montage/av Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 11/1/2002 Erinnerung/Gedächtnis Inhalt Editorial 3 Thomas Elsaesser „Un train peut en cacher un autre“ Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 11 Michael Renov Historische Diskurse des Unvorstellbaren Peter Forgacs’ The Maelstrom 26 Robin Curtis Trauma, Darstellbarkeit und das Bedürfnis nach medialer Genesung Rea Tajiris History and Memory. For Akiko and Takeshige 42 Regine-Mihal Friedman Generationen der Folgezeit Der neue Film der Zeugenaussagen 75 Oliver Fahle Zeitspaltungen Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze 97 Michael Zryd Found-Footage-Film als diskursive Metageschichte Craig Baldwins Tribulation 99 113 Heike Klippel Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? Zum Umgang mit der Vergangenheit in Seifenoper 135 Maurice Lahde Der Leibhaftige erzählt Täuschungsmanöver in The Usual Suspects 149 Zu den Autoren 181 Impressum 183 Editorial Die Erkundung der Prozesse, die dem Erinnern und Vergessen zu Grunde lie- gen, ist ein Projekt, an dem sich in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedli- che Disziplinen beteiligt haben: unter anderem die Psychologie und Neurologie, die Literaturwissenschaft und Soziologie, die Historiografie und mit Abstrichen auch die Medienwissenschaft. Die deutschsprachige Film- und Fernsehwissen- schaft interessierte sich bis vor kurzem noch außerordentlich selten für die Frage, wie ästhetische Texte Vorstellungen des Erinnerns und des Gedächtnisses kreieren. Statt an Filmen, Videos und Fernsehsendungen orientierten sich die Studien zur Gedächtnistheorie vor allem an literarischen Texten. Disziplinen wie die Literaturwissenschaft und Ägyptologie gaben die Tonlage in den An- thologien an, und deren Untersuchungsgegenstände bestimmten natürlich auch das Profil der Forschungsprojekte. In der anglo-amerikanischen Filmwissenschaft ist das Thema Gedächtnis hin- gegen seit den frühen neunziger Jahren präsent. Vergleicht man die Ausrichtung dieser Arbeiten mit denjenigen aus Deutschland, so fällt auf, dass die Blickrich- tung der anglo-amerikanischen Studien zumindest anfangs eine andere war. Während hierzulande individuelle und gruppenspezifische Mnemotechniken im Mittelpunkt standen, also die Frage diskutiert wurde, mit welchen Mitteln und in welcher Form Individuen und Gruppen Vorstellungen des Vergangenen und Eigenen generieren, interessierten sich die anglo-amerikanischen Arbeiten we- niger für eine Entwicklung von Gedächtnismodellen. Stattdessen dominierten historiographische Projekte und die Fragen zum Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis, also Fragestellungen, die weitgehend von Historikern wie zum Bei- spiel Natalie Zemon Davis und Robert Rosenstone initiiert worden waren. Das historische Ereignis und seine Darstellung im Film stellten die Ausgangspunkte der anglo-amerikanischen Untersuchungen dar. Zentrale Fragen zur Struktur und Funktionsweise von Erinnerungsprozessen sind bis in die Gegenwart, auch im Rahmen der aktuellen neurologischen Unter- suchungen, unbeantwortet geblieben. Bis dato ungeklärt sind die grundlegen- den Fragen, ob sich Prozesse des Erinnerns und Vergessens zueinander verhal- ten und wenn dies der Fall ist, welche Beziehungen zwischen diesen Prozessen bestehen. Handelt es sich um Phänomene der Überlagerung, der Ersetzung, der Verschiebung? Inwiefern lassen sich individuelle neurologische Eigenschaften bestimmten Gedächtnisleistungen zuordnen? Welche Beziehungen bestehen 4 Editorial montage/av zwischen den im Individuum angesiedelten Vorgängen und den kollektivieren- den Gesten und Effekten, die von den Massenmedien ausgehen? Welchen Ein- fluss üben zeitbasierte Bilder des Vergangenen auf unser menschliches Gedächt- nis aus? Die Fragen nach den Prozessen des Erinnerns und Vergessens und ihren Beziehungen zu den audiovisuellen Medien greift dieses Themenheft innerhalb eines breiten Spektrums medialer Kontexte auf. Dabei lassen sich die Filme, Vi- deos und Fernsehsendungen, die die Autorinnen und Autoren ausgewählt ha- ben, auch als hypothetische Modelle für das Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses interpretieren. Ein besonderer Reiz könnte also darin bestehen, die unterbreiteten ästhetische Modelle mit denjenigen der Gedächtnistheorie zu vergleichen. Die in Bildern und Tönen gefassten, audiovisuellen Hypothesen besitzen in den Naturwissenschaften ihre „akademischen Kollegen“. So entstehen zum Bei- spiel im Rahmen neurologischer Untersuchungen neue Ansätze zum Verständ- nis des Gedächtnisses. Modelle der Lokalisierung spezifischer Gedächtnisleis- tungen und -inhalte werden hinterfragt und konstruktivistische Gedächtnismo- delle spezifiziert. Das Prinzip der Lokalisierung von Gehirnfunktionen hat seit dem 19. Jahr- hundert eine wichtige Rolle in der Neurologie gespielt, insofern nach einer Art „allgemeinem Funktionsplan“ des Gehirns gesucht wurde, der für alle Mitglie- der einer Spezie identisch sein sollte. Das Hinterfragen dieser Idee der Lokalisie- rung hat dann auch die heute noch verbreitete Vorstellung kritisiert, Erinnerun- gen aus der individuellen Vergangenheit seien in einem bestimmten Bereich des Gehirns als unveränderliche „Dateien“ gespeichert.1 Stattdessen geht das kon- struktivistische Modell von einem Prozess der Klassifikation aus. In vielen Tex- ten zum Gedächtnis nimmt Israel Rosenfeld Bezug auf die Forschung des kana- dischen Neurochirurgen Wilder Penfield, der davon überzeugt war, 1933 eine Möglichkeit entdeckt zu haben, mittels elektronischer Ströme die Oberfläche des Gehirns dergestalt stimulieren zu können, dass ein „Flashback“ der Erinne- rung entsteht. Patienten, die in einem wachen Zustand am Gehirn operiert wur- den, berichteten, sich plötzlich lebhaft zu erinnern, beispielsweise an einen Schulweg, den sie als Kind täglich gegangen sein sollten. Doch dieser Nebenef- fekt des chirurgischen Eingriffs konnte nur bei höchstens 10 Prozent aller auf diese Weise behandelten Patienten beobachtet werden, und ferner lediglich in den Fällen, in denen die Stimulierung – wie in den 70er Jahren entdeckt wurde – auch das limbische System mit beeinflusst hatte, denn dieses System ist von zen- 1 Arbeiten, die die Neurologen und Psychiater der Dysfunktion wie beispielsweise A. R. Luria, Oliver Sachs und Israel Rosenfeld vorgelegt haben, sind in diesen Kontext einzuordnen. 11/1/2002 Editorial 5 traler Bedeutung für die Wahrnehmung von Emotionen. Es scheint also der Fall zu sein, dass eine affektive Dimension vorhanden sein muss, damit Erinnerun- gen erstellt und kategorisiert werden können. In diesem Sinne konnte festge- stellt werden, dass die Patienten nicht dazu angeregt worden waren, Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern, sondern dass sie auf dem Weg zum Opera- tionssaal Eindrücke gesammelt hatten, die während der Operation als eine Reihe extrem lebhafter Bilder konstuiert wurden. Während die neurale Aktivität eines Menschen bestimmten, festgelegten We- gen – pathways – folgt, hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass zum einen die- se Wege absolut individuell sind, zum anderen dass sie sich verändern. Indem sie ständig Prozessen der Konstruktion und Überprüfung ausgesetzt sind, unterlie- gen der „sensorische“ und der „motorische Homunkulus“ einem Wandel. Des- halb muss auch die Art und Weise, wie sich ein Individuum an die private Ver- gangenheit erinnert, als ein Prozess verstanden werden, der sich andauernd wiederholt und jedesmal die Erinnerungen neu konstruiert. In seinem Aufsatz „Memory and Identity“ schreibt Israel Rosenfeld: Memory, then, is not a set of stored images that can be remembered by an independent „I“; memory is a set of ever-evolving procedures. And the brain’s abstractions of those procedures, „three-dimensionality,“ „dis- tance“ – the idea of „memory“ – and so on, must also evolve. Hence, our „identity,“ our personality, is the brain’s abstraction of the totality of our „memories“ and „experiences“ (S. 202).2 Die Empfindung eines Affekts ist für den Erinnerungsprozess wesentlich, denn nur durch die affektive Reaktion können die Erinnerungen kategorisiert wer- den. Das Gehirn konstruiert die passenden Erinnerungen, wenn sie in der Gegenwart für das Individuum von Belang zu sein scheinen. Die jeweiligen Wege im neuralen Netz, die vom Individuum für diese Erinnerungsaktivität in Anspruch genommen werden, sind ganz und gar individuell und werden im Laufe der Zeit durch Gebrauch und Erfahrung hergestellt, in einem evolutionä- ren Prozess, wie die Forschungen von Gerald Edelman gezeigt haben.3 Den geis- teswissenschaftlichen Untersuchungen zum Gedächtnis eröffnet sich hier ein umfangreiches Reservoir naturwissenschaftlicher Hypothesen – ein Reservoir, das bisher kaum genutzt worden ist. 2 Rosenfeld, Israel (1995) Memory and Identity. In: New Literary History, 26, S. 197–203. 3 Edelman, Gerald M. (1992) Bright Air, Brilliant Fire. On the Matter of the Mind. New York: Harper Colins. 6 Editorial montage/av Die meisten Erinnerungsprozesse, für die sich die Beiträge dieses Themenhef- tes interessieren, verweisen auf historische Ereignisse bzw. haben hier ihren Ausgangspunkt. Die Fragen, denen die Autorinnen und Autoren nachgehen, fo- kussieren den audiovisuellen Text jedoch weniger als eine historische Quelle. Sie thematisieren stattdessen die Gedächtnis- und Erinnerungsmodelle, die die Fil- me, Videos und Fernsehprogramme realisieren; sie untersuchen die physischen und psychischen Spuren der Geschichte und die Affekte, die Erinnerungspro- zesse auslösen können und für die sich die Filme vor allem interessieren. Die Shoah nimmt dabei einen prominenten Platz ein. Einerseits wird ihr eine para- digmatische Rolle zugeschrieben, soll sie doch wie ein Grenzfall fungieren, de- ren ästhetische Repräsentation die stilistischen Verfahrensweisen und ihre Im- plikationen auf eine Bewährungsprobe zu stellen vermag. Zum anderen lässt sich an der zeitgenössischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Verla- gerung oder Ausweitung der Untersuchungsperspektiven studieren. Neben den Fragen nach einer angemessenen historischen Darstellung und einer Reflexion der Darstellungsgrenzen treten im Zuge einer veränderten ästhetischen Praxis Untersuchungsinteressen in den Vordergrund, die mit Modellen des menschli- chen Gedächtnisses operieren, weil hier Anknüpfungspunkte entdeckt werden, von denen aus sich die ästhetische Gestaltung der Filme und Videos deuten lässt. Michael Renov beschreibt den „Holocaust-Dokumentarfilm“ als ein Genre, das auf eine besondere Weise die Frage nach dem Status dokumentarischer Bil- der mit dem Problem der historischen Repräsentation an sich verknüpft. An- hand Peter Forgacs’ The Maelstrom (Niederlande 1997) erläutert er, wie der Film historische Diskurse des Unvorstellbaren produziert, indem konventio- nelle dokumentarische Praktiken umgangen und die Gesetze der kanonischen Historiografie missachtet werden. Im Rückgriff auf bisher unveröffentlichte private Filmaufnahmen gestaltet The Maelstrom die Evokation eines vernich- teten jüdischen Familienlebens und entwirft dabei die Struktur einer Zeitspirale, in der sich die portraitierten Personen des Films und die Vorstellungen des Zu- schauers wie in einem Strudel zeitlicher Überlappungen, Schleifen und Gegen- überstellungen verfangen. Jüdisches Familienleben steht auch im Mittelpunkt derjenigen Filme, die der Beitrag von Regine-Mihal Friedman vor allem im Blick hat. Die Aufmerksam- keit gilt nun dem Leben nach der Shoah, dem gegenwärtigen Leben der Gerette- ten und ihrer Nachkommen. Mit Blick auf die zeitgenössische israelische Doku- mentarfilmproduktion konstatiert die Autorin einen neuen Film der Zeugen- aussagen. Die Generation der Nachgeborenen interviewt und portraitiert im Rahmen familienbiografischer Projekte die Generation der Überlebenden, nicht selten die eigenen Eltern. Dank der besonderen Nähe von Augenzeuge und 11/1/2002 Editorial 7 Filmschaffendem gelingt es den Filmen, ungewöhnlich eindringliche Ge- sprächssituationen zu dokumentieren. Doch die dokumentarische Recherche reicht weiter und erschließt spezifische Verhaltens- und Erinnerungsweisen der Überlebenden, unterschiedliche Formen, sich zum Vergangenen zu verhalten bzw. vom Geschehenen besetzt zu sein. Regine-Mihal Friedman interpretiert diese Formen im Hinblick auf zeitgenössische Gedächtnistheorien. Kristallisationspunkt des von Robin Curtis untersuchten Videos History and Memory (USA 1990) ist ebenfalls eine traumatische Erfahrung: die Inter- nierung japanischstämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs. Curtis verortet Rea Tajiris Video einerseits vor dem Hintergrund der vor allem deutschsprachigen Gedächtnisdebatten, andererseits im Kontext postkolonialer Theorien, die insbesondere im englischen Sprachraum entwickelt wurden. Da- bei wird deutlich, dass die ästhetische Praxis des Videos bereits 1990 zentrale Ideen der zeitgenössischen Trauma Theory und eines Paradigmenwechsels der Film- und Fernsehwissenschaft reflektiert hat. Indem das Video explizit von ei- ner Lückenhaftigkeit des traumatisierten Gedächtnisses ausgeht und dessen Auswirkungen für den Zuschauenden sinnfällig macht, verfolgt es nicht mehr die Fragen nach einer angemessenen historischen Darstellung, sondern geht von der spezifischen Unzulänglichkeit eines menschlichen Erinnerungsapparats aus und kreiert in Bildern und Tönen Spuren und Affekte der Traumatisierung. Im Dreieck der Begriffe Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit siedelt Thomas Elsaesser seine übergreifenden Ideen an. Sein Essay zeichnet zu- nächst ein düsteres Bild von den audiovisuellen Medien und ihren gegenwärti- gen Einflüssen auf unsere Geschichtskonzepte. Tradierte Vorstellungen von der Geschichte als etwas unwiderruflich Vergangenem und der Identität als einer in Raum und Zeit konsistenten Größe scheinen von den aktuellen medialen Prakti- ken torpediert zu werden. Während sich die alten Geschichts- und Identitäts- vorstellungen verflüchtigen, gewinnt die Erinnerung als Aufbewahrungsort von authentischer Erfahrung im Gegensatz zur (Medien-)Geschichte als einem Ort des Inauthentischen und Falschen an Gewicht – so der erste, stark kontrastie- rende Befund Elsaessers. Doch dieser populäre Diskurs bleibt nicht unkom- mentiert. Elsaesser relativiert ihn mit Blick auf drei niederländische Filme, deren Anliegen, Gestaltungsweisen und Spuren im Rezeptionsprozess die im öffentli- chen Diskurs behaupteten, vereinfachenden Gegenüberstellungen unterlaufen oder zumindest einschränken. Möglicherweise, so Elsaesser am Ende seines Essays, gibt es doch Gründe, unserer audiovisuellen Realität zu vertrauen... Mike Zryd widmet sich in seinem Beitrag dem Found Footage-Film als einem Subgenre des Experimentalfilms und schließt insofern an Renovs Beitrag an, dessen Untersuchungsgegenstand The Maelstrom ebenfalls mit den Verfah- 8 Editorial montage/av rensweisen des Kompilationsfilms operiert. Zryd nun entwickelt seine Gedan- ken zum Umgang mit vorgefundenem Bildmaterial im Hinblick auf Craig Bald- wins kontrovers diskutiertem Tribulation 99 (USA 1991). Dabei schreibt er Baldwins Film die Position eines Grenzfalls zu: Tribulation 99 leiste weniger eine Darstellung von Geschichte und Erinnerung als eine Analyse der Diskurse und Kräfte, die historischen Prozessen und Erinnerungen zu Grunde liegen können. Der hybriden Anlage des Films – analysiert werden u. a. Strategien der Ironisierung, Fiktivisierung und Metaphorisierung – schreibt Zryd die Funktio- nen einer komplexen metahistorischen Analyse zu: Tribulation 99 als eine dis- kursive Metageschichte. Wie audiovisuelle Medien ‚historisches Wissen‘ organisieren und wie Zu- schauer mit ‚historischem Wissen‘ umgehen können, ist eine Frage, die sich nicht nur im Bereich dokumentarischer Formen stellt. Sie berührt auch narrative Genres und in zugespitzter Form die Daily Soaps des Fernsehens. Von dieser Prämisse ausgehend startet Heike Klippel ihre Überlegungen zum Umgang mit der Vergangenheit in Seifenopern, die ja aufgrund ihrer täglichen Ausstrahlung im Laufe der Jahre eine unüberschaubare Fülle erzählter Geschichten produ- ziert haben. Diese Vergangenheit kann für die Entwicklungen gegenwärtiger Erzählstränge immer wieder Konfliktpotentiale bereithalten, und so haben die Soaps spezifische Formen entwickelt, auf die Vergangenheit Einfluss zu nehmen und das Geschehene in den Dienst der Gegenwart zu stellen – Strategien, die, wie Klippel in einem Vergleich ausführt, denjenigen der Fernsehnachrichten verwandt sind. Gedächtnis und Erinnerung stellen zwei zentrale Kategorien der Filmphilo- sophie von Gilles Deleuze dar. Oliver Fahle führt in seinem Beitrag aus, welche theoretischen Konstruktionen diesen Kategorien bei Deleuze zu Grunde liegen und in welcher Weise Filme Erinnerungs- und Gedächtnisbilder kreieren. Dabei wendet sich Fahle zum einen denen von Deleuze angeführten Filmen der Mo- derne zu und entwickelt ausgehend von dessen knappen und pointierten Bemer- kungen transparente Filminterpretationen. Zum anderen kann Fahle zeigen, wie auch zeitgenössische Filme Denkfiguren der Zeit erzeugen und die Erinne- rungs- und Zeitbilder weiter entwickelt werden. Die untersuchten filmischen Verfahrensweisen, so Fahle abschließend, verweisen auf eine Erfahrbarkeit von Zeit in der Moderne, innerhalb derer der Film nach Deleuze einen originären Status der Wahrnehmung und der Erkenntnis der Welt hat. Am Ende dieses Heftes untersucht Maurice Lahde die Darstellung von Erin- nerungsprozessen in einer anderen Perspektive. Der Autor schlägt in seiner Analyse von Bryan Singers The Usual Suspects (USA 1995) den Bogen zurück zu einem Aufsatz von David Bordwell, der im allerersten Heft der Montage/AV 11/1/2002 Editorial 9 erschienen ist. Bordwell argumentiert dort mit dem Konzept des „vertrauen- den“ und des „skeptischen“ Zuschauers, die während der Konstruktion der fa- bula von Mildred Pierce je anders mit den stilistischen Eigenheiten des Films umgehen. Lahde nun vermag zu zeigen, wie The Usual Suspects diese Insze- nierung der Verstehensleistungen des Zuschauers über ein raffiniertes Spiel mit den filmischen Konventionen weiter treibt und dabei nicht allein den „vertrau- enden“, sondern auch den „skeptischen“ Zuschauer in die Falle laufen lässt: weil auch dieser nicht „vergessen“ kann, was er im Kino einmal „gelernt“ hat. Robin Curtis und Jörg Frieß Thomas Elsaesser „Un train peut en cacher un autre“ Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit1 Nun, da der Film sein zweites Jahrhundert erlebt und sich als Träger und Spei- cher der laufenden Bilder neben den digitalen Medien behaupten muss, stellt sich notgedrungen auch die Frage nach dem Wahrheitswert der photographi- schen und elektronischen Bilder anders. Was für eine Bilanz ergibt sich daraus für das Bild, das uns vom vergangenen Jahrhundert bleibt? Unter den vielen Kommentatoren, die sich zum Millennium Gedanken um das Kino gemacht haben, fällt vor allem eine seltsame Unsicherheit nicht angesichts dessen Zukunft auf, sondern was die Vergangenheit betrifft. Während man sich um die notwendige historische Distanz bemüht, um Film als aktiven Faktor des Zeitge- schehens adäquat einzuschätzen, könnte andererseits gerade die Geschichte selbst das erste historische Opfer des Kinos sein – zumindest in dem Sinne, wie Geschichte normalerweise verstanden wird, als kausal verknüpfte Chronologie von Ereignissen, denen man „Einflüsse“, „Wirkungen“ und „Ursprünge“ zusprechen kann. Denn das Gefühl macht sich Platz, dass eine solche Vorstel- lung von Geschichte in ein konzeptuelles Zwielicht geraten ist, gerade was ihre traditionellen Wegmarken und Eckpfeiler betrifft: immer weniger haltbar scheint die Idee von einer homogenen Zeit und Zeiterfahrung, vom ‚Zeitpfeil‘ der Chronologie und Kausalität. Wie verhalten sich Fakten und Fiktionen zur Authentizität, welche sichtbaren und unsichtbaren Spuren gelten als Quellen, Dokumente und Beweise? Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Ich schalte den Fernseher ein, um die Abendnachrichten zu sehen. Eine berühmte Persönlich- keit ist gerade in einem furchtbaren wie furchtbar sinnlosen Unfall ums Leben gekommen. Doch dort ist sie, auf dem Bildschirm winkt sie, lächelt, steigt anmu- tig die Treppe zu einem Galaempfang empor und spricht ein paar Sätze ins Mikrophon. Habe ich mich verhört oder erreichen ihre Worte mich nun aus 1 Der vorliegende Text wurde 1995 zum 50. Gedenktag zum Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben und erstmals veröffentlicht in Josef Delau u.a. (Hrsg.) (1997) The Low Countries. Arts and Society in Flanders and the Netherlands. Rekkem: Flemish-Netherlands Foundation ‚Stichting Ons Erfdeel‘, S. 121–129. Er erscheint hier leicht überarbeitet. 12 Thomas Elsaesser montage/av dem Reich der Toten? Wenn ja, was ist ihre Botschaft? Vielleicht ist das, was sie sagt und jetzt so bedeutungsschwer klingt, nur das Echo einer Ironie, die ihr ent- geht, um mich umso stärker zu treffen? Diese Ironie würde sich also auf den Begriff von Geschichte als etwas unwi- derruflich Vergangenem richten, denn sie hat sich plötzlich verdoppelt, und da- bei entsteht so etwas wie ein hohler Boden. Während Geschichte einst etwas war, worüber man sich informierte, aus der man Lehren zog oder, wie James Joyce meinte, der Alptraum war, dem man zu entkommen suchte, hat es nun den Eindruck, sie sei nur scheintot. Was man früher durch steinerne Monumente, geschriebene Dokumente oder andere Zeichen der Absenz und der Symbolisie- rung als einmal gewesen inspizieren konnte, ist dank der Lebendigkeit der Bil- der, die die Geschichte (des 20. Jahrhunderts) hinterlassen hat, nicht wirklich „hinter“ uns und doch kein Teil unserer Gegenwart. Damit wirft die Vergan- genheit einen Schatten aus Licht voraus, gibt Zeugnis von einer parallelen Welt, die gleichermaßen unreal, hyper-real und virtuell ist. Selbst der Ausdruck „die Vergangenheit bewältigen“ (mastering the past) hat seine Konnotation verän- dert. Heute bewältigen Kino und Fernsehen die Vergangenheit für uns, falls nö- tig, indem sie Bild und Ton des Archivmaterials (digital) bearbeiten (digitally re- mastering), wie in Woody Allens Zelig (USA 1983), Oliver Stones JFK (USA 1991) oder Robert Zemeckis’ Forrest Gump (USA 1994). Geschichte, weder in weiter Ferne noch ganz nah, ist zu einem endlosen action replay in Zeitlupe ge- worden, ein Geistertanz der Untoten. Wie ein fahrender Zug scheint sie uns auf einem anderen Gleis entgegen zu kommen, wohl in die andere Richtung fah- rend, während uns die Menschen an den hell erleuchteten Abteilfenstern zuge- wandt sind. Vor allem das Fernsehen macht politische Vorgänge, menschliche Ereignisse oder historische Einschnitte, deren Bedeutung wir instinktiv erfassen, ohne sie einzuordnen, zu Happenings, bizarren Unfällen, spektakulären Überraschun- gen oder atemberaubend surrealen Collagen, nur um ein paar Tage später als ganze Stories wieder darauf zurück zu kommen: Handlungen mit Helden und Schurken, Konflikten, Höhepunkten und einer einfachen Moral, die sich daraus ziehen lässt. Man denkt an mittelalterliche Chroniken oder die Gerüchteküche der Dorfgemeinschaft. Der Fall der Berliner Mauer, die „samtenen“ Revolutio- nen in Osteuropa, Michail Gorbatschows oder Margaret Thatchers erzwungene Rücktritte, der Golfkrieg, der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien oder der 11. September: Kaum sind diese Ereignisse aus den abendlichen Nachrichten- sendungen verschwunden, werden sie nicht einfach zu Vergangenheit, sondern zu einer Vergangenheit, auf die die Medien neben einem Team Reportern und Researchern auch professionelle Drehbuchautoren ansetzen. Die Geschichte, so 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 13 scheint es, ist aus unserem Blickfeld und unserer Reichweite gerückt, um sich zwischen den Kurznachrichten von heute und der Miniserie von morgen zu ver- stecken. Alles Irrationale ist gezähmt und wird kompensiert durch das beste- chend Reale des Dokudramas. Zukünftige Generationen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachten, werden mit den Medien als materiellen Zeugnissen kaum in der Lage sein, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden. Doch wird ihnen diese Unterscheidung überhaupt noch etwas sagen? Insofern hat die oben angesprochene Ironie nicht nur mit dem Verhältnis der Geschichte zur Wahrheit und zum Realen zu tun; sie betrifft auch meinen Ort in Raum und Zeit, kurz gesagt: meine Identität, die Art, sich meiner selbst zu ver- gewissern. Sie ist womöglich das zweite ‚Opfer‘ der Medien in der Geschichte. Wir haben es uns recht behaglich mit diesen metaphysischen double-takes der re-runs aus dem Reich der Toten in unseren Wohnzimmern eingerichtet und halten inzwischen diese Effekte der Virtualität für selbstverständlich. Dabei merken wir selten die Ironie, dass die Erfindung dieser Virtualität vor knapp hundert Jahren als eine neue ‚Eroberung der Realität‘ begrüßt wurde. Denn so- sehr der Film zunächst die Aufzeichnung des Realen und die Archivierung der Zeit möglich machte, trägt seine Metamorphose in Fernsehen und Video zuneh- mend dazu bei, das Gefühl von Menschen als Wesen, die in einem einzigen raum-zeitlichen Kontinuum existieren, zu verändern. Während das sich in Raum und Zeit Ver-setzen einen grundlegenden Aspekt der Modernität dar- stellt – vor allem das Verlagern und Überlagern persönlicher, sozialer und natio- naler Identitäten –, müssen wir die Rolle der Medien in diesen Prozessen erst noch begreifen. Ursache oder Wirkung, aktiver Eingriff oder eher machtlos be- obachtende Konsequenz? Während Identität früher das stetig zu bestätigende Gefühl war, zu einer geografischen oder linguistischen Gemeinschaft zu gehö- ren, hat die massive Präsenz der Medien gerade an dieser Stelle sich etabliert und diesen Zusammenhang von Sprache und Lokalem auf paradoxe Art verstellt, da- bei die Wunde zugleich tiefer schlagend und sie heilend. Früher ging man ins Kino, weil es ein voyeuristisches Fenster zur Welt eröff- nete. Die Allgegenwart des Fernsehens hat nicht nur die Beziehung der beiden Medien zueinander verändert: sie hat so viele Fenster geschaffen, dass es fast keine Wände mehr gibt, und auch keine Welt. Dabei hat sich das Kino in eine veritable Identitätsmaschine verwandelt, allerdings eine, bei der man seine Identität aufgibt, um sie in Form von Fantasy, Horror oder Science Fiction als Erfahrung von Entfremdung, als Vergnügen an der Angst oder als Eintauchen in das Anderssein wiederzufinden. Fernsehen ist das genaue Gegenteil: Weder braucht es Anderssein, noch toleriert es Andersheit, denn es macht jeden mit jedem bekannt und erschafft die Welt noch einmal nach dem Bild der Sitcom- 14 Thomas Elsaesser montage/av Familie. Fernsehen weiß, wo es zuhause ist, spielt Ratgeber und Handlungsrei- sender, ist der wohlerzogene Gast im Wohnzimmer, wenn es nicht den lie- benswerten Moderator eines Dorffestes oder den Showmaster auf den Ge- burtstagsfeiern des Lebens mimt. Fernsehen will das Spiegelbild unserer Fantasien von Häuslichkeit sein, während Kino uns Fantasien des Fremdge- hens vor Augen hält. Bei beiden bleibt dabei Geschichte auf der Strecke, und doch haben diese neu- en Arten der Identitätserfahrung, der Sozialisation und der Selbsteinschätzung viel mit Zeit und Zeitlichkeit zu tun. Der Grund für die Ambivalenz gegenüber den Medien in Bezug auf deren kulturellen Wert kann auch in der Unsicherheit gesucht werden, wie mit ihren Zeitmodi des Seriellen, der Gleichzeitigkeit, Wie- derholung und Umkehrbarkeit umzugehen ist. Wie kann man sich sein Selbst vorstellen, dessen Kohärenz in der Zeit verteidigen und Konsistenz im Raum bewahren, angesichts der immer zahlreicheren Identifikationsangebote, die Identität ersetzen, und angesichts der immer zahlreicheren Geschichten, die eine eigene Vergangenheit überflüssig machen? Oder bleibt dabei doch ein Rest, ein Defizit? Was sind die Strategien, die das zu liefern versprechen, was bei dieser „Identitätspolitik“ des Medienzeitalters unten durchfällt? Der Widerspruch, der sich auftut, ist der einer sich immer mehr monadisierenden Gesellschaft, die ihre Mitglieder über die Medien aneinander bindet, was bedeutet, sie emotional an einer Vielzahl von Geschichten zu beteiligen, die nicht die ihren sind, wäh- rend zugleich der Glaube an das Singuläre, Zusammenhängende und Individuel- le bekräftigt wird. Eines der Schlachtfelder, auf denen der Widerspruch ausgefochten wird, ohne dass sein Symptomcharakter als solcher sichtbar wird, lautet Erinnerung oder Gedächtnis, das Rückzugsgefecht des Unzusammenhängenden und Subjektiven im Medium des Allgemeinen und Durcherzählten. Während sich die ehemals objektive und auf Verbindlichkeit zielende Geschichte verflüchtigt hat und im Prozess der Mediatisierung der Öffentlichkeit zum veritablen Sinnbild des Inauthentischen, des Falschen und Falsifizierbaren geworden ist, hat die Erinne- rung an Status gewonnen, als Aufbewahrungsort von eigener Erfahrung, als letzte Zuflucht dessen, was uns jenseits aller Entfremdung und Häuslichkeit zu uns selbst macht. Gibt es angemessenere Instrumente zur Aufzeichnung und Speicherung von Erinnerung als unser Sehen und Hören, unseren Körper und unsere Sinne? „Wir müssen an unserer Erinnerung arbeiten“, lautete der Schlachtruf des Filmemachers Edgar Reitz, als er sein denkwürdiges Epos des Landlebens zwischen 1919 und 1979 in Angriff nahm, die Fernsehserie Heimat (BRD 1979–1984). In einem bemerkenswerten Stück ‚Kino-Erfahrung‘ gelang es Reitz zu zeigen, wie man Film und Fernsehen als Medien der Erinnerung und 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 15 Orte des Gedächtnisses einsetzt – das begeisterte Publikum auf der ganzen Welt bestätigte darüberhinaus das perfekte Timing seines Projekts. Doch die Praxis, Film als ein Medium zur Dokumentation von verbalen und visuellen Zeugnissen eher fragmentarischer Leben und scheinbar unzusammen- hängender Erfahrungen einzusetzen, hat vielleicht nirgendwo in Europa eine solch lange und fruchtbare Tradition wie in den Niederlanden. Kees Hin (Na de Jodenvervolging, 1985), Willy Lindwer (Terug naar mijn schtetl Dela- tyn, 1992), Frans Bromet (Buren, 1991–1999), Marjoleine Boonstra (Our Man in Kazachstan, 1993) und Jos de Putter (Het es een schone dag geweest, 1993) sind nur einige der Namen, die zu nennen sind, wenn es darum geht zu zeigen, wie in den vergangenen Jahren die Traditionen des Dokumentarfilms sich erneuert haben. Sie haben sich dabei der ‚Geschichte‘ bedient (vor allem der der Juden in den Niederlanden und in Osteuropa), sie haben Nachbarn befragt (und dabei ihre dunklen Leidenschaften und lang zurückgehende, gegenseitige Ressentiments ans Licht gebracht), und sie haben die Stärke des Geistes und die Schwäche des Körpers bemerkenswerter (oder auch ganz normaler) Individuen portraitiert. In ihren Filmen erreicht das Alltägliche nicht nur neue Würde, neue Bewegung und neuen Geist. Viele dieser Filme geben darüberhinaus Menschen die Möglichkeit, selber darzulegen, wie sie ihre Leben gelebt haben und die Welt sehen. Hier zeigt sich, jenseits des Tagesgeschehens und der spektakulären Kata- strophen, wie die ganz andere Zeitlichkeit des Films auch ganz andere Identitä- ten als die der Rollenverteilung eines gut gebauten Szenarios schaffen kann. In den Filmen der Niederländer wird deutlich, dass vor dem Zeitalter der elektro- nischen Medien diesen Menschen nicht das Wort erteilt worden wäre, und auch als Zeugen ihrer Zeit und der conditio humana hätten sie keine Glaubwürdigkeit erlangt (es sei denn in den Bildern eines Rembrandt, Vermeer oder Van Gogh). Gesichter und Gesten, Akzente, die Rauheit der Stimme, Landschaften und Plätze kommen in den Blick, die Respekt verlangen, die eine Verpflichtung auf das Reale und Authentische einfordern, für die niederländische Künstler zu- recht berühmt sind. Damit ist aber auch eine weitere Generation von Dokumen- tarfilmern, visuellen Ethnografen und beteiligten Beobachtern in den Fußstap- fen von Joris Ivens, Herman van der Horst, Bert Haanstra und Johan van der Keuken gefolgt. Viele Dokumentarfilme, die einen Kurs zwischen Kinopublikum und Fern- sehfinanzierung steuern, sind so im letzten Jahrzehnt hergestellt worden. Sie be- mühen sich darum, eine wahrlich demokratische Dimension des Mediums auf- rechtzuerhalten, ohne auch nur ein Stück jener Poesie zu opfern, für die ihre Vorgänger zurecht bekannt sind. Indem sie bezeichnen, was an der Vergangen- heit persönlich ist, indem sie Aussagen treffen und Zeugnis ablegen, fügen diese 16 Thomas Elsaesser montage/av Filme der Erinnerung eine neue Dimension hinzu, setzen das sprechende Sub- jekt in Beziehung zur Zeitlichkeit und zur Sterblichkeit, schaffen „Zellen des Sinnfälligen“ im Krieg um die mediale Erinnerung, in der Art wie man in einem Guerillakrieg von „Zellen des Widerstands“ spricht. Vor laufender Kamera sich erinnern, sich äußern und Zeugnis ablegen können Symbole sein im Kampf nicht nur gegen die Vergesslichkeit, sondern auch gegen eine Geschichte, die Gefahr läuft, doppelt entwertet zu werden: Zum einen als der Bodensatz, der übrig bleibt, wenn ein Gedächtnisort von den Lebenden ver- lassen und zur Ruine der Spuren und Dokumente wird, zum anderen als der Ka- daver, an dem sich die Mediengeier aasen, so heftig, dass es aussieht, als sei er noch am Leben. Auch hier wieder das Paradox: Sind es nicht die audiovisuellen Technologien, die selbst schwach flackernde Flammen der Erinnerung zum Leuchten bringen können, denn sie nötigen allem Gezeigten ein unheimliches Gefühl der „Präsenz“ auf, das nur ein Film erzeugen kann? Damit ist der Grat, auf dem persönliche Erinnerung zur öffentlichen Geschichte wird, ein sehr schmaler. Häufig wird er in beide Richtungen überquert, das heißt die Authenti- zität des Bildes gehört schon zur Mediengeschichte, während die Authentizität der Erinnerung als Erfahrung in der besonderen Zeitlichkeit liegt. Es kann die Echtzeit der langen Einstellung sein, oder es können die Zeitschichten der Mon- tage sein, denn auch ‚Echtzeit‘ ist nicht weniger medial vermittelt als montierte Zeit, und beide haben kein Äquivalent in unserem traditionellen Geschichtsbild: Sie sind Teil der neuen Dimension des Films in der Geschichte, von der ich ein- gangs behauptete, sie mache die Geschichte zum Reich der Scheintoten, unab- hängig davon, ob es nun um photographische oder digitale Bilder geht. Diese Gedanken sind mir bei drei augenscheinlich unverbundenen Film- und Fernseherfahrungen gekommen, die – wie eigenwillig auch immer – auf die da- bei gestellte Frage nach dem Ort der Medien als Bewahrer welcher Wahrheit am Ende des Jahrhunderts Antworten geben. Herinneringen aan Nederland (1992) von Joes Roelofs und Jan Blokker wurde ursprünglich im Fernsehen aus- gestrahlt. Beim zweiten Film handelt es sich um das dreiteilige Fernsehdrama Oude Tongen (1994) von Gerardjan Rijnders und beim dritten um eine Fern- sehdokumentation von Cherry Duyns, Gesicht van het verleden (1994). Diese hat eines der berühmtesten Filmbilder des Zweiten Weltkriegs zum In- halt, „het meisje“ („das Mädchen“), eine für die Todeslager bestimmte Insassin des Transitlagers in Westerbork, die kurz auf Film festgehalten ist. Was diese drei Programme verbindet, war tatsächlich ihre Beziehung zwischen Bild, Zeit und Erinnerung in einer Art, die weder meinen Pessimismus über das Schicksal der Vergangenheit im Fernsehen, noch meinen Optimismus über die Zukunft des Gedächtnisses im Film direkt bestätigte. 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 17 Herinneringen aan Nederland ist ein Dokumentarfilm über das Dorf Heili- gerlee, Ort einer berühmten Schlacht, in der die Niederländer die Spanier schlugen und auf die Historiker den Ursprung der niederländischen nationalen Identität zu- rück führen. In seiner Suche nach den his- torischen Orten und Plätzen des nationa- len Gedächtnisses erinnert der Film an eine französische Initiative, die ursprünglich vom damaligen Kulturminister in Gang gesetzt, doch ernsthaft vom Historiker Pierre Nora unter dem Namen lieux de mémoire (Erinnerungsorte) vorangetrie- ben wurde. Als die ersten Bände gedruckt vorlagen, wurde lieux de mémoire zum Thema einer Debatte unter niederländi- schen Akademikern und Autoren. Diese Diskussion kulminierte in einer Reihe von Artikeln, die im NRC Handelsblad er- schienen und die Frage stellten, ob eine ähnliche Anstrengung des Sammelns, In- ventarisierens und Aufzeichnens von Ge- Abb. 1 bräuchen und Kostümen, von Kochrezep- ten und Denkmalen nicht auch namens der Bewohner der niederländischen Re- publik unternommen werden sollte, bevor die Heimsuchungen der Modernisie- rung alle physischen Spuren ausgelöscht haben und der Druck des Tourismus jede Stadt und noch das letzte Dorf madurodamisiert und miniaturisiert, d. h. zum Themenpark seiner selbst gemacht hat. Herinneringen aan Nederland, so scheint es, will sich dieser Herausforderung ganz bewusst stellen. Blokkers Kommentar bemerkt, dass der tatsächliche, physische Ort wenige Spuren dieser „Geschichte“ aufweist (außer dem Denkmal aus viel späterer Zeit und eigentlich nur sich selbst dokumentierend, siehe Abb. 1). In einem anderen Sinne ist Heiligerlee jedoch solch ein typisches und durch- schnittliches niederländisches Dorf der 90er Jahre, dass es tatsächlich als Symbol der heutigen Abwesenheit von jeglichem spezifisch nationalen Gedächtnis fun- gieren kann. Der Film ist zugleich froh und betrübt über sein Ergebnis. Er ist froh, dass Heiligerlee nicht zum historischen Disneyland der Nation geworden ist, und betrübt, dass so wenig übrig bleibt, wodurch man sich die „Geburt einer 18 Thomas Elsaesser montage/av Nation“ in Erinnerung rufen könnte. Auf der Suche nach „echter“ Geschichte und Erinnerung kann ein Dokumentarfilm, wenn er ehrlich ist, nur Abwesen- heit aufzeichnen. Eingedenk Jean Luc Godards Diktum, dass das Kino Erinne- rungen erzeugt, während Fernsehen am laufenden Band Vergesslichkeit produ- ziert, schwankt Herinneringen aan Nederland zwischen den beiden Polen und ist sich nicht ganz sicher, ob es Art Cinema oder Fernsehdokumentation in der niederländischen Tradition sein will: Der Film wollte vielleicht ersteres sein, doch hatte er entweder nicht die Ressourcen hierfür oder (positiv gesprochen) nicht die notwendige Überheblichkeit, seine eigene Bedeutung derart zu über- schätzen. Doch scheint er auch in einiger Distanz zum Dokumentarfilm zu ste- hen. Auffallend sind die stilistischen Markierungen, die auf eine bestimmte Art des Kinos hindeuten: langsame Schwenks, statische und sorgfältig kadrierte Einstel- lungen, leere Ansichten, langes Schweigen. Man fühlte sich an Antonionis L’avventura (Die mit der Liebe spielen, Italien/Frankreich 1960) oder Il Deserto Rosso (Rote Wüste, Italien/Frankreich 1964) erinnert. Die oben er- wähnten Filmemacher bemühten sich, eine Art folkloristisches Gedächtnis zu erzeugen, indem sie die Originalstimmen aufzeichneten und sich auf wetterge- gerbte Gesichter vor dem nackten Hintergrund der See und des Himmels kon- zentrierten. Herinneringen aan Nederland versucht all dies zu vermeiden, indem der Bildrahmen beinahe komplett von jeglichem bewegten Leben entleert wird, und erzeugt so eine Art Sog, in die Auge und Ohr geraten. Damit wendet sich der Film umso stärker an die Zuschauer, diese Leere mit ihren eigenen Erin- nerungen zu füllen, als Reaktion auf eine von den Filmemachern sorgfältig vor- bereitete Abwesenheit und Leerstelle aktiv zu werden. Zufällig lief gleichzeitig mit der Erstausstrahlung von Herinneringen aan Nederland auf einem an- deren Sender Bernardo Bertoluccis Novecento (1900, Frankreich/Italien/ BRD 1976) ein episches Spektakel über die Entstehung Italiens als faschistische Nation): Beim Hin- und Herzappen kam ich nicht umhin, die starken Gegensät- ze zu bemerken, die sich bei Themen wie die Gestaltung der nationalen Ge- schichte als nationale Identität, des Gedächtnisses als Mythologie und der Ge- schichte als Spektakel eröffneten. Roelofs’ und Blokkers Strategie hängt natürlich direkt mit ihrem Thema zu- sammen. Denn welche Zeugen und Stimmen lassen sich finden für Ereignisse, die 400 Jahre zurückliegen? Doch kam mir auch der Gedanke, dass die Filmema- cher auf andere Weise hätten vorgehen können und dass es sehr wohl Geschich- ten in Heiligerlee gibt, nach deren Spuren Herinneringen aan Nederland nicht zu suchen schien, die aber dennoch lieux de mémoire für die Nation als Nation sein könnten. Wenn die niederländische Bevölkerung, so wie Blokker 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 19 sagt, keine nationale Identität besitzt, zu der sie eine instinktive emotionale Treue verspürt („Meister des Kurzzeitgedächtnisses“ nennt er seine Landsleu- te), so sind die Niederländer doch – wie Markt- und Meinungsforscher immer wieder betonen – extrem loyal gegenüber ihrem nationalen Fernsehen. Auch diese Loyalität muss Spuren hinterlassen haben und besitzt damit eine Ge- schichte. Es ist vielleicht nicht die Referenz auf einen historischen Referenten, aus der diese Geschichte besteht und die dann griffig fürs Fernsehen aufgezeich- net werden kann, sondern die Referenz aufs Fernsehen selbst, das seine eigene erinnerte Realität erzeugt. Die Einwohner von Heiligerlee könnten Erinnerun- gen solcher Art besitzen, die weniger vage sind als jene vom Befreiungstag 1945. Die große Überschwemmung vom Jahre 1953 beispielsweise, die erste Naturka- tastrophe der Niederlande mit umfassender Medienberichterstattung, oder der Tag, an dem das erste Fernsehgerät geliefert wurde, oder mit wem sie ihre erste TV-Sendung sahen (oft, so scheint es, im Haus der Großmutter), mit wem die frühen Eurovisions-Programme (die zusammenfielen mit der ersten im Fernse- hen ausgestrahlten Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz), eine königli- che Hochzeit oder eine Krönung. Vielleicht unterscheidet sich das Gefühl für Soziabilität und Zusammengehö- rigkeit, das durch geteilte Emotionen entsteht, die eine solche nationale Medien- geschichte dokumentieren könnte, nicht so sehr davon, was die Bauern in Heili- gerlee Blokker erzählt haben könnten, wäre er seinerzeit dort gewesen: von Wintern, in denen die Ernte zerstört wurde, von seltsamen Vorfällen vielleicht oder von Soldaten, die plündern und das eingelegte Fleisch stehlen. Man fühlt sich an Breughels Landschaft mit Fall des Ikarus (und an W. H. Audens davon inspi- riertem Gedicht Musée des Beaux Arts) erinnert. Wann, so könnte man sich fra- gen, wird die Mediengeschichte ihre École des Annalistes haben, die solche elek- tronischen lieux de mémoire lokalisiert? Wenn man heute in den Niederlanden von Erinnern und Vergessen spricht, so riskiert man die Oberfläche zu vergessen, das Gewöhnliche, das Alltägliche, von dem das Fernsehen wohl oder übel unser kollektiver Sammler, Sachverwalter und Bewacher ist. Die Tatsache, dass Westeu- ropa in den letzten 50 Jahren von keinem Krieg, keiner Hungersnot, keiner Seu- che und keinem anderen Ereignis heimgesucht worden ist, welches die alltägliche Erfahrung nachhaltig geprägt hat, und die Tatsache, dass dies präzise mit den 50 Jahren Fernsehgeschichte zusammenfällt, also der Zeitspanne einer, wenn nicht sogar zweier Generationen heißt, dass wir den Luxus hatten, eine Kultur und ein kulturelles Gedächtnis des Banalen aufzubauen, des Alltäglichen, dessen, was ein- fache Leute interessiert, was sie amüsiert und bewegt, was sie im Kino und im Fernsehen angeschaut haben: Eine Geschichte der Freizeit und des „Zeittotschla- gens“ neben der Geschichte der tödlichen Konflikte im Fernsehen. 20 Thomas Elsaesser montage/av Deshalb erlägen wir einer besonderen Art der Selbsttäuschung, wenn wir das authentische individuelle Gedächtnis und die inauthentische (Medien-) Ge- schichte zu stark kontrastieren. Möglicherweise entwickelt sich eine neue Au- thentizität: Nun, da die audiovisuellen Medien nicht nur ‚Geschichte schreiben’, sondern dabei selbst ihre eigene Geschichte mitschreiben und eine Art Erinne- rung der zweiten Ordnung erzeugen, ist es diese Darstellung, sind es diese Bil- der, die zur Realität zweiter Ordnung geworden sind. Wenn wir fragen, „Erin- nerst Du Dich an den Tag, an dem John F. Kennedy erschossen wurde?“, meinen wir nicht in Wirklichkeit, „Erinnerst Du Dich an den Tag, an dem Du im Radio davon gehört hast, dass John F. Kennedy erschossen wurde?“. Und dies nicht nur einmal, sondern einen ganzen Tag lang oder eine Woche? Oder nach dem Challenger-Unglück, als das Space Shuttle immer und immer wieder in ei- nem Feuerball von weißem Rauch explodierte, bis wir die Fernsehschirme nicht mehr von unserer Netzhaut unterscheiden konnten? Für diese Momente, die wir gut und gerne an unsere Enkelkinder als authentische Erinnerungen weiter- geben könnten, erscheint die Kategorie der Erinnerung, wie ich sie benutzt habe, nicht länger angemessen. Solche Bilder gehören einer anderen Art von Realität an: der Obsession oder dem Trauma, wozu eine andere Art von Aktivi- tät und Verortung des Selbst gehört, basierend auf dem Wieder-Erzählen, dem Wiederholen, nicht dem Daran-Arbeiten, wie Reitz es forderte, sondern dem Durch-Arbeiten, wie Freud es analysierte. Dafür ist das Fernsehen in der Tat prädestiniert, denn wie sonst soll man das augenscheinlichste Kennzeichen des Fernsehens erklären, der zwanghafte Wiederholungsdrang? Auch Oude Tongen ist die Geschichte eines niederländischen Dorfes: Oude Pekela. Doch der Gegensatz zu Heiligerlee könnte nicht akzentuierter sein, denn Oude Pekela ist berüchtigt wegen einer anderen Art von Schlacht; es ging um die Seelen und Körper einer Gruppe von Kindern, die angeblich von ihren Eltern sexuell missbraucht, für satanische Kulte korrumpiert und zur Mitwir- kung in pornografischen Videos gezwungen wurden. Die zedenaffaires in Oude Pekela und de Bolderkar (wo ähnliche Fälle berichtet wurden) erzeugte 1987 bei Bekanntwerden eine vorhersehbare Reaktion: Auf Schock, Horror und Wut, dass solche Dinge in der heilen Welt der Deiche und Tulpenfelder passieren konnten, folgte eine ausgeglichenere, wenn auch nicht weniger emotionale De- batte darüber, ob den Kindern tatsächlich etwas angetan worden war oder ob man es – vergleichbar den mittelalterlichen Hexenjagden – mit einem Fall von dörflicher Massenhysterie zu tun hatte, mit der die Medien nur allzu gerne ge- meinsame Sache machten. Hier zeigt die Erinnerung ihre andere Seite und lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das in den vergangenen Jahren die Gefühle überall in der westli- 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 21 chen Welt aufgewühlt hat: Die Debatte um „unterdrückte Erinnerung“ (repres- sed memory syndrome), Gewalt in der Familie, kindliche Traumata, wobei Freuds „Entdeckung“ der infantilen Sexualität und seine Theorie der Hysterie erneut unter Beschuss geriet. Zunächst schwankte Freud, ob er seinen (vor allem weiblichen) Patienten ihre traumatischen Erfahrungen und wiederkehrenden Erinnerungen an Inzest und Missbrauch durch eine väterliche Figur glauben oder von der Annahme eines grundlegenden Fantasie-Szenarios ausgehen sollte, das sich Kinder vorstellen, während sie die schwierigen Phasen von prä-ödipaler zu sexueller Identität und zur emotionalen Reife durchlaufen. Die Frauenbewe- gung der 70er und 80er Jahre hat Freuds Annahme einer so genannten „Verfüh- rungsfantasie“ als patriarchales Verschleierungsmanöver angegriffen und be- sonders in den USA bildeten sich Selbsthilfe-Gruppen, um weibliche Erinne- rung zu rehabilitieren. Damit wurde die Wiedererlangung der verdrängten Sze- nen sexuellen Missbrauchs ein entscheidender Schritt für die Gleichstellung der Frauen und eine scharfe Waffe in der „Identitätspolitik“. Wo solche Fälle von Kindesmissbrauch ans Licht kamen oder auch nur gerüchteweise davon berich- tet wurde, stellten sich Familien gegeneinander und spalteten sich Gemeinschaf- ten. Beinahe jeder wurde dabei zum potenziellen Verdächtigten der schreck- lichsten Übertretungen, während Sozialarbeiter die Polizei um Hilfe baten, um die Kinder gewaltsam von ihren Eltern zu entfernen. Hier schon zeigt sich, wie stark Identität nicht mehr an einer homogenen Zeit und linearen Chronologie festgemacht ist, sondern sich aus diskontinuierlichen Momenten und emotional besetzten Erinnerungsfetzen zusammenfügt. Wie Rijnders, der Regisseur von Oude Tongen, in einem Interview ausführt, war er, als er das ersten Mal von der Oude Pekela-Affäre in Vrij Nederland las, davon überzeugt, dass die Kinder missbraucht worden waren (vgl. VPRO Gids, 7.–14.5.1994, S. 2). Als er jedoch eine Artikelserie in De Haagse Post las, war er gleichermaßen überzeugt, dass nichts derartiges vorgefallen war, was ihn wie- derum davon überzeugte, dass sein tatsächliches Thema als Filmemacher nicht „die Wahrheit“ sei, sondern eher sein Hin- und Herschwanken angesichts der Vorgänge selbst. Folglich entschied sich Rijnders nicht für einen Dokumentar- film, sondern für einen Spielfilm, der die stilisierte Sozialsatire eines Low-Bud- get-Thrillers mit der komödienhaften Übertreibung einer Pantomime verbindet (siehe Abb. 2). In Anspielung auf David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks (mit einem ähnli- chen Thema, wie man sich erinnern wird) erzeugt Rijnders eine Traumland- schaft und Märchenwelt, die dennoch all den kühlen Horror eines Alptraums aufweist, aus dem niemand aufzuwachen scheint. Besonders auffällig ist, dass wir es hier mit einem Dorf zu tun haben, in dem das Fernsehen permanent läuft, 22 Thomas Elsaesser montage/av in dem Videorecorder, Pornoblätter und eine gut sortierte Kult-Videothek an der Ecke zu normalen Kennzei- chen des Alltagslebens geworden sind und ein Bild von häuslicher Soziabili- tät geben, das ebenso weit entfernt von der ländlichen Idylle der Reitz- schen Heimat ist wie von der wohlha- benden Durchschnittlichkeit in Blok- Abb. 2 kers Heiligerlee. In Oude Tongen ist das Gedächt- nis zu einem gänzlich anderen Land geworden: Von bizarren Träumen und sur- realen Fantasien nicht zu unterscheiden, halb-erinnerte Szenen aus der Kindheit und Bilder aus dem Fernseher, all dies gefüttert von furchterregend realistischen Spielzeugen und dem Verhalten von fürchterlich egoistischen oder sexuell fru- strierten Erwachsenen. Wenn man Rijnders’ Film glaubt, dann werden elektro- nische Bilder auf die eine oder andere Weise unser eigenes Gedächtnis als Erin- nerung und Wahrheitstest bald ganz ersetzen. Wie verhält sich also eine solche Prognose zu meinem Argument in Bezug auf Herinneringen aan Neder- land, dass wir dank des Fernsehens, das so etwas wie ein kollektives Gedächtnis schafft, an einer gemeinsamen Kultur teilhaben können? Dass unsere Alltags- kultur als Medienkultur in der Lage sein könnte, so etwas wie ein Gefühl von Identität wiederherzustellen, das zugleich „individuell“ und „national“ ist? Vielleicht müsste dafür das Medium selbst sich mehr auf sich besinnen und sich selbst reflektieren können. Bei Rijnders tragen die Medien lediglich zu einer all- gemeinen Atmosphäre von Hysterie und dem Glauben an Schauermärchen bei. Im kulturellen Prozess der Mediatisierung sind demnach verschiedene – auch politisch motivierte – Kräfte dabei, individuelle Erinnerung mimetisch zu ver- doppeln und „nachzuahmen“, „zu stehlen“ und damit zu „kolonisieren“, bis zu dem Punkt, an dem sich die Frage nach der Wiederherstellung einer prä-media- len Erfahrung einfach nicht länger stellt. Man kann in Rijnders’ Ansatz die Lust eines Tänzers und Theatermachers an Melodrama und grand guignol erkennen sowie seine entsprechend gemischten Gefühle über das Fernsehen. Doch die Dilemma, die er in seiner Behandlung von Geschichte wie persönlichem Gedächtnis aufwirft, sind nichtdestotrotz real genug, wenn man über die Tatsache nachdenkt, dass angesichts der Verbreitung von Bildern als Zeichen für Realität und als Ikonen der Geschichte unsere audio- visuelle Kultur sich als enorm selektiv erwiesen hat. Ob es darum geht das Bild für einen Krieg zu finden, wie die Aufnahme der ausgemergelten Männer hinter 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 23 Stacheldraht, das die „Barbarität“ von Bosnien bezeichnet, oder das Bild für eine menschliche Katastrophe wie die Hungersnot in Äthiopien, so zum Beispiel das von Fliegen bedeckte Gesicht eines Kindes – die Medien benötigen stets eine vi- suelle Chiffre, ohne sich darum zu kümmern, was die „konstruierte“ Natur sol- cher „Repräsentationen“ des Realen unterdrücken, ausschließen oder einfach nur außerhalb des Bildes lassen. Schärfer und konkreter formuliert ist es nicht nur eine Frage, ob das einzelne Foto oder das Einzelbild eines Filmes für ein ganzes Ereignis einstehen kann, sondern auch ob, generell gesagt, eines für vieles einstehen kann, ob ein Mensch seine oder ihre Individualität aufgeben kann, um zu einem Symbol zu werden, und ob ein Mensch ein Kollektiv repräsentieren, im Namen anderer sprechen kann, in einem Medium, in dem das einzelne Bild und die individuelle Stimme eine neue Kraft angenommen haben und oft die Aura besitzen, die einst nur dem Künstler als sozial akzeptierten Zeugen der Gesellschaft und dem Kunstwerk als trans-individuelles, gültiges Zeugnis übertragen wurde. Dass es absolut notwendig ist, die von mir als elektronische und audiovisuelle lieux de mémoire bezeichneten Erinnerungsorte mit derselben Sorgfalt zu un- tersuchen wie physisch vorhandene Monumente oder Dokumente, wurde mir von meinem dritten Beispiel vor Augen geführt, einem als Dokumentation ge- tarnten Detektivfilm. Cherry Duyns’ Gesicht van het verleden illustriert an- schaulich, wie notwendig die Auseinandersetzung um die Macht der als reprä- sentativ anerkannten Bilder im Namen nicht nur der individuellen Identität sein kann. Der Film handelt von „het meisje“, dem Mädchen, die für viele Niederlän- der symbolisiert, was den Juden in den Niederlanden angetan wurde, als die Deutschen sie im Konzentrationslager Westerbork zusammen trieben und an- schließend nach Auschwitz transportierten. Ihr Bild wurde in einem Dokumen- tarfilm entdeckt, der im Auftrag des deutschen Lagerkommandanten gedreht wurde, um ein Dokument seiner Taten zu behalten und um seinen Vorgesetzten seine makellose Effizienz als Transportunternehmer und Befehlsempfänger vor Augen zu führen (siehe Abb. 3). Dieses Einzelbild aus einem Film ist hundertfach auf Buchumschlägen und Postern reproduziert worden – so häufig, dass es paradoxerweise zu einer so gängigen Ikone geworden ist wie Churchills Victory-Gruß oder, man wagt es kaum zu sagen, Marilyn Monroe. Es handelt sich in der Tat um ein Bild, das ei- nen nicht loslässt, das man niemals mehr vergisst, und das darüberhinaus die jü- dische Gemeinschaft auch nicht in Vergessenheit geraten lassen wird. Wie sie in einer kleinen Öffnung eines Viehwaggons zu sehen ist, kurz bevor die Tür ge- schlossen und verriegelt wird, war der Grund, warum ich dem Essay seinen Titel gab. „Un train peut en cacher un autre“, dieses Schild kennt jeder, der in Frank- 24 Thomas Elsaesser montage/av reich auf dem Land an einem Bahn- übergang gestanden hat: „Achtung! Ein Zug könnte einen anderen verber- gen“. Denn das Mädchen aus Wester- bork, Symbol für die Juden, für Au- schwitz, für den Holocaust, war und ist ein Individuum mit einem Namen, einem Ursprung und einer Identität. Und so offenbart sich, dass ihr Name Settela ist, dass sie keineswegs jüdisch, sondern eine Sinti ist, und ihr Schick- sal nicht Auschwitz, sondern Ber- gen-Belsen hieß. Es besteht kein Zweifel, dass sie in Bergen-Belsen er- mordet wurde, so wenig wie Zweifel daran besteht, dass sie auch in Au- schwitz umgekommen wäre, doch ist diese Unterscheidung keineswegs gleichgültig. Ein Holocaust, so haben wir aus Erfahrung gelernt, kann ande- Abb. 3 re verbergen, die symbolische Kraft eines Bildes kann eine andere Realität in den Schatten stellen. Wenn man die Wahrheit des Leidens der europäischen Roma und Sinti wiederherstellt, bedeutet dies nicht, dass sie damit mit den euro- päischen Juden „konkurrieren“, wie sehr auch die Entdeckung von Settelas Identität zunächst die Sensibilitäten der niederländischen Juden aus der Fassung brachte. Im Gegenteil: Es ist eben diese Kraft der Bilder vom jüdischen Holocaust und die Erinnerungsarbeit folgender Generationen von Überlebenden und ihrer Nachkommen, die uns nicht nur für Genozide anderswo in unserer Gegenwart sensibilisieren sollte, sondern auch für die Macht des unbewegten Bildes, das aus einem Film stammt und wieder in den Strom der Geschichte eingefügt wird, in den Ablauf von Sequenz und Konsequenz, um eine Wahrheit festzuhalten, die für das Einzelbild und selbst für eine einzelne Stimme nicht verfügbar ist. Als Historiker die Blätter an den Bäumen untersuchten, die Kreidemarkierungen an den Waggons und die Bretter, aus denen die Seitenverschalungen bestanden, er- kannten sie, dass es sich bei dem Transport nicht um jenen im Februar gehandelt haben konnte, sondern dass es der für Mitte Mai aufgezeichnete war, d. h. jener, der die Zigeuner aus Westerbork nach Bergen-Belsen brachte. Eine aufsehener- 11/1/2002 Geschichte, Gedächtnis und Medienöffentlichkeit 25 regende Entdeckung, doch auch eine Probe aufs Exempel für die Frage nach der Erinnerung im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit. Denn metaphorisch wie buchstäblich ist jedes Bild dichter mit Informationen, Spuren und Zeichen bepackt, als die einfache Ersetzung eines für viele, der Ikone für die Realität vermuten ließe. Das Symbol abstrahiert und dekontextualisiert, und damit ent-materialisiert es sich auch zum Vorteil seiner Universalität. Die neue Wahrheit des Gesichtes von Settela hat vielleicht die mythische Kraft des Bildes dekonstruiert, doch hat es in gewisser Hinsicht auch eine andere Wahr- heit des Bildes wiederhergestellt und seine Kraft als Symbol paradoxerweise in- tensiviert. Wenn wir jetzt das Bild von „het meisje“ sehen, denken wir an die Ju- den und an die Zigeuner, wir denken an die Geschichte und an ihre Vernichtung, wir denken an das Einzelne und das Allgemeine und es kommen uns vielleicht Gedanken zu einer anderen nationalen wie auch europäischen Identität im Zei- chen der Medien. Nach dem düsteren Bild des Geisterzugs, das ich zu Anfang gezeichnet habe, scheint hier ein wenig Hoffnung auf: Es gibt vielleicht doch Gründe, unserer audiovisuellen Realität zu vertrauen, wenn wir daran und mit ihr arbeiten, so dass nicht nur eine Wahrheit eine andere verbergen kann, son- dern auch durch eine andere geborgen werden kann. Ein Zug kann tatsächlich einen anderen verdecken, wie ein Bild die Sicht auf ein anderes nehmen kann, doch wenn wir auf die darin verborgenen und geborgenen Geschichten und Identitäten Acht geben, wird weder das Fernsehen noch das Kino der Zug sein, der uns überrollt. Aus dem Englischen von Malte Hagener Abb. 1 Die Hochzeit von Max und Annie Peereboom Michael Renov Historische Diskurse des Unvorstellbaren Peter Forgacs’ The Maelstrom Kürzlich sponserte die National Foundation for Jewish Culture im Rahmen des 20-jährigen Jubiläums des San Francisco Jewish Film Festivals – das erste einer Reihe amerikanischer jüdischer Filmfestivals – die „First Conference of Ameri- can Jewish Film Festivals”. Ein Programmpunkt der Tagung war „The Holo- caust Film as Genre“, der sich mit der bisweilen unbequemen Tatsache ausein- andersetzen sollte, dass auch heute noch der Holocaust Quelle und Gegenstand zahlreicher Dokumentarfilme jüdischer Filmemacher ist. Diese auch Generatio- nen nach dem Ereignis immer noch wirkmächtige, obsessive Rückkehr zur Shoah wird manchmal als übertriebene Konzentration auf jüdisches Opfertum gesehen, als mangelnde Bereitschaft, sich aktuelleren Themen und solchen, die stärker auf ein „empowering“ abzielen, zuzuwenden. Woher kommt diese Fas- zination, die der Holocaust für jüdische Filmemacher ausübt? Ist die Shoah zur Matrize jüdischen Leidens schlechthin geworden oder hat die Aufarbeitung die- ses Themas durch Dokumentarfilmer ebenso wie bei den Historikern zu immer neuen historiografischen oder philosophischen Erkenntnissen bei Filmema- chern und Wissenschaftlern geführt? Auch wenn man die Bedeutung der Filme von Alain Resnais, Marcel Ophüls und Claude Lanzmann anerkennt, so bleibt doch die Frage, ob uns jüngere Filme neue Einsichten vermitteln. Kann es sein, dass wir unter einer Holocaust-Ermüdung leiden? Dies sind eine Reihe von Fra- gen, die den Ausgangspunkt dieses Artikels darstellen. James E. Young erörtert diese Hartnäckigkeit der Erinnerung an den Holo- caust ganz hervorragend in seinem Buch Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, in dem er umfassend dokumentiert, wie der Ho- locaust zu einem Brennglas wurde, in dem sich alle Aspekte jüdischer Erfahrung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brechen. Dabei ersetzten manchmal Archetypen die historische Repräsentation. So wurde der „Holocaust Jude“ selbst in Werken nicht-jüdischer Autoren zur wiederkehrenden Figur, wie etwa in den berühmten Werken von John Berryman, Anne Sexton und Sylvia Plath – allesamt Schriftsteller, die Selbstmord begingen (vgl. Young 1992, 190). Die Be- deutung des Holocaust als Topos wird nirgendwo deutlicher als in dem erst vor kurzem aufgetauchten Begriff des „Armenischen Holocaust“ zur Bezeichnung des Genozids von eineinhalb Millionen Armeniern durch die Türken zwischen 28 Michael Renov montage/av 1905 und 1923, eines Ereignisses also, das sich Jahrzehnte vor der Errichtung der Nazi-Todeslager abspielte. Das Wort „Holocaust“, das erst in den späten 1950er Jahren in den kritischen und populären Wortschatz einging, um ganz spezifisch die Ermordung europäischer Juden zu bezeichnen, wird so rückwirkend auf den armenischen Kontext bezogen, um auf das enorme Ausmaß des Verbrechens zu verweisen. (vgl. Young 1992, 141– 149)1 Wenngleich der Holocaust ein Begriff geworden ist, der obsessiv verwendet wird – Hayden White, um nur einen von vielen zu nennen, bezeichnete den Holo- caust als „the paradigmatic ‘modernist’ event in Western European history“ (White 1996, 30) –, so wird seine Darstellung immer noch mit äußerster Strenge unter die Lupe genommen. Für Zeugenberichte des Holocaust steht viel auf dem Spiel – man erinnere sich nur an die Behauptungen jener, die den Holocaust leug- nen –, und so konzentriert man sich auf die unmittelbare Transkription von Er- fahrung, wobei derjenige, der sie aufzeichnet, so weit wie möglich als neutrales Medium agiert, als „das Instrument der Ereignisse“ (Young 1992, 42). Aber die Auffassung, ein Text – sei er literarisch oder filmisch – könne eine reine und nor- mative Wiedergabe der Ereignisse sein, ignoriert die radikale Mimesiskritik, die u. a. von Robert Scholes geäußert wurde: „It is because reality cannot be recorded that realism is dead. All writing, all composition, is construction. We do not imita- te the world, we construct versions of it. There is no mimesis, only poesis.“ (Scho- les 1975, 7) Der Holocaust als Dokumentarfilm-Genre ist ein privilegierter Ort für Debatten über den ontologischen Status des dokumentarischen Diskurses. Ich möchte hier Peter Forgacs’ The Maelstrom: A Family Chronicle (NL 1997) als einen Film untersuchen, der nicht nur die Auslöschung einer holländischen jü- dischen Familie durch die Shoah, sondern auch das Problem historischer Reprä- sentation an sich und die dynamische Grenze zwischen Transkription von Zeu- genberichten und ästhetischer Konstruktion behandelt. Wie wir sehen werden, ist Forgacs gleichzeitig Schreiber, Zeuge und Dichter. Zunächst muss jedoch etwas über das diskursive Feld gesagt werden, in das sich The Maelstrom einschreibt. In der jüdischen Tradition kommt dem Schreiber der Stellenwert eines heili- gen Wächters zu. In einer Talmudgeschichte ermahnt Rabbi Ishmael einen Schriftgelehrten: „Gib acht. Wenn du ein einziges Wort ausläßt oder hinzufügst, kannst du die Welt zerstören.“ (zit. in Young 1992, 42) In der Zeit nach dem Ho- 1 Es muss hinzugefügt werden, dass es leidenschaftliche Debatten um den Begriff Holocaust als Bezeichnung für die Katastrophe des europäischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs gab (sho’ah und churban wurden als Alternativen vorgeschlagen), da das Wort etymologisch an Vorstellungen von (Brand-)Opfer gebunden ist, die eher der christlichen als der jüdischen Tradition zuzuordnen sind. 11/1/2002 Historische Diskurse des Unvorstellbaren 29 locaust kam es zu erregten Debatten um die Ethik der Darstellung. So gab es schwerwiegende Argumente da- für, dass Metaphern, ja jegliches Be- mühen um eine Darstellungsform an sich ein Affront gegen die Faktizität des Schreckens des Holocaust sei. In seinem Buch A Double Dying. Re- flections on Holocaust Literature bringt Alvin Rosenfeld dies auf den Punkt: Abb. 2 Der jüngste Sohn und einzige There are no metaphors for Au- Überlebende der Peereboom Familie bei schwitz, just as Auschwitz is not a der Hochzeit von Max Peereboom. metaphor for anything else...Why is this the case? Because the flames were real flames, the ashes only ashes, the smoke always and only smoke....the burnings do not lend themselves to metaphor, simile, or symbol – to likeness or association with anything else. They can only „be“ or „mean“ what they in fact were: the death of the Jews. (Rosenfeld 1980, 27) Und doch hat die Forderung, von Leiden und Tod Zeugnis abzulegen, diese Einwände immer wieder umgangen: für viele Überlebende ist dies eine Notwen- digkeit. Im Vorwort von Survival in Auschwitz drückt Primo Levi dies folgen- dermaßen aus: The need to tell our story to ‘the rest,’ to make ‘the rest’ participate in it, had taken on for us, before our liberation and after, the character of an immediate and violent impulse, to the point of competing with our other elementary needs. The book has been written to satisfy this need: first and foremost, therefore, as an interior liberation. (Levi 1993, 9)2 Traumatische Erfahrungen sind aber meist unzugänglich, sie sind tief in der Seele vergraben. Der Zugang zu Erinnerungen und das Erzählen der Erinnerun- gen sind komplexe therapeutische Prozesse (siehe Felman/Laub 1992, 57–74). Wenn Überlebende Zeugnisse ablegen, nehmen sie – wenn sie glaubhaft sind – die Form eines „dokumentarischen Realismus“ an. Young meint jedoch, dass es „bedenklich und unverantwortlich“ sei, darauf zu insistieren, dass die Ich-Erzählungen vom Holocaust tatsächlich die dokumentarischen Beweise 2 A.d.Ü.: siehe dazu auch den Brief Primo Levis an den Übersetzer Heinz Riedt in Levi 1992, 7 f. 30 Michael Renov montage/av böten, die sie selbst intendierten (Young 1992, 37). Es ist das Verdienst Forgacs’, als filmender Historiograph und Vermittler von Zeugenberichten einen kon- textuellen Rahmen dafür geschaffen zu haben, dass für einen bestimmten Über- lebensdiskurs der Anspruch der Evidenz erhoben werden kann.3 Der ontologische und ethische Status der Holocaust-Berichte ist sehr kontro- vers: sind sie Geschichte, Erinnerung, Kunst, Therapie oder sogar politisches Traktat? Elie Wiesel, einer der bekanntesten Zeugen und Schriftsteller, hat in Anlehnung an Adornos atavistische Aussage („nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“) über die Unmöglichkeit einer Holocaust-Literatur geschrieben: „There is no such thing as a literature of the Holocaust, nor can the- re be. The very expression is a contradiction in terms. Auschwitz negates any form of literature, as it defies all systems, all doctrines.“ (Wiesel zit. in Rosenfeld 1980, 14) Wiesel hat jedoch auch vom unverbrüchlichen Bedürfnis gesprochen, sich zu erinnern: „For me, writing is a matzeva, an invisible tombstone, erected to the memory of the dead unburied.“ (Wiesel zit. in Rosenfeld 1980, 27) Was haben wir aus der scheinbaren Unversöhnlichkeit dieser beiden Aussa- gen Wiesels zu folgern? Einerseits: keine Literatur, keine ästhetischen Kanons, keine Geschmackshierarchien, kein Aufspüren generischer Transformationen, also: kein am Schmerz gewonnenes Vergnügen – und andererseits: das verzwei- felte Bedürfnis, sich des Verlustes zu erinnern. Eric Santner meint, dass es die Narrativisierung des Holocausts ist, der Impuls, „die Geschichte zu erzählen“, der die Gefahr eines „narrativen Fetischismus“ aufkommen lässt. Dies bedeutet nach Santner „a strategy of undoing, in fantasy, the need for mourning by simu- lating a condition of intactness, typically by situating the site and origin of loss” (Santner 1992, 144). Der Akt des Erzählens entspringt so gesehen der Unfähig- 3 Es gibt zahlreiche Forschungsarbeiten zur Tradition des testimonio in der lateinamerikanischen Literatur, die die besondere Verbindung von Erzählquelle (ein Bauer oder Abhängiger, der Analphabet ist oder keine Möglichkeit zum Schreiben hat) und dem Übersetzer, der die Ge- schichte an ein Lesepublikum vermittelt, betont. An diese Tradition knüpfen auch Zeugnis- schriften von anderen marginalisierten Gruppen (Feministinnen, Homosexuelle, Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe) und ganz unterschiedliche Formen des Video-testimonios an (siehe hierzu Beverly 1992, 91–114 und Noriega 1996, 207–228). Der Status von The Maelstrom als Zeugen-Diskurs beruht darauf, dass die Peerebooms Zugang zu Repräsentationsmitteln, aber aufgrund ihres frühzeitigen Todes keinen Zugang zu den historischen Aufzeichnungen hatten. Der Film ähnelt den Tagebuchaufzeichnungen von Menschen, die untergegangen sind, wie Anne Frank, Moshe Flinker, Chaim Kaplan. Die Besonderheit des Films liegt in der Rolle von Forgacs, der einem zeitgenössischen Publikum durch das Ausgraben der Home Movie-Aufnah- men ein beeindruckendes Zeugnis zugänglich macht, indem er aus den Peereboom-Aufnahmen, anderem Archivmaterial und diversen akustischen Elementen ein ergreifendes Kunstwerk komponiert. Hinsichtlich des Stellenwertes von The Maelstrom als Zeugnis könnte man For- gacs als Künstler oder als jemanden bezeichnen, der das Werk „hervorgebracht“ hat. 11/1/2002 Historische Diskurse des Unvorstellbaren 31 keit oder der Weigerung zu trauern, wobei der Verlust oder traumatische Schock auf die Ebene der Repräsentation verschoben wird. Anders ausgedrückt: die Erzählung nimmt der Geschichte ihren Stachel. Santners Auffassung teilt viele der Kritikpunkte, die gegen Schindler’s List (Schindlers Liste, USA 1993, Steven Spielberg) und La Vita è bella (Das Leben ist schön, Italien 1997, Roberto Benigni) vorgebracht worden sind – Filme, die ein halbes Jahr- hundert nach den in ihnen gezeigten Ereignissen erregte Debatten, zahllose Ta- gungsvorträge und sogar ganze Bücher nach sich gezogen haben (siehe Loshitz- ky 1997). Ebenso leidenschaftlich wie Verbote gegen Ästhetisierung oder Narrativisie- rung des Holocaust verhängt werden, wird die Forderung erhoben, Zeugnis ab- zulegen. Manche Kritiker stützen sich dabei auf die Bibel, um die Notwendigkeit der Zeugenschaft zu belegen. James Young zitiert das 3. Buch Moses: Wer „[...] Zeuge [ist], da er es gesehen oder darum gewußt hat, aber er zeigt es nicht an und lädt damit Schuld auf sich“ (Young 1992, 38). Die Last, das Wissen um die Kata- strophe zu teilen, hat eine ganze Generation von Zeugen und Überlebenden be- drückt, und dies setzt sich auch in den nachfolgenden Generationen fort, bei den Kindern und Enkelkindern der Überlebenden, die sich erinnern, erzählen und ih- ren Zeugenbericht weitergeben oder aber dessen Unmöglichkeit. Hier stoßen wir auf die besondere Neigung des Dokumentarfilms, Zeugenberichte aufzuzeichnen und ihnen Gewicht zu verleihen. Seit Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel, Frankreich, Alain Resnais), dem 1955 am zehnten Jahrestag der Befreiung der La- ger entstandenen Film, wurden zahlreiche sehr unterschiedliche Dokumentarfil- me gedreht, die Aspekte der Shoah behandeln. Kann es sein, dass der Dokumen- tarfilm, der lange Zeit (meiner Meinung nach ganz zu unrecht) eher mit Wahrheit als mit Schönheit assoziiert wurde, gegen die Gefahr der Ästhetisierung des Schre- ckens immun war?4 Vielleicht wird der Vorwurf der Fetischisierung mit Hilfe von Narrativisierung auch durch den Gebrauch dokumentarischer Formen gemildert, die weniger mit dem Erzählen von Geschichten gleichgesetzt werden. Eine wich- tige Form nicht-fiktionaler Medienproduktionen sind Videoaufnahmen und ar- chivierte Zeugnisse von Überlebenden wie die im Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University oder in der von Steven Spielberg gegründeten Survivors of the Shoah Visual History Foundation, die mehr als 50.000 uneditierte Zeugenberichte aufgezeichnet hat. 4 Nicht dass der Holocaust-Dokumentarfilm einer ganz spezifischen, immer wieder geäußerten Kritik ausweichen könnte, nämlich der, dass er Gefahr läuft, die Opfer des Naziterrors durch ihre Abbildung zusätzlich zu dehumanisieren. Wem schadet dieser ethische Verstoß? – Den To- ten, den überlebenden Familienmitgliedern und dem Publikum. 32 Michael Renov montage/av Es gibt aber keine diskursive Wiedergabe von Geschichte ohne künstlerische Eingriffe und Narrativisierung. Joris Ivens spricht über sein ständiges Bemühen, die harten Bedingungen der streikenden Arbeiter in Borinage (Belgien 1933, Jo- ris Ivens/Henri Storck) zu entästhetisieren. „Our aim was to prevent agreeable photographic effects distracting the audience from the unpleasant truths we were showing.“ (Ivens 1969, 88) In Claiming the Real betont Brian Winston nach- drücklich, dass der Dokumentarfilm Narrativisierung nicht vermeiden könne, da sie eine grundlegende Voraussetzung menschlichen Verstehens darstelle. Andere Verfahren, narratives Material zu organisieren, funktionieren nach Winston bes- ser im Kopf als auf der Leinwand (vgl. Winston 1995). Sicherlich hat der Doku- mentarfilm lange damit gekämpft, seine Subjekte in eine Geschichte einzubinden: Allekorialak/Nanook, die kämpfenden streikenden Arbeiter in Harlan County, sogar die Louds von Santa Barbara. Aber letztendlich ist der Dokumentarfilm im- mer der anti-ästhetischen, anti-narrativen Kritik ausgeliefert. Es gibt die Auffassung, dass die Historiographie an sich, also die disziplinär ver- ankerte Geschichtsschreibung weit davon entfernt sei, immun gegen ästhetische und narrative Determinationen zu sein. In seinen einflussreichen Essays „Le dis- cours de l’histoire“ und „L’effet de réel“ fragt Roland Barthes: „Is there in fact any specific difference between factual and imaginary narrative, any linguistic feature by which we may distinguish on the one hand the mode appropriate to the relati- on of historical events...and on the other hand the mode appropriate to the epic, novel or drama?“ (Barthes 1970) Sehr zum Unbehagen vieler Historiker argu- mentiert Barthes, dass historische Diskurse sich linguistisch nicht wirklich von anderen narrativen Formen unterscheiden. Barthes’ Auffassungen sind sowohl für Wissenschaftler, die sich mit dem Dokumentarfilm befassen, als auch für Do- kumentarfilmer besonders relevant, denn seiner Meinung nach stützen Diskurse über „objektive“ Geschichte ihre Behauptungen auf eine „referentielle Illusion“, wobei Techniken und Institutionen ständig versuchen, dem „Realen“ Authentizi- tät zu verleihen. „All das besagt, daß dem ‚Realen’ zugetraut wird, sich selbst zu genügen, daß es stark genug ist, jede Idee einer ‚Funktion‘ zu dementieren [...] und daß das Da-gewesen-Sein der Dinge ein hinreichender Grund für das Sprechen ist“ (Barthes 2000, vgl. Barthes 1970). Dieser Meinung sind auch eine Reihe von Filmwissenschaftlern wie etwa Noël Carroll, die den Dokumentarfilm als Mög- lichkeit feiern, objektives und verbürgtes Wissen zu produzieren. Hayden White hat dagegen den Begriff der „Fiktionen der Darstellung des Faktischen“ geprägt, mit dem er unterstreicht, wie sehr der Diskurs des Histori- kers und der des Schriftstellers sich überschneiden, sich ähneln oder miteinander korrespondieren (vgl. White 1978, 121). In einer Art und Weise, die von vielen professionellen Historikern als skandalös empfunden wurde, wies White den 11/1/2002 Historische Diskurse des Unvorstellbaren 33 Rationalismus der im 19. Jahrhundert verankerten historischen Methode zu- rück, in der Geschichte als realistische Wissenschaft per se verstanden wird, wo- bei Geschichte als Untersuchung des Realen den Untersuchungen dessen, was nur vorstellbar ist, gegenübergestellt wird. Der Dokumentarfilm hat in seinem Versuch, sich vom Spielfilm als seinem he- gemonialen Anderen zu unterscheiden, diesen vermeintlichen Dualismus zwi- schen dem Realen und dem Vorstellbaren geerbt. Ich glaube, dass die filmische Praxis von Peter Forgacs – und hier beschränke ich mich auf den 1997 entstande- nen Film The Maelstrom – die institutionalisierte Trennung zwischen dem Realen und dem Vorstellbaren dekonstruiert, indem er historische Diskurse des Unvorstellbaren produziert. Weil Forgacs sein visuelles Quellenmaterial aus den Tiefen zahlreicher Archive in der ganzen Welt hervorholt und vor allem res- taurierte Amateuraufnahmen verwendet, verschafft er den ZuschauerInnen Zu- gang zu unbekannten und unerwarteten Welten. Es lohnt sich, Forgacs Arbeitsmethode kurz zu beschreiben. Seit den frühen 1980er Jahren hat der in Budapest lebende Künstler Amateur- und Home Mo- vie-Aufnahmen aus verschiedenen Quellen gesammelt. Forgacs’ Ausgangsbe- obachtung war die Tatsache, dass die Erfahrung der Ungarn unter dem Kom- munismus in offiziellen Berichten wie z. B. in sowjetischen Geschichtsdarstel- lungen „von oben nach unten“ fast nicht auftauchte. Einen besseren Zugang zum Verständnis des gesellschaftlichen Lebens im Ungarn der Kriegs- und Nachkriegszeit boten die Amateuraufnahmen, die die Rituale des Alltagslebens, die Banalität der Straßenszenen, Familientreffen und wichtige Lebensstationen zeigten. So begann Forgacs, obsessiv Bilder zu sammeln. Found Footage, Ar- chivbilder und Home Movies, die er dabei zusammentrug, bilden das Rohmate- rial für seine Ausgrabungen der Vergangenheit. Es wäre aber falsch zu denken, Forgacs sei eher Historiograph als Künstler. Forgacs’ breites filmisches Werk ist streng festgelegten strukturellen und ästheti- schen Prinzipien verpflichtet.5 Die Filme beinhalten fast keine Aufnahmen, die Forgacs selbst gedreht hat, sondern bestehen aus sorgfältig geschnittenem, ja neu orchestriertem Archivmaterial, das hinsichtlich der Zeitverhältnisse manipuliert und sogar neu eingefärbt sein kann. So signalisiert Forgacs sein Desinteresse an ei- ner unverfälschten Reproduktion der Vergangenheit. In allen Filmen arbeitete er 5 Forgacs hat fast dreißig Filme gedreht. Sieben Filme sind von Arte in Deutschland ausgestrahlt worden: The Bartos Family (Ungarn 1988), Dusi and Jeno (Ungarn 1989), The Diary of Mr. N. (Ungarn 1990), Either – Or (Ungarn 1996), Free Fall (Ungarn 1997), The Danube Exodus (Niederlande 1997, auch vom ZDF ausgestrahlt) und Meanwhile Somewhere (Ungarn 1994, auch vom NDR ausgestrahlt). 34 Michael Renov montage/av mit dem bekannten ungarischen Komponisten Tibor Szemzo zusammen, dessen bemerkenswerte Musik den Ton auf dieselbe Stufe stellt wie das Visuelle. Es sind Filme, die gehört und gesehen werden müssen. Die Begegnung mit Geschichte entfaltet sich sowohl über die oft als minderwertig betrachteten Bilder als auch über Szemzos eindringliche instrumentale und vokale Arrangements. So entste- hen eher meditative Arbeiten als autoritative Dokumente der Vergangenheit. Man könnte sagen, dass Forgacs Kompilationsfilme macht, also einem Film- typus zugeordnet werden können, der bislang wenig erforscht ist. Forgacs ist ein meisterhafter Cutter. In The Maelstrom sind die geretteten Bilder dank der meisterhaften Schnitttechnik voll unheimlicher historischer Resonanzen: Die Aufnahmen werden in unterschiedlicher Geschwindigkeit und oft als Standbil- der gezeigt, die Gesten und Blicke anhalten und so die Unaufhaltsamkeit der Zeit aufheben. Szemzos bewegende chorale und instrumentale Passagen unter- streichen die Bilder mit wechselnden Tonarten. Die Einblendung von geschrie- benem Text und Voice over-Stimmen, in denen explizit Gesetze, öffentliche De- krete und politische Reden der Zeit zitiert werden, verweist auf eine progressive Zeitebene und eine präzise historische Matrix. Wir, d. h. das Publikum, wissen erschreckend mehr als diejenigen, die die Bilder gemacht haben. Weil wir um die bevorstehende Katastrophe wissen, ist es für uns kaum erträglich, wenn wir eine holländische jüdische Familie, die Peerebooms, da- bei beobachten, wie sie einen Tag vor Hitlers Einmarsch in Polen Vorbereitungen für eine Reise nach Paris treffen. Uns berührt der Anblick eines jüdischen Gottes- dienstes in der Amsterdamer Rapenberg-Synagoge, ein Tableau der tausendjähri- gen Tradition europäisch-jüdischen Lebens, das bald darauf ausgelöscht sein sollte. Und wir sind betroffen vom Bild einer Familie (unser Filmemacher Max Peere- boom, seine Frau Annie, ihre Stiefmutter und ihre beiden kleinen Kinder), die um den Tisch sitzt, näht und packt und in der Nacht vor ihrer Deportation nach Au- schwitz die letzten Vorbereitungen trifft. Während wir zuschauen, liest eine weibli- che Stimme die Liste der persönlichen Gegenstände vor, die jeder Deportierte mit- nehmen durfte: eine Tasse, ein Löffel, ein Arbeitsanzug, zwei Hemden, ein Pullover, zwei Unterhosen, zwei Paar Socken, zwei Decken, eine Serviette, ein Handtuch und Hygieneartikel. Mit dieser Intonation von Alltagsdetails bringt uns Forgacs in unmittelbaren Kontakt mit Arendts Banalität des Bösen. Die Anweisung der Jüdischen Auswanderungsbehörde, die eine Umsiedelung in ein Arbeitslager vorspiegelt, ist eine rhetorische Täuschung, um diejenigen, die der Endlösung zuge- führt werden sollten, ruhig zu stellen. Die freudige Zuversicht der Peerebooms in diesen letzten Bildern belegt den Erfolg dieser Taktik. In dieser letzten Szene (und für zeitgenössische Juden hat sie ganz und gar den Charakter einer Urszene) wird Forgacs’ Meisterschaft ganz besonders deutlich. 11/1/2002 Historische Diskurse des Unvorstellbaren 35 Abb. 3 und 4 Das Alltagsleben zweier Familien. Nach fast einer Stunde, in der wir immer stärker emotional eingebunden wur- den (wir sind ja Gäste bei Hochzeitsfeiern und Familienausflügen der Peere- booms und bei den ersten Schritten des Babys), nehmen wir in der 57. Minute des Films an den letzten Momenten einer europäischen jüdischen Familie teil. Es ist ein historischer Anblick, der sowohl allgemeingültig als auch ganz spezifisch ist. Der ungarische marxistische Kritiker Georg Lukács schrieb einmal, dass es „das Ziel ... in jeder großen Kunst [ist]: ein Bild der Wirklichkeit zu geben, in welchem der Gegensatz von Erscheinung und Wesen, von Einzelfall und Ge- setz, von Unmittelbarkeit und Begriff usw. so aufgelöst wird, dass beide im un- mittelbaren Eindruck des Kunstwerks zur spontanen Einheit zusammenfallen“ (Lucács 1977a, 73). The Maelstrom kommt diesem Ziel nahe, indem er das Schicksal von 120.000 ermordeten holländischen Juden in der detaillierten Dar- stellung einer einzigen Familie in einer Ausnahmesituation zeigt. Max Peere- booms Kamera filmt Bilder seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seiner Tochter, nichts weiter. Die Grenze dieser Bilder liegt in der erschütternden Unkenntnis um die kommenden Ereignisse. Aber Forgacs ermöglicht den metonymischen Schritt zur weltgeschichtlichen Dimension, wenn er im Laufe des Films die his- torische Leinwand verbreitert, indem er dem Material Peerebooms Aufnahmen von der Hochzeit Kronprinzessin Julianas sowie Amateuraufnahmen eines na- tionalsozialistischen Hitlerjugend-Lagers und eines holländischen Nazi-Aus- bildungslagers in Terborg gegenüberstellt. Gegen Ende arbeitet Forgacs immer längere Home Movie-Aufnahmen einer zweiten Familie ein, nämlich der Arthur Seyß-Inquarts, eines österreichischen nationalsozialistischen Ministers, der zum Reichskommissar der besetzten holländischen Gebiete ernannt worden war. Gegen Ende der dreißiger Jahre ist Seyß-Inquart wie Jozeph Peereboom – der pater familias und Herausgeber der holländischen jüdischen Zeitung Nie- uw Israelietisch Weekblad – ein erfolgreicher Mann, ein stolzer Vater und ein 36 Michael Renov montage/av liebevoller Großvater. Wir sehen Aufnahmen von ihnen, wie sie mit ihren je- weiligen Familien spielen. Die Versatzstücke der Home Movies – das Winken, Lächeln, das Hüpfen auf die Kamera zu, das Vorzeigen des Nachwuchses – sind fast identisch. Aber diese Parallelkonstruktion ist auch ein Kollisions- kurs. In schneller Folge schränken Seyß-Inquarts Verordnungen die Teilnah- me der Juden am öffentlichen Leben ein, verweigern ihnen den Zugang zu öf- fentlichen Plätzen und Institutionen, enteignen ihren Besitz, terrorisieren und verhaften Menschen in nächtlichen Razzien, evakuieren jüdische Familien aus ganz Holland, siedeln sie im Amsterdamer Ghetto an und deportieren sie am Ende in die Todeslager quer durch Europa. (Die Schicksale des älteren Seyß-Inquart und Peereboom trennen sich dramatisch, bevor sie im frühzeiti- gen Tod der beiden wieder zusammen kommen: Seyß-Inquart wird in den Nürnberger Prozessen hingerichtet.) An einer Stelle wird uns sogar ein flott gekleideter Seyß-Inquart beim Tennisspielen mit Heinrich Himmler gezeigt, dem Meister aller Henker, dem Mann, der sich mit dem Versprechen brüstete, die Auslöschung der Juden zu einem „ungeschriebenen Blatt der Geschichte“ zu machen (Himmler 1976, 133). So gelingt es Forgacs, die Peerebooms als Schnittstelle zwischen dem Allge- meinen und dem Partikularen sowie als Akteure in einem schicksalshaften histo- rischen Drama zu zeigen, wie Lukács dies in seinem einflussreichen Essay „Er- zählen und Beschreiben“ gefordert hat. Lukács stellt hier die Darstellungsfor- men naturalistischer Romanschriftsteller wie Flaubert und Zola, die in detailge- nauen Beschreibungen glänzen, dem epischen Bogen meisterhafter Erzähler wie Scott, Balzac und Tolstoi gegenüber. In den großen Romanen der Letzteren „er- fahren wir von Ereignissen, die als solche bedeutsam sind durch das Schicksal der an ihnen beteiligten Personen, durch das, was die Personen in der reichen Entfaltung ihres menschlichen Lebens für das Leben der Gesellschaft bedeuten. Wir sind das Publikum von Ereignissen, an denen die Personen der Romane handelnd beteiligt sind. Wir erleben diese Ereignisse“ (Lucács 1977b, 119). Wir sind keine passiven Zuschauer der Vernichtung, sondern werden in Forgacs’ Film ins Zentrum des Mahlstroms geführt. Wir bekommen einen Eindruck vom Leben derer, die darin eingeschlossen waren, und wir dürfen stellvertretend für die Tausenden, die in den Tod geschickt wurden, die letzten Augenblicke einer holländischen jüdischen Familie miterleben. Ich halte Forgacs’ Werk für eine radikale Intervention im Genre des Holo- caust-Films und eine Herausforderung an die kanonische Historiographie. Hayden White vertritt die Meinung, dass die rationalistische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft als Disziplin und Institution ihren Repräsentanten den Preis abverlangt, den konzeptuellen Apparat ihrer Diskurse und die poetischen 11/1/2002 Historische Diskurse des Unvorstellbaren 37 Aspekte ihres Schreibens zu unterdrücken (siehe White 1996). Ich würde dassel- be für den Dokumentarfilm der vergangenen vierzig Jahre behaupten. Was ich an anderer Stelle die analytische und expressive Funktion des Dokumentarfilms genannt habe, ist weder im Direct Cinema noch im Geschichtsfilm auf der Basis von Interviews – Filme, denen ein beobachtendes und interaktives Verfahren zugrunde liegt – zur Entfaltung gekommen (vgl. Renov 1993, 12–36). Forgacs’ Film fesselt aufgrund seiner formalen Innovation und analytischen Schärfe und ist damit einer Tendenz verpflichtet, die Peter Wollen vor langer Zeit als We- senszug der europäischen (im Gegensatz zum nordamerikanischen) Avantgarde charakterisiert hat. Der Film entspricht so dem, was Wollen in seinem einfluss- reichen Artikel „Die zwei Avantgarden“ folgendermaßen beschrieben hat: In gewissem Sinn geht Godard in seiner Arbeit zurück an die eigentliche Bruchstelle, an der die moderne Avantgarde begann – er ist weder Realist noch Expressionist oder Abstraktionist. Und auch Picasso’s Gemälde „Demoiselles D’Avignon“ ist weder realistisch noch expressionistisch oder abstraktionistisch. Es trennt Signifikant von Signifikat und bestätigt – wie es eine solche Trennung tun muß – die Vorrangstellung des ersten, ohne in irgendeiner Weise das zweite aufzulösen (Wollen 2001, 172). The Maelstrom nähert sich einer verhängnisvollen Phase der europäischen Vergangenheit, ohne den Versuch zu machen, sie festzuschreiben. Seine Evoka- tion einer unwiderruflichen Geschichte – der Untergang einer Familie – bietet keine Erklärung und kein Entrinnen. Und doch sammeln sich historische Bedeutungen an. Signifikation wird verlagert, aber nicht aufgelöst. In dieser Praxis schlägt sich Forgacs’ Auseinandersetzung mit dem, was White den konzeptuellen Apparat genannt hat, nieder, d. h. Forgacs arbeitet wie ein selbstreflexiver Historiograph, der sich seiner Methoden zutiefst bewusst ist. Angesichts der zentralen Rolle, die der Komponist Tibor Szemzo spielt, muss man zudem von einer gemeinsamen poetischen Praxis sprechen. Obwohl hierü- ber noch viel mehr zu sagen wäre, möchte ich mit dem Verweis auf Forgacs’ doppelte Loyalität schließen – die Loyalität hinsichtlich der historischen Ge- nauigkeit (seine Funktion als Zeuge/Schreiber) und hinsichtlich des Poetischen. Sein Werk lässt sich am ehesten im Kontext verwandter, zeitbasierter Kunst- praktiken wie beispielsweise Avantgarde-Theater und Performance Kunst, mi- nimalistische Musik und Experimentalfilm verorten, die seit den 1970er Jahren in Europa entstanden sind. In The Maelstrom hat Forgacs die Metapher einer überwältigenden Naturkatastrophe, in der die Protagonisten des Films ver- strickt sind, konkretisiert. Der Film ist aber daraufhin angelegt zu zeigen, dass diese katastrophalen Ereignisse nicht von der Natur, sondern von Menschen 38 Michael Renov montage/av produziert wurden. Der Film beginnt mit körnigen Aufnahmen von massiven Wellen, die über Wellenbrechern zusammenschlagen. Eine gutgelaunte Men- schenmenge läuft – von der Gewalt der Brandung gleichzeitig angezogen und abgestoßen – immer wieder auf die Gefahr zu, weicht dann wieder vor ihr zu- rück und misst sich so mit dem Meer. Der oft zitierte „Wirbelsturm der Ge- schichte“, in dessen Fänge das holländische Judentum bald darauf geraten sollte, wird so auf das Element des Wassers übertragen. Es ist aber vor allem Forgacs’ innovativer Umgang mit der Zeitstruktur des Films, der seinen Versuch, die Mahlstrom-Metapher zu materialisieren und zu konkretisieren, in ganz beson- derem Maße auszeichnet. Durch konzeptuelle Strenge und den Zusammen- schnitt zahlreicher vielschichtiger visueller und akustischer Elemente schafft Forgacs eine Form, die er „Zeitspirale“ genannt hat.6 Die fiktiven Peerebooms sind in einem Strudel zeitlicher Überlappungen, Schleifen und Gegenüberstel- lungen verfangen – ebenso wie die Geschichte die Peerebooms aus Fleisch und Blut in ihren Krallen gefangenhielt. Auch im neuen Jahrtausend bleibt der Holocaust eine scheinbar unerschöpfli- che Quelle traumatischen Erinnerns, psychischer Investition, Projektion, histo- rischer Re-Interpretation und erregter Debatten. Yosef Hayim Yerushalmi hat in seinem imposanten Buch Zakhor: Jewish History and Jewish Memory gezeigt, wie das jüdische Volk seit der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Chr. bis ins 19. Jahrhundert immer dem Mythos den Vorzug vor der Geschichte gab. Dies ist immer doppelschneidig gewesen: die Mythen waren während der jahrhun- dertelangen Zerstreuung in der Diaspora lebensnotwendig, nach Yerushalmi ha- ben sie aber in anderen Zeiten wie am Vorabend der Shoah das Überleben auf tragische Weise verhindert. Heutzutage, so Yerushalmi, „the burden of building a bridge to his people remains with the historian“ (Yerushalmi 1982, 100). Das Werk Peter Forgacs stellt eine solche Brücke dar. The Maelstrom stellt sowohl einen selbstkritischen Akt historischer Interpretation als auch ein formal inno- vatives Kunstwerk dar, dessen emotionale Wirkkraft sowohl Verständnis als auch Empathie bewirkt. Dabei tritt der Zeugenbericht an die Stelle von Arche- typen, Metaphern werden aktualisiert und das Unvorstellbare wird Teil der Ge- schichte. Aus dem Amerikanischen von Eva Warth 6 Persönliche Mitteilung des Autors, 11. Juli 2000. 11/1/2002 Historische Diskurse des Unvorstellbaren 39 Literatur Barthes, Roland (1970) Historical Discourse. [frz. 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Ann Kaplan, Maureen Turim, Janet Walker und der Organisatorin Susannah Radstone in Form von kurzen Beiträgen geführt wurde.1 Diese Debatte kann als ein Indiz dafür gelten, dass seit einigen Jahren ein Paradigmenwechsel im film- und fernsehwissenschaftlichen Umgang mit Geschichte und Gedächtnis stattfindet. Die Auseinandersetzung mit den Gren- zen der menschlichen Erinnerung und mit der ästhetischen Verhandlung dieser Unzulänglichkeiten in den Medien deutet auf eine Abkehr von der Frage nach der historisch bzw. ethisch angemessenen Vermittlung von Geschehenem in medialer Form hin. Vielmehr besteht eine wachsende Neigung, den Affekten bzw. Spuren der individuellen und kollektiven Verhandlung von Traumata nachzugehen. In seinem in Screen erschienenen Beitrag „Postmodernism as mourning work“ verweist Thomas Elsaesser auf die Möglichkeit, Traumata durch die mediale Auseinandersetzung mit Bilderverboten bzw. unhintergehba- ren Ereignissen produktiv zu machen: What emerges is that trauma’s non-representability is both subjective (trauma makes failure of memory significant) and objective (trauma makes of representation a significant failure), confirming that traumatic events for contemporary culture turn around the question of how to represent the unrepresentable, or how – in Samuel Beckett’s words – to name the unnameable. [...] But here, trauma theory might be seen to break the traditional deadlock around „the limits of representation“, opening up a new space of theoretical displacement. (Elsaesser 2001, 195f) 1 Ein weiteres Produkt dieser Tagung ist das von Susannah Radstone herausgegebene Buch Memory and Methodology, siehe Radstone 2001. 44 Robin Curtis montage/av Diese Überlegungen, mit denen sich die Wissenschaft im Zuge des (ausgerufe- nen) Paradigmenwechsels beschäftigt, sind in der Filmpraxis schon lange vor- handen. Bereits seit den späten 80er Jahren entstehen zahlreiche Filme und Videos, die sich auf vielfältige Weisen den Lücken des traumatisierten Gedächt- nisses widmen. Zu diesen Filmen und Videos zählen etliche Beiträge aus dem angelsächsischen Raum, wie z. B. John Akomfrahs Who Needs a Heart (GB 1991), Atom Egoyans Calendar (Kanada 1993), Janice Tanakas Memories from the Department of Amnesia (USA 1992) und Who’s Gonna Pay for These Donuts Anyway? (USA 1992), Trinh T. Minh-has Surname Viet, Given Name Nam (USA 1989) und Gariné Torossians Girl From Moush (Kanada 1993), aber auch einige Filme und Videos, die sich mit der Spezifik die- ser Auseinandersetzung in der BRD befassen wie z. B. Hatice Aytens Gülüzar (BRD 1994) und Angela Melitopoulos’ Passing DRAMA (BRD 1999). Diese Filme und Videos fordern vor allem die wissenschaftliche Auseinandersetzung heraus, denn die historische Authentizität ihrer Erzählungen ist hier nicht mehr primär; sie befassen sich stattdessen mit den somatischen Spuren bei den Opfern und den Nachfolgegenerationen. In ihrer spezifischen ästhetischen Auseinan- dersetzung mit Geschichte und Gedächtnis haben diese medialen Texte ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum ‚ursprünglichen Ereignis’, als bisher im medienwissenschaftlichen Umgang mit Gedächtnis angenommen wurde. Im Fall von Trauma (bzw. Trauma Theory) wird dieses Ereignis laut Elsaesser weniger als nachprüfbare Handlung verstanden, die in ihren Einzelheiten ver- standen zu werden verlangt, sondern als wiederhallende Struktur, die sich immer wieder (psychisch) spürbar macht: […] the traumatic event [would thus be given] the status of a (suspended) origin in the production of a representation, a discourse or a text, bracke- ted or suspended because marked by the absence of traces. The conse- quence of such a theory of trauma is that it is not the event itself nor its distortion but its structure that is of chief interest. (Elsaesser 2001, 199f) In der nachfolgenden Untersuchung wird eine solche Struktur anhand des Videos History and Memory. For Akiko and Tageshige (USA 1990, Rea Tajiri) nachgezeichnet, das im Zusammenhang mit der medialen Verhandlung der Konflikte zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis eine geradezu paradigmatische Bedeutung erlangt hat. Das Video verhandelt das Trauma der Internierung japanischstämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs, das für amerikanische Familien japanischer Herkunft in den Nach- kriegsjahren absolut prägend war. Dass diese Geschichte bis in die 70er Jahre hinein von offizieller Seite (nahezu) verschwiegen wurde und weitgehend in der 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 45 Öffentlichkeit unbekannt war, hatte dramatische Konsequenzen für die ‚Teil- nahme’ japanischstämmiger amerikanischer Bürger an der offiziellen Geschichts- schreibung. In diesem Fall hatte es zunächst keine subkulturelle Geschichts- schreibung gegeben: die Erfahrung der Internierung wurde in der Regel sowohl im öffentlichen wie im privaten Rahmen kollektiv verschwiegen, was unweiger- lich psychische Konsequenzen mit sich gebracht hat. History and Memory kontrastiert die Unsichtbarkeit der Internierung in der öffentlichen Erinnerung des Landes mit den schwer fassbaren affektiven Spuren, mit denen alle betroffe- nen Familien gezeichnet sind und die sowohl durch die Erfahrung der Internie- rung selbst als auch durch das Schweigen in der Geschichtsschreibung hervorge- rufen werden. Visuell bietet Tajiri eine Mischung aus kargen Bildern aus dem Gegenwart (z. B. von Reisen zu den verschiedenen Standorten der ehemaligen Internierungslager, wo kaum noch etwas zu sehen ist) und einer vielfältigen Auswahl an Found Footage-Bildern (von Propaganda- und Hollywoodfilmen bis zu Super-8- Filmen, die heimlich und illegal in den Lagern gedreht wurden), die die Ereignisse der Vergangenheit – aber genauso sehr das Verschweigen die- ser Ereignisse in der amerikanischen Öffentlichkeit – zu belegen vermögen. Zudem tragen Rolltexte und voice over-Interviewfragmente zu einem so dichten Informationsfluss in diesem Video bei, dass es dem Zuschauer zunehmend schwerfällt, eine Geschichtsversion des Videos entdecken zu können. Ziel der vorliegenden Analyse ist eine Betrachtung von History and Memory einerseits vor dem Hintergrund der Gedächtnisdebatte, die besonders in deut- scher Sprache seit Anfang der 80er Jahre geführt wird, sowie andererseits vor dem Hintergrund der postkolonialen Theorie, die sich im selben Zeitraum aber vor allem in englischer Sprache entwickelt hat. Der Analyse vorangestellt ist ein Überblick über diese Debatten. Mein Ausgangspunkt ist das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfene Modell von Maurice Halbwachs, das die Möglichkeit bietet, das kollektive Gedächtnis als strukturelles, anstatt als inhaltsbezogenes Phänomen zu denken. Gedächtnis (Erinnern und Vergessen) Die Besonderheit des Modells des französischen Soziologen Maurice Halb- wachs besteht darin, dass er ein biologisches, vererbtes kollektives Gedächtnis ablehnt und im Gegensatz dazu die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses her- vorhebt. Die Arbeiten des Schülers von Bergson und des Studenten von Durk- heim tragen die Züge beider Vorbilder. Halbwachs schließt sich Durkheim gegen die Anwendung psychologischer Prinzipien im Bezug auf soziologische 46 Robin Curtis montage/av Tatbestände an und übernimmt dessen Begriff des kollektiven Bewusstseins; diesen wendet er in seiner Erforschung des kollektiven Gedächtnisses gegen den Bergsonschen Subjektivismus. Halbwachs’ These lautet: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb der- jenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden“ (Halbwachs 1985, 121). Damit ist nicht gesagt, dass eine Gruppe ein gemeinsames Gedächt- nis hat, sondern dass die Gruppe den Inhalt des Gedächtnisses seiner Mitglieder bestimmt. Ein einzelner Mensch gehört mehreren Gruppen an; die Mitglied- schaft in jeder Gruppe ist aber variabel. Je enger der einzelne sich an eine Gruppe gebunden fühlt, desto mehr ist er fähig, anhand des Bezugsrahmens der Gruppe in die Vergangenheit zu tauchen. Diese Rahmen sind die Organisationsprinzi- pien der Erinnerungen der Gruppe, die allen Mitgliedern gemeinsam sind. Sie setzen Erinnerungen, die verschiedenen Zeiten entstammen, in einen Bedeu- tungszusammenhang, der alleine durch die Gruppe definiert wird. Daher kommt es oft vor, dass „wir beim Suchen der Stelle einer Erinnerung in der Ver- gangenheit auf gewisse andere, ihr benachbarte Erinnerungen stoßen, die sie ein- rahmen und uns ihre Lokalisierung erlauben“ (Halbwachs 1985, 195). Die Emp- findungen eines Individuums allerdings bleiben individuell. Empfindungen sind nach Halbwachs immer körperbezogen, während Erinnerungen als Denkpro- zesse bezeichnet werden können, die der Gruppe gemeinsam sind. Ob Empfin- dungen in der Form einer Erinnerung gespeichert werden, wird nur im Kontext einer Gruppe entschieden, d. h. nur durch Kommunikation und Interaktion, was aber nicht bedeutet, dass diese Einzelheiten der Gruppe bekannt sein müs- sen. Dazu Halbwachs: So schließen die Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses unsere per- sönlichsten Erinnerungen ein und verbinden sie miteinander. Es ist nicht notwendig, dass die Gruppe sie kenne. Es genügt, dass wir sie nicht anders als von außen ins Auge fassen können, d.h. indem wir uns an die Stelle der anderen versetzen, und dass wir, um sie wiederzufinden, den gleichen Weg nehmen müssen, den sie an unserer Stelle verfolgt hätten. (Halb- wachs 1985, 201) Kommunikation ist also für die Übertragung solcher Empfindungen in Erinne- rungen wesentlich. Fehlt sie, oder bricht sie ab, wird die Basis der Bezugsrahmen zerstört: Vergessen ist die Folge. Gerade dieser Zustand des Verlustes, der Moment, in dem Empfindung in et- was Beständigeres übersetzt werden müsste, was aber durch einen solchen Bruch der Kommunikation nicht mehr vollständig geschehen kann, wird in 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 47 History and Memory anschaulich gemacht. Während das Video das Fortbe- stehen solcher Bezugsrahmen in der Behauptung einer ethnischen Zugehörig- keit, die doch noch empfunden wird, bestätigt, ist das Vergessen gleichzeitig schon längst vollzogen. Von Interesse an History and Memory ist, wie das Vi- deo den Ablauf der kollektiven Prozesse konkret darstellt, und welche These bezüglich der kollektiven Erinnerung es damit implizit vertritt. Die Koinzidenz der Erscheinung des Filmmediums und der von Freud und Bergson betriebenen, wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gedächtnis zur Jahrhundertwende (vgl. Klippel 1995) suggeriert, dass die Möglichkeit des künstlichen Speicherns nicht nur von Augenblicken (wie es die Photographie schon ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts anbot) sondern auch von Be- wegung und daher auch von Material, das direkt an Erfahrung erinnerte, ein Hinterfragen der menschlichen Fähigkeit herausforderte. Die heutige Parallele zwischen der Verbreitung des Computers im Alltag und der Neuaufnahme der Gedächtnisdebatte ist wohl ebenfalls kein Zufall. Dieses Zusammentreffen hat aber zur Folge, dass die momentane Debatte im Kontext der Medien sich haupt- sächlich zur Frage der Konservierung hinwendet, seine Vorbilder in der Mne- motechnik der Antike sucht und die theoretischen Überlegungen des letzten Jahrhunderts und (jedenfalls in expliziter Form) die Bedeutung des Kinos dabei überspringt. Die Rückkehr zur Gedächtniskunst der Antike bedeutet meist eine Einschränkung der Fragestellung auf die individuelle Mnemotechnik. Ein Sprung von individueller zu kollektiver Mnemotechnik muss erst vollzogen werden, um eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen des kollektiven Er- innerns im Kontext der Gedächtnisdebatten zu ermöglichen. Schon 1966 veröffentlicht, hat das heute für einen Basistext gehaltene Buch The Art of Memory von Frances Yates in den achtziger Jahren plötzlich Resonanz ge- funden. Yates geht der Erfindung und dem abendländischen Einfluss der Ge- dächtniskunst nach, die in der Antike als Teil der rhetorischen Künste galt und im Dienst eines verbesserten Erinnerungsvermögens des Individuums stand. Die Mnemotechnik ist unzertrennlich mit der Erfahrung eines Traumas verbunden, denn das oft beschriebene Grundbild der individuellen Mnemotechnik stellt sich wie folgt dar: Simonides, der der Erfinder der Mnemotechnik genannt wird, hat durch einen glücklichen Umstand als einziger den Einsturz einer Banketthalle überlebt; die Leichen waren so verstümmelt, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu identifizieren, hätte Simonides sich nicht genau merken können, an welcher Stelle jeder gesessen hatte. Diese so genannte Verräumlichung der Erinnerung ist die wesentliche Erinnerungsmethode der Mnemotechnik. Alle Daten, die aufge- hoben werden sollen, werden in einem räumlichen Gerüst geordnet und nach Be- lieben wieder aufgerufen; man braucht einfach diese ‚Räumlichkeiten‘ gedanklich 48 Robin Curtis montage/av Abb. 2 Plan vom Internierungslager in Abb. 3 Umgebung des Internierungsla- Poston. gers in Poston. zu durchqueren, um die Erinnerung z. B. an die Punkte eines rhetorischen Argu- ments zu wecken. Notwendig ist eine solche Kunst in einer schriftlosen Kultur oder einer Kultur mit erschwertem Zugang zu Schriften. Die kollektive Mnemotechnik dagegen wird zur Bewahrung notwendiger kultureller Information eingesetzt, egal ob die jeweilige Kultur über Schrift ver- fügt oder nicht. Doch wenn die Gedächtniskunst dem Einzelnen die Möglich- keit bietet, seine eigenen mnemonischen Fähigkeiten auszubilden, fungiert die kollektive Version dieser Technik als Verpflichtung, die sich in Form der Frage „Was dürfen wir nicht vergessen?“ verdeutlicht. Sie trägt daher dazu bei, die Identität einer Minderheit lebendig zu halten, wobei es sich häufig um eine op- positionelle Beziehung zur dominanten Kultur handelt, ob schriftlich oder nicht. Als ‚Urszene‘ hierfür führt Jan Assman das Deuteronomium an, das ange- sichts einer zweitausend Jahre währenden weltweiten Zerstreuung des jüdischen Volks als ein technisches Mittel zu einem Zusammenhalt der Juden beigetragen hat. Interessant an dieser Geschichte ist die Verschränkung der Aspekte der traumatischen Erfahrung einer Gruppe und das Mahnen zur Erinnerung, die ge- rade in dieser Kombination einen identitätsstiftenden Charakter haben soll. Dass die Geschichte des Deuteronomium im Augenblick des Überschreitens ei- ner Grenze zwischen der Wüste und dem Land der Fülle entstehen musste, ist kein Zufall, denn damit werden auch die Rahmenbedingungen des kollektiven Vergessens deutlich. Nach Assmann ist dieser Umstand durch die Reise in die Fremde zu erklären: „Vergessen wird bedingt durch Rahmenwechsel, durch die völlige Veränderung der Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse“ (Ass- mann 1991, 345). Das Vergessen lässt sich genau so gut wie das Erinnern anhand der Thesen Halbwachs’ als sozial bedingt erklären. Wenn nach Halbwachs das Gedächtnis 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 49 von gesellschaftlich festgelegten Bezugsrahmen abhängig ist, die Erinnerungen aussortieren, organisieren und wieder zugänglich machen, was passiert dann, wenn diese Bezugsrahmen durch die Grenzüberschreitung unkenntlich oder unbrauchbar geworden sind? Laut Assmann: Das soziale Gedächtnis verfährt rekonstruktiv: von der Vergangenheit wird nur bewahrt, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren jeweili- gen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“ [Halbwachs 1985, 390]. Erinne- rungen werden also bewahrt, indem sie in einen Sinn-Rahmen eingehängt werden. Dieser Rahmen hat den Status einer Fiktion. Erinnern bedeutet Sinnstiftung für Erfahrungen in einem Rahmen; Vergessen bedeutet Änderung des Rahmens, wobei bestimmte Erinnerungen beziehungslos und also vergessen werden, während andere in neue Beziehungsmuster einrücken und also erinnert werden. (Assmann 1991, 347) Wenn in der Gegenwart die sinnstiftende ‚Fiktion‘ der Bezugsrahmen nicht mehr ausreicht, um einen Teil der Vergangenheit zu rekonstruieren, wird diese vergessen. Aber: was heißt vergessen? Was passiert, wenn das Vergessen der Verdrängung nahe kommt? Wenn man sich daran erinnert, dass es etwas Ver- gessenes gibt? Wenn diese Erinnerungen nicht beziehungslos werden, aber trotzdem so sehr verschwiegen werden, dass Lakunae entstehen? Um solche Lücken, die als Hinweis auf das Abwesende fungieren, erklären zu können, bedarf es der Einführung eines anderen Ansatzes aus der gegenwärtigen Gedächtnisdebatte. In seinem viel zitierten Aufsatz „An Ars Oblivionalis? For- get It!“ weist Umberto Eco darauf hin, dass, wenn die Gedächtniskunst eine Se- miotik ist, es nicht möglich ist, diese umzudrehen, um die Kunst des Vergessens zu postulieren (vgl. Eco 1988, 103). Renate Lachmann präzisiert diese These: Worauf Eco hinauswill, ist, dass jeder durch eine semiotische Zeichen- funktion determinierte Ausdruck eine mentale Antwort in Gang setzt, sobald er hervorgebracht worden ist. Und dies macht es unmöglich, einen Ausdruck zu gebrauchen, um dessen Inhalt verschwinden zu lassen, d.h. wenn ein Ausdruck gebraucht wird, selbst dann, wenn er sich auf einen nicht existierenden Inhalt bezieht, entsteht auch dieser Inhalt, und sei es mental. (Lachmann 1991, 111) Eine solche Umkehrung des mnemotechnischen Modells hätte die Folge, dass eine ars oblivionalis gleichsam eine Semiotik sein müsste; doch weil die Semiotik (eine kulturelle Praxis) die Funktion hat, das Vergessen (ein natürlicher Prozess) zu verhindern, könnte es kein natürliches Vergessen in der Kultur geben. Das Vergessen lässt sich innerhalb des kulturellen Systems nicht als Dysfunktion 50 Robin Curtis montage/av konzipieren. Demnach bedeutet das Vergessen nicht das Fehlen von Informa- tion, sondern einen Überfluss, nicht eine Streichung, sondern eine Überlage- rung. In ihrer Abhandlung dieser Frage behauptet Lachmann, dass, während es vielleicht kein Vergessen in der Kultur gibt, es gleichwohl „Strategien der Kana- lisierung des semiotischen Exzesses und der Zeichentilgung [gibt], die kulturel- les Vergessen bewirken sollen“ (Lachmann 1991, 112). Eine der von ihr genannten Strategien ist die des Freudschen Verdrängungs- konzepts, das sie makrokulturell anwendet. Dieses Konzept kann dabei helfen, die Auswirkungen, die ein Phänomen wie z. B. die Zensur auf das Erinnern und Vergessen einer Kultur hat, zu erklären. Durch einen solchen Prozess werden inakzeptable Zeichen in akzeptable umgesetzt, die eine Darstellung zulassen, aber eigene Folgen mit sich bringen: Die sekundäre Repräsentation bedient sich dabei bestimmter Bilder, unter denen die Primärzeichen (Erinnerung) sowohl verborgen sind als auch virulent bleiben. Um die psychische Störung, die dieses Verbergen, aber letztlich Nicht-löschen-Können, hervorruft, aufzuheben, werden die ursprünglichen Zeichen durch einen komplexen Interpretationsvorgang (Rückübersetzung) restituiert. Beide Vorgänge, Bildfindung und Deko- dierung, haben Parallelen in den Strategien der Mnemotechnik. (Lach- mann 1991, 115) Die Ziele dieses Interpretationsvorgangs sind problematisch, weil der Zugang zu den primären Zeichen unter solchen Umständen per definitionem verschlos- sen bleibt. Doch diese Verschlossenheit an sich ist das Zeichen. Jean-François Lyotards Verknüpfung der Psychoanalyse mit den Problemen der Geschichts- schreibung bietet eine produktive Aufarbeitung dieses Paradoxons, das Lach- mann folgendermaßen beschreibt: Wie in der Psychoanalyse, so gibt es in der Historiographie etwas, das sich der Darstellbarkeit entzieht, nicht in ihr aufgehoben werden kann. Die Darstellung muss das Undarstellbare als ihr Anderes umfassen; und es ist das Undarstellbare, das das „unvergesslich Vergessene“ umschließt. Das unvergesslich Vergessene aber ist das Unerinnerbare, das durch keine Repräsentation eingeholt werden kann. (Lachmann 1991, 115f) Das jüdische ‚Bilderverbot‘ fungiert zum Beispiel demnach als Erinnerung daran, dass es Vergessen gibt; hier ist „die Nichtrepräsentation die Garantie für das Erinnern des Vergessens“ (Lachmann 1991, 116). Allerdings lässt sich dieses Modell nicht mehr innerhalb der Semiotik situieren, sondern verweist auf etwas jenseits der Interpretation, etwas, was sich nicht lesen lässt. 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 51 Geschichte Die Annäherung an dieses ‚Jenseits‘ ist eine der Aufgaben, die sich einige Theo- retiker der Postmoderne gestellt haben: Julia Kristeva hat es z. B. als ein „Schrei- ben als Grenzerfahrung“ (Kristeva 1980, 138) definiert, in dem der Text (und daher natürlich die Sprache an sich) die Funktion hat, die Grenzen des Signifi- zierbaren auszudehnen und damit auch die Grenzen der menschlichen Erfah- rung. Ebenso beantwortet Jean-François Lyotard die Frage „Was ist postmo- dern?“ mit folgender Feststellung: Das Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuss zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, dass es ein Undarstellbares gibt. (Lyotard 1988, 202) In seiner Auffassung des „negativen Erhabenen“ entsteht die Vereinigung von Lust und Schmerz immer noch durch das Sichtbarmachen, „dass es etwas gibt, das man denken, nicht aber sehen oder sichtbar machen kann“ (Lyotard 1988, 200). Die Darstellung des Undarstellbaren auf der Ebene der Form (und nicht des Inhalts) ist ein Kennzeichen der Kunst in der Postmoderne. Diese steht im Gegensatz zum traditionellen Kunstverständnis, dessen Nostalgie darin besteht, dass der Inhalt des Werks als Hinweis auf das Undarstellbare fungiert, dessen ‚gute‘ Form jedoch eine gemeinsame und daher beruhigende Ebene anbietet. History and Memory benennt das Problem der Inkommensurabilität einer medialen Darstellung mit der Erfahrung der Vergangenheit explizit. Während das Gedächtnis hier als Basis der Identitätsstiftung identifiziert wird, wird der Zugang zu den Ereignissen, Orten und Erlebnissen der Vergangenheit gleichzei- tig verweigert. Dieses Verfahren entspricht den Überlegungen von Halbwachs, indem sowohl Bezugsrahmen sichtbar wie auch Brüche in der Kommunikation angedeutet werden, die eine Übertragung bestimmter Informationen unmöglich machen. Die von Jan Assmann genannte Überschreitung einer Grenze, die eine Veränderung der Rahmenbedingungen (und eine Zerstörung von Sinn-Rah- men) bewirkt, kann hier als Ursache dieses Bruchs bezeichnet werden. History and Memory ergründet die Geschichte der Internierung von Amerikanern ja- panischer Herkunft im Zweiten Weltkrieg, um die Potenz dieses Traumas für die nachfolgenden Generationen freizulegen. Wie bei den Kindern von Überle- benden des Holocaust hat die historische Erfahrung der Familie solche unaus- 52 Robin Curtis montage/av löschlichen Spuren hinterlassen, dass sie ohne Zweifel selbst für die nachfolgen- den Generationen identitätsfundierend sind. Doch für diese ‚Kinder‘ ist der Zugang zu den Ereignissen, zu dem Signifikat, zu der Quelle der hinterlassenen Spuren für immer verschlossen. Es bleiben nur noch unendlich viele verschiede- ne, miteinander konkurrierende Versionen dieser Geschichte, die die Diskurse der Macht unterschiedlich vertreten, plus im Fall von History and Memory ein einziges enigmatisches Bild, das mehr als alle anderen Diskurse verspricht. Das, was in diesem Fall gedacht werden kann, aber sich der Darstellung ent- zieht, wird von Bill Nichols „excess“ des Dokumentarfilms genannt. Während Exzess im narrativen Film das ist, was außerhalb des Narrativen steht und des- halb innerhalb des sinnstiftenden Systems des Narrativfilms nicht erfassbar ist (z. B. „performance“ , „spectacle“ , „style“ ), ist „excess“ im Dokumentarfilm „his - tory“ selbst. Excess is that which escapes the grasp of narrative and exposition. It stands outside the web of significance spun to capture it. [...] Always referred to but never captured, history, as excess, rebukes those laws set to contain it; it contests, qualifies, resists, and refuses them. (Nichols 1991, 142) Der filmische Ausdruck des negativen Erhabenen deutet die nicht darstellbare „Geschichte“ im Rückverweis auf sich selbst an. Häufig wurde dies in den „Gedächtnisfilmen“ der 90er Jahre in Form einer Verweigerung des Bildes um- gesetzt, was entweder durch den Einsatz von Schwarzbild wie z. B. in History and Memory oder durch die Störung des indexikalischen Status der Bilder geschah. Diese Filme sind auf Grund ihrer Umsetzung von Erinnerungsstruktu- ren in Filmstrukturen durch eine postmoderne Fassung der Geschichte den Tex- ten der „Historiographic Metafiction“ ähnlich. Fredric Jameson beschreibt diese Geschichtskonzeption folgendermaßen: Wir schlagen daher folgende revidierte Formulierung vor: Geschichte ist kein Text, keine Narration, weder als Schlüsselerzählung noch sonstwie, sondern sie ist uns als abwesende Ursache unzugänglich, es sei denn in textueller Form; somit erfolgt unser Zugang zu Geschichte und zum Rea- len selbst notwendigerweise mittels ihrer vorherigen Textualisierung, d. h. ihrer Narrativisierung im politischen Unbewussten (Jameson 1988, 29f). Das, was Linda Hutcheon „Historiographic Metafiction“ genannt hat (Hut- cheon 1988), greift mittels dieser Konzeption den traditionellen historischen Roman und die Geschichtsschreibung gleichermaßen an. Die signifizierenden Pro- zesse, die beiden zu Grunde liegen, werden bloßgelegt, und die traditionelle Tren- nung der Historie von der Literatur wird hinterfragt. Dies geschieht in Form 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 53 einer kritischen, oft parodistischen Version bekannter Geschichten und ihrer Figuren. Das Zusammenstellen unterschiedlicher Quellen hebt die Existenz unzähliger Versionen derselben Geschichte hervor: Bekannte historische Berichte werden mit der Perspektive historischer (oft unbekannter, peripherer, ge- schichtlich marginalisierter) Nebenfiguren kontrastiert. Das gleichberechtigte Wirken von allerlei ‚Dokumenten‘, von Alltagsgegenständen bis zu Narben, deutet auf einen Prozess der Selektion, die in der Geschichtsschreibung stattfin- det und normalerweise derartige sprachlich oft nicht fassbare ‚Dokumente‘ aus- schließt. Doch diese ‚Artefakte‘ fungieren als eine Ahnung des unvermittelten Vergangenen. Ziel dieser Ansammlung ist die Betonung der Konstituiertheit und der Grenzen beider diskursiver Praktiken. Dass Diskurse immer gleichzei- tig Information verbreiten und Macht ausüben, ist nicht neu. Die Werke der „Historiographic Metafiction“ wie auch die zur Debatte stehenden Filme legen die Prozesse und Strategien solcher Diskurse frei, ohne eine Alternative aufzu- stellen und ohne die gesammelten Dokumente in eine teleologische Einheit zu überführen. Die Ansammlung solcher unorthodoxer Artefakte weckt jedoch unweigerlich eine Ahnung davon, dass es eine andersartige Überlieferung gibt, die jenseits der Diskurse der Historie, der Literatur und des Films liegt. Alterität und Identität Die Problematisierung des Begriffs „Identität“ gehört zu den wesentlichen theoretischen Grundlagen der Postmoderne. Thomas Docherty beschrieb die- sen Impetus als einen „Angriff auf die Philosophie der Identität (‚Erkenne dich selbst‘) und ihren Ersatz durch eine Philosophie der Alterität (‚Erkenne die Unerkennbarkeit des Anderen‘)“ (Docherty 1993, 17). Doch wenn das „Andere“ unkennbar sein sollte, wie konzipiert derjenige die eigene Identität, der von der hegemonialen Kultur als das „Andere“ bezeichnet wird. Ethnische Identität lässt sich wie Geschichte nur als Prozess und nicht als existente Essenz konzeptualisieren. Die Funktion und das Funktionieren eines solchen Prozesses in einer Gesellschaft, die durch die Definition eines Anderen (ob durch Kultur, Haut oder Geschlecht) sich selbst definiert, stehen im Mittelpunkt des postkolo- nialen Projekts. In diesem Sinne ist das ethnisch Andere die ambivalente Projektion einer do- minanten Kultur, die im ‚Drama‘ des Alltags ständig wiederholt wird und ihr Objekt zugleich als geliebt und gehasst darstellt. Geliebtsein drückt sich in der Fetischisierung bestimmter ethnischer Merkmale wie z. B. Hautfarbe oder ‚ein süßer Akzent‘ aus, während Hass sich an deren Kehrseite, ‚Minderwertigkeit‘, 54 Robin Curtis montage/av ‚Faulheit‘ oder ‚Bedrohlichkeit‘ orientiert (siehe Bhabha 2000b). Beide Projek- tionen können jedoch nicht nur als Täuschungen und ohne jegliche konkrete Existenz angesehen werden. Die kulturelle Identität „is not a mere phantasm eit- her. It is something – not a mere trick of the imagination. It has its histories – and histories have their real, material and symbolic effects“ (Hall 1990, 226). Diesen „Effekten“ wird durch die Festlegung derjenigen Prozesse, die der jeweiligen Kultur eigen sind, eine konkrete Form verliehen. Wenn jeder Diskurs Macht ausübt, werden damit implizit auch Positionen in Relation zu diesem Diskurs festgelegt, die die Unterteilung in ‚Selbst‘ und ‚Andere‘ klar machen sollten. Die Art und Weise, wie man sich dazu verhält, markiert das Wirkungsfeld dieser Prozesse. Nach Hall: „Identities are the names we give to the different ways we are positioned by, and position ourselves within the narratives of the past“ (Hall 1990, 225). Diese Prozesse der Positionierung spielen auch kulturell eine katalysatorische Rolle, besonders im Fall von historischen Narrativen. In ähnlicher Weise schaf- fen es die erwähnten Filme, im Prozess der Sutur durch die jeweils zur Rezepti- on notwendige Mitarbeit ihrer Zuschauenden zu positionieren. In der Abhand- lung „On Suture“ plädiert Stephen Heath für eine Erweiterung des Modells der Suture, das ursprünglich von Jean-Pierre Oudart postuliert wurde und aus- schließlich die Anwendung im narrativen Bereich mittels der Einsätze von point of view shot und Schuss-Gegenschuss-Verfahren gefunden hat. Die Einbindung und Positionierung des Zuschauenden bei der Rezeption eines Films findet nicht nur mittels dieser Schnittstrategien statt, sondern wird – vor allem im Fall von „experimentellen“ bzw. avantgardistischen Filmen2 – in der spezifischen Art und Weise ihrer Strukturierung spürbar. Genau dieser je spezifische Prozess der Positionierung kennzeichnet in einem Film oder Video die Bezugsrahmen der jeweiligen ethnischen Identität – nicht unbedingt als Einheit, sondern als Möglichkeit: „Communities [...] are to be distinguished, not by their falsity/ge- nuineness, but by the style in which they are imagined“ (Hall 1990, 237). Diese medialen Strategien, die die Rezeption ermöglichen oder erschweren, vermögen es, durch die Darstellung dieser Prozesse die jeweiligen Bezugsrah- men sichtbar zu machen. Sie lassen sich in zwei Hauptgruppen unterteilen, die in den „Gedächtnisfilme und Gedächtnisvideos“ der 90er Jahren von großer ästhe- tischer Bedeutung waren: diejenigen, die den Prozess der Sinnstiftung und Re- zeption dekonstruieren, und diejenigen, die einen Ausschluss des Rezipienten von der Sinnstiftung nachahmen oder sogar bewirken. Die erste Gruppe bein- haltet u. a. folgende Techniken: den Gebrauch von Zitaten und ihre Dekon- 2 Wie z. B. in Heaths Beispiel News from Home (USA/Belgien 1978, Chantal Ackerman). 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 55 struktion; die Wiederholung sowohl als Offenbarung des Gleichbleibens wie auch der Transformation; die Überlagerung/Nebeneinanderstellung von Schrift und Bild; die Unruhe/Kritik der Kadrierung; die Fetischisierung. Die zweite Gruppe umfasst u.a. folgende Praktiken: Vielstimmigkeit/Überlagerung von In- formationen; Übersetzung als Prozess und Problematik; Verschiebung zwi- schen dem Akustischen und dem Visuellen; den Einsatz einer fremden Sprache ohne Übersetzung. Solche Filme werden oft als „hybrid“ bezeichnet, was so- wohl auf die Mischung von Genres und Techniken und die Problematisierung der Kategorienbildung hindeutet, wie auch auf ihre Thematisierung einer sol- chen Identität. Die Analyse der herkömmlichen Darstellung von Geschichte bietet eine wei- tere Grundlage zum Aufdecken solcher Prozesse. Franz Fanon hat schon festge- stellt: Es ist vielleicht noch nicht genügend darauf hingewiesen worden, dass der Kolonialismus sich nicht damit begnügt, der Gegenwart und der Zukunft des beherrschten Landes sein Gesetz aufzuzwingen. Er gibt sich nicht damit zufrieden, das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulö- schen. (Fanon 1967, 161) Doch das Ausgraben schon vorhandener identitätsstiftender ‚Artefakte‘, die auf eine Ursprünglichkeit deuten, könnte diesem nichts entgegensetzen; vielmehr ist die Identität nur als ein endloses Re-Produzieren zu begreifen, das folgerich- tig von jeder Generation neu unternommen werden muss. Insofern stellt sich die Frage nach der Erinnerung weniger in Bezug auf die Fakten, die nicht vergessen werden dürfen, sondern dreht sich vielmehr um das Verhältnis zu den Einzel- heiten aus der Vergangenheit. Jan Assmanns Vorstellung der Praktiken und Ziele eines gelungenen kollektiven Gedächtnisses muss an dieser Stelle verwor- fen werden, weil sie eine bruchlose Vermittlung von einer in der Vergangenheit festgelegten kollektiven Identität voraussetzt, die in dieser Form nicht gegeben ist. Die Thesen Halbwachs’ dagegen finden eine erneute Resonanz in Michael Fi- schers Analyse der autobiographischen ethnischen Literatur der 70er und 80er Jahre. Anders als bei Assmann lässt sich anhand der These Halbwachs’ der Wan- del einer Gruppenidentität erklären, ohne dass sie durch diesen Wandel als ne- giert begriffen werden muss. Nach Fischer ist das Autobiographische der Lokus dieser Re-Produktion von Ethnizität: 56 Robin Curtis montage/av What the newer works bring home forcefully is, first, the paradoxical sense that ethnicity is something reinvented and reinterpreted in each generation [...] the search or struggle for a sense of ethnic identity is a (re-) invention and discovery of a vision, both ethical and future-oriented. Whereas the search for coherence is grounded in a connection to the past, the meaning abstracted from that past, an important criteria of coherence, is an ethic workable for the future. (Fischer 1986, 195f) Die Funktion, die die narrative der Vergangenheit für ethnische Gruppen erfül- len, entspricht den Bezugsrahmen, die Halbwachs als Möglichkeit bzw. Voraus- setzung eines kollektiven Gedächtnisses beschreibt. Das Autobiographische fungiert hier eher als Hinweis auf eine Zusammengehörigkeit oder auf die Ver- pflichtung einer Gruppe gegenüber, als dass es die Selbstständigkeit des Indivi- duums unter Beweis stellt. Eine Ähnlichkeit mit feministischen Diskursen des- selben Zeitraums lässt sich hier erkennen, die in der Behauptung „the personal is political“ der Form der Autobiographie einen neuen politischen Imperativ ver- lieh. Wie in der feministischen Forschung der letzten Jahrzehnte ist hier die Sehnsucht deutlich, die eigene Identität und ihre historischen, materiellen und symbolischen Effekte zu untersuchen, bevor sie verworfen wird. Über die Offenlegung einer subjektiven Wahrnehmung hinaus, schließt das Wort „ich“ in den entsprechenden Filmen alle anderen rezipierenden „ichs“ in die identitäts- definierenden Prozesse, mit denen sie sich beschäftigen, mit ein. Trinh T. Minh-ha hat dieses Anliegen folgendermaßen beschrieben: „Ich bin nicht daran interessiert, Filme zu machen um ‚mich auszudrücken‘, sondern vielmehr, um damit das soziale Selbst (auch als Pluralität) bloßzulegen, das zwangsläufig im Akt des Filmemachens wie auch des Filmzuschauens implizit ist“ (Saxenhu- ber/Bernstorff 1995, 119). Es ist kein Zufall, dass die Psychoanalyse von der postkolonialen Theorie auf- gegriffen wird. Stuart Hall erkennt in der Sehnsucht, Ursprünge zu erforschen, eine Parallele zur Funktion des „Imaginären“: … this „return to the beginning“ is like the imaginary in Lacan – it can neither be fulfilled nor requited, and hence is the beginning of the symbo- lic, of representation, the infinitely renewable source of desire, memory, myth, search, discovery – in short, the reservoir of our cinematic narrati- ves. (Hall 1990, 236) Doch weil dieser Fundus nur geahnt werden kann, verweist lediglich die Struk- tur (und nicht der Inhalt) auf ihn. Für solche Hinweise eignen sich besonders Formen und Funktionen des Fetischismus. In Zusammenhang mit Film lässt 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 57 sich auf Hamid Naficy verweisen, der eine Verbindung zwischen dem Fetischis- mus und der Hybridität postuliert. Wie der sexuelle Fetisch nach Freud die Funktion hat, den Mangel des Penis am Körper der Frau zu verleugnen, hat der kulturelle Fetisch nach Homi Bhabha die Funktion, ethnische Differenz zu ver- leugnen. Erzeugt durch eine Strategie der Verleugnung, bezieht sich Diskriminie- rung immer auf einen Prozess der Aufspaltung als der Vorbedingung von Unterwerfung: eine Diskriminierung zwischen der Mutterkultur und ihren entarteten Bastarden, dem selbst und seinen Doppeln, wobei die Spur dessen, was verleugnet wird, nicht verdrängt, sondern als etwas Dif- ferentes – als Mutation, als Hybridform – wiederholt wird. (Bhabha 2000a, 165) Diese Definition der ‚Fiktion‘ des Fetisches liefert eine Erklärung für die zuge- lassene Sichtbarkeit und Ambivalenz der Hybridität, während sie gleichzeitig an die ‚Fiktion‘ der Sinn-Rahmen der kulturellen Erinnerung erinnert. In seiner Analyse vom persischen Exil-Fernsehen in Los Angeles identifiziert Naficy das Symptom des Fetischismus als grundlegend für die Identität eines im Exil leben- den Menschen: For the hybrid exile identity to survive, the differentiation between the self and „its bastard,“ the other, and between the host and the (m)other culture must be restated continually and differentially. This process, along with others already discussed, is perhaps at the heart of the aesthetics of repetition and hesitation that marks all exiles (Naficy 1993, 167f). Die andauernde Wiederholung dieser Unterscheidung kennzeichnet eine funda- mentale Abwesenheit; das Beharren auf bestimmte Bilder und Motive deutet auf ein Trauma, das eng mit dem Problem des Vergessens und der Undarstellbarkeit verbunden ist. Nach Naficy ist die Fetischisierung der erste Schritt im Vergessen der Heimat. History and Memory. For Akiko and Takashige Von Multiperspektive und Dekonstruktion geprägt, sammelt Rea Tajiris His- tory and Memory eine Vielfalt an politisch disparatem Bildmaterial, um sicht- bare mit unsichtbaren Versionen der Ereignisse in Amerika (und Japan) nach dem Angriff auf Pearl Harbor zu kontrastieren. Vor allem die Offstimme spielt in diesem Video eine entscheidende Rolle, denn die Geschichte der Internierung 58 Robin Curtis montage/av von Amerikanern japanischer Herkunft wird hier als Krankheitsbild erzählt. Symptome dieses historischen Traumas ausfindig zu machen ist eines der Ziele, die von der Leitstimme formuliert werden. Diese hat die Funktion, die Thesen des Videos deutlich zu machen und die manchmal enigmatischen Bilder und überlagerten Texte zu kommentieren und einzuordnen. Eine Vielzahl anderer Stimmen begleitet die aus der Ich-Perspektive erzählen- de Leitstimme; die Stimmen sprechen entweder fragmentarisch von ihrer eige- nen damaligen Erfahrung, oder sie thematisieren den Mangel an Information über diese Zeit und die Verweigerung der Zeitzeugen, ‚Geschichten zu erzäh- len‘. Alle Stimmen außer der Leitstimme werden mittels eines Zwischentitels in ihrer Verwandtschaft zu diesem ‚ich‘ des Videos identifiziert: z. B. „Father’s Voice 1990“; „1989, Mother views footage“ „Aunt Betsy remembers Pearl Har- bor“ u.s.w. Ihre Sprache ist alltäglich, ihre Erzählart etwas ungezielt und famili- är; die Aussagen wirken selten wie Interviews, sondern wie Familiengeplauder (mit den entsprechenden Verständnisschwierigkeiten für den Zuschauer). Sie sprechen ohne auffallenden ‚Akzent‘. Diese Stimmen werden nie in Zusammen- hang mit dem Bild eines sprechenden Menschen eingesetzt; die ‚Verwandten‘ werden nur als Stimmen oder als kleine Figuren auf alten Photos präsentiert. Die Vielfalt an Versionen, in denen die Geschichte und die Folgen der Inter- nierung umrissen werden, entsteht auch auf der Bildebene: von den zeitgenössi- schen Hollywoodfilmen, aufklärerischen Filmen aus dem Kriegsministerium und Wochenschauberichten zu heimlich von Insassen gedrehten Super-8-Fil- men aus den Lagern, Familienphotos und heutigen Videos, die die Orte der Ge- schehnisse aufzeichnen. Die unterschiedlichen Qualitäten des Originalmaterials markieren die Trennung zwischen offiziellen und privaten Quellen: die Spielfil- me sind feinkörnig und bunt, die Dokumentationen meist grobkörniger und schwarzweiß. Beide wirken aber ‚professionell‘, indem ihr Informationsgehalt in Bezug auf diese Ereignisse durch die Kadrierung und den Schnitt leicht zu- gänglich gemacht wird. Dagegen haben die Super 8-Filme, die am grobkörnigsten sind, eine seltsam faszinierende Wirkung. Sie zeigen mit einer beeindruckenden Farbbrillanz Fragmente des Alltagslebens von verschiedenen Menschen im Lager. Doch das, was im Alltag gewöhnlich wäre, fällt hier als besondere Leistung auf.3 Ein Schlittschuh laufendes Mädchen in der Wüste, das Kunstlauffiguren auf der Eis- fläche zeichnet, ist hier ein besonders prägnantes Bild. 3 Später erzählt Tajiri, dass ihr Onkel z. B. die einzigen Kinder im Lager waren, die ein Fahrrad mitgebracht hatten. 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 59 Die zeitgenössischen Videobilder dagegen weisen mit nur wenigen Ausnah- men Spuren eines Amateurvideos auf. Die Aufnahmen und Kamerabewegungen sind meist verwackelt, und die Bilder wirken willkürlich kadriert. Der Inhalt dieser Bilder ist unspektakulär: der Besuch des verlassenen Geländes eines ehe- maligen Internierungslagers; eine Autofahrt zusammen mit Verwandten, die an einem anderen ehemaligen Internierungslager vorbeiführt; der Besuch eines ein- tönigen Dorfes, in das die Insassen 40 Jahre früher mit dem Zug gebracht wur- den. Nur unbeachtliche Spuren der vergangenen Zeit sind hier enthalten. Davon unterscheiden sich inhaltlich aussagekräftigere Videobilder, von denen die meisten nachbearbeitet wurden: in Zeitlupenaufnahme umgewandelt, farb- lich bearbeitet, vom positiven ins negative Abbild gewandelt. Eine dieser Auf- nahmen, die wiederholt eingesetzt wird, ist die einer Frau, die an einem Wasser- rohr hockt und Wasser auffängt. Ihre Gesten und ihr Gesichtsausdruck betonen immer wieder den Genuss dieses Augenblicks, in dem die Sensation des Wassers die Hitze und den Staub der Umgebung zu verbannen scheint. Aus unterschied- lichen Perspektiven werden Bilder dieses Ereignisses immer wieder zwischen das andere Material des Videos geschoben. Manchmal wird die Frau von hinten gezeigt, manchmal von vorne; manche Aufnahmen sind groß, wie die von ihrem lächelnden Gesicht, manche nur Nahaufnahmen. Das Hin- und Herspringen der Kamera suggeriert, dass es schwer fällt, dieses Bild ‚richtig‘ zu fassen. Es wird als erstes flüchtiges Bild des Videos eingesetzt und mit folgender Aussage der Leitstimme begleitet: I don’t know where this came from but I just had this fragment, this pic- ture that’s always been in my mind: my mother she’s standing at a faucet and its really hot outside and she’s filling this canteen and the water’s really cold and it feels really good and outside the sun’s just so hot, it’s just beating down and then there’s this dust that gets in everywhere and they’re always sweeping the floors. Diese Motiv ist ein zentrales Bild in History and Memory. Es wird dem Bereich memory zugeordnet, obwohl die Tochter dieses Bild nie gesehen hat, sondern ihr nur davon erzählt wurde, sie es also nachinszenieren ließ. Doch zunächst muss offen bleiben, wofür dieses Gedächtnisbild steht und woran es erinnert. Die Bilder oder das Schwarzbild dieses Videos werden häufig von einer rol- lenden Schrifteinblendung überlagert. Am Anfang beinhalten diese Texte Be- schreibungen von Ereignissen, deren Abfolge nur noch vermutet werden kann, weil damals keine entsprechenden Bilder entstanden sind. Später übernehmen die Texte diverse Funktionen: die Aussagen der Familienstimmen zu lenken, die 60 Robin Curtis montage/av offiziellen Diskurse zu kontrapunktieren oder weitere Informationen zu ver- mitteln. Eine zweite Art der textlichen Überlagerung findet mittels der Einblen- dung von unbeweglichen Titeln statt, die die Bilder und Bilderquellen identifi- zieren, diskursiv einordnen und kritisch kommentieren. Es ist diese textliche Ebene, auf der die explizite Unterscheidung zwischen „History“ und „Memory“ geschieht, indem offizielle ‚Dokumente‘ wie Holly- woodfilme und amerikanische Wochenschaubilder, aber auch japanische Spiel- filme und Wochenschaumaterial, die sich alle mit dem Angriff auf Pearl Harbor befassen, mit dem Titel „History“ versehen werden. Die Leitstimme stellt diese Unterscheidung als die Prämisse dieses Werkes vor: There are things which have happened in the world while there were cameras watching, things we have images for. [...] There are other things which have happened while there were no cameras watching which we restage in front of cameras to have images of. [...] There are things which have happened for which the only images that exist are in the minds of the observers, present at the time. While there are things for which there have been no observers, except for the spirits of the dead. Auch die inoffiziellen, geheimen Super-8-Aufnahmen von den Lagern müssten jedoch der ‚History‘ zugeordnet werden, denn selbst wenn sie eine alternative Sicht der Ereignisse darbieten, gehören sie zur ersten Kategorie. Zur Kategorie „Memory“ könnte das Video History and Memory selbst zu- geordnet werden, wenn das Bild der Mutter am Wasserrohr als eine Inszenie- rung von einem vergangenen Augenblick betrachtet wird, der hier zum ersten Mal zum bildlichen Ausdruck käme und für die Erfahrung der Internierung stünde. Es ist aber ein Hinweis auf eine andere Ebene der Übermittlung von Ge- schichte in diesem Bild enthalten, eine die außerhalb des Rahmens der Ge- schichtsschreibung fällt und zwischen den Bereichen „History “ und „Memory“ schwebt. Wenn das Bild nicht als Hinweis auf ein Ereignis sondern auf eine Möglichkeit verweist, wie bestimmte ‚Artefakte‘ (wie das Video selbst) sprach- lich unfassbare Information enthalten und auf dieser Basis in die Gegenwart hin- einwirken können, dann ist das Bild der Mutter nicht als Inszenierung eines Er- eignisses zu betrachten, sondern deutet auf eine andere Lesart hin, die von dem Video vorausgesetzt wird. Was mit keinem Titel versehen wird und daher implizit bleibt, ist die Katego- rie ‚Memory‘, die sowohl die bilderlosen Erinnerungen und Vermutungen der Überlebenden und ihrer Nachkommen als auch das Wirken dieser sprachlich unfassbaren ‚Artefakte‘ einschließt. Das Video versucht, einen adäquaten Re- präsentation für ein Ereignis zu finden, das sich nur verstümmelt und verzerrt 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 61 Abb. 4 Frauen im Internierungslager von Salinas. darstellen lässt, wenn man sich auf die vorhandenen dokumentarischen Materia- lien verlässt. Anhand dieses Ziels läge es nicht fern, History and Memory als Werk einzu- ordnen, das explizit mit den Mitteln des Dokumentarfilms arbeitet, um das Bild der Vergangenheit für die Gegenwart deutlicher zu machen. Alleine das Antas- ten eines politisch unangenehmen, bislang sogar verschwiegenen Augenblicks in der amerikanischen Geschichte könnte suggerieren, dass das Video eine Aufdec- kung von bisher unbekannten Tatsachen anstrebt oder wenigstens noch die Au- genzeugenberichte festhalten möchte, bevor die 40 Jahre der ‚kommunikativen‘ Erinnerung ablaufen. Dies würde eine Privilegierung von ‚Memory‘ über ‚Histo- ry‘ zur Folge haben. Das ‚Gedächtnisbild‘ der Mutter am Wasserrohr müsste demzufolge ein authentischer Bedeutungsträger für die Erfahrung der Internie- rung sein.4 4 In vielen Kritiken dieses Videos findet man eine solche Deutung dieses Bildes. Sogar Michael Renov ordnet das Bild auf diese Weise ein: ”...like a time-traveller in a Chris Marker film, Tajiri 62 Robin Curtis montage/av Alle Ansprüche auf Authentizität werden in diesem Video jedoch unterlau- fen, indem alle (Geschichts-)Versionen, die vermittelt werden, gleichmäßig als Quelle der Wahrheit in Frage gestellt werden. Am deutlichsten geschieht dieses in einem Filmausschnitt, der als „Canteen Salinas / Scene 6 / Take 1 / Camera 36“ bezeichnet wird. Hier werden Erwachsene und Kinder, die alle ein Eis in der Hand halten, in einem Innenraum gezeigt, der wie ein Geschäft aussieht. Die Kinder wirken animiert. Die Stimme der Mutter und der Titel, „1989, Mother views footage werden hinzugefügt.“ Zu dem Dokument hört man folgendes: Stimme der Mutter: „This says, Canteen. They didn’t have a can- teen in Salinas... at the Assembly Centre.“ Stimme eines unbekannten Mannes: „They had it here.“ Stimme der Mutter: „They had one in Poston. I don’t remember this. No, I don’t remember this.“ Anhand dieser Informationen ist es nicht möglich festzustellen, ob der Film Canteen eine gestellte Szene abfilmt, die davon überzeugen wollte, dass es den Internierten gut ging und diese „Canteen“ in Salinas nur als Filmkulisse exis- tierte, oder ob die Mutter einfach vergessen hat, dass es eine Kantine in dem Lager gegeben hatte. Beide Versionen haben kritische Implikationen: einerseits wird die Wahrheit der existenten Dokumente hinterfragt; doch andererseits wird die Zuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses als wahrhaftiger Ver- mittler der Vergangenheit in Frage gestellt. Mit dieser Weigerung, weder Geschichte noch Gedächtnis zu billigen, wird die Einordnung des Videos selbst als Dokument eines geschichtlichen Ereignisses ausgeschlossen. So wie im Fall der „Historiographic Metafiction“ wird hier eine dokumentari- sche Form übernommen, um Kritik an deren impliziten Zielen zu üben und um auf die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu verweisen. In diesem Sinne will History and Memory zeigen, wie die Texte der Vergangenheit Bedeutung erzeugen und wie sie als Diskurse hierarchisch fungieren (als „History“ oder als „Memory“ ).5 wishes to retrieve an image of particular intensity from her mother’s past: her hands filling a canteen with cold water in the middle of the desert. Of course that retrieval is, more than anything, a gift the artist gives to herself and her generation. For the tape culminates in a victory which is shared by all the Asian American Independent artists through whom the stereotypes - rarefied, abstract and dehumanized – have been supplanted by the sounds and images of experience, memory, counterhistory. Tajiri concludes: „But now I found I could forgive my mother her loss of memory and could make this image for her.“ (Renov 1991, 108; Herv. R. C.) Doch die Mutter will vergessen, und das Bild verspricht keinen Ersatz. 5 Dieser Modus des Dokumentarfilms wird von Bill Nichols „reflexive“ genannt, weil er auf der Metaebene der Ziele und Grenzen der Darstellung in der historischen Welt bleibt. Nach Nichols stellt ein solcher Film immer die Frage: „How can the viewer be drawn into an awareness of this 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 63 Abb. 5 Dreh eines Propagandafilms im Internierungslager von Salinas. Doch genauso will das Video, das als audiovisuelles Medium innerhalb des Rei- ches des Sicht- und Hörbaren angesiedelt ist, andeuten, dass es ‚Artefakte‘ gibt, die sich diesem Reich entziehen, was in den oben erwähnten ‚Prämissen‘ des Werkes deutlich wird. Das, was als erstes in dieser Videoarbeit zu sehen ist, ist gar kein Bild, sondern dessen Ersatz: ein rollender Text, der eine unbebilderte und daher beinah verlorengegangene Geschichte in seinem vermuteten Ablauf präsent macht, in der Form eines mentalen Bildes, das der Zuschauer selbst er- finden muss. Mehr bleibt nicht übrig. In diesem Bild wird der Ausgangspunkt des Werkes als Symptom eines Traumas deutlich: Die Geschichte beginnt mit den Alpträumen der Sprecherin selbst, als Mädchen am 20. Jahrestag des An- griffs auf Pearl Harbor, der als Anfangspunkt des kollektiven Leidens identifi- ziert wird. problematic so that no myth of the knowability of the world, of the power of the logos, no repression of the unseen and unrepresentable occludes the magnitude of ‚what every filmmaker knows‘: that every representation, however fully imbued with documentary significance, remains a fabrication?“ (Nichols 1991, 57). 64 Robin Curtis montage/av Mit diesem Ereignis wurde den Amerikanern japanischer Herkunft klar ge- macht, dass sie in Amerika als ‚Japaner‘ und daher als ‚anders‘ galten. Das Aus- maß des heutigen Traumas besteht darin, die Widersprüche zwischen der eige- nen Erinnerung und der Geschichte ertragen zu können, denn genau hier spalten sich die unterschiedlichen Bezugsrahmen dieser Mitglieder beider Gruppen: d. h. ein ‚Amerikaner‘ ‚japanischer Herkunft‘. Auch auf die Nachge- borene wirkt sich diese geteilte ‚Treue‘ noch aus; eine Identifikation mit dem Leiden der Eltern ist eine Störung ihrer Identität als Amerikaner. Die Implika- tionen von Halbwachs’ Behauptung, dass „soweit man sich in die Gesellschaft begibt, akzeptiert man, sich wie sie zu erinnern“ (Halbwachs 1985, 239f), wer- den hiermit deutlich. Damit die Gesellschaft besteht, muss eine ausreichende „Einheit der Ansichten“ bestehen. Demzufolge bedeutet Abweichung von die- sem Konsens eine Bedrohung der Gesellschaft. Es erinnert an Fanon, wenn Halbwachs die Konfliktscheu des kollektiven Gedächtnisses beschreibt: Darum neigt die Gesellschaft dazu, aus ihrem Gedächtnis alles auszu- schalten, was die einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinan- der entfernen könnte, und darum manipuliert sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sie mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichge- wichts in Übereinstimmung zu bringen. (Halbwachs 1985, 381f) Weil die Erinnerung an diese Ereignisse eine Bedrohung der Gesellschaft bedeu- tet, müsse sie vergessen werden. Im Fall von History and Memory hat dies Folgen für das Erinnerungsvermögen der Mutter: Neben der fragmentierten, immer wieder abgebrochenen (und daher schwer verständlichen) Äußerung der Mutter zu ihrer eigenen Amnesie6 erscheint folgender rollender Text, der auf das als Negativ abgezogene Bild einer asiatischen Frau gelegt wird: „She tells the story of what she does not remember. But remembers one thing: Why she forgot to remember.“ Das, was hier als Begründung für das Vergessen und als Bedro- hung im Fall des sich Erinnerns angetastet wird, ist die Ganzheit des Individu- ums bzw. dessen Konstruktion. 6 Sie sagt: „It’s really... You know something? There are so many things I’ve forgotten. It’s because... Look how many years it’s been and you hear people on the television and how they dealt with everything. I don’t remember that stuff. All I remember, was, if you..., uh..., was this woman, who lost her mind, a beautiful woman, uh-huh, a beautiful woman, beautiful... And I thought to myself, you know, because I had seen..., why did this happen, you could go out of your mind so you just put those things out of your mind, you know. Surely you’d start thinking, ‘how did we get in here?’ and all that. You could. And I though to myself, how many people...?“ 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 65 Das Interesse am Nachforschen dieses Projekts, das von der Leitstimme auf folgende Weise begründet wird, führt letztlich zur Frage der identitätsstiftenden Funktion dieser Geschichte: I began searching for a history. My own history. Because I had known all along that the stories I had heard were not true or that parts had been left out. I remember having this feeling while I was growing up that I was haunted by something, that I was living within a family full of ghosts. There was this place that they knew about. I had never been there yet I had a memory for it. I could remember a time of great sadness before I was born. We had been moved, uprooted. We had lived with a lot of pain. I had no idea where these memories came from, yet I knew the place. Diese Suche nach Geschichte darf nicht mehr inhaltlich sondern muss vor allem als Suche an sich verstanden werden, als Prozess, der eng mit dem Prozess der Identitätsstiftung verbunden ist. Jene Prozesse sind mit den Bezugsrahmen des kollektiven Gedächtnisses, aber auch mit den Prozessen der filmischen Rezep- tion zu vergleichen. Die Rezeption selbst ist der Schlüssel zu diesem Video, denn in History and Memory wird die Zuschauerin durch ihre Mitarbeit beim Aus- sortieren von Bilderquellen und sonstigen Informationen in die Bezugsrahmen dieser spezifischen Ethnie in diesem historischen Augenblick eingeführt. Solch eine Vorstellung schließt die zweite Ebene des Videos mit ein: Das zwei- te Bild, das im Video nach dem ‚Gedächtnisbild‘ von der Mutter auftaucht, ist ein Photo von Gulliver, gefesselt und umringt von Liliputanern. Dieses Bild wird in einer Zoom-out Einstellung, die immer mehr von dem Photo aufdeckt, in den ersten Minuten des Videos mehrmals gezeigt. Es ist das andere enigmati- sche Bild des Werkes, das andeutet, dass es Methoden des Widerstands gibt, die ungeahnte Kraft haben. Zusammen mit diesem Bild wird von der Besessenheit der Schwester von einem bestimmten Jungen erzählt, von dem sie unbedingt ein Photo machen musste. Nachdem sie sein Bildnis erobert hatte, wurde es zu ihrer Sammlung von Filmstarphotos getan. In dem Kontext wird folgender Satz von der Leitstimme gesprochen: I often wondered how the movies influenced our lives and where my sis- ter’s habit of observing others from a distance came from. Dieser Satz enthält den Kern des Identitätsdiskurses des Videos. Dem Rezipienten wird durch verschiedene filmische Strategien eine kritische Haltung den offiziellen Diskursen gegenüber nahegelegt. Der Gebrauch von verschiedenartigen Zitaten aus dem historischen Diskurs zum Thema der Inter- nierung, die auf unterschiedliche Weise hinterfragt werden, ist eine dieser Strate- 66 Robin Curtis montage/av Abb. 6 gien. Im folgenden Fall werden die textliche und die bildliche Ebene des Filmes miteinander in Konkurrenz gestellt. Indem der Titel Who chose What Story to Tell? systematisch, d. h. jedes Wort einzeln auf einen Film des Kriegsministeriums, der die Notwendigkeit einer Internierung plausibel machen will, legt, wird die bildliche Anwesenheit mancher Diskurse und die Abwesenheit anderer be- tont. Ähnlich wirkt der Einsatz vom Schwarzbild. Passende Bilder zum Angriff auf Pearl Harbor werden in Zusammenhang mit der Unterscheidung geliefert, die die Leitstimme zwischen bebilderter und unbebilderter Geschichte macht. Doch in dem Augenblick, als die Leitstimme erzählt, dass es Geschichten gibt, für die die einzigen Bilder die Gedächtnisbilder der Zeitzeugen oder sogar der Toten sind, wird der Bildschirm schwarz und damit eine bildliche Darstellung solcher Leerstellen verweigert. 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 67 Das Bestehen auf dem Beibehalten von Geschichten, die nicht bebildert wer- den können, ist daher ein weiterer Teil dieser Strategie. Nur auf diese Weise kann die Geschichte der Internierung aus der Perspektive der Internierten er- zählt werden. In History and Memory werden die bilderlosen Erinnerungen in abrollende Texte übersetzt, die wie Bilder innerhalb einer kontrollierten Zeit wahrzunehmen sind. Der erste Text im Film wird wie die Beschreibung einer Einstellung in einem Drehbuch formuliert: es wird dem Zuschauer daher nahe- gelegt, den Text in ein Bild zu übersetzen.7 Während eine Inszenierung von Er- eignissen nach dieser Beschreibung die Geschichte selbst sichtbar machen könn- te, lässt sich eine kritische Haltung des Zuschauers nur durch solche Prozesse der individuellen Rekonstruktion andeuten. Außerdem wird in dieser vom Zu- schauer zu leistenden Umwandlung von Text in Bild verdeutlicht, dass dieser Umwandlungsprozess dem Prozess einer Übersetzung nahe kommt. Die oben erwähnte These Halbwachs’, dass das kollektive Gedächtnis der Ge- sellschaft je nach Epoche manipuliert werden muss, „um sie mit den veränderli- chen Bedingungen ihres Gleichgewichts in Übereinstimmung zu bringen“ (Halbwachs 1985, 381f), wird durch das Einfügen von Ausschnitten aus ver- schiedenen Hollywoodfilmen8 verdeutlicht, an denen die Veränderung im offi- ziellen Umgang mit diesem Thema (vom Feindbild zum Versöhnungsangebot) im historischen Vergleich erkennbar wird. Mit der Strategie des Zitierens sind mehrere andere Strategien verbunden, die die Rezeption des Werkes erschweren und damit beim Zuschauer ein Gefühl der Fru- stration verursachen. Die Überlagerung von Bildern mit Texten führt im Video oft zu einer derartigen Verdichtung von Informationen, dass nicht alle Ebenen gleich- zeitig rezipierbar sind. Wenn eine einzige Ebene ausgewählt wird, hat man das Ge- fühl, dass etwas Wesentliches auf einer anderen Ebene verpasst wird. Die Situation des Ausschlusses aus einem sinnstiftenden System wird damit inszeniert. Auch hier wird der Prozess der Übersetzung verdeutlicht, wie ihn Trinh T. Minh-ha beschrieben hat: Translation which is interpellated by ideology and can never be objective or neutral, should here be understood in the wider sense of the term – as a 7 „December 7, 1961. View from 100 feet above the ground. Street lights and tops of trees surround the view which is comprised of a strip of grey concrete with strips of green grass on either side. Then slowly, very, very, slowly the ground comes close and close as the tops of trees disappear. The tops of the heads of a man and woman become visible as they move them back and forth in an animated fashion. The black hair on their heads catch and reflect light from the street lamps. The light from the street lamps has created a path for them to walk and argue.“ 8 From Here to Eternity (USA 1953, Fred Zinnemann), Bad Day at Black Rock (USA 1955, John Sturges), Come See the Paradise (USA 1990, Alan Parker). 68 Robin Curtis montage/av politics of constructing meaning. Whether you translate one language into another language, whether you narrate in your own words what you have understood from the other person, or whether you use this person directly on screen as a piece of „oral testimony“ to serve the direction of your film, you are dealing with cultural translation. (Trinh 1992, 127f) Die Übersetzungen, die stattfinden müssen, um eine erzählte Geschichte in Bil- der umzusetzen, werden in History and Memory hervorgehoben, indem dem Vorstellungsvermögen, das den Zuschauer schon beim ersten rollenden Text herausfordert, eine enorme Anstrengung abverlangt wird. In diesem Zusammenhang sind der familiäre Ton des Films und die damit ver- bundenen Verständnisschwierigkeiten und Unklarheiten keine Unzulänglich- keiten. Diese ästhetische Form der Verschleierung ist sogar wesentlich für die These des Films, denn die Schwierigkeiten der Rezipienten spiegeln die Schwie- rigkeiten, die die Nachkommen mit der Überlieferung dieser Geschichte schon immer erlebt haben und die im Film sogar zweimal (von der Stimme der Nichte und von der unidentifizierten männlichen Stimme am Anfang des Videos) expli- zit erwähnt werden. Mit dem akustischen Verständnis der Stimmen der Verwandten, die nie als talking heads abgebildet werden, ist noch eine weitere Anstrengung verbunden. Wie schon erwähnt, haben diese Stimmen überhaupt keinen auffälligen Akzent. Auf Grund ihrer Stimmen her müsste man sie als „Amerikaner“ einordnen. Der rassistische Kurzschluss einer Identitätszuschreibung auf dieser Basis wird in ei- ner Anekdote geschildert. Über die Bilder und Töne von dem im Film zitierten Kriegsministeriumsfilm The Way Ahead erzählt die Mutter: We would apply for an apartment. We’d look in the paper and then we’d call them and we’d be talking and she’d say ‚and what is your race?‘ and being so darn honest I’d say Japanese-Americans. And they’d say, ‚I’m sorry there’s no vacancy.‘ And I remember saying ‚And you call yourself an American!‘ and then I hung up and I was so mad. Doch in diesen Kurzschluss wird der Zuschauer selbst verwickelt, wenn er auf der Basis einer Stimme entscheiden wollte, wie er die Erfahrung einordnet, die erzählt wurde. Weitere Strategien, die die Prozesse der Sinnstiftung dekonstruieren, werden mittels einer Technik der Wiederholung wirksam. Diese Technik ist eine der formalen ordnungsstiftenden Elemente im Video, die zugleich Veränderung und Konstanz offenbaren. Die Wiederholung verschafft Zugang zur Deutung von disparaten, scheinbar unabhängigen Elementen durch deren Organisation. 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 69 Abb. 7a–d Der Prozess erinnert an das Bild des Schlittschuh laufenden Mädchens, das wie- derholt seine Figuren auf dem Eis sorgfältig zeichnet, was im Film öfter wieder- holt wird. Das Zoomverfahren verbindet im Film beispielsweise mehrere scheinbar un- abhängige Elemente: die Vogelbrosche; „Grandpa’s Alien ID Card“; „Grand- ma’s Alien ID Card“; das geschnitzte Herz aus Holz; das Fragment Teerpapier. Während nur die Brosche im Zusammenhang mit einem Photo aus den amerika- nischen National Archives als Teil einer Lagergeschichte situiert wird, suggeriert die formale Verbindung, dass auch die scheinbar zusammenhangslosen Gegen- stände als ‘Artefakte’ der Internierungszeit verstanden werden sollten. Alle ver- weisen entweder konkret auf die Zeit, die im Lager verbracht werden musste, oder auf die konkrete Existenz dieses Ortes (im Fall von Teerpapier). Ähnlich verhält es sich mit der Wiederholung von einer bestimmten juwelarti- gen Blaufarbe, die in der Bildkomposition immer wieder betont wird und die Ver- bindung unterschiedlicher Elemente vollzieht: in der zweiten Einstellung des ge- heim gedrehten Super 8-Films Topaz (USA 1943–45, Dave Tatsuno) steht ein lächelnder Mann vor einem einheitlich blauen Himmel; in einer kurzen Videoein- 70 Robin Curtis montage/av stellung, die in Zeitlupe läuft, bewegt sich die Mutter an der Kamera vorbei – nur ihr blauer Rock ist zu sehen. Dieses Bild erscheint, als die Mutter anfängt zu er- zählen, warum sie vergessen hat; ein Bild von einem riesigen Baum, der allein in der Landschaft gegen den Himmel steht, wird in dem Augenblick eingesetzt, als die Leitstimme erzählt, dass sie durch Zufall die genaue Lage der damaligen Ba- racken ihrer Mutter gefunden hat; und ein letztes Beispiel ist das in zahlreichen Passagen des Films wahrnehmbare Blau des Kostüms, das die Figur der Mutter im ‚Gedächtnisbild‘ am Wasserrohr trägt. In diesem verbindenden Merkmal des Videos wird der Bereich des Exzesses im Film spürbar; eine Art der Wahrneh- mung, die eng mit der Empfindung des Körpers zusammenhängt, wird ermög- licht. In all diesen Bildern ist ein Augenblick eines solchen Genusses enthalten. Diese Vermittlung suggeriert den Einsatz von dem, was David MacDougall in seinem Aufsatz „Films of Memory“ als „enactive memory“ bezeichnet. In An- lehnung an Victor Burgins Übernahme (1982) von Horowitzs und Bruners Mo- dell der bildlichen Informationsverarbeitung, die eine Darstellung von inneren Modellen der äußeren Welt ermöglichen sollte, behauptet MacDougall, dass diese ‚Gedächtnisfilme‘ die Gedankenprozesse des Individuums ungefähr wie- dergeben und damit einen Zugriff auf die gesamten Gedächtnisinhalte des Zu- schauers ermöglichen. „Enactive Memory“ beinhaltet folgendes: gesture, experience recalled, one might say, in the muscles, perhaps closest to the indexical sign, for its form is that of an imprint or direct extension of previous experience... (MacDougall 1992, 33) Es sind dann in diesem Sinne die Bewegungen der Mutter, die nicht so sehr an ein Ereignis erinnern, sondern Zugang zu den identifikatorischen Prozessen anhand dieser wiederholten Geste zu schaffen vermögen. Abb. 8a.b Photo von Rea Tajiris Vater und Mutter 11/1/2002 Rea Tajiris History and Memory 71 Gerade anhand der Wiederholung des letzten Bildes wird der Zusammenhang zwischen Wiederholung und Fetischisierung deutlich. Ein Merkmal des Prozes- ses der Fetischisierung ist die zwanghafte Wiederholung des spezifischen Dra- mas, denn es muss immer wieder ‚aufgeführt‘ werden, um die bezweckte Ver- leugnung wirksam zu halten. Wenn nach Bhabha die Fetischisierung in der Kultur eine Diskriminierung zwischen Selbst und Anderen zu verdeutlichen hat, will die Wiederholung des ‚Gedächtnisbildes‘ in History and Memory zwischen den beiden identitätsstiftenden Bezugsgruppen differenzieren: zwi- schen der mit Scham beladenen Gruppe der internierten Vorfahren, die von der Mutter repräsentiert wird, und der (unmöglichen) Identität eines unhyphenated Amerikaners, nach der die Nachfolgergeneration strebt. Während das Video in- haltlich von der prägenden Funktion dieses geschichtlichen Ereignisses erzählt, wird die hochgradige Ambivalenz der Prozesse, die diese Identität ausmachen, durch die Fetischisierung dieses ‚Gedächtnisbildes‘ vermittelt. Literatur Assmann, Aleida (1991) Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Mnemosyne. For- men und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. v. Aleida Assmann & Dietrich Harth. Frankfurt am Main: Fischer, S. 13–34. Assmann, Jan (1988) Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. v. Jan Assmann & Tonio Hölscher. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9–19. – (1991) Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kul- turellen Erinnerung. Hrsg. v. Aleida Assmann & Dietrich Harth. Frankfurt am Main: Fischer, S. 337–355. – (1992) Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. 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Dementsprechend hat Shoshana Felman ihrer herausragenden Studie über das einflussreiche Meis- terwerk von Claude Lanzmann den Titel „À l´âge du témoignage“ gegeben (Fel- man 1990). Shoah (F 1974–1985) inspirierte nicht nur viele wissenschaftliche Stellungnahmen, sondern auch eine neue Art des Filmemachens. In all den Län- dern, in denen Überlebende der jüdischen Katastrophe Zuflucht fanden, haben ihre Kinder und nun auch ihre Enkelkinder (nicht nur im biologischen Sinne) Filme initiiert, produziert und gedreht. Sie wurden als „Zeugen der Vorstel- lung“ bezeichnet1, als Wahlzeugen, Ersatzzeugen, die entschlossen sind, sich gegen Paul Celans Behauptung zu stellen: Niemand / zeugt / für den Zeugen“ (Celan 1996, 117). Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten viele Überlebende, in ihren Schriften eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Unmensch- lichkeit heraufzubeschwören.2 Jetzt nehmen sich die zweite und dritte Generati- on dieser Herausforderung an. Das Hauptanliegen meines Textes ist es zu unter- suchen, wie sie in ihren filmischen Arbeiten – in den Worten Friedländers – die „Grenzen der Darstellung“ ausloten (Friedländer 1992). Dabei ist der Umfang dieses Essays natürlich begrenzt. Ich werde nicht die zunehmende Anzahl derje- nigen Spielfilme ansprechen, die sich den komplexen und manchmal qualvollen Beziehungen zwischen den Generationen widmen, den Beziehungen zwischen den Nachkommen und deren Eltern, die zuvor Opfer gewesen waren. Auch werde ich mich nicht mit den experimentellen Bemühungen befassen, deren Symbolisierungskraft viel Staunen und Lob geerntet hat. Stattdessen konzen- triert sich diese Arbeit auf einen neuen Typ der Amateur- und Familienproduk- 1 Alan L. Berger zufolge wurde diese Phrase zuerst von Norma Rosen verwendet, siehe Berger 1997 bzw. Rosen 1974. 2 Annette Wieviorka (1992) listet in ihrem hervorragenden Buch fast einhundertfünfzig solcher Werke, die zwischen Kriegsende und dem Jahre 1948 veröffentlicht wurden, auf. 76 Regine-Mihal Friedman montage/av tion. Die Form der Zeugenaussage unterscheidet sich in diesen Filmen von dem Beweismaterial, das von Yad Vashem in Jerusalem, dem Fortunoff Archiv in Yale oder der von Steven Spielberg gegründeten Shoah Visual History Founda- tion gesammelt wird. Diese Einrichtungen engagieren sich auch in größeren Ar- beitsfeldern, da sie akademische Forschungen, die auf den Aussagen der Überle- benden beruhen und die wiederum neue Forschungsgebiete eröffnet haben, unterstützen. Obwohl mein eigenes Bestreben der gleichen Motivation ent- springt – einerseits in Bezug auf die Verletzlichkeit der alternden Augenzeugen, andererseits in Bezug auf die revisionistischen Versuche, die Shoah zu negieren –, halte ich etwas Abstand zu diesen monumentalen Unternehmungen. Stattdes- sen konzentriere ich mich darauf, wie in einigen Filmen ein bestimmtes Über- einkommen hinsichtlich des Aussagens der Überlebenden ausgearbeitet wird, ein Übereinkommen, das einen spezifischen Transferenzraum zwischen Augen- zeugen und Interviewer bietet – einen Raum, der eine besondere Qualität des Zuhörens und Einfühlungsvermögens impliziert. Vor dem Bewusstsein: israelische Kindheitsgeschichten Zwei amerikanische Psychotherapeuten, Edward E. Mason und Eva Fogelman, produzierten, schrieben und führten Regie bei einem der ersten Dokumentar- filme über das hier zu verhandelnde Thema: Breaking the Silence: The Generation after the Holocaust (1984). Helen Epstein, eine weitere Mitar- beiterin, hatte 1979 einen Bestseller veröffentlicht, Children of the Holocaust: Conversations with the Sons and Daughters of Survivors, der die psychologi- schen Eigenschaften der zweiten Generation beschreibt. Von Interesse ist hier, wie sie die Schwierigkeiten schildert, die sie als junge Studentin in den frühen 70er Jahren in Israel hatte: Der Holocaust war implizit in den Monumenten, im Lebensstil und in den Gesichtern der Menschen, mit denen ich in Israel lebte, vorhanden. Jedoch war es ein Thema, das selten angesprochen wurde [...]. Tief drin- nen sehen sich Israelis als Lots Frau: Sie haben Angst, dass sie sich, wenn sie sich umdrehen und auf den Holocaust zurückblicken, in eine Salzsäule verwandeln werden. (Epstein 1979) Diese biblische Metapher kann auch auf das israelische Kino angewendet wer- den, in dem – Geoffrey Hartman zufolge (1999) – „der längste Schatten“ kaum dargestellt wurde. Ich verweise hier nur auf die Figur der tränenreichen jüdi- schen Lorelei, die auf ihre schmerzliche Vergangenheit zurückblickt, während 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 77 ihre Verwandtschaft vorwärts eilt und sie in ihrer schrecklichen Trauer zurück- lässt. Frauen waren in der Tat für das „Kino des Schattens“ von entscheidender Bedeutung – sowohl auf als auch hinter der Leinwand –, als ob sie dafür verant- wortlich gewesen wären, nicht nur das Leben weiter zu geben, sondern auch die Erinnerung zu übermitteln. Die in Israel zwischen 1974 und 1985 vorgeführte, bahnbrechende Trilogie von Haim Gouri, David Bergman und Jacques Ehrlich The Eighty-first Blow, Flames in the Ashes und The Last Sea leitete eine neue Auseinander- setzung mit der jüdischen Tragödie ein. Dieses Dokumentationsrequiem beruh- te auf Archivquellen und orchestrierte „unstimmige Instrumente“: in The Eighty-first Blow wurde das Filmmaterial von den Tätern gefilmt, die Ton- spur hingegen aus Aussagen zusammengestellt, die die Opfer während des Eich- mann- Prozesses zu Protokoll gegeben hatten. Der etwas rätselhafte Titel The Eighty-first Blow bezieht sich auf ein Lied aus dem Film, das von dem Dilem- ma eines kleinen Jungens erzählt, der in einem Konzentrationslager mit achtzig Hieben bestraft wurde und der später, als er seine Geschichte erzählte, nicht mit dem Unglauben zurechtkam, der ihm ins Gesicht schlug. Somit ist der einun- dachtzigste Schlag eine Anspielung auf die Ignoranz und Unwissenheit des „Yishuvs“ – der jüdischen Siedlungen in Mandatspalästina – und eine Anspie- lung auf die der Ignoranz folgenden Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Arro- ganz, mit der die Überlebenden bei ihrer Ankunft im Versprochenen Land be- handelt wurden. Das kritische Überdenken dieser Einstellung stellte das Hauptthema für die verschiedenen „Kindheitsgeschichten“ während der 80er Jahre dar. In diesem Genre denkt der erwachsene Künstler noch einmal über seine Vergangenheit nach, beispielhaft sind dafür die versteckten Autobiographien The Wooden Gun von Ilan Moshenson (1979) und Hide and Seek von Dan Wollman (1982). Beide Filme konfrontieren uns und verwerfen sodann den Heldenkult und den Kult der Stärke, der während der frühen Jahre des Staates Israel in der Erziehung propagiert wurde und dessen logische Folge eine Geringschätzung der Schwa- chen war, in diesem Fall der verachteten und zurückgewiesenen Überlebenden. Die Schuldgefühle und die Scham, die in diesen Geschichten der Wiedergutma- chung hervortreten, geben einen Hinweis darauf, wie sich die Mentalität ändert und die Leute Andersartigkeit (Otherness) wahrnehmen. Judd Neeman be- schwört in Bezug auf diese Filme „die psychologische Starre“ und „die emotio- nale Betäubung“ herauf, die der Neue Israeli – der Sabra – gegenüber den Ho- locaustopfern gezeigt hat, die sich angeblich wie „die Schafe zur Schlachtbank haben führen lassen“. 78 Regine-Mihal Friedman montage/av Die zionistische Ideologie hielt es immer für wichtig, dass Menschen sich zu Kämpfern entwickelten, ein korrigierender Eingriff, der als nötig betrachtet wurde, um dem endemischen Widerwillen der Diaspo- ra-Juden, die Waffen nicht einmal zur Selbstverteidigung verwendeten, entgegenzuwirken. (Neeman 1995, 131) In dieser Behauptung zeigt sich die Übereinstimmung Judd Neemans mit Oz Almogs Klagelied in The End of the Sabra Myth and the Decline of Zionist Theology (1997). Laut der Weberschen Analyse von Almog ist der Gefühlsman- gel des Sabra auf seine vollkommene Treue zum Zionismus zurückzuführen, der eine soziale Revolution und eine nationale Religion „in ihrer charismati- schen Phase“ darstellt: In diesem sekulär-religiösen Kontext wird die Rolle des Sabra als ein Neuling der zionistischen Jugendbewegungen und der landwirtschaftli- chen Siedlungen ersichtlich. Er war der Jünger zu Füssen seiner zionisti- schen, hassidischen Rabbiner; der junge Bursche, der der heiligen, zionistischen Sache dient; und der stolze, geliebte Schützling, der zionisti- sche „yeshiva bocher“. Er wurde trainiert, um die Last der heiligen Gebote der Jugendbewegung, der Palmah oder der israelischen Armee (IDF) anzunehmen, und er erfüllte gewissenhaft die hochtrabenden Erwartungen seiner Lehrer. (Almog 1997, 9) Neeman und Almog sind sich beide der Schuldgefühle bewusst, die gegenwärtig das israelische Gewissen durchdringen. Hinsichtlich der Ursache ihrer Entste- hung sind sie jedoch unterschiedlicher Meinung. Für Almog sind es die „Routi- nisierung des Charisma“ und die daraus zwangsläufig resultierende Erosion der revolutionären Leidenschaft, die den Weg für eine ausgleichende Gerechtigkeit für die zuvor Geächteten ebneten: Zeitungsartikel, zeitgenössische Filme und Romane, akademische Bücher und Artikel – sie alle reflektieren die wachsende Tendenz unter den Opfern des Zionismus, Gruppen und Individuen, Wiedergutmachung zu verlangen. Einer nach dem anderem steigen die vom Zionismus Geschä- digten empor – Immigranten arabischer Länder und Überlebende des Holocaust, Palästinenser und israelische Araber, ultraorthodoxe Juden und radikale Feministinnen – und öffnen das Hornissennest der Vergan- genheit, egal, ob real oder imaginär. (Almog 1997, 12) Neemans Verknüpfung der israelischen Schuld mit der Zerstörung der europäi- schen Juden ist weniger deterministisch und stärker historiographisch ausgerichtet. 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 79 Die israelische Öffentlichkeit betrachtet die Geburt des Staates als eine Folge des Holocausts, und dies manchmal in einem Ausmaß, dass der Holocaust zur eigentlichen Ursache der Eigenstaatlichkeit wird. Dieses viel diskutierte historische Zusammentreffen kann an sich die enorme Investierung öffentlicher Schuld in den Holocaust erklären [...] Schuld und ihre soziale Manifestierung in Bezug auf den Holocaust beschäftigen das Kino der Schatten in den 1980er Jahren. (Neeman 1995, 132) Dass es keinen nationalen Konsens über zwei zentrale historische Krisen der 80er Jahre – den Libanonkrieg und die Intifada – gab, ist laut Nurith Gertz Grund dafür, dass der Sabra-Mythos spürbar zu verschwinden begann und das „Cinema of Otherness“ aufkam (Gertz 1992). Somit wagte es eine Serie von Fil- men, verstümmelte und gebrochene männliche Protagonisten zu zeigen, deren mentale und physische Integrität angeschlagen war: eine Problematik, die vor den 80ern kaum angesprochen wurde. In einem dieser Filme, Bell Room (1988), brachte der Regisseur Amos Gutman auf außerordentlich talentierte Weise Homosexuelle, deren Existenz zuvor verleugnet wurde, auf die israeli- sche Leinwand. Sein letztes Werk vor seinem frühzeitigen Tod, Amazing Grace (1992), ist inzwischen zu einem weltweiten Kultfilm der Schwulenge- meinde geworden. „Die Zeit der Zeugnisse“ Diese Offenheit gegenüber dem vormaligen Außenseiter lässt sich auch an der neuen Positionierung des Überlebenden (oder der Kinder des Überlebenden) erkennen, deren Perspektive in Tsippi Troppes Tel Aviv – Berlin (1987) und Elie Cohens Aviya’s Sommer (1988) aufgegriffen wird. Die Aviya’s Sommer zu Grunde liegende „Geschichte eines kleinen Mädchens mit einem seltsamen Namen“, dem in Lacans Terminologie zweimal der Name-des-Vaters eingra- viert wurde (hebräisch: Avi = Mein Vater; Ya = Gott ), war ursprünglich ein Theaterstück für Kinder, das die hohe Dame der israelischen Bühne und Lein- wand, Gila Almagor, geschrieben und aufgeführt hat. Der Text wurde später in verschiedene Sprachen übersetzt und erhielt, wie der Film, internationale Aner- kennung. Mit Cohens Under the Domin Tree (Unter dem Maulbeerbaum) folgten 1995 ein weiteres Buch und ein weiterer Film, die zeigten, wie die jugendliche Aviya in Institutionen aufwächst, die für die Kinder von Überle- benden und für Kinder, die selbst Überlebende sind, bestimmt sind. The Seventh Million von Tom Seveg (1995) – eine Anspielung auf die nach der Shoah 80 Regine-Mihal Friedman montage/av immigrierten Überlebenden – ist kürzlich ins Bewusstsein der Neuen Histori- ker und auch der weniger neuen Historiker gedrungen. Das Thema wurde jedoch zuvor mit künstlerischer Sensibilität aufgegriffen: Wie bereits der israe- lisch-palästinensische Konflikt so wurde auch diese Problematik zuvor schon im Kino angesprochen. Im gleichen Jahr wie Aviya’s Sommer wurde mit Orna Ben-Dors Film Be- cause of that War (1988) eine „Epoche der Zeugnisbekundung“ auf der israe- lischen Leinwand eingeleitet. Diese Zeitspanne hätte mit „The Return of the Voice“ („Die Wiederkehr der Stimme“) umschrieben werden können, um Sho- shana Felmans Artikel über Claude Lanzmanns Shoah aufzugreifen (Felman/ Laub 1992). Mit der Buzuki Musik, dem Rhythmus eines berühmten Popsän- gers, Yehuda Poliker, und den Liedtexten seines Partners, Yaakov Guilad, aus ihrem Album „Ashes and Dust“ drückt Ben-Dors Film ein Gefühl der Abwe- senheit und des Verlustes der zweiten Generation aus. Im Laufe der Zeit wurde die Bedeutung dieser Dokumentation neu eingeschätzt: Paul Celans elliptischer Formel zufolge bahnte sie den Weg für eine Serie von Filmen, in denen Eltern, Verwandte, Bekannte und Freunde über „das was war“ befragt wurden. Lanzmanns Opus Magnum war selbstverständlich der entscheidende, unbe- streitbare Einfluss für Ben-Dor und ihre Nachfolger. Aber während Shoah aus- drücklich die Prozeduren der Vernichtung durch Interviews mit Opfern, Tätern und Zuschauenden hinterfragte, spürten die filmischen Aussagen in Israel den Weg des Über- und Weiterlebens auf. Einige dieser Filme, die durch leichtere und billigere Aufnahmetechniken ermöglicht wurden, ähneln den so genannten Familienfilmen (family movies) und sind Lichtjahre von der Magie des Kinos entfernt, die, nach Jean-Louis Baudry, ein archaisches menschliches Verlangen, das schon in Platons Höhlenmythos aufgezeigt wurde, realisiert hat (vgl. Bau- dry 1994). Spielbergs Schindler’s List(Schindlers Liste, USA 1993) beweist, dass selbst ein Film über den Holocaust dieses tausendjährige Sehnen zu befrie- digen vermag. Gertrud Koch hat jedoch gezeigt, dass Spielbergs Film frühere Filme zu diesem Thema wiederverwertet hat und uns den nötigen effet de réel bietet, indem er uns gibt, was wir zu erwarten gelernt haben (zit. in Hansen 1996, 299). Einige Kritiker des Films haben selbst einen positiven Aspekt strikt abgelehnt: diesen flüchtigen Blick auf die „zwischenräumliche Freiheit“ – die Möglichkeit, die bestehen bleibt, im Bereich des absolut Bösen eine begrenzte moralische Entscheidung zu treffen. Für diese Kritiker konstituiert die gesamte Unternehmung das beste Beispiel für einen „erzählerischen Fetischismus“, der von Eric Santner durch folgende Begriffe definiert wurde: 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 81 Unter erzählerischem Fetischismus verstehe ich die Konstruktion und Anwendung einer Erzählung, die bewusst oder unbewusst so gestaltet ist, dass sie die Spuren des Traumas oder des Verlusts, aus dem diese Erzäh- lung hervorgegangen ist, auslöscht. Die Verwendung der Erzählung als Fetisch könnte mit einem etwas anderen Modus symbolischen Verhaltens kontrastiert werden, den Freud als Trauerarbeit bezeichnet hat. Der Feti- schismus der Erzählung ist wie die Trauer eine Reaktion auf den Verlust, auf eine Vergangenheit, die sich auf Grund ihrer traumatischen Auswir- kung weigert zu verschwinden. Durch symbolische, im Dialog vermittelte Dosen der Erinnerung und Wiederholung wird die Trauerarbeit zu einem Prozess der Aufarbeitung und Integration der Verlustrealität oder der Realität des traumatischen Schocks. Trauerarbeit ist ein Prozess des Über- setzens, der Verbildlichung und des Begreifens von Verlust [...] Der narra- tive Fetischismus hingegen ist die Art, wie die Unfähigkeit oder die Verweigerung zum Trauern traumatische Ereignisse in Erzählungen ver- wandelt. Er ist eine Strategie, die in der Phantasie die Notwendigkeit der Trauer zunichte machen will, indem sie einen Zustand der Unversehrtheit simuliert, typischerweise indem der Ort oder der Ursprung des Verlustes verlegt wird. Der Fetischismus der Erzählung erlöst einen von der Last, seine Selbstidentität unter „posttraumatischen“ Bedingungen rekonstitu- ieren zu müssen [...]. (Santner 1992, 144) Die filmische Zeugenaussage als „Lieu de Deuil“ Santners Reihe binärer Oppositionen nähert sich einer anderen Alternative, die von Freud inspiriert und von Dominick LaCapra vorgebracht wurde. Trauern wird hier als Aufarbeitung betrachtet, Melancholie dagegen als Ausleben. Auch an dieser Stelle besitzt das Ausleben eine mimetische Verbindung zur Vergan- genheit, welche so dargestellt und wieder gelebt wird, als sei sie vollkommen gegenwärtig. Trauern dagegen beinhaltet eine Beziehung zur Vergangenheit, die den Unterschied zum Jetzt erkennt und zu ihm eine bestimmte performative Verbindung aufbaut, die „ein kritisches Urteil und eine Reinvestierung in das Leben, insbesondere in das Sozialleben ermöglicht“ (LaCapra 1998, 43). In seinem Buch History and Memory after Auschwitz (1998) zeigt LaCapra auf überzeugende Weise, dass bestimmte psychologische Begriffe sowohl auf in- dividuelle als auch auf kollektive Phänomene angewendet werden können, wo- bei er darauf achtet, die in allen Gesellschaften erkennbaren, existentiellen und strukturellen Traumata und die spezifischen Eigenschaften historischer Trau- 82 Regine-Mihal Friedman montage/av mata auseinander zu halten. Seine fundamentalen Fragen zur Ausarbeitung der so genannten Lieux de Deuil vertiefen meine eigenen Gedanken bezüglich der Filme der Zeugenschaft: Welche Rolle spielen kleinere face-to-face-Gruppen wie zum Beispiel Hilfsgruppen für Traumaopfer? [...] Können sie als Stätte der Trauer die- nen und darüber hinaus zur Aufarbeiten von Problemen? Können bis zu einem gewissen Grad vielleicht sogar Interviews, Zeugenaussagen wie auch andere Arten des Diskurses, Dialogs und der Debatte – die Historio- graphie miteinbezogen – die Funktion einer solchen Stätte übernehmen? Falls ja, unter welchen Bedingungen? (LaCapra 1998, 44). In den meisten Filmen, die ich nachfolgend noch vorstellen werde, ist die „Über- tragung“ oder die „Situation der Übertragung“, wie sie sowohl von Friedländer als auch von LaCapra beschrieben wird, die gleiche. Im Zentrum all dieser Bestrebungen befinden sich die gefährdete Gegenwart und die bedrohte Exis- tenz des alternden Augenzeugen. Den Überlebenden gegenüber steht der mit- fühlende Interviewer, dessen Empfindungen zwischen totaler Ignoranz und vollkommener Identifikation schwanken können, der aber als einfühlsamer Beobachter eine Art gedämpftes Trauma miterleben kann. In den Worten von Dori Laub: Wenn jemand der Erzählung eines Traumas zuhört, wird er ein Teilneh- mer und ein Mitbesitzer des traumatischen Ereignisses: Durch sein Zuhö- ren wird er teilweise selber einer traumatischen Erfahrung ausgesetzt. Die Beziehung des Opfers zum Trauma wirkt sich deshalb auf die Beziehung des Zuhörers zum Trauma aus, wobei dieser die Verwirrung und Verlet- zung, das Angstgefühl und die Konflikte, die das Traumaopfer fühlt, mit- fühlen wird [...] (1992, 57). Dass die Wissenschaft sich zur Zeit mit Trauma beschäftigt, ist ein Hinweis auf das unvermeidbare Erbe der Trauer, auf das Vermächtnis der Schmerzen dieser „Children of Job“ (Berger 1997), die eine „Narbe ohne Wunde tragen“ (Cohen zit. in Sicher 1998). Es stellt sich die entscheidende Frage, welche Art der Erin- nerung diese Kinder im Vergleich zu den Erinnerungen der Überlebenden her- vorrufen werden. Die in den Filmen der Zeugenaussagen vollzogene Kollabora- tion und Kooperation zwischen den Generationen setzt sich mit diesen verschiedenen Schichten und Arten der Erinnerung, auf die sich die Forschung zum Holocaust unlängst konzentriert hat, auseinander. 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 83 Gewöhnliches Gedächtnis (common memory), Tiefengedächtnis (deep memory), Rememories und Post-Memories Lawrence Langer hat in Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory (1991) eine erweiterte Typologie aufgestellt, die auf den von den Fortunoff Video Archives in Yale gesammelten Berichten von Überlebenden beruht. Langer griff verschiedene Erinnerungen heraus: qualvolle, gedemütigte, beschmutzte und unheldenhafte. Seine bahnbrechende Studie verfeinert in erster Linie die Unter- scheidung zwischen „deep memory“ (Tiefengedächtnis) und „common memory“ (gewöhnlichem Gedächtnis), wie sie die französische Autorin Charlotte Delbo in dem vierten und letzten Teil ihrer Auschwitzerinnerungen vorgenommen hat (1995). Wie Primo Levi so versuchte auch Charlotte Delbo gleich nach ihrer Befreiung aus dem Lager Zeugnis abzulegen, verschob aber dann die Publika- tion der ersten drei Bände ihrer Tetralogie bis in die sechziger Jahre und später. Fast vierzig Jahre nach den Ereignissen zeigt La Memoire et les Jours (1985) ihre späteren Empfindungen. Sie unterscheidet nun zwischen zwei Arten der Erin- nerung: zwischen ihren schmerzlichen Erinnerungen, die in ihrem früheren Buch beschrieben waren, und deren unerwartetem, verwirrendem Wiederer- scheinen und unbewusstem Wiederauftreten in ihren Alpträumen und Visionen (Delbo 1985, 13). La Memoire et les Jours bildet somit die akute Beschreibung eines Traumas oder – in den Worten von Judith Greenberg – von Rememories. Es handelt sich um „paradoxe Situationen, in denen das Ereignis in dem Moment, in dem es stattfindet, – auf Grund der Distanzierung, Betäubung, Eva- kuierung oder des während des traumatischen Moments erfolgenden ‚Verges- sens‘– nicht zugänglich ist, während es nach einer gewissen Zeit von dem Über- lebenden Besitz ergreift“ (Greenberg 1998, 320). Studien über Traumata beschäftigen derzeit die Wissenschaft und haben einen interdisziplinären Dialog gefördert. Dies geschieht wiederum in Folge von Lanzmanns Film Shoah, der in demselben Jahr vollendet wurde, in dem Delbos letztes Werk kurz vor ihrem Tod erschien. Delbo beobachtete auf eine genaue Art und Weise die Schwankungen, unter denen der Überlebende fortwährend leidet: Schwankungen zwischen dem, was Delbo externes oder intellektuelles Gedächtnis nennt, und dem Tiefengedächt- nis, also dem Gedächtnis der Sinne, der physischen Spuren, welche die grauen- haften Visionen lebendig halten. Ihre Schlussfolgerungen veranlassten Langer zu folgender Einschätzung: 84 Regine-Mihal Friedman montage/av Gewöhnliches Gedächtnis besitzt zweierlei Funktionen: es stellt das Selbst im Sinne seiner normalen Routinen vor und nach dem Lager wieder her, aber es bietet auch aus der distanzierten Perspektive der Gegenwart Darstellungen davon, wie es damals gewesen sein musste. Somit zweifelt das Tiefengedächtnis am gewöhnlichen Gedächtnis und ist doch gleich- zeitig von ihm abhängig. Es weiß, was das gewöhnliche Gedächtnis gar nicht wissen kann, aber trotzdem auszudrücken versucht. [...] Gleichzei- tig gräbt das Tiefengedächtnis – häufig in derselben Aussage – unterhalb der Oberfläche der Erzählung, um die Geschehnisse, die die Beschwichti- gung des gewöhnlichen Gedächtnisses unterminieren, hervorzubringen. (Langer 1991, 6) Saul Friedländer ist von der heuristischen Funktion, die die Zeugenaussagen der Überlebenden besitzen, überzeugt. In seinem einflussreichen Artikel Trauma, Memory and Transference fasste er diese wichtige Unterscheidung mit seiner für ihn kennzeichnenden eleganten Präzision wie folgt zusammen: Gewöhnliches Erinnern tendiert dazu, die Kohärenz, das Abschließen und möglicherweise auch eine befreiende Gesinnung wiederherzustellen. Der Versuch, ein kohärentes Selbst aufzubauen, scheitert jedoch auf Grund der unnachgiebigen Wiederkehr des verdrängten Tiefengedächt- nisses. [...] Tiefengedächtnis und gewöhnliches Gedächtnis sind nicht auf- einander reduzierbar. (Friedländer 1994, 253f) Für die späteren Generationen, die sich weder auf direktes Miterleben noch auf persönliche Erinnerung berufen können, sind weitere Begriffe notwendig. Marianne Hirsch stellte hier zum Beispiel ihre Arbeitshypothese der „post-memory“ auf, ein Begriff, den sie intensiv überarbeitet hat, seitdem sie ihn wie folgt definierte: Eine kraftvolle Form der Erinnerung und zwar genau deshalb, weil ihre Verbindung zu ihrem Objekt oder Ursprung nicht durch einen Erinne- rungsprozess sondern durch eine imaginäre Investition und Kreation ver- mittelt wird [...] Post-memory kann all jenen zugeschrieben werden, die unter der Dominanz von Erzählungen aufgewachsen sind, die sich vor ihrer Geburt ereignet haben. Ihre eigenen Geschichten wurden durch die Geschichten der vorherigen Generation ersetzt und somit durch trauma- tische Ereignisse geformt, die weder völlig verstanden noch wieder belebt werden können. (Hirsch 1996, 662) In einem früheren Artikel erscheint Hirsch, die selbst ein Kind Überleben- der ist, darauf bedacht, zwischen Geschichte (history) und den verschiede- 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 85 nen Ebenen des Gedächtnisses, memory und post-memory, scharf zu un- terteilen: Post-memory unterscheidet sich von memory durch eine Distanz der Generation und von Geschichte durch eine tiefe persönliche Verbindung. Post-memory sollte auf memory zurückreflektieren und zeigen, dass diese genauso durch Erzähl- und Imaginationsprozesse konstruiert und ver- mittelt wird. (Hirsch 1992–1993, 8f) Außerdem wird diese neu entdeckte Art des Gedächtnisses heutzutage unaus- weichlich von den so genannten „massenkulturellen Technologien der Erinne- rung“ genährt (Burgoyne 1997, 105), die es Individuen ermöglichen, Gescheh- nisse, die sie nicht durchgemacht haben, so zu erleben, als ob sie ihre eigenen wären. Ein Comicbuch wie Art Spiegelmans Maus: a Survivor´s Tale oder das United States Memorial Museum in Washington bieten für Alison Landsberg eine lebhafte Erfahrung der Vergangenheit, die Subjektivität formen und prägen kann. Das, was sie als einen „erfahrungbasierten Modus“ beschreibt, ergänzt den kognitiven Modus durch Betroffenheit, Sinnlichkeit und Greifbarkeit. Sie hat aus diesem Grund den Begriff „prosthetic memory“ (Prothesengedächtnis) geprägt, um die „öffentlich zirkulierenden Erinnerungen zu beschreiben, die nicht organisch gebunden sind, aber trotzdem mit dem eigenen Körper erlebt werden [...] sie werden wie ein künstliches Glied vom Körper getragen“ (Lands- berg 1997, 66). Choice and Destiny (Wahl und Schicksal, Tsipi Reichenbach, 1993) In den israelischen Filmen der Zeugenaussagen hat sich im Anschluss an Be- cause of that War ein geläufiges Muster ergeben. Die Nachforschung über die Geschichte der überlebenden Eltern vollzieht sich häufig im Rahmen einer Rückkehr zu den traumatischen Stätten des Ursprungs, ob in Polen, Ungarn, Österreich oder Tschechien; indem man zusammen entlang der Via Dolorosa der Vergangenheit geht. Interessanterweise haben sich manche dieser Familien- erzählungen intuitiv an den Rat gehalten, der von Raul Hilberg und später von Claude Lanzmann in einem anderen Kontext gegeben wurde: sie beide legen nahe, sich an das Spezifische, das beiläufige Detail oder die belanglose Tatsache zu halten, um so die Aussage zu befreien (Lanzmann 1990). Tsipi Reibenbach ist dieser Empfehlung mit ihrem Film Choice and Desti- ny (Wahl und Schicksal, 1993) meisterhaft gefolgt. Der Film ist ihren Eltern, 86 Regine-Mihal Friedman montage/av die auch die Hauptprotagonisten sind, gewidmet. Anfangs blicken uns Fruma und Yitzhak Goldberg mit einem leichten Lächeln aus ihrem antiquierten Hochzeitsphoto an. Dann erscheinen beide, nun als fast Achtzigjährige, in ih- rem jetzigen Aussehen in einer Nahaufnahme. Zu diesen ersten Bildern hört man den Klang einer Uhr, die daraufhin gezeigt wird, als sie gerade Sieben schlägt. Fortan wird sie unaufhaltsam den Raum und den Rhythmus des Films bestimmen. Als die Uhr Eins schlägt, essen die Goldbergs zu Mittag; um Sieben hören sie die Radio-Nachrichten und sehen die Nachrichten nochmals um neun im Fernsehen. Am Ende jeder Hauptsequenz steigt Yitzhak auf eine Leiter und zieht die Uhr vorsichtig auf, geht ins Bett und schläft sofort ein. Fruma liegt mit weit geöffneten Augen im Bett und hört die Uhr wiederholt bis in die Nacht hinein schlagen... Zu Beginn des Films ist das alte Paar in seinem altmodischen Wohnzimmer in ein altmodisches Sofa gesunken und lauscht gespannt den Nachrichten aus einer riesigen Radioanlage. Sie berichten vom Besuch des polnischen Premierminis- ters, Lech Walesa, und dessen an das jüdische Volk gerichteten Entschuldigung für die Massenmorde, die zur Zeit der Nazi-Besatzung in seinem Land begangen wurden. Gegenwartsgeschichte betritt das Zimmer, angefüllt mit den schmerzli- chen Erinnerungen dieser Opfer des Holocaust, die zuerst vom Terror der Na- zis und nach dem Krieg vom polnischen Antisemitismus verfolgt wurden. Selbst die Stimme des Sprechers klingt wie ein seltsamer Überrest aus einer anderen Welt: dem zerstörten und für immer verlorenen „Jiddischland“. Eine von Reichenbachs maßgeblichen Entscheidungen ist diese unerwartete Auferstehung der vergessenen Stimme aus dem Exil. Da in Israel nur Hebräisch als offizielle Sprache anerkannt war, wurde Jiddisch lange Zeit stillschweigend vermieden. Später, als Jiddisch wieder in Filmen oder in Liedern gehört werden konnte, wurde es mit dem Alt-Sein, das häufig eine fehlende Integrierung und Entfremdung verkörperte, assoziiert. In Choice and Destiny verwendet die Regisseurin, die selbst noch eine junge Frau ist, als Interviewerin überraschen- derweise die vergangene Sprache ihrer Eltern. Nicht weniger unerwartet, wenn nicht sogar verblüffend wirkt die Entschei- dung der Regisseurin, das tägliche Leben eines betagten Rentnerpaares geduldig zu rekonstruieren, anstatt es einfach nur zu dokumentieren. Wohlüberlegte Er- wägungen sind in das minutiöse Nachspielen des Alltags miteingeflossen, von der Erledigung und Routine der Hausarbeit bis zur Wiederholung gleicher Ges- ten. Mal um mal sitzen sich Fruma and Yitzhak am Küchentisch gegenüber und nehmen das von ihnen zubereitete Essen schweigsam zu sich. Die größte Aufmerksamkeit schenkt der Film jedoch der Vorbereitung der zwei Familienfeste. Größte Sauberkeit und Ordnung herrschen in der Küche 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 87 von Fruma und Yitzhak, in der ein traditionelles Gericht nach dem anderen sorgfältig zubereitet und verfeinert wird. Dieses Szenario deutet die beruhigen- de Wirkung der Ordnung an, was von dem unausweichlichen Klang der Uhr un- terstrichen wird. Später scheint diese behütete Häuslichkeit einen perfekten Hintergrund zu bieten, die notwendige Kontrastwelt zu den verwirrenden Geschichten, die der Vater erzählt. Während er das Schabbat-Brot – Halah und gefilte Fisch – mit sei- ner Großfamilie isst, berichtet Yitzhak seinen Töchtern beispielsweise von den hungernden Hundehaltern in Auschwitz-Birkenau, die zum Tode verurteilt wurden, weil sie das für die Tiere vorgesehene Futter gegessen hatten. Grund- sätzlich berichten die meisten Anekdoten von der Suche nach Essen. Eine eigen- artige Geschichte beschreibt zum Beispiel durstige Gefangene, die bei einem Transport von Auschwitz nach Mauthausen, da sie zuvor gesalzene Dosennah- rung essen mussten, ihren eigenen Urin tauschten. Im Stadtpark, wo gerade seine Enkelkinder spielen, stellt eine weitere Serie von Erinnerungen die Zerstreuung von Yitzhaks Familie dar und erzählt von dessen Transporten zwischen den Konzentrationslagern. Überraschenderweise scheint die Tragödie in seinen Anekdoten zu fehlen, und die Dramatik wirkt ge- dämpft, wenn Yitzhak halb lächelnd und fast auf eine ironische Weise mit einer gleichmäßigen, weichen Stimme zu erzählen beginnt. Häufig tritt ein Hauch schwarzen Humors in Erscheinung wie in der merkwürdigen Geschichte, in der eine Gruppe von Insassen befohlen wurde, das Lager so zu verkleinern, dass die Wachtürme außerhalb der Tore stehen. Gegen Ende ihres Auftrags fanden sich die Häftlinge außerhalb der Tore wieder. Unerwarteterweise entschlossen sie sich aber nicht zu fliehen, denn sie wussten, dass ein solcher Versuch zum Schei- tern verurteilt war. Das Problem der Häftlinge bestand darin, wieder in das La- ger hineinzukommen: Weil niemand es verlassen hatte, konnte auch keinem er- laubt werden, wieder hineinzugehen! An dieser Stelle erwidert Yitzhak den irritierten Fragen seiner Tochter mit kurzen, trockenen Antworten: Man konnte nirgendwo hingehen, weil das Lager nicht von Wald umgeben war! Sich den jüdischen Partisanen anschließen? Sie konnten nur in den Wäldern überleben. Polnische Partisanen? Die jagten eben- falls die flüchtenden Juden... Manchmal ist es unmöglich, das eigenartige Talent des Geschichtenerzählers und das geübte Auge der Regisseurin, mit dem sie die Gelegenheiten ergreift, auseinander zu halten. Später im Film berichtet Yitzhak von den ungarischen Juden, die sich weigerten zu glauben, dass der aus den Kre- matorien aufsteigende Rauch von brennenden Leichen stammt, und die sich vormachten, es handele sich um eine Bäckerei. Er fügt sehr nüchtern hinzu: „Wenn der Rauch weiß war, wussten wir, dass es Frauen waren; bei Männern 88 Regine-Mihal Friedman montage/av war er schwarz. Frauen brannten besser.“ Im gleichen Moment versetzt Fruma dem Karpfen, den sie unter ihrem Küchenhammer festhält, einen überraschen- den Schlag. Wenn seine Tochter an ihren Versuchen festhält zu begreifen, wie er solches Elend überleben konnte, antwortet Yitzhak mit einem einzigen Wort, das er ab- wechselnd auf Jiddisch oder Hebräisch ausspricht und das gleichzeitig Erklä- rung und Bewertung ist: „goral“. Der Begriff ist ein Teil des Filmtitels. Genau- genommen sollte es vielleicht als „Schicksal“ übersetzt werden, was in jüdischer Denkweise soviel bedeutet wie „unabwendbare Existenz“, „absurd und bedeu- tungslos“; wohingegen „Bestimmung“ eine intendierte, sinnvolle und zielge- richtete Existenz meint: also ein Ding der absoluten Unmöglichkeit im Reich des Nazibösen, wo den Opfern niemals eine „Wahl“ gelassen wurde. Dieses Ge- fühl blinden Schicksals wiederholt sich in den meisten Berichten des Vaters, die immer mit einem ultimativen, grausamen Tod enden, den er mit einem knappen „geendigt“, „fertig“ oder manchmal auf hebräisch mit einem „Zehuze“ kom- mentiert: „Das war’s...“ Im Laufe des Films erhalten die rituellen, fast schon zwanghaften Wiederho- lungen einen anderen Charakter, jenseits der zuvor angeblich beruhigenden Normalität. Wenn ihr Mann jeden Tag um Fünf ausgeht, um seine Kumpels zu treffen, schließt sich Fruma im Haus ein, indem sie vorsichtig jedes einzelne der zahlreichen Schlösser an der Vordertür verriegelt. Neben ihren Ängsten und ih- rer Schlaflosigkeit scheint es ihr auch unmöglich, sich auszuruhen und eine Pau- se einzulegen. Während ihr Mann mit weiteren überraschenden Anekdoten und düsteren Geschichten fortfährt, macht Fruma, ohne ein Wort zu sagen, ununter- brochen mit ihrem zwanghaften Reinigen, Waschen, Wischen und Kochen wei- ter: eine umherziehende Stille. Ein- oder zweimal wird gezeigt, wie sie sich hin- setzt, doch ihr auf die Uhr fixierter Blick verrät, dass sie über die noch anstehende Hausarbeit, die nächsten zu erledigenden Aufgaben nachdenkt. Fru- mas Ausdruck, ihre Blicke und ihre Körpersprache beweisen, dass sie intensiv zuhört. Manchmal scheint jedoch eine abweisende Geste oder eine des Zurecht- weisens, wenn nicht sogar des Verzweifelns ihre Versuche zunichte zu machen, in den Erinnerungen ihres Mannes Bedeutung (wieder) zu finden. Der Film endet mit Frumas Aufschrei, als sie die Namen ihrer verlorenen Fa- milienmitglieder nacheinander aufruft. Fruma stellt das Unternehmen ihrer Tochter in Frage, als sie die absolute Enttäuschung ihrer Erwartungen aus- drückt: Für Fruma sollte der filmische Ausflug in die Vergangenheit – Tsipis zweiwöchige Reise nach Polen – eine Möglichkeit darstellen, etwas über das Verschwinden ihrer Verwandten herauszufinden, einen Grabstein zu legen, an dem sie ihre Erinnerung und Trauer ausrichten kann. Die wenigen Bilder des 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 89 „dort drüben“, die die Regisseurin für ihren Film nach Israel zurückgebracht hat, bestätigen jedoch, dass die Toten der Familie, verstreut in den Massengrä- bern von „Toitland Europa“, für immer ohne eine Grabstätte bleiben werden... „Morgen, morgen werde ich dir mehr erzählen“ ist am Ende des Films das uner- füllte Versprechen der alten Dame an ihre Tochter. Die „Alltäglichkeit“, die sture und pingelige Nähe zum Alltagsdetail lässt Choice and Destiny Stück für Stück zu etwas Experimentellem, wenn nicht sogar zu etwas Avantgardistischem werden. Das herrschende Prinzip, die „Do- minante“ im Sinne Jakobsons taucht hier immer wieder als Obzsession für Es- sen, Ordnung und Sauberkeit auf, die angeblich die meisten Überlebenden des Holocaust aufweisen. Zudem veranschaulicht und erläutert es die Schwankung zwischen den zwei verschiedenen Arten des Gedächtnisses, wie sie von Langer und Friedländer analysiert wurden. Die Erinnerungen des Vaters liegen im ge- wöhnlichem Gedächtnis (common memory), das, wie oben zitiert, „das Selbst wiederherstellt, im Sinne seiner normalen Routinen vor und nach dem Lager, aber auch aus der distanzierten Perspektive der Gegenwart Darstellungen bietet in Bezug auf die Frage, wie es damals gewesen war“. Fruma, die Mutter, er- scheint dagegen als Verwahrungsort einer anderen Art des Erinnerns, „das am gewöhnlichen Gedächtnis zweifelt und gleichzeitig von ihm abhängig ist,... das weiß, was das gewöhnliche Gedächtnis gar nicht wissen kann, aber trotzdem versucht, sich auszudrücken [...] Das Tiefengedächtnis gräbt unterhalb der Oberfläche der Erzählung, um die Geschehnisse auszugraben, welche die versi- chernde Ruhe des gewöhnlichen Gedächtnisses unterminieren“ (Langer 1991, 6). In einem späteren Artikel, der von Lyotards Gedanken zu „den Juden“ inspi- riert wurde, bietet Langer – und dies wiederum basierend auf seinem aufmerksa- men Betrachten der Videoaussagen zum Holocaust – mit einer neuen Wahrneh- mung der Zeit eine zusätzliche Erläuterung zu seiner früheren Unterteilung. Er unterscheidet hier zwischen der chronologischen Zeit des gewöhnlichen Ge- dächtnisses und der andauernden Zeit des Tiefengedächtnisses: Niemand kann im Bereich der andauernden Zeit zur Genesung kommen, weil nichts wiedererlangt wird, sondern nur aufgedeckt und wieder zuge- deckt wird, und alles wieder unter dem vergeblichen Versuch der Offen- barung „wie es war“ begraben wird. Erinnerungen an den Holocaust können nicht dazu verwendet werden, den Glauben zu bestätigen, oder mit dem Ziel, abzuschließen oder Klarheit zu erlangen [...] überlebende Opfer sind Zeugen der Unmöglichkeiten ihres damaligen Lebens; wir ten- dieren dazu, diese als Möglichkeiten zu übersetzen, indem wir sie behut- sam in die chronologische Zeit einführen, als Wunden, die geheilt werden 90 Regine-Mihal Friedman montage/av sollen; als Beschimpfungen, die heimgezahlt, oder Tode, die transzendiert und erlöst werden sollen ... Nur durch die „im Anschluss erfolgende“ Erfindung einer mythischen Narrative können wir eine Ausdrucksform rekonstruieren, die ihren Tod von einem Ereignis, das vergessen werden kann (weil es unerträglich ist), in ein unvergessliches verwandelt. Aber dadurch wird die Sprache nur der Stille aufgesetzt; und die Stille selbst wird dadurch nicht erhellt. Lyotard besteht darauf, dass „diese Stille eine Störung des Selbst, sein Auseinanderbrechen, signalisiert“. Und dieses Auseinanderbrechen des Selbst ist ein zentrales und permanentes Ver- mächtnis der Ereignisses, die wir Holocaust nennen [...]. (Langer 1993, 265) Beide Wissenschaftler, Langer und Friedländer, gelangten in abschließender Analyse zu einer zweifachen Schlussfolgerung. Zuerst wird mit den Überleben- den auch ihr Tiefengedächtnis zwangsläufig verloren gehen. Dies bestätigt den Drang der manchmal fehlgeleiteten Versuche der neuen Generation, Beweisma- terial nicht nur zu bergen, sondern sich auch der Misere der damaligen Opfer anzunähern. Zudem gelangen Langer und Friedländer zu ihrer zweiten weitrei- chenden Einschätzung, nämlich dass kein erlösendes Abschließen durch die trostlosen und verzweifelten Zeugenaussagen erwartet werden kann: „Gedächt- nis und Überleben sind für diese Zeugen scheinbar nicht verbunden mit den kathartischen Wiederentdeckungen eines harmonischen Selbst, einer heroischen Erinnerung, eines verbindenden moralischen Prinzips...“ (Friedländer 1994, 255). Friedländer betont im gleichen Artikel, dass in der ganzen jüdischen, histori- schen und historiographischen Tradition auf die Katastrophe immer Erlösung folgte und zwar in einem dialektischen Hurban/Geula. Die Archivaussagen, die von den überlebenden Opfern der Shoah zusammengetragen wurden, unter- stützen diese Annahme jedoch nicht. Friedländer widerlegt die von einigen jüdi- schen Gelehrten vorgebrachte Hypothese, dass in der Folge der dritten Hurban die jüdische Welt dem erlösenden Mythos entgegensieht. Gut fünfzig Jahre nach den Ereignissen scheint kein mythisches Gebilde von der jüdischen Imagination Besitz zu ergreifen; die beste Literatur und Kunst, die sich mit der Shoah beschäftigen, bieten auch keine erlösende Gesinnung [...] In keinem der jüngsten Kunstwerke ist das Fehlen eines Abschlusses offensichtlicher als in Claude Lanzmanns Film Shoah [...] (Friedländer 1994). Israelische Gedenkfilme unterscheiden sich in dieser Hinsicht von den auf Film festgehaltenen Aussagen der verschiedenen Gedenkstiftungen, da sie sich einer 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 91 verzweifelten Schlussfolgerung wie dieser nicht anschließen. Sie sehnen sich sogar nach einem Abschließen als Happy End. Wie das umstrittene Ende von Schindlers Liste zeigen die abschließenden Bilder dieser Filme die erneuerte, vergrößerte Gemeinschaft: sie enden mit einer Versöhnung zwischen den Gene- rationen, mit einer familiären Apotheose. Selbst Reichenbachs Film kann sich diesem Appell an die Hoffnung nicht ent- ziehen, trotz oder gerade wegen des letzten Verzweiflungsrufs ihrer Mutter. Fruma ist sich nun des letztendlichen Verlusts ihrer Erwartungen bewusst, staunt aber darüber, dass sie in der Lage ist – in den Worten von Sara R. Horo- witz (1997) – „der Leere eine Stimme zu geben“. Der Film endet mit dem Stun- denschlag der Uhr und bringt Fruma so wieder in die chronologische Zeit zu- rück, da wir sie, was höchst unwahrscheinlich ist, dabei sehen, wie sie ihre Augen schließt und die Fähigkeit einzuschlafen wiedererlangt. Eine Trilogie des Überlebens Als Reichenbachs Choice and Destiny 1993 auf der Berlinale erstmals gezeigt wurde, beurteilte man ihren Versuch der Schließung als naiv. Ihr nächstes Werk Three Sisters (Drei Schwestern, 1998), eine Fortsetzung von Choice and Destiny, hat sich jedoch darauf konzentriert, die Veränderung, die in ihrer Mutter stattgefunden hat, zu untermauern. Three Sisters beginnt wie Choice and Destiny mit einer Photographie: einem Schnappschuss dreier lächelnder junger Frauen, der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen wurde. Dann sitzt Fruma noch einmal an ihrem Küchentisch, diesmal serviert sie jedoch weder Mahlzeiten, noch füllt sie kreppalah mit Hackfleisch. Konzentriert wie eine junge Schülerin schreibt sie unermüdlich ihre Memoiren nieder, eine Auf- gabe, der sie während des gesamten Films nachgeht. Vier Jahre sind vergangen, und Fruma hat inzwischen eine Metamorphose durchgemacht. Sie schaut ele- gant aus und wirkt selbstbewusster. Sie ist diejenige, die die Familie zu leiten scheint: so kümmert sie sich zum Beispiel um den Arzt ihres Mannes, da sich Yitzhak, geschwächt und weniger redsam, einer Operation unterziehen musste. Von dieser Szene an ist der Film in eine melancholische Stimmung getaucht, die stark an Krankheit, Altern und Verfall erinnert. Anhand von Frumas vielen Telefongesprächen mit ihren beiden Schwestern – das Telefon übernimmt hier die Rolle der Uhr in Choice and Destiny – wird offenbar, dass ihre älteste Schwester Carola in dem Alterswohnheim, in dem sie seit einem Jahr lebt, unglücklich ist und zu Depressionsanfällen neigt. Später im Film wird sie versu- chen, sich umzubringen. Esther, die jüngste Schwester, besucht regelmäßig 92 Regine-Mihal Friedman montage/av ihren bettlägerigen, halb gelähmten Mann Izhar in einem Krankenhaus, pflegt ihn, wäscht ihn und müht sich damit ab, seinen steifen Körper zu bekleiden. Reichenbach zeigt, wie ihre Tante Esther an den Strand geht. Sie spielt damit wieder mit einem Kontrasteffekt. Am Strand genießt Esther in vollen Zügen das Sonnenbaden unter den spielenden, jungen Leuten. Indem wir ihre Sichtweise annehmen, ist es möglich, ihr Bewusstsein ihres eigenen körperlichen Verfalls nachzufühlen – ein Verfall, der dadurch beschleunigt wird, dass sie im Konzen- trationslager, wo sie als Dreizehnjährige eingeliefert wurde, stundenlang ste- hend arbeiten musste, was in ihren angeschwollenen Beinen Krampfadern ver- ursachte. Nun drückt Esther ihren Zorn und ihre Empörung darüber aus, alt geworden zu sein, und umso mehr verhält sie sich wie die hübsche, attraktive und sogar kesse Frau, die sie einstmals gewesen sein muss. Die Familienbilder, über die Esther mit ihrer Nichte spricht, nachdem ihr Mann während der Dreharbeiten zum Film verstarb, belegen diesen Einblick. Sie bestätigen Jean Cocteaus Aphorismus, dass Photographien den Tod bei der Arbeit zeigen. In diesem zweiten Teil des von der Tochter konzipierten Tripty- chons ist Yitzhak nicht mehr der ergreifende Geschichtenerzähler, der von den unzähligen, im Dunkeln verbliebenen Holocaustgeschichten berichtet. „Der längste Schatten“ spielt dennoch eine große Rolle und beeinflusst die Schicksale aller im Film. Esthers auf Hebräisch (und nicht Jiddisch) erzählte Familienge- schichten beziehen sich nicht direkt auf den Holocaust: Sie berichten von uner- widerter Liebe, verpassten Chancen, verbrauchtem Leben. Interessanterweise wird Tsipi Reichenbachs Œuvre, indem sie die Lebenslinien ihrer nächsten Ver- wandten in all ihren Details zusammenbringt, zu einer Erzählung der Auflö- sung, des Trauerns und des Verlusts mit weit reichender, ja sogar universeller Anziehungskraft. Es ist also höchst bedeutsam, dass sie das einzige Mal ihre drei Schwestern zusammen am Grab von Izhar zeigt. Reichenbach beabsichtigte den letzten Teil ihrer Trilogie jenen Kindern zu widmen, die wie sie mit ihren überlebenden Eltern immigriert sind und das Ver- sprochene Land in den Jahren nach der Staatsgründung erreicht haben. Bei ihrer Ankunft konnten die neuen Immigranten nicht selbst wählen, wo sie leben möchten, da ihnen ihre neuen Wohnorte von den Behörden zugeteilt wurden. Für ihren Film kam Reichenbach nach Lydda zurück, wo sie aufgewachsen ist und wo ihre Eltern kleine, einfache Häuser bewohnten, die für die Massenimmi- gration der 50er Jahre gebaut wurden. In Choice and Destiny ist es kein Zu- fall, dass Fruma das Fenster in dem Moment öffnet oder sich um die Blumen auf dem Balkon kümmert, in dem die Stimme des Muezzins diesen geschlossenen Wohnbereich durchdringen kann, einen Wohnbereich, der von einer merkwür- digen Kombination aus mitteleuropäischem, kleinbürgerlichem Geschmack 11/1/2002 Generationen der Folgezeit 93 und dem funktionalen (Mangel an) Stil des israelischen Urbanismus bestimmt wird. Nur einmal verlässt Fruma im Film den geschützten Bereich ihres Hauses und geht mit ihrem Mann zum Markt, und nur ein einziges Mal entdecken wir in dieser Szene jenseits der gräulichen Zementklötze der Wohnsiedlung die Mo- scheen und Türme einer alten arabischen Stadt. Während das alte Paar behutsam das Gemüse und die farbenfrohen Früchte, die sie für ihre jiddische Küche be- nötigen, auswählt, unterhalten sich die anderem lautstark auf Arabisch, und es erklingt orientalische Musik. Diese unbehagliche Begegnung zweier Welten, diese problematische Kreuzung in einem Altneuland, bildet einen Brennpunkt, den Reichenbach in ihren zwei vorhergegangenen Filmen, die sie den Überres- ten einer verlorenen Kultur gewidmet hat, nicht anschneiden konnte. Darin be- steht jedoch die Herausforderung, die sie demnächst in ihrem neuen Werk unter dem Arbeitstitel City without Pity aufgreifen wird. Tsipi Reichenbach hat mit Marianne Hirsch gemeinsam, was diese einflussrei- che Wissenschaftlerin als „intersubjektiven, generationsübergreifenden Erinne- rungsraum bezeichnet, der ausdrücklich mit kulturellem und kollektivem Trau- ma verbunden ist. Dieser Raum wird durch eine Identifikation mit dem Opfer oder mit dem Zeugen des Traumas bestimmt“ (Hirsch 2001, 10). Was in dieser letzten Umformulierung der Idee der post-memory meine Aufmerksamkeit er- regte, ist das umfassende Verlangen, das diese Positionierung fordert: Es ist die Frage, ob die traumatischen Erfahrungen – und somit auch die Erinnerungen – von anderen als eine Erfahrungen so angenommen wer- den, als ob man sie selbst erlebt hat, und sie dadurch in seine eigene Lebensgeschichte eingraviert. Es ist zudem die konkretere Frage der ethi- schen Beziehung zu dem unterdrückten oder verfolgten Anderen, für die post-memory als ein Modell dienen kann: da ich mich der Erinnerungen meiner Eltern „entsinne“, kann ich mich auch der Leiden der anderen „entsinnen“... (Hirsch 2001, 10). In unserer gegenwärtigen Situation – ich beende diese Studie im April 2002 – ist eine dringende Frage notwendig: „wie kann sich eine Identifikation der Beschlagnahmung und Vereinigung widersetzen, wie kann sie es vermeiden, die Distanz zwischen dem Selbst und den anderen, also das Anderssein des anderen, auszulöschen“? (Hirsch 2001, 11) 94 Regine-Mihal Friedman montage/av Literatur Almog, Oz (1997) The End of the Sabra Myth and the Decline of Zionist Theo- logy. In: Israel Studies Bulletin 13, 1, S. 8–15. Baudry, Jean-Louis (1994) Das Dispositiv : Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Psyche 48, 11, S. 1047–1074. Berger, Alan L. (1997) Children of Job: American Second-Generation Witnesses to the Holocaust. Albany: State University of New York Press. Burgoyne, Robert (1997) Film-Nation: Hollywood Looks at U.S. History. Min- neapolis: University of Minnesota Press. Celan, Paul (1996) Aschenglorie [1967]. In: Ders. Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. 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So sind Bewegung und Zeit, Gedächtnis und Erinnerung, letztere vor allem als zentrale Kategorien des Zeit- Bildes, visuell verfasste Denkfiguren, die in der Moderne vor allem vom Film hervorgebracht werden können. Dieser bringt nicht nur zur Anschauung, was woanders gedacht wird, sondern ist nach Deleuze gleichsam Teil einer visuell verfassten Ontologie. In diesem Sinne sind Regisseure dann auch Philosophen, auch wenn sie nicht in Begriffen, sondern in Bild- und Tonfiguren denken. Zugleich bietet der Ansatz von Deleuze aber auch eine Filmtheorie, da er aus den verschiedenen Einzelwerken der Filmgeschichte Bildtypen gewinnt, die den Film als Medium ästhetisch konstituieren und prägen. Die Bildtypen sind aber selbst bewegliche Figuren, ihre Modifikationen, Variationen und Schichtungen beschreibt Deleuze als eine Form evolutionärer Entwicklung. Die auffälligste Veränderung, die Deleuze in diesem Zusammenhang aufgreift, ist der Übergang vom Bewegungsbild zum Zeitbild1, der mit der Durchsetzung des modernen Films eng verbunden ist. Dieser ist vor allem durch die Schaffung von Erinne- rungs- und Gedächtnisbildern gekennzeichnet, die vom modernen Autorenfilm freigelegt worden sind, der damit zugleich die Unterordnung der Zeit unter die Bewegung und den Raum, die den klassischen Film charakterisiert, beseitigt hat. Es muss allerdings immer berücksichtigt werden, dass der moderne Film nicht 1 Als Bewegungs-Bild und Zeit-Bild bezeichne ich die Bücher von Deleuze. Wenn von Bewe- gungsbild und Zeitbild die Rede ist, dann geht es um die Bildtypen. 98 Oliver Fahle montage/av umstandslos mit dem Zeitbild gleichzusetzen ist, auch wenn sich letzteres durch die Werke des europäischen Autorenfilms am besten begreifen lässt. Zwar ent- wirft Deleuze vor allem in den letzten Kapiteln des ersten Bandes das Aktions- bild (1989, 193 ff), das vage mit dem klassischen Erzählfilm identifiziert werden kann, als Gegenpart für die neuen Bildtypen, dennoch liegt hier keine klare lineare Entwicklung vor. Das heißt etwa, dass sich auch in so genannten klassi- schen Filmen Zeitbilder finden lassen, ebenso wie die vom Bewegungsbild her- vorgebrachten Bildtypen auch im modernen Film weiter entwickelt werden.2 Kurz: ein Kennzeichen der Filmphilosophie und -theorie besteht gerade darin, dass jeder Film von neuem verschiedene visuelle Konzepte aktivieren und kom- binieren kann. Auch deshalb bleibt der Ansatz von Deleuze darauf angewiesen, dass seine Klassifikationen nicht nur von Filmen ausgehen, sondern immer wie- der zu ihnen zurückkehren, um sich nicht in normativem Idealismus zu ver- flüchtigen. Um zunächst die Grundlagen der Kategorien Erinnerung und Gedächtnis im Sinne Deleuzes nachvollziehbar zu machen, sollen die entschei- denden Ideen der zeitlichen Verfasstheit von Film, die Deleuze entwirft, darge- stellt werden. Dabei steht die theoretische Konstruktion von Erinnerung und Vergangenheit im Rahmen des Zeit-Bildes im Vordergrund. Da der Schwer- punkt auf der Erläuterung des theoretischen Modells liegt, werden Filmbeispiele hier nur kurz herangezogen. Im vierten Kapitel sollen dann beispielhaft Be- schreibungen der audiovisuellen Texte folgen, die Erinnerungs- und Gedächt- nisbilder kreieren und von Deleuze nur sehr knapp angeführt werden. Dabei werden zwei Sequenzen aus den Filmen Il Gattopardo (Der Leopard, Ita- lien 1963) und Senso (Sehnsucht, Italien 1954) von Luchino Visconti herange- zogen. Schließlich soll der letzte Abschnitt ein Ausblick auf ein aktuelles Bei- spiel – On connaît la chanson (Das Leben ist ein Chanson, Frankreich 1997) von Alain Resnais – geben. Anhand der Interpretationen soll zum einen verdeutlicht werden, inwiefern der Film bei Deleuze konkret von Zeiterfah- rung, Erinnerung und Gedächtnis her gedacht und begriffen werden kann, zum anderen kann das Ineinandergreifen von Philosophie, Theorie und Analyse neue Dimensionen der Ästhetik und Poetik des Films aufzeigen. 2 Zur Bedeutung der Entwicklung der Bildtypen bei Deleuze auch über den Film hinaus vgl. Fahle/Engell 1997. 11/1/2002 Zeitspaltungen 99 Die zeitliche Verfasstheit des Films Film ist in weiten Teilen eine erzählende Kunst. Die gängige zeitliche Struktu- rierung der Erzählung ist die Aufteilung in Anfang, Mitte und Ende. Daher fol- gen Filme weitgehend einem sukzessiven Erzählmodus, der die Komponenten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander hält und nach dem Sehen eines Films auch bestimmbar macht. Dieses Modell der Sukzession kann als modalzeitliches Modell bezeichnet werden (Schaub 2000). So funktioniert auch das Aktionsbild, welches eine zentrale filmische Form im von Deleuze so genannten Bewegungsbild ist. Das Aktionsbild beruht im Wesentlichen auf sich bedingenden, vor allem kausalen Relationen, also etwa Aktion-Reaktion oder Milieu-Verhalten, die eine sukzessive Erzählform nahe legen. Die so entstehen- den „realistischen“ Bewegungsabläufe nennt Deleuze auch den senso-motori- schen Zusammenhang, da auf die Wahrnehmung einer Situation eine konkrete Reaktion erfolgt (1989, 193 ff). Vor allem der amerikanische Film hat diesen Bildtyp zur Vollendung gebracht. In dieser Form, so Deleuze, ist die Zeit noch der Bewegung untergeordnet. Natürlich hat der Film recht früh schon Möglich- keiten geschaffen, Erinnerung darzustellen, Vergangenheit also in die Gegen- wart einzuschalten. Das geläufige filmische Mittel dafür ist die Rückblende, die Erinnerung normalerweise als subjektive Vorstellung eines Protagonisten oder als Ausschnitt in die bestehende Erzählung einfügt, um die Zuschauer über die Vergangenheit in Kenntnis zu setzen. In diesen Erinnerungsbildern wird aber die eigentlich sukzessive Erzählweise nicht außer Kraft gesetzt, da der Rück- blick filmisch kenntlich gemacht und die Handlung an der unterbrochenen Stelle wieder aufgenommen wird. Eine entscheidende Wendung erfährt die Konstruktion von Erinnerung im Film, wenn sie nun teilweise autonom wird, sich von dem Gedächtnis des Subjekts oder der bereits erzählten Geschehnisse absetzt und eine eigene Qualität erhält, die sich nicht mehr in den Bewegungen der Gegenwart fortsetzt. In diesem Fall wären Erinnerung und Gedächtnis eigenständige Momente, die nicht mehr in der Sukzessionslogik des Films auf- gingen. Die Organisation der Bilder im Film wäre dann nicht mehr sukzessiv und kausallogisch, sondern simultan, als Durchdringung von Schichten zu begreifen. Solche Bildtypen versucht Deleuze im ersten Teil des Zeit-Bildes zu bestim- men, wobei er eine Reihe von modernen Filmen als Beleg anführt. Deleuze ver- sucht deutlich zu machen, dass die von der Filmgeschichtsschreibung immer wieder herausgehobene historische Neuorientierung des Mediums, die sich zur Zeit des Neorealismus schon andeutete, entscheidend mit der Krise des Ak- tionsbildes zusammenhängt. Die optischen und akustischen Situationen, die 100 Oliver Fahle montage/av Deleuze im ersten Kapitel des Zeit-Bildes beschreibt (1991, 11 ff) reflektieren die Unmöglichkeit, filmische Situationen in die von der Narration gewohnten sensomotorischen Bewegungsautomatismen aufzulösen. Dabei verwischen sich auch einige für die Beschreibung des Aktionsbildes wichtige Unterscheidungen, etwa zwischen Subjekt und Objekt, Realem und Imaginärem, Realität und Traum, Realem und Schauspiel. Deleuze denkt hier vor allem an die Filme der Nouvelle Vague sowie an die italienischen Filme des Post-Neorealismus (Anto- nioni, Fellini, Visconti). Aber auch in Hinblick auf ganz andere Entwürfe wie das amerikanische Musical oder den Slapstick beschreibt das Zeit-Bild neue Konstellationen, obwohl diese Genres erst am Übergang zu den neuen Bildmo- di stehen. So beruht das Musical unter anderem auf der Delokalisierung von Be- wegungen und schafft bruchlos den Übergang zwischen verschiedenen Ebenen erzählerischer Darstellung (Realität und Schauspiel, vgl. Deleuze 1991, 85 ff). Da Empfindungen und Wahrnehmungen also gleichsam von ihrem motorischen Wiedererkennen und Weiterführen abgeschnitten sind, müssen neue Bilderord- nungen und -verkettungen gesucht werden. Diese findet Deleuze in der Zeit. Wenn die Bewegungen blockiert sind, dann folgt das Eintauchen in die Zeit, denn dort, genauer in den Regionen der Vergangenheit, haben diskontinuierli- che Bildverbindungen ihren Platz. Über die modernen europäischen Filme schreibt Deleuze, dass sie alle ein zeitliches „Panorama“ bilden, ein instabiles En- semble von freischwebenden Erinnerungen und Bildern einer Ver- gangenheit im Allgemeinen, die in schwindelerregendem Tempo vorüberziehen, als ob die Zeit eine tiefgründige Freiheit gewinnen würde. Man könnte sagen, dass auf die Bewegungsunfähigkeit der Personen eine allseitige und anarchische Mobilisierung der Ver- gangenheit antwortet. (Deleuze 1991, 79) Die philosophische Fundierung dieses Ansatzes von Erinnerung und Gedächt- nis findet Deleuze vor allem bei Henri Bergson. Ein kurzer Rekurs auf Bergson ist nötig, um die Konzeption und Ausweitung der Zeitbilder in Hinsicht auf den Film zu verstehen. Bergson steht bereits im ersten Band Pate für die theoretische Konzeption des Bewegungs-Bildes. Er hatte behauptet, dass Bewegung stets eine kontinuierliche und damit unteilbare Verlaufsform bilde und deshalb nicht auf einzelne Punkte des durchmessenen Raumes zurückgeführt werden könne. Deleuze hat diesen philosophischen Gedanken als Grundlage des Films interpretiert, denn Film ist vor allem aus diesem Grund das Medium der Dauer (wie Bergson diese kontinu- ierliche Form der Bewegung nennt) bzw. der unteilbaren Bewegung. Die Zu- 11/1/2002 Zeitspaltungen 101 sammensetzung aus Einzelbildern oder die Schnitte sind für Deleuze kein Argu- ment dagegen, weil die Bilder bereits in Hinblick auf Bewegung aufgenommen worden sind und für das Auge des Betrachters auch nur als solche vorhanden sind. Montage ist im Film daher kein starrer, sondern ein beweglicher Schnitt (1989, 16). Besonders in den zwanziger Jahren ist mit der extremen Mobilität des filmischen Bildes in den deutschen, französischen3 und sowjetischen Filmen ex- perimentiert worden. Bergson liefert aber nach Deleuze nicht nur die Fundie- rung des Bewegungs-Bildes, sondern eben auch des Zeit-Bildes. Bergson hatte sich in Materie und Gedächtnis (1896) mit dem Zusammenhang von Wahrnehmung einerseits und Erinnerung sowie Gedächtnis andererseits auseinandergesetzt. Er war zu der Auffassung gelangt, dass Wahrnehmung und Gedächtnis zwei verschiedene Elemente darstellen, die zwar in bestimmten Mo- menten interagieren, grundsätzlich aber verschiedene Funktionsbereiche dar- stellen, die jeweils für sich existieren. Während die Wahrnehmung zuvorderst in der Materie agiert, also beständig Ausschnitte aus der uns umgebenden Welt herstellt, ist das Gedächtnis ein geistiger Apparat, der das Vergangene speichert und aufbewahrt. Natürlich ist das, wie Bergson selbst zugibt, eine sehr theoreti- sche Konstruktion, reichen doch in unsere aktuelle Wahrnehmung stets Erinne- rungen hinein, sonst könnten wir kaum überleben. Die Pointe Bergsons besteht aber darin, Erinnerungen und Gedächtnis nicht als bloße Zulieferer der Wahr- nehmung zu betrachten, sondern sie als eigenständige Welten zu begreifen, die diesseits aller aktuellen Handlungsanforderungen eine eigenständige Sphäre ausbilden. Philosophisch gesprochen heißt dies, dass Bergson das Gedächtnis ontologisiert, ihm einen eigenen Seinsstatus zukommen lässt (Bergson 1991, Vorwort von Erik Oger, xxxvii). Das Gedächtnis ist ein Ort der Organisation von Bildern der Vergangenheit, in dem man sich gewissermaßen einrichten kann, und der Film, so Deleuze, ist das Medium zur ästhetischen Erforschung dieses Bereichs. Entsprechend ist auch die Erinnerung konstruiert. Die Form der Erinnerung, die der Wahrnehmung im täglichen Vollzug zu Hilfe kommt, nennt Bergson automatische oder habituelle Erinnerung (mémoire-habitude). Hier sind die Unterschiede zwischen Wahrnehmung oder Erinnerung kaum er- kennbar, gewohnte Bewegungsmechanismen wiederholen sich. Eine wichtigere Form ist die so genannte attentive Erinnerung (mémoire-souvenir), die, zu- nächst noch ausgehend von einer aktuellen Wahrnehmung, gleichsam eine Ei- gendynamik von Erinnerungsbildern entfaltet und diese in einen Kreislauf hin- einzieht, der sich von der momentanen Wahrnehmung ablöst (Bergson 1991, 3 Zur Bedeutung der Bewegung im französischen Film der zwanziger Jahre vgl. Fahle 2000, 33 ff. und 169 ff. 102 Oliver Fahle montage/av 71). Das aktuelle Bild ist auch hier in Beziehung zu einem Erinnerungsbild ge- treten. Anstatt aber das Erinnerungsbild wieder auf die aktuelle Situation zu- rück zu beziehen – wie es bei der Rückblende der Fall ist – entsteht im Zeit-Bild gleichsam eine Bewegung in die Zeit und das Gedächtnis hinein. Dort sind dann neuartige Verbindungen von Bildern möglich, die nicht mehr dem aktuellen Vollzug oder dem sensomotorischem Schema gehorchen. Erinnerungsbilder sind also Scharniere, denn einerseits können sie aktualisiert werden, um eine ge- genwärtige Wahrnehmungssituation zu unterstützen, andererseits sind sie ei- gentlich virtualisiert, nämlich in den Tiefen des Gedächtnisses abgespeichert. Um zu verstehen, wie sich die Kreisläufe der Erinnerung und das Gedächtnis – und damit die Zeit selbst – bilden, muss man eine grundlegende Idee der Zeitauf- fassung aufgreifen, die Deleuze bei Bergson findet, die er allerdings stärker her- vorhebt als dieser es getan hatte. Kristallbilder Zeit, sagt Deleuze, teilt sich immer in zwei Momente, den „der vorübergehen- den Gegenwarten und den der sich bewahrenden Vergangenheiten. Die Zeit lässt die Gegenwart vorübergehen und bewahrt zugleich die Vergangenheit in sich“ (1991, 132). Das heißt, der eigentliche Grund der Zeit liegt in der Zeitspal- tung. Jeder Moment enthält gleichsam zwei Bilder, eines das vorüberzieht und ein anderes, das aufbewahrt wird. Deleuze nennt die zwei Momente der Spal- tung aktuell und virtuell, und im Kristallbild, dem grundlegenden Zeitbild im Zeit-Bild, wird diese Spaltung und gleichzeitige Zusammengehörigkeit von Aktuellem und Virtuellem sichtbar. Die Erinnerung (im Film: die Erinnerungs- bilder) führt uns zu diesem Zusammenhang von Aktuellem und Virtuellem zurück. Ruft eine aktuelle Wahrnehmung eine Erinnerung hervor, können wir uns soweit in die reine Vergangenheit zurück versetzen, dass eine Grenze zwi- schen aktuellem und virtuellem Bild erreicht wird, die uns Spaltung und Zusam- menhang vergegenwärtigt. Bergson, dem es mehr darum geht zu beschreiben, wie reine Erinnerung einen Zusammenhang mit aktueller Wahrnehmung ausbil- den kann, beschreibt es so: Immer wenn es sich darum handelt, eine Erinnerung wiederzufin- den, eine Periode unserer Geschichte wachzurufen, haben wir das Bewusstsein von einem Vorgang sui generis, durch welchen wir uns von der Gegenwart loslösen, um uns erst einmal ganz allge- mein in die Vergangenheit, dann in eine bestimmte Region der Vergangenheit zurückzuversetzen: ein probierendes Herumtasten 11/1/2002 Zeitspaltungen 103 ähnlich wie beim Einstellen eines photographischen Apparates. Unsere Erinnerung bleibt aber dabei noch virtuell; wir machen uns lediglich geschickt, sie zu empfangen, indem wir die geeignete Haltung einnehmen. Nach und nach erscheint sie wie ein dichter werdender Nebel; vom virtuellen geht sie in den aktuellen Zustand über; und je schärfer ihre Umrisse, je fertiger ihre Oberflächen werden, um so mehr neigt sie, die Wahrnehmung nachzuahmen. Aber sie bleibt der Vergangenheit durch ihre Wurzeln in der Tiefe verhaftet, und wenn sie einmal realisiert, nicht das Gepräge ihrer ursprünglichen Virtualität behielte, wenn sie nicht, obgleich ein gegenwärtiger Zustand, etwas wäre, was grell gegen die Gegen- wart absticht, würden wir sie niemals als eine Erinnerung erken- nen. (Bergson 1991, 127) Das Kristallbild ist nun nach Deleuze die filmische Form, in der diese Verdopp- lung des Bildes erscheint, die „Koaleszenz von Aktuellem und Virtuellem“ und ihr Austausch bis zur Unkenntlichkeit. Die Spiegelbilder in Orson Welles’ The Lady from Shanghai (Die Lady von Shanghai, USA 1947), in denen nicht mehr zu erkennen ist, was wirklich und was gespiegelt ist, führt Deleuze hier als Beispiel an. Im Rahmen eines Films muss es nun nicht bei einzelnen Kristallbil- dern bleiben, denn die Bilder können stets neue Verzweigungen und Kreisläufe der Erinnerung ausbilden oder auch mehrere parallel bestehen lassen. Deleuze bestimmt nun zwei entscheidende Formen von Kristallbildern. Die eine siedelt er direkt in der Vergangenheit an, die andere in der Gegenwart. Beide Formen ergeben sich folgerichtig aus den bislang dargelegten Ansätzen. Die Bil- der der Vergangenheit, die erste Form, bezeichnen die Versetzung in die reine Er- innerung, die Deleuze mit Bergson als eigenständigen, das heißt von Gegenwarts- funktionen unabhängigen Bereich bestimmt hatte. Das Hineinversetzen in die Erinnerung liefert aber nun keine vorrangig chronologische Ordnung mehr, son- dern simultane Bilderfolgen, denn nur aus der Sicht eines auf Handlung ausge- richteten Gegenwartsbewusstseins wird die Zeit sukzessiv begriffen. Aktuelle Wahrnehmung, so sagt Bergson, orientiert sich damit auch in räumlichen Verhält- nissen. Sucht man aber die Erinnerung in ihrem eigenen Bereich auf, dann ordnen sich die Bilder nicht mehr nach räumlichen, sondern rein zeitlichen Gesichts- punkten. Diese Befreiung der Zeit vom Raum ist entscheidend für das Verständnis des philosophischen Ansatzes von Deleuze. Die reine Erinnerung oder das Ge- dächtnis sind genau solche reinen Zeitbilder, in denen die verschiedenen Bilder koexistieren, anstatt aufeinander zu folgen. In der reinen Erinnerung gibt es keine Bewegungsautomatismen, sondern Regionen, Sedimente und Schichten: 104 Oliver Fahle montage/av Jede Region mit ihren Eigenschaften, ihren „Schattierungen“, ihren „Aspekten“, ihren „Singularitäten“, ihren „Glanzpunkten“, ihren „Do- minanten“. Je nachdem welcher Natur die Erinnerung ist, der wir nachge- hen, müssen wir in den einen oder anderen Kreis springen. Selbstverständ- lich erwecken diese Regionen (meine Kindheit, meine Jugend, meine Reife usw.) den Anschein des Aufeinanderfolgens. Doch sie folgen aufeinander nur aus dem Blickwinkel der früheren Gegenwarten, die die Grenze einer jeden markieren. Dagegen koexistieren sie aus dem Blickwinkel der aktu- ellen Gegenwart, die jedes Mal ihre gemeinsame Grenze oder die am engs- ten zusammengezogene von ihnen repräsentiert. (1991, 133) Die prominentesten – gleichsam schulmäßigen – filmischen Beispiele hierfür sind Orson Welles’ Citizen Kane (USA 1941) und Alain Resnais’ L’Année dernière à Marienbad (Letztes Jahr in Marienbad, Frankreich 1961). In beiden Filmen wird ein eigener Erinnerungsraum entfaltet, der sich von gegen- wärtiger Situierung (die in Welles’ Film durch den Reporter und die Frage nach Rosebud noch aufrechterhalten wird, bei Resnais aber verloren geht, weil kein Bild Aufschluss darüber gibt, auf welcher Zeitebene die Erzählung sich befin- det) absetzt und ein eigenes Erforschen der Vergangenheit mit sich bringt. Es geht weniger um Erklärung der Gegenwart als um ein Durchstreifen der Ver- gangenheit, die verschiedene, auch widersprüchliche Versionen des gleichen Ereignisses hervorbringt (in Cititzen Kane geht es um Kanes Verhalten, in L’Année dernière à Marienbad um ein Zusammentreffen der Protagonisten im letzten Jahr, das von einem behauptet, vom anderen bestritten wird). Gedächtnis ist hier zu einem autonomen deaktualisiertem Bilderraum gewor- den, es sind Anordnungen einer achronologischen Zeit. Die zweite Form, die Zeitbilder der Gegenwart, sind direkter Ausdruck der oben dargelegten Spaltung der Zeit. Um ein Ereignis zu verstehen, gehen wir nor- malerweise davon aus, dass es eine Gegenwart hat, die sich von seiner Vergangen- heit und Zukunft unterscheidet. Dies aber ist, so Deleuze, eine Sicht auf das Ereig- nis, die ebenfalls im Wesentlichen den Zeitbegriff an räumliche Vorstellungen bindet. Man kann Zeit nämlich auch als Gleichzeitigkeit von Gegenwart der Ver- gangenheit und Gegenwart der Gegenwart und sogar von Gegenwart der Zukunft verstehen, denn, wie oben dargelegt, ereignet sich Zeit ja gerade an dem Schnitt- punkt von Bewahren und Vorübergehen. Es geht dann nicht um das Bewahrte oder das Vorübergegangene, sondern um beides zugleich. Das eigentliche Ereig- nis enthält mehrere zeitliche Momente zugleich, die in der geläufigen Vorstellung nacheinander ablaufen, es zieht also diese verschiedenen Momente zu einem Er- eignis zusammen. Deshalb kann Deleuze sagen, dass 11/1/2002 Zeitspaltungen 105 die Zeitspanne des Ereignisses endigt, bevor das Ereignis endigt. [...] Man entdeckt eine dem Ereignis innerliche Zeit, die sich aus der Simultaneität dieser drei impliziten Gegenwarten zusammensetzt, dieser de-aktuali- sierten Spitzen der Gegenwart. (Deleuze 1991, 135) Für die Filmtheorie ist diese über die Zeit definierte Paradoxie deshalb beson- ders wichtig, weil es die Möglichkeiten, die in vielen modernen Filmen entfaltet werden, erklären kann. Eines der interessantesten Beispiele ist hier sicher der Film Le Fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit, Frankreich 1974) von Luis Buñuel. Dort werden ständig Unvereinbarkeiten so dargestellt, als seien es keine. In der ersten Episode reagieren alle Protagonisten auf Fotogra- fien von historischen Gebäuden so, als wären es pornografische Bilder. In einer späteren Episode wird ein Kind, das offensichtlich für alle leiblich anwesend ist, als vermisst erklärt und sogar eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Diese Para- doxien sind nur so zu erklären, dass es sich zugleich um Pornografien und um normale Bilder handelt, dass das Kind zugleich anwesend und abwesend ist. Das zeitliche Nacheinander (etwa: das Kind ist da und verschwindet dann) ist einer simultanen Anordnung einander ausschließender Möglichkeiten gewichen. Der Film artikuliert temporale Schnittstellen, in denen verschiedene Welten gleich- zeitig vorkommen, noch bevor die Zeit in die Übersichtlichkeit des sukzessiven Verlaufs geordnet wird. Die beiden Kristallbilder können theoretisch unterschieden werden, in Fil- men kommen sie aber oft zusammen vor. Deshalb ist es wichtig, sie stets ge- meinsam im Auge zu behalten. In L’Année dernière à Marienbad etwa sind einzelne Sequenzen kaum einem der Kristallbilder allein zuzuordnen. Zum Bei- spiel gibt es im Schloss (vierter Teil des Films, Segment 24)4 folgende Kamera- fahrt: Die Kamera fährt lateral einen Flur entlang, in dem sich Gäste des Schlos- ses aufhalten. Sie verlässt den Flur, kommt in einen Raum, in dem Personen auf einem Sofa sitzen, fährt um eine Seitenwand herum, die den Raum von dem Flur trennt und gelangt durch eine andere Tür wieder auf den Flur, der nun leer ist. Andere Pflanzen stehen auf dem Boden. Eine kontinuierliche Bewegung führt zu einem diskontinuierlichen Blick. Hat sich die Kamera durch das Gedächtnis hindurch bewegt und unterschiedliche Regionen des Gedächtnisses freigelegt? Oder ist dies eine Spaltung der Gegenwart in ein Vorher und Nachher, ein Aus- balancieren der Grenze, da Gegenwart und Vergangenheit zugleich anwesend sind? Es geht ja im Film um das letzte Jahr in Marienbad, also findet wenigstens 4 Eine interessante Analyse des formalen Aufbaus des Films gibt Engelbert 1990. Auf sein Seg- mentprotokoll beziehe ich mich. 106 Oliver Fahle montage/av im Titel eine zeitliche Präzisierung statt, so als wäre der Film als ständiges Un- terlaufen der Bestimmung der Grenze zwischen letztem und diesem Jahr zu be- greifen. Im Film werden keine gesicherten Aufschlüsse gegeben, in welchem Jahr sich die Protagonisten gerade befinden. Ein Gang durchs Gedächtnis ist ebenso wahrscheinlich wie eine ständige Aufspaltung der Gegenwart. Der Kristall bei Visconti Eine Schwierigkeit im Ansatz von Deleuze liegt darin, dass er seine Bildkon- zepte zwar in enger Anlehnung an Filmbeispiele vorstellt, sich aber dennoch oft mit kurzen Andeutungen oder der Erwähnung einzelner Ausschnitte, oft nur eines einzigen Bildes begnügt. Man muss also zwangsläufig über Deleuze hinaus gehen, wenn man seine Konzepte zur Interpretation der Filme fruchtbar machen und präzisieren will und umgekehrt, über die Filme die Bildtypen und die filmphilosophische Konstruktion des Gedächtnisses näher begreifen möchte. Die Filme Viscontis nehmen in der Beschreibung des Kristallbildes einen hervorgehobenen Platz ein. Deleuze sieht in den Filmen des italienischen Regisseurs den im Zerfall befindlichen Kristall und benennt auch einige Ele- mente, die diesen Zerfall verdeutlichen: die Welt der Reichen, der Dekomposi- tionsprozess der aristokratischen Gegenstände und Gegenden, die in den Fil- men rekonstruierten historischen Umbrüche sowie die die Filme tragende Einsicht der Protagonisten, dass etwas zu spät kommt (1991, 127–131). Ich möchte anhand zweier Szenen aus Il Gattopardo und Senso die Konstruk- tion von Kristallbildern untersuchen, um die Engführung von theoretischem Konzept und filmischem Text, die bei Deleuze nur ansatzweise vorgeführt wird, aufzuzeigen. Obwohl in diesem Rahmen auch nur Mikrolektüren der Filme möglich sind, kann doch gezeigt werden, dass es sich hier auch um Schlüsselsze- nen handelt, die den gesamten Verlauf des Films bereits andeuten und in gewis- ser Weise auch enthalten. Ich folge dabei in Teilen den Interpretationen von Youssef Ishagpour (Ishagpour 1984) und Jean-Louis Leutrat (Leutrat 1988), lege den Schwerpunkt aber gezielter auf die Konstruktion von Zeit- und Erinne- rungsbildern. In Il Gattopardo ist der Anfang besonders wichtig. Zu Beginn des Vor- spanns fährt die Kamera horizontal an einem Baum entlang und macht schließ- lich ein herrschaftliches Anwesen hinter einem Gitter sichtbar. Es handelt sich um den Palast der Fürstenfamilie. Ein Schnitt bringt uns direkt in den großen Garten und zeigt in Nahaufnahmen verschiedene Köpfe antiker Skulpturen, die allerdings schon ziemlich lädiert sind. Zwischendurch sehen wir frontal die Ka- 11/1/2002 Zeitspaltungen 107 mera auf das Gebäude zugehen. Es wirkt leer, alle Jalousien sind heruntergelas- sen und etwas von den Fenstern abgestellt. Im Garten ist niemand. Dann folgt ein Schnitt, der das Haus in große Nähe bringt, die Jalousien sind nun hoch ge- zogen. Die Kamera fährt um das Haus herum, die Balkontüren stehen offen, schließlich wird Gemurmel hörbar. Dann ein Schnitt in ein großes Zimmer, in dem die Familie des Fürsten gemeinsam in monotonem Rhythmus das Ave Ma- ria betet. Die Situation wird aus mehreren Perspektiven gezeigt. Ständig im Bild anwesend ist der Vorhang, der im offenen Fenster hängt. Der Wind weht ihn im- mer wieder ins Bild. Kann er auf Grund der Kameraperspektive nicht sichtbar werden, ist er anderweitig zu erblicken, etwa im Spiegel oder als Schatten, der im Zimmer über die Köpfe der Beteiligten zieht. Der Vorhang, das wird deutlich, ist die Hauptfigur in dieser Anfangsszene. Das Gebet wird jäh vom Fürsten un- terbrochen, weil draußen Schreie zu hören sind. Ein Bedienter klärt ihn auf, dass die Geräusche mit dem Verwundeten zu tun haben, den man im Garten gefun- den hat. Truppen Garibaldis sind in Sizilien gelandet, es hat Kämpfe gegeben, die Lage für die aristokratischen Herrscher spitzt sich zu. Während die Frau des Fürsten über die Situation klagt und der Fürst erste Maßnahmen überlegt, wird öfter der Kamerablick auf das offene Fenster gerichtet. Der Vorhang hängt nun unbewegt da, verschleiert aber den Blick nach draußen. Der Vorhang ist das sichtbare Relais zwischen der Welt draußen (den Kämpfen, dem Verwundeten) und der Welt drinnen (der rituelle Tagesbeginn der Fürstenfamilie), der neuen republikanischen Epoche und der alten aristokratisch geprägten Ära. Der Vor- hang ist damit die Grenze zwischen neuer und alter Zeit, wobei er schon sichtbar in den feudalen Raum hineinweht. Visconti macht die Grenze selbst sichtbar, auf der sich sowohl das Alte als auch das Neue bewegen, das eine schon da ist, das andere noch nicht weg. Anders gesagt: Der Vorhang ist die bildliche Koales- zenz der beiden Welten. Das Thema des Films ist dann auch im Wesentlichen die Ablösung der Aristokratie durch das Bürgertum, wobei der Prozess des Über- gangs im Zentrum steht. Die Schnittstelle aber, also die Gegenwart der Vergan- genheit und die Gegenwart der Zukunft, wird im Bild des wehenden Vorhangs gefasst. Dies ist die zweite Form des Kristallbildes. Bevor also die historische Er- zählweise Geschichte als sukzessive Ablösung der einen durch die andere Epo- che beschreibt, stünde die von Visconti entworfene simultane Entfaltung von Gegenwart und Vergangenheit. Aber auch die erste Form, die reine Erinnerung, wird von Visconti zumindest angedeutet. Diese erste Szene wird nämlich schon in der Vergangenheit erzählt. Der Beginn jedenfalls zeigt den Palast und den Garten eigentlich schon verlassen, die Skulpturen stehen dort wie Ruinen einer vergangenen Epoche. Die Kamerafahrten zu Beginn sind nichts anderes als eine Erkundung der Vergangenheit. Der abrupte Schnitt zu den hochgezogenen Ja- 108 Oliver Fahle montage/av lousien erscheint wie ein Sprung in die Vergangenheit, wie der Beginn des Kreis- laufes der Erinnerungsbilder. Daher auch die Betonung der Schwelle zwischen aktuellem und virtuellem Bild, zwei Epochen, die sich einerseits ablösen, ande- rerseits aber zugleich vorkommen. Im Laufe des Films gibt es eine Reihe von Szenen, die diese Bewegungen auf der Grenze thematisieren, welche den Pro- zess der Ablösung selbst zum Ausdruck bringen. Herauszuheben ist etwa die Ballszene, in der der Fürst und die zukünftige Braut seines Neffen, eine Bürger- liche, miteinander tanzen. Das Einverständnis zwischen den beiden ist perfekt, der Fürst steht ihr näher als den weiblichen Mitgliedern seiner eigenen Familie. Dennoch ist er ein Teil der Vergangenheit und sie ein Teil der Zukunft. Eine letzte intensive Vereinigung in Form eines hingebungsvollen Tanzes enthält in gleichem Maße die Unvereinbarkeit der Repräsentanten verschiedener Epo- chen. Eine dem Anfang von Il Gattopardo verwandte Struktur findet sich auch am Beginn von Senso. Eine Opernaufführung in Venedig 1866, Schrifteinblen- dungen informieren darüber, dass ein Aufstand der Italiener gegen die Besatzer aus Österreich unmittelbar bevorsteht. Am Ende eines Aktes in der Mitte der Aufführung werfen Italiener rote, weiße und grüne Blätter ins Publikum, auf de- nen zum Widerstand gegen Österreich aufgerufen wird. Der österreichische Of- fizier Mahler spottet vor seinen Kameraden über die Art des Protests und wird von einem der Aufrührer, Ussoni, zum Duell herausgefordert. Die Herausfor- derung wird von der Cousine von Ussoni, Gräfin Serpieri, die in einer Loge über dem Schauplatz des Streits sitzt, beobachtet. Besorgt über die Gefahr, in die sich ihr Cousin begeben hat, eilt sie ins Foyer. Jetzt erst setzt die voice-over, die der Gräfin gehört, mit den Worten ein: „An jenem Abend hat alles angefangen. Es war der 27. Mai.“ Danach erzählt sie, dass ihr Cousin einer der Anführer der Aufständischen ist. Die Erzählung berichtet von vergangenem Geschehen, er- neut haben wir uns in die Vergangenheit versetzt. Nach einem Gespräch mit Us- soni kehrt die Gräfin in die Loge zurück und bittet kurz danach darum, mit Mahler sprechen zu dürfen. Sie macht sich im Spiegel zurecht, dort sieht man auch, dass der Vorhang der Bühne zum nächsten Akt der Oper hochgeht. Dann kommt Mahler in die Loge. Er fragt nach der Gräfin und stellt sich vor. Diese erste Begegnung der beiden, sie sind zum ersten Mal gemeinsam im Bild zu se- hen, gibt die Kamera nur als Spiegelbild wieder. Die Verdopplung des Bildes ist zugleich eine Virtualisierung, besser eine Verdopplung in aktuell und virtuell. Denn die Beziehung der beiden ist von Beginn an eine doppelte: Zunächst geht es der Gräfin ja nur darum, Mahler von dem Duell mit ihrem Cousin abzubrin- gen, tatsächlich – und das ahnt der Zuschauer bereits – wird hier die schicksal- hafte Begegnung der beiden vorweggenommen. Visconti stützt diese Umkeh- 11/1/2002 Zeitspaltungen 109 rung dadurch, dass er bereits mehrere andere ins Spiel gebracht hat. So betont die Serpieri, auf die Aussage einer anderen Gräfin in der Loge eingehend, dass sie nicht glaube, dass dieses Duell den Kampf der Horatier gegen die Curiatier wie- derholen würde, denn ihr Cousin sei schließlich apathisch und politisch völlig desinteressiert. Tatsächlich ist es aber Mahler, der eigentlich desinteressiert ist und den sie, ohne es zu ahnen, damit charakterisiert hat. Schließlich verweist der Vorhang, der, im Spiegel zu sehen, hochgezogen wird, auf die Inszenierung, die die Gräfin gleich Mahler vorzuspielen sucht, aber auch darauf, dass zwischen den beiden längst ein anderes Spiel gespielt wird, das sie im Augenblick des Ge- sprächs nicht ahnen. Es geht hier also um das Hineinversetzen in die Vergangen- heit, aber nicht in das subjektive Gedächtnis der Gräfin, sondern um die reine Erinnerung. Es ist gleichsam die Entstehung des Gedächtnisses, die hier von Visconti in Szene gesetzt wird. Durch die ständigen Verdopplungen werden das aktuelle und virtuelle Bild der Situation zugleich entworfen. Die sukzessive Ent- faltung der Geschichte ist in den ersten beiden Bildern bereits enthalten, der doppelte Blick auf Mahler und der zweitaktige Verlauf der Liebesgeschichte aus Sicht der Gräfin (Hoffnung-Enttäuschung, Hoffnung-Enttäuschung) sind in den Umkehrungen des Anfangs bereits enthalten. Mit anderen Worten: Wir bli- cken – ähnlich wie bei Il Gattopardo – in die Vergangenheit und sehen dort die Spaltung in die Gegenwart der Vergangenheit und die Gegenwart der Zu- kunft: die Entstehung der Zeit. Der detaillierte Blick auf die Filme kann damit offenbar tatsächlich die Behauptung von Deleuze stützen, dass es sich in den Fil- men von Visconti um die Konstruktion des sich im Zerfall befindlichen Kristalls handelt. Erinnerung und Gegenwart in On connaît la chanson Alain Resnais’ Filme aus den sechziger und siebziger Jahren sind Grundpfeiler der filmischen Moderne, auch bei Gilles Deleuze. Die Vorreiterrolle von L’Année dernière à Marienbad wurde bereits angesprochen. Es scheint des- halb folgerichtig nachzuprüfen, inwiefern Resnais’ Filme der achtziger und neunziger Jahre sich in den bereits analysierten Rahmen einfügen. Filme wie Smoking/No Smoking (Frankreich 1993) scheinen dafür besonders geeignet, nehmen sie doch eine immer wiederkehrende Thematik von Resnais’ Filmen auf, verschiedene unvereinbare Versionen einer Geschichte aufzuzeigen und somit die Verzweigungen zeitlicher Verläufe auszuprobieren. Dies allerdings in mehr spielerischer Form als noch in den sechziger Jahren, woran erkennbar wird, dass Resnais nun selbst reflexiv mit der unter anderem von ihm selbst ent- 110 Oliver Fahle montage/av worfenen Modernität umgeht. Hier soll es nun aber um einen anderen Film gehen, der Zeit auf eine ganz neue, für die Arbeit von Resnais ungewohnten Weise entwirft. On connaît la chanson folgt einer ganz anderen Struktur als Smoking/No Smoking und seine Vorgänger. Der Film erzählt eine Geschichte, hat einen klaren narrativen Aufbau. Verschiedene Personen begegnen sich in Paris, ein Liebespaar und eine Freundschaft entstehen daraus, es gibt ein paar Geheimnisse, Gefühlsverirrungen und Lügengeschichten, die am Ende auf einer Einweihungsparty, auf der sich alle Protagonisten treffen, weitgehend aufgelöst werden. Abgesehen von einigen kleineren Ausflügen in die Fantasie – etwa wenn Camille auf der Restaurant-Toilette dem Landadel vom Paladru-See begegnet, über den sie gerade ihre Dissertation geschrieben hat oder wenn im Schuss-Gegenschuss Verfahren zwischen Nicolas und seinem Arzt letzterer nach jedem Schnitt wegrückt – verbleibt der Film im Rahmen des realistischen Erzählfilms. Die Besonderheit von On connaît la chanson liegt nun darin, dass die Stimmen und Gedanken der Protagonisten von Ausschnitten aus französischen Chansontexten und Originalstimmen der Musiker übernommen werden, wozu die Schauspieler dann nur die Lippen bewegen. Der Film versteht sich einerseits als Hommage an Paris und seine Chansonsänger/innen, was durch die Anfangs- szene deutlich wird, wenn in einer Rückblende in das Jahr 1944 Hitlers Stimme dem General von Choltitz in Paris befiehlt, die Stadt zu zerstören, was dieser nicht durchführt. Andererseits geht es aber auch um die Macht der Musik, die sie in ganz normalen bürgerlichen Pariser Köpfen hinterlassen hat. Die Ausschnitte aus den Liedern werden nämlich für wenigstens drei verschiedene Formen des Ausdrucks verwendet. Erstens als ganz alltäglicher Dialog oder Dialogteil zwi- schen zwei Personen; zweitens als Dialog, den der anwesende Dritte nicht ver- stehen kann, also eher als eine Art Gedankenaustausch oder Flüstern; drittens als Selbstgespräch oder innerer Monolog. Die Chansontexte stehen also sowohl für die Floskeln des alltäglichen Gesprächs, sie besetzen aber auch die Gedanken der Personen, denn nur über sie definieren sie Gefühle. Einmal läuft im Autora- dio ein Chanson, der von einem Protagonisten direkt verlängert wird. In Anleh- nung an Marshall McLuhan heißt dies, die Personen sind wie organische Verlän- gerungen ihrer Medien (McLuhan 1995, 81) und diese sind die Stimmen und Texte der Chansons der französischen Nachkriegszeit. Hinzu kommt, dass die Figuren im Film sich und andere die ganze Zeit über belügen und hintergehen. Die Illusionen, die sie über sich und andere hegen, werden durch die Chansons mal offen gelegt, mal verstärkt. Die Hinwendung zu den Chansons, die Resnais hier vornimmt, ist auch eine historische, denn die Lieder stammen sämtlich aus der Vergangenheit des klassischen Chansons. Dieses hatte seine große Zeit zwi- 11/1/2002 Zeitspaltungen 111 schen 1920 und 1970 (und man müsste die medienhistorische These untersu- chen, ob sein Aufschwung nicht im Wesentlichen mit dem Medium der Lang- spielplatte zu tun hatte), die Stimmen gehören Piaf, Bécaud, Barbara, Dutronc, France Gall und anderen.5 Die Geschichte erzählt aus dem Paris der Gegenwart. Das heißt, wenn sich die Chansontexte in das Geschehen hineinschneiden, fin- det ein Sprung in das kulturelle Gedächtnis statt. Dies wird dadurch besonders deutlich, dass die Schauspieler eben nicht selbst singen, sondern die manchmal verkratzten Originalplatten zu hören sind, was als Beleg dafür zu sehen ist, dass jede der Stimmen wie eine Rückkehr in die reine Erinnerung verstanden werden kann. Die skurrile Wirkung verdankt der Film diesem Hin- und Herspringen zwischen aktueller Situation und virtuellem Tonfragment. Die Protagonisten thematisieren die Chansons an keiner Stelle, für sie wird der Geschehenszusam- menhang nicht unterbrochen, sie haben demnach kein extra-diegetisches Be- wusstsein. Sie nehmen selbst auch nicht wahr, dass sie gerade ein Chanson zitie- ren. Deshalb handelt es sich auch nicht um habituelle Erinnerung. Resnais schickt uns eben direkt ins kulturelle Gedächtnis hinein. Die Personen aktuali- sieren bestimmte Gefühle, denen ein virtueller – aus der Vergangenheit kom- mender – Chanson korrespondiert. Zwischen dem Gefühl und dem Chanson kann schon gar nicht mehr unterschieden werden. Aktuell (Gefühl) und Virtuell (Chanson) bilden einen Kreislauf, einen Schnitt in der Zeit. Deleuze spricht in Bezug auf das Kristallbild von der Ununterscheidbarkeit des voneinander Ver- schiedenen: „Das aktuelle und das virtuelle Bild konstituieren demnach den kleinsten inneren Kreislauf und bilden im Grenzfall eine Spitze oder einen Punkt [...].“ (1991, 98) Genau dies ist bei Resnais erreicht: Natürlich sind Marc und Jacques Dutronc verschiedene Personen, doch wenn Marc mit der Stimme von Dutronc „J’aime les filles...“ singt, dann verbindet sich die aktuelle Situati- on, in der sich Marc befindet, mit der Situation, die Dutronc in seinem Chanson evoziert. Die Gegenwart der Vergangenheit – der aus dem (kulturellen) Ge- dächtnis kommende Chanson – und die Gegenwart der Gegenwart – das aktuel- le Gefühl – werden ununterscheidbar. Es wird deutlich, dass der Ansatz von Deleuze, Erinnerung und Gedächtnis ins Zentrum seiner filmischen Reflexion zu stellen, nicht nur filmtheoretische Kategorien, wie etwa das Kristallbild, begründen kann, sondern auch, dass der Film mit den Realisationen von Denkfiguren der Zeit eine philosophische Di- 5 Die französische Kritik stellt fest, dass in dem Film von Resnais gegenwärtige Interpreten wie Patricia Kaas und Jean-Jacques Goldman, die wenigstens noch an den Chanson erinnern, nicht vorkommen. Vgl. Bouquet 1997. Das ist kein Zufall, das Chanson ist eben nicht in der Gegen- wart, sondern im Gedächtnis. 112 Oliver Fahle montage/av mension eröffnet. Die hier vorgestellten filmischen Verfahrensweisen – mithin eine Poetik des Films – verweist auf die Erfahrbarkeit von Zeit in der Moderne, innerhalb derer der Film nach Deleuze einen originären Status der Wahrneh- mung und der Erkenntnis der Welt hat. Das Projekt von Deleuze ist auf Weiter- führung angelegt, da es die Variation der Bildtypen oder die Möglichkeit, neue Formen hervortreten zu lassen, mit dem Blick auf die evolutionäre Entwicklung der Bilder und Zeichen des Mediums Film insgesamt verbindet. Anhand der Fil- me von Resnais kann beobachtet werden, wie sich im Schaffen eines Regisseurs die Erinnerungs- und Zeitfiguren weiter entwickeln. Die Untersuchung anderer Filme, etwa von Regisseuren, die ebenfalls mit Zeitebenen experimentieren (ich denke beispielhaft an David Lynch oder Tom Tykwer), könnte eine auf Ge- dächtnis und Erinnerung basierende Filmphilosophie fortsetzen. Literatur Bergson, Henri (1991) Materie und Gedächtnis (franz. Orig. Matière et mé- moire, 1896). Hamburg: Meiner. Bouquet, Stéphanie (1997) La vie n’est pas un roman. In: Cahiers du Cinéma, 518, S. 47. Deleuze, Gilles (1989) Kino 1. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt am Main: Suhr- kamp. Deleuze, Gilles (1991) Kino 2. Das Zeit-Bild. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Engelbert, Manfred (1995) Zerbrechende Identität: Letztes Jahr in Marienbad. In: Fischer Filmgeschichte, Band 3. Hrsg. von Werner Faulstich & Helmut Korte. Frankfurt: Fischer, S. 386–406. Fahle, Oliver / Engell, Lorenz (Hrsg.) (1997) Der Film bei Deleuze / Le cinéma selon Deleuze. Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar. Paris: Les presses de la Sorbonne Nouvelle. Fahle, Oliver (2000) Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwan- ziger Jahre. Mainz: Bender-Verlag. Ishagpour, Youssef (1984) Visconti. Le sens et l’image. Paris: Editions de la Dif- férence. Leutrat, Jean-Louis (1988) Kaleïdoscope. Analyses de films. Lyon: Presses Uni- versitaires de Lyon. McLuhan, Marshall (1995) Die magischen Kanäle. Dresden, Basel: Fundus. Schaub, Mirjam (2000) Travestien der Zeit im Werk von Gilles Deleuze. Phil. Dissertation Berlin: Freie Universität Berlin. Michael Zryd Found Footage-Film als diskursive Metageschichte Craig Baldwins Tribulation 991 Eine philosophische Prämisse, die schon sehr, sehr lange besteht: Wenn man wissen will, was in einer Kultur vor sich geht, sollte man einen Blick auf die Dinge werfen, die als selbstverständlich betrachtet werden, und sich darauf konzentrieren, anstatt auf das, was sie einem zeigen wollen. (Bruce Conner, zitiert in Wees 1993, 103) Der Found Footage-Film ist ein spezielles Subgenre des Experimental- (oder Avantgarde-) Kinos, bei dem vorgefundenes Filmmaterial in neue Produktionen integriert wird.2 Die Etymologie des englischsprachigen Ausdrucks weist darauf hin, dass er sich der Aufdeckung „versteckter Bedeutungen“ im Filmmaterial verschrieben hat. Footage ist ein längst veraltetes britisches (und jetzt amerikani- sches) Maß für die Filmlänge, das Assoziationen an einen Wust von industriel- lem Material – Abfall, Müll – hervorruft, in dem sich jede Menge Schätze „fin- den“ lassen. Found Footage ist nicht dasselbe wie Archivmaterial. Während das Archiv als offizielle Einrichtung historische Aufzeichnungen von unbrauchba- ren Aufzeichnungen, den Outtakes, trennt, ist ein großer Teil des in experimen- tellen Found Footage-Filmen verwendeten Materials nicht archiviert, sondern in privaten Sammlungen, kommerziellen Bildagenturen, Trödelläden und Abfall- eimern untergekommen oder wurde im wahrsten Sinne des Wortes auf der 1 Mein Dank gilt Robin Curtis und Tess Takahashi für die geduldige und unschätzbare Aufmerk- samkeit, die sie diesem Projekt entgegengebracht haben. In zahlreichen Diskussionen über Found Footage haben mich folgende Kollegen inspiriert und ermutigt: Paul Arthur, Catherine Russell, Jeff Vanderwal, William Wees. Craig Baldwin war so freundlich, mir in Toronto ein persönliches Interview zu geben, und auch alle informellen Gespräche mit ihm habe ich als äußerst bereichernd empfunden. 2 Found Footage-Filme weisen zwar häufig einen bewussten Eklektizismus des Materials auf, der Begriff Found Footage wurde allerdings gelegentlich auch als eine etwas freiere Bezeichnung für Filme verwendet, die mit Material arbeiten, das nicht vom Filmemacher selbst aufgenommen wurde. 114 Michael Zryd montage/av Abb. 1a–d Found Footage aus A M OVIE (USA 1958, Bruce Conner) Straße gefunden. Found Footage-Filmemacher tummeln sich in den Grenzberei- chen und spielen mal mit der Undeutlichkeit des ephemeren Materials an sich3 – der Filmemacher Nathanial Dorsky spricht bevorzugt von „lost“ footage4 („ver- lorenem“ Material) –, mal mit den subkulturellen Bedeutungen, die in dem iko- nischen Material einer Kultur „freigelegt“5 werden. Die Herstellung von Found Footage-Filmen ist eine metahistorische Form des Filmemachens. Dabei werden die kulturellen Diskurse und narrativen Strukturen kommentiert, die hinter geschichtlichen Ereignissen liegen. Der Found Footage-Künstler, der im Abfall 3 Der amerikanische Filmsammler Rick Prelinger prägte den Begriff Ephemeral Film als Beschrei- bung für Filme, die für lokale und zeitlich befristete Zwecke gedreht werden, wie z. B. Industrie- und Lehrfilme, Werbung, Videofilme, Reiseberichte oder Filme, die von religiösen Gruppierun- gen, Regierungen und Gewerkschaften produziert werden. 4 Für diese Anekdote möchte ich mich bei Phil Solomon bedanken. 5 Baldwin und andere Found Footage-Künstler verwenden die „Archäologie“ als eine etwas freie Metapher zur Beschreibung ihrer Arbeit; siehe Arthur 1997, Child 1992, Katz 1991 und San- dusky 1992. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 115 Abb. 2a.b TRIBULATION 99 der Massenmedienlandschaft stöbert oder (durch Bildbearbeitung und opti- sches Kopieren) das Neue im Bekannten wieder entdeckt, untersucht auf kriti- sche Weise die Geschichte hinter dem Bild, die diskursiv in die Geschichte seiner Produktion, Verbreitung und Konsumierung eingebettet ist. Tribulation 99: Alien Anomalies under America (USA 1991) von Craig Baldwin ist einer der komplexesten und kontroversesten nordamerikanischen Found Footage-Filme, der in den letzten Jahrzehnten produziert wurde, und dient zudem als Grenzfall für das Verhältnis des experimentellen Found Footage-Films zu Geschichte und Erinnerung. Meiner Ansicht nach repräsentiert der Film weni- ger die Geschichte, als dass er die historischen Diskurse und politischen Kräfte, die historische Ereignisse motivieren, analysiert. Als engagierte linke Satire gegen die amerikanische Außenpolitik und Medienkultur zeigt Tribulation 99, wie die Found Footage-Collage mit Hilfe von Metaphern und Ironie eine äußerst kon- zentrierte metahistorische Analyse und komplexe politische Kritik vorbringen kann. Die Bildauswahl in Tribulation 99 ist erstaunlich heterogen. Der Film, der – abgesehen von einigen neu abgelichteten Stills und Zeitdokumenten – vollstän- dig aus vorgefundenem Material besteht, bezieht seine Bilder sowohl aus vor- geblich legitimen institutionellen Quellen der Wissensproduktion (z. B. regie- rungseigenen Dokumentarfilmen und Dokumenten, Wochenschauen, Wissen- schafts- und Lehrfilmen) als auch aus inoffiziellen Quellen, denen für gewöhn- lich kein legitimer erkenntnistheoretischer Status zuerkannt wird (z. B. B-Mo- vies, Science Fiction- und Exploitation-Filme, Propagandafilme, Werbung). Mit seinen 48 Minuten und seiner rasend schnellen Montage (einige Bilder sind nur für die Dauer einiger Einzelbilder auf dem Bildschirm zu sehen) ist Tribula- tion 99 für einen Found Footage-Film außergewöhnlich dicht und lang.6 6 Die meisten Found Footage-Filme sind fünf bis fünfzehn Minuten lang, von einige Ausnahmen abgesehen, die William Wees als „epische Collagen“ bezeichnet: Is This What You Were 116 Michael Zryd montage/av Zwar kommt Tribulation 99 aus der Tradition des experimentellen Found Footage-Films, doch funktioniert er ebenso als Science Fiction-Erzählung und historische Dokumentation. Der Film beginnt als Science Fiction, in deren Mit- telpunkt die Invasion durch interplanetarische Außerirdische steht: Ein flüs- terndes, verschwörerisches Voice-over schildert eine Invasion durch bedrohli- che Aliens, so genannte Quetzals, die sich in den Untergrund eingegraben haben und die Vernichtung der Vereinigten Staaten schwören. Doch plötzlich droht ihnen durch die amerikanischen Atomtests während des Zweiten Weltkriegs Gefahr. Diese fiktive Erzählung erhält schnell eine dokumentarische und histo- rische Dimension, als Baldwin sie mit der Geschichte der US-amerikanischen Verstrickungen in Lateinamerika nach dem Zweiten Weltkrieg überlagert und dadurch zu verstehen gibt, dass die Außenpolitik der USA von der Notwendig- keit der Reaktion auf eine Bedrohung von Außen7 motiviert war. Im weiteren Verlauf des Films wird Baldwins Allegorie deutlich: Die Quetzals stehen für die Kommunisten, und der Film spielt darauf an, dass die politische Linie der Ame- rikaner von rassistischer, paranoider und apokalyptischer Angst motiviert war, eher geeignet als Reaktion auf eine Bedrohung durch reptilienartige Eindring- linge aus dem Weltraum denn als Reaktion auf demokratisch gewählte Regie- rungen in der Region. Baldwin suggeriert, dass die US-Regierungen, ähnlich wie heute George W. Bush, der den Ausdruck „Achse des Bösen“ verwendet, um seine Feinde herabzusetzen, nach dem Zweiten Weltkrieg linksgerichtete Regie- rungen in Lateinamerika buchstäblich dämonisierten, um verdeckte Operatio- nen, politisch motivierte Attentate, Unterstützung bei Militärputschs, die Aus- bildung rechter Todesschwadronen und Verstöße gegen die Menschenrechte zu rechtfertigen. Rechte Kräfte ersannen eine kommunistische Verschwörung als Rechtfertigung für eine Gegenverschwörung von Patrioten zur Verteidigung der USA und ihrer auswärtigen Interessen. Wenn Baldwins Satire sich über die amerikanische Außenpolitik in Lateinamerika lustig macht und ihre Absurdität vorführt, kritisiert sie darüber hinaus auch die ideologischen Diskurse und die wirtschaftliche Logik, die bis heute hinter dieser Politik stehen. Unterstützt wird Baldwins satirische Kritik durch das ironische Voice-over des Films. Cicero bezeichnet die Ironie als dissimulatio, etwas sagen und etwas anderes meinen (vgl. Cicero 1976, 203), wobei der „ausgesprochenen“ eine „un- Born For (USA 1981–1989, Abigail Child), Kapital! (USA 1980–1987, Keith Sanborn) und Peggy and Fred in Hell (USA 1984 – Gegenwart, Leslie Thornton); vgl. Wees 1993, 48–58. 7 A.d.Ü.: Bei der deutschen Übersetzung des englischen Wortes alien geht leider die Doppeldeu- tigkeit verloren, da es im Englischen sowohl „fremd“ im Sinne von „aus dem Ausland“ als auch „außerirdisch“ heißen kann. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 117 ausgesprochene” Bedeutung gegenübergestellt wird, um eine Dissonanz zwi- schen der expliziten Bedeutung und einer impliziten, für gewöhnlich kritischen Bedeutung zu erzeugen. Anstatt der Kritik an der US-amerikanischen Außen- politik einen ernsthaften Ton zu verleihen, bedient sich der Film der ironischen Stimme eines fanatischen US-Patrioten,8 der die rassistischen, rechten, christli- chen Werte verkörpert, auf die sich nach Baldwins Ansicht die Außenpolitik der USA stützt. Baldwin nennt dieses rhetorische Manöver “Rechts antäuschen und links vorbeiziehen” (Sargeant 2001). Die “Doppelzüngigkeit” der Voice-over- Narration von Tribulation 99 liefert einen eindeutigen Hinweis auf die ironi- sche Absicht9; so werden beispielsweise Bilder der Bananenmarke Chiquita mit einem Kommentar zur finanziellen Unterstützung der USA für die “Kontras” in Nicaragua unterlegt: US-Präsident Ronald Reagan setzt sich für eine staatlich genehmigte Kampagne zur Neuversorgung der Freiheitskämpfer mit Maschinenge- wehren, C-4-Plastiksprengstoff und anderen humanitären Waffen ein, die sie in ihrem Kampf gegen Alphabetisierungslehrer, Krankenhäuser und landwirtschaftliche Genossenschaften so dringend benötigen. Der Titel „60,000 NICARAGUANS ARE KILLED“ („60.000 Nicaraguaner getötet“) auf der Bildspur verdeutlicht die exzessive Gewalt dieser „Kampagne“, während uns der Name Chiquita daran erinnert, wie die wirtschaftlichen Inter- essen von Unternehmen wie der United Fruit Company zur Unterwanderung linker Regierungen führten, bei denen die Gefahr einer Verstaatlichung des Grundbesitzes dieser Unternehmen bestand. Baldwins Satire spricht die Spra- che einer rassistischen, rechten, apokalyptischen Ideologie und lädt ein, uns über diese lustig zu machen, ohne aber die von ihr ausgehende Gefahr zu ver- leugnen. Diese Satire steht ganz in der Tradition von Jonathan Swifts Ein bescheidener Vorschlag und Stanley Kubricks Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (Dr. Seltsam, oder Wie ich lernte, 8 In der Buchversion des Films heißt es, der Film enthülle die Entdeckungen von „Retired Air- force Colonel Craig Baldwin“ (Baldwin 1991, 1). 9 Die Ironie wird, wie alle indirekten Tropen, leicht missverstanden; oder, wie Linda Hutcheon sagt, Ironie ist „riskant“. Hinweise auf eine ironische Absicht können im Text erscheinen oder lediglich extern vorliegen, wie im Falle von Fake Documentaries, die durch Publicity, erläutern- de Einführungen vor einer Vorführung (oder Diskussionen im Anschluss an eine Vorführung) oder durch Hörensagen als ironisch identifiziert werden. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Betrachter ohne jegliche Kenntnis der Politik Baldwins den Film „ernst“ nimmt und ihn als paranoiden, rechten Schwulst interpretiert. 118 Michael Zryd montage/av die Bombe zu lieben, Großbritannien 1963) und ist von daher ebenso emotio- nal aufwühlend wie eindeutig kritisch. Die dicht übereinander geschichteten Bildattacken und schockierenden Bildsprünge des Films, der Voice-over (ge- mischt mit wild zusammengeschnittenen Schichten aus gefundenem Ton- und Musikmaterial) sowie die schiere Brutalität der Geschichte dieser Region über- fordern den Betrachter häufig beim ersten Sehen. Viele Zuschauer berichten von einem Gefühl der Verlorenheit, der Erschöpfung und der Verwirrung, das sie befällt, weil sie den Status der hier präsentierten Wahrheiten und Fiktionen nicht einordnen können. Dieser Affekt und die erkenntnistheoretische Verwir- rung sind eine Reaktion auf die Verschwörungstheorie, auf die der Film verweist und deren klaustrophobische, hermetische Logik er verkörpert. Richard Hof- stadter beschreibt, wie tief diese Verschwörungstheorie in der amerikanischen Kultur verwurzelt ist, trifft jedoch eine wesentliche Unterscheidung: „Es be- steht ein Unterschied darin, Verschwörungen in der Geschichte ausfindig zu machen, und zu sagen, dass im Grunde die Geschichte eine Verschwörung ist“ (1955, 64). Baldwin schildert eine mittlerweile gut dokumentierte Verschwö- rung in der Geschichte (verdeckte US-Operationen in Lateinamerika), nimmt jedoch den für amerikanische Bürgerwehren typischen und vom fundamentalen Christentum in Worte gefassten Tonfall von Geschichte-als-Verschwörung an: Die Apokalypse ist der Telos der Geschichte, angekündigt im Buch der Offen- barung. Zwar könnte man argumentieren, dass Baldwins satirische Taktik die Klarheit seiner politischen Kritik schwächt; meiner Ansicht nach vertieft sie je- doch die im Film durchgeführte politische Analyse der historischen Kräfte, in- dem sie das Augenmerk auf den erschreckenden Hermetismus von Verschwö- rungstheorien lenkt. Als Metageschichte zeigt Tribulation 99, wie das Narrativ der Verschwörung Ausbeutung und Gewalt fördert und den Einsatz histori- schen Handelns erhöht.10 Die schärfste Kritik an Tribulation 99 kommt von Catherine Russell. Für sie ist der Film ein wichtiges Beispiel für eine postmoderne Filmcollage, die jedoch 10 Baldwin bewahrt darüber hinaus eine Hingabe zu Verspieltheit und Ironie, die der Verschwö- rungskultur fremd ist. Man vergleiche dazu beispielsweise Tribulation 99 mit der durchgän- gigen Hysterie der US-Fernsehserie Akte X (The X Files, USA 1993–2002), die zwei Jahre nach der Freigabe von Tribulation 99 gestartet wurde. Akte X basiert auf demselben Einfall - Außerirdische planen in Mittäterschaft der Regierung und führender Kräfte der Industrie die Eroberung der USA – und zeigt, in welchem Maße das Verschwörungsdenken Anfang der 1990er Jahre bereits in den Mainstream übergegangen war. Tribulation 99 verkörpert die all- umfassende Logik der Verschwörungstheorie voll und ganz, allerdings ohne die letztendlich be- ruhigende narrative Handlungsfähigkeit der beiden aufrechten Akte X-Protagonisten, Mulder und Scully, und ruft damit die tatsächlichen Konsequenzen der Verschwörung in der Geschich- te Lateinamerikas in Erinnerung. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 119 in politischer Hinsicht letztendlich scheitert. Ich möchte hier drei ihrer Einwän- de gegen den Film anführen. Zunächst einmal sagt sie: „In der Leere, die der An- sturm der Bilder hinterlässt, schwindet die Möglichkeit des historischen Wider- standes gegen den militärisch-industriellen Komplex“ (Russell 1999, 262). Das apokalyptische Ende des Films bietet anscheinend keine Alternativen jenseits der im Film dargestellten übermächtigen Kräfte. Zweitens scheint der Film „von der historischen Wirklichkeit abgeschnitten“ (1999, 269). Russell zufolge ist Tribulation 99 ein äußerst ambivalenter Film, der symptomatisch ist für seine eigenen paranoiden Strategien, die letztendlich die Möglichkeit historischer Handlungsfähigkeit einschränken, und zwar durch die Unzugänglichkeit einer ‘Wirklichkeit’ außerhalb des Ansturms der Bilder. (1999, 263) Meiner Ansicht nach liegt wie bei allen Filmen die historische Handlungsfähig- keit von Tribulation 99 außerhalb des Textes, d. h. in der Arbeit des Zuschau- ers nach der Betrachtung des Films. Baldwin dramatisiert seinen Widerstand als Aktivist nicht in der Erzählung des Films; das führt jedoch nicht unbedingt zu einer Einschränkung der Möglichkeiten historischer Handlungsfähigkeit. Die ‘Wirklichkeit’ mag im Film unzugänglich erscheinen, was aber möglicherweise daran liegt, dass die Textur und Struktur des Films die für die zeitgenössische Medienkultur charakteristische Übersättigung durch die Bilder und das in ihr herrschende Chaos imitieren. Baldwin betrachtet seine Filme als „spekulative Dokumentarfilme“, „die einen nicht zu einem Punkt ‘x’ führen“; vielmehr sei ihre Form „zentrifugal“ und dränge die Leute „zur Bedeutung hinaus“ (Bald- win, Interview v. 12.2.2000). Tribulation 99 fehlt es eindeutig an einer klaren didaktischen Kraft, doch durch das „Hinausdrängen“ des Betrachters „zur Bedeutung“ lädt er uns meiner Ansicht nach ein, spekulative Bereiche einer dis- kursiven Analyse zu betreten. Dem Zuschauer wird die Arbeit der kritischen Reflektion übertragen, die notwendig ist, wenn historische Erinnerungen abge- rufen und historisches Verständnis geschaffen werden müssen, um die paranoi- den Diskursstrukturen zu bekämpfen, die aus Geschichte eine – tatsächliche oder eingebildete – Verschwörung zu machen drohen. In einem dritten Einwand wirft Russel dem Film eine „Ablehnung von Kohä- renz“ vor, denn die Heterogenität des verwendeten Found Footage schaffe ein machtvolles, aber letztendlich willkürliches und „unmögliches Netzwerk aus metonymischen Beziehungen“ (1999, 259f): Baldwins Collage bezieht ihr Material aus einer so ungeheuer großen Bildbank, dass man den Eindruck einer Massenvernichtung der linearen 120 Michael Zryd montage/av Erinnerung gewinnt. In dieser postmodernen Variante des Found Foot- age-Films werden Bilder stattdessen über willkürliche Links zu einem Speicher abgerufen. Durch die Mobilmachung dieser Bilder als Kulturdokumente arbeitet Tribulation 99 wie eine Art Random Access Memory der amerikani- schen Kultur des Kalten Krieges. (1999, 261f) Russells Computermetapher ist passend – ich glaube allerdings, dass eine Hypertextversion dieses Films kein willkürliches Random Access Memory offenbaren würde, sondern eine außergewöhnlich komplexe Form von histori- schem Gedächtnis, das zwar nur selten historische Ereignisse schildert, nichts- destotrotz aber auf eine große Bandbreite historischer Diskurse „verweist“. Der „Ansturm der Bilder“ und die scheinbare „Ablehnung von Kohärenz“ sind wichtige Indizien dafür, dass der Film in der Lage ist, die entmachtende Kraft jener Medienlandschaft, die die ideologischen Operationen der amerikanischen Kultur fördert, zu verkörpern (vielleicht sogar zu erfolgreich zu verkörpern). Die metonymischen und metaphorischen Strategien des Films bilden kein „unmögliches“ Netzwerk aus Bedeutungen, sie führen vielmehr zu einer kon- zentrierten, aber nicht unleserlichen Verdichtung der historischen Diskurse, die historische Ereignisse möglich machen, und sondieren so historische Beweg- gründe, Ursächlichkeiten und Konsequenzen. Russel behauptet zu Recht, dass Geschichte in Tribulation 99 nicht im konkreten Sinne referenziell ist. Ich würde jedoch argumentieren, dass die Art, wie Geschichte artikuliert und analy- siert wird, durchaus „referenziell“ ist, da auf die diskursiven Kräfte hinter den historischen Ereignissen verwiesen wird: auf die Rhetorik der Geschichte anstatt auf ihre Repräsentation. Im verbleibenden Teil dieses Textes werde ich versuchen, die Dichte der diskur- siven historischen Analyse in Tribulation 99 aufzuzeigen. Dabei soll zunächst die „Geschichtlichkeit“ von Found Footage begründet werden: Warum wohl hallt in Archivmaterial und Found Footage so viel Geschichte und Erinnerung nach? Die Stärke der zentrifugalen Struktur von Tribulation 99 beruht zum Teil darauf, wie der Film die potenzielle Polyvalenz, Ambiguität und diskursive Dichte des Found Footage-Materials einfängt. Zunächst möchte ich jedoch das Versprechen und die Problematik untersuchen, die durch die Macht des fotogra- fischen Bildes in seiner Eigenschaft als geschichtliches Beweismaterial entste- hen, und anschließend erläutern, wie Archivmaterial und Found Footage im Dokumentar- und Experimentalfilm gemeinhin eingesetzt werden. Dabei greife ich die Aussage Paul Arthurs auf, dass dieses Material bisher in der Filmge- 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 121 schichte eher figurativ und weniger zu Beweiszwecken eingesetzt wurde. Wei- terhin werde ich untersuchen, wie der figurative Einsatz von vorgefundenem Material dessen symbolische und metaphorische Bedeutungen mobilisiert, Bedeutungen, die durch eine ironische Rekontextualisierung eine Vielzahl an diskursiven Bedeutungsebenen eröffnen. Die “Geschichtlichkeit” von Found Footage, des vorgefundenen Filmmaterials, das vollgestopft mit historischen Fakten, Erinnerung und Emotion ist, ergibt sich aus dem kulturpolitischen Kontext seiner Produktion und vor allem aus seiner Verbreitung als symboli- sches Gut. Die Stärke von Found Footage-Filmen liegt in ihrer kritischen, wir- kungsvoll konzentrierten Erfassung der ideologischen Diskurse, die die Ver- breitung von Bildern strukturieren und ermöglichen, also derjenigen Diskurse, die historische Analyse und politische Kritik fördern.11 Fotografische Bilder scheinen das Versprechen einer wahrhaften und präzisen Darstellung von Geschichte in sich zu tragen. Wenn wir uns Aufnahmen des Mondspaziergangs von Apollo 11 ansehen, haben wir den Eindruck, das histori- sche Ereignis selbst zu sehen, abgebildet und eingefangen zu dem Zeitpunkt, an dem das Bild belichtet wurde. Dies ist die fundamentale Übereinkunft, die das nicht-fiktionale Bild auf Grund der Automatizität der Fototechnologie mit dem Betrachter eingeht: das Versprechen des historischen Beweises, der sowohl un- mittelbar ist (durch die ikonische Macht der Ähnlichkeit mit der Realität), als auch Wahrhaftigkeit garantiert (durch die Beweiskraft des fotographischen Bil- des als Abdruck der Zeit). Wir vertrauen dem Foto, weil wir wissen, dass es au- tomatisch entstanden ist. Doch eben dieses Wissen um seinen Entstehungspro- zess gebietet uns gleichzeitig, es in Frage zu stellen. Jedes Bild kann gefälscht sein. Was geschah genau vor und nach dem Auslösen der Kamera? Was passiert außerhalb des Bildes? In welche Geschichte wird das Bild eingefügt, und wie wird das Bild implizit und explizit für die historische Erzählung eingespannt? Auch wenn diese Fragen den Wahrheitsanspruch eines fotografischen Bildes nicht vollständig in Zweifel ziehen, untergraben sie doch die falsche Gewissheit, die das fotografische Bild verspricht. Geschichte liegt, um es vereinfacht auszu- drücken, nicht in dem Bild; die Fähigkeit des Bildes, als historisches Beweismit- tel zu fungieren, findet sich in seiner kontextuellen Einfassung, in dem, was man uns über das Bild mitgeteilt hat (oder was wir darin wieder erkennen). Wer hat es gemacht und warum? Wo und wann ist es entstanden? Zeitgenössische Dokumentarfilmtheorie zeigt, dass die Evidenz herstellende, indexikalische Eigenschaft des fotografischen Bildes erst dann als Beweiskraft gilt, wenn sie rhetorisch als solche eingeordnet wird, um strittige Behauptungen 11 Zur „Geschichtlichkeit“ von Found Footage siehe Katz 1991. 122 Michael Zryd montage/av zu stützen oder zu entkräften – selbst eine so simple Behauptung wie die von Bill Nichols in seinem Anspruch auf vérité: „So ist es doch, oder nicht?“ (1991, 114).12 John Tagg (1988a) demonstriert, dass Fotografien und Filme an den meis- ten US-amerikanischen und britischen Gerichtshöfen keinen rechtlichen Be- weisstatus besitzen, wenn nicht entsprechende Garantien erbracht werden, was Entstehungszeit und –ort sowie die Identität des Fotografen und die Produk- tionsbedingungen des Bildes angehen. Nur selten spricht ein Bild „für sich“, ob- wohl es häufig in einen rhetorischen Kontext gebettet wird, der zu verstehen ge- ben soll, dass es dazu in der Lage ist.13 Filmmaterial ist in der Tat außerordentlich gefügig, seine Bedeutung und sein tieferer Sinn liefern ebenso der Kontext wie der „Inhalt“ des Bildes. Der historische Verweis rückt ab vom exakten, fakti- schen Nachweis historischer Ereignisse, indexikalisch festgemacht an bestimm- ten Zeitpunkten und Orten, an der symbolischen Heraufbeschwörung von Dis- kursen, am sozialen Gedächtnis sowie an Denk-, Glaubens- und Ideologiemo- dellen. Die Found Footage-Collage übertreibt diese Formbarkeit und setzt das vorgefundene Material in einen neuen Kontext, der die Diskurse hinter dem Bild in den Vordergrund bringt und kritisch beleuchtet. In seinem Text „On the Virtues and Limitations of Collage“ beschreibt Paul Arthur den etwas zweifelhaften Einsatz von Archivmaterial und Found Footage zu Beweiszwecken. Er skizziert eine allgemein übliche Unterscheidung zwi- schen „Mainstream-Dokumentarfilmen und experimentellen Essays“, die auf der Annahme „zweier Ontologien von Found Footage-Material“ beruht (Ar- thur 1997, 4). Die erste, „realistische“ Verwendung von Found Footage im Mainstream-Dokumentarfilm ist meist „illustrativ oder analog“, da das Archiv- material als Beweismittel zur Unterstützung der Tonspur fungiert, normaler- weise in Form eines Voice-over, mit dem das Hauptargument formuliert und das Bild im Wesentlichen mit einer „Bildunterschrift“ versehen wird. Die zweite „Ontologie“ besteht in der, wie Arthur sie nennt, „figurativen“ oder metaphori- schen Verwendung von Found Footage in experimentellen Filmessays (1997, 4). Schließlich behauptet Arthur, dass Footage auch im nicht-experimentellen Kino zumeist sowohl metaphorisch als auch illustrativ funktioniert, vor allem im für 12 Siehe dazu auch Carroll 1997, Plantinga 1997, Tagg 1988b und Winston 1995. Trotz ihrer theo- retischen Meinungsverschiedenheiten sind sich die Autoren über die Grenzen des Films hin- sichtlich seiner Herstellung von Evidenzen einig. 13 Die stümperhafte Strategie, die die Staatsanwaltschaft im Fall Rodney King 1991 in Los Angeles anwandte, ist ein Beispiel für eine rhetorische Strategie, bei der versucht wurde, bildliches Beweismaterial „für sich selbst sprechen“ zu lassen. Die Verteidiger der Polizisten behandelten das Band, das deutlich zeigt, wie King verprügelt wird, als „Text“ und konnten es auf diese Wei- se ganz im Sinne ihrer Beweisführung einsetzen und interpretieren. Siehe Nichols 1994. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 123 den Mainstream-Dokumentarfilm typischen „generischen“ Bild: „viele, viel- leicht sogar die meisten illustrativen Instanzen der dokumentarischen Collage werden nicht als wörtliche, sondern als figurative Repräsentationen ihrer Sub- jekte verstanden“ (1997, 5). Während beispielsweise das Voice-over in dem US-Dokumentarfilmklassiker The River (USA 1937, Pare Lorentz) vom Be- ginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert berichtet, zeigt die Bildspur um- stürzende Bäume, das Aufladen von Baumwolle und andere gängige Sinnbilder industriellen Fortschritts. Hier dient das vorgefundene Material nicht als Beweis für diese Industrialisierung (offensichtlich wurde das Material nicht Mitte des 18. Jahrhunderts gedreht), sondern ist figurativ: So ähnlich hat die Industrialisie- rung ausgesehen. Arthur führt ein Beispiel aus der US-Propagandareihe Why We Fight (Warum wir kämpfen, USA 1941–1945, Frank Capra) aus dem Zweiten Weltkrieg an, „in der exakt dasselbe Stück Film einer verängstigt in den ausgebombten Straßen herumlaufenden Frau mit Kopftuch in drei verschiede- nen Episoden verwendet wird, die vorgeblich in drei verschiedenen Ländern an- gesiedelt sind“ (1997, 7). In der zeitgenössischen Dokumentarfilmpraxis stellt die exakte, Evidenzen herstellende Abbildung eher die Ausnahme als die Regel dar, und, so behauptet Arthur, die „expressiven, symbolischen Dimensionen der Collage“ (1997, 7) sind im Dokumentarfilm stärker verbreitet als gemeinhin anerkannt wird. Schon seit dem ersten Jahrzehnt der Filmgeschichte haben Filmemacher Ar- chivmaterial und Found Footage für figurative Zwecke verwendet und Bilder für unterschiedliche Szenarien und Argumente in neue Kontexte eingebracht. Ganz gleich, ob diese Filmemacher das Material aus bereits veröffentlichten Filmen bezogen, in Staatsarchiven, Firmenarchiven oder bei kommerziellen Bildagen- turen danach suchten oder es aus den Abfalleimern der Filmlabore retteten, sie gewannen dem Material neue Bedeutung und neue Deutungsmöglichkeiten ab. In Filme aus Filmen, einer frühen Studie des Kompilationsfilms, zitiert Jay Ley- da ein Beispiel aus dem Jahre 1898 von Francis Doublier, der aus einer Reihe von Actualités und inszenierten One Shot-Filmen, die in keiner Verbindung zum Fall Dreyfus standen, eine lose Erzählung der Dreyfus-Affäre konstruierte. Das Filmmaterial hatte er aus dem Katalog der Brüder Lumière ausgesucht und für seine Zwecke recycelt (1967, 11f). Auf Spielfilme spezialisierte Studios richteten eigene Bildarchive ein, damit sie für ihre Lang- und Kurzfilme nicht immer wie- der neue Motiv- und Landschaftsaufnahmen machen mussten. Archivbilder fü- gen sich im Allgemeinen nahtlos in neu produziertes Material ein, oder aber sie werden bewusst abgesetzt, um die geschichtliche Herkunft der Handlung zu kennzeichnen, beispielsweise in historischen Biografien. Der Kompilationsfilm, ein spezielles Subgenre des Dokumentarfilms, verwendet Found Footage-Mate- 124 Michael Zryd montage/av rial, unterwirft es aber einer Vielzahl von rhetorischen Intentionen, darunter auch kritischen (z. B. in den Filmen von Esfir Shub, Michail Romm, Henri Storck, Emile de Antonio und Alain Resnais); meistens geht es jedoch um einfa- che Chroniken.14 Im Experimentalfilm gibt es eine größere Bandbreite an Sub- genres, die vorgefundenes Filmmaterial verwenden.15 Einige befassen sich mit Hollywood und/oder der Filmgeschichte, sei es, um die Ikonografie des Stars unter die Lupe zu nehmen – transzendental wie Joseph Cornell in Rose Hobart (USA 1939), ironisch wie Mark Rappaport in Rock Hudson’s Home Movies (USA 1992)16 – oder die Tropen der Filmsprache zu untersuchen wie z. B. Gus- tav Deutsch in seiner Film ist-Reihe (Österreich 1998–2002) oder Peter Delpeut in Lyrisch nitraat (Niederlande 1991). Andere schlachten einen einzigen Filmbestand aus, um aus seinem Material eine andere Version von Geschichte zu konstruieren wie z. B. Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucci in Dal polo all’equatore (Italien 1986), in dem diese die frühen Reisefilme eines italieni- schen Kameramanns so zusammenschnitten, dass deren neokolonialistische Ideologie offenbar wurde. Craig Baldwins Filme stehen ganz in der Tradition des einflussreichen amerikanischen Künstlers Bruce Conner, der 1958 mit A Movie (USA) seinen ersten Found Footage-Film machte. Conners Vermächtnis findet sich in einer großen und vielfältigen Mischung von Künstlern wieder, so 14 So greift beispielsweise Why We Fight nicht nur auf Hollywood-Bildarchive zurück, sondern bedient sich auch bei dokumentarischen Aufnahmen aus Produktionen der US-Regierung sowie bei feindlichem Wochenschau- und Propagandamaterial. Der Einsatz von Bildern von Massenkundgebungen aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens (D 1934) soll sowohl die Gefahr (die Bedrohlichkeit der Massen) demonstrieren als auch den Dirigismus ins Lächerliche ziehen: Das Material wird gegen seinen ursprünglichen politischen Willen eingesetzt, bleibt aber in seinen politischen und historischen Absichten verhaftet. In der UdSSR richtete sich Dziga Vertov ein eigenes Archiv aus Schnittresten ein („Factory of Facts“), während Esfir Shub in Padenie dinastii Romanovych / Fevral (Der Fall der Dynastie Romanov, UdSSR 1927) die ureigenen ‚Homemovies‘ des Zaren sowie Wochenschaumaterial neu zusammenstellte, um die ideologischen Anmaßungen, die der Produktion des Originalmaterials zu Grunde lagen, zu entlarven und in den Vordergrund zu rücken. Shubs Montage rekontextualisiert den einst gefei- erten Diskurs des Originalmaterials und eröffnet damit eine ironische Sichtweise, die die Bilder und deren legitimierende Logik von Herrschaft und Klasse hinterfragt. 15 Schon 1930 baute Luis Buñuel dokumentarische Aufnahmen von Rom in seinen avantgardisti- schen Film L’age d’or (Das goldene Zeitalter, F) ein. In Recycled Images, William Wees’ enzyklopädischer Erhebung über Found Footage-Filmemacher, finden sich in einer Filmauflis- tung nach Jahrzehnten folgende Zahlen: 6 in den 1930ern, 4 in den 1940ern, 3 in den 1950ern, 48 in den 1960ern, 56 in den 1970ern, 105 in den 1980ern. Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Jahre 1993 wurden 39 Filme für die 1990er aufgelistet; seitdem sind viele weitere Kompilations- filme entstanden. 16 Eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Experimentalfilmen, die Hollywood-Footage umarbeiten, leistet Wees 2002. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 125 Abb. 3a–d D ISPLACED PERSON (USA 1981, Daniel Eisenberg) auch bei Craig Baldwin, Abigail Child, Julie Murray und Leslie Thornton. Wie viele seiner Nachfolger untersucht Conner die metaphorischen Eigenschaften des gefundenen Materials und stößt dabei auf Vieldeutigkeiten und Offenbarun- gen sowohl in den wieder erkennbaren ikonischen Bildern, die mit kulturellen und historischen Konnotationen vollgestopft sind, als auch im Detritus, den scheinbar belanglosen Aufnahmen, deren schiere Banalität und Allgegenwart von experimentellen Found Footage-Filmemachern mit den Massenmedien as- soziiert wird.17 Die gängigste figurative Dimension von Found Footage liegt vielleicht in sei- ner Macht als kulturelle Ikone. Found Footage besitzt ein bemerkenswertes Po- tenzial im Hinblick auf die Verdichtung, die Komprimierung historischer „Er- innerung“, die als illustrativ-fiktiv oder ironisch ins Bild gesetzt wird.18 In 17 Zum „Detritus-Kino“ siehe MacKenzie 1998. 18 So kann beispielsweise eine einzige Aufnahme des Apollo-11-Mondspaziergangs als eine Metonymie fungieren und verschiedene Assoziationen und Erinnerungen wachrufen: amerikanischen Nationalstolz, den Sieg des Kalten Krieges beim Wettrennen um den Weltraum 126 Michael Zryd montage/av Mainstream-Texten wird das aufgearbeitet, was Joel Katz „einen neuen Dialekt der Filmgeschichte“ nennt, der zu einer „immer stärker verschlüsselten, kon- ventionalisierten und unhinterfragten Praxis geführt hat“ (1991, 96). Die stei- gende Anzahl von Filmen, in denen Archivmaterial verwendet wird, ist auch eine Folge der kommerziellen Bildarchivindustrie. In den meisten von ihnen wird diese Konstruktion und endlose Fortsetzung der Ikonografie befürwortet und bedient. Ikonisches Bildmaterial verbreitet sich durch Wiederholung. In den fünf Jah- ren, in denen ich für die große amerikanische Bildagentur Archive Films gear- beitet habe, konnte ich beobachten, dass fast alle Mainstream-Bildproduzenten, vor allem die aus Werbung und Fernsehen, ikonischen Bildern den Vorzug ga- ben vor historisch exakten Aufnahmen. Wichtig war, dass Bilder „schnell“ und eindeutig gelesen werden konnten, sich also in die vertrauten Diskurse und Be- deutungen einklinkten, die damit heraufbeschworen werden sollten. Bestimmte Archivanfragen waren so vorhersehbar, dass hauseigene Bänder mit häufig nachgefragten Bildern zusammengestellt wurden. „The History of the Twen- tieth Century“ („Die Geschichte des 20. Jahrhunderts“) war eines dieser Archi- ve-Films-Compilation-Tapes, in dem ein Jahrhundert Weltgeschichte auf weni- ger als zwei Stunden komprimiert wurde. Gezeigt wurden in erster Linie Ereignisse aus der Geschichte der USA, und alles, was nicht auf Film war, war natürlich auch nicht Geschichte. Es ist an der Zeit, Archivmaterial sowohl zur Veranschaulichung als auch für ironische Zwecke einzuspannen, schließlich ist es in der Lage, „offizielle“ insti- tutionelle Diskurse auf eine äußerst ökonomische Art und Weise kundzutun und zu interpretieren: Seine Ikonografie ist der Inbegriff des Stereotyps. Der Filmemacher Yann Beauvais hat dies folgendermaßen formuliert: „Das Zitat funktioniert einfach besser, weil es die Eigenschaften des Klischees in sich trägt“ (1992, 21). Found Footage-Fragmente können als „Synekdoche für die Zusam- menhänge fungieren, denen sie entnommen wurden“ (Peterson 1992, 57), wobei der Bild-„Teil“ als pars pro toto für die „gesamte“ ideologische Matrix dient, die ihn hervorgebracht hat. Laut James Peterson kann die symbolische Macht des ikonischen, metonymi- schen Bildes auch kritisch eingesetzt werden, und zwar gegen den offiziellen Diskurs, der sie hervorbringt und sanktioniert: „Mit Found Footage-Kompila- und den Triumph der Technik. Im Allgemeinen signifiziert Found Footage in einem metaphori- schen Sinne, weil es breitgefächerte und grundverschiedene Bedeutungszusammenhänge wach- ruft. Da seine Bilder aber konkrete Fragmente, die der Welt und den Texten anderer entrissen wurden, darstellen, könnte man auch behaupten, Found Footage sei metonymisch. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 127 tionsfilmen haben Filmemacher die amerikanische Kultur angegriffen, indem sie sich ihrer Ikonografie bemächtigt haben und Strategien und Strukturen entwi- ckelten, um die Kultur zu kritisieren, die ihnen das Material dazu lieferte” (1882, 75). Baldwin bezeichnet seine Strategie als „Medien-Jujitsu“, „man setzt das Ge- wicht dieses absurden, lächerlichen Glaubens gegen eben diesen ein, dreht ihn herum und übt Kritik“ (Halter 1999, 2). Je stärker die diskursive Kraft, die in dem ikonischen Bild erzeugt wird, desto größer der potenzielle Effekt der ironi- schen Umkehrung. Baldwins „Medien-Jujitsu“ ermöglicht es dem Künstler, durch „symbolische Geschicklichkeit“ die Macht eines kulturellen Symbols ge- gen dieses selbst zu richten. Die ironische Rekontextualisierung vermint das subversive Potenzial, das vielen Archivaufnahmen als Quelle des offiziellen Dis- kurses anhaftet, egal ob diese in Regierungskreisen, der Industrie oder der Un- terhaltungsmedien- und Nachrichtenindustrie angesiedelt ist. Wieder einmal dient das Material als “Beweis” – aber nicht, um ein Ereignis nachzuweisen, son- dern als Beweis für den Wahnsinn der offiziellen Diskurse, denen das Archiv- material entspringt. In seinen Filmen hebt Baldwin auch Parallelen zwischen den ideologischen Diskursen in der Vergangenheit und der Gegenwart hervor und beleuchtet un- ter Verwendung archaischer und deshalb augenfälliger Formen der Propaganda zeitgenössische politische Ideologie. Baldwin macht sich etwas zunutze, was er die „Parallax-Perspektive“ nennt; er entlarvt die unsichtbare zeitgenössische Ideologie – nach Baldwins Ansicht ist den USA „die Anmaßung, dass sie die Welt beherrschen, zu Kopf gestiegen“ – mit Hilfe der sichtbar überholten Ideo- logie älterer Found Footage-Texte: In den 50ern wirkt es absurd, also habe ich es als Spiegel benutzt, um damit die 90er zu kritisieren. Es ist unverfrorene, schamlose Propaganda – man braucht sie nur umzudrehen, und sie schießt sich selbst ins Knie. (Halter 1999, 2) In Tribulation 99 benutzt er die Parallax-Perspektive, um der expliziten und hysterischen antikommunistischen Rhetorik von Filmmaterial aus der Zeit des Kalten Krieges, also der vierziger und fünfziger Jahre, Bilder von Oliver North, dem Chef der CIA, George Bush und der US-Invasion in Grenada und Panama gegenüberzustellen. Auf diese Weise verbindet er die ideologischen Projekte der Vergangenheit mit denen der Gegenwart. Der Filmemacher Standish Lawder erörtert, wie sich „versteckte Bedeutung“ mit Hilfe der ironischen „Dekontextualisierung“ extrahieren lässt: 128 Michael Zryd montage/av Dekontextualisierung ist ein schwerfälliger Ausdruck, aber er trifft es. Der ursprüngliche Kontext wird ausgelöscht. Das Bild wird in einem neuen Kontext präsentiert und erhält stets eine neue Tonspur. Von seinem ursprünglichen Kontext befreit, wird es nun in Schichten aus Spekulatio- nen, subjektiven Erinnerungen und poetischer Ambiguität gehüllt. Inten- tion und Bedeutung werden zweifelhaft. Die wirkliche Bedeutung des eigentlichen Originalbildes schwebt irgendwo außerhalb des Bildes; warum es gefilmt wurde, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Was gefilmt wurde, bleibt jedoch konstant, nur dass es jetzt von Tausenden neuer Warums umgeben ist. (1992, 113ff) Durch die Montage wird das Filmmaterial neu verortet. Diese neue Kadrierung fordert Antworten auf die Frage, warum es gefilmt wurde. So könnte beispiels- weise das „Warum“ der Bilder des Apollo-11-Mondspaziergangs – d. h. die his- torische Motivation für deren Existenz – als ehrlich postuliert werden (z. B. weil es die technologische Überlegenheit Amerika als Nation gebietet, als Erster auf dem Mond zu landen), oder es ließe sich rekontextualisieren, um zu einer kriti- schen Interpretation anzuregen (z. B. dahingehend, dass der amerikanische Mythos der Eroberung der frontiers und der wirtschaftliche Imperativ der Expansion nur beibehalten werden konnten, indem man imaginäre Grenzen wie den Weltraum aufrechterhielt). Dekontextualisierung schafft Ambiguität und erschließt das Filmmaterial zugleich für ein besseres Verständnis seiner histori- schen Zusammenhänge. Für Baldwin sind sowohl die Vielfältigkeit als auch die Fülle der möglichen Bedeutungen wichtig: „Man kann jede Richtung einschlagen. Das macht das Wesen von Found Footage aus ... Ich mag diese Art von Fortpflanzung und Ver- vielfachung – es bricht auf und bringt eine ganz eigene Komplexität zum Vor- schein, Schicht um Schicht um Schicht“ (zitiert in Wees 1993, 12). In seiner Struktur repliziert Tribulation 99 diese Fortpflanzung, vervielfacht die Schichten seiner Collage-artigen Konstruktion und enthüllt die versteckten Ebenen des historischen Diskurses, die den ideologischen Kräften hinter der US-amerikanischen Lateinamerikapolitik zu Grunde liegen. Baldwin bedient sich der Ironie und liefert eine absurde, oberflächliche Erklärung – im Unter- grund arbeitende Aliens –, mit der er die tatsächliche Absurdität und die nieder- trächtigen Methoden des US-Imperialismus ins Lächerliche zieht: eine paranoi- de und selbstbezogene Angst vor autonomen politischen Aktionen in dieser Region. Abschließend möchte ich mich auf ein Beispiel von Baldwins Found Footage- Verwendung konzentrieren, das verdeutlicht, auf welche Weise seine ironische 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 129 Rekontextualisierung eine metahistorische Analyse kultureller Diskurse leistet. Craig Baldwin bezeichnet Tribulation 99 als „Pseudo-Pseudo-Dokumentar- film“. Doch wo Fake Documentaries zur Schaffung ironischer Fiktionen für ge- wöhnlich auf konventionelle Mittel des Dokumentarfilms zurückgreifen, „fälscht“ Baldwin ein ganz bestimmtes Subgenre einer Randerscheinung des Dokumentarfilms – den „Pseudo-Dokumentarfilm“, wie er ihn nennt. Das Spektrum dieses Genres reicht von „wissenschaftlichen“ Dokumentarfilmen wie Erinnerung an die Zukunft (BRD 1970, Harald Reinl) und The Hell- strom Chronicle (USA 1971, Walon Green, Ed Spiegel) über rechtsextreme Verschwörungsgeschichten (im Anschluss an die fünfziger Jahre entstandene antikommunistische Filme wie Red Nightmare [USA 1962, George Waggner]) bis zu den apokalyptischen Mahnungen fundamentalistischer Christen. Auf ei- ner vordergründigen Ebene verspottet Baldwin dieses obskure Subgenre und seine absurde Vermengung von Ausbeutung und spinnertem Verschwörungs- denken, in der sich sowohl UFO-Fanatiker als auch rechtsextreme Bürgerweh- ren und fundamentalistische Christen suhlen. Aber er tut diese Texte nicht ein- fach ab, sondern versteht sie vielmehr als destillierte Manifestationen extremer politischer Positionen – und metahistorischer Narration –, die er durchaus ernst nimmt und als grundlegenden Ausdruck der politischen Kultur der USA postu- liert. Der auf das christliche Geschichtsverständnis gegründete rechte Militaris- mus ist keine Randerscheinung, sondern – immer noch – von zentraler Bedeu- tung für das in Amerika vorherrschende Regierungssystem und dessen Ideologie. In einem der von Baldwin aufgegriffenen „Pseudo-Dokumentarfilme“, der 70er-Jahre-Verfilmung von Erich von Dänikens Bestseller Erinnerungen an die Zukunft, wird uns weisgemacht, dass Aliens seit Jahrtausenden die Erde besu- chen. Von Däniken findet hierfür überall Beweise, von Ezechiel über die alten Ägypter bis zu den Ausgrabungen der Inka. Baldwin betrachtet von Dänikens Spekulationen als ethnozentrische Metanarrative einer westlichen Übermacht, die behauptet, die technologischen Errungenschaften dieser Zivilisationen seien das Vermächtnis „bärtiger, hellhäutiger“ Besucher aus dem All – eine Verdich- tung der europäischen (d. h. weißen) und christlichen Einflüsse in der Vorstel- lung von einem Jesus-artigen Außerirdischen. Baldwin „zitiert“ eine Reihe von Bildern aus diesem Film. Bei einem handelt es sich um eine Überblendung, in der die Umrisse einer alten Felsenmalerei mit den Aufnahmen vom Weltraumspa- ziergang eines amerikanischen Astronauten überlagert werden. Mit dieser ver- einfachten Abstraktion reproduziert er die vereinfachte und abstrahierende Lo- gik in der Beweisführung von Dänikens, die das Symbol westlicher Technikex- pertise über einen nicht-westlichen Archäologiefund projiziert und damit die 130 Michael Zryd montage/av Abb. 4a.b TRIBULATION 99 Malerei herablassend als mythisch und barbarisch abtut. Wichtig ist dabei, dass dieses Bildzitat die Rhetorik der kulturellen Überlegenheit in einer Annäherung der Metanarrativen von Rasse und Technologie ansiedelt. Die Außenpolitik der USA in Lateinamerika wird in erster Linie von wirtschaftlichen Investitionen motiviert, unterstützt von materiell überlegenen militärischen und ökonomi- schen Kräften. Legitimiert werden die Bedingungen dieser Überlegenheit von der ideologischen Matrix in Erich von Dänikens Text, die uns zu verstehen gibt, dass alles Wissen und aller Reichtum, in deren Besitz andere Zivilisationen einst gewesen sein mögen, von „hellhäutigen“ Besuchern aus dem Weltall stammen, verkörpert in dem fundamentalen Anspruch der USA auf kulturelle Überlegen- heit, ihrem symbolischen Sieg im Wettstreit um die Vormachtstellung im All.19 Baldwins Zitat aus Erinnerungen an die Zukunft ruft uns dementsprechend eine ganze Reihe von ideologischen Diskursen ins Gedächtnis, die die weiterge- hende Kritik von Tribulation 99 an der vermeintlichen kulturellen Überlegen- heit der USA unterstützen, einer Anmaßung, die schließlich auch eine US-Inter- vention in Lateinamerika rechtfertigt.20 19 Baldwin dreht die Überlegenheit der Aliens jedoch um. Anstelle von Weißen, die aus der Luft kommen und die Zivilisation bringen, sind die Quetzals, die eine reptilienartige Form anneh- men, gezwungen, im Untergrund zu leben. 20 Wer den Film zum ersten Mal sieht, wird natürlich nicht alle diese Bedeutungen „lesen“ können – und auch für den eingeweihten Betrachter können sie undurchsichtig erscheinen. Angesichts dieser Dichte könnten viele Zuschauer geneigt sein, nach einem Anhaltspunkt in der histori- schen Wirklichkeit zu suchen. Catherine Russells kritische Reaktion auf den Film ist dort berechtigt, wo sie die Distanz zwischen der historischen Referenz und Baldwins Sperrfeuer aus Bildern anprangert, ein Symptom für die enorme Wirkung des Films. Der Grund für meine Reaktion auf den Film – der Versuch, eine in den Film eingebettete Klarheit und historische Logik darzulegen –, ist der besessene Wunsch, irgendeine Art von Struktur zu finden, um die durch den Film hervorgerufene epistemologische Panik zu ersticken. 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 131 Seit den vierziger Jahren wurde antikommunistische Hysterie (in Tribula- tion 99 verkörpert durch Auftritte von kalten Kriegern wie Foster Dulles und zeitgenössischen Politikern des äußeren rechten Flügels wie Oliver North und George Bush Senior) als Fassade für den politischen und wirtschaftlichen Impe- rialismus der USA missbraucht. Der Film treibt diese Hysterie auf die Spitze, in- dem er aus imaginären Kommunisten imaginäre Aliens macht – und Verstöße gegen das Menschenrecht gelten nun mal nicht als solche, wenn sie sich gegen nicht-menschliche Aliens richten.21 Baldwin bemüht viele der Metaphern für den Kommunismus, wie wir sie aus US-amerikanischen Propaganda- und Science Fiction-Filmen der fünfziger Jahre kennen (Krankheit, Degeneration, Apparate, Gedankenkontrolle), und besonders deren Tropen für subversive Untergrundbewegungen und trügerischen Schein. In der paranoiden Logik des Kalten Krieges verlangte das trügerische Wesen des Kommunismus nach einer gleichermaßen trügerischen Reaktion, was eine ganze Reihe von verdeckten Ak- tivitäten rechtfertigte, die eine implizite Unterscheidung zwischen gutwilliger Irreführung und böswilliger Irreführung, gutwilligen Verschwörungen und böswilligen Verschwörungen trafen. Diese Logik wurde im Gegenzug dazu be- nutzt, eine weit reichendere verdeckte Strategie zu rechtfertigen; die anti-kom- munistische Rhetorik verschleierte einen fundamentaleren Wirtschaftsimperia- lismus. Einerseits wird die historische Hinterfragung in Tribulation 99 zu einer me- tahistorischen Kritik an der Art, wie amerikanische Geschichtsschilderungen ihrerseits von apokalyptischen und verschwörerischen Ideen strukturiert wer- den, denn die passenden Illustrationen für die vorherrschenden rassistischen, rechten und christlich-apokalyptischen Ideologien findet Baldwin im Detritus der Medienkultur. Für Baldwin sind die legitimierenden Diskurse hinter den historischen Kräften, die historische Ereignisse in Gang bringen, bereits in sei- nem Found Footage eingebettet. Ihre Bedeutung wird mittels einer ironischen Rekontextualisierung in der Ton- und Bildmontage sowie der gezielt ausge- wählten, ideologisch gefärbten und im Film dramatisierten „Stimmen“ aktiviert und freigesetzt. Andererseits befasst sich der Film damit, wie die US-Regierung die Irrefüh- rung der Bevölkerung im Namen eines nationalen Interesses rechtfertigt (Wi- derstand gegen den Kommunismus), das in Wirklichkeit von unausgesproche- nen staatlichen und unternehmerischen Interessen motiviert ist. Verdeckte Aktivitäten finden im Namen des Allgemeinwohls statt, aber nicht im Namen 21 Der US Immigration and Naturalization Service stuft alle nicht-amerikanischen Bürger als Aliens ein. 132 Michael Zryd montage/av der Wahrheit – genau wie Baldwins Fake Documentaries. Doch ist Baldwins „Fälschung“ kein Betrug, denn wie bei allen Fake Documentaries wird die ironi- sche Einfassung hier deutlich gekennzeichnet: Baldwins „gefälschte Täu- schung“ liefert eine politische Kritik. Tribulation 99 entstand in der Amtszeit von George Bush und wurde in den USA zum ersten Mal während des Golfkriegs im Irak und in Kuwait gezeigt. Die dargestellte düstere metahistorische Narration handelt von denselben ideo- logischen Kräften, die auch heute noch wirken und in der Amtszeit von George W. Bush und seinem „Krieg“ gegen den Terrorismus wieder einmal die Gefahr mit sich bringen, dass das Verstehen von und die Verantwortung für globale Machtoperationen in der US-amerikanischen Kultur ausgelöscht wird. Das im Film vermittelte Gefühl der Paranoia und der apokalyptischen Bedrohung ist zudem symptomatisch für die düstere Stimmung, die gegen Ende der Amtszeit von Bush Senior in den USA unter linken Aktivisten herrschte. Natürlich gibt Tribulation 99 historische Ereignisse nicht realistisch wieder, doch es gelingt Baldwin, die tiefer liegenden ideologischen Strömungen einzu- fangen, um die es in den historischen Diskursen und Narrativen der Nach- kriegszeit ging. Die auf die Spitze getriebene – und zugleich historisch fundierte – Kritik der Found Footage-Collage stellt eine Form der rhetorischen Analyse dar, die größere und spezifische ideologische Wissens- und Wertesysteme an- greift, indem sie, bildlich gesprochen, mit den Quetzals in den Untergrund geht und den Betrachter so mit den Kräften und Motiven der Geschichte in Berüh- rung bringt. In Tribulation 99 geht es letztendlich darum, Ideologie sichtbar zu machen und die jeder ideologischen Position innewohnenden Wertansprü- che offen darzulegen, ob es sich dabei um die Rechtfertigungen der USA für ihre Einmischung in Lateinamerika handelt oder um die Kontrolle der Medien durch bestimmte Unternehmen, wie in Baldwins nächstem Film Spectres of the Spectrum (USA 1999). Die Extreme in Tribulation 99, der unumstrittene An- spruch auf Wahrheit auf der einen Seite und völlig fantastische Hirngespinste auf der anderen, tragen auch dazu bei, die Absurdität des Wahrheitsanspruchs verdeckter Operationen der US-Regierung und großer Unternehmen herauszu- stellen. Der Film imitiert die doppelzüngige Stimme dieser Operationen und übertreibt damit die der amerikanischen Außenpolitik zu Grunde liegende Lo- gik in einem Maße, das der Paranoia in der Allegorie der Invasion durch Aliens gleichkommt. Baldwin benutzt Found Footage, um von der referenziellen Reali- tät wegzukommen und auf die größeren ideologischen und diskursiven Gedan- ken- und Wertesysteme hinzuweisen. Das vorgefundene Material kann so er- neut seinen historischen Reichtum kundtun. Aus dem Kanadischen von Gaby Gehlen und Anja Schulte 11/1/2002 Found Footage-Film als diskursive Metageschichte 133 Literatur Arthur, Paul (1997) On the Virtues and Limitations of Collage (Transforma- tions in Film as Reality 6). In: Documentary Box, 11, S. 1–7. Baldwin, Craig (1991) Tribulation 99: Alien Anomalies Under America. New York: Ediciones la Calavera. – (1992) Statement. In: Hausheer & Settele 1992, S. 93. – (2000) Persönliches Interview, 12.2.2000. Beauvais, Yann (1992) Lost and Found. In: Hausheer & Settele 1992, S. 8–25. Carroll, Noël (1997) Fiction, Non-fiction, and the Film of Presumptive Asser- tion: A Conceptual Analysis. In: Film Theory and Philosophy. Hrsg. v. Richard Allen & Murray Smith. Oxford: Oxford University Press, S. 173–202. Child, Abigail (1992) Statement. In: Hausheer & Settele 1992, S. 93–101. Cicero, Marcus Tullius (1976) De oratore. Über den Redner. Ditzingen: Reclam. Däniken, Erich von (1968) Erinnerungen an die Zukunft. 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Zum Umgang mit der Vergangenheit in Seifenopern Geschichten Soaps sind traditionellerweise eine der Programmformen im Fernsehen, die neben ihrer Geschichte als Programme eine innere historische Dimension haben. Sie erzählen „endlose“ Geschichten: ihre Erzählstränge sind nicht auf einzelne Episoden begrenzt, sondern durchziehen in einem Geflecht die Serie und könnten potenziell immer weiter gehen oder jederzeit wieder aufgegriffen werden. Das Genre bietet damit Anlass und reichlich Anschauungsmaterial für Überlegungen zum Problem des Umgangs mit aktueller Geschichte, d. h. mit derjenigen Vergangenheit, die sich noch innerhalb des Erinnerungshorizonts befindet. Wie tief diese Vergangenheit zurückreicht, hängt von der Laufzeit der Serie, der Dauer der Zuschauerschaft und dem jeweiligen Erinnerungsvermögen ab. Selbst wenn jemand seit 1937 regelmäßig The Guiding Light1 verfolgt hätte, so wären ihm oder ihr sicherlich vor allem die letzten Jahre im Gedächtnis. Wäh- rend fast jedes andere Fernsehprogramm eine sofortige Teilnahme ermöglicht und selbst das Fehlen von Genre-Vorwissen sich auf Verständnis und Vergnü- gen nicht nachteilig auswirken muss, benötigen Seifenopern Zeit. Sie haben lan- ge Anlaufzeiten, und es dauert geraume Zeit, bis sie sich ihre Stammzuschauer erobert haben, die dann aber in der Regel Ausdauer und Treue zu ‚ihrer Soap‘ beweisen. Viele Zuschauer, die zu einem beliebigen Zeitpunkt mit der Rezepti- on einer Seifenoper beginnen, mögen diese zunächst nicht, aber wenn sie aus ir- gendwelchen Gründen trotzdem weiter zuschauen, finden sie allmählich Gefal- len. Für den, der sich in die Geschichten hineingefunden hat, entsteht nach und nach der rechte Genuss, und je mehr Zeit vergeht und je mehr ‚historisches‘ Wis- sen sich angesammelt hat, um so befriedigender ist das Rezeptionserlebnis. Die Dimension der Vergangenheit ist also essenziell für Seifenopern, und es stellt 1 The Guiding Light gehörte zu den ersten Radiosoaps, startete 1937, wechselte in den fünfziger Jahren ins Fernsehen und wird immer noch ausgestrahlt. 136 Heike Klippel montage/av sich die Frage, auf welche spezifische Weise sich diese Vergangenheit organi- siert. In den folgenden Überlegungen werde ich kursorisch die beiden Serien Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Verbotene Liebe als Beispiele heranziehen, inzwischen Klassiker des bundesdeutschen Vorabendprogramms.2 Sie repräsen- tieren recht gut die kontinentaleuropäische Variante der Daily Soap, die sich hinsichtlich Inszenierungsstil, Licht- und Farbgestaltung, Rhythmus und vor allem hinsichtlich ihrer weitaus schwächeren melodramatischen Aufladung stark von den amerikanischen Vorbildern unterscheidet.3 Wenn ich also von „der Seifenoper“ spreche, so ist dieser Ausdruck ungenau. Da mich hier aber die Vergangenheitsdimension als Charakteristikum der Narration und nicht die Vi- sualität interessiert, ist die Verallgemeinerung nicht ganz ungerechtfertigt. Was in einer Soap passieren kann und was nicht, ist zunächst einmal durch ei- ne Reihe von Konventionen bestimmt, die dafür sorgen sollen, dass die Narrati- on unterhaltsam, d. h. abwechslungsreich bleibt, dass ein gewisser – fragwürdi- ger – moralischer Standard aufrecht erhalten und der Rahmen der Produktions- kosten eingehalten wird. Infolgedessen dominieren Unglück und Kalamitäten, verlassen weibliche Figuren nach Abtreibungen immer die Serie und agieren so gut wie nie Kinder und Tiere, da diese die Produktion verteuern. Darüber hinaus sind die Figuren relativ festgeschrieben und damit die Möglichkeiten dessen, was ihnen zustoßen kann, begrenzt: ehrlich und treu, intrigant und hinterlistig, immer die falschen Partner wählend etc. Über Jahre hinweg spinnen die Serien ihre Endlosgeschichten, und ihr langjähriges Personal tritt regelmäßiger als die Darsteller der Zeitgeschichte in der Tagesschau auf, deren Erscheinen von ih- rem Aktualitätswert abhängt. Helmut Kohl, der über lange Zeit ein regelmäßi- ger Akteur der bundesdeutschen Nachrichtensendungen war, weilt zur Zeit im Off, und so gibt es auch in den Soaps eine Reihe von Personen, die man selten oder gar nicht mehr sieht und deren Wiederauftreten ungewiss ist. Eine Figur dagegen wie beispielsweise Dr. Gerner in Gute Zeiten, schlechte Zeiten hat seit zehn Jahren eine fast gleichbleibende Präsenz. Da auch diese Präsenz durch die Aktivitäten der Figur gerechtfertigt werden muss, besitzt Dr. Gerner eine Biographie, deren Ereignisreichtum schier ungeheuerlich ist. Jede Soap und 2 Gute Zeiten, schlechte Zeiten ist die deutschsprachige Soap mit der längsten Laufzeit. Sie wird seit 11.5.1992 auf RTL ausgestrahlt und lag im August 2001 bei rund 2300 Folgen. Verbo- tene Liebe (ARD) hat es seit 2.1.1995 auf etwa 1600 Folgen gebracht. Für eine Charakteri- sierung der beiden Soaps siehe O’Donnell 1998, S. 58ff. 3 Britische Soaps pflegen dagegen eine Tradition des Alltagsrealismus, die von den bundesdeut- schen täglich ausgestrahlten Serien nicht aufgenommen wurde. An britischen Beispielen orien- tierte sich vielmehr die sonntägliche Lindenstraße (WDR). 11/1/2002 Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? 137 ebenso ihr Stammpersonal haben nach einer gewissen Laufzeit eine Geschichte angehäuft, die derartig komplex und beängstigend verwickelt ist, dass ihre Ein- zelheiten sich auf Grund der großen Quantität einer genaueren Rekonstruktion weitgehend entziehen. Wie in der Politik aber waltet auch hier die Milde des Vergessens, des schnellen Bedeutungsverfalls und der übermäßigen Bewertung des Präsens. Kohls „Gnade der späten Geburt“, sein Blackout, und welche Ver- gehen man auch immer noch vage erinnert, sind längst überschattet von neuen Schandtaten und Errungenschaften, und es möge niemand den Seifenopern vor- werfen, dass Dr. Gerner einmal gelähmt war, Frau Meinhart mindestens einmal wahnsinnig gewesen ist und beide jetzt wieder froh und gesund sind, als sei nie etwas gewesen. Wie in den Nachrichtensendungen zerfallen Biographien in mehr oder weniger lange Fragmente, und Persönlichkeiten gewinnen auf diese Weise eine unglaubliche Flexibilität und Wandelbarkeit. Bei einer solchen flachen Gegenwart mit latenter historischer Aufladung en- det zunächst einmal die Vergleichbarkeit der Soaps mit der Politik (abgesehen von der bisweilen deprimierenden Absurdität der Ereignisse), denn in den Sei- fenopern ist natürlich mehr möglich als schlichtes Vergessen und Erneuerung bzw. Aussitzen und Comeback. So viele Berufe, Firmenleitungen, Zusammen- brüche, Ehen, Kinder etc. eine einzelne Figur auch gehabt haben mag, sie kann immer wieder zurück auf Start, und niemand weiß, welche Teile ihrer Geschich- te nur suspendiert oder tatsächlich gelöscht sind. Arno Brandner in Verbotene Liebe beispielsweise hatte im Spätsommer 2001 nach zwei Sets leiblichen Kin- dern gerade die zweite Generation angenommener Kinder im Haus und die drit- te Gattin geheiratet, während die erste Gattin ebenfalls noch in der Serie war. Mit dieser hatte er zwei Kinder (sie leben im Off, werden aber nie mehr erwähnt) und mindestens zwei nacheheliche Affären. Aber wer die Serie nicht seit langem verfolgt hat, wäre kaum auf die Idee gekommen, dass die beiden sich näher ken- nen. Dies mag man damit erklären, dass diese Ereignisse zu weit zurückliegen und für die jetzigen Erzählstränge nicht relevant sind, aber solche Zeitangaben bedeuten wenig, denn die gleiche Dame hat vor kurzem ihren zweiten Gatten in den Tod getrieben und ward von allen gehasst und geschnitten, wurde aber an- schließend rehabilitiert und war allgemein gut Freund, bevor sie selbst das Zeit- liche segnete. „Lange her“, „vor kurzem“, solche subjektiven Einschätzungen sind bei Sei- fenopern noch viel schlechter anwendbar als im Alltag, da sich hier diverse Zeit- konzepte überschneiden. Zum einen gibt es den schnellen Lauf der Dinge in der Serie, in der die Abfolgen verdichtet sind, ein beständiger Bedeutsamkeitsdruck herrscht und Ereignisse in regelmäßigem Rhythmus stattfinden müssen, so dass ein Monat Serie womöglich ein Jahr „wahres Leben“ füllen würde. Dieses Phä- 138 Heike Klippel montage/av nomen durchmischt sich mit der Langsamkeit des Alltags, des Alltags der Zu- schauer, aber auch dem der täglichen Ausstrahlung. Alltag bedeutet natürlich, dass sich nicht immer etwas ereignen kann, und so fließt nicht nur das Leben der Zuschauer, sondern auch das der Serie langsam, wenn nicht gar langweilig dahin. Nicht umsonst wird den Seifenopern von ungeneigten Zuschauern immer wie- der vorgeworfen, sie seien fade und ereignisarm, denn ihr Rhythmus ist in der Tat langsamer als der einer wöchentlich ausgestrahlten Serie, die abgeschlossene Episoden präsentiert. Während diese die aufgeworfenen Probleme zügig löst, müssen Seifenopern die Ereignisse so lange wie möglich dehnen, wobei die Er- zählbögen abflachen und erst nach Wochen wieder gestrafft und angespannt werden. Auf diese Weise paart sich Fülle mit Redundanz. Hinzu kommt eine Reihe von Kompromissbildungen. Da die Serie auf ihre Langzeitrezipienten angewiesen ist, kann sie ihre eigene Vergangenheit und da- mit den Erinnerungsschatz der Zuschauer nicht ignorieren, sondern muss dieser Vergangenheitsgetränktheit gerecht werden und sie affirmieren. Bei der Ent- wicklung allzu komplexer und voraussetzungsreicher Geschichten muss die Se- rie aber zugleich auch vorsichtig sein, sie darf nicht auf zuviel Vorwissen aufbau- en. Die Serie darf neue Zuschauer nicht abschrecken und kann sich nicht unbeschränkt auf das Gedächtnis der Stammzuschauer verlassen. Hier, spätes- tens, geraten „zu lang/zu kurz“ endgültig ins Schwimmen. Wieviel Ausdauer hat der Nachwuchs? Wo liegen die Toleranzgrenzen der Alt-Zuschauer? Wie- viel vergessen sie, wollen sie nicht erinnern, ab wann langweilen sie sich, ab wann wird es ihnen zu wirr, zu unplausibel? Und – wer kann dies wissen? So hat denn jede Serie ihr Tempo, das je nach Standpunkt immer falsch ist, immer zu langsam oder immer zu wild und schnell, sowie ihre Tempowechsel, Krisen, Brüche und Neuanfänge, die ebenfalls je nach Perspektive mit der Vergangen- heit mehr oder weniger sanft verfahren. Gestern und heute Wie bereits eingangs erwähnt, umgibt die lange Geschichte die Serienfiguren und -ereignisse mit einem weiten Bedeutungshorizont. Dieser kann zur Erklä- rung und Bewertung der gegenwärtigen Geschehnisse herangezogen werden. Es ist jedoch festzustellen, dass zumindest die bundesdeutschen Serien dies nur sel- ten unterstützen. Um ein Beispiel aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten zu nen- nen: Cora hat sich von Nico trotz des gemeinsamen Kindes getrennt, ist jetzt mit Leon zusammen, und Nico möchte das alleinige Sorgerecht für das Kind. Dieser Wunsch könnte unter der Perspektive bewertet werden, dass sich Nico einst 11/1/2002 Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? 139 gegen ein Kind gewehrt hatte und Cora deshalb monatelang nicht wagte, ihm ihre Schwangerschaft zu gestehen. Coras Abwendung könnte hierin eine Moti- vierung finden und Nicos Verhalten im Licht der Vergangenheit als übertrieben ungerechtfertigt erscheinen. All dies wäre relevant, wenn sich die Frage nach der moralischen Bewertung stellen würde – genau dies ist aber nicht der Fall, zumin- dest wird sie innerhalb der Serie nicht diskutiert. Cora und Nico haben sich aus- einandergelebt; Leon, der geläuterte unwiderstehliche Casanova, der es jetzt ernst meint, ist währenddessen aufgetaucht, und Nico will das Kind für sich, weil er eifersüchtig und gekränkt ist. Alles, was darüber hinausgeht, oder viel- mehr dahinter zurückreicht, bleibt dem Zuschauer überlassen. Was ich hier diskutieren möchte, ist nicht diese Anreicherung der Gegenwart durch frühere Geschehnisse. Vielmehr interessieren mich im Gegenteil die Strate- gien im Umgang mit der Diskontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sobald etwas radikal Neues im Endlosgeflecht der Soap auftritt, kann die Vergan- genheit problematisch werden, sei es, dass sie unpassend geworden, sei es, dass sie schlicht überflüssig ist. Es gibt immer ein Zuviel an Früherem. Es kommt immer wieder zu Brüchen, die die Flut des Damals negieren. Darin liegt ein beständiges Konfliktpotenzial, dessen Konsequenzen geglättet und abgemildert werden müs- sen, da die Soap zwei widersprüchliche Anforderungen erfüllt: sie muss Novität und Kontinuität zugleich bieten. Und dies hat zur Folge: so unsinnig und krampf- haft die Ereignisse in einer Seifenoper auch an der Oberfläche erscheinen mögen, tatsächliche Willkür ist im inneren Ablauf der Handlungsstränge nicht zugelas- sen. Alles, was passiert, vor allem das Kennenlernen von Personen und das Auf- treten neuer Figuren, muss tiefere Ursachen haben. In der Soap kann das haupt- sächlich jugendliche Personal so gut wie nie das tun, was junge Leute häufig un- ternehmen, nämlich ‘neue Leute kennenlernen’. Man trifft sich nicht in der Disco, im Sportverein oder etwa am Arbeitsplatz und findet neue Freunde, denn was es in der Seifenoper nicht geben darf, ist der Zufall. Bereits eingeführte Protagonis- ten können sich auf den üblichen Wegen kennenlernen; neue Personen aber müs- sen einen Grund für ihr Erscheinen haben, d. h., sie müssen alte Freunde von ir- gendjemandem sein, am besten aber Verwandte, und zwar nahe. Neu-Ankömm- linge sind mit Vorliebe Brüder oder Schwestern von Figuren, auch wenn diese schon seit Jahren zur Serie gehören und bisher noch nicht erwähnt wurde, dass sie eine Familie haben. Gerne fungieren die neuen Figuren auch als Kinder. Der kom- plexe Erklärungsbedarf, weshalb plötzlich ein Kind existiert, von dem niemand etwas wusste, bietet zugleich die Chance zu einem neuen, verwickelten Hand- lungsstrang, während bei Cousins und alten Freunden (auch hier ist eine große Nähe erforderlich, z. B. das Motiv einer gemeinsam unternommenen Weltreise) meist die Benennung der früheren Beziehung ausreicht. Zum Teil werden ganze 140 Heike Klippel montage/av Gruppen als Familien von Figuren eingeführt, über deren Familienverhältnisse man eigentlich geglaubt hatte, recht gut Bescheid zu wissen. Bisweilen rekrutieren sich die ‚Neuen‘ aus der Serie selbst, d. h. sie waren irgendwann herausgeschrieben worden und kommen nach Jahren wieder – aus den unterschiedlichsten Gründen, aber meist so überraschend, dass ihr Auftauchen tatsächlichen Neuheitswert be- sitzt, was sogar durch die Besetzung einer Rolle mit einem neuen Schauspieler ge- geben sein kann. „Out of the past“ scheint die eiserne Vorschrift für Neuan- kömmlinge zu sein, und dieser Vergangenheitsbezug kann ganz oberflächlich mo- tiviert sein oder die volle Bürde tiefer Geheimnisse mit sich führen. Die Vergangenheit wird dazu benötigt, Vertrautheit und Motivierung herzu- stellen, denn es darf niemand auftreten, der nicht ‘immer schon hätte dabei ge- wesen sein können‘. Die Vergangenheit garantiert, dass keine Fremden Einlass bekommen, sondern immer nur solche Personen, die durch eine Geschichte mit- einander verbunden sind. Jede oder jeder Fremde oder vielmehr Neue wird nachträglich als früheres Mitglied der Gemeinschaft definiert, ein ‚Früher‘, von dem lediglich die Zuschauer noch nie gehört hatten. Gleichzeitig entfremdet dieser Zwang zur Zugehörigkeit wiederum die Vergangenheit, die auf diese Weise neben ihrer Unübersichtlichkeit auch noch unzuverlässig wird. Die selte- ne Konfrontationen damit – z. B. wenn eine längst verschwundene Figur wieder auftaucht – bieten oft nur wenig Bestätigung für diese Kennerschaft. Der Grund dafür sind weniger Fehl-Erinnerungen, sondern entweder, dass etwas im Nach- hinein umdefiniert wurde, ‚Geschichtsklitterung’ also, oder, dass sich das Wie- derauftreten schlicht nicht mit den früheren Vorkommnissen in Beziehung set- zen lässt. Zum Teil kann sich das Vorwissen der Zuschauer durch den eklatanten Widerspruch aber auch indirekt beweisen; wer noch genau weiss, dass dieses oder jenes sich ganz bestimmt so nicht ereignet haben kann, kann in seinem Di- alog mit der Serie möglicherweise eine den Drehbuchschreibern überlegene Po- sition einnehmen. Durch den eklatanten Widerspruch fühlt sich dieser Zuschau- er in seinem Vorwissen indirekt bestätigt. Es ist hinlänglich nachgewiesen, dass die Zuschauer von Seifenopern bei allem emotionalen Beteiligtsein keinesfalls schlicht den (immer wieder als unlogisch und unsinnig diskreditierten) Hand- lungssträngen folgen. Vielmehr gehen sie diskursiv mit den Serien um und tref- fen Entscheidungen darüber, an welchen Stellen sie sich identifizieren oder dis- tanzieren. Darüber hinaus sind sie sich in der Regel der Artifizialität der Serien bewusst und integrieren die Sichtbarkeit der Fabrikationen, die häufig als „schlecht gemacht“ bemängelt werden, in das Rezeptionserlebnis (vgl. z. B. Bor- chers/Kreutzner/Seiter/Warth 1991, Seiter 1987, Allen 1987). Für die Kombination aus eklatantem Bruch und gleichzeitiger Verwurzelung in der Vergangenheit, bei denen sich Bestätigung und Verwerfung des Zuschau- 11/1/2002 Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? 141 erwissens zum Teil durchkreuzen, seien ein paar Beispiele angeführt. Henning von Anstetten, nach einem Kriminaldelikt aus der Serie Verbotene Liebe ver- schwunden, kam nach zwei Jahren wieder. Weshalb und warum erfahren wir nicht; dass er früher schon einmal da war, ist ausreichender Grund dafür, dass er später ohne viel Aufhebens wieder zugelassen wird. In Gute Zeiten, schlech- te Zeiten darf Leon, der eigentlich im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms in Finnland weilt, plötzlich wieder zurück nach Deutschland, weil der gefährli- che kolumbianische Mafiaboss nicht mehr lebt, was nahelegt, dass sein Leben doch nicht ausserordentlich bedroht war. Tanja von Anstetten ist nach Jahren wieder aufgetaucht, obwohl man dies nach ihrer Flucht vor der Polizei und ih- ren vielen Kriminaldelikten für unmöglich gehalten hätte. Wie dieses Wieder- auftreten motiviert wurde, ist mir unbekannt, da ich phasenweise Verbotene Liebe verpasst habe, aber ich kannte sie natürlich von früher und wusste, in wel- cher Weise sie in das Geflecht eingebunden ist. Darüber hinaus war absehbar, dass sie lediglich dazu gebraucht wurde, um Clarissa zu Fall zu bringen, und in- sofern habe ich gehofft, dass diese schreckliche Person bald wieder verschwin- det. Diese Erwartung hat sich bestätigt, denn nur die Serie währt endlos, nicht aber ihre Charaktere und ihre Handlungsstränge. Diese Beispiele verdeutlichen, dass das Wissen über die Vergangenheit häufig wertlos ist, denn wenn, wie in den ersten beiden Beispielen, das Vorleben der jeweiligen Figur für die Gegen- wart gar nicht in Betracht gezogen wird, kann es zur Erklärung der gegenwärti- gen Ereignisse wenig beitragen. Neben dieser proliferierenden, oft nutzlosen Vergangenheit gibt es die von der Gegenwart aus hinzugedichtete Vergangenheit. In Verbotene Liebe klin- gelte bei Heino Toppe, den wir für eine Art Waisenkind hielten, plötzlich der Bruder an der Tür, der überrascht, aber herzlich begrüsst wurde. Ebenso tauchte kürzlich Daniel Fritzsches bis dato unbekannter Bruder auf. Es ist auch keine ausreichende Begründung für Laras Existenz, dass sie die Tochter von Elisa- beths verstorbener Schwester ist, nein, sie ist gar nicht Elisabeths Nichte, son- dern ihre Enkelin, das heißt Ninas Tochter, der es tatsächlich 16 Jahre lang ge- lungen war, das Wissen um die damalige Geburt ihres Kindes zu verdrängen – ein Wissen, das auch Elisabeth offensichtlich nicht sonderlich bedrückt hatte. In Gute Zeiten, schlechte Zeiten wurde Sandra mit der Rechtfertigung eta- bliert, sie sei Herrn Biedermanns Nichte. Später folgte Senta, die sich nach einer Weile als Sandras Mutter entpuppte. Jetzt müssen wir auch noch Patrizia und John hinnehmen, weil sie Sentas Schwester und Neffe sind. Und noch viel um- fang- und bedeutungsreicher wucherte die Familie von Beyenbach als Anhang von Clarissas Patentochter Marie nach und nach in die Verbotene Liebe hi- nein. 142 Heike Klippel montage/av Seifenopern haben damit nicht nur ein Off, sondern zwei historische Offs: ein inneres, bekanntes, das der stattgefundenen Ereignisse und der zahllosen Perso- nen, die, vormals dazugehörig, irgendwo draußen leben, und das unbekannte Off außerhalb dieser Serienvergangenheit, das sich immer erst angesichts gegen- wärtiger Erfordernisse manifestiert. Ersteres, die faktische Geschichte also, wird ertränkt unter dem Ansturm neuer Ereignisse und darüber hinaus immer wieder Lügen gestraft durch die zweite, willkürlich definierte Vergangenheit. Die his- torische Dimension wird vertreten durch Stereotypen und Konventionen, das heißt durch eher Überzeitliches, Dauerndes: x hat nie Glück in der Liebe, y fin- det immer eine Ausrede, z und w werden sich über kurz oder lang küssen, v ist zu spontan und bringt sich immer in Schwierigkeiten, u ist ein hinterlistiges Biest. Damit lässt sich das Geschichtswissen der Zuschauer vor allem formal bzw. perspektivisch auf die Gegenwart beziehen, nicht aber in seinen konkreten Inhalten. Aus den tatsächlichen Ereignissen xy vor fünf Jahren werden nur sel- ten direkte Konsequenzen abgeleitet, und selbst frühere Stereotypen können ihre Gültigkeit verlieren. So bedeutet in Verbotene Liebe Arno Brandners Ehe mit der verstorbenen Iris Sander für die Gegenwart gar nichts, ebensowenig wie in Gute Zeiten, schlechte Zeiten die neunzig Leben besagten Jo Gerners als Fabrikbesitzer, ein von einer rachsüchtigen Frau komplett Ruinierter, ein Lieb- haber gestohlener Preziosen, der Vater von Vanessa etc. etc.. Katis frühere Dis- position zu misslingenden Liebesbeziehungen bestand nicht mehr, als sie nach ihrem Ausstieg dann doch noch einmal kurz auftauchte, und Clarissa wurde um 180 Grad von der Bösen zur Guten gedreht. Geschichte ist das unwiederbringlich Vergangene, denn um ihren Charakter als Endlosserie zu wahren, benötigt die Soap eine Unzahl abgeschlossener Ge- schichten – vorbei ist vorbei. Dass die Beteiligten zum Teil noch anwesend sind, verleitet zu vorschnellen Annahmen von Kontinuität. Dabei bedeuten ihre ‘Per- sönlichkeiten’ wenig mehr als die jener, die ausgezogen sind und ihr fiktives Le- ben außerhalb der Soap führen. Was der Zuschauer im Laufe der Jahre anhäuft, ist Geschichtsschrott. Damit kann er in vielfältigster Weise umgehen, nicht aber im traditionellen Sinne, zum Verständnis und zur Relativierung der Gegenwart oder im weitesten Sinn zur Konstruktion von Zusammenhängen. So schrieb etwa eine Verbotene Liebe-Fangruppe im schönsten Grabsteinformat auf ih- rer Internetseite mit Ironie und orthographischer Kühnheit: von Anstetten =Erinnerungs- und Gegenwartspräsenz= Seit dem Juni des Jahres 2000 werden Henning und Clarissa von Anstet- ten (August) von den ‘Grafenfreunden’ im Internet vertreten. Die Tatsa- 11/1/2002 Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? 143 che, dass diese Familie jedoch auf Grund tragischer Zwischenfälle und diverser persönlicher Entscheidungen immer weiter dezeminiert [sic!] wird, gab Anlass zum Umdenken. Diese Seite versteht sich nunmehr als (mehr oder weniger intensive) Präsenz der gesamten Familie. Rückgriffe auf die ‘guten, alten (VL) Zeiten’ sind dabei zum Glück unvermeidlich.4 Unterlegt ist das Ganze mit einer geschmackvoll blassblauen Weinblatt-Tapete und dekoriert mit melancholischen Fotos von baumbestandenen Alleen und Gemälden, die sehr hübsch die Anmutung eines gräflichen Anwesens mit sich führen. Die Vergangenheit wird hier aus der Gegenwart verabschiedet und gleichzei- tig konserviert. Sie wird als irrelevanter Überschuss kultiviert. Geschichte ist ein Luxus, an dem man sich erfreut und der genauso ornamental ist, wie die Wein- ranken auf dem Bildschirmhintergrund. Trotz Bewahrungsversuchen wird sie dem Vergessen anheimfallen und eine einsame Existenz als versprengtes Stück Unsinn führen, da der rapide Fortschritt der Soap nicht aufzuhalten ist und das Frühere immer wieder aussortiert und weggeworfen werden muss. Vergangenheit wird hier nicht als stattgefundene Geschichte gebraucht, son- dern funktionalisiert als Reservoir für Geschichtchen, die Bekanntheit suggerie- ren. Sie schirmt ab gegen die Außenwelt, indem sie alles Neue als ein schon von früher Bekanntes definiert. Sie legitimiert jeden Zufall als motiviert und begrün- det. Auch wenn die ‘tatsächliche’ Vergangenheit der Fiktion für die Gegenwart nichts bedeutet, besteht dennoch die Notwendigkeit zu einer ‘historischen Er- klärung’ der Gegenwart. Zwanghaft wird sie rückwirkend erfunden und ist da- mit noch eine Stufe ‘fiktiver’. Das Potenzial des Vergangenen wird ins Ungeheu- erliche erweitert, und die Herleitungen beziehen sich immer auf den Teil der Geschichte, der bisher unbekannt war. Auch hiermit kann man spielerisch umgehen. Die Zuschauer akzeptieren die beständige Geschichtsklitterung als etwas Unvermeidliches, über das man ent- weder sich beschweren oder lachen kann. Sie greifen aber auch das Angebot auf und füllen die Lücken im Soap-Universum. Oft genug wurde im „Verbotene Liebe“-Forum kritisiert, dass die Familie Beyenbach aus dem Nichts auftauchte, ohne Geschichte, ohne Back- ground, einfach so waren sie plötzlich da. Und alle fragten sich: Wer sind 4 http://www.friedenau.istherightplace.com/, 11.7.2001. Inzwischen ist die Website leider aus dem Netz verschwunden. Es existiert nur noch die Website der „Grafenfreunde“ mit ähnlichem Fotomaterial. 144 Heike Klippel montage/av sie, die Beyenbachs? Und keiner fand Antwort darauf. Da machte sich die Coproduktion ans Werk. Das konnte doch wohl nicht sein, dass da eine ganze Familie so mir nichts dir nichts auftaucht und es gibt keine Infos von und über sie. Alter Hamburger Adel hat doch schließlich Geschichte.5 Ist die Geschichte selbst auch diskontinuierlich und fragmentarisch, so bedeutet dies nicht, dass auf Kontinuität verzichtet werden kann. Der Wunsch nach ihr wird durch die Fabrikation einer stimmigeren Geschichte erfüllt. Wenn auch nichts zusammenpasst, so wird ein Wert der Seifenopern gnadenlos hochgehal- ten: alles muss zusammengehören. Die Harmonie der natürlichen Entwicklung des einen aus dem anderen ist eisernes Gesetz. Heimelig soll es sein, seifig. Die ungefügige Gegenwart bezieht ihre Gemütlichkeit aus einer gefügten Vergan- genheit, zumindest versucht sie es. Wie im wahren Leben wächst natürlich auch hier nicht zusammen, was zur Gemeinschaft verurteilt ist, und so wird gebastelt, geklemmt, gepresst und geklebt. Geschichte Die Auseinandersetzung damit, wie Seifenopern mit ihren Geschichten umge- hen, wirft, so hoffe ich, auch ein Licht auf Probleme von ‚Geschichte‘ im Sinne der jüngeren Vergangenheit. Neben den Soaps gibt es eigentlich nur eine Fern- sehgattung, in denen sich die Ereignisstränge ebenso endlos hinziehen könnten wie in den Seifenopern, nämlich die bereits erwähnten Nachrichten. Sie sind natürlich kein Erzählgenre, sondern wollen Zeitgeschichte vermitteln, d. h., im Prinzip sollten sie nichts erfinden und die vorgetragenen Informationen nicht allzu narrativ-emotional aufbereiten. Aber in Bezug auf die mögliche Dauer, das Abreißen und das Wiederaufgreifen von Ereignissen und Verwicklungen haben sie tatsächlich etwas mit den Seifenopern gemeinsam. Darüber hinaus sind sie 5 http://www.beyenbach-all-media.de/privat.htm, 27.6.2001. Weiter unten heißt es: „Nun hat die Coproduktion ausgewählt und in Form gebracht [...] und so entstand die ‘Beyenbach-all-Me- dia’-Seite. Nicht, dass schon alles auf dieser Seite stünde, nein, weit gefehlt, aber mit der Zeit wird sich diese Seite hier füllen und alle Beyenbach-Interessierten werden all das, was sie bis jetzt vermisst haben, hier finden. Schon sind Doktorarbeiten, wie z. B. ‘Die Geschichte der Beyenbachs im 100-jährigen Krieg und die Auswirkungen auf die heutigen Volkshochschulkur- se’ in Arbeit. Vorlesungen an diversen Hochschulen werden über sie gehalten, Dokumenta- tionsserien sind in Vorbereitung und Fachbücher werden verfasst. Endlich gibt es Material zum Thema ‘Beyenbach’ und die Coproduktion ist sich sicher, es wird noch mehr geben.“ 11/1/2002 Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? 145 umgeben und beeinflusst von medialen Auf- und Zubereitungen aller Art. Poli- tiker und Personen des öffentlichen Lebens haben ihre „Medienberater“, die Geschichten strukturieren und umformulieren und die, wie das folgende Zitat zeigt, in der Tat auf einen Umgang mit aktueller Geschichte vertrauen müssen, der dem der Seifenopern gleicht. [Stern:] Scharping steht nun so da: nackt und bloß. [...] [Hunzinger:] Diese Fotos sind schneller vergessen, als Sie denken! Mit den Kohl-Witzen ist doch zu Ende gegangen, dass man mit Lächerlichkeit Politiker desavouieren kann. Wer erinnert sich noch an die Kohl-Witze? Wer erinnert sich heute noch an die Lächerlichkeit des Brioni-Kanzlers? Alles Geschichte, alles ausgestanden. (Luik 2001) Geschichte hat allerdings ein Doppelgesicht. Auch wenn der hier zitierte Medienberater Hunzinger so schön sagt „alles Geschichte, alles ausgestanden“, so wird man die Geschichte trotzdem so leicht nicht los. Sie ist immer da und geht immer weiter. Zeitgeschichte kann segmentiert, eingeteilt und in ihren bei- den Dimensionen geordnet werden. Horizontale Übersichtlichkeit kann gestal- tet werden durch Aussortieren, Eindämmen und Umleiten des Flusses – so z. B., indem man jahrelang die Entwicklung Afghanistans nur im Miniformat mit- führte, sich etwa auf die Bösartigkeit der Taliban konzentrierend, während man sich im Herbst 2001 für jedes Detail der Bergschluchten, Stammesführer, Mul- lah X und Mullah Y interessierte. Für vertikale Segmentierungen sind die Mög- lichkeiten begrenzter, hier können nur Abschlüsse proklamiert werden; sei es, dass nur Kohl-Birne oder gleich die Geschichte überhaupt zu „Geschichte“ erklärt werden. Der Zweck dieser Strukturierungen besteht darin, Linearität mit Zyklizität zu verknüpfen (vgl. z. B. Nowotny 1993, 58ff) und einen Neuanfang zu installieren: auf Bade-Scharping folgt eine neue Witzfigur, oder wahlweise: auf Spaß folgt Ernst,6 auf den Zusammenbruch der Aufschwung, auf die His- toire die Post-Histoire, auf die Apokalypse das Paradies und so fort. Im Jenseits dieser Zugriffsmöglichkeiten wälzt sich währenddessen die Geschichte scham- los weiter, immer zu lang, d. h. zu weit zurückreichend und immer zu breit, d. h. von unüberschaubarer Flächigkeit. Dabei produziert sie beständig Dokumente, und es entsteht der Eindruck, dass – wie auch immer sie in den Medien geformt und was auch immer von ihr erinnert wird – stets ausreichend Material existiert zu all dem, was gerade nicht thematisiert wird und dass die Geschichte deshalb 6 Eine aktuelle Variante ist „auf Lächerlichkeit folgt tiefer Ernst“. So wird z. B. immer wieder darauf verwiesen, dass Scharpings Peinlichkeiten angesichts des Anschlags auf das World Trade Center in Vergessenheit gerieten. 146 Heike Klippel montage/av auch anders gestaltet werden könnte. Ich selbst bezweifle, dass die Kultur nichts vergisst und dass es für alles Beweise gibt (vgl. z. B. Lachmann 1991). Aber dies muss ich dahingestellt sein lassen. Wichtig ist vielmehr, dass die Fülle der Doku- mente Vollständigkeit suggeriert. Gerade diese Vollständigkeit erzwingt den formenden Zugriff in einer anderen Weise, als ihn eine Geschichtsschreibung ausübt, die sich nur auf lückenhafte Quellen stützen kann. Das Schöpfen aus der Fülle verweist nicht nur darauf, dass es sich hypothetisch auch anders hätte ereignet haben können, sondern dass sich aus der Vielzahl der Dokumente grundsätzlich konkurrierende Versionen der jeweiligen Geschichte formulieren und auch nachweisen lassen. Die beiden Strategien der Seifenopern zur Einflussnahme auf die Vergan- genheit werfen ein Licht auf Wünsche, die an die Zeitgeschichte gestellt wer- den und die nur sehr bedingt erfüllbar sind. Die erste Verfahrensweise, näm- lich vor der Flut der Geschehnisse schlicht die Flucht nach vorne zur ergreifen, finden wir also auch im medialen Umgang mit der Politik. Die Quantität des Aufgezeichneten scheint gerade seine Qualität als Zeugnis zu entwerten: Dass es scheinbar für alles und jedes einen Beleg gibt, diffundiert den Blick zurück derartig, dass sich dieser Blick nicht mehr lohnt, weil nichts mehr deutlich er- kennbar ist. Eine Erinnerung, die sich nicht überlasten und die auch nicht aus- wählen möchte, muss alles gleichmäßig verblassen lassen. Auf diese Weise be- kommt fast jeder Sünder eine neue Chance – es sei denn, er hat gegen eines der wenigen gesellschaftlich fest vereinbarten Tabus verstoßen. Werner Höfer und Kurt Waldheim etwa wurde tatsächlich die Rückkehr verwehrt, aber auch dies erst, nachdem sie bereits viel zu lange aktiv gewesen waren. Die Masse all des- sen, was einmal Nachrichtenwert hatte und in dem sich Politik und Show zu- nehmend vermischen, erleichtert die Erfüllung des Wunsches nach dem Ab- schütteln des ganzen Ballasts. Claudia Schiffers Verlobung mit David Copper- field, Bill Clintons Affäre mit Lewinsky, Clemens Richters blonde Ehefrau (wie hieß sie noch?), die jetzt auf Sri Lanka lebt, wer möchte sich für all dieses im Licht der derzeitigen Ereignisse noch interessieren? Selbst das Interesse an einer vermeintlich signifikanten Information wie der, dass die Amerikaner Bin Laden selbst ausgebildet und für ihre Zwecke eingesetzt hatten, scheint er- staunlich gering, auch dies nur ein Fragment im unendlichen Puzzle. So vielfäl- tig auch die Möglichkeiten zur Bewertung der Gegenwart aus dem Blickwin- kel des Vergangenen sind – es wird nach wie vor der Nachwelt überlassen, wei- ter gehende Konsequenzen zu ziehen. Geschichte im Sinne eines formenden und interpretierenden historiographischen Zugriffs benötigt in der Tat Dis- tanz, aber die Möglichkeiten hierzu scheinen angesichts des Materialandrangs zu schwinden, das Interesse an Hierarchisierungen und Bewertungen ist 11/1/2002 Vergangene Zeiten – gute oder schlechte Zeiten? 147 gering.7 Die Ignoranz der Soaps gegenüber ihren Geschichten verweist vor al- lem auf eine Unlust gegenüber vergangenen Einzelheiten; man will nichts mehr von ihnen wissen, sie sollen nur noch eine Masse sein, auf der die Gegen- wart sitzt. Können wir uns die Sehnsucht danach, es möge doch alles irgendwann „Ge- schichte“, d. h. vorbei, abgeschlossen, wirkungslos sein, zumindest scheinhaft erfüllen, so bleibt es allein den Soaps vorbehalten, die Vergangenheit tatsächlich in den Dienst der Gegenwart zu stellen. Ist jeder Neuankömmling familiär ein- gebunden, so ist das Fremde immer schon bekannt. Das klassische Charakteris- tikum der Moderne, nämlich Umgang mit Unbekannten haben zu müssen, wird mit Hilfe der Vergangenheit ausgeschaltet. Dabei ist nicht die Gegenwart Kon- sequenz einer lästigen Vergangenheit, sondern umgekehrt, Vergangenheit birgt die möglichen Erklärungen für jede Überraschung und federt diese ab. Sie sorgt dafür, dass niemand grundlos dabei ist und ist das schützende Reich des „Natür- lich-hat-es-so-kommen-müssen“. Wenn nichts ohne feste Basis im Jetzt herum- schwimmt, sondern alles eine Wurzel im Damals hat, so ist auch die Zukunft schon vororganisiert. Was die Seifenopern in die Geschichte hineintragen, ist weder Sinnhaftigkeit noch Überschaubarkeit, sondern der unerschütterliche Glaube daran, dass die Gegenwart aus der Vergangenheit gewachsen sein muss, auch wenn niemand weiß, wie. Literatur Allen, Robert (1987) Reader-Oriented Criticism and Television. In: Channels of Discourse. Hrsg. v. Robert Allen. Chapel Hill: University of North Carolina Press, S. 74–112. Borchers, Hans / Kreutzner, Gabriele / Seiter, Ellen / Warth, Eva (1991) „Don’t treat us like we’re so stupid and naive“. In: Remote Control. Television, Audiences, and Cultural Power. Hrsg. v. Hans Borchers, Gabriele Kreutzner, Ellen Seiter & Eva Warth. London: Routledge, S. 223–247. Kracauer, Siegfried (1971) Geschichte – Vor den letzten Dingen [1966]. Frank- furt am Main: Suhrkamp. Lachmann, Renate (1991) Die Unlöschbarkeit der Zeichen. Das semiotische Unglück des Mnemonisten. In: Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift . Hrsg. 7 Siegfried Kracauer erblickt gerade in der voranschreitenden Globalisierung einen Grund für die Auseinandersetzung mit Geschichte. Siehe Kracauer 1971, 16f. 148 Heike Klippel montage/av v. Anselm Haverkamp & Renate Lachmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 111–141. Luik, Arno (2001) „Er muß das verdauen“. Interview mit Medienberater Moritz Hunzinger. In: Stern, Nr. 37, S. 34. Nowotny, Helga (1993) Eigenzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. O’Donnell, Hugh (1998) Good Times, Bad Times. Soap Operas and Society in Western Europe. London: Leicester University Press. Seiter, Ellen (1987) Von der Niedertracht der Hausfrau und der Größe der Schurkin. In: Frauen und Film, 42, S. 35–59. Maurice Lahde Der Leibhaftige erzählt Täuschungsmanöver in The Usual Suspects „...und wenn Sie aus dem Film kommen, seien Sie kein Spielverderber: Verraten Sie das Ende nicht.“ Warnungen wie diese geben Rezensenten ihren Lesern seit einigen Jahren sehr häufig mit auf den Weg ins Kino. Zwar gibt es Filme, die uns mit einem unerwarteten Ende überrumpeln, nicht erst seit Mitte der 90er Jahre. Doch tauchen sie seitdem immer häufiger auf, und scheinen die Methoden, mit denen sie uns hinters Licht führen, ausgefeilter und trickreicher geworden zu sein. Denn das Neuartige an Filmen wie Primal Fear (Zwielicht, USA 1996, Gregory Hoblit), Fight Club (USA/Deutschland 1999, David Fincher), The Sixth Sense (USA 1999, M. Night Shyamalan) oder, als jüngstes Beispiel, The Others (Spanien/Frankreich/Italien/USA 2001, Alejandro Anemábar) ist nicht einfach, dass sie mit einer unerwarteten Schlusspointe aufwarten (gute Krimis besitzen diese Eigenschaft von jeher), sondern dass diese Pointe die gesamte vor- angegangene Handlung in Frage stellt, etwa indem sie diese in Teilen als Resultat einer verzerrten Wahrnehmung einer Figur oder als ‚Lüge‘ entlarvt. Kennzeichnend für die Betrugsstrategien dieser Filme ist, so die These dieses Aufsatzes, dass sie ein für jede filmische Narration konstitutives Moment, die Mitarbeit des Rezipienten an der Konstruktion der Fabel1, bewusst reflektieren und für ihre Betrugsabsichten nutzbar machen.2 Sie verlassen sich darauf, dass die Mitarbeit des Zuschauers den Konventionen gehorcht, dass er die etablierten narrativen und stilistischen Verfahren auf die gewünschte, ‚antrainierte‘ Weise liest, und sie lassen ihn so zwischenzeitlich eine Fabel konstruieren, die der End- fassung fundamental widerspricht. Diese Strategien sollen hier anhand von Bryan Singers Film The Usual Sus- pects (USA 1995) exemplarisch untersucht werden. Gewählt habe ich dieses Beispiel zum einen, weil es am Anfang dieser Betrugswelle stand und deren Täu- schungsmanöver, wenn nicht entdeckt, so doch fürs Mainstream-Kino salonfä- 1 Dieses Moment ist zwar für alle Erzählungen in jedem Medium konstitutiv, im Folgenden geht es aber ausschließlich um seine spezifisch filmische ‚Ausbeutung‘. 2 Martin Baker schreibt: „The Usual Suspects might have been made in order to demonstrate the effectiveness of the concept of the implied audience.“ (2000, 58) 150 Maurice Lahde montage/av hig gemacht hat; zum anderen, weil es in der Anwendung dieser Strategien in ei- nem entscheidenden Punkt weiter geht als alle oben genannten Filme: Während bei diesen die Auflösung eine Neubewertung der Ereignisse und ihre bruchlose Integration in einen neuen Fabelzusammenhang möglich macht, gelingt im Falle von Bryan Singers Film dieser Umbau nicht. Es ist hier nicht möglich zu rekon- struieren, ‚was wirklich geschah‘, und also die Fabel des Films vom Ende her in einer ‚objektiven‘ Nacherzählung wiederzugeben. Das Erstaunliche dabei ist, dass der Film beim Zuschauer dennoch den Eindruck höchster dramaturgischer Dichte und Geschlossenheit hinterlässt, genauer: dass die einzelnen Teile des Plots zwar keine kohärente Fabel, sehr wohl aber ein im höchsten Maße stimmi- ges und stimmungsvolles dramaturgisches Ganzes ergeben. Damit wird der Film gleichsam zu einem Diskurs über die Freiheit(en) fiktionalen Erzählens: Er weist auf den Konventionscharakter nicht nur bestimmter Verfahren, sondern des Erzählprozesses im Ganzen hin und demonstriert gleichzeitig, welch weit- reichende erzählerische Möglichkeiten sich gerade aus diesem Konventionscha- rakter ergeben. Wenn in dieser Analyse von ‚Erzählung‘ die Rede ist, so kann damit folglich nichts Abgeschlossenes mehr gemeint sein, das in einem synoptischen Über- blick wiederzugeben wäre. Vielmehr wird dieser Begriff, rekurrierend auf die Erzähltheorie David Bordwells, immer im Sinne von Erzählprozess benutzt: In dessen Verlauf konstruiert der Zuschauer die Fabel sukzessive, indem er anhand des Plots, also der Repräsentationsebene und Organisation der filmischen Er- zählung, fortwährend Schlussfolgerungen zieht, Hypothesen aufstellt und wie- der verwirft (vgl. Bordwell 1995, 29ff). Der Zuschauer ist also nicht als passiver Empfänger einer fertigen Geschichte zu verstehen, sondern entwirft diese in ei- ner dynamischen Entwicklung mit, sie ist Ergebnis des filmischen Materials auf der einen, seiner Erwartungen und Voraussetzungen auf der anderen Seite. „Wenn ich dabei im folgenden einen vertrauenden von einem skeptischen Zu- schauer unterscheide, so sollen und können diese Zuschauermodelle keine Platzhalter für empirische Zuschauer sein, sondern sie bezeichnen vielmehr zwei gleichermaßen mögliche, vom Film vorgesehene Rezeptionsmodi oder Verstehensstrategien, die zu jeweils unterschiedlichen Fabelentwürfen führen. (Diese klare Trennung ist methodisch sehr nützlich, gleichwohl sollte darauf hingewiesen werden, dass sich beide Modi nicht ausschließen und empirische Zuschauer während der Rezeption zwischen ihnen hin und her wechseln dürf- ten.) Unterschieden werden die beiden Modellzuschauer auf Grund des Grades ihrer Distanzierung während der Rezeption: Während sich der vertrauende Zu- schauer gleichsam ‚in den Film fallen lässt‘, ist der skeptische Zuschauer in der Lage, während der Vorführung den Einsatz filmischer Mittel und seine eigenen 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 151 Reaktionen kritisch zu reflektieren. Damit folge ich einer Unterscheidung, die sowohl Eco, der vom „naiven“ und „kritischen Leser“ spricht, als auch Bord- well, der die Begriffe „vertrauender“ und „skeptischer Zuschauer“ verwendet, bei exemplarischen Analysen vorgenommen haben (Eco 1994, 247ff; Bordwell 1992, 5ff). Während Eco jedoch erst bei der zweiten Lektüre eines Textes (wenn man also bereits einmal ‚hereingelegt‘ wurde) mit einem „kritischen Leser“ rechnet, schätze ich, darin Bordwell folgend, einen Text schon bei der Erstlektü- re als ein System ein, „das sowohl im ‚vertrauenden‘ wie auch im ‚skeptischen‘ Modus gleichermaßen verwendet werden kann.“ (ibid., 12) Bei der Beschreibung des Plots und der in ihm vermittelten Informationen muss neben deren Art und Reihenfolge auch die jeweils anzunehmende Quelle der Informationsvergabe betrachtet werden, d.h. ihre Einbettung in die Per- spektivenstruktur der Erzählung (es muss danach gefragt werden, ‚wer hier er- zählt‘). Hierbei sind extradiegetische Erzählinstanzen von innerdiegetischen Er- zählerfiguren zu unterscheiden. Für erstere halte ich den Begriff des „Erzählers“ für legitim, wohl wissend, dass es sich dabei um eine Anthropomorphisierung einer nicht-menschlichen, abstrakten Instanz handelt,3 ein sprachliches Hilfs- mittel, das mir zu sagen ermöglicht: Der Erzähler entscheidet sich, dem Zu- schauer eine wichtige Information zu geben oder vorzuenthalten. Der Erzähler ist keine an einem Geschehen beteiligte oder dieses beobachtende Figur, son- dern, der Definition Chatmans zufolge (1990, 133ff), eine extradiegetische In- stanz, die den Plot dem Zuschauer mit allen zur Verfügung stehenden filmischen Ausdrucksmitteln (akustischen und visuellen) präsentiert („[...] not an act of perception, but of presentation and representation, of transmitting story events and existence through words or images“; ibid., 142), und zwar mit einer be- stimmten ‚Haltung‘ (slant) gegenüber dem Gezeigten, die z. B. ‚allwissend‘ sein kann. Davon abzugrenzen sind im Voice-Over erzählende Figuren und/oder Figu- ren, an deren Perspektive sich angenähert wird. Diese dienen dem Erzähler nach Chatman als filter, aber sie bleiben Teil des Gezeigten, werden nicht zu ‚Zeigen- den‘. Selbst bei einem durchgängigen Voice-Over-Kommentar wäre die betref- fende Figur nicht der ‚Erzähler‘ nach obiger Definition, sondern ein von diesem eingesetztes ‚Sprachrohr‘, und der slant der Erzählung bräuchte nicht ihrer Per- spektive zu entsprechen.4 3 Dieser Anthropomorphisierung entgeht auch Bordwell, der das Konzept des „Erzählers“ für Filmerzählungen ablehnt, nicht, wenn er der „Narration“ Eigenschaften wie knowledge, self- consciousness und communicativeness zuschreibt (vgl. 1995, 57f). Auf diesen Umstand weisen sowohl Chatman (1990, 124ff) als auch Branigan (1992, 109f) hin. 152 Maurice Lahde montage/av Die folgende Analyse ist in drei Schritte unterteilt: Zunächst soll die Anfangs- sequenz formal und inhaltlich genau analysiert werden, zum einen, weil sie für den ersten Fabelentwurf des Zuschauers verantwortlich ist, zum anderen, weil die wesentlichen Täuschungsstrategien des Films bereits hier eingeführt werden. Im zweiten Schritt stelle ich die verschiedenen Segmente des Plots in aller Kürze vor und zeige dabei die wichtigsten Fabelkonstruktion(en) und Figurencharak- terisierungen, welche dem vertrauenden Zuschauer vorzunehmen nahegelegt werden. Es wird gezeigt, dass diese zum Teil auf Fehlhypothesen beruhen, die am Ende verworfen werden müssen. Im letzten und entscheidenden Schritt sol- len, annäherungsweise aus Sicht des skeptischen Zuschauers, die formalen Tricks betrachtet werden, die diese Fehlhypothesen provozieren. Die Anfangssequenz: Etablierung einer Doppelstrategie Insert: „San Pedro, California – Last Night“. Ein zusammengekauerter Mann auf einem Schiffsdeck steckt sich eine Zigarette an und setzt anschließend eine Benzinspur in Brand. Die Flammen werden nach einigen Metern vom Urinstrahl eines auf der Brücke stehen- den Mannes im schwarzen Mantel gelöscht. Der Mann steigt von der Brücke herunter, geht an einer Leiche vorbei zu dem kauern- den Mann und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Der kauernde Mann blickt ge- spannt zu seinem Gegenüber auf und senkt schließlich seufzend den Blick. Der Mann im Mantel fragt gepresst: „How you doin’, Keaton?“, und dieser antwortet: „I can’t feel my legs, Keyser.“5 Keyser zieht mit der rechten Hand eine Pistole und fragt Keaton, ob er fertig sei. Keaton fragt nach der Uhrzeit – es ist halb eins –, Keyser wechselt die Pistole in die linke Hand, tritt einen Schritt zurück und richtet sie auf Keaton. Zwei Schüsse fallen, dabei werden verschiedene Ansichten des Schiffes und der Hafen- anlage gezeigt. Keyser setzt die Benzinspur wieder in Brand und entfernt sich mit raschen Schritten vom Tatort; auf dem Schiff bricht ein Flammeninferno aus. Die Kamera fährt auf eine Taurolle zu. Was sich dahinter verbergen könnte, bleibt hinter allerlei Gerümpel im Schatten. Während aus dem Off Polizeisirenen zu hören sind, wird von der Taurolle langsam auf einen schmächtigen Mann überblendet, der in einem Verhör- zimmer sitzt. Er beginnt zu erzählen: „It all started back in New York six weeks ago...“ 4 „I propose slant to name the narrator’s attitudes and other mental nuances appropriate to the re- port function of discourse, and filter to name the much wider range of mental activity expe- rienced by characters in the story world – perceptions, cognitions, attitudes, emotions, memo- ries, fantasies, and the like“ (ibid., 143). 5 Entgegen Barkers Behauptung (vgl. 2000, 66) ist das Wort „Keyser“ deutlich zu verstehen. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 153 Abb. 1a–c Die Etablierung einer Dop- pelstrategie. Der Film beginnt mit einem deiktischen Insert. Als Zeitangaben sind wir sachli- che, neutrale Informationen gewohnt wie ‚Shanghai 1936‘, ‚einen Monat später‘ etc. Hier hingegen wird sofort eine Relation zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit hergestellt: ‚Ihr erfahrt HEUTE etwas, das GESTERN geschehen ist.‘ Mar- tin Barker schreibt: „This indexical expression only has sense when linked to a person’s last night [...]“ (2000, 63; Herv.i.O.), und dieser Befund könnte in etwa der ersten Zuschauerhypothese entsprechen: Hier erzählt ‚jemand‘. Theoreti- scher ausgedrückt: Der Erzähler (noch obiger Definition) präsentiert dem Zuschauer ein Insert, das bei genauer Lektüre dazu einlädt, den Anfang als Beginn des Berichts einer innerdiegetischen Erzählerfigur aufzufassen (wobei noch offen ist, ob und wann diese Figur im Folgenden auftreten wird). Diese Hypothese wird von der Auflösung der Eröffnungssequenz gestützt, welche auf einen establishing shot verzichtet und auch danach keinen Überblick über das Szenario vermittelt. Die Szene beginnt mit einer Detailaufnahme eines brennen- den Streichholzheftchens und zeigt dann einige ausgewählte Bilder, aus denen sich nach und nach erschließen lässt, dass der Schauplatz ein Hafen ist. Am Ende der Szene wird ein Ort gezeigt, der ein gutes Versteck für einen heimlichen 154 Maurice Lahde montage/av Beobachter abgeben dürfte. Der Eindruck, die Szene vermittele eine subjektive Sicht auf das Geschehen, dürfte sich – spätestens wenn von der Taurolle auf einen Menschen überblendet wird – verstärken (auch wenn bei weitem nicht alle Ansichten des Geschehens von diesem Versteck aus so gesehen hätten werden können): Dies könnte die Figur sein, aus deren Sicht von der ‚vergangenen Nacht‘ berichtet wurde (Abb. 1a–c). Schauplatz und Figuren dürften den Zuschauer sehr schnell für den Kriminal- film typische Szenografien erinnern lassen: Ein nächtlicher Tatort mit mehreren Leichen, die letzte, tödliche Begegnung zweier Männer, ein Mord aus unbe- kanntem Motiv. Wenigstens einer der beiden, Keyser, wird eindeutig als Gangs- ter konnotiert (während Keaton auch ein Polizist sein könnte), nicht allein we- gen des Mordes, sondern vor allem wegen seiner emblematischen Erscheinung als ‚schwarzer Mann‘. Fabel-Hypothesen, die über diese Festlegungen hinausgehen, können zu die- sem Zeitpunkt nur sehr vage sein. Der Zuschauer ahnt, dass der letzten Begeg- nung dieser beiden Männer ein dramatisches Geschehen vorangegangen sein muss, bei dem Keaton offenbar schwer verletzt wurde und einige andere Perso- nen ums Leben kamen. Da die Enthüllung dieses Geschehens für das Verständ- nis der Eingangssequenz notwendig ist, darf der Zuschauer mit Recht erwarten, ob nun chronologisch weitererzählt oder zurückgeblendet wird, darüber in ir- gendeiner Weise aufgeklärt zu werden. Die Erwartungen an die Fabel lassen sich als rückwärtsgewandte Fragen formulieren: „Was geschah ‘vergangene Nacht’ am Hafen?“, „Woher kennen sich die beiden Männer?“, „Was hat sie an diesen Ort geführt?“, „Was ist Keysers Motiv für den Mord an Keaton?“, „Wer ist Keyser?“, „Und welche Rolle hat dabei der Augenzeuge gespielt?“. Die Frage nach der Identität Keysers interessiert nicht nur wegen seines Out- fits, sondern vor allem auf Grund dessen, was der Film nicht zeigt: Indem die Kamera von dem das Feuer löschenden Urinstrahl langsam nach oben auf die Brücke schwenkt, wird der schwarz gewandete Mann dem Zuschauer vorge- stellt. Allerdings wird der Schwenk angehalten, bevor sein Gesicht ins Bild kommt. Und auch wenn die Kamera dem Mann beim Abstieg von der Brüstung folgt, achtet sie darauf, dem Zuschauer nur seine untere Körperhälfte zu zeigen, obwohl sie sich an einem Standort befindet, an dem sie ihn problemlos in einer Totale ganz einfangen könnte. Dabei bleibt es, egal aus welcher Perspektive und aus welcher Entfernung der Mann zu sehen ist. Der Film verweigert ganz offen Informationen, die für die Identifizierung des Mannes entscheidend wären6: Sein 6 ‚Ganz offen verweigern‘ bedeutet: Der Film verhält sich, was die Informationssvermittlung betrifft, sehr restriktiv, ist dabei aber hoch kommunikativ: Er versteckt die (z.T. erheblichen) In- 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 155 Gesicht wird nicht gezeigt, seine Stimme ist leise und gepresst. Diese Darstel- lungsform erinnert zunächst natürlich an viele genreverwandte Filme, z.B. an die Darstellung Blofelds, des Bösewichts in den frühen James Bond-Filmen – womit das Konnotat für Keyser, ‚Gangster‘, schon hier zu ‚Supergangster‘ prä- zisiert werden könnte. Zweitens dürfte sie dafür sorgen, dass aus der Frage: „Wer ist dieser Mann?“ ein zentraler Topos des Films wird. Drittens fällt dem skeptischen Zuschauer vielleicht bereits an dieser Stelle auf, wie genau der Er- zähler, den er vor sich hat, kalkuliert. Denn einerseits scheint ihm die Eingangs- sequenz vom Insert bis zur Präsentation des Beobachterverstecks nahezulegen, mit dem klassischen invisible observer-Prinzip zu arbeiten, mit der Annahme, nach der die Kamera zu denken wäre als Stellvertreter für einen ‚unsichtbaren Beobachter‘, dessen Blick auf das Geschehen der Zuschauer teilt.7 Keyser wird jedoch auf eine Weise dargestellt, wie er nicht nur nicht ‚von der Taurolle‘ (das wäre noch nicht überraschend), sondern von keinem denkbaren innerdiegeti- schen Standpunkt aus ‚gesehen‘ werden kann, er kann nur so gezeigt werden. Nun könnte man einwenden, dass der Erzähler den Blick des innerdiegeti- schen filter zwar nicht auf stilistischer Ebene vorführt, aber auf narrativer: Dass es dem Zeugen aus seiner Perspektive unmöglich ist, den Mann zu erkennen, wird vom Erzähler übersetzt in eine in der Filmsprache gängige rhetorische Fi- gur, die stilistisch ansprechender ist als das sture Einhalten eines durchgängigen POV-Shots. Dieser Einwand ist berechtigt, bestätigt den skeptischen Zuschauer aber im Grunde in seiner Vorsicht: Man tut gut daran, sich den Erzähler nicht als jemanden zu denken, der innerhalb der Diegese etwas ‚sieht‘, sondern als jeman- den, der dem Zuschauer etwas zeigt, und zwar genau so, wie es für die Geschich- te am nützlichsten ist. Die Frage nach dem Mordmotiv rührt von der Annahme her, dass Keaton von Keyser getötet wurde. Doch tatsächlich wird genau dies nicht gezeigt. Zwar schreibt Barker: „The unseen man takes a gun into his left hand and shoots him“ (2000, 58), und vermutlich würde der vertrauende Zuschauer dieser Behauptung Recht geben: Die Ermordung eines Menschen nicht explizit zu zeigen, sondern im entscheidenden Moment mit einem Schnitt ‚den Blick abzuwenden‘, ist wie- derum gängige Konvention – die ausgestreckte Waffe und die hörbaren Schüsse scheinen jeden Zweifel auszuschließen. Dennoch: Der Zuschauer bekommt we- der die Erschießung noch Keatons Leiche zu sehen, die Ermordung bleibt eine formationslücken nicht, sondern weist deutlich auf diese hin, stellt sie regelrecht aus und veranlasst den Zuschauer, damit zu arbeiten; zu diesen Unterscheidungen vgl. Bordwell 1995, 61f. 7 In der frühen Filmtheorie sprach Pudowkin von der Möglichkeit, „einen solchen aktiven Beobachter durch die Kamera zu ersetzen“ (1961, 86f). 156 Maurice Lahde montage/av reine Hypothese, sei sie auch noch so nahe liegend.8 Wenn Keaton zu einem spä- teren Zeitpunkt unversehrt herumliefe, dürfte man sich ob des Konventions- bruchs zwar mit Recht ärgern, könnte sich dabei jedoch nur auf die Konvention als eine mächtige Autorität berufen – als Argument taugt sie kaum. Der skepti- sche Zuschauer ist angehalten, sie als Überredungsversuch zu verstehen, und wird die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Keaton überlebt hat. Schließlich ist es die abschließende Überblendung von dem möglichen Ver- steck hinter der Taurolle auf den Mann im Verhörzimmer, die beim skeptischen Zuschauer Zweifel wecken müsste. Wiederum könnte es sich um einen Überre- dungsversuch handeln, diesen Mann für einen Zeugen zu halten, wiederum stützt sich dieser Versuch auf Konventionen und ist gleichwohl durch nichts ge- deckt: Denn hinter dem möglichen Versteck ist beim besten Willen niemand zu erkennen.9 Die Eingangssequenz verfolgt eine Doppelstrategie: Den vertrauen- den Zuschauer provoziert sie zu Hypothesen, die von gängigen filmsprachli- chen Konventionen gestützt werden. Gleichzeitig werden diese Konventionen deutlich genug als Konventionen ausgestellt, oder, im doppelten Sinne, vorge- führt: um den skeptischen Zuschauer zur Prüfung zu animieren, wie stichhaltig sie überhaupt als Beweise für seine Hypothesen sind. Der Plot: Lügen, Ablenkungen, Paradoxien Im Folgenden fasse ich die restlichen Plotsegmente bis zum Ende des Films in aller Kürze zusammen und versuche, die Fabelkonstruktionen und Figurencha- rakterisierungen zu benennen, zu denen der vertrauende Zuschauer angeregt wird. Da ich im nächsten Abschnitt vor allem über die Flashbacks innerhalb der Filmerzählung reden werde, sind diese hier durchnummeriert, um sie von den übrigen Plotsegmenten zu unterscheiden. [Flashback 1] New York, sechs Wochen zuvor: Fünf Männer, die als Verdächtige eines kleineren Deliktes festgenommen werden (es geht um einen gestohlenen LKW mit Waff- enteilen), lernen sich nach einer Gegenüberstellung in der Untersuchungshaft kennen. 8 Telotte glaubt, dass wir diese Hypothese aufgeben, wenn wir uns der (vom Autor als „comforting“ charakterisierten) Lesart des Ermittlers Kujan anschließen wollen, wonach Keaton selbst eine Täterfigur sei: Dann werden wir uns möglicherweise daran erinnern, dass der Tod Keatons tatsächlich nicht zu sehen war, sondern lediglich über „a sort of Eisensteinian montage of attractions“ (1998, 16) nahegelegt wurde. 9 Dass Barker bei seinen sonst so präzisen Beobachtungen wiederholt behauptet, man könne hinter der Taurolle Augen erkennen, erscheint mir unbegreiflich; vgl. 2000, 70. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 157 Abb. 2 Keaton und ‚Verbal‘ Kint bei der Gegenüberstellung. Neben den drei Gangstern McManus, Hockney und Fenster gehören dazu Dean Keaton und der halbseitig gelähmte Verbal Kint, der aussagende Zeuge. Keaton will mit den anderen nichts zu tun haben: Er möchte aus dem Gangsterleben aussteigen und mit seiner Partnerin Edie Fineran, einer reichen Anwältin, ein neues Leben anfangen. San Pedro, heutiger Tag: Bei der Schießerei und dem Feuer am Hafen gab es 27 Tote und nur zwei Überlebende, einer davon ist Verbal Kint. Zollinspektor Kujan reist eigens von New York nach San Pedro, um ihn zu verhören. Er will ihn vor allem über Keaton ausfragen, den er für den Verantwortlichen für das Geschehen am Hafen hält. Sein ortsansässiger Kol- lege Rabin teilt ihm jedoch mit, dass Verbal bereits ausgesagt habe und vollständige Immu- nität genieße. Keaton gelingt es dennoch, ein inoffizielles Verhör in Rabins Büro zu arran- gieren. Verbals Aussage, die in den Flashbacks [FB 2] bis [8] gezeigt wird, erzählt eine Ge- schichte, die von der Gegenüberstellung in New York zu dem Geschehen am Hafen führt. [FB 2] Die Gangster landen nach der Entlassung aus der U-Haft einen gemeinsamen Coup (den Überfall auf einen Smaragdhändler). Sie müssen nach Los Angeles fliegen, um dort die Ware an McManus‘ Hehler Redfoot zu verkaufen. [FB 3] In L.A. vermittelt ihnen Redfoot einen weiteren Job, wiederum einen Überfall auf einen Juwelenhändler, der in einer wüsten Schießerei endet. (Hier ist es ausgerechnet der ‚schwache‘ Verbal, der das Opfer am Ende niederschießt.) Als sie statt der erhofften 158 Maurice Lahde montage/av Beute nur Kokain finden, schiebt Redfoot die Verantwortung auf seinen Auftraggeber, einen Anwalt namens Kobayashi, der sich aber ohnehin mit ihnen treffen wolle. Während sich Verbal bei seinen Aussagen bemüht, Keaton in gutes Licht zu rücken, zweifelt Kujan an dieser Darstellung an und beharrt darauf, dass Keaton ein gewissenlo- ser Gangster und für alles verantwortlich sei. Währenddessen wird der andere überlebende Zeuge, ein Ungar namens Kovash, der mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus liegt, vom FBI-Agenten Bear aufgesucht. Unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers erfährt Bear, dass Keyser Soze am Hafen war und viele Menschen getötet habe. Nach Kovashs Beschreibungen soll ein Phantombild Keysers angefertigt werden. Bis hierhin darf der Zuschauer annehmen, dass die Fabel, die mit dem Feuer im Hafen enden wird, im Wesentlichen Keatons Geschichte sein dürfte und Verbal Zeuge dieser Geschichte war. Die Szenen um den zweiten Zeugen Kovash, in denen der andere Mann aus der Anfangssequenz thematisiert wird, dürften diesen Fabelentwurf bis hierhin nicht ernsthaft gefährden, zu kurz und zu schwer inte- grierbar sind sie in diesen, um mehr als kurzfristige Mahnungen zu sein, dass auch die unbekannte Identität Keysers mit der Lösung des Falls zu tun haben muss. Keaton ist die einzige Figur mit Ansätzen psychologischer Tiefe, er wird in der ersten Hälfte des Films als ein Zauderer dargestellt, der hin- und hergerissen ist zwischen dem ehrlichen Bestreben, mit der Frau, die er liebt, ein neues Leben anzufangen, und der Versuchung, doch noch einmal ein ‚Ding zu drehen‘. Da der Zuschauer schon weiß, wie Keaton enden wird, darf er annehmen, dass die Geschichte, die von hier aus zum Finale am Hafen führt, die tragische Geschich- te eines Mannes sein wird, den seine Vergangenheit nicht loslässt. Der kleine Trickbetrüger Verbal, der nicht so recht zu den ‚schweren Jungs‘ zu passen scheint, wirkt hier, etwa wenn Keaton von Edie Abschied nehmen will, wie ein mitfühlender Freund, der als Einziger Zugang zu dessen Konflikt hat. Diese Darstellung entspricht freilich ‚nur‘ Verbals Aussage/den Flashbacks; ihr gegenüber steht die Meinung Kujans, der Keaton für einen Killer und Verbal für einen Trottel hält. Die Verhörsituation erscheint als dramatischer Konflikt zwischen dem autoritären und aggressiven Kujan, der mehr von einer persönli- chen Aversion gegen Keaton als von aufklärerischem Impetus motiviert scheint, und dem linkischen, schüchternen Verbal (Abb. 3a.b). Kujans Lesart gewinnt ihre Autorität über die Machtverhältnisse im Verhör- zimmer,10 Verbals durch die Visualisierung im vorangegangenen Flashback. Da- 10 Telotte (1998, 16) bezeichnet Kujans Keaton-Bild als „tied to a very classical view of character“, einer Sichtweise, nach der Charaktere aus einer klar definierbaren und unveränderlichen Summe 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 159 Abb. 3a.b Kujan und Verbal im Verhörzimmer. rüber hinaus gewinnt Verbal gerade wegen der Machtverhältnisse die Sympathie des Zuschauers: Geschult an unzähligen dramatischen Konflikten dieser Art, er- wartet und wünscht man, dass die unterdrückte Figur, der Schwächling, Krüp- pel und vermeintliche Dummkopf Verbal, am Ende Recht behält. Die Unsicher- heit des Zuschauers in der Frage, wie Keaton zu bewerten ist, bestärkt freilich die Hypothese, dass genau darin der Schlüssel zum Fall liegen könnte. Nachdem Bear auf der Polizeistation über die Aussage von Kovash Bericht erstattet hat, bringt Kujan beim Verhör Verbals den Namen Keyser Soze ins Spiel, und nun geht es auch hier vornehmlich um dessen Identität. Nach den Berichten Bears und Verbals ist Soze eine Art Supergangster, der in nahezu allen kriminellen Geschäften tätig ist und für den jeder arbeiten kann, ohne es zu wissen. Obgleich niemand so recht an ihn glaubt, ist er in der Unterwelt gefürchtet. Verbal erzählt eine schaurige Geschichte über Sozes kriminelle Anfänge in der Türkei, als dieser seine eigene Familie tötet, um in einem Drogenkrieg gegen eine Bande von Ungarn die Oberhand zu behalten. Diese ‚Legende‘ wird, während sie Verbal im Off erzählt, in verwackelten, überbelichteten Bildern gezeigt. [FB 4] Redfoots Auftraggeber Kobayashi entpuppt sich als ein Mittelsmann von Keyser Soze: Er verrät ihnen, dass Soze sie nach L.A. habe locken lassen, ja bereits die Gegen- überstellung in New York fingiert habe. Da sie alle sich, ohne es zu wissen, in der Ver- gangenheit bei Soze schuldig gemacht haben, müssen sie für ihn einen Auftrag ausfüh- ren: Sie sollen einen Drogendeal am Hafen zwischen zwei mit Soze konkurrierenden Banden vereiteln. Wer überlebe, dürfe sich eine Beute von 91 Millionen Dollar teilen. von Eigenschaften bestünden. Dieses Bild korrespondiere mit dem Wünschen des Zuschauers nach einer sicher kalkulierbaren Figurenzeichnung – der Film jedoch mache es sich zur Aufgabe, uns die Engstirnigkeit und Kurzsichtigkeit dieses Wunsches vorzuführen. 160 Maurice Lahde montage/av Abb. 4a.b Streit im Verhörzimmer. Kobayashi verteilt an die Gangster Briefumschläge, deren Inhalt zweifelsfrei belegt, dass Soze Informationen über das gesamte Leben jedes Einzelnen besitzt und sie damit in der Hand hat. [FB 5] Einer der Gangster, Fenster, will aus Angst vor Soze fliehen. Kurz darauf erfahren die anderen, wo sie seine Leiche finden können. Sie begraben ihn und schwören Rache. [FB 6] Unter Führung Keatons bringen sie Kobayashi in ihre Gewalt – nur um zu er- fahren, dass Keatons Lebensgefährtin nach Los Angeles gelockt wurde und von Sozes Leuten getötet wird, wenn sie sich dessen Befehlen widersetzen. Auch Drohungen gegen Verwandte der anderen Gangster fallen. So fügen sie sich und planen den Ablauf des Überfalls auf das Schiff. Bevor sie zur Tat schreiten, bittet Keaton Verbal, sich zu verste- cken und, sollte er sterben, Edie alles zu erzählen. Anschließend gelingt es ihm und den beiden übrigen Gangstern, beide Banden in einem geschickten und blutigen Überra- schungsangriff auszuschalten. Jedoch wird Hockney, während Keaton und McManus auf das Schiff gelangen, von einem unsichtbar bleibenden Gegner erschossen. [FB 7] McManus und Keaton können auf dem gesamten Schiff kein Kokain finden. In einer bewachten Kabine ist ein kleiner Mann versteckt, der panisch ausruft, Keyser Soze sei auf dem Schiff. Ein Unbekannter sucht die Kabine auf und tötet den kleinen Mann. McManus bricht auf dem Deck mit einem Messer im Hals zusammen. Ein Mann im dunklen Anzug schießt Keaton von der Brücke aus nieder. Verbal beobachtet dies aus ei- nem sicheren Versteck, nachdem er vorher am Schiff entlang gehastet ist. [FB 8] Aus Verbals Perspektive wird noch einmal das Geschehen der Anfangsse- quenz wiederholt. Wiederum ist der kauernde Keaton im Moment seiner Erschießung nicht zu sehen. Der abschließende Zoom auf die Taurolle entspricht dem der Anfangs- sequenz. Der Streit im Verhörzimmer entbrennt nach dem letzten Flashback aufs Neue: Kujan bezichtigt Verbal der Lüge; es sei nicht wahr, dass er gesehen habe, wie Keaton erschos- sen wurde. (Abb. 4a.b) 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 161 In der zweiten Hälfte des Films rückt die Frage nach Sozes Identität, an die der Zuschauer bis jetzt nur gelegentlich erinnert wurde, nun jäh ins Zentrum des Interesses und scheint der eigentliche Schlüssel zu dem Fall zu sein, demgegen- über die bisher dominierenden Fragen nach Keaton kurzfristig in den Hinter- grund rücken. Keyser Soze, bisher nur ein geheimnisvoller Unbekannter, wird durch Kobayashis Vortrag, die erschrockene Reaktion der Gangster und vor allem durch die Briefumschläge zu einer Figur mit uneingeschränkter Macht ausgebaut. Als klar wird, dass Keyser Keatons Lebensgefährtin in seiner Gewalt hat, werden die Fragen nach Keysers Identität und Keatons Schicksal wieder nebeneinander gestellt, als würde nun allmählich die Plattform bereitet für die finale Konfrontation zwischen den beiden Männern, die dann – in [FB 8] – tat- sächlich ein zweites Mal gezeigt wird. Wer Keyser wirklich ist und ob Keaton tatsächlich tot ist, ist allerdings auch nach dieser Wiederholung nicht klar. San Pedro, Polizeistation. Die Lösung, die Kujan nun präsentiert, zwingt den Zuschauer zu einer völligen Neubewertung des bisher Gesehenen: Keaton war Keyser Soze! Sein Ziel sei es gewesen, die einzige Person zu töten, die ihm gefährlich werden konnte, weil sie seine Identität kannte: Arturo Marquez, der in der Schiffskabine versteckte kleine Mann, war ein Spitzel, der schon früher ausgesagt hatte, von Angesicht zu Angesicht mit Keyser Soze bekannt zu sein. In dieser Nacht wollten die Argentinier Marquez an Sozes Feinde, die Ungarn-Bande, verkaufen. Die Information über Marquez habe Keaton durch Edie erhalten, die mit dessen Fall betraut war. Er habe die anderen Gangster orga- nisiert, um mit ihrer Hilfe auf das Schiff zu kommen und den Mord ausführen zu können. Zuletzt habe er auch Edie getötet – die Nachricht ihrer Ermordung hat Kujan gerade erhalten. Seine Argumentation wird gestützt durch eine kurze Einblendung, die Keaton im Keyser Soze-Kostüm zeigt. Verbal bricht unter dieser Beweislast weinend zusammen und gibt zu, dass sie wohl alle Keaton von Anfang an auf den Leim gegangen seien. Doch er weigert sich strikt, gegen diesen als Kronzeuge auszusagen, und verlässt mit einem Fluch auf die Polizei das Büro. Die Auflösung ist in sich schlüssig. Wenn Keaton Keyser Soze ist, würde der ‚schwarze Mann‘ entdämonisiert: Er wäre nicht allmächtig, sondern nur ver- dammt clever; er wäre nicht allwissend, schließlich war er die ganze Zeit dabei. Und die Analogie zwischen Keyser und Keaton – nach den Berichten Verbals und Kujans sind beide willens und in der Lage, ihr eigenes Ableben zu inszenie- ren und sämtliche Mitwisser aus dem Weg zu räumen – findet ihre simple Erklä- rung in dem Umstand, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt (vgl. Telotte 1998, 16). Aber diese Auflösung steht im Widerspruch zu den wichtigs- ten Aspekten des bisherigen Fabelentwurfs. Zunächst ist die Hypothese zu ver- 162 Maurice Lahde montage/av werfen, Keaton sei Opfer einer tragischen Verwicklung geworden. Dem Zuschauer (und dem armen Verbal) stand statt dessen ein Gangster mit enormer schauspielerischer Begabung gegenüber. Alles, was ihn scheinbar zur tragischen Gestalt gemacht hat – seine Skrupel, sein Fatalismus, seine Liebe zu Edie Finne- ran –, war nur vorgespielt, Teil eines teuflischen Plans, in dem selbst die Ermor- dung der Anwältin von Anfang an eiskalt eingeplant war. Der Zuschauer muss eingestehen, dass Kujans These, Keaton habe sich nie verändert und alle nur getäuscht, richtig war, Verbals Theorie vom reuigen Sünder dagegen tatsächlich naiv. Den Machtkampf im Verhörzimmer hätte ganz unerwartet also tatsächlich die mächtigere und unsympathischere Figur gewonnen. Viel weiter reichend ist, dass die gleich zweimal gezeigte letzte Konfrontation Keatons mit einem Mann namens Keyser gar nicht stattgefunden hat. Die beiden Sequenzen waren ‚filmische Lügen‘, die den Zuschauer in die Irre geführt haben. Schon die Anfangssequenz hat ihn mit Informationen beliefert, die notwendig zu einem falschen Fabelentwurf führen mussten. Doch nun wird eine zweite und letzte Lösungsmöglichkeit präsentiert, die fast alle soeben angestellten Überlegungen wieder hinfällig macht und erneut zu einer radikalen Umformulierung des Fabelentwurfs führt. Nachdem Verbal das Verhörzimmer verlassen hat, blickt Kujan gedankenverloren über die Pinnwand, der er während des Verhörs den Rücken zugewandt hatte – und entdeckt entsetzt, dass Verbal viele Namen und Orte seiner Aussage offensichtlich einfach dort abgelesen hat. Am Ende einer sehr schnellen rekapitulierenden Montagesequenz, die noch einmal Ausschnitte einiger zentraler Szenen versammelt, ist in ein paar extrem kur- zen Einstellungen Verbal in der Verkleidung Keyser Sozes zu sehen. Aus dem Faxgerät im Nebenraum tackert das Phantombild, das im Krankenhaus angefertigt wurde: Es zeigt Verbals Gesicht. Draußen steigt der vermeintliche ‚Krüppel‘ Verbal, der plötzlich richtig gehen kann, in eine Luxuslimousine, deren Chauffeur der vermeintliche „Kobayashi“ ist. Kujan stürmt panisch auf die Straße, kann aber Verbal nirgendwo mehr entdecken. (Abb. 5a.b) Verbals Enttarnung als Keyser Soze ist überraschend, aber nicht unplausibel: Immerhin hatte ihn der Zuschauer – in [FB 3] – schon einmal als ‚gefährlich‘ erlebt und zu Beginn erfahren, der „Prince of Darkness“ habe sich für seine Immunität eingesetzt: Da ist wohl Verbals eigenes Netzwerk aktiv geworden.11 11 Äußere Ähnlichkeit zwischen Verbal und der nur emblematisch verwendeten Keyser-Figur besteht natürlich nicht. Allerdings weist Barker (2000, 65) auf eine direkte Verbindung zwischen Verbal und Keyser hin: die Linkshändigkeit beider Figuren. Doch wird dieser ‚Beweis‘ erst in 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 163 Abb. 5a.b Das Phantombild kommt. Die Keyser-Figur kann der Zuschauer mit Verbal ‚auffüllen‘, ohne an deren Tatmotiv und der schon bei der ersten Lösungsvariante erfolgten Entdämoni- sierung etwas ändern zu müssen. Keaton fällt in die tragische Rolle zurück, die der Sympathieträger Verbal Kujan und dem Zuschauer ‚verkaufen‘ wollte, wirkt nun sogar, da man weiß, dass er wohl tatsächlich Freundschaft und Ver- trauen für Verbal verspürt hat und von diesem benutzt und schließlich getötet wurde, noch ungleich tragischer. Die Keaton-Tragödie war kein Bluff, sie ent- sprach der Wahrheit – doch hinsichtlich der Auflösung des Falls war sie, obgleich das dramaturgische Zentrum des Films, nichts als ein gigantisches Ablenkungsmanöver. Schließlich ist auch der Wunsch des Zuschauers, Verbal als die sympathischere Figur möge gegenüber Kujan Recht behalten, nun doch erfüllt worden – wenn auch zu dem Preis, selber von dieser Figur übers Ohr gehauen worden zu sein. Die Anfangssequenz und die Einstellungen – in [FB 8] –, welche die Keyser- Keaton-Konfrontation gezeigt haben, sind ‚rehabilitiert‘: Da hinter dem Tau- rollenversteck beide Male keine Augen gezeigt wurden, sind sie im entscheiden- den Moment (in dem Keyser auf Keaton schießt), sogar vollständig ehrlich – sie verstoßen ‚lediglich‘ gegen das Gebot der narrativen Ökonomie, nach dem der der Schlussszene sichtbar: Hier steckt sich Verbal, wie Keyser am Anfang, mit links eine Zigarette an, und sein goldenes Feuerzeug sowie die goldene Uhr, die er beide vorher beim Pförtner der Polizeiwache abgeholt hat, könnten identifiziert werden als die Gegenstände, die Keyser am Anfang benutzt hatte. Vorher jedoch war Verbals linke Hand die vermeintlich ‚verkrüppelte‘ (nachträglich lesbar als ‚Alibi‘), und er schoss (sehr zielsicher) mit rechts. Diese Verbindung ist also eher als ‚Gimmick‘ für den eingeweihten Zuschauer zu verstehen denn als taugliches Beweismittel für den Erstseher (ebenso verhält es sich mit dem Mantel und dem Hut, die ein findiger Benutzer der IMDB in Marquez‘ Kabine entdeckt hat und mit deren Hilfe erklärbar wäre, wie Verbal zu dem ‚Dunkler Mann‘-Outfit gekommen ist). 164 Maurice Lahde montage/av Zuschauer davon ausgehen darf, dass alles, was ihm gezeigt, auch ‚benutzt‘ wird. Als ‚gelogen‘ müssen nun alle Einstellungen – in [FB 7] und [FB 8] – gewertet werden, die Verbal als unbeteiligten Zeugen zeigen: Diese entsprachen seinen Falschaussagen während des Verhörs. Diese Hypothese wird jedoch von einer weiter reichenden in den Schatten ge- stellt: Die gesamte Aussage Verbals könnte eine Falschaussage sein, eine gänz- lich erfundene Geschichte, zu der er sich durch Rabins Pinnwand hat inspirieren lassen. Dennoch dürfte der vertrauende Zuschauer den Eindruck haben, eine ab- geschlossene Fabel vorliegen zu haben: Das Geschehen ist aufgeklärt, die Fragen aus der Anfangssequenz sind restlos und befriedigend beantwortet. Wer ent- deckt, dass er diese Antworten größtenteils denjenigen Passagen des Plots ent- nimmt, die er soeben als Verbals Erfindung entlarvt hat – wer dieses Paradox entdeckt, wird vielleicht motiviert sein, den Film – mit sehr skeptischem Blick – noch einmal zu sehen. Die Flashbacks: Fortgesetzter Vertrauensbruch Wie die Analyse der Anfangssequenz gezeigt hat, folgt der skeptische Zu- schauer der Hypothesenbildung des vertrauenden Zuschauers erwartungsge- mäß immer dann nicht, wenn er einen ‚Missbrauch‘ filmsprachlicher Konventio- nen wittert, genauer: wenn er den Verdacht hat, man wolle ihn mit der Erfüllung dieser Konventionen zu einer bestimmten Hypothese provozieren. Im Falle von The Usual Suspects betrifft dies hauptsächlich die Konvention des subjektiven Flashbacks, die im Folgenden kurz beschrieben werden, bevor wir uns den Rückblenden in diesem Film zuwenden. Kein Zuschauer erwartet, in einem subjektiven Flashback nur Dinge gezeigt zu bekommen, die der Wahrnehmung des sich erinnernden/erzählenden Sub- jekts entsprechen. Nach Bordwell sollte man Flashbacks speziell in Holly- wood-Filmen weniger als subjektiv denn als ‚subjektiv motiviert‘ verstehen: Die ‚Erinnerung‘ einer Figur (in der Regel durch einen Zoom auf das Gesicht oder ähnliche stilistische Mittel indiziert und eingeleitet) dient vor allem als Legitima- tion für ein nicht-chronologisches Arrangement des Plots, und innerhalb der Rückblende kann selbstverständlich genauso ‚objektiv‘ weiter erzählt werden (vgl. 1995, 162). Dennoch ist nicht anzunehmen, dass der Zuschauer solche Er- zählsegmente als vollkommen unabhängig vom ‚auslösenden‘ Subjekt versteht. Die gängige Haltung dürfte auf einer ‚Vereinbarung‘ beruhen, die sich wie folgt beschreiben lässt: Auf der einen Seite akzeptiert der Zuschauer die formale Un- abhängigkeit des Erzählers von der Wahrnehmungsperspektive des den Flash- 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 165 back motivierenden filters (weder muss die Figur notwendig anwesend sein, noch stellen etwa POV-Shots aus der Sicht anderer Figuren innerhalb der sub- jektiv motivierten Rückblende ein Problem dar).12 Auf der anderen Seite erwar- tet der Zuschauer aber, dass ein Flashback einer möglichen Erzählperspektive des Subjekts inhaltlich im weitesten Sinne entspricht. Idealerweise sollte die Rückblende etwas zeigen, von dem sich sinnvoll annehmen lässt, es werde in der Rahmenhandlung von einer Figur ‚erzählt‘ (wobei ‚erzählen‘ auch ‚ausschmü- cken‘, ‚unterschlagen‘, ‚fabulieren‘ heißen kann, unter Umständen sogar ‚lü- gen‘), wenigstens sollte der Flashback nichts zeigen, was dieser denkbaren Er- zählung fundamental widerspricht. Der Inhalt des Flashbacks muss sich gleich- sam ‚zurückübersetzen‘ lassen in eine Aussage, welche die Figur macht oder machen könnte – so wie der Zuschauer umgekehrt davon ausgeht, das Wissen der innerdiegetischen Zuhörer entspräche nach dem Ende des Flashbacks dem seinigen, so als hätten sie nicht nur einer (ihm unbekannt bleibenden) mündli- chen Erzählung gelauscht, sondern den Flashback, wie der Zuschauer, ‚gesehen‘. Die Flashbacks in The Usual Suspects werden nun gemeinhin als ‚Verbals Zeugenaussage‘ aufgefasst. Nicht dazuzuzählen ist jene Sequenz, die ‚Keyser Sozes Zeit in der Türkei‘ zeigt: Auch diese wird zwar von einem Bericht Verbals initiiert und von seinem Off-Kommentar begleitet, doch sie ist inhaltlich ein- deutig als Mythos gerahmt, als „spook story that criminals tell their kids at night“, wie es im Film heißt, und hebt sich mit ihren verwackelten, überbelichte- ten Bildern auch stilistisch vom Rest des Films ab. Diese Binnenhandlung ist so als Fiktion in der Fiktion notiert, nicht als Verbals Erinnerung an ein eigenes Er- lebnis. (Beim zweiten Sehen des Films, im Wissen um Verbals Identität, könnte man sich eingeladen fühlen, diesen Mythos als Teil von dessen Vergangenheit zu betrachten.) Anhand der Flashbacks in The Usual Suspects lässt sich das Geschehen re- konstruieren, das zu dem in der Anfangssequenz gezeigten Finale führt. Der ers- te Flashback [FB 1] ist als einziger nur auf einer Seite gerahmt, zudem scheint die Rahmensituation nur für wenige Sekunden auf, ist aber eindeutig als ‚Verhörsi- tuation‘ notiert (später erfahren wir, dass es sich hierbei um Verbals ‚Aussage vorm Staatsanwalt‘ gehandelt hat). Auch die Kopplung an die Figur ist eindeu- tig, Verbals einleitendem Satz: „It all started back in New York six weeks ago“ entspricht das den Flashback eröffnende Insert „New York – Six Weeks ago“ 12 So wird kein Zuschauer von Titanic (USA 1997, James Cameron) Anstoß daran nehmen, dass ihm gleich zu Beginn des Flashbacks, der eindeutig als Roses Erinnerung gerahmt ist, ein Handlungsabschnitt gezeigt wird, an dem diese gar nicht beteiligt war: die Erzählung, wie Jack und sein Freund auf das Schiff gekommen sind. 166 Maurice Lahde montage/av (erneut wird anstelle des neutralen ‚before‘ ein deiktischer Begriff verwendet13). Und in der zweiten Hälfte des Flashbacks ist ein Voice-Over-Kommentar der (dann bald als Verbal Kint bekannten) Figur zu hören. Dennoch dauert es eine Weile, bis Verbal das erste Mal zu sehen ist; zunächst werden die Verhaftungen der vier anderen Gangster gezeigt. Dies ist, wie gesagt, Konvention, und es ist ja auch denkbar, dass Verbal bei dem Verhör etwas über diese Ereignisse erzählt. Die Konvention wird aber dadurch in besonderem Maße als solche ausgestellt, dass die einzige Verhaftung, die er selbst miterlebt hat, seine eigene, nicht gezeigt wird. Gleiches gilt kurz darauf noch einmal für die Verhöre zu dem ‚gestohlenen Lastwagen‘. Diese Szenen sind sogar mit Ver- bals Voice-Over-Kommentar unterlegt, doch gerade dieser kann vom skepti- schen Zuschauer kaum als Wiedergabe einer ‚Zeugenaussage‘ verstanden wer- den, denn weder Tonfall noch Inhalt passen zu einer Verhörsituation. Vielmehr ist der komplizenhafte Ton, in dem Verbal die anderen Gangster charakterisiert und sich über Sinn und Unsinn der Gegenüberstellung und seiner Anwesenheit dabei auslässt, nur verstehbar als direkt an den Zuschauer adressiert. Der ‚Ver- bal‘, der hier spricht, ist nicht identisch mit der abgebildeten Figur, sondern ein Kommentator, der gleichsam ‚mit uns den Film sieht‘ und sinngemäß sagt: „Ich bin damals am Hafen geschnappt worden und musste dem Staatsanwalt erzäh- len, was passiert ist – und nun erzähle ich euch das – schaut her, das sind die Jungs, mit denen ich verhaftet worden bin...“ Der extra-diegetische Erzähler, ließe sich formulieren, personalisiert sich für einen Augenblick in ‚Verbal‘, der slant ‚leiht‘ sich Verbals Stimme und gewisse seiner Charakterzüge. Dies, zu- sammen mit der subjektiven Rahmung, könnte der skeptische Zuschauer als Überredungsversuch erkennen, den Flashback als an die Wahrnehmungsper- spektive Verbals gekoppelt zu begreifen – obwohl er das dem Inhalt nach ganz und gar nicht ist. Die Grenzen einer möglichen Erzählperspektive dieser Figur werden zwar nicht verletzt, aber ziemlich weit ausgelotet. Der Erzähler legt dem Zuschauer eine enge perspektivische Bindung nahe, während er sich selbst die größtmögliche Freiheit gestattet. Dieser erste Flashback gleicht einem Probelauf, um einige der Mittel zu testen, die in den folgenden Rückblenden gezielt zur Irreführung eingesetzt werden. Mit Beginn von Verbals Verhör durch Kujan ist der Rahmen und die Motivation für die Fortsetzung seiner ‚Aussage‘ geschaffen. Und nun wird sich der Erzähler im weiteren Verlauf immer weiter von der ‚Vereinbarung‘ hinsichtlich des Um- gangs mit Wahrnehmungs- und Erzählperspektive entfernen. Nur der zweite 13 So dass es in der deutschen Fassung anstelle von „sechs Wochen zuvor“ richtig „vor sechs Wochen“ heißen müsste. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 167 Flashback [FB 2] ist noch in jeder Hinsicht unauffällig: Er entspricht Verbals Er- zählperspektive, indem er Keaton genauso zeigt, wie ihn Verbal während des Verhörs beschreibt und wie er möchte, dass auch Kujan ihn ‚sieht‘. Doch schon im Folgenden – [FB 3] – beginnt der Erzähler, sich von Verbals Aussage zu distanzieren, entsprechen die Charakterisierung Keatons und vor al- lem Verbals nicht mehr dessen Intentionen. Keaton droht hier in einer Szene Redfoot, indem er ihm gesteht, einen von dessen früheren Partnern ermordet zu haben – und stützt damit erstmals das Bild, das Kujan von ihm hat. Kurz darauf meldet sich Verbal wieder als Off-Kommentator zu Wort und sagt, ein Mann könne nicht ändern, was er sei: „He can convince anyone he’s someone else, but never himself.“ Dieser Satz käme, wäre er Teil von Verbals Aussage, fast schon einer vorzeitigen Kapitulation vor Kujan gleich. Erneut scheint es sich eher um eine Adressierung des Zuschauers zu handeln (sinngemäß: “Kujan hätte ich das nie eingestanden, aber euch kann ich es ja sagen“). Auch die Szene, in der Verbal den Juwelenhändler erschießt, könnte im skep- tischen Rezeptionsmodus Zweifel wecken, ob der Inhalt des Flashbacks wirk- lich eine ‚Übersetzung‘ von Verbals Aussage ist: Denn dies würde bedeuten, dass Verbal darin ohne Not (und ohne dass er danach gefragt worden wäre) ei- nen Mord gestanden hätte. Auch wenn der Umstand seiner Immunität am An- fang deutlich hervorgehoben wurde, ist nicht einsichtig, warum er sich so ver- halten sollte, und später deutet nichts an Kujans Verhalten darauf hin, dass dieser von Verbals Tat wüsste. Arbeitete der Erzähler in [FB 2] noch daran, die Glaubwürdigkeit von Verbals Aussage zu stützen, fällt er diesem nun plötzlich in den Rücken und verrät Din- ge, die Verbal lieber verborgen hätte. Besonders hinterhältig daran ist, dass er dafür ausgerechnet Verbals eigenen Voice-Over-Kommentar einsetzt (der zwar dem Charakter der Figur entspricht, aber nicht dessen Handlungsintentionen). Für den skeptischen Zuschauer ist daraus abzuleiten: Ungeachtet der formalen Rahmung ‚Verbals Aussage‘ agiert in den Flashbacks ein autonomer, keinen Fi- gureninteressen verpflichteter Erzähler. Im [FB 7] wird schließlich auch diese formale Rahmung aufgegeben. Rein for- mal ist dieser nicht an Verbal, sondern an Kujan gekoppelt: Er wird von dessen Satz: „I tell you what I know [...]: there was no dope on that boat“, eingeleitet und mit der Äußerung: „That’s what you said in your statement“, beendet. Dies heißt also: Der Flashback beruht auf einer Aussage Kujans, in der dieser wieder- um zum Teil eine Aussage Verbals zitiert, und Verbal, auf den abgeblendet wird, wird als ein angestrengter, intensiv teilnehmender Zuhörer gezeigt. Daher sollte man diesen Flashback eher als Wiedergabe zweier sich teils vermischender, teils konkurrierender Standpunkte betrachten. Zu sehen ist hier: 168 Maurice Lahde montage/av a) Wie die Gangster das gesamte Schiff durchkämmen, ohne Kokain zu finden. Dies entspricht exakt der Äußerung Keatons, mit welcher der Flashback ein- geleitet wird. b) Wie ein verängstigter, in einer bewachten Kabine versteckter kleiner Mann von einem Unbekannten aufgesucht und getötet wird. Hier nimmt der Er- zähler eine These vorweg, die Kujan erst später äußert (den Mord Sozes an dem einzigen Zeugen Marquez), rückblickend ist dies also eine legitime Wie- dergabe von Kujans Erzählperspektive. Zum Zeitpunkt des Flashbacks ist dem Zuschauer jedoch lediglich bekannt, dass Kujan kurz vorher durch seine Kollegen von der Existenz eines „Marquez“ erfahren hat. Die Einstellungen aber, die lange POV-Shots eines unsichtbar bleibenden Subjekts auf dem Weg durchs Schiffsinnere zeigen, müssen dem skeptischen Zuschauer noch als ‚außerhalb‘ des Wissensstands im Verhörzimmer auffallen und erneut als Direktadressierung empfunden werden, als spannungserzeugender cue: ‚Seht her: Der große Unbekannte sucht sein Opfer‘. c) Wie erst McManus hinterrücks getötet und dann auch Keaton von einem Unbekannten im dunklen Anzug niedergeschossen wird. Dies beobachtet Verbal vom Pier aus, und dies entspricht auch seiner ‚Aussage vor dem Staatsanwalt‘ (Abb. 6a.b). Zu diesem Zeitpunkt weiß der Zuschauer schon genug, um diesen Unbekannten für Keyser Soze zu halten und ihn damit auch mit dem Unbekannten im Schiffs- inneren abzugleichen, noch nicht genug indes, um diesen Mann mit einer ihm bekannten Person in Deckungsgleichheit zu bringen. Hier hält sich der Erzähler an den Wissenstand des Zuschauers, indem er Keyser Soze noch als autonom agierende ‚Leerstelle‘ zeigt, die sich noch nicht mit einer bereits bekannten Figur ‚überlappt‘. Daraus ergeben sich jedoch einige Widersprüche, die in keine kohä- rente Fabelkonstruktion aufgelöst werden können: Der Zuschauer sieht Keaton und McManus, enthemmt und zu allem ent- schlossen, auf verschiedenen Wegen durch das Schiff stürmen, er sieht, wie sie auf alles schießen, was sich bewegt, er sieht sie an allen möglichen Stellen nach dem Koks suchen, und er hört schließlich, als sie sich im Maschinenraum wie- dertreffen, Keatons Worte: „I’ve been in every fuckin‘ room. There – is – no – Coke!“ Er sieht auf der anderen Seite zumindest einen Raum, den sie nicht be- treten haben: die Kabine des kleinen Mannes. Angesichts ihrer Entschlossenheit und Professionalität, angesichts Keatons Überzeugung, schon allein überall auf dem Schiff gewesen zu sein, ist aber nicht einzusehen, wieso sie ausgerechnet diesen Raum nicht gefunden haben sollten – der durch seine Bewachung ja die Aufmerksamkeit auf sich ziehen müsste. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 169 Abb. 6a.b Auf dem Schiff. Die einzige Möglichkeit, a) und b) zu einem kohärenten ‚Weltentwurf‘ zu- sammenzufügen, wäre, dass entweder Keaton oder McManus selbst der Unbe- kannte in b) sei. Da jedoch in c) beide von diesem Unbekannten getötet werden, ist diese Möglichkeit ausgeschlossen.14 Und Verbal, der, wie Zwischenschnitte wiederholt zeigen, sich die ganze Zeit über am Pier befindet, kommt für die Rol- le des Unbekannten schon gar nicht in Betracht. Der Erzähler darf damit rechnen, dass die meisten Zuschauer auch hier noch versuchen, diese sich partiell ausschließenden Handlungsstränge in ein stimmi- ges Ganzes zu integrieren: weil dies ihre vordringlichste Aufgabe ist, aber auch, weil diese Stränge, ungeachtet ihrer narrativen Unvereinbarkeit, sich dramatur- gisch glänzend fügen, in engstem Zusammenspiel alle Aufmerksamkeit auf die Frage nach der Identität des großen Unbekannten lenken. Doch auch wenn kaum jemand die genannten Widersprüche während der Rezeption mit solcher Genauigkeit herauszuarbeiten vermag, dürfte dem skeptischen Zuschauer be- wusst sein, dass hier – ganz wörtlich – ‚irgendetwas nicht stimmt‘, dass in der vollendeten Fabel nicht für alle Teile dieses Plotsegments Platz sein kann. Schon kurz darauf wird Keaton durch Kujan als Keyser Soze ‚enttarnt‘ – und damit ist klar, dass c) der Abschnitt ist, der herausfällt, dass dieser, wie oben be- schrieben wurde, ‚gelogen‘ war, während a) und b) nun ‚passen‘. Doch kann der Erzähler erwarten, dass der Zuschauer auf diese Auflösung anders reagiert als mit Verärgerung? Ist das Prinzip des „seeing is believing“ nicht zu übermächtig, als dass der Zuschauer sich die Behauptung gefallen ließe, das Gezeigte habe gar nicht stattgefunden? Nun, wie wir gesehen haben, dürfte der skeptische Zu- 14 Es sei denn, wir wären bereit zu glauben, auf dem Schiff trieben gleich zwei Unbekannte ihr Un- wesen: Dann gäbe es neben dem Rätsel um Sozes Identität also plötzlich noch ein Rätsel um eine bis dahin nicht erwähnte Person Y – ein ziemlich ungelenker und unökonomischer Fabelentwurf. 170 Maurice Lahde montage/av schauer dieses Prinzip schon vor dieser Auflösung fallen gelassen, oder präziser: es durch ein konkurrierendes ‚Prinzip‘, nämlich wachsendes Misstrauen gegen- über der Erzählperspektive, zu relativieren begonnen haben.15 Die Konfrontation zwischen Keaton und Keyser erfolgt in einem Kontext, der von ‚Unglaubwürdig!‘-Warnsignalen geradezu umzingelt ist. Selbst wenn der Flashback in sich kohärent und eindeutig in die Aussage einer einzelnen Per- son rückübersetzbar wäre (was er nicht ist), wüsste der Zuschauer längst genug über diese Person, um ihr nicht mehr vorbehaltlos zu trauen: Verbal hat seine Aussagen nur zögernd und unter Druck gemacht, er „bequemt sich nur müh- sam, Hinweise auf das großangelegte Verbrechen zu geben“,16 und diese werden von Kujan fortwährend für falsch oder unzureichend erklärt.17 Die Lügencha- rakter der Szene könnte akzeptiert werden als Verbals ‚Schuld‘, der gelogen hät- te, um die Unschuld seines vermeintlichen Freundes Keaton zu beweisen, und sich damit, nach Chatmans Terminologie, als fallible filter herausgestellt hätte (1990, 143f). Doch selbst für eine ‚korrekte Wiedergabe einer falschen Aussage‘ kann der skeptische Zuschauer diese Szene kaum noch halten, hat er den Erzäh- ler doch schon längst als unbeständig und unzuverlässig enttarnt, als einen Scharlatan, der ständig und auf unberechenbare Weise seine Position variiert, sich einmal des filters Verbal bedient, sich ein anderes Mal auf die Seite Kujans schlägt und dann wiederum völlig autonom erzählt. Nein, der eigentliche Ver- trauensbruch hätte in der Anfangssequenz stattgefunden, wo selbst der skep- tischste Zuschauer noch viel zu wenig Informationen besaß, um auf die Idee kommen zu können, ihm werde hier eine komplette Lüge aufgetischt. Nach die- ser Auflösung nun müsste dem Zuschauer der Anfang, der ihm Keyser und Kea- ton als zwei verschiedene Personen vorstellte, als ein billiger Trick erscheinen, der ihn zwingend zu einem falschen Fabelentwurf geführt hat. Einzig eine der beiden ‚skeptischen‘ Anfangshypothesen – dass Keaton, da sein Tod nicht ge- 15 Dieser Relativierungsprozess ließe sich an zahlreichen Beispielen aus der Filmgeschichte zeigen. Das berühmteste, Akira Kurosowas Rashomon (Japan 1951), lädt den Zuschauer geradezu zur philosophischen Reflexion über die Konkurrenz dieser Prinzipien ein, indem er ein Verbrechen in gleich drei verschiedenen, unvereinbaren Variationen zeigt (die übrigens auch hier auf ‚Zeugenaussagen‘ beruhen). 16 Angie Dullinger: Die üblichen Verdächtigen. In: Abendzeitung (München) v. 18.1.1996. 17 In einer Rezension heißt es sogar, ”dass Verbal seine Geschichte öfter ändern muss, wenn Kujan ihn mit Fakten konfrontiert, dass er also vielleicht nicht nur Wissenslücken hat, sondern auch unterschlägt und schönfärbt”; tkl.: Verbals Puzzle. In: Stuttgarter Zeitung v. 18.1.1996. Das hierdurch erzeugte Misstrauen tritt in Konflikt mit der Sympathie, die wir für diese Figur emp- finden, ein Konflikt, der auf wunderbare Weise gelöst wird, wenn Verbals unerwarteter Sieg ge- gen Kujan uns sowohl in dieser Sympathie unterstützt als auch in unserem Misstrauen recht gibt. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 171 zeigt wurde, noch leben könnte – hat sich nun als richtig erwiesen und muss als schwache Legitimation für diese Szene herhalten. Doch kurz darauf wird der Anfang durch die zweite und endgültige Auflö- sung rehabilitiert, ebenso der Handlungsstrang c) – mit der pikanten Ausnahme, dass Verbal diese Szenen beobachtet hat, das heißt: Die Hypothese über Keatons Weiterleben war doch verfehlt, indes erweist sich die andere ‚skeptische‘ An- fangshypothese nun als richtig: dass hinter den Taurollen, da dort niemand ge- zeigt wurde, auch tatsächlich niemand war. Nun könnte man argumentieren, jetzt seien lediglich andere Szenen gelogen als nach der ersten Auflösung, aber minder ärgerlich sei auch das nicht. Dass die- se Lösung dennoch ‚fairer‘ oder glatter erscheint, hat m.E. zwei Gründe: Zum einen, und dies ist der gewichtigere (den vertrauenden Zuschauer versöhnende) Grund, funktioniert nun der Anfang wieder: Er hat zu den richtigen Fragen ge- führt, die nun alle klar zu beantworten sind. Zum anderen, dies ist der speziellere (den skeptischen Zuschauer versöhnende) Grund, wurde man somit kein einzi- ges Mal durch falsche Bildinhalte belogen, sondern ‚nur‘ durch eine falsche Montage, oder präziser: durch einen Missbrauch der Montagekonventionen. Die irreführende Überblendung von der Taurolle auf Verbal haben wir schon ge- klärt: Beide Bildinhalte sind für sich genommen ‚richtig‘, sie stehen nur nicht in dem Zusammenhang, den der Zuschauer zu konstruieren gelernt hat. Doch auch in c) sind Verbal und der ‚schwarze Mann‘ tatsächlich kein einziges Mal inner- halb derselben Einstellung zu sehen (anders als Keaton und Keyser). Freilich ist kaum eine fundamentalere filmische Konvention denkbar als die, gegen die hier verstoßen wird: die der zeitlichen und räumlichen Kontinuität von Einstellungs- folgen innerhalb einer Szene. Die Montage der Szene im Einzelnen: Shot: Verbal läuft am Pier herum und beobachtet etwas auf dem Schiff. Reverse shot: Ein schlanker Mann im Anzug schießt vom Oberdeck aus auf Keaton. Shot und re- verse shot lassen sich nicht mehr zu Teilen eines Fabel-Segments zusammenfü- gen, vielmehr werden hier zwei mögliche, einander ausschließende Varianten der Fabel präsentiert, genauer: Beide Handlungsmomente könnten zwar statt- gefunden haben, nur die Schlussfolgerung ‚Verbal beobachtet, wie Keaton von einem schlanken Mann niedergeschossen wird‘ lässt sich nicht in den Fabelzu- sammenhang integrieren. Der Zuschauer erinnert nun vielleicht auch noch, dass die geheimnisvollen POV-Shots aus dem Schiffsinneren in einer Parallelmontage mit Verbal gezeigt wurden, der aus seinem Versteck aufbricht und, die Waffe in der Hand, mit un- klarem Ziel am Pier entlang hastet. Innerhalb der Narration werden hier zwar zwei Personen an zwei verschiedenen Orten gezeigt – über die Montage wird aber bereits eine Verbindung zwischen Keyser Soze und Verbal hergestellt. Und 172 Maurice Lahde montage/av Abb. 7a.b Keaton im Kostüm von Keyser Soze. auch hier zeigt sie abwechselnd den ‚echten‘ und den ‚falschen‘ Aufenthaltsort Verbals. Zusammengefasst: In The Usual Suspects wird die perspektivische Unab- hängigkeit des Erzählers innerhalb der Flashbacks, die auf formaler Ebene von Anfang an besteht (was der Konvention entspricht), sukzessive auf die inhaltli- che Ebene überführt (womit die ‚Vereinbarung‘ nach und nach gebrochen und die Konvention unterlaufen wird). Rückwirkend muss der Zuschauer erkennen, dass er, während er noch hartnäckig daran festhält, die Flashbacks auf Grund der anfangs noch konventionellen Rahmung als ‚Verbals Aussage‘ zu lesen, er einen ‚klassischen‘ allwissenden und autonomen Erzähler vor sich hat, der an man- chem Stellen zwar die Erzählperspektive Verbals einnimmt, dieser aber an ande- ren zentralen Stellen fundamental widerspricht. Auch die eindeutige Rahmung der Flashbacks als subjektive Erinnerung/Er- zählung einer Figur wurde zuletzt ‚aufgeweicht‘. Während der beiden Auflö- sungsszenen arbeitet der Erzähler nun mit kurzen Flashbacks, die auch diesen Ablöseprozess vollenden: Während Kujans Beweisführung werden in sehr kur- zen, blitzartigen Einblendungen (z.T. bereits bekannte) Einstellungen wieder- holt, die seine Argumentation visuell stützen. Hierunter ist die Einstellung von Keaton im Kostüm Keyser Sozes die gewichtigste (Abb.7a.b). Barker interpretiert sie als kurze Erinnerungsfetzen Verbals,18 schreibt sie also noch immer eindeutig dieser Figur zu. Sicher stimmt es, dass diese Szenen Ku- 18 „She [the viewer; M.L.] must read the inserted flashbacks as a demonstration of the internal processes he [Verbal; M.L.] is going through“ (Barker 2000, 69). Bei Kenntnis des Schlusses sei dann diese Szene freilich nicht anders lesbar denn als „performance of a total lie“. Leider stellt Barker ebenso wenig wie Telotte 1998 kritisch in Frage, inwieweit diese Flashbacks überhaupt formal an Verbal gekoppelt sind. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 173 Abb. 8a.b Verbal im Kostüm von Keyser Soze – erschießt Keaton. jans Rede enormen Nachdruck verleihen und damit Verbals Zusammenbruch verständlicher machen – das scheint dann auch ihre Funktion zu sein: Kujans Version der Geschichte auch für den Zuschauer Autorität zu verleihen. Am Ende des Kräftemessens im Verhörzimmer schlägt sich der Erzähler, könnte man sagen, auf die Seite Kujans. Oder anders: Er benutzt Kujan als Stichwortge- ber, um den Zuschauer von einer möglichen Variante der Erzählung zu überzeu- gen. Bei der zweiten und endgültigen Auflösung werden wiederum kurze Einblen- dungen verwandt – und nun ist Verbal im Kostüm Keysers zu sehen (Abb. 8a.b) Aus dem Off sind zusätzlich allerlei bereits bekannte Zitate aus dem Film zu hö- ren. Diese Flashbacks sind nun ganz offensichtlich von der Verbal-Figur, die ja nicht mehr anwesend ist, emanzipiert. Sind sie zunächst noch als ‚Kujans Reka- pitulation‘ interpretierbar, so hält das Stimmengewirr auch während der gesam- ten Parallelmontage am Ende, unabhängig vom Schauplatz, an und ist somit nicht mehr an eine Figur zu koppeln. Schließlich endet der Film mit der Wieder- holung einer Aufnahme Verbals im Verhörzimmer, während aus dem Off die Wiederholung einer seiner Äußerungen zu hören ist. Diese Einstellung noch sinnvoll mit irgendeiner innerdiegetischen Perspektive zu verbinden – als ‚Flashback‘ von A nach B –, ist endgültig unmöglich: Das Schlussbild ist nicht anders verstehbar denn als reine Präsentation, als formal vollständig befreiter Zeigegestus. Dem skeptischen Zuschauer könnte der Verdacht kommen, dass dies schon den ganzen Film über so war. 174 Maurice Lahde montage/av Die Auflösung: Ein Akt des Zeigens Verbals Enttarnung als Keyser Soze ist also jene Schlusspointe, das Aufzeigen der falschen Fährte, auf der wir uns die ganze Zeit bewegt haben, die zu einer Reevaluation des gesamten vorangegangenen Geschehens zwingt. Wie genau geht diese Entlarvung vonstatten? Kujan kommt Verbal auf die Schliche, indem er entdeckt, dass dieser einige Namen und Begriffe seiner Erzählung von Notiz- zetteln auf Rabins Pinnwand und vom Boden einer Kaffeetasse abgelesen hat. Diese Entdeckung ist sehr dramatisch inszeniert – Spannungsmusik, Kujans ent- setzes Gesicht, fallende Kaffeetasse in Zeitlupe, Jump Cuts, kurze Flashbacks, unterlegt mit Stimmengewirr aus dem Off (s.o.) – und dürfte, wie oben ausge- führt, den vertrauenden Zuschauer zu der erschütternden Erkenntnis führen, dass sich Verbal alles, was zwischen der Gegenüberstellung in New York und dem Blutbad am Hafen geschah, ausgedacht hat. Diese Ansicht vertritt z.B. Stanley Orr: „The collage [in Rabins office; M.L.] suggests the broader textual fund from which Verbal ‚knits‘ a story for Kujan.“ (1999, 69) Die These, wonach Rabins Pinnwand ein monströses Referenzsystem sei, das gleichsam die gesamte Binnenhandlung generiert habe, hat zugegeben postmoderne Verve. Nicht zuletzt, weil sie den vertrauenden Zuschauer beim nochmaligen Sehen des Films in ein schönes Paradoxon führt, denn er muss nun mit zwei Thesen arbeiten, die einander gleichzeitig bedingen und aufheben: ‚Verbal ist Keyser Soze‘, und ‚Verbal hat sich alles nur ausgedacht‘. Indem Kujan Verbals Trick mit der Pinn- wand erkennt, entlarvt er ihn als Keyser Soze, macht damit aber gleichzeitig die Geschichte, die mit dieser Demaskierung ihre schlüssigste Auflösung fände, hinfällig: Wenn Verbal Keyser Soze ist, ist die Geschichte um Keyser nie gesche- hen. Diese These würde auch alle Überlegungen zu den erzählperspektivischen Verschiebungen in den Flashbacks überschatten, wäre dann doch alles dort Gezeigte, gleich aus welcher Perspektive, eine Lüge (über die Kongruenz zwi- schen der ‚von Verbal ausgesagten Lüge‘ und der ‚im Flashback gezeigten Lüge‘ ließe sich dann immer noch diskutieren). Indes müssen den skeptischen Zuschauer einige Indizien von dieser verfüh- rerischen These abhalten: Zumindest Anfang und Ende von Verbals Erzählung – die Gegenüberstellung und das Hafenmassaker – sind ja ‚von außen abgesi- chert‘, und für die Geschehnisse dazwischen gilt dies zumindest für den einen Aspekt, dass auch Edie Finneran zur fraglichen Zeit in L.A. war und in den Fall verstrickt – dies erfährt Kujan in einer Verhörpause von Kollegen, und dies wird zuletzt durch die Nachricht von ihrem Tod ‚verifiziert‘. Und schließlich trifft am Ende auch das Phantombild mit Verbals Konterfei ein, das auf der Beschrei- bung von jemanden basiert, der in das ‚abgesicherte‘ Verbrechen verwickelt war. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 175 Abb. 9a–f Die Auflösung Zudem sollte der skeptische Zuschauer, unbeeindruckt von der dramatischen Inszenierung der Pinnwand-Montagesequenz, ohnehin bemerken, dass hier nicht mehr bewiesen wird, als dass Verbal zwei Namen ausgetauscht hat: „Red- foot“ und „Kobayashi“ (die restlichen der abgelesenen Namen hat er für irrele- vante Anekdoten benutzt, mit denen er zu Beginn das Verhör hinauszögern wollte; Abb. 9a–f). 176 Maurice Lahde montage/av Welche Teile seiner Geschichte sonst noch ausgedacht waren und was davon dem Zuschauer ‚ehrlich‘ gezeigt wurde: unmöglich, es herauszufinden. Beim zweiten Sehen ist von Anfang an (abgesehen von Verbals Identität) lediglich be- kannt, dass zwei wichtige Figuren in der Geschichte nicht die Namen „Redfoot“ und „Kobayashi“ tragen, zugleich aber auch, dass einige der Ereignisse so oder ähnlich ‚wirklich‘ stattgefunden haben müssen. Diese vermeintlich nüchterne Erkenntnis hat indes die radikalere Umwertung des Gezeigten zur Folge: Denn für das Funktionieren einer Fabel, für ihre innere Schlüssigkeit, ist der ‚ontologische Status‘ der einzelnen Plotsegmente offenbar völlig irrelevant. Der Film führt vor, dass sich diese in einem fiktionalen Plot nur in einer Horizontalen anordnen lassen – alle sind gleichermaßen ‚nur gezeigt‘ –, nicht jedoch in einer ‚Hierarchie von Wahrheit oder Falschheit‘, zumindest nicht von einem Punkt außerhalb des Plots. Indem der Erzähler den Zuschauer bei der Suche nach diesem Punkt ‚auflaufen‘ lässt, führt er ihm die Nutzlosigkeit dieser Suche vor (oder sagen wir lieber: ihre Müßigkeit, denn wir haben ja Freu- de daran). Verbal hat in dem Verhörzimmer Rabins die Freiheit des Geschich- tenerzählers im Umgang mit der Wahrheit erprobt und bewiesen – und damit die Methodik des Films selbst vorgeführt. Dennoch sollten wir Barker nicht folgen, wenn er die Entlarvung Verbals als Keyser Soze weniger als ‚Wahrheit‘ denn als „enjoyable best bet in the end“ be- zeichnet (2000, 62): Dass der Film alle Teile seines Plots als reine ‚Repräsentation von Erfundenem‘ enttarnt, ändert ja nichts daran, dass sich aus diesen Teilen das ‚richtige‘ Ende einer Fabel konstruieren lässt. Da der Film zuletzt kein anderes Angebot mehr übrig lässt, da am Ende der Horizontalen dieses und kein anderes Segment steht, würden wir mit der Frage, ob vielleicht auch hier gelogen wird, das Gespräch über den Film beenden und zu der eher banalen Erkenntnis gelan- gen, dass in der Fiktion vieles möglich ist. Vielleicht ist dies der eigentliche Clou des Films: die Geschichte vollständig und sichtbar an die Oberfläche des Zeigens zu holen und ihre dramaturgische Geschlossenheit dabei dennoch nicht anzu- tasten. Eine unmögliche Forderung The Usual Suspects hat eine so offene erzählerische Struktur, dass der ‚wirkli- che‘ Inhalt nicht nacherzählbar ist, ohne die Mitarbeit des Zuschauers (im Sinne von Ecos lector in fabula) zu berücksichtigen: Gerade der Inhalt des für die Fabelkonstruktion zentralen Flashbacks [FB 7], in dem die Frage geklärt wird, ‚was wirklich auf dem Schiff geschah‘, ist ohne Einbezug des Zuschauerwissens 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 177 nicht wiederzugeben. Diesem Flashback lassen sich während des Filmverlaufs drei verschiedene Inhalte („Keyser“ als unbekannter Dritter, als Keaton, schließlich als Verbal) zuweisen, die sich aus dem jeweiligen Informationsstand des Zuschauers ergeben und jeweils gewichtige Implikationen für die Fabelkon- struktion und ihre innere Logik nach sich ziehen. Ich habe die Ursache für die Fehllektüre vor allem in formalen Kunstgriffen gesucht. Telotte dagegen begründet sie eher mit unserem Bedürfnis nach ratio- nalen Erklärungen und vor allem nach eindeutig charakterisierbaren Figuren – dieses Verlangen korrespondiere eng mit dem Kujans, und die Intention des Films sei es, das psychologische und kulturelle Wertesystem, in dem wir uns zu Hause fühlen, in Frage zu stellen, uns so die Kontingenz der Welt und unserer Ordnungsvorstellungen vorzuführen (1998, 18). Jedoch ist zweifelhaft, ob es diesem spielerischen, artifiziellen Film gelingt, ein solch ernsthaftes Anliegen zu vermitteln. Zutreffender scheint mir die eher nüchterne Sichtweise Barkers, der über den Film urteilt: „It does not so much defamiliarise, as give us an opportu- nity to test our skills as viewers“ (2000, 65), dabei möchte ich aber ‚to test‘ im Sinne von ‚deren Brauchbarkeit in Frage stellen‘ verstanden wissen. Denn wie die Analyse gezeigt hat, ist der skeptische Zuschauer dem vertrauenden nicht unbedingt überlegen. Zwar nimmt er die formalen Mittel, auf die jener eher un- bewusst und automatisch reagiert, bewusst als solche wahr und vermag, sie wäh- rend der Rezeption kritisch zu reflektieren. Doch schon die Eingangssequenz zeigt, dass ihm diese Fähigkeit zwar teilweise nützt, sich aber auch gegen ihn wenden kann. Seine Skepsis mag ihn erkennen lassen, dass der Zoom auf die Taurolle nur ein Trick war, die gleiche Skepsis verleitet ihn aber auch dazu, die Form der Darstellung des Mordes an Keaton für einen Trick zu halten – ein Ver- dacht, der, wie sich am Ende zeigt, genauso ins Leere führt. Lautet die naive Les- art der Sequenz: ‚Jemand beobachtet die Ermordung Keatons‘, so lautet die skeptische: ‚Weder ein Beobachter noch der Mord an Keaton sind explizit zu se- hen – es gibt also vermutlich weder das eine noch das andere.‘ Am Ende sind bei- de Lesarten gleichermaßen falsch. Die richtige würde lauten: ‚Es gab keinen Au- genzeugen der Ermordung Keatons‘ – und der Zuschauer muss zugeben, dass die Eingangssequenz genau dies erzählt hat und dass die davon abweichenden Lesarten allein seiner – bewussten oder unbewussten – Beherrschung film- sprachlicher Konventionen geschuldet sind. Diesen zu misstrauen ist in diesem Fall ebenso nutzlos wie ihnen blind zu vertrauen, angemessener wäre es, sie zu ignorieren oder zu vergessen. Der Zoom auf die Taurolle und der ‚nicht sichtba- re‘ Mord an Keaton können ja nur dann als ‚Tricks‘ funktionieren oder entlarvt werden, wenn man weiß, wozu diese Mittel für gewöhnlich eingesetzt werden. Ignoriert oder vergisst man dieses Wissen, muss man zugeben, dass die Sequenz 178 Maurice Lahde montage/av entwaffnend ehrlich ist. Gleichwohl fordert sie etwas, das unmöglich ist: Um nicht auf den Film hereinzufallen, müsste der Zuschauer die filmische Sprache gleichsam ‚verlernen‘. Bei der Relektüre dagegen mag es gelingen, die formalen Mittel als weitgehend losgelöst von ihren üblichen inhaltlichen Funktionen zu begreifen. In dieser Hinsicht kann The Usual Suspects in der Tat als Modellfall für die eingangs erwähnte Welle im amerikanischen Mainstream-Kino gelten: Die meisten dieser Filme fallen zunächst nicht durch experimentelle oder gar avant- gardistische Formen auf, gehören eher dem Genre- als dem Autorenkino an und sind so einem klar definierten und recht eng umgrenzten Vokabular verpflichtet, das sie auch benutzen – nur eben nicht mehr durchweg regelgerecht. Diese Filme weisen ihre Zuschauer auf die Konventionalität der filmischen Erzählweisen und stilistischen Verfahren hin. Freilich verfolgen sie dabei ganz unterschiedli- che Absichten, und wenn The Usual Suspects weiter geht als die anderen oben erwähnten Filme, so deshalb, weil bei jenen der Konventionsmissbrauch nicht einzig der Herausforderung der Zuschauer dient, sondern die Täuschung nach der Auflösung als Ausdruck für die Befindlichkeit einer Figur gelesen werden kann, sich also gleichsam an einem innerdiegetischen Punkt aufhängen lässt: So- wohl in Fight Club als auch in The Sixth Sense entspricht die Täuschung des Zuschauers der Täuschung des Protagonisten. Wir können hier den Tricks, die uns zur Konstruktion einer falschen Fabel animierten, am Ende ein aufrichtiges und klassisches Motiv nicht absprechen: Wir sollten uns so in den Helden und seine Lage einfühlen können.19 Hingegen bedeutet der Moment der Auflösung in The Usual Suspects keine innerdiegetische Legitimation der zuvor verwendeten Tricks, kein ‚falscher‘ Blick einer Figur sollte dadurch für uns sinnlich erfahrbar werden (es gibt nie- manden außer uns, der zwischen den Einstellungen ‚Taurolle‘ und ‚Verbal‘ ei- nen falschen Zusammenhang hergestellt hat), sondern uns nur, oder besser viel- mehr: unsere eigene Täuschungsbereitschaft demonstrieren. Freilich: Wenn der Film seine Tricks vor allem durch Spielfreude legitimiert, ist dies in gewisser Weise dem Genre des Detektivfilms geschuldet, dessen tradi- 19 Wie schnell sich diese Methode im Mainstream-Kino durchsetzen konnte, zeigt als jüngstes Beispiel das versöhnliche Drama A Beautiful Mind (A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn, USA 2001, Ron Howard): Denn obwohl hier zwei Handlungsstränge, die bis etwa zur Filmmitte vollständig in die ‚objektive‘ Realität der Diegese eingebettet sind, als ‚Halluzination‘ klassifiziert werden, als der Held seine Schizophrenie-Diagnose erhält, fühlen sich hier offensichtlich die wenigsten Zuschauer hintergangen (eher schon hält man die Geschichte für zu integer): ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Prinzip des „seeing is believing“ kein ehernes Gesetz ist, selbst nicht in einem durchweg ‚realistischen‘ Film. 11/1/2002 Der Leibhaftige erzählt 179 tioneller Bestandteil nun einmal eine relativ manipulative Wissensregulation ist, welche die Auflösung des Falls so reich an Hindernissen (und damit so span- nend) wie möglich machen soll. Gäbe es diese Tricks nicht und würde diese Ge- schichte auf gewöhnlichere, unkompliziertere Weise erzählt werden, fiele uns vielleicht auf, dass die Auflösung nicht nur plausibel, sondern sogar provozie- rend simpel ist, wird doch hier ein nachgerade abgenutztes Topos des Kriminal- sujets aus der Mottenkiste geholt: das ‚Der-Gärtner-war-der-Mörder‘-Modell. Doch wenn bei niemandem von uns die Alarmglocke läutet, wenn der kleine, linkische Trickbetrüger, allein unter Schwerverbrechern, die Worte spricht: „It didn’t make sense that I’ve been there“, dann liegt das wohl nicht nur an der nar- rativen Komplexität und Informationsdichte des Films, sondern auch daran, dass wir überzeugt sind: So etwas traut sich heute niemand mehr. Literatur Barker, Martin (2000) Usual Suspects, Unusual Devices. In: Ders. mit Thomas Austin: From ANTZ to TITANIC. Reinventing Film Analysis. London: Pluto Press, S. 56–71. Bordwell, David (1992) Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in Mil- dred Pierce. In: Montage/AV 1,1, S. 5–24. – (1995) Narration in The Fiction Film [1985]. London: Routledge. Branigan, Edward (1992) Narrative Comprehension and Film. London: Rout- ledge. Chatman, Seymour (1990) Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fic- tion and Film. Ithaca/London: Cornell University Press. Eco, Umberto (1994) Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten [ital. 1979]. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Orr, Stanley (1999) Post-Modernism, Noir, and The Usual Suspects. In: Lite- rature/Film Quarterly 27,1, S. 65–73. Pudowkin, W.I. (1961) Filmtechnik, Filmmanuskript und Filmregie. Zürich: Verlag Die Arche. Telotte, J.P. (1998): Rounding up The Usual Suspects. The Comforts of Cha- racter and Neo Noir. In: Film Quarterly 51,4, S. 12–20. Zu den Autoren Robin Curtis, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin im DFG-Projekt „Der Akt der Aufführung im kinematografischen Raum“ des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“. Arbeitet derzeit an einer Dissertation zum autobiografischen Film unter dem Titel „Ein Leben im Film: die Präsenz des Filmschaffenden als eines historischen Subjekts in Filmen aus Deutschland ab 1920“. Thomas Elsaesser, Dr., geb. 1943, Professor für Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität von Amsterdam; Aufsätze in englischen, amerikanischen, deutschen, französischen und italienischen Sammelbänden; Autor u. a. von Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig (Berlin: Vorwerk 8 1999), Rainer Werner Fassbinder (Berlin: Bertz 2001), Metropolis – Der Filmklassiker von Fritz Lang (Hamburg: Europa Verlag 2001), Filmgeschichte und frühes Kino (München: edition text + kritik 2002). Oliver Fahle, Dr., geb. 1969, Wissenschaftlicher Assistent im Bereich Medien- kultur an der Bauhaus-Universität Weimar; Veröffentlichungen: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre (Mainz: Ben- der-Verlag 2000), Mitherausgeber von Kursbuch Medienkultur (Stuttgart: DVA 1999). Aufsätze vor allem zu französischer Film- und Medientheorie. Regine-Mihal Friedman, Dr., Professorin am Department of Film and Televi- sion der Tel Aviv University, Veröffentlichungen: L’image et son juif (Paris: Payot 1983), mehrere Artikel zu feministischen Themen in Frauen und Film, zahlreiche Artikel in internationalen Fachzeitschriften, arbeitet z. Zt. über Zeu- genaussagen im Film und die Probleme der filmischen Autobiographie. Heike Klippel, Dr., geb. 1960, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Univer- sität Frankfurt am Main; Veröffentlichungen zu Themen feministischer Film- theorie, zu Fernsehserien sowie zu Film und Gedächtnis, u. a. Gedächtnis und Kino (Frankfurt am Main: Stroemfeld 1995), redaktionelle Mitarbeiterin von Frauen und Film. Maurice Lahde, M.A., geb. 1972, studierte Neuere Deutsche Literatur, Linguis- tik und Filmwissenschaft in Berlin und Marburg; arbeitet als Lektor beim Bertz Verlag, redaktionelle Mitarbeit an Büchern über Fincher, Jarmusch, Fassbinder 11/1/2002 Zu den Autoren 181 u.a.; Aufsatz zur Traumdarstellung bei David Lynch in „A Strange World – Das Universum des David Lynch“ (hrsg. v. Eckhard Pabst. Kiel: Ludwig 1998). Michael Renov, Dr., geb. 1950, Professor für Critical Studies an der School of Cinema-Television der University of Southern California, Los Angeles. Autor von Hollywood’s Wartime Woman: Representation and Ideology (Ann Arbor: UMI Research Press 1988), Herausgeber von Theorizing Documentary (New York: Routledge 1993) und Mitherausgeber von Resolutions: Contemporary Video Practices (Minneapolis: University of Minnesota Press 1996). Michael Zryd, Dr., geb. 1963, Assistant Professor am Fachbereich Anglistik der University of Western Ontario in London, Kanada. Veröffentlichungen u.a. zu Hollis Frampton, Phil Hoffman, Joyce Wieland, Martin Arnold, Su Friedrich, Jay Rosenblatt und Ruth Ozeki Lounsbury. Arbeitet derzeit an einer Ge- schichte der institutionellen Einbettung der Avantgarde sowie zu Ironie und Satire im Dokumentarfilm. 182 Impressum montage/av montage/av 11/1/2002 Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation Herausgeber: Wolfgang Beilenhoff (Bo- chum), Robin Curtis (Berlin), Jörg Frieß (Potsdam), Britta Hartmann (Berlin), Judith Keilbach (Berlin), Frank Kessler (Utrecht), Stephen Lowry (Stuttgart), Johannes von Moltke (Ann Arbor), Jörg Schweinitz (Bochum), Patrick Vonderau (Berlin), Hans J. Wulff (Kiel), Eva Warth (Bochum), Peter Wuss (Potsdam) Redaktionsanschrift: c/o Britta Hart- mann, Körnerstr. 11, D–10785 Berlin, Tel./Fax: 030 / 262 84 20, e-mail: montage@snafu.de Die Redaktion freut sich über unaufge- fordert eingesandte Artikel. Titel: A Movie (USA 1958, Bruce Con- ner), Verwendung des Bildes mit freund- licher Genehmigung der Freunde der Deutschen Kinemathek. Bildnachweise: Peter Forgacs (S. 26, 29, 35), Rea Tajiri (S. 48, 61, 63, 66, 69, 70), Craig Baldwin (S. 115, 130), Freunde der Deutschen Kinemathek (S. 114, 125), Columbia TriStar (S. 157). Preis: Zwei Hefte im Jahr. Einzelheft € 12,80 / SFr 22,60; Abo € 22,– / SFr 38,10 Lieferungen ins Ausland zzgl. € 5,– ISSN 0942-4954 · ISBN 3-89472-456-0 Verlag: Schüren, Deutschhausstraße 31, D-35037 Marburg Tel.: 06421-63084 · Fax: 06421-681190 eMail: schueren.verlag@t-online.de www.schueren-verlag.de Gestaltung: Erik Schüßler Druck: Difo-Druck, Bamberg Anzeigen: Katrin Ahnemann, Schüren Verlag © Schüren Verlag