar nicht entziffert werden, da sich ihre Bedeutung scheinbar automatisch auf ihrer Oberfläche abbildet [...]. Die seitens der technischen Bilder scheinbar bedeutete Welt scheint ihre Ursache zu sein und sie selbst ein letztes Glied einer Kausalkette [...]. Was man auf ihnen sieht, scheinen also nicht Symbole zu sein, die man entziffern müßte, sondern Symptome der Welt, durch welche 3 hindurch diese, wenn auch indirekt, zu ersehen sei." Die hier vertretene Argumentation hat die Verleugnung des filmischen Codes als eine Variante der Transparenzillusion interpretiert. Sie folgt damit exakt dem Weg der Apparatusautoren, die in der Verleugnung der Technik ja einen unverzichtbaren Bestandteil des Filmerlebnisses aufgedeckt, und den Begriff der Transparenz geprägt hatten. Und sie erweitert das Modell, indem sie der (sichtbaren) Botschaft und der (nun ebenfalls sichtbaren) Technik den (unsichtbaren?) Code zur Seite gestellt hat. Unsichtbar, das war die Behauptung, ist der Code vor allem deshalb, weil der Film den Schein von Kontinuität aufrechterhält. Das raum-zeitliche Gleiten der Filmbilder scheint jeden Zeichenbegriff zum Scheitern zu verurteilen, das Medium Film scheint irreduzibel analog. Dem kontinuierlichen Bildraum, den die zentralperspektivische Flächenprojektion errichtet, kommt damit eine entscheidende, man könnte sagen, 'strategische' Bedeu- tung zu. Wenn es tatsächlich das zentrale Versprechen des Filmes ist, die Dinge 'direkt' – unvermittelt durch Zeichen und damit durch die Konvention – auf die Leinwand zu bringen, so muß eine Dekonstruktion dieses Versprechens mit einer Demontage des filmischen Raumes, seines quasi-natürlichen Charakters und seiner 'Kontinuität' einsetzen. Die Überlegung zur 'Segmentierung' entsprechend war der erste Schritt, dem filmi- schen Raum distinkte Einheiten und damit eine innere Gliederung abzuringen. Im Rückgriff auf die Gestalttheorie konnte gezeigt werden, daß jede Wahrnehmung ein Wiedererkennen zur Voraussetzung hat, daß der kontinuierliche Raum sich also kei- neswegs 'spontan' gliedert, sondern aufgrund von Konzepten, die in der Erfahrung aufgebaut und im Gedächtnis vorgehalten werden, in eine Ansammlung von 'Objekten' immer schon gegliedert ist. Es sei daran erinnert, daß der Aufbau der 'Objekt'-Konzepte allein auf die Iteration, die Wiederholung in wechselnden Kontexten, und damit auf einen vollständig materialen Mechanismus zu reduzieren war. 3 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983, S. 13 2 28 In einem zweiten Schritt war zu zeigen, auf welche Weise die Objekt-Konzepte, die die Gestalttheorie als einen Besitz ausschließlich der individuellen Erfahrung kon- zipiert, im intersubjektiven Raum vorausgesetzt werden können. Diese zweite Voraussetzung des Zeichenbegriffs war nur durch ein relativ aufwendiges Modell plausibel zu machen, das auf Basis der Metapherntheorie den Begriff der 'Kon- notationen' und den Umschlag syntagmatischer Nähe (Kontiguität) in paradigmatische Nähe zu zeigen hatte. Die netzförmige Struktur intersubjektiv etablierter 'Bedeutun- gen', das war das Ergebnis, wird allein durch tatsächliche Diskursereignisse aufgebaut, so daß aus der gemeinsamen Teilhabe am Diskurs – sei es der Sprache, sei es der Bilder – ein intersubjektiv redundanter Kern von Konnotationen abgeleitet werden kann. Wenn Filmbilder also von verschiedenen Betrachtern gleich oder ähnlich ver- standen werden, so verdankt sich dies nicht dem Sosein der abgebildeten Gegenstände oder der 'Objektivität' der Abbildung, sondern einzig und allein der Tatsache, daß beide Betrachter einen bestimmten Teil ihres Weltwissens teilen und dieses Welt- wissen durch ein gemeinsames symbolisches System seine Struktur erhalten hat. Es wurde gesagt, daß die 'Ikonizität' der Bilder, d.h. eine wie auch immer geartete 'Ähnlichkeit zum Abgebildeten' damit so gut wie völlig belanglos geworden ist. Das Bild eines Einhorns wird nicht deshalb eindeutig erkannt, weil es mit dem Äußeren tatsächlicher Einhörner verglichen würde; das 'Konzept Einhorn' vielmehr wurde in den Diskurs (der Sprache und der Bilder) eingeführt, durch Iteration etabliert und schließlich zum Teil des Systems; vom Hirsch und der Kröte nur durch das – mehr als fragile – Wissen unterschieden, das Fiktion und Fakten voneinander trennt. Man wird daran erinnern müssen, daß vor Saussure Bedeutung auf dem Terrain der Sprache ebenfalls im einzelnen Zeichen (seiner Ähnlichkeit zum Bezeichneten, seiner individuellen Geschichte oder einer zurückliegenden 'Vereinbarung') gesucht worden ist, und daß erst Saussures revolutionäre Wendung den systemischen Charakter aller Bedeutung aufgedeckt hat, der jedes Zeichen von seinen Oppositionen und damit vom gesamten symbolischen System abhängig macht. Für die Bilder steht eine vergleichbare Wendung noch aus; sie zu vollziehen und den Mythos der 'Ikoniziät' aufzugeben, wäre umso dringlicher, als das Vertrauen in die Ikonizität immer die Illusion beinhaltet, der Weltbezug sei im Fall der Bilder kein Problem, ihre Referenz sei durch die vorgängige 'Ähnlichkeit' immer schon gewähr- leistet. Die Ikonizität also scheint für die Referenz einzustehen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Die Erfindung der technischen Bilder hat eine derart überwältigende Bilderflut, einen derart übermächtigen Bild-Diskurs entfesselt, daß das Abgebildete darin vollständig unterzugehen droht. Da das Abgebildete kaum je zu- gänglich ist, in den seltensten Fällen also geprüft werden kann, ob die Abbildung und das Abgebildete einander tatsächlich 'ähneln', müssen zum einen der technische Weg 229 der Bildproduktion, zum anderen die nackte Diskursmacht als Garant für die 'Wahr- 4 heit' eintreten. Das 'Einhorn', so könnte man sagen, ist zum Normalfall geworden. Im Beharren darauf, daß auch im Fall der Bilder 'Bedeutung' grundsätzlich und immer systemabhängig generiert wird, und im Zweifel an der 'Ikonizität', kehrt die Argumentation damit zu einem Grundanliegen der Apparatustheorien zurück; Baudry hatte als den Fluchtpunkt der filmischen Apparatur ein spezifisches Realismusver- sprechen ausgemacht, und Comolli hatte mit leichtem Hohn gezeigt, welch tief- greifende Metamorphosen dieses Versprechen im Verlauf der Filmgeschichte nahezu unbeschadet hat durchlaufen können. Die Demontage der 'referential illusion' – und nur dadurch löst sie ihren Namen ein – ist nun durch die Überlegung zum Code zu ver- vollständigen. Der Betrachter, der dem Bild 'unmittelbar' zu begegnen glaubt und seinen Inhalt für 'voraussetzungslos' zugänglich hält, negiert den Code. Er negiert die Tatsache, daß seine Wahrnehmung im Netz des gesellschaftlichen Wissens immer schon verortet ist, und daß Filmbilder an diesem Wissen in erheblichem Maße mitgebaut haben. Er negiert das Moment gesellschaftlicher Vermittlung, das seine Wahrnehmung kolo- nisiert; und er negiert schließlich, daß auch seine Wahrnehmung es nicht mit einzelnen konkreten Gegenständen zu tun hat, sondern (ganz wie das begriffliche Denken) immer schon subsumiert. Und gleichzeitig wird deutlich, daß die Referenzillusion nicht alle Filme, und nicht jeden Film vollständig beherrscht. Es gibt sowohl Genres, an der Spitze den Experi- mentalfilm, als auch bestimmte Momente im konventionell narrativen Film, die den Zeichencharakter offenlegen und der Transparenzillusion entgegenarbeiten. Wie Co- molli vorgeschlagen hat, wird man deshalb von einem Spannungsverhältnis zwischen der Transparenzillusion und ihren Gegenkräften ausgehen müssen, und man gewinnt ein Kriterium, bestimmte ästhetische Mittel entweder der einen, oder aber der anderen Tendenz zuzuordnen. Die Diskussion um den filmischen Signifikanten selbst berührt dies nur mittelbar. Auch wenn der Film sich als 'gemacht' zu erkennen gibt, auch wenn seine Aussage also 5 einer gestaltenden Instanz und nicht mehr dem Sosein der Dinge zugerechnet wird, bleiben sein symbolischer Charakter und seine Abhängigkeit von Konventionen zunächst unerkannt; wichtiger als einzelne Maßnahmen der 'Verfremdung' erscheint deshalb das Erlebnis der Redundanz, das in der Fülle der individuell rezipierten Filme eintritt. Die Wiederholung von Strukturmustern, Darstellungstechniken und systematischen Aussparungen erschließt sich erst im exzessiven Konsum von Filmen, 4 Dies ist die partielle Wahrheit an der plakativen These von der 'Simulation'. 5 Wie kompliziert solche Zuschreibungen ineinander verschränkt sein können, wurde an Comollis 'double knowledge'-These diskutiert. 230 wie er heute, vermittelt vor allem durch das Fernsehen, die Regel ist; und erst in dieser Wiederholung wird der Zeichencharakter der Filmbilder nach und nach deutlich hervortreten. Einstweilen ist er Gegenstand nur der Theorie. Einer Theorie, die die Verleugnung des Signifikanten hinterschreitet und seinen verschränkt technisch-symbolischen Cha- rakter zu klären versucht Vom symbolischen System ist nun noch einmal auf die Technik zurückzugehen. Auch sie nämlich erscheint in neuem Licht, sobald man das symbolische System zumindest im Ansatz freigestellt hat. Wenn die Technik bisher eher metaphorisch als ein 'Code' bezeichnet worden war, insofern sie bestimmte Inhalte in sich aufgenommen und in der eigenen Struktur vergegenständlicht hat, so kann diese Metapher zumindest am privilegierten Beispiel der zentralperspektivischen Raumkonstitution nun in einen tatsächlichen und histori- schen Prozeß der Übertragung aufgelöst werden. Zwei Stufen dieses Prozesses sind bereits bekannt: Bevor die Zentralperspektive nämlich in der Kamera ihre technische Realisierungsstufe fand, stellte sie – auf dem Terrain der Malerei – tatsächlich einen Code, d.h. eine verbindliche Richtlinie für die Produktion und das Verständnis von Bildwerken dar. Doch damit nicht genug; nun nämlich wird man die Frühphase ihrer Herausbildung hinzunehmen müssen, in der sie, noch keineswegs verbindlich und noch keineswegs codiert, dem einzelnen Maler noch vollständig verfügbar und damit ein Teil seiner Botschaft war. Die zentralperspektivische Raumkonstitution also bietet das einzigartige Schauspiel, im Verlauf ihrer historischen Entwicklung drei völlig verschiedene 'Aggregatzustände' zu durchlaufen; kurz: sie ist eine Botschaft, die zu einem Code, und dann zu einem Teil der Maschinerie geworden ist. Die drei skizzierten Stufen unterscheiden sich zunächst im Grad ihrer subjektiven Verfügbarkeit. Kann der Maler auf der ersten Stufe noch wählen, ob und inwieweit er seinen Bildraum dem neuen geometrischen Modell unterwirft, ob er einzelnen Gegenständen seines Bildes eine eigene, abweichende Räumlichkeit zugesteht oder bestimmte visuelle Wirkungen wichtiger nimmt als die 'Richtigkeit' der Gesamtkon- struktion, werden, sobald die Zentralperspektive als ein Code und eine Sehgewohnheit etabliert ist, solche Freiheiten stark eingeschränkt. Und die dritte Stufe, die den Raumcode in der Technik der Kamera festschreibt, grenzt Alternativen schließlich endgültig und mit mechanischen Mitteln aus. Die Geschichte der symbolischen Techniken also wird einseitig als 'Fortschritt' nicht gefaßt werden können. Im Verlauf der Entwicklung vielmehr scheint etwas verloren- zugehen, sich zu entziehen, oder zumindest von der 'Souveränität' der Subjekte an die Technik delegiert. 231 Als zweites fällt auf, daß sowohl der Übergang von der Botschaft zum Code, als auch der zweite vom Code zur Technik als ein Prozeß der Verhärtung beschrieben werden kann. Die Argumentation kehrt damit zu einem Begriff zurück, der bereits in der Beschreibung des symbolischen Systems und speziell der Konnnotationen eine Rolle gespielt hatte. Bezeichnete 'Verhärtung' dort die Stabilisierung und 'Kompression' der Bedeutung im wiederholten Gebrauch, so scheint nun auch die Technik an dieses Modell anzuschließen. Damit scheint die Möglichkeit auf, technische Entwicklungen in gleichen oder zu- mindest ähnlichen Termen zu beschreiben wie bestimmte Evolutionsprozesse inner- halb der symbolischen Systeme, und den Übergang von der symbolischen Sphäre hinein in die Technik als einen Umschlag zu verstehen, als einen Umschlag aber, der entlang konstanter Mechanismen sich vollzieht. Der semiotische Prozeß, der die Zeichen generiert, indem er willkürlich gewählte materielle Signifikanten in den Diskurs einbringt und damit neue Positionen im sym- bolischen System fixiert, scheint auf einer zweiten Ebene das Material selbst zu 'in- 6 formieren'; auf der Stufe der Technik ist das Material alles andere als willkürlich, und 'Verhärtung' bedeutet nun, daß simultan eine ganze Struktur, ein 'System' von Be- deutungen im Material sich niederschlägt. Die vorgeschlagenen Begriffe sind zu grob und das Beispiel des filmischen Raums ist zu eingegrenzt, um eine derart weitreichende Hypothese wirklich durchzuführen. Deutlich aber dürfte sein, daß die These von den semantischen Implikationen der Technik, wie sie die Apparatusautoren vertreten haben, weit über das dort erschlossene Terrain hinausdrängt und dazu zwingt, einen neuen und ungleich komplexeren Begriff des Signifikanten zu denken. 7 Der dritte Punkt ist, daß die Technik als geronnene Herrschaft erscheint. Zunächst in dem sehr allgemeinen Sinn, daß die Vergangenheit Macht über die Zukunft gewinnt; technische Apparaturen, so kann man sagen, enthalten ein 'Programm', das sie ab- arbeiten, und in dem, wie in allen Programmen, zukünftige Abläufe vorvollzogen, 8 strukturiert und in ihrem Ablauf festgeschrieben sind. Technik also verlängert die Zwecke, durch die sie zu einem vergangenen Zeitpunkt ihre Struktur erhalten hat, in die Zukunft hinein, mit dem Effekt, daß ihr materielles Gewicht neuen und eventuell veränderten Zwecken als ein Hemmnis entgegentritt. 6 Flusser benutzt diesen Begriff in der bewußten Ambiguität zwischen 'in eine Form bringen' und 'eine Information im Material festschreiben'. (Fl., Für eine Philosophie, a.a.O., S. 19) 7 Ein Begriff von Marcuse, der ebenfalls von der Vorstellung ausgeht, ein ehemals 'flüssiges', d.h. ver- fügbares, sichtbares und, zumindest der Möglichkeit nach, auch veränderbares Verhältnis sei nun ver- härtet, erstarrt, 'objektiviert' 8 Zum Begriff des Programms auf dem Terrain der Technik siehe Metz, Christian: Sprache und Film. Frankfurt/M. 1973, S. 208 und Flusser, a.a.O., S. 20-24) 232 Sobald man die filmische Technik also als die Vergegenständlichung bestimmter Sozialverhältnisse – verkürzt: des 'bürgerlich'-objektivierenden Blickes – erkennt, wird deutlich, daß der zunächst rein zeitliche Gegensatz zwischen dem Zeitpunkt der Festschreibung und dem Zeitpunkt, zu dem das Festgeschriebene wirksam wird, in einen unmittelbar politischen umschlägt, so daß die 'konservative Faktizität' der Technik tatsächlich eher den Kräften der Beharrung als denen der Veränderung zugute kommen wird. Auch für die Medientechnik also scheint das Diktum Kluges zu gelten, daß die in der Technik vergegenständlichte 'tote Arbeit', der 'lebendigen', verändernden zunehmend den Weg verstellt. Und vergegenwärtigt man sich nun, daß der Begriff der 'toten Arbeit' bei Marx im allgemeinen das Kapital bezeichnet, wird deutlich, daß der technische Charakter der Medien und ihre Tendenz zur Zentralisierung (in der doppelten Bedeutung von Kapi- talakkumulation und Zentralisierung der Äußerungskompetenz, d.h. der Fixierung des 'Publikums' in der Rolle ausschließlich der Rezeption) mit den konkreten in der Technik selbst inkorporierten Inhalten in enger Relation zu sehen sind. In diesem, und tatsächlich nur in diesem komplexen Sinn kann der Film eine 'bürgerliche Maschine' genannt werden. Die Maschinerie des Films ist ein Beispiel dafür, wie die technische Rationalität mit der Rationalität von Herrschaft verschmilzt. Der Weg, den der 'bürgerliche Blick' von der Botschaft, über den Code, bis hinein in die Maschinerie genommen hat, ist gleichzeitig ein Weg von der Sichtbar- in die Unsichtbarkeit, von der Oberfläche in die Struktur. Daß er sich unkenntlich macht, bis er – auf der Stufe der technischen Bilder durch keine Alternative mehr relativiert – schließlich als 'Natur' erscheint, läßt auch die Dimension von Herrschaft verschwinden, die ihm anhaftet. Sowohl seine Herkunft aus einem spezifischen, historisch situierten Machtverhältnis, als auch die objektive Funktion, die er innerhalb der Reproduktionszyklen dieser Macht übernimmt, scheinen verflüchtigt, gegenstandslos geworden zu sein. In Wahr- heit sind sie Gegenstand geworden – in der Maschinerie selbst 'objektiviert'. Die Verkennung also ist Teil der Machtmechanismen selbst. In diesem Sinne kann man sagen, daß bestimmte Inhalte der Technik (gesellschaftliche Voraussetzungen, Rahmenbedinungen und Folgen) in die Technik hinein vergessen werden. 9 Daß ihre subjektive 'Verfügbarkeit' abnimmt, ist nicht der Preis, sondern ein Telos, und daß die 'Verhärtung' zu verhärteten, gerade deshalb aber stabilen Verhältnissen führt, kommt einer gesellschaftlichen Formation entgegen, die ihre Verewigung offensichtlich für möglich hält. 9 'Telos' eines blind ablaufenden Prozesses, nicht einer von wem auch immer bewußt gesteuerten Ent- wicklung. 233 Bezogen allein auf den Film ist das so umrissene Bild vor allem im Maßstab verfehlt; weder ist er der Faktor, der Gedeih oder Verderb der Bürgerherrschaft entscheiden wird, noch ist – umgekehrt – die filmische Technik als ganze den skizzierten Katego- rien zu subsumieren. Technikgeschichte, und eben auch die Geschichte einzelner Medien aber wird sich darum zu kümmern haben, wie sie ihr Verhältnis zur 'Real- geschichte' modelliert, und sie wird sich mit der Tatsache konfrontieren müssen, daß die spezifische 'Blindheit' der Technik, ihr Anschein von 'Neutralität' und ihre Bindung an vordergründig übersichtliche ZweckMittel-Relationen einen konstitutiven Teil ihres Funktionierens darstellt. Mit dem Übergang von den materiell 'leichten' Signifikantensystemen der Schrift, der Sprache und der konventionellen Bildwerke hin zu den materiell 'schweren' Signifi- kanten der technischen Bilder und der signifizierenden Maschinen hat sich das Ver- hältnis zwischen der gesellschaftlichen Praxis und dem Denken – das diese Praxis ja zu reflektieren hätte – völlig geändert. Indem sich das Denken zunehmend an Werkzeuge, und damit an dieselbe Technologie gebunden sieht, die auch die Produktion (als den Kern der gesellschaftlichen Praxis) bestimmt, ist es nicht mehr allein die Beschränkung des Denkens selbst, seine Bindung an Traditionen, an das gesellschaftliche Wissen und an die Struktur der symbolischen Systeme, die seine 'Freiheit' und die 'Auffaltung des Möglichen' behindern, sondern die Struktur seiner Werkzeuge kommt als ein weiterer und besonders tückisch deter- minierender Faktor hinzu. Mit der Technisierung des Signifikanten also wird die wichtige Grenze unterlaufen, die das symbolische Probehandeln vom tatsächlichen und damit nicht mehr rever- siblen Handeln immer abgetrennt hatte. Wo sich Tonnen von Film oder Siliziumchips auf den Deponien zersetzen, hat das Denken seine Immaterialität und Idealität einge- büßt und ist nicht mehr nur mittelbar, wie Adorno schrieb, als Agentur der Planung und der Existenzangst, sondern nun unmittelbar und tatsächlich in die Naturbeherr- schung involviert. Die filmische Technik muß in diesem Horizont und auf jeder Stufe ihrer Entfaltung neu rekonstruiert werden. Das Denken, obwohl durch die Apparate selbst strukturiert, sieht sich damit vor die Aufgabe gestellt, immer wieder die eigenen Werkzeuge zu kritisieren, die in ihnen eingeschlossenen Gehalte (Entscheidungen und Wert- setzungen der Vergangenheit) wieder zu verflüssigen und auf diese Weise jenes Stück 'Zukunft' zurückzugewinnen, über das die in den Apparaten niedergelegten Program- me bereits disponiert haben. Den technologisch weniger avancierten Codes kommt dabei die wichtige Funktion zu, den avancierten gegenüberzutreten und deren Beschränkungen noch einmal hinter- schreiten zu können. Eine Kritik der Medientechnologien und der Codes – gedacht als eine Art empirischer Zweig der Erkenntniskritik – ist wahrscheinlich überhaupt nur in 234 der Art vorstellbar, daß vom Standpunkt eines Codes ein anderer, vom Standpunkt der Sprache die Bilder, vom Standpunkt der Bilder die Sprache, oder, wie Baudry es vor- geführt hat, vom Standpunkt der Malerei (via Sprache) die filmische Technik in den Blick genommen wird Eine solche Kritik wäre das Feld einer sehr grundlegend veränderten Semiotik des Films und einer Medientheorie, die sich gegenwärtig erst in sehr allgemeinen Umrissen abzuzeichnen beginnt. Kehrt man zu den konkreten Ergebnissen dieser Arbeit zurück, so ist als ein dritter Punkt noch einmal der filmische Raum anzusprechen. Der zentralperspektivische Raum, es wurde gesagt, etabliert vor allem und zunächst den Schein von 'Kontinuität'. Dem subjektiven Eindruck nachkonstruiert, den die 'objektive Welt' im menschlichen Auge hinterläßt, scheint er ohne Gliederung auszukommen oder, in der Plastizität des Bildes, die 'spontane' Selbstgliederung der Objektwelt nur zu protokollieren. Die Komplexität und die Autonomie des Abgebildeten scheinen auf diese Weise ebenso gewahrt wie die 'Freiheit' des Subjekts, die Objektseite nach eigenem Gutdünken zu erschließen. Die zentrale Leistung dieses räumlichen Codes also ist eine scheinbare Versöhnung von Subjekt-Ansprüchen und 'Objektivität', von Menschennähe und Wahrheit, zweier Pole also, die in der historischen Entwicklung weit auseinandergetreten sind. Der Scheincharakter dieser Versöhnung aber ist deutlich; er tritt hervor, sobald die Analyse die Anthropomorphismen benennt, die die filmische Raumdefinition mit sich schleppt. Die spezifische Hierarchie von Nähe und Distanz, die Unterscheidung in Vorder- und Hintergrund und die beruhigende Tatsache, daß der als 'unendlich' ge- dachte Systemraum als Horizont sich eben doch schließt – all dies stellt Gegebenheiten des begrenzten individuellen Erfahrungsraumes nach und läßt die 'neutrale' Raum- definition unmittelbar in 'Semantik' umschlagen. Es ist ein 'menschlicher', um nicht zu sagen 'menschelnder' Raum, den der Film 10 installiert; die bedrohliche Kälte des euklidischen Raums ist auf wenige Zeichen zurückgenommen; das irritierendste dieser Zeichen, der alle Linien an sich saugende 11 Fluchtpunkt, ist zudem meist durch Gegenstände im Vordergrund abgedeckt. Im filmischen Raum korrelliert 'nah' mit wichtig und 'fern' mit unwichtig; allein die Art und Weise der Flächenprojektion also drängt darauf hin, 'Objekte' der Beobachtung freizustellen, und das Bild (den Frame) selbst auf diese Objekte zu zentrieren. Diese Tendenz ist so völlig selbstverständlich, daß der Film- und Kunsttheoretiker Arnheim 10 der in der Physik bekanntlich überwunden, im Allgemeinbewußtsein aber noch nicht einmal vollständig installiert ist 11 Im Fall der Malerei war dies eine Kunstregel, im Fall der technischen Bilder eher eine Kompositions- gewohnheit, die nur dann durchbrochen wird, wenn dem Konvergieren der Parallelen ein ästhetischer Reiz abzugewinnen ist. Im Bildklischee etwa des sich entfernenden Bahngleises ist das Beunruhigende mühelos 'domestiziert' 235 12 seine Kompositionslehre mit 'Die Macht der Mitte' überschrieb, und daß gegen- wärtig Versuche angestellt werden, die Funktion der Objektverfolgung in die Technik 13 der Kamera selbst zu integrieren. Dennoch aber lohnt es, sowohl die Zentrierung als auch die Objektkonstitution ihrer Selbstverständlichkeit noch einmal zu entkleiden. Hatte Virilio darauf aufmerksam gemacht, daß die Zentrierung der Bilder aus der Zieltechnik sich herleitet, so tritt das latente Verhältnis der Überwältigung, das der Begriff des Objekts ohnehin konnotiert, deutlich hervor. Bei all dem ist es wichtig, daß sowohl die Nähehierarchie als auch die Tendenz zur Zentrierung der filmischen Apparatur eingeschrieben sind, daß sie durch die subjektive Intention der Regisseure also kaum hinterschritten werden können. Der aufgeweitete Vordergrund des zentralperspektivischen Raumes verlangt einzelne, als nah definierte Objekte, und der zusammengedrängte Hintergrund verlangt nach etwas, das sich zu- sammendrängen läßt. Und am wenigsten scheint der Mensch geeignet, sich 'zusammendrängen' zu lassen. Es gibt kaum ein Medium, das so völlig auf den Menschen fixiert ist wie der Film, und zumindest im Mainstreamkino (im narrativen Film) ist der Vordergrund des Bildes in fast 100% der Fälle von Menschen okkupiert. Dem 'anthropomorphen' Blick der Kamera entspricht ihre Leidenschaft für den Men- schen als Objekt. Als Stellvertreter-Heros beherrscht der Protagonist den filmischen Raum, und gleichzeitig bleibt er dem Blick des Zuschauers unterworfen. Via Film also ist 'der Mensch' vor allem mit sich selbst befaßt, auch insofern kann man vom Film als einem 'Spiegel' sprechen; die Dingwelt, die Stadt, die Landschaft und die Natur, geraten zur Kulisse, zu jener 'Um-Welt' eben, die selbst dieser gut gemeinte Begriff 14 noch auf den Menschen zentriert. Wahrscheinlich wären weder die Gesetzmäßigkeiten des filmischen Raumes, noch sein Anthropozentrismus überhaupt wahrnehmbar, wenn die moderne Kunst mit bei- 12 Arnheim, Rudolf: Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste. Köln 1983 (O., am.: 1982) 13 "Erwähnung verdient hier [...] auch die von zwei Franzosen erfundene Space-Kamera, die beim Filmen als automatisches Verfolgungssystem dient, mit dessen Hilfe man den spontanen Bewegungen der Schauspieler folgen kann [...]; ihre Grundlage ist die Plattform eines bei der Luftabwehr benutzten Radargeräts." (Virilio, Krieg und Kino, a.a.O., S. 187). Bekannter, im Grunde aber ebenfalls eine Me- chanik zur Verfolgung bewegter Objekte, ist die Autofocus-Technik, die in fast alle Spiegelreflex- kameras neueren Datums eingebaut ist. Die Mechanik nimmt an, daß das 'gemeinte' Objekt sich in der Mittelzone des Bildausschnittes befindet, und richtet den Fokus automatisch auf die entsprechende Ent- fernung ein. 14 "Absurd taucht die Idee von der zentralen Stellung des Menschen auf, wenn Hamm nörglerisch darauf besteht, daß Clov seinen Rollstuhl genau in die Mitte des Raumes schiebt." (Eintrag: S. Beckett: Fin de partie. In: Kindlers Literatur Lexikon. Bd. 5, München 1986, S. 3526) 236 den nicht radikal gebrochen hätte. Der Impressionismus, und dann vor allem der Kubismus haben den Renaissanceraum vollständig zerstört und eine Vielzahl multipler und hochkomplexer Raumcodes an seine Stelle gesetzt. Dies als eine reine Reaktion auf die Photographie anzusehen und zwischen den technischen Bildern und der künstlerischen Moderne ein Verhältnis friedlicher Ergänzung anzunehmen, wäre schon deshalb verfehlt, weil die Erosion des 'Realismus' und des zentralperspektivi- schen Raums bereits vor 1840, bei Turner etwa, eingesetzt hat; alle moderne Kunst vielmehr wird in ihrem Spannungsverhältnis, ihrer Frontstellung und ihrer Polemik gegenüber der Flut der technischen Bilder, und der Grundlage, auf der sie errichtet sind, analysiert werden müssen. Der Anthropozentrismus wurde vor allem in der Tendenz zur Abstraktion verabschie- det; weder ein homogener, das Bild organisierender Blick, noch ein menschlich' Ding auf Seiten des Abgebildeten versichern den Zuschauer seiner Stellung in der Welt, und sein Wiedererkennen, das aus den technischen Bildern nicht wegzudenken ist, wird systematisch destruiert. Die Fremdheit und die 'Menschenferne' der modernen Kunst bildet den Maßstab, an dem die technischen Bilder zu messen sind. Dadurch ergibt sich die absurde Situation, daß die Technik, die den menschlichen Urheber aus der Bildproduktion ja gerade herausgedrängt hat, auf anderer Ebene dessen Position zu garantieren sich anschickt. Die Technik also tritt als eine Stütze exakt dort ein, wo in der Kunst, in der Philosophie und, wesentlich praktischer, in der ökologischen Problematik das menschliche Selbstbewußtsein – eine bestimmte historische Ausprägung dieses Selbstbewußtseins – in die Krise geraten ist. Es sei noch einmal betont, daß mit filmischen Mitteln auch gegenläufige Wirkungen erzielt worden sind, Wirkungen, die denen der künstlerischen Moderne sehr nahe kommen. Dem kontinuierlichen, gleitenden Kamerablick aber, dem filmischen Raum und der spezifischen 'referential illusion' – drei Eigenheiten, die aus dem Kern des Mediums nur schwerlich wegzudenken sind – hatten solche Produkte gezielt entgegen- zuarbeiten. Der filmische Raum steht für einen historischen, und historisch-obsoleten Blick. Allein daß ihm die Flucht hinein in die Technik gelungen ist – die Technik als beson- ders stabile Stufe der 'Verhärtung', und als Instanz der technischen Reproduktion, d.h. einer rein quantitativ überwältigenden Bildermacht – hat diesen Blick bis heute über- dauern, und die in der Kunst entfalteten Alternativen souverän zurückweisen lassen. Der vierte und letzte Abschnitt soll deshalb dem Zuschauer gelten, der diesen Blick – angeboten oder aufgenötigt – übernimmt. Nun nämlich kann beschrieben werden, in- wiefern dieser Blick, seine 'Kontinuität' und seine spezifische Verkennungsstruktur dem Zuschauer 'dient'. Die Analyse ist relativ pessimistisch und sie widerspricht der verbreiteten Auffassung, der Film habe das kollektive Wahrnehmungsvermögen vor 237 allem erweitert. Die Analyse des filmischen Raums und die Konfrontation mit der parallel sich entwickelnden Kunst nämlich macht deutlich, daß der Film ebensosehr ein Moment der Beharrung, um nicht zu sagen der Reaktion enthält, das seine Wirkung bestimmt und das von den Zuschauern als das tröstende Komplement einer immer opaker werdenden Realität konsumiert wird. Seine einzigartige welterschließende Kraft, es wurde gesagt, ist an die Illusion der 'Transparenz', an die 'referential illusion' gebunden. Über diesen Realitätseffekt hinaus aber ist nun – noch einmal und in einem gegenüber Baudry und Comolli erweiterten Rahmen – der Subjekteffekt zu fokussieren, den der filmische Raum auslöst. Bei Adorno nämlich hatte sich als ein Kern dieses Subjekteffektes das Problem der Identität herausgestellt, der Identität, als einer historisch-relativen und in der Moderne zutiefst krisenhaften Kategorie sowohl auf der abstrakten Ebene des philosophischen Subjektbegriffes als auch auf der empirischen der individuellen psychischen Organi- sation. Dabei ist es vor allem ihr Zwangscharakter, der diese Identität in Frage stellt und der im Fortschreiten der Naturbeherrschung eine zunehmend destruktive Dynamik entfaltet. Der explodierenden Komplexität dessen, was der gesellschaftliche Konsens als 'Realität' anerkennen muß, stehen zunehmend desorientierte und verstörte Subjekte gegenüber, die sich in ihren konkreten Lebensvollzügen kaum stabilisieren können, denen aber dennoch abverlangt ist, sich zumindest soweit zu 'sammeln', daß sie ihre Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erfüllen. Daß die deutschen Faschisten die Identität beschwörende Formel 'Heil!' sich selbst und anderen zur 15 Pflicht gemacht haben, dürfte auf diesem Hintergrund alles andere als ein Zufall sein. Ein Medium also, das Kohärenz nicht nur auf der Seite der Objekte, der 'Welt' sug- geriert, sondern komplementär dazu dem Zuschauer selbst eine 'gesammelte', als singulär gedachte Position dem Material gegenüber anweisen kann, greift exakt am Punkt der Krise ein und kann, solange die Konstellation intakt bleibt, dazu beitragen, den Zweifel wie die Verzweiflung in Grenzen zu halten. Es ist, wie gesagt, eine wenig optimistische Analyse; in eigentümlich direkter, techni- scher Weise aber scheint der Film das Diktum Horkheimer/Adornos einzulösen, die Kulturindustrie habe die synthetisierende Funktion übernommen, die Kants Philo- sophie noch dem jeweils Einzelnen überantwortet hatte. Noch einmal, schon nicht mehr als Täter, sehr wohl aber im Sinne einer halluzinatorischen Verfügung, sieht der 15 Der Etymologie-Duden nennt zum Wortstamm 'heil' neben dem mittel- und althochdeutschen 'gesund, unversehrt, gerettet' auch das englische 'whole', das in der Bedeutung 'ganz, völlig, vollständig, gesund, [...]' die hier anvisierte Verbindung unmittelbar herstellt. (Duden, Bd. 7, Das Herkunftswörterbuch. Mannheim/Wien/ Zürich 1963, S. 256 (Hervorh. H.W.)) 238 Zuschauer sich in jene zentrale und narzißtisch überhöhte Position versetzt, die seit dem 'Tode Gottes' der Mensch okkupiert und mit wenig Glück auszufüllen versucht. Auf einer technisch-empirischen Ebene also hat die Medientheorie jene Kritik nach- zuvollziehen, die die Philosophie und in völlig anderer Weise die Kunst bereits vor- gedacht haben; "Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer (sic!), versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und da- 16 gegen die Sterne in Ruhe ließ." Der Maßstab, zweifellos, ist ein anderer; auch die Medientheorie aber wird die Hybris zu demontieren haben, die in den Medien-Maschinen festgeschrieben ist, und sie wird offenlegen müssen, wie weit die Medien in die Naturbeherrschung bereits involviert sind. Und dies umso mehr, als die Seite der Objekte, der der arrogante Gestus der Un- terwerfung gilt, als stumme Technik in den Erkenntnisprozeß bereits hineinregiert. Wenn es gegenwärtig darum geht, sich mit der Tatsache zu konfrontieren, daß die an- gemaßt-zentrale Position des Menschen in die ökologische Katastrophe führt, wenn es richtig ist, daß die antagonistische Subjekt-Objekt-Gegenübersetzung ein Herrschafts- verhältnis – und zwar ein in gefährlicher Weise illusorisches Herrschaftsverhältnis – impliziert, und wenn schließlich die Subjektproblematik, wie die Philosophie sie formuliert hat, als eine wie auch immer indirekte Reflexion dieser Konstellation inter- pretiert werden kann, dann muß, kurz gesagt, das Ziel sein, den Objekten zu ihrem Recht zu verhelfen. Kurioserweise kehrt die Argumentation damit zu einem Anspruch zurück, der im Film und den technischen Bildern bereits erfüllt zu sein schien; ging es doch bei Kracauer wie bei Bazin gerade nicht um Macht, sondern um 'Wahrheit', um den Film als ein Instrument der Erkenntnis und um eine neue Behutsamkeit den Dingen gegenüber; und dies gerade in Frontstellung zur Sprache, die der Objektwelt Gewalt anzutun und sie – Kern aller Sprachkritik – den eigenen Gesetzen zu unterwerfen schien. Die Apparatustheorien haben gezeigt, daß der Film die Objekte ebensowenig unver- formt passieren läßt. Seine Maschinerie und sein symbolisches System fallen damit der selben Kritik anheim, die die Sprache getroffen und in ihrer Substanz verändert hat, und es wird deutlich, daß der 'Wahrheit' der technischen Bilder selbst eine Macht- dimension eingeschrieben ist, zumindest solange ihre Instrumente und ihre Voraus- setzungen nicht ausreichend reflektiert werden. 16 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 1, Frankfurt 1974, S. 25 (Hervorh. H. W.) 239 Werden sie reflektiert, bricht das Privileg des Films und das Vertrauen in seine 'Transparenz' zusammen. Wie im Fall der Sprache bleibt ein Instrument zurück, das seinen Werkzeugcharakter nicht länger verleugnet, das die Welt ebensosehr verstellt wie erschließt, und das, opak und partial, mit den andern opaken und partialen Symbolsystemen konkurriert. Ein weiteres Mal sieht sich das die Welt erschließende Bewußtsein um einen 'Königsweg' gebracht und auf den mühseligen Aus- und Umbau des gesellschaftlichen Wissens zurückgeworfen. Aber haben sich zu einem emphatischen Begriff des Kinos nicht ohnehin nur die Cinephilen bekannt? Würde die Mehrheit der Zuschauer nicht darauf beharren, zwi- schen der Welt und den bewegten Bildern 'schon immer' eine saubere Grenze zu ziehen? Der exzessive Gebrauch der technischen Bilder, das einzigartige Vertrauen, das sie bis heute genießen, und die weitgehende Verdrängung der Sprache aus der Öffentlichkeit – all dies verweist darauf, wie dünn die Decke dieses Bewußtseins ist und wie ausgeprägt jene double-knowledge-Struktur, die der Begriff der 'Transparenz' sichtbar und der Theorie zugänglich gemacht hat. Die Überlegung der Apparatus-Autoren also greift in das Gleichgewicht ein, das das doppelte Bewußtsein zu stabilisieren versucht, stärkt die Seite des Zweifels und baut den Mythos der Bilder ein Stück – ein weiteres Stück? – weit ab. Zweifellos aber ist die Wirkung dieser Texte auf das enge Feld eines theoretischen Metadiskurses einge- schränkt. Die letzte Überlegung dieser Arbeit soll deshalb der Frage gelten, ob der Ent- mystifizierung auf dem Feld der Theorie Erfahrungen auch der Massenrezeption ent- sprechen, ob der Zweifel eine Chance allgemeinerer Durchsetzung hat, und ob der Theorie damit eine Basis nachgewiesen werden kann, die sie bislang nicht reflektiert. 5.2 Ausblick Wechselt man nun also von der Ebene der Theorie auf die der Massenrezeption hin- über, so lassen sich in der Tat Indizien für eine Entmystifizierung der technischen Bilder, und speziell des Films und der filmischen Apparatur ausmachen, Anzeichen, die eine langfristige Erosion des Bilderuniversums, seiner Faszination und seiner die Öffentlichkeit strukturierenden Macht möglich erscheinen lassen. Vom Film im Kino ist nun endgültig zum Dauer-'film' des Fernsehens überzugehen, zum einen weil die Massenrezeption bewegter Bilder sich inzwischen auf das Fernse- hen konzentriert, zum anderen, weil die entscheidenden Veränderungen sich im Fern- 1 sehen (und ausschließlich dort) ereignet haben. 1 Wenn die Argumentation sich nun dem Fernsehen zuwendet, ist damit nicht behauptet, daß Film und Fernsehen generell in gleichen Kategorien zu analysieren seien, oder daß etwa die Transparenzproble- matik in beiden Medien völlig parallel sich stellt. Auf dem relativ hohen Abstraktionsniveau, das die Frage nach der 'Zukunft der technischen Bilder' vorgibt, aber scheint es möglich, die augenfälligen Differenzen beider Medien für einen Moment zurückzustellen. 240 So ist es zunächst die Evolution der Technik selbst, die zur Entmystifizierung der bewegten Bilder beigetragen hat. Die Tatsache, daß inzwischen jeder dritte bundes- deutsche Haushalt über einen Videorecorder und damit über die Möglichkeit verfügt, Filmbilder zu speichern, wiederholt zu rezipieren, vor- und zurückzublättern, sie zu kopieren, Szenen zu isolieren und einzelne frames stillzustellen, hat das Verhältnis zu 2 diesem Medium tiefgreifend verändert. Die Bilder sind nicht länger flüchtig, sie entziehen sich nicht mehr, sondern sind, wie vorher nur die Schrift, dem subjektiven Zugriff zugänglich. Es ist verblüffend, daß der spielerische Umgang mit fertigen Produkten, die Neugier und der verstehende Nachvollzug damit jenen qualitativen Sprung bewirkt haben, den die Amateurproduktion – mit der Super-8-Kamera oder dem Camcorder auf die reine 'Reproduktion von Realität' weitgehend festgelegt – nur in seltenen Fällen hat errei- chen können. Video und Film sind zwei verschiedene Medien und die Grenzen der Verfügbarkeit werden spätestens in dem Moment deutlich, wo Videobilder geschnitten 3 werden sollen und der materielle Signifikant sich ein weiteres Mal in der Maschinerie verbirgt; trotz dieser Einschränkungen aber wird der durch die Technik bewirkte Bruch kaum rückgängig zu machen sein Als ein zweiter Faktor, der in dieselbe oder eine ähnliche Richtung wirkt, tritt die Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten hinzu. Die Ausweitung der Kanäle, das Überangebot an filmischem Material, passagere Rezeption, Switching, sowie die Nut- zung des Fernsehens als ein Hintergrundmedium für die verschiedensten häuslichen Tätigkeiten – all dies hat einen 'blasierten', oder im Benjaminschen Sinne 'testenden' Rezipienten entstehen lassen, der das Gebotene zwar nicht 'durchschaut', sich von dieser Tatsache aber in keiner Weise gefangennehmen läßt. Bereits die quantitative Zunahme des Konsums muß zu irreversiblen Veränderungen führen; sieht ein ausgesprochener Kinoliebhaber im Jahr zwischen 100 und 300 Kino- filme, so dürfte der durchschnittliche Fernsehzuschauer mit großer Selbstver- ständlichkeit auf die selbe Zahl kommen, die Features, Shows, Nachrichten und sonsti- ges nicht mitgerechnet. Bei einem Rezeptionsvolumen dieser Größenordnung, einem Rezeptionsvolumen, das auf dem Terrain der Literatur per se ausgeschlossen ist, wird zwangsläufig das einzelne Werk in den Hintergrund treten, die redundanten, wieder- kehrenden Strukturen aber im gleichen Maße deutlicher werden. 2 Zu den Details dieser Entwicklung siehe Zielinski, Siegfried: Zur Geschichte des Videorecorders. Berlin 1986 3 Zum Unterschied zwischen Film- und Videoschnitt siehe: Schumm, Gerhard: Der Film verliert sein Handwerk. Montagetechnik und Filmsprache auf dem Weg zur elektronischen Postproduction. Münster 1989 241 Es wurde gesagt, daß diese redundaten Strukturen es sind, die den Zeichencharakter der Bilder konstituieren. Es ist also mehr als unwahrscheinlich, daß Filmbilder auf alle Dauer hin als je konkrete einzelne gelesen werden; und in dem Maß, wie der Zuschauer Realbilder als die Aktualisierung bereits etablierter Muster erkennt, und das 'Bilderuniversum' als eine eigene Macht und einen eigenen Referenzrahmen in sein Rezeptionserlebnis einbezieht – in dem Maß wird der Weltbezug der Bilder an Bedeutung verlieren und das scheinbar doch naturgegebene Vertrauen in ihre referen- 4 tielle Kraft geringer werden. Auf der Seite der Produkte schließlich sind ebenfalls Entwicklungen zu beobachten, die darauf hindeuten, daß der Film und die bewegten Bilder auf einen sehr grundsätz- lichen Umbruch zusteuern. Wieder im Fernsehen, und diesmal im Bereich der Wer- bung und der Musikvideos haben sich ästhetische Mittel durchgesetzt, die das Realis- musversprechen der technischen Bilder in bisher nicht gekannter Weise beschädigen. 5 Die extrem schnellen Schnitte, Bildüberlagerungen und Überblendungen, der Einsatz von split-screenTechniken und vor allem die Einbeziehung von Schrift und graphi- schen Elementen stellen einen direkten Angriff auf den filmischen Raum, seine Kon- tinuität und seinen 'Naturcharakter' dar; der filmische Raum, so könnte man sagen, zerfällt im Stakkato disparater visueller Eindrücke und an die Stelle eines ruhigen, die Dinge, Personen und Handlungen auf der Leinwand verfolgenden Blicks tritt das blitz- schnelle Identifizieren im hohen Maße differenter Bildelemente. Das Wiedererkennen, das allem Bilderlesen zugrundeliegt, wird damit in einzigartiger Weise ausgestellt. Und je kürzer die Sequenzen sind, je heterogener ihre Herkunft und je unterschiedlicher die Anmutung des Bildmaterials, je weiter sich also die Darbie- tung von der Illusion eines geschlossenen (realen oder diegetischen) Raumes entfernt, desto deutlicher nähert sich der Bilderstrom seinem scheinbaren Gegenüber, der Schrift, und präziser: einer Bilderschrift an. Auch von den ägyptischen Hieroglyphen nimmt man an, daß sie einen Weg zuneh- mender Abstraktion und Konventionalisierung durchlaufen haben; es ist also durchaus vorstellbar, daß zwischen den Polen der 'Ikonizität' und der 'Arbitrarität' ein Konti- nuum entstehen könnte, eine Melange, die das Nie-Gesehene – zunehmend rar – mit hoch konventionalisierten Elementen auf derselben Ebene präsentiert, beide einem 4 Die Neigung des aktuellen Kinos, sich in Zitaten, Querverweisen und einer offenen Ironie den eigenen Konventionen gegenüber zu artikulieren, deutet darauf hin, daß auch die Produzenten bereits mit zunehmend 'abgebrühten' Zuschauern rechnen; ein besonders frappantes Beispiel für diese Tendenz liefert der Film 'Blue Velvet' von D. Lynch (USA 1986). 5 Gegenwärtig ist dieser Trend übrigens rückläufig, die Videos werden langsamer und die Realbilder spielen eine wieder größere Rolle. Oszillationen wie diese aber beschädigen die These nicht 2 42 6 einheitlichen 'Zeichenschicksal' unterwirft, und auf Seiten des Rezipienten eine ausgebaute Kompetenz der Entzifferung voraussetzen wird. Die so skizzierte Perspektive ist sicher spekulativ und greift zudem weit in die Zukunft vor. Bereits jetzt aber ist zu beobachten, daß die ästhetischen Innovationen das Jugend-Ghetto der Videoclips verlassen und in den Bereich des konventionellen, narrativen Films vordringen. Was dort als eine ästhetische 'Bereicherung', eine stärkere Betonung des Visuellen und als ein neuer Pool ästhetischer 'Mittel' erscheint, wird zutreffender als die Überschreitung einer bislang tabuisierten Grenze gelesen werden müssen. Die ästhetische Innovation ist durch die Redundanz (und die durch Redun- danz ausgelöste Langeweile) bereits erzwungen; sie ist also bereits Symptom einer Krise, die die Realbilder ergriffen hat, und die das Medium gegen seinen Widerstand über den Bereich der Realbilder hinaus-, und in den ganz anderen der graphischen und der quasi-graphischen Techniken hineindrängt. Die harten Schnitte und der Einsatz graphischer Gestaltungsmittel, es sei noch einmal gesagt, tasten die Realbilder in ihrer Substanz an. Wenn bewegte Realbilder mit Hilfe des Schnittcomputers 'geblättert' werden, als seien sie aus Papier, oder wenn der Schnittrhythmus nicht mehr den Bildern, sondern der begleitenden Musik gehorcht, so sind damit Zeichen installiert, das auf das Gemachte dieser Bilder, und vom Abgebil- deten auf den Modus der Abbildung zurückverweisen. Von einem Verbergen der Ma- schinerie und ihres vermittelnden Charakters also wird kaum mehr gesprochen werden können, der Anspruch auf 'Transparenz' wird zurückgenommen und der Zei- chencharakter des Produkts liegt offen zutage. Will man summieren, so konvergieren alle drei genannten Tendenzen darin, daß sie die Abhängigkeit der Bilder von der Konvention und vom Bilderuniversum als einem in sich geschlossenen symbolischen System Schritt für Schritt auch der alltäglichen Filmwahrnehmung zugänglich machen. Was die Theorie also nur mit relativem Auf- wand plausibel machen kann, hat tatsächlich bereits die Massenrezeption erreicht und tritt dort, wenn auch indirekt, als nachlassende Faszination, Redundanzerlebnis oder 'Blasiertheit' in Erscheinung. Zum Bewußtsein hält diese Erfahrung einstweilen noch eine gewisse Distanz; viel- leicht aber braucht es dieses Bewußtsein nicht, vielleicht wird, wenn das Vertrauen in ihre referentielle Kraft einmal unterminiert ist, das Schicksal der technischen Bilder auf anderer Ebene entschieden, vielleicht also neigt sich die Ära der Realbilder tatsäch- lich ihrem Ende zu. Auch dies ist Spekulation. Für die hier vorliegende Arbeit bedeutet bereits die Teilauflösung des filmischen Raums, daß der Text quasi im Rückblick geschrieben ist; als die Teilanalyse eines Mediums und eines symbolischen Systems, das seinen Zenit 6 noch einmal der Begriff Langer/Lorenzers 243 überschritten und seine 'Transparenz' eingebüßt hat, wie die Sprache zweihundert Jahre zuvor, gegen Ende der zweiten von Foucault postulierten Episteme. Ein Medium, das ein vergleichbares Vertrauen gewinnen könnte wie die technischen Bilder, das eine ähnlich zentrale Funktion für die Öffentlichkeit zu übernehmen fähig wäre, und eine vergleichbar sichere und mühelose Welterschließung verspräche, ist gegenwärtig nicht in Sicht; als das nächste große mediale System nach den Bilder- maschinen werden die Computer sich durchsetzen, und mit ihnen eine völlig neue, völlig andere und völlig eigene Raumdefinition. Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt 1982 (O.: 1966) Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln 1985 Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. (Anmerkungen für eine Untersuchung). In: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin 1977, S. 108-168 (O., frz.: 1970) Anderson, Joseph: Anderson, Barbara: Motion Perception in Motion Pictures. 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