DIE KULTUR DER AFFEKTE: EIN HISTORISCHER ABRISS MICHAEL HOFF Flüchtig sind die Affekte: Als heftige, unmittelbar auf das menschliche Empfinden und Verhalten einwirkende Erregungen existieren sie nur für einen Augenblick. Greifbar werden sie nur an ihren Auswirkungen, die von veränderter Mimik über soziales Verhalten bis zu Akten sinnloser Zerstörung reichen. Deren Ungeheuerlichkeit ließ den Affekt auch zu einem juristischen Terminus werden. In Rhetorik, Kunst und Werbung suchte man sich die Wirkmacht der Affekte seit jeher zu Nutze zu ma- chen; ebenso wie Philosophie, Theologie und Psychologie Erklärungen für die Affekte und Maßregeln für den geeignetem Umgang mit ihnen formulierten. Die Bemühungen um rationale Kontrolle ließen nicht nur jede Zeit ihren eigenen Affektkatalog fixieren, sondern veränderten zugleich die Auffassung des Gegenstandes. Gerade im deutschen Sprach- gebrauch wurde die Stellung von Affekten in der begrifflichen Ordnung immer weiter beschränkt. Als die ältere, seit Jahrhunderten für die Verständigung über innere Empfindungen und deren äußere Anzeichen gebrauchte Kategorie, hatte sie einen Großteil ihrer Bedeutung an Begriffe abzutreten, die - wie etwa Gefühl, Emotion und Stimmung - ihre spezifische Kontur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erhalten haben. Dabei wurde dem Affektbegriff nur noch das zugewiesen, was an den emotiven Vorgängen undurchschaubar und unkontrollierbar bleibt. Die Affekte verloren ihre Unterscheidbarkeit und begründeten keinen Anspruch mehr auf systematische Erklärung. So bleibt >das Affektive< übrig, dem als begriffliche Kernprägnanz neben dem Verweis auf sinn- liche Erregungsvorgänge bloß noch der Beigeschmack des unkontrollier- bar Unvernünftigen anhaftet. Umgekehrt ist der Affektbegriff jedoch auch durch seine positive Verallgemeinerung in Auflösung befindlich, nachdem sich die in der angelsächsischen Tradition übliche Verwendung von affect als Oberbegriff der Emotionen immer stärker durchsetzt.' Vgl. Harald C. Traue/Henrik Kessler: Psychologische Emotionskonzepte. In: Achim Stephan/Henrik Walter (Hg.): Natur und Theorie der Emotionen. Paderbom 2003, S. 20-33; Jürgen H. Otto/Harald A. Euler/Heinz Mandl: Be- griffsbestimmungen. In: dies.: Emotionspsychologie. Weinheim 2000, S. 11-18. 20 DIE KULTUR DER AFFEKTE Innerhalb der jüngeren, vor allem von der Neurobiologie angeführ- ten Emotionsforschung scheint die Behandlung der Affekte weitgehend der von Descartes vorgenommenen Zuweisung der Affekte an den Bereich bloß körperlicher Vorgänge zu folgen. 2 Die Trennung der Do- mänen von Körper und Geist beschränkt die Fragerichtungen entweder auf isolierte physiologische Abläufe oder- unter dem erweiteren Affekt- begriff- auf die Bedeutung bereits identifizierter mentaler Zustände. So interessiert man sich unter dem Stichwort der Affekte eher für Gefühle und Emotionen, die - als vergleichsweise lang andauernde und bewusst erlebte Zustände - der Beobachtung, Reflexion, Theoriebildung und Kontrolle weitaus leichter zugänglich sind. Nachdem die neurobiologi- sche Forschung verfeinerte Methoden zur objektivierenden Beobachtung hirnphysiologischer Strukturen und Prozesse entwickelt hat, sehen sich kognitive Emotionstheorien von der Aussicht bestärkt, dass der Verlauf affektiver Erregungen im Hirn nachgezeichnet und erklärt werden kann. Aus der Relevanz dieser körperlichen Vorgänge für das individuelle Er- leben und soziale Verhalten leiten Vertreter der neuen >Affective Seien- ces< den Anspruch ab, in der Nachfolge der >kognitiven Wende< der 1960er Jahre einen Wissenschaftstrend zu formieren. 3 Die neurobiolo- gische Entschlüsselung affektiver Prozesse bildet dabei den Ausgangs- punkt für verbesserte Erklärungen des menschlichen Verhaltens. Die Berechenbarkeit, die den Affekten in einer solchen Außensicht zuge- schrieben wird, lässt sie aber auch als paradoxes Gegenstück zu dem in jüngeren Debatten so problematisch gewordenen Konzept des freien Willens hervortreten. Denn gleichzeitig liefern neurobiologische Unter- suchungen neue Anhaltspunkte, wonach die Wahrnehmungen, Urteile und Entschlüsse des Bewusstseins von unkontrollierten neurophysiolo- gischen Vorgängen eingeleitet oder sogar bestimmt werden. 4 An die Stelle der vom Individuum verantworteten Entscheidung als Movens menschlichen Verhaltens tritt eine vom Einzelnen nicht mehr durch- schaubare Verflechtung basaler Körperfunktionen, der Aufnahme von Sinnesreizen, der kognitiven Signalverarbeitung und der Mechanismen des Handelns, innerhalb derer den Affekten nun eine Schlüsselfunktion zugeschrieben wird. 2 Rene Descartes: Die Leidenschaften der Seele I Les passions de l'ame (1649). Hg. von Klaus Hammacher, Harnburg 1996. 3 Maßgeblich etwa die Genfer Forschergruppe um Klaus Scherer, siehe unter: http://www.affective-sciences.org/en/introduction/affective-sciences.html (1. Juni 2006). V gl. Klaus Scherer: Cognitive Components of Emotion. In: R.J. Davidson/Klaus R. Scherer/H. Hill Goldsmith (Hg.): Handbook ofthe Affec- tive Sciences. New Y ork 2003, S. 563-571. 4 Vgl. Antonio Damasio: Descartes' Error. Emotion, Reason, and the Human Brain. New York 1994. 21 MICHAEL HOFF Vieles spricht jedoch dafür, die mit einem solchen Affektbegriff ver- bundene dualistische Perspektive zu verlassen. Die Bedeutung der Affek- te für die Interaktion mit anderen Personen oder Objekten erinnert eben- so wie ein Blick in die Geschichte des Begriffs daran, dass mit Affekten gerade das spannungsreiche Verhältnis der Person zu ihrer Außenwelt erfasst werden sollte. Anstatt den Verlauf einer Erregung in einem ge- schlossenen System zu verfolgen, ist danach zu fragen, welches Verhält- nis zwischen den physiologischen, den geistigen Dimensionen der Ge- fühle bzw. Emotionen und der biologischen, sozialen und kulturellen Umwelt des Menschen besteht. Wie ein kurzer historischer Exkurs zeigt, macht gerade diese Relationalität, von der die Autonomie des Subjektes ebenso wie die Möglichkeit geschlossener Erklärungen der menschlichen Natur in Frage gestellt wird, die fortdauernde Aktualität der Affekte aus. Affektbegriffe im historischen Wandel In der Geschichte der Affekt-Diskurse in Philosophie und Kunst finden sich einige Voraussetzungen dafür, dass die Stellung und Funktion von Affekten gerade wegen ihrer Relation zu kulturellen Objekten und Ver- hältnissen jenseits der Dualität von Körper und Geist erörtert werden kann. Man müsste schon mit Aristoteles beginnen, der - nach Platons Abgrenzung der Leidenschaften vom metaphysischen Streben- in seiner Ethik und seiner Rhetorik die körperlichen Abläufe, das momenthafte Erleben und die sozialen Wirkungen in eine neue Systematik der Affekte einbezogen hatte.5 In der Auffassung des christlichen Mittelalters wurde der Dualismus von Diesseits/Körper und Jenseits/Geist-Seele zum be- herrschenden Paradigma kultureller Ordnung, das für die Affekte eine doppelte Einteilung (etwa durch Thomas von Aquin) in körperliche oder geistige und leidhafte oder begehrende Regungen ergab.6 Zugleich muss- te man anerkennen, dass der menschliche Wille die außervernünftigen Seelenregungen in einer durchaus nicht vorhersagbaren Weise beein- flusst. Daraus entwickelte sich jene Auffassung von Affekten als Mittler zwischen Mensch und Natur, die seit der Frührenaissance von humanis- tischen Gelehrten vertreten wurde.7 Über ihren bildrhetorischen Einsatz hinaus gehört die Suche nach gezielten Affektwirkungen so auch zu den Grundelementen der als naturerkennende Wissenschaft gedachten Kunst 5 H.M. Gardiner/Ruth Clark Metcalf/ John G. Beebe-Center: Feeling and Emo- tion. A History ofTheories (1937). Nachdruck Westport 1970, S. 28-50. Vgl. Dominic Kaegi: Ein gutes Gefühl. Artistoteles über den Zusammenhang von Affekt und Tugend. In: Stefan Hübsch/Dominic Kaegi (Hg.): Affekte. Philo- sophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. Heidelberg 1999, S. 33-52. 6 Gardiner u.a., Feeling and Emotion, S. 99-118. 7 Karl-Heinz zur Mühlen: Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Refor- mationszeit In: Archiv für Begrifftgeschichte, Bd. 35, 1992, S. 93-114. 22 DIE KULTUR DER AFFEKTE Leonardo da Vincis. 8 Im öffentlichen Bewusstsein des 16. und 17. Jahr- hunderts wurden die Affekte jedoch weiter beargwöhnt, soweit sie nicht als rhetorisch eingesetzte Mittler zum jenseitigen Heil in Anspruch ge- nommen werden konnten. Descartes definiert die Affekte schließlich als allein körperliche Phänomene, deren Kontrolle durch den Geist zu erstre- ben ist.9 Dies motiviert auch systematische Darlegungen wie von Charles Le Brun (1619-1690), der nun eine exakte Erfassung der Affekte zur Grundlage ihrer künstlerischen Darstellung machen wollte. 10 Eine neben Descartes fortbestehende Auffassung sieht dagegen ein reflexives Mo- ment untrennbar mit den Affekten verbunden. Als Auslöser menschlicher Selbstvergewisserung wird ihnen in Spinozas Ethik eine herausgehobene Stellung zugewiesen.'' Neue Voraussetzungen dafür, dass die Affekte seit dem 18. Jahrhun- dert zum Gegenstand positiven öffentlichen Interesses werden konnten, bietet neben anderen Rousseau. Er unterscheidet natürliche und künstli- che Empfindungen und verbindet die natürliche Konstitution der Empfin- dungsfahigkeit und die persönliche Erfahrung ihrer Tätigkeit zu einem ausgezeichneten Merkmal des Menschen. Vor allem werden die Affekte nun auf soziale Situationen bezogen, und die zivilisationskritische Per- spektive macht ihre positive Bewertung als Naturmerkmal zulässig. Sehr wohl werden diese >natürlichen< Äußerungen des Gefühls einer Ratio- nalität unterworfen, nämlich der des Handelns; für die Sensationalisten (wie Etienne Bonnot de Condillac) sind sie von den allgegenwärtigen Prinzipien der Lust und der Unlust (oder des Schmerzes) bestimmt. Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) entwickelt zur Erklärung dieses emotionalen Verhaltens ein Modell, das - mit der Annahme einer rein mechanischen Natur dieser Prozesse -im Gegensatz zum cartesianischen Dualismus steht. Hier wird nun klar unterschieden: zwischen den ver- schiedenen Affekten (affections), die vom seelischen Apparat entspre- chend der Zustimmungsfahigkeit der Wahrnehmungen erzeugt werden, und jenen starken Gefühlen/Leidenschaften (passions), die das Gleich- 8 Vgl. Kenneth D. Keele: Leonardo da Vinci's Elements ofthe Science of Man. New York 1983; Claire Farago: Die A'sthetik der Bewegung in Leonardos Kunsttheorie. In: Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. München 2002, S. 137-168. 9 Vgl. Carole Talon-Hugon: Vom Thomismus zur neuen Auffassung der Affekte im 17. Jahrhundert. In: Jean-Daniel Krebs (Hg.): Die Affekte und ihre Reprä- sentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Bem 1996, S. 65-71. 10 Vgl. Jennifer Montagu: The Expression of the Passions. The Origins and Injluence of Charles LeBrun 's Conference sur I' expression generale et particu- liere. New Haven 1994. II Wolfgang Bartuschat: Vernunft und Affektivität bei Spinoza. In: Hübsch/Kaegi, Affekte, S. 91-100. 23 MICHAEL HOFF gewicht jener Vorgänge und damit die rationalen Prinzipien des Verhal- tens stören. 12 Die Etablierung des Gefühls als ein eigenständiges Vermögen - neben den traditionellen Antagonisten Begehren und Vernunft - leitet im 18. Jahrhundert in Deutschland einen erneuten Umschwung in der Beurteilung der Affekte ein. 13 Zunächst wird eine eigene Qualität der Affekte angenommen, wenn Johann Georg Sulzer (1720-1779) die auf Objekte gerichtete >Vorstellung< unterscheidet von der >Empfindung< als der Eigenwahrnehmung dieser Sinnestätigkeit Die mit einer kognitiven Komponente verbundenen sinnlichen Empfindungen gehen in den Be- griff des Gefühls ein, der die positive Anerkennung emotionalen Erle- bens etwa in der Moralphilosophie und der Ästhetik gegen den alten Verdacht des Irrationalismus absichert. Diese Differenzierung emotiver Prozesse anhand ihrer Bewusstseinsfahigkeit wird von Karrt ausgebaut: Mit dem Gefühl wird dem Emotionalen ein herausragender Platz einge- räumt, insofern es am Erkennen teilhat, bis hin zu der Einsichtsfahigkeit des ästhetischen Gefühls, in welcher es dem Urteil des Verstandes adä- quat ist. 14 Als Grundlage dieser Ebenbürtigkeit von Verstand und Gefühl rechnet Karrt dem Menschen die Freiheit des Urteils zu, wogegen die nicht urteilsfahigen und in der Polarität von Lust und Unlust bloß quantitativ fassbaren Erregungen den Affekten zugeschlagen werden. Sie bedrohen so in ihrem eruptiven Wirken die Autonomie des vernünftigen Individuums, was sie ebenso abwertet wie die langlebigeren, habituellen Leidenschaften. 15 Damit korrespondiert ein Ideal, das die Herzensbildung von affektiver Betroffenheit über gepflegte Empfindungen zur Innigkeit des Gefühls voranschreiten lässt und die Freiheit von Leidenschaften schließlich mit Schiller als »unausbleiblichen Effekt der Schönheit« ansieht. Bis hin zu Schleiermacher wird das Emotionale als Gefühl in das Bewusstsein vom eigenen Urteilsvermögen aufgenommen, im Gegenzug schreibt man die Affekte als das dabei Unverfügbare einem patholo- gischen Naturwesen zu, das es zu überwinden gelte. 16 12 Gardiner u.a. , Feeling and Emotion , S. 245-250. 13 Vgl. Gardiner u.a., Feeling and Emotion , S. 255-270. 14 Vgl. Brigitte Scheer: Können Gefühle urteilen? In: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefohl. Ber1in 2004, S. 260-273. 15 Matthias Kettner: Kommunikative Vernunft, Gefühle und Gründe. In: Gertrud Koch (Hg.): Auge und Affekt. Frankfurt am Main 1995, S. 123-146. 16 Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl. In: Hübsch/Kaegi, Affekte, S. 137-150, bes. S. 138-142. 24 DIE KULTUR DER AFFEKTE Techniken des Ausdrucks seit dem 19. Jahrhundert Mit einer solchen Polarisierung zwischen der Natur der Affekte und der Kultur des Geistes festigte sich wieder die Auffassung von den >blind- machenden< Affekten, die von der Vernunft bestenfalls in ihren natur- wüchsigen Eigenschaften durchschaut und kontrolliert werden könnten. Vor dem Hintergrund dieses Ideals vollzieht sich im 19. Jahrhundert eine Technisierung und Semiotisierung der Affekt-Diskurse, die das rhetori- sche Paradigma der Affekt-Darstellung verdrängt und weiter an der Ra- tionalisierung der menschlichen Natur arbeitet. 17 Ein Ausgangspunkt ist das von Diderot und Lessing in ihrer Darstellungstheorie des Theaters vertretene Modell des Schauspielers, der die Affekte nicht innerlich erlebt, sondern auf kontrollierte Weise äußerlich vorstellt. In Balzacs Theorie de demarche steht der typisierende Entwurf einer Persönlichkeit noch zwi- schen Wirklichkeitsbeobachtung und künstlerischer Erfindung. Für die weitere Erschließung affektiver Vorgänge wurden insbesondere die elek- trophysiologischen Studien von Duchenne de Boulogne maßgeblich, in denen die experimentelle Kopplung von Körperbewegung und Ausdrucks- wirkung die mechanische Rationalität der Affekte zu bestätigen schien. 18 Mit seinen fotografischen Aufnahmen künstlich stimulierter Mimik sucht er die größtmögliche Steigerung in der Qualität und Intensität der jewei- ligen Affektion. Derart technologisch induzierbar, wird auch die mimische Suggestion eines Schauspielers nicht mehr als Leistung des Verstandes und der Vorstellungskraft gewertet, sondern auf körperliche Strukturen und Abläufe zurückgeführt, die auch jenseits bewusster Intentionen liegen können. Die Deutung und Begründung einer solchen Symptomatik wird Gegenstand der Ausdruckspsychologie im 19. Jahrhundert. Maßgeblichen Anteil hat daran Wilhelm Wundt mit seinem Konzept der »Ausdrucks- bewegung«, das nicht nur die Semiotik der Affekte um das Element der Bewegung ergänzt, sondern aus der angenommenen Parallelität von psychischen Zuständen und körperlichen Symptomen die Möglichkeit ableitet, die menschlichen Empfindungen mit Bewegungsdarstellungen zu steuern. Unter den Bedingungen eines zunehmend technisierten Alltags bedienen nun Fotografie und Film mit ihren >Affektbildern< die Sehn- süchte eines Publikums, das sich selbst in der kalkulierten Wirkung der 17 Zur Inanspruchnahme von Affekten in der Ästhetik vgl. Hartmut Grimm: Affekt. In: Karlheinz Barck (Hg.): Asthetische Grundbegriffe. Bd.l, Stutt- gart/Weimar 2000, S. 16-49. 18 Vgl. Ausst.-Kat. Duchenne de Boulogne 1806-1875. La mecanique des passions. Hg. von Catherine Mathon, Ecole Nationale Superieure des Beaux- Arts, Paris 1999. 25 MICHAEL HOFF wiederholbaren und bewegten Darstellungen zu verstehen meint. 19 Dass die Erkenntnis der affektiven >conditio humana< damit der scheinbaren Ob- jektivität des >Kamera-Auges< überantwortet wird, bewirkt nicht nur einen Engschluss von Ausdruck und Eindruck in den expressiven Techniken der sich entfaltenden Kulturindustrie. Es privilegiert im Wissenschafts- diskurs auch die vergleichsweise klar unterscheidbaren Kategorien der Emotionen, die man sich nun gerne als kommunizierbare Bewusstseins- inhalte denkt. Die Kulturwissenschaften und die Medialisierung der Affekte Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machten gerade die Kunst- und Kulturwissenschaften die Affektproblematik methodisch fruchtbar. Vor die Frage gestellt, inwieweit sich die Ausdrucksprozesse auch in unbeweglichen, historischen Artefakten niederschlagen und ablesen lassen, suchten Kunsthistoriker wie Konrad Fiedler und Alois Riegl in unterschiedlicher Weise das schöpferische Handeln in Kunst oder »Kunst- industrie« als eine Wirkung affektiver Prozesse theoretisch beziehungs- weise historisch zu erfassen.20 Vor allem war es Aby Warburg, der bei der Analyse historischer Kulturerzeugnisse auch die affektive Macht der Bilder in Rechnung stellte. Dass er dabei von zeitgenössischen Bemü- hungen um eine Kulturpsychologie angeregt wurde und sich auch an Darwins Konzept der Ausdrucksbewegung orientierte, ist besser bekannt als sein (abgebrochener) Versuch, sich durch ein Medizinstudium über die physiologischen Abläufe der zugrunde liegenden Erregungsprozesse kundig zu machen. Hier gewonnene Einblicke schlugen sich im Symptom- Modell und in der Energie-Metapher nieder, mit denen er die hinter den bildenden Künsten wirksamen Prozesse zu verdeutlichen suchte.21 Am prominentesten sind seine Überlegungen zum »Nachleben« antiker Gebär- 19 Die hier nur angedeuteten diskursiven Verflechtungen von Darstellungstheorie, Ausdruckspsychologie und neuen Bildmedien im 19. Jahrhundert erörtert aus- führlich: Petra Löffler: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik. Biele- feld 2004. 20 Konrad Fiedler: Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887). In: ders.: Schriften zur Kunst. Bd. 1, hg. von Gottfried Boehm, München 1991, S. 111-220; und Alois Riegl: Die spätrömische Kunstindustrie nach den Fun- den in Österreich-Ungarn (1901). Wien 2 1927; und ders.: Stilfragen. Grundle- gungen zu einer Geschichte der Ornamentik (1893). Berlin 21923. 21 Zu Warburgs Bekanntschaft mit der Kulturpsychologie vgl. Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main 1981 (1970), S. 42-56; zum Medizinstudium siehe Gertrud Bing: Aby M Warburg. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. XXVIII, 1965, S. 299- 313, bes. S. 303; zu Warburgs »Symptomatologie« zahlreiche Hinweise bei Georges Didi-Huberman: L'image survivante. Histoire de l'art et temps des fantomes selon Aby Warburg. Paris 2002. 26 DIE KULTUR DER AFFEKTE den in der italienischen Renaissance, für deren Erklärung er den Begriff der Pathosformel prägte, die in der Wiederholung einer spezifischen Form vor allem die Intensität eines inneren Zustandes zur Darstellung bringt. Die besondere Leistung von Warburgs Ansatz besteht darin, dass er diese Umwandlung von affektiver Erregung in visuelle (und sprach- liche) Formprägungen als funktionalen Prozess versteht, bei dem mit der Bildung eines symbolischen Inhalts zugleich die Bewältigung eines exis- tenziellen Konflikts erfolgt. Es handelt sich dabei um einen Prozess des »bewussten Distanzschaffens«, den Warburg als eine in die Gegenwart fortdauernde zivilisatorische Herausforderung erkennt.22 Dass Warburgs Ikonologie bei ihrer Einvernahme in das Fach Kunst- geschichte weitgehend auf eine Methode der Inhaltsdeutung reduziert wurde, lässt ahnen, wie gerne die Forschung ihre Selbstbegründung in solch grundsätzlichen Aufgaben schon als erledigt annehmen möchte. Vielleicht war eine solche >Disziplinierung< aber im wissenschaftshistori- schen Rückblick kaum vermeidbar, wie ein vergleichender Blick auf die Verdrängung von Riegls Ansatz durch Dvoraks Kunstgeschichte als Geis- tesgeschichte23 ebenso nahelegt wie Wölfflins ähnlich grundlegendes System der Stilkategorien, das aus dem aufgegebenen Versuch einer Architekturpsychologie hervorging.24 In der Folge blieb der Kunstwissen- schaft jedenfalls der Dualismus von Form und Inhalt erhalten, der durch die nachfolgende Horizonterweiterung auf soziale Funktionen von Kunst nicht angetastet und durch das in jüngerer Zeit hinzugetretene Interesse am medialen Charakter der Bilder noch keineswegs aufgelöst wurde. Affekte in der Psychoanalyse Vor allem die Psychoanalyse hat eine wissenschaftliche Theorie ent- wickelt, die psychische Ursachen und körperliche Manifestationen der Affekte integriert. In Sigmund Freuds Metapsychologie erscheint der Affekt eingebunden in psychische Strukturen und Prozesse, die ihre 22 Sehr klar legt Bing diese Spezifik von Warburgs Ansatz dar, die ihn zum viel- leicht ersten Bildwissenschaftler macht. Vgl. Bing, Aby M Warburg, S. 312f. sowie Comelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen- Werk. Berlin 2004, bes. S. 120f. 23 Max Dvorak: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Studien zur abendländi- schen Kunstentwicklung. München 1924. 24 Vgl. Willibald Sauerländer: Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siixle. In: Fin de siixle. Hg. von Roger Bauer. Frankfurt am Main 1977, S. 125-139; zur Kritik an Panofskys Umwandlung der Ikonologie in eine kunstgeschichtliche Methode vgl. Keith Moxey: The Politics of Iconology. In: Brendan Cassidy (Hg.): Iconography at the Cross- roads. Princeton 1993, S. 27-31; vgl. dazu auch lrving Lavin: Iconography as a Humanistic Discipline. In: ebd., S. 33-41. 27 MICHAEL HOFF Logik jenseits eines bewussten Verlaufes entfalten. Er erweist sich dabei als hochdynamisches, energetisch aufgeladenes Element, mit den Quali- täten der Identitäts- und Bedeutungsbildung. Freuds früher Affektbegriff, wie er sich z.B. in den Studien über Hysterie zeigt, ist noch von einem quantitativen Verständnis geprägt.25 Hier repräsentiert der Affekt in Ver- bindung mit der Vorstellung somatische Phänomene. Wichtig für die Ätio- logie der Neurosen ist indes, dass schwer erträgliche Vorstellungen durch die Abspaltung des Affekts >neutralisiert< werden. So vermutet Freud, dass in der Hysterie seelischer Schmerz durch körperlichen Schmerz symbolisiert werden könne. Auch Freuds Analyse der Melancholie stellt das Schicksal der Affekte in den Mittelpunkt, wenn Wut und Hass auf das Objekt vom Subjekt gegen das eigene Ich gewendet werden.26 Das Freud'sche Denkmodell hat bis in die jüngste Zeit kunst- und literatur- wissenschaftliche Untersuchungen angeregt. Aktuell wäre hier das >Un- heimliche< zu nennen, jene Sonderform des Angsterregenden, mit deren Beschreibung Freud in den Bereich der Wirkungsästhetik vordringt. 27 In ihrer weiteren Entwicklung haben die psychoanalytischen Theo- rien mit unterschiedlicher Orientierung auf Objektbeziehung, Affekt- semantik und Affektkommunikation ein umfassendes Verständnis der Repräsentationen von Affekten gewonnen.28 So wird jüngst bei Rainer Krause das Emotionssystem als Interface definiert, welches zwischen der Umwelt und verschiedenen Modulen des Organismus eingeschaltet ist. Das expressive Modul ist für die Steuerung von Mimik und Stimme und damit für Kontakt und Kommunikation zuständig. Hier kommen die sogenannten Primäraffekte (Freude, Trauer, Verachtung, Ekel, Angst, Neugier, Wut) zum Einsatz, die aufgrundihrer phylogenetischen Veran- kerung nur begrenzt kulturell überformt werden können. 29 Diese Analysesysteme gehen davon aus, dass Handlungsimpulse und Gefühle auf eine dem Denken analoge Weise verarbeitet werden- eine Auffassung, der sich die Emotionsforschung der Psychologie und Neuro- biologie in jüngerer Zeit ebenfalls annähern. Eine weitere Konvergenz der Perspektiven zeichnet sich auch dort ab, wo sich andere Disziplinen 25 Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895). In: ders.: Gesammelte Werke. 18 Bde, hg. vonAnnaFreud, FrankfurtamMain 1960-1987, Bd. I, S. 75-312. 26 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (1917). In: ders., Gesammelte Werke, Bd. X, S. 428-446, hier S. 438. 27 Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919). In: ders., Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 226-268. 28 Heinz Henseler: Zur Entwicklung der psychoanalytischen Affekttheorie. In: Zeitschriftfür psychoanalytische Theorie und Praxis, Jg. 4, H. 1, 1989, S. 3-16, hier S. 12. 29 Rainer Krause: Affekt, Emotion, Gefühl. In: Wolfgang Mertens (Hg.): Wörter- buch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart 2000, S. 30-37. 28 DIE KULTUR DER AFFEKTE m diesem Zusammenhang nun ebenfalls für die als Identitätsbildung beziehungsweise als Selbst-Empfindung (»sense of self«) konzeptuali- sierten Prozesse interessieren.30 Affekte als Wahrnehmungshandlung bei Bergson und Deleuze Einen anderen Ausgang für das Verständnis der Affekte nimmt am An- fang des 20. Jahrhunderts Henri Bergson, wenn er sie innerhalb der von ihm als Handlung begriffenen Wahrnehmung ansiedelt. 31 Dabei wird die Affektion als ein Grundphänomen der menschlichen Existenz gleicher- maßen körperlich wie geistig wirksam: Die aufgenommenen >Erschütte- rungen< der Empfindungen setzen sich in >Taten< der Bewegungen um, wobei die >Bilder< des Gedächtnisses erzeugt werden. So wird das Ge- dächtnis für Bergson (in Fortführung Spinozas) gerade durch das Wirken affektiver Erregungen zum eigentlichen Ort der Freiheit des mensch- lichen Geistes, weil es dabei von der Wirklichkeit ebenso zehrt, wie es Eingriffe in deren Bewegung veranlasst.32 An Bergsons Auffassung der Affektion als Verschränkung von Raum und Zeit in den vitalen Funktionen des menschlichen Leibes knüpft Gilles Deleuze an - besonders markant im ersten Band seiner das Kino theoretisierenden Erkundung. Hier etabliert er das Affektbild als charak- teristische Erscheinungsform jenes Affektes, der sich im Intervall zwi- schen Wahrnehmung und Handeln (>Aktion<) als eine in Staunen und Verlangen sich verschränkende Koinzidenz von Subjekt und Objekt ent- faltet.33 In dieser Spannung birgt insbesondere die Großaufnahme für Deleuze die Kraft, das Bild aus seinen raumzeitlichen Koordinaten zu lösen, um den >reinen Affekt< in seinem Ausdruck zu zeigen. Die Offen- heit dieser »Potentialqualitäten« im Affekt(bild) begründet für Deleuze einerseits die fortwährende Neuheit der vor allem durch Kunstwerke hervorgebrachten Affekte. Andererseits bringt sie aber auch einen ge- spenstischen Effekt hervor, da ihr Ausdruck unabhängig von einer Indi- viduation ist und diese geradezu auszulöschen vermag. Deleuze verweist diesbezüglich auf Katka, der diesen Effekt seinerzeit bereits als Folge der 30 Etwa Antonio R. Damasio: The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness. New Y ork 1999; vgl. auch Joseph M. Jones: Affect as Process. An Inquiry into the Centrality of Affect in Psychological Life. Hillsda1e/NewYork 1995. 31 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Harnburg 1991 (frz. OA.: Matüire et memoire. Paris 1896), S. 39-52. 32 Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 248-250. 33 Gilles De1euze: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt am Main 1989, bes. S. 99, 123-134. 29 MICHAEL HOFF zunehmend von technischen Apparaten kommunizierten Affekte ausge- macht hatte.34 Aus der Perspektive von Bergson und Deleuze tritt also wieder die Intensität, Unbestimmtheit und Irritationskraft der Affekte in das Blickfeld, während sich ihre Sichtweise eindimensionalen Kategorisierungen der zugehörigen Phänomene verweigert. Was Kritiker der sogenannten Lebens- beziehungsweise Medienphilosophie hier als einen Gestus der Hingabe beargwöhnen mögen, entspricht vielmehr einer von Einsicht in die Ver- flechtungen des eigenen Wahmehmens und Handeins getragenen Praxis.35 Die produktive Unbestimmtheit der Affekte Dass sich alles Emotionale unter einen Oberbegriff subsumieren lässt, ist besonders prominent von Paul Griffiths bezweifelt worden, der einen wesentlichen Unterschied zwischen rein physiologischen Erregungsab- läufen und komplexeren, kulturell geformten Emotionen sieht.36 In der aktuellen Verbindung von kognitiv orientierter Emotionsforschung und Informationstechnologie scheint diese Differenz aus dem Blick zu gera- ten. So werden Systeme entwickelt, mit denen Körpersignale wie Puls, Hautwiderstand und Atemfrequenz bei Lernplattformen im Internet über- tragen werden, um anhand der damit angeblich möglichen affektiven Inter- aktion die Lernprozesse zu optimieren.37 Neben anderen Initiativen ver- folgt eine Forschergruppe zum >affective computing< am Massachusetts Institute of Technology das Ziel, diese Dimension des menschlichen Verhaltens in die Interaktion mit Maschinen einfließen und sogar von diesen imitieren zu lassen, um etwa die Nutzung medizinischer Experten- systeme durch Laien zu verbessern.38 Und auf der Website des Genfer Zentrums für >Affektive Wissenschaften< symbolisieren zwei Figuren mit künstlich modelliertem nachdenklichem und positivem Gesichtsausdruck 34 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, S. 134-140. 35 Vgl. dazu Brian Massumi: The Autonomy of Affect. In: Paul Patton (Hg.): Deleuze:A CriticalReader. Oxford 1996, S. 217-239. 36 Paul E. Griffiths: What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories. Chicago 1997. 37 So das Projekt Shared Affective Experience Web der japanischen ATR Media Information Science Laboratories, siehe: http://www.mis.atr.jp/sem/shared.html (1. Juni 2006). 38 Entsprechende Konzepte und Projekte sind im Internet dokumentiert unter http://affect.media.mit.edu/index.php (1. Juni 2006). Dort formuliert die For- schergruppe ihr Interesse: »Affective Computing is computing that relates to, arises from, or deliberately influences emotions«, und weiter: »Üur research is aimed at giving machines skills of emotional intelligence, including the ability to recognize, model, and understand human emotion, to appropriately commu- nicate emotion, and to respond to it effectively. We are also interested in developing technologies to assist in the development of human emotional intelligence«. Vgl. auch Rosalind W. Picard: Affective Computing. Boston 1997. 30 DIE KULTUR DER AFFEKTE nicht nur den Zukunftsoptimismus der Initiatoren - vielmehr signali- sieren die in den künstlichen Gesichtern sichtbar gelassenen Rasterstruk- turen den Anspruch, dank der gewonnenen Erkenntnisse eine Überein- stimmung von menschlicher Natur und technischer Repräsentation her- beizuführen.39 Solche Projekte gehen von einem reduktiven Differenzie- rungsapparat aus, der die affektiven Mechanismen transparent erscheinen lässt und auf der Interaktionsebene abbildbar macht. Um menschliches Verhalten auf diese Weise analysieren und imitieren zu können, müssen die ungeklärten Anteile der Affekte jedoch aus dem Blick genommen werden. Es entsteht der Eindruck, dass man sich mit der Konjunktur der >Affective Sciences< entschiedener als je bemüht, sich jenes Momentes schicksalhaften oder unwillkürlichen Erleidens zu entledigen, von dem die alten Begriffe des Pathos, des Affektes und der Leidenschaft ausge- gangen waren. Zur gleichen Zeit dient eine affektive Aufladung als wichtiges Instru- ment für Machtgewinn und Verhaltenssteuerung in allen Bereichen der Mediengesellschaft.40 Bei allen Tendenzen, die gerade in ihrer Unklarheit auch verlockenden, irritierenden oder erschreckenden Momente der Af- fekte aus dem Diskurs zu verdrängen, verschwinden diese gewiss nicht als Erlebnisqualität der Subjekte. Kaum strittig dürfte auch sein, dass Affekte nicht zuletzt aufgrund ihres unkontrollierten Charakters ökono- misch ausgewertet werden können. Sollte es in absehbarer Zeit aber nur noch den Künsten überlassen bleiben, die Leiden, Freuden und Ungewiss- heiten erkennbar zu halten, die mit dem >affektiven< Ablauf der Anpas- sungsmechanismen des Menschen an seine Umwelt verbunden sind? Dabei kann es nicht darum gehen, die affektive Wirkung von Kunst- werken als Selbstzweck im Sinne einer früheren Affekt-Ästhetik zu verstehen. Das kritische Potenzial der Künste beruht vielmehr auf der Fähigkeit, kulturelle Objekte hervorzubringen, die ihre Wirkung jenseits einer vermeintlich reibungslosen Ökonomie der Affekte entfalten und so auch die Grenzen und Brüche dieser Ordnungen erkennbar machen.41 Es genügt daher nicht, Kunstwerke als bloßen Ort affektiver Intensitäten zu betrachten oder die beteiligten Medien nur als Kanal für die Weiter- leitung codierter emotionaler Informationen aufzufassen. Unter einem 39 Siehe http://affect.unige.ch (1. Juni 2006). 40 Siehe etwa die Beiträge zu Architektur, Video und Werbung in: Klaus Herdingi Bemhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Küns- ten. Berlin/New York 2004 und die Thematisierung der Affektstrategien zeit- genössischer Medien in: Oliver Grau/ Andreas Keil (Hg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Frankfurt am Main 2005. 41 Vgl. dazu Christoph Menke: Der ästhetische Blick. Affekt und Gewalt, Lust und Katharsis. In: Gertrud Koch (Hg.): Auge und Affekt. Frankfurt am Main 1995, S. 230-246. 31 MICHAEL HOFF solchen Blickwinkel, der die Trennung von Körper und Geist fortschreibt, muss die Repräsentation von Affekten problematisch bleiben.42 Vielmehr wäre an einer Perspektive gelegen, aus der gerade jene Verflechtungen affektiver Prozesse begriffen werden können, die als Übertritt >affektiver Energie< die Beschreibungslogik eines Systems sprengen - zugleich aber auf einer anderen Ebene kognitiv oder affektiv wirksame Veränderungen hervorbringen. Gerade an den Grenzen solcher >Beschreibungssysteme< tritt diese transformative Kraft der Affekte zutage, also dort, wo sich der >Erregungshaushalt< des Einzelnen zu den unterschiedlich beschreibbaren und veränderlichen Formationen des Sozialen, der Kultur oder der Natur zu verhalten hat. Die dabei auftretenden Irritationsmomente gehen in neue Werke ein, die nicht so sehr als formale Repräsentationen von Inhalten fungieren, sondern- im Sinne Warburgs- als kulturelle Instrumente der eigenen Orientierung in der Welt.43 Zu den Beiträgen in diesem Band Der vorliegende Band lädt nun dazu ein, die Künste als ein Feld anzu- sehen, auf dem solche Transformationen affektiver Abläufe erkennbar werden. Angesichts der hier vorgeschlagenen Auffassung der Künste als Medien der Affekt-Transformation kann es nicht darum gehen, ihr im Lichte einer früheren Affekt-Ästhetik oder auch einer späteren sogenan- nten >Massenpsychologie< gerne als wesenhaft behauptetes Affekt- bzw. Affizierungspotential zu beschwören. Zugleich gilt es, einen schwer be- stimmbaren, aber häufig anzutreffenden Widerstand gegen die Affekte zu überwinden: Spätestens seit sich die aufgeklärten Subjekte von der ihnen unbegreiflichen Wirkung des >Schwulstes< in der barocken und roman- tischen Wirkungsästhetik distanzierten, steht die Inanspruchnahme inten- siver, aber ungeklärter Gemütsbewegungen in einem zweifelhaften Ruf. Doch gerade in einer solchen Verschränkung von Abneigung und Urteils- kraft blitzt die Aktualität einer Sache auf, die zu begreifen einige Über- windung wert sein sollte. Es kann daher als eine besondere Chance der Kunstwissenschaften verstanden werden, das affektive Potential ihres Gegenstandes genauso wie dessen kognitiven Inhalt anzuerkennen und Zusammenhänge zwischen diesen beiden Domänen zu erarbeiten - wo- möglich beispielgebend für andere Fächer. Entsprechende Aktivitäten in jüngerer Zeit zeigen an, dass diese Chance zunehmend ergriffen wird.44 42 S. Richard Meyer: The Problem ofthe Passions. In: ders. (Hg.): Representing the Passions: Histories, Bodies, Visions. Los Angeles 2003, S. 1-11. 43 Vgl. Bing,AbyM Warburg, S. 312-313. 44 An dieser Stelle sind zu nennen die Internationale Tagung Passion(s) in Cul- ture(s) (11.-14. Dez. 2003, Einstein Forum, Potsdam), die Tagung Fotografi- sche Leidenschaften (29.-30. Okt. 2004, Museum fiir Fotografie und Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig), die 32 DIE KULTUR DER AFFEKTE Die Beiträge in diesem Band behandeln Affekte und die sie bedin- genden ästhetischen Strategien und medialen Voraussetzungen in unter- schiedlichen Künsten, von der Bildenden Kunst, über Fotografie, Video und Film bis hin zu Theater und Literatur. Nina Gülicher macht mit den spezifischen Entstehungsbedingungen von Rodins Balzac vertraut. Sie zeigt anhand der Rezeption dieses Wer- kes, wie die sich argumentativ bekämpfenden Fürsprecher der Impressio- nisten und Symbolisten das über die Wahrnehmung der Form realisierte Affektpotential für ihre Kunstauffassung als Medium von Wirkung und/ oder Bedeutung auf jeweils eigene Weise in Anspruch nehmen. Friedrich Weltzien geht auf das Verhältnis ein, welches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Balance zwischen Selbstkontrolle und Emotionalität als soziale Norm kennzeichnet. In diesem Kontext zeigt er »mit ständiger Rücksicht auf Immanuel Karrt«, wie im Werk von William Henry Fox Talbot der >Apparat< als Werkzeug der Objektivierung und damit der Kontrolle des Affekts durch den Fotografen inthronisiert wird. Auf diese Weise werden Zusammenhänge sichtbar, die zwischen den his- torischen Bedingungen des kommunikativen Umgangs mit Gefühlen auf der einen Seite und dem künstlerischen Selbstverständnis sowie der technischen Entwicklung auf der anderen Seite bestehen. Um Strategien einer irritierenden Affektion des Publikums geht es in Stefanie Kreuzers Text über Klaus Hoffers Roman Bei den Bieresch. Der Autor bietet in diesem Werk eine destabilisierte Erzählerfigur, welche nicht mehr zwischen Realität und Wahn, Wahrheit und Lüge etc. unter- schieden kann, als Identifikationsobjekt an. Damit erzeugt er einen Wechsel zwischen Empathie und Distanz, der den Leser in eine affektive Spannung versetzt. Mit Transformationen von (Vor-)Bildern und damit einhergehenden Bedeutungsverschiebungen setzt sich Antje Krause-Wahl auseinander. Sie stellt dar, wie Tracey Emin in den 1990er Jahren auf Bildformeln aus dem Werk von Edvard Murreh zugreift, um scheinbar eigene trauma- tische Erlebnisse in das Medium Video zu übertragen. Die sich in der Kunstkritik abzeichnende Inkompatibilität zwischen Emotionsdarstellung und affektiver Wirkung ist Anlass für die These vom Scheitern einer affektiven Emotionsdarstellung, die sich in einem gegenüber der Modeme gewandelten Subjektverständnis begründet. Christian Spies setzt sich mit Rosalind Krauss' Text Video: The Aesthetics of Narcissism (1976) auseinander, in dem diese- im Hinblick Tagung Emotionen in Nahsicht (28.-31. Okt. 2004, Graduiertenkolleg Psychi- sche Energien bildender Kunst, J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main) sowie Medien und Emotionen: Zur Geschichte ihrer Beziehung seit dem 19. Jahrhundert (25.-27. Februar 2005, Arbeitskreis Geschichte+ Theorie, In- stitut für soziale Bewegungen, Bochum). 33 MICHAEL HOFF auf die modernistische Entwicklungstradition - das Medium Video und seine affektgesteuerte Wirkweise beschreibt. Gegenüber dieser redukti- ven Perspektive, die eine affektgeladene Blickkonstellation als einfaches Sender-Ernpfarrger-Modell in den Mittelpunkt stellt, wird die differen- zierte künstlerische Bildlichkeit betont. In ihr wird gerade die Interferenz unterschiedlicher Weisen von Sichtbarkeit bedeutsam, und damit die Mög- lichkeit eröffnet, das Affektpotential des Videos analytisch zu erfassen. Helga Lutz erläutert die Bedeutung des >Unheimlichen< als ästheti- sche Kategorie, die gerade für die Untersuchung zeitgenössischer Kunst durch die Frage nach der medialen Konstruktion der entsprechenden Affektionen fruchtbar zu machen ist. Mit ihrer präzisen Beschreibung der letztlich unauflösbaren Dissonanzen und traumaähnlichen Erfahrungen, denen der Betrachter der Video/Audioinstallation Stasi City (1997) aus- gesetzt ist, stellt Lutz einen seit den 1990er Jahren verflachten und infla- tionär gebrauchten Begriff des Unheimlichen in Frage und setzt dessen verstörendes Potential wieder in seine kritische Funktion ein. Andreas Becker lehnt die Perspektive seines Beitrages an eine mar- xistischen Kulturanalyse an und lässt so eine mehrfache Ökonomie der Affekte im Film hervortreten: Er zeigt, wie Charles Chaplin in seiner Figur des Tramp die Ordnungssysteme der Gesellschaft zum Anstoß überschie- ßenden gestischen Agierens werden lässt - als Spiegel der Entäußerung/ Entfremdung des modernen Menschen durch die gesellschaftlichen Ver- hältnisse. Ob die Affizierung des Zuschauers durch die Figur des Tramp jener Entfremdung entgegenwirkt oder aber vielmehr diese Filme mit ihrer Faszinationskraft als Teil einer kulturindustriellen Zurichtung der Betrachter fungieren, bleibt dabei offen. Serjoscha Wiemer geht in seinem Aufsatz der Ereignisqualität des Films auf den Grund, indem er zwei ebenso berückende wie bedrückende Szenen aus Emir Kusturicas Arizona Dream (1993) vor der Folie eines »spinozistischen Immanenzplanes« im Sinne von Deleuze liest. In der tragikomischen Wiederholung von Cary Grants Spiel in Hitchcocks North by Northwest (1959) durch den Protagonisten wird anschaulich, dass die Zuschauer im Kino keineswegs den Affekten in Passivität ausgesetzt sind. Vielmehr erweist sich der »Affekt-Körper« der kinema- tischen Situation - entsprechend der Immanenz der Bewegungen von der Wahrnehmung zum Handeln- geradezu als Möglichkeit der Reflexion dieser Affektionen. Anke Zechner gelingt es, die Produktivität der deleuzianischen Film- Theorie anhand von Tsai Ming-Liangs Vive l'amour- Es lebe die Liebe anschaulich zu machen: In der improvisierten Schlussszene dieses Films entdeckt sie den eindrücklichen Fall eines sich im >Unbestimmten Raum< entfaltenden Affektbildes. Darin ist das Weinen der Protagonistirr nicht 34 DIE KULTUR DER AFFEKTE bloß Ausdruck eines Gefühlszustandes, sondern erzeugt Qualitäten eines singulären Ereignisses, das unabhängig von den narrativen Intentionen der Film-Erzählung entsteht. Heike Gehlschlägel untersucht die Affektarbeit im Theater des Re- gisseurs Einar Schleef und verortet sie in ihrem theaterhistorischen Kontext. Weder sollen seine Schauspieler Affekte aufkontrollierte Weise vorstellen, noch sollen sie und die Zuschauer sich emotional mit den fiktiven Figuren identifizieren. Schleef entwickelt dagegen eine Theater- praxis der Konfrontation und des Affekte-Wettkampfes. Die verschie- denen Wirklichkeiten von Autorfiguren, Schauspielern, Regisseur und Zuschauern treffen aufeinander, wobei sie eine affektiv mobilisierte Präsenz(wirkung) entfalten, die Schleef als gleichermaßen physische wie psychische >Fluoreszenz< bezeichnet. 35