396 MEDIENwissenschaft 03/2016 Wiedergelesen Gunter Groll: Die Kunst der Filmkritik: 110 Filmkritiken, neu gelesen Marburg: Schüren 2015, 243 S., ISBN 3894729279, EUR 19,90 Der 1982 verstorbene Gunter Groll, Gebrauch des Worts ‚Neger‘ wird mit der ab 1945 für das Feuilleton der Süd- einem pflichtschuldigen editorischen deutschen Zeitung tätig war, zählte Hinweis versehen – ein solcher hätte in der Nachkriegszeit zu den Pionie- auch Grolls fragwürdigen Einwürfen ren der westdeutschen Filmkritik. Die zum Heinz-Sielmann-Film Herrscher vorliegende Sammlung lädt zur Wie- des Urwalds (1958 unter Patronage des derbegegnung mit zahlreichen seiner belgischen Kolonial-Regimes im Kongo Besprechungen ein und lässt dabei eine gedreht) gut zu Gesicht gestanden, in Zeit wieder aufleben, in der das interna- denen nicht nur vom „magische[n] Ver- tionale Kino nach Deutschland zurück- hältnis der Eingeborenen zu den Tie- kehrte. Während Groll dem deutschen ren“, sondern auch von „den Ur- und Film der unmittelbaren Nachkriegszeit Waldnegern, die noch aufs Souveränste wenig mehr als diverse ‚Schattierungen unzivilisiert sind“ (S.229), die Rede ist. von Traurigkeit‘ (vgl. S.20) und philo- Mag Groll für das junge Filmpubli- sophischen wie auch filmästhetischen kum der 1950er Jahre auch ideologisch Nachholbedarf gegenüber Frankreich einigermaßen unbedenklich gewesen (vgl. S.30) attestieren kann, berichtet er sein, ins Herz schloss es ihn nicht. von ‚Sternstunden des internationalen Nicht zuletzt Grolls Neigung zum Pre- Kinos‘, wie beispielsweise Ladri di bici- digtduktus (sehr deutlich etwa in der clette (1948), Rashōmon (1950) und Twelve Besprechung von André Cayattes Nous Angry Men (1957). Der Reiz des Buchs sommes tous des assassins [1952]) dürfte besteht nicht zuletzt darin, an der ehr- jüngeren Filmzuschauer_innen ebenso lichen Begeisterung des Autors für inno- fremd geblieben sein wie seine Polemik vative Filme und Regiehandschriften gegen die aufkommende Jugendkultur. teilzuhaben, bevor diese zu ‚Klassikern‘ Letztere, so kalauert er, schaue sich ihr kanonisiert wurden. Zudem gibt es im rowdyhaftes Benehmen beim Gang- Buch einige vergessene Filmperlen wie- sterfilm ab und benehme sich dann wie derzuentdecken, beispielsweise Mario „Rifi-Vieh“ (S.163). Allerdings ist Groll Zampis Top Secret (1952) oder Henri kein derart wertkonservativer Vertreter Decoins Dortoir des grandes (1953). des Establishments, wie einige dieser Das Vorwort spricht den Autor, 1914 Stellen suggerieren. Seine Texte enthül- geboren und 1937 im Dritten Reich mit len vielmehr einen Filmliebhaber, der einer Arbeit über Filmästhetik promo- zwar ganz dem klaren, wenig effekt- viert, von ideologischen Vorwürfen frei hascherischen Stil des Neorealismus (vgl. S.13); lediglich der wiederholte zugetan ist, an anderen Stellen aber mit Mediengeschichten 397 seiner Begeisterung für Walt Disney ren – seine Texte heben wiederholt so überrascht – in Grolls Augen einer der apodiktisch wie der Buchtitel an. bedeutendsten zeitgenössischen Filme- Die Rezensionen sind nicht ohne macher. Witz (nicht umsonst hat Groll auch eine Hintereinander sollte man die ein- der ersten Graf-Bobby-Witzsammlungen zelnen Texte nicht lesen, zumal im ediert [Graf Bobby, Baron Mucki und textlichen Nebeneinander der Buch- Poldi. Frankfurt: Fischer, 1976]), gerade form einige stilistische Schwächen und – wie könnte es anders sein – wenn der gewöhnungsbedürftige Manierismen Kritiker zum Verriss anhebt. Begegnung des Autors hervortreten. Geradezu mit Werther (1949) attestiert Groll gera- angestrengt (und anstrengend) verkopft dezu „[e]pileptische Rührseligkeit“, ihr klingt Groll, wenn er das intellektuelle Hauptdarsteller Horst Caspar stamme Register seines Untersuchungsgegen- „teils vom jungen Schiller und teils vom stands treffen will: Sartres Beitrag alten Kotzebue“ (S.43); den idealistischen zum Film wird mit einer Eloge auf den Außerirdischen in The Day the Earth „fatale[n] Nihilismus des Schlusses, die Stood Still (1951) identifiziert Groll mit am Ende mißverstandene Metaphy- bildungsbürgerlicher Verve als „Unter- sik, de[n] Fatalismus ohne Hoffnung“ tasso“ (S.63); über ein dramaturgisch (S.31) gerühmt, Jean Delannoys Kino dünnes Melodrama wird geurteilt, die als „Gemälde von Elend und Hoffnung einzigen Stellen mit Gehalt und Tiefe des Menschen, an den Küsten des seien die Dekolletés der Akteurinnen Unsichtbaren“ (S.109) charakterisiert, (vgl. S.54); und punktgenau wird selbst und der wiederholt fürs Kino adaptierte Orson Welles für seinen Macbeth (1948) Ernest Hemingway reichlich nebulös abgewatscht: „Im Vorspann steht, diese für seine „Chiffren des Nichts“ gewür- abstruse Geschichte sei von Shakespeare. digt, „ins flüchtig-präzise Bild unserer Aber auch das ist übertrieben“ (S.23). Tage geätzt“ (S.61). Ähnliches gilt für Für Leser_innen, die aus dem Grolls allzu flapsige, gereimte Kurzur- Inhaltsverzeichnis zu selektieren ver- teile und seine inflationär gebrauchten stehen und sich durch die Augen Grolls Chiasmen – so liest man kurz nach- auf eine Wiederbegegnung mit so einander vom „gute[n] Anwalt“, der manchem bekannten wie unbekannten natürlich auch der „Anwalt des Guten“ Kapitel der Filmgeschichte einlassen (S.79) ist, von der „Welt des Zirkus“ wollen, hält Die Kunst der Filmkritik in Gegenüberstellung mit dem „Zir- einige schöne Überraschungen bereit. kus der Welt“ (S.81) und von Filmen, Anderes, das wir für eine Unsitte der in denen die „Dekoration […] Stim- Gegenwart halten, ist dagegen über- mung [wird] und Stimmung Deko- haupt nicht neu – der 3D-Film, so ration“ (S.140). Des Öfteren betont erfahren wir von Groll bereits 1953, sei Groll, Film müsse Wirklichkeit sein schon damals langweilig und arm an (vgl. S.72), er brauche Klarheit (vgl. Substanz gewesen (vgl. S.124). S.29 und S.109) und solle von einer „innere[n] Notwendigkeit“ (S.69) zeh- Wieland Schwanebeck (Dresden)