Universität Münster AUTOR Tim Preuß TITEL Ideologie als Kategorie und das integrative Erkenntnisinteresse der Kulturwissenschaften – Versuch einer Synthese ERSCHIENEN IN Medienkulturwissenschaften. Theorien – Ansätze – Perspektiven (= Paradigma. Studienbeiträge zu Literatur und Film 5/2022), S. 8–14. EMPFOHLENE ZITIERWEISE Preuß, Tim: „Ideologie als Kategorie und das integrative Erkenntnisinteresse der Kulturwissenschaften – Versuch einer Synthese“. In: Medienkulturwissenschaften. Theorien – Ansätze – Perspektiven (= Paradigma. Studienbeiträge zu Literatur und Film 5/2022), S. 8–14. IMPRESSUM Paradigma. Studienbeiträge zu Literatur und Film ISSN 2567-1162 Universität Münster Abteilung Neuere deutsche Literatur - Literatur und Medien - Germanistisches Institut Schlossplatz 34 48143 Münster Herausgeber: Andreas Blödorn, Stephan Brössel Redaktion: Stephan Brössel, Eve Driehorst, Tim Preuß, Niklas Lotz 8 1 Umfassend diskutiert wird das Problem der unterkomplexen Reduktion von Ideologie auf‚falsches Bewusstsein‘ und eine entsprechende problematischeWahr/Falsch-Beurteilungbei Eagleton (1993: 7–41). Vgl. auch zusammenfassend Grossberg (1997: 106–108). Ideologie als Kategorie und das integrative Erkenntnisinteresse der Kulturwissenschaften – Versuch einer Synthese Tim Preuß Problem der terminologischen Disparität kulturwissenschaftlicher AnsätzeSo attraktiv die Idee einer interdisziplinären Orientierung der Kulturwissenschaftenauf ein gemeinsames Erkenntnisinteresse auch sein mag, scheint die theoretischeund begriffliche Arbeit ihrer Vertreter*innen der Umsetzung entgegenzustehen.Zahlreiche unterschiedliche disziplinäre und theoretische Provenienzen wie auchwissenschaftspolitische Entscheidungen bedingen in Terminologie und Methodologiekulturwissenschaftlicher Ansätze – oberflächlich besehen – eine enorme Disparität.Kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen bedeutet oftmals kleinlichePrüfung auf Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Anschlussfähigkeit, die zwar nichtunproduktiv sein muss, doch für eine gründliche Verwirrung über die prinzipielleGemeinsamkeit, wenn nicht gar – durch Schuldbildung oder Metareflexionen adinfinitum – Verhinderung der Weiterentwicklung auf einen gemeinsamenBezugspunkt hin sorgt. Nach Bachmann-Medick besteht in der allgemeinen Disparitätder Ansätze die Gefahr, dass das „Projekt Kulturwissenschaften“ (Bachmann-Medick2006: 12) und alle mit ihm verbundenen Reflexionen und Reformen derGeisteswissenschaften stagnieren.Im Folgenden soll der Versuch einer Engführung einiger theoretischer undmethodologischer Ansätze der ‚kulturwissenschaftlichen‘ Forschung über dieAbstraktion auf ein gemeinsames Erkenntnisinteresse hin erfolgen. Der Vorschlagzur Synthese einer integrativen transdisziplinären Kategorie, einer „ausdrücklichfächerumspannende[n] Orientierung“ (ebd.) für die kulturwissenschaftlich-disziplinären Ausprägungen soll dabei seinen Ausgang nehmen von einem inverschiedenen kulturwissenschaftlichen Theorie- und Methodenangebotenwiederkehrenden, wenn auch randständigen Begriff, der zunächst genauer erfasstwerden soll: dem Begriff der ‚Ideologie‘. Aspekte eines IdeologiebegriffsWie für den Begriff der ‚Kultur‘ existieren für den Begriff der ‚Ideologie‘ eine Vielzahlan Definitionsversuchen (vgl. Schöttker 2007: 119 u. Eagleton 1993: 7 f.), die sichjedoch in der Regel auf eine orthodox-marxistische Reduktion von ‚Ideologie‘ auf‚falsches Bewusstsein‘1 einerseits und der nicht weniger problematischenwissenssoziologischen Erfassung als – den Kuhn’schen Paradigmen nicht unähnlich– unveränderliche Konstrukte von Annahmen über die Wirklichkeit in einergeschlossenen Gemeinschaft andererseits belaufen. Im wissenschaftlichen undalltäglichen Gebrauch findet sich oftmals eine Vermischung dieser beidenBegriffstraditionen in pejorativer Absicht (vgl. Schöttker 2007: 120 u. Eagleton 1993:9). Eine „angemessene Definition“ (Eagleton 1993: 7) des Begriffs, wie Eagletonschon Anfang der 1990er-Jahre bemerkt hat, wurde trotz einer umfassenden 9 2 Vgl. zusammenfassend Gosh-Schellhorn 2013: 295. Gramscis Hegemonie-Begriff würdedabei im oben skizzierten Sinn zunächst als deskriptiv-analytischer zum Tragen kommen.Zur Differenzierung und Problematisierung der Bedeutungsgehalte des Begriffs beiGramsci vgl. Barfuss/Jehle 2014: 24-35.3 Anregungen zur genaueren Erfassung dieser ‚Wechselwirkungen‘ gibt die Denkfigur vonZentrum und Peripherie in Bezug zu Machtausübung. Vgl. Eagleton 1993: 15 zur Idee,„zwischen zentralen und marginalen Formen von Macht [zu] unterscheiden“. Vgl. auchKoschorke (2012: 120–122, 128–137) u. die Überlegungen der Tartu-MoskauerKultursemiotik, insbes. Lotmans Ausführungen zu den grundlegenden Aspekten Binarität,Asymmetrie, Grenze und Dialog in der Semiosphäre, die für eine Adaption zurmethodischen Fundierung interessant sind (2010: 163–202). Anwendung in theoretischer und praktischer Arbeit – vor allem im Rahmen derIdeologiekritik – jedoch bisher noch immer nicht vorgelegt.Für den Vorschlag der Synthese eines Ideologiebegriffs in integrativemkulturwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse sei daher, gemäß EagletonsVorschlag, eine eher deskriptiv-merkmalsanalytische Definition zugrunde gelegt, diesich zwischen dem kritischen Ideologiebegriff der marxistischen Tradition und demder Wissenssoziologie verortet, und den Eagleton als einem weiten Begriff von‚Kultur‘ verwandt, aber nicht identisch, ausweist. Ein solcher Ansatz definiert‚Ideologie‘ als „Prozeß der Produktion von Ideen, Überzeugungen und Werten desgesellschaftlichen Lebens“ und wird als „enger als anthropologischeKulturdefinitionen, die alle Praxen und Institutionen einer Lebensformeinschließ[en]“ (ebd.: 38) von einem weiten Kulturbegriff abgegrenzt (vgl. Frühwaldu. a. 1996: 10). So verstanden lässt sich ‚Ideologie‘ für soziale Formationen als „eineArt kollektiver symbolischer Selbstdarstellung“ (Eagleton 1993: 39) im Sinn„systemstabilisierende[r] Glaubens- und Überzeugungssysteme“ (Strasen 2013: 326)erfassen und erlaubt weiterhin die Anbindung an das wesentliche Ideologie-Merkmalder – bewussten oder unbewussten – „Rechtfertigung und Bestätigung vonpartikularen Interessen und Positionen, die sie als allg[emein] ausgibt“ (MetzlerLexikon 2007: 340), ohne diese aber sogleich als ‚falsches Bewusstsein‘ werten zumüssen.Zur weiteren Operationalisierung von ‚Ideologie‘ für eine Anwendung alsKategorie der kulturwissenschaftlichen Forschung sei außerdem auf das Merkmaldieser Überzeugungssysteme hingewiesen, sich für ein bestimmtes Feld vonSystemen mit gleichem Bezugspunkt hegemonial beziehungsweise dominant zuverhalten. An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Theorieentwurf Antonio Gramscishinzuzuziehen, der die Herstellung von Hegemonie eines ideologischen Systems beiGleichzeitigkeit verschiedener ideologischer Systeme als „Kombination von Zwangund Konsens […], ohne daß der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt“ erfasst(Gramsci 1991: 120).2 Mithilfe dieser Idee lassen sich Überzeugungssysteme als indiachroner wie synchroner Dimension vielfältige Prozesse der jeüberzeugungsabhängigen Bedeutungsproduktion auf mikro- wie makrostrukturellerEbene systematisieren und in ihren inner- und intersystemischen Wechselwirkungenuntersuchen.3 ‚Ideologien‘ würden als Forschungsgegenstand so selbst zu einer Art‚Text‘ werden, „der aus verschiedenen begrifflichen Fäden gewoben ist und vondivergierenden Traditionslinien durchzogen wird“ (Eagleton 1993: 7), der vor allem inseiner Komplexität und seinen Relationen mithilfe des terminologischen Repertoires 10 verschiedener kulturwissenschaftlicher Ansätze über seine multimodalenÄußerungen prinzipiell ‚lesbar‘, also rekonstruierbar und analysierbar wird.Mithilfe einer so umrissenen Arbeitsdefinition von ‚Ideologie‘ sollen anschließendeinige Überschneidungen mit Erkenntnisinteressen und methodischen Zugriffenkulturwissenschaftlicher Ansätze aufgezeigt werden, die über eine assoziative Nähevon ‚Kultur‘ und ‚Ideologie‘ sowie beiläufige Erwähnungen hinausgehen. ‚Ideologie‘ in kulturwissenschaftlichen AnsätzenVor allem kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich auf kultursemiotischeÜberlegungen und den entsprechenden semiotischen Kulturbegriff beziehen (→Kultursemiotik), zeigen sich beiläufigen Verweisen auf ideologische Implikationenaffin. Verweist schon Lotman in der Konzeption seiner sekundären modellbildendenSysteme auf die Rolle von ideologischen Aspekten in der Ausgestaltung vonWeltmodellen, deuten auch ihm folgende theoretische Entwürfe diese Aspekte immerwieder an (vgl. etwa Nies 2017: 378, 389, 390 u. 393; Nies 2018: 18, 25 u. 29;Koschorke 2012: 125–127 u. 131 f.; Nünning 2013: 24 u. 29 f.).Wird zwar darüber hinaus nur selten das explizite Erkenntnisinteresse am‚Ideologischen‘ artikuliert, findet sich dieses gemäß der oben versuchten Definitionumso häufiger in Form eines Interesses am ‚Kulturellen‘ und den Gründen für diekonkrete Ausprägung von Weltmodellen, wo die Untersuchung etwa auf die in Textencodierten „zentrale[n] kulturelle[n] Konflikte“ (Nies 2017: 388) und die entsprechenden„modellhaft[en] Problemkonstellationen und mögliche[n] Problemlösungen“ (ebd.)abzielt, kulturelle Phänomene also auch als in kulturellen Artefakten materialisierte„Werte- und Normvermittlung“ (ebd.) angenommen werden. In dieser Tendenz lassensich die kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen als auf Ideologien im Sinn vonÜberzeugungssystemen und bedeutungsstiftenden Prozessen ausgerichtetbeziehen, indem der zugrundeliegende semiotische Kulturbegriff als „der vonMenschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen,Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen“ (Nünning 2013: 28) einem wie obendefinierten Ideologiebegriff nahezu synonym ist. Diese große Ähnlichkeit der beidenBegriffe qualifiziert auch die Kulturanthropologie für eine Adaption auf einenideologietheoretischen Zugriff, wenn die im ‚Text der Kultur‘ sich äußerndenkulturinternen Selbstdarstellungen als wesentlich abhängig von dominantenÜberzeugungssystemen gedacht werden (vgl. Bachmann-Medick 2008: 90–92).Insbesondere die disziplinäre Spezifizierung anthropologischer Fragestellungen imRahmen der Literaturanthropologie, die im engeren Sinn textuelle Artefakte als„Speicher- und Verbreitungsmedium des gesellschaftlich-kommuniziertenanthropologischen Wissens und Selbstbildes einer raum-zeitlichen Kultur“ (Ort/Lukas2012: 5) in den Mittelpunkt rückt, weist offensichtliche Anschlussmöglichkeiten füreinen ideologietheoretisch basierten Zugriff auf, wenn sie in ihren Gegenständenverschiedene diskursive Ausprägungen, ‚Denksysteme‘ dieses Wissens und„Hierarchisierungskonflikte“ (ebd.: 10) zwischen ihnen untersucht (→Kulturanthropologie und literarische Anthropologie).Aber auch in dezidiert kommunikationswissenschaftlich fundierten Annahmenüber Kultur finden sich ideologische Aspekte, wenn etwa Schmidt (→Medienkulturwissenschaft) in seiner Definition von ‚Kultur als Programm‘ dasProgrammatische als letztlich dialektisch sowohl überzeugungsbasierte als auch - 11 4 Vgl. außerdem ebd.: 368 die Definition des Diskursmusters sowie Eagleton 1993: 14–18zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von ‚Diskurs‘ und ‚Ideologie‘. formende Selektion aus einem verfügbaren Repertoire erfasst (vgl. Schmidt 2008:360 f.). Diese verschiedenen kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteressenverweisen auf einen besonderen ideologischen Schwerpunkt in der wesentlichenKontextabhängigkeit von (kulturellen) Texten, wie sie der New Historicism (→ NewHistoricism, Cultural Materialism, Cultural Studies) annimmt, wie auch dieKonstellation von ‚Kultur‘ mit ‚Ideologie‘ Einsicht in die im Mittelpunkt kulturpoetischerLektüre stehende, textuell codierte kulturelle Energie erlaubt – die sich in Bezug auf‚Ideologie‘ vor allem als Niederschlag von Überzeugungssystemen in Texten alsÄußerungen in einer Hierarchie verschiedener Überzeugungssysteme verstehenließe (vgl. Baßler 2008: 134 f.).Damit zeigt sich ‚Ideologie‘ im oben skizzierten Sinn als rekurrentes undmögliches integratives Erkenntnisinteresse verschiedener kulturwissenschaftlicherTheorie- und Methodenangebote auf Basis eines weiten Kulturbegriffs. Vorschlag eines kulturwissenschaftlich-ideologietheoretischen AnsatzesDie aufgezeigte Ähnlichkeit einiger kulturwissenschaftlicher Grundannahmen übereine eigentlich als ‚Ideologie‘ zu verstehende ‚Kultur‘ birgt das Problem einerschlichten Synonymie der beiden Begriffe, womit jedoch für keinen von beiden einheuristischer Mehrwert gewonnen wäre. Um diesem Problem vorzubeugen, sei imFolgenden eine auf der gegenseitigen Erhellung und Kombination der Begriffeaufbauende kulturwissenschaftlich-ideologietheoretische Ausrichtung als Vorschlagzur Etablierung einer Kategorie ‚Ideologie’ in der kulturwissenschaftlichen Forschungskizziert.Die Kategorie der ‚Ideologie‘ wäre in diesem Rahmen als zwischen ‚Kultur‘ undihren Artefakten ‚zwischengeschalteter‘ Katalysator zu verstehen, wobei ‚Kultur‘ hierals gesamtes Repertoire aller möglichen, kulturell denkbaren und semiotisierbarenElemente und ihrer möglichen Relationierungen erfasst wäre. Eine solche Erfassungvon ‚Kultur‘ entspricht der Definition kulturellen Wissens bei Titzmann „alsGesamtmenge dessen, was eine Kultur, bewußt oder unbewußt, explizit-ausgesprochen oder implizit-unausgesprochen, über die ‚Realität‘ annimmt […] dieMenge aller von dieser Kultur für wahr gehaltenen Propositionen.“ (Titzmann 1977:268) Ohne dabei die heuristisch sinnvolle Klassifikation von sozialer, mentaler undmaterieller Kultur aufgeben zu müssen (vgl. Posner 2008: 49–55 u. Nies 2017: 378f.), wäre die je ideologieabhängige Konstellation der je abgerufenen Elemente ähnlichder articulation der Cultural Studies zu denken, die „dem Unterschied zwischen densemiotischen Möglichkeiten kultureller Bedeutung und der im jeweiligen Kontextrealisierten wirklichen Bedeutung Rechnung“ (Baßler 2008: 135) trägt.‚Ideologie‘ kann so als Steuerungscode angenommen werden, der insbesondereKombinationsregeln und Selektionstendenzen bereithält, und rückt damit in die Nähediskurssemiotischer „Diskursmuster“ (vgl. Siefkes 2013: 364–368).4Eine derartige Grundlegung eines Verhältnisses von ‚Kultur‘ und‚Ideologie‘ würde den Kulturwissenschaften zuvorderst die Aufgabe dersystematischen Rekonstruktion dieses Verhältnisses zuweisen, zunächst auf derinnersystemischen Ebene eines einzelnen Überzeugungssystems und seiner 12 5 Ungeachtet dessen können Ideologien natürlich wesentlich auf Ideen dezidierterAndersartigkeit als zentrale sinnstiftende Elemente ihres Überzeugungssystems bauen(vgl. Lotman 2010: 174–190) – doch wären diese im vorgeschlagenen theoretischenRahmen Teile des kulturellen Wissens als denkbare und als semiotisierbare Elemente,die diese diametrale Andersartigkeit ausdrücken. kulturellen Äußerungen als Produkte des und in Bezug zum jeweiligenÜberzeugungssystem. Die Qualifizierung der Idee ideologischerHegemonie/Dominanz ermöglichte sodann die Systematisierung verschiedenerrekonstruierter Überzeugungssysteme und der Beziehungen ihrer kulturellenÄußerungen, welche dabei jedoch ein heuristisch sinnfälliges tertium comparationisaufweisen müssten – beispielsweise in der Untersuchung der ‚Kultur‘ einerbestimmten raumzeitlich abgegrenzten gesellschaftlichen Formation, die in diesemRahmen als hierarchische Ordnung aller koexistenten, je sinnstiftendenÜberzeugungssysteme, ihrer Relationen untereinander sowie in der Summe allerihnen möglichen kulturellen Äußerungen zu rekonstruieren wäre. Eine derartigeSystematisierung erlaubt es, auch oberflächlich enorm divergenteÜberzeugungssysteme nicht als Heterotopien im Sinn dezidierter Andersartigkeitgegen ein dominantes Überzeugungssystem, sondern mit diesem trotz aller Alteritätsynchron im Verhältnis des je in Frage stehenden Systems zu denken (vgl. Tetzlaff2016: 15-24).5 Die Annahme einer „Heterotopie als paradigmatischeAbweichung“ (ebd.: 32) wäre zur Erklärung von diachronen Veränderungen imdialektischen Verhältnis von kulturellem Wissen und Ideologie jedoch einmöglicherweise fruchtbarer Ansatz (vgl. ebd.: 28–33).Für das Vorhaben eines so skizzierten kulturwissenschaftlich-ideologietheoretischen Zugriffs adaptierbare und produktiv zu machendeFragenkataloge liefern Nies, Nünning und Schmidt (vgl. Nies 2017: 390, Nünning2013: 30 f. u. Schmidt 2008: 366), die zugleich auf das Potenzial einerkulturwissenschaftlichen Interpretation der sich in solchen Rekonstruktionenzeigenden Machtverhältnisse als mögliche Instanz der kulturwissenschaftlich-ideologietheoretischen Untersuchung, verweisen: den Status von‚Ideologien‘ respektive ihren kulturellen Codierungen in Bezug auf hegemonialeSysteme als affirmativ oder innovativ/subversiv beziehungsweise restaurativ oderrevolutionär. Als methodisches Fundament zur Analyse der Verhältnisse vonkulturellem Wissen, Überzeugungssystem(en) und ihren in systematischenKontexten je artikulierten Elementen auf zunächst abstrakter Ebene bietet sich dabeietwa Siefkes differenzierter Vorschlag eines 4-Ebenen-Modells der Diskursanalysean, der von den oben angesprochenen Diskursmustern ausgeht und damit für diehier umrissene Ideologiedefinition anschlussfähig ist (vgl. Siefkes 2013: 368–384).Auf diese Weise miteinander konstelliert, könnten sich die in der üblichenVerwendung recht unklaren Begriffe der ‚Kultur‘ und der ‚Ideologie‘ gegenseitigergänzen. Einerseits wäre eine Schärfung des Ideologiebegriffs mithilfe von aufdiesen Nenner zuzuspitzenden Annahmen kulturwissenschaftlicher Ansätze möglich,andererseits ließe sich der monolithische Kulturbegriff durch Inbezugsetzung mitideologietheoretischen Überlegungen präzisieren und strukturieren. Damit wäre einesystematische Ausrichtung kulturwissenschaftlicher Forschung auf transdisziplinärerEbene möglich, ohne jedoch disziplinäre Spezialisierungen obsolet werden zu lassen,da die abstrakte Ebene der systematischen Betrachtung und Erfassung von 13 Phänomenen im dialektischen Spannungsfeld Kultur-Ideologie allein mithilfe disziplin-spezifischer Terminologie und Methodologie an Gegenständen und Themenfeldernkonkretisiert und umgesetzt werden kann (vgl. Siefkes 2013: 359). Auf diese Weisewäre es möglich, nicht einem der beiden von Baßler vorgeschlagenen Wege derText-Kontext-Untersuchung folgen zu müssen sondern – indem der genauenRekonstruktion ideologischer Verhältnisse immer schon eine kritische Komponenteeignet (vgl. Rehmann 2004) – beide beanspruchen zu können: sowohl genauetheoretisch-methodische Fundierung als auch kritische gesellschaftlich-operativeAusrichtung (vgl. Baßler 2008: 148–153). ForschungsliteraturBachmann-Medick, Doris (2008): „Kulturanthropologie“. 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In: Online-Ausgabe des Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus,http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=i:ideologietheorie(20.02.2021).Schmidt, Siegfried J. (2008): „Medienkulturwissenschaft“. In: Ansgar Nünning/VeraNünning (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. TheoretischeGrundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar, S. 351–369.Schöttker, Detlev (2007): „Ideologie“. In: Reallexikon der deutschenLiteraturwissenschaft. Bd. 2: H–O. Hg. v. Harald Fricke u. a. Berlin/New York,S. 118–121.Siefkes, Martin (2013): „Wie wir den Zusammenhang von Texten, Denken undGesellschaft verstehen. Ein semiotisches 4-Ebenen-Modell derDiskursanalyse“. In: Zeitschrift für Semiotik 35, 3-4, S. 353–391.Strasen, Sven-Knut (2013): „Ideologie und Ideologiekritik“. In: Metzler LexikonLiteratur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v.Ansgar Nünning. 5., erw. u. aktual. Aufl. 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