LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Überlegungen zu einer praxeologischen Rezeptionsforschung V O N R A P H A E L A K N I P P 1. EINLEITUNG Die Fokussierung auf Medienpraktiken erlangt innerhalb der Medien- und Kultur- wissenschaften zunehmende Aufmerksamkeit. Vermittelt wird diese Entwicklung insbesondere durch praxeologische Ansätze aus der Soziologie und der qualitati- ven Sozialforschung, den angloamerikanischen Media and Cultural Studies sowie der noch jungen Disziplin der Medienethnografie.1 So unterschiedlich die ver- schiedenen Richtungen die Begriffe ›Medien‹, ›Praktiken‹ und ›Medienpraktiken‹ bisweilen perspektivieren, lässt sich als ein gemeinsamer Nenner die Annahme herausstellen, dass mediale Phänomene nicht allein als textuelle oder diskursive Konstrukte, sondern eingebettet in Handlungsprozesse bzw. spezifische, alltägli- che ›Gebrauchskontexte‹ verstanden und untersucht werden müssen.2 Solche praxeologischen Ansätze der Erforschung von Medien und medienbezogenen Phänomenen stehen auch im Fokus der am Siegener DFG-Graduiertenkolleg »Lo- cating Media« angesiedelten Arbeiten in ihren jeweils unterschiedlichen fachspezi- fischen Ausprägungen.3 Als Literaturwissenschaftlerin möchte ich im Rahmen dieses Beitrages der Frage nachgehen, inwiefern sich die praxeologische Perspektive, die ihren Fokus auf konkrete Akteure und Praktiken im Umgang mit Medien, hier literarischen Texten, richtet, auch für literaturwissenschaftliche Forschungen nutzbar machen lässt.4 Konkret zielen meine Überlegungen auf ein spezifisches Teilgebiet der Lite- 1 Grundlegend u. a. Couldry: »Theorising Media as Practice« (s. dazu auch Punkt 2); Schatzki: »The Site of the Social«; Schatzki u. a.: »The Practice Turn in Contemporary Theory«; Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«; Ben- der/Zillinger: »Handbuch der Medienethnographie«. 2 Vgl. dazu Bender/Zillinger: »Handbuch der Medienethnographie«, S. XXX: »Medien werden erst in ihrem Gebrauch zu Medien […] und erst im dichten Kontext von Medi- enpraktiken verständlich.« 3 Exemplarisch etwa Dreschke u. a.: »Reenactments«; Abend: »Geobrowsing«; Richterich: »Geomediale Fiktionen«. 4 Zur Praxeologie und ihrer interdisziplinären Reichweite vgl. auch Elias u. a.: »Praxeolo- gie«. In der Einleitung (S. 3) heißt es: »Entwickelt hat sich die Praxeologie aus einem Strang der Kulturtheorien, die sich von einem strukturalistischen, normativen Kulturver- ständnis abwenden und stattdessen die praktische Handhabung und Produktion von Kul- tur im Handeln der Akteure in den Vordergrund stellen.« NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIKEN RAPHAELA KNIPP raturwissenschaft: die Leser_innen- und Rezeptionsforschung.5 Meine These lau- tet, dass sich ein praxeologischer Ansatz für diesen Bereich als besonders produk- tiv erweisen kann, weil dadurch Aspekte der Literaturrezeption untersucht wer- den können, die im Kontext tradierter hermeneutischer Ansätze wie etwa der Rezeptionsästhetik (siehe Punkt 2) ein blinder Fleck bleiben. Die nachstehenden Ausführungen gliedern sich dazu in drei Schritte: Gemes- sen an dem gestiegenen Interesse an ›Praktiken‹ bzw. ›Medienpraktiken‹ in be- nachbarten Disziplinen, spielen die Begrifflichkeiten innerhalb der Literaturwis- senschaft bislang kaum, allenfalls eine marginale Rolle.6 In einem ersten Schritt (Punkt 2) ist daher zunächst eine begrifflich-konzeptuelle Annäherung vorzuneh- men: Was kommt überhaupt als Forschungsgegenstand in den Blick, wenn der Schwerpunkt auf Praktiken der Literaturrezeption liegt und welche Rolle spielen Medien dabei? Welches theoretisch-methodische Angebot geht mit der praxeolo- gischen Fokussierung einher? In einem zweiten Schritt (Punkt 3) werden aufbau- end auf exemplarisch skizzierten Forschungsbeispielen Koordinaten einer praxeo- logischen Analyse gegenwärtiger Rezeptionsphänomene aufgezeigt. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum zum sogenannten »Shared Reading« (Punkt 3.1) sowie meine eigenen Forschun- gen zur Praktik des Literaturtourismus (Punkt 3.2). Punkt 4 fasst die Erkenntnisse der Punkte 2 und 3 in einem abschließenden Fazit zusammen. 5 Diese Konturierung des Gegenstandsbereiches mag als eine allzu vorschnelle Eingren- zung des Feldes ›literaturbezogener Praktiken‹ erscheinen, heuristisch ist sie jedoch notwendig, um meinen spezifischen Blickwinkel auf das Thema deutlich zu machen: Es geht mir folgend primär um literaturverarbeitende, d. h. dem literarischen ›Text‹ nach- gelagerte Praktiken im Umgang mit Literatur. Genauso spannend wäre es, die Frage der Anschlussfähigkeit von praxeologischen Ansätzen und Literaturforschung von den Prak- tiken des Schreibens bzw. der Literaturproduktion her aufzufächern. Für diese Perspek- tive sei auf gelungene Arbeiten jüngeren Datums verwiesen, z. B. von McGurl: »The Program Era«, der den Einfluss von Creative Writing-Programmen auf die amerikanische Nachkriegsliteratur untersucht oder in historischer Perspektive Spoerhase: »›Manuscript für Freunde‹«, der sich mit der Zirkulation und Bearbeitung von Manuskriptdrucken als Vorstufen zum literarischen Werk in Autorenkreisen um 1800 befasst. 6 Gleichwohl lassen sich vereinzelt Tendenzen beobachten, die auf ein gesteigertes Inte- resse an Praktiken bzw. praxeologischer Forschung innerhalb der Literaturwissenschaft schließen lassen. Als besonders fruchtbar erweisen sich z. B. die Überlegungen von Ste- phan Michael Schröder und Joachim Grage (vgl. Schröder/Grage: »Performativität und li- terarische Praktiken«) sowie von Wolfgang Behschnitt (vgl. Behschnitt: »Literatur als Praxis«), die im Kontext des DFG-geförderten Projektes »Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900« (2010-2013) entstanden sind. Literarische Praktiken werden dabei als ein bestimmtes Bündel konkreter Aktualisierungen von Literatur begriffen, die von den handelnden Akteuren als ›literarisch‹ reflektiert werden. NAVIGATIONEN 96 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN 2. THEORETISCHE ANNÄHERUNGEN In seinem 2004 erschienenen forschungsprogrammatischen Artikel »Theorising Media as Practice« spricht Nick Couldry von einem »new paradigm of media re- search that understands media, not as texts or structures of production, but as practice.« Als Leitfrage dieses neuen ›Forschungsparadigmas‹ formuliert Couldry: »What, quite simply, are people doing in relation to media across a whole range of situations and contexts?«, bzw. an anderer Stelle differenzierter: »[…] what types of things do people do in relation to media? And what types of things do people say in relation to media [Hervorh. R.K.]?«7 Couldry, dessen Wurzeln unter ande- rem in den angloamerikanischen Audience Studies liegen,8 darf als einer der Pio- niere der aktuellen Diskussion um Medienpraktiken gelten. Gegen die Betrach- tung von Medien als ›Texten‹, ›Inhalten‹ oder ›Strukturen‹ stellt er die einfache Frage: Was ›machen‹ Menschen mit Medien? Couldry legt damit den Fokus ers- tens auf den ›Gebrauch‹ von Medien innerhalb konkreter kultureller und sozialer Zusammenhänge (»across a whole range of situations and contexts«) sowie zwei- tens auf die wechselseitige Performanz von Medien und medienbezogenen Prak- tiken. So eingängig Couldrys Ansatz, Medien »not as texts […], but as practice« zu denken, auf den ersten Blick erscheint, darf seine Brisanz andererseits allerdings nicht unterschätzt werden. Aus literaturwissenschaftlich-philologischer Perspekti- ve betrachtet, muss Couldrys programmatischer Vorschlag, den analytischen Fo- kus von Medien als ›Texten‹ auf die kulturelle und soziale Praktik im Umgang mit Medien, hier literarischen Texten, zu verlagern, zweifelsohne zunächst provokativ wirken. Die Literaturwissenschaften verstehen sich nun einmal, um es ganz klar zu sagen, primär als Textwissenschaft. Das präferierte ›Medium‹ bzw. der zentra- le Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse sind Texte. Dies gilt bezeich- nenderweise überwiegend auch für die Rezeptionswissenschaft als Teildisziplin li- teraturwissenschaftlicher Forschung. So begreift sich etwa die für leser_innen- und rezeptionsorientierte Literaturtheorien nach wie vor grundlegende und ka- nonische Rezeptionsästhetik, die im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Arbeiten von Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß repräsentiert wird,9 in erster Linie als eine Theorie und Analyse der Ästhetik und Wirkung literarischer Texte und eben nicht als ›Leser_innen-‹ oder ›Praktikenanalyse‹. Obgleich Iser und Jauß zwar den Interaktionscharakter von literarischen Texten und Leser_innen beto- nen, halten sie am Text als zentralem Untersuchungsobjekt und der Textanalyse als grundlegender Arbeitspraxis fest. Dies wird besonders deutlich in Isers 1976 publizierten Schrift Der Akt des Lesens, in der Leser_innen nicht als empirische, 7 Couldry: »Theorising Media as Practice«, S. 115, 119 u. 121. 8 Vgl. u. a. Couldry: »The Place of Media Power«. 9 Grundlegend Jauß: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«; Iser: »Der Akt des Lesens« (folgend zitiert nach der 2. Aufl.) sowie Iser: »Der implizite Le- ser«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 97 RAPHAELA KNIPP mit Texten ›handelnde‹ Subjekte konzipiert werden, sondern als Strukturelement des Textes: »Folglich ist der implizite Leser […] in der Struktur der Texte selbst fundiert«, so Iser. An anderer Stelle heißt es noch deutlicher: »Die Leserrolle be- stimmt sich als eine Textstruktur […].«10 Isers Ansatz liegt damit eine Vorstellung von Literaturrezeption zugrunde, deren Voraussetzung der gelesene Text ist. In- dem die Leserin/der Leser ›im‹ Text verortet wird, kann der Rezeptionsprozess losgelöst von ›außertextuellen‹ Faktoren, z. B. sozialer oder kultureller Herkunft, betrachtet werden.11 Man muss kritisch fragen – und dies ist bisweilen auch mit Nachdruck ge- schehen, z. B. in den Arbeiten der sogenannten »Empirischen Literaturwissen- schaft« oder den sozialethnografischen und literaturanthropologischen Studien von Janice Radway, Elizabeth Long oder Martin Sexl –,12 ob und inwieweit das re- zeptionsästhetische Modell überhaupt (noch) zeitgemäß und geeignet ist, um lite- rarische Rezeption(en) in ihrem idiosynkratischen und vor allem in ihrem empiri- schen Charakter (siehe dazu unten ausführlicher) adäquat abzubilden und zu er- fassen. Daran soll auch im Folgenden angeknüpft und eine Alternative zum ›Text- paradigma‹ der Rezeptionsästhetik fokussiert und erprobt werden. Ausgehend von Couldry schlage ich vor, das programmatische Angebot, »media, not as texts […], but as practice« zu fassen, weniger als eine Provokation zu betrachten, denn vielmehr als eine Chance bzw. ein ›Denkgeländer‹ für eine literaturwissenschaftli- che Leser_innen- und Rezeptionsanalyse, die andere Akzente setzt. Dazu wird der Untersuchungsfokus von den Texten hin zu konkreten Leser_innen und ihren Praktiken im Umgang mit Literatur verschoben. Bevor ich dazu zwei konkrete Beispiele betrachte, folgen zunächst einige weiterführende und die Beispiele vor- bereitende theoretisch-methodische Überlegungen: Was bedeutet es genau, lite- rarische Rezeption(en) unter dem Blickwinkel der Praktiken zu betrachten? Wel- che Rolle spielen Medien und Medialität dabei? Und wie unterscheidet sich bzw. erweitert eine solche Perspektivierung den textzentrierten Ansatz der Rezepti- onsästhetik? 10 Iser: »Der Akt des Lesens«, S. 60f. 11 Isers Ansatz besitzt natürlich weitreichendere Implikationen, als sie hier dargestellt wer- den können. Mir geht es lediglich darum, sein Konzept von Literaturrezeption als Aus- gangspunkt und Kontrastfolie zu einem praxeologischen Ansatz ins Feld zu führen. Für eine gelungene Auseinandersetzung mit Iser jüngeren Datums vgl. z. B. Strasen: »Rezep- tionstheorie«. 12 Exemplarisch etwa Zyngier u. a.: »Directions in Empirical Literary Studies«; Hauptmei- er/Schmidt: »Einführung in die Empirische Literaturwissenschaft« (die Arbeiten der so- genannten »Empirischen Literaturwissenschaft« sind meist jedoch eher ›quantitativ‹ aus- gerichtet). Für qualitative Rezeptionsstudien vgl. Radway: »Reading the Romance«; Long: »Book Clubs«; Sexl: »Literatur und Erfahrung«. NAVIGATIONEN 98 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Literatur(rezeption) als (Medien-)Praktik »[…] Lesen als Praxis [gewinnt] stets in bestimmten Gesten, Räumen und Ge- wohnheiten Gestalt […]«, erinnern Roger Chartier und Guglielmo Cavallo in ihrer Einleitung zur Aufsatzsammlung Die Welt des Lesens von 1995.13 Die Autoren machen darin auf zwei wichtige Aspekte aufmerksam: Erstens, Lesen bzw. Litera- turrezeption ist nicht nur ein hermeneutisch-kognitiver Vorgang, sondern eine konkrete körperliche und verkörperte Praktik,14 die, zweitens, immer in be- stimmte soziokulturelle und materiell-mediale Kontexte eingebettet ist. Dies muss vor dem Hintergrund des gerade Gesagten umso deutlicher betont werden, weil die rezeptionsästhetischen Studien eben genau diese Aspekte überwiegend ausblenden. Für gewöhnlich sind nicht die konkreten Leser_innen und ihre (Lek- türe-)Praktiken, d. h. der jeweilige ›Gebrauchszusammenhang‹ der Textrezeption Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse, sondern der literarische Text als solcher, gedacht als ein immaterielles und von den vorstehend genannten Para- metern weitgehend unabhängiges Objekt. Ob – und vor allem auch wie – wir als Leser_innen beispielsweise Thomas Manns Roman Buddenbrooks als gedrucktes Taschenbuch oder E-Book konsumieren, individuell oder in der Gruppe (z. B. in einem Literaturkreis), im Garten oder in der Bahn, leise oder laut (vor-)lesen, den Roman als Literaturverfilmung oder Hörbuch rezipieren oder ihm im Rahmen ei- ner Literaturausstellung oder szenischen Lesung begegnen – oder wie wir als Le- ser_innen überhaupt bestimmte Lesestoffe auswählen – spielt für rezeptionswis- senschaftliche Untersuchungen meist weniger eine Rolle als etwa die sprachliche, semantische oder ästhetisch-narrative ›Machart‹ des Textes und ihre möglichen Wirkungen auf Leser_innen. Um nicht missverstanden zu werden, soll es mir nicht darum gehen, den lite- rarischen Text in seiner sprachlichen und ästhetischen Dimension zu verabschie- den. Meine These lautet allerdings, dass es (a) nicht ausschließlich nur ›Texte‹ bzw. textimmanente Faktoren sind, die Rezeptionen determinieren, und (b) die Rezeptionsforschung ganz entscheidende Aspekte vernachlässigt, insofern sie die Praktiken sowie die Medien, mit und in denen Leser_innen literarischen Texten alltäglich begegnen, außen vor lässt. Literaturrezeption als (Medien-)Praktik zu denken, heißt damit also zum einen, sich die ›Materialität‹ literarischer Kommuni- kation und Rezeption bewusst zu machen.15 Wie die Aufzählung oben zeigt, kann dies z. B. bestimmte Technologien oder Dinge als Textträger und Lesemedien einschließen, aber auch (alltägliche) Orte und Situationen der Rezeption sowie – und gerade – die Körper der Leser_innen selbst. Man muss hier allerdings ergänzen, dass im Zuge medien- und kulturwissen- schaftlicher Neuorientierungen innerhalb der Literaturwissenschaft die Frage nach 13 Chartier/Cavallo: »Die Welt des Lesens«, S. 12. 14 Zum Lesen als körperlicher bzw. verkörperter Praktik vgl. insb. Schön: »Der Verlust der Sinnlichkeit«. 15 Vgl. dazu auch Gumbrecht/Pfeiffer: »Materialität der Kommunikation«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 99 RAPHAELA KNIPP den unterschiedlichen medialen und kulturellen Vermittlungs- und Rezeptions- formen von Literatur in den letzten Jahren durchaus verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hat. Dem geht die Erkenntnis voraus, dass sich Literaturrezeption eben nicht nur im Medium des ›Textes‹ vollzieht, sondern sich auf eine Vielzahl an Me- dien und medienkulturellen Formen im Umgang mit Literatur verteilt. So haben sich inzwischen etwa digitale Lesemedien wie E-Books, Hörbücher, Literaturver- filmungen, multimediale Formate wie Literaturausstellungen, Lesungen oder Lite- raturfestivals, aber auch institutionalisierte Formen wie Dichterhäuser und Litera- turmuseen als Gegenstände literaturwissenschaftlicher Forschung – mehr oder weniger – etablieren können.16 Häufig ist dabei aber Folgendes zu beobachten: Meist wird diesen medienkulturellen Formen literarischer Kommunikation und Vermittlung mit ganz ähnlichen Konzepten und Methoden begegnet, wie es die Rezeptionsästhetik im Hinblick auf ihren Gegenstand ›Text‹ tut. Fokussiert wer- den vor allem medienästhetische und medienkomparatistische Aspekte (z. B. Fra- gen der Intermedialität). Das Augenmerk richtet sich weiterhin hauptsächlich auf›Einzelmedien‹. Man vergleicht nun nicht mehr Texte mit Texten, sondern Texte mit z. B. auditiven und visuellen Codes anderer Medien, die literarische In- halte auf je spezifische Weise vermitteln. Damit ist aber wiederum wenig gesagt über den ›Gebrauch‹, d. h. die tat- sächlich stattfindenden und die je nach medialem bzw. kulturellem ›Setting‹ variie- renden (alltäglichen) Aneignungsprozesse von Literatur. Ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, welche unterschiedlichen Rezeptionserfahrungen und Rezepti- onsbedürfnisse Leser_innen dabei jeweils generieren und bearbeiten. Wenn hier also die Rede von einer praxeologischen Perspektive ist, so genügt es eben gerade nicht, einzelne Medien, in denen Literatur ›in Erscheinung‹ tritt, zu definieren und voneinander abzugrenzen. Vielmehr – und darauf zielt letztlich auch Couldrys Ein- lass – müssten die konkreten Praktiken, d. h. das ›Handeln‹ mit Literatur in seinen unterschiedlichen medialen Modi und sozialen Kontexten in den Fokus der Auf- merksamkeit rücken. Um meine bisherigen Überlegungen zu resümieren, lässt sich hinsichtlich der Frage nach literaturbezogenen Praktiken und der Rolle, die Medien dabei zukommt, damit zweierlei festhalten: Erstens steht nicht mehr pri- mär, wie noch bei der Rezeptionsästhetik, die Frage im Zentrum, welches Wir- kungspotenzial literarische Texte möglicherweise entfalten, sondern was mit Lite- ratur – ganz konkret – in einem bestimmten Rezeptionszusammenhang ›gemacht‹ wird.17 Es geht also um die auf den Text gerichteten (Alltags-)Praktiken von Le- 16 Exemplarisch sei auf Binczek u. a.: »Handbuch Medien der Literatur« verwiesen, das den aktuellen Forschungsstand umfangreich abbildet und Einzelbeiträge u. a. zu den hier ge- nannten Formaten enthält. 17 Vgl. dazu auch Behschnitt: »Literatur als Praxis«, S. 119: »Im Mittelpunkt steht nicht mehr in erster Linie die Aufgabe, die Gestalt eines Textes zu analysieren und seine Be- deutungen zu erschließen, sondern die literarische Praxis – die Frage, was in einem lite- rarischen Handlungszusammenhang mit Texten und mit den Beteiligten geschieht«. NAVIGATIONEN 100 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN ser_innen.18 Zweitens wird die Frage relevant, wie sich Literatur in diesen Prakti- ken auf je spezifische Weise vermittelt und welche ›Medien‹ – Zeichen, Körper, Dinge, Orte etc. – dabei zum Einsatz kommen. Ersichtlicherweise muss sich die Literaturwissenschaft mit einer solchen pra- xeologischen Perspektive auf Literaturrezeption zunächst schwertun – auch und gerade, weil es bislang nur wenige Arbeiten gibt, auf die sich berufen werden kann. Erst in jüngerer Zeit lässt sich ein, allerdings bisher eher randständiges, Inte- resse an praxeologisch orientierten Fragestellungen und Herangehensweisen im Kontext der Literaturforschung beobachten. So formuliert etwa Anja Johannsen in einem pointierten Essay ein »Plädoyer für eine praxeologische Gegenwartslitera- turwissenschaft«, deren Ziel es sein müsse, »Literaturproduktion sowie ihre - distribution und -rezeption als zu erforschende kulturelle Praxis und als soziales Handeln [Hervorh. R.K.]« begreifbar zu machen.19 ›Praxeologisch‹ versteht sich auch der ebenfalls von Johannsen mitherausgegebene Band Doing Contemporary Literature, in dessen Einleitung die Autor_innen sich dafür aussprechen, »Texte verstärkt in ihren Kontexten zu lesen« und – ganz im Sinne Chartiers (siehe oben) – darauf verweisen, dass »Literatur […] im Zusammenspiel verschiedener Akteu- re, Praktiken und Materialitäten [entsteht und wirkt]«.20 In beiden Publikationen geht es jedoch weniger um konkrete Leser_innen und ihre Rezeptionspraktiken als vielmehr um einen programmatischen Fokus, dessen konkrete Umsetzung in weiten Teilen noch aussteht. Dies dürfte vor allem auch auf die forschungsprakti- schen Herausforderungen zurückzuführen sein, die sich mit praxeologischen Vor- haben verknüpfen. Denn die Frage nach Praktiken im Umgang mit Literatur ver- weist auf methodischer Ebene zwangsläufig auf eine ›empirische‹ Herangehens- weise bzw. ein ›ethnografisches‹ Methodenrepertoire. Literaturwissenschaft- ler_innen, die es primär gewohnt sind, mit Texten zu arbeiten, müssten sich die- ses erst einmal aneignen. Eine besondere Anforderung stellen dabei auch die ver- änderten Datenkorpora dar, die – wie die folgenden Beispiele zeigen – nicht mehr nur aus Texten, sondern auch aus Beobachtungen, Interviews, Audioauf- nahmen etc. bestehen.21 Dass eine solche an literaturbezogenen Praktiken inte- 18 Vgl. dazu auch Habscheid u. a.: »Alltagspraktiken des Publikums«. 19 Johannsen: »To pimp our minds sachwärts«, S. 181. Johannsen fokussiert allerdings we- niger Leser_innenpraktiken als vielmehr literaturproduzierende und -distribuierende In- stanzen wie Autor_innen, Buchmarkt, Verlage etc. 20 Bierwirth u. a.: »Doing Contemporary Literature«, S. 9-19, hier 11 u. 13. Für eine ›pra- xeologische Wende‹ in den Literaturwissenschaften plädieren auch Martus/Spoerhase: »Praxeologie der Literaturwissenschaft«. Die Autoren haben dabei jedoch in erster Linie die Arbeits- und Interpretationspraktiken von Literaturwissenschaftler_innen im Blick. 21 Dies registriert auch Martin Sexl, der eine empirisch-ethnografische Studie zu Lektüre- praktiken von Krankenschwestern im Kontext ihres Berufsalltags durchgeführt hat: »Die Frage nach dem Zweck von literarischen Texten in alltäglichen oder alltagsnahen Lektü- resituationen wird zwar immer wieder erhoben […], die Konsequenz daraus, nämlich der Gang in die Empirie, scheint allerdings viele Literaturwissenschaftler/innen abzu- schrecken, und dies nicht nur aus Gründen des in der Literaturwissenschaft ungewohn- NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 101 RAPHAELA KNIPP ressierte Rezeptionsforschung aber funktionieren und wie sie im Einzelnen ausse- hen kann, möchte ich nun anhand von zwei Beispielen aus der Forschungspraxis näher skizzieren. 3. ZWEI FORSCHUNGSBEISPIELE Nachstehend sollen die bisher nur theoretisch gebliebenen Ausführungen mit Blick auf zwei exemplarische Untersuchungsbeispiele und -felder konkretisiert und dabei, mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen, Dimensionen einer praxeo- logischen Analyse gegenwärtiger Phänomene der Literaturrezeption aufgezeigt werden. Die Beispiele stammen aus dem Umfeld eigener Forschungen und wur- den ausgewählt, weil sie besonders deutlich zeigen, wie eine praxeologisch ausge- richtete Literaturforschung, welche die Praktiken der Akteure in den Fokus rückt, den Blick auf Rezeptionsfragen erweitern kann. 3.1 SHARED READING: BEYOND THE BOOK-PROJEKT Im ersten Forschungsbeispiel geht es um das sogenannte »Shared Reading«, wo- runter Praktiken des kollektiven, gemeinsamen Rezipierens von Literatur ver- standen werden können. Literaturgeschichtlich betrachtet handelt es sich dabei um kein neues Phänomen,22 welches jedoch in der Gegenwart, befördert durch audiovisuelle (z. B. Fernsehen) sowie digitale soziale Medien, ein bemerkenswer- tes Revival erlebt.23 Konkret gehe ich auf Studien der Literatur- und Kommunika- tionswissenschaftlerinnen Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo ein, die sich mit dieser spezifischen Form der Literaturrezeption im Rahmen ihres Projektes Beyond the Book: Mass Reading Events and Contemporary Cultures of Reading in the UK, USA and Canada zwischen 2005 und 2008 auseinandergesetzt haben.24 Das ten Einsatzes von Untersuchungsmethoden aus der empirischen Sozialwissenschaft – die eine methodische Zugangsweise und eine spezifische Form des Arbeitsaufwandes erfor- dern, die philologischen Fächern in der Regel fremd sind –, sondern vor allem deshalb, weil die ›Objekte‹ der Forschung nicht Texte, sondern konkrete Leser/innen sind.« Sexl: »Lesend die Welt erfahren«, S. 159. Vgl. dazu ferner auch meine Ausführungen in Knipp: »Vom Text zum Feld?«. 22 Für einen historischen Überblick mit Fokus auf den US-amerikanischen Raum vgl. Long: »Book Clubs«; für den deutschsprachigen Raum vgl. z. B. Seibert: »Der literarische Sa- lon«. 23 Dies gilt insbesondere für den angloamerikanischen Raum (z. B. durch die TV- Sendungen und den Online-Buchclub von Oprah Winfrey oder Literaturplattformen wie www.librarything.com), auf den sich die folgenden Ausführungen beziehen. Inzwischen lassen sich aber auch im deutschsprachigen Raum ähnliche Entwicklungen beobachten (siehe z. B. die Webseite www.lovelybooks.de). 24 Vgl. insb. Fuller/Rehberg Sedo: »Reading Beyond the Book« sowie dies.: »A Reading Spectacle for the Nation«. Das Projekt war eine Kooperation der University of Birmin- gham (UK) und der Mount Saint Vincent University (Halifax, Nova Scotia). Für weitere NAVIGATIONEN 102 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN empirische Feld, in dessen Kontext die Autorinnen Formen des »Shared Reading« untersuchen, sind sogenannte »Mass Reading Events« (MREs). Dabei handelt es sich um ein relativ junges, im angloamerikanischen Raum aber umso populäreres Phänomen, wobei die Bezeichnung »mass« differenziert zu betrachten ist. Es geht um lokale, zum Teil auch auf nationaler Ebene angesiedelte Literaturevents bzw. -kampagnen, deren Ziel es ist, möglichst viele Menschen (z. B. aus einer Kommune, einer Stadt oder auch landesweit) dazu zu bringen, ein ausgewähltes Buch zu lesen und darüber in verschiedenen Veranstaltungen und Medien zu dis- kutieren.25 Das genannte Projekt fokussiert insgesamt acht solcher Events und Kampagnen in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada. Eines der Untersuchungsbeispiele ist etwa das Format »One Book, One Community«, das in verschiedenen Städten und Regionen in den USA und in Kanada jährlich über einen Zeitraum von mehreren Wochen durchgeführt wird. Ein Selektionskom- mitee, das sich aus literaturinteressierten Bürger_innen, Buchhändler_innen und Bibliothekar_innen zusammensetzt, wählt einen Buchtitel aus, der dann im Fokus verschiedener Aktivitäten steht, an denen Leser_innen aus der jeweiligen Stadt oder Region partizipieren können. Meist handelt es sich um Texte mit inhaltli- chem lokalen Bezug oder solche von lokalen Autor_innen. Als Partizipationsmög- lichkeiten werden zum Beispiel Face-to-Face-Diskussionsgruppen initiiert, in de- nen Leser_innen zusammenkommen, um sich über das Buch auszutauschen. Zu- dem werden Social-Media-Tools (z. B. Webseiten, Online-Foren, Facebook etc.) angeboten, die von den teilnehmenden Akteuren genutzt werden, um den litera- rischen Text zu kommentieren und mit anderen Leser_innen aus der Region zu diskutieren. Darüber hinaus finden auch Lesungen, Gewinnspiele, Performances, Signierstunden etc. zum jeweiligen Buch statt (siehe Abb. 1). Begleitet werden die Kampagnen häufig auch durch Medien wie Fernsehen und Radio, die von den Veranstaltungen berichten, aber zum Beispiel auch Lesungen etc. live übertragen. Informationen und Publikationen siehe http://www.beyondthebook.bham.ac.uk/, 20.07.2016. 25 Im deutschsprachigen Raum existieren vergleichbare Formate, z. B. die Aktion »Eine Stadt liest ein Buch«, die jährlich in verschiedenen deutschen Städten durchgeführt wird. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 103 RAPHAELA KNIPP Abb. 1: One Book, One Community-Aktivitäten in Kanada, hier: Signierstunde mit Au- tor Nino Ricci, Ontario 2004, Quelle: Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo26 MREs, wie sie Fuller und Rehberg Sedo untersuchen, zeichnen sich also durch ei- nen von Leser_innen geteilten Fokus der Aufmerksamkeit auf einen literarischen Text aus und involvieren dazu verschiedene Akteure, Medien und Praktiken. Das übergreifende Interesse des Forschungsprojektes richtet sich somit – in Abgren- zung zu Isers »implizitem Leser« – auf ›reale‹, nicht-professionelle Leser_innen und ihre alltäglichen, vergemeinschaftenden Aneignungs- und Gebrauchsweisen von Literatur, wie sie im Rahmen der MREs beobachtbar werden: »We began our analysis […] by emphasizing our interest in the uses that readers make of books and reading [Hervorh., R.K.],«27 so die Autorinnen. Analysiert werden die auf den literarischen Text bezogenen Lektüre- und Bewertungshandlungen der teilneh- menden Akteure, sowie die verschiedenen sozialen und medialen Formen der Partizipation an (lokaler) literarischer Kultur. Die MREs ermöglichen Leser_innen z. B. Face-to-Face-Treffen, Online-Diskussionen, Lesungen und Gespräche mit Autor_innen, Performances etc. Um diese Aspekte zu adressieren, bedient sich das Projekt eines Mixed-Method Ansatzes: Textanalysen werden mit Feldstudien im Rahmen der MREs kombiniert, die verschiedene quantitative und qualitative 26 Ich danke Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo für die freundliche Genehmigung, die Abbildung für diesen Artikel zu verwenden. 27 Fuller/Rehberg Sedo: »Reading Beyond the Book«, S. 248. NAVIGATIONEN 104 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN Erhebungsverfahren einschließen. Es werden Methoden der teilnehmenden Be- obachtung während der Eventaktivitäten eingesetzt, Face-to-Face-Fokusgruppen gebildet, in denen Leser_innen zu ihren Rezeptionspraktiken und -erfahrungen im Kontext der MREs befragt werden, quantitative Fragebogenerhebungen und qua- litative Einzelinterviews durchgeführt sowie Webseiten, Webposts von Le- ser_innen, Medienberichte, Werbematerialien etc. analysiert. Zur Gruppe der un- tersuchten und befragten Akteure zählen neben den teilnehmenden Leser_innen ferner auch die Organisatoren der MREs, darunter z. B. Verlage, Buchhandel oder Medieninstitutionen. Denn, wie die Studien zeigen, sind MREs letztlich auch Mar- ketinginstrumente, um bestimmte Bücher innerhalb einer Gruppe von Le- ser_innen zu distribuieren.28 Die Besonderheit der Rezeptionsstudie, wie sie Fuller und Rehberg Sedo durchgeführt haben, besteht damit darin, dass nicht die literarischen Texte bzw. ihre ›Inhalte‹ den Fokus der Untersuchung bilden, sondern – ganz im Sinne Couldrys – die auf den Text gerichteten Performanzen und Handlungen der Ak- teure sichtbar gemacht werden. Wie die ›literarische Qualität‹ der im Rahmen der MREs gelesenen Texte bewertet wird und wie und weshalb bestimmte Texte und Textgenres innerhalb der jeweiligen Gruppe Popularität erlangen, wird nicht in erster Linie von textimmanenten Eigenschaften her zu erklären versucht, sondern als Ergebnis unterschiedlicher Wertungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren nachvollziehbar gemacht. Wie die Einblicke in das Feld und das reichhaltige Datenkorpus zeigen, erweisen sich MREs als Agenten und Mediato- ren einer »middlebrow«-Literatur und -Lesekultur, die sich sowohl von der Hochkultur als auch der Massenkultur abzugrenzen versucht. Anhand der behan- delten Textbeispiele wird deutlich, dass MREs eine Affinität zu bestimmten »book types« bzw. Genres aufweisen. In der Regel werden im Rahmen der Events litera- rische Texte rezipiert, die der erzählenden Unterhaltungsliteratur zuzurechnen sind, die sich durch einen ›realistischen‹ Erzählstil auszeichnen, einen breiten Pub- likumsgeschmack bedienen und alltagsnahe Themen behandeln, die Anknüpfungs- punkte für Diskussionen zwischen Leser_innen bieten. Die Ergebnisse des Projektes zeigen ferner, dass Leser_innen durch die Teil- nahme an den »Shared Reading«-Praktiken der MREs vielfältige Möglichkeiten der Partizipation an Literatur realisieren und dabei unterschiedliche Rezeptionsbe- dürfnisse bearbeiten. Zwei Aspekte sind dabei besonders interessant: Erstens lässt sich anhand des aus den MREs gewonnenen Datenmaterials aufzeigen, wie Lese- und Literaturerfahrungen zum einen medial aufbereitet und (weiter-) ver- arbeitet werden (z. B. in Gesprächen, Webposts oder Performances), zum ande- ren wird aber auch deutlich, dass durch die MREs neue bzw. über das Lesen des Textes hinausgehende (mediale) Möglichkeiten der Begegnung mit Literatur ge- schaffen werden. Fuller und Rehberg Sedo sprechen diesbezüglich auch von 28 Dieser Aspekt ist keineswegs zu unterschätzen, insofern Verlage solche Events und die damit einhergehenden Medien-/Praktiken (z. B. Online-Foren) verstärkt nutzen, um mit Leser_innen – und damit potentiellen Kund_innen – in Kontakt zu treten. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 105 RAPHAELA KNIPP einem »›variety-packs‹ reading model«: »[T]he program’s multi-platform presen- tation«, so die Autorinnen, »offers new opportunities for readers to experience books and share reading in a variety of ways.«29 Die Spanne des Publikums reicht dabei von individuellen Leser_innen über Literaturkreise, die sich in einem größe- ren Rahmen über das Gelesene austauschen möchten und dazu unterschiedliche mediale Formate nutzen, bis hin zu Literaturinteressierten, die das Buch nicht un- bedingt gelesen haben müssen. Letztere finden in den Aktivitäten der MREs eine Gelegenheit, Literatur ohne Lektüre auf ›unterhaltsame‹ und vergemeinschaftende Art und Weise zu begegnen und darin an einem Bildungskanon der Mittelschicht zu partizipieren. Zweitens arbeiten Fuller und Rehberg Sedo anhand ihres empiri- schen Materials die These heraus, dass MREs an Traditionen oraler literarischer Kulturen, wie z. B. mündliches Erzählen und lautes Lesen, anschließen bzw. diese wiederzubeleben versuchen: »One of the significant social dynamics at play in many face-to-face OBOC [One Book, One Community, R.K.] events is the resto- ration and reanimation of oral cultures of storytelling and reading aloud.«30 In die- sem Aspekt wird unter anderem deutlich, dass es sich bei den »Shared Reading«- Praktiken der MREs um spezifische Formen der Vermittlung von Literatur sowie der Lektüreerfahrungen zwischen Leser_innengruppen handelt. Mit Blick auf die hier nur in aller Kürze skizzierten Ergebnisse könnte man gegen die Studie zweifellos einwenden, dass die Literatur als solche, d. h. die lite- rarischen Referenztexte, in den Untersuchungen nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Letztlich ist dies aber gar nicht das entscheidende Anliegen des Projektes, denn vielmehr geht es der praxeologischen Studie darum, konkrete Einblicke in ein populäres Phänomen der gegenwärtigen Lesekultur zu geben und die dabei beobachtbaren Praktiken der Aneignung literarischer Texte nachzuzeichnen: Wie wird »Shared Reading« als spezifische Form der Literaturrezeption von den Akt- euren im Rahmen der MREs organisiert und etabliert? Inwiefern wird durch die kollektiven Praktiken ein gruppenspezifischer ›literarischer Geschmack‹ ausgebil- det? Wie konvergieren (individuelle) Lektürepraktiken mit anderen Praktiken der MREs? Ausgehend von den vielen kleinteiligen und lokal situierten Studien, die Fuller und Rehberg Sedo im Rahmen ihres Projektes an unterschiedlichen Orten durchgeführt haben, entsteht so letztlich ein sehr differenziertes Bild kollektiver Praktiken der Literaturaneignung, sowie der soziokulturellen Kontexte, in die die- se Praktiken eingebettet sind. Die Studien von Fuller und Rehberg Sedo führen anhand der MREs damit letztlich ein Modell literarischer Kommunikation vor, das als integrales Moment interagierende – ›soziale‹ – Leser_innen voraussetzt. Lite- raturrezeption wird dabei nicht als ein intimer Akt zwischen Text/Buch und ein- zelner Leserin/einzelnem Leser praktiziert, sondern als kollaboratives und öffent- lich inszeniertes Gemeinschaftserlebnis. 29 Fuller/Rehberg Sedo: »A Reading Spectacle for the Nation«, S. 30. 30 Fuller/Rehberg Sedo: »Reading Beyond the Book«, S. 236-242, hier 238. NAVIGATIONEN 106 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN 3.2 VERKÖRPERTE LEKTÜRE: LITERATURTOURISMUS-ETHNOGRAFIE Von den Praktiken des »Shared Reading« wechsle ich nun, im zweiten Beispiel, in ein gänzlich anderes Feld literaturbezogener Praktiken. Diesmal geht es um Le- ser_innen, die Handlungsorte literarischer Texte bereisen, auch Literaturtouris- mus genannt. Da sich diese Praktik häufig in der Gruppe vollzieht (z. B. im Kon- text literarischer Stadtführungen), ergibt sich allerdings in dem Aspekt der ›Ver- gemeinschaftung durch Literatur‹ eine erste strukturelle Parallele zum vorange- gangenen Beispiel. Konkret beziehe ich mich hier auf eigene Untersuchungen, die ich im Rahmen meiner Dissertation zum Phänomen des Literaturtourismus durchgeführt habe.31 Literaturtourismus stellt inzwischen eine durchaus etablierte Rezeptionspraktik im Umgang mit Literatur dar. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sich literarische Schauplätze – man denke etwa an ›Sherlock Holmes’ Wohnhaus‹ in der Baker Street 221b in London oder das Lübecker Budden- brookhaus nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann – als Destinatio- nen im Feld des Kulturtourismus erfolgreich platziert haben und eine entspre- chende Angebotsstruktur aufweisen. Dazu zählen z. B. Musealisierungen literari- scher Schauplätze (siehe die Beispiele oben), literaturthematische Führungen und Stadtspaziergänge oder Themenwanderwege im ländlichen Raum.32 Dass es sich beim Literaturtourismus offenkundig um ein Bedürfnis handelt, das viele Le- ser_innen teilen, bestätigen zudem entsprechende »Literary-Traveller«-Blogs und Webseiten im Netz, auf denen mögliche Reiseziele und Erfahrungen zwischen User_innen ausgetauscht werden.33 Von wissenschaftlicher, insbesondere literaturwissenschaftlicher Seite ist die Praktik des Literaturtourismus lange Zeit jedoch marginalisiert worden,34 ob- gleich sie spannende Fragen für eine rezeptionsseitig orientierte Literaturfor- schung aufwirft. In meiner praxeologischen Studie untersuche ich erstens, welche ästhetischen Angebote literarische Texte in ihren Raumkonzeptionen für literatur- touristische Praktiken machen. Im Rahmen von empirischen Feldstudien gehe ich dann zweitens der Frage nach, ob und wie die Texträume (a) von den gestalten- den Akteuren (Museen, Touristiker, Tour Guides etc.) in ortsbezogene Angebote, z. B. Musealisierungen oder Themenwege, übersetzt werden und (b) wie mit die- sen Literaturinszenierungen durch die partizipierenden Leser_innen bzw. Litera- turreisenden umgegangen wird. Übergreifend geht es mir also um die Frage, was 31 Vgl. Knipp: »Begehbare Literatur. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zum Literaturtourismus«. 32 So lässt sich z. B. St. Petersburg aus der Perspektive der Figur ›Raskolnikow‹ aus Dostojewskis Roman Verbrechen und Strafe (1866) erkunden oder Rom anhand der in Dan Browns Illuminati (Angels and Demons, 2000) entworfenen Narration im Raum – dies nur zwei Beispiele. 33 Siehe z. B.http://www.novelexplorations.com, 20.07.2016; http://www.bibliotravel.com, 20.07.2016; http://literarytourist.com/, 20.07.2016. 34 Siehe aber z. B. Watson: »The Literary Tourist« sowie Schaff: »›In the Footsteps of…‹«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 107 RAPHAELA KNIPP mit einem literarischen Text in einem konkreten Handlungszusammenhang ›ge- macht‹ und wie Literatur dabei von den handelnden Akteuren angeignet und er- fahren wird. Damit leitet die Studie ein ähnliches Untersuchungsinteresse wie die Arbeiten von Fuller und Rehberg Sedo, nur ändert sich der kontextuelle Rahmen. Um diese Aspekte zu adressieren, bediene ich mich, wie im vorstehenden Beispiel auch, eines bestimmten Sets an textanalytischen und empirisch-ethnogra- fischen Methoden. Zu ›klassischen‹ Textanalysen treten ethnografische Feldstu- dien, die teilnehmende Beobachtungen an den jeweiligen Orten der Praxis (zum Teil auch unter Einsatz von Foto- und Videokamera), Interviews mit Literaturtou- risten und den Anbietern vor Ort sowie die Sammlung und qualitative Auswer- tung von Dokumenten wie Museumsflyer, touristische Werbebroschüren oder Gästebucheinträge umfassen. Ich werde folgend kurz auf eines von insgesamt drei untersuchten Fallbeispielen näher eingehen – das Genre des sogenannten ›Eifel- Krimi‹ –, um einige der zentralen Ergebnisse meiner Studie zu skizzieren und deutlich zu machen, wie und mit welchem Erkenntnisgewinn dabei die Untersu- chungskategorie der Praktiken relevant wird. Der ›Eifel-Krimi‹ ist ein serielles Genre der populären Regionalkriminallitera- tur der Gegenwart.35 Neben einem wiederkehrenden Figureninventar liegt eine besondere Qualität der Texte in ihrem regionalspezifischen Ortsbezug. Die fikti- ven Handlungen werden jeweils an real nachvollziehbaren Örtlichkeiten der Eifel- Landschaft situiert. Wie meine empirischen Erhebungen zeigen, stellt dieser für die Kriminalromane konstitutive Ortsbezug für viele Leser_innen ein bzw. das reizvolle Lektüremoment dar und hat schließlich eine spezifische Praktik der An- eignung der Texte hervorgebracht: Mit der wachsenden Popularität des Eifel- Krimi suchten in den 1990er Jahren immer häufiger Leser_innen das Tourismus- büro der Stadt Hillesheim auf, um sich dort nach den Schauplätzen der Krimi- Texte zu erkundigen. Ausgehend von diesem Interesse, das, wie mir Manfred Schmitz, Tourismusleiter der Stadt Hillesheim, erläutert, anfangs zunächst über- raschte,36 bemühte man sich in den darauffolgenden Jahren um eine touristische Inwertsetzung der Eifel-Krimi-Texte. Die vor Ort tätigen Gästeführerinnen lasen sämtliche Romane des Genres akribisch auf deren Ortsbezüge hin und entwickel- ten daraus schließlich Themenwanderwege und geführte Touren, die ausgewählte Schauplätze der Texte in einer landschaftlich attraktiven Route miteinander ver- binden. Die Themenwanderwege wurden ferner durch Hinweisschilder markiert 35 Der erste Eifel-Krimi erschien 1989 unter dem Titel Eifel-Blues von Jacques Berndorf. Die Reihe sowie auch die sich in diesem Genre betätigenden Autor_innen sind inzwi- schen stark expandiert. 36 »Die Leute kamen mit den Krimis hierher. Man sah, wie die Leute hier – weil die [Kri- mis, R.K.] ja authentisch sind – die Krimis also wirklich auch als Reiseführer nutzten. […]. Das hat uns aber gesagt: Guck mal, die Leute gehen zu den Schauplätzen, die su- chen das. Das war auch für uns der Anlass, diese Schauplätze durch diesen Wanderweg zu erschließen.« (Interview vom 13.12.2014). NAVIGATIONEN 108 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN (siehe Abb. 2), wozu eine Begleitbroschüre erschienen ist, die einschlägige, schauplatzbezogene Textpassagen aus den Romanen enthält. Abb. 2 u. 3: Hinweisschild am ›Eifel-Krimi-Wanderweg‹ (links) und Lesung während einer literarischen Wanderung (rechts), Quelle: R. Knipp Was es in der (Alltags-)Praxis genau heißt, sich als Leser_in auf einen nach den Angeboten der literarischen Texte gestalteten Themenwanderweg zu begeben, habe ich während meiner teilnehmenden Beobachtung sowie der Interaktion und den Gesprächen mit den daran teilnehmenden Akteuren ›am eigenen Leib‹ erfah- ren können. Es heißt zuallererst, Literatur in einem sehr spezifischen ›medialen‹ Modus zu erleben. Als ›Literaturwanderer‹ bewegt man sich zugleich in einem imaginären als auch in einem ganz materiellen, körperlich erfahrbaren Raum. Mei- ne Studien zeigen ferner, dass die literarischen Texte während der geführten Wanderungen in unterschiedlicher Weise ›medialisiert‹ werden: Wiederholt wer- den einzelne und zu den Schauplätzen passende Textpassagen mündlich rezitiert (zur Oralität im Umgang mit Literatur siehe auch das vorherige Beispiel), es wer- den einzelne Szenen in verteilten Rollen gelesen (siehe Abb. 3) sowie zum Teil auch, in Form von Reenactments,37 von den Teilnehmer_innen körperlich nach- gestellt. Mit Blick auf diese performativen Handlungen lässt sich auch von einer ›verkörperten Lektüre‹ sprechen, die im Kontext des Literaturtourismus vollzo- gen wird. Das, was man sich als Leser_in zuvor kognitiv-imaginär, lesend angeeig- net hat, wird im Rahmen der literaturtouristischen Praktik in eine sinnlich- konkrete Erfahrung übersetzt. Diesen Punkt greift auch Manfred Schmitz im In- terview auf: Sie [die Literaturreisenden, R.K.] wollen ihr Lesehobby mal auf eine andere Art und Weise begleitet haben. Also mal nicht Literatur als Le- seerlebnis haben, sondern vielleicht auch ein bisschen darüber hinaus. […] Wenn ich in dieser authentischen Krimilandschaft bin, [...] wenn 37 Zum Zusammenhang von Reenactment-Praktiken und Literaturtourismus siehe ausführ- lich Knipp: »Nacherlebte Fiktion«. NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 109 RAPHAELA KNIPP ich das nachvollziehe, bin ich auch Teil des Krimis. Ich [...] kann mich ja in die Handlung hineinversetzen. [...] Also nicht den üblichen Zu- gang, das Buch zu und weg [...], sondern das Buch ein bisschen nach- klingen zu lassen, auf eine ganz eigene Art und Weise.38 Wie bereits in den Studien von Fuller und Rehberg Sedo deutlich wurde, verwei- sen auch Schmitz’ Ausführungen darauf, dass Literaturrezeption deutlich mehr umfasst als das Lesen von Texten und unterschiedliche Medien-/Praktiken im Umgang mit Literatur jeweils spezifische Rezeptionsbedürfnisse von Leser_innen erfüllen. Auch hier spielt es z. B. eine Rolle, mit Gleichgesinnten Literatur ›ge- meinsam‹ zu erleben. Die Relevanz von Medien wird mit Blick auf den Literaturtourismus in zwei- facher Hinsicht sinnfällig: Erstens stellen die ortsgebundene Inszenierung und tou- ristische Inwertsetzung der literarischen Texte durch die gestaltenden Akteure (Touristiker_innen, Gästeführer_innen) spezifische Medienpraktiken im Umgang mit dem Eifel-Krimi dar. Wie die Angebote jeweils ausfallen, hängt dabei zum ei- nen von den ›affordances‹ der Texte ab (Beschreibungsqualität/Detailrealismus der Texte im Hinblick auf den Realraum), den Erwartungen, die das Publikum an die Orte heranträgt, sowie den (touristisch-ökonomischen) Zwecken, die die An- bieter verfolgen. Zweitens stellt aber auch die Begehung der Orte durch die Lite- raturreisenden ihrerseits wiederum eine Form der Medialisierung von Literatur dar, bei der literarische Lektüren bzw. Leseerfahrungen von den handelnden Akt- euren räumlich und körperlich-sinnlich (wieder-)angeeignet werden. Wie die Ein- blicke in das Feld und die Interviews zeigen, liegt eine besondere Qualität der Praktik darin, dass der Literaturtourismus Sinnesmodalitäten adressiert, die bei der Textlektüre qua Medium nicht bzw. nur eingeschränkt bedient werden kön- nen. Der Handlungsraum ›Eifel‹ wird atmosphärisch, visuell, olfaktorisch und taktil erlebbar, gleichzeitig wird die Landschaft durch die literarischen Bezüge ästhe- tisch aufgewertet. Anhand der praxeologischen Untersuchung des Literaturtourismus lässt sich also nachzeichnen, wie durch Literatur bzw. literarische Verfahren eine spezifi- sche Rezeptionspraktik hervorgebracht wird, in der sich literarische Lektüren wiederum auf besondere Weise vermitteln. Es lässt sich aber noch mehr zeigen: Will man nämlich den Eifel-Krimi als Genre sowie seine anhaltende Popularität begreifen, so kommt man meines Erachtens – ganz ähnlich wie es in den Studien von Fuller und Rehberg Sedo im Hinblick auf die Etablierung einer »middlebrow«- Literatur und -Lesekultur deutlich wird – um eine Analyse der auf die Texte be- zogenen Handlungen nicht herum. Erst dadurch gelingt es, spezifische, hier für das literarische Genre des Eifel-Krimi konstitutive Zusammenhänge herauszustellen. Denn wie meine Studien auch zeigen, stehen die Texte bzw. ihre Produktion und die Rezeptionspraktik des Literaturtourismus in einem wechselseitigen Bedin- 38 Interview mit Manfred Schmitz vom 13.12.2014. NAVIGATIONEN 110 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN gungsverhältnis. Die Texte produzieren eine literarische Landschaft, die von Le- ser_innen und Liebhaber_innen des Genres bereist und literaturbezogen angeeig- net wird. Die in der Region stattfindenden touristischen Praktiken bleiben aber wiederum nicht folgenlos für die (Folge-)Produktion der Texte. Autor_innen und Touristiker_innen registrieren, zum Teil sehr bewusst, den Effekt der topogra- fisch-realistischen Schreibweise und kalkulieren mit diesem. Dies geschieht zum Beispiel, indem noch touristisch unerschlossene Ortschaften Eingang in die Texte finden, um deren Bekanntheitsgrad zu steigern,39 oder Autor_innen das Rezepti- onsformat der begleiteten literarischen Wanderung nutzen, um ihre Bücher zu vermarkten und beim Lesepublikum bekannt zu machen.40 4. FAZIT Was folgt nun aus diesen Beispielen und den vorangegangenen theoretischen Aus- führungen? Inwiefern verändert bzw. erweitert ein praxeologischer Ansatz, wie er hier anhand von zwei Untersuchungen exemplarisch vorgeführt wurde, den Blick auf Literatur(rezeption)? Abschließend sollen die Überlegungen unter Punkt 2 und die in Punkt 3 behandelten Beispiele noch einmal reflektiert und zusam- mengeführt werden. Ausgehend von einem ›(media) practice turn‹ in den Medien- und Sozialwissenschaften war es das Ziel dieses Beitrages, die Untersuchungska- tegorie der Praktiken auf ihren Nutzen für die literaturwissenschaftliche Rezepti- onsforschung hin zu befragen. Als Ausgangspunkt diente Couldrys kontroverse Position, »media, not as texts […], but as practice« zu denken, die aufgegriffen wurde, um die rezeptionsästhetische Idee von Literatur(rezeption) als ›Text‹ zu erweitern. Dazu wurden in einem ersten Schritt einige theoretisch-konzeptuelle Überlegungen zur Literaturrezeption als Praktik und der Rolle von Medi- en/Medialität unternommen. Diese theoretischen Überlegungen wurden dann anhand der vorstehend skizzierten Beispiele aus unterschiedlichen Rezeptionsfel- dern exemplarisch veranschaulicht. Was es konkret bedeutet, Literaturrezepti- on(en) als Praktik(en) zu konzipieren und zu untersuchen und worin die Heraus- forderungen des praxeologischen Ansatzes liegen, soll nun noch einmal in drei Punkten pointiert herausgestellt werden: (1) Von den Texten zu den Praktiken: Eine praxeologische Herangehensweise zeichnet sich erstens dadurch aus, dass sich der Aufmerksamkeitsfokus von Text- bedeutungen auf die Frage nach der konkreten Praktik, d. h. dem ›Gebrauch‹ von 39 Wie aus dem Interview mit Manfred Schmitz hervorgeht, tauschen sich die Autor_innen und das Tourismusbüro auch über mögliche Schauplätze aus, die Eingang in die Krimi- nalromane finden sollen. 40 Ein Beispiel dafür ist etwa die Autorin Elke Pistor, die geführte Wanderungen zu den Schauplätzen ihrer Kriminalromane anbietet und dabei aus ihren Texten vorliest (vgl. dazu http://www.elkepistor.de/mordsspaziergang/, 20.07.2016). NAVIGATIONEN MEDIE NP RAKTIK EN 111 RAPHAELA KNIPP Literatur in bestimmten Rezeptionskontexten verlagert. Für die beiden vorgestell- ten Untersuchungsbeispiele kann, in Anlehnung an Couldry, folgende übergrei- fende Leitfrage (re-)formuliert werden: Was ›machen‹ Leser_innen mit Literatur, bzw. was ›macht‹ Literatur mit Leser_innen in unterschiedlichen sozialen und kul- turellen Feldern? Eine solche Perspektive unterscheidet sich grundlegend von ei- nem rezeptionsästhetischen Ansatz. Den Ausgangspunkt beider Untersuchungen bilden nicht in erster Linie die literarischen Texte in ihrer ästhetischen Dimension und Wirkungsstruktur, sondern die mit ihnen verbundenen Praktiken konkreter Leser_innen in ihren jeweils spezifischen soziokulturellen ›Settings‹. Dies gilt für die organisierten und im Kollektiv praktizierten Literaturgespräche und -performances der von Fuller und Rehberg Sedo untersuchten MREs ebenso wie für die nicht minder kollektiven, körperlichen und raumbezogenen Literatur- praktiken im Feld des Literaturtourismus. Während die Rezeptionsästhetik literarische Rezeptions- und Aneignungsprozesse losgelöst von ihren sozialen, kul- turellen und medialen Bedingungen betrachtet, geht es einer praxeologischen Perspektive genau darum: Unter dem Vorzeichen der Praxeologie geraten das (Alltags-)Handeln und die Alltagskontexte der Literaturrezeption in den Blick. (2) Medialität der Praktiken: Literatur und literaturbezogene Praktiken sind stets auf materielle Vermittlung angewiesen und jede dieser Vermittlungen – ob Textlektüre oder mündliche Lesung – besitzt ihre spezifische Medialität, durch die Literatur auf unterschiedliche Weise(n) erfahrbar gemacht wird. Ein literarischer Text vermittelt sich in der ›stillen‹ Individuallektüre anders als beispielsweise im Kontext der organisierten Literaturgespräche und -performances der MREs oder im Rahmen einer literarischen Wanderung in der Eifellandschaft. Es kommen je- weils ›Medien‹ zum Einsatz, die jedoch nicht als feststehende Entitäten oder ›Ein- zelmedien‹ gedacht werden können, sondern als Ensembles aus Zeichen, Dingen, Körpern, Orten etc., die literarische Inhalte/Texte in einer bestimmten Weise ›performieren‹41. (3) Methodische Öffnung: Der Rekurs auf Praktiken und Praxeologie ermög- licht es drittens, das soziale und mediale Handeln von Leser_innen mit Literatur in den Fokus zu rücken. An die Stelle von impliziten, im literarischen Text antizipier- ten Leser_innen treten damit konkrete, ›empirische‹ Leser_innen oder Le- ser_innengruppen. Dies bedarf zwangsläufig ›empirischer‹ Quellen. Um die jewei- ligen Praktiken aus der Sicht der Akteure zu erschließen, bildet die methodische Öffnung hin zu empirischen bzw. ethnografischen Verfahren ein gewisses a priori. In beiden Untersuchungsbeispielen treten neben tradierte Methoden der Textanalyse qualitative bzw. auch quantitative Verfahren aus der empirischen So- zialforschung und der Ethnografie (Beobachtungen, Interviews, Dokumenten- sammlung etc.). Wie mit diesen ›neuen‹ Datenkorpora von literaturwissenschaftli- cher Seite umzugehen ist, stellt zweifelsohne eine nicht zu unterschätzende Her- 41 Im Sinne von vollziehen bzw. etwas ›in Vollzug‹/›in Handlung‹ setzen. NAVIGATIONEN 112 MEDIE NP RAKTIKEN LITERATURBEZOGENE PRAKTIKEN ausforderung für praxeologische Untersuchungen im Bereich der Literaturfor- schung in Zukunft dar. Bei alldem mag sich dem philologisch geschulten Leser abschließend die Fra- ge stellen, die man bereits Couldry kritisch entgegnen müsste: Wenn der Fokus sich auf Praktiken, Akteure und Kontexte im Umgang mit Literatur verlagert, wel- che Rolle spielt dann überhaupt noch die Literatur selbst? Welche Rolle kommt ästhetischen Aspekten zu und muss ein praxeologischer Zugang nicht als eine Kontradiktion literaturwissenschaftlicher Ansätze erscheinen? Auch hierzu lässt sich aus den Ausführungen und behandelten Beispielen eine Antwort ableiten: Grundsätzlich wird deutlich, dass der Untersuchungsfokus zwar ein anderer ist als der der Rezeptionsästhetik wie auch die skizzierten Studien andere Ergebnisse hervorbringen. Das heißt aber letztlich nicht, dass sich ästhetisch-poetologische Fragestellungen und praxeologische Forschung ausschließen müssen bzw. Litera- tur in ihrer ästhetischen Dimension im Kontext einer praxeologischen Perspekti- vierung keine Rolle mehr spielen würde. Vielmehr – und dies zeigen die beiden Beispiele meines Erachtens sehr deutlich – steht die Literatur, auch und gerade in ihrer ästhetischen Dimension, im Zentrum. Es geht jeweils um bestimmte Kon- kretisierungen bzw. Aktualisierungen von Literatur, die ohne die jeweiligen Refe- renztexte so nicht existieren würden. In beiden Fällen ergänzen sich Literatur- und Praktikenforschung: Es lässt sich zeigen, wie aus bestimmten Texten oder Textgenres spezifische literaturbezogene Praktiken hervorgehen, und andersher- um: wie diese Praktiken bestimmte literarische Genres mitformieren – z. B., im Falle der MREs, eine »middlebrow«-Literatur, die ein bestimmtes ästhetisches Raster zu erfüllen hat, oder – in Bezug auf den Eifel-Krimi – die Herausbildung ei- ner touristischen bzw. tourismusaffinen Schreibpraxis. Mein abschließendes Plä- doyer zielt daher nurmehr auf eine Literatur(rezeptions)forschung, die konkreten Leser_innen und ihren sozialen und medialen Praktiken im Umgang mit Literatur stärkere Beachtung schenkt. Die praxeologische Erweiterung eröffnet Zugänge zu verschiedenen alltäglichen Feldern der Literaturrezeption, die durch eine Textanalyse allein letztlich gar nicht sichtbar würden, aber umso dringlicher der Aufmerksamkeit bedürfen, will man gegenwärtige Lese- und Rezeptionskulturen in ihrer Dynamik verstehen. LITERATURVERZEICHNIS Abend, Pablo: Geobrowsing. Google Earth und Co. – Nutzungspraktiken einer digitalen Erde, Bielefeld 2013. Behschnitt, Wolfgang: »Literatur als Praxis. Tegnérs Romanze Axel (1822) als Vor- lesestück«, in: European Journal of Scandinavian Studies (EJSS), Bd. 41, Nr. 2, 2011, S. 117-135. Bender, Cora/Zillinger, Martin (Hrsg.): Handbuch der Medienethnographie, Berlin 2015. 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