Jahrbuch immersiver medien 2013 institut für immersive medien (hrsg.) im auftrag des Fachbereichs medien der Fachhochschule Kiel zusammen mit hermann schmitz JAHRBUCH IMMERSIVER MEDIEN 2013 Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnd.ddb.de abrufbar. Titelbild Jan van Munster: Heat II. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Bildnachweise Bei den Autoren. Herausgeber / Editor Institut für immersive Medien (ifim) an der Fachhochschule Kiel / Hochschule für angewandte Wissenschaften Gastherausgeber / Guest Editor Hermann Schmitz (Kiel) Mitherausgeber / Associate Editors Matthias Bauer (Flensburg), Knut Hartmann (Flensburg), Fabienne Liptay (München), Susanne Marschall (Tübingen), Klaus Sachs-Hombach (Tübingen), Jörg R. J. Schirra (Chemnitz), Jörg Schweinitz (Zürich), Eduard Thomas (Kiel), Hans Jürgen Wulff (Kiel) Redaktion / Executive Board Tobias Hochscherf (Kiel), Heidi Kjär (Kiel), Patrick Rupert-Kruse (Kiel) Redaktionsassistenz / Assitants to the Executive Board Jürgen Rienow (Odense/Kiel) Redaktionsanschrift c/o Dr. Patrick Rupert-Kruse, Institut für immersive Medien, Fachbereich Medien, Fachhochschule Kiel, Grenzstr. 3, 24149 Kiel. Tel.: 0431-2104512 E-Mail: immersive-medien@fh-kiel.de www.immersive-medien.de Gestaltung Nadine Schrey Druck Druckhaus Marburg ISSN 1869-7178 ISBN 978-3-89472-867-0 Inhalt 7 Hermann Schmitz | Vorwort 9 Julia Otto | Energie spüren: Warmte II / Heat II Editorial 11 Patrick Rupert-Kruse | Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung Artikel Gernot Böhme | Wirklichkeiten. Über die Hybridisierung von Räumen und die Erfahrung 17 von Immersion Davor Löffler | Leben im Futur II Konjunktiv. Über das Phänomen Atmosphäre und dessen 23 Bedeutung im Zeitalter der technischen Immersion Christina Katharina May | Landscape Habitat Immersion. Die Konstruktion immersiver 38 Zoolandschaften im Kontext des US-amerikanischen Environmentalism Regine Heß | Stimmung, Atmosphäre, Präsenz. Wirkungsästhetische Begriffe zur Analyse 55 der Architektur von Peter Zumthor Anne Brandl | Rhytmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft. Die sinnliche 67 Wahrnehmung des Stadtraums in historischen Städtebautheorien Lars C. Grabbe | Phänomenale Präsenz der Atmosphäre im Film. Ein Divergenzphänomen 82 zwischen immersivem Potenzial und Diskrepanzerfahrung Matthias Bauer und Tobias Hochscherf | Phaneroskopie: Erste Überlegungen zur 96 orektischen Filmanalyse Lehrpraxis 117 Andreas Kretzer | Architekturlehre und Atmosphäre Fulldome-Szene 125 Eduard Thomas | 10 Jahre Fulldome in Deutschland Sönke Hahn | Fulldome vs. 16:9. Zu den Differenzen in Konzeption, Gestaltung und Produktion eines Spielfilms in der Kuppel und im klassischen Bildformat am Beispiel 133 der Filmversionen von breakFaST Axel Meyer | 360Touch.it. Entwicklung und Evaluation von immersiver Multi-User-Interaktion für Planetarien 148 Besprechungen Andreas Rauch | Zwischen Klischee und Oase: Atmosphären im Freiraum 159 Thomas Heuer | Zum GreiFen nah! Der erste 3D-Film mit Polarisationstechnik 162 Jürgen Rienow | Die 360°-Fulldome-Show We are alienS von NSC creative 167 Autorenhinweise 172 Call for Papers 176 Vorwort Hermann Schmitz Die Bewusstseinslage unserer Zeit gibt uns viel- Wollust, Erleichterung, Frische und Müdigkeit, fer- leicht Gelegenheit, eine fehlerhafte Selbsteinschät- ner das Fühlen als leiblich spürbare Ergriffenheit zung loszuwerden, die seit der Wende des intel- von Atmosphären des Gefühls, gespürte Bewe- lektuellen Paradigmas im antiken Griechenland, gung wie beim Atmen, Zittern, Schlucken, Gehen, etwa sei 400 v.Chr., die abendländische Tradition Tanzen, Greifen, Schwimmen, Richtungen in die durchzieht. Ich meine die völlige Privatisierung Weite wie der Blick. Nirgends ist da eine Fläche des affektiven Betroffenseins. Jeder darf nur noch zu finden. Der Raum der Atmosphären des Gefühls seine eigenen Gefühle haben, so wie seine eigenen und der Raum des Leibes gehören mit allerlei Bauchschmerzen. Sie stecken fest in seiner Seele als anderen Raumtypen zu den flächenlosen Räumen. deren Zustände von Lust und Unlust, eventuell mit Die abendländische Tradition hat diese vergessen, meinender oder auch aktivierender Ausrichtung indem sie sich unter Führung erst der Geometrie auf einen Gegenstand des Gefühls. In Wirklichkeit und dann der Naturwissenschaft bloß den flächen- fühlen wir sehr oft, indem wir in den Bann eines haltigen Räumen zuwandte, in denen es an Flä- Gefühls geraten, z.B. bang werden in Einsamkeit chen, Strecken und Punkte und über Flächen Kör- oder Gewitterstimmung, bedrückt in drückender per mit dreidimensionalem (statt, wie etwa beim Stille oder schwüler Hitze, feierlich ernst in einer Einatmen oder beim Schwimmen, leiblich spürbar, weiten, öden, aber mächtigen Landschaft usw. dynamischem) Volumen gibt. Dann begegnen uns Gefühle als Atmosphären, Atmosphären, der Leib und der flächenlose die leiblich spürbar ergreifen, und nicht nur privat Raum sind Elemente, in denen wir alle bestän- den Einzelnen, sondern ebenso gemeinsam in kol- dig leben, die aber von der herrschenden Über- lektiver Ergriffenheit. Was hier «leiblich spürbar» lieferung bis heute aus dem reflexionsfähigen heißt, ist der traditionellen abendländischen For- Bewusstsein gestrichen worden sind. Im alltägli- mung ebenso fremd wie das Atmosphärische. Die- chen Benehmen und Gehabe der Leute sind sie ser intellektuellen Prägung nach gilt der Mensch diesen freilich gegenwärtig. Über nichts kommen (auch seit jener Zeit) als Resultat der Zusammen- Fremde, die sich begegnen, schneller ins Gespräch setzung von Körper und Seele (einschließlich eines als über das Wetter, und dann meinen sie eine dieser aufgeladenen Geistes.) Der Leib, der von gemeinsam gespürte Atmosphäre, die manchmal, Atmosphären des Gefühls spürbar ergriffen wird, aber nicht immer und nicht für jeden gleichmäßig, ist aber weder körperlich noch seelisch. Seelisch ein ergreifendes Gefühl ist. Die überlieferten und nicht, weil er räumlich ausgedehnt ist, körperlich gängigen Reflexionsmuster halten für dieses allbe- nicht, weil diese Ausdehnung flächenlos ist, wie kannte Wetter keinen Begriff bereit, sondern teilen die des Schalls. Am eigenen Leib kann man keine es auf in einen Zustand der Luft, eines Gases mit Flächen spüren, während man diese am eigenen den aus der Physik und Chemie bekannten Eigen- Körper besehen und betasten kann. Leibliche schaften und Bestandteilen, und andererseits Regungen sind z.B. Angst, Schmerz, Hunger, Durst, eine Ansammlung von Empfindungen, die durch Vorwort 7 Propriozeption oder Zönästhese aus dem Körper werden. Die moderne Eindruckstechnik sucht, seit der Seele zugeführt werden. Der zunehmend domi- Rousseau in seiner Schrift über die Verfassung nante Einfluss der Naturwissenschaft ist der Seele Polens so etwas vorgeschlagen hat, durch mäch- ungünstig; diese wird durch eine aggressiv hervor- tige Eindrücke in aktuellen Situationen zuständli- tretende materialistische Metaphysik vom Gehirn che Situationen zu wecken, die das Erleben und abgelöst, das statt der Seele nun selbst denken, Verhalten der Beeindruckten nachhaltig prägen wahrnehmen, fühlen, wollen usw. soll, und der und verfügbar machen; die Politik (faschistische Gehirnforscher sieht ihm mit den modernen bildge- Feste, ähnlich schon Robespierre) und die Kons- benden Verfahren dabei zu. Dieser Materialismus umwerbung (Zigarettenreklame) liefern Beispiele. ist allerdings spontan unglaubwürdig und auch Die Gartengestaltung spätestens seit dem 18. nicht konsistent durchführbar Er hat aber wenigs- Jahrhundert (englischer Garten) verlegt sich auf tens das Verdienst, uns vom Privatisierungsdruck die Kultur der Gefühle als Atmosphären im umfrie- der fast abgeschlossenen Seele zu befreien und deten Raum. Ganz neue Möglichkeiten eröffnen durch diese Öffnung den Ausblick auf Atmosphä- der Immersion ergreifender Mächte des Gefühls ren, den Leib, flächenlose Räume und weiteres Ver- und impressiver, gefühlsträchtiger Situationen in drängtes zugänglich zu machen. Das habe ich mit den spürbaren Leib, sein Befinden und Verhalten, dem ersten Satz gemeint. die modernen technischen Medien mit Hilfe des Während sich diese Phänomene in der abend- Computers. Der Auslotung solcher Möglichkeiten ländischen Überlieferung der Reflexion weitge- auf diesem Gebiet und in Anknüpfung an andere, hend entzogen haben, sind sie im Gestalten über schon länger begangene Wege des Eintauchens in Jahrtausende hinweg lebendig wirksam geblieben. Atmosphären widmet sich das Jahrbuch immersi- Die christliche Kirche baut mit ihrer Architektonik, ver Medien beharrlich, namentlich wieder in die- der Ausschmückung ihres Innenraums und der sem Jahrgang. Lichtführung mächtige Atmosphären erhabener Feierlichkeit auf, die im Ritus leiblich ausagiert Hermann Schmitz 8 Hermann Schmitz EdItorIal gEstIMMtE räuME und sInnlIchE wahrnEhMung Patrick Rupert-Kruse Die Neue Phänomenologie und die Neue Ästhetik, dearchitekturen oder Kunst im öffentlichen Raum wie sie von den Philosophen Hermann Schmitz und präsentiert, der sich jedoch auch auf Medien unter- Gernot Böhme definiert wurden, haben ihn zum schiedlichster Art ausweiten lässt. Von den atmo- festen Inventar aktueller und alltäglicher ästheti- sphärischen Bildern1 eines Caspar David Friedrich scher bzw. aisthetischer Phänomene gemacht: den – etwa Der Mönch am Meer (1808–1810) –, über Begriff der Atmosphäre. Mit der Immersions- und Filme wie Shame (Steve McQueen, UK 2011) oder Präsenzforschung, wie sie sich seit den 60er Jahren Drive (Nicolas Winding Refn, USA 2011),2 Installati- entwickelt hat und anschließend von der Kunstge- onen wie Olafur Eliassons berühmtes The Weather schichte, Bild- und Medienwissenschaft weiterge- Project (2003),3 bis zu Videospielen wie Amnesia: führt worden ist, gewinnt dieser Begriff auch im The Dark Descent (Frictional Games, S 2010) oder Kontext der aktuellen Medienevolution immer Limbo (Playdead Studios, DK 2010).4 mehr an Gewicht: Die Entwicklung einer Ästhetik der Atmosphären und 1 Bilder, die sich im Übrigen oftmals durch den Gebrauch die Wiedergewinnung eines umfassenden Begriffs von von Elementen der Unbestimmtheit bzw. Vagheit wie etwa Nebelschleier, Dämmerungslicht oder aufschäumende Ästhetik ist […] zu einer Ästhetik als Theorie der neuen Gischt auszeichnen. Medien komplementär. Cyberspace und neue Sinnlich- 2 In diesen Filmen sind es «räumlich ergossene keit sind zwei Seiten der einen kulturellen Entwicklung Gefühlsqualität[en]» (Böhme 1995: 27) wie Kälte und Leere, in der technischen Zivilisation. (Böhme 1995: 11) die die gesamte filmische Welt zu bevölkern scheinen und sich der Zuschauer bemächtigen. Induziert werden diese un- Im Begriff der Atmosphäre wird eine Grenzauflö- ter anderem durch sparsame Dialoge, lange Kameraeinstel- sung artikuliert, wie sie auch in den Phänomenen lungen und -Fahrten, spezielle Farbgebung und Belichtung der Rezentrierung, Deplatzierung oder Entgren- und den gezielten Einsatz stimmungsvoller Musik. zung mitschwingen, die so typisch sind für die 3 Diese Installation bestand aus einer riesigen künstli- Beschreibung der Immersion oder Präsenzerfah- chen Sonnenscheibe, die die Eingangshalle der Londoner rung. Atmosphären können als «gestimmte Räume» Tate Modern Gallery in ein warmes, orangefarbenes Licht (Ströker 1977: 31), die primär emotional erlebt tauchte. Die atmosphärische Wirkung wurde zudem durch den Einsatz künstlicher Nebelschwaden verstärkt. werden, verstanden werden; als «quasi-objektive Gefühlsmächte» (Schmitz1969: 343f.), die uns als 4 In den Kritiken und Rezensionen zu diesen Spielen ist man sich über die atmosphärischen Qualitäten dieser Spiele Stimmung umgeben und ergreifen können; oder einig. So heißt es auf der offiziellen Homepage zu Limbo u.a.: als «Sphären gespürter leiblicher Anwesenheit» «The simplistic yet gorgeous art direction, the scant yet ab- (Böhme 2006: 49), welche als Extensionen des solutely effective sound cues, the limited yet engrossing sto- leiblichen Spürens eines Subjekts anzusehen sind. rytelling and the unsettling atmosphere all come together Atmosphären sind der Modus, in welchem sich to build a full experience, one that will not be forgotten for quite some time» (http://limbogame.org/presspage). Und unsere ästhetisierte Umwelt (vgl. Böhme 1995: 14; das Magazin PC Gamer UK schreibt zu Amnesia: »[That’s] its Welsch 2003) in Form von Städtedesigns, Gebäu- [=Amnesia’s] triumph: one of grisly atmosphere over genre Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung 11 Atmosphären – verstanden als leib-räumliche Phä- über die räumlichen und leiblichen Dimensionen nomene, denn «Atmosphären werden gespürt, mit dem der Atmosphäre zusammen: indem man affektiv von ihnen betroffen ist» (Böhme Aura bezeichnet gewissermaßen Atmosphäre über- 2001: 46) – spielen sich im Bereich der Empfindun- haupt, die leere charakterlose Hülle seiner Anwesen- gen, des Affektiven und Somatischen ab und las- heit. […] Die Aura spüren heißt, sie in die eigene leibli- sen sich durch ihre grundlegenden Elemente des che Befindlichkeit aufzunehmen. Was gespürt wird, ist Räumlichen und des Erlebens mit den Konzepten eine unbestimmt räumlich ergossene Gefühlsqualität. der Immersion, Präsenz und Aura zusammenden- (1995: 26f.) ken. Denn auch hier geht es um die Aufhebung von Distanz, die Überschreitung von Grenzen, die Die hier lediglich bruchstückhaft angerissenen Überlagerung oder Verschmelzung von Räumen, Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen was im Kontext des Jahrbuches immersiver Medien Konzepten, mit denen versucht wird, unsere sinnli- vor allem als spezifische Erfahrungen mit medial che Erfahrung ästhetischer und medialer Artefakte erzeugten oder vermittelten Räumen und Szenarien zu beschreiben, zeigen, dass sich eine profunde gedacht werden muss. Immersion – verstanden als und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit die- Übergang in eine medial vermittelte Umgebung – sen Phänomenen lohnt. Aus diesem Grund bilden schließt an die Überlegung an, dass im Umgang die vorliegenden Artikel nicht nur die Breite und mit Medien bzw. in der Medienrezeption eine «Dif- Vielfältigkeit der aktuellen Debatte um das Phäno- fusion von Räumen und Orten unterschiedlicher men der Atmosphäre ab, sondern versuchen zudem Qualität (metaphorisch, materiell, imaginär oder Zusammenhänge zu den verwandten Konzepten virtuell)» (Neitzel 2008: 148) stattfindet. Hier der Immersion, Präsenz oder Aura herzustellen. artikuliert sich zudem das sinnliche bzw. leibliche Spüren anderer – virtueller – Räume als wäre man Das Jahrbuch immersiver Medien 2013 in ihnen anwesend (Curtis 2008: 95), was wiede- rum eine Verbindung mit dem Konzept des Prä- Gernot Böhme geht in seinem Aufsatz Wirklich- senzerlebens nahelegt. Diese Form des Erlebens keiten. Über die Hybridisierung von Räumen und mediatisierter Räume und der darin anwesenden die Erfahrung von Immersion darauf ein, dass der Objekte und Subjekte ist am besten zu beschreiben Raum unserer leiblichen Anwesenheit in der Regel als das Spüren der (artifiziellen) Anwesenheit von mit medialen Darstellungsräumen hybridisiert etwas Abwesendem. Medien – vor allem diejeni- wird. Damit fokussiert er sich vor allem auf das gen, denen man das Attribut immersiv zuschreiben Erweitern des leiblichen Spürens in den media- kann – sind folglich in der Lage, Präsenzerfahrun- len Raum hinein, d.h. auf die Hybridisierung von gen bei den Betrachtern auszulösen, d.h. sie erlau- leiblichem Raum und Darstellungsraum. Dies ben den Rezipierenden eine sinnliche Anwesenheit ermöglicht ihm, ein grundlegendes Prinzip des in virtuellen Räumen, ein Spüren von Immateriel- Atmosphärischen mit dem Konzept der Immersion lem (vgl. Biocca 1997: k.S.; Schweinitz 2006: 136– zusammenzubringen und so deren spezifische Form 141): «Was ‹präsent› ist, soll für Menschenhände der Erfahrung herauszuarbeiten. Die Relevanz die- greifbar sein, was dann wiederum impliziert, daß ser Überlegungen zeigt sich nicht nur darin, dass es unmittelbar auf den menschlichen Körper ein- intensive Immersionserfahrung ein kalkuliertes wirken kann» (Gumbrecht 2004: 11). Eine ähnliche produktionsästhetisches Ziel im Bereich der Kunst Verschränkung von Räumlichkeiten, eine Diffusion und der Unterhaltungstechnologie geworden ist, von Distanz und Nähe wird im Konzept der Aura sondern auch darin, dass sie in naher Zukunft zur artikuliert, wie Walter Benjamin es in seinem Auf- selbstverständlichen Erfahrung unseres technisier- satz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen ten Alltags gehören wird. Reproduzierbarkeit (1935/36) entwickelt hat: An eben diese Ausführungen knüpft Davor Löff- «Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst ler mit seinem Beitrag Leben im Futur II Konjunk- aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer tiv. Über das Phänomen Atmosphäre und dessen Ferne, so nah sie sein mag» (1974: 440). In seiner Bedeutung im Zeitalter der technischen Immersion Analyse bringt Gernot Böhme dieses Phänomen an. Für Löffler bestehen apparative Immersionen aus dem Erleben hergestellter Atmosphären, die convention, with tension and release in keen balance» (Bick- Befindlichkeiten auslösen, durch welche die medi- ham 2010: k.S.). alen Interaktionsräume überhaupt erst eine leib- 12 Patrick Rupert-Kruse liche Relevanz erhalten. Wie Böhme stellt er sich nicht seine bauliche Herstellung in den Mittelpunkt der Klärung des Verhältnisses von Immersion und ihrer Überlegungen gestellt haben, welche jedoch Atmosphäre und entwickelt hierzu einen Atmo- bisher wenig diskutiert worden sind. Daher erwei- sphärenbegriff, der an die Phänomene des Immer- tert sie die aktuelle Auseinandersetzung über sinn- siven anschließbar ist. Dabei steht besonders der liches Stadterleben mit Theorien von Albert Erich Aspekt der Zeitlichkeit im Zentrum seiner Ana- Brinckmann, Fritz Schumacher und Gordon Cullen, lyse – ein Aspekt, der sich zwar als zentral für die bei denen Begriffe wie Raumempfinden, Rhythmus Entstehung von Atmosphären erweist, der jedoch und Suggestionskraft im Mittelpunkt stehen. bisher noch nicht hinreichend in die bestehenden Eine Anwendung des Konzepts der Atmosphäre Entwürfe einbezogen worden ist. auf das Medium Film vollzieht Lars C. Grabbe in Christina Katharina May wendet sich in ihrem seinem Beitrag Phänomenale Präsenz der Atmo- Aufsatz Landscape Habitat Immersion. Die Kons- sphäre im Film. Ein Divergenzphänomen zwischen truktion immersiver Zoolandschaften im Kontext immersivem Potential und Diskrepanzerfahrung. des US-amerikanischen Environmentalism dem von Grabbe arbeitet die konstitutiven Elemente des Jones und Jones entwickelten neuartigen Gestal- Atmosphärischen im Film als Dimension des Fil- tungskonzept als theoretische Anleitung für Natur- merlebens heraus und bringt das Wahrnehmungs- simulationen im Woodland Park Zoos zu. Deren phänomen der Atmosphäre mit dem Prinzip der Techniken zur Erzeugung immersiver Anlagen Immersion in Verbindung. In seinen Überlegungen zielten auf die illusionäre Auflösung der Grenze macht er Atmosphäre als Divergenzphänomen zwischen Tier und Mensch, Gehege und Besucher- beschreibbar, dass gleichermaßen durch immersive raum durch die Verbindung ökologisch funktiona- Potentiale sowie immersionshemmende Diskre- ler und ästhetischer Elemente. Ausgehend vom panzerfahrungen konstituiert werden kann. Beispiel des Woodland Park Zoos und den zeitge- Mit ihrem Text Phaneroskopie: Erste Überlegun- nössischen Theorien zur Landschaftsarchitektur im gen zur orektischen Filmanalyse richten Matthias Kontext des Environmentalism analysiert May die Bauer und Tobias Hochscherf ihr Augenmerk auf grundsätzlichen Überlegungen zur Produktion und das Wechselspiel von Empfindungen und Vorstel- Rezeption immersiver und atmosphärischer Land- lungen, welches durch das Filmerlebnis ausgelöst schaftsräume. wird. Unter Einbezug und in Weiterentwicklung Der Diskussion der Begriffe Stimmung, Atmo- des mood-approach approach von Greg M. Smith sphäre und Präsenz im Kontext der zeitgenössi- und anhand des Interpretanten-Modells von C. S. schen Architektur widmet sich Regine Heß in ihrem Peirce konzipieren Bauer und Hochscherf ihr Ana- Beitrag Stimmung, Atmosphäre, Präsenz. Wirkungs- lysemodell der orektischen Filmanalyse. Als beson- ästhetische Begriffe zur Analyse der Architektur von ders aufschlussreich erweisen sich im Artikel die Peter Zumthor. Eine sowohl rezeptions- als auch exemplarischen Analysen solcher Szenen, in denen produktionsästhetische Perspektive einnehmend, die Narration scheinbar aussetzt und sich die bringt Heß ihre Ergebnisse mit den ästhetischen Zuschauer der Empfindungen und Vorstellungen und methodischen Überlegungen Peter Zumthors innewerden, durch die sie dem Film Bedeutung zusammen. Heß zeigt anhand des von Zumthor verschaffen. entworfenen Museums Kolumba in Köln, wie die Begriffe Stimmung, Atmosphäre und Präsenz In der Rubrik «Lehrpraxis» ermöglicht der Architekt als produktionsästhetische Analysekriterien ihre und Szenograph Andreas Kretzer in seinem Beitrag Anwendung erfahren. Dabei zeigt sie, dass Baukör- Architekturlehre und Atmosphäre einen Einblick per, Grundrisse, Materialien und Beleuchtung sich in die Praxis atmosphärischer Raumdarstellung. mit eben diesen Begriffen analysieren lassen. Diese nähert sich dem gestalteten Raum sowohl Eine Anwendung des Atmosphärenkonzepts in zeichnerisch (Storyboard, Perspektive) als auch der Konzeption und Konstruktion von Stadträu- über das Medium Film und dessen exemplarische men stellt Anne Brandl in Rhythmus, Raumgefühl Darstellungen atmosphärischer Räume. Ausgangs- und konstruktive Suggestionskraft. Die sinnliche punkt ist dabei der Wunsch nach einer spezifischen, Wahrnehmung des Stadtraums in historischen möglichst unverwechselbaren Raumstimmung, Städtebautheorien vor. Brandl zeigt, dass es in der der tief in der Lehre und im Selbstverständnis des Städtebautheorie Ansätze gegeben hat, welche Berufs des Architekten verwurzelt zu sein scheint. die sinnliche Wahrnehmung des Stadtraumes und Dabei beschäftigt sich Kretzer mit dem Thema Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung 13 Atmosphäre jenseits einer rein wissenschaftlichen greifende Beschäftigung mit dem Konzept der Auseinandersetzung, sondern innerhalb der univer- Atmosphäre maßgeblich angestoßen und geprägt sitären Architekturlehre. Er schildert exemplarisch hat. Des Weiteren hat er sich dazu bereit erklärt, wie Architekturstudenten lernen, ihre räumlichen bei dieser Ausgabe des Jahrbuch[es] immersiver Ideen im Entwurfsprozess darzustellen und wie Medien als Gastherausgeber zu fungieren und den das Atmosphärische innerhalb dieses Prozesses an vorliegenden Band mit einem Vorwort zu veredeln. Gestalt gewinnt. Besonders bedanken möchten wir uns auch bei dem Künstler Jan van Munster, der uns erlaubt Darauf folgt in der Rubrik «Fulldome-Szene» der hat, eine Abbildung seiner Installation Heat II als Artikel 10 Jahre Fulldome in Deutschland von Edu- Coverbild zu nutzen, und bei Julia Otto, die uns ard Thomas. Hierin zeichnet Thomas in der Stilistik in ihrem Text Energie spüren: Warmte II / Heat einer Diskussion zwischen Bad Cop und Good Cop II einen Einblick in die künstlerische Arbeit van die Entwicklungslinien, Visionen und skeptischen Munsters gibt. Gedanken aus diesem Jahrzehnt nach. Daran schließt der Artikel Fulldome vs. 16:9. Zu Zu guter Letzt soll nicht unerwähnt bleiben, dass im den Differenzen in Konzeption, Gestaltung und Pro- vorliegenden Jahrbuch eine thematische Eingren- duktion eines Spielfilms in der Kuppel und im klas- zung aufgrund von Sinnesmodalitäten vorgenom- sischen Bildformat – am Beispiel der Filmversionen men worden ist. So finden sich in der aktuellen Aus- von breakFaST von Sönke Hahn an. Dieser Artikel gabe neben einigen grundlegenden Diskussionen behandelt die Differenzen in Konzeption, Gestal- zum Begriff der Atmosphäre und verwandten Kon- tung und Produktion zwischen Spielfilmen in der zepten vor allem Artikel, die das Atmosphärische Kuppel (Fulldome) und konventionellen Filmforma- überwiegend vom Visuellen und Materiellen her ten (16:9). Im Zentrum stehen dabei insbesondere denken. Der Aspekt des akustischen Stimmens von Fragen der Dramaturgie und der Inszenierung, Räumen darf allerdings nicht aus der Diskussion zudem wird ausführlich und beispielhaft auf die um Atmosphäre und Immersion ausgeklammert Grundfragen der Übertragbarkeit von Kameraein- werden und soll im nächsten Jahrbuch immersiver stellungen und Bildaufbau eingegangen. Medien (Schwerpunktthema 2014: «Klänge, Musik Die technischen Möglichkeiten einer immer- & Soundscapes») ausführlich diskutiert werden. siven Interaktion auf Basis der in Planetarien verwendeten Kuppelsysteme lotet Axel Meyer in Literatur seinem Beitrag 360Touch.it – Entwicklung und Evaluation von immersiver Multi-User-Interaktion Benjamin, Walter (1974) Das Kunstwerk im Zeitalter für Planetarien aus. Der Artikel stellt ein Multi- seiner technischen Reproduzierbarkeit [1935/36]. User-Interaktions-System vor, das den Besuchern In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band I,2. eines Planetariums ermöglicht, mit dem Smart- Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppen- phone an einem Multi-Player-Fulldome-Game in häuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 431–469 einer 360°-Kuppel teilzunehmen. Damit widmet Bickham, Al (2010) Amnesia: The Dark Descent review. sich Meyer einem Aspekt des immersiven Erlebens In: PC Gamer UK, http://www.pcgamer.com/ in Planetarien, der bisher kaum behandelt worden review/amnesia-the-dark-descent-review/#null ist und ein dringendes Desiderat der angewandten [20.08.2013] Forschung darstellt. Biocca, Frank (1997) The Cyborg’s Dilemma: Progressive Außerdem finden sich im aktuellen Band Bespre- Embodiment in Virtual Environments. In: Journal of chungen zum Sammelband Erlebnislandschaft – Computer-Mediated Communication, Volume 3, No. Erlebnis Landschaft?, der sich mit der empirischen 2, http://jcmc.indiana.edu/vol3/issue2/biocca2. Fassbarkeit von Atmosphären beschäftigt, zum ers- html [25.07.2011] ten stereoskopischen Film mit Polarisationstechnik Böhme, Gernot (2006) Architektur und Atmosphäre. Zum Greifen nah! (Kurt Engel, D 1936/37) und München: Fink zur 360°-Fulldome-Show We are Aliens (UK 2012) Böhme, Gernot (2001) Aisthetik: Vorlesungen über Ästhe- von NSC creative. tik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Ein besonderer Dank gilt zudem Hermann Fink Schmitz, der mit seinen Überlegungen zur Neuen Böhme, Gernot (1995) Atmosphäre. Essays zur neuen Phänomenologie die aktuelle Disziplinen über- Ästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 14 Patrick Rupert-Kruse Curtis, Robin (2008) Immersion und Einfühlung: Zwi- Schweinitz, Jörg (2006) Totale Immersion und die Uto- schen Repräsentationalität und Materialität beweg- pien von der virtuellen Realität. In: Das Spiel mit dem ter Bilder. In: montage AV, 17, 2. S. 89–108 Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Hg. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004) Diesseits der Herme- von Britta Neitzel und Rolf F. Nohr. Marburg: Schüren. neutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M.: S. 136–153 Suhrkamp Ströker, Elisabeth (1977) Philosophische Untersuchungen Neitzel, Britta (2008) Facetten räumlicher Immersion zum Raum. Frankfurt a.M.: Klostermann in technischen Medien. In: montage AV, 17, 2. S. Welsch. Wolfgang (2003) Ästhetisches Denken, 6., erwei- 145–158 terte Auflage. Stuttgart: Reclam Schmitz, Hermann (1969) System der Philosophie. Band III: Der Raum. Teil II: Der Gefühlsraum. Bonn: Bouvier Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung 15 artIkEl wIrklIchkEItEn Über die hybridisierung von räumen und die erFahrung von immersion Dieter Mersch gewidmet Gernot Böhme Zusammenfassung/Abstract Der vorliegende Artikel knüpft an meinen Aufsatz Der Raum leiblicher Anwesen- heit und der Raum als Medium von Darstellung (Böhme 2004a) an. Dabei geht es vor allem darum, dass die für menschliche Erfahrung, Wahrnehmung und Handlung relevanten Raumtypen durch Hybridisierung von Medien zustande kommen. Daraus ergibt sich auch ein kritischer Begriff virtueller Realität, die von reiner Bildwirklichkeit zu unterscheiden ist: Von virtueller Realität ist sinnvoll nur dann zu sprechen, wenn sich ein ‹Verschnitt› vom Raum leiblicher Anwesenheit mit einem Bildraum ergibt. Auf diesem Hintergrund versucht der Vortrag eine Annäherung an das Konzept der immersiven Medien, die zunehmend an Relevanz gewinnen. Wäh- rend Phänomene der Immersion heute noch vornehmlich ihren Ort in Kunst und Unterhaltung haben, ist damit zu rechnen, dass sie mehr und mehr in die Lebenswelt vordringen. This article extends what was said in my article The Space of Bodily Presence and Space as a Medium of Representation (Böhme 2003). The main point is that the types of space which are relevant for human experience, perception and action are hybrids of different media. On this background a critical concept of virtual reality can be developed – as being structurally different form the actuality of images: to speak of virtual reality is adequate only if there is a hybrid of the space of bodily presence with a pictorial space. Proceeding from this the article tries an approach to immersive media. While phenomena of immersion today are to be found predominantly in the realm of art and entertainment, it is to expected that they intrude the lifeworld more and more in the future. Wirklichkeiten 17 Einleitung Ausdruck Realität Bezug darauf, dass er sich von res, Ding, ableitet, das heißt also, ich meine mit Dieser Aufsatz versteht sich als ein Beitrag zum Realität die Existenzweise der Dinge. Wenn ich die Thema der Immersion, besser gesagt, zur Aufhel- Existenzweise der Bilder qua image als Wirklichkeit lung der Erfahrung von Immersion. Dabei handelt bezeichne, so, weil ich damit an eine Redeweise es sich um das Phänomen, dass Subjekte in Bild- von Ludwig Klages anknüpfe, der von der Wirklich- erwelten, allgemeiner symbolisch repräsentierten keit der Bilder bzw. den Erscheinungswesen gere- Welten, eintauchen können, und zwar so, dass diese det hat. Dazu gleich mehr. Bilderwelten auf sie so wirken, als seien sie ihre Zunächst aber ist darauf hinzuweisen, dass ein Lebensrealität. Ich möchte mich dabei nicht mit der Bild qua image in gewisser Weise von ihrem mate- allbekannten Tatsache beschäftigen, dass ein Leser riellen Träger, also vom tableau, unabhängig ist. sich etwa mit dem Protagonisten eines Romans Man kann die image vom tableau ablösen und auf identifizieren kann und so in der Hingegebenheit oder in einem anderen Medium darstellen, also an seine Lektüre vorübergehend die Romanwirk- etwa im Foto, im Film, in der oder jener Projektion. lichkeit als seine Realität imaginieren kann. Die Die Möglichkeit, ein Bild qua image auch digital Phänomene von Immersion, mit denen wir heute zu abzuspeichern, beweist die prinzipielle Unabhän- tun haben, sind weit dramatischer, und sie hängen gigkeit der image vom tableau, wenngleich zwei einerseits mit der Entwicklung technischer Medien, Fragen offenbleiben, nämlich, ob eine image ganz andererseits mit der Veränderung der Lebenswelten ohne materiellen Träger auskommt, und zweitens, in der technischen Zivilisation zusammen. Um hier ob der jeweilige materielle Träger für ihre Wir- Klarheit bezüglich der Erfahrung der Immersion zu kung als image einen Faktor darstellt (vgl. Böhme erreichen, scheint es mir notwendig, das Phänomen 2004b: 40–65). Wenngleich diese Fragen vorläu- auf der Basis der Unterscheidung von Seinsweisen fig nicht hinreichend beantwortet sind, lässt sich und von Raumarten anzugehen. sagen, dass ein Bild als image jedenfalls in einer besonderen Existenzweise imponiert, weil es näm- Wirklichkeit und Realität lich als solches, d.h. unabhängig von dem jeweili- gen materiellen Träger, wirkt. Die Rede von Seinsweisen ist seit Brentano in der Ich habe die Wirklichkeit der Bilder seinerzeit Philosophie bekannt, dann aber durch Martin Hei- durch eine Analyse der Arie des Tamino in Mozarts degger etabliert worden. Hatte man vorher durch Zauberflöte zum Thema gemacht (vgl. Böhme die Unterscheidung von Essenz und Existenz unter- 1999: 77–93): Die Liebe des Tamino zu Pamina ist stellt, dass typische Unterscheidungen von Seien- im Ansatz nicht eine Liebe zu ihr als Person oder den sich nur bezüglich der Essenz ausmachen las- als Leib, sondern zu ihrem bloßen Anblick. Ob sen und das Existieren für alles Seiende dasselbe eine Person oder ein Leib namens Pamina über- sei, so hat sich doch allmählich die Ansicht durch- haupt existiert, spielt für seine Affektlage zunächst gesetzt, dass das Wie des Existierens für verschie- keine Rolle. Was ihn entzückt, ist zunächst nur der dene Arten des Seienden charakteristisch unter- Anblick, der ihm aus dem Gemälde entgegentritt. schieden sein kann. Für unseren Zusammenhang Ludwig Klages hat in seinem Buch Vom kosmogo- wollen wir nur einen dieser Unterschiede beleuch- nischen Eros (1972) aufgrund solcher Erfahrungen ten, der durch die Verwendung des Ausdrucks Bild sogar einen bestimmten Typ von Liebe eingeführt, zutage tritt. Wenn man von einem Gemälde spricht, die er den Eros der Ferne nennt. Er plädiert dafür, dann kann der Ausdruck Bild den anfassbaren die lustvolle Erfahrung im Anblick einer Erschei- Gegenstand der bemalten Leinwand mit Rahmen nung als solche festzuhalten und warnt geradezu meinen, aber man kann damit auch das auf der davor, die Anmutung, die man durch einen Anblick Leinwand Gemalte bezeichnen. Im Französischen erfährt, zum Motiv zu nehmen, quasi handgreiflich hat man hierfür eine terminologische Unterschei- zu werden, d.h. leibliche Nähe zur Trägerin dieses dung, nämlich die von tableau und image: tableau Anblicks zu suchen (vgl. Klages 1972: 92). ist das Gemälde als Gegenstand, image dasjenige, Die Erfahrung, die hier paradigmatisch als Eros was auf dem Bild zu sehen ist. Das tableau und die der Ferne zitiert wurde, wird von Ludwig Klages image haben nun deutlich unterschiedene Existen- in der Lehre von der Wirklichkeit der Bilder bzw. zweisen. Ich unterscheide sie durch die Terminolo- der Erscheinungswesen verallgemeinert. Erschei- gie Realität und Wirklichkeit. Dabei nehme ich im nungswesen sind nichtmaterielle Entitäten, deren 18 Gernot Böhme Existenz als imponierender Eindruck in affektiver an der Wirklichkeit der Bilder partizipieren. Diese Betroffenheit erfahren wird. Dabei ist charakteris- Verhältnisse könnten einen Schlüssel darstellen für tisch, dass sie durchaus keine Permanenz in der das Thema Immersion. Zeit aufweisen müssen, wie das für das Paradigma europäischer Ontologie, nämlich die Substanz, der Fall ist. Vielmehr können sie durchaus ephemeren Raumarten Charakter haben. Umgekehrt ist gerade das flüch- tige Aufscheinen von Bildwirklichkeit für ihre Exis- In meinem Aufsatz Der Raum leiblicher Anwesen- tenzweise charakteristisch. Man könnte deshalb heit und der Raum als Medium von Darstellung ihre Existenzweise im Englischen im Unterschied (2004a) habe ich eine grundsätzliche Unter- zu reality auch als actuality bezeichnen. scheidung von Raumarten eingeführt, die für die Das wird besonders deutlich, wenn man die Analyse des Phänomens der Immersion erhellend Wirklichkeit der Bilder noch einmal mit der Reali- sein könnte. Räume als Medien von Darstellungen tät der Dinge konfrontiert. Es wurde schon gesagt, sind alle Punktmannigfaltigkeiten, auf die Entitä- dass in der klassischen Ontologie das Sein der ten so abgebildet werden, dass ihre Relationen Dinge als Substanzen gerade in ihrer Permanenz erhalten bleiben. Natürlich ist dabei primär an gesehen wurde. Sie werden zwar nicht als ewig Gegenstände der Realität zu denken, sodass alle unterstellt, aber ihr Sein wird doch gerade darin Abbildungen von ihnen als Darstellungen in zwei, gesehen, dass sie in der Zeit gegenüber dem drei oder ggf. n-dimensionalen Räumen angese- Wechsel von Attributen bleiben. Aber das ist ein hen werden. Es ist aber wichtig sich klarzumachen, Gedanke. Wie wird ihre Existenz erfahren? Diese dass auch Relationen, die als solche nicht räum- Frage wird in der Regel umgangen oder im Sinne lich sind, durch Darstellung räumlichen Charakter von Kant beantwortet, nämlich, dass ihnen ihre erhalten können. Das Grundbeispiel dafür ist der Existenz aufgrund des Wahrgenommenseins zuge- Stammbaum: Verwandtschaftsbeziehungen erhal- sprochen wird1. Es ist Sartre, der in seinem Roman ten dadurch grafischen Charakter im Raum. Der Ekel (1938) dieser Frage weiter nachgegangen Von allen Darstellungsräumen ist grundsätzlich ist, indem er beim Anblick von Dingen, also bei- der Raum leiblicher Anwesenheit zu unterscheiden. spielsweise einer Baumwurzel, versuchsweise alle Der Raum leiblicher Anwesenheit ist die Extension Vorstellungen, was das jeweilige Ding sein könnte, leiblichen Spürens eines Menschen. Mathematisch variiert, um so bei der Erfahrung der nackten Exis- gesehen ist der Raum leiblicher Anwesenheit ein tenz anzukommen. Diese Erfahrung ist der Ekel. topologischer Raum, d.h. es existieren in ihm Nach- Die Dinge imponieren im Ekel in ihrer zudringli- barschaftsverhältnisse. Er unterscheidet sich aber chen und dichten Vorhandenheit. Das ist aber kei- vom allgemeinen topologischen Raum dadurch, neswegs die einzige Weise, in der Dinge in ihrer dass er anisotrop ist: es gibt oben und unten, vorne Existenz imponieren, also als wirklich anwesend und hinten. Unsere räumliche Existenz durch leib- spürbar werden. Vielmehr geschieht das häufig liches Spüren vollzieht sich nun wesentlich in drei gerade dadurch, dass Ephemeres an ihnen spielt: Arten von Räumen: So wird deutlich, dass ein bestimmtes Glas jetzt hier ist, weniger durch seine materielle Permanenz, – im Handlungsraum, klassisch unserer spha- als vielmehr durch seinen Bezug zur Unterlage, era activitatis, d.h. den Bereich von Nähe und sein Dastehen, das Spiel von Schatten und Licht Ferne, in dem wir leiblich handelnd wirksam im Glas und in seiner Umgebung. Diese Erfah- werden können; rung ist wichtig, insofern sie auf eine Priorität von – im Wahrnehmungsraum, d.h. der Extension, Erscheinungswirklichkeit hinweisen könnte, wenn in der wir wahrnehmend bei den Dingen man Existenzweisen von der Frage her untersucht, sind; wie sie erfahren werden. Die Erfahrung von Rea- – im Stimmungsraum, d.h. der Extension von lität, d.h. die Erfahrung der Existenz der Dinge, Atmosphären, die wir in leiblicher Betroffen- würden wir danach gerade machen, insofern sie heit erfahren. 1 Kant redet hier übrigens von Wirklichkeit, weil bei ihm Entscheidend für das Folgende ist nun die Tatsa- der Terminus Realität – Descartes folgend – für den Inhalt che, dass der Raum unserer leiblichen Anwesen- von Vorstellungen reserviert ist. heit in der Regel mit bestimmten Darstellungs- Wirklichkeiten 19 räumen hybridisiert wird. Das Grundbeispiel dafür den, dass nach meiner Terminologie der Ausdruck hat Kant bereits im Auge gehabt, indem er einen virtuelle Realität auch nach der jetzt vorgestellten Unterschied machte zwischen Wahrnehmung und Definition nicht angemessen ist, denn auch wenn Anschauung. Wahrgenommen werden Empfindun- Bildräume zum Raum räumlicher Anwesenheit gen, die zueinander allenfalls eine topologische werden, so werden dennoch darin nicht Dinge, Ordnung haben mögen, sie werden jedoch vorge- also Realitäten, erfahren, sondern die Wirklichkeit stellt in Anschauungen, wodurch ihnen die Formen von Bildern. Es müsste deshalb korrekter virtuelle der Anschauung, nämlich Raum und Zeit, aufge- Wirklichkeit heißen. prägt werden. Entsprechend kann man sagen, dass wir unserem leiblichen Raum qua Wahrnehmungs- Immersionserfahrungen raum, in dem wir Wahrnehmungen zu Anschauun- gen formieren, bereits bestimmte Strukturen eines Die Hauptbeispiele von Immersionserfahrungen Darstellungsraumes – in der Regel die Euklidizität finden sich heute noch im Bereich der Kunst und – aufprägen. Wir ‹sehen› rechte Winkel, Abstände der Unterhaltungstechnologie. Freilich muss man usw. Es ist vor allem die Gestaltpsychologie, die sagen, dass viele Beispiele aus diesem Bereich, solches Aufprägen von Anschauungsformen auf die für Immersion angeführt werden, kaum über die Wahrnehmungen untersucht hat. die Identifikationsphänomene, die man traditio- Die Hybridisierung von leiblichem Raum und nell vom Romanlesen her kennt, hinausgehen. Der Darstellungsraum, in diesem Fall des Raums euk- Unterschied besteht vor allem darin, dass Computer- lidischer Geometrie, ist schwer wieder zu lösen. Wir spiele interaktiv sind. Wenn ein Nutzer eines Com- finden eine solche Lösung in manchen Kunstwer- puterspiels im Spiel einen Vertreter, einen Avatar, ken. Sie kann aber auch durch Wahrnehmungs- hat, dann nimmt er nicht nur durch Identifikation übungen, insbesondere der Überdehnung und an dessen Schicksal teil, sondern agiert ja mit die- des Loslassens erreicht werden. Für unser Thema sem Avatar über seine Spielkonsole im Spiel selbst. entscheidend ist, dass die Gewöhnung an eine Das könnte über einen Prozess der Einleibung, des Hybridisierung von leiblichem Raum und Darstel- embodiment, bereits zu einer Hybridisierung von lungsraum in unserem alltäglichen Anschauungs- leiblichem Raum und Bildraum führen. Wichtiger raum uns überhaupt eingeübt darin hat, uns auf für die gegenwärtige Lage von Computerspielern Hybridisierungen von Raumarten einzustellen und und die Gefahr der Spielsucht ist allerdings, dass mit ihnen zu leben. Diejenige Hybridisierung, die der Spieler sich im Computer oder im Netz eine nun von größtem Interesse ist, ist die virtuelle Rea- zweite Person aufbaut, die für seinen psychisch-bio- lität bzw. das, was mit guten Gründen so genannt grafischen Haushalt und damit auch für den Einsatz werden kann. Als virtuelle Realität wird häufig seiner Lebenszeit relevant wird. Das sind inzwischen bezeichnet, was nichts weiter ist als die Wirklich- massenhafte Ereignisse. Ich möchte aber zur Ver- keit von Bildern in Darstellungsräumen, wie etwa deutlichung des Geschehens hier auf ein Kunstwerk Filme, Computerspiele und dergleichen. Zur virtu- hinweisen, das sich dadurch auszeichnet, dass der ellen Realität werden diese Darstellungsmedien Betrachter nicht nur durch einen über Identifikation aber erst durch das Phänomen der Immersion, besetzten Avatar im Bildraum erscheint, sondern nämlich, dass sie mit dem Raum leiblicher Anwe- selbst mit seinem eigenen Bild. senheit eines Menschen hybridisiert werden. Das Es handelt sich um die Installation Camera heißt, dadurch, dass ein Mensch so in einen Dar- Virtuosa von Bruno Cohen im Zentrum für Kunst stellungsraum eintaucht, dass er ihn zugleich als und Medien, Karlsruhe, aus dem Jahr 1996.2 Der Extension seines leiblichen Spürens erfährt. Dass Besucher schaut durch eine Scheibe in einen drei- so etwas überhaupt möglich ist, liegt daran, dass dimensionalen Bildraum, in dem sich ein Geigen- man bereits in der ganz alltäglichen Anschauung spieler befindet, der Musik macht und den man dem Raum leiblicher Anwesenheit die Struktur auch spielen hört. Doch man ist selbst, durch eine eines Darstellungsraums aufprägt. Immersion Videokamera vermittelt, in diesem Bildraum als wäre dann nur der umgekehrte Vorgang, nämlich Figürchen anwesend. Dieses Figürchen vollzieht einen Darstellungsraum als Raum leiblicher Anwe- naturgemäß die Bewegungen mit, die man als senheit zu erfahren. Bevor ich mich nun Beispielen von Immersions- 2 Sieh dazu: http://on1.zkm.de/zkm/werke/CameraVir- erfahrung zuwende, sollte noch klargestellt wer- tuosa. 20 Gernot Böhme realer Mensch vor der Scheibe vollzieht. Man ist kann nämlich passieren, dass dem Besucher beim also, insoweit der leibliche Raum Handlungsraum Betreten des Panoramas Schwindel bis zur Übel- ist, im Bildraum der Installation anwesend. Freilich keit ankommt. Eine weitere Vervollkommnung der muss man sagen, dass diese figurative Anwesen- Überlagerung des leiblichen Raums durch einen heit im Bildraum nur eine beschnittene leibliche Bildraum geschieht in CAVEs (Cave Automatic Anwesenheit ist, insofern von den drei genannten Virtual Environment), in denen mit Projektionen Arten des leiblichen Raumes nur der Handlungs- und Datenbrille dem Besucher die leibliche Anwe- raum, nicht aber der Wahrnehmungsraum und der senheit in einem reinen Bildraum vermittelt wird. Stimmungsraum verwirklicht sind. Dass es leibliche Anwesenheit ist, was er erfährt, Dieser erste Typ einer Hybridisierung von setzt allerdings voraus, dass die Bildprogramme Bildraum und leiblichem Raum geschieht also der Art sind, dass sie den leiblichen Bewegungen dadurch, dass ein Mensch durch Identifikation in Stellungswechsel und sogar der Augenausrich- oder Einleibung seine leibliche Anwesenheit im tung entsprechen. Natürlich kann diese Form von Bildraum simuliert. Dem müsste dann ein zweiter Immersion noch durch CAVEs oder gar Datenan- Typ von Hybridisierung entsprechen, indem näm- züge gesteigert werden, indem eben nicht nur visu- lich das Spüren leiblicher Anwesenheit durch die elle Eindrücke, sondern auch haptische vermittelt Superposition des leiblichen Raums mit einem werden, durch die leibliche Affektionen in einem Bildraum oder allgemeine: Datenräume geprägt reinen Datenraum simuliert werden können. Diese wird. Als Übergang möchte ich jedoch ein Beispiel Einrichtungen können zur virtuellen Wirklichkeit nennen, von dem Natascha Adamowsky im Darm- von Sex genutzt werden. städter Symposium «Transforming Spaces» berich- Damit wäre ein erstes Beispiel des Eindringens tet hat: Als Entertainment-Attraktion gibt es in Las von Immersionserfahrungen in den Lebensalltag Vegas einen Fahrstuhl, durch den man unerwartet gegeben. Heute finden sich dafür Beispiele in in ein Star-Trek-Geschehen katapultiert wird. Der bestimmten Berufszusammenhängen. So erfolgt Besucher erfährt hier in leiblicher Anwesenheit, das Training von Flugzeugführern in Flugsimulato- was man sonst – distanziert – als eine Bühnendar- ren, die nicht etwa bloß wie bei Spielautomaten stellung ansehen würde. Er ist mitten im Gesche- etwa das Steuern eines Autos in seinen Auswir- hen. Freilich würde man sagen, es ist kein reales kungen auf einen Monitor simulieren, sondern wo Geschehen, weil es ja von Schauspielern nur dar- der Flugzeugführer in seiner labormäßigen Flug- gestellt wird, freilich nicht in einem Bildraum, son- kabine leiblich in das Geschehen des Fluges voll dern in dem Raum, der für den Besucher wirklich eingebunden ist bzw. ihm die Wirkungen seiner der Raum seiner leiblichen Anwesenheit ist (vgl. Pilotenaktivität nicht bloß über Geräteanzeigen Adamowsky 2003). und Monitoren, sondern durch die Bewegungen Nun aber zu der Hybridisierung von Bildraum der Kabine selbst spürbar gemacht werden. Aus und leiblichem Raum dadurch, dass dem leibli- den Erfahrungen der Flugschüler wird übrigens chen Raum ein Bildraum eingeschrieben wird. Der unter dem Stichwort simulator sickness von eben älteste Fall, der aber gerade in jüngster Zeit ein dem Phänomen leiblicher Teilnahme berichtet, auf Come-back erlebt, ist das Panorama. Hier tritt der das ich im Zusammenhang der Panoramen schon Besucher durch eine Schleuse in die Mitte eines hingewiesen habe, nämlich dass sich die leibliche 360°-Bildes, das nach Möglichkeit für seine opti- Anwesenheit im hybriden Bildraum durch Übelkeit sche Wahrnehmung eine Totalität repräsentiert bemerkbar machen kann. (vgl. u.a. Grau2002: 15ff.; Rienow 2011: 77–87). Schließlich sei als letztes Beispiel auf das Letzteres kann in jüngster Zeit durch 3D-Projekti- Operieren am Bildschirm verwiesen, bei dem der onen in Kuppelräumen noch vervollkommnet wer- Chirurg wie mit einem Joystick am Computerspiel den. Klassische Beispiele sind das Scheveningen- vor dem Bildschirm die mikroinvasiven Aktionen Panorama in Den Haag oder das Panorama in seiner allerfeinsten Operationsgeräte im Innern Innsbruck die Schlacht am Bergisel 1809. Jüngst des Patientenkörpers dirigiert. Die hier wirksame war in Berlin das Asisi Panorama, d.h. die 3D-Dar- Hybridisierung von Bildraum und leiblichem Raum stellung der Landschaft von Pergamon, ein großer ist umso eindrucksvoller, als der Bildraum, den der Erfolg. Schon die Erfahrung mit traditionellen Pan- Chirurg vor sich hat, ja nicht einfach der Raum oramen zeigt, dass der Bildraum des Besuchers ist, den er sehen würde, wenn er den Körper des durchaus als leiblicher Raum erfahren wird. Es Patienten aufschnitte, sondern in der Regel ein aus Wirklichkeiten 21 sonographischen Daten für das menschliche Auge Literatur berechneter Anschauungsraum ist. Das Entscheidende der letztgenannten Bei- Adamowsky, Natascha (2003) See you on the holodeck! spiele ist, dass die Hybridisierung von leiblichem Morphing into new Dimensions. In: Transforming Raum und Bildraum oder, anders ausgedrückt, die Spaces. The Topological Turn in Technology Studies. leibliche Immersion eines Menschen im Bildraum Hg. von Mikael Hård, Andreas Lösch und Dirk Ver- hier nicht mehr nur Spielcharakter hat, dem gegen- dicchio. Online: http://www.ifs.tu-darmstadt.de/ über der Teilnehmer jederzeit auch zurücktreten fileadmin/gradkoll//Publikationen/space-folder/ könnte, sondern vom Arzt in verantwortungsvol- pdf/Adamowsky.pdf [17.07.2013] ler Berufsausübung durchdrungen ist. Hier ist im Böhme, Gernot (1999) Theorie des Bildes. München: Fink. Zuge der Transformation unserer realen Umwelt in – (2003) The Space of Bodily Presence and Space as a eine Datenwelt noch vieles zu erwarten, und zwar Medium of Representation. In: Transforming Spaces. so, dass vielleicht langfristig, was uns heute noch The Topological Turn in Technology Studies. Hg. von als Immersionserfahrung auffällig ist, zur selbst- Mikael Hård, Andreas Lösch und Dirk Verdicchio. verständlichen Erfahrung unseres technisierten Online:http://www.ifs.tu-darmstadt.de/fileadmin/ Alltags gehören wird. gradkoll/Publikationen/space-folder/pdf/Boehme. pdf [17.07.2013] – (2004a) Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung. In: Performativi- tät und Medialität. Hg. von Sybille Krämer. München: Fink. S.129–140 – (2004b) Das Bild und sein Medium. In: Die Medien der Kunst. Die Kunst der Medien. Hg. von G.J. Lischka & Peter Weibel. Wabern: Benteli. S. 40–65. Grau, Oliver (2002) Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Berlin: Reimer Klages, Ludwig (1972) Vom kosmogonischen Eros, 7. Auf- lage. Bonn: Bouvier Rienow, Jürgen (2011) Echtzeitvisualisierung und digi- tale Kuppelprojektionen. In: Jahrbuch immersiver Medien 2011. Hg. vom Institut für immersive Medien (ifim) im Auftrag des Fachbereichs Medien der Fach- hochschule Kiel. Marburg: Schüren. S. 77–87 22 Gernot Böhme lEbEn IM Futur II konJunktIV Über das Phänomen atmosPhäre und dessen bedeutung im Zeitalter der technischen immersion Davor Löffler Zusammenfassung/Abstract Die in kommunikationstechnologischen Medien vermittelten Immersionswelten durchdringen und überwölben zunehmend die Lebenswelt. Apparative Immer- sionen bestehen in erster Linie aus dem Erlebnis hergestellter Atmosphären, die Befindlichkeiten auslösen, durch welche die abstrakt-symbolischen Inter- aktionsräume überhaupt erst leibliche Relevanz erhalten. Eine Klärung des Verhältnisses von Immersion und Atmosphäre steht bislang noch aus. Hierzu wird ein Atmosphärenbegriff entwickelt, der an die Phänomene des Immersiven anschließbar ist. Das Erleben von Atmosphären hat einige besondere Merkmale, die von den vorliegenden Atmosphärenkonzepten nicht berücksichtigt werden. Besonders der Aspekt der Zeitlichkeit, der sich als zentral für die Entstehung von Atmosphären erweist, wird nicht hinreichend in die Entwürfe einbezogen. Darauf reagiert eine Atmosphärenkonzeption, die auf drei an den Paradigmen des Embodiment und Enaktivismus orientierten Theoriemodulen aufbaut. Diese erlauben die Affizierung der leiblichen Befindlichkeit durch Umweltwahrneh- mungen zu konzeptualisieren, wie sie für Atmosphären typisch ist. Atmosphären können hernach als ein Gemütszustand neben Emotionen und Stimmungen verortet werden. Es zeigt sich, dass Atmosphären als eine eigene Kognitions- form für imaginär-vollendete Zukünfte organischer Zustände auffassbar sind, die dem Subjekt im Latenten verborgene Handlungen und imaginäre Körper- Umwelt-Relationen vermitteln. Immersionswelten können nunmehr aus der Leiblichkeit des Menschen verstanden werden, womit auch die Medientheorie und Soziologie eine neue Untersuchungsperspektive gewinnt. Im Zeitalter der Immersion tritt eine neue Art von Vergesellschaftung auf, die atmosphärisch vermittelte Intensitäten zum Gegenstand hat. Immersive worlds provided by technological media are more and more protrud- ing and overarching the lifeworld. Technologically enabled immersions essen- tially consist of the experience of atmospheres which trigger states of mind and thereby establish a connection between abstract symbolic realms and bodily relevancies. A profound analysis of the relation between immersion and atmos- pheres is still outstanding. In this paper a concept of atmospheres is presented that relates this type of experience to the phenomena of immersivity. The percep- tion of atmospheres is characterized by some specific cognitive attributes that Leben im Futur II Konjunktiv 23 are not taken into account by the current concepts of atmospheres. In particular, temporality, which proves to be central to the constitution of atmospheric experi- ence, is not sufficiently credited. In order to address this conceptual challenge, the concept of atmospheres developed in this work is based on three theoretical modules that are derived from the paradigms of embodiment and enactivism. The synthesis of the modules allows for a conceptualization of the affection of bodily and mental states by the perception of environmental objects and situa- tions, as is typical for atmospheres. In this way, atmospheres can be considered certain states of mind, alongside moods and emotions. It is shown that the atmospherical colouring of perception can be understood as the type of cogni- tion for the arousal of implicit readiness to act and for potential future opera- tions or body-environment relations. By showing that immersive realms are based on atmospheric cognition, media theory and sociology also gain new perspec- tives. With the upcoming age of immersion a new type of socialisation emerges that is based on atmospherically mediated intensities. Einleitung Vorhandensein des schwer zu greifenden Phäno- mens Atmosphäre nicht auch ein anderes Licht zu Eine Reise beginnt nicht mit einem ersten Schritt, werfen auf die a posteriori sich konkretisierenden sie beginnt mit dem Spüren einer ersten Intensi- Gegenstände und Empfindungen, von denen unser tät. Ein Sich-vorweg-Sein ist Grundbedingung jeg- untersuchendes Denken üblicherweise seinen Aus- licher Explikation in Entscheidung, Artikulation, gang nimmt? Kann das Atmosphärische dann als Handlung, Ereignis, Struktur. Doch dies bedeutet conditio humana verstanden werden? Was sagt nicht, dass die Intensität selbst strukturlos sei. die Frage nach der Atmosphäre als einem Gespür Wenn auch, in anderen Worten, die Aktualisierung für die Intensität des Vorweg-Seins selbst über die von Potentialen rückwirkend erst das Potential Zeit aus, in der diese Frage gestellt werden kann, artikulierbar macht (wie oft am Tag verspüren wir und was über den Menschen in dieser Zeit? durch uns hindurch ziehende Intensitäten neuer Der Mensch ist charakterisiert durch einen Anfänge, ohne dass sich diese verfestigen wür- Daseinmodus des ‹Vorweg›, durch einen Daseins- den?), so können dessen Eigenheiten doch an den modus, der keine Gegenwart ohne eine strukturelle Spuren seiner Zeitigung abgelesen werden. Die Ent- Anbindung an ein Futur II kennt, an ein ‹Es-wird- faltung des Verwirklichungspotentials, des dimen- geworden-Sein›. Gerade die zeitliche Ebene der sionslosen Intensitätsgefühls in zeitlich gestaffelte imaginär vollendeten Zukunft ist aber auch typisch Ereignisse und Teilschritte deutet darauf hin, dass für die Auslagerung des Lebens ins Virtuelle. Sie ist das Vorwirkliche ebenfalls einer Struktur unter- Kennzeichen eines Zeitalters, in dem sich Interak- liegt. Wenn auch das Spüren einer Intensität, die tion mit anderen und Welt zunehmend in technisch sich dann wortwörtlich entwickeln kann zu einer vermittelten Immersionswelten abspielt, die über Reise, einem Werk, einer Mitteilung oder einem die raum-zeitlichen Radien konkret-körperlicher Handschlag, als Moment des Vorweg von anderer Gegenwart hinausreichen. Das Atmosphärische, ontischer Qualität als die Wirkungs- und Wirklich- das die parallelzeitlich-virtuellen, symbolischen keitsebene von Gegenständen und Ereignissen ist, Interaktions- und Erlebensräume mit Anmutungen so kann es dennoch strukturiert und eingeholt wer- und Ergriffenheiten erfüllt, scheint den leiblich- den. Die Sprache enthält ein Wort, einen Begriffs- emotionalen Anschluss an die abstrakten Symbol- kadidaten für dieses aller Artikulation und Verwirk- welten der Bildschirme und technischen Apparate lichung vorhergehende Gespür für Intensitäten, erst zu erlauben. Es begründet die leibliche Erfahr- und dieses Wort heißt «Atmosphäre». Könnte nun barkeit und Involviertheit, die sonst in der Leere eine Rekonstruktion des Atmosphärischen aus sei- des reinen Zeichens verebben würde. Die Verlage- ner Erscheinungsweise heraus einen Zugang zur rung des Lebens in das Imaginär-Immersive und Struktur des Vorweg-Seins, des Potentials von Ver- die zunehmende Orientierung an atmosphärisch wirklichungen öffnen? Umgekehrt: Verspricht das vermittelten leiblichen Affizierungen indiziert, dass 24 Davor Löffler dem Phänomen des Atmosphärischen als einem Eigenheiten des Phänomens Atmosphäre Vermittlungsmodus zwischen konkreten und virtu- und deren methodische Herausforderung ellen Zeit- und Realitätsebenen eine eigene Bedeu- tung zugesprochen werden muss. Für die Wahrnehmung von Atmosphären ist eine Dieser Zusammenhang soll entlang dreier Vielzahl höchst sonderbarer kognitiver Eigenschaf- Thesen untersucht werden. Die erste, ästhetisch- ten charakteristisch. Ihr Erscheinen haftet nicht nur aisthetische These ist, dass Atmosphären als eine an Inhalten der konkreten Wahrnehmung, sondern eigene Kognitionsart für mögliche Zukünfte des auch an denen des Gedächtnisses und des Erinner- Körper-Umwelt-Verhältnisses aufgefasst werden ten wie auch des Vorgestellten und Zukünftigen. können. Die zweite, medientheoretische These ist, Sie lagern sich nicht nur an alle Arten des Zugangs dass diese Kognitionsart für potentielle Zukünfte zur Zeit, sondern umfassen und übersteigen auch der leiblichen Bezogenheit die quasi-leiblichen alle Sinnesmodalitäten als Zugang zur Gegenwart. Ergriffenheiten durch symbolisch vermittelte Atmosphären der Heiterkeit, Trauer, des Myste- Immersionswelten und deren Wirkungs- und Affek- riums oder der Offenheit können gleichermaßen tionskraft erst ermöglicht. Daraus ergibt sich eine durch Musik, Bilder, Düfte, literarische Szenen dritte, zeitdiagnostische These, die davon ausgeht, oder im Ganzen erlebte Situationen hervorgeru- dass mit der zunehmenden Virtualisierung eine fen werden. Nicht minder bemerkenswert ist ihre neue Ebene der sozialen Interaktion und Sozialität Charakteristik, nicht immer auf eindeutig benenn- im Entstehen ist, die auf symbolisch vermittelten, bare Gefühlsdimensionen rückgeführt werden zu atmosphärisch erlebten Intensitäten beruht. können: Wo Atmosphären etwa der Heiterkeit oder Zur Entfaltung dieser Thesen müssen zunächst Niedergeschlagenheit noch eindeutig benennbar einige dem Atmosphärenempfinden charakteris- sind, wird es bei Atmosphären des Geheimnisvol- tische Merkmale herausgestellt werden, die als len, der Weite oder Beklemmung schon schwieriger, kontrastierender Hintergrund für eine Kritik vor- sie direkt einem Gefühlskanon zuzuordnen. Und liegender Atmosphärenkonzepte aisthetischer, schon jene unendliche Vielzahl möglicher atmo- ästhetischer und soziologischer Art herangezogen sphärischer Ergriffenheiten, die einem begegnen werden. Die Kritik vorliegender Atmosphärenbe- können auf Reisen in fremde Gegenden oder wäh- griffe zeigt, dass alle Ansätze zwar die Zeitlichkeit rend des Betrachtens von Kunstwerken, lassen sich des Daseins und der Wahrnehmung implizit mit- bereits nicht mehr außerhalb poetischer Rekonst- denken, aber sie in der Ausformulierung überge- ruktionen begrifflich einholen. Diese unbezeich- hen. Dieser Aspekt jedoch stellt sich als zentral neten Atmosphären sind nur noch durch modal für das Atmosphärenerleben heraus, denn gerade anders vermittelte atmosphärische Qualitäten die Zeitlichkeit ist es, die dem Spüren eines ‹Mehr› metaphorisch zu umschreiben und zeigen dadurch in der Wahrnehmung des konkret Gegenwärtigen bereits eine kognitive Eigenständigkeit gegenüber zugrunde liegt. Da die Wirk- und Erlebnismäch- anderen Befindlichkeitsarten an. Das analytische tigkeit des Atmosphärischen im Immersiven ohne Herangehen wird noch weiter kompliziert durch den Leib als Medium nicht zu denken ist, muss eine den Befund, dass Atmosphären auch einen star- Theorie der Verschränkung von Leiblichkeit, Immer- ken Einfluss ausüben auf die Motivation und die sion und Atmosphäre entwickelt werden. Eben Entscheidungsfindung, auf das Handeln und auf diese Verschränkung vollzieht sich in neurokogni- die Selbstverortung und -projektion in gegebenen tiv-enaktivistischen wie leibphänomenologischen Situationen – gleich ob in actu etwa während eines Kognitionskonzepten. Deren neuro-ökologischer, Festes oder auch nur in vorgestellten Situationen holistischer Ansatz erlaubt eine Konzeptualisie- vermittelt durch Geschichten oder am Bildschirm. rung des Atmosphärischen als einem Gespür für Die Art, in der sich Atmosphären über die konven- potentielle Leibzustände. Erst ein derart grund- tionellen Kategorien des Raumes, des Körpers, der legender Begriff des Atmosphärenempfindens wahrgenommenen Gegenstände und Materie, des erlaubt eine Auslegung des Weltverhältnisses im Materials, des Bewusstseins und sogar der konven- technologisch-immersiven Zeitalter. Diese soll tionellen Zeitempfindung hinaus dehnen und diese abschließend in kurzen Skizzen vorgenommen wer- wie losgelöste Eigenphänomene überspannen und den. Es zeigt sich, dass atmosphärisch begründete umschmiegen, stellt eine spannende Herausforde- Interaktion nicht mehr zwischen Menschen, son- rung an jegliche theoretische Konzeptualisierung. dern zwischen Intensitätsempfindungen vermittelt. Gerade der eigenartige Charakter der Ergriffenheit Leben im Futur II Konjunktiv 25 durch etwas, das sich jenseits der sinnesmodalen späteren Auseinandersetzungen seinen früheren Kanäle, jenseits der Orientierungskategorien des Entwurf präzisiert (vgl. 2003), so lässt sich an sei- Subjekts in seinen Einfassungen Raum, Zeit, Mate- nem Atmosphärenbegriff verdeutlichen, dass ein rie und Begriff erstreckt und gar in eine prinzipielle umfassendes Verständnis des Atmosphärischen Unbestimmbarkeit des Affizierungsinhalts reicht, über eine Phänomenologie dieser Erscheinung hin- verlangt eine Auseinandersetzung, die diese Kate- ausgehen muss. gorien selbst hinterfragt. Der eigenartige Charak- Böhmes Untersuchung geht von der alltags- ter einer Befindlichkeitsform, welche die Grenzen sprachlichen Verwendung des Begriffs Atmosphäre des Wahrgenommenen und Erinnerten, des gege- aus, mit dem üblicherweise eine unbestimmte Affi- benen Materials und des abstrakt Symbolischen ziertheit durch eine Wahrnehmung bezeichnet wird, zum Leiblichen, zur Affizierung und Motivation hin eine Art Färbung des Bewusstseins, die nicht recht überschreitet, verspricht weit mehr Einsichten zu verortbar ist weder in der Stimmung und leiblichen liefern, als es eine nur auf ästhetisch-phänomeno- Befindlichkeit noch in äußeren Objekten und Wahr- logische Aussagen abzielende Herangehensweise nehmungen.1 Atmosphären scheinen einen Zwi- auf dieses zunächst rein ästhetisch erscheinende schenraum, ein Vermittelndes zwischen Subjekt und Phänomen erlauben würde. Eine ins Umfassende Objekt darzustellen, das auf keine der beiden Seiten vertiefte Untersuchung dieser für das menschliche alleine rückführbar ist (vgl. Böhme 1995: 22). Leben äußerst bedeutsamen Form von Bewusst- Um diesen Sachverhalt zu klären, muss eine seinsempfindung verspricht nicht nur Einsichten in Dingontologie, d.h. eine alternative Fassung des die unterschiedlichen Funktionsweisen und Funkti- Subjekt-Objekt-Verhältnisses entwickelt werden, onen dieser ästhetischen Kategorie, sondern auch die nach Böhme eine «neue Ästhetik» (1995: eine Beleuchtung noch nicht erkannter Zusammen- 22–25) zu begründen vermag. Diese Dingontolo- hänge zwischen Kognition, Selbstwahrnehmung gie sieht Böhme in einer im Verhältnis zur leibli- und -projektion, Bewusstsein, Leib und Körper und chen Präsenz aus den Dingen heraustretenden deren Verhältnis zu Raum und Zeit. Der Wahrneh- Außenwirkung der Gegenstände begründet: «Das mung von Atmosphären muss also eine eigene Dig- Ding wird damit nicht mehr durch seine Unter- nität zugesprochen werden, und es deutet sich an, scheidung gegen anderes, seine Abgrenzung und dass ihr der Status eines gesonderten Kognitionsty- Einheit gedacht, sondern durch die Weisen, wie pus zukommt. Dann aber wäre die Frage: Kognition es aus sich heraustritt» (Böhme 1995: 32f.). Er wovon? Zur Klärung bietet es sich an, einige der bezeichnet diese Außenwirkung der Gegenstände kurrenten Annäherungen an das Atmosphärische als «Ekstase des Dings» , durch die der Raum in zu untersuchen und deren Fassungen des Phäno- Kopräsenz des Subjekts gefärbt, «tingiert» (1995: mens einerseits als Hinweise, andererseits selbst als 33) wird. Entgegen einer dualistisch oder kanti- Material der Untersuchung zu verwenden. anisch gedachten Homogenität oder Apriorität des Raumes füllt die Ekstase der Dinge diesen Zur Reichweite vorliegender mit «Spannungen und Bewegungssuggestionen» Atmosphärenkonzepte (Böhme 1995: 33). Raumwahrnehmung ist also gleichsam Leibwahrnehmung, die Wahrnehmung Das methodische Vorgehen zur Entwicklung eines eines «space of bodily presence» (Böhme 2003: umfassenden Atmosphärenbegriffs muss auf die 4f.). Atmosphären sind dann als das Heraustreten genannten Eigenheiten eingehen und diese zur der Dinge im leibseelisch wesenden Raum zu kon- Untersuchungsgrundlage machen. Zur Aufschär- zipieren. Atmosphären sind bei Böhme also soweit fung sollen im Folgenden Theorieansätze referiert der Objektseite zuzuschlagen, als dass sie Ekstasen werden, die sich explizit mit dem Phänomen Atmo- der Dinge vermitteln, und soweit der subjektiven sphäre auseinandersetzen und hernach gezeigt Seite, als dass in ihnen ein «leibliches Sich-Befin- werden, was sie für ein umfassendes Verständnis den der Subjekte im Raum» (1995: 33f.) Manifes- des Atmosphärischen beitragen können und wo sie tierung findet. Böhme definiert schließlich: zu kurz greifen. 1 Eben diese Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des atmo- An erster Stelle steht Gernot Böhmes diskursbe- sphärischen Spürens macht auch Rauh (2012) geltend und gründendes Werk Atmosphäre. Essays zu einer entfaltet von diesem wesentlichen Merkmal aus einen An- neuen Ästhetik (1995). Wenn auch Böhme in satz zu einem pädagogischen Konzept. 26 Davor Löffler Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wenn es stets Dinge sind, die leibliche Affizie- Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Sie ist die rungen und Gemütszustände auslösen, ist dann Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner die dem Menschen stärkste zur Verfügung ste- Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmen- hende Stimmungstechnik, die Musik, auch als ein den, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimm- Ding zu fassen? Deren Ephemerität deutet gerade ter Weise leiblich anwesend ist. (1995: 34) darauf hin, dass die evozierten Atmosphären nicht einfach aus einer statischen Dingbezogenheit des Wie trägt Böhmes Ansatz zu einem umfassenden Subjekts herstammen können, sondern umfassen- Verständnis des Atmosphärischen bei? Wenn auch der gedacht werden müssen. Die Musik als Atmo- der Hinweis auf ein ‹Mehr›, auf eine zusätzliche sphären und Stimmungen erzeugende Zeitkunst Ebene der Bezüglichkeiten zwischen Subjekt und weist darauf hin, dass der Aspekt der Zeitlichkeit Objekt das diskursive Feld öffnet, so kann er damit stärker berücksichtigt werden muss. seinen eigenen Anspruch nicht einlösen, eine Überhaupt schließlich zeigen Atmosphären als den Dualismus und den kantischen Kategorialis- das Verspüren eines Zusatzes zu konkreten Ding- mus überwindende neue Lehre der «ökologischen und Sinneswahrnehmungen, dass sich in ihnen Ästhetik» vorzulegen (Böhme 1995: 13–16). Denn gleichsam eine Schicht parallel verlaufender Wirk- nach wie vor ist nicht geklärt, wie eine leibliche lichkeiten und Weltverhältnisse äußert, die über Affizierung durch äußere Gegenstände möglich jeder Konkretisierung von Subjekt-Objekt-Verhältnis- ist. In seiner Konzeption verbleibt er entgegen der sen steht. Eben diese Hinweise geben die Richtung gestellten Ökologisierungsforderung bei der Tren- einer weiteren Annäherung an Atmosphären vor. nung zwischen Subjekt und Objekt, denn gerade mit dem Verständnis von Atmosphären als Ver- Michael Hauskeller hebt in Atmosphären erleben. mittlungsebene zwischen diesen als kategorisch Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahr- getrennt konzipierten Sphären bekräftigt er deren nehmung (1995) den transmodalen Erscheinungs- Getrenntheit. In Böhmes Konzept stellen weiter- charakter von Wahrnehmungen als Grundlage hin die drei ontischen Kompartimente Raum, atmosphärischen Erlebens hervor. Erscheinungs- Subjekt, Ding die strukturellen Bedingungen des charaktere sind die Art und Weise, wie Gegen- Atmosphärischen. Atmosphären bleiben in diesem stände über die sinnliche Wahrnehmung dem Sub- Schema dem kategorisch wahrnehmenden Subjekt jekt ins Bewusstsein treten (vgl. Hauskeller 1995: ein äußerer Gegenstand. 123ff.). Erscheinungscharaktere sind als Schemen Dennoch lassen sich Hinweise für die weitere des Erscheinens von Wahrnehmungen zu verste- Entwicklung eines Atmosphärenbegriffs ableiten. hen, aufgrund derer Sinnesdaten im Bewusstsein Atmosphären verlangen eine neue Raumontolo- zu abgeschlossenen Gegenständen synthetisiert gie, die zwischen Subjekt und Gegenstand eine werden. Beispielweise kann ein Anzug erschei- alternative Weise der Bezogenheit zu denken nungscharakterlich ebenso ‹schnittig› wirken wie ermöglicht. Was offen bleibt und durch den Hin- ein Auto oder das Auftreten einer Person. Die im weis der «Spannung und Bewegungsanmutung» weltbezüglichen Subjekt zusammenlaufende Ein- (Böhme 1995: 33) lediglich angedeutet wird, ist heit der Sinne, der sensus communis, ist die Einheit die Frage, wie äußere Gegenstände Gemütszu- der Erscheinungscharaktere selbst: «Insofern die stände auslösen können. durch die Sinnesdaten vermittelten Beziehungen Eine weitere Aufschärfung liefert die Frage, ob zwischen Ich und Welt ähnlich oder gar identisch bestimmte Atmosphären in ihrer Qualität universal sein können, wird ein gleitender Übergang von der oder doch kulturspezifisch und individuell wahrge- einen zur anderen Modalität möglich» (Hauskeller nommen werden. So mag beispielsweise ein Aus- 1995: 74). Die von Hauskeller als Synästhesie2 sichtsturm in jedem Menschen eine Atmosphäre bezeichnete Übertragung und Überkreuzung ver- der Höhe, der Übersicht oder des Aufragens auslö- schiedener Sinnesmodalitäten im Empfinden von sen, jedoch wenn der Turm ein Überwachungsturm in einem Gefängnis ist, so ruft er im Wärter eine andere Atmosphäre hervor als im Gefängnisinsas- 2 Der Begriff Synästhesie ist jedoch irreführend und darum sen. Das Atmosphärische ist also stets auch durch abzulehnen, da nicht alle Atmosphären, obgleich sie teilwei- se in einer Transmodalität gründen, aus der Überkreuzung den sozialisierten Leib in seinen kulturellen Bezo- von Sinneskanälen ableitbar sind. Ein Beispiel hierfür wäre genheiten vermittelt. die Atmosphäre des Konzepts ‹Heimatlichkeit›. Leben im Futur II Konjunktiv 27 Atmosphären macht deren wesentliches Charak- systemtheoretischen Codierung von Kunst in Die teristikum aus (vgl. 1995: 74). So leitet sich die Kunst der Gesellschaft gelesen werden (1995). Atmosphäre der ‹Helle› zwar aus dem Visuellen Zunächst heißt es schlicht: «Ein besetzter Raum ab, aber metaphorisch bzw. ihrem Erscheinungs- lässt Atmosphären entstehen» (Luhmann 1995: charakter nach kann sie auch für Wahrnehmungen 181). In systemtheoretischer Begrifflichkeit ist anderer Sinneskanäle gelten und so die Bezogen- Raum das Medium für Kontingenz. Atmosphären heiten auf Situationen stimmungsmäßig als ‹hell› erscheinen als Hinweis auf einen dem Kontingenz- färben. Nun wird etwa auch Musik als Atmosphä- medium inhärenten Möglichkeitsüberschuss: renauslöser denkbar, denn Melodieverläufe als Der Raum macht es möglich, daß Objekte ihre Stelle Gestalten des Erscheinens, so eine Folgerung aus verlassen. […] Bezogen auf Einzeldinge, die die Raum- Hauskellers Konzept, können als Erscheinungs- stellen besetzen, ist Atmosphäre jeweils das, was sie charaktere transmodal deckungsgleich sein mit nicht sind, nämlich die andere Seite ihrer Form; also Erscheinungsweisen anderer Wahrnehmungsin- auch das, was mitverschwinden würde, wenn sie ver- halte. Sie repräsentieren vorbegriffliche, vorseman- schwänden. (Luhmann 1995: 181; Herv.i.O.) tische Beziehungsweisen zur Welt. Hauskellers Konzeption des Atmosphärischen Mit der Besetzung, d.h. Selektion einer Stelle im als Ausdruck erscheinungscharakterlicher Bezie- Raum wird zugleich die andere Seite ihrer Form, hungsweisen zur Welt macht eine im Hintergrund das Medium Raum, mitkommuniziert. Atmosphäre stehende Dynamik des Subjekts nicht nur bezüg- sei ein «Überschusseffekt der Stellendifferenz» (Luh- lich der ablaufenden Zeit stark, sondern auch eine mann 1995: 181), d.h. die Andeutung der Potenti- Dynamik der Welt- und Selbstbeziehungen des ale, die im Medium Raum vorhanden sind: «Atmo- Subjekts: Atmosphären entstehen als Erlebnisin- sphäre ist somit das Sichtbarwerden der Einheit halte nur im Kontrast vor einem Hintergrund, vor der Differenz, die den Raum konstituiert; also auch dem sie sich in spezifischer Form als Erscheinungs- die Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Raumes als charaktere darbieten können. Die ‹Helle› kann nur eines Mediums für Formbildung» (Luhmann 1995: als solche erscheinen, wenn etwas Dunkles, Schwe- 181). Hieraus erkläre sich die ‹Ungreifbarkeit› und res, Bedrängendes im Hintergrund steht. Der Unbestimmbarkeit des Atmosphärischen. kontrastierende Hintergrund von Atmosphären- Ähnlich wie bei Hauskeller sieht Luhmann empfindungen besteht demnach einerseits in der also in der Atmosphäre einen Bezug zur Gesamt- jeweiligen biographisch angelegten Strukturierung möglichkeit von Zuständen, die im Verhältnis zur des Subjekts, andererseits in seiner gegenwärtigen Bestimmung des Raumes durch einen Gegenstand Wahrnehmungssituiertheit. Atmosphären werden stehen. Die Atmosphäre deutet bei ihm auf das verstanden als ein Ausdruck der Aktualisierung Potential von Verhältnissen zwischen systemspe- des Gesamtzustandes der Weltbeziehung, denn in zifischen Auszeichnungsmöglichkeiten und dem ihnen drückt sich jeweils die konkrete Bezogenheit Konkretisierten, Ausgezeichneten. des Subjekts gegenüber den Welterscheinungen Die systemtheoretische Fassung von Atmosphä- aus. Weil alle kontextuellen Relevanzen immer ren als Überschusseffekt der Auszeichnungsmög- schon leibliche sind (vgl. Hauskeller 1995: 77f.), lichkeit liefert einen wichtigen Hinweis. Offenbar stellt sich bereits mit der Gegenstandserscheinung deuten sie auf ein ‹Mehr› der Situation, deren eine Affizierung ein. So können Atmosphären nach Umfang nie alleine in den konkreten Dingen bzw. Hauskeller aufgefasst werden als das Spüren des Selektionen an sich liegt, sondern aus der Wechsel- Gesamtzustandes der Wirklichkeit und ihrer durch beziehung zwischen dem Beobachter und dessen den Leib vermittelten Relevanzen und Aktualisie- Möglichkeiten des Anschlusses und Auszeichnens rungspotenzen (vgl. 1995: 77). her rührt. In Atmosphären tritt die Möglichkeit der Gegenüber Böhmes Begriff gewinnt die Ausein- Varianz von Beziehungen und Weltverhältnissen, andersetzung mit Atmosphären nun einerseits den vermittelt durch das unsichtbare Medium Raum, Aspekt der Zeitlichkeit, andererseits den Aspekt zu tage. der Fundierung in einer Gesamtbezogenheit des leiblichen Daseins in einer als dynamisch zu den- Einen an konkreten sozialen Raumverhältnissen kenden Kontextualität der Erfahrung. anliegenden Begriff von Atmosphäre entwickelt Komplementär dazu kann Niklas Luhmanns Martina Löw in ihrer Untersuchung der sozia- kurze Einlassung zu Atmosphären im Zuge seiner len Konstruktion von Räumen in Raumsoziolo- 28 Davor Löffler gie (2001). Raum fasst sie als «relationale (An) nungscharaktere (Hauskeller); sie repräsentieren Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern den Möglichkeitsüberschuss der Weltverhältnisse an Orten» (Löw 2001: 271). Dabei sei die Wahr- (Luhmann); sie sind die Empfindung für normierte nehmung von lebensweltlichen Räumen bzw. der Bewegungsfreiheiten in sozial konstituierten Räu- raumbesetzenden Lebewesen und Güter stets dem men (Löw). Alleine jedoch die Verschiedenheit der Habitus, also der klassen- und milieuspezifischen Konzepte zeigt, dass sie jeweils für sich genommen Wahrnehmungsprägung und Beurteilungskapazi- das Phänomen nicht vollständig erfassen. Erst tät des Subjekts unterworfen (vgl. Löw 2001: 209). wenn ein alle Merkmale und Konzepte umfassen- Die habitusspezifische Konstitution von Raum lässt der Begriff bereitsteht, können Atmosphären auf diesen gleichsam als Ausdruck von Normativität ihre Bedeutung in gegenwärtigen Lebenswelten erscheinen, er ist stets durchdrungen von sozialen untersucht werden. Es bietet sich an, nach einem Geboten und Verboten. Nach Löw liegt eben diese Aspekt zu suchen, der von allen Theorieansätzen normative Konstitution des Raumes der atmosphä- unbeachtet bleibt, aber dennoch alle Entwürfe rischen Stimmungsfärbung zugrunde: «Raum ist überwölbt und zugleich auch zu den besonderen eine an materialen Sachverhalten festgeschrie- Charakteristiken des Atmosphärischen komplemen- bene Figuration, deren spürbare unsichtbare Seite tär ist. Dieser Aspekt liegt vor in der Zeitlichkeit des die Atmosphäre ist» (2001: 205). Das atmosphä- Daseins, d.h. der menschlichen Bezogenheit auf rische Surplus entstammt demnach dem Gespür die Zukunft. Böhme deutet diesen in der Anmer- für habituell wahrgenommene «Spannungen und kung an, dass Situationswahrnehmungen «Span- Bewegungssuggestionen» (Böhme 1995: 33f.), nungen und Bewegungssuggestionen» (1995: 33) also der Anmutung sozial und kulturell codierter enthalten, expliziert ihn aber nicht. Bei Hauskeller Bewegungsfreiheiten und Unfreiheiten. ist die Zeitlichkeit den Erscheinungscharakteren Löw gibt damit den Hinweis darauf, dass kul- implizit, da sich diese ja nur durch den Wandel vor turelle Symbol- und Wertungssysteme und soziale einem vergangenen oder projizierten Hintergrund Ordnungen dem jeweiligen Spüren von Atmosphä- als solche zeigen können. Mehr noch: Sie geben ren maßgeblich zu Grunde liegen können. Das Kon- als Schemen dessen, wie Objekte sich überhaupt zept macht deutlich, dass erst der codierte, leiblich konkretisieren, gewissermaßen die Bausteine der sozialisierte Bewegungs- und Handlungsraum die Zeitlichkeit ab – die Anfüllung von Erscheinungs- Basis des Atmosphärenempfindens sein kann. Der charakteren mit Wahrnehmungsdaten ist mit dem bedeutendste Hinweis liegt aber darin, dass sich Fluss der Zeit selbst verschränkt. Luhmann bringt nun die Zeitlichkeit als notwendige Bedingung mit der Kontingenz der Besetzung von Raumstel- des Atmosphärischen zeigt: Wenn Atmosphären len zugleich auch die Kontingenz der Zeit ins Spiel, als sichtbar-unsichtbare Gebote und Verbote für denn nicht nur der Raum wird besetzt, sondern es Handlungen des leib-räumlich situierten Akteurs entsteht zugleich Raum an einer Zeitstelle. Löw aufgefasst werden, dann impliziert dies eine Pro- konzipiert Atmosphären als handlungsorientieren- jektion über die gegenwärtige Situation hinaus, des Verspüren von unsichtbaren Geboten und Ver- die sich zu antizipierten positiven wie negativen boten, womit wiederum Zeitlichkeit impliziert ist, Sanktionierungen in der Zukunft spannt. Ohne da sie eine strukturelle Voraussetzung ist für die diese Projektion gäbe es keine Strukturierung der Handlungsorientierung an zukünftigen oder ima- Dimension des Raumes und damit keine über des- ginierten sozialen Handlungssanktionen. sen Konkretion hinaus weisende Atmosphäre. Drei Module eines neuro-ökologischen Zeitlichkeit als wesentliches Moment der Atmosphärenbegriffs Atmosphärenempfindung Im Folgenden sollen drei Theoriemodule entwi- Allen Atmosphärenkonzepten ist gemein, dass sie ckelt werden, die es erlauben, die Zeitlichkeit des dem Phänomen eine fundamentale Bedeutung für menschlichen Daseins ins Zentrum eines Atmo- das menschliche Dasein zusprechen. Atmosphären sphärenbegriffs zu stellen. Methodisch liegt allen vermitteln als das Heraustreten der Dinge zwischen Theorieteilen das Paradigma des Embodiment Subjekt und Gegenstandswahrnehmung (Böhme); zugrunde, das mit prozessphilosophischen Erweite- sie vermitteln zwischen Subjekt und Welt durch rungen unterlegt wird. Aus der Synthese dieser drei die im sensus communis verschränkten Erschei- Module, die auf die Desiderate der vorliegenden Leben im Futur II Konjunktiv 29 Konzepte antwortet und auf die oben genannten ab von der Betrachtungs- und Herangehensweise Merkmale des Atmosphärischen eingeht, lässt sich durch einen in Kontexten Handelnden. Gegen- schließlich eine neue, hier als neuro-ökologisch stände enthalten zwar explizite Eigenschaften, die bezeichnete Definition des Phänomens Atmo- jeweils zu einem Zeitpunkt aktualisiert werden, sphäre ableiten. jedoch können diese nur in funktionalen Anschlag gebracht werden, wenn weitere implizite Eigen- Prozessuale Dingontologie schaften in den Hintergrund treten. Es ist nicht möglich, zugleich aus einer Tasse zu trinken und Im Gegensatz zum kantianischen Verständnis von einen Nagel in die Wand zu schlagen. Dennoch den Dingen an sich und mentalistisch-repräsenta- stehen beide Ereignispotentiale stets im Hinter- tionalistischen Abbildkonzepten erlaubt das gegen- grund und werden je nach Situation und Kontext wärtig diskutierte Paradigma des Embodiment, selektiert und aktualisiert. Gegenstände von der Leiblichkeit des mensch- Demzufolge haben Gegenstände und Situ- lichen Organismus her zu verstehen. Wahrneh- ationen drei implizite Komponenten. Die erste mungsgegenstände und Weltbeziehungen werden besteht in der Wirkungsoberfläche der jeweils in damit im Gegensatz zur Statik einer dualistischen Situationen aktualisierten Eigenschaften. Zugleich Dingontologie aus einer prozessualen, zeitlichen aber treten diese Eigenschaften nur zutage, weil Perspektive mit Bezug auf die Gesamtheit des orga- andere potentielle Eigenschaften im Hintergrund nistisch-sozialen Lebensvollzuges her betrachtet. stehen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Anthropologisch wie leibphänomenologisch wurde etwa die Wirkeigenschaft der Härte, aufgrund der verschiedentlich die Unterscheidung von Primär- ein Nagel in die Wand geschlagen werden kann, und Sekundärzeit (vgl. Bischoff 1987: 540–543) von verschiedenen Materialien und Objekten ver- oder der von impliziter und expliziter Zeitlichkeit wirklicht werden kann (Hammer, Stein, Stuhl usw.) (vgl. Fuchs 2005; Wyllie 2005) unternommen. Das und entsprechend von der konkreten Form oder Bewusstseinsfeld spannt sich stets zwischen Pro- Materialität des Gegenstandes unabhängig ist. tention und Retention (vgl. Husserl 2000), in ihm Das Objekt gerinnt zu einem spezifischen also nur synthetisieren sich serielle Eindrücke zu Episoden in einem prozessualen Zusammenhang (der Stein, und Ganzheiten (vgl. Gurwitsch 1974: 224–235). der Stuhl usw. werden erst in bestimmten Hand- Bewusstsein ist also per se überzeitlich strukturiert. lungskontexten zum ‹Hammer›), der erst mit dem Wie ist eine Dingontologie zu konzeptualisieren, Ablauf von Zeit eine Wirkungskontur enthält – ein die von dieser conditio humana ausgeht? Hammer ohne einen seine Eigenschaften verwirkli- Zunächst ist festzuhalten, dass Gegenstände chenden Zeitverlauf erlaubt kein Hämmern und ist niemals losgelöste, statische Dinge an sich sind, entsprechend nicht der Gegenstand Hammer. Ver- sondern in ihrer Synthese, Diskretion und Bedeu- steht man Objekte nunmehr als Ereignisspeicher, tungszuschreibung von der subjektiven Perspektive die Elemente höherer Wirkfolgenkomplexe und innerhalb von Handlungskontexten abhängen. So Kausalitätskontexte sind, dann folgt daraus, dass stehen sie nicht nur zum Akteur in Beziehung, son- wahrgenommene Situationen, die aus solchen dern durch dessen Kausalitäts- und Relationspro- prozessualen Objekten bestehen, eine Vielzahl jektionen vermittelt auch mit anderen Objekten. an möglichen weiteren Ereignissen und Ereignis- Diese «Interobjektivität» (Rammert 1998: 317), verläufen enthalten. Die primärzeitliche Aktuali- also die Verwirklichung der Interaktionsmög- sierung entsteht vor dem Hintergrund einer über- lichkeiten von Objekten an anderen Objekten in wölbenden Sekundärzeit, in der die Wirkungen in einem größeren Zusammenhang kann sich nur einen zeitlichen Kontext gestellt werden und vor durch einen zeitlich weiteren, abstrakt-konzeptuel- dem sie sich erst im weiteren Verlauf verwirklichen. len Kontext vollziehen, durch den und in dem die Diese zweite Komponente als die in einem Zeit- Eigenschaftswirkungen des Objektes erst als spezi- schnitt unsichtbaren, dem Gegenstand impliziten fische Ereignisse ausgelesen werden. Die konkrete potentiellen Wirkeigenschaften hängt einerseits Materialität und Form eines Dings, etwa einer von den individuellen Fähigkeiten des Handelnden Tasse, ist stets für Tiere wie für Menschen aller Kul- ab, andererseits von den kulturellen Kontexten und turen gleich. Doch die in dem Gegenstand ‹gespei- Kapazitäten, die den Funktionen ihre Bedeutung cherten›, abrufbaren Eigenschaften, Ereignisse und in einem Lebenszusammenhang verleihen und in Wirkungen, also letztlich dessen Wirklichkeit hängt einen zeitlichen Verwirklichungszusammenhang 30 Davor Löffler stellen. In anderen Worten: Sowohl die Ereignisak- die den Wahrnehmungsgegenständen Bedeutung tualität wie auch die implizite Ereignispotentiali- und Relevanz verleihen. Sie beherbergen zugleich tät von Gegenständen bildet letztlich Verhältnisse implizite, alternative Gegenstandsverhältnisse und ab, die der enkulturierte, verleiblicht Handelnde Verhaltensweisen als Potentiale.3 Die Wahrneh- mit ihnen eingehen kann und dadurch erst neue mung einer Situation ist also unmittelbar mit der Eigenschaftsfacetten der Gegenstände entbirgt. subjektiven Befindlichkeit verschränkt, da Situatio- Entsprechend liegt die dritte Komponente eines nen zugleich als Aktualität und Potentialität orga- prozessualen Objektes in den affordances (vgl. nischer Zustände ausgelesen werden. Eine Situa- Gibson 1982: 137–156), also gegenstandsinhä- tion als Konglomerat prozessualer Gegenstände renten Handlungsangeboten, die Handlungspro- ist zugleich ein Abbild bestimmt-zukünftiger und grammen des Organismus gleichkommen. Das wie unbestimmt-möglicher Zustände des Orga- Embodiment-Paradigma stellt für diese Verschrän- nismus selbst. Äußere Situationen verwirklichen kung von Subjekt und Objekt den Begriff der ihren jeweiligen Inhalt in Relation zu dem an sie transparenten Wahrnehmung zur Verfügung (vgl. herantretenden Organismus, der Situationen als Fuchs 2010: 158ff.). Transparenz meint, dass das Ganzheiten und die zugehörigen Ereignisse erst Bewusstsein von Objekten auch die an ihnen mög- auszeichnet und kontextuiert. Diese prozessuale lichen Körperbewegungen, Muskelkoordinationen Dingontologie ermöglicht nunmehr die Herein- und senso-motorischen Muster umfasst. Gegen- nahme abstrakter, symbolischer Gegenstände: So stände sind stets Abbilder impliziter Muskelcho- mag ein schwarzes Loch physikalische Realität reographien (vgl. Leroi-Gourhan 1980: 292f.) und sein, in erster Linie aber ist es ein Konzept, das damit Abbilder möglicher organischer Zustände. seine Ereignishaftigkeit nur aus der leiblichen Die Ereignispotentiale, die in prozessualen Objek- Verschränkung des Physiker mit den untersuch- ten gespeichert sind, sind zugleich Handlungs- und ten Daten erhält. Das schwarze Loch, wie auch damit Zustandspotentiale des Organismus, also Buchstaben, Bilder, Konzepte, alles Konkretisierte, Potentiale von Zustandsereignissen des zeitlichen können nun als organische Ereignisse verstanden In-Verhältnis-Tretens. Prozessuale Objekte enthal- werden, die jeweils als Intensitäten innerhalb von ten also drei Komponenten: Die in einem zeitlichen prozessualen Kontexten ausfallen. Verlauf aktualisierte Wirkeigenschaft hin zur Kon- Mit dieser Skizze einer prozessualen Dingonto- kretisierung des Objekts; die in den Hintergrund logie ist die erste Dimension eines neuro-ökologi- tretenden impliziten Potentiale weiterer Wirkereig- schen, an der zeitlichen Exzentrizität des Menschen nisse und Kontextualitäten; die als Zustände des geeichten Atmosphärenbegriffs eingeführt. Damit In-Verhältnis-Tretens im Organismus gespeicherten ist die Grundlage einer Verschränkung zwischen Objektbilder als senso-motorische Muster. Subjekt und Objekt gegeben, allerdings ist nun Mit dieser Konzeption wird plausibel, weshalb noch nicht geklärt, weshalb Situationswahrneh- gegenständliche oder imaginierte Situationen und mungen eine Affizierung leibseelischen Befindens Räume den Leib affizieren können: Sie entsprechen auslösen können. dessen Handlungspotentialen und Zuständen. Das in Situationen und Räumen implizite Wissen (vgl. Skaleninvariante Zeitgestalten der Polanyi 1985) also ist ein Wissen nicht nur um Ereignisverwirklichung mögliche alternative Zustände der äußeren Situa- tion, sondern auch der Zustände, die der Organis- Die zweite Dimension betrifft nun die Frage, wie mus im Verhältnis zu einer Situation einnehmen aus der Spannung zwischen der expliziten, pri- kann. Aus Perspektive des Embodiment gespro- märzeitlichen Situationswahrnehmung und den chen: «Intentionale, semantische und andere see- sekundärzeitlichen, implizit projizierten Situations- lisch-geistige Beziehungen werden von Personen in verläufen eine leibliche Affizierung entstehen kann. kausal relevante Bereitschaften ihrer organischen Wahrgenommene Situationen – seien diese real Basis transformiert» (Fuchs 2010: 145). Eine Situa- oder fiktiv – sind stets begleitet von einer impli- tion ist damit zu fassen als eine Verlaufs- oder Ver- wirklichungssyntax, deren spezifische Synthese aus 3 Vgl. hierzu auch die Unterscheidung von «kultureller Ka- dem organische Handlungsbereitschaften projizie- pazität» als dem kulturell Möglichen und «kultureller Perfor- renden Subjekt herstammt. Dessen Enkulturisation manz» als dem kulturell Aktualisierten, Institutionalisierten und Kognitionsfähigkeit bestimmt die Kontexte, (Haidle & Conard 2011: 65–78). Leben im Futur II Konjunktiv 31 ziten Projektion von sich entfaltenden Ereignissen ninvariante szenische Verlaufsform vor, wenn etwa oder möglichen folgenden Situationen. Situati- während einer Wanderung in heiterer Landschaft onsverläufe sind aber in einem Zeitschnitt nicht plötzlich ein Rudel Wölfe auftaucht oder während beliebig offen. Beispielsweise ist es recht unwahr- des Fotografierens eines Festes plötzlich der letzte scheinlich, dass in einem Arbeitszimmer plötzlich Film reißt. In beiden Szenen ist der Wandel von eine Horde von Elefanten oder ein Albert Einstein Situation A zu B von gleichartigem Charakter vor auftaucht. Man kann Situationen darum auch als dem Hintergrund der projizierten Gesamtsitua- Ereignisverwirklichungssyntax verstehen, durch die tion: die Ereignisverwirklichungsmöglichkeiten des vorgegeben ist, wie sich die Situation im Verhält- Wahrnehmenden verengen sich. Skaleninvariante nis zum darin Verläufe projizierenden Handelnden Zeitgestalten liegen also der Erscheinung und weiter entwickeln wird bzw. wie sie sich umwan- Diskretion szenischer Ereignisverläufe in ontisch delt. Die These ist nun, dass diesem Situationswan- variablen Relationskontinuen bzw. syntaktischen del typologisierbare Muster zugrunde liegen, die Situationen zugrunde. Demnach stellen Situatio- gleichsam Schablonen oder Gestalten der Verän- nen ein Konglomerat potentieller Verlaufsfiguren derung darstellen. Präziser formuliert: Dem Wan- dar, wobei das zeitlich orientierte Subjekt durch del einer vom Menschen ausgezeichneten Ereig- diese Verlaufsschablonen hindurch Zustandswan- nissyntax zur nächsten liegen ‹skaleninvariante del autochton projiziert. Zeitgestalten› zugrunde. Diese sind ähnlich zu Der äußere Situationswandel gleich welcher verstehen wie Hauskellers Erscheinungscharaktere, semantischen oder konzeptuellen Ebene geht die Gestalten der Gestaltpsychologie (vgl. Metzger einher mit einer innerorganistischen Umstellung, 1953) oder die Metaphern von Lakoff und Johnson einem «attunement» (Fuchs 2001) von Handlungs- (1998).4 Allerdings beziehen sie sich nicht auf die bereitschaften zur Resynchronisation gegenüber Statik der Erscheinung von Gegenständen oder neuen Situationsverläufen und folgenden Hand- Wahrnehmungsfiguren, sondern auf den Wandel lungsangeboten. Zeitgestalten, wie sie Situationen dynamischer Szenen – man könnte auch von szeni- enthalten, sind zugleich also auch Gestalten der schen Verlaufsgestalten oder Verlaufscharakteren Veränderung der Bereitschaftspotentiale des Orga- sprechen. Ein Beispiel hierfür wäre die Melodie- nismus. In der Musik werden sie explizit gemacht, wahrnehmung: Sie vollzieht sich als rückwirkende als Metaphern vermitteln sie dem Subjekt spezifi- Synthese von tonalen Bewegungsfiguren vor dem sche Weltverhältnisse (vgl. Lakoff & Johnson 1998). Relationshintergrund Takt und Tonskala, der als Skaleninvariante Zeitgestalten stellen das zweite Kontinuum die tonale Ereignissyntax vorgibt (vgl. Modul eines neuro-ökologischen Atmosphärenbe- Dobberstein 2001: 281–309; Jourdain 1997: 112). griffs. Die der Situationswahrnehmung inhärenten Musik kann Anmutungen auslösen, die genuin Veränderungsfiguren entsprechen letztlich einem vorsemantisch bzw. leibsemantisch ‹verstehbar› Pool an Handlungs- und Verwirklichungsbereit- sind: Melodiefiguren oder tonale Zeitfiguren wer- schaften des enkulturierten Leibes. Verlaufsfiguren den etwa als heiter, bedrohlich, flächig, spitz usw. im Äußeren korellieren mit Zustands- und Bereit- empfunden – genauso wie Landschaften, Bemer- schaftsveränderungen des Organismus, d.h. mit kungen, Kleidungsstile (vgl. Kölsch et al. 2004). Figuren der Öffnung, der Schließung oder allgemein Diese Anmutungen treten in unterschiedlichen der Modulation leiblicher Verhältnismöglichkeiten modalen wie konzeptuellen Wirklichkeitsebenen zur Welt. Es stellt sich nun die Frage, wie die durch und Situationen auf vor dem Hintergrund einer skaleninvariante Zeitfiguren rückvermittelten orga- Relationsfläche,5 deren Inhalt, Skala und Qualität nistischen Zustandsveränderungen mit der Auslö- variabel ist. So liegt eine strukturähnliche, skale- sung von Gemütszuständen in Beziehung stehen. 4 An anderer Stelle auch bezeichnet als «syntaktomorphe Gemütszustände als Phasenraumkognition Funkteme» (Löffler 2006: 49–53), neuerdings auch als «va- Aufgrund der organischen Tendenz zur Homöo- rieties of presence» (Noë 2012). Alle diese Begriffe machen stark, dass Wahrnehmungen vorgängigen Verwirklichungs- stase (vgl. Fuchs 2010: 215), die den Regelkrei- schemata unterliegen. sen von Umweltwahrnehmung, Körperbewegung 5 Prozessontologisch formuliert die «Konsistenzebene» und projizierten Handlungszielen zugrunde liegt, im Bezug zum «Gefüge» bei Deleuze und Guattari (1992: sind Situationen nun auch als Mengen möglicher 90–100) und als «Nexus» bei Whitehead (2001: 53–78). organischer Zustände zu fassen. Die in Situatio- 32 Davor Löffler nen enthaltenen Zeitverläufe und Zustandsverän- Damit steht das dritte Modul einer neuro- derungen sind daher unmittelbar verbunden mit ökologischen Atmosphärentheorie bereit. Gemüts- energetischen Bewertungsschemata. Damit ist zustände können aufgefasst werden als die gemeint, dass jede Situation, da sie in einem zeit- Kognitionsform für leibliche Zustände bzw. für lichen Handlungskontext eingebettet ist, zugleich Phasenräume der Ereignisverwirklichungen. Wäh- eine Menge von für den leiblichen Organismus rend Emotionen aus dem Bruch unmittelbar pro- als verschieden günstig oder ungünstig bewerte- jizierter Verläufe herstammen und zeitlich auch ten senso-motorischen Mustern und Bewegungs- wieder schnell abebben, dehnen sich Stimmungen choreographien repräsentiert. Dementsprechend über längere Zeiträume aus und stellen die Kog- enthalten die projizierten Ereignisverläufe in nitionsform für allgemeine Verwirklichungspotenti- Situationen stets eine Effizienzgraduierung bezüg- ale des enkulturierten Organismus dar. Die Menge lich der Homöostasetendenz des Organismus. So unterscheidbarer Primäremotionen ist eher klar argumentieren die Evolutionspsychologen Cos- umgrenzt, Stimmungen als allgemeine Potential- mides und Tooby, dass das Gehirn als «Matrix bereitschaften umfassen weitere Nuancen. Wie der Möglichkeiten» (Fuchs 2010: 146) eine Art nun lässt sich das Spüren von Atmosphären, das Werkzeugkasten darstellt, der je nach notwendig teilweise nicht mehr semantisch benennbar und werdenden Adaptionen und Resynchronisationen mehrdeutig ist, als Kognitionsart neben Emotio- des Organismus an die Umwelt bestimmte neue nen und Stimmungen verorten? ‹Werkzeuge›, also Handlungsroutinen und Sub- programme zuschaltet (vgl. Cosmides & Tooby Atmosphären als Kognitionstyp für 2000: 91–115). Eben diese Umschaltung der latente Zustände des Organismus Bereitschaftsausrichtung im Bezug zu einem sta- bilen Gleichgewichtszustand (Homöostase) ‹färbt› Aus den drei Modulen lässt sich schließlich eine dann als Emotion das Bewusstsein. So erscheint Definition von Atmosphären ableiten, die alle beispielsweise die Emotion ‹Ärger›, wenn der vorliegenden Atmosphärenkonzepte umschließt Organismus von einem projizierten Zeit- und und zugleich den besonderen Merkmalen des Phä- Handlungsverlauf abweichen muss und zusätz- nomens gerecht wird. Mit dem ersten Modul der lich zu den einhergehenden Umstellungskosten prozessualen Dingontologie konnte herausgestellt auch höherkostige Handlungsprogramme zuge- werden, dass Situationen und Räume zugleich schaltet werden, um den projizierten Zielzustand Abbilder möglicher zukünftiger Handlungen und zu erreichen (wenn etwa beim Basteln eines Fla- Zustände des Leibes darstellen. Mit dem zweiten schenschiffs kurz vor der Fertigstellung ein Mast Modul der skaleninvarianten Zeitgestalten als abbricht, der Geldbeutel verloren geht usw.). Emo- schematischen Verwirklichungs- und Verände- tionen wären demnach als eine Kognitionsart für rungsverläufen konnte plausibel gemacht werden, die Differenz von antizipierten und aktualisierba- dass äußere Situationsveränderungen Verlaufsfor- ren Verlaufsprojektionen von organischen Zustän- men von Zustandsveränderungen des Organismus den zu verstehen (vgl. Massumi 2002: 228). Auch gleich kommen. Mit dem dritten Modul einer pro- Brennan fasst Emotionen als «a physiological shift zessualen Emotionstheorie konnte gezeigt werden, accompanying a judgement» (2004: 5). Emotio- dass Zustandsveränderungen des Organismus als nen können demzufolge konzipiert werden als das Emotionen zu Bewusstsein treten und dass Befind- Gespür für die Veränderungen des Phasenraums lichkeiten als eine Kognitionsform für innerorgani- des Organismus, d.h. als Informationen über den sche Phasenräume oder leibliche Bereitschaftspo- Wandel von dessen Bereitschaften und Verwirkli- tentiale aufgefasst werden können. chungsmöglichkeiten. Während Primäremotionen Im Zusammenspiel von Aktualität und Potenti- als unmittelbares Gespür für die Notwendigkeit alität, das durch den leiblich Handelnden jeweils einer Bereitschaftsumschaltung auffassbar sind, zur Verwirklichung in Ereignissen gerinnt, steht haben Stimmungen einen zeitlich weiteren Hori- aber eine Seite noch aus. Situationen umfassen zont. Sie können dieser Theorie nach verstanden stets mehr, als in den funktionalen und normativen werden als das Gespür für allgemeine, länger- Bezügen des Handelnden zu den Objekten vorge- fristige Potentialbereitschaften, die sich auf bahnt ist. So aktualisiert der Akteur in einer Hand- einem Spektrum von Manie und Heiterkeit bis zu lung jeweils nur eine bestimmte Kombination an Bedrücktheit und Depression bewegen. Möglichkeiten, doch die Gesamtmenge geht prin- Leben im Futur II Konjunktiv 33 zipiell über diese hinaus. Dieser Überschuss an Organismus de-arretiert und neue Handlungsbereit- kontextuellen Möglichkeiten liegt zwar nirgendwo schaften angeregt und Handlungweisen katalysiert anders als in den impliziten Angeboten der Rela- werden. Atmosphären stellen die Kognitionsart dar für tionen zwischen den Objekten, aber verwirklicht in Situationswahrnehmungen latente Operations- und werden diese durch den Verhältnisse projizieren- Handlungsbereitschaften des Organismus. Sie sind die den Organismus. Damit enthält jede Situation Wahrnehmung der Möglichkeit zukünftiger Zustände nicht nur einen Überschuss an möglichen Dingre- der Körper-Umwelt-Relation. lationen, sondern auch einen unsichtbaren Über- Das Spüren von Atmosphären ist eine conditio schuss an möglichen Handlungsprogrammen. Situ- humana. An ihnen zeigt sich eine dritte ontische ationen und Räume enthalten also zugleich einen Wirklichkeit neben Subjekt und Objekt: Dadurch, Überschuss an möglichen organischen Zuständen, dass sie unvorbestimmte Zustände und parallel die noch nicht begrifflich, semantisch oder funk- mögliche Beziehungsverläufe spürbar machen, tional dem Organismus zuhanden sind. Dennoch Handlungen gegen den Widerstand der einge- färben sie als Potentialwahrnehmungen die Hand- spielten Realität katalysieren und motivational lungsbereitschaft, da unwillkürlich verschiedene einfärben, sind sie das Einfallstor des Neuen, des den Gegenständen implizite Verlaufs- und Verhält- Kairos. Atmosphären sind Ausdruck einer dritten nismöglichkeiten automatisch vom Subjekt mit- Ebene, über die sich neue Beziehungsweisen zwi- projiziert werden. Diese können semantisch unbe- schen Subjekt und Objekt, neue Wirklichkeiten stimmt und entsprechend vieldeutig sein. Eben erst konkretisieren. Als Anmutungen alternativer dieser kontextuale Überschuss, so das Ergebnis der Zustände vermögen sie es, den Menschen über die Überlegungen, tritt als das Spüren von Atmosphä- Grenzen seiner Realitäten hinauszutragen. ren zu tage. Atmosphären werden so begreifbar als das Gespür für ein ‹Mehr› der Möglichkeiten, als ein Gespür für latente Operationen und Verhältnisse, Atmosphären im Zeitalter der die sich in einer potentiellen Interaktion entfalten technischen Immersion könnten. Nunmehr ist klärbar, weshalb Atmosphä- ren oft nicht benennbar sind: Sie stellen die Kog- Seit in den 1960er Jahren die Erlebnisgesellschaft nitionsform für unvorbestimmte, teils außerfunk- aufkam, lautet die Devise: «Erlebe dein Leben!» tionale Möglichkeiten des In-Verbindung-Tretens, (Schulze 1992: 58ff.). Während vormals die lebens- für Verwirklichungspotentiale des Organismus dar. weltliche Orientierung in weiten Teilen der westli- Dementsprechend kommt Atmosphären der Sta- chen Welt die Existenzsicherung zum Angelpunkt tus einer eigenen Kognitionsform zu: Sie sind das hatte, entstand durch den neuen Wohlstand, die Gespür für potentielle, unvorbestimmte Zustände neuen Mobilitäts-, Kommunikations- und Produkti- des Organismus selbst.6 Sie treten auf, wenn der onstechnologien ein neuer Raum für Lebensgestal- Phasenraum des Organismus ‹de-arretiert›, also tung. Die neuen Freizeiten eröffneten den Bedarf sich öffnet für die Möglichkeit des Hineingleitens an anderen Formen des Glücks, den bald ein Erleb- in noch ungewohnte, nicht eingespielte Zustände nismarkt zu bedienen begann. Computerspielwel- und Handlungsbereitschaften. Sie sind das Gespür ten und die Verlagerung sozialer Interaktion ins für konjunktivische, mögliche vollendete Zukünfte Virtuelle sind zwar herausragende Beispiele für des Organismus. Daraus lässt sich schließlich eine das entlastende Eintauchen in imaginäre Inter- neue Definition des Atmosphärischen ableiten: aktions- und Erlebniswelten, doch sie stellen nur einen Teilaspekt dessen dar, was als Zeitalter der Atmosphären werden ausgelöst durch einen kon- Immersion am Horizont aufgeht. Es enthält zwei textualen Überschuss der Objekten und Situationen komplementäre Ebenen der Immersivität. An der impliziten Ereignisse, durch den der Phasenraum des Oberfläche stehen die konsumierbaren schönen Erlebnisse: Das virtuelle Spiel, der ideelle Konsum 6 Damit sind auch die unzähligen Atmosphären umschlos- (vgl. Baudrillard 2001), das Spektakel (vgl. Debord sen, die sich aus der Erinnerung speisen, wie sie sich etwa um 1996), die erlebnissteigernde Anreicherung der die Anmutung von ‹Heimatlichkeit› oder ‹Vertrautheit› entfal- konkreten Welt mit informationstechnischen Aug- ten. Sie stammen nicht aus der gegenwärtigen Unerschlossen- mentationen (vgl. Hemmerling 2011). Neben der heit der Situation, sondern aus einer Evokation von besonde- ren früheren Leibzuständen, die bestimmte Phasenräume des apparativen Immersion verspricht die Hyperrea- Organismus abbildeten. Man denke an Prousts Madeleine. lität (vgl. Baudrillard 1982) der Mode und der 34 Davor Löffler Marken die saisonal wechselnde Anteilnahme an Ebene der Immersivität betrifft also die sozio- massenmedial vermittelten märchenhaft-magi- mentale Figuration des Menschen. Die Idee des schen Lebensstilen (vgl. Hellmann 2009).7 Selbst Fortschritts hin zur Verwirklichung von utopischen der Kauf eines einfachen Rechnersystems wird Zuständen wird von nichts anderem getragen als werbetechnisch mit dem Fetisch des neuzeitlichen von atmosphärisch motivierten Individuen. Die Kreativitäts- und Geniekults unterlegt. Der Bezug anmutige Vorstellung einer evolutiven Zeitent- dieser Ebene der materialisierten Immersionsap- wicklung zum Besseren hin im gesellschaftlichen parate zum Atmosphärischen ist offensichtlich: und kosmologischen Maßstab tritt komplementär Die konkretisierten Formen der Immersion beru- auf in der individuellen Lebensentwicklung (vgl. hen allesamt auf der Bespielung der Fähigkeit des Foucault 2007: 295–329). In der Form des Selb- Menschen zur atmosphärischen Anmutung. Die stoptimierers und Selbstunternehmers (vgl. Bröck- leiblichen Affizierungen durch die nur symbolisch ling 2007) wird der Körper schließlich selbst zum vermittelten Lebensstile in der Mode, durch den avatarischen, programmier- und verbesserbaren Weltenretter im Computerspiel, durch das Bild des Erlebnisvehikel – ein Glückszustandsapparat, ein- tausende Kilometer entfernten Verwandten im gespannt zwischen einem defizitären So-Sein und Videochat gründen in der Projektion und Produk- der Atmosphäre der totalen Erlebnisverwirklichung tion von imaginären Leibzuständen. Mitnichten in der Zukunft. Dass sich jedoch da, wo die Verbin- kann hier von einer vom Subjekt abgelösten reinen dung abreißt zwischen dem Leben in projizierten Simulation oder einem interpassiven, delegierten und dem Leben in realisierbaren Zuständen, wo in Genießen (vgl. Pfaller 2000) gesprochen werden. der Dauerbeschleunigung der Verbesserungsan- Vielmehr stellt sich eine neue Ebene des In-Verhält- sprüche die motivatorischen Kapazitäten überstra- nis-Tretens ein, die einen Eigenwert hat. Der kom- paziert werden, auch Erschöpfungserscheinungen munikationstechnische Avatar ist unmittelbar mit wie die Depression einstellen können (vgl. Rosa dem Leib verbunden, denn er bringt diesem imagi- 2005: 386–390), liegt auf der Hand. när vollendete Zukünfte nahe. Immersionswelten Die zwei Ebenen der apparativen und ideell- lösen Leibwelten aus. In ihnen entbirgt sich das motivatorischen Immersivität sind Gegenstand Atmosphärische als conditio humana. der lebensweltlichen Orientierung geworden. Dies Man wird entgegenhalten: Wir sind niemals zeigt an, dass nun zu den bisherigen beiden Sozi- nicht immersiv gewesen. Sind nicht bereits die alisationsgrundlagen der Anwesenheit und der metaphyischen Glaubenssysteme eine Form der Rollenidentität eine dritte Ordnung von Verge- atmosphärisch vermittelten Immersion und unter- sellschaftung hinzukommt. In der atmosphärisch liegen nicht alle Heilsvorstellungen, Paradiese und vermittelten Interaktion in Immersionswelten ist Pleromen nicht ebenfalls einer leiblichen Ergriffen- es gleich, ob ein echtes Gegenüber, ein imaginäres heit durch die Projektion potentieller Zustands- oder zukünftiges Selbst oder eine KI die Anmu- zukünfte? Die neuzeitliche Säkularisierung und tung auslöst, vergesellschaftet zu sein. Im Atmo- Rationalisierung verweltlicht diese: Wo vormals sphärisch-Immersiven tritt der Mensch mit dem die immersive Weltflucht in die Auflösung im All- Intensitätsgefühl von Gesellschaftlichkeit an sich ganzen, in die Aufhebung allen Mangels durch in Kontakt. Ein Leben im Futur II Konjunktiv hat die metaphysischen Systeme besorgt und durch nur noch Intensitäten zum Gegenstand. rituelle Exerzitien vermittelt wurde (vgl. Sloterdijk Während hiermit ein erster aisthetischer 1993: 135ff.), ist in der Moderne als «Innovati- Zugang zu dieser Vergesellschaftungsart vorliegt onskultur» (Marquard 1998: 24) das individuelle und auch schon Epistemologien des intensitäts- Paradies hinter jedem neuen Fortschritts-, Wachs- vermittelten Weltverhältnisses entworfen wurden tums- und Prosperitätsschub zu finden. Die zweite (etwa im Begriff «Neuro-Chromatik»; vgl. Weber 2006: 152ff.), steht eine Soziologie – sofern es 7 Neben den Angeboten der U-Kultur widmet sich auch überhaupt eine Soziologie sein kann – des Zeital- die E-Kultur zunehmend dem Atmosphärischen als einem ters der technischen Immersion noch aus.8 Aber eigenen ästhetischen Bespielungsfeld. Herausragend hierzu jede noch ferne Mitteilung beginnt mit einem die Rauminstallationen von Gregor Schneider, deren ästheti- sche Wirkung auf der Suggestion vergangener oder zukünf- tiger Szenen und Verlaufsfiguren beruht, die im Beobachter 8 Zu ersten Überlegungen der Möglichkeit einer neuen bestimmte Atmosphären evozieren. Seine Installationen las- Art des In-Verbindung-Tretens, einer technogen vermittelten sen ‹Befindlichkeitsskulpturen› entstehen. Nähe vgl. Ternes 2007 und ders. 2011. Leben im Futur II Konjunktiv 35 ersten Wort und jeder noch unvollständige Ent- – (2005) Implicit and explicit temporality.  In: Philoso- wurf beginnt mit einem ersten Satz. Womit jedoch phy, Psychia try & Psychology 12. S. 195–198 beginnt ein neues Jahrhundert? Sind es nicht stets – (2010) Das Gehirn. Ein Beziehungsorgan. Stuttgart: Anmutungen neuer Wirklichkeiten, neue atmo- Kohlhammer sphärische Ergriffenheiten? Gibson, James Jerome (1982) Wahrnehmung und Umwelt. 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Creating a new master plan for Seattle’s Woodland Park Zoo in 1976, the landscape architects of Jones & Jones introduced the term landscape habitat immersion as a design element to simulate nature. Meanwhile, immersion exhibits spread globally as substantial elements of «New Zoos». The idea was that visitors should perceive enclosures as coherent landscaped space without any signs of civilization. Based on environmental psychology, the firm’s design techniques fostered a detailed layout to guide the visitor’s motion and sight. Additionally, the designers strived for site- specific translations of physiognomic characteristics such as vegetation or soil to mediate the quality of the represented landscape. Thereby, the boundaries between animal and visitor, between viewing space and enclosure, would be blurred, at least for the humans. Taking Seattle’s Woodland Park Zoo as a case study, this paper seeks to examine the underlying ideas of constructing and perceiving «immersive landscapes» within 38 Christina Katharina May the context of US environmentalism. Design that is both ecologically functional and aesthetic is especially essential for holistic approaches to landscape architecture. The relevant semiotic analysis is based on the architects’ subjective, cognitive and emotional perception and interpretation. Thus, such semiotic programs help to translate landscapes into holistic scenographies and form the guidelines by which to construct the specific atmospheres of zoological exhibits. Einführung gefährliche Wildnis. Ein Zoo hat im Gegensatz zu verwandten Bautypen wie Naturkundemuseen, Unter der Bezeichnung Landscape Immersion botanischen Gärten oder Ferienressorts und Frei- wurde in den 1970er Jahren in US-amerikanischen zeitparks eine ihm eigene, besondere Aufgabe: Im Zoos ein neues Konzept für Zooarchitektur etab- Zoo muss ein funktionierender Lebensraum für die liert. Nicht mehr modernistische Tierhäuser oder ausgestellten Wildtiere geschaffen werden. Über gepflegte Landschaftsgärten sollten den Rahmen die Gestaltung dieses Lebensraums wird gleich- zur Ausstellung von Wildtieren bilden. Stattdes- zeitig eine ästhetische und edukative Funktion für sen sollten die Tiere im Kontext einer möglichst die Besucher erfüllt. Daher gehören neben den authentisch erscheinenden, wilden Landschaft menschlichen Zoobesuchern und Zooangestellten präsentiert werden. Die immersiven Anlagen der auch die Wildtiere zu den Nutzern der Bauten, inzwischen global verbreiteten New Zoos sollen deren Ansprüche bei der Planung berücksichtigt dem Betrachter einen kohärenten, von zivilisato- werden müssen. Für die Produktion, bedingt auch rischen Zeichen befreiten Landschaftsraum sug- für die Rezeption, einer Zoolandschaft wird damit gerieren (vgl. Hyson 2008: 246). Das innovative sowohl die naturwissenschaftliche wie auch die Potential der Entwurfstechnik Landscape Habitat ästhetische Semantik des mehrdeutigen Begriffs Immersion liegt insbesondere darin, die Relatio- der Landschaft thematisiert. nen zwischen Wildtier, Betrachter und gestaltetem Anders als bei virtuellen Räumen oder auch Raum sowie das Verhältnis von Naturwissenschaft dioramatischen Schauanordnungen, muss es sich und Ästhetik eingehend zu reflektieren. 1976 wur- bei der Immersion ins Zoogehege um die rezepti- den unter der Überschrift Landscape Immersion onsästhetische Überlagerung zweier realer Räume Techniken für landschaftsarchitektonische Natur- handeln. Nicht nur der Betrachter ist physisch simulationen im Long Range Plan des Woodland anwesend, sondern auch das Tier, welches das Park Zoos von Seattle verfasst (vgl. Jones & Jones Zoogehege lebenslang als Habitat nutzen muss. 1976).1 Diese Form der Immersion basiert auf einer Neben ästhetischen Qualitäten muss das Gehege holistischen Interpretation einer Landschaft und medizinische, ethologische und tierpflegerische den biosystemischen Zusammenhängen der zuge- Ansprüche erfüllen. Das Zoogehege ist also ein hörigen Lebewesen, also Tieren und Pflanzen wie realer von einem Lebewesen genutzter Raum auch den menschlichen Rezipienten. und kann daher nicht allein auf eine immersive Die immersive Gestaltung in zoologischen Rezeptionsästhetik ausgerichtet sein, wenngleich Parks bildet eine besondere Form der Grenzüber- deutliche Parallelen der Zoogehege und Schauan- schreitung: Die Auflösung der Grenze zwischen ordnungen zu bildmedialen Phänomenen zu beob- dem Betrachterraum und einem physisch für die achten sind. Betrachter unzugänglichen Raum, dem Zoogehege. Im Folgenden erfolgt ein kurzer Überblick zur Dem Publikum wird über die Landschaftsarchitek- aktuellen Definition immersiver Landschaften und tur vermittelt, nicht mehr in einem städtischen Park ihrer Anwendungspraxis, bevor die besonderen zu spazieren, sondern in das Habitat des Wildtieres Problemstellungen von Immersion im Zoo anhand einzutauchen und damit in eine möglicherweise des Woodland Park Zoos in Seattle um 1976 und der erstmaligen Implementierung des Konzepts dargestellt werden. Im Vergleich mit zeitgenössi- 1 Die Bezeichnung Landscape Habitat Immersion wird entsprechend der Definition von Jones, Matthews und Over- schen Zoobauten, aber auch anderen Bauaufga- dorf im Landscape Architectural Graphic Standard (2007: ben werden die Techniken untersucht, mit denen 760) verwendet. eine räumlich orientierte Dokumentation und der Landscape Habitat Immersion 39 Transfer von Landschaften vorgenommen wird. Die Hochbauarchitektur entweder mit Pflanzen ver- Immersion in das Habitat der Wildtiere, die diver- deckt oder unterirdisch angelegt, um möglichst gierenden Raumeigenschaften für Menschen und aus dem Blickfeld zu verschwinden. Das Konzept Tiere und der Versuch ihrer Zusammenführung wer- einer immersiven Zoogestaltung nimmt damit eine den untersucht und die Rezeptionsmöglichkeiten Aufwertung der Landschaftsarchitektur vor und für die Betrachter analysiert. Die Analyse zeigt, dass bricht mit den Konzepten und Stilmitteln konventi- die Entwicklung immersiver Zoolandschaften zwar oneller, architektonisch geprägter Zoogestaltung. an bereits vorhandene Zooarchitektur anknüpft, Notwendige Barrieren und Häuser werden in erster Linie aber im Umfeld der amerikanischen nicht nur mit Pflanzungen und Geländemodel- Umweltbewegung zu verorten ist, wodurch eine lationen kaschiert, sondern, besonders bei klein- Verbindung von naturwissenschaftlicher Analyse flächigen Zoos, mithilfe eines massiven Einsatzes und phänomenologischer Ästhetik zum zentralen von Kunstfelsen oder exotisch anmutender Kulis- Merkmal des Gestaltungskonzeptes wird. senarchitektur getarnt. Die Kulissen sind teils eng an den regionalen Baustilen der repräsentierten Immersion im Zoo Habitate orientiert, oftmals entsprechen sie aber lediglich europäischen Stereotypen ‹asiatischer› Im Unterschied zur Definition von Immersion im oder ‹afrikanischer› Baustile. Im ursprünglichen medienwissenschaftlichen Kontext, die meist das Immersions-Konzept war Kulissenarchitektur in illusionäre Eintauchen der Betrachter in einen Bild- Immersionslandschaften nicht vorgesehen. raum meint, bezieht sich Immersion im Zoo auf die Wie Ratajszczak schreibt, ist der Unterschied Illusion, in dreidimensionalen, aus Sicherheitsgrün- zum naturalistischen Display die Aufhebung der den jedoch unzugänglichen Räumen anwesend zu klaren Grenze. Es findet keine distanzierte Rezep- sein.2 In ihrer Rezeptions- wie Produktionsästhetik tion des Geheges als pittoreske Ansicht statt, son- weisen die immersiven Zoolandschaften dennoch dern die Betrachterdistanz wird in der als Wildnis deutliche Parallelen zu immersiven Bildräumen auf. charakterisierten Landschaft aufgehoben. Einzelne Radoslaw Ratajszczak, Direktor des Breslauer Gehegeeinblicke und die dramaturgisch kalkulierte Zoos, beschreibt die Immersion-Effect Exhibitry in Wegführung lassen zwar den Rückschluss zu, dass der Encyclopedia of the World’s Zoos wie folgt: es sich bei den Gehegen um eine dreidimensionale An immersion exhibit is an animal display in a zoo in Realisierung von fotografischen oder filmischen which both visitors and animals are surrounded by the Naturdokumentationen handele, jedoch geht same type of physical space and landscape features. It der ganzheitliche Planungsansatz über die dreidi- differs from ordinary naturalistic display because it [the mensionale Übersetzung von Bildmedien hinaus, immersion exhibit] connects elements of animal space indem synästhetische Reize angeboten werden sol- to elements in visitors’ space. Barriers are constructed len und eine prozessuale Wahrnehmung der Land- and planted in such a way that they blend into the sur- schaft dramaturgisch kalkuliert wird. roundings and create for the visitor an illusion of being Ziel der Landscape Habitat Immersion ist, dem in the wild and observing animals there. (2001: 604) Betrachter die Illusion zu vermitteln, dass er weder im städtischen Zoo sei, noch vor einem idealisier- Der erste Teil dieser Anleitung zur Erzeugung des ten Bildausschnitt stehe, sondern sich im Habitat sogenannten Immersions-Effekts, die Vereinheit- der Wildtiere befinde. Grant Jones, Landschafts- lichung des Besucher- und Tierumfeldes, scheint architekt aus Seattle, war maßgeblich an der Ent- mit einfachen landschaftsgärtnerischen Mitteln wicklung des Konzepts beteiligt und beschreibt die umsetzbar zu sein. Die Schwierigkeit einer immer- besondere Qualität von Immersionsgehegen wie siven Landschaft besteht jedoch darin, in einem folgt: Zoo, traditionell einer Parkanlage im urbanen Landscape habitat immersion means approaching the Umfeld, die Illusion von Wildnis zu erzeugen. Die animal’s environment from its perspective; it involves Forderung nach einer natürlich erscheinenden becoming part of the animal’s environment, to experi- Landschaft impliziert, dass künstlich hergestellte ence the sights, sounds, smells – as well as the ting- Elemente aus dem Wahrnehmungsraum des Besu- ling at the back of the neck, indicating that the viewer chers ausgeblendet werden. In der Folge wird is out of his or her normal ‹safe zone›. (Jones/Matthews/Overdorf 2007: 760) 2 Exemplarisch vgl. Grau (2001: 16). 40 Christina Katharina May Die Illusion, sich in der Wildnis zu befinden, Immersion in Bezug auf zoologische Gärten in den bedarf mehrerer Ebenen der Grenzüberschreitung: 1980er Jahren in den USA und verbreitete sich seit Die Landschaft muss zunächst glaubwürdig im den 1990er Jahren auch in Europa. Zoo konstruiert werden, um den Besuchern das Die Qualität der als immersiv bezeichneten Gelände überzeugend als von Tieren bewohnte Gehege war jedoch recht unterschiedlich. Das Wildnis zu vermitteln. Die für die Besucher als Bestreben nach einer immersiven Wirkung ist allge- landschaftlich interpretierbaren Elemente müssen mein verbreitet, auch wenn der Begriff Immersion weitgehend deckungsgleich mit jenen Raumele- oftmals lediglich eine naturillusionistische Gestal- menten sein, die die jeweilige Tierart wahrnimmt tung bezeichnet, wie exemplarisch etwa Wolfgang und nutzt, damit der Aktionsraum der Tiere auch Salzert in seinem praxisorientierten Buch zur für die Betrachter einen Sinn erhält und die Tiere Zoogestaltung schreibt: «Man wird heute kaum sich im Sichtfeld der Besucher aufhalten. Raumele- einen neu entstehenden Zoo finden, und auch nur mente, die für die jeweilige Tierart von Interesse wenige Gehege-Neubauten in bestehenden Zoos, sind, sollen über die Gestaltung betont werden, um bei denen nicht wenigstens das Bemühen erkenn- auf die andere Umweltwahrnehmung des Tieres bar ist, das Immersionsprinzip zu verwirklichen» aufmerksam zu machen. Schließlich wird die physi- (2010: 33). Teils lassen sich die Abweichungen sche Grenze zwischen Gehege und Betrachterraum vom ursprünglichen Konzept darauf zurückführen, für die menschlichen Rezipienten kaschiert, um dass sich die Leitbilder der Institutionen sowie die den Effekt des Eintauchens in die vermeintliche Ansprüche an die Tierhaltung verändern. Oftmals Wildnis zu verstärken. wird das Konzept aber vereinfacht, weil die Finan- Praktisch ist es nur in den seltensten Fällen zierung sowie die Planungs- und Bauzeit knapp möglich, etwa bei kleinen, ungefährlichen Wildtie- bemessen ist, weshalb nur ausgewählte Bausteine ren oder domestizierten Tieren, dass der Betrachter des ursprünglichen Immersions-Konzepts in ihre physisch in das Habitat des Tieres eindringt. Daher Planungen übernommen werden und kurzfristig soll eine Auflösung der Grenze zwischen Gehege und pragmatisch geplant wird. und Betrachterraum über psychologisch fundierte Marvin und Mullan, die in ihrer kulturwissen- Tricks erfolgen. Im Long Range Plan des Woodland schaftlichen Publikation Zoo Culture Zoos generell Park Zoos werden zwei entscheidende Faktoren zur als kritisch beurteilen, beschreiben den Woodland Umsetzung einer immersiven Landschaftsgestal- Park Zoo noch 20 Jahre nach der Eröffnung der tung angegeben: ersten immersiv gestalteten Gehege als vorbild- Landscape immersion depends entirely upon two fac- haft: Seine Landschaftsszenarien verleiteten das tors: 1) the completeness with which the characteristic Publikum dazu, für die Dauer des Parkbesuchs den landscape is projected, and 2) the care and accuracy suggerierten Realismus der Zoolandschaft nicht with which the viewpoints and views are located and anzuzweifeln und die inszenierte Umgebung als composed, concealing barriers, enhancing perspec- authentisch zu akzeptieren (vgl. Marvin & Mullan tives, composing light and shadow, and, most impor- 1999: 66). Die ‹Aussetzung der Ungläubigkeit› ist tantly, visually unifying animal space and visual space. nach Marvin und Mullan rezeptionsästhetische (Jones & Jones 1976: 44) Bedingung und wird durch die Detailgenauigkeit und konsistente Gestaltung unterstützt.3 Dass sie Der Long Range Plan diente als schriftliche Doku- für eine gelungene Rezeption vorausgesetzt wird, mentation der Entwurfsmethoden. Zunächst zeigt wie naheliegend Parallelen zur Kunstrezep- wurde der Plan als langfristige Planungsgrund- tion sind, auch wenn die Designer von kommerziel- lage für den Zoo von Seattle eingesetzt, schließ- len Unterhaltungseinrichtungen wie Themenparks lich sorgte der für eine Zooplanung ungewöhnlich mit ähnlicher Wirkungsstrategie agieren. ausführliche Masterplan für die Verbreitung des Konzepts. Aber auch die tatsächlich umgesetzten Anlagen des zuvor durchschnittlichen Stadtzoos von Seattle erlangten internationale Bekanntheit. Weitere Immersionsgehege wurden von den betei- ligten Landschaftsarchitekten und Architekten in 3 Marvin und Mullan entlehnen die Umschreibung der den USA und schließlich weltweit realisiert (vgl. «willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit» (1999: 66) bei Greene 1987). Dadurch etablierte sich der Begriff Samuel Taylor Coleridge (1885). Landscape Habitat Immersion 41 Die Erde als Gegenstand der Architekten zept gewählt, das methodisch sowohl in seiner Komplexität als auch in seinem personellen und Eine großflächige Sanierung des Zoos von Seattle zeitlichen Aufwand konventionelle Zooplanungen war seit Ende der 1960er Jahre vorgesehen. Zahl- weit überstieg. Im neuen Masterplan war vorgese- reiche Gehege waren wegen der veralteten Hal- hen, dass zunächst zu einer möglichst detaillierten tungsbedingungen nicht mehr tragbar, zudem war Imitation von Habitaten eine Methode entwickelt die Bausubstanz marode. Auch Zoos mit neueren werden musste, um die komplexen Eigenschaften Anlagen mussten sich seit Ende der 1960er Jahre einer Landschaft in den Zoo zu übertragen. Ziel vermehrt öffentlicher Kritik stellen, da die Gehege der Landschaftsarchitekten und Ökologen war als zu klein galten. Besonders aber die Innenaus- es, eine Transposition spezifischer bioklimatischer stattung der Tierhäuser mit gefliesten Wänden Zonen der Erde in den Stadtzoo von Seattle vorzu- und Edelstahlbecken entsprach weder den popu- nehmen. Bemerkenswert am Entwurfsprozess war, lären Vorstellungen eines natürlichen Tierhabitats, dass als Vorbild für die Zoolandschaft zunächst noch unterstützten sie den Image-Wandel der Insti- ein konkreter Ort in seiner Gesamtheit als Vorbild tution Zoo zu einem Protagonisten des Artenschut- genommen wurde, seine typischen Strukturen aus- zes und der ökologischen Aufklärung.4 findig gemacht und analysiert wurden und erst Die ökologisch orientierten Leitlinien für die gegen Ende des Prozesses die Tierart ausgewählt Erstellung eines Masterplanes für Seattle wurden wurde, die als repräsentativ den ausgewählten von einem durch die Stadtverwaltung eingerich- Landschaftsraum vertreten sollte. Wie in der Abbil- teten Expertenkomitee, der Zoo Action Task Force dung 1 deutlich wird, erfolgte damit die Auswahl entwickelt. Der Zoo sei demnach kein Museum, der Tierart erst gegen Ende des Entwurfsprozesses sondern eine Ausstellung lebender Tiere. Entspre- (vgl. Jones & Jones 1976: 7). chend solle das Tierverhalten wie auch die Besu- Die Planungs- und Implementierungsmethoden cheransprüche berücksichtigt werden und der neue waren prozessual vorgesehen. Nach einem Ansatz, Gesamtplan auf der Leitidee der Sozialbiologie im der sich als hermeneutisch bezeichnen lässt, wur- Kontext von Biosystemen basieren (vgl. Woodland den zunächst allgemeine Ziele festgelegt, Analysen Park Zoological Gardens 1975: o.S.). Schließlich des Grundstücks und der notwendigen Gebäu- wurde im Herbst 1975 das Landschaftsarchitek- defunktionen und -eigenschaften vorgenommen turbüro Jones & Jones für die Gesamtplanung des und schließlich wieder mit dem Gesamtkonzept Zoos engagiert, dessen besondere Qualität in der abgeglichen. Konkrete Entwürfe gab der Plan Analyse, Transposition und Optimierung von Land- nicht vor, sondern er bildete den Leitfaden, nach schaft unter holistischen Gesichtspunkten bestand dem Zonierungen, Thematisierungen, Gehegefunk- (vgl. Ahern/Leduc/York 2006: 26). tionen, Wegführungen und Blickachsen entworfen Die Besonderheit des neuen Masterplans und und realisiert werden sollten. Hierdurch wurde die der neuen Gehege im Woodland Park Zoo von Grundlage geschaffen, langfristig den Zoo kohärent Seattle war, dass die Landschaftsarchitekten für zu gestalten, um durch ein einheitliches Design- die Neuplanung sich weniger an bestehenden Konzept Kontraste zu vermeiden und die immersive Zoobauten und zoologischen Parks orientierten, Wirkung nicht zu stören (vgl. Jones & Jones 1976: sondern allein an den originären Habitaten der 1). Der Long Range Plan beinhaltete schließlich auszustellenden Tiere. Eine Vielzahl verschiedener auch, dass in der Zukunft regelmäßige Überar- interner wie externer Experten, auch Tierpfleger beitungen des Masterplanes erfolgen sollten, um und Botaniker wurden einbezogen, um möglichst Veränderungen entsprechend dem experimentellen umfassende Informationen zu sammeln und aus- Charakter der Zoobauten vorzunehmen und an zuwerten. Entsprechend dieses organisatorischen die Anforderungen der Tiere und die der Besucher Ansatzes mit flachen Hierarchien wurde auch für anzupassen (vgl. Ahern/Leduc/York 2006: 36). den Gegenstand der Planung, den Zoo, versucht, Mithilfe der bioklimatischen Zonierung nach der Komplexität der Anlage in ihrem urbanen, dem Life Zone Modell des Klimatologen Leslie regionalen wie auch im bioklimatischen Kontext Holdridge konnten Erdausschnitte anhand der Fak- gerecht zu werden. Damit wurde ein Design-Kon- toren Niederschlag, Verdunstung und Temperatur klassifiziert werden. Der Planet Erde wurde dadurch 4 Hierzu vgl. etwa Hanson 2002: 175–179; Hyson 1999: in verschiedene bioklimatische Zonen aufgeteilt. 475. Dieses bioklimatische Schema vereinfachte der 42 Christina Katharina May Ü 1 Landscape Development (Quelle: Jones & Jones 1976: 7) Ökologe des Zooplanungsteams nochmals, um die tekturbüros Jones & Jones, sondern lassen sich im derart schematisierten Klimazonen schließlich auf zeitgenössischen Kontext verorten. Ein bekanntes das Mikroklima des Zoos übertragen zu können. architektonisches Beispiel sind Buckminster Fullers Auf der Grundlage einer Analyse der Land- systemisch-ökologische Planungen. Auf Grundlage schaftsphysiognomie, also von Böden, Nieder- von Kristallstrukturen, die Fuller als natürlichen schlag und Wassertransport, der Bepflanzung und Formen verstand, entwickelte er unter anderem des typischen Tierbestandes sowie dem visuellen geodätische Kuppelbauten, wie zum Beispiel den Erscheinungsbild der Landschaft wurden Gestal- amerikanischen Pavillon der Weltausstellung von tungsrichtlinien für die einzelnen Bereiche erstellt. 1967 in Montréal. Fullers geodätische Kuppeln Gebäude, insbesondere moderne Architektur, soll- integrierten ökologische Überlegungen, die mit- ten nicht sichtbar sein. Insofern Tierhäuser erhal- hilfe technischer Innovationen umgesetzt wurden. ten blieben, wurden sie durch Vegetation und Die architektonischen Großprojekte Fullers sind in Geomorphologie abgeschirmt. Die Wegführung Bezug auf den Zoo nur als parallele Erscheinung für die Besucher wurde schließlich danach ange- relevant. Zwar waren Fullers geodätischen Kuppeln legt, dass die Übergänge von einer derart themati- Metaphern für das Spaceship Earth, vom Mate- sierten Zone zur nächsten ausschließlich zwischen rial her konnten sie jedoch keinen tatsächlichen Repräsentationen von real benachbarten geografi- Lebensraum bereitstellen, da die Acrylfolien nicht schen Regionen sowie ähnlichen bioklimatischen UV-durchlässig waren, weshalb Pflanzen in diesen Zonen verliefen. Mit dieser Methode erfolgte also Gebäuden schnell eingingen. Korrelierend mit eine systemische wie auch phänomenologisch ori- Fullers Kuppeln erschien im Januar 1969 im Time entierte Übertragung des Planeten Erde auf den Magazine die Fotografie der Erde aus Sicht der stark begrenzten Raum des Zoos. Diese Zusam- Weltraumrakete Apollo 8. Die Fotografie wurde zu menführung biosystemischer Studien, basierend einem ikonischen Bild der Umweltbewegung, da auf Datenanalysen, mit ästhetischen Kriterien ist sie sowohl die Isoliertheit der Erde im Weltraum, kennzeichnend für Entwurfsprozesse im Umfeld als auch die Einheit des Planeten als Ganzes zeigt. der US-amerikanischen Umweltbewegung, dem Die Rezeption der Erde als einzigartige, bedrohte Environmentalism. Lebenswelt sorgten zu diesem Zeitpunkt für eine Die systemisch orientierte Planung, die prozes- wachsende Bedeutung ökologischer Forschungen suale Implementierung und die flachen Hierar- wie auch ästhetisch begründetem Umweltschutz chien waren kein Alleinstellungsmerkmal des Archi- (vgl. Bonnemaison & Macy 2003: 293–317). Landscape Habitat Immersion 43 à 2 Vertical Zoo, Entwurfszeichnung (© Cambridge Seven Associates, Inc. 1963) Die amerikanische Bevölkerung wurde über öko- geholt werden und die Gehege mittels eines fle- systemische Zusammenhänge durch Rachel Car- xiblen Designs an die verhaltensbiologischen und sons Buch Silent Spring informiert. Carson legte morphologischen Anforderungen der Tiere ange- offen, wie das Insektizid DDT von landwirtschaft- passt werden, wie in Abbildung 2 zu sehen. Die lichen Nutzflächen aus zunächst Vögel tötete einzelnen Elemente des Vertical Zoos sind daher und schließlich in die menschliche Nahrungskette flexibel als Module geplant (vgl. Hancocks 1971: gelangte (vgl. Carson 1963).5 Carsons Buch inspi- 189–194). Sowohl Fullers Bauten als auch jene von rierte auch zu neuen Konzepten für zoologische Cambridge Seven Associates sahen tendenziell Gärten, die nicht mehr einzelne Tiere zeigen, son- flexible, dennoch ingenieurtechnisch ausgefeilte dern in großen gewächshausartigen Gebäuden Großstrukturen vor. Eine landschaftsarchitektoni- Tiere, Pflanzen, Pilze und Bakterien ausstellen sche Gestaltung war in diesem Zusammenhang sollten, um ökologische Zusammenhänge einem weitgehend irrelevant. Gerade die Landschafts- breiten Publikum zu vermitteln (vgl. Boyden 1969: architekten sollten jedoch zu den neuen Protago- 199ff.). Realisiert wurden diese sogenannten Biolo- nisten der Zooneuplanungen werden. Ihr Erfolg gical Center zunächst nicht, doch sind sie konzep- lag nicht nur in den prozessualen Ansätzen und tuelle Vorläufer der neueren Biosystemhallen, die der Möglichkeit zur Kosteneinsparung gegenüber das Zoopublikum vollkommen in das Habitat der dem Bio Center begründet, sondern auch in einer Tiere integrieren und die Außenwelt ausgrenzen. wachsenden ästhetisch begründeten Vorliebe für So existierten utopische Konzepte für sogenannte natürlich erscheinende Landschaften. Biozentren mit ökologischem Schwerpunkt wie für Environmentalism bezog sich nicht nur auf ein neues National Aquarium für Washington D.C. menschlich unbeeinflusste Gebiete als Repräsenta- oder den Vertical Zoo für Boston von Cambridge tionen amerikanischer Wildnis, die etwa in Natio- Seven Associates. Mit dem Hochhaus Vertical Zoo nalparks geschützt wurden und die motivisch die sollte Natur, verkörpert durch Wildtiere, in die Stadt Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts prägten. Die Landschaft der zersiedelten Vorstädte und 5 Für einen Überblick zur Umweltbewegung vgl. etwa am Rande der Highways wurde nun Gegenstand auch Radkau (2011). öffentlicher Aufmerksamkeit, wie verschiedene 44 Christina Katharina May Regierungsbeschlüsse, etwa der Highway Beautifi- wurden mit utopischen Ideen zur Weltgestaltung cation Act von 1965 oder der Endangered Species kombiniert, naturwissenschaftliche Ansätze mit Act von 1973 belegen. Spätestens mit Texten wie ästhetischer, meist phänomenologischer Land- Lyndon B. Johnsons Plädoyer für Beautification, schaftsrezeption zusammengeführt und schließlich das im Wesentlichen die Verschönerung amerika- zu praktischen Leitfäden kondensiert, wie zum Bei- nischer Highways im Visier hatte, war das Thema spiel in Ian McHargs 1969 veröffentlichter Publika- auch auf administrativer Ebene institutionalisiert, tion Design with Nature. auch wenn die damaligen Planungen unter öko- McHargs holistischer Planungsansatz sollte in logischer Perspektive wenig mit heutigen Nach- einem architektonischen Großprojekt, dem Biopark haltigkeitsprogrammen gemein hatten (Johnson Pardisan für die iranische Hauptstadt Teheran 1990). Scenic Beauty wurde als Kriterium für die umgesetzt werden. Nach dem Sturz des Schahs Freiraumplanung propagiert, eine an konven- wurde das Projekt jedoch nicht mehr fortgeführt. tionellen pittoresken Bildszenen ausgerichtete Pardisan, geplant zwischen 1973 und 1979 war Landschaftsästhetik. Ab Mitte der 1970er Jahre ein Übertrag bioklimatischer Zonen auf ein weit- wurde Scenic Beauty zu objektivieren versucht: In läufiges Areal, das als Erholungsort sowie ökolo- empirische Studien bewerteten Versuchspersonen gisches und kulturelles Bildungszentrum dienen verschiedene Fotografien von Landschaftsaus- sollte. Die verschiedenen Klimazonen wurden schnitten. Über eine quantitative Erhebung auf für die iranische Halbwüste unter klimatisierten Grundlage von Fotografien wurden dadurch Aus- Kuppelbauten konzipiert, an deren Entwurf unter sagen über räumliche Phänomene festgelegt (vgl. anderem auch Buckminster Fuller beteiligt war. Daniel & Boster 1976). Die architektonische Megastruktur mit orthogo- Für Regionalplaner und Landschaftsarchitekten nal ausgerichteten Bauten, Fußgängerbrücken war somit allein aus politischen und ökonomischen und Monorails berücksichtigte jedoch kaum die Interessen eine intensive Auseinandersetzung mit individuelle Rezeption einzelner Spaziergänger. der Umweltbewegung unumgänglich. Darüber Die Betrachterinnen sollten die Tiergehege und hinaus wurden alternative Konzepte zu entwickeln Landschaften distanziert von panoramatisch ver- versucht, die sowohl personell hierarchisierte Pla- einheitlichenden Aussichtspunkten überschauen nungsstrukturen unterwanderten wie auch einen (vgl. McHarg et. al. 1975). Mittelweg zwischen naturwissenschaftlichen Bezüge zwischen dem Woodland Park Zoo und Innovationen und einer ausschließlich ästheti- dem Projekt Pardisan wie auch McHargs Design- schen Bewertung der Landschaft anstrebten. Die theorie bestanden personell, da sowohl David auf zweidimensional bildhafte Szenen orientierte Hancocks als auch Grant Jones Ian McHarg bei Landschaftsästhetik, wie von Seiten der Regie- der Zooplanung berieten. Der großflächigen rungsinstitutionen beworben, wurde als oberfläch- Megastruktur lag zwar ein ökologisch orientiertes lich und unzureichend kritisiert, da beispielsweise Konzept zugrunde, jedoch basierte der Entwurf für Bewertungskriterien wie soziale Komponenten Pardisan auf städtebaulichen Visionen der Nach- nicht berücksichtigt wurden. Neben eines quanti- kriegsmoderne mit klaren Flächenzuweisungen tativ evaluierten Ästhetikbegriffes, wurden daher und Funktionstrennungen. Phänomenologische zunehmend phänomenologisch fundierte Ana- Anleitungen zur prozessualen Raumerfahrung, für lysen wichtig, die soziale Komponenten in Land- Produzenten wie auch Rezipienten führten hin- schaft und Siedlungen beachteten, wie zum Bei- gegen im Woodland Park Zoo zu einer kleinmaß- spiel John Brinckerhoff Jackson forderte (vgl. Groth stäblichen Planung, um die Details spezifischer & Wilson 2005: 71–74). Habitate mittels räumlicher Strukturierungen zu betonen. Entsprechend besitzt die Wegführung Die biosystemische Landschaft des Woodland Park Zoos keine orthogonale Struk- tur, wie der modernistische Entwurf für Pardisan, In den 1960er Jahren veränderten sich Entwurfs- sondern ein kleinteilig ondulierendes, wenn auch methoden für Landschaftsarchitektur und Regio- nach Funktionen hierarchisiertes, Wegsystem. nalplanung zudem durch technische Entwicklun- Die ursprüngliche Wegführung des Woodland gen, so dass computergestützte Berechnungen Park Zoos wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfangreiche Evaluationen und komplexe Analy- von den Brüdern Olmsted angelegt, die dabei sen ermöglichten. Die technischen Innovationen einer generellen Tendenz zur Reformalisierung Landscape Habitat Immersion 45 à 3 Zoo Map (© Woodland Park Zoo 1980) der Gestaltungselemente im Historismus folgten. gram ablesbar (vgl. 1973; 1975). Landschaft wird Diese offensichtlich kulturell geordnete Gestaltung demnach als Kommunikationsprozess verstanden, entsprach jedoch nicht dem Konzept einer ‹wilden› der aus einer syntaktischen Verknüpfung von Landschaft und wurde im Zuge der Neuplanung Zeichen besteht. Zur Dokumentation und Über- durch Jones & Jones mit irregulären Wegverläufen setzung einer Landschaft in einen Zoo können allmählich aufgelöst, die auf der Karte von 1980 daher keine isolierten Einzelelemente übertragen in Abbildung 3 bereits im Bereich der African werden, sondern eine Transposition müsse unter Savanna nachzuvollziehen sind. Berücksichtigung biosystemischer Zusammen- Grant Jones verband in seiner Designtheorie hänge durchgeführt werden. Dafür bedürfe es die zwei Komponenten der ökologisch begründe- eines kompetenten Landschaftsarchitekten, der ten, naturwissenschaftlichen Analyse mit einer die Bedeutungen dieser Zusammenhänge für ein phänomenologischen Rezeptionsästhetik. Jones breites Publikum interpretierbar werden lässt (vgl. entwickelte ein semiotisches Modell zur Inven- Jones 1975: 1f.). tarisierung und Hierarchisierung der typischen Diese Überlegungen zu Kommunikationsprozes- Kennzeichen einer spezifischen Landschaft, das sen innerhalb einer Landschaft lassen sich wenige nicht mehr nur eine Kartierung von oben vornahm, Jahre später in der Entwicklung der Disziplin Bio- sondern gleichzeitig an die Umwelterfahrung des semiotik wiederfinden, die von Thure von Uexküll menschlichen Rezipienten beim Durchwandern begründet wurde. Methodisch geht Jones semio- der Landschaft gebunden war. Jones kombinierte tische Inventarisierungs- und Evalutionsmethode strukturalistische Erkenntnisse aus seinem Lyrikstu- auf Charles Sanders Peirce zurück. Zeitgleich entwi- dium mit einer systemischen Analyse, um mithilfe ckelte zum Beispiel Umberto Eco ein semiotisches von Diagrammen Landschaft zu beschreiben und Analysemodell für Architektur (1972), wobei zwar zu objektivieren. Diese Methode ist beispielsweise keine transatlantischen Wechselwirkungen festge- im Nooksack River Plan sowie in Design as Eco- stellt werden können, zumindest aber die Aktua- 46 Christina Katharina May lität der Semiotik als Analysemethode gebauter und als Wanderer selbst Teil der Landschaft wer- Räume. Auch die Diagramme entsprechen dabei den. Jones geht damit von einem sich bewegenden den zeitgenössischen Vorlieben. Betrachter aus, für den naturwissenschaftliche wie Nach Grant Jones Schriften Design as Ecogram ästhetische Wahrnehmung einander bedingen. Die und Noocksack River Plan besitzen ästhetische Kri- Praxis, sich in die Landschaft hineinzubegeben ist terien eine besonders hohe Wertigkeit, da Ästhe- selbstverständlich ebenfalls nicht neu. Wandern tik aus Funktionen ökosystemischer Beziehungen als Mittel, eine Landschaft detailliert und syn- hervorgeht. Die Landschaft müsse gesund sein, ästhetisch zu erfassen, ist bereits bei den alten um ästhetisch relevant zu sein, die Integrität einer Heroen der Umweltbewegung wie Henri David Landschaft mache die Qualität der Landschaftser- Thoreau in Walking zentrales Thema (vgl. 1862: fahrung aus. Dies könne der wissenschaftlich wie o.S.) Daneben existieren selbstverständlich auch ästhetisch vorgebildete Betrachter analysieren. Die in der europäischen Landschaftsgarten Parallelen, subjektive Wahrnehmung spezifischer Elemente so mache beispielsweise der Garten und seine auf einer Landschaft erhält über das Diagramm den die Spaziergänger ausgerichtete Dramaturgie die Anspruch einer wissenschaftlichen Untersuchung Natur erst wahrnehmbar (vgl. Buttlar 1989: 14ff.). und einer Verallgemeinerung der Landschaftser- Zusammenfassend ist für die Zoolandschaft fahrung, die einerseits auf einer naturwissenschaft- wichtig, dass sich mittels des semiotischen Ana- lichen und andererseits einer phänomenologischen lysemodells die ökosystemischen Informationen Beschreibung fundiert. Die Analyse der Landschaft strukturieren und damit auch als Landschaftsar- berücksichtigt gleichermaßen naturwissenschaftli- chitektur umsetzen lassen. Landschaftsästhetik, che wie auch kulturelle und ästhetische Kriterien gleichgesetzt mit Wahrnehmungsqualität, sei um ihre Qualität zu beurteilen. Neben Diversität dabei immer an intrinsische, systemisch bedingte und Intaktheit von Ökosystemen tragen szenische Formen gebunden (vgl. Jones 1975: 7). Für den Ansichten oder auch historisch relevante Orte zur Entwurf werden die Landschaften mithilfe von Qualität der Landschaft bei. Ihre Integrität mache verschriftlichten Beschreibungen, fotografischem sich für die unwissenden Rezipienten in Form der Material und Diagrammen festgehalten. Die Über- Ausdrucksqualität der Landschaft bemerkbar, was tragung einer Landschaft in den Zoo gelingt daher meint, dass Landschaft eine spezifische Qualität nur, wenn die Masse an Daten mit der phänome- habe, die auf den Betrachter einwirkt, eine Aktion nologisch gewonnenen Erfahrung des Planers ver- von ihm fordert und Stimmungen erzeugt: bunden werden, um die vielschichtigen Dimensi- Regardless of taste, preference, habit, changing cultur- onen zu strukturieren und lesbar zu machen. Die al milieu, or more importantly, regardless of individual Objektivierung des Sehens und weiterer Sinnes- perception or operational intelligence, the landscape wahrnehmungen mittels der Diagramme sugge- has an intrinsic aesthetic quality modulated by the en- riert, dass durch die Übertragung der typischen ergy of its expression. Thus, beauty really is «in the eye Merkmale auf eine Zoolandschaft eine Einfühlung of the beholder,» but as a function of the observer’s in die durch die Zoolandschaft repräsentierte Land- receptivity, conditioned by the limitations of individual schaft möglich sei. Die Sorgfalt bei der Gesamt- perceptual apparatus. We are reminded that poor read- planung ermöglicht demnach erst die Gestaltung ers are poor translators. (Jones 1975: 5) einzelner Gehege. Über eine rein visuelle Wahrneh- mung eines Landschaftsbildes wird mit der Anlage Trotz der zu sammelnden Datenmengen ist die eines immersiven Landschaftraumes hinausgegan- visuelle Qualität einer Landschaft auch bei Jones gen. Die Aufmerksamkeit wird damit nicht mehr das wichtigste Kriterium der Landschaftsästhetik. nur auf die Anwesenheit des Tieres inmitten einer Doch werde, im Unterschied zu einer pittoresken, pittoresken Szene gerichtet, sondern auf die Bewe- distanzierten Landschaftswahrnehmung, Land- gung des Tieres im Raum sowie auf Geräusche und schaft nicht bildhaft wahrgenommen, sondern Gerüche. Vom Publikum können diese zeitlich und mithilfe einer komplexen Inventarisierung sollten räumlich dramatisierten Phänomene nur mittels auch die Qualitäten der Landschaft als Raum Bewegung durch den Raum wahrgenommen wer- beachtet werden. Um somit Landschaft nicht nur den. Anhand des Beispiels der Gorillaanlage wird als Bildoberfläche zu rezipieren und die, laut Jones, dieser Prozess nachfolgend erläutert. intrinsische Essenz der Landschaft wahrzunehmen, muss sich der Beobachter in sie hinein begeben Landscape Habitat Immersion 47 Landscape Immersion im druck entstehen, nicht mehr dominante Voyeure Woodland Park Zoo zu sein, sondern geduldete Besucher im Habitat der Wildtiere. Die wild erscheinende, für die Stadt- Landscape Habitat Immersion umfasst sowohl die bewohner unbekannte Umwelt schärfe die Wahr- räumliche Transposition von repräsentativen Zei- nehmung, da durch die unsichere Grenzsetzung chen des ursprünglichen, artspezifischen Habitats das Tier zu einer potentiellen Bedrohung werden an den Standort des Zoos, als auch eine zumindest könnte. Diese existentielle Verunsicherung stelle partiell geteilte Repräsentation dieser Elemente für eine emotionale Beziehung des Betrachters zum Tier und Betrachter trotz ihrer unterschiedlichen Tier her, die durch Respekt und Interesse geprägt kognitiven Fähigkeiten. Schließlich sollen die Besu- sei (vgl. Jones & Jones 1976: 41–47; Coe 1985). cher emotional die physisch notwendige Absper- rung zum Gehege der Wildtiere überschreiten. Für die Realisierung eines Geheges bedeutet Gorillas im Woodland Park Zoo dies, dass der naturwissenschaftlich analysierte Raum des Tieres, der topologische aus Beziehun- gen und Bewegungen resultierende Raum, mit der primär ästhetisch orientierten Rezeption des menschlichen Besuchers zusammengeführt wird. Das Problem moderner Zooarchitektur war, dass zwar unter verhaltensbiologischen Gesichtspunk- ten ein Tierterritorium mittels moderner, abstra- hierter Architektur in den Zoo übersetzt werden konnte (vgl. Hediger 1965: 27). Diese Abstraktion entsprach aber nicht den meist bildmedial gepräg- ten Vorstellungen der Betrachter. In den immer- siven Gehegen des Woodland Park Zoos wurden ab den 1970er Jahren daher die topologischen Eigenschaften des Gestaltungselemente für die Tiere und der ästhetischen für die Betrachter mit- einander kombiniert. Die Rezeption des Geheges als dioramatischer Bildraum sollte zugunsten der Rezeption interagierender Lebewesen in ihrem öko- logischen Kontext entgrenzt werden. Insbesondere für die Landschaftsarchitektur und -planung mit holistischem Ansatz ist die Ver- à 4 Gorilla Exhibit, Woodland Park Zoo, Seattle bindung ökologisch funktionaler und ästhetischer (© Christina May 2011) Elemente untrennbar. Mithilfe eines semiotischen Programms erfolgte die Übersetzung und gezielte Trotz der Versuche, räumliche Eigenschaften der Konstruktion der Atmosphäre als ganzheitlich ori- Zoogehege zu betonen, spielten immer noch zwei- entierte Szenografie des Zoogeheges. Die Techni- dimensionale Bilder eine tragende Rolle: Fotogra- ken der Zooplaner zur Erzeugung immersiver Park- fien des Feldforschers George Schaller dienten räume umfassten eine kalkulierte Dramaturgie beispielsweise als Vorbilder für einzelne Land- der Weg- und Blickführung auf der Grundlage von schaftsszenen des Woodland Park Zoos (vgl. Jones Umweltpsychologie sowie die ortsspezifische Über- & Jones 1976: 5). Dennoch sollten die realisierten setzung der Landschaftsphysiognomie und der ent- Anlagen keine dreidimensionale Umsetzung von sprechenden Vegetations- und Bodenformen der Fotografien sein. Für die Planung der 1979 eröff- imitierten Landschaft. Mittels detaillierter Analy- neten Gorilla-Anlage wurde George Schaller selbst sen der Herkunftsregionen der ausgestellten Tiere, beratend hinzugezogen und nach seinen in situ ihrer Übertragung in den Zoo und der Lenkung Erfahrungen befragt, ebenso wie die Primatolo- des Publikums durch einen komplexen und mit ginnen Jane Goodall und Dian Fossey (vgl. Greene bislang unbekannten Elementen ausgestatteten 1985: 1; Coe & Maple 1987: 630). Beobachtun- Landschaftsraum sollte für die Rezipienten der Ein- gen aus der Feldforschung wurden somit in eine 48 Christina Katharina May à 5 Gorilla Exhibit, Entwurfszeichnung Querschnitt (© Jones & Jones 1976) Zooplanung integriert und Beschreibungen der ist es in einem Unterstand möglich, über Gesten Forscherinnen von Waldlichtungen von Rio Muni und Blicke Kontakt mit den Tieren durch eine Glas- im westlichen Afrika wurden für das Entwurfskon- scheibe aufzunehmen, insofern sich die Tiere im zept der Gorillanlage genutzt. Die künstliche Ver- Unterstand aufhalten, wie es in der Skizze in Abbil- sion des Habitats sollte sowohl dem Verhalten der dung 5 vorgesehen ist. Dieser Aufenthaltsort wird Westlichen Flachlandgorillas entsprechen, als auch daher zusätzlich mit beheizten Kunstfelsen für die den Besuchern einen möglichst realistischen Ein- Gorillas attraktiv ausgestattet. Die Unterstände druck des ursprünglichen Habitats vermitteln. Das lenken den Blick der Besucher, und die Betrach- Besondere der neuen Außenanlage der Gorillas terposition wurde prinzipiell immer unterhalb des war, dass sie mit lebenden Pflanzen ausgestattet Bodenniveaus des Gorillageheges angelegt, wie wurde, die von den Tieren genutzt, also beispiels- in Abbildung 5 deutlich wird. Durch die verschie- weise beklettert und gefressen werden konnten. denen Höhenpositionen soll eine Dominanz der Um die Sichtbarkeit der Gorillas zu gewährleisten, menschlichen Betrachter über die Tiere verhindert wurden für Gorillas interessante Wahrnehmungs- werden. phänomene wie Heizsteine, ein Wasserfall, Stroh, Eine Überlagerung der Umwelt von Tieren und Sitzflächen und Kletterbäume mit den Blickachsen Besucher wird somit möglich, weil erstens die der Besucher in Beziehung gesetzt. Das funktional Materialien und Formen für beide Zielgruppen notwendige Tierhaus, ursprünglich für die Bären- des Designs eine sinnvolle Bedeutung besitzen haltung errichtet, wurde hingegen durch Vegeta- und zweitens das Verhalten der Gorillas mit den tion und Kunstfelsen visuell vom Besucherweg Bewegungen und Blickachsen der menschlichen abgeschirmt (vgl. Greene 1987: 64–67). Betrachter möglichst abgestimmt werden. Mit dem Die Führung des Besucherwegs sah eine schritt- Versuch, Besucherwege und Aussichtspunkte mit weise Annäherung der Besucher an die Gorillas einer ähnlichen Bepflanzung und Geländemodel- und ihr als Waldlichtung gestaltetes Gehege vor. lation wie die Tiergehege auszustatten, sollte die Diese prozessuale, zunächst fragmentarische Wahr- Grenze zwischen den physisch getrennten Räu- nehmung der Gorillas durch verschiedene Beob- men aufgehoben und dem Publikum dadurch das achtungspunkte ist trotz baulicher Veränderungen Gefühl vermittelt werden, sich in der Wildnis zu auch heute noch nachvollziehbar: Zunächst ist das befinden: Gehege nicht sichtbar, sondern ein langgezogener Weg führt in die Vegetation und Geomorphologie It is intended that, by exhibiting animals in settings ein, die im Besucherraum und im Gehege iden- which closely resemble their natural habitat in every tisch sind. Der nächste Ausblick lenkt den Blick ins possible detail, and by immersing the viewers within Gehege mit kletternden Gorillas, es folgen Beob- that same wild habitat – thereby affecting all their achtungen aus der Distanz, die eine längere Zeit- senses – that both people and animals will come to spanne erfordern, um die Gorillas im verwinkelten recognize the enriched opportunities of a wild and und bepflanzten Gehege zu entdecken. Schließlich natural environment. (Hancocks 1979: 18) Landscape Habitat Immersion 49 Das Gehege zielt demnach nicht nur darauf ab, der USA wurden auch weitere empirische Studien sich auf informelle Weise sich Wissen über be- vorgenommen und umweltpsychologische Theo- stimmte Tierarten anzueignen. Darüber hinaus soll rien aufgestellt, die eine anthropologische Kon- die die gestaltete Landschaft für die Besucher als stante für das Verhalten des Menschen in seiner generelle Wahrnehmungsschule dienen: Psycholo- Umwelt suchten. Teils basieren diese Studien auf gisch kalkulierte Maßnahmen sollen dabei nicht Forschungen zum Tierverhalten, wie etwa James nur bei den Tieren ein bestimmtes Verhalten auslö- Appletons Prospect-Refuge Theory, die auf Beob- sen, sondern auch bei den Besuchern (vgl. Jones & achtungen von Konrad Lorenz aufbaut. Nach Jones 1976: 44ff.; Coe 1985: 199). Abhängig von Appleton bestimmten die Blickbeziehungen mas- der gewünschten Botschaft werden sämtliche Ele- siv das Verhalten und Wohlbefinden, da Menschen mente der Landschaft bewusst gewählt: wie Tiere ihre Umwelt immer als potentielle Beute beziehungsweise als Jäger erführen (vgl. Appleton All the landscape elements must be responsive to the 1975: 70–73). following central criteria: […] 6. Appropiate to the edu- Die Gehegegestaltung besitzt jedoch nicht cational or behavioral response intended (i.e., creates nur Parallelen und Vorbilder in ethologischen For- the required psychological response, historical refer- schungen, sondern weist ebenso enge Verbindun- ence or informational association.) gen zu musealer Szenografie auf. (Jones & Jones 1976: 51) Jon Coe, zunächst als Landschaftsarchitekt bei Dioramatische Biotope Jones & Jones beschäftigt und schließlich Grün- Mit einem ähnlichen Konzept zur Besucheraktivie- der von CLR Design in Philadelphia, beschreibt rung wurden im New Yorker Bronx Zoo architektoni- die emotionalisierenden Wirkungseffekte der sche Großprojekte realisiert, in deren Innenräumen Immersionslandschaft, die das Besucherverhal- Habitate simuliert wurden. Die World of Birds des ten manipulieren: Zum einen würden über uner- Architekten Morris Ketchum von 1971–72 wurde wartete Blickbeziehungen und unterschiedlichen zum Beispiel als Gebäude aus mehreren zylindri- Höhendispositionen die Beziehungen zu den Tie- schen und elliptischen Baukörpern geplant, da die ren inszeniert. Den höher platzierten Tieren werde Rundungen der Wände den Flugbewegungen der mehr Respekt entgegengebracht, da sie die Blick- Vögel mehr entsprechen als rechtwinklige Räume situation dominierten. Zum anderen erzeugten (vgl. Iadarola 1985: 94). William Conway, damali- die Immersionsgehege durch ihre Komplexität ein ger Direktor des Zoos, formulierte Vermittlungskon- Unbehagen, das Unvertraute verunsichere, und zepte, die auf die Wahrnehmung der Besucher aus- die Besucher fühlten eine Gänsehaut. Da die Auf- gerichtet waren und Tiere im Zusammenhang ihrer nahmefähigkeit der Besucher überschritten werde, Umgebung zeigen sollten (vgl. Conway 1969). Beschilderungen als kulturelle Zeichen fehlten und Heute ist das Vogelhaus World of Birds zwar die Gehege identisch zum Besucherraum erschie- renoviert, doch das ursprüngliche Konzept nach- nen, vergäßen die Besucher für einen Moment, vollziehbar. Motivisch werden die Vögel gemein- im Zoo zu sein. Sie könnten etwa überraschend sam mit Pflanzen gezeigt und das ursprüngliche auf einen Löwen treffen. Dieser überwältigende Habitat der jeweiligen Vogelarten nachzubilden Moment des Erschreckens präge sich nachhaltig versucht. Die eckenlosen Hintergründe der Gehege ein. Im Zoo werde das Publikum also in eine Situ- sind mit Landschaftsmotiven bemalt. Die Volieren ation versetzt, in der es zum einen die Zeit hat, im Inneren des Hauses werden durch Oberlichter sich mit Landschaftswahrnehmung zu befassen, beleuchtet, so dass über den starken Helligkeits- zum anderen durch die Rauminszenierungen und kontrast zum unbeleuchteten Besucherraum eine Momente der Verunsicherung gezielt auf eine auf- eindeutige Abgrenzung zwischen Tier und Betrach- merksamere Beobachtung der Umwelt durch das ter entsteht. Unterstützt durch die architektonische Design aufgefordert werde (vgl. Coe 1985). Rahmung erscheinen die einzelnen Volieren wie Ihren Hintergrund besitzen die Annahmen in dioramatische Bildräume. Die Blickdisposition der umweltpsychologischen Studien, die seit Ende der Gehege erinnert an die Dioramen der Naturkun- 1960er Jahre entwickelt wurden. Neben den bereits demuseen, zum Beispiel den bekannten Dioramen erwähnten Untersuchungen zur Landschaftswahr- Carl Akeleys im New Yorker American Museum of nehmung im Rahmen der Verschönerungsaktionen Natural History, in denen eine eindeutige räumli- 50 Christina Katharina May à 6 World of Birds, Wildlife Conservation Society, New York (© Christina May 2011) che Trennung zwischen dem erleuchteten Gehege Inszenierung. Der Congo Gorilla Forest wurde von und dem verdunkelten Betrachterraum vorgesehen einer internen Abteilung, dem Exhibit and Graphic ist. In der World of Birds werden die diorama-arti- Arts Department der Wildlife Conservation Society gen Schaugehege schließlich mit reich bepflanz- geplant und 1999 eröffnet. Nachdem die Besucher ten, zylindrischen Freiflugvolieren unterbrochen, an Okapis und Pinselohrschweinen vorbei durch die für die Besucher über Balkone zugänglich sind. ein immersives Gehege geleitet werden, gelangen Doch auch die Szenografie des American sie in einen Kinosaal. Hier wird zunächst der Film Museum of Natural History wurde einem Wan- Saving Africa’s Forests (Susan Todd & Andrew del unterzogen. Statt der eindeutigen Trennung Young, USA 1999) gezeigt, in dem aus der Perspek- zwischen dem Betrachter- und dem Bildraum des tive zweier Feldforscher die Begegnung mit Goril- Dioramas wurde mit Ausstellungen wie Can Man las erzählt wird. Im Anschluss an den Film wird das Survive? von 1969 die Distanz aufgehoben und Publikum mit den tatsächlich physisch anwesen- mittels multimedialer Installationen die Besucher den Gorillas konfrontiert. Die Leinwand fährt hoch nicht mehr nur visuell, sondern über Soundeffekte und gibt den Blick auf eine Panoramascheibe in und Gerüche möglichst synästhetisch adressiert die Gorilla-Außenanlage frei. Bepflanzung, Gelän- (vgl. Griffiths 2008: 256f.). Die immersive Einbin- demodellation und Lichtführung erinnern an die dung der Besucher und die mit ihr verbundene, Waldlichtungen, die die Forscher im Film aufsuch- emotionalisierende Wirkungsästhetik besaßen ten. Die Besucher können sich somit mit der Rolle damit eindeutig zeitgenössische Parallelen im Aus- der Feldforscher identifizieren und selbst Gorillas in stellungsdesign der Museen. Diese szenografische einer komplex gestalteten Landschaft beobachten. Zusammenführung von Gehege und Besucher- Filmische Strategien, den Betrachter zu emotionali- raum wurde im Bronx Zoo schließlich 1984 mit der sieren, werden hier direkt mit der Landschaftswahr- Jungle World umgesetzt. nehmung überlagert. Damit erfolgt ein weiterer Die Beziehung zwischen Zoogehege und zwei- Medientransfer. Die Übersetzung von Bildmedien dimensionalem filmischen Bild wird schließlich sowie den subjektiven Erinnerungsbildern der Pla- in der Gorillaanlage des Congo Gorilla Forest im ner in ein dreidimensionales Tiergehege wird mit New Yorker Bronx Zoo zum zentralen Effekt der dem Film ein weiteres Mal gedoppelt. Landscape Habitat Immersion 51 Á 7 Congo Gorilla Forest, Wildlife Conservation Society, New York (© Christina May 2011) Schluss die im Unterschied zu virtuellen Räumen, wie sie Oliver Grau beschreibe, Platz für Lebewesen bie- Im Zusammenhang mit Untersuchungen über ten müssen (vgl. 2003; Ames 2009: 142). Jedoch Zoos als Kunstwelten und naheliegende Verglei- wird in Hagenbecks realisiertem Panorama die che zu Themenparks und Szenografie hat sich in Umwelt der Tiere kaum berücksichtigt, sondern der historischen oder kulturwissenschaftlichen vielmehr ein imaginäres Bühnenbild innerhalb Diskussion der Begriff Immersion in Bezug auf eines konventionellen Landschaftsgartens umge- den Zoo etabliert. Im Anschluss an die Benennung setzt, dessen Blickdispositionen als gerahmtes Sze- von Gehegen der 1970er Jahre als immersiv, wird nenbild einer Guckkastenbühne ähneln. Die enge der Begriff häufig retrospektiv angewendet, wobei Verknüpfung von Raum und Bild für die Entwürfe eine Vermischung heterogener Schauanordnungen von Zoogehegen macht, wie auch Ames Beispiel zu beobachten ist. Die gitterlosen Abgrenzungen zeigt, die Immersion im Zoo anschlussfähig für den von Raubtieren oder Primaten mit Gräben, die im medienwissenschaftlichen Diskurs. Woodland Park Zoo zum Einsatz kommen, besit- Immersion in Bezug auf Zoo meint daher einen zen eine lange Tradition und wurden bereits 1907 Entrahmungsprozess der mit einer prä-kognitiven mit den sogenannten Panoramen in Hagenbeck’s Unsicherheit der Rezipienten arbeitet. Nur durch Tierpark etabliert. Hagenbeck’s Tierpark in der die Inszenierung des Tiers als Akteur und nicht als Nähe von Hamburg propagierte auch die Entwick- bloßes Objekt innerhalb der Beobachtungskons- lung naturimitativer Zoolandschaften. Eric Ames tellation kann dies gelingen, da das Wildtier als beschreibt Hagenbecks zu Panoramen arrangierte Beobachter akzeptiert werden muss, wodurch die Gehege als immersiv und betont besonders die Besucher zur potentiellen Beute werden. An einem Wechselwirkung zwischen Landschaftsarchitek- überfüllten sonnigen Sonntag, wenn einige hun- tur und Kulissenbau mit den Fotografien und dert Familien mit dem Bollerwagen durch den Zoo Filmen, die parallel zu den lebenden Tiere und spazieren, funktioniert diese gewünschte Rezepti- Völkerschauen im Park präsentiert wurden. Dem- onsästhetik in keiner Weise. Zudem ist die Einrich- nach schienen sich die Betrachter durch eine tung Zoo auf die Unterhaltung eines Massenpubli- phantastische, in sich aber kohärente Welt aus kums ausgelegt, weshalb selbstverständlich weder verschiedenen Bildern zu bewegen, die durch die die Medienwechsel noch die naturwissenschaftli- Dramaturgie des Landschaftsgartens miteinan- chen Studien der zoospezifischen Landschaftsäs- der verknüpft wurden. Immersion meint an dieser thetik von den Besuchern reflektiert werden. Eine Stelle die räumliche Umsetzung und dramaturgi- Reflexion durch die Besucher ist auch nur selten sche Verknüpfung von verräumlichten Bildmedien, erwünscht, da die Illusion der Immersionsland- 52 Christina Katharina May schaft nicht durchbrochen werden soll. Doch genau Hancocks, David (1979) Woodland Park Zoological Gar- diese unsichtbare umweltpsychologische Manipu- dens. Seventy-Fifth Anniversary 1904–1979. Seattle: lation und die ökosystemisch wie ästhetische Kom- Zoo Foundation of Woodland Park Zoological Gardens plexität des Designs, die das Wahrnehmungsver- – (1971) Animals and Architecture. New York mögen des Publikums weit überschreiten, sind die Hanson, Elizabeth (2002) Animal Attractions: Nature Konstruktionsmittel einer produktionsästhetisch on Display in American Zoos. Princeton: Princeton detailliert kalkulierten Atmosphäre. University Hediger, Heini (1965) Mensch und Tier im Zoo. Zürich/ Stuttgart/Wien: Müller Hyson, Jeffrey (1999) Urban Jungles. 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Seattle [28.02.2013] 54 Christina Katharina May stIMMung, atMosphärE, präsEnz WirKungsästhetische begriFFe Zur analyse der architeKtur von Peter Zumthor Regine Heß Zusammenfassung/Abstract in ästhetischer theorie sowie Kunst- und literaturwissenschaft sind die begriffe stim- mung, atmosphäre und Präsenz in jüngster Zeit verstärkt diskutiert worden. dabei wird neben der rezeptionsästhetischen Perspektive auch eine produktionsästheti- sche eingenommen, von der aus vor allem an beispielen aus der malerei stimmung und atmosphäre als ästhetische Kategorien der analyse erarbeitet werden. in dem aufsatz werden diese ergebnisse zum Zweck der anwendung auf zeitgenössische architektur diskutiert und erweitert. denn sie gehen mit ästhetischen und methodi- schen Überlegungen zusammen, die heute bei einem architekten wie Peter Zumthor einen schwerpunkt seines denkens bilden. dies wird zunächst anhand seiner texte dargelegt. an seinem museum Kolumba in Köln (2007) erfahren dann die begriffe stimmung, atmosphäre und Präsenz als produktionsästhetische analysekriterien ihre anwendung. es wird gezeigt, dass baukörper, grundrisse, materialien und beleuch- tung sich mit diesen begriffen analysieren lassen. Ziel des aufsatzes ist es dazu bei- zutragen, die Wirkung von architektur zu versprachlichen. In esthetical theory as well as art and literary studies, the discussion of the terms mood, atmosphere, and presence has gained significance recently. Here two main approaches can be identified, namely the esthetics of reception and the esthetics of production. From these viewpoints, mood and atmosphere as esthetical categories are mostly developed at examples from the realm of painting. The article discusses the range of results from this discussion to deploy them on contemporary architec- ture and link them together with considerations of the architect Peter Zumthor. First of all, this connection shall be demonstrated by Zumthoŕ s theoretical texts. Then the terms mood, atmosphere, and presence are applied to his museum Kolumba at Cologne (2007). Finally, this article wants to show that the building, the groundplans, the materials, and the lightning, and their effects on the beholder can be analyzed by applying these terms. It aims to contribute to the discourse on the impact of contemporary architecture. Stimmung, Atmosphäre, Präsenz 55 Konersmann & Noever 2006: 58–75) ein entschei- dendes Bestimmungsmittel für sein ästhetisches Verständnis dar. In der Architekturkritik wiederum sind mit dem Prädikat Stimmung haben oder Atmo- sphäre besitzen viele seiner Gebäude ausgezeich- net worden (vgl. Sewing 1999: 18–19). Außerdem haben Andere hier bereits substantielle Vorarbeiten geleistet, auf die man aufbauen kann: Bekanntlich ist der Philosoph Gernot Böhme der prominenteste deutschsprachige Bearbeiter einer Ontologie der Atmosphäre (vgl. 1995). 2006 hat er seine Betrach- tungen auf Architektur übertragen und sich bei den Architektenbeispielen wiederholt auf Zumthors Äußerungen, nicht aber konkret auf seine Bauten, bezogen (vgl. Böhme 2006: 86f., 111ff.). Diese Bezüge vertiefend sollen sie weiter unten um den Aspekt der Anwendbarkeit des Atmosphärenbe- griffs auf die Architekturanalyse erweitert werden. Die Wendung «Materialien treten in Erscheinung» (Böhme 2006: 158) verweist auf ein drittes Phä- nomen, dass im Zusammenhang mit räumlicher Immersion und Zumthors Architektur wichtig ist: das der Präsenz. Präsenz beschreibt einen Zustand à 1 Diözesenmuseum Kolumba in Köln (© Regine Heß des Objekts, der ebenso wie die Atmosphäre als 2007) Wahrnehmungskonstruktion durch die Beschauen- den zu beschreiben ist. Aber anders als Atmosphäre In meiner kürzlich erschienenen Dissertation kann man dem Ding oder dem Material Präsenz habe ich den Versuch unternommen, die Begriffe als seine ausschließliche Eigenschaft zusprechen. Stimmung, Atmosphäre und Präsenz zur Analyse Der Begriff kommt ebenfalls aus der aktuellen Dis- der Architektur von Peter Zumthor zu gebrauchen kussion über Rezeptions- und Wirkungsästhetik in (vgl. Heß 2013: 119–148). Dem Konzept der Arbeit Kunst und Literatur und ist von dem Literaturwis- folgend, wurde jeweils erst eine Herleitung des senschaftler Hans Ulrich Gumbrecht als Erfahrungs- Terminus unternommen und dieser dann auf ein begriff entfaltet worden ([2004] 2009). Auch aus Architekturbeispiel angewandt – hier waren es die seinen Überlegungen lassen sich Schlüsse bezüg- Kapelle Sogn Benedetg in Sumvigt/Graubünden lich Zumthors Schaffen ziehen. (1988) und das Kunsthaus Bregenz (1997) gewe- Doch kommen wir zuerst zum Terminus der sen. Um meine Überlegungen in den Kontext des Stimmung. In der Beziehung von Subjekt, Objekt vorliegenden Jahrbuchs einzubringen, habe ich die und Umgebung, in der ich Architektur verorten Ergebnisse der Begriffsanalyse zusammengefasst möchte, ist er derjenige Begriff, der am stärksten und an einem anderen Bau von Zumthor diskutiert, auf das Subjekt bezogen ist. In Kunstgeschichte dem 2007 eröffneten Museum Kolumba in Köln und ästhetischer Theorie ist der Stimmungsbegriff (Abb. 1). Es birgt die Erzbischöfliche Sammlung vor allem zur Beschreibung von Malerei und Musik der Diözese Köln, die aus bedeutenden Stücken anzutreffen (vgl. Thomas 2010a). Der zeitliche rheinischer Kirchenkunst sowie Werken moderner Fokus liegt dabei auf dem 19. Jahrhundert. Die und zeitgenössischer Kunst besteht. Kunsthistorikerin Kerstin Thomas hat zur Malerei von Pierre Puvis de Chavannes, Georges Seurat Warum erscheint die Architektur Zumthors für die und Paul Gauguin gearbeitet. Sie hat vorgeschla- Anwendung dieser Begriffe sinnvoll? Zunächst weil gen, sowohl den Stimmungsbegriff als ästhetische der Architekt diese Begriffe selbst gebraucht. Stim- Kategorie zu nutzen als auch die Entwicklung mung, Atmosphäre und Präsenz stellen in Zumthors einer Strategie zur Stimmungserzeugung bei die- Schriften wie Architektur denken (1998), Atmosphä- sen Künstlern nachzuzeichnen (vgl. 2010b: 10). ren (2004) oder Zwischen Bild und Realität (vgl. Sie entwickelt also einen Terminus, weil er ihr als 56 Regine Heß geeignet erscheint, die wesentlichen Produktions- nition nach nicht intentional sind, also nicht auf elemente der Ästhetik von Puvis de Chavannes, bestimmte Personen, Situationen oder Sachver- Seurat und Gauguin und ihre Wirkung auf die halte gerichtet sind, wie etwa die Wut oder die Betrachtenden zu analysieren. Denn es vereint die Liebe» (2010b: 11). Die Qualität der subjektiven drei Maler nicht nur eine formale Ähnlichkeit ihrer Nichtintentionalität scheint den Begriff für die Wir- Werke zwischen 1880 und 1900, sondern auch ihre kungsanalyse von Architektur geeignet zu machen, Absicht zur Erzeugung einer Stimmung, so Thomas kann jene Nichtintentionalität doch mit der Nicht- (vgl. ebd.). Im gleichen Zeitraum wie die französi- humanität des gebauten Raums zusammengehen, schen Künstler stellte auch Heinrich Wölfflin vor also mit seinem tektonischen anstatt figürlichen dem Hintergrund der deutschen Einfühlungsästhe- Inhalt. Und weiter Thomas: «Dennoch sind sie [die tik seine architekturpsychologischen Versuche an, Stimmungen] total, sie füllen die empfindende Per- allerdings ohne das Konzept der Stimmung allzu son gänzlich aus und bestimmen sowohl ihr Selbst- sehr zu nutzen – so erklärte der Schweizer Kunst- als auch ihr Weltverständnis, weshalb sie auch als historiker die «großen Daseinsverhältnisse, die Befindlichkeit bezeichnet werden» (2010b: 11). Stimmungen, die einen gleichmäßig andauernden Thomas stellt weiter fest, dass der «Charakter der Zustand des Körpers voraussetzen» (Wölfflin 1886: Totalität des Gefühlszustands im Ich- und Weltbe- 10) zum Ausdruck der Architektur, ohne das jedoch zug, der die Stimmungen auszeichnet, [...] dazu weiter auszuführen (vgl. Heß 2013: 21–27, 83–95). geführt [hat], von einer ‹Färbung› zu sprechen» (2010b: 11). Damit spricht sie das unthematische 1. Begriffe «Phänomen des Hintergrundcharakters von Stim- mungen» (2010b: 11) an, das von der Metapher 1. 1 Stimmung der Färbung begrifflich erfasst werde. An ihrer Fest- stellung ist für die Architekturanalyse wichtig, dass Ausgehend von der Begriffsausarbeitung durch Stimmungen kein Thema besitzen. Das bedeutet, Thomas für die Malerei des Postimpressionismus dass die im Vergleich zur Malerei nicht von einem konnten für die Architektur des 20. Jahrhunderts illusionistischen Motiv abhängige Wirkungsästhe- trotz des Zeit- und Medientransfers einige ihrer theo- tik der (abstrakten) Architektur in der Stimmung retischen Elemente fruchtbar gemacht werden (vgl. eine entsprechende Ausdruckskategorie finden Heß 2013: 130–148). «Die Ästhetik der Stimmung», könnte. Auch die längere und meist unbewusst so legt Thomas nahe, «wird [...] als künstlerisches verlebte zeitliche Dauer, die man in der Regel vor Mittel verstanden, Elemente der empirischen Wirk- oder im Gebäude verbringt, spricht dafür. Aller- lichkeitserfahrung in einer emotionalen Gesamt- dings gibt es durchaus Architekturen, die in einer tönung aufgehen zu lassen und in dieser Syn- Weise erlebbar sind, die thematisch genannt wer- these einen tieferen Wirklichkeitsbezug [im Werk] den kann. Ihr Ausdruckspotential liegt dann aber zum Ausdruck zu bringen, ein Weltverständnis» nicht unbedingt in der Evokation einer Stimmung, (2010b: 10f.). Von Zumthor wiederum, der häufig sondern in der bewussten Auseinandersetzung von Stimmungen spricht, wird der Begriff mit sub- mit einem avisierten Inhalt. Es scheint daher, dass jektiver Erinnerung, ästhetischer Anschauung und noch ein anderes Hauptmerkmal von Stimmung, architektonischer Praxis verknüpft: «Erinnerungen das Thomas identifiziert hat, auf Architektur ohne dieser Art [an Wahrnehmungserfahrungen in der Thema zutrifft: Uneindeutigkeit. Wie aber stellt Kindheit] beinhalten die am tiefsten gegründeten sich Uneindeutigkeit in der Architektur dar, ohne Architekturerfahrungen, die ich kenne. Sie bilden als negative Qualität oder als Langeweile erlebt den Grundstock von architektonischen Stimmungen zu werden? Und wo bleibt dann die Thematisie- und Bildern, den ich in meiner Arbeit als Architekt rung der Funktion von Architektur? Diese Fragen auszuloten versuche» (2006: 7). An beiden Zitaten möchte ich mittels der Analyse des Museums wird das Besondere der Stimmung deutlich, nämlich Kolumba im zweiten Teil diskutieren. zwischen Objektausstrahlung und Subjektprägung Ein weiteres Argument für die Übernahme des eine Verbindung im Sinne einer Färbung zu sein. Stimmungsbegriffs aus der Schwesterngattung Thomas hat den Begriff Stimmung auf Seiten Malerei in die Architektur (die Gattungsgrenzen des Subjekts folgendermaßen definiert: «Stimmun- waren im 19. Jahrhundert wesentlich niedriger gen bezeichnen emotionale Zuständlichkeiten als heute) möchte ich weiter ausgehend von mit einem offenen Weltbezug, da sie ihrer Defi- Thomas stark machen. Auch die Herkunft des Stimmung, Atmosphäre, Präsenz 57 à 2 Ausstellungsraum im 2. OG (© Regine Heß 2007) Stimmungsbegriffs aus der Landschaftsmalerei, entwickelt von dem deutschen Philosophen Fried- rich Vischer, kann seine Anwendung in der Archi- tekturanalyse legitimieren: Die Stimmung einer Landschaft zu beschreiben und zu analysieren, ist eine für das Verständnis der Landschaftsma- lerei gängige Methode (vgl. Heß 2013: 57–66), à 3 Museum Kolumba, Filtermauerwerk zum Beispiel mit dem häufig gebrauchten Wort (© Hélène Binet 2007) von der «Wetterstimmung». Das könnte auch für Architektur bedeutsam sein, wenn sie landschaft- demnach in der Lage sind, den Raum zu beleben lichen, kosmischen und metereologischen Einflüs- und die in ihm herrschende Stimmung zu wandeln. sen unterliegt. Es können große Fenster sein, die Ausgehend von der Malerei stellt Thomas auch die außenliegende Landschaft so prominent in das fest, dass eine Stimmung nicht «allein die psychi- Gebäude einholen, dass deren Erscheinungsbild sche Disposition und Befindlichkeit einer Person auch das des Gebäudes prägt – Zumthor hat das [anzeigt], sondern [...] auch einen atmosphäri- durch die Inszenierung des Blickes auf den umlie- schen Zustand der Landschaft bezeichnen [kann] genden Stadtraum durch die Fenster des Museums […]» (2010b: 12). Vischer habe die Vorstellung der Kolumba eindrucksvoll gezeigt. Es sind hier genau Romantik, Landschaft als «Resonanzraum für See- besehen keine Fenster mit Rahmen, sondern wand- lenzustände» (2010b: 12) zu empfinden und künst- hohe Öffnungen, die sich aus den räumlichen Ver- lerisch zu gestalten, bestätigt. In diesem Sinne ist hältnissen ergeben und mit große Glasscheiben auch Wölfflins Vorstellung von der Architektur als von außen verblendet sind. Der Plattformcharakter Trägerin von Stimmungen zu begreifen. der mit glattem Estrich überzogenen Böden wird Stimmung (erzeugen) als ästhetisches Wirkungs- hier besonders greifbar (Abb. 2). konzept zeichnet sich demnach durch folgende Kosmische Einflüsse, das heißt vor allem Son- Qualitäten aus, die nicht nur von der Malerei, nenstände (was Dämmerung und Nacht mit ein- sondern auch von Architektur, hervorgebracht und schließt), werden von Zumthor in seinen Gebäuden vom Betrachter erlebt werden können: Stimmung durch die Verwendung transparenter und opaker in der Architektur kann als Färbung aufgefasst Materialien, Stabmauerwerk oder gläsernen werden, die räumliches Objekt und betrachtendes Decken im Innenraum erlebbar gemacht. Beson- Subjekt verbindet, also eine Synthese hervorbringt. ders eindrücklich ist ihm dies in Köln mit dem Fil- Sie prägt Objektausstrahlung und Subjektbefind- termauerwerk des großen Grabungsraums im Erd- lichkeit zugleich und nimmt den Charakter von geschoss gelungen (Abb. 3). Wetterstimmungen Totalität im Raum ein. Als emotionaler Zustand tragen zu gesteigerter Diversität der Raumerschei- mit «offenem Weltbezug» (Thomas 2010b: 11) nung bei. Diesen Naturverhältnissen ist gemein- ist Stimmung (haben) nichtintentional und korre- sam, dass sie bewegliche Elemente besitzen und liert so der Abwesenheit von human bestimmten 58 Regine Heß oder anderen ikonographischen Inhalten in einer men und Ausdehnung des Dings gäben dem Raum abstrakten Architektur, um die es Zumthor geht. wiederum Gewicht und Orientierung (vgl. Böhme Weiterhin scheint gegeben, dass Stimmung kein 1995: 33f.). Auf der Basis einer so veränderten Thema besitzt, also als wirkungsästhetische Quali- Bestimmung eines Dings ist es, Böhme zufolge, tät unbestimmt bleibt und zu einer Ausdruckskate- möglich, Atmosphäre(n) sinnvoll zu denken: Sie gorie undeterminierter Art wird. Sie ist außerdem sind Räume, sofern sie durch die Anwesenheit von eine durch äußere Meta-Einflüsse (landschaftlich, Dingen, Menschen oder Umgebungskonstellati- kosmisch und meteorologisch) modifizierbare onen «tingiert» und damit Wirklichkeit im Raum Raumerscheinung. sind (vgl. Böhme 1995: 32). Atmosphäre ist etwas, das von den Dingen ausgeht und geschaffen 1. 2 Atmosphäre wird. Damit sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Gernot Böhme hat in mehreren Abhandlungen die Eigenschaften – als «Ekstasen» gedacht – die Sphä- Frage nach Inhalt und Zustand von Atmosphäre ren ihrer Anwesenheit im Raum artikulieren (vgl. gestellt. Schon allein ihren Status zu bestimmen, Böhme 1995: 33). Sie seien keine Bestimmungen sei wegen der eigentümlichen Stellung der Atmo- des subjektiven Seelenzustandes – das sind viel- sphäre zwischen Subjekt und Objekt schwierig, da mehr die Stimmungen. Und doch gehören Atmo- er sich vor dem Hintergrund der Subjekt-Objekt- sphären nach Böhme den Subjekten an, insofern Dichotomie und der «ontologischen Ortlosigkeit» sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen im der Atmosphäre erhebe (Böhme 1995: 31). Den Raum gespürt werden. «Der leibliche Raum», den Begriff aus jener Dichotomie lösend schlägt Böhme Böhme zufolge Musik und Architektur als non-visu- vor, zunächst den Menschen als Leib anstatt mit elle Künste produzieren, «ist für den Menschen die einer Seele zu denken, in die Gefühle von außen Sphäre seiner sinnlichen Präsenz» (Böhme 2006: introjiziert werden. Wie ist mir in einer Umgebung 88). Architektur nicht als Blickkunst, sondern als zumute, soll Böhme zufolge gefragt werden, was Raumkunst «schaffe immer auch Räume einer für die Subjektseite vergleichsweise leicht erklärbar bestimmten Stimmungsqualität, als damit Atmo- sei (vgl. 1995: 15). Für die Objektseite ist dann das sphären […]» (Böhme 1995: 97). Mit Atmosphären Verständnis von Atmosphäre schwieriger, denn die gelange man in den anthropologischen Bereich klassische Dingontologie, schreibt Böhme, konzi- der Stimmungen, Gefühle und Affekte (vgl. Böhme piert den Gegenstand in seinen Bestimmungen 2006: 25) nach Farbe oder Form, und seine Eigenschaften Für Zumthors Architektur bilden Stimmung und werden ihm vom erkennenden Subjekt zugeschrie- Atmosphäre ein wichtiges Begriffspaar. Doch wie, ben. Es könne aber auch gefragt werden, auf wel- so muss man fragen, unterschieden sie sich, wo es che Art die Präsenz des Objekts im Raum wirke. doch möglich ist, von beidem ergriffen zu werden? Seine Eigenschaften werde dann nicht als etwas Ihre Bestimmung erhält schließlich nicht nur die an ihm Haftendes verstanden, sondern als etwas Atmosphäre, sondern auch die Stimmung durch den Raum Tönendes, Färbendes oder «Tingieren- die Reaktion des Subjekts. Dennoch haftet den des»; es werde dann durch die Weisen gedacht, Atmosphären ein stärkerer Ausgang vom Objek- wie es aus sich heraustrete (Böhme 1995: 32). tiven an: Sie werden als vollständig von außen Böhme bezeichnet dies als die «Ekstasen des kommend empfunden. Eine Atmosphäre kann ein Dinges» (1995: 33), die auch seine Ausdehnung Mensch nicht haben, er kann sie allenfalls verän- und Form, also seine Wirkung und Ausstrahlung dern. Stimmung kann als so etwas wie eine innere nach außen seien. Ein Ding nehme dem Raum Atmosphäre beschrieben werden. Wie Kerstin Tho- um sich seine Homogenität und erfülle ihn mit mas anhand der Malerei von Puvis de Chavannes, Spannungen und Bewegungssuggestionen. Dem Seurat und Gauguin sowie des ästhetischen Dis- stehe in der klassischen Ontologie des Dings der kurses am Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, Gedanke entgegen, dass es einen Platz im Raum kann Stimmung durch Motiv, Form und Materiali- okkupiere und dem Eindringen anderer Dinge in tät eines Gemäldes geschaffen und von Künstler- diesen Raum Widerstand entgegensetze. Ausdeh- kollegen und Kritikern nachempfunden und debat- nung und Volumen seien aber auch nach außen tiert werden (vgl. Thomas 2010b: 56–88). hin spürbar. Die Voluminizität eines Dings sei die Im Vergleich dazu ist das Schaffen einer Atmo- Mächtigkeit seiner Anwesenheit im Raum. Volu- sphäre etwas handfester. Dazu gehören Möbel, Far- Stimmung, Atmosphäre, Präsenz 59 ben, Beleuchtung, Töne und Gerüche, die Böhme die «Produktion von Präsenz» (so der Untertitel als die «Erzeugenden von Atmosphäre» (Böhme seines Buches) anzustoßen, will Gumbrecht eine 2006: 123) bezeichnet hat. All das bezieht sich auf phänomenologisch argumentierende Analyse von den Bereich des Materiellen, also auf das dem Men- Schrift, Sprache und Text initiieren, die besonders schen Äußerliche. Eine Stimmung hingegen wird in Gedichten Sinn- und Präsenzeffekte entdecken eher auf der Ebene des Wortes, des Bildes oder der und gleichwertig interpretieren soll. Spannung in Inszenierung illusionistischer Atmosphären in Male- der Interpretation eines Gedichts, so Gumbrecht, rei und Poesie kommuniziert. Sie berührt unvermit- entsteht dort, wo beide Effekte miteinander in telt das menschliche Innere, Gefühl und Verstand, einem räumlich gedachten Zusammenhang von während eine Atmosphäre stärker sinnlich erlebt Nähe und Intensität oszillieren. wird. Letztere kann selbstverständlich als eigen ver- Bei Zumthor findet sich eine vergleichbare Hal- spürte Stimmung, Affekt oder Gefühl durch Vermitt- tung, die Architektur als Medium der Kommunika- lung des leiblichen Eindrucks erfahren, aber auch tion versteht. Einer «künstlichen Welt der Zeichen» als Ausdruck einer speziell gefärbten Umgebung (Zumthor 2006: 16) will er die «gebaute Architek- wahrgenommen werden – doch sie haftet den Din- tur […] in der konkreten Welt» (2006: 12) gegen- gen unmittelbarer an als eine Stimmung. überstellen. Eine befriedigende Präsenz der Archi- Man könnte bei der Architekturanalyse fragen, tektur entsteht nach Zumthor, wenn der «Sinn, den ob der Atmosphärenbegriff hierzu nicht ausreicht. es im Stofflichen zu stiften gilt» (2006: 10), an Wozu außerdem von Stimmung sprechen? Eben Raum und Gegenstand erlebbar wird. Hier würden deshalb, weil es bei der Frage nach Immersion um dann «poetische Qualitäten» der Materialien im die Schnittmenge zwischen Mensch und Architek- «Kontext eines architektonischen Objekts» einzie- tur geht. Der Stimmungsterminus scheint geeignet, hen, die die Raumnutzung zu einem vielschichti- etwas über die Produktionsstrategien bezüglich gen Erlebnis erhöhten (Zumthor 2006: 10). Hierzu des Rationellen wie Emotionellen auszusagen muss der Bedeutungsstiftung durch Materialität und damit über den kommunizierbaren Anteil der klar der Vorrang vor derjenigen durch Zeichen Immersion. Allein von Atmosphären zu sprechen, oder symbolhafte Formen gegeben werden, was beließe Gebäude und Räume zu sehr im Bereich Zumthor tut. So sind es die Qualitäten materiel- des Objekts. Eine Stimmung zu haben, sagt etwas ler Präsenz im architektonischen Zusammenhang, anderes über den Rezeptionsvorgang eines Raumes die ihn interessieren. Zur «Sinnstiftung im Stoffli- aus als über die Befindlichkeit, die das Spüren einer chen» gehört ihm vor allem die «Kunst des Fügens» Atmosphäre ergibt. Stimmung setzt einen höheren (2006: 11), also Konstruktion wie auch Komposi- Grad von geistiger Verarbeitung des Wahrgenom- tion, und das Schaffen von Details, die «hin zum menen voraus als Befindlichkeit. Damit würde man Verständnis des Ganzen» führen (2006: 16). Bei aber die Raumatmosphären wieder aus dem Blick Präsenz scheint es Zumthor immer wieder um verlieren. Es braucht also beides. das Stimulieren des Raumerschließungvermögens der Betrachtenden und um eine Erkenntnis von 1. 3 Präsenz Gebäude und Raum jenseits des Begriffs zu gehen. Der Begriff Präsenz bedeutet für Hans Ulrich 2. Werkanalyse Gumbrecht, auf der Anwesenheit der Dinge im Raum zu bestehen (vgl. für den gesamten folgen- Die Aufgabe Neubau des Kunstmuseums der den Absatz Gumbrecht 2009: 33ff.). Diese einfa- Erzdiözese Köln war hochkomplex gewesen. Die che, für ihn gleichwohl in den Mittelpunkt seiner Museumsmitarbeiter unter Leitung des damaligen Überlegungen gerückte Aussage, gewinnt an Direktors Joachim M. Plotzek hatten ihre museo- Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass sie von logischen und ästhetischen Anforderungen zuvor Gumbrecht als Gegenüber von Analysebegriffen recht genau formuliert (vgl. Plotzek et al. 1997: wie Idee, Konzept oder Zeichen formuliert worden 20f.) und angeregt, zum offenen Wettbewerb ist. Angesichts von Konstruktivismus und Semiolo- zusätzlich Zumthor, Christoph Mäckler, Annette gie, die am Beginn seiner wissenschaftlichen Kar- Gigon & Mike Guyer, Carlo Baumschlager & Diet- riere sein Umfeld absteckten, fordert Gumbrecht mar Eberle, David Chipperfield, Ben van Berkel, mittels des Präsenzbegriffes verloren gegangene und Paul Robbrecht & Hilde Daem einzuladen (vgl. Diesseitigkeit, Realität und Authentizität ein. Um Plotzek et al. 1997: 20f.). Zumthor erhielt den 1. 60 Regine Heß Preis. Neben die Vorstellungen der Bauherren tra- Kölns und Sinnbild der Kriegszerstörungen. Beide, ten die Besonderheiten des Bauplatzes, wo in den Kirchenruine und Kapelle, sollten in angemesse- Jahren 1949 und 1950 eine der frühesten Sakral- ner Weise in den Neubau einbezogen werden. Es bauten der Nachkriegszeit, die Kapelle Madonna sollte nicht nur die Ruine architektonisch integ- in den Trümmern von Gottfried Böhm, entstanden riert werden – Zumthor löste dies, indem er den war. Schon in der Römerzeit besiedelt, hatte hier Neubau auf die Mauerreste aufsetzte und damit bereits im 7. Jahrhundert ein Vorgängerbau der die Kapelle der Außensicht entzog –, sondern es Kirche St. Kolumba gestanden. Die romanische, sollte nach dem Wunsch der Bauherren auch der zur fünfschiffigen spätgotischen Hallenkirche aus- Ort als Erinnerungsort und die populäre Kapelle gebaute Kirche war im Mittelalter zeitweise die als beliebte und viel frequentierte Altstadtkirche größte und reichste Bürgerpfarrkirche Kölns gewe- erfahrbar bleiben. sen. Im zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde die Pfarrei aufgeben, doch hatte sich in der 2. 1 Raumstimmung Kirchenruine als einziges unversehrtes Kunstwerk eine gotische Madonnenfigur (um 1460/70) eines Im Vorangegangenen wurde die Frage nach der Nachfolgers des Konrad von Kuyn an einem Pfeiler Uneindeutigkeit von Architektur als Voraussetzung des Kirchenschiffs erhalten, die von den Kölnern für die Entfaltung einer gut erlebbaren Stimmung bald als Hoffnungszeichen verehrt wurde. Joseph aufgeworfen – dies scheint nützlich zu sein, wenn Geller, der damalige Pfarrer von St. Kolumba, favo- man sieht, dass diese Qualität von Zumthors Aus- risierte moderne Kunst und Architektur. So konnte stellungsräumen im Museum Kolumba durch die Böhm das erhaltene Erdgeschoss des Kirchturms Kustoden noch verstärkt wird, indem sie generell zu einem Kapellenraum umgestalten und diesem auf eine Beschilderung der ausgestellten Kunst- einen zehnseitigen Zentralraum als Chor mit den werke sowie auf Gruppenführungen verzichten. Engelsfenstern von Ludwig Gies anfügen, in des- Im Museum der Nachdenklichkeit, als das sich sen Zentrum die gotische Madonnenfigur einen das Haus seit 1996 bezeichnet (vgl. Plotzek et al. neuen Platz fand. Von 1973 bis 1976 erfolgte eine 1997: 190), soll die individuell erlebte Wirkung großangelegte und dauerhaft offen gelassene der Kunstwerke mit der Ästhetik einer von starker Grabung im ehemaligen Schiff der Kirche, die die material- und lichtabhängiger Präsenz des Raums faszinierende Schichtenlage bis in das Jungneoli- zusammengehen. Das ist in Köln gelungen: Unauf- thikum (4300–3500 v. Chr.) zurückreichend zeigt. dringlich in Ästhetik, Licht und Akustik wird die Am Ende des 20. Jahrhunderts waren die Reste Architektur zum Hüllraum für eine heterogene der alten Kirche die letzte innerstädtische Ruine Sammlung sakraler Kunst vom Mittelalter bis in Ü 4 Museum Kolumba, Ausstellungsraum im 2. OG (© Lothar Schnepf 2007) Stimmung, Atmosphäre, Präsenz 61 gedeckt. Oberhalb der Ausgrabung ließ Zumthor ein Filtermauerwerk mit offenen Aussparungen mauern (vgl. Abb. 3). Es ist eine zweischalige und perforierte Wand, deren beide Schalen versetzt angeordnet sind. Licht, Luft und Geräusche der Außenwelt dringen hier ungefiltert ein. 2. 2 Atmosphären der Materialien Der Sinn, den es im Stofflichen zu stiften gilt, liegt jenseits kompositorischer Regeln, und auch die Fühl- barkeit, der Geruch und der akustische Ausdruck der Materialien sind lediglich Elemente der Sprache, in der wir sprechen müssen. Sinn entsteht dann, wenn es gelingt, im architektonischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumaterialien hervorzubrin- gen, die nur in diesem einen Objekt auf diese Weise spürbar werden. (Zumthor 2006: 10) Man könnte jene Sprache die Sprache der Atmo- sphären nennen und ihre Elemente die Materia- lien. Im Museum Kolumba bilden die Materialien à 5 Museum Kolumba, Grabungsraum in ihrem räumlichen Zusammenhalt nicht nur den (© Regine Heß 2007) Fonds für in der Regel kleine und ganz unterschied- liche Objekte der Gattungen Gemälde, Zeichnung, die Gegenwart. Doch auch ohne jene Werke ist das Tonplastik, Holzskulptur, Design- und Gebrauchsge- Raumerlebnis stimmungshaft, denn es ist auf eine genstand, Rauminstallation und liturgische Geräte, deutliche Objektausstrahlung hin von Zumthor sondern auch für eine der bedeutendesten Ausgra- konzipiert worden: Große Räume werden durch bungstätten auf dem Kölner Stadtgebiet. Der Bau raumhohe Fenster und Kunstlicht ausgeleuchtet. ist massiv und äußerlich unverkleidet aus einem Zusammen mit den lichtverstärkenden Oberflä- eigens angefertigten hellbeigem, leicht grünstichi- chen des Bodens und der Decke und den licht- gem und flachem Backstein errichtet. Das Ziegel- schluckenden Oberflächen der Wände bringt diese material zeigt sich an der Fassade und im Erdge- Gestaltung ein räumliches Leuchten hervor. Die schoss, wo das Mauerwerk auch die Innenwände aufmerksamkeitsheischende Setzung von Türen bildet. In den Obergeschossen, die der Ausstellung und Fenstern sowie geschickt gesetzte Engungen dienen, sind die Wände mit einem hellen Lehmge- und Weitungen leiten die Besucher durch Räume misch verputzt. Auch der Boden ändert sich hier: und die Sammlung, ohne primär kognitive Akzente Während im Erdgeschoss Kalksteinplatten in einem zu setzen (Abb. 4). So entsteht die sanfte Modu- aufwändigen Fugenbild verlegt wurden, haben lation als Voraussetzung von Stimmung haben die Obergeschosse einen glänzenden und fugen- anstatt auffordernder Signalsetzung. Uneindeutig- los gegossenen, hellbeigen Terrazzoboden. Boden keit wird dann nicht zu einer Störung oder Funkti- und Wände sind durch eine Schattenfuge optisch onsvergessenheit, sondern zu einer Voraussetzung voneinander abgesetzt, so dass Wände und Böden der Entfaltung von immersiven Raumqualitäten. als vertikale Flächen erlebbar werden, die große Von anderer Gestaltung ist der zwölf Meter hohe Plattformen umstehen. In die Decken, ebenfalls aus Grabungsraum (Abb. 5): Er folgt den Maßen der einem Lehmbetongemisch, aber diesmal poliert, Außenwände von St. Kolumba mit ihrer Apsis. Der sind edle Punktstrahler aus Stahl in kleine kreisför- trapezförmige Grundriss, den die Kirche im Zuge mige Aussparungen eingehängt. In den schlucht- ihrer letzten Erweiterung um 1500 erhalten hatte, artigen, fensterlosen Treppenaufgängen sind die wurde wieder aufgeführt: Die gotischen Wandreste aus Betonmörtel gegossenen Stufen wieder durch wurden bis zur Traufhöhe der untergegangenen Kir- eine Fuge von den Wänden abgesetzt, so dass die che aufgemauert und mit einer Betondecke flach Treppe als eigene Form erscheint. Durch Eingriffe 62 Regine Heß Ü 6 Leseraum (© Regine Heß 2007) wie diese kommt Zumthor zur Autonomisierung der Materialeigenschaften wie lichtschluckend oder verschiedenen Formen seiner Architekturen. -reflektierend, transparent, farbig, farbgebend oder Eine Autonomisierung und Sichtbarmachung neutral, glatt oder rau werden visuelle und hapti- der Formen ist in seinem Schaffen ein wichtiger sche Reize in einem erheblichen Maß, aber zugleich Schritt zur Erzeugung spezifischer Atmosphären, ausgewogen orchestriert gesetzt. Böhme hatte da so Dinge (in Böhmes Diktion) im Raum oder der diese Eigenschaften nicht als etwas an den Dingen Raum als Zusammenspiel von Dingen überhaupt haftendes, sondern als von ihnen ausgehendes, erst deutlich werden. Dieses Zusammenspiel bei den Raum färbendes verstanden. Die räumlichen Zumthor kann als tektonisch bezeichnet werden, Beziehungen werden über ihr architektonisches da es Fragen des Tragen und Lastens, sich Ausbe- Strukturgerüst hinaus von diesen dinglichen Eigen- reitens und Umstehens thematisiert. Es werden schaften definiert, so dass Strukturzusammenhang also Themen eingeführt, die aber in der dinglichen und dingliche Ausstrahlung zusammengehen. Sol- Sphäre verbleiben und keine außerarchitektoni- cherart entstehen die verschiedenen Atmosphären schen, also beispielsweise ikonographische oder im Museum Kolumba. Die Kunstwerke werden historische, Sachverhalte einführen. Dagegen sind eher in diese als in die Räume an sich eingebracht wechselnde Raumzuschnitte und -volumina, die (Abb. 7 und 8). Wirkung von Licht und Schatten sowie von Öff- Dies wirft auch ein neues Licht auf Tätigkeit nungen und Verstellungen des Raums eher dazu des Kurators. Die Kuratoren wollten die Kunstwer- geeignet, durch assoziatives Potential Stimmun- ken im neuen Museum beheimaten (vgl. Plotzek et gen zu wecken. In Kolumba hat Zumthor durch al. 1997: 90): das sind so unterschiedliche Werke Seiden- und Ledervorhänge und den Einbau von wie das Elfenbeinkruzifix des 12. Jahrhunderts, zwei hölzernen und einem mit schwarzem Samt die rheinischen lächelnden Madonnen aus dem ausgeschlagenem Kabinett die Reize der Materia- 15. Jahrhundert, die Muttergottes aus Alabaster lien, womöglich manchmal etwas manieriert, noch des Jeremias Geisselbrunn aus der Mitte des 17. gesteigert (Abb. 6). Jahrhunderts (Abb. 9) oder Werkserien von Andy Alle diese Materialien (Böhmes Erzeugende Warhol und Paul Thek. Die geistige Absicht des der Atmosphäre) haben spezifische Eigenschaf- Beheimatens zielt nun eher auf die Stimmung als ten. In einen architektonischen Zusammenhang die Atmosphäre. Gerade bei den sakralen Kunst- gebracht, werden sie nicht nur sichtbar, sondern werken, die an ihrem historischen Ursprungsort auch wirksam. Ihre Ausstrahlung (Böhmes Eksta- ebenfalls in Räumen aus natürlichen Baumateri- sen der Dinge) wird vielfältig wirksam als Präsenz alien und in Tageslicht- oder allenfalls Kerzenbe- im Raum. Durch die sich voneinander abhebenden leuchtung standen, geht Zumthors Einsatz von Stimmung, Atmosphäre, Präsenz 63 Naturmaterialien besonders gut auf. Ihre religiöse Wirkung und Bedeutung, ihr ursprünglicher Sinn, wird in diesem Zusammenhang gefördert und betont, ohne ihn wieder einzulösen. Im modernen Kunstmuseum Kolumba bleibt ein Rest der sakra- len Stimmung bewahrt und führt meines Erach- tens tatsächlich den Charakter der Nachdenklich- keit ein, den sich die Kuratoren wünschen. 2. 3 Präsenzqualitäten Kuratorische Arbeit bedeutet optimalerweise, à 7 Turmzimmer im 2. OG (© Regine Heß 2007) mit vorhandenen räumlichen Atmosphären des Museums ein – je nach Inhalt vertiefendes oder auch störendes – Verhältnis einzugehen und die Produktion von Präsenz an diesem Ort zu verän- dern. Gumbrecht hat Präsenz räumlich aufgefasst: «Was uns ‹präsent› ist», schreibt er, «befindet sich (ganz im Sinne der lateinischen Form prae-esse) in Reichweite unseres Körpers und für diesen greif- bar» (2009: 33). Auch das Wort Produktion wird von Gumbrecht seiner etymologischen Bedeutung nach verwendet, «wenn», wie er nahelegt, «produ- cere buchstäblich soviel wie ‹vorführen› oder ‹nach vorn rücken›» heißt (2009: 33). Produktion von Prä- senz ließe sich demnach mit der Formel vom Vor- rücken von vor(handen) Seiendem umschreiben. à 8 Kabinett im 1. OG (© Regine Heß 2007) Auch die Beziehung von Kunstwerk und Raum im Museum Kolumba und ihre Effekte können mit die- ser Formel gefasst werden. Der Begriff Präsenz ist für Zumthor ebenfalls ein zentraler ästhetisch-methodischer Begriff, der in seinen Überlegungen aufscheint: ästhetisch, weil er mit und in seinen Bauten vor allem Prä- senz schaffen will, also auf eine ihm angemessen erscheinende Wirkung zielt, und methodisch, weil er nach der Herstellung dieses Wirkungsphäno- mens fragt (vgl. Zumthor 2010: 11). Der Begriff reicht über Atmosphäre und Stimmung hinaus, weil er in seiner Unbestimmtheit und Offenheit nicht mit dem Subjekt, sondern mit dem Objekt zusam- mengeht. Selbstverständlich stellt sich Präsenz wie jeder sinnliche Effekt erst dann her, wenn ein wahr- nehmendes Subjekt anwesend ist, aber innerhalb der Wahrnehmung ist das präsentische Objekt vom Subjekt klar abgegrenzt. Im Dreiklang der Bezie- hung aus Subjekt, Objekt und ihrer gemeinsamen Umgebung bringt erst seine Präsenz das Objekt zur Wahrnehmung und ist in der Architektur vermutlich der Schlüssel zu Stiftung dieser Beziehung. à 9 Jeremias Geiselbrunn: Muttergottes mit Kind, Köln, Vielleicht lässt sich dies abschließend am um 1650 (© Regine Heß 2007) Grabungsraum des Museums verdeutlichen (vgl. 64 Regine Heß Abb. 5): Der Übergang aus dem Foyer in die Aus- im Zickzack durch den Raum geführt wird, kommt grabungsstätte ist aufwändig gestaltet worden. es zu immer neuen Blickkonstellationen, aber auch Der Boden, im Erdgeschoss aus Kalksteinplatten, Veränderungen von Temperatur und Akustik sind unterläuft schwellenlos eine zweiflüglige Stahltür wahrnehmbar. Der Steg bildet das Rückgrat der und endet mit einer Stufe, die auf das Boden- Inszenierung des Zusammenspiels von Neubau niveau des Grabungsraumes hinabführt. Ein und heterogenem Altbaubestand, während die schwerer Ledervorhang verhüllt hier zunächst die durchleuchtete Wandhülle sowie Licht und Schat- Sicht auf den Grabungsraum und bildet eine Kli- ten es beleben. Zumthors Idee, die Ruine und die masperre (aus konservatorischen Gründen hat er Böhm-Kapelle mit einem einzigen Raumvolumen durch die Frischluftzufuhr des Filtermauerwerks zu umgeben und zu überwölben, ist durchaus eine niedrigere Temperatur als das klimatisierte umstritten gewesen (vgl. Krings 2006: 136, 140– Museum). An dieser Stelle befindet sich ein goti- 143; Pehnt 2009: 39–43). Für eine Inszenierung sches Seitenportal mit Spitzbogen, durch das man des Bestehenden und die damit verbundene Wert- früher aus der Kirche in den Kirchhof gelangte. schätzung aller räumlichen Elemente ist die große Heute betritt der Besucher durch es die Kirchenru- Einhausung aber eine gelungene Lösung. Das ine. Von dort aus ist der ganze Raum mit den Gra- kann aber nur deshalb so gut funktionieren, weil bungsstellen und der Madonnenkapelle von Böhm sowohl der neue Hüllraum als auch der historische überschaubar. Ein Steg aus rotem Feinholz führt im Rauminhalt hochwertige Architektur aufweisen Zickzack durch den Raum auf die offen gelassene und die verschiedenen Qualitäten von Präsenz Ruine der ehemalige Sakristei zu, die sich an der beachtet wie auch inszeniert wurden – eben das, Außenseite des Museum befindet. Er führt über die was auch das Museum leisten will. Grabungsfunde hinweg, so dass sich ein Panorama der reichhaltigen Geschichte des Ortes auftut. Fazit Oberhalb weisen die zerstörten und geschwärzten Wände auf den Untergang der Kirche hin. Der Steg Die wirkungsästhetischen Begriffe Stimmung, führt zu besonders eindrücklichen Orten wie den Atmosphäre und Präsenz in der theoretischen Überresten des ehemaligen Kreuzaltars von 1737 Erarbeitung von Thomas, Böhme und Gumbrecht an der Nordwand und dem historischen Stand- wurden in der Analyse eines Bauwerks von ort der Madonna in den Trümmern hin. Eingriffe Zumthor angewendet. Das scheint methodisch in die historische Bodensubstanz erfolgten nach vor allem dann sinnvoll zu sein, wenn sich auch konservatorischen Vorgaben, da hier nicht nur die Architekten bei ihren Entwurfsüberlegungen die leichten Stützen des Stegs, sondern auch die von ihnen leiten lassen. Wichtig ist dabei, nach schweren Fundamente der Betonstützen eingelas- einem gemeinsamen Verständnishorizont von sen wurden, die zusammen mit den Mauern die Praktizierenden und Theoretisierenden zu fragen. Last des Museums tragen. Der zwölf Meter hohe Auch ihre zeitliche Verortung ist zu beachten: Raum wird durch das Filtermauerwerk mit Tages- Thomas, Gumbrecht und Böhme sind im gleichen licht und zusätzlich durch tiefhängende Pendel- Zeitraum wie Zumthor tätig, jedoch hat Thomas leuchten über den Fundgruben beleuchtet. Seine künstlerische Phänomene analysiert, die vor über Akustik wird vom Eindringen der Stadtgeräusche hundert Jahren zur Erzeugung einer Ästhetik der bestimmt. Die Farbigkeit definiert sich durch das Stimmung erprobt wurden. Allerdings, und das Aussehen der Materialien Beton, Ziegel, Sandstein zeichnet einen Künstlerarchitekten wie Zumthor und Holz, nicht zu vergessen die blau- und gelbfar- aus, lässt auch er sich von Beispielen der Malerei bigen Engelsfenster von Gies. des 19. Jahrhunderts anregen: Von Gemälden wie Diese Beobachtungen sind ohne starke Konzen- der Toteninsel Arnold Böcklins (1880) oder jenen trationsleistungen zu machen. Der Grund liegt in William Turners (1775–1851), die atmosphärestif- einer hohen Qualität von Präsenz, die in einem so tende und starkfarbige Licht und Schatten-Effekte heterogenen Raum natürlich graduell abgestuft aufweisen (Zumthor 2010: 4–5). Beider Bilder, vor ist: Zunächst fallen das Raumvolumen selbst, die allem die Landschaften, sind von hoher inszena- Wände und der Steg ins Auge. Der vielen Einzelhei- torischer Qualität. Ihren Spannungsreichtum erhal- ten und Details wird man Stück für Stück gewahr, ten sie durch die Abbildung von kosmischen und und für diesen Vorgang ist die Bewegung auf dem metereologischen Einflüssen auf die Natur. Starkes Steg durch den Raum verantwortlich. Indem man Sonnenlicht und tiefster Schatten, Lichtglanz auf Stimmung, Atmosphäre, Präsenz 65 glatten oder aufgerauten Wasserflächen und dif- Pehnt, Wolfgang (2009) Ein Ende der Wundpflege? Ver- fuse, farbstarke Nebel- und Wolkenbilder werden änderter Umgang mit alter Bausubstanz. In: Die alte inszeniert und vor allem bei Turner zum eigentli- Stadt 36, 1. S. 25–44 chen Mittelpunkt der Betrachtung gemacht. Mit Plotzek, Joachim M./Winnekes, Katharina/Kraus, Ste- diesen nur angedeuteten Beobachtungen sei fan/Surmann Ulrike (1997) Kolumba. Ein Architek- nochmals das Feld, auf dem Zumthor sich bewegt, turwettbewerb in Köln 1997. Köln: Walter König umrissen. Es gleicht in vielem dem, auf dem sich Sewing, Werner (1999) Graubünden und die Globali- auch die drei Autoren bewegen; so hatte sich auch sierung. Was macht Peter Zumthor zur Kultfigur? In: Böhme auf Turner und die Impressionisten bezo- Deutsche Bauzeitung 143, 1. S. 18–19 gen (vgl. Böhme 2006: 81). Mittels dieser starken Thomas, Kerstin (Hg.) (2010a) Stimmung. Ästhetische Bezüge erscheint es fruchtbar, Theorie und Praxis Kategorie und künstlerische Praxis. Reihe Passagen. zum Zweck einer um die Wirkungsästhetik erwei- Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris, Bd. 33. terten Architekturanalyse zusammenzubringen. Berlin/München: Deutscher Kunstverlag Thomas, Kerstin (2010b) Welt und Stimmung bei Puvis de Chavannes, Seurat und Gauguin. Reihe Passagen. Literatur Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris, Bd. 32. Böhme, Gernot (1995) Atmosphäre. Essays zu neueren Berlin/München: Deutscher Kunstverlag Ästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Wölfflin, Heinrich (1999) Prolegomena zu einer Psycho- Böhme, Gernot (2006) Architektur und Atmosphäre. logie der Architektur [1886]. Berlin: Gebrüder Mann München: Fink Zumthor, Peter (2006) Architektur denken [1998]. Gumbrecht, Hans Ulrich (2009) Diesseits der Hermeneu- Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser tik. Die Produktion von Präsenz [engl. 2004]. Frank- Zumthor, Peter (2006) Zwischen Bild und Realität. Hg. furt a.M.: Suhrkamp von Ralf Konersmann, Peter Noever und Departe- Heß, Regine (2013) Emotionen am Werk. Peter Zumthor, ment Architektur der ETH Zürich. Zürich: gta-Verlag Daniel Libeskind, Lars Spuybroek und die historische Zumthor, Peter (2010) Atmosphären. Architektonische Architekturpsychologie. Reihe Neue Frankfurter For- Umgebungen. Die Dinge um mich herum [2006]. schungen zur Kunst, Bd. 12. Berlin: Gebrüder Mann Basel: Birkhäuser Krings, Ulrich (2006) Gottfried Böhms Kirchenbauten und die Denkmalpflege. In: Gottfried Böhm. Hg. von Wolfgang Voigt. Berlin: Jovis. S. 128–143 66 Regine Heß rhythMus, rauMgEFühl und konstruktIVE suggEstIonskraFt die sinnliche Wahrnehmung des stadtraums in historischen städtebautheorien Anne Brandl Zusammenfassung/Abstract in der aktuellen auseinandersetzung über ein sinnliches stadterleben fällt auf, dass entweder auf phänomenologische ansätze, wie das atmosphärenkonzept von gernot böhme zurückgegriffen wird oder zeitgenössische Phänomenologen selbst städtebau- liche herausforderungen erklären bzw. atmosphärische Qualitäten der stadt beschrei- ben. das vorherrschende argument ist, dass die städtebaudisziplin kaum eigene Konzepte besitzt, die von der sinnlichen Wahrnehmung des stadtraums ausgehen. der beitrag zeigt jedoch exemplarisch an theorien von albert erich brinckmann, Fritz schumacher und gordon cullen, dass es im 20. Jahrhundert durchaus städtebautheo- retische Überlegungen zum stadterleben gab, in denen begriffe wie raumempfinden, rhythmus und suggestionskraft im mittelpunkt standen. diese städtebautheoreti- schen ansätze können, so die behauptung des beitrags, nicht nur anregungen für den entwurf atmosphärischer Qualitäten der zeitgenössischen stadt bereit halten, sondern ebenso phänomenologische argumentationen ergänzen bzw. korrigieren. The current discussion about a sensual experience of urban space is dominated by phenomenological arguments. Either the urban research uses phenomenological approaches like Gernot Böhme‘s concept of atmosphere or contemporary philoso- phers themselves explain the spatial challenges and describe atmosphere as a qual- ity of urban space. The predominant argument is, that the urban design discipline haven‘t got own concepts about the sensual perception of urban space. But the theories of Albert Erich Brinckmann, Fritz Schumacher or Gordon Cullen show exem- plary that there have been urban design considerations about the sensual experi- ence of urban space in the 20th century, and terms like sense of space, rhythm or power of suggestion were in their center of interest. These urban theories can inspire the design of atmospheric qualities for the contemporary city. But they can complement and adjust phenomenological arguments too. Rhythmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft 67 Kein Zweifel – die sinnliche Wahrnehmung von che die sinnliche Wahrnehmung des Stadtraumes Stadtraum und das Atmosphärische der Stadt sind und nicht seine bauliche Herstellung in den Mit- wieder zu einem städtebautheoretisch relevanten telpunkt ihrer Überlegungen gestellt haben,4 diese Thema geworden. Nicht nur die Titel aktueller For- Ansätze in der aktuellen Diskussion über eine schungspublikationen wie Gebaute Welt. Gelebter wahrnehmungsorientierte «Stadtästhetik» bisher Raum (Hebert 2012), Atmosphären der Stadt. Auf- jedoch kaum thematisiert werden. gespürte Räume (Hasse 2012) oder Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrneh- Die Dominanz phänomenologischer mung (Blum 2010) deuten auf eine disziplinäre Argumentationen in der städtebau- Hinwendung zu städtischen Qualitäten jenseits theoretischen Auseinandersetzung des Gebauten hin. Auch in den Feuilletons werden um ein sinnliches Erleben der inzwischen Atmosphären als «vierte Dimension des zeitgenössischen Stadt Städtebaus» (Reicher 2012) und die Sehnsucht des Städters nach «Emotionalität, Sinnlichkeit und Spi- Trotz eines Fundus an historischen Städtebau- ritualität» (Fingerhuth 2013) thematisiert. Und in theorien, die von einem multisensorischen Wahr- der Praxis haben eine, auf die «Emotionalisierung nehmungsverständnis und der Wirkung des des Wohnens» (Raith/Hertelt/van Gool 2003: 8) Stadtraumes ausgehen, bestimmen derzeit v.a. ausgerichtete Architektur ebenso wie eine insze- phänomenologische Argumentationen die wissen- nierungsorientierte Freizeit- und Tourismusindus- schaftliche Revision eines auf das Visuelle ausge- trie (vgl. exemplarisch Roost 2000) oder eine auf richteten, gegenstandsbezogenen Raumverständ- weiche Standortqualitäten bedachte Kreativwirt- nisses und eines auf das Rationale beschränkten schaft1 längst auf die zunehmenden Forderungen Menschenbildes.5 und Wünsche der Stadtbewohner nach Vertraut- Mit der Phänomenologie tritt seit Mitte des 20. heit, Wohlfühlen, Erlebens- und Identifikations- Jahrhunderts das Thema des Leibes und damit angeboten reagiert. Die hier kursorisch zitierten der Versuch einer konzeptionellen Aufhebung der Veröffentlichungen rücken die Frage des sinnlichen Subjekt-Objekt-Spaltung in den Vordergrund wis- Stadterlebens und damit das Atmosphärische als senschaftlichen Nachdenkens.6 Zwar gibt es auch Dimension des Gestaltens sowie ein multisenso- risches Menschenbild2 ins städtebautheoretische Gebäuden und ihre Beziehung und Verbindung zueinander» Blickfeld. Dieser Artikel möchte zeigen, dass es in versteht (2011: 21; Herv.i.O.). Städtebautheorie wird hier der Städtebautheorie3 Ansätze gegeben hat, wel- als der wissenschaftliche Bereich der Städtebaudisziplin verstanden, der über die gestaltende Städtebaupraxis nach- denkt und reflektiert. 1 Basierend auf empirischen Ergebnissen zur Standort- 4 Dennoch dominieren seit der Gründung der Städtebau- wahl von Dienstleistungsunternehmen in der Kreativwirt- disziplin Ende des 19. Jahrhunderts Ansätze, welche die schaft (Werbung, Design, Architektur) in Vancouver und Schaffung visuell-baulicher Qualitäten und das physische München stellt Ilse Helbrecht fest, dass «die anziehende Stadt(um)bauen in den Mittelpunkt stellen, für die die Frage, oder abstoßende Rolle der Stadtlandschaft als sinnlich was Stadt ist, relevanter ist, als die Frage, wie Stadt erlebt wahrnehmbare Standortqualität, als ‹Look and Feel› […] wird. Diese städtebautheoretischen Ansätze können auf zahl- entscheidende Wirkung auf die befragte Unternehmerschaft reiche Handbücher zurückgreifen, in denen in Wort und Bild [hat]» (2005: 137). Der subjektive Wohlfühlfaktor und die anhand gelungener historischer Beispiele illustriert wird, was sinnliche Ausstrahlung eines Stadtquartiers, so Helbrecht bspw. ein Platz ist bzw. wie er sichtbar gut gestaltet werden weiter, sind bedeutende Kriterien für die Standortwahl. kann. Um nur einige zu nennen: Stübben (1890); Hegemann 2 «Das Wort ‹Menschenbild› […] klingt ganz anders in uns & Peets (1922); Duany/Plater-Zyberk/Alminana (2003). an als Begriffe wie Subjekt, Großgruppe, Handelnder oder 5 Ebenso einflussreich ist der seit Mitte der 1990er Jahre Akteur. Nach dem Subjekt zu fragen, beinhaltet schon das in den Sozialwissenschaften einsetzende spatial turn, mit Gegenüber des Objekts, öffnet die Tür zur Objektivierung. dem sich die Soziologie mehrheitlich von der Vorstellung Mit der Frage nach dem Menschenbild sind Mensch und eines Containerraumes verabschiedet hat und Raum relatio- Menschenleben in weitere Denk-Kontexte gestellt» (Hel- nal versteht (vgl. Günzel 2010; Döring & Thielmann 2008; brecht 2003: 170; Herv.i.O.). Löw 2001). Der Artikel konzentriert sich jedoch auf die 3 Der Aufsatz argumentiert dezidiert aus einer städtebau- Phänomenologie, da in der Stadtforschung vor allem zeit- theoretischen Perspektive und folgt dabei der Begriffsdefini- genössische Phänomenologen wie Gernot Böhme, Bernhard tion von Dieter Frick, der unter Städtebau die Herstellung Waldenfels und Hermann Schmitz rezipiert werden. der baulich-räumlichen Dimension von Stadt, konkreter, 6 Siehe u.a. Bollnow 2004; Heidegger 2006; Merleau- nicht «das Bauen an sich, sondern [...] die Anordnung von Ponty 1966; Schmitz 1969; Böhme 1997; Waldenfels 1974. 68 Anne Brandl hier unterschiedliche, mehr das Subjekt oder das theoretische Ansätze, sondern auf aktuelle phä- Soziale betonende Konzepte, aber was alle phä- nomenologische Arbeiten beziehen. nomenologischen Ansätze eint, ist ihr Verständnis, Beispielhaft für die Übertragung zeitgenös- «die Dinge nicht als Gegenstände, d.h. als dem sischer phänomenologischer Positionen auf die Subjekt Entgegenstehende, sondern als Entwurf Stadt sei hier das Atmosphärenkonzept von Ger- des Subjekts und als Medium [zu verstehen], in not Böhme vorgestellt.7 Böhme definiert Ästhetik dem das Subjekt bestimmt ist und existiert» (Führ nicht als rationale Beurteilungstheorie, sondern 2011: 180). In der Phänomenologie ist der Mensch als eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, als leibliches und soziokulturell geprägtes Wesen bei der das Affektive, Emotionale und Imagina- in die Welt eingebettet, mit ihr verstrickt, er steht tive eine Rolle spielt. Statt der Verarbeitung von nicht einem (beispielsweise städtebaulich gestal- visuellen Informationen versteht Böhme unter teten) Außen gegenüber, sondern bewohnt es mit Wahrnehmung das Spüren der Anwesenheit von seinem Leib und seinen soziokulturellen Praktiken Etwas, und dieses Etwas ist eine Atmosphäre, die ein. Indem der Leib des Menschen räumlich ist, sowohl einen subjektiven Teil in Gestalt des eigen- betonen die verschiedenen, phänomenologisch leiblichen Spürens und Befindens besitzt als auch orientierten Philosophen die Räumlichkeit des einen objektiven Teil in Form von Eindrucks- bzw. menschlichen Daseins selbst (vgl. Zahavi 2007: Stimmungsqualitäten der Umgebung. Kap. 7). Mit der Einbeziehung des Leibes kommt In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in es auch zu einer Rückbesinnung auf die verschie- welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahr- denen Sinne und die Sinnlichkeit des Menschen nehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die und zu der Forderung, Dualismen wie Rationali- Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf tät und Emotionalität, Verstehen und Empfinden der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlich- ganzheitlich und nicht gegeneinander ausspielend keit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, zu begegnen (vgl. Hasse 2005: Kap. 1). Die Rekon- dass ich jetzt hier bin. (Böhme 1995: 96) zeptionalisierung bzw. Erweiterung des Menschen- bildes hat auch unmittelbare Auswirkungen auf Atmosphäre ist ein gemeinsamer Zustand von den Raumbegriff, der in der Phänomenologie Subjekt und Objekt, d.h. Böhme ordnet die Atmo- nicht von seinen mathematischen Dispositionen, sphäre weder der Subjekt- noch der Objektseite zu, sondern von der Lebenswirklichkeit des Menschen sondern versteht sie als Relation zwischen diesen her verstanden wird. Raum konstituiert sich erst beiden Polen. Sie ist «etwas Mittleres, etwas Ver- im Erleben eines sinnlich wahrnehmenden Men- mittelndes, es ist ein Zwischen, zwischen Subjekt schen. In der Phänomenologie geht es nicht um und Objekt, zwischen Bestimmen und Empfan- das Erklären eines Gegenstandes oder einer Ortes gen, zwischen Tun und Erleiden» (Böhme 2006: (Bahnhofs- oder Quartiersplatz), ihre Einordnung 52). Bei der Ausgestaltung seiner Ästhetiktheorie in eine Systematik oder ein Wertesystem (öffent- untersucht Böhme vor allem den objektiven Pol licher oder privater Raum); entscheidend ist die der Atmosphären, da sich dieser seiner Meinung Wahrnehmung und Erlebbarkeit eines städtischen nach durchaus produzieren lässt. Dabei kann die Raumes. Damit vollzieht sich ein entscheidender ästhetische Theorie viel von der Praxis, insbeson- Perspektivwechsel: Es geht «nicht um das Erschei- dere der Bühnenbildkunst, der Werbung aber auch nende, sondern um das Erscheinen, nicht um der Architektur lernen. Durch Geräusche, Licht und Objekte oder Gegenstandsbereiche, sondern um Geruch, durch Zeichen, Symbole, architektonische die von ihnen ausgehende Wirkung auf die erle- Stile und Elemente können Atmosphären erzeugt bende Person» (Hasse 2002: 79f.). und das Befinden der Menschen beeinflusst wer- In jüngster Zeit lässt sich eine Reihe von Ver- den. Dies macht Böhme an verschiedenen Bei- öffentlichungen bekannter Phänomenologen spielen wie dem Innenraum von Kirchen deutlich feststellen, die ihre wahrnehmungstheoretischen (2006: 139–150). Die Atmosphäre als Gegenstand Ansätze auf das Thema Stadt übertragen. Parallel der Architekturproduktion bewirkt für Böhme gibt es zunehmend Forschungen zur sinnlichen dabei ein grundsätzliches Umdenken im Selbst- Wahrnehmung von Stadtraum, die sich in ihrem Plädoyer für eine Rückbesinnung auf den Men- 7 Weitere Beispiele phänomenologischen Nachdenkens schen und die Betrachtung des Lebendigen der über städtebautheoretische Problemstellungen: Schmitz Stadt nicht auf mögliche existierende städtebau- (2008); Waldenfels (2003). Rhythmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft 69 verständnis der Architektur, die sich dann nicht lichkeiten gestalten» (Kamleithner 2009: k.S.). mehr als visuelle Disziplin verstehen kann, sondern Böhmes Atmosphärenkonzept muss vor allem als nach den Auswirkungen ihrer Gestaltung auf das Plädoyer für den Einbezug der emotionalen Wir- menschlichen Empfinden fragen muss. Der Raum kung von Stadträumen auf den Bewohner und kann also nicht mehr nur Medium der Darstellung für eine verstärkte Betrachtung atmosphärischer sein, sondern muss als Raum leiblicher Anwesen- Qualitäten des Gebauten seitens der Städtebau- heit in den Mittelpunkt architektonischer Betrach- disziplin betrachtet werden und in diesem philoso- tung rücken. Ähnlich wie für die Architektur for- phisch grundierten, jedoch allgemein bleibenden dert Böhme auch für die Städtebaudisziplin ein Denkanstoß liegt sowohl die Bedeutung als auch Umdenken in der Beschreibung und Beurteilung die Begrenztheit seiner Argumentation. von schon Gebautem. Einer Stadtästhetik, die das Die empirischen und theoretischen Arbeiten Atmosphärische thematisiert, kann es des Humangeographen Jürgen Hasse (2000, nicht bloß darum [gehen], wie eine Stadt unter ästhe- 2005, 2012) wiederum stehen stellvertretend für 8 tischen oder kunsthistorischen Gesichtspunkten zu be- Stadtforschungen , die sich in ihrem Plädoyer für urteilen sei, sondern darum, wie man sich in ihr fühlt. eine Erweiterung städtebaulichen Denkens um die Damit wird ein entscheidender Schritt zur Einbeziehung sinnliche Wahrnehmung des Menschen bzw. um dessen gemacht, was man etwas ungeschickt den sub- die Betrachtung des Atmosphärischen der Stadt jektiven Faktor nennt. (Böhme 2006: 132; Herv.i.O.) auf philosophische oder psychologische statt auf städtebautheoretische Positionen beziehen. Hasse Die Übertragung des Atmosphärenkonzepts auf ist dabei einer jener Stadtforscher, die bereits sehr die Stadt offenbart jedoch seine Begrenztheit früh eine kritische Position zum einseitigen Men- sowohl in Bezug auf die Analyse als auch den schenbild in den verschiedenen Wissenschaften Entwurf komplexer Raumsituationen. Während bei entwickeln (1999, 2003) und in einer Übertra- einzelnen Gebäuden der Einfluss ihrer Architektur gung phänomenologischer Positionen eine Mög- auf die Produktion von Atmosphären und damit lichkeit der Erweiterung und Differenzierung des auf das subjektive Befinden ihrer Nutzer recht bestehenden Stadtverständnisses sehen. Er ist einfach bestimmt werden kann – und Böhme dies einer der Wenigen, der bisher Atmosphären empi- am Beispiel von Kircheninnenräumen auch nach- risch untersucht hat, indem er unter Verwendung vollziehbar darlegt – ist dies bei dem wesentlich zentraler Begriffe der Neuen Phänomenologie von vielschichtigeren Phänomen der Stadt nicht ohne Hermann Schmitz forschungsmethodisch gestützte weiteres möglich. Aus gestalterischer Sicht scheint Aussagen über das atmosphärische Erleben einer es problematisch, dass sich der Atmosphärenbe- Strasse macht (vgl. Hasse 2002).9 griff sowohl auf eine ganze Stadt, die Atmosphäre Berlins, und auf einzelne Objekte, die Atmo- Die Rückeroberung der Diskussion: Die sphäre einer Kirche, als auch auf stadträumliche sinnliche Wahrnehmung des Stadtraums Elemente, die Atmosphäre eines Platzes bezieht, als Thema historischer Städtebautheorien dass nicht zwischen Innen- und Außenräumen, des 20. Jahrhunderts privaten und öffentlichen Räumen unterschieden wird. Böhme thematisiert lediglich die Stadt als Es lässt sich festhalten, dass bei der städtebau- solche und nicht spezifische Orte in der Stadt, theoretischen Suche nach einem um die sinnliche einen Platz, eine Straße, einen Hof und bleibt recht Wahrnehmung erweiterten Menschenbild und unbestimmt, wenn er die Atmosphäre einer Stadt einem auch auf atmosphärischen statt nur bau- als «die Art und Weise, wie sich das Leben in ihr lichen Qualitäten basierenden Stadtverständnis vollzieht» (2006: 132), versteht. entweder auf phänomenologische Argumentati- Ebenso beschränkt sich der Atmosphärenbe- onen zurückgegriffen wird oder Phänomenologen griff für eine städtebautheoretische Anwendbar- keit zu sehr auf das Subjektive und auf die Wahr- nehmung. «Gebrauch und Erscheinung werden 8 Siehe bspw. Janson & Bürklin 2002; Niemann 2009; Heß 2013; Hebert 2012; Rauh 2012. von Böhme nicht in Zusammenhang gebracht. 9 Siehe auch Schmitz 1969, 1998. Ein methodisch ganz Die Befindlichkeit des wahrnehmenden Subjekts anders gelagertes, empirisches Beispiel zur Erfassung von scheint nicht davon beeinflusst zu sein, wie es sich Atmosphären ist das Forschungsprojekt StadtLabor Luzern bewegen kann und wie sich seine Handlungsmög- (Blum 2010). 70 Anne Brandl selbst die städtebautheoretischen Herausforderun- nehmung orientierten Städtebautheorien lassen gen deuten. Eine eigene städtebautheoretische sich Wellen und Brüche im Verständnis von Stadt Kompetenz wird zusätzlich durch die Behauptung jenseits des Baulich-Objekthaften identifizieren, geschwächt, die Disziplin besitze kaum eigene unterschiedliche Menschenbilder und Wahrneh- Konzepte, die von der sinnlichen Wahrnehmung mungsverständnisses eruieren sowie die Dominanz des Stadtraumes ausgehen und auf die bei der bestimmter Begriffe oder Verschiebungen in der Schaffung von atmosphärischen Stadtqualitä- Begriffsverwendung verstehen. Auf der Basis die- ten zurückgegriffen werden kann. Hasse deutet ses historischen Querschnittwissens könnte die Dis- unspezifisch Camillo Sitte als historischen Ansatz ziplin wichtige Antworten auf aktuelle Raument- einer atmosphärischen Gestaltung von Plätzen wicklungen und städtebauliche Problemstellungen (vgl. 2007: 38), Saskia Hebert erkennt trotz einer geben und Anregungen für den heutigen Entwurf Verdrängung phänomenologischen Raumdenkens atmosphärischer Stadtqualitäten bereithalten. durch späte Moderne und Postmoderne Ansätze bei Kevin Lynch, Christian Norberg-Schulz und Albert Erich Brinckmann – Das «Lebendig- Tomáš Valena, ohne diese weiter auszuführen (vgl. werden des Raumes» durch Rhythmus Hebert 2012: 50). Gernot Böhme nennt neben Sitte und Lynch noch Gordon Cullen als Vertreter Der Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann veröf- eines nicht das Funktionale in den Blick nehmende fentlicht Anfang des 20. Jahrhunderts in verschie- Stadtverständnisses, resümiert aber ohne eine ver- denen Schriften ein körperfundiertes Raum- und tiefte Auseinandersetzung mit diesen Theorien, Wahrnehmungsverständnis und basiert seine dass sie dennoch dem Visuellen verhaftet blei- Städtebautheorie auf der Wahrnehmungspers- ben (vgl. 2006: 129). Für die Übertragung seines pektive eines sich durch den gesamten Stadtraum Atmosphärenkonzeptes auf eine Stadtästhetik, bewegenden Fußgängers, der nicht nur sieht, son- der es um das körperleibliche Befinden im Stadt- dern das gebaute Außen kinästhetisch und kör- raum geht, scheinen ihm die kunsttheoretischen perleiblich wahrnimmt. Für ihn ist der Körper des Ansätze von Heinrich Wölfflin und August Schmar- Menschen ein «materielles Gefülltsein», dessen sow sowie die poetischen Beschreibungen August Volumen wir fühlen, «ohne daß der Augensinn Endells ergiebiger, auswerten tut er aber auch die geringste Mitwirkung hat, und mit dem ers- diese kaum (vgl. Böhme 2006: 114–118). ten Armheben ist die Vorstellung des Volumens Untersucht man jedoch die verschiedenen im außer uns, des Raumes, gewonnen» (Brinckmann 20. Jahrhundert entwickelten Städtebautheorien 1911/1912: 57). Mit der Auffassung eines Zusam- näher, so fällt auf, dass es kontinuierlich Ansätze menhangs zwischen dem Selbstempfinden des gegeben hat, die die sinnliche Wahrnehmung von Menschen als Körpervolumen und der Wahrneh- Stadtraum und nicht seine bauliche Herstellung mung von Bau- und Raumkörpern knüpft Brinck- in den Mittelpunkt rücken.10 Diese Ansätze, so die mann an die Kunsttheorie seines Lehrers Heinrich Behauptung der Autorin, können einen ebenso Wölfflin an, der davon ausgeht, dass das Subjekt wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines um das körperliche Formen deshalb wahrnehmen kann, Atmosphärische erweiterten Stadtverständnisses weil es selbst einen Körper besitzt (vgl. Wölff- leisten, wie die Übertragung phänomenologischer lin 1999: 9). Allerdings folgt Brinckmann nicht Argumentationen auf aktuelle städtebauliche Wölfflins einfühlungsästhetischer Argumentation Problemstellungen. Mit einer historisch-analyti- einer «unbewussten Projektion von Körper-, Tätig- schen Aufarbeitung von an der sinnlichen Wahr- keits- und Stimmungsgefühlen des Leibes auf den Baukörper» (Wagner 2004: k.S.); für Brinckmann 10 Die Ergebnisse dieses Aufsatzes entstammen dem an «beseelt» der Wahrnehmende nicht den architek- der ETH Zürich angesiedelten Dissertationsprojekt der Au- tonischen Körper. Während der visuelle Sinn dem torin «Der Mensch in den Städtebautheorien des 20. Jahr- physisch gestalteten Außen und objektiv Nach- hunderts. Die sinnliche Wahrnehmung von Stadtraum». vollziehbarem vorbehalten bleibt, wird mit dem Ziel der Dissertation ist eine Geschichte der sinnlichen körperleiblichen Empfinden der Wahrnehmungs- Wahrnehmung von Stadtraum und des Menschenbildes in prozess nach Innen emotional subjektiviert: ausgewählten europäischen und nordamerikanischen Städ- tebautheorien des 20. Jahrhunderts sowie darauf aufbau- end ein konzeptioneller Ansatz für ein sinnliches Entwerfen Das Auge übernimmt die Vermittlerrolle, indem es als zeitgenössischer Stadträume. feinster Tastsinn, der ohne körperliche Berührung ferne Rhythmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft 71 Gegenstände aufgreift, uns ermöglicht, durch den um- Relation, worunter er «das optisch aufgenommene, gebenden Raum nach allen Richtungen uns zu bewe- plastisch und räumlich empfundene Verhältnis der gen und ihn auszumessen. Daß das Auge dabei lange einzelnen Teile einer architektonischen Situation nicht die Sicherheit bietet wie ein direktes körperliches untereinander und zum Ganzen» (1921: 20f.) ver- Maßnehmen im Schreiten oder Armspannen, ist alltäg- steht und Rhythmus, der für ihn eine höhere Stufe liche Erfahrung. Immer aber überträgt das Auge seine der Relation ist. Eindrücke durch den gesamten Nervenapparat auf un- Rhythmus ist für Brinckmann eine künstleri- sere ganze Körperlichkeit. Das Hirn erscheint nur der sche Kausalität, die dadurch entsteht, dass Raum- Schaltapparat räumlichen Empfindens, die Lust am körper und Baukörper gestalterisch in Beziehung Raum verspürt unsere Brust stärker. gesetzt und gegliedert werden, sich ein Teil immer (Brinckmann 1911/1912: 57) aus dem Vorhergehenden entwickelt, sodass dem Die visuelle Wahrnehmung allein ist für Brinck- Wahrnehmenden das Gestaltete nach und nach mann unzureichend und führt allenfalls zu einer bewusst wird und sein «Anschauungsvermögen Raumvorstellung, nicht aber zu einem – für ihn einen Bewegungsvorgang [erlebt]» (1921: 63). relevanteren – Raumgefühl: Die gestaltete Rhythmisierung von Straßen und Plätzen ist dabei für Brinckmann die höchste städ- Man hat die Raumvorstellung als einen Komplex von tebauliche Aufgabe, da sie unmittelbar auf den Bewegungsvorstellungen definiert, d.h. von Vorstellun- Stadtbewohner wirkt: «Der Bewohner stellt nicht gen, zu deren Gewinnung das vermittelnde Auge sich nur den Rhythmus vor, sondern schafft ihn neu, hin und her bewegen muß, also gleichsam das betrach- vielleicht sogar, ohne daß der Rhythmus im Kunst- tete Objekt von wechselnden Standpunkten aus abtas- werk ihm überhaupt Vorstellung wurde» (1921: tet, und deren Summe dann, durch das Hirn addiert, die 64). Der gestaltete Rhythmus von Raum- und Bau- Raumvorstellung ergibt. Damit ist allenfalls ein Vorgang körpern fordert den Stadtbewohner zur Bewegung konstruiert, nichts aber über das Gefühl selbst gesagt. auf, dieser vollzieht ihn jedoch nicht nur bewusst (1911/1912: 57) oder unbewusst nach, er schafft ihn auch neu. Das Raumgefühl als zentraler Begriff der körperlich- Der gestaltete Rhythmus des Stadtraumes wird zu sinnlichen Seite von Brinckmanns Wahrnehmungs- einem lebendigen Rhythmus, zum körperleiblichen verständnis hat «seinen Ursprung in der Empfindung Bewegungsrhythmus des Menschen. Damit wird des Menschen für eine bestimmte Körperlich- deutlich, dass Brinckmanns Wahrnehmungsver- keit [...], [ist] also psychophysisch» (2000: 88).11 ständnis kein passiv-rezeptives, sondern ein aktiv- Die Empfindung von Körperlichkeit bezieht sich schöpferisches ist. dabei sowohl auf den eigenen Körper als auch auf Brinckmanns städtebautheoretischer Ansatz die Bau- und Raumkörper des physischen Außen. beruht auf einem körperleiblichen Menschenbild Die Fähigkeit, das eigene Gefülltsein – phänome- und beschreibt Raum nicht als ein dem Men- nologisch gesprochen den eigenen Leib – zu emp- schen äußerliches, gegenständliches Gegenüber. finden, ermöglicht es den Stadtbenutzer, die äuße- Vielmehr empfindet der Fußgänger Raum in der ren Raumkörper nicht nur zu sehen, also aus einer körperleiblichen Bewegung, aufgrund der städ- Distanz wahrzunehmen, sondern sich gleichsam tebaulich bewusst gestalteten – rhythmisierten – mit dem eigenen Körperleib in den Raum einzu- Sequenz von Straßen und Plätzen. Wir «empfinden schreiben, dessen Form mit zu vollziehen und von Innervation durch den baulichen Rhythmus», so ihr angeregt zu werden. Ein Platz umhüllt und lässt Brinckmann, und nur dadurch kann es zu einem mit seiner ruhenden, flächigen Form die Bewegung «Lebendigwerden des Raumes» (1921: 78) kom- zum Stillstand kommen, die Linearität der Strasse men. Es geht also weder um die Wahrnehmung zieht das Auge und den Körper des Fußgängers in des Raumes, im Sinne eines bildlichen Gegenübers, die Tiefe. Für diese Subjekt und Objekt überwölben- noch um die Wahrnehmung im Raum, im Sinne den Situationen verwendet Brinckmann die Begriffe eines Drin Seins in einem Container, sondern um die Wahrnehmung von innerer und äußerer, sub- jektiver und objektiver, eigener und fremder Räum- 11 Der Begriff «psychophysisch» lässt sich auf Gustav lichkeit. Indem Rhythmus sowohl die künstlerische Theodor Fechners gleichnamige Theorie zurückführen, bei der das subjektive, psychische Erleben mit objektiven, äuße- Kausalität von Raum- und Baukörpern und das ren Reizen in Zusammenhang gebracht wird (vgl. Reiterer zeitliche Nacheinander von Wahrnehmungseindrü- 2003). cken als auch ein körperleiblicher Bewegungsvor- 72 Anne Brandl gang im und mit dem Raum ist, umfasst der Begriff oder Brinckmann formulierte ganzheitliche Men- Städtebau und Stadtwahrnehmenden, Objekt und schenbild hier jene erste Spaltung erfährt, die in Le Subjekt gleichermaßen, argumentiert Brinckmann Corbusiers theoretischen Ausführungen zu einem (im heutigen Sinne) phänomenologisch. ideologischen Höhepunkt kommt (vgl. Le Corbu- «Man baut so, wie man sich selbst empfindet» sier 1979) und die heutige phänomenologisch (1956: 5) schreibt Brinckmann in seinem Spät- orientierte Forschungshaltungen zu überwinden werk. Das körperleibliche Selbstempfinden des suchen (vgl. Hasse 1999). Entwerfers wie des Stadtbewohners ist in den Ent- Für Schumacher wirkt ein Bauwerk auf drei wurfsprozess zu integrieren, Städtebau geht vom verschiedene Arten auf den wahrnehmenden subjektiven Erleben und nicht vom physischen Pro- Menschen: verstandesmäßig, sinnlich und seelisch, dukt aus oder wie Brinckmann es formuliert: wobei letztere Wirkung nur durch eine Vereinigung Straßen und Plätze als positive Gebilde aufzufassen, sie der ersten beiden zustande kommt. Diese verschie- als bestimmt begrenzte Luftvolumina statt als formlo- denen Wirkungen ordnet er unterschiedlichen Sin- se Reste zwischen Baublöcken zu geben, sie in gute nen zu. Während verstandesmäßige Wirkungen vor Größenverhältnisse zueinander zu setzen, endlich sogar allem durch die visuelle Wahrnehmung entstehen rhythmische Funktionen in ihrer Raummasse zum Aus- können, beruhen sinnliche Wirkungen auch auf druck zu bringen, ist höchste architektonische Aufgabe körperleiblichen und kinästhetischen Wahrneh- im Stadtbau. Es ist derjenige Ausdruck seiner Kunst, mungen. Seine Differenzierung der Wirkungswei- der am unmittelbarsten auf den Bewohner einer Stadt sen von Gebautem ist jedoch eine rein analytische; wirkt, denn dessen eigene Körperlichkeit, die Basis jeg- der Mensch kann nicht nur mit dem Verstand lichen räumlichen Empfindens wird sich selbst bewe- «unter Ausschaltung der sinnlichen Anschauung» gend in diese rhythmische Bewegung hineingezogen, (Schumacher 1926: 18) wahrnehmen bzw. ein phy- erhöht, Fröhlichkeit und Stolz und Kraft erfüllen sie. sisches Objekt kann nicht nur auf den menschli- (1921: 64) chen Verstand einwirken. Vielmehr erzeugt das mit dem Verstand optisch Erfasste ein Gefühl, das auf der Leiblichkeit des Menschen beruht: Leibliche Fritz Schumacher – Die «Konstruktive Erfahrungen des Wachstums, der Kraft, des Stüt- Suggestionskraft» der Baukunst zen und Tragens, Spannen, Ziehen oder Schwellens spielen bei der Wahrnehmung und Beurteilung Fritz Schumacher veröffentlicht 1926 einen sehr baukünstlerischer Werke unbewusst eine Rolle – kompakten und für sein Schaffen grundsätzlichen Schumacher nennt das die «Vermenschlichung Aufsatz über sein Raumverständnis und die ver- des starren Materials» (Schumacher 1926: 19). schiedenen Wirkungen von Architektur auf das Indem Schumacher den Menschen körperleiblich wahrnehmende Subjekt, der einerseits für eine an definiert, kann er in Bezug auf die Wahrnehmung, der sinnlichen Wahrnehmung und die Schaffung ähnlich wie Brinckmann argumentieren, dass es atmosphärischer Qualitäten interessierte Städte- um das Scheinen der Dinge gehen muss und nicht bautheorie äußerst anregend, andererseits aber darum, wie diese Dinge tatsächlich sind:12 auch erhellend ist in Bezug auf das in der städte- Das was aesthetisch in Betracht kommt, ist nicht die baulichen Moderne der Zwischenkriegszeit entste- Realität, sondern die Wirkung der Dinge. Wenn es in hende, rationale Menschenbild (vgl. Poppelreuter der Baukunst neben dem ‹dies bedeutet› zugleich ein 2007). ‹dies ist› gibt, so gewinnt auch das ‹dies ist› erst seine Schumacher differenziert sein Menschenbild in künstlerische Wirkung, wenn es zugleich für den Be- eine vernunftbasierte, geistige Innenwelt und eine trachtenden zum ‹dies bedeutet› weiter wächst. [...] sinnliche Seite. Diese wiederum unterscheidet er in Nicht die Tatsache der konstruktiven Korrektheit, son- eine «außermenschliche Sinnenwelt», die ein dem dern die Tatsache der konstruktiven Suggestionskraft Menschen fassbares und stoffliches Gegenüber ist kommt künstlerisch in Betracht. (1926: 21) und in eine «in unserem Körper beschlossene Sin- nenwelt» (Schumacher 1926: 9). Obwohl Schuma- cher ausdrücklich Vernunft und Sinnliches in einer 12 Konkret heißt es bei Brinckmann: «Das Scheinen tritt an die Stelle des Seins» (1914/15: 57), wenn er dafür argu- unauflösbaren Wechselbeziehung sieht, lässt sich mentiert, dass es nicht nur um eine Raumvorstellung gehen festhalten, dass das Ende des 19. Jahrhunderts in kann, sondern auch um ein Raumgefühl, wenn aus dem wirk- den städtebautheoretischen Ansätzen von Sitte lichen Maßstab ein wirkender werden muss. Rhythmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft 73 Die konstruktive Suggestionskraft der Architektur und Architektur werden also nicht auch in der kann sich jedoch nur entfalten, wenn der Mensch Bewegung wahrgenommen – diesen Aspekt führt sich bewegt – ähnlich wie Brinckmann verknüpft Brinckmann neu ein –, Stadtraum und Architek- Schumacher die Wirkung des gestalteten Außen tur werden mit Schumacher nur in der Bewegung mit der Bewegung. Die Architektur ist für ihn inner- wahrgenommen. halb der bildenden Künste die einzige Kunst, für deren vollständige Erfassbarkeit es neben der visu- Die britische Townscape-Bewegung – Das ellen Wahrnehmung der Bewegung bedarf: szenische Erleben eines urbanen Dramas Ihr richtiges Betrachten setzt in jedem Augenblick eine mitschöpferische Arbeit voraus, die in diesem Bewußt- Seit den 1940er Jahren entwickeln unterschied- sein der Zusammenhänge liegt. Es handelt sich dabei lichste Autoren der Fachzeitschrift Architectural nicht etwa um ein Nebeneinanderstellen von Erinne- Review unter dem Begriff Townscape eine Auf- rungsbildern, sondern um etwas unmittelbar lebendig in fassung von Stadt, die von der Erfahrbarkeit des uns Wirksames. Wir tasten das organische Raumgefüge Stadtraumes ausgeht. Neben Gordon Cullen sind nicht nur mit dem Auge, – das es in Bilder zerlegt, – vor allem Nikolaus Pevsner und Hubert de Cronin sondern durch die Bewegung mit unserer ganzen Körper- Hastings als zentrale Protagonisten dieses städte- lichkeit ab. Dadurch leben wir in dem Organismus, wir bautheoretischen Ansatzes zu nennen. Während werden gleichsam Teil von ihm. Es sind doppelte sinn- letzterer als Besitzer und Herausgeber der Zeit- liche Eindrücke, die wir erleben, eine bereichernde Ver- schrift das Thema maßgeblich vorantreibt, formu- bindung, die in dieser Art nur der Architektur eigen ist. liert Pevsner die theoretischen Grundlagen und die (Schumacher 1926: 30) städtebauhistorische Einbettung von Townscape. Sein wissenschaftlicher Ansatz einer theoretischen Bewegung ist für Schumacher ein mitschöpferi- und historischen Fundierung von Townscape unter- scher Prozess, d.h. Architektur bewirkt nicht nur scheidet sich deutlich von Cullens intuitiv assozi- einen gedanklichen oder körperleiblichen Bewe- ativer Vorgehensweise. Während Cullen seine seit gungsvorgang im Menschen, sondern Architektur 1949 in loser Reihenfolge in der Architectural entsteht erst im menschlichen Wahrnehmungspro- Review erschienen Artikel zum Townscape-Ansatz zess. Damit schließt Schumacher an Brinckmann 1961 in einem gleichnamigen Buch gesammelt an, mit dem ihn ein ähnliches mehrdimensionales, herausgibt14, wird das von Pevsner geplante und das Visuelle, Körperleibliche und Kinästhetische Ende der 1940er Jahre bereits weit gediehene gleichermaßen umfassende Wahrnehmungs- Buch Visual Planning erst nach seinem Tod, 2010 verständnis verbindet. Auch bei Brinckmann ist als Fragment veröffentlicht. Bewegung nicht nur eine Reaktion auf einen rhythmisch gestalteten Außenraum, sondern der bauliche Rhythmus wird zu einem körperleiblich mitvollziehenden wie auch neu geschaffenen tete Masse zweckvoll behauener Steine, wolgefügter Balken Rhythmus. Mit Schumachers Argumentation wird und sicher gespannter Wölbungen das architektonische Kunstwerk, oder entsteht dies nur in jenem Augenblick, wo das Subjekt jedoch noch einmal gegenüber dem die aesthetische Betrachtung des Menschen beginnt, sich in physisch-objekthaften Außen gestärkt. Während das Ganze hineinzuversetzen und mit reiner freier Anschau- bei Brinckmann das wahrnehmende Subjekt, ange- ung alle Teile verstehend und genießend zu durchdringen?» regt durch eine physische Gestaltung etwas Neues (1893: k.S.). schafft, wird mit Schumacher das Gebaute erst 14 Vor allem seine 1971 in Paperback herausgegebene durch den Menschen lebendig – es ist auf dessen gekürzte Fassung des Buches von 1961 hat Verbreitung ge- aktiv-schöpferische Wahrnehmung angewiesen: funden und ist Grundlage der deutschen Übersetzung von 1991 (vgl. Cullen 1971, 1991). Aitchison und Macarthur «[Das] bauliche Werk [hat] anderen Kunstwer- sehen die beiden unterschiedlichen Fassungen von Cullens ken gegenüber die Eigentümlichkeit [...], an sich Townscape-Buch äußerst kritisch. Während die beiden Kapi- unvollendet zu sein: es vollendet sich erst dadurch, tel «Proposals» und «Town Studies» in der Erstausgabe von daß der Mensch, für den es geschaffen ist, als sein 1961 die Verbindung des Townscape-Gedankens mit der Mittelpunkt hinzutritt» (1938: 210).13 Stadtraum Moderne deutlich in Bildern darstellen, wird Townscape mit der gekürzten Ausgabe von 1971, so ihr Argument, zu ei- ner nostalgisch auf traditionellen und historischen Formen 13 Mit dieser Argumentation knüpft Schumacher an beharrenden Bewegung (vgl. Aitchison & Macarthur 2010: Schmarsow an, der bereits 1893 fragt: «Ist die aufgeschich- 13f.; sowie Macarthur 2007: 204). 74 Anne Brandl Die wahrnehmungstheoretische Perspektive meaning by deliberate connections or contrasts with von Townscape basiert auf einer Übertragung der, neighbouring modern building. […] The very opposition Ende des 18. Jahrhunderts in England entwickelten of the delicacy of traditional ornament in the one and Picturesque-Theorie. Der Begriff picturesque wird the crispness of unadorned free-stone and glass in the erst in Zusammenhang mit der Malerei und von other would have had a decorative effect, acceptable seiner Bedeutung her als ‹bildhaft›, ‹wie in einem to both the progressive and the traditional-minded. Gemälde› und als Synonym mit ‹malerisch› verwen- (Hastings 1944: 7) det, bevor er im Verlaufe des 18. Jahrhunderts als Ausgangspunkt von Cullens Townscape ist ein positive Beschreibung von Szenen in englischen sich fussläufig durch den Stadtraum bewegender Landschaftsgärten gebraucht wird (vgl. Walter Mensch und seine visuelle Wahrnehmung. Indem 2006: 41). Vor allem auf Uvedale Price wird sich die Cullen das Sehen als einen, Emotionen und Asso- Townscape-Bewegung einhundert fünfzig Jahre spä- ziationen evozierenden Prozess auffasst, kann er ter beziehen. So veröffentlicht Pevsner 1944 einen die Stadt als «ein dramatisches Ereignis» (1991: Artikel in der Architectural Review, in welchem er 7) begreifen und dem Städtebau die Funktion Prices 1794 erstmals veröffentlichtes «Essay on the zuweisen, stadträumliche Bilder bzw. Bildszenen Picturesque» hinsichtlich des Begriffes picturesque für dieses Ereignis zu schaffen. Dafür unterschei- und seiner Übertragung auf zeitgenössische städ- det Cullen zwischen dem seriellen Sehen und dem tebauliche Fragestellungen analysiert. Für Price räumlichen Empfinden. Die Wahrnehmungsweise geht es darum, durch Gestaltungsprinzipien wie des seriellen Sehens basiert auf der Annahme, dass Vielfalt (variety), Unregelmäßigkeit (irregularity), der Mensch in der Bewegung mit immer neuen Rauheit (roughness) und Komplexität (intricacy) Bildausschnitten der Stadt konfrontiert ist. Sind sinnliche Wahrnehmungsangebote (irritation, ani- die Bilder kontrast- und abwechslungsreich, wird mation) zu schaffen. Diese Prinzipien sind für ihn die Ganzheit des Stadtraumes intensiver erlebt, da durch Komposition miteinander zu verknüpfen: «[…] sie Gefühle, Erinnerungen und Assoziationen her- nothing should be detached in such a manner as vorrufen kann. to appear totally insulated and unconnected, but there should be a sort of continuity throughout the Unser Ziel heißt, die Elemente der Stadt so zu mischen, whole» (Price 1810: 238). daß unsere Gefühle dadurch angesprochen werden. Dieses Denken in Zusammenhängen und Bezie- [...] Der menschliche Geist reagiert auf Kontraste, auf hungen ist für Pevsner «von höchstem aktuellen den Unterschied zwischen den Dingen, und wenn zwei Wert für eine Anwendung auf all die vielen Ein- Bilder (die Straße und der Park) zu gleicher Zeit im Ge- zelgebilde, die zusammen eine städtische Anlage dächtnis sind, wird ein lebhafter Kontrast empfunden, ergeben» (1971: 80). Hastings formuliert die Über- und die Stadt wird in einem tieferen Sinne sichtbar. Sie tragung der Picturesque-Theorie auf städtebauliche wird durch das Drama der Juxtaposition, des harten Fragestellungen seiner Zeit noch deutlicher: «What Nebeneinanderstellens, lebendig. (Cullen 1991: 8f.) we really need to do now […] is to resurrect the true Cullen differenziert das serielle Sehen in das beste- theory of the Picturesque and apply a point of view hende Bild und den auftauchenden Ausblick, already existing to a field in which it has not been deren zeitliches und räumliches Nacheinander als consciously applied before: the city» (1944: 3). Die Syntheseleistung der menschlichen Wahrnehmung Forderung nach einer «Kunst der Beziehungen» zu einem bedeutungsvollen Miteinander werden (Cullen 1991: 6) begründet sich in dem Selbstver- kann. Der Begriff des Bildes wird sowohl subjektiv ständnis von Townscape als kritische Weiterent- im Wahrnehmenden als emotional aufgeladene wicklung der städtebaulichen Prinzipien der in der Assoziation oder als erlerntes und erinnertes Wis- Zwischenkriegszeit entwickelten Moderne. So sehen sen angesiedelt als auch objekthaft als gebautes, die Protagonisten in Prices Forderung nach Vielfalt bewusst inszeniertes Ensemble verstanden. Beide und Unregelmäßigkeit die Möglichkeit einer städ- Bildverständnisse – subjektives Assoziationsbild tebaulichen Vermittlung zwischen modernen und und objekthaftes Stadtbild – sind in einen Erle- historischen Gebäuden, indem diese kontrastierend bensprozess eingebettet: in der Bewegung und zusammengebracht werden: durch Erinnerung, Wissen und Assoziation wird And the future may show how architecture of the aus der räumlichen Abfolge städtebaulicher Bilder past can be thrown into relief and can receive a new eine Bildgeschichte. Aus dem auf Physischem beru- Rhythmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft 75 henden Bild wird ein narratives. Insofern scheint szenen, die durch das zeitliche und räumliche Mit- der Ausdruck serielles Sehen etwas unglücklich; einander von Bildern entstehen. Wahrnehmung ist er verdeutlicht zwar, dass für Cullen die Wahrneh- somit nicht nur sequentiell sondern auch szenisch. mung des Stadtraumes an die Bewegung gebun- Dabei sind die Bildszenen nicht Bestandteil einer den ist, aber die narrative Qualität, die er in einem erfundenen Geschichte, die der Städtebauer dem bildhaft gestalteten Stadtraum sieht, und die Stadtraum überstülpt, sondern sie sind eine erleb- letztendlich erst Auslöser einer gedanklichen und bare Eigenschaft des Stadtraumes selbst. körperleiblichen Bewegung ist, wird mit diesem Mit der Wahrnehmungsweise des räumli- Begriffspaar nicht deutlich. Das Narrative offen- chen Empfindens, im englischen Original ‹Place›, bart sich in Cullens immer wieder verwendetem setzt Cullen das Körperempfinden in Bezug zum Begriff der Szene, den er wie im Theater als Wech- visuellen Wahrnehmungsprozess. ‹Place› ist eine sel einer (Bild)Situation innerhalb des urbanen Verknüpfung von geographischem Standort und Dramas versteht. Einleitend zur Stadtanalyse von menschlichem Körper, von Raum und Subjekt. Der Evesham verdeutlicht Cullen die Unterschiede zwi- menschliche Sinn für den Standort ergibt sich für schen der Betrachtung eines Bildes in einer Galerie Cullen aus der instinktiven und ständigen Gewohn- und dem Erleben einer Szene in der Stadt: heit des Körpers, sich zu seiner Umgebung in Bezie- A town can, in some ways, be likened to an art gal- hung zu setzen (vgl. 1991: 9). Dieses Bewusstsein lery for it should have its ‹set pieces›. The high spots für den körperleiblichen Standort und dessen Aus- – the dramatic spots – the intimate places – High richtung auf ein weiteres Drumherum bezeichnet Street, Town Place, Churchyard and Park. But the Cullen als Beziehung zwischen Hier und Dort. parallel breaks down when we come to look at them, Bernhard Waldenfels hat darauf hingewiesen, because these set pieces are not hanging on the wall, dass mit der Rede von dem Hier auf einen Eigen- not framed. They are next to each other, touching, and ort verwiesen wird, und diese Selbstbezüglichkeit stand in three dimensions, and you walk from one to führt zu Ein- und Ausgrenzungen, zur Schaffung the other so that the eye does not go into neutral but von Innen- und Außenbereichen (vgl. 2003: 57). moves continuously. One scene gives place naturally Ein Hier ist phänomenologisch nicht ohne ein Dort to another, providing scope for the exercise of skill in zu denken, denn das Dort ist ein mögliches bzw. effecting the transition. (1961: 199) zukünftiges Hier (vgl. Waldenfels 1998: 151). Aus dieser Spannung entsteht ein Raumempfinden – Eine Szene meint bei Cullen, dass in der Bewegung Gordon Cullen nennt es das «räumliche Drama der mindestens zwei städtebauliche Bilder zueinander Beziehungen» (1991: 33). In gewisser Weise kann in Beziehung gesetzt werden. Das mit dem Begriff Cullens ‹Hier und Dort› als körperleibliches Pen- Szene implizierte Narrative ist bei Cullen jedoch dant zum bestehenden Bild und auftauchendem nicht etwas Fiktives, sondern eine atmosphärische Ausblick des seriellen Sehens interpretiert werden Qualität, wie die Analyse des Stadtzentrums von und erst das Zusammenspiel aus körperleiblichem Ludlow verdeutlicht: Raumempfinden und seriellem Sehen erzeugt Emerging on the left, the façade [of Butter Cross Build- jenes urbane Drama bzw. szenische Erleben des ing; d.V.] now revealed, another building faces the ex- Stadtraumes, um das es Cullen geht: plorer. And, as if echoing or continuing the space en- Durch Übung des Blicks wurde offenbar, daß Bewe- closed by the portico, the narrow alley disappears to its gung nicht eine einfache, meßbare, fürs Planen nütz- own mysterious destination. Branching right, however liche Größe ist, sondern daß sie in Wirklichkeit zwei- the scene is quite different; dark and intimate, with a erlei ist, das bestehende Bild und der auftauchende pub on the right, the path passes through an archway, Ausblick. Wir entdeckten, daß der Mensch sich seiner to a sunny distance. It is hard to realize that the two Position innerhalb seiner Umgebung ständig bewußt streets are but 30 ft. apart, and it is partly this variety ist, daß er ein Gefühl für den Ort notwendig braucht of character in so small an area which enhances the und daß dieser Sinn für das HIER an das Wissen um delightful air of intrigue. (1961: 196) das DORT gekoppelt ist. (1991: 12; Herv.i.O.) Cullen geht es mit dem seriellen Sehen also nicht Indem Cullen das körperleibliche Dort (Dortsein) nur um eine in der Bewegung entstehende Bild- und das räumliche Dort (auftauchender Ausblick) folge, im Sinne eines zeitlichen und räumlichen als komplementär zum körperleiblichen Hier Nacheinander von Bildern, sondern auch um Bild- (Standort) und räumlichen Hier (bestehendes Bild) 76 Anne Brandl denkt, beschreibt er, phänomenologisch gesehen, ist die Relevanz der untersuchten Städtebautheo- wesentliche Bedingungen der Möglichkeit des rien für die aktuelle Diskussion über die sinnliche räumlichen Wahrnehmens. Einerseits zeigt sich Wahrnehmung des Stadtraumes und seine atmo- mir etwas nur dann, wenn ich mich ihm zuwende, sphärischen Qualitäten unterschiedlich zu beur- andererseits entsteht räumliches Wahrnehmen teilen. Eine Übertragung historischer Argumenta- dadurch, dass die Dinge selbst uns auffordern, uns tionen auf heutige Problemstellungen kann nur zu bewegen (vgl. Waldenfels 1974). Cullen argu- durch Dekontextualisierung und eine damit ein- mentiert nicht in diesem Sinne, aber er denkt über hergehende notwendige Abstraktion gelingen. Die städtebauliche Gestaltungsprinzipien nach, die ein skizzierten Menschenbilder, Stadt- und Wahrneh- sinnliches Erleben des Stadtraumes ermöglichen. mungsverständnisse wurden vor dem Hintergrund So muss der Schaffung eines städtebaulichen Hier spezifischer gesellschaftlicher und soziokultureller ein städtebauliches Dort folgen: Durchblicke in Rahmenbedingungen entwickelt und es kann nicht einer baulich geschlossen Häuserzeile machen uns darum gehen, an diese anknüpfen oder sie gar auf den dahinter liegenden Innenhof neugierig; wiederbeleben zu wollen. Die fehlende ‹Passgenau- Torbögen schließen eine Platz physisch ab und igkeit› zu zeitgenössischen phänomenologischen ermöglichen uns dennoch einen Ausblick auf den Argumentationen wird bereits daran deutlich, dass weiteren Stadtraum; Balkone und Terrassen zie- Brinckmann und Co. von Rhythmus, Raumemp- hen uns nach draußen; beleuchtete oder baulich finden, materiellem Gefülltsein oder Suggestions- gerahmte Gebäude wecken unsere Aufmerksam- kraft sprechen statt von Atmosphäre, gestimmtem keit. Umschließungen, Einfriedungen, Blockierun- Raum, Leibraum oder Präsenz und ihre Begriffe gen des Ausgangs durch quer stehende Gebäude aus völlig anderen Begründungszusammenhän- erzeugen das Gefühl des Hierseins, des Aus- oder gen herleiten. Dennoch halte ich ein Wiederlesen Eingeschlossen seins; Bäume steigern durch ihr historischer Städtebautheorien für den aktuellen, Blätterwerk das Gefühl des Hierseins, indem sie phänomenologisch geprägten Diskurs über atmo- das jenseits Liegende weiter entfernt erscheinen sphärische Qualitäten der zeitgenössischen Stadt lassen. Cullen beschreibt die städtebaulichen für unumgänglich. Ich möchte dies exemplarisch Elemente nie allein in ihrer physischen Quali- am Begriff der Bewegung verdeutlichen. tät sondern immer in Zusammenhang mit dem Bei einem Vergleich der analysierten städtebau- räumlichen Wahrnehmen – Ausgangspunkt sind theoretischen Ansätze fällt auf, dass für alle die physische Gestaltungsprinzipien, doch deren Ziel fussläufige Bewegung notwendige Voraussetzung ist eine Wirkung auf den wahrnehmenden Stadt- für eine sinnliche Wahrnehmung des Stadtraumes bewohner. Unter diesem Blickwinkel «[wird] die ist. Für Brinckmann beruht «das Erleben eines Rau- Stadt zu einer plastischen Erfahrung […], zu einer mes nach seiner Körperlichkeit [...] auf einer Bewe- Reise durch Druck und Vakuum, einer Folge von gungsvorstellung» (1919: 2), für Schumacher «tas- Aufgedeckt- und Umschlossensein, von Spannung ten [wir] das organische Raumgefüge nicht nur und Erleichterung» (Cullen 1991: 10). mit dem Auge, – das es in Bilder zerlegt, – sondern durch die Bewegung mit unserer ganzen Körper- Der städtebautheoretische Beitrag zur lichkeit ab» (1926: 30), und für Cullen lässt sich Diskussion über die sinnliche das urbane Drama nur in der Bewegung erleben. Wahrnehmung des Stadtraums Nun hat Christa Kamleithner darauf hingewiesen, dass das Subjekt in Böhmes Atmosphärenkonzept Die hier auszugsweise vorgestellten Ansätze von vor allem still steht, und «da, wo Böhme städti- Brinckmann, Schumacher und Cullen verdeutlichen sche Atmosphären beschreibt, ist es ein ruhendes exemplarisch, dass es im 20. Jahrhundert durchaus Individuum, das das Leben in den Straßen wahr- Städtebautheoretiker gab, die von der Wirkung des nimmt» (2009: k.S.). Bei Böhme geht es um ein Stadtraumes auf den Stadtbewohner und einem Dasein, ein Hiersein, um Spüren von Stimmungen, mehrdimensionalen Wahrnehmungsverständnis um ihr Gewahr werden. Inwiefern die Befindlich- ausgegangen sind. Neben Camillo Sitte (1998) und keit des Subjekts durch die Art seiner Bewegung Kevin Lynch (1960; Appleyard/Lynch/Myer 1964) beeinflusst wird, so Kamleithner weiter, beschreibt ließe sich die Reihe mit Christopher Alexander Böhme nicht. Den Zusammenhang zwischen (1979; Alexander/Ishikawa/Silverstein 1995) oder subjektiver Bewegung und objekthaftem Außen Christian Norberg-Schulz (1982) ergänzen. Dabei fasst er knapp unter dem Begriff Bewegungsan- Rhythmus, Raumgefühl und konstruktive Suggestionskraft 77 mutungen. Diese sind formale und gestalterische Geburt kontinuierlich erlernte Erfahrung, als eine Eigenschaften eines Objekts, die den Betrachter zu Gebrauchsweise städtebaulicher Gestaltung und «einer leiblichen Bewegungstendenz veranlassen» nicht (Fort)Bewegung als Modus zur bewussten (Böhme 1995: 141). Wie gestalterisch Vorausset- Erreichung eines Ziels oder zur Umsetzung einer zungen für diese Bewegungsanmutungen geschaf- Handlungsabsicht. Schmitz fällt dann in konserva- fen werden können, bleibt bei Böhme offen. Die tive, von der Städtebaudisziplin längst überwun- Städtebautheorie kann hier verständlicherweise dene Denkweisen zurück, wenn er für eine «quasi konkreter sein als die Philosophie. Für Brinckmann dörfliche Ausgestaltung von Segmenten» (2008: und Schumacher wird eine Bewegungsanmutung 39) der Stadt plädiert. Dies begründet er damit, durch die gestalterisch intendierte Rhythmisierung dass der Mensch sich auf einer Dorfstraße ähnlich von Bau- und Raumkörpern erreicht. Brinckmann wie in seiner Wohnung hin und her bewegen kann, macht konkrete Vorschläge, wie ein Fußgänger und durch die Umkehrbarkeit seiner Bewegung in städtebaulich zur Bewegung angeregt werden ihm das Gefühl des Heimisch seins entsteht. Für kann. Eine Straße muss in Bewegungsabschnitte Schmitz führen «Dorfstraßen [...] nicht in unbe- gegliedert sein, sodass sich eine Sequenz unter- stimmbare Weite, sondern verbinden festliegende schiedlich dimensionierter Räume ergibt. Dies Orte, die wie Ecken zwischen Strecken sind» (2008: gelingt beispielsweise durch Sonderbauten wie 34), während die Stadtstraße, indem sie Kirchen, die die einheitliche Straßenfassade durch den Benützer unbestimmt weit führt, ohne ihm eine be- ihre besondere Architektur auflockern und dem stimmte Stätte der Erledigung anzuweisen, [...] ihn in Auge Orientierungspunkte geben oder durch Richt- eine bunte, unvorhersehbare wechselnde Folge aktuel- häuser, die geringfügig aus der Bauflucht springen ler Situationen [verstrickt], besonders von Situationen (vgl. Brinckmann 1921: 74ff.). Schumacher spricht des Verkehrs. Diese hängen so wenig zusammen, dass von der «motorische[n] Macht der städtebaulichen sich selten eine sie überwölbende zuständliche Situati- Taktik» (1951: 48), mit der die Bewegung bspw. on aus ihnen bildet, es sei denn die Tristesse einer gro- durch die Modellierung des Bodens beeinflusst ben Gleichförmigkeit im Durcheinander. Verstärkt wird werden kann. An verschiedenen Beispielen zeigt dieser fetzenartige Wechsel aktueller Situationen durch Brinckmann wiederum, dass der städtebauliche die flankierende Auskleidung der Straßen mit Plakaten, Rhythmus einer Straße je nach Laufrichtung diver- z.B. Reklamen, und Beleuchtungen. In einer solchen giert, mithin beide Richtungen bei der Gestaltung Umgebung wird man nicht heimisch. (2008: 38f.) berücksichtig werden müssen (vgl. Brinckmann 1921: 67ff.). Brinckmann spricht hier eine ästhe- Mag Schmitz’ analytischer Blick für Straßen heuti- tisch wirkende Umkehrbarkeit des Straßenraumer- ger Städte und Stadtregionen zutreffend sein, so lebens an, die der Philosoph Hermann Schmitz in fallen seine schlussfolgernden Wertungen hinter der Übertragung seiner Neuen Phänomenologie den städtebautheoretischen Stand des 20. Jahr- auf das Thema Stadt vehement verneint: hunderts zurück. Brinckmanns bereits vor hundert Die Straße ist als Straße nur für den da, der sie jeweils Jahren formulierte gestalterische Anregungen, in einer einzigen, für seinen Nutzen unumkehrbaren die unbestimmte Weite des linearen Straßenrau- Richtung benützt, und sie führt ihn nicht zu einer ihr mes durch punktuelle Elemente in Bewegungsab- selbst eingeprägten Stätte der Erledigung, sondern zu schnitte zu gliedern und damit durch das rhythmi- irgend einem Ziel, das er sich selbst gesetzt hat, gegen sche Zusammenspiel von Raum- und Baukörpern das die Straße selbst aber indifferent ist. Sie führt als eine sinnliche Gleichförmigkeit zu vermeiden, sind solche immer weiter, in unbestimmte Weite wie der bereits ausführlich beschrieben worden. Ebenso lie- leibliche Blick […]. (2008: 32) ßen sich die ca. fünfzig Jahre später formulierten städtebautheoretischen Überlegungen von Gor- Schmitz kann zu dieser Einschätzung jedoch nur don Cullen anführen. Während Brinckmann mit kommen, weil er Bewegung zielorientiert denkt. der gestalteten Rhythmik von Raumsequenzen den Einer an der sinnlichen Wahrnehmung orientierte Fußgänger zur Bewegung durch den Stadtraum Städtebautheorie, die den Menschen gestalterisch anregen will, argumentiert Cullen über Bildse- zu Bewegung anregen will, muss es um den unbe- quenzen. «Durch Übung des Blicks wurde offenbar, wussten Aspekt von Bewegung gehen – Bewegung dass Bewegung [...] zweierlei ist, das bestehende als eine instinktive, sensomotorische Fähigkeit Bild und der auftauchende Ausblick» (1991: 12). des Körperleibes, als eine unbewusste, mit der Dass Cullen über das Bild und nicht den Raum 78 Anne Brandl argumentiert, dass er vor allem von Sequenz und telpunkt. Die Städtebaudisziplin kann nie für den nicht von Rhythmus spricht, hängt einerseits mit Einzelnen entwerfen. Die entscheidende Frage ist, der Selbstdefinition der Townscape Bewegung als wie allgemeine städtebauliche Gestaltungsmittel so «visual art» (Richards et al. 1947: 23) und ande- angewandt werden können, dass sie zu ähnlichen rerseits mit dem stadträumlichen Status quo (briti- sinnlichen Wahrnehmungen bei soziokulturell und scher) Städte sowie den städtebaulichen Rahmen- individuell verschiedenen Stadtbewohnern anregen. bedingungen und Möglichkeiten Mitte des 20. Schon Fritz Schumacher überlegte, ob Jahrhunderts zusammen, als sich Städtebauer und es in der Architektur Ausdrucksmittel gibt, deren sinnli- Planer mit der zunehmenden Fragmentierung der che Erscheinung in einer Weise auf den empfänglichen bestehenden Stadtstruktur konfrontiert sehen. Es Menschen wirkt, die nicht subjektiv willkürlich ist, gilt alt und neu, Fußgängerzonen und Stadtauto- sondern die eine gewisse objektive Gültigkeit besitzt. bahnen, historische Monumente und moderne Soli- Die Frage, ob das angenommen werden kann, und im täre, baulich gefasste Altstadtensembles aus Bau- Falle der Bejahung, worauf das beruht, ist in psycho- blöcken und Platzsequenzen sowie frei stehende logischer Hinsicht eine entscheidende Frage für das Zeilenbauten peripherer Wohnsiedlungen zusam- Wesen der Architektur. (1926: 35) menzubringen. Mit demokratischen Planungsmit- teln lassen sich diese gegensätzlichen Stadt- und Weiterhin wäre der Atmosphärenbegriff um die Raumverständnisse nicht zu einer homogenen Handlungsperspektive, um eine «Ästhetik des Stadtfigur vereinigen. Der städtebautheoretische Gebrauchs» (Kamleithner 2011) zu ergänzen, denn Vorschlag der Townscape-Bewegung besteht darin, «Wahrnehmung im Handlungsvollzug kommt in diesem städtebaulichen, typologischen, funktiona- Böhmes Atmosphärenkonzept nicht vor» (Kamleit- len und architektonischen Potpourri, diesem ‹fet- hner 2009: k.S.). Auch hier sind Schumachers städ- zenartigen Wechsel›, wie Schmitz es nennt, durch tebautheoretische Ausführungen äußerst anre- eine bildlich-narrative Beziehungskunst zu begeg- gend. Indem er argumentiert, dass Architektur und nen. Die einzelne Unvereinbarkeit traditioneller stadträumliche Situationen sich erst in der Bewe- und moderner Stadtelemente wird durch Bildse- gung des Wahrnehmenden, also im Gebrauch, quenzen und ein szenisches Bilderleben aufgeho- vervollständigen, hält sein Raumverständnis eine ben. Indem sich der Fußgänger vom bestehenden Offenheit bereit, die soziale Aneignung und Hand- zum auftauchenden (gebauten) Bild, vom Hier lung ermöglicht und über das kontemplative Wahr- zum Dort bewegt, vollzieht sich in der Zeit eine nehmungsverständnis phänomenologischer Posi- narrative Syntheseleistung. Die ‹atmosphärische› tionen hinaus geht. Das «bauliche Kunstwerk [...] Wahrnehmungsqualität liegt in der erzählerischen erfüllt sein gewolltes Wesen erst in Verbindung mit Fähigkeit des Stadtraumes, es geht – in der Spra- unserem Körper» (1938: 252) erklärt Schumacher che Böhmes – um narrative Anmutungen, die der – das Wiederlesen historischer Städtebautheorien bestehenden Stadtstruktur jedoch nicht eine erfun- hält noch einige Anregungen für die Diskussion dene Geschichte überstülpen. Townscape lässt sich über sinnliche Wahrnehmungsqualitäten zeitge- als Stadtumbaustrategie des Weiterbauens, Ver- nössischer Stadträume bereit. knüpfens und Arrangierens interpretieren. Die Argumentation einer städtebautheoreti- Literatur schen Ergänzung, aber auch Korrektur der aktuellen, phänomenologisch geprägten Diskussion über die Alexander, Christopher (1979) The Timeless Way of sinnliche Wahrnehmung und das Atmosphärische Building. New York: Oxford University Press der zeitgenössischen Stadt ließe sich fortsetzen. – /Ishikawa, Sara/Silverstein, Murray (1995) Eine Während die Phänomenologie vor allem über den Muster-Sprache. Städte Gebäude Konstruktion [engl. einzelnen Leib, das subjektive Spüren einer Atmo- 1977]. Wien: Löcker Verlag sphäre nachdenkt, rückt mit einer städtebautheore- Appleyard, Donald/Lynch, Kevin/Myer, R. John (1964) tischen Perspektive das Intersubjekte15 in den Mit- The view from the road. Cambridge, MA: MIT Press Blum, Elisabeth (2010) Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung. 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Grabbe Zusammenfassung/Abstract den begriff der atmosphäre mit dem medium Film in verbindung zu bringen scheint überaus plausibel, da in ihm neben Prozessen der verstehenstheoretischen aneignung vor allem erlebnispotentiale ein konstitutives element darstellen. Film lässt sich ver- stehen, konstituiert ein spezifisches erlebnis – die Filmerfahrung – und verfügt über charakteristische elemente, die in der lage sind eine individuelle atmosphäre auszu- prägen. gleichermaßen verbindet sich in zahlreichen diskursen das Wahrnehmungs- phänomen der atmosphäre mit dem kognitionslogischen Prinzip der immersion: denn es ist das immersive Prinzip, welches oftmals herangezogen wird, wenn vom eintau- chen oder versenken in die atmosphäre einer szene oder eines sujets gesprochen, oder wenn eine ausprägung der atmosphäre als ingression bezeichnet wird. die artifizialität des Films ermöglicht eine besondere Form atmosphärischer ausprägungen, wobei atmosphäre im filmischen Kontext als divergenzphänomen beschreibbar wird, welches gleichermaßen durch immersive Potentiale sowie immer- sionshemmende diskrepanzerfahrungen konstituiert werden kann. It is plausible to connect the concept of atmosphere with the medium film, because in addition to processes of the acquirement of comprehension the potentials of experience are constitutive elements. Film could be comprehended, constitutes a specific experience – the film experience – and possesses characteristic elements that are able to develop a specific atmosphere. Likewise numerous discourses con- nect the phenomenon of perception of atmosphere with the cognitive principle of immersion: because it is the immersive principle that is often referred to in the con- text of immerging or steeping into the atmosphere of a scene or subject or when an occurrence of atmosphere itself is indicated as ingression. The artificiality of film enables a special form of atmospheric characteristics in which atmosphere is describable as a phenomenon of divergence that is constituted by immersive potentials as soon as experiences of discrepancies that are blocking immersive potentials. 82 Lars C. Grabbe 1. Theoretische Vorüberlegung Raumbegriffs auf. Zum einen bewegt man sich in räumlicher Orientierung in der bedrückenden Das Konzept der Atmosphäre unter ein Strukturprin- Atmosphäre eines Novemberabends, oder betritt zip zu subsumieren erscheint wenig hilfreich, wenn den Raum einer Sitzung, dessen irritierende Atmo- man dessen Variationsvielfalt adäquat erfassen sphäre sich dann schnell einstellt. Zum anderen ist möchte. Die problematische Ausgangsbedingung das Gefühl selbst räumlich, jedoch ohne spezifi- beginnt bei der definitorischen Weite des Begriffs, schen Ort, als eine leibliche Kontakterfahrung des denn prinzipiell kann jede relationale Verhältnisbe- affektiven Betroffenseins: stimmung von Subjekt und Objekt eine atmosphä- rische Charakteristik enthalten. Zudem existieren Eine feierliche oder eine zarte morgendliche Stille ist Wesensbestimmungen, die Atmosphären losgelöst weit, eine drückende, lastende, bleierne Stille da- von einer Subjekt-Objekt-Dichotomie begreifen, und gegen eng und protopathisch dumpf; beides sind Atmosphären eine gänzliche Autonomie attestieren leibverwandte synästhetische Charaktere. In solcher (vgl. Schmitz 1998: 103; Hiroaki 2011: 5). Weise, wie die ausgeprägte Stille, und natürlich nicht In der philosophischen sowie kunsthistorischen als physikalisch interpretierbare Gebilde sind auch Ge- Tradition, hier vor allem bei Hermann Schmitz und fühle räumlich. Für kollektiv zugängliche Atmosphären Gernot Böhme, korreliert Atmosphäre mit spezifi- unter Menschen – z.B. die Verlegenheit, in die jemand schen Wahrnehmungserfahrungen innerhalb der nichtsahnend «hineinplatzt», so daß ihm das Wort auf Lebenswelt. Diese Erfahrungen können sich in den Lippen erstirbt, die Albernheit oder Feierlichkeit Abhängigkeit von einem leiblichen oder affekti- eines Festes, die Gedrücktheit, Angespanntheit oder ven Betroffensein (vgl. Schmitz 2007: 26; Böhme Aufgeregtheit, die sich bei entsprechenden Herausfor- 2001: 46) ereignen, das Teile des Leibes betrifft derungen über Menschen legt – und für optisch-klima- oder ganzheitliche Regungen integriert. Erste tische Atmosphären (Abendstimmung, Novemberstim- Ansatzpunkte für die Bestimmung der Atmosphäre mung, Gewitterstimmung) dürfte das einleuchten; es bilden Analysen von Prozessen innerhalb der trifft aber auch auf private Atmosphären zu, wenn sie Natur, die dann wiederum auf das Element Raum nur einen ergreifen. (Schmitz 2007: 23) verweisen. Eine Landschaft der Natur zeigt sich bei Die Konzepte Natur, Raum und Gefühl verbinden Schmitz als geeignetes Bestimmungsphänomen sich überaus plausibel miteinander, so dass Atmo- der Atmosphäre, denn Landschaft ist gleicherma- sphären ein dezidiert lebensweltlich-phänomenolo- ßen auch ein spezifisches Gefühl der Landschaft: gischer Status zugesprochen werden kann. «Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene Wenn folglich Frühlingsatmosphären in dem Atmosphären» (2007: 23). Gefühle bilden folglich Maße realistisch sind, wie eine angespannte Atmo- die Bedingung für eine besondere Kontakterfah- sphäre während einer Klausur, dann bleibt die rung mit der Landschaft aus, denn Gefühle der Frage nach dem atmosphärischen Potential artifizi- Landschaft sind ganzheitlich, weil sie «nicht auf eller Strukturen zu stellen. Böhme nimmt hier eine das erlebende Subjekt und die diesem begegnen- kritische Haltung zum Ansatz von Schmitz ein, da den Objekte verteilt werden können, sondern der jener der Atmosphäre einen zu dominanten Sta- Differenzierung beider Seiten vor- und übergeord- tus zuerkennt, «sie sind freischwebend wie Götter net sind» (Schmitz 1998: 99). Auch für Böhme ist und haben als solche mit den Dingen zunächst es plausibel, dass Naturerfahrungen als Erfahrun- gar nichts zu tun, geschweige denn, daß sie durch gen von Atmosphäre herangezogen werden, um die produziert werden» (Böhme 2007: 295). Bes- die ästhetisch geprägte Atmosphäre mit der mete- tenfalls erhalten artifizielle Strukturen eine Art orologisch konnotierten Atmosphäre zu verbinden: Prägung durch Atmosphären, wie Böhme betont, Atmosphären werden gespürt, indem man affektiv von so dass Schmitz’ Ansatz auf Seiten der Produktions- ihnen betroffen ist. Die trübe Atmosphäre eines No- ästhetik als schwach einzustufen sei: vemberabends mag einen bedrücken, die gespannte Seine Rede von den Atmosphären widerstreitet ge- Atmosphäre in einer Sitzung irritieren, die heitere At- radezu der Möglichkeit, daß sie durch dingliche Qua- mosphäre eines Frühlingstages mit Vogelsang zur Fröh- litäten erzeugt werden könnten. Damit fällt der ganze lichkeit stimmen […]. (2001: 46) Bereich ästhetischer Arbeit aus der Perspektive dieses Die ganzheitliche Ergossenheit der atmosphäri- Ansatzes heraus». (2007: 295) schen Gefühle zeigt eine Doppelbestimmung des Phänomenale Präsenz der Atmosphären im Film 83 Das Konzept der ästhetischen Arbeit bildet für das Verb atmizo (άτμιζω) meint dampfen oder Böhme eine zentrale Bezugsgröße für die Entwick- dunsten. Das Nomen atmis teilt sich den Wort- lung einer ästhetischen Theorie, die sich gleicher- stamm mit dem Nomen autme (άύτμη), welches maßen dem Potential atmosphärischer Alltags- das Wehen, den Hauch, Atem, Dunst, Duft aber erfahrung sowie den Strukturen atmosphärischer auch den Gluthauch des Feuers beschreibt. Das Artifizialität bewusst ist. Dieser Ansatzpunkt spielt Nomen sphaira bedeutet Ball, Kugel oder Him- vor allem im Bereich des Erlebens und Verstehens melsglobus. Das Adjektiv spairikos (σφαιρικός) der verschiedenen Ausprägungen von Kunst eine steht für die Begriffe kugelartig oder sphärisch. zentrale Rolle. Ästhetische Arbeit wird von Böhme Schon im Kontext der Wortherkunft zeigt sich mit ästhetischen Berufen gleichgesetzt, zu denen der Begriff der Atmosphäre als Phänomen einer er Bühnenbildnerei, Kosmetik, Innenarchitektur, Kontakterfahrung. Zwar äußerst flüchtig – man Design, Medien, Film, Fernsehen, Hörfunk, Wer- denke hier an die Bedeutungen Dampf, Dunst oder bung (vgl. 2001: 53) sowie das Theater (vgl. 2001: Duft –, ist die Sinnlichkeit dennoch in der Lage 88) zählt. Hinzu kommt «[…] das Bühnenbild, […] ein affektives Betroffensein zu vermitteln. In den die Herstellung von Musikatmosphären (akustische Arbeiten von Herman Schmitz und Gernot Böhme Möblierung), […] und dann natürlich der ganze wird die Konstitution der Kontakterfahrung expli- Bereich der eigentlichen Kunst» (Böhme 2007: zit. Beide erarbeiten in ihren Theorieperspektiven 299). In dieser Perspektive ist es plausibel, den sinnvolle Parameter, welche die Anwendungsbreite gemütlichen Fernsehabend oder das Erlebnis einer des Atmosphärenbegriffs präzisieren. Sind es bei Kinovorführung mit einer spezifischen Atmosphäre Schmitz primär die Kategorien der Naturerfahrung gleichzusetzen, oder gar den fiktionalen Handlungs- und der Räumlichkeit, werden diese durch Böhme elementen innerhalb einer Filmszene eine romanti- um eine artifizielle bzw. produktionsästhetische sche Atmosphäre zuzuschreiben. Mit Hans J. Wulff Dimension ergänzt. Zudem entwickelt Böhme mit lässt sich in filmtheoretischer Perspektive folgern, der weiterführenden Präzisierung der Konzepte dass Atmosphären spezifische Gefühlsqualitäten Ingression und Diskrepanz spezifische Charakteris- darstellen, «die bewusst für den Adressaten gestal- tiken des Erlebens von Atmosphären. tet werden, so dass dieser affektiv-emotional in eine Böhmes Grundannahme stützt sich auf Ästhe- besondere Wahrnehmung des dargestellten Gegen- tik die sich in ihrer primären Artikulation als Ais- standes hineingeführt wird. Daraus folgt, dass es thetik2 versteht. Aisthetik wird zur phänomenolo- eine eigene Dramaturgie des Atmosphärischen gisch geprägten Wahrnehmungslehre, in welcher gibt» (2012: 110). Der Begriff der Atmosphäre zeigt den Atmosphären eine zentrale Position zukommt. sich demnach als äußerst anwendungsflexibel, vor Böhme macht deutlich, dass das «[…] atmosphäri- allem im Hinblick auf den Facettenreichtum der sche Spüren von Anwesenheit das grundlegende subjektiven Erfahrungs- und Gefühlswelt. Phänomen von Wahrnehmung ist» (Böhme 2001: 42). Dabei bilden die Ausprägungen des Ichpols 2. Atmosphäre und Aisthetik sowie das aisthetische Spüren einen sensoriellen Fokus auf die Leiblichkeit: Gemäß des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen 1 Wahrnehmung ist qua Spüren eine Erfahrung davon, Sprache geht der Begriff der Atmosphäre auf daß ich selbst da bin und wie ich mich, wo ich bin, die neulateinische Wortschöpfung atmosphaera befinde. Aus diesem Spüren können sich schrittweise zurück, die auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhun- spezifische Sinneswahrnehmungen ausdifferenzieren derts datiert werden kann. Als Bezeichnung für und schließlich ein Ichpol und ein Wahrnehmungsob- die Lufthülle der Erde fand der Begriff ab dem 19. jekt. (Böhme 2001: 42) Jahrhundert zudem Verwendung für die mittler- weile veraltete Maßeinheit des Drucks. Die neulateinische Wortschöpfung basiert auf den altgriechischen Begriffen atmis bzw. atmos (άτμίς bzw. άτμος) und sphaira (σφαιρα). Das Nomen atmis steht für Dampf, Dunst und Duft, 2 Der Begriff Ästhetik geht historisch auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurück. Der griechische Begriff aisthesis (αίσθησις) lässt sich mit Sinneswahrnehmung, Empfindung, 1 Vgl. http://www.dwds.de/?view=10&qu=Atmosphäre Anschauung oder Sinn übersetzen (vgl. Gemoll & Vretska [17.02.2013] 2006: 21). 84 Lars C. Grabbe Böhme definiert das ‹Was› des Spürens als etwas […] der ein körperliches Eintauchen in jenen Raum primär Atmosphärisches, welches immer eine impliziert, der sich in einer Wahrnehmungssituation affektive Tönung besitzt (vgl. 2001: 42), und kon- zwischen Objekt und Subjekt der Betrachtung auftut, zeptualisiert es über Ingressions- und Diskrepanzer- und uns dazu einlädt, ein Wahrnehmungsangebot nicht fahrungen. Diese Unterscheidung ist ein notwendi- intellektuell zu sezieren, sondern affektiv, emotional ger Analyseschritt, denn beide Erfahrungsformen und imaginativ in uns aufzunehmen. implizieren eine wichtige «[…] Differenz zwischen (Bieger 2007: 240) mir und der Atmosphäre, wodurch die Atmosphäre Etablierte Definitionen des Immersionsbegriffs dann wirklich als Gegenstand der Wahrnehmung kennzeichnen ein Prinzip des Eintauchens in ein angesprochen werden kann» (Böhme 2001: 46). Medium, oder sogar eine «mentale Absorbierung» (Grau 2006: 16), und finden Anwendung in zahl- 2. 1 Ingression und Immersion reichen Kunstsettings oder in der Charakterisie- rung von technischen Apparaturen oder architek- Grundannahme dieser Ausprägung ist das ‹Hinein- tonischen Raumensembles. geraten› in ein Wahrnehmungsereignis, bei dem Eine Neubestimmung des Immersionsbegriff man dann ein differenziertes ‹Etwas› der sinnlichen erlaubt eine Präzisierung in Bezug auf immersive Gegebenheit überhaupt erst wahrnehmen kann. Prozesse und atmosphärische Kontakterfahrungen. Oft verwendetes Beispiel für dieses Moment ist Wie bereits im Jahrbuch immersiver Medien 2012 das Betreten eines Raumes, in welchem bereits präzise dargelegt (vgl. Grabbe 2012: 71–85), lässt eine charakteristische Ausprägung bzw. Tönung sich Immersion als spezifische Konvergenz von der Atmosphäre vorherrscht. An diesem Beispiel externen und internen Repräsentationen auswei- zeigt sich zuerst eine Differenz von Atmosphäre sen. Durch den Konvergenzbegriff kann die Weite und subjektivem Ichpol, die sich dann im folgen- des Immersionsbegriffs und dessen definitorische den Wahrnehmungserlebnis stetig verringert: Unschärfe umgangen werden. Kennzeichnend «Eine Stimmung, die aber noch nicht meine ist, für Konvergenz ist die «aktive Annäherung oder sondern mich vielmehr in einer bestimmten Weise Zuwendung von externen und internen Repräsen- anmutet» (Böhme 2001: 47). Zentrale Bestim- tationen» (Grabbe 2012: 81). In dieser Perspektive mungsgröße der Ingression ist die Räumlichkeit äußert sich eine semiotische Relation3, dass sich des Atmosphärenphänomens, nicht im physikali- die immersive Erfahrungskonstitution zwar von schen als vielmehr im Sinne der affektiven und sich einer leibvermittelten Form der natürlichen oder ergießenden Leiberfahrung: artifiziellen Präsenz abhängig zeigt, diese aber in Ich bin hier und fühle mich so und so gestimmt. – Die ein mental-repräsentationales Gefüge eingebun- Atmosphäre ist ferner gestimmter Raum, d.h. was in- den ist. nen da anmutet, ist eine Stimmung. Und zwar gerade Auch hinsichtlich der Wahrnehmung von Atmosphären zunächst nicht als meine Stimmung, sondern als Anflug bedarf es spezifischer Befähigungen der Rezeption, die von Stimmung, etwas, das ich wahrnehme gerade da- über Kontexte und Diskurse vermittelt werden. Räum- durch, daß ich beginne in eine Stimmung zu geraten. lich inszenierte Atmosphären unterliegen gleicherma- (Böhme 2001: 47) ßen ästhetischen Kodierungen, Moden oder Konventio- Nach Gernot Böhme lässt sich die Ingressionser- nen wie beispielsweise bildliche Repräsentationen und fahrung als ein wichtiges Kriterium für die Bestim- wirken keinesfalls unmittelbar. (Busch 2007: 23) mung von Atmosphären begreifen, da sie quasi objektive ausgebreitete räumliche Stimmungen sind. Das räumliche Moment ließe sich um ein 3 Es wird grundsätzlich eine mentale Symbolfunktion an- genommen, durch die «innere Erfahrungen, Gefühle und Ge- immersives Moment ergänzen, da sich beide in danken so ausgedrückt werden, als ob es sich um sinnliche einer synchronen Verhältnisbestimmung befinden. Wahrnehmungen, um Ereignisse in der Außenwelt handelte» Ingression (lat. ingredior; einherschreiten, hinein- (Fromm 1989: 174). Diese Symbolfunktion vermittelt eine schreiten) impliziert ein Hineintreten bzw. Hinein- Symbolsprache, deren Träger im kognitiven System des Sub- geraten, während Immersion (Verbform aus lat. jekts verortet werden kann. Kernelement einer semiotischen Ästhetik zeigt sich in der zeichenbasierten Wechselwirkung immergere; eintauchen, versenken) ein gestimmtes externer und interner Repräsentationen, wobei Wahrneh- Eintauchen charakterisiert. Atmosphäre wird im mung, Erinnerung und Vorstellung konstitutive Elemente Sinne Böhmes als ein Begriff charakterisierbar, darstellen (vgl. Malafouris 2007: S. 289–302). Phänomenale Präsenz der Atmosphären im Film 85 Zudem kommt ein aisthetisches Element zum Tra- druck einer nicht zu distanzierenden Ansteckung und gen, denn die wahrnehmungsabhängige Differenz affektiven Involvierung. Dieses Phänomen der Eintau- zwischen einem Objekt der ästhetischen Anschau- chung in den umgebenden Raum, das als ausgezeich- ung und dem rezipierenden Subjekt wird verrin- neter Fall der Interpassion gelten kann, wird derzeit gert: Rein sinnlich-apperzeptive Wahrnehmungs- unter dem Begriff der Immersion diskutiert. prozesse werden um phantasmatisch-imaginäre (Busch 2007: 23) ergänzt. Böhme aktualisiert die traditionelle Perspektive Ausgangslage für Ingression oder Immersion auf den Atmosphärenbegriff und leistet eine zen- können demnach räumliche Settings, Naturereig- trale Präzisierung durch die Systematisierung des nisse oder aber Objekte der Kunst sein, die eine Ingressionsbegriffs, dessen prozessuale Dyna- spezifische Initialfunktion für eine kohärente Sinn- mik ebenfalls mit dem Prinzip der Konvergenz5 wahrnehmung konstituieren. Natürlich prägen sich 4 zu erklären ist, und dessen Anwendbarkeit im unterschiedliche Grade der Konvergenz aus, die Bereich artifizieller Präsenz. So äußern sich Raum- von unterschiedlichen Ausgangssettings abhängig atmosphären (ein als heiter wahrgenommener sind. Frühlingsmorgen, eine bedrückende Stimmungen Neben Ingression beinhaltet auch immersive im Büro etc.) über eine perzeptuelle Konvergenz, Konvergenz komplexe ästhetische Anknüpfungs- wobei sensomotorische Stimuli dafür sorgen, dass punkte, die sich in aktuellen Forschungsdiskursen einem die Atmosphären quasi als autonome Prä- wiederspiegeln. Immersion findet in zahlreichen senz begegnen. Psychologische Konvergenz wird Arbeiten Anwendung bei Phänomenen die ein hingegen imaginär induziert, indem die geistigen konkretes und leibliches Eintauchen thematisieren Ressourcen des Rezipienten stark beansprucht oder imaginäre Annäherungen an ein Medium werden (ein Buch lesen, einen Film im Kino oder beschreiben. Auch hier ist die «Verringerung von Fernsehen schauen etc.) und sich hierdurch eine Distanz zwischen Medium und Rezipienten» (Hoch- Atmosphäre persönlicher Ergriffenheit einstellt. scherf/Kjär/Rupert-Kruse 2011: 10) eine zentrale Bei dieser Ausprägung geht es folglich weniger um Dimension. kompakte Umgebungsqualitäten6 und ein domi- Zeigt sich Immersion als spezifischer Prozess in nantes Potential zur Affektion, als vielmehr um welchem sich Grade von Konvergenz herausprä- atmosphärische Gehalte, welche von artifiziellen gen, die dann letztlich Rückschlüsse auf Verste- Präsenzen, Menschen oder deren Konstellationen hensprozesse zulassen, so ist in diesem Begriff ein angestoßen werden. Böhme kennzeichnet dies als technischer und apparativer Fokus enthalten. Mit «Ekstasen des Dings» (2007: 297). Ekstasen kön- diesem Technikdeterminismus (vgl. Hochscherf/ nen sich bei vielen Formen der Präsenz äußern und Kjär/Rupert-Kruse 2011: 14) bricht allerdings der lebensweltlich fundierte und auf affektive Betroffen- heit abzielende Atmosphärenbegriff – er fokussiert 5 «[…] Böhme definiert Atmosphäre hier als einen konsti- das gefühlshafte Leibsein im räumlich ergossenen tutiven Zwischenraum, in dem sich ästhetische Erfahrung aisthetischen Wahrnehmungsakt. Ist mit Immersion ereignet, als Schnittstelle zwischen Objekt und Subjekt der Wahrnehmung, und mit dieser Definition macht er sie zum die Frage danach verknüpft, wie sich ein Verstehens- räumlichen Medium eines jeden Wahrnehmungsprozesses. prozess in verschiedenen Graden immersiver Partizi- Mit der Semiotik von Peirce gedacht findet jedes Wahrneh- pation realisiert, so greifen die auf die Bestimmung men in einer vergleichbar räumlichen Situation statt; denn der Atmosphäre abzielenden Fragen traditionell die als konstitutiver Ort unserer Wahrnehmung spannt ein jedes Elemente Leib, Gefühl und Räumlichkeit auf: Zeichen in seiner relationalen Grundkonstitution zwischen seinen drei Polen (Zeichenträger, Objekt der Wahrnehmung, Allerdings verstärkt die spezifisch räumliche Situation Interpretant) einen Raum auf, der als Schnittstelle zwischen – im Unterschied zum gegenständlichen oder bildlichen Objekt und Subjekt fungiert» (Bieger 2007: 156). gegenüber – in ihrer Qualität als Umgebung den Ein- 6 Das Kino stellt hier wohl einen Sonderfall dar, da der Kinosaal selbst einen spezifischen Raum mit einer eigenen Atmosphäre darstellt. Der Film selbst generiert selbstver- 4 Das empfinden einer sommerlichen Atmosphäre unter- ständlich einen zusätzlich Raum partizipativer Möglichkei- scheidet sich von einer bedrückenden und angsterfüllten ten, indem er Figuren, Sprache, Töne, Farben etc. präsentiert. Atmosphäre im Kontext eines aufziehenden Gewittersturms. Gleiches gilt in neuerer Zeit für die sogenannten Heimkino- Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen dem leibhaften systeme, bei denen das Fernseherlebnis zum Kinoerlebnis Sommerempfinden und dessen artifizieller Umsetzung inner- transformiert wird, gestützt durch apparative Elemente wie halb eines Gemäldes (z.B. Claude Monets Sommer von 1874). Bildschirm, Soundanlage und Platzierung der Tonquellen. 86 Lars C. Grabbe Ü 1 Der rote Mantel kann als Symbol für den Wandel der inneren Verfassung Oskar Schindlers gedeutet werden (Quelle: SchindlerS liSTe) kennzeichnen die Art und Weise, in der sich eine innerhalb der Alltagserfahrung keine Bedeutung Präsenz innerhalb eines Raumes manifestiert, und zuzumessen, innerhalb des schwarz-weiß gehalte- wie diese Art und Weise die Sinne affiziert. Eksta- nen Films Schindlers Liste (Schindler’s List, Steven sen sind die «Weisen der Artikulation von Anwe- Spielberg, USA 1993) wird ein roter Mantel (Abb. senheit» (Böhme 2001: 132): 1) jedoch zu einem Zeichen, dessen Bedeutung erst Im Unterschied zum Ansatz von Schmitz werden so die während der Rezeption dekodiert werden kann. Atmosphären nicht freischwebend gedacht, sondern Gerade also in der Wahrnehmung artifizieller gerade umgekehrt als etwas, das von den Dingen, von Präsenzen, entfaltet die psychologische Konvergenz Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und mit ihren phantasmatisch-imaginären Prozessen im geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert Kontext der Ingression ihr eigentliches Potential. weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, Diese partizipative Dimension innerhalb der Rezep- die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, tion manifestiert sich in verschiedenen Ausprägun- zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch gen der Atmosphäre, zu denen Böhme spezifische Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären Charaktere von Atmosphären, wie z.B. Szenen oder ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmo- Synästhesien, zählt. Szenen sind ein Effekt der eks- sphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines tatischen Hervorbringung, indem durch eine «Aus- Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehö- wahl von Gegenständen, von Farben, Geräuschen ren zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit usw. «Szenen» bestimmter Gefühlsqualität hervor- durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren gebracht werden» (Böhme 2007: 300). Synästhe- zugleich ein leibliches Sich-befinden der Subjekte im sien zeigen sich hingegen als intermodale Quali- Raum ist. (Böhme 2007: 297f.) täten und Stimmungen (vgl. Böhme 2001: 91), da sich hier verschiedene Ebenen der sinnlichen Wahr- Völlig zu Recht kennzeichnet Hans J. Wulff Atmo- nehmung miteinander verbinden können. «Gernot sphären als «Relationsdinge» (2012: 109). Dieser Böhme steht dafür ein, dass die künstlerische Arbeit Dingstatus ist der Ausdruck einer systemischen darauf abzielt, Atmosphären aufzubauen. Zudem Verhältnisbestimmung, welches weder etwas bestimmt er den Charakter einer Atmosphäre als Objektives noch Subjektives ist, dennoch aber kon- etwas, das sich einem kognitiven System als Synäs- stitutive Anteile von beidem enthält. Die Ekstasen, thesie erschließt» (Wohler 2010: 43). wie Farbe, Geruch, Stimme, Ton, Gesten oder Bewe- Demnach sind Wahrnehmungen einer feurigen gung, sind eine zentrale Bestimmungsgröße im Atmosphäre im Kontext eines Kunstwerks bereits Kontext der Wahrnehmung, da sie gleichermaßen ein synästhetischer Charakter, da hier ein visuel- Zeichenpotentiale besitzen können. Es mag plau- les und taktiles Zeichen zu einer Synthese – und sibel sein, dem Tatbestand eines roten Mantels neuen Bedeutung – geführt wird: «Dieses Moment Phänomenale Präsenz der Atmosphären im Film 87 der Stimmung als einem Medium, das kognitive Annäherung, da sich die stark ausgeprägte und Prozesse konfiguriert, die durch sensorische Daten leibvermittelte Stimmung vom Einfluss der Raum- ausgelöst werden, verbindet die Gefühlssynästhe- elemente abhebt und sich diesen autonom gegen- sie mit der Atmosphärenwahrnehmung» (Wohler überstellt. Folglich ließe sich hier eine gewisse 2010: 170). Hemmung des immersiven Wahrnehmungspro- zesses annehmen, da die mentale Repräsentation 2. 2 Diskrepanz und Immersion die Sphäre der eigenen Leiblichkeit und inter- nen (affektiven) Betroffenheit primär fokussiert: Mit der kompakten atmosphärischen Anmutungs- Zumindest blockiert das mental-repräsentationale qualität, bedingt durch einen komplexen und Gefüge der Wahrnehmung den Einfluss externer räumlich vermittelten Umgebungseindruck, bricht Elemente und hemmt die Ingressionserfahrung zu das Konzept der Diskrepanzerfahrung. Hier geht Gunsten einer Diskrepanzerfahrung. es also nicht um eine Ingression, sondern um eine Im Kontext artifizieller Präsenzen ist die Immer- kontrastive Wesensbestimmung der Atmosphäre, sions- bzw. Ingressionshemmung, bei gleichzeitiger bei der «man das, was einen anmutet, in Kontrast Konstitution einer atmosphärischen Diskrepanz, zu der Stimmung, die man mitbringt, empfindet» ein entscheidendes Kriterium für eine spezifische (Böhme 2001: 87). Auch die Diskrepanzerfah- Kunstwirkung. So werden beispielsweise Diskrepan- rung lässt sich mit Alltagsbeispielen nachweisen. zerfahrungen gezielt im Theater als Szenen der Stö- Geeignet ist das kontrastive Verhältnis zwischen rung und Irritation genutzt, «wodurch atmosphä- subjektiv empfundener Trauer und der Umge- rischer Wahrnehmung ein neuer, vorwiegend auf bungsqualität eines als heiter empfundenen Früh- Irritation setzender Stellenwert zukommt» (Rodatz lingsmorgens: 2010: 59). Natürlich lässt sich diese Vorgehens- Diese Erfahrung der Diskrepanz hat etwas Paradoxes, weise generell auf die Arten von szenischen Medien ist man doch geneigt, die Wahrnehmung von Atmo- anwenden, die Elemente der Störung, des Schocks sphären als eine Art Resonanzphänomen zu verstehen. und Irritation sinnvermittelt generieren können. Auch wir sind bisher so verfahren: der heitere Morgen Ein interessantes Beispiel für eine inszenierte stimmt mich heiter, die Kälte macht, daß mir kalt ist, Diskrepanzerfahrung, für die der Schock-Begriff als die fröhliche Stimmung eines Festes reißt mich mit. geeignete Kategorie erscheint, ist der Film Funny Wie soll ich die Heiterkeit eines Frühlingsmorgens als Games U.S. (Michael Haneke, USA 2007). In der heitere Atmosphäre erfahren, wenn ich selbst traurig Eröffnungssequenz werden die Protagonisten bin und gar noch im Kontrast zu meiner eigenen Trau- während einer Autofahrt eingeführt, wobei deren rigkeit? (Böhme 2001: 48) Zugehörigkeit zur amerikanischen Upperclass einen zentralen Informationswert darstellt. Die Böhme zufolge gerät in dieser Diskrepanzerfah- Vogelperspektive der Kameraeinstellung vermittelt rung die subjektive Traurigkeit in einen Spannungs- diese Information und zeigt einen Geländewagen, zustand, da man trotz trauriger Grundhaltung in der ein Segelboot hinter sich herzieht, auf einem gewisser Weise mit der heiteren Atmosphäre in eine Familienausflug an ein Gewässer. Dass die Klassen- Kontakterfahrung tritt. Man wird durch die Hei- zugehörigkeit ein zentrales Element der Narration terkeit in einem gewissen Sinne angemutet, «d.h. darstellt, wird durch die erste Innenaufnahme des von einer Tendenz getroffen, mich umzustimmen» Fahrzeugs unterstützt. Diese zeigt die Familie bei (2001: 48). Resultat dieser Kontakterfahrung ist einer Form des Ratespiels, bei der die Komponisten die Modifikation der empfundenen Trauer zu einer von klassischen Werken erkannt werden müssen. komplexeren und fokussierten Empfindung, denn Die heitere Atmosphäre eines Wochenendausflugs sie zieht sich «mehr auf mich zusammen und kann wird durch die Mimik der Protagonisten (Naomi gerade, weil ich doch von der heiteren Atmosphäre Watts, Tim Roth und Devon Gearhart), einem Ehe- draußen angemutet werde, mir selbst in gewisser paar mit ihrem Sohn, unterstützt. Der liebevolle Weise fremd werden» (Böhme 2001: 48). und teils verspielte Umgang zwischen den Eheleu- Ebenso lässt sich hier von einer Diskrepanz der ten unterstützen diesen Eindruck. Die Eröffnungs- Konvergenz sprechen, da eine subjektive Stimmung sequenz zeigt definitiv eine immersive Konver- konträr gelagert ist zu der Anmutungsqualität der genz bzw. Ingressionserfahrung der Atmosphäre, Raumelemente. Interne und externe Repräsentati- wobei der kohärente Systemzusammenhang der onen finden hier keine bzw. nur eine beschränkte filmischen Zeichen eine kausale Bestimmung auf- 88 Lars C. Grabbe à 2 Die Vogelperspektive dient als Modus der à 3 Die Einblendung des Filmtitels markiert den Bruch Entschleunigung, um Tendenzen von Ruhe und Ordnung mit der kausalen Ordnung (semiotische Kollision) (Quelle: zu vermitteln (Quelle: Funny GameS) Funny GameS) weist. Die Vogelperspektive trägt dazu bei, dass moment der Rezeption hemmt immersive Potenti- die Autofahrt visuell stark entschleunigt vermit- ale, die sich noch kurz vorher durch die Zeichen- telt wird und Tendenzen der Ruhe und Ordnung kohärenz innerhalb der Diegese realisierten: Die repräsentiert werden. Das Thema einer ‹Fahrt ins Sphäre der eigenen Leiblichkeit und affektiven Grüne› (Abb. 2) realisiert sich durch die Rahmung Betroffenheit wird primär fokussiert. Die konsistente der Szene mit immer dichter werdendem Baum- Rezeption wird erschwert und eine Neuevaluation bewuchs und vereinzelten Ausschnitten eines mit der sinnlich vermittelten Daten ist erforderlich. Die Schilf bewachsenen Seeufers. Diskrepanzerfahrung erscheint hier als ein tempo- Das System von Zeichen zeigt sich anhand die- ral begrenztes Phänomen, da nach Neuevaluation ses Beispiels als ein Kausalsystem bzw. kausales eine Bewusstheit über die narrative und handlungs- Feld, wobei die Zeichenkohärenz die mentale Orga- logische Relevanz dieser Szene anzunehmen ist. nisation der Szene ermöglicht. Die Annäherung Anfangs als Störung der Wahrnehmung oder Stö- zwischen externen und internen Repräsentationen rung immersiver Konvergenz zu beschreiben, wird ist hier folglich abhängig von der Möglichkeit zur die Störung dann selbst zum Handlungselement mentalen Strukturierung der Szene bzw. der Situa- und Indikator für die bevorstehende Störung der tion: Ingression äußert sich als Kausalphänomen. familiären Idylle durch die Antagonisten. Die Eröffnungssequenz findet dann ihr jähes Ende Ein weiteres facettenreiches Beispiel für eine in dem Moment der Einblendung des Filmtitels szenische Diskrepanzerfahrung zeigt sich in Into (Abb. 3), welche durch einen Bruch mit der kausa- the Wild (Sean Penn, USA 2007). Die Handlung len Ordnung gekennzeichnet ist. thematisiert die Reise von Christopher McCan- Die ikonische Repräsentation des familiären dless (Emile Hirsch), eines jungen Aussteigers, Idylls wird durch eine akustische Verlagerung der den literarisch-philosophischen Spuren von gestört und irritiert. Der noch von der klassi- Henry D. Thoreau und Walt Whitman folgend, schen Musik geprägte heitere Tonraum (heitere auf der Suche nach einer authentischen und quasi Atmosphäre) wird radikal durch die Musik der erkenntnistheoretischen Naturerfahrung ist. Seine Avantgarde-Band7 Naked City (Song «Bonehead») Reise führt ihn von Nordamerika bis nach Alaska, transformiert. Die Diskrepanzerfahrung im Aktual- wo er nach zahlreichen Begegnungen und Erleb- nisse an einer Vergiftung stirbt. Insgesamt verdich- 7 Kennzeichen der Band ist die Verwendung musikalischer tet der Film ein komplexes kausales Feld, an dem Stilistiken die von Jazz bis Heavy Metal und Grindcore rei- Sozialtheorien, Naturlyrik, Philosophie, Naturerfah- chen. Der Song «Bonehead» lässt sich zum Genre Grindcore rungen und zwischenmenschliche Kontakte einen zählen, dessen extreme Tonfolgen, die brachiale Verwen- Anteil nehmen. Zudem beinhaltete er ein quasi dung der Instrumente sowie ein verfremdeter und extrem ar- dokumentarisches Authentizitätsversprechen, da tikulierter Schreigesang zu den zentralen Elementen zählen. der Film auf dem wahren Leben von Cristopher www.lyricsvip.com gibt die Textzeilen besonders anschaulich und ironisierend wie folgt wieder: «Rooaaaaaarr, yieeeahh, McCandless beruht, der um den 18. August 1992 aaaaahhh, yoohhh, heeeaay, Roooooarrrr». starb. Bis auf eine Ausnahme verfügt der Film über Phänomenale Präsenz der Atmosphären im Film 89 à 4a–b Der Blick in die Kamera bricht mit der intratextuellen Erzählkonvention und demaskiert den Film als selbstreferentielles System (Quelle: inTo The Wild) eine konsequente Handlungsführung, wobei sich wahrnehmbar und ermöglicht eine ganz konkrete die Ingressionserfahrung des Rezipienten konse- Leiberfahrung: Der Apfel ist Stellvertreter für ein quent am filmischen Zeichenpotential entfaltet. größeres und erhabeneres Verlangen, dass sich für Besonders eindrucksvoll sind die Landschafts- den Protagonisten im weiteren Verlauf des Film bilder und Naturaufnahmen, die eine fast schon allerdings nicht erfüllen wird. erhabene Naturatmosphäre konstituieren. Eine Die Kausalität dieser Szene wird an ihrem Szene wendet Ingression in Diskrepanz, wobei der Höhepunkt jedoch gebrochen. Nachdem er sich Grenzübertritt hier temporal nur äußerst kurzweilig selbst als Supertramp und den Apfel als Superapfel ist. Christopher macht in einer beeindruckenden bezeichnet8, blickt er plötzlich in die Kamera und Naturkulisse Rast und isst mit voller Hingabe und beugt sich lächelnd auf diese zu. Diese Handlung Faszination im Sitzen einen großen roten Apfel. stört kurzweilig die kausallogische Atmosphäre Thematisch verknüpft sich hier die Sehnsucht nach innerhalb der Szene und bricht mit der bereits einer erhabenen Naturerfahrung mit dem zutiefst etablierten Erzählkonvention des Films, da sich menschlichen Bedürfnis nach dem Stillen des Hun- dieser nun als selbstreferentielles und artifizielles gers. Der Apfel transformiert sich allerdings im System kenntlich macht. Hier verschiebt sich kurz- weiteren Verlauf der Szene von einem konkreten zeitig die Ingressionserfahrung zu einer Diskrepan- Objekt zum Symbol für das Verlangen einer erha- benen Naturerfahrung als solcher. Der Apfel ist 8 «Ich bin nicht Superman, ich bin Supertramp. Und du für Christopher erreichbar, konsumierbar, sinnlich bist Superapfel» (Zitat aus Into the Wild). 90 Lars C. Grabbe zerfahrung. Nach einer kurzen Neuevaluation der Erwartungen und das Wissen um figurative Hand- Diegese ab der nächsten Szene, ist das bekannte lungsintentionen systemisch zusammenführt, und kausale Schema wieder hergestellt. somit die Diskrepanzerfahrung überwindet. Oftmals als gezielt inszenatorische Strategie In Gute Zeiten Schlechte Zeiten lässt sich eine eingesetzt, gibt es allerdings Beispiele für eine Atmosphäre der Irritation im Kontext einer semio- quasi unbeabsichtigte Störung, die in der Folge tischen Kollision aufweisen. Die fiktive Lebenswelt eine immersive Konvergenz hemmen kann und erstreckt sich über einen bestimmten Straßenzug, dadurch eine Atmosphäre der Störung generiert. der im heutigen Berlin angesiedelt ist. Von den Als Beispiele hierzu werden im Folgenden Bei- Bewohnern als Kiez bezeichnet, treffen hier Wohn-, spiele aus den daily soaps Alles Was Zählt (RTL, Arbeits- und Privatraum der verschiedenen Prota- D 2006–heute) und Gute Zeiten Schlechte Zeiten gonisten aufeinander. Eine Sonderstellung nimmt (RTL, D 1992–heute) herangezogen. Eine grund- das Kino ein, in welchem die Protagonisten die sätzliche Wirkungsdimension von daily soaps ist in ihrer fiktiven Handlungswelt aktuellen Kino- der Versuch eine Alltagswelt möglichst authentisch filme sehen können. Da daily soaps keine realen zu etablieren und komplexe Figurenensembles zu Marken bewerben bzw. innerhalb der Diegese ver- schaffen, deren Veränderungen und Konfliktpoten- wenden dürfen, übernehmen Produktdesigner die tiale für ein spezifisches Spannungserlebnis sor- Aufgabe Fake-Marken zu kreieren, von Zahnpasta gen. Auch die Häufigkeit der Ausstrahlung, meist über Getränkemarken bis hin zu Zeitschriftentiteln. montags bis freitags, erhöht den Realitätseffekt. Diese Kunstmarken unterstützen die Authentifizie- Die Realitätstauglichkeit von daily soaps ist dabei rungsstrategie und den Versuch eine vermeintlich eng verknüpft mit kausalen Parametern innerhalb konsistente Handlungswelt zu stabilisieren. Zumin- der dargestellten Handlungswelt die ihre Referenz dest bis zu dem Punkt, an dem der Zuschauer oftmals in der Realität haben (z.B. Sylvester und bemerkt, dass die Zahnpasta Dentex in der Rea- Weihnachten feiern). lität nicht zu beziehen ist. Selbst die Namen der Prominentes Beispiel für eine Diskrepanzer- Kinofilme auf dem gzsz-Kiez sind künstlich erschaf- fahrung zeigt sich bei Alles Was Zählt in Form fene Designprodukte. In diesem Kontext lässt sich eines Schauspielerwechsels, bei gleichzeitigem in jüngerer Zeit eine semiotische Kollision ausma- Erhalt der filmischen Figur. Aufgrund einer rea- chen, die durch den künstlichen Filmtitel ‹Dreiau- len Schwangerschaft geht Schauspielerin Juliette genhamster› repräsentiert wird. Zentrale Referenz Menke für sechs Monate in die Babypause und für diese Kollision bilden die Filme Keinohrhasen wird durch Maria Kempken vertreten. Diese Form (Til Schweiger, D 2007) und Zweiohrküken (Til der Vertretung wird in den USA durchaus häufig Schweiger, D 2009), die mit hoher Wahrscheinlich- als probates Mittel praktiziert, um eine Figur in der keit das Vorbild für den künstlichen Filmtitel dar- Storyline zu erhalten, ist in Deutschland hingegen stellen. Dem Titel ‹Dreiaugenhamster› liegt inner- eine Besonderheit. halb der Zuschauer-Realität kein wirklicher Film zu Die Figur Marian (Sam Eisenstein) fährt zusam- Grunde. Auch innerhalb der Diegese von gzsz wird men mit seiner Frau Lena (Juliette Menke) zu dem Rezipienten kein Filmausschnitt präsentiert. einem Kurzurlaub. Nach deren Rückkehr wird Lena Einzige Orientierung bildet der Begriff ‹Dreiaugen- dann bereits durch Maria Kempken verkörpert. Da hamster›, der aus den Elementen Zahl, Sinnesor- sich der Personentausch innerhalb der Diegese im gan und Spezies zusammengesetzt ist. Die Reihen- Vorfeld nicht explizit ankündigt, wird diese Szene folge und semantische Logik der Begriffselemente mit einer hohen Irritation wahrgenommen, da erst entspricht dabei den Filmtiteln Til Schweigers: Die spezifische Handlungsparameter die Schlussfolge- sprachliche Logik der Begriffsstruktur ‹Dreiaugen- rung zulassen, dass es sich nach wie vor um die hamster› bildet eine symbolische Referenz, wobei Figur Lena handelt. Die kausale Logik der Hand- kulturelles Wissen des Rezipienten den Kontext lung integriert in hohem Maß das Wissen um für die Referenz darstellt. Innerhalb der Diegese Figuren, Figurenkonstellationen und intentionale wird ‹Dreiaugenhamster› eben nicht als künstlicher Horizonte, so dass der Schauspielerwechsel eine Filmtitel wahrgenommen, der sich konsequent in besondere Atmosphäre der Irritation generiert. Die die kausale Logik der Fake-Marken und künstlichen rezeptive Neuevaluation und Akzeptanz der ‹neuen Filmtitel einordnet, sondern als Zeichen bzw. Sym- Figur› ist demzufolge abhängig von einem kog- bol verstanden, das einen realweltlichen Bezug nitionslogischen Prozess, welcher Erinnerungen, zur Grundlage hat. Dieser Bezug führt zu einer Phänomenale Präsenz der Atmosphären im Film 91 semiotischen Kollision innerhalb der Diegese, wel- prozess zu denken, bei dem neben dem aktuellen che die sonst für eine daily soap typisch herme- Augenblick ebenfalls Erwartungen und Erinnerun- tische Handlungswelt in Richtung Realität öffnet, gen eine wichtige Bestimmungsgröße der kausalen den Authentizitätsanspruch reduziert, immersive Ordnung darstellen: Konvergenzen minimiert und gleichermaßen eine Die spezifische Rezeptionsleistung ist das Generieren Atmosphäre der Irritation initiiert. von Konsistenz und Kontinuität der zentralen Elemente der Handlung im zeitlichen Verlauf, wobei retentionale 3. Kausale Ordnung und Atmosphäre Bild-Erinnerung, Jetzt-Bild-Situation und retentional- protentionale Bild-Erwartung konsistent zu einem Sze- Die Atmosphäre der Störung oder Irritation, nischen-Bild synthetisiert werden müssen. auf Basis der spezifischen Diskrepanzerfahrung, (Grabbe & Rupert-Kruse 2013: 33) schafft einen Handlungsbedarf der Neuevaluation bestehender Sinnesdaten, damit ein kausales Feld Das spezifische Strukturangebot des Films ist restabilisiert werden kann. Die angeführten Bei- demnach multimodal und temporal organisiert, spiele verdeutlichen die Art und Weise, in der ein wobei Temporalität und Kausalität dann ebenso Bruch des kausalen Feldes evoziert werden kann spezifische Rezeptionseffekte bzw. Rezeptionsleis- und immersive Konvergenzen zu Gunsten einer tungen darstellen. Dieses phänomenale Schema oftmals paradoxen und temporal begrenzten Dis- lässt sich mit Peter Wuss näher präzisieren und mit krepanzerfahrung gehemmt werden. dem Konzept der filmischen Handlung verknüpfen. Die vorangegangenen Ausführungen zur phä- Diese Präzisierung führt zu einer Trichotomie von nomenalen Präsenz der Atmosphäre im Film the- Wahrnehmungsevidenz, kausaler Handlungsfolge matisieren die Abhängigkeit der Ingression und und kulturellen Stereotypen. Diskrepanzerfahrung vom Prinzip der Kausalität. So enthält eine Komposition etwa Beziehungen, die Die kausale Ordnung, die sich im Film manifestiert, kaum evident sind und erst über Wiederholung im ist einerseits abhängig von einer systemischen und Zuge perzeptiver Invariantenbildung vom Zuschauer multimodalen Verhältnisbestimmung von Bild, Ton überhaupt als Strukturzusammenhang erfaßt werden. und Schrift und andererseits von einzelnen Sub- Andere Strukturen sind weitaus evidenter, und der Zu- Bildsystemen wie Einstellung, Szene und Sequenz schauer kann die an sie gebundenen Erscheinungen (vgl. Grabbe & Rupert-Kruse 2013: 23f.). Die entsprechend konzeptualisieren, so daß sie nicht nur Strukturen des Films konstituieren demnach phä- seiner Wahrnehmung, sondern auch seinem Denken nomenale Einheiten der Präsenz, die im Akt der gegeben sind. Ein dritter Typ beruht auf Gestaltphäno- Rezeption zu differenzierten Wahrnehmungs- und menen, denen er innerhalb der Medienkultur bereits so Bedeutungsprozessen führen: «Die Filmkomposi- häufig begegnet ist, daß sich die damit verbundenen tion erscheint dergestalt als Rezeptionsvorgabe, komplexen Motive durch vielfachen kommunikativen die die Informationsaufnahmen steuert und dabei Gebrauch konventionalisiert haben und stereotyp ge- immer auf ein Vorwissen beim Rezipienten Bezug worden sind. (Wuss 1999: 11) nimmt» (Wuss 1999: 11; Herv.i.O.). Die Filmkom- position als Ganzes folgt einer «Logik des Stoffs» Wuss führt diese Trichotomie innerhalb seines (Wuss 1999: 11), wobei dann die kognitive Über- Werkstrukturschichtungsmodells zusammen und führung des filmischen Strukturangebots in eine kennzeichnet die drei zentralen Bezugsgrößen als kausale Ordnung9 ein zentrales Element der Kom- Perzeption, Konzeptualisierung und Stereotypen- position darstellt. Aufgrund der filmischen Werk- bildung (PKS-Modell). Perzeption steht für das zeit ist die jeweilige Rezeption selbst als ein Zeit- Wahrnehmungsparadigma der aktiven Rezeption, in welchem der Film selbst Funktionsmechanismen 9 Dieses Ordnungsgefüge korreliert mit den Annahmen des menschlichen Wahrnehmungssystems auf- der kognitiven Filmtheorie, dass Informationen aus dem nimmt und innerhalb seiner artifiziellen Präsenz Strukturangebot des Films an der Konstitution mentaler Mo- instrumentalisiert: «Seine Komposition simuliert delle beteiligt sind. In diesem Kontext lässt sich demnach gewissermaßen die natürliche Wahrnehmungsstra- auch von einem Situationsmodell sprechen, welches die tegie» (Wuss 1999: 290). Der Rezipient tritt in eine handlungstragenden Elemente einer Geschichte in Bezug auf Figuren, Handlungsräume und Ereignisse integriert (vgl. Form der aktiven Wechselwirkung, denn er kann Wuss 1999: 44f.). Das situation model geht auf Teun A. van die Wahrnehmungsinhalte der filmischen Kompo- Dijk und Walter Kintsch (1983) zurück. sition sinnlich erleben, um diese dann für die Kons- 92 Lars C. Grabbe titution einer mentalen Repräsentation zu nutzen. perzeptionsgeleiteter Strukturen. Zweitens hebt Konzeptualisierungen entsprechen am Stärksten Wulff zwei Elemente hervor, welche sich mit den dem Kausalprinzip, wobei der Fokus hier auf der konzeptgeleiteten Strukturen von Wuss decken. rezeptiven Handlungserwartung liegt: Die Wert- oder Valeurhaftigkeit von Registern Bedeutung wird vom Zuschauer enträtselt, weil dieser expliziert ihre autonome Wirkungsdimension, da Handlungskonsequenzen und -intentionen annimmt, sie andere Register ausschließen. Der Verbundcha- aus bisherigen Verläufen Schemata gewonnen hat und rakter von Elementen besagt, dass der Zuschauer diese – im Konnex mit anderen Wissensbeständen – zu diese «als zugehörig zu einem gemeinsamen Antizipationen formt. (Wuss 1999: 266) Schatz von Ausdruckselementen einer verwandten Anmutungsqualität erkennen und so die Register- Diese Handlungserwartungen verlaufen allerdings zugehörigkeit eines Textes oder eines Textstücks» nicht streng deterministisch seitens der filmischen (Wulff 2012: 122) sicherstellen kann. Letztlich Komposition, da sich stets subjektive Anteile im steht dann die Konventionalität von Registern für Kontext von individuellen Erwartungshorizonten eine spezifisch semiotische Qualität, da sie «eng und Wahrscheinlichkeiten manifestieren. Stereo- mit der Bestimmung von Genres und Textintenti- typenbildungen bilden zusätzlich eine wichtige onen zusammengeführt sind» (Wulff 2012: 122). Größe für das kausale Feld innerhalb des Films, da Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu den Ste- sie eng verknüpft sind mit intertextuellen Hand- reotypenbildungen bei Wuss. lungsstrukturen und Konventionen. Stereotypen Repetitivität, Wert- oder Valeurhaftigkeit, Ver- zeigen sich stets als mentale Repräsentationen, bundcharakter und Konventionalität besitzen in deren Informationsgehalte durch Merkmalskom- einer kausalen Organisation, Wulff spricht hier binationen in der filmischen Komposition hervor- von einer «Homogenität der künstlerischen Aus- gerufen werden. So können Erzählkonventionen drucksmittel» (2012: 112), das Potential eine beispielsweise mit «bestimmten Strategien der atmosphärische Dichte zu evozieren. Diese atmo- Wahrnehmung, mit Denkweisen, Vorstellungen, sphärische Dichte repräsentiert die Möglichkeit Emotionen, Einstellungen, Wertungen usw.» (Wuss einer umfassenden Ingressionserfahrung, wobei 1999: 148) verbunden werden. sich das Kausalverhältnis dann innerhalb einer Mit Wuss ließe sich schlussfolgern, dass die «semantischen Verdichtung» manifestiert: «Für den Rezeptionsvorgabe des Films spezifische Parame- hier gegebenen Kontext ist wohl die heuristische ter beinhaltet, die durch den Rezipienten in eine Annahme ausreichend, «atmosphärische Dichte» kausale Ordnung überführt werden, um somit ein als Engführung von Figuren und Hintergründen, flexibles Situationsmodell mental zu repräsentie- von narrativen und diegetischen Größen aufzufas- ren. Perzeptionen, Konzeptualisierungen und Ste- sen» (Wulff 2012: 112). Die prozessuale Dynamik reotypenbildungen leisten konstitutive Anteile bei während der Realisation von atmosphärischer dieser mentalen Repräsentation: Sie sind folglich Dichte wird durch Wulff als atmosphärische Syn- beteiligt an den Ausprägungen atmosphärischer these (vgl. 2012: 113) bezeichnet, womit er explizit Ingressions und Diskrepanzerfahrungen. Hans auf die Notwendigkeit eines aktiven Rezeptions- J. Wulff bezeichnet in ähnlicher Weise das Atmo- prozesses hinweist. Der Film liefert zwar ein spe- sphärische als notwendiges Ingrediens der filmi- zifisches Strukturangebot, der Rezipient erscheint schen Zeigehandlung: aber als synthesenbildende Instanz. Entspricht Das Atmosphärische ist in dieser Hinsicht eine Tiefen- die atmosphärische Synthese der Annahme einer schicht der Inszenierung, exponiert die Figuren und das Ingressionserfahrung, so verdeutlicht Wulff zusätz- Environment gleichermaßen in einem zusammenhän- lich, das diese Synthese durch widerstreitende bzw. genden atmosphärischen Hof. (2012: 121f.) non-kausale Elemente innerhalb des filmischen Strukturangebots gehemmt10 werden kann. Diese Die Möglichkeit des atmosphärischen Hofs erlaubt dann eine Gliederung nach spezifischen Regis- 10 «Dass Dichte mit genußvoller Rezeption einhergeht, tern. Zuerst benennt Wulff die Repetitivität filmi- zeigen die Beispiele, in denen z.B. durch falsche Musik die scher Elemente. Diese sind stets Verbünde von geforderte atmosphärische Verdichtung behindert wird. Ein Beispiel ist die Fantasy-Geschichte Ladyhawke (Richard Don- sich wiederholenden Ausdruckselementen (vgl. ner, USA 1985), der die unmögliche Liebe zwischen einer Wulff 2012: 122). Das Moment der Wiederholung jungen Frau, die tagsüber ein Falke sein muss, und einem filmischer Strukturen zeigt sich bei Wuss in Form jungen Mann, der des Nachts als Wolf durch die Wälder Phänomenale Präsenz der Atmosphären im Film 93 Hemmung vermindert Ingressionserfahrungen zu internen Repräsentationen darstellt. Es lässt sich Gunsten einer Diskrepanzerfahrung. schlussfolgern, dass Ingression mit einer bestehen- den kausalen Ordnung korreliert, während die Dis- 4. Fazit krepanzerfahrung auf eine destabilisierte kausale Ordnung rekurriert. In der aisthetischen Wesensbestimmung der phä- Verstehen wir mit Hans J. Wulff das Atmosphäri- nomenalen Präsenz von Atmosphären im Film sche als Tiefenschicht der Inszenierung, dann zeigt zeigt sich die Kategorie der affektiven Betroffen- sich prinzipiell eine paradoxe Äußerungsstruktur der heit als zentrale Größe für die Charakterisierung Atmosphäre: Als ein kognitives Divergenzphäno- der Rezeptionssituation. Atmosphärische Anmu- men beinhaltet sie immersive Potentiale wie auch tungsqualitäten sind Ausdruck einer phänomena- immersionshemmende Diskrepanzerfahrungen, len Leibbeteiligung, welche das Filmverstehen in wobei erstere eine mentale Repräsentation der kau- ein ganzheitliches Filmerleben überführt. Diese salen Ordnung innerhalb des Films realisieren und phänomenologische Perspektive korreliert im Kon- letztere die Irritation, Hemmung oder Störung der text des Films mit einem komplexen System arti- kausalen Ordnung (oder eines ihrer Elemente) zum fizieller Elemente, die sich selbst in ein kausales Ausdruck bringen. Störung bedeutet gleichermaßen Gefüge einordnen. ein Element der filmischen Komposition zu sein Perzeptive Strukturen vermitteln mehr oder sowie auch auf eine instabile mentale Repräsen- weniger auffällige Wahrnehmungsinhalte, konzep- tation Bezug zu nehmen, bei der das semiotische tuelle Strukturen offerieren ein System von Kausal- Relationsgefüge des Zeichentransfers gestört ist. beziehungen sowie Handlungserwartungen und Hier liegen besondere Potentiale für das Filmerle- Stereotype aktualisieren intertextuelle Referenzen ben begründet, denn Störung und Irritation schaf- auf Basis kulturellen Wissens. Das kausale Gefüge fen inszenatorische Werte, die nicht auf immersive macht es notwendig, dass die phänomenale Leib- Konvergenzen angewiesen sind um wirksam zu sein. beteiligung und die semiotischen Strukturen glei- Die vorangehenden Überlegungen verdeutli- chermaßen in ein einheitliches Modell der phä- chen die Notwendigkeit, den Zusammenhang von nomenalen Präsenz von Atmosphären integriert Ingression, Diskrepanz und Kausalität als ein spe- werden, damit die holistische Komplexität des zifisches Relationsgefüge des Atmosphärischen zu Films adäquat erfasst werden kann. begreifen, an dem phänomenologische sowie semi- Ingression und Diskrepanz sind demnach zwar otische Aspekte konstitutive Anteile haben. Diese phänomenologisch orientierte bzw. geprägte Überlegungen in ein philosophisches und medien- Begriffe, denn sie integrieren die Konnotation theoretisches Analyseschema zu integrieren ver- einer räumlichen Umgebungsqualität, implizieren spricht aussichtsreiche Ergebnisse im Bereich der jedoch ebenfalls eine Anwendung im Kontext Immersions- und Atmosphärenforschung. mentaler Repräsentationen und semiotischer Zei- chenrelationen. In dieser semiotischen Perspektive Literatur zeigt sich die Struktur der Konvergenz als Basisphä- nomen für die repräsentationale Bestimmung von Bieger, Laura (2007) Ästhetik der Immersion. Raum-Erle- Ingression und Diskrepanz, jeweils vor dem Hinter- ben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington grund eines stabilen oder destabilisierten kausa- und die White City. Bielefeld: Transcript len Feldes. Atmosphärische Ingressionserfahrung Böhme, Gernot (2001) Aisthetik: Vorlesungen über ist gekennzeichnet durch eine stabile Konvegrenz Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. Mün- (Annäherung, Zuwendung) von externen und inter- chen: Fink nen Repräsentationen, während atmosphärische – (2007) Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Diskrepanzerfahrung eine destabilisierte (immer- Ästhetik. In: Einfühlung und phänomenologische sionshemmende) Konvergenz von externen und Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst. Hg. von Thomas Friedrich & Jörg H. Glei- ter. Berlin: LIT Verlag. S. 287–310 streift, erzählt, so dass sie sich nur in der kurzen Phase Busch, Kathrin (2007) Hybride. Der Raum als Aktant. In: zwischen Tag und Nacht als Menschen begegnen können; der Film ist mit einer ganz unpassenden Disco-Musik (von Kultureller Umbau. Räume, Identitäten, und Re/Prä- Andrew Powell) unterlegt, die sich jeder atmosphärischen sentationen. Hg. von Meike Kröncke/Kerstin Mey/ Synthese verweigert» (Wulff 2012: 113; Herv.i.O.). Yvonne Spielmann. Bielefeld: Transcript. S. 13–27 94 Lars C. Grabbe Fromm, Erich (1989) Märchen, Mythen, Träume. In: E. Hochscherf, Tobias/Kjär, Heidi/Rupert-Kruse, Patrick F. Fromm: Gesamtausgabe, Band 9: Sozialistischer (2011) Einleitung: Phänomen und Medien der Humanismus und Humanistische Ethik. Hg. von Rai- Immersion. In: Jahrbuch immersiver Medien 2011. ner Funk. Stuttgart: dtv. S. 171–309 Hg. vom Institut für immersive Medien (ifim) an der Gemoll, Wilhelm & Vretska, Karl (Hg.) (2006) Griechisch- Fachhochschule Kiel. S. 9–20 deutsches Schul- und Handwörterbuch, 10. Aufl. Malafouris, Lambros (2007) Before and Beyond Repre- München: Oldenbourg Schulbuchverlag GmbH und sentation: Towards an Enactive Conception of the Bayerischer Schulbuch Verlag GmbH Palaeolithic Image. In: Image and Imagination: a Grabbe, Lars Christian (2012) Immersion und ästheti- Global History of Figurative Representation. 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Peirce konzipiert und analysiert werden. besonders aufschlussreich sind in dieser hinsicht solche szenen, in denen die narration scheinbar ausgesetzt wird und sich die Zuschauer der empfindungen und vorstellungen innewerden, durch die sie dem Film bedeutung verschaffen. der artikel illustriert vor allem die Funktion der dynamisch-energetischen interpretanten an einer vielzahl von beispielen. Taking Hitchcock’s remark that the screen needs to be filled with emotion as a point of departure, the article sets out to refine Greg Smith’s mood-cue-approach to an ‹orectic film analysis› which places particular attention to the interplay of sensation and imagination that are caused by the film experience. The affective and cogni- tive reception of films can be studied using C. S. Peirce’s interpretant model. This approach seems particularly insightful with regards to scenes in which the narration almost comes to a halt and the audience realise the sensation and imagination that give the film a particular meaning. The essay illustrates the function of the dynamic- energetic interpretant using a variety of filmic examples. In dem Gespräch, das Alfred Hitchcock und Fran- grund ist denn auch die kategorische Bemerkung çois Truffaut über das Kino, die Kunst des Films und zu verstehen, die Hitchcock über sein Verhältnis zu die Dramaturgie der Inszenierung geführt haben, den Zuschauern macht: «Ich verliere das Publikum lässt der ‹master of suspense› keinen Zweifel daran, nie aus den Augen» (Truffaut 2003: 43) – obwohl was er als vorrangige Aufgabe eines Regisseurs es am Set gar nicht anwesend ist und dort, leib- betrachtet: «Die erste Aufgabe besteht darin, die haftig vertreten, auch nur stören würde. Erst bei- Emotion zu schaffen, die zweite darin, sie zu erhal- des zusammen: die (imaginäre) Partizipation der ten» (Truffaut 2003: 101). Kurzum: «das Rechteck Zuschauer und die Aufladung der Leinwand mit der Filmleinwand muss mit Emotion aufgeladen Atmosphäre, Stimmung und Emotionen machen werden» (Truffaut 2003: 54). Vor diesem Hinter- einen Film für das Publikum zu einem Erlebnis. 96 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf Beispielhaft zeigt sich das an der Suspense-Drama- Der mood-cue approach turgie: sie nämlich setzt darauf, dass die Zuschauer vorab über die Gefahr informiert werden, in der die Für die Behauptung, dass die orektische Dimen- Helden auf der Leinwand schweben, und sie zieht sion des Filmerlebnisses nach wie vor ‹unterbelich- diesen Schwebezustand in die Länge, damit sich tet› ist, spricht, dass auch Greg M. Smith in seinem die Zuschauer die denkbaren Folgen ausmalen und 2003 publizierten Buch Film Structure and the sich dabei ihrer eigenen, womöglich widersprüchli- Emotion System feststellt, die Wissenschaft habe chen Empfindungen innewerden können. mit der Emotion just jene Dimension des Filmerleb- Das eine, das Wechselspiel von ‹foreshadowing› nisses vernachlässigt, die für die meisten Zuschauer und ‹payoff› ist vielfach erörtert worden; das andere, grundlegend sei (vgl. 2003: 3). Geschmälert werde die Innewerdung der eigenen, an die Verlaufsge- damit auch die kulturelle Bedeutung des Kinos: stalt des Films gebundenen Empfindungen, hat in In the modern world’s emotional landscape, the movie der Theorie des Films und in der Praxis der Filmana- theater occupies a central place: it is one of the predo- lyse noch nicht genügend Aufmerksamkeit gefun- minant spaces where many societies gather to express den, obwohl sich die Medienwissenschaft heute and experience emotion. The cinema offers complex in der Regel nicht mehr als philologische Textwis- and varied experiences; for most people, however, it is senschaft begreift und von teilhabenden, aktiven a place to feel something. (Smith 2003: 4) Zuschauern ausgeht. Die orektische Filmanalyse soll dazu beitragen, dieses Desiderat zu beheben. Smith schlägt somit in die gleiche Kerbe wie Chris- Das Attribut «orektisch» stammt aus dem Griechi- tian Mikunda, der von «geradezu physisch spürba- schen (orektikos) und bezeichnet alle Aspekte der rer Sinnlichkeit» spricht und behauptet, dass diese Erfahrung, die mit Impulsen und Empfindungen Sinnlichkeit von «kinematographischen Codes» her- des Verlangens und Wünschens zusammenhängen. vorgerufen werde (2002: 18), die sich im Anschluss Ein Mensch ohne entsprechende Empfindungen an Rudolf Arnheim gestalttheoretisch fassen lie- wäre «anorektisch», also lust- und teilnahmslos. Wir ßen. Mikunda argumentiert primär wahrnehmungs- sind daher einerseits auf der Suche nach Konzepten psychologisch, während Smith seinen Filmanalysen und Kategorien, die das vom Film vielfältig stimu- eine Theorie des emotionalen Systems unterlegt. lierte und regulierte Verlangen der Zuschauer in Diese Theorie setzt er scharf gegen jede Auffassung den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Wir sind ab, die auf das freudsche Lustprinzip rekurriert – andererseits über die Re-Lektüre der einschlägigen z.B. Christian Metz in Der imaginäre Signifikant. Forschungsliteratur unter diesem Gesichtspunkt Psychoanalyse und Kino (1977). Smith kritisiert, hinaus bemüht, die Konzepte und Kategorien einer dass dieses Prinzip aufgrund seiner Generalität Analyse, die sich mit der orektischen Dimension nicht der Spezifität der einzelnen Filme gerecht wer- des Filmerlebnisses befasst, nicht nur deskriptiv den könnte – also dem, was er «the flavor of indi- zu nutzen. Vielmehr wollen wir sie zu einem spä- vidual texts» nennt (2003: 5). Er selbst orientiert teren Zeitpunkt auch empirisch testen. In diesem sich in seiner Argumentation am Kognitivismus, der Beitrag beschränken wir uns allerdings darauf, auf Einsichten der Psychologe, der Philosophie und exemplarisch vorzuführen, wie die Re-Lektüre der der Gehirnforschung fußt und die Narratologie des Forschungsliteratur aussehen kann; anschließend Films in den USA nachhaltig geprägt hat (David wollen wir schlaglichtartig die Probe aufs Exem- Bordwell, Kristin Thompson et al.). pel machen. Wir befassen uns konstruktiv-kritisch Im Unterschied jedoch zu anderen Kognitivis- mit dem mood-cue approach von Greg M. Smith, ten wie Noël Carroll, Ed Tan und Torben Grodal, korrelieren ihn mit komplementären Zugriffen auf die personen- oder aktantenbasierte Konzepte zur die emotionale Dimension des Filmerlebnisses Analyse der emotionalen Dimension des Filmerleb- und rücken ihn in den Kontext des Interpretanten- nisses entwickelt haben, setzt Smith auf den mood- Modells von Charles S. Peirce, um Kategorien und cue approach. Indem er cues als – weitgehend plan- Kriterien zu entwickeln, die an einigen ausgewähl- bare – situationsgebundene Hinweisreize versteht, ten Beispielen illustriert werden. hat er ein Analysemodell entwickelt, welches nicht darauf angewiesen ist, dass die Empfindungen an Objekte der diegetischen Welt gebunden sind (vgl. Smith 2003: 65f.). Dies unterscheidet Smith insbe- sondere von Carroll. Ebenso wenig möchte er die Phaneroskopie 97 Stimmung, in die ein Film die Zuschauer in aller sozialen Situation und den kulturellen Regeln sei, Regel bereits versetzt, bevor Objekte oder Aktan- die das Rollenverhalten in einer Situation bestim- ten auf der Leinwand erscheinen, wie Tan primär men (vgl. Smith 2003: 19f.). Unabhängig davon, an das Interesse binden, mit dem die Zuschauer wie sich diese soziokulturellen Faktoren im Einzel- die Entwicklung der Handlung verfolgen – was zu nen auswirken, gilt, dass Emotionen auf der unters- einer empathisch grundierten Informationsverar- ten Stufe ihrer Analyse Affekte darstellen, die von beitung führt (vgl. Smith 2003: 71ff.). Denn auch einem Subjekt als ‹positiv› oder ‹negativ› empfun- die Empathie ist eine personen- oder aktantenba- den werden und dazu führen, dass jene Objekte, sierte Emotion. Von daher ist es nur konsequent, die entsprechende Affekte auslösen, entweder wenn Smith ähnliche Vorbehalte gegen das flow- anziehend (attraktiv) oder abstoßend (repulsiv) Modell von Grodal äußert, geht dieses Modell wirken (vgl. Smith 2003: 31). Ausgehend von die- doch von einer Wechselwirkung zwischen der Iden- ser Polarität ergeben sich dann auf den höheren tifikation und der Empathie der Zuschauer aus, die Stufen der Analyse zum Teil sehr komplexe Affekt- ebenfalls durch die Leinwandhelden angeregt wird Modulationen. und – sofern der downstream des Empfindungs- In den Affekten und in der affektiven Tönung stromes nicht blockiert wird – kataraktartig zuneh- des Verhaltens zeigt sich, nebenbei bemerkt, was mend komplexere Emotionen auslöst (vgl. Smith Bernhard Waldenfels als «Responsivität» bezeich- 2003: 76ff.) Entscheidend für Smith, der die Rele- net hat (vgl. 1994: 320–336): die Fähigkeit und vanz der Empathie keineswegs bestreitet, bleibt, Bereitschaft des Menschen, sich zu den Ansprü- dass die filmische Signifikation eine Reihe von chen zu verhalten, die ein anderer Mensch, eine Schlüsselreizen umfasst, die unabhängig von den Situation oder auch ein Medium an ihn richtet. Agenten der Handlung ins Spiel kommen: Genre- Schon die bloße Anwesenheit eines Anderen hat bezeichnungen, die Zuschauer mit einer gewissen in diesem Sinne den Doppelcharakter von Anforde- Erwartung ins Kino gehen lassen; Musik, mit der rung und Angebot. Zugrunde liegt der Responsivi- die Zuschauer noch während des Vorspanns auf tät die Irritabilität des menschlichen Organismus, das Kommende eingestimmt werden; Farben, die der als ein multimodales Sensorium begriffen wer- sie affizieren oder andere Momente der atmosphä- den muss, das physiologische und psychologische, rischen Verdichtung. affektiv-emotionale und kognitiv-rationale, visze- Ausschlaggebend für die Theorie der Emoti- rale und cerebrale Impulse wahrnimmt, verschränkt onen, die Smith verwendet, ist ihr Vergleich mit und auslegt. Anatomisch betrachtet besteht dieses Gedanken einerseits und Reflexen andererseits: Sensorium im Wesentlichen aus dem peripheren Emotions […] resemble thought in that they allow us Nervensystem, dem limbischen System und der to act on incomplete situational information and to re- Amygdala. Der Mensch ist, mit anderen Worten, spond flexibly to a variety of stimuli with a range of ein senti-mentales Wesen, senso-motorisch rück- appropriate behavior. Emotions resemble reflexes in gekoppelt mit einer Umwelt, die während des Fil- that they provide an urgency to action that encourages merlebnisses auf das Rechteck schrumpft, von dem us to act quickly and motivate us to pursue an action Alfred Hitchcock gesagt hat, dass es «mit Emotion more fervently than would be possible with pure ration- aufgeladen werden» müsse (Truffaut 2003: 54). ality. The emotion system is not capable of the higher Der Umstand, dass dieses Rechteck mittlerweise abstract reasoning of the conscious mind, but it is not dank Dolby-Surround in einen multidirektional antithetical to that reasoning. (Smith 2003: 19) organisierten Soundscape eingebettet ist, dass es zu einer Kuppel gekrümmt werden kann und sich Mit diesen Bemerkungen ratifiziert Smith zum dergestalt zu einer höchst immersiven Apparatur einen die inzwischen allgemein akzeptierte entwickelt hat, ändert nichts an der Triftigkeit von Erkenntnis, dass Emotionen und Kognitionen Hitchcocks Statement, aus der sich zwingend die keine Gegensätze bilden. Zum anderen hebt er die Dringlichkeit einer intensiven wissenschaftlichen pragmatische – um nicht zu sagen: motorische – Beschäftigung mit der emotionalen Dimension Relevanz von Reflexen, Gefühlen und Gedanken des Filmerlebnisses ergibt. Der mood-cue approach hervor. Außerdem legt er Wert auf die Feststel- kann dieser Beschäftigung nachhaltige Anstöße lung, dass der Ausdruck von Empfindungen von vermitteln, bedarf aus unserer Sicht aber, wie der den Empfindungen selbst unterschieden werden Querverweis auf Waldenfels andeutet, einer Ver- müsse – zumal dieser Ausdruck abhängig von der zahnung mit anderen Konzepten und Methoden. 98 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf Auch wenn man gegenüber Smith einwenden Nicht alle frames und scripts müssen genrespe- mag, dass einige der von ihm ins Feld geführ- zifisch sein, die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ten Begriffe – beispielsweise die Unterscheidung man ‹Drehbücher› und ‹Verständnisrahmen› für von «feeling for» und «feeling with» – anders als dramatische Handlungen findet, die keine Emo- von ihm behauptet (Smith 2003: 170), durchaus tionen befördern, dürfte im Spannungskino sehr gebräuchlich sind, bieten seine Überlegungen gering sein. Allerdings gibt es, wie Smith betont, zahlreiche interessante Anstöße für die Untersu- keine feste Koppelung zwischen einzelnen Stimuli chung der orektischen Dimension des Filmerleb- und bestimmten Affekten, die ihnen zwangsläufig nisses. Zu diesen Anstößen gehört insbesondere korrespondieren. Ein Fanfarenstoß kann – je nach die Betonung des Prozesscharakters von Affektion, Situation – Bedrohung (vor der Schlacht) oder emotionaler Partizipation und kognitiver Informa- Erleichterung (nach der Schlacht) signalisieren. tionsverarbeitung. Für Smith wird dieser Prozess Wichtig ist, dass Szenografien die (antizipatori- durch die Stimmungen integriert, in die der Film sche) Imagination der Zuschauer an emotionale die Zuschauer zu versetzen sucht. «Moods act as Verlaufskurven der An- und Abspannung binden, the emotion system’s equivalent of attention, focu- die ihrerseits zu einem nicht unbeträchtlichen Teil sing us on certain stimuli and not others», stellt Lerneffekte des Kinos darstellen. Wenn sich zwei er kurz und bündig fest (Smith 2003: 38). Daraus Gestalten in einem Fahrzeug Strumpfmasken über folgt, ganz im Sinne Hitchcocks: «The first task for das Gesicht ziehen, ist die Standardsituation des a film is to create such an emotional orientation Überfalls etabliert, mit der nur die allerwenigs- toward the film» (Smith 2003: 42). Die zweite Auf- ten Zuschauer persönliche Erfahrungen gemacht gabe besteht darin, die Stimmung aufrechtzuerhal- haben dürften. Ähnlich wie die primären Verständ- ten, zu steigern oder abzuwandeln. nisrahmen, die Erving Goffman zufolge der Erfas- To sustain a mood, we must experience occasional sung einer Situation dienen, eine rationale Modu- moments of emotion. Film must therefore provide the lation erfahren können (vgl. 1977: 31–97), kann es viewer with a periodic diet of brief emotional moments auch zur emotionalen Modulation einer Szenogra- if it is to sustain the mood. Therefore, mood and emo- fie kommen. Entweder a priori, wenn die Zuschauer tion sustain each other. Mood encourages us to experi- schon wissen, dass eine der beiden Gestalten Mr. ence emotion, and experiencing emotions encourages Bean ist – oder im weiteren Verlauf der Inszenie- us to continue in the present mood. (Smith 2003: 42) rung, wenn sich herausstellen sollte, dass sich die vermeintlichen Gangster nur einen Spaß auf Kos- Eingedenk der Tatsache, dass längst nicht alle ten eines Freundes machen wollten, der soeben emotionalen Momente eines Films diegetisch ver- eine Eisdiele eröffnet hat. In jedem Fall kommt es mittelt sein müssen, kann man in den Narrationen zu einem Wechselspiel von Affektion und Informa- des klassischen Hollywood-Kinos konventionali- tion, Gemütsverfassung und Wissensstand, Stim- sierte emotion marker entdecken: «These markers mung und Vorstellungsbildung in Abhängigkeit signal to an audience traveling down the goal-ori- von den situationsgebundenen Hinweisreizen, auf ented path of a narrative, cuing them to engage in die eine Inszenierung setzt. a brief emotional moment» (Smith 2003: 44). Das Offenbar fungieren diese cues wie ‹Stichworte›, können zum Beispiel zwei, drei markige Akkorde die sich an das Empfindungsvermögen und die sein, die den Auftritt des Antagonisten begleiten mit diesem Vermögen gekoppelte Einbildungs- und seine Bedrohlichkeit unterstreichen. Viele Mar- kraft der Zuschauer wenden. Es sind mehr oder ker dieser Art rekurrieren auf «emotion prototypes weniger beredte (weil mehr oder weniger kon- (nodes of association often containing scripts)» ventionalisierte) Schlüsselreize, zu denen sich die (Smith 2003: 47) – also auf affektiv grundierte Zuschauer verhalten, indem sie sowohl affektiv als Szenografien (vgl. Eco 1987: 100): der Schatten- auch imaginativ reagieren – Reaktionsformen, die riss von Nosferatus Spinnenhänden an der Wand vermutlich gerade deshalb intensiv erlebt werden, hinter dem Bett seines nächsten Opfers; das weil motorisch-praktische Reaktionen in der Kino- von Gewehrschüssen durchsetzte, genretypische Situation weitgehend ausgeschlossen sind. Die Angriffsgeheul einer Indianermeute, das aus dem Erregungsenergie kann dort nicht ausagiert wer- Off zu hören ist, während sich die Einstellung auf den und bildet daher den Gefühlsüberschuss der eine aus Kutschwerken gebildete Wagenburg kon- fortlaufenden Wahrnehmung. So heißt es bereits zentriert usw. bei Edgar Morin: Phaneroskopie 99 Die Abwesenheit oder die Verkümmerung der motori- Ängsten und Sehnsüchten – seien diese nun spon- schen oder praktischen oder aktiven Partizipation (je tan entstanden oder Ausdruck soziokultureller nach dem besonderen Fall ist eines dieser Adjektive Gewohnheiten und Konventionen. vorzuziehen) ist eng mit der psychischen und emotio- Eben darin, dass sich die Zuschauer ihrer eige- nalen Partizipation verbunden. Da die Partizipation des nen Empfindungsweisen innewerden, liegt denn Zuschauers nicht in einer Handlung ihren Ausdruck auch die psychologische Pointe der Suspense-Dra- finden kann, wird sie innerlich, wird sie zum Nacherleb- maturgie. Sie verschafft ihnen nicht nur einen kur- nis. Die Kinästhesie des Schauspiels stürzt in die Co- zen Augenblick der Überraschung bzw. der Über- enästhesie des Zuschauers, in seine Vitalempfindung, rumpelung – vielmehr involviert sie die Zuschauer also in seine Subjektivität […]. (1958: 109) für eine längere Dauer so in das Wechselspiel von foreshadowing (Information) und payoff (Aktion), Das heißt freilich nicht, dass die emotionale Parti- dass Raum für eine gesteigerte Form der Fremd- zipation nur aus dem Überschuss der Energie resul- und Selbstwahrnehmung bleibt. Daher kommt es tiert, die nicht unmittelbar in Aktionen umgesetzt beim Suspense in vielen Fällen zu einer Dilation werden kann. Hinzu kommen die bereits im Vorfeld der Erzählzeit: Geradezu unerträglich langsam der Filmwahrnehmung entstandenen Erwartun- visiert der Attentäter in der Loge sein Opfer an, gen, die sich in vielen Fällen an der spezifischen während die Frau, die das Verbrechen verhindern Emotionalität eines bestimmten Genres oder der könnte, ebenso zur Passivität verurteilt ist wie die beteiligten Stars und Filmemacher orientieren Zuschauer, die ihr Wissen um das Mord-Komplott sowie jene Empfindungen, die aus der Atmosphäre teilen. In der sicheren Erwartung, dass der mut- der Wahrnehmungssituation (Anmutung der Kino- maßlich tödliche Schuss genau in dem Augenblick Architektur, Gruppen-Erlebnis etc.) hervorgehen. abgefeuert werden wird, in dem die Partitur ver- Intensivierend kann sich zudem die Juxtaposi- langt, dass die Becken gegeneinander geschlagen tion von Emotionen auswirken. Die viel beschwo- werden, erleben die Zuschauer in Der Mann, der rene Angstlust, die Horrorfilme auszulösen vermö- zuviel wusste (The Man Who Knew too Much, Alf- gen, wäre nur ein Beispiel für diese Fusion einander red Hitchcock, GB 1934 und USA 1956), was sich eigentlich widersprechender Empfindungen. So in der Mimik, Gestik und Proxemik der Protagonis- resultiert die Angstlust zumeist daraus, dass die tin spiegelt: höchste Anspannung im Bewusstsein Zuschauer hin und her gerissen sind zwischen dem der eigenen Ohnmacht. Die Gewissheit, dass der Wunsch, der Held möge dem Monster entwischen entscheidende Moment kommen muss, widerstrei- und der Erwartung, dass er diesem Monster unwei- tet dem Verlangen, das Attentat möge in letzter gerlich begegnen muss und nicht gewachsen sein Sekunde vereitelt werden; der Ungewissheit über dürfte. In dieser Hinsicht stimulieren Horrorfilme die Auflösung der dramatischen Situation korres- ein paradoxes Begehren, das sich einerseits aus pondiert die geradezu körperliche Anspannung, dem Genre-Wissen um die finale Konfrontation die sich aus ihrer Zuspitzung ergibt. Die gesamte und andererseits aus den naheliegenden Empfin- Szenografie erbebt sozusagen unter dem Wider- dungen der Empathie oder Sympathie speist. Zu hall, den die Dramaturgie und die Musik im bedenken sind in diesem Zusammenhang sicher Empfindungs- und Vorstellungsvermögen der auch Aspekte der Persönlichkeitspsychologie, die Zuschauer auslösen. Durch den Suspense werden zur Vorliebe für ein bestimmtes Genre führen und sie, um einen Begriff von Béla Balázs zu verwen- in der Fan-Gemeinde einen bestimmten Rezepti- den, auf einen polyphonen «Gefühlsakkord» (vgl. onshabitus hervorbringen. Worauf es bei der Jux- Balázs 2001: 45f.) gestimmt, in dem sich die taposition zwischen dem Verlangen nach der Kon- Protentionen und Retentionen der Imagination frontation und der fürsorglichen Anteilnahme am überlagern – ein Akkord, der allmählich anschwillt Schicksal des Helden – wie bei allen Formen der und daher auch nicht sang- und klanglos verebbt, Affektion, der emotionalen Partizipation und der sobald die dramatische Situation actionreich auf- rationalen Informationsverarbeitung – in jedem gelöst worden ist. Fall ankommt, ist aus unserer Sicht, dass der Film Es verwundert somit nicht, dass man den den Zuschauern Gelegenheit gibt, sich ihrer eige- Begriffsapparat, den Smith an seinen mood-cue nen Empfindungsweise – sei diese nun ambiva- approach koppelt, heuristisch nutzen kann, um die lent oder nicht – innezuwerden. Der Horrorfilm ist Metapher vom Gefühlsakkord aufzulösen. Schon immer auch eine Konfrontation mit den eigenen Balázs hatte diesen Akkord ja an die Stimmung 100 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf gebunden, die ein Film auslöst. Seine Gestalttheo- auf der einen Seite und den Figuren mitsamt ihrer rie des Kinos, die auf die emotionale Partizipation Funktion innerhalb der Diegese auf der anderen der Zuschauer setzt, gehört zu den Konzepten, die Seite konventionalisierte filmische Erzählmuster eine orektische Filmanalyse mit den Kategorien in Frage stellen. Sehr anschaulich kann man die und Kriterien von Smith vermitteln muss. Zu diesen hierfür erforderliche sorgfältige und nuancierte Kriterien gehört die Unterscheidung von «sparsely Setzung von Emotionspunkten an Fritz Langs M and densely informative texts» (Smith 2003: 169), (D 1931) verdeutlichen. Nachdem die Handlung die sich ebenfalls an Der Mann, der zuviel wusste zunächst – um bei Hitchcocks Terminologie zu blei- illustrieren lässt: sowohl das Original als auch das ben – an eine gewöhnliche ‹Whodunit›-Geschichte Remake sind dicht erzählte, geradezu überkodierte mit klarer Sympathieverteilung erinnert (wer ist der Texte (als Beispiel für einen Film mit geringer Infor- Kindsmörder, der ganz Berlin in Atem hält?) tritt an mationsdichte nennt Smith Jim Jarmuschs Stran- die Stelle des Abscheus über die Untat zusehends ger than Paradise (USA/D 1984) – einen Film, den das Unbehagen darüber, dass die Jäger (Polizei er als Gegenentwurf zur Hollywood-Dramaturgie und Verbrecherorganisation) eine regelrechte Men- versteht). Hitchcock hat die Zuschauer so umsich- schenhatz betreiben. Durch das Spiel mit Licht tig und nachhaltig mit allen relevanten Informatio- und Schatten, das ebenso wie die oft von unten nen versorgt, dass dem Publikum die Dramatik der angeschnittenen Bilder von Gangstern und Poli- Situation unmöglich entgehen kann und eine indif- zisten eine unheimliche Atmosphäre schafft, vor ferente Haltung dem Geschehen gegenüber ausge- allem aber durch die Parallelmontage der Täter- schlossen ist. Soweit es die Vorab-Information der suche, die zugleich vom Staat und vom Syndikat Zuschauer betrifft, ist die emotionale Partizipation, der Unterwelt betrieben wird, kommt es zu einem wie Smith es ausdrückt, rear driven; indem sie von Missverhältnis zwischen dem Hintergrundwissen der Spannung auf die Auflösung einer Situation über die schrecklichen Morde (rear-driven), der lebt, ist die Suspense-Dramaturgie gleichwohl for- aktuellen Bewertung der dramatischen Situation ward looking (vgl. 2003: 160f.). Affektiv ergriffen (Menschenhatz) und ihrer heranrückenden Auflö- und imaginativ beteiligt, wie die Zuschauer sind, sung (forward-looking). Verstärkt wird die Ambiva- leiden sie mit der Heldin, sorgen sie sich um das lenz zum einen dadurch, dass viele Nahaufnahmen Opfer, aber nicht um den Attentäter, für den sie den in die Enge getriebenen Täter zeigen, während kaum etwas empfinden. Die Suspense-Dramaturgie der für seine Verfolgung zuständige Kriminalist geht also nicht nur mit einer relativ klaren Vertei- ausschließlich aus größerer Distanz gezeigt wird, lung von Sympathie und Antipathie einher, sie sowie zum anderen dadurch, dass die Zuschauer lässt auch die Empfindungen auftauchen, die man die Fahndung nach dem Kindsmörder und sein anhand der Unterscheidung von «feeling for or Verhör zumindest heutzutage in dem Bewusst- with» (Smith 2003: 160f.) von einander abheben sein des Unheils verfolgen, das sich bereits in der und gegen den Zustand der Indifferenz oder Indo- Spätphase der Weimarer Republik abzuzeichnen lenz abgrenzen kann. Darüber hinaus verwendet begann. Es ist somit die Pogrom-Stimmung, die Hitchcock, der Erzähltradition Hollywoods entspre- den Zuschauer affiziert und zum Nachdenken chend, eine Reihe von Emotionsmarkern (vgl. Smith bringt – eine Stimmung, die aus dem atmosphäri- 2003: 89f.), die den Zuschauern signalisieren, mit schen Zuschnitt der Inszenierung resultiert. Erst sie welchen Gefühlen die Leinwand (respektive die macht aus dem absehbaren Handlungsverlauf ein Filmwahrnehmung) aufgeladen werden soll: Angst Menetekel. Spätestens in der Szene, in der die Ver- um das entführte Kind der Heldin; Ohnmacht treter des Verbrecher-Syndikats dem von Peter Lorre angesichts der Unmöglichkeit, sowohl dieses Kind gespielten Triebtäter im Keller eines verlassenen als auch das Opfer des Attentats zu retten; Empö- Industriekomplexes den Prozess machen, dürfte rung über die perfiden Drahtzieher von Entführung sich der Zuschauer seines Unbehagens über die- und Mord-Komplott etc. ses Tribunal innewerden und ihm gegenüber eine Während Stimmung und Atmosphäre affirma- kritische Haltung einnehmen. Bezeichnend für das tive Elemente einer Sympathielenkung sein kön- Wechselspiel zwischen der atmosphärischen Ver- nen, eröffnen sie auch interessante Variationen, dichtung und der zunehmenden Empfindung des wenn sie der Geschichte oder den Charakterisie- Unbehagens ist, dass dieses Unbehagen keines- rungen der Figuren zuwider laufen. So kann eine wegs ungetrübter Erleichterung weicht, wenn die Diskrepanz zwischen Stimmung und Atmosphäre Polizei die Selbstjustiz endlich unterbindet und das Phaneroskopie 101 mehr erbarmungswürdige als erbärmliche Subjekt Solche Momente sind wie alle Szenen und abführt, als das der Täter dem Zuschauer mittler- Sequenzen, in denen die Handlung gleichsam weile erscheint. stillsteht, in besonderer Weise aufschlussreich für Interessant ist bei Lang wie bei Hitchcock, dass die orektische Filmanalyse, da die Narration den sich in den Schlüsselszenen und Schlüsselreizen Zuschauern an diesen Stellen die Zeit einräumt, ihrer Filme dramaturgische und atmosphärische die es braucht, um sich der Atmosphäre der dar- Aspekte überlagern. Das gilt – um noch einmal gestellten Situation, der eigenen Stimmung und auf das Beispiel von Der Mann, der zuviel wusste der emotionalen Beteiligung am dramatischen zurück zu kommen – für die Dynamik der Musik, Geschehen inne zu werden. So kommt es im für die Juxtaposition zwischen dem festlichen Kon- Horrorfilm kurz vor dem Auftreten des Monsters zertereignis und der Gemeinheit der Intrige sowie häufig zu einer Szene oder Sequenz, in der das für den Kontrast zwischen der Vergnügungsbereit- Erzähltempo abnimmt. Der bereits erwartungs- schaft der unwissenden Zuhörer, die ganz Ohr sind volle Zuschauer wird so dazu verleitet, in seiner und kein Auge für die Waffe hinter dem Logenvor- Fantasie den Schrecken vorwegzunehmen, der ihn hang haben, und der Katatonie der Heldin, die gleich ereilen wird. Oft sind es lange Plansequen- sich nicht entspannen und das Konzert unmöglich zen mit wenigen Schnitten, die von langsamer genießen kann. Vermittelt wird den Zuschauern Musik (largo/lento/adagio) getragen und im dies alles durch Einstellungswechsel, Kamerasch- Zusammenspiel mit diegetischem Ton atmosphä- wenks und Montageeffekte, die das Layout des risch verdichtet werden, während die Kamera auf Suspense in ein furioses Display, ein Aus- und der Stelle verharrt oder mit ruhigen Bewegungen Durchspielen all der Erregungsmomente verwan- über den Schauplatz gleitet. Meistens geht diese deln, die in der dramatischen Situation angelegt Ruhe vor dem Sturm mit einer Zeitdehnung einher, sind. Und auch hier gilt wieder, was zuvor über d.h. die Erzählzeit ist länger als die erzählte Zeit. die eigentliche Pointe der Suspense-Dramaturgie Mehr noch als die drohende Zuspitzung der Hand- gesagt wurde: sie funktioniert nur im Verbund mit lung bilden diese Ruhephasen die Grundlage für der Zeit, die den Zuschauern eingeräumt wird, um das Vergnügen am Horrorfilm und für die Steige- sich zugleich der pragmatischen und der emotio- rung der Angstlust – also für jene Stimmung, in der nalen Implikationen der in die Länge gezogenen die Zuschauer immer schon mit dem Schlimmsten und zugespitzten Situation innezuwerden. Ohne gerechnet haben, bevor es eintritt. Freilich kön- eine solche Möglichkeit würden die emotionalen nen diese Ruhepausen ihre dramaturgische Funk- Momente von der Narration überlagert, womög- tion nur im Zusammenhang mit dem Vorlauf der lich verlorengehen oder abgeschwächt werden. Handlung, den Genrekenntnissen des Publikums Dass die Nachhaltigkeit der Affekte und der usw. erfüllen. Sie sind innerhalb des spezifischen emotionalen Partizipation wie der rationalen Erlebnisraumes, in den die Zuschauer eintauchen, Informationsverarbeitung eng mit dem Faktor Zeit Kristallisationspunkte der atmosphärischen Ver- verwoben ist, sieht man im Übrigen auch sehr dichtung und emotionalen Anspannung – Stei- deutlich am Kuleshow-Effekt, der entsteht, wenn gerungsmomente, die nicht etwa durch erhöhte das Gehirn versucht, durch den Schnitt zusam- Betriebsamkeit (action), sondern im Gegenteil mengefügte Einstellungen in einen Sinnzusam- durch das schaurig-schöne Hinauszögern der vie- menhang zu überführen. Tatsächlich wird dieser len ‹kleinen Tode› zustande kommen, die der Hor- Effekt durch Schwarzbilder oder langsame Abblen- rorfan sterben möchte. Darin liegt sein Vergnügen, dungen verstärkt, die – darauf hatte schon Balázs das nur halb so intensiv wäre, wenn ihm der Film aufmerksam gemacht – wie Aufforderungssignale keine Gelegenheit geben würde, sich der eigenen zum Weiterdenken wirken: «Die Abblendung läßt Empfindungen innezuwerden. einen innehalten wie die Gedankenstriche hinter «Innewerden» heißt mithin, dass ein Prozess einem Satz» (Balász 2001: 54). Sie erfüllt damit stattfindet, den man nicht als rationale Reflexion, im Film die Funktion der Aposiopese, die im Text als objektive Faktorenanalyse eines unbeteiligten durch drei Pünktchen am Ende eines unvollständig Beobachters, wohl aber als affektive Synthese von ausgedrückten Gedankens angedeutet wird. Das visuellen und akustischen Impulsen, Erregungsmo- Innehalten ist dabei der erste Moment eines auto- menten und Vorstellungsreihen durch ein Subjekt noetischen Prozesses, in dessen Verlauf sich der auffassen kann, das imaginär in das Geschehen Zuschauer seiner eigenen Responsivität innewird. involviert ist, die eigenen Empfindungen bemerkt 102 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf und gemäß der Montage eine empathisch grun- ellen Text, den die Zuschauer imaginieren, wenn dierte Konjektur vollzieht. Zur Beschreibung dieses sie die dramatische Situation auf ein bestimmtes ebenso dynamischen wie komplexen Prozesses Skript beziehen (vgl. 1987: 100). Als Produkt der reicht der mood-cue approach allein nicht aus. So Einbildungskraft muss die Szenografie demnach sehr er die Aufmerksamkeit auf einige wichtige in der Innenwelt des Subjekts verortet werden. Faktoren und Aspekte der emotionalen Dimen- Andererseits besteht die Szenografie jedoch aus sion des Filmerlebnisses lenkt und so entschieden dem spezifischen Arrangement von visuellen und er dabei über die Konzepte hinausgeht, die sich optischen cues, durch die sich ein Drehort oder ein vorrangig nur um personen- oder aktantenbasierte Bühnenbild auszeichnet, womit sie in den Gegen- Impulse kümmern, so unzureichend und unbefrie- standsbereich der Außenwelt fällt. Die Frage, was digend bleibt dieser Ansatz in Bezug auf andere an einer Szenografie oder an einem Szenario tat- Faktoren und Aspekte. Zu nennen ist hier zunächst sächlich sichtbar und was nur eingebildet ist, kann die Rolle der Einbildungskraft, die Smith zwar daher nur von Fall zu Fall entschieden werden. In nicht vollkommen ignoriert, aber auch nicht näher ähnlicher Weise lässt sich die Eigenart einer Atmo- spezifiziert, und für die insofern das gleiche gilt sphäre nur dadurch beschreiben, dass man die wie für den Faktor Zeit, der sehr unterschiedlich Merkmale der Umgebung synästhetisch erfasst eingesetzt werden kann, von Smith aber nicht als und in Beziehung zu den Empfindungen setzt, die eigenständige Wirkkraft wahrgenommen wird. Mit sie stimulieren bzw. modifizieren. dem «Innewerden» erhält die orektische Dimension Wenn demnach das spezifische Wirkungspo- des Filmerlebnis eine Reflexivität, die Auswirkun- tential einer Szenografie in der Verschränkung gen auf die Motivation der emotionalen Betei- von Dramaturgie und Atmosphäre einerseits sowie ligung hat. Der Zuschauer stimmt sich nicht nur von Perzeption und Imagination andererseits auf die Atmosphäre des Films und seine Drama- liegt, handelt es sich bei ihr um eine Strategie der turgie ein, er bezieht das Geschehen auch auf sich Immersion, die vor allem auf das ego-involvement selbst zurück und wird sich seiner Einstellungen des Rezipienten setzt. Dieses Involvement rückt das dem Geschehen, den Aktanten und ihren Motiven Konzept der Szenografie in die Nähe des Begriffs gegenüber bewusst. Das dürfte insbesondere dann des «empathischen Feldes», den Hans J. Wulff von erheblicher Bedeutung sein, wenn ein Film geprägt hat (vgl. 2002). Wir schlagen vor, diesen moralische Entscheidungssituationen etabliert Begriff nicht ausschließlich an die Konflikt-Aufstel- und die Zuschauer zu einem imaginären Probe- lung der dramatis personae zu binden. Geht man handeln einlädt. Mit der Berücksichtigung dieser stattdessen von der physikalischen Konzeption des und ähnlicher Reflexionsmomente geht die orekti- elektrischen Feldes aus, das durch Spannungen sche Filmanalyse entschieden über den mood-cue aufgebaut wird und in dem durch entsprechende approach hinaus. Impulse jederzeit eine Umverteilung der Kraftver- Zudem weist der von Smith verwendete Begriff hältnisse stattfinden kann, ist es möglich, diese der Stimmung (mood) eine Unschärferelation auf, Rekonfiguration von Erregungsquanten auch an die daraus resultiert, dass die Stimmung ebenso andere Momente oder Schlüsselreize des Filmerleb- gut ein Effekt der Dramaturgie wie der Atmo- nisses zu koppeln bzw. anzunehmen, dass es ein sphäre sein kann. Für die orektische Filmanalyse oft diffiziles Wechselspiel zwischen personen- oder ist diese Unschärferelation der Stimmung freilich aktantenbasierten cues und anderen Impulsen, äußerst aufschlussreich. Geht man nämlich mit beispielsweise der Ausleuchtung, der Farbgebung, Gernot Böhme davon aus, dass das Gespür für die des Schattenspiels usw. gibt. Atmosphäre eines Schauplatzes, eines Ereignisses Während in vielen Beiträgen zur Erforschung oder eines Kunstwerks an die Demarkation der immersiver Medien oft unkritisch davon ausge- Unterscheidung zwischen dem Erlebnissubjekt und gangen wird, dass es vor allem darauf ankomme, seiner Umwelt gebunden ist, dass die Atmosphäre den Zuschauer in den Bildraum hineinzuziehen also weder einfach außerhalb – in den Objek- und vom Geschehen zu ‹absorbieren›, legen unsere ten – noch innerhalb des Gemüts zu verorten ist, Überlegungen zur orektischen Dimension des (vgl. 2013: 22) erinnert die Unschärferelation der Filmerlebnisses, die vielleicht auch auf andere Stimmung an jene, die dem Begriff der Szenogra- Medien oder Medienformate übertragbar sind, den fie eigen ist. Eine Szenografie besteht einerseits, Gedanken nahe, dass es bei den Erlebnisformen, wie Umberto Eco dargelegt hat, aus dem virtu- die durch Spielfilme (und Computerspiele?) ermög- Phaneroskopie 103 licht werden, um Intensitätserfahrungen geht, die eines Engels nachvollzieht, der in dieser Szene zu etwas mit dem Innewerden der eigenen, emotio- einem Wesen aus Fleisch und Blut mutiert. Die nalen Partizipation am fiktiven Geschehen zu tun Zuschauer werden also durch das Wechselspiel haben. Ein Mehr an Immersion ist, sofern darunter von Kamera- und Lichtführung, durch die erotische nur die illusionistische Demarkation von Wahrneh- Atmosphäre und die Farb-Dramaturgie der Szene mungsraum und Bildraum verstanden wird, nicht just in dem Augenblick, in dem der Engel aus der automatisch ein Zugewinn an Erlebnishaftigkeit – Rolle eines unbeteiligten Beobachters schlüpft erst recht nicht ein Mehr an Erkenntnis. und sich auf die Welt der Sterblichen einlässt, Belegen lässt sich dies unter anderem mit dazu angeregt, sich des Umstands inne zu werden, einer Schlüsselszene aus Wim Wenders Film Der dass sich auch in ihnen das Verlangen regt, dem Himmel über Berlin (BRD 1987) – dessen orekti- die Blickregie der Inszenierung entspricht. Denn sche Dimension in seinem englischsprachigen Titel bis zu diesem Zeitpunkt hat es der Film geschickt Wings of Desire deutlicher zutage tritt. Ort des verstanden, sie an der Seite des Engels in einen Geschehens ist ein Zirkuswohnwagen. Ein für die Zustand der imaginären Außerhalb-Befindlichkeit Menschen in der diegetischen Welt unsichtbarer zu versetzen, diese exotopische Sicht auf die Men- Engel, auf dessen Blickwinkel die Zuschauer des schenwelt aber zugleich an den Wunsch zu binden, Films geeicht sind, sieht, wie sich eine hübsche der Engel möge mehr als nur eine transzendente Artistin ihres Kostüms entledigt. Die intime Szene, Erscheinung sein, die nicht mit der sinnlichen Welt die aus der subjektiven Perspektive des Engels interagieren kann. Auf einer höheren Abstraktions- gezeigt wird, der seine Hand nach dem Nacken ebene werden die Zuschauer zudem angeregt, sich der Frau ausstreckt, ist wie die meisten Teile des damit auseinander zu setzen, was es heißt Mensch Films zunächst in schwarz-weiß gedreht. Plötzlich zu sein. werden die Aufnahmen jedoch farbig – ein deut- Ein ganz anders gelagertes Beispiel für die liches Signal dafür, dass der Engel durch den ero- Wechselwirkung, die zwischen der Atmosphäre tischen Anblick, der sich ihm bietet, sinnlich affi- eines Films und der emotionalen Partizipation ziert worden ist. Die Farbwerdung des Films dient des Zuschauers besteht und zu ganz bestimmten also der Visualisierung des Umstands, dass der kognitiven Effekten führt, stellt Max Ophuls Lola Engel nunmehr menschliche Regungen verspürt, Montez (Lola Montès, D/F 1955) dar. Hier beherr- Empfindungen hat und Gefühle entwickelt, die schen das Zirkus-Szenario, die Kostümierung der ein spezifisches Sensorium (für erotische Reize) Artisten und die Illuminierung der Manege die voraussetzen. Der Zuschauer wird dergestalt in Stimmung, in die der Film die Zuschauer versetzt ein emphatisches Feld einbezogen, das durch die – eine Stimmung, die sozusagen den affektiven Triangulation zwischen seinen Blicken, denen des Rahmen für das Stationen-Drama bildet, als wel- voyeuristischen Engels und der Artistin zustande ches das Leben der Titelheldin den Zuschauern vor kommt, die ihrerseits einen Monolog über Liebe, Augen geführt wird. Auch bei Ophuls kommt den Lust und Sehnsucht führt. Als emotionaler Marker Farben im Zusammenspiel mit der überaus flexib- reflektiert der Übergang von Schwarzweiß zu Farbe len Gestaltung der Cadrage eine spezifische Funk- also den libidinösen Charakter der Szene. Allein: tion zu. Beide Elemente verweisen auf die Künst- darin erschöpft sich seine Funktion keineswegs, lichkeit der Szenografie. War die Farbe bei Wenders symbolisiert dieser Übergang doch zugleich die ein Mittel der Naturalisierung (eines Engels), hebt Menschwerdung des Engels. Auch die Musik – es sie das Geschehen bei Ophuls umgekehrt aus der handelt sich um die mystischen Klänge des Songs Sphäre des Alltäglichen und Natürlichen heraus. «The Carny» von Nick Cave and the Bad Seeds – Folgerichtig wirkt das biografische Drama wie trägt zur Überhöhung der mystisch erotischen ‹eingetaucht’ in die Zirkus-Atmosphäre, die spezifi- Stimmung bei. Ähnlich wie die Farbe vermittelt die sche Affekte freisetzt und nicht minder spezifische Musik zwischen den physischen Reizen der opti- Reflexionsakte erfordert. Man könnte daher sagen: schen Situation und dem metaphysischen Sinn der die Atmosphäre moduliert die Verständnisrahmen, Darstellung. Immersiv ist die Szene zum einen, weil auf die der Film dort rekurriert, wo er die Lebens- der Zuschauer dem ‹Objekt› der Schaulust durch stationen der Protagonistin Revue passieren lässt. subjektive Einstellungen immer näher kommt – Es ist eine emotionale Modulation, zu der sich also in den Bildraum der Leinwand hineingezogen die Zuschauer zunächst nur ästhetisch verhalten wird; zum anderen aber auch, weil er die Affektion können, indem sie das Künstliche der Darstellung 104 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf erfassen, das auf der Handlungsebene durch die andererseits auf eine Bedeutung bezogen werden exaltierte Präsentation des Zirkusdirektors (Peter zu können. Diese vermittelnden Vorstellungen Ustinov) und auf der Vermittlungsebene durch die nennt Peirce «Interpretanten». Es handelt sich also ostentative Verwendung von Blenden und Bildmas- nicht um die Subjekte der Mediation – das wären ken unterstrichen wird. Ohne die bunte Welt des die «Interpreten» –, sondern um vorbewusste und Zirkus hätte der Film nicht nur eine ganz andere bewusste Momente der Auslegung eines Zeichens Anmutungsqualität, sondern auch eine ganz oder eines Zeichenereignisses. Diese Momente andere Wirkung auf das Gemüt der Zuschauer. weist Peirce drei Phasen der Mediation zu, indem Sieht man das Artifiziell-Zirzensische somit als den er drei Typen von Interpretanten unterscheidet: die einen Pol der ‹elektrischen› Ladung und die Gen- emotional-immediaten, die dynamisch-energeti- reszenen der Lebensgeschichte als den anderen schen und die logischen Interpretanten (vgl. Peirce Pol des empathischen Feldes an, laufen zwischen 1993: 51, 64 und 67ff. sowie Nöth 2000: 64f.). diesen beiden Polen Energieströme hin- und her, Der emotional-immediate Interpretant deren sensorische Aufnahme und Umwandlung in besteht in der unmittelbaren Reaktion auf einen Vorstellungen seitens der Zuschauer eine Dynamik Impuls. Er umfasst mithin die Empfindungen und in Gang setzt, die Ophuls Film zu einem unver- Vorstellungen, die sich ad hoc bilden, wenn z.B., gleichlichen Erlebnis macht. um mit Deleuze zu reden, ein Bewegungsbild als In diesem Sinne agiert jeder einzelne Zuschauer Affektbild wahrgenommen wird. Smith kommt – nicht nur bei einem Film wie Lola Montez – als dem Konzept des emotional-immediaten Inter- Vermittlungsinstanz zwischen optischen und akus- pretanten nahe, wenn er den Affekt als die unbe- tischen Sensationen einerseits und Bedeutungen stimmte Basis der Emotionalisierung beschreibt: andererseits. Der Zuschauer kann diese Vermitt- Affect provides the ‹feeling tone› of emotion to the con- lung leisten, weil es ein energetisches Kontinuum scious mind. It is the fundamental, atomized component von physiologischen Impulsen und psychologi- of the emotion system, a developmental antecedent of schen Momenten, von konjekturalen Wahrneh- emotion that exists at birth and that cannot be taught mungsakten und kreativen Prozessen gibt. Die ore- to respond in any other way besides its hardwired re- ktische Dimension des Filmerlebnisses muss daher sponse. It is the foundation of the associative network als ein Kraftfeld gedacht werden, in dem sich eine and not an emotion per se. (Smith 2003: 31) Dynamik abspielt, die zugleich als ein Vorgang der Energieumwandlung und als ein (gedanklicher) In diesem Sinne ist der emotional-immediate Inter- Entwicklungsprozess zu denken ist: Impulse werden pretant ein die assoziative Vorstellungsbildung in Affekte, Emotionen werden in Kognitionen über- auslösender Trigger (developmental antecedent), führt. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Prozess ein Energiequant, der im weiteren Verlauf der die Imagination, die jene Impulse (cues), die der affektiv grundierten Informationsverarbeitung Film konfiguriert, im Verbund mit dem Gedächtnis umgewandelt wird. Diese Umwandlung leisten einer Re- oder Transfiguration unterzieht, die dem die dynamisch-energetischen Interpretanten: Zuschauer ihrerseits wiederum bestimmte Schuss- sie bewirken eine affektive und kognitive Modu- folgerungen nahelegt. Es ist genau diese Re- oder lation der spontan gebildeten Empfindungen und Transfiguration der filmischen Szenografie – ver- Vorstellungen, die wesentlich davon lebt, dass der standen als jeweils spezifische Konfiguration von emotionale Input mit zusätzlichen Empfindungen, Dramaturgie und Atmosphäre –, die sich mit dem weiterführenden Vorstellungen und Erinnerungen Phasenmodell der Interpretanten von Charles San- angereichert sowie re- oder transfiguriert wird. ders Peirce, um das es nun gehen soll, phanerosko- Auf diese Weise werden die Empfindungen, die pisch beschreiben lässt. spontan gebildet werden, mit Erfahrungen, wer- den Emotionen mit Kognitionen verschränkt. Man Das Interpretanten-Modell könnte auch sagen: die dynamisch-energetischen Interpretanten beziehen den unmittelbaren Res- In der Semiotik des amerikanischen Pragmatisten pons auf die filmischen Stimuli, i.e. der emotional- Charles Sanders Peirce (1839–1914) wird das Zei- immediate Interpretant, auf das Netzwerk, aus chen als ein Repräsentamen bestimmt, das der dem das Bewusstsein besteht. Auch diesem Kon- Mediation durch Vorstellungen bedarf, um einer- zept kommt Smith, ohne auf Peirce zu rekurrieren, seits auf ein Objekt (einen Bezugsgegenstand) und nahe, wenn er bemerkt: Phaneroskopie 105 Although cognitions are not necessary to activate the Für Charles Sanders Peirce ist die Semiotik aber fully constructed associative network, they are required nicht nur eng mit dem Pragmatismus, sondern to do developmental work of building that network. auch mit der Phaneroskopie verbunden, in der Cognitive and emotional developmental stages mirror man die Phänomenologie der Zeichenkunde sehen each other because cognitive skills are required to build kann. Das Phaneron ist alles, was dem Teilnehmer the architecture of the emotions. No emotion can ex- eines Zeichenprozesses im Verlauf der Mediation ist until the organism is cognitively advanced enough zu Bewusstsein gelangt bzw. vor das ‹geistige to create a corresponding emotion node in its network. Auge› tritt. Erst die analytische Einstellung auf das (2003: 32) Phaneron, die intentionale Betrachtung (= Skopie), führt zur Diskrimination emotional-immediater, In diesem Sinne obliegt es den dynamisch-ener- dynamisch-energetischer und logischer Interpre- getischen Interpretanten jene Entwicklungsarbeit tanten. Das wird an solchen Fällen deutlich, in (developmental work) zu leisten, deren Kraft- denen die Gewohnheit zu einem ‹Kurzschluss› vom quellen die Einbildung und die Erinnerung sind. Repräsentamen auf den logischen Interpretanten Zum eigentlichen «Netzwerker» wird somit das führt. Ein simples Beispiel hierfür ist die automa- Gedächtnis: als «Bindungssystem für die Einheit tisch ablaufende Dekodierung von Schriftzeichen. der Wahrnehmung» stellt es «unser wichtigstes Ihre ästhetische Gestalt, ihre Anmutungsqualität ‹Sinnesorgan›» dar (Roth 1995: 242). Als Relaissta- wird im Lesevorgang zumeist übersehen; die Ver- tion zwischen den Empfindungen und den Vorstel- mittlungsarbeit, die vom Schrift- zum Vorstellungs- lungen, zwischen Perzeption, Apperzeption und bild und von der Vorstellung zur Bedeutung führt, Interpretation ist das Gedächtnis, wie wir noch kaum bemerkt; es scheint daher, als falle die Wahr- ausführen werden, an das Prinzip der Ekphorie nehmung der Buchstaben mit der Erkenntnis ihrer gekoppelt, das sich seinerseits wiederum anhand Bedeutung, dem logischen Interpretanten, zusam- der dynamisch-energetischen Interpretanten auf- men. Erst in der reflexiven Einstellung auf diesen schlüsseln lässt. Prozess wird klar, dass der geübte Leser lediglich Unter Rückgriff auf die von Immanuel Kant im Nu eine Reihe von Operationen vollzieht, wenn entworfene Architektonik des Geistes, die zu den er die Wahrnehmung schwarzer Figuren auf wei- Vorläufer-Theorien der modernen Semiotik gehört, ßem Grund erst in (kodifizierte) Zeichen und dann kann man daher sagen, dass es die Aufgabe der in Sinngestalten umwandelt, die den Text intelligi- dynamisch-energetischen Interpretanten ist, Emp- bel machen. findungen und Anschauungen auf jene Schemata Auf der einen Seite besteht die Funktion des zu beziehen, die Produkte der Einbildungskraft Interpretanten-Modells also darin zu erklären, wie sind und zwischen Sinnlichkeit (Irritabilität) und ein Zeichen (zu einem komplexeren, reichhaltige- Verstand (Kategorialapparat) vermitteln. Folge- ren Zeichen) entwickelt wird und wie dieser Ent- richtig besteht der logische Interpretant für Peirce wicklungsprozess aus pragmatischen Gründen limi- in der vorläufigen Empfindungs- und Bedeutungs- tiert wird. Auf der anderen Seite sind die einzelnen gestalt, zu der die Mediation gelangt. Vorläufig ist Interpretanten Bestandteile des Phanerons, wor- diese Empfindungs- und Bedeutungsgestalt zum unter Peirce die Gesamtheit alles dessen versteht, einen, weil die dynamisch-energetische Entwick- was sich in unserem Geist befindet (vgl. 1993: 51). lung durch neue Impulse abgebrochen werden Das Phaneron ist daher «notwendigerweise und kann – was vor allem dann der Fall ist, wenn die mit Absicht ein vager Terminus» (Peirce 1993: 51), Impulse durch ein zeitbasiertes Medium wie den der sehr vieles einschließt. So sagt Peirce: Film vermittelt werden. In diesem Fall kann man den logischen auch als transitorischen Interpre- Wenn wir alles im Geist Enthaltene, ob Gefühle, Zwän- tanten verstehen. Vorläufig ist die Empfindungs- ge oder Anstrengungen, Gewohnheiten oder Gewohn- und Bedeutungsgestalt zum anderen, weil die heitsänderungen oder von welcher Art es auch immer kulturelle Semiose praktisch nie auf einen fina- sein mag, mit dem Namen Bestandteile des Phanerons len Interpretanten hinausläuft. Ihre Kontingenz bezeichnen, dann können wir ganz offensichtlich fest- ist unerschöpflich, kann aber aus pragmatischen stellen, daß sich beliebige andere Dinge nicht mehr Gründen ausgeblendet werden, weil das Leben voneinander unterscheiden können als sich Bestand- nicht unendlich dauert und von Zeit zu Zeit Urteile teile des Phanerons voneinander unterscheiden; da wir, und Entscheidungen erzwingt. was immer wir überhaupt wissen, durch die Bestand- 106 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf teile des Phanerons wissen und da wir nicht irgendwel- det, das sich im Off befindet. Sofort verspürt der che Dinge unterscheiden können, wenn wir uns nicht Zuschauer, wie schon Béla Balázs anlässlich einer irgendwelche Vorstellungen von ihnen machen. ähnlichen Situation bemerkt hat, das Verlangen, (Peirce 1993: 52) dieses Ereignis möge auch ihm durch einen Kame- raschwenk oder einen Schnitt gezeigt werden (vgl. Mit anderen Worten: die Interpretanten sind 2001: 61). Drückt sich das Verlangen in diesem zugleich Bestandteile des Phanerons und – als Fall in einem nüchternen, asexuellen Erkenntnis- Vorstellungen – die Bedingung der Möglichkeit, interesse aus, gibt es andere Fälle, in denen die innerhalb dessen, was im Geiste ist, Unterschiede Formen der (rationalen) Neugierde und der Wiss- festzustellen und verschiedene Bestandteile des begierde eng mit sexuellen, somatischen oder phy- Phanerons voneinander abzuheben. Dies gilt dann siologischen Momenten verzahnt sind. selbstredend für Affekte und Emotionen ebenso Man muss also durchaus kein ‹Freudianer› sein, wie für Kognitionen. um anzuerkennen, dass orektische Motive im Film Für die Verbindung von Phaneroskopie und auf zumindest zwei Ebenen wichtige Funktionen orektischer Filmanalyse ist es ein heuristischer Vor- erfüllen. Zum einen auf der Ebene der dargestell- teil, dass in dem Kompositum von Phaneron und ten Handlung. In dieser Hinsicht kann die orekti- Skopie mit dem ‹eros› jene Kraft der Begierde, der sche Filmanalyse statt auf Vladimir Propp, Algirdas Neugierde und Wissbegierde auftaucht, die das Greimas oder Gérard Girard und auf das Konzept Verlangen nach sinnlichen Erfahrungen ebenso des désir sowie auf die Hollywood-Dramaturgie einschließt wie das Verlangen nach Erkenntnis. rekurrieren, derzufolge ein spezifischer need oder Dieses Verlangen ist das Datum, ist das Motiv, von Mangel der Figuren (respektive Aktanten) Bedürf- dem die orektische Filmanalyse ausgeht. Sie teilt nisse weckt, deren Befriedigung das Ziel der Hand- diese Grundannahme mit vielen anderen Theorien lung bildet. So besteht die Binnenhandlung von des Films – so unterschiedlich ihre Autorinnen Orson Welles’ Citizen Kane (USA 1941) konkret und Autoren dieses Verlangen auch gedeutet und darin, dass der Protagonist Zeit seines Lebens der bewertet haben. Zu denken wäre, um nur einige Unbeschwertheit seiner jäh beendeten Kindheit Namen zu nennen, an Béla Balász, an Jean Mitry – symbolisiert durch den Namen eines Schlittens und Edgar Morin, an Christian Metz, Gilles Deleuze («Rosebud») – nachjagt. Die Rahmenhandlung und Slavoj Žižek. Die Grundannahme, die diese bekreist einen anderen Mangel: Für einen ausführ- Autoren – bei allen sonstigen Differenzen – teilen, lichen Nachruf recherchieren Journalisten wichtige ist sehr einfach: «Man geht ins Kino, weil man Lust Stationen im Leben des Unternehmers, Chefre- dazu hat und nicht weil man es verabscheut, und dakteurs und Kunstsammlers Kane. Sie versuchen man geht in der Hoffnung, daß der Film gefallen insbesondere herauszufinden, was er mit seinen und nicht mißfallen wird» (Metz 2000: 16). rätselhaften letzten Worten «Rosebud» meinte. Als Das bedeutet erstens, dass man den Faktor Lust weiteres Beispiel lässt sich der Operettenfilm Die selbst dann nicht außer Acht lassen darf, wenn roten Schuhe (The red Shoes, Michael Powell und man ihn wie Smith für ungeeignet hält, die Spezi- Emeric Pressburger, GB 1948) anführen, in dem fität des Vergnügens zu erfassen, das ein bestimm- eine junge Tänzerin (gespielt von Moira Shearer) ter Film auslöst. Denn genau genommen ist dies versucht, ihre Leidenschaft für den Tanz und ihre kein Einwand gegen das Lustprinzip. Jedenfalls Liebe zu einem talentierten Komponisten in Ein- steht die libidinöse Energie, die im Kino in Szene klang zu bringen. Aufgrund der Unvereinbarkeit gesetzt und sublimiert wird, der Entfaltung höchst von Liebe und Kunst wählt sie am Ende des Films unterschiedlicher und individueller Empfindungen, den Freitod. Selbst wenn man also von der (Schau-) Vorstellungen und Deutungen durchaus nicht im Lust im engeren Sinne absehen würde, müsste Wege. Eher schon ist sie immer dann am Werk, man schon aus narratologischen Gründen das Ver- wenn die dynamisch-energetischen Interpretanten langen der dramatis personae ins Kalkül ziehen, ihre Arbeit verrichten. Die Binsenweisheit, dass die das ja nicht nur in Citizen Kane oder in Die roten (Schau-)Lust bei jedem e-motion picture im Spiele Schuhe die Handlung in Gang setzt und bestimmt. ist, bedeutet zweitens, dass man das Sehen als Der orektischen Filmanalyse geht es aber nicht eine Form des Begehrens auffassen muss. Das gilt nur um die Ebene der Untersuchung, die sich auf schon in dem sehr einfachen Fall, in dem eine Film- die diegetische Welt des Films und die Motivation figur den Kopf in Richtung eines Ereignisses wen- der Handlung bezieht. Ihr geht es vor allem um Phaneroskopie 107 die Ebene der Rezeption, um die Motivation der ‹Kontexte›, die zur Ekphorie beitragen, d.h. die Zuschauer zur emotionalen Partizipation, die sich audiovisuellen Impulse rufen nicht einfach irgend- aus ihrer Affektation ergibt – einer Affektation, eine stabile Erinnerung auf den Plan, die sozusagen die nicht nur dramaturgisch erklärt werden, wenn als ‹ready made› in den Prozess der konjekturalen auch auf der Handlungsebene gespiegelt werden Erfassung eingeht (vgl. Semon 1904 sowie Marko- kann – z.B. in dem Verhalten des Reporters, der in witsch 2002: 83f. und 179). Vielmehr besteht das Citizen Kane herauszufinden versucht, was es mit dynamische Moment der Interpretanten gerade dem letzten Wort des verstorbenen Presse-Moguls darin, dass sich mit der laufenden Modifikation auf sich hat. Das Augenmerk der orektischen Film- der Empfindungen und Vorstellungen auch der analyse richtet sich dabei neben der Motivation Gehalt und die Gestalt der Erinnerung ändern, die der Zuschauer, der Handlung zu folgen, sowohl auf zur Anreicherung der Zeichen(ereignisse) mit Emp- die jeweils spezifische Atmosphäre der einzelnen findungen und Bedeutungen dient. Szenografien als auch auf die Interpretanten, die Indem die orektische Filmanalyse das Verfah- in der konjekturalen Auffassung des Geschehens ren der Ekphorie und ähnliche Konzepte integriert, eine zentrale Rolle spielen, gleichwohl aber nicht wird sie einerseits zu einem transversalen Diskurs, rein intellektualistisch verstanden werden dürfen. der auf die systematische Re-Lektüre von Theo- Unter dem Gesichtspunkt der Phaneroskopie ist rien und Modellstudien setzt, die entsprechende das offenbar unstillbare Verlangen der Zuschauer, Anregungen enthalten. Andererseits soll sie über zu sehen und zu hören, zu spüren und zu emp- eine solche Synopse hinausgehen, d.h. der trans- finden, gedanklich zu entwickeln und zu deuten, versale Diskurs soll nicht nur den Apparat der was sie erregt, mithin wesentlich komplexer und deskriptiven Filmanalyse erweitern, sondern auch produktiver als es die zuweilen zur Karikatur nei- ein Forschungsdesign begründen, das den empiri- gende Kritik der freudschen Trieblehre erwarten schen Test der einzelnen Konzepte und Kategorien lässt. Aus der Tatsache, dass die Lust im Spiele ist, erlaubt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dieses folgt weder, dass die Filmkunst bloß dem (sinn- Design nicht mehr als ein Entwurf, so dass die freien) Vergnügen dient, noch dass sich die emo- praktische Probe auf das Exempel der Theorienbil- tionale und rationale Mitarbeit der Zuschauer am dung, die sich am Interpretanten-Modell orientiert, filmischen Text auf die Befriedigung sexueller oder lediglich geeignet ist, den heuristischen Wert die- sexualisierter Begierden beschränkt. ses Modell zu demonstrieren. Dies soll abschlie- Insofern die Filmkunst die Erregung und Stei- ßend – über die bereits erwähnten Filmbeispiele gerung, aber auch die Umwandlung (Transfigura- hinaus – anhand von drei Sequenzen aus dem tion) der Schaulust mit anderen Künsten wie der Œuvre von David Lean geschehen. Malerei und dem Theater teilt, besitzt die orekti- sche Filmanalyse, eine intermediale und interdiszi- Die orektische Filmanalyse in der Praxis plinäre Relevanz: sie kann als Beitrag zu den inter art studies aufgefasst werden, die ihrerseits wiede- In Wunderbare Zeiten (This Happy Breed, David rum zu den Konjekturalwissenschaften gerechnet Lean, GB 1944), einer Familiengeschichte, die in werden müssen; zum einen, weil sich die Schaulust der Zwischenkriegszeit spielt, gibt es eine bemer- performativ durch konjekturale Auffassungsakte kenswerte Szene, als den Eltern die Nachricht vom realisiert (weder eine Plastik noch ein Bild, weder Unfalltod ihres Sohnes und seiner Ehefrau übermit- eine Bühneninszenierung noch ein Spielfilm wer- telt wird. Die Mutter hat den Kaffeetisch, an dem den jemals ad hoc in toto erfasst); zum anderen, ihre Schwester und die Großmutter sitzen, soeben weil die orektische Filmanalyse Anleihen bei der verlassen, um zu ihrem Mann im Garten zu gehen, Physiologie und bei der Psychologie, bei der Phä- als eine ihrer beiden Töchter die Szene betritt. nomenologie und bei der Anthropologie, bei der Während aus dem Radio beschwingte Musik tönt, Rhetorik und bei der Semiotik nehmen muss. berichtet sie den Anwesenden und den Zuschau- Eine dieser Anleihen ist das bereits erwähnte ern, was passiert ist. Bestürzt verlassen Tante und Konzept der Ekphorie, das von dem Gedächtnis- Großmutter das Zimmer, dann läuft die Tochter forscher Richard Semon stammt. Es trägt dem den Eltern in den Garten nach und verschwindet Umstand Rechnung, dass der Kontext, in dem der dadurch, wie zuvor die Mutter, aus dem Blickfeld Abrufreiz einer Erinnerung auftritt, zur ‹Umschrift› der Zuschauer. In diesem Moment nun fährt ihr der Erinnerung führt. In diesem Sinne sind Filme die Kamera langsam, mit einem Schwenk von der 108 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf linken zur rechten Seite des Wohnzimmers nach, Szene durch die Überbringung der Todesnachricht folgt der Tochter aber nicht in den Garten, sondern rückwärtsgewandt (rear driven), das Verlangen in lenkt die Wahrnehmung der Zuschauer lediglich Erfahrung zu bringen, wie die Eltern den Schock auf die Blütenpracht, das Sonnenlicht und die verarbeiten, aber eine nach vorne gerichtete (for- fröhlichen Kinderstimmen, während weiterhin das ward looking) Erwartung. Entscheidend für das Wir- Gedudel aus dem Radio zu hören ist. Der Film tritt kungspotential der Szene bleibt in jedem Fall, dass also, soweit es die Handlung betrifft, auf der Stelle. die Reaktion der Familienangehörigen dramatur- Die Zuschauer warten auf die Rückkehr der Eltern; gisch aufgeteilt wird: die Reaktion von Tante und wie ihnen die Tochter die schlimmen Neuigkeiten Großmutter vermittelt dem Zuschauer die Empfin- beibringt, wird nicht erzählt. Stattdessen hallt die dungen des Entsetzens – die Suspension der Reak- Todesnachricht in den Zuschauern nach, während tion der Eltern verschafft ihm Zeit, seinerseits eine sie die Diskrepanz zwischen dieser Information emotionale Reaktion auf das Geschehen zu entwi- und der Atmosphäre (ein sonniger Tag im Frühling, ckeln – eine Reaktion, die insofern diffiziler und sub- unterlegt mit Swing-Musik) bemerken. tiler als die der Tante und der Großmutter ausfallen Es ist diese Diskrepanz zwischen Umwelt und muss, als sie auch die unpassenden Umstände der Trauerstimmung, über die nachzusinnen der Film Szenografie und ihrer Atmosphäre zu berücksichti- den Zuschauern an dieser Stelle Gelegenheit gibt. Die dramatische Situation hat bereits einen logi- schen Interpretanten mit pragmatischen Implika- tionen in der diegetischen Welt: der Sohn ist tot und die Eltern müssen von diesem Tod unterrichtet werden; gleichzeitig hat der Zuschauer aufgrund der Umstände auch Empfindungen (emotional- immediate Interpretanten), die nicht zu dem empa- thischen Gefühl des Beileids passen, das die Todes- nachricht auslöst. Die Vermittlungsleistung, die von ihm – bzw. von den dynamisch-energetischen Inter- pretanten – gefordert ist, läuft unter diesen Voraus- setzungen darauf hinaus, die Doppeldeutigkeit der Stimmung zu erfassen und sich einen ‹Reim› auf diese Doppeldeutigkeit zu machen. Leans Insze- à 1 Die Narration wird suspendiert, damit der nierung akzentuiert einerseits das Schockmoment Zuschauer seine Empfindungen reflektieren kann der Todesnachricht, weil sich der Zuschauer selbst (Quelle: Wunderbare ZeiTen) vorstellen muss, wie sie den Eltern überbracht wird und wie sie darauf reagieren. Andererseits akzen- gen hat. Die Inszenierung verfährt also immersiv, tuiert die Inszenierung aber auch, pathetisch for- indem sie den Zuschauer nicht nur in den Bildraum, muliert, das ‹Herzzerreißende› der Situation, das vor sondern auch in das empathische Feld zieht, das allem darin liegt, dass die Welt da draußen, reprä- sich an der Schnittstelle von technischer und ima- sentiert durch die Natur und das Radioprogramm, ginärer Projektion bildet; ihre Effektivität beruht in keine Notiz von der Tragödie nimmt, die sich in der erster Linie darauf, dass die Handlung ausgesetzt Binnenwelt der Familie abspielt, deren Schicksal wird – solange bis sich der Zuschauer nicht nur der dem Zuschauer keineswegs gleichgültig ist. emotionalen Implikationen des Geschehens für die Indem er diesen Hiatus bemerkt, wird sich der dramatis personae, sondern auch der Eigenart sei- Zuschauer seiner Responsivität bewusst. Er ver- ner eigenen Empfindungen innegeworden ist und spürt einerseits das kontrafaktische Verlangen, begonnen hat, die Diskrepanz von Dramaturgie der tödliche Unfall möge nicht geschehen sein, und Atmosphäre zu reflektieren. während ihm dieses Geschehen andererseits durch 1948 hat David Lean Charles Dickens Roman die Reaktionen zur Gewissheit werden, zu denen Oliver Twist oder der Weg des Fürsorgezöglings (Oli- sich sein eigenes Gemüt mimetisch verhält. Jeden- ver Twist or The Parish Boy’s Progress; in Fortset- falls führen ihm Tante und Großmutter die situa- zungen erstmals zwischen 1837 und 1839 erschie- tiv angemessene Gefühlsreaktion vor Augen. In nen) für die Leinwand adaptiert. Im ersten Kapitel dieser Hinsicht ist die affektive Grundierung der schildert der Erzähler «den Ort, wo Oliver auf die Phaneroskopie 109 Welt kam, sowie die seine Geburt begleitenden Gemütsverfassung und bahnen eine Erregungs- Umstände» (Dickens 2006: 7). Es beginnt in der kurve, der die dynamisch-energetischen Interpretan- deutschen Übersetzung von Gustav Meyrink mit ten folgen, die zwischen den einzelnen Einstellun- den Worten: gen, der Bildfolge und den Vorstellungsreihen der Unter andern öffentlichen Gebäuden in einer gewissen Zuschauer vermitteln. Es wäre überaus reizvoll, diese Stadt, die ich nicht nennen, der ich aber auch ande- Erregungskurve mit einem Gesichtsausdrucks Erken- rerseits keinen erdichteten Namen beilegen möchte, nungssoftware (Facial Expression Recognition Soft- befand sich eines, wie es wohl die meisten Städte, ob ware oder Face Reader) auf- und nachzuzeichnen, groß oder klein, besitzen, nämlich ein Arbeitshaus; und um intersubjektive Vergleiche zwischen Probanden in diesem wurde eines Tages der kleine Weltbürger ge- anzustellen, die Leans Film zum ersten Mal sehen boren, dessen Name dieses Buch trägt. und, könnten sie nicht die Titel lesen, spontan wohl (Dickens 2006: 7) vermuten dürften, dass sie es mit einem Horror- Movie von James Whale zu tun haben. Lean stimmt seine Zuschauer auf die Lebensge- Vorbehaltlich einer solchen Studie lässt sich schichte seines Protagonisten vollkommen anders festhalten, dass die geschilderte Eingangssequenz ein. Sein Schwarzweiß-Film beginnt mit der atmo- die Grundannahme des mood-cue approach belegt, sphärisch dichten Montage einer Gewitterland- derzufolge die Schlüsselreize des emotionalen Fil- schaft, durch die sich eine hochschwangere Frau merlebnisses nicht nur an den Personen oder am quält. Düstere Wolken spiegeln sich in einem Wahrnehmungsmodus der Empathie festgemacht dunklen Gewässer, der Wind treibt sie vor das werden können. Denn die apokalyptische Stim- Mondlicht, und wenn in Nahaufnahmen die Dor- mung der Inszenierung erfasst den Zuschauer nicht nen eines Gestrüpps und die Hände der Frau zu erst, nachdem er sich in eine Figur eingefühlt hat. sehen sind, die sich an den Bauch greift, ertönt Vielmehr erscheint die Gestalt der Frau als integra- ein schriller Akkord, dessen synästhetische Bedeu- ler Bestandteil eines szenischen Arrangements, das tung der Zuschauer augenblicklich erfasst: mit dem Zuschauer unmittelbar als Affektbild entge- stechenden Schmerzen haben die Wehen einge- gentritt. Dieser emotional-immediate Interpretant setzt. Schließlich erreicht die wankende Gestalt, wird im Wechselspiel von Montage und Konjektur die von der ersten Einstellung an – die Frau über- elaboriert, also anhand von dynamisch-energeti- quert einen schräg abfallenden Bergrücken – auf schen Interpretanten, die zum Teil auf kulturelles einer abschüssigen (Lebens-)Bahn unterwegs ist, Wissen (Schwangerschaft, Wehen etc.), vor allem ein Gebäude, dessen Bestimmung der Zuschauer aber auf die Schlüsselreize der Atmosphäre rekur- erkennt, wenn zuckende Blitze die Inschrift über rieren. Wenn der Zuschauer unter den Blitzen oder dem Tor erhellen. Dann, der Sturm scheint etwas beim Anblick der Dornen in dem Moment zusam- abzuebben, ist aus dem Off der Schrei eines Neuge- menzuckt, in dem die schrillen Töne erklingen, spürt borenen just in dem Moment zu hören, in dem das er die Energie, die sich wie eine elektrische Ladung Mondlicht wieder hinten den Wolken hervortritt, durch die Atmosphäre, also szenographisch, vom zu denen die Kamera emporschaut. Bild auf sein Gemüt überträgt. Seine Vorstellungs- Auch für diese Anfangssequenz ist es nicht bildung wird sozusagen physiologisch getriggert. schwer, den logischen Interpretanten auszumachen Es sind buchstäblich die Schatten der kommenden und die Schlüsselreize zu beschreiben, denen seitens Ereignisse, die in der audiovisuellen Overtüre des des Zuschauers bestimmte emotional-immediate Films über die Leinwand huschen, während der Interpretanten korrespondieren: Empfindungen für Zuschauer die (An-)Spannung, die sich auf ihn über- das Bedrohliche der Situation, die sich mit der Vor- tragen hat, in dunkle Vorahnungen und Befürch- stellung einer persönlichen Katastrophe verbindet tungen umwandelt, die durch das Lebenszeichen, usw. Entscheidend an Leans Szenografie ist aber das Babygeschrei, keineswegs verblassen. wiederum die dichte Verzahnung von Dramaturgie Entscheidend ist also jeweils die Umwandlung und Atmosphäre, aus der sich die spontane Affekta- der Affektbeträge respektive der emotionalen Ener- tion des Zuschauers, seine emotionale Partizipation gie im Verlauf der Vorstellungsbildung, die zwi- am Schicksal der Figur und seine intellektuelle Ver- schen Wahrnehmung und Bedeutung vermittelt. arbeitung der optischen und akustischen Informati- Das gilt, wie abschließend demonstriert werden onen ergibt. Die Kraft der Bilder und der Rhythmus soll, auch für die sogenannte Libido, die durch ero- der Montage übertragen sich unweigerlich auf seine tische Film-Szenen stimuliert wird. Eine solche, sehr 110 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf à 2a–f Atmosphärische Affektation des Zuschauers zu Beginn von David Leans oliver TWiST (Quelle: oliver TWiST) bedächtig erzählte Szene gibt es in dem Melodram von Gustave Flaubert, sondern auch an die Ver- Ryans Tochter (Ryan’s Daughter, David Lean, GB/ filmungen seines Romans, insbesondere an die USA 1970). Dieser Film kombiniert, vereinfacht Adaption von Jean Renoir (F 1933), an. Das betrifft ausgedrückt, eine Variation des Plots von Madame vor allem die Hochzeitsszene und die Sequenz, in Bovary (1851) mit der Historie Irlands unmittelbar der die Protagonistin Ehebruch begeht. Für diese nach der Rebellion gegen die englische Besat- Sequenz musste mangels geeigneter Naturschau- zungsmacht 1916. Szenographisch knüpft Lean plätze mit viel Aufwand ein künstlicher locus in Ryans Tochter nicht nur an die Beschreibungen amoenus geschaffen werden. Set Designer Eddie Phaneroskopie 111 Fowler mietete in der Nähe des Drehorts auf der noch ein zweiter, rein imaginärer Film ab, der seine Halbinsel Dingle eine Tanzhalle und verwandelte aktuelle Wahrnehmung mit der Erinnerung an die sie in einen hortus conclusus: zuvor gezeigte Hochzeitsnacht überblendet. Diese I put down soil and I put down thick hair felt and tarted Szene und die idyllisch anmutende Sequenz des it all out with watercresss and grass seed and put Ehebruchs sind durch eine Kontrastrelation aufei- some heat and humidity in it and started to grow it. nander bezogen, die ein aufmerksamer Zuschauer And I dug up all roots and things out of the forest and unmöglich übersehen kann. Die Ehe wird in einem sent them over to Waterford into a cold store for a cou- engen Schlafzimmer in schummriger Beleuchtung ple of weeks and then into a hot house and they started vollzogen, während die Meute der alkoholisierten to grow. I had a lovely forest in there – I got butterflies Dorfgemeinschaft vor dem Hause herumpöbelt. from a farm at Romsey, and I had a net curtain over Für Rosie, die Titelfigur, ist die Hochzeitsnacht the door. (zitiert nach Brownlow 1997: 573) eine einzige Enttäuschung. Im Unterschied dazu stellt der außereheliche Beischlaf, den sie unge- Freddie Young, der Kameramann, ergänzt: stört inmitten der freien Natur bei Tageslicht Stephen Grimes put in a cyclorama right the way vollzieht, eine beglückende Erfahrung dar. Die around […], and it was warm in there, with a lot of aktuelle Wahrnehmung dieser Erfahrung wird im brutes lighting it, the foliage was growing luxuriantly, Bewusstsein des Zuschauers aber nicht nur mit der the trees kept perfect well. And we had birds in there, Erinnerung an die Szene der Hochzeitsnacht unter- twittering in the trees. We shot in there probably for a legt (die dadurch neu gelesen, also ekphorisch week. As a final symbolic touch, Eddie had kept dande- behandelt wird), sondern zugleich in den drama- lion heads and at the climatic moment, the seeds were turgischen Zusammenhang der Geschichte gerückt gently wafted by a blow dryer across the pool. und als ein Schmerz erlebt, den Rosie ihrem Gat- (zitiert nach Brownlow 1997: 573) ten zufügt. Diese Schmerzempfindung wird mög- lich, ja unumgänglich, wenn der Zuschauer die Wurde dieser ganze Aufwand wirklich nur getrie- polyperspektivische Erzählweise des Films affektiv ben, um den Schauplatz für eine Beischlaf-Szene ratifiziert. Dann nämlich kann er sich weder nur zu präparieren, die den Voyeurismus der Zuschauer mit Rosie oder ihrem Liebhaber identifizieren noch befriedigt? Wohl kaum. Sieht man sich das Ergeb- kann er ihren Liebesakt rein libidinös besetzen. Die nis in Ruhe an, besticht an der Szenografie des Inszenierung hat den (männlichen wie den weibli- hortus conclusus nicht nur, dass sie ein perfektes chen) Zuschauer viel mehr darauf geeicht, diesen Simulakrum der Natur darstellt, dem seine künst- Akt (im Geiste) auch mit den Augen des abwesen- liche Genese nicht anzusehen ist. Auffällig ist den Dritten zu sehen und so auf ein Spannungs- vielmehr, das der Übergang an diesen Schauplatz feld unvereinbarer Empfindungen zu beziehen, in im Film so gestaltet ist, dass sich mit dem Eindrin- dem sich die intra- und interpersonalen Konflikt- gen in seine Atmosphäre auch der Rhythmus der und Kraftlinien der Geschichte überlagern. Montage ändert, dass die erwartbare Fortsetzung An einer anderen Stelle des Films imaginiert der der Handlung – die Liebenden werden intim – nur gehörnte Ehemann, gespielt von Robert Mitchum, das vordergründige Moment der Erregung und der nicht nur die Untreue seiner Gattin, sondern – was emotionalen Partizipation der Zuschauer darstellt. viel wichtiger ist – dass der Rivale ihr die Glücks- Es mag sein, dass der Anblick entblößter Brüste gefühle verschafft, die er selbst seiner Frau nicht aufreizend wirkt und dass entsprechende Einstel- zu vermitteln weiß. Eben dies ist sein eigentliches lungen die Schaulust des Publikums kitzeln. Der Unglück und der tiefere Grund des Schmerzes, den Akzent der Inszenierung liegt jedoch nicht auf der er ihrer Untreue wegen empfindet – ein Schmerz, Befriedigung dieser und anderer Gelüste. Während den der Zuschauer umso besser nachvollziehen auf der Atmospur nur die Geräusche zu hören sind, kann als er im Verlauf der Handlung auch Ver- die der Wind im Blätterwerk verursacht, während ständnis für die Bedürfnisse von Rosie entwickelt sich die Kamera abwechselnd auf die unmittelbare hat. Etwas von diesem Schmerz ist ganz einfach Umgebung des Paares, das durch Baumkronen deshalb in der Beischlaf-Szene zu spüren, weil die brechende Sonnenlicht, die Pusteblumen oder erotische Triangulation der Figuren dem Zuschauer einzelne Momente des Liebesaktes und das Mie- auch dann gegenwärtig ist, wenn nur zwei von nenspiel der Hauptdarstellerin (Sarah Miles) fokus- ihnen im Bild sind. Man kann geradezu sagen, dass siert, läuft im Kopf-Kino des Zuschauers nämlich es die von Patrick Kruse an anderen Beispielen 112 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf à 3a–c Szenographie mit unsichtbarem Dritten (Quelle: ryanS TochTer) untersuchte «Präsenz des Absenten in der Filmre- zen (präsupponieren) kann oder eigens konstruie- zeption» ist (vgl. 2010), die auch in Ryans Tochter ren muss, einer unaufhörlichen Modulation an der ein empathisches Feld konstituiert, das keineswegs Schnittstelle von Montage, Konjektur und Ekpho- deckungsgleich mit dem Blickfeld der Leinwand rie unterzieht. Diese Modulation ist ein Prozess, ist. Eher schon spannt sich dieses Feld zwischen der bislang den toten Winkel einer Wissenschaft dem Leinwandgeschehen und der Vorstellung des bildet, die in vielen Fällen nur die Verlaufsgestalt Zuschauers auf, wobei die Erinnerung (z.B. an die der erzählten Geschichte ‹auf dem Schirm› hat. Szene in der Hochzeitsnacht) Knotenpunkte der Das Interpretanten-Modell kann der orektischen emotionalen Partizipation und der rationalen Filmanalyse als Heuristik dienen; die Umsetzung Informationsverarbeitung bildet. Der Zuschauer dieser Heuristik in ein empirisches Forschungsde- sieht, wie Rosie Ehebruch begeht und imaginiert, sign stellt eine Aufgabe dar, die nur im Verbund was das für sie und ihren Mann bedeutet; seine verschiedenen Disziplinen und Methoden zu leis- Erregung ist nicht etwa sexuell motiviert, sondern ten sein wird. empathisch grundiert und Anlass relativ komplexer In diesem Sinne kann der vorliegende Artikel Überlegungen (dynamisch-energetischer Interpre- nur ein Auftakt sein, der als Einladung verstanden tanten). Einbezogen in diese Überlegungen wird werden soll, Untersuchungen oder Untersuchungs- das kulturelle Wissen der Zuschauer, die womöglich ansätze, die in eine ähnliche Richtung wie die nicht nur die Geschichte der Emma Bovary kennen, orektische Filmanalyse gehen, zusammenzuführen. sondern auch bemerken, dass der locus aemonus in Unser Artikel ist eine solche Zusammenführung in seiner Abgeschiedenheit an den Garten Eden vor, nuce. Er greift eine Reihe von Konzepten (Orexie während und nach dem Sündenfall erinnert. und Ekphorie, Energetik und Dynamik, Respon- Wie dieses letzte Beispiel vielleicht noch deut- sivität etc.) auf und akzentuiert am Filmerlebnis licher als die anderen Exempel veranschaulicht, insbesondere die Momente, in denen der Erzähl- muss die orektische Filmanalyse also – über die fluss unterbrochen oder gestaut wird, damit sich Mikroanalyse einzelner Szenen hinaus – die Ver- die Zuschauer ihrer Empfindungen und der Vor- laufsgestalt der Narration und ihre szenografi- stellungen innewerden können, die sich an der schen Eigenarten in den Blick nehmen und in Schnittstelle von Dramaturgie und Atmosphäre, Beziehung zu den Empfindungs- und Vorstellungs- Wahrnehmungsreiz und Verlangen bilden. Da wir gestalten setzen, in die dramaturgische Informa- von Hitchcocks Überlegungen zur emotionalen tionen und atmosphärische Impulse, genre- und Partizipation des Zuschauers am Filmgeschehen filmspezifische Wirkungsmomente eingehen. Es ausgegangen sind, könnte der Eindruck entstehen, handelt sich dabei um Gestalten, die ebenso wie dass wir uns mit dem Moment des Innewerdens die Verständnisrahmen, die das Kino innerhalb in einen Widerspruch zu seinen Ausführungen einer Kultur entweder stillschweigend vorausset- begeben. Denn Hitchcock betont im Gespräch mit Phaneroskopie 113 Truffaut ja gerade, dass der Erzählfluss niemals aufspannt. Dieses empathisch grundierte Feld unterbrochen werden sollte: interpretativer Möglichkeiten muss von zwei Seiten Die Sequenzen eines Films dürfen meiner Meinung aus angegangen werden – von einer empirischen nach nie auf der Stelle treten, es muss immer weiter Erforschung dieser Rückkopplung und von der kon- gehen, wie die Räder eines Zuges oder besser noch zeptionellen Zusammenführung der Kategorien wie eine Zahnradbahn. (Truffaut 2003: 62) und Kriterien, die geeignet sind, den Neologismus der orektischen Filmanalyse aufzuschlüsseln. Wir meinen, dass dieser Widerspruch nur zum Schein besteht und sich daher leicht auflösen lässt. Literatur Um im Bild zu bleiben: die Zahnradbahn wird nicht nur durch den Strom der bewegten, vom Zuschauer Arnheim, Rudolf (2002) Film als Kunst [1932]. Mit wahrgenommenen Bilder, sondern eben auch einem Nachwort von Karl Prümm und zeitgenössi- durch die Vorstellungen gebildet, die jene Emotio- schen Rezensionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp nen auslösen, mit denen der Regisseur das Recht- Balázs, Béla (2001) Der Geist des Films [1930]. Mit eck der Leinwand aufgeladen hat. Die Entwicklung einem Nachwort von Hanno Loewy und zeitgenös- dieser Vorstellungen geht unaufhaltsam voran sischen Rezensionen von Siegfried Kracauer und – selbst dann wenn die Narration pausiert oder, Rudolf Arnheim. Frankfurt a.M.: Suhrkamp wie im Fall der Suspense-Dramaturgie, zur Dilation Böhme, Gernot (2013) Atmosphäre. Essays zur neuen der erzählten Zeit tendiert. Und ähnlich wie sich Ästhetik. Berlin: Suhrkamp der Benutzer einer Zahnradbahn durch den Blick Brownlow, Kevin (1997) David Lean. A Biography. Lon- aus dem Fenster der atemberaubenden Gebirgs- don: Faber and Faber landschaft versichert, die ihn umgibt, nimmt der Deleuze, Gilles (1998) Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Zuschauer die Spannungskurve wahr, die ihn von Frankfurt a.M.: Suhrkamp einem Erregungsgipfel zum nächsten befördert Dickens, Charles (2008) Oliver Twist. Aus dem Engli- (was selbstverständlich dazu führt, dass er nicht schen von Gustav Meyrink. Frankfurt a.M.: Fischer nur die cliff-hanger, sondern auch die Durchhänger Eco, Umberto (1987) Lector in fabula. Die Mitarbeit der in der Narration bemerkt). Interpretation in erzählenden Texten. München & Lässt man sich auf den Bewusstseinsstrom der Wien: Hanser dynamisch-energetischen Interpretanten und ihre Goffman, Erving (1980) Rahmen-Analyse. Ein Versuch Entwicklungsarbeit ein, kann man – auch das über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frank- sollte klar geworden sein – nicht trennscharf zwi- furt a.M.: Suhrkamp schen Vorstellungen und affektiven Momenten, Kruse, Patrick (2010) Über das Filmbild hinaus... Die zwischen der Bedeutung von Emotionen und ande- Präsenz des Absenten in der Filmrezeption. Stuttgart: ren kognitiven Effekten, zwischen der Umwand- Ibidem lung von Energiequanten und der intellektuellen Markowitsch, Hans-Joachim (2002) Dem Gedächtnis auf Verdichtung einander überlagernder und wechsel- der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt: seitig verstärkender Impulse oder Informationen Wissenschaftliche Buchgesellschaft unterscheiden. Die spezifische Herausforderung Metz, Christian (2000) Der imaginäre Signifikant. Psy- der szenographischen Medien liegt unserer Auffas- choanalyse und Kino. Münster: Nodus sung gerade darin, dass sie weder reduktionistisch Mikunda, Christian (2002) Kino spüren. Strategien der analysiert werden können, indem man lediglich emotionalen Filmgestaltung. Wien: WUV die cues und andere audiovisuelle Signale in den Morin, Edgar (1958) Der Mensch und das Kino. Eine Blick nimmt, noch einfach, undifferenziert, als anthropologische Untersuchung. Stuttgart: Ernst Wunschmaschinen der Traumfabrik betrachtet wer- Klett den dürfen, die einer Triebdynamik gehorchen, die Nöth, Winfried (2000) Handbuch der Semiotik, 2. voll- dann nicht näher spezifiziert wird. Vielmehr verwei- ständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. sen Begriffe wie Szenografie oder Atmosphäre auf Stuttgart & Weimar: J. B. Metzler komplexe Rückkopplungen, die komplexe Verlaufs- Peirce, Charles S. (1993) Phänomen und Logik der Zei- gestalten erzeugen – Gestalten auf Zeit also, die chen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp nicht unabhängig von dem Kraftfeld untersucht Roth, Gerhard (1995) Das Gehirn und seine Wirklichkeit. und verstanden werden können, das sich zwischen Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen dem Rechteck der Leinwand und dem Zuschauer Konsequenzen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 114 Matthias Bauer & Tobias Hochscherf Semon, Richard (1904) Die Mneme als erhaltendes Prin- Wulff, Hans J. (2002) Das empathische Feld. In: Film zip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig: und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Hg. Wilhelm Engelmann von Jan Sellner & Hans J. Wulff. Marburg: Schüren. Smith, Greg M. (2003) Film Structure and the Emotion S. 109–121 System. Cambridge: Cambridge University Press Žižek, Slavoj (1991) Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Truffaut, François (2003) Mr. Hitchcock, wie haben sie Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Ber- das gemacht? München: Heyne lin: Merve Waldenfels, Bernhard (1994) Antwortregister. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Phaneroskopie 115 lEhrpraxIs archItEkturlEhrE und atMosphärE Andreas Kretzer Im Kontext der Produktion, Präsentation und Grenze ist Ausgangspunkt des Raumes nach innen Rezeption ihrer Bauten sprechen Architekten gerne und außen. Atmosphäre beginnt dort, wo die Kon- von Atmosphäre. Der Wunsch nach einer spezifi- struktion der Grenze endet. Sie entströmt Objekten schen, möglichst unverwechselbaren Raumstim- und produziert ein Gemenge sinnlich wahrnehm- mung wurzelt tief in der Lehre und im Selbstver- barer Phänomene wie Schall, Licht, Wärme, Geruch ständnis des Berufs: Die bewusste Kontrolle dieser und Feuchtigkeit. Ein Gebäude entwerfen heißt Qualitäten zeichnet ‹gute Architektur› aus. Jenseits eine Atmosphäre entwerfen; ein Gebäude betreten einer rein wissenschaftlichen Auseinandersetzung heißt in eine Atmosphäre eintreten. Architektur mit dem Thema Atmosphäre beschäftigt diese spricht unsere sinnliche Wahrnehmung unmittel- Fragestellung auch die universitäre Architektur- bar an. Und nicht das Bauwerk, sondern das Klima lehre; beispielsweise wenn Architekturstudenten nicht greifbarer, flüchtiger Effekte ist bestimmend lernen, ihre räumlichen Ideen im Entwurfsprozess für das Erleben von Raum. In Lehre und Praxis darzustellen. Denn die Visualisierung imaginärer stellen sich Architekten die Frage wie dieser beson- Bauwerke stellt Architekten vor das Problem Atmo- deren Wechselwirkung zwischen Menschen und sphäre praktisch anzuwenden. Aber mit welchen Dingen zu begegnen ist. Was berührt mich an Mitteln machen sich Planer auf die Jagd nach die- Bauwerken? Wie und mit welchen Werkzeugen sem obskuren Objekt der Begierde? lässt sich Atmosphäre entwerfen oder sogar kon- struieren? Atmosphäre entwerfen Studenten der Wahrnehmung Das Wort Atmosphäre in seiner astronomischen Bedeutung bezeichnet die gasförmige Hülle In ihrer Kindheit sind alle Menschen Architekten. von Himmelskörpern von der man ursprünglich Die ungezügelte Vorstellungskraft von Fünfjäh- glaubte sie stamme aus den Planeten selbst und rigen kann Bauklötze in Festungen, Schiffe oder sei ein Teil von ihnen. Entsprechend könnte man Paläste verwandeln. Mit seherischen Fähigkeiten annehmen, dass die Atmosphäre in der Architek- ausgestattet entdecken sie neue Horizonte und tur ein Gebäude umgibt und seiner Materie anhaf- erforschen Höhlen, Urhütten und Zelte unter tet. Nach Sigfried Giedion sind «Formen nicht auf Tischen und hinter Schränken. Im Laufe der ihre körperliche Ausdehnung beschränkt. Formen anschließenden Jahre allgemeiner Schulbildung strahlen Raum aus und modellieren ihn» (1941: bietet sich kaum Gelegenheit zum Studium von 29). Paradoxerweise vollzieht sich der Vorgang Räumen. Die Geometrie fristet ein Schattendasein, der Raumbildung im architektonischen Entwurf weshalb sich das Vermögen ‹Räume zu machen› nicht direkt, sondern indirekt. Wir bilden Raum und räumliche Vorstellungen zu realisieren kaum durch Nichtraum, also durch die Definition der oder nur schwer entfalten kann. So beginnen viele den Raum begrenzenden Materie. Diese physische Architekturstudenten ihre Ausbildung mit einem Architekturlehre und Atmosphäre 117 begrenzten persönlichen Erfahrungsschatz hin- tauchen die Zuschauer in das Szenenbild ein und sichtlich der Interpretation alltäglicher Räume und erleben Raum unmittelbar und immersiv. Wie in Formen. Entwerfer müssen die Welt als aktive Beob- der Musik spielt bei der Wahrnehmung von Archi- achter erfahren. Raum zu schaffen setzt eine Kul- tektur das Tempo eine wichtige Rolle. Architektur tur der sinnlichen Wahrnehmung voraus, also die lädt zu Entdeckungsreisen im Raumkontinuum Fähigkeit Ereignisse in unserer gebauten Umwelt ein. Sie fesselt oder verführt weiter zu gehen. Doch vorherzusehen und auf dieser Grundlage Entschei- während Musik und Geometrie den Schwerpunkt dungen für ihre bewusste Gestaltung zu treffen. auf zeitliche bzw. räumliche Definitionen legen, Vor einigen Jahren warb ein Baumaschinenherstel- erschließt der Film eine sowohl räumliche als auch ler dafür mit dem treffenden Slogan «We shape the zeitliche Dimension. Gemeinsam mit Kamera und things we build, thereafter they shape us». Regie organisieren Szenographen und production designer wie Architekten Raumerfahrungen und Ceci n’est pas une pipe gestalten ihre ästhetische Wirkung. Die Wahrneh- mung ist dabei untrennbar mit der Bewegung in Die Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess. Die soge- Räumen verbunden. Im Unterschied zur Architek- nannte Realität, das Bild der Welt, wird kontinuier- turrezeption läuft Film in einer festgeschriebenen lich neu produziert. Wir selbst sind die Dunkelkam- Reihenfolge von Handlung, Szenen und Schnitten mern aus denen die Bilder kommen. Dabei wird die in begrenzter Zeit ab. Der Zuschauer kann das Kino Flut an Bildinformationen durch Sehgewohnheiten zwar verlassen, innerhalb des Kinos aber nicht aus personalisiert und gefiltert. Im Entwurfsprozess dieser Festlegung ausbrechen. Viele seiner Gestal- soll Mögliches sichtbar gemacht werden, deshalb tungsmöglichkeiten leitet der Film aus dieser Kon- antizipieren wir Raum in der Architekturdarstellung vention ab. durch abstrakte Zeichensysteme. Das betrifft den nach Planzeichenverordnung erstellten Ausfüh- Bewegte Räume rungsplan gleichermaßen wie die anschauliche perspektivische Visualisierung, denn es existiert ein Zeitgenössische Filmproduktionen werden zum Stellvertreterproblem: jedes Darstellungsmedium überwiegenden Teil von digitaler Technik bestimmt. unterliegt bestimmten Einschränkungen; jedes Dar- Dennoch kommen bei der Konzeption von Filmräu- stellungswerkzeug übersetzt Raum in einen abs- men bis heute analoge Medien zum Einsatz. Auf trakten Platzhalter. Architektur wird in zeitlichen der Suche nach atmosphärischer Raumwirkung Prozessen und Bewegungsabläufen sinnlich wahr- setze ich in der Architekturlehre gemeinsam mit genommen. Im Idealfall geschieht dies unmittel- Studierenden der Technischen Universitäten Kai- bar, abseits der Stellvertreter, durch die subjektive serslautern, Darmstadt und Graz in den vergan- Raumerfahrung des gebauten Objekts, denn die genen Jahren Techniken der Prävisualisierung von Oberflächen bergen Geheimnisse. Umso schwie- Filmproduktionen ein. In Entwürfen, Seminaren riger gestaltet sich die Antizipation spezifischer und Workshops werden Raumdarstellungen ent- Raumerfahrungen in Ermangelung eines materi- wickelt, die versuchen durch eine ‹dichte› Gestal- alisierten Werks. Welches Ersatzmedium, welcher tung entweder die grassierende Ahnungslosigkeit Platzhalter kann im Entwurfsprozess statt isolierten gegenüber der gewünschten atmosphärischen geometrischen Projektionen die Komplexität der Wirkung oder den reflexhaften Rückgriff auf Ste- Architektur berühren und kommunizieren? reotypen gerade aktueller, modischer Strömun- gen zu überwinden. Zu Beginn nähern sich die Der filmische Blick Studierenden mittels textlicher Beschreibung des betrachteten Raumes dem Projekt an. Die litera- In seiner mehr als hundertjährigen Geschichte rische Visualisierungsstrategie der Ekphrasis wird steht das Kino in einer langen Tradition von Pio- dabei von ihrer allgemeinen Beziehung zu Werken nierleistungen, um architektonischen Raum als syn- der bildenden Kunst auf architektonische Werke ästhetisches Erlebnis zu erzählen. Die im Vergleich übertragen und angewendet. Begleitet von Übun- zu realen Bauwerken minderwertige Qualität von gen für das Wahrnehmungstraining zum schnellen Kulissenbauten rückt dabei in den Hintergrund. und genauen Erfassen sowie zeichnerischen Notie- Der Raum spielt mit und bestimmt die atmosphäri- ren räumlicher Situationen werden bereits in dieser sche Wirkung maßgeblich. Gelingt das Experiment, Phase gravierende Erfahrungsdefizite bei der Arti- 118 Andreas Kretzer à 1 Skizzen zum Wahrnehmungstraining und Storyboard (© Andreas Kretzer 2009) kulation architektonischer Absichten deutlich. Wir ten Raumeindruck erahnen und dadurch gezielt sehen auf dem Hintergrund unseres Wissens. «Man verbessern. Die Bestimmung von Oberflächen und sieht nur, was man weiß» schrieb Johann Wolfgang Farben mit Hilfe von Materialcollagen, sogenann- von Goethe 1819 in einem Brief an Friedrich von ten moodboards, verleiht Entwürfen eine haptische Müller. Eine Feststellung, die entsprechende Gül- Präsenz. Abschließend werden die Arbeiten in tigkeit auf dem Gebiet der Darstellung findet. großformatigen Raumzeichnungen oder großmaß- Im weiteren Prozess der Lehrveranstaltungen stäblichen Raummodellen dargestellt und als Film- werden kreative Techniken wie thumbnails, scribb- sequenzen präsentiert. Das zentrale Thema dieser les und storyboards eingesetzt (Abb. 1). Diese ana- ‹Schule des Sehens› ist der Erwerb von Kompeten- lytischen Werkzeuge spielen bei der Gestaltung zen für die möglichst charakteristische Raumgestal- filmischer Räume eine wichtige Rolle: grobe, dyna- tung jenseits indifferenter Standards. In Architektur mische und daumennagelgroße Skizzen ermögli- und Film setzen diese Produktionsmedien eine prä- chen die schnelle Überprüfung perspektivischer zise Vorstellung zur Stimmung von Räumen voraus. Eindrücke. Im storyboard werden Augenblicke seziert, Szenen Bild für Bild analysiert und aufge- Lob der Zeichnung löst. Ziel ist die Entwicklung narrativer Qualitäten bei der sequenziellen Wahrnehmung von Raum Angesichts heute allgegenwärtiger digitaler Tech- – eine Technik, die auch Le Corbusier als prome- niken in der Architektur mag sich die Frage nach nade architecturale eingesetzt hat. Entwerfer und der Notwendigkeit analoger Zeichnungen stellen. Betrachter werden befähigt Spaziergänge durch ein Der Wunsch nach photorealistischer Visualisierung, Projekt zu unternehmen. Auf dem Papier entstehen sei es in Form von Renderings oder immersiver chronologische Raumreisen. Die Palette bewährter digitaler Umgebungen, prägt die Erwartungshal- Darstellungsformen im concept design wird durch tung von Produzenten und Konsumenten. Aber animatics ergänzt: animierte Kamerafahrten in auch in anderen hochtechnisierten Branchen wie gezeichneten Bildern und die sequenzielle Abfolge der Filmindustrie oder im Produktdesign hat sich von Storyboardzeichnungen lassen den angestreb- die Koexistenz analoger und digitaler Werkzeuge Architekturlehre und Atmosphäre 119 etabliert. Menschen denken in Bildern und sehen hinschauen. In dem Versuch, eigenhändig wie- mit dem Gehirn. Das Gehirn ist Bildgenerator, Bild- derzugeben, was wir vor Augen – und sei es vor prozessor und Bildarchiv in einem. Beim Zeichnen unserem geistigen Auge – haben, verändert sich werden visuelle Stimuli, Sinneswahrnehmungen unsere Beziehung dazu auf ganz natürliche Weise: und damit Denkimpulse geschaffen. Zeichnen ist wir betrachten es nicht mehr bloß, sondern erwer- Denken. In der Skizze ertasten Architekten Strich ben ein tiefes Verständnis für seine Bestandteile. für Strich gebaute Strukturen. Das Ziel ist zunächst Fragen, die beim Zeichnen auftauchen werden nur unscharf zu erkennen. Für John Ruskin (1887) durch das Zeichnen beantwortet und führen zum war Zeichnen von grundsätzlicher Bedeutung für Ausdruck eigenen Erlebens. John Ruskin erkannte, den Menschen und sollte wie die Schrift jedem dass es nicht vorrangig ästhetische Kriterien wie Kind beigebracht werden, denn Zeichnen ist Spra- harmonierende Farben oder Symmetrie und Pro- che. Wir können nicht ohne Sprache denken und portion sind, aufgrund derer wir zum Beispiel die Sprache des Architekten ist die Zeichnung. Sie bestimmte Orte «schön» finden, sondern psycholo- schafft einen sinnlichen Zugang zur Architektur, gische. Sie symbolisieren einen Wert oder eine für entwickelt abstraktes Vorstellungsvermögen und uns bedeutsame Stimmung. Die Untersuchung des die Fähigkeit innere Bilder zu formen. Das Unfer- Dazwischens, der Zwischenräume zwischen Körper tige, die Unschärfe der Skizze ist für den Entwurf- und Raum, könnte als Annäherung an die Wech- sprozess von entscheidendem Vorteil: im Unter- selwirkung zwischen Menschen und Dingen, an die schied zur gnadenlos genauen Darstellung des Atmosphäre verstanden werden. Rechners korrespondiert die zeichnerische Suche mit der zunehmend präzisierten Entwurfslösung. Fallbeispiele Unwesentliches wird zunächst weggelassen, das Vorstellungsvermögen des Betrachters wird akti- Im Rahmen verschiedener Lehrveranstaltun- viert und die Informationsdichte wächst kontinuier- gen erarbeiten die Studierenden atmosphärisch lich. In Raumzeichnungen können atmosphärische bestimmte Raumdarstellungen. Als assoziative Absichten der jeweiligen Entwurfsphase entspre- Grundlage dienen Filmräume, die durch ihre chend artikuliert und überprüft werden. Jenseits Freude am detaillierten Erzählen einen Platz im des schönen Scheins von Renderings in Echtzeit bie- kollektiven Bewusstsein erobert haben. Fiktive tet sich hier die Chance zur kontemplativen Bewer- Orte der Popkultur, darunter die Mos Eisley Bar tung der untersuchten Lösung – frei vom bisweilen aus dem Film Krieg der Sterne (Star Wars, George lähmenden ‹Realismus› der Software. Lucas, USA 1977) oder Unsere kleine Farm (Little John Ruskin verglich die Liebe zum Zeichnen House on the Prairie, NBC, USA 1974–1983) aus mit einem Instinkt wie Essen oder Trinken. Diesen der gleichnamigen Fernsehserie, bilden den Aus- drei Tätigkeiten ist die Einverleibung begehrens- gangspunkt der Recherchen. Zunächst werden werter Teile der Welt durch das Ich gemein: ein charakteristische Attribute der Raumtypen iden- Transfer des Guten von aussen nach innen. Nach tifiziert, interpretiert und anschließend perspekti- anfänglicher Begeisterung über die Präzision des visch gezeichnet. Die weitere Bearbeitung erfolgt neuen Mediums Photographie erkannte Ruskin, mit Marker-Filzstiften – eine Technik, die sich dass sie die Mehrzahl ihrer Anwender dazu verlei- als leistungsfähiges Medium in verschiedenen tete die Welt noch achtloser wahrzunehmen als Designberufen bewährt hat. Handgezeichnete zuvor. Wahre Inbesitznahme erfordert ein bewuss- Vorlagen werden gescannt, mit digitalen Werk- tes Bemühen um die Wahrnehmung von Elemen- zeugen kombiniert und schließlich atmosphärisch ten und das Begreifen von Strukturen. Die Kamera verdichtet (Abb. 2 und 3). Über diese zweidimen- verwischt den Unterschied zwischen Sehen und sionalen Repräsentationen hinaus nähern sich Aneignung. Sie kann uns die Möglichkeit wirk- detaillierte Raummodelle anderer Kurse dem lichen Erkennens eröffnen, kann das Bemühen Begriff der Atmosphäre an. Architekturmodelle in darum aber auch überflüssig erscheinen lassen. großem Maßstab ermöglichen Kamerafahrten en Sie verführt uns zu dem Glauben, die Arbeit sei mit miniature (Abb. 4 und 5). Der Verzicht auf eine dem Fotografieren erledigt. Das gilt gleichermaßen freie Wahl von Standort und Bewegungspfaden für die reflexhaft photorealistische Visualisierung. begünstigt im Gegensatz zur entfesselten Kamera Die Zeichnung lehrt uns zu sehen. Sie schult digitaler Umgebungen die kontrollierte Raum- die Wahrnehmung, wo wir sonst nur flüchtig wahrnehmung. 120 Andreas Kretzer à 2 Unsere kleine Kneipe (© Fabian Schlitt 2009, TU Darmstadt) Ü 3 Unsere kleine Windfarm (© Markus Schütz 2010, TU Darmstadt) Ähnlich der Arbeit mit Filmgenres kann dabei mit Ziel der Anwendung szenographischer Tech- dem Katalog der Charakteristika archetypischer niken in der Architekturlehre ist keineswegs eine Räume gespielt oder mit gesetzten Klischees Gleichstellung von Architektur und Szenenbild. gezielt gebrochen werden. Einige Studierende Vielmehr geht es um die Nutzbarmachung gemein- bedienen sich des zeitgenössischen Trends zu apo- samer Schnittmengen im Entwurfsprozess. Durch kalyptischen Szenarien in Filmen und Videospielen die unbefangene Auseinandersetzung mit spezifi- und setzen die romantische Tradition gebauter schen, manchmal eigentümlichen Raumstimmun- Ruinen oder düsterer Dystopien fort. Die resultie- gen erweitern die Studierenden ihr entwerferisches rende visuelle Kontamination von Räumen findet Repertoire. Anstelle der Vervielfältigung standar- ihre Entsprechung in der Patina von Filmsets und disierter Regelräume und der rein ökonomisch Studiobauten, denn Gebrauchsspuren sowie das optimierten Extrusion von Raumprogrammen soll künstliche Altern und Korrodieren von Oberflächen während des Studiums intensiv am Raum, seiner sind maßgeblich an der überzeugenden Wirkung Gestaltung und Atmosphäre gearbeitet werden. von Kulissen und Szenenbildern beteiligt. Experimente mit vorsätzlich übertriebenen Stim- Ä 4–5 Kontrollzentrum (© Sebastian Gille 2013, TU Kaiserslautern) Architekturlehre und Atmosphäre 121 à 6 ICL-74 (© Aleksejs Kudacenkovs 2013, TU Kaiserslautern) Á 7 Gigerheim (© Melisa Brieva 2013, TU Kaiserslautern) mungen sollen eine katalytische Wirkung für das sichtbare Schicht eines unsichtbaren Klimas. Die räumliche Durch-Denken im ‹Normalfall›, d.h. bei Atmosphäre besetzt den Raum und prägt ihn. der Planung im Architekturbüro, auslösen. Die Szenographie stellt leistungsfähige Wahrneh- An Architekturfakultäten gibt es keine spezielle mungswerkzeuge zur bewussten Wahrnehmung Ausbildung für die Erzeugung von Atmosphäre. und differenzierten Bewertung von Raum in der Sie erscheint in keinem Lehrplan und Architek- Entwurfsphase zur Verfügung. ten würden in aller Regel bestreiten, Spezialisten für die Erzeugung von Bühneneffekten zu sein. Die Kehrseite des Dekors Effekte gelten allgemein als verächtlich. Le Cor- busier pflegte einen Kult der abstrakten Linie und Dennoch lässt sich eine Parallele von der schein- forderte stenographische, von einem kontrollie- bar oberflächlichen, primär dem visuellen Effekt renden Verstand geschaffene Zeichnungen, die gewidmeten Wirkung von Filmbauten zu einer lediglich die Position jedes Objektes aufzeigen. Er alten Tradition in der Architekturtheorie ziehen, verurteilte dagegen die spektakuläre Darbietung die behauptet, Architektur sei niemals mehr als von Illustrationen, Beleuchtungen, Farben und ein Bühneneffekt. Mitte des neunzehnten Jahrhun- raffinierten Inszenierungen, die nur dazu verführ- derts meinte Gottfried Semper, die wahre Atmo- ten, dass sowohl Autor als auch Betrachter blind sphäre der Architektur liege im Schein festlicher werden für die Realitäten, mit denen sie sich Kerzenbeleuchtung. Architektur sei ein Bühnen- beschäftigen. Doch atmosphärische Wirkungen bild, das eine sinnliche Atmosphäre erzeuge. Nach lassen sich gar nicht verhindern; die Architektur Semper entfalte das Bauwerk seine eigentliche ist von ihnen durchdrungen und definiert. Ob mit Kraft an seinen Begrenzungsflächen (vgl. 1860: Texten, Zeichnungen, Modellen oder geschliffe- 231f.). Diese Oberflächen, aus denen die Atmo- nen Hochglanzillustrationen: mit welchen Medien sphäre hervorzuquellen scheint, sind die äußere wir als Architekten die Ankunft unserer Projekte 122 Andreas Kretzer auch anzukündigen suchen, in jedem Fall müssen Literatur wir uns der Illusion hingeben Atmosphäre lasse sich kontrollieren. Und sei es um den Preis der Giedion, Sigfried (1941) Raum, Zeit, Architektur: die Erkenntnis, dass die transitorische Qualität archi- Entstehung einer neuen Tradition. 6. unveränderter tektonischer Atmosphären im Entwurfsprozess nur Nachdruck). Basel: Birkhäuser unscharf simuliert werden kann. Ruskin, John (1857) The Elements of Drawing, in Three Letters to Beginners. London: Spottiswoode & Co. Semper, Gottfried (1860) Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. Frankfurt a.M. Verlag für Kunst und Wissenschaft Architekturlehre und Atmosphäre 123 FulldoME-szEnE 10 JahrE FulldoME In dEutschland Eduard Thomas GOOD COP: Am 17. September 2003 startete die rien nach der Umstellung auf die Fulldome-Tech- Fulldome1-Ära in Deutschland. nologie wie auch die rasante Verbreitung dieser BAD COP: Hohe Erwartungen – Vieles hat sich Technologie selbst. nicht erfüllt. BAD COP: Der Aspekt des Lernens in der Kup- GOOD COP: Allein im deutschsprachigen pel wird maßlos übertrieben. Wie viele Minuten Bereich gibt es inzwischen über 20 Fulldome-Pla- verbringt eine Schülerin oder ein Schüler im Laufe netarien. Die größeren Häuser sind fast alle dabei, ihrer Schulzeit im Planetarium? Das ist gar nichts aber auch kleinere Kuppeln haben die Technik im Vergleich zur Unterrichtszeit im Klassenraum. finanzieren können! GOOD COP: Es geht nicht nur um Quantität. BAD COP: Es hat sich zwischen den Kuppeln Planetarien vernetzen sich in die Emotionen eine Zweiklassengesellschaft eingestellt. Die Klein- und Fantasie von Kindern. Damit schaffen Sie planetarien2 sind in ihrer pädagogischen Arbeit Andockstellen für das eigene Interesse. Erlebnisse besonders aktiv. Gerade sie konnten die Tech- erzeugen intrinsische Motivation, schaffen neue nik bisher meist nicht anschaffen. Dort wird mit Blickwinkel, Anreize, sich selbst zu öffnen und hohem persönlichen Einsatz und vielen unentgelt- zuzuwenden. Im ‹fliegenden Klassenzimmer› des lichen Überstunden gearbeitet. Daher ist es für das Planetariums gelingt dies besonders intensiv und Personal besonders frustrierend, auf die Fulldome- nachhaltig. Planetariumsveranstaltungen sind Häuser zu schauen. Früher gab es eine Kluft zwi- Marketing pur für die Wissenschaften. schen ‹klein› und ‹groß›. Nun ist es ‹arm› und ‹reich›. BAD COP: Planetarien haben sich doch gar GOOD COP: Die Fulldome-Technik kostet Geld, nicht um pädagogische Aspekte des neuen Medi- ermöglicht aber auch eine neue Dimension päd- ums gekümmert. Das Jahrzehnt wurde von Diskus- agogischen Wirkens. Multimodales und multico- sionen über die Technik geprägt. dales Lernen über Emotionen kann zu tiefen Ler- Es begann mit analogen Kathodenstrahl-Projek- nerlebnissen führen. Die Kuppel ist das immersive toren. Sie erzeugten einen schwarzen Hintergrund Medium der Gegenwart. Der Eindruck, sich inmit- und homogene Bilder, waren aber lichtschwach. ten des Geschehens zu befinden, ist ein Alleinstel- Danach kamen die digitalen Flüssigkristallprojek- lungsmerkmal, das die Reise in digitale Welten zu toren (LCD) und Digital Light Processing-Projekto- einem nachhaltigen Erlebnis macht. Beleg dafür ren (DLP). Die Bilder wurden heller, aber pixelig sind die enormen Besucherzuwächse in Planeta- und hatten einen grauen Hintergrundschleier. Die absolute Dunkelheit (selbst bei adaptierten Augen) ist aber ein ‹Muss› für eine emotionalisie- 1 Die Kuppel verfügt über ein Videosystem, das die Projek- tionsfläche vollständig mit bewegtem Bild ausfüllt. rende Sternenprojektion. Zwei Laser-Technologien wurden von den Firmen Zeiss und Evans & Suther- 2 Die Klassifizierung richtet sich nach der Kuppelgröße. Unterhalt von 9 Meter Durchmesser spricht man vom Klein- land entwickelt, um das Problem zu lösen und den planetarium. Farbraum zu erweitern. Aber sie setzten sich am 10 Jahre Fulldome in Deutschland 125 Markt aus Kostengründen oder wegen technologi- Mit dem Rückenwind des Neuen kann man – klug scher Hürden nicht durch. Das Beste sei nun die eingesetzt – neue Akzeptanz und damit dann auch VELVET-Projektion von Zeiss. Sie ist wohl dunkel im Finanzquellen erschließen. Hintergrund, aber letztlich gelingt das bislang nur BAD COP: Die Erwartung des Publikums an auf Kosten der Farbbrillanz. ein ‹Planetarium› hat sich bisher kaum gewandelt. Parallel dazu die endlosen Präsentationen der Die Gäste erwarten vor allem den Sternenhimmel Abspielsoftware diverser Firmen – die Tagungen und das ändert sich nicht in wenigen Jahren. Der versanken in Produktpräsentationen. Gut für das Begriff ‹Fulldome› erklärt sich nicht von selbst und Sponsoring der Tagungen und das Budget der Kon- keiner der Kunden kann damit etwas anfangen. ferenzdinner. Selbst das Personal kann ja kaum in Worten fas- Welcher Theater-Intendant würde sich dafür sen, was das Fulldome-Planetarium vom konventio- interessieren, wie die Beleuchtungstechnik oder nellen unterscheidet. die Ansteuerung der Drehbühne arbeitet und sich Das klassische Planetarium hatte immerhin ein Jahr für Jahr stundenlang Neuentwicklungen zei- inhaltliches Alleinstellungsmerkmal: die Sterne. gen lassen? Die Brillanz des künstlichen Himmels führte Men- Nein, die Fulldome-Technik war ein Statussym- schen ein Kulturgut vor, das sie wegen des Zivilisa- bol geworden: meine Kuppel, mein Sternenprojek- tionslichtes zu vergessen beginnen. Das «Ohhhh» tor, meine Fulldome-Anlage – möglichst in 3-D. in der Kuppel, das überwältigte Staunen, das war Weil Politiker gern Superlative hören, ging es um die Domäne des Planetariums. Mit der Glasfaser- «die modernste Technik», «die schärfste Projektion», technik3 der Firma Zeiss wurde die Sternprojektion «die höchste Auflösung», die «weltweit erste Anlage bis zur Perfektion entwickelt. mit …». Wer kein Fulldome hatte, war ein Loser. Dank Fulldome haben wir nun flaue, digitale Anfangs waren die Gäste im Fulldome-Planeta- Sternfelder mit Farb- und Justierfehlern zwischen rium schon von der Ästhetik der Projektion überwäl- den Projektionsgrenzen. Alternde Leuchtmittel füh- tigt. Seit der Brillanz der 3-D-Kinos und der hohen ren zu Farbfehlern. Diese Mängel können von den Auflösung der Flachbildschirme zu Hause relati- Technikern in den Planetarien nur mühsam im Griff viert sich das. Ganz besonders ‹Technik-Freaks›, die gehalten werden. Besser ein klares astronomisches zunächst Sympathieträger waren, bemängeln die Themenprofil und brillante Sternprojektionen als Sichtbarkeit von Pixeln infolge geringer Auflösung ein flau projiziertes Wischiwaschi zwischen Kino und Bildfehler. und Jahrmarktvergnügen. Was haben die Planetarien sich da angetan? GOOD COP: Der konventionelle Planetari- Ein klassischer Sternprojektor konnte über Jahr- umsprojektor4 zeigte das All aus der Sicht der zehnte zuverlässig arbeiten. Computercluster müs- Erde – geozentrisch. Die dritte Dimension fehlte sen schon nach wenigen Jahren ersetzt werden, schlichtweg. Dieses Weltbild ist seit Jahrhunderten und die Technik entwickelt sich rasant. Von einer überholt! Im digitalen Planetarium können die 8k-Auflösung in 60 Hertz-Technologie und 3-D hat Gäste die enge Perspektive verlassen. Der kontinu- vor 10 Jahren niemand gesprochen. Heute sind ierliche Wechsel zwischen Bezugssystemen funktio- dies neue Standards, erfordern aber wesentlich niert nur im Fulldome – ein ganz gewichtiges Plus. größere Rechner- und Speicherkapazitäten. Stän- Die Eigenbewegung der Sterne5, der Flug durch dig müsste alles angepasst werden und erfordert die Milchstraße und durch ferne Galaxienhaufen, Ressourcen. Wer nicht mithalten kann, wird abge- all dies kann man nun selbst und emotional erfah- hängt. Die meisten Planetarien leben am Existenz- ren – virtuell, aber auf der Basis wissenschaftlich minimum. Wenige sind finanziell so positioniert, korrekt ermittelter Datensätze. Die Datenvisuali- dass sie sich dieser Herausforderung auf Dauer werden stellen können. GOOD COP: Planetarien standen in einer 3 In einem optomechanischen Sternprojektor mit Glasfa- sertechnik wird Licht über Glasfasern an das diaähnliche Nische. Sie wurden nur selten von der Bildungs- Sternenfeld geleitet. So erreicht man eine optimale Hellig- und Kulturlobby wahrgenommen. Mit der neuen keit der Projektion. Technologie ändert sich das. Die Vielfalt, die ins 4 Ein Projektionsgerät, das über ein Linsensystem ein Programm einzieht, beeindruckt Bildungs- und Kul- diaähnliches Sternfeld an die Kuppel projiziert. turpolitiker. Es mag teurer werden, aber Fulldome 5 Positionsveränderung der Sterne am Firmament auf- führt aus der Nische. Das ist überlebenswichtig: grund ihrer eigenen Raumbewegung relativ zur Erde. 126 Eduard Thomas sierung im Echtzeitmodus war ein Quantensprung Interaktion war eines der Zauberwörter, mit dem der astronomischen Wissensvermittlung. für Fulldome geworben wurde. Die virtuelle Raum- Wie viel Arbeit machte es früher, Dias auszube- station ISS selbst am Joystick steuern können. Aber lichten, abzumaskieren6 und Allskies7 zu justieren. in welchen Produktionen ist Interaktion im vergan- Dennoch blieb der Eindruck statisch. Heute wird genen Jahrzehnt denn wirklich eingesetzt worden? aktuelle Wissenschaft aus dem Internet herunter- Oft fehlte das Personal für eine qualifizierte Bedie- geladen und bereits nach Stunden in der Kuppel nung (oder es durfte aus besoldungsrechtlichen eingesetzt. Dank des Echtzeitsystems8 wird der Vor- Gründen nicht mehr als einen Start-Button zum führende zum Reiseführer, der seine Gruppe indi- Showbeginn drücken). Überhaupt konnte meist viduell zu einer Safari in die Wunder des Weltalls nur eine Person am Joystick stehen. Bis der Gast begleitet. Die Justierung der Kuppel wird durch ein Gefühl für die Wirkung des Gerätes hat, ist die Kalibrierungstechnologien9 automatisiert werden. Sequenz schon vorbei. Schöne neue Welt? Auflösung und Brillanz werden sich weiter entwi- GOOD COP: Die rasante Entwicklung von Ein- ckeln, der Sound in 3-D kommen – die perfekte gabegeräten für Computerspiele wird auch in Pla- Illusion wird greifbar! netarien neue Möglichkeiten schaffen. Auf dem BAD COP: Glaubst du denn, dass die Echtzeitvi- Kieler KOORDINATEN-Festival gewann Axel Meyer sualisierung wirklich eingesetzt wurde? Ich denke, mit der interaktive Kuppelproduktion 360Touch.it sie wurde meist nur dazu genutzt, über Skriptpro- (D 2012) einen Award für ein 360°-Computer- grammierung10 den Aufwand des Renderns und spiel, das per iPhone simultan von jedem Platz Kosten für Lizenzeinkäufe zu sparen. Dafür gab es beeinflusst werden kann. einen Grund: Das Schaltpult des herkömmlichen Die Datenvisualisierung in 360° wird weitere Planetariums bot optimalen Zugriff auf alles, was Türen öffnen. Am Fachbereich Design der Fach- die Referierenden im Live-Betrieb brauchten. Die hochschule Potsdam entstanden Projekte, die diese digitalen Systeme waren stattdessen viel zu kom- Potentiale erkennen lassen. Wir drehen uns in der plex und schwergängig zu bedienen. Im Ergebnis Diskussion im Kreise: es ist noch nicht alles perfekt, wichen die Vortragenden auf ‹Konserven› aus – aber wir können das Potential nicht nur hypothe- Kino statt Interaktion zwischen Mensch und Publi- tisch, sondern bereits in Pilotprojekten sehen. kum. Würdest du auch den Unterricht in den Schu- BAD COP: Die Planetarien haben sich vom len durch Lehrfilme ersetzten wollen? Glanz der Technik blenden lassen. Sie haben keine Produktionsbudgets beantragt oder keine bekom- men. Zur Premiere wurden ein paar Filme mit der 6 Schwärzen von Teilen eines Dias z.B. mit einem Lack, um die Durchlässigkeit für Restlicht in der Projektion zu minimie- Technik mitgekauft. Bunt musste es sein, damit ren. die Politiker in der Eröffnungsveranstaltung beein- 7 Statisches Bild, das die ganze Kuppel erfüllt. Allsky- druckt waren. Projektionen wurden zunächst mit mehreren überlappenden GOOD COP: Allein schon in Deutschland sind Diaprojektoren erreicht. Mit Fulldome-Systemen können sie sehr viele wertige Produktionen entstanden. Das digital projiziert werden. Planetarium in Hamburg hat unter Leitung von 8 Die meisten Fulldome-Systeme können nicht nur fest Thomas Kraupe ein breites Spektrum von Full- vorgegebene Filme, sondern auch Simulationen projizieren. dome-Produktionen entwickelt. Die Produktion Diese laufen simultan im bilderzeugenden Rechnersystem, Die Macht der Sterne (D 2007) über die Himmels- so dass hier zu jeder Zeit eingegriffen werden kann. Beispiele sind die Steuerung einer Raumsonde per Joystick oder ein scheibe von Nebra floss wesentlich in die Kon- Flug durch das Planetensystem. Solche Eingriffe können zeption des Besucherzentrums «Arche Nebra» in auch reproduzierbar ablaufen und abgespeichert werden. Es Sachsen Anhalt ein, das selbst eine Fulldome-Aus- entsteht dann ein filmähnlicher Ablauf. stattung erhielt. Planet Erde – Alarmstufe Grün 9 In vielen Fulldome-Systemen wird das Gesamtbild aus (D 2011) ist eines von vielen Beispielen, bei denen mehreren Einzelbildern verschiedener Projektoren zusammen- inhaltlich Neuland beschritten wurde. Produziert gesetzt. Die Projektionsfelder müssen in der Lage zueinander haben in Hamburg Tim Florian Horn, Kenan Bro- und in der Helligkeit in den drei Grundfarben präzise auf- einander abgestimmt werden. Im Verlaufe der Betriebsdauer mann, Simon Böttcher und etliche frei schaffende verändern sich z.B. die Farbintensitäten der Leuchtmittel. Produzenten. In Zusammenarbeit mit prominenten 10 Die Festlegung reproduzierbarer Abläufe im Echtzeitsy- Künstlern und Popstars und in Verbindung mit stem erfolgt durch eine Programmierung, die in einem Skript anderen Projektionselementen wie einer aufwän- die Abfolge der Befehle festlegt. digen Laser-Anlage entstand ein herausragendes 10 Jahre Fulldome in Deutschland 127 Veranstaltungsprogramm – ein Muster für die lution (FH Kiel/Tilt Design Studios, D 2010). Seit Potentiale einer innovativen kulturellen Nutzung 2010 entstanden In der Tiefe des Kosmos (FH Kiel/ neuer Medien! LWL-Landesmuseum für Naturkunde Münster/Pla- Die Hamburger Premierenliste zeigt über netarium Wolfsburg, D 2012), Der Regenbogenfisch Eigenproduktionen hinaus wesentliche Schritte und seine Freunde (FH Kiel/Planetarium Münster/ in der Fulldome-Entwicklung auf, beispielsweise Planetarium Wolfsburg, D 2012) und Ferne Welten vom Münchner Filmemacher Peter Popp oder – fremdes Leben? (D 2011) in Verbünden von drei dem Niederländer Robin Sip. Peter Popps Firma bzw. sechs Partnern. Dazu gehörten die Häuser in softmachine hat mit Realm of Light (D 2007), Kiel, Münster und Wolfsburg, dann gemeinsam mit Kaluoka’hina (D 2005) und Das Geheimnis der Bochum, Mannheim und Osnabrück. Bäume (Life of the Trees, D 2011) aus Deutsch- Solche Konsortien und Drittmittelakquise sind land heraus weltweit beachtete Produkte erstellt eine zukunftsweisende Antwort auf die Suche und Marken für die Nutzung des Fulldome-Medi- nach Produktionsbudgets. Im Jahr 2013 hat eine ens durch hochwertige, professionelle Dramatur- Produktion über die Entwicklung des Kosmos vom gie und Umsetzung gesetzt. Auch Robin Sip von Urknall bis heute begonnen, die von neun oder Mirage3D hat mit und Dawn of the Space Age (NL zehn Planetarien getragen werden wird. Auch die 2007), Origins of Life (NL 2005) oder Rätsel des ESA produziert eine zweite Fulldome-Show: im Ver- Lebens (Natural Selection, NL 2010) Meilensteine bund mit Planetarien aus Europa, umgesetzt von in der Fulldome-Verbreitung geschaffen. der Kieler Firma northdocs. Durch das Wirken des Im Jenaer Planetarium entstanden unter Lei- Zentrums für Kultur- und Wissenschaftskommuni- tung von Jürgen Hellwig astronomische Fulldome- kation war die Fachhochschule Kiel an diesen Ent- Produktionen in Kooperation mit Bernd Warmuth wicklungen maßgeblich beteiligt. von der Klagenfurter Firma INTERMEDIA und Und auch an Planetarien, an denen keine Full- Musikshows von Tobias Wiethoff, beispielsweise dome-Filme produziert werden, wird das Programm das ‹kosmische Ballett› Cirque du Sphere (D 2012). im Echtzeitsystem individuell und wertig gestaltet. Am Mediendom in Kiel wirkten unter Leitung Oft trifft sich hier hohe pädagogische Kompetenz des Autors zunächst Jürgen Rienow, dann Ralph mit Kreativität und Enthusiasmus. Sie fließen in Heinsohn, Isabella Buczek und Joachim Perschba- lebendigen Unterricht ein – in einem außerschu- cher als ausführende Produzenten in etlichen Pro- lischen Lernort besonderer Güte! Alle diese Veran- duktionen. Im Kieler Umfeld produzierten ferner staltungen sind Beispiele für die Demokratisierung die Firmen allsky.de mit Björn Voss und Tom Kwas- des Illusionsmediums. Viele Planetarier an vielen nitschka und northdocs unter Leitung von Joa- Orten können ihre Erfahrung, ihre Ziele in die Pro- chim Perschbacher. Über die Fachhochschule Kiel duktionen einbringen… fanden etwa 20 Personen den beruflichen Weg in BAD COP: … und kaufen Produkte aus den USA, die Fulldome-Szene – so wirkten beispielsweise Tim die sie wie im Kino abspielen. Florian Horn und Kenan Bromann zunächst in Kiel. Die freien Produzenten, die du genannt hast, Wo Fulldome verfügbar war, entstanden neue arbeiten mit hohem finanziellem Risiko in einem Produktionen oder gar Produktionsfirmen. Ich denke Markt, dem es an Kapital und eingewöhnten Wert- an Judenburg in Österreich – aus den Bergwelten schöpfungsketten fehlt. Es sind gewiss oft Enthusias- heraus entstand eine Produktion über die Tiefsee! ten, aber sie stoßen mit ihren Werken auch auf viel BAD COP: Glaubst du, dass jedes Planetarium Skepsis bei den Planetarien. Planetariumsleitungen eine Fulldome-Schmiede werden kann? sind ein sehr kritisches Publikum. Diese verfügen in GOOD COP: Seit dem Jahr 2009 bildeten sich der Regel nur über kleine Budgets und können ein zwischen Planetarien in Deutschland Kooperations- einmal erworbenes Programm über Jahre, ja Jahr- verbünde. Die Europäische Weltraumagentur ESA zehnte spielen. Keine guten Voraussetzungen für den hat in jenem Jahr mit 31 deutschsprachigen Pla- Vertrieb und die Refinanzierung von Produktionen. netarien in der Produktion Augen im All (FH Kiel Wie führt man dramaturgisch durch ein Wis- i.A. der ESA, D 2009) einen Eckstein gelegt. Die sensgebiet? Wie kann der Gast auf sinnliche Weise Produktion wurde in zwölf Sprachen übersetzt und zugleich lernen und genießen? Wie viel Text ist weltweit verbreitet. Im gleichen Jahr beteiligten notwendig, wo ist er kontraproduktiv? An der Dis- zwanzig Planetarien und die Volkswagenstiftung kussion solcher Fragen könnte Fulldome wachsen. an der Produktion Orchideen – Wunder der Evo- Stattdessen stehen sich die Ansichten der Wissen- 128 Eduard Thomas schaftler, der Pädagogen und der Filmemacher oft GOOD COP: Mit den Blockbustern aus Hol- konträr gegenüber. Jede der Gruppen kritisiert die lywood-Budgets müssen Planetarien sich nicht anderen – manchmal scheint es unversöhnlich. vergleichen. Im Planetarium wirkt die besondere Das klassische Planetarium lebte von der päd- Atmosphäre des Raumes, die immersive Wirkung, agogischen Qualität der Vorführungen. Es wurden die individuelle Betreuung und der Inhalt. Es geht Geschichten erzählt, die berührt haben. Jetzt geht nicht um die perfekte Animation – es sind die The- es vor allem um ‹Augenpulver›. Wer genug Geld men und ihre emotionale Aufbereitung, die über- hat, schafft wohl einen Augenschmaus, oder ein zeugen müssen. Spektakel. Wenn das Budget knapp ist (und das Viele Beispiele zeigen, dass es möglich ist, mit ist es fast immer), wird mit reduzierter, ja sogar geringen Budgets ein immersives LERNerlebnis zu simpler Ästhetik gearbeitet. Manchmal fühlt man schaffen. Die Deutsche UNESCO-Kommission hat sich dreißig Jahre zurückversetzt. Damit will man die Planetariumsveranstaltung Lars der kleine Eis- junge Menschen begeistern? Die Produzenten sind bär (FH Kiel, D 2011) als Projekt der UN-Dekade natürlich vom eigenen Werk überzeugt. «Bildung für nachhaltige Entwicklung» ausgezeich- Der Kern einer erfolgreichen Veranstaltung net. Die Auszeichnung erhalten Initiativen, die das ist die Geschichte und das Vermittlungskonzept. Anliegen dieser weltweiten Bildungsoffensive der Wenn dies medial unterstützt wird, kann das Vereinten Nationen vorbildlich umsetzen Es wird Lernerlebnis sehr eindrucksvoll und nachhaltig nicht nur konsumiert, sondern berührt, Neugier werden. Ich habe genug Lehrkräfte in Fulldome- geweckt, die sich ausdrückt. Müheloses Lernen in Planetarien getroffen, die enttäuscht waren. So entspannter Atmosphäre. gefährdet das Planetarium seine Wurzeln. Man mag mit Fulldome schwer Geld verdienen Außerdem ist die Austauschbarkeit von Pro- können. Aber die freien Filmproduzenten sind oft grammen ein Mythos. In jeder Kuppel wirkt Full- Enthusiasten. Sie möchten z.B. Naturverständnis dome anders. Es hängt z.B. an der Kuppelgröße, vermitteln, etwas Positives bewirken. Das Geheim- die die Wahrnehmung der Bewegungen verändert, nis der Bäume wurde z.B. vom WWF gefördert. Was am Reflexionsgrad der Kuppel und dem Projek- ist schöner, als wenn Produzenten sich aus Über- tortyp, die den Kontrast beeinflussen. Szenen mit zeugung dem Fulldome-Medium zuwenden um Sternen müssen in etlichen Versionen produziert damit Positives zu bewirken? Bildung, Naturschutz, werden: die einen möchten ihren konventionellen kulturelles Erleben für Menschen mit und ohne Sternenprojektor einsetzen, die anderen klagen Behinderungen… Früher waren es Astronomen, die über zu kleine oder zu «fette» Sterne. Und die im Planetarium voll Begeisterung die Schönheit Echtzeitsysteme der verschiedenen Hersteller sind des Weltalls vermitteln wollten. Jetzt ist die The- schon gar nicht kompatibel. Von wegen Austausch. menpalette größer. Wie schön! Amerikanische Produkte sind oft unidirektio- BAD COP: Die Anzahl der Produzenten ist stark nal11 (Kino!), in der Blickführung ungewohnt (weil gewachsen. Damit sie sich überhaupt finanzieren für ansteigende Kinobestuhlung produziert!), können, versuchen sie ihre Filme global zu vertrei- inhaltsarm oder vom Nationalstolz gefärbt. So fand ben. Doch die kulturellen Unterschiede sind groß. z.B. Seven Wonders (USA 2010) der Fima Evans & Amerikanische Sehgewohnheiten und europäische Sutherland beim Kieler Publikum keine Akzeptanz unterscheiden sich markant. In der Konsequenz und wurde aus dem Spielplan genommen. führt es zu einem kleinsten gemeinsamen Nenner, Die Produktionsbudgets der heimischen Pla- der doch vom Prinzip her nicht überzeugen kann. netarien waren geradezu lächerlich. Selbst große GOOD COP: Eine Reaktion darauf ist, etwas Planetarien haben erhebliche Schwierigkeiten, Pro- Eigenes hinzuzufügen. Es liegt nahe, eine Veran- duktionen zu finanzieren. Schau doch mal auf die staltung über Biologie mit einem live vorgetrage- zig Millionen, die die Hollywood-Produktionen kos- nen Streifzug über den Sternenhimmel abzurunden ten. Die Besucherinnen und Besucher vergleichen und so auch die Besuchererwartungen nach ‹Ster- doch mit Kino und Fernsehen. Besser ein guter Vor- nen› zu stillen. So findet das Format von 25- oder trag unter einem brillanten Sternenhimmel, als ein 45-minütigen Produktionen mit Ergänzungen auf preiswerter Abklatsch eines Hollywoodstreifens. 60 Minuten immer mehr Akzeptanz. BAD COP: Du sprachst von der Demokratisie- 11 Sitzplatzanordnung, aus der sich eine bevorzugte Blick- rung der Produktionen. Es ist auch eine Entprofes- richtung ergibt. sionalisierung. Dramaturgie und Regie, Skript und 10 Jahre Fulldome in Deutschland 129 Bildsprache, Animationen, Sounddesign und Musik betreibt und die Fachhochschule Potsdam, die mit – dafür gibt es Experten, die im Filmgeschäft ihr dem Planetarium Potsdam kooperiert. Geld verdienen und die sich Planetarien nicht leis- Das Fraunhofer Institut für Digitale Medien- ten können. Stattdessen bewegen sich Astronomen technologie IDMT hat aus der Erforschung der Wel- ohne Ausbildung auf fremdem Terrain. lenfeldsynthese12 heraus zwei 3-D-Audiosystheme GOOD COP: Doch werden nun Medienexperten namens IOSONO und Spatial-Sound entwickelt. statt Technikern in den Kuppeln angestellt. Das Der Erschließung des 3-D-Sounds in Planetarien braucht seine Zeit – oftmals gelingt es erst mit der wird im zweiten Fulldome-Jahrzehnt eine beson- altersbedingten Neubesetzung von Stellen. dere Bedeutung zukommen. Sie wird die Synthese Hochschulen in Weimar, Offenbach, Potsdam, von bewegtem Bild mit bewegtem Ton schaffen Flensburg und Kiel bringen Studierenden das und einen weiteren Quantensprung auf dem Weg 360°-Medium nahe. Beim Fulldome-Festival in zum immersiven 360°-Erlebnis bringen. Jena zeigen sie jedes Jahr ein breites Spektrum Die Firma Carl Zeiss in Jena ist eine der drei von Arbeiten, die sich durch ihren experimentellen bedeutendsten Anbieter für Fulldome-Technologie. Ansatz hervorheben und Inspirationen zur Ent- Als international wirkendes Großunternehmen wicklung neuer Darstellungsparadigmen liefern. nimmt sie nachhaltig Einfluss auf die Entwicklung Namen wie Isabella Buczek, Ralph Heinsohn, Tim innovativer Produkte. Sie hat mit dem ADLIP-Laser- Florian Horn stammen aus der ersten Studieren- system und den VELVET-Projektoren Meilensteine den-Generation und sind inzwischen durch interna- in der Entwicklung der Projektionstechnologie tional verbreitete Produktionen bekannt. gesetzt und wirkt als Impulsgeber, z.B. durch die Das Festival in Jena ist für sich schon ein Stiftung von Awards des Fulldome-Festivals. So ist Leuchtturm des ersten Fulldome-Jahrzehnts. Micky Jena, die Wiege des Projektionsplanetariums, auch Remann, Volkmar Schorcht und Jürgen Hellwig ein Hotspot der Fulldome-Szene geworden. haben ein Festival-Format entwickelt, das jedes Im Auftrag von Zeiss entstand schon 2003 Jahr ein internationales Fachpublikum anlockt. durch LivinGlobe die Produktion R+J (D 2003) auf Workshops und ein umfangreiches Programm an der Basis von Shakespeares Romeo und Julia, der Shows, Kurzfilmen und studentischen Arbeiten erste Fulldome-Film, der maßgeblich Realaufnah- zeigen Entwicklungen und geben einen inspirie- men von Schauspielern verwendete. Später pro- renden Eindruck in innovative Strömungen. 2013 duzierte LivinGlobe ein Fulldome-Erlebnis für eine waren es rund 80 Stücke aus 17 Nationen! Badewelt in Bad Eibling. Rocco Helmchen produ- An der Fachhochschule in Kiel wurden das Zen- ziert 2013 einen Fulldome-Film für ein Spielcasino trum für Kultur- und Wissenschaftskommunikation bei Zürich. Ist es nicht beeindruckend, welche Viel- und das Institut für Immersive Medien gegründet, falt allein in Deutschland im Fulldome-Bereich in das sich neben der Lehre z.B. in Promotionsarbei- Bewegung gekommen ist? ten der Erforschung immersiver Medien widmet. Es BAD COP: Nach der Anfangseuphorie kam für führt die interdisziplinäre Konferenzreihe immer- mich bei den Studierendenprojekten die Ernüchte- sion – illusion – involvement durch und gibt das rung. Es fehlt halt ein Markt, für den es sich zu Jahrbuch immersiver Medien heraus, eine begutach- engagieren lohnt. Oft hat man eine Wiederho- tete, interdisziplinäre und internationale Fachpubli- lung von Anfänger-Versuchen. Erinnere Dich an kation. Im Jahr 2012 wurde erstmals das Festival die ersten Einreichungen für Jena – z.B. Sciafobia der räumlichen Medien KOORDINATEN veranstal- (Muthesius Kunsthochschule, D 2009). Es waren tet – initiiert von Studierenden! Es soll nun mit der beeindruckende Projekte, aber sie wurden selten Tagung im zweijährigen Rhythmus stattfinden. wieder erreicht. Sehr viel jugendlicher Enthusias- In der Berliner Region hat sich das Innova- mus, zuweilen eine brillante Idee, manchmal eine tionsforum 360°lab etabliert. Initiiert von der gute Umsetzung. Es fehlt aber über das Jahrzehnt Firma CEO ZENDOME hat sich ein Netzwerk von gesehen eine Entwicklung. Unternehmen, Institutionen und Firmen gebildet, um praxisnah Entwicklungen des 360°-Fulldome- Bereiches anzustoßen und umzusetzen. Dazu 12 Erzeugung eines dreidimensionalen Klangbildes durch gehören z.B. das Fraunhofer Institut für Rechner- Überlagerung der Töne aus einer sehr großen Zahl von Laut- architektur und Softwaretechnik FIRST in Berlin sprechern (vom Grundprinzip vergleichbar mit der optischen Adlershof, das eine 360° Experimentierkuppel Holographie). 130 Eduard Thomas Bei den ‹professionellen› Filmen ist es noch Marketingzwecke in Planetarien platziert. Das schlimmer, weil die Profis ja Vorbilder kennen (soll- Helmholtz Zentrum für Umweltforschung UFZ in ten). Immer mehr Produktionen, wenige nachhal- Magdeburg hat fünf Fulldome-Kurzfilme über Fra- tig in ihrer Wirkung. Viele schöpfen das Wesen des gen der Wassernutzung produziert, die u.a. in einer Medium nicht aus, wiederholen alte Experimente. mobilen Kuppel in Berlin eingesetzt wurden. Das Statt Immersion zu erzeugen bleibt es optisch Helmholtz-Zentrum für Meeresforschung GEOMAR im wahrsten Sinne des Wortes ‹flach›. Manchmal in Kiel installiert eine inverse Fulldomekuppel zur fragt man sich, warum überhaupt die 360°-Bühne Visualisierung von wissenschaftlichen Daten aus gewählt wurde. der Meeresforschung. Das Planetarium Hamburg Gewiss: es gibt Hochwertiges. Produktionen, betreibt einen mobilen Klima-Iglu mit Fulldome- die wirklich in neue Dimensionen führen, die ein Technologie, der an Schulen ausgeliehen wird. immersives Erlebnis erster Güte erzeugen oder tief Zwei weitere mobile Fulldome-Planetarien wan- berühren. Die sind für die meisten Planetarien dern durch den deutschsprachigen Bereich. Full- aber nicht zu bezahlen, zum Teil werden sie auch dome ist ein starkes Medium und wird zunehmend absichtlich nur an ausgewählte Häuser verkauft. bekannt und wahrgenommen. In der Geschichte des klassischen Films zogen Anfangs war fraglich, ob sich Planetarien anfangs allein schon Effekte die Menschen ins neuen Themenfeldern öffnen würden. Passt z.B. Kino. Im Fulldome gab es analoges. Diese Phase eine Veranstaltung über Charles Darwin in den ebbt ab. Nun bedarf es überzeugender Qualität. Spielplan einer Planetariumskuppel? Die Antwort Geht jetzt den Produzenten die Luft aus? Dann ist: Ja! Weltweit werden neue Inhalte für Plane- werden die Besucherzahlen dramatisch sinken. tarien produziert. Neben der Astronomie sind es GOOD COP: Schwächere Produktionen werden Produktionen aus der Biologie und den Geowis- sich nicht behaupten können, weil Sie von den Pla- senschaften, Musikproduktionen und kulturelle netarien nicht aufgeführt werden. Veranstaltungen. Diese Breite ist ein neues Allein- BAD COP: Früher hieß es, einige Kuppeln wür- stellungsmerkmal unter den Kultureinrichtungen. den den Markennamen ‹Planetarium› schädigen, BAD COP: Ein Planetarium ohne Achterbahnen weil sie trockene sphärische Astronomie13 zeigen. würde auch funktionieren. Fulldome verführt zu Bei der Fülle mittelmäßiger oder schwacher Pro- ‹Spektakel› im Konsumtempel. duktionen in der Fulldome-Szene kann man die GOOD COP: Auch die Achterbahnfahrt hat Zukunft erahnen. Schau ins deutsche Fernsehpro- Marketingwirkungen und generiert Einnahmen. gramm: viel Müll, wenig Wertiges. Wenn die Selek- In Zeiten knapper Kassen werden mögliche Ein- tion versagt, riskieren die Planetarien ihren Status sparungen im Kulturbereich immer wieder Begehr- als Kultureinrichtung. Es fehlt nur noch, dass dort lichkeiten der Finanzpolitiker wecken. Vielfalt und Lacher und Applaus eingespielt werden, wie es in Qualität, hohe Besucherzahlen und Einnahmen importierten Fernsehserien der Fall ist. sichern die Existenz. GOOD COP: Planetarien waren früher Einzel- Planetarien befinden sich mit den anderen Kul- kämpfer. Erst die Fulldome-Technik machte eine tureinrichtungen in einer Konkurrenzsituation. Das inhaltliche Zusammenarbeit möglich. Und nun Theater, die Kunst hat eingespielte Lobbygruppen. gedeiht sie nicht nur bei der Finanzierung von Pro- So gilt es, auf sich aufmerksam zu machen und Sym- duktionen. Im März 2013 hat sich ein Arbeitskreis pathisanten zu gewinnen. Die Kuppel ist eine Kultur- für pädagogische Fragen in der neu gegründeten halbkugel. Neben literarischen und musikalischen Gesellschaft Deutschsprachiger Planetarien (GDP) Projekten finde ich z.B. Ansätze vielversprechend, konstituiert. Die Firma Zeiss stiftet in diesem Jahr Dokumente der Zeit- und Kulturgeschichte in 360° erstmals einen Award für pädagogische Konzepte zu inszenieren. Sei dies die Verwendung von Abbil- in Planetarien. Das sind optimistisch stimmende dungen historischer Schinkel-Kulissen zur Auffüh- Entwicklungen! rung der Zauberflöte (Wilhelm-Foerster Sternwarte Mit der Anzahl der Aufführungsorte steigt auch Berlin) oder von Filmdokumenten der Rock-Band der Anreiz für Dritte, sich finanziell einzubringen. Queen (Planetarien München, Jena). Den Medien- Die Firma Airbus hat mit dem Film 2050 – Flug künstlerinnen und -künstlern selbst bietet Fulldome in die Zukunft (F 2011) ein Produkt für eigene eine schier grenzenlose und innovative Plattform. BAD COP: Sie müssten mit künstlerischer Qua- 13 Orientierung am Himmel in Koordinatensystemen. lität und Originalität aber auch ‹punkten› können. 10 Jahre Fulldome in Deutschland 131 Die intermediale Tanzinszenierung ich-quadrat 360°-Kurzfilm Loup Garou (Ralf Heinsohn, D (Muthesius Kunsthochschule/Bühnen der Landes- 2012) zum Gedicht von Annette von Droste-Hüls- hauptstadt Kiel/FH Kiel, D 2006) war wohl ein hoff wird dieses exemplarisch deutlich. herausragendes Projekt, aber sie war in der Full- BAD COP: Ich glaube, du greifst nach falschen dome-Szene außerhalb Kiels nicht zu platzieren. Sternen. Wollen Planetarien das denn? Dann wer- Da wenden sich die Künstler ab und lukrativeren den sie doch zum Kino. Spielstätten zu. GOOD COP: Schauen wir zehn Jahre weiter: bis GOOD COP: Künstlerisches Schaffen lebt aus dahin wird es Beispiele geben, die den Wert einer der Bereitschaft, Altes loszulassen und Neues zu solchen Dramaturgie deutlich machen werden. wagen. Alle ich-quadrat-Veranstaltungen waren Aber Du hast Recht, es wird eine klare Distanz zum ausverkauft. Das ist ein gutes Signal. Kunst lebt Kino geben müssen. Das ist aber kein grundsätzli- auch mit den Tugenden der Gelassenheit und ches Problem. Die Planetarien müssen allerdings Zuversicht. Experimente sind notwendig. Jedes wachsam sein. führt ein Stück weiter. Die Sterne bleiben die Diamanten des Planeta- Für die Produktionen Alien Action (Tilt Design riums. Die Astronomie wird stets eine wesentliche Studios, D 2007) und Orchideen – Wunder der Rolle im Spielplan haben, sei es im Themen-Kanon Evolution erhielt Ralph Heinsohn aus Hamburg oder als kurze Live-Ergänzung bei anderen Veran- sechs international renommierte Designpreise. staltungen. Pädagogische Kompetenz, eine aus- Gemeinsam mit Taucher Sound Environments pro- gewogene Mischung des astronomischen Anteils duzierte er 2012 den Kurzfilm Doors of Perception zu anderen Wissensdisziplinen, zur Musik und (Ralf Heinsohn, D 2012). Er wurde beim Jenaer zur Kunst, eine Individualisierung des Programms Fulldome-Festival für «Pioneering interplay of word- durch Live-Moderationen, durch interaktive Ele- sculptures and sound-sculptures in 360 degrees» mente und lokalspezifische Akzente, dies sind die ausgezeichnet. Tempus Ruhr (D 2010), Chaos and Bausteine, aus denen sich in Deutschland ein Leit- Order – A Mathematic Symphony (D 2012) vom bild des Planetariums der Zukunft entwickelt. Bottroper Medienkünstler Rocco Helmchen und Inhaltlich löst es sich vom engen Begriff der dem Komponisten Johannes Kraas – alles ermuti- Astronomie-Vermittlung der Vergangenheit zu dem gende, ja begeisternde Ansätze! der Vermittlung eines kosmologischen Weltbildes. Der größte Teil der Fulldome-Produkte behan- Die Kosmologie ist nicht identisch mit der Astrono- delt astronomische Inhalte in einer dem Doku- mie. Sie versteht sich als Wissenschaft, die mensch- mentarfilm verwandten Dramaturgie. Es wurden liches Streben fachübergreifend zusammenfasst vor allem computergenerierte Szenarien verwen- und Disziplinen wie Musik, Kunst, Philosophie oder det. Wenngleich der Einsatz von Schauspielern Theologie darin explizit einbezieht. in 360°-Umgebungen technisch sehr anspruchs- BAD COP: Und du glaubst wirklich, das kann voll ist, verspricht er einen Quantensprung in der gelingen? Dimension der Emotionalität. Bislang kenne ich GOOD COP: Mach die Augen auf – es geschieht keinen Fulldome-Film, der zu Tränen rührt – ein bereits seit 10 Jahren! unerschlossenes Potential. Im experimentalen 132 Eduard Thomas FulldoME Vs. 16:9 Zu den diFFerenZen in KonZePtion, gestaltung und ProduKtion eines sPielFilms in der KuPPel und im Klassischen bildFormat am beisPiel der Filmversionen von breakFast Sönke Hahn Zusammenfassung/Abstract der vorliegende artikel behandelt die differenzen in Konzeption, gestaltung und Pro- duktion zwischen spielfilmen in der Kuppel (Fulldome) und konventionellen Filmforma- ten (z.b. 16:9). ausgangspunkt des angestrebten vergleichs ist ein Feldversuch: im breakFaST-Projekt sind auf basis derselben geschichte zwei Filme realisiert worden – einmal als 16:9-version, einmal als Fulldome-variante. diese beiden Filme fungieren als beispiel, um einerseits die unterschiede zwischen den beiden medien aufzuzei- gen und andererseits, um jene herausforderungen herauszuarbeiten, die das junge Fulldome-medium seinen gestalter abverlangt. dabei folgt die arbeit im weitesten sinne dem Produktionsverlauf des beispielprojektes. es werden konzeptionelle und prozedurale beobachtungen eingebracht – etwa zum problematischen gebrauch dem klassischen Film entlehnter drehbuch-terminologie in der Kuppel. es wird dar- gestellt, wo die simultanproduktion beider Filme bzw. medien endet und die jeweili- gen ästhetischen eigenschaften dominieren: das insbesondere im Fulldome-medium sich vielschichtig überlagernde verhältnis der raumebenen wird behandelt. die durch das fulldome-typische spannungsfeld aus Zeit und raum bedingten gestalterischen Konsequenzen werden beleuchtet. diese charakteristika des Fulldome-mediums, so versucht der autor herauszustellen, erfordern eine neue geistige haltung der Full- dome-gestalter – aber auch die neupositionierung der Fulldome-rezipienten als mit- gestalter. die relevanz narrativer Fulldome-inhalte soll aufgezeigt werden – nicht nur als Übergang/als erleichterung von bekannten dispositiven zu neuen sehgewohnhei- ten, sondern auch für eine emanzipierte ästhetik des mediums: in der Kuppel könnte eine neue art der erzählens möglich werden. This article is an attempt to discribe the differences within the conception, design, and production of fulldome movies vs. conventional motion pictures. The source of this comparison is a field test: In the breakFaST project two movies were made – one a fulldome and one 16:9 movie. The same story was used to implement both mov- ies. The short films serve as an example to show not only the differences between both medias, but also to present the challenges directors have faceing the design of fulldome movies. The article abides by the traditional methodes of movie making, which were used during the exemplary project. Observations of conceptual and procedural nature are mentioned – such as the problematic handling of classic film script nomenclature in fulldome projects. It is discripted, when the simultaneous production of both movies, both medias eventually has to come to an end. When Fulldome vs. 16:9 133 their characteristic attributes start to dominate: In fulldome media there is a complex relationship between different spaces (for example between audiorium and filmic space). Serveral examples from both movies are used to explain the fulldome spe- cific stress field of time and space, and its artistic consequences. The author tries to point out, that these characteristics cause a new way of thinking – not only fulldome designers have to redefine their habit, in the dome every recipient becomes a co- designer. The author tries to carve out the relevance of narrative fulldome movies, how important they are to ease the fulldome dispositive’s requirements and how crucial they can be to develop a specific fulldome aesthetic – someday there could be a new, unseen way of storytelling within the dome. umgangssprachlich geläufigen Seitenverhältnis von 16:9 (1,78:1). Die offensichtlichste ästhetische Eigenart des noch jungen Mediums wird mit dem Schlagwort Immersion umschrieben. Vom spätlateinischen immersio bzw. dem lateinischen Verb immergere abgeleitet, meint Immersion im Bezug auf das Full- dome-Medium meist das ‹Eintauchen› und in wei- testem Sinne sogar das ‹Versinken› in Räume: Die Grenzen zwischen Bildraum – beispielsweise dem auf der Leinwand dargestellten Raum – und dem Zuschauerraum scheinen sich im Zuge des Immer- sionserlebnisses aufzulösen (vgl. Bieger 2006: 9): Die Zuschauer lassen die Sitzflächen, das sie umge- bende übrige Publikum, den gesamten Zuschauer- raum hinter sich. Beinahe – je nach subjektivem Empfinden – treten sie in die ‹andere Welt›, in die filmische Welt ein oder über. Selbstverständlich ist dies kein exklusives Phä- nomen des Fulldome-Mediums, sondern auch bereits für das klassische Kino und den klassischen Film beschrieben worden (vgl. Voss 2008). Dem- nach erliegen die Zuschauer in der Kuppel idea- lerweise2 einer Illusion, die derart zu verstehen ist, à 1 Plakat zum Film breakFaST (© Sönke Hahn) dass sie die Apparaturen der Projektion, besagten Zuschauerraum, schlicht das Medium selbst, ver- «Er [=der Film] ist vollständig um einen herum: Als schwinden lässt.3 ob man im Film ist!», rufen Fulldome-Neulinge. «Es In der Kuppel wird dieser Umstand zweifels- ist doch ganz offensichtlich!», werden Fulldome- ohne durch die hablkugelförmige Projektionsflä- Macher und Fulldome-Forschende ergänzen: Full- che begünstigt. Sie umgibt die Rezipienten 360° dome-Filme1 sind offenkundig anders als ‹gewöhn- liche› Filme im mittlerweile standardisierten und 2 Als Filmemacher ist es für den Autor stets relevant, den 1 In diesem Artikel bezieht sich der Autor vor allem auf Zuschauern ein Immersionserlebnis zu ermöglichen oder in die Kuppel projizierte bzw. dort abzuspielende, aufge- sogar eine Message zu vermitteln. Im Sinne konstruktivisti- zeichnete Bewegtbild-Formate wie etwa dem nachfolgend scher Medientheorie kann allerdings immer nur von einem vorgestellten Spielfilm. Das Fulldome-Medium als solches Versuch gesprochen werden, besagtes Ziel zu erreichen (vgl. bietet darüber hinaus auch anderen Inhalten wie in Echtzeit Weber 2003; Maletzke 1998). gerenderten Computerspielen oder ‹stillstehenden› Inhalten 3 Zur differenzierteren Behandlung der Begriffe Illusion (Fotografien) Raum. und Immersion, vgl. Franz (2009: 27). 134 Sönke Hahn in der Horizontalen und 180° in der Vertikalen. ventionell erzählte, fiktionale Formate (etwa Spiel- In großen Fulldome-Spielstätten kann das Ende filme) sind im Spektrum professioneller wie auch der Projektionsfläche je nach Konstruktionsweise studentischer Fulldome-Produktionen in der Min- während der Rezeption kaum ausgemacht werden. derheit. Mit dem Spielfilm breakFAST soll versucht Das Fulldome-Bild befreit von den Beschränkun- werden, die Validität klassischer Dramaturgie und gen und Rahmungen des klassischen Bildes: Statt Handlung in der Kuppel zu beweisen oder wenigs- eine flache Leinwand frontal fokussieren zu müs- tens anzudeuten.6 sen, werden die Rezipienten vom Fulldome-Bild Am Beispiel der beiden breakFAST-Filme bzw. umgeben. Das gigantische Bild überwältigt den aus ihnen stammender Exempel werden im Folgen- ungeübten Betrachter den identische und abweichende Schritte in Kon- zeption, Gestaltung und Produktion zwischen klas- Der Feldversuch: Eine Story, zwei Filme sischen und Fulldome-Filmen aufgezeigt. Im Sinne des Jahrbuchs immersiver Medien liegt dabei der Ausganspunkt bisheriger Untersuchungen des Fokus auf der Fulldome-Version von breakFAST Fulldome-Medium und Grundlage zur Feststellung bzw. auf der fulldome-spezifischen Verallgemeine- seiner mehr oder minder offensichtlichen Unter- rung der Erkenntnisse. Konzeptionelle und gestal- schiede zu konventionellen Bewegtbildmedien war terische Schritte innerhalb der 16:9-Version, aber der Vergleich eines klassischen Films mit einem auch jene grundlegender Art werden nicht explizit Fulldome-Film: Die unabhängig voneinander ent- oder nur komprimiert eingebracht. Lediglich der standenen Produkte ließen sich auf Grund ihrer Exkurs zur Handlung der hier behandelten Filme differenten Handlungen oder Macharten nur ein- bricht mit diesem Vorsatz. Die kurze Synopsis dient geschränkt nebeneinanderstellen. dem umfassenden, inhaltlichen Verständnis der Ein zentrales Anliegen des breakFAST-Projektes nachfolgend beschriebenen Beispiele. ist es, durch die Produktion sowohl eines klassi- Während der Produktion gemachte Beob- schen Films als auch eines Fulldome-Films aus- achtungen werden ebenso eingebracht wie im gehend von derselben Grundidee und derselben Anschluss an die Fertigstellung beider Filme Handlung eine bessere Vergleichbarkeit beider gewonnene Erkenntnisse. In einem Fazit soll die Medien zu ermöglichen.4 Arbeit am breakFAST-Projekt reflektiert, denkbare Nicht minder zur Entscheidung der Simultan- Handlungs- und Gestaltungsalternativen benannt produktion zweier im Medium differenter Filmver- sowie methodische und narrative Perspektiven auf- sionen hat aber auch die Aussicht beigetragen, so gezeigt werden. eine möglichst vielfältige Verwertbarkeit der fina- len Ergebnisse zu erreichen.5 Traditionelles Geschichtenerzählen, wie es uns aus Filmen und Fernsehen, aus Büchern, Legenden und Sagen als sogenannte «geschlossene Form» und/oder «Drei-Akt-Struktur» (Kaiser/Stutterheim 2009) vertraut ist, hat seinen Platz in der Kuppel 6 Im Film/in den Filmen wurde daher die mutmaßlich an- tike Heldenreisen als dramaturgisches Grundgerüst genutzt nur am Rande, vor allem in Form wissenschaftli- (vgl. dazu Abschnitt «Das dramaturgische Konzept»). Aus cher oder astronomischer Formate gefunden. Kon- den traditionell-konventionellen Ambitionen des Gesamtpro- jekts resultierte auch die Wahl des beiden Filmen zugrunde liegenden Genres: Der Film Noir ist per definitionem von 4 breakFAST (D 2011/12): Paul Müller-Hahl (Regie-/ einem klassischen Konflikt zwischen Heros und Antagonist Kameraassistenz), Vage Varagyan (Musik), Emir Ersahin bestimmt (vgl. Stiglegger 2002: 195). Zur genaueren Defi- (Darsteller «Held»), Cornelia Dolling (Darstellerin «Femme nition: Der Film Noir entspräche eher einem Sub-Genre. Der Fatale»), Andreas Trapper (Darsteller «Antagonist»), Sönke Präfix sub, so Stiglegger, zeige, dass der Film Noir «ein zu- Hahn (Drehbuch, Kamera, Schnitt, Regie). nächst stilistisches Phänomen» sei (2002: 195). Auf Grund 5 breakFAST ist ein studentisches Projekt (ein Freies Seme- der begrenzten Laufzeit des Kurzfilms und dem räumlichen sterprojekt im SS 2011 an der Bauhaus-Universität Weimar, Erlebnispotential des Fulldome-Mediums wurde sich weiterer Betreuung: Micky Remann) ohne kommerzielle Interessen. Genre-Elemente bedient: Um eine Actionfilm-Note ergänzt, Dennoch sollte die Produktion sowohl eines klassischen soll der Film insbesondere in der Kuppel ein räumlich-dyna- wie auch eines Fulldome-Films zum Ziel haben, den Film bei mische Wirkung entfalten. Die humorige Note zum Ende möglichst vielen Festivals (eben auch bei jenen für klassische beider Filme sollte eine mehrdimensionale Ansprache des Filmformate) einbringen zu können. Publikums in kurzer Zeit ermöglichen. Fulldome vs. 16:9 135 Am Anfang des Weges: Bekanntes nutzen Der Held folgt diesem letzten Kunden, pirscht sich an ihn heran und entreißt ihm die Tüte. Ver- In Ermangelung fulldome-spezifischer Konzeptions- folgt vom ursprünglichen Besitzer der Backware verfahren orientierte sich der Produktionsprozess besteigt der Protagonist ein Fahrrad. Sein Widersa- beider breakFAST-Filme an standardisierten und cher folgt ihm – ebenfalls per Fahrrad. Eine Verfol- bekannten Arbeitsweisen klassischer Filmprodukti- gungsjagd durch Häuserschluchten und vorbei an onen. Entsprechend sollten Spannungsbogen und anderen Verkehrsteilnehmern entbrennt. Doch der Handlung in ein Drehbuch umgesetzt werden (z.B. Bestohlene gibt sich nicht geschlagen und kann nach Field 2000). Dieses wiederum galt es, unter dem Helden die Brötchen wieder entwenden. Die Berücksichtigung des visuellen Konzeptes in die Hauptfigur versucht nochmals an die Brötchen Form eines Storyboards zu adaptieren. Bereits früh- heranzukommen, seine wilden Fahrmanöver mün- zeitig und insbesondere in Bezug auf die Fulldome- den aber nur darin, dass er eine scharfe Kurve und Version von breakFAST erwies sich diese dem Kino- den Abgrund hinter dieser zu spät bemerkt. Der film oder Fernsehen entlehnte Methodik als nur Held stürzt, rollt einen Abhang herunter und muss eingeschränkt funktional. Als Erfahrungsbericht zusehen, wie die Femme Fatale und der glückliche folgt diese Arbeit aber zunächst diesem Produkti- Besitzer der Backware gemeinsam den Unfallort onsablauf und beginnt mit der Synopsis jener Story, verlassen. Dem Heros bleibt nur – alleine in seiner die beiden Filmen als Ausgangspukt diente. Küche, ohne Brötchen – zu resümieren: «In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot!» Die Story – ein Exkurs Der Titel des Films, breakFAST, ist somit als Wortspiel zu verstehen – den Protagonisten geht Die breakFAST-Filme gehören dem Genre des Film es um die Brötchen fürs Frühstück (breakfast), aber Noir an. Sie wurden sowohl für eine Kuppelpro- der Held des Films wäre auch gut beraten, im Ver- jektion als auch das klassische, kadrierte Filmbild lauf der Filmhandlung schnell zu bremsen (break entwickelt. Der Film – in seinen jeweiligen Konfi- fast), seine Aktion zu überdenken. gurationen – ist in der Gegenwart angesiedelt. Im Zentrum des Films steht eine tragische Heldenfigur. Der Zuschauer begegnet ihr, als sie sich in keiner Das dramaturgische Konzept: guten Verfassung befindet. Deutlich sind Blessu- Traditionelles Erzählen in der Kuppel ren in ihrem Gesicht zu erkennen. Der Held erzählt Das dem Projekt zugrunde liegende Genre – der den Zuschauern in einer Rückblende, was zu die- Film Noir – prägt die dramaturgische Gestaltung sen Verletzungen führte: Am gleichen Tag, einige beider Filmversionen. Charakteristische Elemente Stunden zuvor, wird der Held aus dem Schlaf geris- des Genres kommen zur Anwendung: ein desillu- sen – von einer schönen Femme Fatale. Sie ist als sionierter Held, die ihm mindestens ebenbürtige einzige Protagonistin farbig visualisiert, während Femme Fatale und ein Antagonist.7 alle übrigen Darsteller und die Räumlichkeiten Das für beide Filmversionen vorgesehene dra- in schwarz-weiß gehalten sind. Die Femme Fatale maturgische Modell, die sogenannte Heldenreise, lädt den Helden des Films telefonisch zum Früh- basiert auf zwölf, über drei Akte verteilten Etappen, stück ein – er soll Brötchen mitbringen, wenn er die den Auszug eines Helden in ein Abenteuer und bei ihr erscheinen möchte. Doch ihm bleibt wenig seine Rückkehr aus diesem strukturieren.8 Dabei Zeit – in weniger als fünf Minuten soll er samt Bröt- chen bei ihr ankommen. Der Held macht sich auf 7 Mit einer Rückblende, eingeleitet durch die Gedanken den Weg, verlässt sein Wohnhaus. Auf der ande- des Protagonisten aus dem Off, beginnt die eigentliche ren Straßenseite befindet sich ein Bäcker. Doch in Handlung. Voice-Over und Rückblenden sind typisch-stilisti- diesem wird gerade ein «Ausverkauft-Schild» in die sche Elemente des Genres (vgl. Stiglegger 2002: 197). Der Auslage gelegt. Der Protagonist glaubt, zu spät Held führt den Zuschauer auf diesem Wege nicht nur in die gekommen zu sein, als er bemerkt, wie der letzte eigentliche Geschichte ein, sondern löst ihn am Ende ent- Kunde mit einer prallen Brötchentüte das Geschäft sprechend einer klassischen Klammerkonstruktion auch aus dieser wieder heraus. verlässt. Die Brötchentüte ist neben der Femme 8 Joseph Campbells Arbeit zum Monomythos bzw. Camp- Fatale ein weiteres farbiges Element im Film. Dem bells Heros in tausend Gestalten (1952) dienten als Vorlage roten Kleid der Femme Fatale entsprechend ist für Christopher Voglers Konzept der Heldenreise (1997). Bei- auch die Brötchentüte rot gehalten. de Entwürfe weichen in der Etappenbeschreibung und Struk- 136 Sönke Hahn beruft sich das Konzept der Heldenreise wie auch direkt in der Kuppel nutzen. Derartige Formulierung das der drei Akte auf eine mehr als 2000jährige führen spätestens im Übergang vom Drehbuch zum Tradition, gar auf die Ursprünge der Menschheit Fulldome-Storyboard zu bisweilen problematischen selbst.9 Fragen: Was geschieht beispielsweise mit jenem Pro- Das Konzept der Heldenreise ist für die break- tagonist, der, am Ende seiner Textzeile angelangt, FAST-Kurzfilme adaptiert worden: Im ersten Akt für die Handlung ‹irrelevant› wird? Was macht er wird der Held etabliert. Nach dem Überschreiten nun? Wie kann der die Szene verlassen? der Schwelle – dem Diebstahl der Brötchen vor der Wenngleich die Fulldome-Version von break- Bäckerei – in der anderen Welt/im zweiten Akt FAST ohne größere Schwierigkeiten aus einem klas- angekommen, wird der Heros mit seinem beharr- sischen Drehbuch heraus zur Produktion geführt lichen Gegner konfrontiert. Doch am Höhepunkt werden konnte, sollten diese hier als ‹Hintergrund- des Films, am Ende der Verfolgungsjagd schei- handlungen› deklarierten Vorgänge bei künftigen tert unser Held und kehrt ohne Brötchen in die Produktionen im Vorfeld bedacht werden. Diesem ‹gewöhnliche Welt› zurück. Aspekt wird sich auch das Fazit erneut widmen. Die Story und ihre dramaturgische Struktur sind sowohl in der Fulldome- als auch 16:9-Variante von Das visuelle Konzept breakFAST genutzt worden. In der Arbeit am Span- nungsbogen unterscheiden sich beider Filme nicht. Auf visueller Ebene orientiert sich breakFAST im Klassische Dramaturgie scheint sich nicht nur auf weitesten Sinne an den stilistischen Vorgaben Bücher, Film und Fernsehen, sondern durchaus des Film Noir (vgl. Stiglegger 2002: 195): Urbane auch in den Bildraum/auf die Projektionsfläche Settings – dunkel, kontrastreich in ihrer Ausleuch- des Fulldome-Mediums übertragen zu lassen. tung, überspitzt in ihrer melancholischen Anmu- tung – prägen beide Filme. Monoton und expressiv Zwischen Dramaturgie und Drehbuch: zugleich sind die endlosen Häuserschluchten, in Der gemeinsame Weg wird holprig denen sich Held und Antagonist ihre Verfolgung liefern. Dieses ausschließlich schwarz-weiß gehal- In der Retroperspektive markiert der Transfer von tene Setting schafft eine pessimistische Film- Handlung und Dramaturgie in ein für klassische Noir-Welt. Der ‹schmutzige› Duktus, der für alle Filme typisches Drehbuch den Zeitpunkt erster Hintergründe genutzten Bleistift- und Graphit- Diskrepanzen zwischen beiden Film-Medien: In der Zeichnungen, verstärkt diese Atmosphäre. Real- Anfertigung eines klassischen Drehbuches für einen Footage der Protagonisten ergänzt die gezeichnete klassischen Film wird entsprechend des begrenzten Welt.10 Bis auf die Femme Fatale werden allerdings Bildes/Bildraums ein ebenso begrenztes Bühnen- auch alle Darsteller monochrom abgebildet: Das bild vorausgesetzt. Typische, der Theatertradition rote Kleid der Femme Fatale, aber auch die rote des Drehbuches entlehnte Formulierungen wie Brötchentüte, führen nicht nur den Blick der Rezi- «Geht ab» oder «XY verlässt Bild» lassen sich nicht pienten. Die Kontrastfarbe ist auch aufgrund ihrer farbsymbolischen Bedeutung gewählt worden.11 tur teilweise voneinander ab – hier wird sich auf das Konzept Auf Ebene des visuellen Konzeptes gilt es zudem, Voglers bezogen. die Bildsprache des Films/der Filme zu definieren. 9 Nicht nur die bis zu Aristoteles zurückführende Tradition Im Falle der breakFAST-Filme sollte die Dynamik des Dreiakters spielt eine Rolle für den geradezu dogma- der Handlung, insbesondere der Verfolgungsjagd, tisch-euphorischen Umgang mit dem Regelwerk (vgl. Stutter- visualisiert, dem Action-Akzent Ausdruck verlie- heim & Kaiser 2009: 37). In den mythisch-archetypischen Ur- sprüngen sehen die Verfechter das eigentliche Potential der Heldenreise. So erzählte Geschichten könnten – das ist die 10 Die durch das Blue-Box-Verfahren gefilmten und in die Idee des Konzeptes – Zuschauer über alle Milieus hinweg, gezeichnete Welt integrierten Darsteller bilden einen über- überall auf der Welt, den verbogen Archetypen sei Dank, er- deutlichen Film-Noir-Look aus, der nicht nur drastisch anmu- reichen und in ihren Bann ziehen. Die Reise des Helden sei ten, sondern auch in Hinblick auf die Pointe am Ende der nämlich auch ein Spiegelbild des menschlichen Lebens oder Filme karikierender Natur sein soll. zumindest Projektionsfläche menschlicher Bedürfnisse. Trotz 11 Das rote Kleid der Femme Fatale deutet nicht nur ihr ver- vielfältiger Kritik ist die Funktionsfähigkeit des Konzeptes führerisches Potential an. Rot ist auch die Signalfarbe für das nicht grundsätzlich auszuschließen (vgl. zur ‹Kraft› des My- fatale Schicksal, das von der Femme Fatale ausgeht: «Rot: thos: Hahn 2009; Röll 1998; zum Konzept der Archetypen: Nicht nur Liebe – Auch der Haß» (Heller 2005: 51). Folglich Jung 2006; Schmidbauer 1970). sind auch alle von ihr begehrten Güter rot gekennzeichnet. Fulldome vs. 16:9 137 hen werden, gleichsam in ruhigen Szenen, der ziert werden (vgl. Rohmer 2001: 6f.; Rohmer 1980: Stimmung des Film-Noir-Genres entsprechend, das 10). Diese ist in diesem Film zwar vorfilmisch nicht melancholische Setting, die resignierte Heldenfigur existent, aber in der Handhabung ist sie einer tat- etabliert werden. Ruhige Sequenzen mit niedriger sächlich Location ähnlich: Die Küche als (virtuel- Schnittfrequenz und ohne größere Kamerabewe- ler) Drehort. gung sollten sich daher mit dynamischen und hek- Der filmische Raum wird nun aus einzelnen Ein- tischen Sequenzen mit schneller Schnittfolge und stellungen und den in ihnen enthaltenen Bildräu- starker Kamerabewegung abwechseln.12 men zusammengesetzt (vgl. Borstnar/Pabst/Wulff 2008: 122): Einstellung für Einstellung entsteht in Auf getrennten Wegen: der 16:9-Verison von breakFAST die Küche. Durch Die szenische Umsetzung beginnt weitere Szenen wird die Film-Noir-Welt etabliert, die, so könnte man vermuten, mindestens eine Die Produktionswege der beiden Medien trennen ganze Stadt ausmacht. sich spätestens bei der Übertragung des Drehbuchs Der Zuschauerraum ist jener Bereich, in dem wir und des visuellen Konzeptes ins Storyboard. Die im uns während der Rezeption eines Films befinden visuellen Konzept meist grob fixierten Richtlinien (vgl. Borstnar/Pabst/Wulff 2008: 93): Im abgedun- müssen nun in konkrete Umsetzungen übergehen kelten Kinosaal vor einer Leinwand, vor dem Fern- oder ihnen weichen. Schnell zeigt sich: Das Story- seher im Wohnzimmer oder im Falle des Fulldome- board eines 16:9-Films kann nicht die Grundlage Mediums in einer Halbkugel. Im Kino und vor dem einer Fulldome-Produktion sein. Hier stößt man Fernseher lassen sich Zuschauerraum und filmischer unweigerlich an die ästhetische Grenze, die zwi- Raum als jeweils integrale Räume deutlich vonein- schen beiden Medien besteht. Szenenspezifisch ander differenzieren (vgl. Khouloki 2010: 19). müssen die Handlung, die Dramaturgie und die Schon in der Frage des Bildraums unterschei- angestrebte Visualisierung auf die ästhetischen den sich beide Medien grundsätzlich: Das recht- Eigenarten des jeweiligen Mediums übertragen wer- eckige, flach projizierte Filmbild zeigt nur einen den. Der Bildraum des Fulldome-Mediums ist dabei Ausschnitt des architektonischen Raums. Der Bild- ein besonderes Charakteristikum, welches den Pro- raum der 16:9-Version ist sowohl in horizontaler duzenten von Fulldome-Spielfilmen gegenüber dem als auch vertikaler Ausdehnung wesentlich ‹klei- klassischen Film eine neue Denkart abverlangt. ner› als im Fulldome-Film. Die durch das klassische Filmbild erreichte Tiefenwirkung ließe sich mit der Vier Räume Metapher eines Fensters gleichsetzten (vgl. Borst- nar/Pabst/Wulff 2008: 120): Kino-Leinwand oder Bevor eine konkrete szenische Umsetzung eines Bildschirm fungieren als Fenster, durch das die Fulldome-Films erfolgen kann, müssen mehrere Rezipienten in einen anderen Raum (bzw. einen Ebenen des Raums unterschieden werden. Der Ausschnitt eines anderen Raums) oder eine andere Bildraum ist jener tatsächlich im Bild zu sehende Welt (bzw. einen Ausschnitt einer anderen Welt) Raum (vgl. Kamp 2005: 47). Bedingt durch das sehen können. Stereoskopisches 3D kann diesen limitierte Sichtfeld der Kamera und das begrenzte Raumeindruck sowohl in Richtung des Zuschauer- Bildformat wird im klassischen Film-Bild nur ein raums als auch innerhalb des dargestellten Bildes Ausschnitt des sogenannten Architekturraums dar- erweitern, möglicherweise das Immersionspoten- gestellt: Der Held sitzt am Küchentisch, wir sehen tial des flach projizierten Leinwandbildes verstär- im Hintergrund Tür und Kühlschrank. ken (vgl. Jockenhövel 2010: 122). Aber erst durch Der Begriff Architekturraum beschreibt jene Kamerabewegung und Einstellungswechsel bzw. vorfilmische Realität, in der die Dreharbeiten statt- durch deren Montage kann der Raum erfasst wer- finden bzw. den Raum, in welchem Kulissen plat- den. Das 360° x 180° Panorama im Dome etab- liert hingegen ad hoc den gesamten darzustellen- den Raum, es bildet den gesamten Raum ab.13 12 Die Kameraführung beider Filme ist in jedem Fall stati- scher Natur: «Statisch» meint hier eine Kameraführung, die auf Stativ oder im Falle von Fahrten auf Stabilisierungssyste- 13 Es ließe sich sicherlich einwenden, dass durch entspre- me (Kran, Schienen) zurückgreift. Im Gegensatz zu diesem chende Objektive auch im 16:9-Film nahezu der gesamte Begriff könnten Bezeichnungen wie «Handkamera» oder Raum der jeweiligen Szene abzubilden ist. Dies würde aber «Doku-Look» genannt werden. die Wirkung/den Gesamteindruck jener Szenen deutlich 138 Sönke Hahn à 2 Küchenszene: Vergleich Fulldome und 16:9 (Quelle: breakFaST)14 Im Bildraum des Fulldome-Mediums wird die Der Filmraum wird in der Kuppel mutmaßlich Küche – der Architekturraum des hier genutzten deckungsgleich mit Bild- und Architekturraum Beispiels – scheinbar vollständig erfasst. Tatsäch- abgebildet. Der Filmraum erschöpft sich jedoch lich ist der Blick unter den Tisch und in den Kühl- auch in der Fulldome-Version von breakFAST nicht schrank, wie er wohl ‹vor Ort› möglich wäre, aller- an den Küchenwänden, sondern ist als durch die dings ausgeschlossen. Rezipienten erdachtes Konzept auch in der Kuppel nicht vollständig erfassbar (vgl. Borstnar/Pabst/ verschieben: In der ersten Küchenszene beispielswiese sollen Wulff 2008: 122). die Zuschauer dem Helden sowohl in der 16:9- als auch in Allerdings stehen die Zuschauer in der Kuppel der Fulldome-Version in nüchterner Weise begegnen – ihm weder einem Fenster noch dem Bild gegenüber: auf Augenhöhe gegenübersitzen, sodass sein gezeichnetes Gesicht Wirkung entfalten kann. Der Einsatz eines Fisheye- Objektives hätte die beabsichtigte Intention dieser Szene ins 14 Der QR-Code führt auf die URL des Videobeispiels: Kafkaeske verschoben. http://vimeo.com/60181545/ [30.07.2013]. Fulldome vs. 16:9 139 Entsprechend der vom Fulldome-Filmemacher zum klassischen Film zu einer Steigerung des Pro- bestimmten Positionen des (realen oder virtuellen) duktionsaufwandes. Tom Kwasnitschka hat bereits Kamera-Rigs am Set/im Architekturraum finden ausführlich die Herausforderung der Fulldome-Pro- sich die Zuschauer innerhalb eines dreidimensi- duktion (u.a. auch in Real-Footage) herausgearbei- onalen Raums wieder, der das Publikum zu allen tet (vgl. 2009: 69). Seiten umgibt, den Zuschauerraum einnimmt. Die Der ausschnitthafte Bildraum der 16:9-Version Differenzierbarkeit des Filmraums vom Zuschauer- lässt sich weit einfacher gestalten. Eine linearpers- raum wird im Fulldome-Medium bzw. der Kuppel pektivisch-korrekte Tiefenwirkung kann im virtuel- stark reduziert. Der Filmraum ist als «räumliche len Raum schon durch die Staffelung zweidimensi- Komponente der Diegese» zu verstehen (Borstnar/ onaler Layer erreicht werden. Bei Dreharbeiten in Pabst/Wulff 2008: 122). Diegese ist ein Rezepti- Real-Footage können die für den Film passenden onsphänomen, die diegetische Welt ein «Konstrukt Ausschnitte des Architekturraums gewählt werden. des Zuschauers [...], das sich aus den unterschied- Durch die Montage einzelner, vielleicht sogar an lichsten cues ergibt» (Boehnke 2007: 96). verschiedenen Locations produzierter Bildräume Schon Zuschauerraum, Bildraum, filmischer und entstehen im klassischen Film unkompliziert jene architektonischer Raum gehen in der Kuppel ein vom Regisseur gewünschten Räume. immersives Wechselverhältnis ein, dem sich nur Doch auch in der Kuppel wird der Fulldome- schwer entzogen werden kann. Ein potentiell ent- Gestalter mit einer Form der Ausschnitthaftigkeit stehende diegetische Welt offeriert weitere immer- konfrontiert.16 Ob virtuelle oder reale linearperspek- sive Potentiale:15 Voss beschreibt dieses Phänomen tivische Räume den Dreharbeiten als Set dienen, als «merkwürdige Kraft, mit der insbesondere die konsequente Umsetzung des genannten Zusam- erzählerisch angelegte Filme darauf zielen und es menspiels der Raumebenen wirkt im Endprodukt im gelingenden Fall auch vermögen, uns in ihre Die- bisweilen befremdlich: Der hemisphärischen Projek- gese zu verstricken, und d. h. ja, uns immersiv in die tionsfläche gemäß den Architekturraum durch ein filmische Darstellung hineinzuziehen» (2008: 4). Fisheye oder Kamera-Rig ‹nur› 180° in der Vertika- len zu erfassen, lässt das Ergebnis in der Kuppel teil- Viel Raum: Was nun? weise wie eine permanente Untersicht erscheinen. Als ursächlich kann dabei das Fehlen des Horizon- Aus der Gegenüberstellung der für das Fulldome- tes betrachtet werde. Die Neigung des Rigs zu einer Medium typischen Raumeigenschaften mit den Seite der Kuppel und der damit einhergehende räumlichen Charakteristika des klassischen Films Einzug von Horizont und Boden ermöglicht die ergeben sich zunächst ökonomische Differenzen teilweise Kompensation dieses untersichtigen Ein- zwischen den Medien: Um in der Umsetzung der drucks. Gleichzeitig schafft dieses Vorgehen neue Bildsprache größtmögliche gestalterische Freihei- Herausforderungen – insbesondere bei jenen Hand- ten zu erhalten, um nicht jede Szene ausschließ- lungen, die die gesamte Kuppel einbeziehen. Sinn- lich unter dem Kriterium der «Machbarkeit» aus- voll ist es daher durchaus, in der Produktion mehr arbeiten zu müssen, ist für Fulldome-Vorhaben als 180° in der Vertikalen abzubilden, sodass Hori- naturalistischer, linearperspektivischer Fasson ide- zont und Boden zwar vermeintlich unkorrekt, aber alerweise eine dreidimensionale Welt zu kreieren. eher dem natürlichen Sehen entsprechend um die Oder im Falle eines auf Real-Footage basierenden Rezipienten herum sichtbar werden. In breakFAST Vorhabens muss eine mindestens 360° x 180° wird das virtuelle Set partiell mit mehr als 200° in filmbare Location gefunden und genutzt werden. seiner vertikalen Ausdehnung erfasst. Die Produktion virtueller Räume führen wie die Fulldome-Dreharbeit in realen Räumen in Relation 16 Hier ist auf den Diskurs Kracauers zu verwiesen (vgl. Kracauer 1964: 45): Mit dem Aufkommen des klassischen 15 Im Rahmen dieses Artikels kann und soll nicht weiter Films, vornehmlich des dokumentarischen Films, glaubt er, auf die vielfältigen und differenten Definitionsversuche der ein Medium ohne verzerrendes, manipulierendes Potential Begriff Diegese und auch Immersion eingegangen werden. vor sich zu haben: ein Medium, das die Realität und nicht In den hier gewählten Quellen überschneiden sich beide Be- «bloß» eine Wirklichkeit abbilde. Trotz der räumlichen Abbil- griffe. Zum Begriffsdiskurs vgl. Montage AV, 16, Themenheft dungskraft des Fulldome-Bildes lässt sich diese Hoffnung, in «Diegese» (2007) oder Montage AV, 17, Themenheft «Immer- Anbetracht der durch die jeweiligen Gestalter subjektiv be- sion» (2008) bzw. zum architektonisch-räumlichen Verständ- stimmten Positionen des Kamera-Rigs etc., auch mit diesem nis von Immersion (vgl. Bieger 2007). neuen Medium nicht erfüllen. 140 Sönke Hahn Á 3 Vergleich der vertikalen Abbildungswinkel (Quelle: breakFaST) Im klassischen Film kann die Intention eines Dialogs den. Einstellungsgrößen können im Fulldome- neben der Kadrierung auch durch Kameraperspek- Medium höchstens als dem Objekt oder Subjekt tiven bestimmt werden. Die das Gespräch dominie- ‹closer› beschrieben oder beides ‹totaler› abbildend rende Figur wird beispielsweise radikal untersichtig bezeichnet werden. visualisiert, ihr eingeschüchtertes Gegenüber wird Welche Konsequenzen sich aus dem starken klein und verzerrend in einer Aufsicht eingefangen. Raumbezug des Fulldome-Mediums für die szeni- In Fulldome-Filmen einen Dialog zwischen zwei Pro- sche Umsetzung noch ergeben, soll nun gezeigt tagonisten, die sich auf gegenüberliegenden Sei- werden. ten des Raums befinden (also auch entsprechend gegenüberliegend in die Kuppel projiziert werden), Im Spannungsfeld aus Raum und Zeit in beschriebener Weise zu gestalten, bedarf einer anderen Herangehensweise. Zunächst bedingt die Jeder klassische Filmemacher wird wohl behaup- Neigung des Kamera-Rigs zu einer Seite der Kuppel ten, dass Raum und Zeit maßgebliche Faktoren stets eine diametrale Neigung auf der gegenüberlie- der Filmgestaltung und Filmästhetik sind. Doch genden Seite des Domes. Befinden sich beide Prota- die vom klassischen Film bekannten ästhetischen gonisten im Raum auf gleicher Höhe, dem gleichen Eigenschaften von Raum (wie vorhergehend horizontalen Bodenniveau, so würde auf die Unter- beschrieben) und Zeit18 lassen sich nicht in die Kup- sicht des einen Dialogpartners möglicherweise die pel übertragen. Das Fulldome-Medium bildet eine aufsichtige Abbildung der Füße des Gegenübers fol- eigene Ästhetik von Raum und Zeit aus, die ein gen. In diesem Fall scheint ein austariertes Kamera- Rig zur gleichzeitigen Abbildung der Protagonisten zunächst die einzige Lösung. Einen alternativen Aufsicht auf der einen Seite der Kuppel hat nicht nur ge- Ansatz, die Akteure im Dialog ohne Schnitt ähnlich genüberliegend eine Untersicht zur Folge. Tatsächlich bilden die dazwischen liegenden Areale im Zuge dieser Neigung intentional abzubilden, böte der verstärkte Einbe- ein Gefälle zwischen den beiden ‹Kameraperspektiven› aus. zug des Raums, dessen Gestaltung und szenischer Dieses Faktum müsste in entsprechenden Szenarien weiter Umsetzung: Steht die dominante Figur vielleicht an Berücksichtigung finden – etwa, wenn sich links und rechts einer höheren Stelle des Raums? Oder nähert sich der Neigungsachse weitere Dialogteilnehmer etc. befinden. der im Dialog überlegene Part dem Kamera-Rig und 18 Typische, vom klassischen Film abgeleitete Zeitebenen wird damit größer, während sich sein Gegenüber ein- (vgl. Bordwell 1985: 80f.) sind: 1. Die Vermutung des Zu- geschüchtert immer weiter von der Kamera entfernt? schauers zur Zeit und Dauer der gezeigten Handlung («fabu- la time») – breakFAST: vermutlich ein Tag. 2. dramaturgische In der Arbeit am Fulldome-Filmen stößt nicht Eingriffe in die Zeit («syuzhet time») – breakFAST: Nur ein nur die dem klassischen Film entlehnte Definition paar Minuten morgens, einige Minuten abends werden aus von Kameraperspektiven, sondern die gesamte der fabula time tatsächlich gezeigt und besonders betont. 3. bekannte Terminologie zur verbalen Beschreibung Projektionszeit: breakFAST läuft ca. fünf Minuten. 4. Auf die des Bildes an ihre Grenzen. Kameraperspektiven Bindungspotentiale narrativer, insbesondere serieller Inhalte müssen mindestens17 bezogen, wird vom Autor dieser Arbeit ergänzt: Narration als diametral verstanden wer- Instrument der langfristigen Medien- und sogar Kundenbin- dung (vgl. Eschke/Bohne 2010). Gefällt das Erlebnis, wird 17 Das Beispiel zur Neigung des Kamera-Rigs behandelt das Medium, sein Produkt/werden Nachfolger des Produk- nur zwei gegenüberliegende Seiten der Kuppel. Doch eine tes oder ähnliche Produkte vielleicht nochmals genutzt. Fulldome vs. 16:9 141 à 4 Vor der Bäckerei: Vergleich Suspense (Quelle: breakFaST)19 142 Sönke Hahn à 5 Verfolgungsjagd: Schnittfrequenz (Quelle: breakFaST)19 neues, zumindest verstärktes Spannungsfeld bei- den nächsten Handlungsschritt antizipieren: Der der Faktoren entstehen lassen. Anhand zweier Bei- Diebstahl kündigt sich an. Das Publikum hat einen spiele soll dieses Spannungsfeld erläutert werden. für das Suspense-Erleben (vgl. Truffaut 1993: 55ff.) Während der Protagonist vor der Bäckerei typischen Informationsvorsprung gegenüber dem ernüchtert realisiert, dass alle Brötchen verkauft Eigentümer der Brötchen. sind, erblickt er den letzten Kunden, den Antago- Die 16:9-Variante baut dies Suspense durch nisten des Films, und insbesondere dessen prall Schnitte und Einstellungen auf. Wir sehen den Hel- gefüllt Brötchentüte. Der Held beginnt – vom Ant- den und seinen Antagonisten erst getrennt – all- agonisten noch unbemerkt – dem Brötchenbesitzer mählich wird durch Fahrten immer mehr die Distanz zu verfolgen. Die Zuschauer sollen um die Absich- zwischen beiden abgebaut, der Architekturraum ten des Helden wissen, sie können idealerweise dieser Szene bzw. der Filmraum werden aufgezeigt. 19 Der QR-Code führt auf die URL des Videobeispiels: 20 Der QR-Code führt auf die URL des Videobeispiels: http://vimeo.com/60466706 [30.07.2013]. http://vimeo.com/60466707 [30.07.2013]. Fulldome vs. 16:9 143 Durch die Einstellungsgröße ‹Nah› wird immer deut- zum Orientierungsverlust des Rezipienten bzw. zur licher das Objekt der Begierde (Brötchen) betont: Störung/zum Ende des Immersionserlebens führen. Ein Objekt, das der Zuschauer im Fulldome-Medium selbstständig im Auge behalten muss und das Zwischen den Stühlen: durch den dargestellten 360°-Bildraum stets prä- Point/Area of Interest sent ist. In der Kuppel wird daher lediglich eine leichte Kamera-Rotation auf der Y-Achse zum Point Die weit größere Projektionsfläche in der Kuppel of Interest (dazu unten mehr) eingesetzt. Bewusst und das Wissen um das eingeschränkte Sichtfeld soll und kann die Szene ohne weitere Schnitte und des Menschen sowie die dadurch bedingte verlän- Einstellungen auskommen. Der Zuschauer – quasi gerte Rezeptionszeit führte in einer frühen Phase im filmischen Raum positioniert – muss weitestge- der Konzeption beider Filme (im April 2011) zur hend selbstständig das Geschehen verfolgen. Annahme, die Fulldome-Variante des Films werde Die 16:9-Version der Verfolgungsjagd weist im weit länger als ihr 16:9-Gegenstück sein. Scheinbar Verhältnis zur Fulldome-Version eine hohe Schnitt- die Annahme bestätigend lässt die höhere Fre- frequenz auf. Verschiedene Kameraperspektiven quenz der Schnitte und Einstellungen die 16:9-Ver- und Bewegungen sowie variierende Einstellungs- sion auf dem Monitor subjektiv schneller als das größen heben die Handlungsdetails hervor. Der kreisförmige, unprojizierte Fulldome-Bild erschei- Rückdiebstahl der Brötchentüte durch den Anta- nen. Tatsächlich sind beide Filmversionen aber in gonisten wird beispielsweise in Groß- und Detail- ihrer Länge nahezu identisch. aufnahmen aufgelöst. Doch taugt diese Feststellung aus Sicht des Die Verfolgungsjagd wird im Fulldome von Autors nur wenig zur Verallgemeinerung: Die keinem Schnitt unterbrochen. Die Straßenschlucht Faustregel, derzufolge jene Fulldome-Szenen, sowie die beiden Protagonisten werden in einem deren relevante Handlungsdetails sich über die einzigen, nahtlosen Bewegtbild eingefangen. Die- gesamte Kuppel verteilen, im Sinne der raumbe- ses Spezifikum des Fulldome-Mediums macht eine dingten, längeren Rezeptionszeit auch langsamer hohe Schnittfrequenz nicht nur überflüssig, son- zu gestalten sind, behält ihre Gültigkeit. Die iden- dern auch kontraproduktiv. Mit ihren Körper- und tische Länge beider Versionen von breakFAST ist Kopfbewegungen, dem Fokus ihrer Augen, wählen neben dem Verzicht auf viele Schnitte innerhalb die Zuschauer Kamerawinkel und Perspektive: Die des Films auch dem sogenannten Point of Interest Rezipienten schneiden die gewünschte Einstel- (oder Area of Interest) geschuldet: Dieser Begriff lungsabfolge und somit den gesamten Film indivi- meint das Areal des kreisrunden Bildes zwischen duell im eigenen Kopf. ca. vier und acht Uhr. Dieser Teilbereich des Bil- Doch dieser Vorgang benötigt, bedingt durch des wird, in die Kuppel projiziert auch als «Front» das limitierte menschliche Sichtfeld und den in bezeichnet. In Anbetracht der vorherrschenden Relation weit größeren Bildraum des Fulldome- direktionalen Anordnung der Sitzflächen innerhalb Mediums, vor allem eins: Zeit. Montage ist im Full- von Planetarien oder anderen Fulldome-Spielstät- dome bzw. in naturalistischen Fulldome-Projekten ten wird somit ein Teilbereich der halbkugelförmi- immer als Schnitt in andere und möglicherweise gen Projektionsfläche in seiner Relevanz betont. neue Architekturräume zu verstehen. Selbst inner- Handlungsdetails wie das des oben beschriebe- halb eines bereits etablierten Architekturraums nen Rückdiebstahls der Brötchen sind sicherlich ohne von einer Kameraposition auf eine andere zu zusätzliche Aufnahmen und ‹close› Einstellungen in schneiden, kann seitens der Zuschauer ebenfalls der Kuppel rezipierbar. Das große Bild des Fulldome- eine Neuorientierung notwendig werden. Mediums bzw. die hemisphärische Projektion ermög- Sich umblicken, den Raum verstehen, sich auf lichen es, dass auch derartige Details deutlich sicht- den Raum einlassen können, sind entscheidende bar abgebildet werden. Doch wird das Verständnis Vorgänge, die dem Zuschauer ermöglicht werden eines solchen Schlüsselmoments durch den großen müssen, um das räumlich-immersive Erlebnispo- Bildraum und die 360° x 180° Projektion auch tential der Kuppel überhaupt erfahren zu können. immer wieder gefährdet. Die Zuschauer können zen- Ein schneller Zwischenschnitt in der Kuppel, etwa trale Aspekte übersehen oder verpassen.21 auf das Entreißen der Brötchentüte, wäre dement- sprechend zu kurz. Im schlimmsten Fall könnte ein 21 Erstaunlicherweise zeigen sich dabei Parallelen zur solch unbedarfter Einsatz des Schnittwerkzeugs Dispositiv-Definition des Fernsehens: Das im Wohnraum 144 Sönke Hahn Aus der Sorge, die Fulldome-Version von break- anbietet und einen gewohnten Umgang, auch FAST könnte nicht verstanden werden, wurden ent- mit dem neuen Medium ermöglicht. Sollte sich sprechend viele essentielle Handlungselemente in Fulldome als neues Medium etablieren und seine eben diesem Areal platziert und somit die nahezu eigene Ästhetik stärker ausprägen, könnte der Point identische Länge beider Filme erreicht. Der Point of of Interest langfristig seine Bedeutung verlieren. Interest gereicht insofern zum Vorteil der Gestalter, als er es zumindest wahrscheinlicher macht, dass Fazit alle wesentlichen Handlungselemente, wenn sie denn im besagten Areal platziert wurden, auch Der durch den Autor dieses Artikels als proble- vom Publikum gesehen werden. matisch empfundene Einsatz bzw. die partielle Ein vollständiger Verzicht auf den Point of Notwendigkeit des Point of Interest als Teil eines Interest ist zwar aus Sicht eines Gestalters wün- Übergangsdispositivs deutet es bereits an: Das schenswert, da der Raum viel umfassender genutzt Fulldome-Medium ist immer noch jung. Arbeits- werden könnte. Doch dieser Wunsch ist (noch) prozesse sind immer noch wenig oder ungenügend problematisch. Das Rezeptionsdispositiv des Full- ausgebildet, es fehlt schlicht an Vokabeln zur dome-Films ist nicht annähernd so verbreitet und Beschreibung einzelner Einstellungen. Der Rück- verinnerlicht wie das des Films oder Fernsehens. griff auf Methoden und Terminologien des klassi- Das zeigt auch der in der Fulldome-Version von schen Films kann nur eingeschränkt helfen. breakFAST platzierte Bruch mit dem Point of Inte- Nicht nur im Arbeitsprozess deutet sich die rest: Nach dem Verlassen seines Hauses blickt der Trennung beider Medien früh an: Das Drehbuch Held enttäuscht in den ‹hinteren› Teil des Domes. bzw. die Umsetzung der Story in ein valides Dreh- Dort wird ein Schild mit der Aufschrift «ausver- buch wurden als ein erster ‹Knackpunkt› in der kauft» in die Auslage gelegt. Dieser, das Schild zei- gemeinsamen Arbeit an beiden Filmen angeführt. gende Bereich des Domes wird jedoch nicht durch Spätestens mit dem Storyboard und der szenischen eine etwaige Rotation des Kamera-Rigs/des Bildes Umsetzung ist eine Simultanproduktion weitestge- auf der Y-Achse in den Point of Interest gedreht. hend beendet. Doch bereits bei der Story selbst Vielmehr – so die Hoffnung des Regisseurs – sollte können erste Unvereinbarkeiten gesehen werden: das Publikum der eingefügten Aufforderung nach- Ein wertendes Verständnis des Stichworts Hin- kommen und sich umdrehen, um dem Blick des tergrundhandlung, wie auch die Problematik des Held zu folgen und die leere Brötchenauslage zu Point of Interest offenbaren diese Reibungspunkte. sehen. Viele Zuschauer kamen dieser Einladung Zum einen läuft ein Großteil des Bildraums im nicht nach bzw. konnten ihr nicht nachkommen – so Zuge der Point-of-Interest-Fixierung Gefahr zum die Beobachtung des Autors: Während sich einige ‹schmückenden Beiwerk› abgewertet zu werden. umdrehten, bleiben viele der durch die Bestuhlung Geschieht im hinteren oder seitlichen Teil der Kup- vorgegebenen Rezeptionshaltung verhaftet. pel rein gar nichts, so könnte spitzfindig nach dem Der Point of Interest ist letztlich die Simulation Sinn des Mediums gefragt werden. Umgekehrt: Die der klassischen Kino-Rezeptionshaltung und deren Projektion von originär 16:9-formatigen Filmen, mit Übertragung in die Kuppel. Die Zuschauer haben Hilfe weichgezeichneter oder verdoppelter Kanten das Kino-Dispositiv verinnerlicht. In der Kuppel über die Kuppel gestreckt, scheint aus Sicht des genutzt, weckt es natürlich auch die Erwartung des Autors dem immersiven Potential und den ästheti- Publikums: Dass eben dort, im durch die Bestuh- schen Eigenschaften des Mediums wenig dienlich. lung vorgegebenen Areal alles Wesentliche des Die starke Orientierung an für den klassischen Films geschieht. Film typischen Produktionsprozessen schränkt die Der Point of Interest ist somit möglicherweise fulldome-spezifische Entwicklung der Narration einfach ein Übergangssymptom zwischen den klas- ein: Leicht verfällt man als Gestalter in die ‹Tradi- sischen Bewegtbildmedien und dem Fulldome, das tion des Fensters›, erdenkt Geschichten oder ein- dem Zuschauer eine vertraute Rezeptionshaltung zelne Szenen in eben dieser Weise. In der Kuppel hingegen könnte es ganz neue Arten des Dialogs geben, könnten zwei Szenen gleichzeitig und in aufgestellt Gerät und seine Sendungen könne immer zur Nebensächlichkeit geraten, andere Eindrücke im nicht abge- verschiedenen Tiefeneben spielen; könnte die dunkelten Raum vom Geschehen auf der Glasscheibe ablen- Position des Zuschauers im Bildraum stärker einge- ken (vgl. Hickethier 1995: 63ff.). bunden werden. Die Narration und Dramaturgie Fulldome vs. 16:9 145 von Fulldome-Filmen bietet also die Chance für wie sie hier vorgenommen wurde, basiert(e) nicht neuartiges räumliches Erzählen, das in breakFAST zuletzt auf der Hoffnung, viele Arbeitseinheiten und noch zögerlich umgesetzt wurde. Vielleicht muss Teilergebnisse gleichsam in beide Filme einbringen die verstärkte Nutzung des gesamten Bildraums zu können. Solch eine angestrebte Redundanz wird unter Einbezug der im breakFAST-Projekt und aber durch die technischen und ästhetischen Dif- auch in der hier vorliegenden Arbeit vernachläs- ferenzen beider Medien nur sehr eingeschränkt sigten Audiokomponente des Mediums erfolgen. erreicht. Entsprechend der Größe des Vorhabens, Mit der möglichen, punktgenauen Ansprache ein- seiner Zeit- und Kostenbudgetierung, ist eine Simul- zelner Zuschauer würden neue Ansätze etwa des tanproduktion also nur bedingt sinnvoll – ermög- Suspense-Erlebens möglich werden: Nicht nur den licht aber, wie auch in diesem Fall, das Einbringen filmischen Protagonisten, sondern auch dem Sitz- der Endergebnisse sowohl in klassische Film- wie nachbarn wäre man nun voraus, möchte ihn war- auch in fulldome-spezifische Festivals. nen, vor dem, was da noch kommt. Ohnehin scheint Es mag in den vorhergehenden Ausführungen die immersive Eigenart des Suspense besonders für durch ihren Fokus auf die Fulldome-Version und das Fulldome-Medium geeignet zu sein. das Fulldome-Medium der Eindruck entstanden Narration konventioneller Natur kann in der sein, Montage und Einstellungsgrößen hätten Kuppel ähnlich oder in Kombination mit dem im klassischen Film lediglich die Funktion, das medienspezifischen Bildraum sogar besonders beschränkte Sichtfeld und das beschränkte Raum- gut funktionieren.22 Film-affine Zuschauergruppen erlebnis zu kompensieren. Selbstverständlich könnten so motiviert werden, Fulldome-Spielstät- haben Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven ten erstmalig oder wiederholt aufzusuchen. Als und Kamerabewegungen eine eigene ästhetische Kombination aus bekannten und neuen Disposi- Bedeutung, dementsprechend sind sie auch in der tiv-Elementen wären solche narrativen Fulldome- 16:9-Version von breakFAST eingesetzt worden. Filme, ähnlich wie der Point of Interest und die Tatsächlich sind zwei Filme entstanden, die ihre direktionale Anordnung der Bestuhlung in Abspiel- jeweils eigene medienspezifische Ästhetik aufwei- stätten, geeignet, die Gewöhnung an das Medium sen. Auch wenn es Überschneidung und verwandt- und seine Eigenarten zu erleichtern. schaftliche Verhältnisse der beiden Medien gibt, Narration in der Kuppel ist aber, wie bereits sind Fulldome und klassischer Film eigenständige beschrieben, mehr als eine Übergangshilfe. Full- Medien. dome ist somit kein ausschließlich räumlich-visu- Der Spielfilm-Gestalter im Fulldome-Medium elles Medium, sondern auch ein narratives bzw. muss sich daher in seiner Geisteshaltung unweiger- kann auf Tendenzen einer sich ausbildenden spe- lich von der eines klassischen Filmemachers unter- zifischen Narration verweisen. In ferner Zukunft scheiden: Im gewohnten, begrenzten Bildformat mag vielleicht das Gestühl aus dem Dome entfernt zeigen Gestalter sehr explizit ihre künstlerische werden und Platz für noch stärkeres Immersionspo- Sicht der Dinge, lenken den Blick des Publikums. tential bietende Konzepte gemacht werden – Stich- Im Fulldome-Film treten sie während ihrer Insze- wort Holodeck.23 nierung der Spielfilmhandlung zurück, überlassen Die simultane Produktion zweier Medienpro- die Details der Perspektive, Kamerabewegung etc. dukte, ausgehend von der gleichen Grundidee, den Betrachtern: Die Fulldome-Rezipienten werden mit Augen-, Kopf- und Körperbewegung zu Mit- Gestaltern! 22 Diese Aussage basiert zum einen auf der Beobachtung Das soll keinesfalls heißen, dass Fulldome- der Publikumsreaktion während der Uraufführung des Films (der Fulldome-Version) auf dem FullDome Festival Jena Gestalter weit weniger Künstler sind und sein 2012. Zum anderen resultiert sie aus dem Feedback, welches können als konventionelle Filmemacher: In der dem Film im Anschluss an das dortige Screening entgegen- Gestaltung einzelner Szenen und in der Frage von gebracht wurde. Eine empirische Untersuchung zur Akzep- Kamerabewegung und Perspektive müssen beide tanz klassischer Narration in der Kuppel zwecks Validierung nur recht unterschiedliche Rezeptionsweisen und dieser Behauptung mag zukünftig und für narrativ-fiktionale Fulldome-Vorhaben sinnvoll sein. Mediendispositive berücksichtigen. Das Fulldome-Medium im Allgemeinen und 23 Diskussionswürdig sind in diesem Zusammenhang ins- besondere jene Ansätze, die eine starre Rezeptionshaltung das breakFAST-Projekt im Besondern sind trotz des Rezipienten für das Immersionserleben als essential be- der oben genannten Schwierigkeiten vor allem trachten (vgl. Manovich 2001: 206). Erfahrungsräume und Innovationsräume. Räume, 146 Sönke Hahn die es aber, unter anderem durch die Ausbildung Kamp, Werner (2005) AV-Mediengestaltung. Grundwis- spezifischer narrativer Eigenarten und Produktio- sen, 1. Auflage. Nourney: Europa-Lehrmittel nenstrukturen, zu nutzen gilt. Kracauer, Siegfried (1964) Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Khouloki, Ryad (2010) Interferenzen: Filmischer Raum Literatur und Zuschauerraum in Peeping Tom (1960). In: Rab- Bieger, Laura (2007) Ästhetik der Immersion. Raum-Erle- biteye, 2/2010. S. 19–37 ben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington Kwasnitschka, Tom (2009) Wie viel Film braucht der und die White City. Bielefeld: Transcript Fulldome? In: Jahrbuch für immersive Medien Böhnke, Alexander (2007) Die Zeit der Diegese. In: Mon- 2008/2009. Hg. von Eduard Thomas. Kiel: Fach- tage AV, 16, 2. S. 93–104 hochschule Kiel/Fachbereich Medien. 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The article presents a project which was developed in the context of the thesis 360Touch.it – Development and Evaluation of Immersive Multi-User Interaction for Planetariums. 360Touch.it is a multi-user interaction system that allows visitors of a planetarium to use their smartphone to join a multi-player game in a 360° full-dome. The basic idea behind the project is to give the audience a direct influence in the dome projection to connect both, the experience and the understanding of science. 360°-Gaming: Eine Pilotstudie zur projektion zu interagieren. Dabei können gerade immersiven Interaktion in Planetarien durch die Interaktion mit der das ganze Sichtfeld einnehmenden Projektion neuartige medial-atmo- Planetarien bieten sich durch ihre spezifische sphärische Erfahrungen erzeugt werden. Architektur und die hochentwickelte Technik Das in diesem Artikel vorgestellte Projekt, das in ausgezeichneter Weise zur Erzeugung eines im Rahmen einer Diplomarbeit mit dem Titel ‹gestimmten Raumes› an, in dem es zu einer kollek- 360Touch.it – Entwicklung und Evaluation von tiven atmosphärischen Erfahrung kommen kann. immersiver Multi-User-Interaktion für Planetarien Bisher blieb jedoch ein Aspekt, der besonders zu (2011) an der Fachhochschule Lübeck entstan- immersiven Erlebnissen beiträgt, in Planetarien den ist, wurde als Pilotstudie angelegt, in der die nahezu vollständig ungenutzt, nämlich die Mög- technischen Möglichkeiten einer immersiven Inter- lichkeit, individuell mit der großflächigen Kuppel- aktion auf Basis der in Planetarien verwendeten Kuppelsysteme ausgelotet werden sollten (Abb. 1). 1 Am Projekt Interessierte können per E-Mail an Besondere Beachtung wurde dabei auf den ‹Erleb- axel@360Touch.it Kontakt aufnehmen; Informationen und nisfaktor› der immersiven Interaktion gelegt: In Videos bietet die Webseite www.360Touch.it [30.07.2013]. diesem Sinne wurde zu Testzwecken ein Multi-User- 148 Axel Meyer Ü 1 Axel Meyer stellt in der Kuppel des Planetariums Hamburg sein Multiplayer- Fulldome-Game 360Touch.it vor (© Axel Meyer 2011) Game inklusive einer darauf abgestimmten Musik Fortschritt in der Entwicklung digitaler Ausgabe- entwickelt, bei dem neben der konkreten, über ein medien mittlerweile die Möglichkeit eröffnet, groß- individuelles Touch-Interface erfolgenden Interak- flächige Projektionen vorzunehmen und so unsere tion mit der Kuppel Aspekte des multisensorischen Lebenswelt mit virtuellen Szenerien zu überlagern. Erlebens (Sehen, Hören, Fühlen) und der Gruppen- Damit bietet sich die Chance, gänzlich neue For- dynamik berücksichtigt wurden. men der Interaktion zu entwickeln. So habe ich in Im Folgenden sollen die Überlegungen, die bei meinem auf der Plattform Flash basierenden Desi- der Entwicklung der einzelnen Komponenten des gnprojekt videoorgel2 ein Programm erarbeitet, Systems eine Rolle gespielt haben, vorgestellt, das mit dem sich – etwa in einer Diskothek – Video- Zusammenspiel der Komponenten beschrieben projektionen live zur Musik gestalten lassen. Die und weitere Entwicklungsmöglichkeiten skizziert Kontrolle über die Projektionen, mithin die Interak- werden. Das Projekt ist in Kooperation mit dem tion, blieb dabei jedoch in den Händen einer Per- Planetarium Hamburg entwickelt worden und spe- son. Aus diesem Defizit entwickelte sich die erste ziell für das dort verwendete Kuppelprojektionssys- Idee, die Interaktionsmöglichkeit auszuweiten tem Digistar des amerikanischen Herstellers Evans bzw. die Interaktion an das Publikum zu überge- & Sutherland konzipiert. Im November 2011 wurde ben: Der Computer wählt und generiert zwar die 360Touch.it mit dem Possehl-Ingenieur-Preis aus- Grafiken, aber das Publikum kreiert und dirigiert gezeichnet; auf dem Koordinaten-Festival 2012 die entstehende Auswahl mit seinen eigenen intu- gewann es den ersten Platz in der Kategorie «Inter- itiven Eingaben, deren individueller Ursprung im aktive Anwendungen und Gaming». Endprodukt ersichtlich wird. Auf diese Weise soll Spielraum für Individualität, Selbstbestimmung Projektidee und Entscheidungsfreiheit geschaffen werden, in dem die Echtzeitmodifikation durch die Interaktion Interaktion und interaktive Medien gewinnen mit dem Siegeszug der Digitalisierung mehr und mehr 2 Siehe online unter http://www.videoorgel.de an Bedeutung. Zugleich hat der technologische [30.07.2013]. 360Touch.it 149 Platz findet: In der digitalen Projektion soll sich der Internets ist die Anzahl von Multi-User-Anwendun- Einzelne als Interakteur wiedererkennen können. gen in den letzten Jahren rasant gestiegen; ein Das Projekt 360Touch.it setzt an diesem Punkt Trend hin zu Massively Multiplayer Online Role- an, weitet dabei jedoch den Interaktionsspielraum Playing Game (MMORPG) ist zu verzeichnen. insofern aus, als nun auf eine der hochentwickelts- Multi-User-Anwendungen findet man vor allem ten Projektionstechniken überhaupt zurückgegrif- im Bereich der interaktiven Medien. Interaktion fen wird, nämlich die Kuppelprojektion. Sie bietet meint dabei das wechselseitige Kommunizieren, vielseitige Möglichkeiten für Interaktionen, an also das Senden und Empfangen von Informatio- denen eine hohe Anzahl von Besuchern teilneh- nen, sowie das Reagieren auf diese Informationen men kann. über verfügbare Rückkanäle. Die Formen der Inter- aktion können ganz unterschiedlich sein: So kön- Immersion, Multi-User, Interaktion nen als Eingabekanal zum Beispiel ein Joystick, ein und Planetarium Gamepad, ein Touchpad oder eine visuell erfasste Bewegung benutzt werden; die als Rückkanal die- Im Rahmen des Projekts wurde eine immersive nende Ausgabe kann ebenfalls vielseitig sein. Multi-User-Interaktion für Planetarien entwickelt. 360Touch.it verwendet als Eingabekanal den Der Begriff Immersion, von dem das Adjektiv berührungsempfindlichen Bildschirm eines Smart- immersiv abgeleitet ist, stammt aus dem Lateini- phones oder eines ähnlichen mobilen Geräts. Als schen und bedeutet soviel wie ‹Eintauchen› bzw. Ausgabekanal dient das Kuppelprojektionssystem ‹Untertauchen›. Immersion spielt heute eine wich- eines Planetariums. Lange Zeit wurden Planetarien tige Rolle bei der Beschreibung der Rezeption ausschließlich dazu verwendet, Sternenbilder, Ster- fiktiver Welten. Im Zusammenhang mit virtuellen nenkonstellationen und Planeten mittels Diaprojek- Realitäten bezeichnet Immersion dabei den Tiefe- toren oder einem Sternen- und Planetenprojektor zu grad der simulierten, zugleich aber real wirkenden zeigen und zu erklären. Heute dienen die weiterent- Virtualität. Um eine besonders tiefe Immersion zu wickelten und mit Musikanlage sowie digitaler Pro- erreichen, muss die fiktive Umgebung so gestaltet jektionstechnik ausgerüsteten Planetarien häufig werden, dass der Rezipient oder Teilnehmer in die dazu, vertonte Videos zu zeigen. So können Shows virtuelle Welt eintaucht und die reale Umgebung mit lehrreichen Inhalten in einer ähnlichen Qualität kaum noch wahrnimmt; er kann sich so in beson- wie Kinofilme präsentiert werden. derer Weise auf das Geschehen und seine Gefühle einlassen.3 Projektziele und Projektverlauf Im Rahmen des Projekts 360Touch.it bezieht sich Immersion auf eine audiovisuelle Projektion, Konzeptionelles Ziel des Projekts war die Entwick- also auf einen Klang- und Bildraum. So deckt die lung einer lokalen Multi-User-Interaktion mit pro- visuelle Projektion das gesamte Sichtfeld des Rezi- jizierten bewegten Bildern, bei der – im Rahmen pienten oder Teilnehmers ab, wobei die Kuppel eines realräumlichen Events – virtuelle Interaktio- ihm die Möglichkeit bietet, sich umzuschauen, nen von einer größeren Anzahl von Personen statt- ohne dabei das Gefühl zu haben, aus der Projek- finden. Dabei sollten die Eingaben der einzelnen tion auszutreten oder störende Elemente im Blick- Personen als individuelle Eingaben in der visuellen feld zu haben. Der auditive Raum wird durch einen Repräsentation der Interaktion großflächig und Raumklang erzeugt. Auf diese Weise kann das gemeinsam rezipiert werden, konkret: Bis zu 250 Geschehen unmittelbar auf den Betrachter wirken. Planetariums-Besucher sollten per iPhone oder Die Immersion erfolgt bei 360Touch.it im Kon- einem vergleichbaren Touch-Device individuell an text einer Multi-User-Anwendung. Solche Systeme einem Multi-Player-Game auf der Kuppelprojekti- zeichnen sich, im Gegensatz zu Single-User-Anwen- onsfläche teilnehmen und auf diese Weise inner- dungen, dadurch aus, dass mehrere Benutzer das halb einer lokalen Gemeinschaft spielerisch mitei- System gleichzeitig und aktiv nutzen können. nander interagieren können. Für die Realisierung Durch die Vernetzung von Computern mittels des wurde als Kooperationspartner das Planetarium Hamburg gewonnen, auf dessen Kuppelsystem 3 Ausführliche Auseinandersetzungen mit diesem Konzept zurückgegriffen werden konnte. finden sich in der montage /AV zum Thema «Immersion» In der ersten Projektphase wurden zunächst im (2008) und im Jahrbuch immersiver Medien 2011. Rahmen einer Recherche ausgewählte bisherige 150 Axel Meyer à 2 iPhone mit 360Touch.it-App sowie Startmaske und Steuerkreuz (© Axel Meyer 2011) Realisierungen von Interaktionen mit visuellen Komponenten des Systems Ausgabemedien einer problemorientierten Ana- lyse unterzogen. Auf diese Weise sollten vorab Das innerhalb des Projekts entwickelte System Probleme erkannt und Erfahrungswerte in den umfasst die Komponenten Eingabe, Ausgabe, Bereichen Interaktion und Multi-User gesammelt Gestaltung und Kommunikation. Für die Eingabe werden. Hierbei standen die für eine Multi-User- fällt die Wahl auf ein handliches und kabelloses Interaktion entscheidenden Komponenten Bedie- Gerät, in diesem Fall das iPhone oder ein ähnliches nung, Ausgabe‹ (visuelle, akustische, inhaltliche) Gerät mit berührungsempfindlichem Bildschirm. Gestaltung und Kommunikation im Fokus. Die Die Ausgabe erfolgt mittels der immersiven Kup- gewonnenen Informationen und Problemstel- pelprojektion. Für die visuelle, akustische und lungen dienten dann als Ausgangspunkt für die inhaltliche Gestaltung wird eine einheitliche und Entwicklung einer lokalen Multi-User-Interaktion. simple, aber trotzdem ansprechende Ausarbeitung Die Schwerpunkte der Arbeit lagen dabei auf der gewählt. Im Bereich der technischen Kommuni- Programmierung des Systems sowie auf der Gestal- kation wird auf ein WLAN zurückgegriffen; die tung der Interaktion zwischen Nutzern und System. Mensch-Mensch-Kommunikation ergibt sich durch Um die mit dem System entwickelte Form der Inter- die gemeinsame Präsenz an einem realweltlichen aktion auf ihre Akzeptanz seitens der Nutzer zu Ort. Im Folgenden werden die Form der Benutzung überprüfen, wurden schließlich mehrere Tests mit sowie die Vorzüge der gewählten Komponenten anschließender Umfrage durchgeführt. Bei dem einzeln beschrieben. Programm, das zum Testen des Systems verwendet Angesichts der Anforderung, einer hohen wurde, handelte es sich um ein eigens für das Sys- Anzahl von Spielern die Möglichkeit zu geben, tem entwickeltes Multi-User-Game. jeweils individuelle Eingaben vornehmen zu kön- Im Rahmen der Evaluation dieser Tests wurden nen, wird pro Spieler ein Bediengerät benötigt. Daten zur Interaktionsbereitschaft, zur Interakti- Hier wird ein Smartphone (iPhone oder Ähnliches) onsdauer, Interaktionsqualität, zum Verständnis mit einem eigens für diese Interaktion entwickelten der Bedienung sowie zur Kommunikation mit dem App benutzt, das in Kooperation mit Tobias Donder System erhoben. Dadurch konnte in einem letzten, programmiert wurde (Abb. 2). Die gewählte Form resümierenden Schritt kontrolliert werden, ob bei der Eingabe zeichnet sich dadurch aus, dass sie der Entwicklung dieser spezifischen Form einer ein leicht verständliches Bedienkonzept verfolgt. lokalen Multi-User-Interaktion die richtigen Para- So werden zum Beispiel keine Beschriftungen oder meter berücksichtigt und die passenden Kompo- Tasten verwendet, stattdessen wird eine durch- nenten gewählt wurden, um eine solche Interak- gängige Bedienoberfläche mit einem Steuerkreuz tion erfolgreich durchzuführen. angezeigt. Die vom Joystick bekannte Bedienart 360Touch.it 151 à 3 Blick vom Steuerpult in die Kuppel im Planetarium Hamburg (© Axel Meyer 2011) greift dabei auf vorhandene Kenntnisse der Benut- che benötigt. Hierbei fällt die Wahl auf die Kuppel zer zurück. Darüber hinaus ermöglicht das Steuer- eines Planetariums. Für die konkrete Realisierung kreuz sowohl sensible und schnelle als auch stufen- wurde im Rahmen des Projekts die 21x13 Meter lose Richtungseingaben. Zusätzlich ist die Anzeige große Kuppel des Planetariums Hamburg genutzt. nur leicht beleuchtet, um im Dunkeln nicht zu Diese bietet einen optimalen Blick von allen Sitz- blenden. Bei der Berührung des Bildschirms dimmt positionen, da die Sitze beinahe im Kreis ange- dieser geringfügig auf und liefert damit eine Rück- ordnet sind und so von jedem Platz aus ein fast meldung; dies erleichtert die Kontrolle im Dunkeln. identischer Abstand zum Geschehen gegeben ist. Außerdem zeichnet sich die Form der Bedienung Dadurch sind Details in der Kuppel gut sichtbar, durch ihre hohe Reichweite und Flexibilität aus. So ohne dass die Übersicht über das Geschehen ver- kann vom eigenen Sitzplatz interagiert oder das loren geht. Die Kuppel überzeugt dabei einerseits Gerät an den Nachbarn weitergegeben werden. durch ihre enorme Größe, andererseits durch ihre Des Weiteren ist die Benutzung des eigenen Gerä- 360°-Ansicht, die ein immersives Erlebnis ermög- tes und dessen ‹Zweckentfremdung› bzw. Integra- licht (Abb. 3). tion in die Interaktion reizvoll. Design-ergonomisch Die Kooperation mit dem Planetarium Ham- ist diese Bedienungsform deshalb, weil sie sowohl burg – einem der modernsten Planetarien weltweit für Rechts- als auch für Linkshänder in gleicher – erlaubte es, dessen Kuppel und die vorhandene Weise nutzbar und zudem nicht fest in die Arm- Technik, konkret das amerikanische Kuppelprojek- lehne des Stuhls integriert ist. Diese Bedienform tionssystem Digistar, zu nutzen. Hierdurch bot sich verbraucht also kaum Platz und ist weder hektisch für das Planetarium die Chance, eine speziell für noch anstrengend. All diese Punkte sprechen für die Kuppel entwickelte Multi-User-Interaktion zu die Wahl eines Smartphones. erhalten. Im Rahmen des Projekts musste dabei für Bei der gewünschten hohen Anzahl von Mit- Digistar eine Schnittstellen-Programmierung mit spielern wird eine möglichst große Projektionsflä- Python vorgenommen werden. Für die Program- 152 Axel Meyer à 4 Spielfiguren in der Kuppel und Rangliste (rechts im Bild) (© Axel Meyer 2011) mierung wurde Eclipse mit einem Repository4 und Formen und einem deutlichen Schwarz-Weiß-Kon- Pydev5 kombiniert. trast gearbeitet. Die Komplexität ist dabei bewusst Die Entwicklung erfolgte zunächst im Produk- niedrig gehalten, da das Hauptaugenmerk auf der tionsstudio des Hamburger Planetariums mit der Interaktion liegt. Dennoch ist die Gestaltung so Kuppelsoftware, später wurde das System in der durchdacht, dass sie sowohl interessant als auch Kuppel auf Belastung getestet. Das zur Verfü- ansprechend wirkt. Die Gestaltung wird im Folgen- gung stehende Kuppelsystem bestand aus einem den entlang der drei Unterpunkte inhaltliche, visu- Cluster von zehn Rechnern, davon acht für die elle und akustische Gestaltung vorgestellt. Grafik-, einen für die Audioausgabe und einen Die inhaltliche Gestaltung zielt darauf ab, Rechner als Host zur Steuerung des Clusters. Zwei den Rezipienten zur Interaktion zu animieren. Zu Videoprojektoren stehen am unteren Kuppelrand diesem Zweck wurde ein Spiel entwickelt, das der gegenüber und werden jeweils mit vier synchro- Interaktion einen Sinn und ein Ziel gibt. In diesem nen Videosignalen versorgt. Schon bei ersten Tests Spiel wird das aktuelle und reale Thema «Energie» mit dem Kuppelsystem und den Rechnern für aufgegriffen. In einer fiktionalen, futuristischen die Grafikausgabe zeigte sich, dass – bei höherer Geschichte kämpfen die Teilnehmer mit ihren Objektanzahl – simple DirectX-Objekte flüssiger Spielfiguren um Energiepunkte: Sie können diese als JPG angezeigt werden können. Außerdem lag über die Kuppel verteilten Energiepunkte einsam- die maximale Anzahl von Objekten, die Digistar meln, indem sie sich über die Punkte bewegen, in der Kuppel darstellen kann, deutlich unter dem und sie können sich durch Kollision die Punkte zunächst erwarteten Wert. Die im folgenden Punkt gegenseitig abjagen. skizzierte, angestrebte Gestaltung konnte trotz die- Schließlich gibt es einen Gewinner, dessen ser Einschränkung realisiert werden. Spielfigur das offene Ende alleine in der Kuppel Die Gestaltung von 360Touch.it ist insgesamt verbringen darf, wo zudem eine Rangliste ange- einheitlich und minimalistisch. Im Vordergrund zeigt wird (Abb. 4). Die kurze Erklärungszeit der steht die einfache, verständliche und somit intu- weitgehend intuitiv verständlichen Interaktion itive Erfassbarkeit. Entsprechend wird mit klaren und der schnelle Start ins Spiel werden durch die leichte Lernkurve möglich. Es müssen nur die zwei 4 Ein Repository ist eine Datenbank, die von vielen Syste- Hauptfunktionen Bewegen und Kollidieren verstan- men zur verteilten Entwicklung genutzt wird. den werden. 5 Nähere Informationen unter http://pydev.org Die visuelle Gestaltung umfasst ein einheit- [30.07.2013]. liches Corporate Design, das neben dem zuvor 360Touch.it 153 à 5 Grafiken des Ambientes (© Axel Meyer 2011) gezeigten App auch sämtliche Dokumente, Grafi- liche Objekte, wie zum Beispiel Bäume; sie zeichnen ken und Videos mit einem Wiedererkennungswert sich durch geschwungene, ungleichmäßige Formen ausstattet. Hauptbestandteil ist dabei das Logo, sowie unsortierte Verteilung in der Gestaltung aus. aber auch die Flyer, die Webseite sowie die Spielfi- Im Laufe des Spiels verwandeln sich die natürlichen gur und das Ambiente in der Kuppel sind dem Stil Objekte in von Menschen geschaffene Objekte, die angepasst. nun durch gerade, gleichmäßige und sortierte For- Die Größe und die Geschwindigkeit der Spielfi- men charakterisiert sind (Abb. 5). guren sowie die korrekte Ausrichtung in der Kup- Wie das Ambiente dient auch die akustische pel wurden während des Projekts ausgetestet. Vor Gestaltung dazu, das immersive Potential des dem Spiel sammeln sich alle Figuren über dem entwickelten Spiels zu erhöhen. Verwendet wurde jeweiligen Sitz; bei Spielbeginn starten sie in direk- in diesem Zusammenhang eine durchgängige ter Blickrichtung. Die eigene Spielfigur kann außer- Musik mit Variationen, die synchron zum Spiel dem durch das Berühren des Bildschirms leicht auf- läuft. Einerseits gibt sie die Geschwindigkeit vor, gedimmt werden. die wiederum mit der Taktung des Spiels korre- Neben den Spielfiguren gibt es das Ambiente, liert, anderseits verändert sich die Musik je nach also die passiven Elemente des Spiels am Kuppel- Spielphase. Die Kooperation mit den Musikern von rand. Diese passiven Elemente, die zur Unterstüt- «Kollektiv Turmstrasse» ermöglichte die Anpassung zung der Spiel-Atmosphäre dienen, sind zuerst natür- von deren Musiktitel Grillen im Park entsprechend Ä 6 Spieler in der Kuppel und Übersicht der Kuppelsitzplätze im Planetarium Hamburg (© Axel Meyer 2011) 154 Axel Meyer à 7 Aufbau des Netzwerks (© Axel Meyer 2011) der gewünschten Stimmungen. Hierfür wurden sen (Abb. 7). So können Besucher ihr eigenes Gerät einzelne Spuren exportiert, die in Echtzeit während direkt und unkompliziert verbinden. Im App, das des Spiels ineinander geblendet werden. Die Laut- der Besucher zuvor installiert hat, ist nur die Ein- stärke der Musik lässt eine Unterhaltung mit den gabe des Sitzplatzes nötig, um am Spiel teilzuneh- Sitznachbarn zu. men. Diese Form der Kommunikation eignet sich Die Kommunikation umfasst zum einen die deshalb besonders gut, da keine Kabel verlegt und Kommunikation der Bediengeräte und zum ande- keine Bedienungen gekauft bzw. gewartet werden ren die Kommunikation der Besucher unterein- müssen. Zusätzlich bietet sie eine hohe Skalierbar- ander. Letztere erfolgt face-to-face: Die Benutzer keit und Erweiterbarkeit der Reichweite. sitzen nebeneinander und können aufgrund der angemessenen Musiklautstärke direkt verbal kom- Projektauswertung munizieren (Abb. 6). Hinsichtlich des ersten Punktes, der Kommuni- Mit 360Touch.it konnte eine immersive Multi-User- kation der Bediengeräte, wird auf eine Verbindung Interaktion für Planetarien entwickelt und erfolg- der Smartphones per WLAN zurückgegriffen, was reich getestet werden, sowohl im Rahmen der gewisse Einstellungen beim Betreiber und bei Diplomarbeit als auch beim Koordinaten-Festival den Benutzern voraussetzt. Die benutzerseitigen 2012. Die Interaktion, an der eine größere Anzahl Einstellungen sind so gestaltet, dass diese selbst- von Personen im Rahmen eines realräumlichen ständig getätigt werden können. Es werden ein Events teilnehmen können, erfolgt mit projizierten DHCP-Server und ein naheliegender WLAN-Name bewegten Bildern, wobei die Eingaben der einzel- wie zum Beispiel 360Touch.it verwendet. Außer- nen Personen als individuelle Eingaben in der visu- dem wird auf Zugangsbeschränkungen wie WLAN- ellen Repräsentation der Interaktion großflächig Schlüssel oder MAC-Filter verzichtet und stattdes- und gemeinsam rezipierbar sind. sen direkt hinter dem WLAN-Zugangspunkt eine Die gewählten Komponenten funktionieren auch Firewall mit den gewünschten Routen angeschlos- unter realen Bedingungen, das haben die Tests wäh- 360Touch.it 155 rend der Diplomarbeit gezeigt. Darüber hinaus stie- die aber andeuten, in welche Richtung eine wei- ßen sowohl die Idee und das Konzept als auch die tere Entwicklung gehen könnte. Umsetzung bei den Testpersonen auf große Reso- nanz. Das Projekt wurde als innovativ im Ansatz und Ausblick als sehr gut in der Durchführung bewertet. 85% der Teilnehmer gaben im Rahmen der Evaluation an, Eine angesichts des Projekterfolgs naheliegende die Interaktion habe ihnen Spaß bereitet. Option ist die Weiterentwicklung des 360Touch.it- Auf dem Koordinaten-Festival zeigte sich eine Systems sowie der Ausbau des zu Testzwecken pro- signifikante Änderung der Aufmerksamkeit. So grammierten Spiels. Auch könnte das vorhandene entstand im Gegensatz zu den zuvor gezeigten, Framework benutzt werden, um völlig neue Spiele nicht-interaktiven Fulldomevideos eine entspannt- zu erstellen. In diesem Zusammenhang könnten unterhaltene Stimmung. Durch die Tatsache, dass auch weitere Funktionen der Handheld-Geräte ein- sich die Personen integrieren konnten, wurden sie bezogen werden (z.B. Vibrationen, Accelerometer). aktiv, ob nun als direkter Spieler oder kommentie- Neben Handheld-Geräten mit den Betriebssyste- render Zuschauer: Sie wurden Teil der Interaktion. men iOS und Android sollte auch Windows-Mobile Fast alle Besucher waren der Meinung, dass diese eingebunden werden, um weitere Zielgruppen zu Entwicklung zukunftsweisend, neuartig sowie pas- erreichen. Noch weiter ginge die Entwicklung eines send konzipiert ist. Die hohe Anzahl der positiven eigenen, kostengünstigen Handheld-Gerätes mit Rückmeldungen sowohl von Spielern als auch Touch-Interface. Dies könnte zusätzlich an Besu- von Zuschauern wurde durch die fachkundige cher ohne Gerät ausgeteilt oder sogar in Kombi- Jury bestätigt. Während der Einrichtung und den nation mit den Spielen als Standalone-Produkt für Testläufen von 360Touch.it im Kieler Medien- mehrere Planetarien entwickelt werden. dom konnte betrachtet werden, dass auch kleine In diesen Planetarien könnten dann kuppel- Gruppen mit fünf Personen das Spiel gut spielen füllende Spiele gespielt werden; eine Anbindung konnten, was die gut ausgewogene Verteilung von an das Internet könnte sogar gemeinsames Spie- Spielelementen belegt. len in verschiedenen Planetarien zur gleichen Zeit All dies zeigt, dass die Schwerpunkte des Pro- ermöglichen. Da 360Touch.it so konzipiert ist, dass jekts, die auf der Programmierung des Systems und es in allen Planetarien mit dem entsprechenden der Gestaltung der Interaktion lagen, in der Syn- Kuppelsystem läuft, wird lediglich ein WLAN benö- ergie ein stimmiges Gesamtergebnis ergaben, das tigt. Darüber hinaus muss das als Plug-In program- design-ergonomische, kognitive Aspekte und Usabi- mierte Projekt nur auf das Rechnersystem kopiert lity vereint. Insbesondere das iPhone als Bedienge- werden. Schließlich muss nur noch eine Anpassung rät sowie die Kuppel des Planetariums als Ausgabe- der Sitzplatzanzeige erfolgen, da die Anzahl und medium bzw. Veranstaltungsort haben zum Erfolg die Positionen der Sitze von Planetarium zu Plane- von 360Touch.it beigetragen. Dies bestätigen auch tarium variieren. Je nach Spieleranzahl und -kön- die Ergebnisse der Umfrage, die im Rahmen der nen dauert ein Spiel zwischen 15 und 30 Minuten. Diplomarbeit durchgeführt wurde. Dennoch ist zu Es könnte somit in den regulären Betrieb eines betonen, dass sämtliche Komponenten und deren Showblocks integriert werden. Nach einem Spiel Verwendungsart durch ihre intuitive Verständlich- kann direkt eine neue Runde gestartet werden, bei keit einen wichtigen Beitrag zum Funktionieren des der ggf. neue Funktionen (Schutzschild, schnellere Systems leisten. Entscheidend sind die sorgfältige Bewegung) verfügbar sind. Auswahl und die stimmige Zusammensetzung aller Des Weiteren ist die Erweiterung des Ausgabe- Komponenten und die Anpassung an die spezifi- systems interessant. So könnte ein eigenes Kuppel- sche Form der Multi-User-Interaktion. system entwickelt werden, das die für spieltypische Mit dem Projekt kann erfolgreich das hohe Funktionen erforderliche Performanz bietet. Auch Potenzial von Interaktionen und besonders von könnte neben der Nutzung eines Projektions- Multi-User-Interaktion mit mobilen Handheld- systems die Ansteuerung anderer Systeme wie Geräten sowie großen Ausgabemedien aufgezeigt zum Beispiel des Lasersystems per DMX mit dem werden. Im Folgenden werden einige Möglichkei- Python-Framework pydmx bewerkstelligt werden, ten aufgezeigt, die außerhalb der Fragestellung um so Lasereffekte zu integrieren und damit die des als Diplomarbeit realisierten Projekts liegen, Raumerfahrung weiter zu intensivieren. 156 Axel Meyer Literatur Meyer, Axel. (2011) 360Touch.it – Entwicklung und Evaluation von immersiver Multi-User-Interaktion für Curtis, Robin & Voss, Christiane (2008) montage /AV, Planetarien. Diplomarbeit an der Fachhochschule 17, 2. Marburg: Schüren Lübeck Institut für immersive Medien (Hg.) (2011) Jahrbuch immersiver Medien 2011. Marburg: Schüren 360Touch.it 157 bEsprEchungEn zwIschEn klIschEE und oasE atmosPhären im Freiraum Andreas Rauh Wo Mensch und Umwelt zusammenkommen, dort herrschen Atmosphären. Dass sie einen nicht unerheblichen Anteil an Erlebnissen vor allem in gestalteten Umgebungen ausmachen, wird in the- oretischen Abhandlungen stets betont im Rückgriff auf Beispiele der Alltagswelt. Dass sie in Erlebnis- landschaften wie etwa Freizeitparks besonders gut studiert werden können, zeigt das Buch Erleb- nislandschaft – Erlebnis Landschaft? von Achim Hahn, das Ergebnis eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes an der TU Dresden. Untersucht wird einerseits das Zusammentref- fen von Mensch und (Landschafts-)Architektur aus der Perspektive der Planer von Freizeitparks und andererseits ihrer Entwurfsstrategien und der Nutzer von Freizeitparks und ihrer biografi- schen Erlebniserfahrungen. Die Architekturtheorie fungiert hierbei als von der Lebenswelt fundierte empirische Theorie, die phänomenologisch-herme- neutisch nach den Konstituenten von bestimmte Stimmungen oder Atmosphären fragt. Das Buch richtet sich dabei nicht nur an Leser architekto- nischer Disziplinen, sondern an alle, die sich mit der empirischen Fassbarkeit von Atmosphären beschäftigen. Der Sammelband und zugleich dreizehnte Band achim hahn (hg.) (2012) Erlebnislandschaft – Erlebnis der Reihe «Architekturen» versammelt nebst Vor- Landschaft? Atmosphären im architektonischen Entwurf. wort zwölf Beiträge in fünf Kapiteln, die sich architekturen: band 13. bielefeld: transcript, 361 seiten, mit dem Erlebnis in Erlebnislandschaften befas- isbn: 978-3837621006 sen. Konkret geht es um die beiden Freizeitparks ‹BELANTIS› und ‹Kulturinsel Einsiedel›. Am konkre- ten Beispiel soll ablesbar werden, was prinzipiell atmosphärisch relevant ist. Es geht um ein Bewäh- Zwischen Klischee und Oase 159 ren statt um ein Beweisen. Der methodische Weg sphären als besondere Erlebnisse. Als solche kön- wird dabei mit verschiedenen Interviewformen nen sie sowohl aktuell als auch biografisch veran- beschritten, denn zum «Erlebnis wird das Erlebte kert werden und damit als erinnerte Erlebnisse die möglicherweise erst dann, wenn es als ein solches Atmosphärewahrnehmung in Freizeitparks prägen Erlebnis hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit erzählt – bei den Benutzern wie bei den Planern, die durch wird» (21). Das Erlebnis ist dann besonders stark entsprechende Entwurfsmethoden die genannte und (auch biografisch) einprägend, wenn eine Nichtplanbarkeit von Atmosphären zu umgehen Ganzheit und Einheit als stimmig und passend suchen. Wichtig wird in ontologischer Hinsicht das empfunden wird (28). Über diese Ablagerungen Wovon und das So-Wirken einer Atmosphäre, die und Sedimentschichten der Erfahrung und Erin- sich damit dem Wirkzusammenhang des Weckens nerung wird in dem vorliegenden Sammelband vergleichen lässt, dem Zusammengehen von Auf- gesprochen. geweckt-Werden und Erwachen (87, 338). Erlebnislandschaften wecken besondere Erleb- Dabei zeigen die Beiträge auch in ihrer Abfolge, nisse durch ihre Bestimmungen von Leib, Technik, wie ein Forschungsprojekt mit qualitativ-empiri- Aktivität, Bedürfnis und Unverfügbarkeit (104). schen Anspruch zu gliedern ist (vgl. hierzu auch: Dabei wird neben dem alltäglichen kausalen und 32–35): Nach einer Einleitung in die Grundfragen reflexivem vor allem auch ein implizites Wissen, und Eckpunkte des Forschungsprojektes (Hahn) eine Leibkompetenz aktiviert, die im Umgang mit bereiten zwei theoretische Annäherungen ein der Technik als Spielzeuge die Immersion in Atmo- Verständnis für die Erzeugbarkeit von Atmosphä- sphären des Freizeitparks erlaubt (116, 118). ren (Hahn) und für den Menschen in technischen Erlebniswelten (Pinzer) vor. Ein Einblick in die Während sich ‹BELANTIS› als kleine Weltkarte Vergnügungsparkhistorie (Keßler) orientiert bzgl. mit Attraktionen in einzelnen Stationen dem der beiden Orte der Atmosphäreforschung, die Übersichtsgedanke verschrieben hat und damit in einer Landschaftskritik von ‹BELANTIS› (Keß- bestmögliche Orientierung anbietet, will die ‹Kul- ler) und einer Landschaftsanalyse der ‹Kulturinsel turinsel Einsiedel› zu einer unabschließbaren Ent- Einsiedel› (Lieske) auch anhand von Bildmaterial deckungstour einladen, die Neugier und Aben- vorgestellt werden. Es schließt sich die empirische teuerlust wecken will. Sind gestimmter Raum, Forschung an: Interviewinterpretationen mit dem Aktions- und Anschauungsraum (326) gut aus- Architekten von ‹BELANTIS› (Schröder) und dem tariert, werden unterschiedliche Wahrnehmungs- Gestalter der ‹Kulturinsel Einsiedel› (Nothnagel), modi wie Schauen, Sich-Treiben-Lassen, Abtauchen die nochmal gesondert auf jeweilige Intentionen in Scheinwelten oder Kindsein möglich. (310) Die und Konzepte miteinander verglichen werden Gestalter stellen dabei Grundbedürfnisse, Funk- (Nothnagel). Die Perspektive der Gestalter wird tionalität und Klischees einerseits, sowie Gestal- dann erweitert durch Schilderungen der Entwurf- tungserfahrung, pures Gestalten und Teamwork spraxis von Landschaftsarchitekten (Lieske) und andererseits als Leitplanken ihren Entwurfsstrate- ergänzt durch die Perspektive der Nutzer der bei- gien heraus. Bei beiden Gestaltern eignet sich das den Freizeitparks (Friedreich). Ein Resümee bün- Arbeiten mit Modellen als Abklärungs- und Ver- delt die Erkenntnisse aus Theorie und Praxis in mittlungsschritt. (215, 240) Im Gestaltungsergeb- sechs Schwerpunkte (Hahn/Friedreich). nis zielen sie auf eine «Atmosphäre der Zufrieden- heit oder Sorgenlosigkeit» sowie eine «Atmosphäre Ein interessanter Punkt der Atmosphäreforschung der Freiheit». (258) wird im Theorieteil zu Beginn des Buches ange- Der theoretischen Nichtplanbarkeit von Atmo- sprochen: Lassen sich Atmosphären entwerfen und sphären steht damit deren unterstellte Herstellbar- wenn ja, wie? Die Notwendigkeit der leiblichen keit in praktischen Kontexten entgegen. Die For- Anwesenheit des Erlebenden in seiner Umgebung schung zeigt auf, dass die theoretischen Annahmen führt dazu, dass «die Behauptung, Atmosphären nicht dazu verleiten sollten, das Gefühlsmäßige (nämlich Erlebnisse von Landschaftlichem) ließen und Atmosphärische aus dem Architekturdiskurs sich im Entwurfsprozess erzeugen und baulich auszugrenzen. Vielmehr sollte eine «Achtsamkeit vorwegnehmen, kritisiert und verworfen werden» für die eigenen Grenzen» gewonnen werden, ein muss (85). Die Kaprizierung auf den Subjektpol «Nachdenken über die Kriterien der Beurteilung des Atmosphärephänomens fasst dann die Atmo- von Gebäuden» angeregt werden, ein «stärkeres 160 Andreas Rauh Augenmerk auf tatsächliche Raumwirkungen und den Landschaftsarchitekten zeigen aber deutlich, persönliche Erfahrungen in der Ausbildung von wie beide Perspektiven zusammenspielen können Architekten» gelegt werden. (271) Im Architekten- und eigene Erfahrungen das Ausbildungswissen alltag stehen sich zwar «naives» und «professionel- ergänzen und unterstützen können. les Erleben» gegenüber. (287) Die Interviews mit Zwischen Klischee und Oase 161 Zum Greifen nah! der erste 3d-Film mit PolarisationstechniK Thomas Heuer Ob und wie der Film – als Repräsentant einer neuen Technik – eine Rolle im Bestreben der nationalsozi- alistischen Machthaber gespielt hat, in Berlin ein zweites Hollywood aufzubauen, lässt sich anhand der Archiv- und Zeitungsquellen nicht sagen. Die vorliegende Rezension behandelt daher Technik und Effekte des Films, ohne auf den Film im Kontext nati- onalsozialistischer Ideologie einzugehen. Zum Greifen Nah! ist ein schwarz-weißer dreidi- mensionaler Werbefilm mit Ton1, der in Deutsch- land lediglich im Berliner Bundesarchiv zu finden ist. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die vor- liegende Kopie – wahrscheinlich bei der Abtas- tung durch das Kopierwerk – bis an die Grenzen Zum GreiFen nah! (Kurt engel, d 1936/37, der Rezipierbarkeit entstellt worden ist. So wurde boehner-Film/Zeiss-ikon, 11 min.) bei den Filmbildern (zumindest in der vorliegen- den Kopie) oftmals das linke und rechte Bild ver- tauscht, außerdem befindet sich das verpixelte Der erste stereoskopische Film mit Polarisations- Bundesarchiv-Logo am Bildrand der einzelnen technik war der Werbefilm Zum Greifen nah!. Ent- Kader. Zudem springt die Kopie oftmals im Bild- standen im nationalsozialistischen Deutschland ausschnitt, wodurch in Teilen der obere Rand des mit Technik von Zeiss und als Werbefilm für die Bildes an der Unterkante des nachfolgenden Bil- Volksfürsorge Hamburg konzipiert, wurde der Film des zu sehen ist.2 Durch eine erneute Bearbeitung international zunächst wenig beachtet. Und dies, obwohl die Vorzeichen eine breite Rezeption nahe- 1 In vielen neueren Publikationen wird der Film als erster zulegen schienen. Zum einen fand die Premiere am dreidimensionaler Farbfilm mit Ton bezeichnet, der die Pola- 5. Dezember 1937 im Berliner Ufa-Palast am Zoo risationstechnik für stereoskopische 3D-Rezeption verwendet; statt, dem seinerzeit prestigeträchtigsten Premieren- beispielsweise bei Ray Zone (2007: 154). Hierbei handelt es kino Deutschlands. Zum anderen überschlug sich sich allerdings um einen Mythos, denn der Film ist in schwarz- die deutschsprachige Presse mit Lobeshymnen für weiß, das belegen diverse Zeitungsberichte aus der Zeit. Ei-nen konkreten Beleg dafür liefert André Eckardt in Im Dienst den im Jargon der Zeit ‹plastischen Film› oder ‹Raum- der Werbung – Die Boehner-Film 1926–1967 (2004: 53). film›. Dennoch, so bleibt heute festzuhalten, gelang 2 Im Raum steht somit die Frage, ob der Film vom Bundesar- es dem von Boehner-Film Dresden realisierten Zum chiv in dieser Form digitalisiert worden ist, denn bei der Abtas- Greifen Nah! nicht, den Raumfilm zu kultivieren. tung und Aufbereitung wurden offensichtlich Fehler gemacht. 162 Thomas Heuer konnte jedoch eine einigermaßen originalgetreue ist von der Plastizität der Menschen und Dinge, die Rekonstruierung vorgenommen werden3. Durch nicht mehr ihr Schattendasein auf der Bildwand hohen Zeitaufwand wurde der Film repariert und führen, die vielmehr körperhaft mitten im Theater- liegt nun in einer rezensierbaren Version vor. raum zu stehen scheinen. Es ist ein verblüffender Eindruck, der sich besonders dann zum Höhepunkt Ein Wendpunkt für die Filmtechnik steigert, wenn einer der Schauspieler irgendeinen Gegenstand der Kamera entgegenwirft» (Henseleit Bereits das gewählte Thema des Films verdeutlicht 1937: 1). Auch die Deutsche Filmzeitung vom 12. den Bezug zu den Wurzeln des Mediums Film. Dezember 1937 bescheinigt Zum Greifen Nah! die Angesiedelt auf einem Jahrmarkt wird Spaß und Wirksamkeit der dreidimensionalen Effekte: «Denn Unterhaltung in den Mittelpunkt von Zum Greifen man hatte den tollen Eindruck, daß das Geschoß Nah! gestellt, was einen Zusammenhang mit den einen mitten ins Gesicht treffen müßte und zuckt Anfängen des Films im Allgemeinen herstellen unwillkürlich zusammen» (Schmidt 1937: 5). lässt. Film war eine Jahrmarktattraktion, wobei das Tatsächlich ist es kaum möglich, sich diesen Effek- bewegte Bild selbst die Sensation war und eine ten zu entziehen, der Schuss in die Kamera bzw. auf dramaturgisch motivierte Inszenierung noch in den die Zuschauer verfehlt auch heute nicht die beab- Kinderschuhen steckte. Die Ästhetik des Films, die sichtigte Wirkung der Filmemacher. Einen so treffen- sogenannte Filmsprache, wie wir sie heute kennen, den Effekt vermisst man in vielen stereoskopischen à 1 Drei schnell aufeinander folgende Effekte werden in Richtung der Kamera angewendet. Zunächst ein Greifer, dann Luftschlangen und abschließend Tröten sorgen für ein Aufrechterhalten des Effektes (Quelle: Zum GreiFen nah!) zeichnete sich erst am Horizont ab. Zum Greifen dreidimensionalen Filmen von heute oftmals. Einen Nah! – Bereits der Titel fungiert als Wortspiel für die Eindruck, wie sich dies anfühlt, vermittelt zwar Julia Eigenschaften des dreidimensionalen Films. In den X (P. J. Pettiette, USA 2010) in der ungekürzten folgenden zwölf Minuten (mit Vor- und Abspann) Fassung, wenn Blutstropfen direkt in die Optik der des Werbefilms werden daher auch beeindruckende Kamera geschleudert werden. Allerdings ist dieser und mutig den Raum ausnutzende 3D-Elemente kurze Moment nichts im Vergleich dazu, wenn meh- präsentiert. Von Menschentrauben, die sich über rere Objekte wiederholt für eine längere Dauer in den Jahrmarkt drängen, über Dosenwerfen, bis Richtung der Kamera gerichtet werden und eben hin zum Schießen direkt in die Kamera hinein – es dieser Effekt dauerhaft aufrecht erhalten wird, wie wird einiges für den Zuschauer geboten. In diesem es bei Zum Greifen Nah! der Fall ist (Abb. 1). Zusammenhang verwundert es wenig, dass in der Wenn überhaupt, dann arbeiten nur wenige Licht-Bild-Bühne am 6. Dezember 1937 folgende der aktuellen 3D-Filme in einer solchen Häufig- Beschreibung erscheint: «Die Effekte bei diesem keit mit Effekten in den Zuschauerraum hinein. Film sind so gewählt, daß der Zuschauer oft verblüfft Man kann an Zum Greifen Nah! ableiten, dass die wirkungsvollen Effekte und Strategien des dreidi- mensionalen Films bereits in den 1930er Jahren 3 Mein Besonderer Dank gilt hier Prof. Dr. Bernd Steinbrink vorhanden waren. Die Qualität steht dabei der (Fachhochschule Kiel) für seine Überarbeitung. Auf diesem Weg hat er einen bisher wenig beachteten Meilenstein der heutigen nur in der Bildauflösung nach, jedoch Filmgeschichte wiederhergestellt. Umso mehr ist es eine große nicht in der räumlichen Wirkung. Vereinzelt fin- Ehre für mich diesen besonderen Film rezensieren zu dürfen. den sich solche Momente in aktuellen 3D-Filmen. Zum Greifen nah! 163 Zum Beispiel im Fantasy-Blockbuster Pirates of aktuelle Hype um 3D verfehlt. Denn eine Neu- the Caribbean – Fremde Gezeiten (Pirates of the erfindung der 3D-Ästhetik hat es nicht gegeben, Caribbean: On Stranger Tides, Rob Marshall, USA lediglich eine Verfeinerung. Somit verwundert es 2011), wenn ein schwebender Wassertropfen nicht, dass Felix Henseleit über die Premiere von durch das Bild bewegt wird und sich dabei schein- Zum Greifen Nah! schreibt: «Der gestrige Tag ist bar in den Zuschauerraum hinein bewegt. Auch im Leben des Films ein Wendepunkt» (Henseleit im Trash-Splatter Piranha 3D (Piranha, Alexandre 1937:1). Die Euphorie über die neue Räumlichkeit Aja, USA 2010) ist mehrfach zu sehen, wie die des Films zeigt sich dadurch, dass einige Kritiker titelgebenden Fische Fleischklumpen oder Ähnli- dem Raumfilm einen sicheren Platz in der Zukunft ches in Richtung Kamera ausspucken. Dadurch des Films zuzuordnen (vgl. Röhl 1937:10). Diese wirkt bei diesem Film das Dreidimensionale nicht Prognosen gehen soweit, dass Folgendes ange- einfach nur kommerziell motiviert, sondern tat- nommen wird: «[Um] den plastischen Film [wird sächlich auch als eine Form der Attraktion. Ein es] nicht mehr still werden, bis er sich durchge- weiteres beeindruckendes Beispiel für den Einsatz setzt haben wird» (Deutsche Filmzeitung 1937:1). von 3D-Technik liefert Joe Dante in The Hole (USA 2009). In einer Szene zerspringen unzählige Glüh- Das Verfahren des Raumfilms lampen in einer Lagerhalle. Die umherfliegenden von Zeiss-Ikon Scherben im Zusammenspiel mit den flackernden Lichtern geben einen unerwartet immersiven und Über die zugrunde liegende Technik des Raum- räumlichen Effekt. films von Zeiss-Ikon gibt es mehrere Artikel aus Den meisten 3D-Filmen der letzten Jahre ist zeitgenössischen Zeitungen. Zwei werden hier jedoch eine bestimmte Strukturierung des Räumli- verwendet werden. Einen aus der Licht-Bild-Bühne chen gemein: Die Dreidimensionalität des Raumes vom 4. Dezember 1937 und einen weiteren aus wird meist in die Tiefe der Bildwand hinein insze- Deutsche Filmzeitung vom 12. Dezember 1937. niert und setzt dabei nur selten auf Effekte, die in Interessant an diesen ist, dass abgesehen von Richtung der Kamera wirken. Wie man sich nach einer unterschiedlichen Einleitung die Texte fast diesen Beschreibungen leicht vergegenwärtigen identisch sind. Auffällig ist, dass speziell der Teil kann, liefert Zum Greifen Nah! im Verglich dazu über die Funktionsweise des Raumfilm-Verfahrens ein einziges räumliches Spektakel, dessen spezifi- nicht nur denselben Inhalt, sondern auch densel- sche Strategie vor allem eine Vereinnahmung des ben Wortlaut besitzt. Es erscheint so, als ob es Zuschauerraums zu sein scheint. Dass es sich bei von Zeiss-Ikon eine Erklärung zu dem Verfahren diesem Film um einen der ersten dreidimensio- gegeben hat, dass an beide Redaktionen gesendet nalen Filme handelt, vergisst man schnell, da die wurde. Diese Vermutung lässt sich nicht endgültig Raumeffekte gekonnt und durchdacht zum Einsatz bestätigen. Dennoch werden diese beiden Texte kommen. Vor diesem Hintergrund erscheint der in als primäre Quelle für die Funktionsweise des Zeiss- den letzten Jahren durch Avatar – Aufbruch nach Ikon-Raumfilms verwendet werden. Pandora (Avatar, James Cameron, USA 2009) Die Stärke des Verfahrens steckt in der Tatsache, angestoßene 3D-Hype weniger spektakulär. Ange- dass zur Aufzeichnung auf einen gewöhnlichen sichts der vorliegenden Kinotechnik die Zeiss-Ikon Filmstreifen lediglich ein Vorsatz benötigt wird, der bereits 1937 präsentierte und dem, was Zum zwei Bilder aufnimmt, die im Augenabstand auf Greifen Nah! den Rezipienten bietet, wirken viele den Filmstreifen belichtet werden. Die beiden Bil- moderne 3D-Filme kaum noch zeitgemäß. der sind um jeweils 90° gedreht, damit sie parallel Führt man sich in diesem Zusammenhang zueinander auf nur einem Filmstreifen Platz finden. vor Augen, dass Filme wie Alfred Hitchcocks Bei Auf der Produktionsseite ist somit der Kameravor- Anruf Mord (Dial M for Murder, USA 1954) satz das einzige Zusätzliche, was benötigt wird, oder Der Schrecken vom Amazonas (Crea- um mit einer zeitgemäßen Kamera Raumfilmauf- ture from the Black Lagoon, Jack Arnold, USA nahmen zu tätigen. Damit diese auch bei Vorfüh- 1954), um nur einige zu nennen, sowohl in ihrem rungen mit normalen Projektoren so abgespielt Erscheinungsjahr mit Polarisationstechnik-3D werden können, dass jeder Zuschauer die räumli- in die Kinos gebracht wurden, als auch in den che Wirkung des Films bewundern kann, benötigt vergangenen Jahren als 3D-BluRay-Discs für das der Projektor ebenfalls einen Stereo-Vorsatz. Dieser Heimkino neu aufgelegt worden sind, wirkt der projiziert die über Spiegel ausgerichteten Bilder des 164 Thomas Heuer und auch in den Wohnzimmern hält eine vergleich- bare Technik zunehmend Einzug. Zwischen technischem Fortschritt und Spektakel Zum Greifen Nah! setzt bei der gesamten Inszenie- rung auf die Darstellung von Spaß. Der Jahrmarkt als Handlungsort wurde nicht zufällig gewählt. Dort können diverse räumliche Elemente gezeigt und dennoch spielerisch in den Film integriert werden. Das dabei die Räumlichkeit als neue Attraktion des Films betont wird, ist in diesem Zusammenhang nur logisch. Kam man überhaupt mit räumlichen Bildern in Berührung, dann war à 2 Zeiss-Ikon Raumfilm (Quelle: Eckardt 2004:53) das Anaglyphen-Verfahren (rot-grün) der übliche Weg, um räumliche Effekte darzustellen. Dieses führte jedoch wiederkehrend zu Farbverzerrungen Filmstreifens so, dass diese überlagert auf einen Sil- und -verschiebungen, wodurch diese Technik nicht berschirm geworfen werden. Mit Hilfe von Polarisa- sehr erfolgreich und beliebt war. Das erste Polari- tionsfiltern werden die Lichtwellen des Projektors sationsverfahren war somit auf technischer Seite so kalibriert, dass die jeweiligen Bilder eben die Lichtwellen enthalten, die für das linke und rechte Bild zugeordnet werden. Die Zuschauer benötigen somit eine spezielle Brille, die mit zwei unterschied- lichen Polarisationsfiltern ausgestattet ist, damit jedes Auge nur eines der beiden Bilder sieht. Das andere wird vom Filter blockiert, wodurch Rezipi- enten zwei Bilder im adäquaten Augenabstand präsentiert bekommen. Daraus entsteht dann der Eindruck eines räumlichen Bildes (Abb. 2). Das Verfahren benötigt also zusätzlich zu den Vorsätzen für Kamera und Projektor mit dem Sil- berschirm eine spezielle Leinwand und Polarisati- onsfilter-Brillen. Da dieses Verfahren keine Farbver- zerrungen verursacht, wäre es theoretisch auch für à 3 Dosenwerfen (Quelle: Zum GreiFen nah!) den Farbfilm nutzbar. Auf diesem Weg hat der Film optisch die Illusion von räumlicher Tiefe bereits in ein bedeutsamer Fortschritt. Auf der anderen Seite einer Zeit entwickelt, als der Tonfilm noch in den setzte man auf das Spektakel eines Jahrmarktbe- Kinderschuhen steckte. suchs, um viele beeindruckende Effekte für die Durch den zweiten Weltkrieg wurde das Ver- Zuschauer einsetzen zu können. Ständig regnet fahren ab einem bestimmten Punkt nicht weiter es Konfetti und Luftschlangen fliegen, an allen eingesetzt. Es gibt lediglich einen weiteren öffentli- Ständen sind viele Menschen und ständig stehen chen Film, bei dem diese Technik zum Einsatz kam: Attraktion und Spaß im Zentrum des Geschehens. Sechs Mädel rollen ins Wochenende (Kurt Engel, So zum Beispiel beim Dosenwerfen4, wo neben den D 1939). Das Verfahren wurde «für Lehrfilme der neu Verliebten im Mittelpunkt des Bildes viele wei- Wehrmacht angewandt, und Rekruten übten so auf dreidimensionale Weise Geländeerkundung und Entfernungschätzen» (Die Zeit 1953). Noch 4 In diesem Film wird nicht auf echte Dosen geworfen, heute wird ein Polarisationsverfahren für dreidi- sondern mit den geworfenen Bällen werden Becher aus Ke- mensionale Filme in den meisten Kinos verwendet ramik zerstört. Zum Greifen nah! 165 Zum Greifen Nah! ist ein Film voller dreidimen- sionaler Elemente, der zuweilen schwer anzusehen ist. Wie viel von dieser Schwierigkeit der schlech- ten Kopie geschuldet ist, kann nicht beurteilt wer- den. Der permanent das Bild störende Hinweis «Bundesarchiv» deckt Elemente des Bildes ab und erschwert somit die wissenschaftliche Auswertung im Sinne der Wirkungsforschung. Denn dieser Hin- weis steht statisch vor der insgesamt unruhigen Szenerie. Dadurch wird man vom eigentlichen Film leicht abgelenkt, was eine ausführliche Analyse erschwert. à 4 Folksfürsorge für Deutschland Fazit (Quelle: Zum GreiFen nah!) Die Boehner-Film Dresden, Zeiss-Ikon und die Volks- führsorge haben einen Meilenstein der 3D-Technik tere Personen bis in die hinterste Reihe stehen, um erschaffen. Lange vor dem ersten großen 3D-Hype Zeuge des Spektakels werden zu können (Abb. 3). hat Zeiss-Ikon die Polarisationstechnik verwendet, Zudem wurde der Hintergrund so eingerichtet, um damit eine Illusion von Räumlichkeit im Film zu dass es mehre Anhaltspunkte für räumliche Tiefe erzeugen. Auch wenn der Film in vielen Publikatio- gibt. Das Set scheint gestaffelt zu sein und alles nen erwähnt wird, haben nur wenige die Möglich- ist auf einen möglichst wirkungsvollen Raumeffekt keit gehabt, den Film sehen zu können. Mit dieser ausgerichtet. Seien es wackelnde Vorhänge, Luft- Rezension wurde ein Eindruck der ausschlaggeben- ballons oder Konfetti, die Tiefe des Raumes ist zu den Neuerungen und räumlichen Elemente geschil- keinem Zeitpunkt statisch. Erst ganz am Ende wird dert, die Zum Greifen Nah! zu einem zeitlosen Mei- die Werbebotschaft in Form einer Vorsorge durch lenstein des dreidimensionalen Films machen. die Volksfürsorge deutlich, wenn sich Holzfiguren von Hamburg aus auf den Weg ins deutsche Reich machen (Abb. 4). Literatur Durch die Produktion als Werbefilm gelang Eckardt, André (2004) Im Dienst der Werbung. Die Boeh- es, dieses riskante Projekt zu finanzieren, ohne ner-Film 1926–1967. Berlin: CineGraph Babelsberg dabei das Risiko einzugehen, keine ausreichende Die Zeit (1953) Und in Deutschland… Die ersten drei- Zuschauerzahl zu erreichen. Die Volksfürsorge dimensionalen Filme. In: Die Zeit v. 19.03.1953. S. verfügte 1937 über eine eigene Filmvorführorga- 23. Online: http://www.zeit.de/1953/12/und-in- nisation, die im Jahr circa 2500 Vorführungen deutschland [08.04.2013] machte und damit im gesamten deutschen Reich Deutsche Filmzeitung (1937) Raumbild und Raumton. bis zu eine halbe Million Zuschauer erreichte (vgl. In: Deutsche Filmzeitung, Nr. 46/1937 v. 12.12.1937. Deutsche Filmzeitung 1937). Angesichts der vor- S. 1–2 liegenden Technik musste die Volksfürsorge somit Henseleit, Felix (1937) Der erste Raumtonfilm. In: Licht- lediglich Projektorvorsätze, Silberschirme und Bild-Bühne, Nr. 283, 1937. S. 1 Polarisationsfilter-Brillen beschaffen, um in spekta- Licht-Bild-Bühne (1937) Der Plastische Film und seine kulärer Optik einen Werbefilm der breiten Masse Zukunft. In: Licht-Bild-Bühne, Nr. 282, 1937. S. 1–2 zu präsentieren5. Röhl, Fritz (1937) Zehn Jahre Werbefilm-Praxis/Ein Pio- nier des deutschen Werbefilms/Uraufführung des 5 Die weitere Entwicklung des Raumfilms in Deutschland ersten Raumfilms. In: Der Film v. 11.12.1937. S. 10 wird durch den zweiten Weltkrieg verhindert. Zudem wird Schmidt, A. M. (1937) Die «Freude am Leben» wird «Zum in der optischen Entwicklung verstärkt auf den Farbfilm Greifen nah». In: Deutsche Filmzeitung, Nr. 46/1937 gesetzt, statt weitere Bestrebungen im räumlichen Film v. 12.12.1937. S. 5 durchzusetzen. Agfa war international bekanntlich eines der führenden Unternehmen in der Farbfilmentwicklung. Damit Zone, Ray (2007) Stereoscopic Cinema and the Origins of waren die Deutschen in diesem Bereich ebenfalls weit vorne 3-D Film 1838–1952. Lexington: The University Press im internationalen Vergleich. of Kentucky 166 Thomas Heuer dIE 360°-FulldoME-show We are aliens Von nsc crEatIVE Jürgen Rienow Im letzten Jahrbuch immersiver Medien (2012) wurde die Show We are Astronomers (UK 2009) von NSC creative vorgestellt. Nun hat die Produk- tionsfirma, die sich am National Space Centre in Leicester befindet, eine Art Fortsetzung produziert: We are Aliens erschien im Jahr 2012; die Premiere fand auf dem Festival Fulldome UK am 16. Novem- ber 2012 statt. Zuerst sei festgehalten, dass mehrteilige Pro- duktionen, wie man sie aus Hollywood kennt, im Fulldome-Bereich sehr unüblich sind. Das einzige weitere Beispiel, das dem Autor bekannt ist, ist die sich in Produktion befindliche Reihe «Planet Erde 3D» des Planetariums Hamburg, deren ers- ter Teil Planet Erde – Alarmstufe Grün (D 2011) im November 2010 erschienen ist.1 Da anders als im Kino nicht damit gerechnet werden kann, dass jeder Zuschauer die ersten Teile gesehen hat, können die Filme auch alleinstehend verstanden werden. Dieses gilt auch für We are Aliens. Das Besondere ist hierbei das durchgehende Design und das Verwenden von bestimmten visuellen Elementen, wie beispielsweise die stilisierten Men- schen (die sogenannten 2.0s). Deren Bezeichnung wird besonders sprechend, vergleicht man sie mit We are alienS (nsc creative, uK 2012, 25 min.) den am Ende sichtbaren stilisierten Aliens (die sogenannten 3.0s), von denen einige aussehen wie die Menschen, aber drei Augen tragen. 1 Online unter: http://www.planetarium-hamburg. de/uploads/media/planet-erde_3D_pressemappe.pdf [20.07.2013]. Die 360°-Fulldome-Show We are Aliens von NSC creative 167 à 1 Der Mars-Rover ExoFalcon auf der Mars-Oberfläche (Quelle: We are alienS) Die Show beginnt, wie schon der Vorgänger, mit Bezeichnet für das Design der Shows ist auch einer stark stilisierten Darstellung der Erde; dies- die kommende Szene: Während andere Shows mit mal aber nicht mit Bezug auf die Astronomiege- einem ähnlichen Thema häufig auf fotorealistische schichte, sondern mit der Besiedelung durch die Renderings des Planeten Mars setzen, wird hier Menschen. Über dieser Darstellung öffnet sich der die Darstellung des Sonnensystems unterbrochen Sternenhimmel und die Hauptfrage, die auch den und durch einen – den Designelementen der Show Untertitel der Show geliefert hat, wird gestellt: entsprechenden – Computerhintergrund ersetzt, «Are We Alone?» Während danach die Kamera vor dem eine aus texturiertem Objekt und Draht- durch die Weiten des Alls saust, kommen – wie in gittermodell erzeugte Mischdarstellung des Mars einer Interviewsituation – 2.0s zu Wort, die Vermu- zu sehen ist. Wie auch bei We are Astronomers tungen über Aliens anstellen. Der letzte hier geäu- kommen nun Astronomen mit Video und Original- ßerte Satz «I want to believe» ist eine Hommage an ton zu Wort, die den Planeten und die aktuellen die Fernsehserie Akte X – Die unheimlichen Fälle Forschungsziele erklären. Dies leitet über zu einer des FBI (The X-Files, FOX, USA/CDN 1993–2002). Darstellung der Sonde, die den Mars-Rover Curio- Das Thema der Fulldome-Show ist die Suche sity trägt. Diese wird in einer 3D-Blaupause ausein- nach Leben; bei der Darstellung dieses Motivs andergenommen, so dass die einzelnen Komponen- weicht das Konzept der Show nun allerdings vom ten sichtbar werden. Auch hier ist eine Parallelität, Vorgänger ab: zuerst werden die Fundorte von sowohl im Design, als auch vom Storytelling in Leben auf unserer eigenen Erde vorgestellt. Der Bezug auf die Vorgängershow deutlich sichtbar. Betrachter taucht in kugelförmige Ausschnitte Die Raumsonde setzt sich nun wieder zusam- von Lebensräumen ein, bevor die Suche sich auf men und wird im Kopf einer stilisierten Rakete die grundlegendste Form des Lebens beschränkt: untergebracht, die anschließend startet und mit Mikroben. Deren zum Teil extreme Lebensräume den Zuschauern aus den Designelementen des Hin- werden überall auf der Erde markiert. Mit der Hoff- tergrundes hinausfliegt; dies erlaubt auf elegante nung, auch auf anderen Planeten Leben zu finden, Weise den Wechsel zu einer fotorealistischen Dar- fliegt die Kamera hinaus in unser Sonnensystem stellung der Landung von Curiosity auf dem Mars. und zeigt im Vorbeiflug mögliche Stationen: den Wer allerdings genau hinschaut, kann sehen, dass Saturnmond Titan, den Jupitermond Europa und zwar der grundsätzliche Ablauf der Landung gleich als letztes des Mars. ist, die Beschriftung aber nicht Curiosity sondern 168 Jürgen Rienow à 2 «Just right!» (Quelle: We are alienS) ExoFalcon lautet. Die Verwunderung wird noch grö- visuell ausgesprochen reizvoll und gut geeignet ßer, als im Betrieb des Rovers deutlich wird, dass für das Kuppelmedium, so dass diese Passagen zu auch der Aufbau des Rovers dem von Curiosity überwältigen wissen – dennoch wird vom Sprecher lediglich ähnlich ist und auch die Messinstrumente betont, dass diese Darstellungen nicht der Realität eine abweichende Funktionalität haben. entsprechen, sondern dem Reich der Imagination Eine Nachfrage bei den Produzenten ergab, und Fiktion zuzuordnen sind. dass das Design bewusst fiktional gehalten wurde, Die Show beschäftigt sich nun mit der Suche um die verwendete Technik des Rovers besser zei- nach Exoplaneten. Um die 2.0s zu Wort kom- gen zu können und einige verschiedene Ansätze men zu lassen, wird nun auf eine cartoon-artige möglicher Designs und Funktionalitäten zu zeigen, Darstellung gewechselt. Die 2.0s als Astronomen auch wenn diese nicht alle oder in anderer Form beobachten die Exoplaneten mit Hilfe der Verde- im realen Rover eingebaut worden sind: Der Exo- ckungs- bzw. Transitmethode2 und untersuchen, Falcon ist am besten beschreibbar als eine Kombi- ob sich der Planet in der sogenannte «Goldilock nation der Curiosity- (NASA) und ExoMars-Mission zone» (Goldlöckchen-Zone, also im genau richti- (ESA). Einige andere Elemente wie z.B. der Name gen Abstand zum Zentralstern, nicht zu warm und sind abgeändert worden, damit diese Hybrid-Ver- nicht zu kalt) befinden. Ein als Planet verkleideter sion nicht mit den Originalen verwechselt wird. 2.0 wird zu nah oder zu weit von einer den Stern Die Show wendet sich nun dem Mond Europa repräsentierenden Glühbirne positioniert und ver- zu, dessen riesige Gletscherspalten für einen rasan- brennt oder erfriert. Diese ganze Szene ist sehr ten Kameraflug genutzt werden. Man taucht durch humorvoll umgesetzt und natürlich überlebt der eine Lücke in der Eisdecke in den unter den Eismas- kleine Protagonist. sen vermuteten Ozean und besucht die untersee- Der nun folgende Blick zu einem Exoplaneten ischen Vulkanschlote, die dort zu finden sein sollen. erklärt anhand von Spektralanalyse, wie Forscher Die Show unternimmt nun einen weiteren nach den Spuren von Leben (hier: Sauerstoff) Exkurs in den Bereich der Fiktion und zeigt mög- liches außerirdisches Leben im Ozean von Europa. Neben bewohnten Black Smokers wird eine Viel- 2 Gemeint ist damit, dass das Licht eines Sterns etwas dunkler wird, wenn ein Planet vor ihm vorbeizieht (siehe zahl an selbstleuchtenden Mikroben bzw. Plank- http://www.uni-koeln.de/~lcarone/german/Exoplanet/ ton bis hin zu Alien-Tintenfischen gezeigt. Dies ist Transitmethode.html [27.07.2013]). Die 360°-Fulldome-Show We are Aliens von NSC creative 169 à 3 Aliens in einer interstellaren Community (Quelle: We are alienS) suchen. Die Fiktion wird von Mikroben ausge- lare Freundschaft ausdrücken soll, besucht die hend weiter gedacht: Wenn Leben gefunden wird, Kamera jedes Alien nacheinander, das dann einen könnte es sein, dass sich eine Spezies soweit ent- Teil der Credits in einer Sprechblase ‹vorliest›. wickelt hat, dass sie nach Leben im Universum Es fällt auf, wie nah das Konzept sich an der sucht? Mit einer beeindruckenden Einstellung der Vorgängershow orientiert. Dies ist aber kein Nach- (fiktiven) Nachtseite des Planeten, auf der viele teil, da bereits We Are Astronomers ein ausgespro- Lichter angehen, schwenkt die Kamera zu einem chen erfolgreiches Produkt ist. Besonders fällt die Teleskoparray, das die Aliens gebaut haben. Und Übernahme des Designs auf, so dass auch in dieser offenbar empfangen sie uns Menschen, denn aus Show eine Vielzahl visueller Information enthalten dem akustischen Rauschen löst sich die Melo- ist, die weit über den gesprochenen Text hinaus- die «An der schönen blauen Donau» von Johann geht und zum mehrmaligen Schauen einlädt. Auf Strauss – vermutlich eine Hommage an den Film diese Weise ist selbst für Kenner der Materie viel 2001: Odyssee im Weltraum (2001: A Space Odyssey, Information in der Show enthalten. Stanley Kubrick, GB/USA/F 1968). Mit einer Dauer von knapp 25 Minuten ent- Ähnlich wie in der Vorgängershow kehrt die spricht die Show dem internationalen Standard für Erzählung nun zurück zu den 2.0s, die als Astrono- Fulldome-Shows. Gesprochen wird sie vom Schau- men auf der Wiese nachts die Sterne beobachten. spieler Rupert Grint, der den meisten als Ron Weas- Aber die Fiktion der Szene vorher bricht nicht ab, ley aus den Harry Potter-Filmen (2001–2011) denn die Kamera zoomt nun hinaus, fliegt aus der bekannt sein dürfte. Damit setzt sich auch hier die Milchstraße heraus, und die Möglichkeit eines gro- Tradition fort, einen jungen bekannten Schauspie- ßen interstellaren Netzwerks von Zivilisation wird ler als Sprecher einzusetzen. aufgezeigt und in dem Modell der Milchstraße Die Produktion ist für Kinder und Erwachsene verzeichnet. Sehr optimistisch wird die Möglichkeit geeignet. Die teilweise sehr einfach erklärten zum Ideenaustausch zwischen den Zivilisationen Zusammenhänge in Kombination mit Achterbahn- genannt. Wie diese unterschiedlichen Lebensfor- fahrt und einem großen Science-Fiction-Anteil spre- men aussehen könnten, wird anschließend im ori- chen sicherlich gut ein jüngeres Publikum an. ginellen Stil der Show gezeigt. Hier sind natürlich Wie beim Vorgänger ist die visuelle Qualität auch die 3.0s vertreten. Nachdem alle Aliens wohl sehr hoch; die Detailfülle der Landschaften ist auf- eine Like-Button gedrückt haben, der die interstel- grund der Themenauswahl allerdings nur selten 170 Jürgen Rienow sichtbar. Deutlich angenehmer ist die Anzahl und Produktionsprozess dieser Show sei noch erwähnt, Schnelligkeit von Szenenwechseln und Blenden: Es dass die Fulldome-Community eingeladen wurde, wurde an einigen Stellen vermieden zu schneiden mitzumachen: Als Originaltöne der 2.0s der und lieber eine Kamerafahrt eingefügt, an anderen Anfangsszene wollte das Produktionsteam nicht Stellen wird anstelle eines harten Schnittes abge- wieder die Einwohner der Stadt Leicester intervie- blendet und die neue Szene langsam eingeblendet. wen, sondern ein Gefühl der Internationalität bei Die Themen sind in Bezug auf die visuelle Qua- den Zuschauern hervorrufen: Auf der Fulldome- lität ähnlich gut umgesetzt wie beim Vorgänger, Mailingliste wurde gebeten, die Sätze der 2.0s ein- allerdings bietet die Show keine so hohe Anzahl zusprechen und die Tondatei (samt einer Rechts- angesprochener Themen. So wurde beispielsweise verzichtserklärung) an das Team zu schicken; mit auf die Erklärung der zum Planetennachweis eben- einer Einschränkung: Die Sprecher durften keine falls häufig genutzten Doppler-Wobble-Methode3 Engländer sein. Eine Garantie für die Nutzung des nicht eingegangen. Trotzdem wünscht man sich Samples konnte allerdings nicht gegeben werden, auch hier teilweise mehr Zeit zum Schauen, denn da nicht abgeschätzt werden konnte, wie viele die animierten Elemente sind vielfältig und hoch- Einsendungen tatsächlich vorhanden sein wür- wertig ausgearbeitet. Daher möchte ich an dieser den. Ich selbst habe an die Gelegenheit genutzt Stelle erneut die Empfehlung aussprechen, einige und konnte auf der Premiere der Show ein mit Sequenzen langsamer oder länger zu erzeugen, meinem Sprachsample animierten 2.0 bewundern. um auch eine 45-Minuten-Version zu bereitstellen Die Sprecher werden im Abspann genannt, so dass zu können, die für den deutschen Markt geeig- diese Aktion der Einbindung der Fulldome-Com- neter ist. Insbesondere die Hybridisierung des munity als besonderer Meilenstein zu werten ist, Mars-Rovers zu einem neuen Produkt könnte die zumal gleichzeitig die Zielgruppe für den Erwerb Produktion in Deutschland, aber auch im Ausland der Show angesprochen wurde. unattraktiv machen: Auch wenn die Idee, mehrere Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die beiden Ansätze auf einmal zu zeigen, nachvollziehbar ist, Shows We Are Astronomers und We Are Aliens könnte die daraus entstehende wissenschaftliche ein wichtiges Indiz dafür sind, dass der Fulldome- Ungenauigkeit dazu führen, dass We Are Aliens Markt wächst und sich neben den Vorreitern von nicht so stark nachgefragt wird. mirage3D aus den Niederlanden nun auch eine Wie bereits der Vorgänger ist diese Show stark englischsprachige Produktionsfirma mit professi- gerichtet, d.h. insbesondere für Fulldome-Kuppeln onellen Produkten behaupten kann. Wenn diese mit gerichteter Bestuhlung und Neigung (Tilt) pro- Shows allerdings international vermarktet werden duziert. Der Grund ist nicht nur die geneigte Kup- sollen, muss NSC creative noch stärker auf die pel am NSC, sondern auch die Weiterverwertung Mehrsprachigkeit setzen. Eine Version mit deut- der Show im 16:9-Format, so dass DVDs mit dem schem Sprechertext ist zurzeit noch nicht verfügbar. Film verkauft werden können.4 Als Besonderheit im 3 Diese Methode bezieht sich darauf, dass man durch das ‹Wackeln› eines Sterns erkennen kann, dass ein anderer Pla- net mit seiner Schwerkraft an ihm zieht. 4 Die Abbildungen in diesem Artikel nutzen ebenfalls die Verfügbarkeit dieses Formates aus. Die 360°-Fulldome-Show We are Aliens von NSC creative 171 autorenhinWeise Matthias Bauer, Prof. Dr., studierte Germanis- von Stadtraum Stipendiatin im Rahmen des Marie tik, Geschichte und Publizistik an der Universität Heim-Vögtlin Programms des Schweizerischen Mainz. Seit 2008 Professor für Neuere Deutsche Nationalfonds; seit 2011 assoziiertes Mitglied Literaturwissenschaft an der Universität Flens- des SNF Pro*Doc Art&Science der Universitäten burg. Arbeitsschwerpunkte: Erzählforschung, Film- Fribourg, Lausanne, Genf und Bern sowie der ETH und Medienanalyse, Wissenschaftsgeschichte und Zürich; 2003–2007 Mitherausgeberin des wissen- Semiotik. Publikationen u.a.: Romantheorie und schaftlichen Online-Magazins Städte im Umbruch Erzählforschung. Eine Einführung (2005); Schwer- – Das Online Magazin für Stadtentwicklung, Stadt- kraft und Leichtsinn. Kreative Zeichenhandlungen schrumpfung, Stadtumbau & Regenerierung (www. im intermediären Feld von Wissenschaft und Lite- schrumpfende-stadt.de). Ihre Forschungsschwer- ratur (2005); Berlin. Medien- und Kulturgeschichte punkte sind: Städtebautheorie, Geschichte des einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert (2007); Dia- Städtebaus, Stadtästhetik, suburbane Raument- grammatik. Einführung in ein neues medien- und wicklung. Ausgewählte Publikationen: A Plea for kulturwissenschaftliches Forschungsfeld (2010, Spatial Knowledge... In: Le Journal Spéciale ‚Z, H.4. zusammen mit Christoph Ernst); zuletzt erschie- S.66–81 (2012, zusammen mit Andri Gerber); Die nen: Mythopoetik in Film und Literatur (2011, her- gelebte Stadt. Phänomenologische Lesarten. In: ausgegeben mit Maren Jäger). RaumErleben. Zur Wahrnehmung des Raumes in Wissenschaft und Praxis. Hg. von Heike Herrmann. Gernot Böhme, Prof. Dr., Studium der Mathematik, S. 189–198 (2010); Handbuch zum Stadtrand. Physik, Philosophie. Von 1970–1977 wissenschaft- Gestaltungsstrategien für den suburbanen Raum. licher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts in Starn- Hg. von Vittorio Magnago Lampugnani und Mat- berg zur Erforschung der Lebensbedingungen der thias Noell (2007). wissenschaftlich-technischen Welt; von 1977–2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt; Lars Christian Grabbe, Dr., Studium der Philo- 1997–2001 Sprecher des Graduiertenkollegs Tech- sophie, Soziologie und Neue Deutsche Literatur- nisierung und Gesellschaft. Seit 2005 Direktor des wissenschaft und Medienwissenschaften an der Instituts für Praxis der Philosophie, IPPh., Darm- Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). 2011 stadt. Vorsitzender der Darmstädter Goethegesell- promovierte er an der Technischen Universität schaft. Denkbar-Preis für obliques Denken 2003. Chemnitz zum Thema Georg Simmels Objektwelt. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Wissen- Verstehensmodelle zwischen Geschichtsphiloso- schaftsforschung, Ästhetik, Technische Zivilisation, phie und Ästhetik. Seit 2010 ist er Lehrbeauf- Philosophische Anthropologie. Publikationen zum tragter für «Theorie und Geschichte symbolischer Thema Atmosphäre u.a.: Anmutungen. Über das Formen» am Instituts für Kunst-, Design- und Atmosphärische (1998); Aisthetik. Vorlesungen Medienwissenschaften (IKDM) der Muthesius- über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre Kunsthochschule in Kiel. Oktober 2011 bis März (2001); Architektur und Atmosphäre (2006). 2012 Freisemestervertretung von Prof. Dr. Norbert M. Schmitz am Fachbereich Ästhetik der Muthe- Anne Brandl, Dipl.-Ing., von 1997–2003 Studium sius Kunsthochschule in Kiel. Arbeitet als Ver- der Stadt- und Regionalplanung an der Branden- lagsredakteur und Wissenschaftspublizist in Kiel. burgischen Technischen Universität Cottbus; von Entwickelt sein Habilitationsprojekt zur Theorie 2004 bis 2011 lehrte und forschte sie am Lehr- der repräsentationalen Konvergenz (Immersion). stuhl für Geschichte des Städtebaus an der ETH Er ist Gründungsmitglied des Bildwissenschaftli- Zürich; von 2011 bis 2013 war sie mit ihrem Disser- chen Kolloquiums an der CAU zu Kiel sowie der tationsprojekt Der Mensch in der Städtebautheorie Forschungsgruppe Bewegtbildwissenschaft Kiel des 20. Jahrhunderts. Die sinnliche Wahrnehmung (FBK), Mitglied des DFG-Netzwerks »Bildphiloso- 172 Autorenverzeichnis phie« und wissenschaftlicher Beirat der Gesell- rere Veröffentlichungen in Vorbereitung. Seine schaft für interdisziplinäre Bildwissenschaft e.V. Arbeitsschwerpunkte umfassen Filmwissenschaft Forschungsschwerpunkte: Medienphilosophie, (3D-Filme, Asiatischer Film [Schwerpunkt Japan Bildwissenschaft, Kulturphilosophie, Ästhetik, und Südkorea], Extremer Film, Filmgeschichte, Hor- Semiotik, Medien- und Filmwissenschaft. Ausge- ror, gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse auf wählte Publikationen: Georg Simmels Objektwelt. den Film, Mainstream und Hollywood, Remakes), Verstehensmodelle zwischen Geschichtsphilosophie Immersion, Medienarchäologie (Computereinfluss und Ästhetik (2011); Immersion und ästhetisches auf Medien, Diagrammatik, stereoskope Bilddar- Bewusstsein. Die Konvergenz externer und interner stellung) und Videospielwissenschaft (Grenzen Repräsentationen im Kontext philosophischer und zwischen Film und Videospiel, Interactive Story- kunsttheoretischer Tradition. In: Jahrbuch immersi- telling). Ferner ist er als Mitarbeiter von www.mel- ver Medien 2012. S. 71–85 (2012); IMAGE – Zeit- lowdramatix.de mit den Schwerpunkten Film und schrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, 17/1 Videospiel tätig. (2013, herausgegeben mit Rebecca Borschtschow und Patrick Rupert-Kruse). Tobias Hochscherf, Prof. Dr., Professor für audio- visuelle Medien an der Fachhochschule Kiel. Seine Sönke Hahn, M.F.A., 2006–2009 Studium Media Forschungsschwerpunkte umfassen Film- und Fern- Design (B.A.) an der Rheinischen Fachhochschule sehgeschichte, transnationalen Film und Medien- Köln, Fokus auf Werbung/Cross Media, Schwer- rezeption Er hat zahlreiche Buchkapitel und Arti- punkt «Innovationsfelder im Mediendesign»; kel zur Film- und Fernsehgeschichte verfasst und 2009–2010 Selbstständigkeit im Großraum Köln/ ist Autor des Buches The Continental Connection: Bonn: Corporate Design und Werbung; 2010–2012 German-speaking Émigrés and British Cinema, Studium Medienkunst und Mediengestaltung 1927–1949 (2011); er ist zudem Mitherausgeber (M.F.A.) an der Bauhaus-Universität Weimar mit des Historical Journal of Film, Radio and Television Fokus auf filmische Medien; seit 2012 Doktorand (Routledge) sowie des Journal of Popular Television im Ph.D.-Programm «Medienkunst» an der BUW, (Intellect); Divided, but Not Disconnected: German Forschungsschwerpunkt: Narration und Ästhetik Experiences of the Cold War (2010) und British komplexer TV-Serien. In weiteren Forschungsgebie- Science Fiction Film and Television: Critical Essays ten befasst er sich mit der Ästhetik des Fulldome- (2011). Mediums sowie dessen spezifischen Narrations- potentialen und mit der mythisch konstruierten/ Andreas Kretzer, Dipl.-Ing., Studium der Archi- geprägten Dramaturgie klassischer Spielfilme. Er ist tektur an der Technischen Universität München, als Filmemacher und Designer tätig. Ausgewählte Studium der Szenographie an der Hochschule für Publikationen: Film und Wirklichkeit – Die Bedeu- Fernsehen und Film München; 2001 bis 2004 tung des Mythos im Rezeptionsprozess (2009); angestellter Architekt im Architekturbüro Hild und «Ich schaue kein Fernsehen, nur Qualitätsserien» K, München; seit 2004 eigenes Büro und selbstän- – Hintergründe eines kontroversen Begriffs und dige Tätigkeit; seit 2005 Mitglied der Bayerischen Beispiele qualitativer, serieller Produkte und Ten- Architektenkammer; 2008 bis 2010 Lehraufträge denzen aus Deutschland. In: Journal of Serial Nar- und wissenschaftliche Mitarbeit am Fachgebiet ration on Television, Nr. 2, Sommer 2013. S. 11–26 Raumgestaltung und Entwerfen an der Techni- (2013). Ausgewählte Filme: breakFAST (2011/12, schen Universität Darmstadt; Workshops und Vor- FD & 16:9; Performance Award, Fulldome Festival träge zur architektonischen Raumdarstellung an 2013, Jena); Eine deutsche Jagdgeschichte (2012; verschiedenen Universitäten; seit 2011 Juniorpro- Silber, FantEx Festival 2013, Waiblingen). fessor am Fachgebiet Digitale Werkzeuge an der Technische Universität Kaiserslautern. Thomas Heuer, B.A., Bachelorstudium Multime- dia Production an der Fachhochschule Kiel (Thema Davor Löffler, Dipl.-Soz., Studium der Soziologie, der Bachelorthesis: Umweg Hollywood: Interna- Philosophie und Psychologie an der Freien Uni- tionalisierung von J-Horrorfilmen am Beispiel von versität Berlin; Dozent für Soziologie an der Ber- ringu und The ring, 2010). Zurzeit absolviert er liner Technischen Kunstschule; promoviert an der ein Masterstudium der Medienwissenschaft an Freien Universität Berlin zum Thema Zivilisations- der Humboldt Universität zu Berlin und hat meh- geschichte und Kognitionsentwicklung; Mither- Autorenverzeichnis 173 ausgeber der Buchreihe menschenformen und des Julia Otto, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Magazins Plateau. Zeitschrift für experimentelle Geschichte der Medizin, Publizistik- und Kommuni- Kulturanthropologie. Seine Forschungsschwer- kationswissenschaften in Göttingen, Venedig und punkte umfassen Theorien der Kultur- und Zivilisa- Perugia; 2004 Dissertation im Bereich zeitgenös- tionsentwicklung, philosophische und historische sische Kunst zum Thema Skulptur als Feld. Flache Anthropologie, Epistemologie und neuere Sozial- Bodenplastik seit 1960; seit 2005 im Kunstmu- theorie. Ausgewählte Publikationen: Einbruch in seum Celle mit Sammlung Robert Simon, das erste die Technosphäre. Skizze eines postanthropischen 24-Stunden-Kunstmuseum der Welt, tätig; 2005– Technikbegriffs zur weiteren Erkundung der Mög- 2007 Volontariat, seit 2007 Kuratorin und stell- lichkeit technogener Nähe. In: ’Menschen’ formen vertretende Leiterin; 2012–2013 wissenschaftliche Menschenformen: Zum technologischen Umbau Betreuung der Kunstsammlung und Galerie der der conditio humana. Hg. von Bernd Ternes. S. NORD/LB Hannover. Ihre Interessenschwerpunkte 197–291 (2009); Endlichkeitskaskaden. Fünf Auf- als Kuratorin liegen im Bereich Gegenwartskunst, sätze über den Rand (2009); Über das Hören des insbesondere Skulptur, Installation, Lichtkunst und stillen Wunders Musik. In: Plateau. Zeitschrift für Klangkunst. Ausgewählte Publikationen: Skulptur experimentelle Kulturanthropologie. Vol. 3, Musik als Feld. Ausst. Kat. Kunstverein Göttingen (2001); und Musizismus (2006, herausgegeben mit Ulas Sonar – elf Künstler, ein Klangraum. HBK Braun- Aktas und Torsten Leder); Reconstruir el futuro y el schweig – Klasse Ulrich Eller. Ausst. Kat. Kunstmu- pasado a través del pensamiento presente y la his- seum Celle mit Sammlung Robert Simon (2007); toria. In: Journal of Feelsynapsis, No. 10. S. 40–44 Bei Nacht. Lichtkunst aus der Sammlung Robert (2013, zusammen mit Daniel Moreno). Simon. Kunstmuseum Celle mit Sammlung Robert Simon (2010, herausgegeben mit Susanne McDo- Christina Katharina May, M.A., studierte Kunstge- well und Robert Simon). schichte und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Uni- versität Bochum. Thema ihrer kunsthistorischen Andreas Rauh, Dr. phil., studierte Kunstpädagogik, Magisterarbeit war Hagenbeck‘s Tierpark. Die Pädagogik und Philosophie und promovierte an Illusion der Wildnis. Die architekturhistorischen der Graduiertenschule für die Geisteswissenschaft Forschungen zum Zoo werden mit ihrem Disser- der Universität Würzburg (GSH). Seit 2004 forscht tationsprojekt unter dem Arbeitstitel Immersive er zum Atmosphärenphänomen in Rezeption und Techniken in zoologischen Parkanlagen im 20. Produktion. Zum Thema hat er bereits mehrere Arti- Jahrhundert fortgesetzt, welches von Prof. Dr. Diet- kel veröffentlicht, als Monografie liegt die Disser- rich Erben an der Ruhr-Universität Bochum betreut tation vor: Die besondere Atmosphäre. Ästhetische wird. Seit 2010 ist sie Promotionsstipendiatin des Feldforschungen (2012). Er ist wissenschaftlicher Evangelischen Studienwerks e.V. Darüber hinaus Mitarbeiter am Zentrum für Mediendidaktik (ZfM), ist Christina May freiberuflich als Dozentin für am Servicezentrum innovatives Lehren und Studie- Architekturgeschichte sowie in der Kunstvermitt- ren (ZiLS) der Universität Würzburg und seit 2008 lung tätig. Mitglied im Réseau International Ambiance(s).Wei- tere Infos auf www.andreasrauh.eu. Axel Meyer, Dipl.-Ing. (FH), Studium der Infor- mationstechnologie und Gestaltung international Jürgen Rienow, Dipl.-Inf., Studium von Informatik an der Fachhochschule Lübeck; Abschluss mit der und Chemie an der Christian-Albrechts-Universität Diplomarbeit 360Touch.it, entwickelt in Koopera- zu Kiel. Von 2004–2010 machte er sich mit einem tion mit den Planetarium Hamburg. Spezialgebiet: eigenen Unternehmen für Softwareentwicklung Immersive-Multi-User-Interaktion für Planetarien. und 3D-Grafiken selbständig. Zusätzlich war er Seit 2007 Auftritte als VJ mit der selbstentwickel- als Mitarbeiter beim Forschungs- und Entwick- ten VJ-Software videoorgel; seit 2011 als freier lungszentrum der Fachhochschule Kiel GmbH Programmierer, Gestalter und Spieleentwickler tätig, um Produktionen für den Kieler Mediendom aktiv; 2011 und 2012 tätig für das Planetarium und museale Anwendungen zu entwickeln. Seit Hamburg; mehrere Preise und Awards (u.a. DDC, 2007 ist er als Lehrkraft für besondere Aufga- NYF, Possehl-Ingenieur-Preis, Koordinaten-Festi- ben am Fachbereich Medien der Fachhochschule val). Eine Projektauswahl ist aufrufbar unter www. Kiel angestellt. In diesem Zusammenhang forscht amformat.de. und lehrt er vorranging über die Themen immer- 174 Autorenverzeichnis sive Medien, Wahrnehmungspsychologie und ihr wegen Erreichung der Altersgrenze 1993 ordent- Zusammenspiel mit der Wirkung immersiver Kup- licher Professor und Direktor des Philosophischen pelprojektion. Er hat maßgeblich am Aufbau eines Seminars. Als Systematiker ist er der Begründer der Labors für Immersionsforschung am Fachbereich Neuen Phänomenologie, die sich das Ziel setzt, das Medien mitgewirkt. Seine Promotion zum Thema Denken für die unwillkürliche Lebenserfahrung Wirkung immersiver Kuppelprojektion schreibt er begriffsfähig zu machen (den Menschen ihr wirk- in Dänemark an der Syddansk Universitet, Odense. liches Leben begreiflich zu machen). Außerdem Er ist Autor zahlreicher Publikationen zum Thema hat er zahlreiche Studien zur Geschichte der euro- Fulldome, u.a.: Technik immersiver Präsentationen. päischen Philosophie und der abendländischen In: Jahrbuch immersiver Medien 2007. S. 11–13 Denkgeschichte im weiteren Sinn verfasst. Seine (2007); Fulldome-Visualisierung und Immersion Publikationen umfassen bisher 47 Bücher und 142 in der Lehre. In: Jahrbuch immersiver Medien Aufsätze sowie zahlreiche Buchbesprechungen. 2008/2009. S. 60–67 (2009, zusammen mit Heidi Kjär). Zudem ist er Urheber vielzähliger Pro- Eduard Thomas, Studium der Mathematik und duktion diverser Fulldome-Filme, wie Als der Gulp Physik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, die Erde einsackte (D 2007) oder Computer öff- Staatsprüfungen für die Laufbahn der Studienräte nen Welten (D 2007, auch Musikkomposition). Seit an Gymnasien. 1982 bis 1999 Studienrat an Gym- 2009 ist er Vorsitzender des Fördervereins Kieler nasien, parallel schulübergreifender Unterricht am Planetarium e.V. Kieler Planetarium und in der Erwachsenenbil- dung. Erstellung von Lehrmaterialien, Konzeption Patrick Rupert-Kruse, Dr. phil., Studium der Neu- astronomischer Lehrerfortbildungen und Lehrplan- eren Deutschen Literatur- und Medienwissenschaf- inhalte. Seit 1987 Leitung des Kieler Planetariums, ten, Philosophie und Psychologie an der Christian- ab 2001 hauptamtliches Vorstandsmitglied am Albrechts-Universität zu Kiel; 2010 Dissertation Zentrum für Multimedia der Fachhochschule Kiel zum Thema Imagination und Empathie, lehrte und mit der Leitung des Mediendoms, der Sternwarte forschte an der CAU zu Kiel; seit 2010 Lehrkraft für und des Computermuseums. Ab 2008 Direktor besondere Aufgaben am Fachbereich Medien, Ins- des Zentrums für Kultur- und Wissenschaftskom- titut für Immersive Medien, an der Fachhochschule munikation der Hochschule. Unter seiner Leitung Kiel; habilitiert zur transmedialen Strukturierung entstand am Mediendom eine Reihe von Full- medial-ästhetischer Erlebnisräume im Kontext aktu- dome-Produktionen. Dazu gehören u.a. Computer eller Bild- und Medienentwicklungen; Leiter des Ins- öffnen Welten (D 2007); Unser Kosmos – Heimat tituts für immersive Medien (ifim), stellvertretender der Menschen (D 2008); Augen im All (D 2009); Vorsitzender der Gesellschaft für interdisziplinäre Orchideen – Wunder der Evolution (D 2009); In Bildwissenschaft (GiB), Gründungsmitglied der der Tiefe des Kosmos (D 2012); Zauber der Anders- Forschungsgruppe Bewegtbildwissenschaft Kiel welt (D 2012). An weiteren Produktionen wirkte er und verantwortlicher Redakteur des Jahrbuches als Berater oder Produktionspartner mit, u.a. Fury immersiver Medien. Seine Forschungsschwerpunkte in the Slaughterhouse (D 2004); Alien Action (D umfassen die Theorie immersiver Medien, Rezep- 2006); Metavista (D 2007); Ferne Welten – frem- tionsästhetik, Medienphilosophie und (filmische) des Leben (D 2012). Er ist aktives Mitglied der Pla- Bildwissenschaft. Ausgewählte Publikationen: Über netariums-Community und Förderer der interdiszip- das Filmbild hinaus … Die Präsenz des Absenten in linären sowie der kulturellen und experimentellen der Filmrezeption (2010); Im Sog des Blicks. Die Nutzung des Fulldome-Mediums. Erste-Person-Perspektive als immersive Strategie des Films. In: Jahrbuch immersiver Medien 2011. S. 37–50 (2011); IMAGE – Zeitschrift für interdiszipli- näre Bildwissenschaft, 17/1 (2013, herausgegeben mit Rebecca Borschtschow und Lars C. Grabbe). Hermann Schmitz, Prof. em., 1949–1953 Studium in Bonn, dort 1955 zum Dr. phil. promoviert. 1958 habilitierte er sich in Kiel für das Fach Philosophie und war dort von 1971 bis zu seiner Entpflichtung Autorenverzeichnis 175 call For PaPers: «Klänge, musiK & soundscaPes» Einsendeschluss für Artikel: 17. März 2014 Einsendeschluss für Rezensionen oder Interviews: 21. April 2014 Wir akzeptieren ab sofort Artikel für die kommende tiert ist, erleichtert er die Einbettung der Wahrneh- Ausgabe des interdisziplinären Jahrbuches immer- mung in (Klang-)Umgebungen, die zugleich als siver Medien zum Thema «Klänge, Musik & Sound- innerhalb und außerhalb empfunden werden. scapes». In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Das Jahrbuch immersiver Medien als begutachtete mit den medialen Erlebnisformen des Atmosphä- und bewusst interdisziplinäre Fachpublikation lädt rischen, der Immersion und Präsenz ist ein Primat daher ein, sich in Artikeln zu den Themen Musik, des Visuellen und Materiellen auszumachen. So Sound Studies, Sound Effects, Klanggestaltung, werden vor allem Bildformen wie Trompe-l’œils, Auditive Mediengestaltung, Auditive Markenkom- Panoramen, stereoskopes 3D oder spezielle visuelle munikation, Auditive Architektur, Film, Virtual Rea- mediale Topografien wie der CAVE, Kuppelprojekti- lity, Game Studies u.a. intensiv mit der Bedeutung onen oder das HMD als Szenarien der Immersion von Klängen, Musik und Soundscapes für die Pro- behandelt. Damit steht ein rein bildlich gedachter duktion und Rezeption immersiver und atmosphä- Illusionsraum (vgl. Grau 1999: 16) im Zentrum der rischer Phänomene auseinanderzusetzen. Auseinandersetzungen. Und das selbst, wenn sich Neben themenbezogenen und freien Artikeln der Diskurs multimodalen Medienformen wie dem freut sich die Redaktion zudem über Rezensionen Film oder dem Videospiel widmet. Doch sind es relevanter Medien und Publikationen zum Thema nicht allein die visuellen Parameter, die eine Induk- Atmosphäre, Aura, Präsenz und Immersion, Texte tion immersiven Erlebens erlauben. So betonte zur Praxis immersiver Medien, Interviews und bereits Sergej Eisenstein einige Jahre vor seinen Ergebnisse aus der angewandten Forschung. Arti- Ausführungen zum stereoskopen Raumfilm, dass keleinsendungen werden in deutscher und engli- eine Verschmelzung von Film und Zuschauerraum scher Sprache angenommen, Rezensionen aus- auch auf akustische Weise gelingen kann. Dies- schließlich in deutscher Sprache. bezüglich schrieb er von einer akustischen Umar- Die Länge der eingesandten Texte sollte bei mung des Kinosaals durch Wagners Walkürenritt, Artikeln zwischen 5000 und 8000 Worten liegen, um «den Zuschauer völlig in die Klanggewalt eines bei Rezensionen und anderen Texten zwischen Wagner-Orchesters einzutauchen» (1988: 235). 1500 und 2000 Worten. Bitte senden Sie die Arti- Diese Relevanz des Akustischen bei der Erzeu- kel, eine kurze deutsche und englische Zusammen- gung immersiver bzw. atmosphärischer Phänomene fassung, eine Erstveröffentlichungsbestätigung lässt sich auf unterschiedlichste Medientypen sowie eine Kurzbiografie bis zum 17. März 2014 an und Raumarten ausweiten, sei es die emotionale Dr. Patrick Rupert-Kruse über immersive-medien@ Stimmung eines leeren Raums, sei es die Rolle fh-kiel.de; er steht Ihnen bei Rückfragen gerne zur der Soundscape für das Erleben eines Films oder Verfügung. Bitte beachten Sie für Ihre Einsendun- die Rolle der Musik für die Erhaltung des Flows gen zwingend die Formatierungsvorlagen (style in einem Videospiel. Gerade weil der Hörsinn im sheet) auf unserer Internetseite: www.immersive- Unterschied zum Gesichtssinn nicht frontal orien- medien.de. 176 Call for Papers