Das Eigenheim im Grünen. Kontinuität und Wandel eines Sehnsuchtsortes Marcus Menzl Es ist bemerkenswerterweise gerade einmal 20 Jahre her, dass sich die profiliertesten Vertreter der deutschen Stadtforschung in Bremen zu einer Konferenz unter dem Titel Das Verschwinden der Städte (Krämer-Badoni/Petrowsky 1997) versammelten. Anlass der Veranstaltung war die ungebremste und scheinbar unabänderliche Abwanderung junger Familien in das Umland. Es wurde über die Folgen dieses Prozesses diskutiert, vor allem aber über die Wirkungslosigkeit planerischer Steuerungsversuche geklagt. Weder war es gelungen, die suburbanen Gemeinden in der Ausweisung immer neuer Flächen als Bauland zu bremsen, noch war der entscheidende Dreh gefunden worden, um den Abwanderungswunsch aus den Kernstädten, insbesondere von jungen Familien, abzuschwächen. In dieser Konstellation schien es naheliegender, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie die »Zwischenstadt« (Sieverts 1997) auszugestalten sei, als noch län- ger an dem vermeintlichen Fakt rütteln zu wollen, dass die Menschen nun mal mit der Familiengründung ins Eigenheim im Grünen streben und die Stadt sich folglich immer stärker in die Region auflöse. Heute, zwanzig Jahre später, befinden wir uns in einer völlig gegensätzlichen Kons- tellation: Die Städte werden, und zwar gerade auch von jungen Familien, der klassischen Zielgruppe des suburbanen Eigenheims, nachgefragt wie nie zuvor. Herfert und Oster- hage (2012: 95) weisen darauf hin, dass »von 2000 bis 2008 der Anteil der untersuchten westdeutschen Stadtregionen (n=63), in denen die Bevölkerungsentwicklung im Kern günstiger als im Umland verlief, schrittweise von unter 20 auf über 75 Prozent anstieg«. Kaup et al. (2014: 217) kommen sogar zu dem Ergebnis, dass für 90 Prozent der deutschen Stadtregionen von einer Zentralisierung gesprochen werden kann. Der Übergang von einer Dezentralisierung zur Zentralisierung stellt für Herfert und Osterhage »das typische Charakteristikum der stadtregionalen Entwicklung« (Herfert/Osterhage 2012: 95) der letzten Jahre dar. Nicht immer geht es dabei um Muster der absoluten Zentralisierung (Kern gewinnt, Umland verliert Einwohner), häufig ist bislang auch das Phänomen der relativen Zentralisierung zu beobachten (Kern und Umland gewinnen bzw. in Ostdeutschland z.T. verlieren beide Einwohner, aber das Umland gewinnt weniger bzw. verliert deutlicher). Gerade die innenstadtnahen Stadtteile stehen dabei unter enormem Entwicklungs- und ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1|2017 © transcript 2017 urn:nbn:de:hbz:6:3-zfk-2017-19942 Marcus Menzl Aufwertungsdruck und folglich ist es nun der Umgang mit Gentrifizierungsprozessen, der die Stadtforschung umtreibt. Die Versprechungen von Suburbia scheinen gänzlich »im Schatten der Reurbanisierung« zu verschwinden (BBSR 2016), selbst aus Perspektive der klassischen Familiengründer und -gründerinnen, bei denen die Kernstädte stark aufgeholt haben und zu fast ausgeglichenen Wanderungssalden kommen (Herfert/Os- terhage 2012: 103). Dies ist der empirische Hintergrund, der Häußermann (2009) zu der pointierten Formulierung bewegte, dass »der Suburbanisierung das Personal ausgehe« (Häußermann 2009). Von der Erfolgsgeschichte zum Auslaufmodell – wie lässt sich dieser Wahrneh- mungswandel erklären? Hat das Eigenheim im Grünen seinen Reiz verloren? Haben sich innerhalb weniger Jahre die wohnbezogenen Präferenzsysteme komplett verschoben? Es sind in den letzten Jahren vielfach die Dynamiken beschrieben worden, die erstens hinter dem relativen Bedeutungsverlust des Eigenheims im Grünen und damit des suburbanen Wohn- und Lebensmodells stehen, wie es sich insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg als marktbestimmende und ideologisch omnipräsente Lebensform herauskristallisiert hatte, und die zweitens die Renaissance des innerstädtischen Wohnens erklären (vgl. Läpple 2005; Frank 2011 und 2013; Brake/Herfert 2012; Häußermann et al. 2008). Ar- gumentiert wird mit der Erosion zahlreicher Grundvoraussetzungen des suburbanen Wohn- und Lebensmodells, die dazu geführt habe, dass dem Traum vom Eigenheim im Grünen heute zunehmend die Praktikabilität abhandenkommt. So sind speziell für die akademisch gebildeten und im weitesten Sinne in der Bran- che der Kreativ- und Wissensarbeit beschäftigten Mittelschichten heute zunehmend Arbeitsverhältnisse die Regel, die »entgrenzte Organisationsformen« (Läpple 2005: 406) aufweisen und komplexe, projektbezogene Kooperationsbeziehungen erfordern, was unter anderem auch in einer Zunahme von atypischen, d.h. prekären und autonomen Arbeitsbeziehungen zum Ausdruck kommt. »Eine funktionale Durchdringung und enge Integration von beruflichem, sozialem und persönlichem Leben ist eines der wesentlichen Merkmale der Arbeits- und Lebensweise dieses neuen Beschäftigungstyps«, so Läpple (2005: 407). Das klassische suburbane Wohn- und Lebensmodell zeichnete hingegen gerade die rigide Trennung von Erwerbsarbeit und Reproduktionssphäre aus. Zudem gründete sich der Erfolg des suburbanen Eigenheims in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts stark auf einer vergleichsweise hohen ökonomischen Sicherheit, von der speziell die Mittelschichtshaushalte durch Normalarbeitsverhältnisse und wohlfahrtsstaatliche Absicherungen profitieren konnten. Davon kann heute vielfach nicht mehr die Rede sein, stattdessen mehren sich Hinweise auf Abstiegsdynamiken bei Mittelschichtshaushalten (vgl. Mau 2012). Hinzu kommt heute, dass gerade bei den akademisch Gebildeten die Berufstätigkeit beider Partner immer selbstverständlicher wird und Frauen entsprechend seltener für die Rolle der Hausfrau zur Verfügung stehen, was die Frage aufwirft, wie sich Beruf und Familie auch bei Erwerbstätigkeit beider Eltern vereinbaren lassen. Das Modell des suburbanen Wohnens basierte in der Vergangenheit stets auf der festen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern (›male breadwinner/female housewife or homemaker‹); es stellt sich die Frage, ob es in Zukunft auch andere Rollenbilder ermöglicht bzw. anzieht. 118 | Das Eigenheim im Grünen Insgesamt, so der Tenor der Stadtforschung, kann die Stadt für die angedeuteten neuen Anforderungen attraktivere Lösungsangebote offerieren als die auch heute oft noch monofunktional geprägte Suburbia, so dass der inzwischen auch quantitativ belegbare Zuspruch, den innerstädtische Quartiere von Bewohnern und Bewohnerinnen auch nach der Ausbildungsphase (30 bis 45 Jahre) erfahren, wenig überrascht (vgl. Herfert/ Osterhage 2012). Es zeichnet sich somit eine grundlegende Trendverschiebung gerade bei jenen Haushalten ab, die in früheren Jahrzehnten vielfach mit der beruflichen Integration und der Familiengründung zugleich den wohnbiografischen Schritt in ein Eigenheim am Stadtrand vollzogen haben.1 Das Eigenheim im Grünen war jedoch nie bloß eine Vernunftentscheidung, sondern fungierte stets auch als Lebensziel, als Projektionsfläche, als Sehnsuchtsort. Ist das heute immer noch so? Oder haben sich die Wohnwünsche und Visionen, für die das Eigenheim im Grünen jahrzehntelang stand, überlebt, aufgelöst, umgewandelt? Die zentrale These der folgenden Ausführungen ist, dass die Wohnwünsche und -bedürfnisse, die das Ei- genheim im Grünen zu einem Sehnsuchtsort werden ließen, keineswegs ihre Bedeutung verloren haben, dass das Eigenheim im Grünen in seiner klassischen Form jedoch in zunehmend geringerem Maße geeignet ist bzw. als Option gesehen wird, diese erfolgreich zu realisieren. Das Spektrum der Wohnmodelle zur Umsetzung dieser Wohnwünsche und -bedürfnisse ist stattdessen erheblich breiter und individueller geworden. Im Folgenden möchte ich meine Argumentation in drei Schritte untergliedern: Zunächst möchte ich herausarbeiten, welche Wohnbedürfnisse, welcher wohnbezo- gene Lebensentwurf und letztlich welche Vision vom eigenen Alltag Haushalte heute dazu bewegen, in ein Eigenheim im Grünen zu ziehen. Daran anknüpfend möchte ich darstellen, welche Erfahrungen diese Haushalte heute bei der Umsetzung ihrer Vision machen: Welche Kompromisse sind vonnöten, wie lässt sich das Eigenheim im subur- banen Kontext den gesellschaftlichen und individuellen Ansprüchen anpassen – und wo stoßen Haushalte dabei an Grenzen? Der dritte Schritt fokussiert solche Haushalte, für die das suburbane Eigenheim keine praktikable oder elektrisierende Vision darstellt, die aber durchaus wesentliche Wohnbedürfnisse und -wünsche, die mit dem Eigenheim im Grünen verbunden werden, realisieren wollen und dies in unterschiedlichen, stark individuellen Wegen auch tatsächlich versuchen. Die empirische Grundlage der folgenden Ausführungen bilden mehrere Serien von qualitativen Interviews mit Mittelschichtsfamilien, die innerhalb der Region Hamburg zu sehr unterschiedlichen Wohnstandortentscheidungen (Suburbia, Kernstadt, Dop- pellösungen) gekommen sind. Eine Serie von 45 problemzentrierten Interviews (Witzel 1982; 2000) wurde 2003 und 2004 in der 25 km nördlich von Hamburg gelegenen, heute etwa 27.000 Einwohner umfassenden Gemeinde Henstedt-Ulzburg durchgeführt. Im 1 Basierend auf der Auswertung der Wanderungsstatistiken kommt zu diesem Schluss auch ein Gutachten der Freien und Hansestadt Hamburg (FHH) zum innerstädtischen Wohnungsmarkt Hamburgs: »Aber auch Haushaltsgruppen, unter denen sich traditio- nell zahlreiche Umlandwanderer befinden, verbleiben mit ihrem Wohnstandort in der inneren Stadt. Hierzu zählen insbesondere jüngere Familien, die ebenfalls eine gute und nahe Infrastruktur (z.B. Kindergärten) bevorzugen, um etwa eine Berufstätigkeit der El- tern zu erleichtern« (FHH 2014: 73). | 119 Marcus Menzl Fokus des Samples standen in der Gemeinde wohnende Familien, die aus Hamburg in die Gemeinde gezogen waren. Verschiedene Merkmale der Kerngruppe wurden bei der Samplebildung durch ausgewählte Fälle kontrastiert (z.B. Haushalte, die zur Miete oder in einer Geschosswohnung leben, Haushalte, die nicht aus Hamburg, sondern aus anderen (z.T. ländlichen) Regionen zugezogen waren usw.). Zudem wurden ergänzende Interviews mit Haushalten geführt, die aus der Gemeinde fortgezogen waren und mit solchen, die ›altansässig‹ waren. Die Auswertung und Interpretation der Interviews er- folgte in Orientierung an den Regeln der Grounded Theory (im Detail vgl. Menzl 2007: 40ff.). Eine zweite Interviewserie mit inzwischen rund 85 Interviews erfolgte zwischen 2006 und 2015 und bezog sich auf die Bewohnerschaft des neu entstehenden Innenstadt- Stadtteils HafenCity (u.a. Menzl et al. 2011). Hier wurden verschiedene Interviewserien durchgeführt, u.a. mit Familien, Senioren, Jugendlichen und multilokalen Haushalten. Inhaltlicher Fokus der methodisch ähnlich wie die Suburbia-Interviews aufgebauten und ausgewerteten Interviewserien war die Motivation zum Zuzug in den Stadtteil und die Erfahrungen bei der Organisation des Alltags am neuen Wohnort. Schließlich liegt den folgenden Ausführungen noch eine jüngere Serie von zehn Interviews aus den Jahren 2015 und 2016 zugrunde, die gezielt solche Familienhaushalte aus innenstadtnahen Quartieren mit gründerzeitlicher Prägung in den Fokus nahm, die Kombinationen von urbanem und nicht-städtischem Wohnen verfolgten. Durch die Zusammenschau verschiedener empirischer Untersuchungen zur Zielgruppe der Mittelschichtsfamilien ist es möglich, frühere Interpretationen nochmals neu zu betrachten und punktuell weiterzuentwickeln. Was treibt Haushalte in das Eigenheim im Grünen? Die Entscheidung, seinen bisherigen Wohnstandort aufzugeben und in ein Eigenheim im suburbanen Kontext zu ziehen, ist für die meisten Haushalte eine sehr grundlegende Entscheidung, die Veränderungen auf unterschiedlichsten Ebenen mit sich bringt (Wohn- umfeld, Wohnform, soziale Bezüge, Mobilitätsmuster etc.). In der Regel verlaufen die Umzugsentscheidungen in schrittweisen Prozessen. Am Anfang steht der Umzugsanlass, z.B. in Form einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem Status quo (erhöhter Platzbe- darf, neue Ansprüche an das Wohnumfeld, Höhe der Mietkosten etc.) oder auch einem sich weiterentwickelnden Lebensentwurf, der veränderte Prioritätensetzungen in der Wahrnehmung der eigenen Wohnsituation impliziert. Es bilden sich Argumente für eine Veränderung und irgendwann auch Bilder einer alternativen Wohnkonstellation heraus. Die Haushalte steigen dann in einen oft langwierigen und mitunter sehr komplexen Such-, Abwägungs- und Entscheidungsprozess ein. Da der Wohnungsmarkt in den Groß- stadtregionen ein sehr enger Markt ist und die hier betrachteten Mittelschichtshaushalte über mehr oder weniger begrenzte Budgets verfügen, sind Haushalte in der Regel dazu gezwungen, ihre Bilder vom künftigen Wohnstandort immer wieder zu modifizieren und weiterzuentwickeln, Kompromisse zu bilden und immer neue Entscheidungen zu treffen. Es ist z.B. bekannt, dass die Preisstrukturen des Immobilienmarktes dazu tendieren, Haushalte immer weiter in die Peripherie zu drängen, in denen zwar die täglichen Mobilitätskosten steigen, aber die Grundstückskosten niedriger sind (vgl. Immobilienmarktatlas 2016). 120 | Das Eigenheim im Grünen Auf all diese Fragen soll jetzt jedoch nicht vertiefend eingegangen werden, vielmehr geht es um die Bilder, Motive und Visionen, die jene Beteiligten im Kopf haben, die sich letztlich für einen Umzug ins Eigenheim im Grünen entscheiden. Es wäre sicherlich in- teressant, Haushalte im Rahmen eines Such-, Abwägungs- und Entscheidungsprozesses kontinuierlich zu begleiten und den Wandel der im Kopf befindlichen Bilder vom neuen Zuhause zu dokumentieren, in diesem Fall kann jedoch nur ex post auf diesen Prozess und die jeweils gewählte Wohn-Vision geblickt werden. Im Wesentlichen lassen sich die Erzählmuster in den Interviews, aber auch die Beobachtungen an den Intervieworten in vier Stränge untergliedern: Freiräume Ein großes Versprechen, das mit dem Eigenheim im Grünen verknüpft wird, ist die Gewinnung von Freiräumen im Wohnumfeld. Dabei spielt in den Erzählungen vieler Haushalte die Perspektive der Kinder eine zentrale Rolle: Sie können bedenkenlos in den eigenen Garten oder auch auf die Straße geschickt werden (»Tür auf, Kind raus«), den Nahraum eigenständig entdecken und später dann auch Wege zur Schule oder dem Verein mit dem Rad zurücklegen. Auch die Präsenz von Sport- und Bewegungsflächen sowie generell von viel Grün steigert den Wohnwert erheblich. Die erwachsenen Haus- haltsmitglieder selbst versprechen sich einen einfacheren Zugang in die Natur, sei es durch die Präsenz einer Terrasse, die vor der Tür beginnende Laufstrecke im Grünen oder durch andere Erholungsoptionen im Nahraum. Mit dem Thema der Freiräume assoziiert wird oft auch das Thema der größeren Ruhe aufgrund einer geringeren Dichte an Autos und anderer Lärmquellen. Lebensstil Das eigene Haus bietet den Haushalten die Möglichkeit, ihren ganz individuellen Wohn- stil zu verwirklichen – so das Versprechen, das mit dem Eigenheim verbunden ist und das sich als kollektives Erzählmuster nicht nur in den Berichten über den arbeitsreichen Alltag (Besuche von Küchenstudios, Baumärkten und Einrichtungshäusern, Eigenarbeit in Haus und Garten usw.) nach der Umzugsentscheidung (und auch noch lange nach dem Einzug) widerspiegelt, sondern auch in vielen Beobachtungen, die in Eigenheim- gebieten gemacht werden können. Zu Recht weist Kaschuba (2007: 20) darauf hin, dass die Ambition vieler Eigenheimbesitzer darauf abzielt, mit dem Heim »ein raumgestal- tetes zweites Ich« zu schaffen. Das Streben danach, individuell und einzigartig zu sein, und dazu eine besondere Haustür, Gartenbepflanzung oder Zaunanlage zu finden, mag aus der Sicht des kritischen externen Betrachters, der das Ergebnis »doch gerade in diesem egozentrischen Verlangen als gleich, öde, deprimierend« (Kaschuba 2007: 20) wahrnimmt, als krasse Selbsttäuschung erscheinen. Aus Sicht vieler Eigenheimbesitzer ist das offenbar nicht so: Das Eigenheim bietet ihnen die Chance, sich im Hausbau ganz nach den eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, was zum Teil enormes Gewicht bei der Umzugsentscheidung hat und später mitunter zum erfüllenden und daher immer weiter fortgeführten Lebenszweck wird. »Für mich ist das hier das Nonplusultra, auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht so gemütlich aussieht. Aber um solche Sachen, die Wahrung des kleinbürgerlichen Stils habe ich mich noch nie gekümmert. Wenn ich | 121 Marcus Menzl mich hier wohlfühle und leben kann, wie ich das will, dann ist das für mich in Ordnung« (Herr A, Interview im Jahr 2004). Biografischer Zirkelschluss Ein häufig unterschätzter, aber doch höchst bedeutsamer Faktor bei der Entscheidung für ein Eigenheim im Grünen ist der eigene biografische Hintergrund. Gesprächspart- ner, die in einem Eigenheim mit Garten oder im ländlichen Umfeld aufgewachsen sind, argumentierten sehr häufig mit ihrer eigenen, rückblickend als glücklich empfundenen Kindheit, die sie nun in ähnlicher Weise ihren Kindern ermöglichen wollen. »Meine Eltern haben auch ein Haus und ein relativ großes Grundstück, und ich bin halt auch so aufgewachsen. Ich habe mich auch in Hamburg […] wohl gefühlt – als wir beide gearbeitet haben, war es okay. Aber man sehnt sich, wenn man ne Familie selbst gründet, dann erweckt ja die Kindheit so in einem, und man erinnert sich, und also mir war es total wichtig, mein Eigentum zu schaffen und rauszuziehen aus der Großstadt« (Frau B, Interview im Jahr 2004). Ein ähnliches Anknüpfen an die eigene Kindheit oder Jugend ist auch in Bezug auf räumliche oder soziale Bezüge zu bestimmten Teilräumen der Region zu beobachten. Die stadtbezogene Lebensphase verkommt dann im Rückblick zu einer biografischen Episode, deren Begrenztheit immer schon absehbar war, da man irgendwann wieder an die eigene (wohn)biografische Vergangenheit anknüpfen wollte. Sozialprestige Eine interessante Triebkraft für den Umzug in das Eigenheim im Grünen stellt das damit verbundene Sozialprestige dar. Interessant ist es vor allem deshalb, da hier die milieuspe- zifischen Differenzierungen zwischen den zuziehenden Haushalten sehr sichtbar werden. Schwellenhaushalte, die sich gerade so den Kauf eines kleinen Reihenhauses leisten können, sind stolz auf das Wohnobjekt wie auch auf die (wenn auch wenig schmucke) Gemeinde, in der sie jetzt leben. Der in Hamburg arbeitende Architekt wird nicht müde, sein selbst entworfenes, freistehendes Haus zu präsentieren, sagt aber auch: »Das kann man eigentlich niemandem erzählen, dass man in Henstedt-Ulzburg wohnt. […] Für einen Hamburger ist das völlig indiskutabel. Man darf in Ahrensburg wohnen, in Wedel oder was weiß ich wo, aber auf keinen Fall in Henstedt-Ulzburg. Das ist mega-out« (Herr C, Interview im Jahr 2004). Und dann gibt es den bildungsbürgerlichen Haushalt, der zwar die Vorzüge des Wohnens im Grünen für die Kinder zu schätzen weiß, der aber große Probleme hat, sich mit der neuen Wohnkonstellation zu identifizieren: »Manchmal fragen wir uns: Wo sind wir hier eigentlich gelandet? Da hat der Nachbar ein neues Auto und dann sagt der andere Nachbar: Oh, jetzt muss ich aber auch ein neues Auto haben. Das sind so Sachen, wo man früher, immer wenn man das im Film gesehen hätte, wo man gesagt hätte: Was für ein blöder, klischeelastiger Film! Aber so was passiert hier wirklich« (Herr D, Interview im Jahr 2004). 122 | Das Eigenheim im Grünen Für viele Haushalte ist es Antrieb, eine Wohnsituation zu wählen, die prestigeträchtig ist und mit der man viel Anerkennung gewinnen kann. Aufgrund vieler Kompromisse im Zuge des Such- und Entscheidungsprozesses gelingt das nicht immer, dann flüchtete man in eine demonstrative Distanzierung, verbunden mit Argumentationsschleifen, die die Entscheidung auch für potenziell kritische Blicke nachvollziehbar machen und rechtfertigen sollen. Resümieren wir: Der Wohntraum vom Eigenheim im Grünen wird insbesondere gespeist von der Sehnsucht nach Freiräumen, nach selbstbestimmter Individualität, nach Prestige und er ergibt sich aus einem biografischen Zirkelschluss. Die Erzählmuster va- riieren häufig, im Übrigen auch innerhalb der Haushalte, doch sind das die prägenden Triebkräfte. Die Zeit nach dem Umzug – wird der Wohntraum wahr? Der Umzug in ein Eigenheim am Stadtrand bildet in aller Regel eine wohnbiografische Zäsur, hinter der die Vision von einem neuen, veränderten Leben steht. Diese Bilder und Vorstellungen vom ›richtigen Leben‹ treffen nun auf die harte Realität und müssen in den Alltag transferiert werden. Ob das gelingt, ob also die mit dem Umzug angestrebten Wohn- und Lebensvorstellungen erreicht werden können, ist ergebnisoffen und hängt davon ab, ob es den Individuen gelingt, ein »konsistentes Alltagsarrangement« (Menzl 2007) zu schaffen. Eine solche möglichst weitreichende Konsistenz muss insbesondere zwischen dem Lebensentwurf und den folgenden drei Faktoren hergestellt werden: Anforderungen des Alltags Hier geht es um all die Aktivitäten mit ihren je spezifischen zeitlichen und funktio- nalen Logiken, die im Alltag miteinander koordiniert werden müssen: Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, Haushaltsführung, Freizeitaktivitäten, Pflege sozialer Netze etc. Ortsspezifische Möglichkeitsstrukturen Jeder Wohnort weist unterschiedliche Rahmenbedingungen und Optionen auf (Kin- derbetreuungsangebote, Arbeitsplätze, Beratungs- und Fortbildungsmöglichkeiten, Mobilitätsangebote usw.), die die Alltagsarrangements erleichtern können oder nicht. Individuelle Fähigkeiten und Ressourcen Zum Neuaufbau und der immer wieder notwendigen Fortschreibung der Alltags- arrangements ist es hilfreich, auf einen breiten Fundus persönlicher Ressourcen zurückgreifen zu können wie etwa Kontaktfähigkeiten, Empathie, soziale Netzwerke, Reflexionsfähigkeit, Berufsqualifikationen, aber auch hinreichend Geld oder ein im Alltag verfügbares Auto. Es obliegt den zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohnern, funktionierende Alltagsarrangements zu finden, die sich auch mit den Bildern des Lebensentwurfs ver- einbaren lassen. Gerade bezogen auf die ersten Monate am neuen Wohnort berichteten | 123 Marcus Menzl die Befragten von sehr intensiven Prozessen mit unterschiedlich erfolgreichen Verläufen (im Detail vgl. Menzl 2007). Um den angedeuteten Prozess der Bildung von Alltagsarrangements näher zu veran- schaulichen, möchte ich die Herausforderung des Alltags am neuen Wohnstandort jetzt noch näher darstellen. Dabei ist es erforderlich, eine Differenzierung nach Geschlechtern vorzunehmen, da sich in der Empirie zeigte, dass die klassische geschlechtliche Rollen- teilung zum Zeitpunkt der Interviews im Jahr 2004 an dem untersuchten suburbanen Wohnort noch bestand und daher weitreichende, aber für Frauen und Männer jeweils unterschiedliche Folgen für Alltagsverläufe, Handlungsspielräume, Beziehungen etc. mit sich brachte. Charakteristisch für den Alltag der interviewten Frauen ist zunächst einmal, dass die bereits angesprochene wohnbiografische Zäsur sich in den überwiegenden Fällen noch deutlich vertiefte, da der Wohnortwechsel und damit verknüpft die Bildung von Wohneigentum oft in zeitlicher Nähe und argumentativem Zusammenhang zur Famili- engründung steht. Damit verbunden sind die zumindest temporäre Aufgabe der zuvor alltagsstrukturierenden Erwerbsarbeit wie auch der weitgehende Verlust der am alten Wohnort bestehenden sozialen Bezüge. Gerade in einer Lebensphase mit hohem alltäglichen Unterstützungsbedarf müssen damit die wohnortnahen sozialen Netzwerke der Frauen neu aufgebaut werden – was nicht einfach ist, gerade angesichts der hohen zeitlichen Belastungen durch den Umzug (Bauarbeiten, Einrichtung, Formalia etc.) und der vielen Entscheidungen, die ständig getroffen werden müssen. Viele Frauen beschreiben diese Phase als eine Zeit mit großem Druck, viel Stress und auch erheblichen Spannungen innerhalb der familiären Beziehungen. Ein zweites Charakteristikum für den Alltag der Frauen ist ihre intensive Bezugnahme auf den Nahraum. Durch die Geburt des Kindes ist ihr Radius stark eingeschränkt, sie müssen sich mit den lokalen Angeboten (Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten, Kontaktoptio- nen) und Normvorstellungen arrangieren. Das ist gerade aufgrund der infrastrukturellen Alternativlosigkeit dieser Ausrichtung nicht immer ganz einfach, bietet in manchen Fällen aber auch die Chance, Vernetzungsprozesse am neuen Wohnort zu beschleunigen. Die nach der Geburt ohnehin starke Ausrichtung auf die Rolle der Mutter und Hausfrau wird am neuen Wohnort noch dadurch verstärkt, dass die nicht kindbezogenen Netzwerke am früheren Wohn- und Arbeitsort bestanden und jetzt weit weg sind. Die Reduktion der eigenen Persönlichkeit und das Hineinrutschen in die klassische Rolle der Mutter und Hausfrau wird von den Frauen, die nicht ohnehin einen dahingehenden Lebensentwurf verfolgt haben, als bedrückend empfunden – zumal es in einer Gemeinde, in der die klassische Rollenteilung der Geschlechter noch den Normalfall darstellt, nicht einfach ist, sich aus dieser Rolle wieder zu befreien. Hinzu kommt schließlich noch ein vierter, sehr oft stark unterschätzter Aspekt: die Organisation des beruflichen Wiedereinstiegs. Insbesondere Frauen mit mittlerer bis höherer und oftmals sehr spezifischer beruflicher Qualifikation finden in der Gemeinde selbst meist keine adäquate Beschäftigung. Eine Rückkehr zum alten Arbeitgeber oder die deutliche Ausweitung des räumlichen Suchradius wird aufgrund der hohen Fahrzeit- belastung oft nicht verfolgt – dies nicht zuletzt auch aufgrund des nicht bedarfsgerechten Kinderbetreuungsangebots der Gemeinden. Dieses sah zum Zeitpunkt der Interviews 124 | Das Eigenheim im Grünen 2004 zwar Vier-Stunden-Plätze ab dem dritten Lebensjahr vor, aber nur in Ausnahmen Krippenbetreuung oder größere Stundenkontingente. Für die Mütter resultieren daraus hohe Anforderungen an Flexibilität, Organisationsgeschick und Anspruchsreduzierung. Der Alltag der interviewten Männer gestaltet sich nach der wohnbiografischen Zäsur komplett anders, sie sind nahezu alle voll erwerbstätig und folglich mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert. Die Männer werden durch den Umzug nicht aus allen bisherigen Alltagsstrukturen gerissen, sondern behalten ihren bisherigen Arbeitsplatz, die dortigen sozialen Netzwerke und dadurch auch viele andere räumliche Orientierungen (Ärzte, Friseur, Verein…) unverändert bei. Sie brechen im Gegensatz zu den Frauen nicht mit ihren bisherigen Alltagsabläufen und sind auch viel weniger auf die Gegebenheiten des neuen Wohnorts angewiesen. Stattdessen führen sie ein Leben in zwei Welten: Zu der weitgehend unveränderten ›alten‹ Welt kommt nun das Leben am neuen Wohnort hinzu, das vor allem von Freizeit und Entspannung geprägt ist und zu einem großen Teil auf dem eigenen Grundstück stattfindet (»ich bin ja hier nur zum Essen und Schlafen«, Herr E, Interview im Jahr 2004). Das Leben in zwei Welten hat zur Folge, dass ein großer Teil der Männer auch noch nach Jahren nur eine sehr geringe Bindung an den Wohnort aufweist. Auch das Interesse an sozialen Kontakten ist oft wenig ausgeprägt, es obliegt dann den Frauen, ihre Männer soweit wie möglich mitzuintegrieren. Im Sample waren allerdings auch Männer, die die eigene Fremdheit in der Gemeinde als unangenehm beschrieben, zugleich jedoch davon sprachen, dass es schwierig sei, ohne Rückgriff auf die Kontakte der Frau eigene Netzwerke aufzubauen. Im Ergebnis, und das ist der dritte Aspekt im Alltag der Männer, stellt sich oftmals das Gefühl einer gewissen Entfremdung vom Alltag der Frau und der Kinder ein. Es fällt den Männern schwer, das Leben ihrer Frauen nachzuvollziehen. Sie erwischen sich dann dabei, die von den Frauen aufgeführten Probleme zu bagatellisieren oder die Er- zählungen zu Vorfällen in den homogenen Nachbarschaften nur ungläubig-distanziert zur Kenntnis zu nehmen – mit dem Gefühl (wie oben zitiert), »sich in einem schlechten Film zu befinden«. Die Ausführungen zeigen, dass es für Frauen eine ungleich größere Herausforderung darstellt, konsistente Alltagsarrangements zu schaffen – konsistent in dem Sinne, dass die Alltagsanforderungen aller Haushaltsmitglieder integriert sind, aber eben auch der eigene Lebensentwurf, die Wohnträume und Visionen, die den Umzug motiviert haben, in befriedigender Weise realisiert werden. Im Sample fanden sich Frauen, die diese Auf- gabe mit großem Geschick meisterten, aber auch solche, die in Krisen rutschten oder gar scheiterten (Trennung vom Partner, Wegzug). Ein häufiges Muster ist dabei, dass sich viele Dinge völlig anders entwickeln als an- tizipiert und erträumt: Die Engpässe in der Kinderbetreuung, Einschränkungen bei den Themen Ruhe und Bewegungsfreiheit für Kinder (Verkehrssicherheit), die Begrenztheit der lokalen Optionen und vor allem die belastenden und durch intensiven Klatsch be- feuerten Kämpfe um normative Ordnungen in der sozial und lebenszyklisch homogenen Nachbarschaft (Gartenpflege, Carport-Gestaltung, Kinderverhalten, Erziehungsstile etc.) führten bei manchen Bewohnern und vor allem Bewohnerinnen zu sehr grundlegenden, teilweise radikalen Weiterentwicklungen des eigenen Lebensentwurfs (z.B. gab eine Frau | 125 Marcus Menzl ihren Job bei einer in Hamburg angesiedelten Versicherung auf und begann, als Trainerin im lokalen Sportverein zu arbeiten). Aber auch andere Bewältigungsstrategien, die zur Schaffung passender Alltagsar- rangements weniger den eigenen Lebensentwurf in Frage stellen, sondern an anderen Faktoren ansetzen, finden sich im Sample: Versuche, die Strukturen in der Gemeinde durch entsprechendes lokalpolitisches Engagement zu verändern (Kita, Verkehr); die Gründung eines Mütterzentrums als Treffpunkt und Drehscheibe für Unterstützungs- optionen; die offensive Nutzung der Optionen auch benachbarter Gemeinden unter Inkaufnahme eines höheren Mobilitätsaufwandes; die Definition des Wohnstandorts als ›Lebensabschnittswohnung‹ für die Zeit der ersten Lebensjahre der Kinder, womit zwar die ursprünglich verfolgte Vision relativiert, aber zugleich auch der Druck des als suboptimal wahrgenommenen Alltags gemindert wird (vgl. zu diesem Typus auch Jahn et al. 2000). Das Ringen um konsistente Alltagsarrangements führt damit auch zu Veränderungen und Weiterentwicklungen der suburbanen Strukturen: Traditionelle Normen werden hinterfragt, aus der Stadt gewohnte Standards (Kita, Beteiligung etc.) eingefordert, neue Angebote, Initiativen und Räume entstehen, um so den eigenen Alltag bewältigbarer zu machen. Trotz der eingangs beschriebenen Verschiebung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen entscheiden sich auch heute noch viele Haushalte für das Wohnmodell des Eigenheims im Grünen. Angetrieben von der Vision eines Wohnens mit mehr Freiräumen für sich und die Kinder und weitreichenden individuellen Gestaltungsmöglichkeiten vollziehen sie eine wohnbiografische Zäsur mit oft gravierenden Folgen. Ob bzw. inwieweit es gelingt, die mit dem Umzug verbundenen Wohn- und Lebensträume auch tatsächlich zu realisieren, ist offen und hängt entscheidend vom Geschick der Individuen ab, die vorhandenen Ressourcen zu identifizieren und zu aktivieren. Deterministische Aussa- gen, die Integrationsverläufe direkt an Charakteristika des räumlichen Umfelds koppeln, haben sich als nicht haltbar erwiesen. Zwei allgemeine Aussagen lassen sich basierend auf den Interviews dennoch treffen: Je stärker die Haushalte mit den Anforderungen der flexibilisierten Arbeitswelt konfrontiert sind und je stärker die erwerbsbezogenen Ambi- tionen der Frau sind, desto schwieriger wird es ihnen fallen, in Suburbia funktionierende Alltagsarrangements zu bilden. Und: Haushalte aus bildungsbürgerlichen Milieus tun sich in der Regel schwerer, sich auf die normativen Ordnungsmuster des suburbanen Raums einzulassen. Sie behalten trotz Involvierung eine kritisch-ironische Distanz zum suburbanen Leben, was das Ankommen am neuen Wohnort nicht unbedingt befördert. Alte Sehnsüchte, neue Wege ihrer Realisierung? Nach den Haushalten, die ein suburbanes Eigenheim nachfragen und dort versuchen, ihren Lebensentwurf zu realisieren, werden jetzt Haushalte fokussiert, die bereits frühzeitig antizipieren, dass das suburbane Eigenheim für sie kein praktikables oder erstrebens- wertes Wohnkonzept darstellt. Es ist offensichtlich, dass viele Mittelschichtshaushalte heute eine hohe Stadtaf- finität aufweisen (vgl. Menzl 2011). Diese ist zum Teil erzwungen, da die berufliche 126 | Das Eigenheim im Grünen Selbstverwirklichung und die Arbeitsplatzstruktur hochspezialisierter Branchen die Realisierung alternativer Wohnstandorte erschwert. Zum Teil deckt sie sich jedoch auch mit dem verfolgten persönlichen Lebensentwurf und Lebensstil der Individuen. Bemer- kenswert ist, dass sich die Wohnvorstellungen dieser Haushalte nicht in dem Wunsch nach Urbanität, Öffentlichkeit und einer hohen Optionsdichte erschöpfen. Vielmehr streben diese Haushalte oft ein Wohn- und Lebensmodell an, das auch Rückzugsoptionen ins Private kennt, ein kindgerechtes und auch grünes Wohnumfeld bietet und Wohnräume beinhaltet, die dem eigenen Lebensstil entsprechende Selbstverwirklichungsoptionen eröffnet. »Wir haben zwei Seelen in der Brust, wie viele. Weil wir einerseits Stadt lieben und zwar richtig Stadt, richtig mittendrin, charmanter Altbau, also richtig Hamburg. Ande- rerseits aber auch eine Seele haben, die gerne Dorf hat, Landschaft, Natur, keine oder nur wenige Menschen, Fläche, Platz, Weite« (Frau F, Interview im Jahr 2015). Diese ›neuen Stadtbewohner‹ wollen somit beides: Ihre Stadtaffinität leben und zugleich den Versprechungen, die mit dem Leben im Grünen verbunden sind, nachgehen (vgl. hierzu Frank 2011; 2013; 2014). Als Folge dieses hohen Anspruchs an die eigene Wohnform können wir heute eine Vielzahl von individuell gestalteten Wohn- und Lebensmodellen (in Stadt und Suburbia) beobachten, die sowohl die traditionelle Suburbia (wie im vor- herigen Abschnitt angedeutet) in Frage stellen und weiterentwickeln als auch die Stadt. Ein Beispiel hierfür bilden in den letzten Jahren Projektentwicklungen, die Flächen innerhalb begehrter urbaner Quartiere zur Realisierung von eigenheimartigen Wohn- angeboten nutzen, die in vielerlei Hinsicht einen Kontrast zum städtischen Umfeld bilden.2 Den Bewohnern und Bewohnerinnen dieser neuen, mehr oder weniger rigide abgeschotteten Enklaven ist es so möglich, sich als Teil der Stadt zu verstehen und dies tatsächlich auch zu sein durch die kurzen Wege zu den vielfältigen Optionen der Stadt (Arbeitsmarkt, berufliche und private soziale Netzwerke, Bildungs- und Freizeitange- bote). Zugleich ermöglicht die Wohnenklave ihren Bewohnern jedoch auch Distanz zu ungewünschten städtischen Zumutungen und sorgt so für einen nicht-stadttypischen Mehrwert: Sie schafft eine Sphäre der Übersichtlichkeit und Kalkulierbarkeit, bestehend aus Sicherheit, Privatheit, Kindgerechtigkeit und sozial homogener Exklusivität wie sie sonst nur für Siedlungen am Stadtrand typisch ist. Auch jenseits solcher Enklaven sind vielerorts Bemühungen zu beobachten, urbane Quartiere familienfreundlicher, grüner, ruhiger und sicherer zu machen – Frank nennt diese Prozesse, die maßgeblich von bildungsbürgerlichen Mittelschichtsfamilien getragen werden »innere Suburbanisierung« (Frank 2014). Damit wird deutlich, dass hinter dem Phänomen der Reurbanisierung viel mehr als ein Zurück zur alten Stadt steckt. Tatsäch- lich geht es um die »Neuerfindung« (vgl. Läpple 2005) oder das ›Neu-Arrangement‹ von 2 Die neu entstehenden Wohnenklaven sind inzwischen wiederholt thematisiert worden und sind auch zu einem beliebten Gegenstand feuilletonistischer Darstellungen aufge- stiegen – vgl. hierzu Frank 2014. Siedlungsdemografisch geht es hier um die soziale Ent- mischung innerhalb der Städte. | 127 Marcus Menzl Stadt, die aufgeladen wird mit Attributen, die lange als anti-städtisch galten und nur der Suburbia zugeschrieben wurden. Besonders intensiv werden die lange mit dem suburbanen Eigenheim verknüpften Versprechungen in einem anderen Wohn- und Lebensmodell aufgegriffen: Dem Modell des Wochenendhauses im Grünen, das in den letzten Jahren wieder starke Nachfrage erfährt. In einer Entfernung von 50 bis 100 km zur Stadt gelegen und eingebettet in an ein naturräumlich attraktives Umfeld fragen die neuen Stadtbewohner Zweitwohnsitze nach, die für Erholung, Familienleben, Naturbezug und Selbstverwirklichung stehen – lauter Aspekte also, die auch die Bewohner von suburbanen Eigenheimen anstreben. Das Besondere an dem Wohn- und Lebensmodell mit Wochenendhaus besteht darin, dass hier ganz explizit die Gegensätze von Stadt und Land in den Lebensentwurf integriert werden. Trotz einer sehr engen Bindung an die Stadt und insbesondere das Wohnquartier (Job, soziale Netze, Kindereinbettung, Fußläufigkeit etc.), die auf keinen Fall aufgegeben werden soll, befassen sich diese Haushalte mit Optimierungsoptionen der eigenen Wohn- und Lebenssituation. Die Überlegung ist, dass ein wirklicher Mehrwert nur dann erzielt werden kann, wenn man keine falschen Kompromisse eingeht und in ein Reihenhaus mit handtuchgroßem Garten investiert (»das ist nichts Halbes und nichts Ganzes«), sondern in ein Objekt auf dem Land. Die Vision geht dahin, 100 Prozent Stadt mit 100 Prozent Land zu kombinieren und das Ganze ohne täglichen Pendelaufwand zu organisieren. Der Gedanke, das eigene Wohn- und Lebensmodell auf diese Weise zu erweitern, elektrisiert die Haushalte: Je mehr sie sich mit dieser Möglichkeit befassen, desto mehr Zeit und Geld sind sie bereit, in das Projekt zu investieren. Es ist – wie sie selbst sagen – ungeheuer viel Emotion im Spiel bei der Standortwahl und dann auch der Einrichtung von Immobilie und Grundstück. Diese Schilderungen stehen in krassem Gegensatz zu den Ausführungen der interviewten Haushalte über die (theoretische) Option eines Eigenheims in Suburbia: Sie stellt keine positiv besetzte Lebensvision dar, keinen Traum, in den es sich zu investieren lohnt. Suburbia steht für erdrückende soziale, lebenszyklische und bauliche Homogenität, hohe soziale Kontrolle, Camping-Platz-Enge statt Garten-Gefühl, spießige Nachbarn. In diesen Assoziationen wird deutlich, dass die Option Suburbia nicht nur aus praktischen Gründen (Joborientierung beider Partner, Pendelaufwand etc.) an Attraktivität verloren hat und schon deshalb vielfach nicht mehr in Frage kommt, sondern auch weil sie zumindest für das Segment der bildungsbürgerlichen Mittelschichten »kul- turell entwertet« ist (Bodenschatz 1987). So auch die bereits erwähnte Frau F: »Für mich geht es immer um das ›real thing‹, also richtig Dorf und richtig Stadt und nicht Vorort oder so’nen Pseudo-Disney, wir machen das uns schön« (Frau F, Interview im Jahr 2015). Reizvoll ist der Wohnalltag mit Wochenendhaus auch deshalb, da er eine Antwort auf die Herausforderungen der Entgrenzung von Arbeit und Leben bereithält. Das zeigt ein Blick auf das übliche Nutzungsmuster des Wochenendhauses. Die meisten Haushalte fahren am Ende einer dichten Arbeitswoche am Freitagnachmittag in ihr Wochenendhaus und bleiben dort bis Sonntagabend. Die Zeit dort ist geprägt von handwerklichen oder gärtnerischen Tätigkeiten, vom Spiel mit den Kindern, von Erholung und viel Schlafen, von Lesen und Ausflügen – explizit ausgeschlossen wird dagegen Erwerbsarbeit, die meisten Nutzer verzichten bewusst auf einen WLAN-Anschluss, um sich gar nicht erst in Versuchung zu führen. Die Rede ist von einer extremen Entschleunigung, von 128 | Das Eigenheim im Grünen wöchentlichem Urlaub vom Alltag, von einer Intensivierung der familiären Beziehungen, der Netzwerke zu Freunden, die auf ein Wochenende zu Besuch kommen; und natürlich von der Wieder-/Neuentdeckung von Naturerfahrungen. Sicherlich mag die eine oder andere Darstellung etwas zu euphorisch positiv ausfallen und bedarf im Detail einer ge- wissen Relativierung (die als »nervig« bezeichneten Nachteile sind vor allem die doppelte Haushaltsführung, das wöchentliche Packen und die Konflikte aufgrund der Kontakte der Kinder in der Stadt: Kindergeburtstage, Schulfeste, Vereinssport), doch zieht sich wie ein roter Faden durch die Interviews, dass hier für alle Familienmitglieder ein substanzieller Mehrwert an Lebensqualität gewonnen wird. Und der entscheidende Mehrwert dieses Wohnmodells liegt darin, dass es den Haushalten offenbar tatsächlich gelingt (mitunter zu ihrer eigenen Überraschung), eine Gegenwelt zum entgrenzten Alltag in der Stadt zu schaffen (vgl. Hahne 2011: 13). Sie widmen sich am Wochenende anderen Tätigkeiten, tauchen in eine andere Welt ein, stehen wirklich der Familie zur Verfügung, schotten sich gegen die vielen Erledigungen (Job, Haushalt, Schule etc.) ab, die zu der Erfahrung geführt haben, dass das Wochenende zerfällt: »Man ist einfach weg, das schaffe ich hier nie. Hier wurschtele ich immer rum und wenn das Wochenende zu Ende ist, dann habe ich nicht wirklich das Gefühl, ein Wochenende gehabt zu haben« (Frau G, Interview im Jahr 2015). Ein anderer Gesprächspartner formuliert es ähnlich: »Es ist eine andere Welt, du bist raus aus dem Alltag, machst dich frei von all den Dingen, die du sonst ständig im Kopf hast« (Herr H, Interview im Jahr 2015). Vergleicht man diese Variante mit dem suburbanen Wohn- und Lebensmodell, so stellt man eine interessante Weiterentwicklung fest: Während auch im suburbanen Mo- dell Arbeits- und Reproduktionszeit für den Mann radikal getrennt wurden, verblieben Frau und Kinder kontinuierlich am Ort und in der Sphäre der Reproduktion. Im neuen Modell wird nun die radikale räumliche Trennung von Arbeits- und Reproduktionszeit wieder aufgegriffen, aber entscheidend verändert: Während der Woche werden alle Haushaltsmitglieder intensiv von Arbeits- bzw. Schulanforderungen absorbiert, es bleibt kaum gemeinsame Familienzeit. Diese Familienzeit wird gebündelt und optimiert, sie wird für alle und en bloc an einem anderen Ort, dem Wochenendhaus, gelebt. Oder wie es ein Interviewpartner ausdrückte: »Wir optimieren nicht unsere Wohnsituation während der Woche, in der sowieso alle arbeiten oder in der Schule sind, sondern am Wochenende, dann also, wenn wir als Familie Zeit miteinander verbringen können« (Herr I, Interview im Jahr 2015). Fazit Das Eigenheim im Grünen galt über Jahre hinweg als selbstverständliche Antwort auf die Wohnbedürfnisse junger Mittelschichtsfamilien. Das ist heute nicht mehr so. In einer Gesellschaft, die sich durch individuelle Lebensentwürfe, durch Flexibilität und Vielfalt, durch eine unglaubliche Dichte an Handlungsoptionen und Veränderungsbereitschaft, aber auch durch die ökonomisch zunehmend erforderliche und individuell vermehrt eingeforderte Erwerbstätigkeit auch von Müttern auszeichnet, ist es naheliegend, dass sich auch das Spektrum an Wohn- und Lebensmodellen stärker differenziert. Dabei | 129 Marcus Menzl wurde deutlich, dass wir zwar eine hohe Kontinuität nachgefragter Wohnbedürfnisse und wünsche beobachten können, dass diese sich allerdings nicht länger mit alten Wohn- konzepten befriedigen lassen. Vielmehr werden in zahlreichen Spielarten Wohnkonzepte abgewandelt, wiederentdeckt oder neu erfunden, in innerstädtischen Kontexten bislang sicherlich deutlich intensiver als in Suburbia. Dieser kreative Adaptionsprozess sendet starke Transformationsimpulse in Richtung städtischer wie auch suburbaner Wohn- quartiere aus und fordert sie dazu auf, nicht an Mustern der Vergangenheit festzuhalten, sondern auch Gegensätze zuzulassen und so die Realisierung zunehmend komplexerer Lebensentwürfe zu ermöglichen. Dieser Beitrag hat ein peer-review-Verfahren mit double-blind-Standard durchlaufen. Literatur BBSR (2016): Im Schatten der Reurbanisierung? Entwicklungspfade und Quartiersprofile suburbaner Räume (Informationen zur Raumentwicklung 3). Bodenschatz, Harald (1987): Platz frei für das neue Berlin! Geschichte der Stadterneue- rung seit 1871, Berlin: Transit. Brake, Klaus/Herfert, Günter (2012): Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland, Wiesbaden: Springer. Frank, Susanne (2014): »Innere Suburbanisierung als Coping-Strategie: Die ›neuen Mit- telschichten‹ in der Stadt«. In: Urbane Ungleichheiten. Neue Entwicklungen zwischen Zen- trum und Peripherie, hg. v. Peter A. Berger et al., Wiesbaden: VS, 157-172. Frank, Susanne (2013): »Innere Suburbanisierung? Mittelschichtseltern in den neuen in- nerstädtischen Familienenklaven«. In: Polarisierte Städte, hg. v. Matin Kronauer/Walter Siebel, Frankfurt/Main, New York: Campus, 69-89. Frank, Susanne (2011): »Je näher man hinschaut, desto fremder schaut es zurück«. In: Die Besonderheit des Städtischen, hg. v. Heike Herrmann et al., Wiesbaden: VS, 285-300. Freie und Hansestadt Hamburg (2014): »Nachfrage nach innerstädtischen Wohns- tandorten. Gutachten durch Analyse & Konzepte«, http://www.hamburg.de/content- blob/4370196/data/d-gutachten-innerstaedtische-wohnstandorte-langf.pdf (14.04.2017) Häussermann, Hartmut (2009): »Der Suburbanisierung geht das Personal aus«. In: Stadt- Bauwelt 181: 12, 52-57. Häussermann, Hartmut/Läpple, Dieter/Siebel, Walter (2008): Stadtpolitik, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Hahne, Ulf (2011): »Neue Ländlichkeit? Landleben im Wandel«. In: Der Bürger im Staat 61: 1/2, 12-18. Herfert, Günter/Osterhage, Frank (2012): »Wohnen in der Stadt? Gibt es eine Trendwende zur Reurbanisierung? Ein quantitativ-analytischer Ansatz«. In: Reurbanisierung. Materiali- tät und Diskurs in Deutschland, hg. v. Klaus Brake/Günter Herfert, Wiesbaden: VS, 86-112. Immobilienmarktatlas (2016): »LBS Immobilienmarktatlas 2016 ›Hamburg und Um- land‹«, https://www.lbs.de/unternehmen/schleswig_holstein_hamburg_6/regionales_ thema_68/regionales_thema_63.jsp# (14.04.2017). 130 | Das Eigenheim im Grünen Jahn, Walther/Lanz, Stephan/Bareis, Ellen/Ronneberger, Klaus (2000): »Refugien der Sicherheit. Einblicke in den suburbanen Alltag«. In: Widersprüche 20: 78, 27-38. Kaschuba, Wolfgang (2007): »Zwischen Traum und Trauma. Beobachtungen zur verstei- nerten Sofaecke«. In: Archithese 37: 3, 18-21. Kaup, Stefan et al. (2014): »Monitoring StadtRegionen«. In: Jahrbuch StadtRegionen 2013/14. Schwerpunkt: Urbane Peripherie, hg. v. Frank Roost et al., Opladen, Berlin, To- ronto: Barbara Budrich, 199-277. Krämer-Badoni, Thomas/Petrowsky, Werner (Hg.) (1997): Das Verschwinden der Städ- te. Dokumentation des 16. Bremer Wissenschaftsforums, Bremen. Läpple, Dieter (2005): »Phönix aus der Asche. Die Neuerfindung der Stadt«. In: Die Wirk- lichkeit der Städte (Soziale Welt, Sonderband 16), hg. v. Helmuth Berking/Martina Löw, Baden-Baden: Nomos, 397-413. Mau, Steffen (2012): Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?, Berlin: Suhrkamp. Menzl, Marcus (2007): Leben in Suburbia. Raumstrukturen und Alltagspraktiken am Rand von Hamburg, Frankfurt/Main: Campus. Menzl, Marcus/González, Toralf/Breckner, Ingrid/Vogelsang, Sybille (2011): Woh- nen in der HafenCity. Zuzug, Alltag, Nachbarschaft, Hamburg: Junius. Sieverts, Thomas (1997): Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Basel: Vieweg. Witzel, Andreas (2000): »Das problemzentrierte Interview«. In: Forum qualitative Sozial- forschung 1: 1, Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0001228 (14.04.2017). Witzel, Andreas (1982): Verfahren der qualitativen Sozialforschung, Frankfurt/Main, New York: Campus. | 131