55SCHWERPUNKT J O N AT H A N T H O M A S Versteht man Phonographie als die Gesamtheit soziotechnischer Appara- te und Praktiken, betrifft sie nicht nur die Bearbeitung, Aufzeichnung und Übertragung von Klang, d. h. das Entwerfen und Herstellen eines wahrnehm- baren und oft ergreifenden Augenblicks, sondern sie vermittelt auch die ‹An- deren› als sonische Körper. Die vokalen oder instrumentalen Aufzeichnungen einer Person repräsentieren diese, egal, ob sie freiwillig oder unter Zwang zustande gekommen sind. Bei den Hörer*innen erzeugen sie Vorstellungen eines phonographisch ‹Anderen›, die sich in Bezug auf die Vor stellungen bilden, die Hörer*innen bereits haben und die sie mit dem, was sie hören, verbinden. Diese Vorstellungen des ‹Anderen› entstehen also sowohl aus den Vertonungen, die im weitesten Sinne von den Produzent*innen der Auf- nahme ausgewählt und gestaltet wurden, als auch aus den individuellen und kulturellen Kontexten der Hörer*innen, die jenes akustisch ‹Andere› lieben, hassen, wertschätzen oder abwerten können. Die Figuren des ‹Anderen› kön- nen die Sänger*innen, Musiker*innen oder Sprecher*innen der Aufnahme sein, aber auch jeder anderen Person oder Gruppe entsprechen, die durch den Klang evoziert wird, ohne direkt aufgenommen worden zu sein. Die Menschen werden so Teil einer Kommunikation, die rein imaginär ist. Die Urheber*innen dieser Kommunikation können die Menschen als Publikum betrachten, deren Unterstützung sie suchen: Die ‹Anderen›, hervorgerufen durch die Aufnahme, sind dann diejenigen, mit denen die Urheber*innen in Kontakt treten wollen. Sie können sich diese Menschen aber auch als Teil eines größeren Imaginären vorstellen, in dem die evozierten ‹Anderen› die Hörer*innen bleiben müssen. Die besondere Eigenschaft der Phonographie, das ‹Andere› aufrufen und verbreiten zu können, prädestiniert sie für den KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA — Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 16, Heft 31 (2/2024), https://doi.org/10.14361/zfmw-2024-160207. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons Attribution CC-BY-NC-ND 4.0 DE licence. https://doi.org/10.14361/zfmw-2024-160207 56 ZfM 31, 2/2024 politischen Gebrauch, sei es, um den Charakter von Redner*innen durch die Stimme, eine Partei durch ihre Lieder, proletarische Kämpfer*innen durch ihre Gesänge oder die Feind*innen eines politischen Regimes durch die Kari- katur ihres Sounds zu repräsentieren. Schon 1878, im Jahr ihrer Einführung, wurden Phonographen und Tonträ- ger (Walzen, Schallplatten) als politische Werkzeuge begriffen. In den folgen- den Jahrzehnten wurden sie zunehmend dazu verwendet, politische Lieder und Reden zu verbreiten und damit entweder zur Unterstützung oder im Namen politischer Projekte bestimmte Darstellungen von Menschen zu vermitteln.1 Die Aufnahmen wurden verwendet, um Soldat*innen zu mobilisieren, Macht zu ergreifen und Zustimmung zu erlangen wie auch zur Kolonialisierung und zur Verwaltung von Kolonien. Auf diesen letzten Punkt will ich im Fol- genden am Beispiel des faschistischen Regimes in Italien zwischen 1922 und 1943 eingehen, und zwar im Zusammenhang der Vorbereitungen zum zwei- ten Italienisch-Äthiopischen Krieg (Oktober 1935 – Mai 1936) und der Errich- tung des kurzlebigen italienischen Kolonialreichs und Italienisch-Ostafrikas (1936 – 1941). Die Weise, wie Phonographie dabei verwendet wurde, zeigt sehr anschaulich ihren Einsatz bei der Kolonialisierung – indem sie das imaginäre ‹Andere› sowohl durch die Tonaufnahmen von Kriegspropaganda-Liedern als auch durch Aufzeichnungen von Musik und Sprachen aus den Kolonialgebieten verbreitete und steuerte. Propagandalieder und koloniale Tonaufnahmen stützten den faschistischen Imperialismus auf unterschiedliche Weise. Während die Vertonungen der ita- lienischen Liedermacher*innen und Komponist*innen die Expansionspläne des Kriegs und der Kolonisierung in Musik übersetzten, ist die Auswahl ko- lonisierter Musik und Musiker*innen ein Produkt kultureller und territoria- ler Aneignung und Beherrschung. Die Aufnahmen erschienen bei den italie- nischen Niederlassungen großer internationaler Plattenfirmen, etwa bei La Voce del Padrone (His Master’s Voice), Columbia und Odeon, aber auch bei den italie nischen Firmen Fonit oder Cetra, letztere 1933 als Ausgründung der faschistischen Rundfunkanstalt Ente Italiano per le Audizioni Radiofoniche (EIAR). Viele Propagandalieder, die häufig im Radio gesendet oder auf dem heimischen Grammophon gespielt wurden, wie z. B. «Faccetta nera» (‹Schwar- zes Gesichtchen›), waren äußerst populär und gelten heute als emblematisch für den italienischen Kolonialrassismus und die Unmenschlichkeit der italie- nischen Okkupation Äthiopiens. Dieses Liedrepertoire sowie die Herstellung kolonialer Tonaufnahmen sind in letzter Zeit in den Fokus der Wissenschaft gerückt, was die Untersuchung der akustischen Dimension eines lange ver- nachlässigten kolonialen Rassismus dieses Abschnitts der italienischen Ge- schichte ermöglichen wird.2 Isabella Abbonizio hat erörtert, wie das Regime aufgezeichnete und gesendete Musik nutzte, um seine Kolonialpolitik zu be- fördern.3 Listening to Italian Colonialism, ein Forschungsprojekt von Gianpaolo Chiriacò, Emilio Tamburini und Alessandra Ferlito, hat das Ziel, Soundarchive JONATHAN THOMAS 1 Vgl. Jonathan Thomas: Brin- ging Audible Propaganda into the Everyday: The Politicization of the Phonograph Record from Its Origins to the SERP, 1888 – 2000, in: Christopher Fletcher (Hg.): Everyday Political Objects: From the Middle Ages to the Contemporary World, London, New York 2021, 219 – 236; ders.: Une histoire du disque politique français des années 1930, in: Revue d’Histoire Moderne & Contemporaine, Bd. 69, Nr. 4, 2022, 83 – 113, doi.org/10.3917/ rhmc.694.0085. 2 Vgl. Marie-Anne Matard-Bonucci: D’une persécution l’autre: racisme colonial et antisémitisme dans l’Italie fasciste, in: Revue d’Histoire Moderne & Contemporaine, Bd. 55, Nr. 3, 2008, 116 – 137, hier 120, doi.org/10.3917/rhmc.553.0116. 3 Isabella Abbonizio: Musica e colonialismo nell’Italia fascista (1922 – 1943) [Dissertation, Universi- tà degli studi di Roma Tor Vergata], Rom 2010, hdl.handle.net/2108/1196. http://doi.org/10.3917/rhmc.694.0085 http://doi.org/10.3917/rhmc.694.0085 http://doi.org/10.3917/rhmc.553.0116 http://hdl.handle.net/2108/1196 57SCHWERPUNKT KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA zu entkolonialisieren, indem die rassistischen und essentialistischen Bedeutun- gen der Texte und Melodien von Propagandaliedern freigelegt und die Her- kunft, Bearbeitung und Weitergabe kolonialer Aufnahmen untersucht werden.4 Das Forschungsinteresse am kolonialen Imaginären der Phonographie können auch Renée Altergotts Untersuchungen zur französischen Expansionspolitik in Westafrika Ende des 19. Jahrhunderts belegen.5 Ausgehend von diesen Forschungen will dieser Artikel die (zeitgenössi- schen) Presseartikel und Fachpublikationen als Quellen diskutieren und da- raufhin befragen, wie das politische Imaginäre und die Medialität der Pho- nographie die Kolonialpolitik des italienischen faschistischen Regimes symbolisch wie auch ganz konkret gestützt hat. Dabei wird Phonographie als Instrument der Expansion begriffen, das Herrschaft durch die Manipulation von Identitäten sichert, sei es die Identität des äthiopischen ‹Anderen› oder die Identität der italienischen Kolonist*innen selbst. Zunächst soll gezeigt werden, wie Darstellungen soundtechnischer Geräte dazu beitrugen, die ita- lienische Identität im Vergleich zum rassistisch formierten afrikanischen ‹An- deren› als die einer mächtigen modernen Kultur zu definieren. Danach werde ich diese akustisch erzeugte italienische Identität aus der symbolischen und konkreten Verwendung der Phonographie als Instrument kolonialer Expan- sion ableiten, nämlich aus den Liedern des zweiten Italienisch-Äthiopischen Kriegs. Anschließend werde ich mich mit den kolonialen Aufnahmen befassen, die mit dem Italienischen Empire entstanden sind und als Mittel dienten, das afrikanische ‹Andere› zu unterwerfen und zu beherrschen. Zuletzt thematisie- re ich die Phonographie aber auch als ambivalentes Werkzeug, das denjeni- gen, zu deren Unterwerfung es eingesetzt werden sollte, zugleich eine gewisse Macht verleiht. Identität Italien begann seine koloniale Expansion in Ostafrika 1869 in Assab (Eritrea) und drang von dort aus nach Abessinien und Tigray vor, bis die Schlacht von Adua 1896 Italiens Niederlage im ersten Italienisch-Äthiopischen Krieg be- siegelte. Schon 1889 war in Somalia ein italienisches Protektorat errichtet worden. 1911 besetzte Italien im Krieg gegen das Osmanische Reich zudem Tripolitanien und die Cyrenaika – später Italienisch-Libyen – und untermau- erte damit seine kolonialen Ansprüche auf ein Gebiet, das freilich immer noch viel kleiner war als die Kolonialreiche Frankreichs oder Englands. Im Ersten Weltkrieg schlug sich Italien, das zunächst neutral geblieben war, auf die Seite der Gegner Deutschlands und Österreich-Ungarns, weil es sich im Gegenzug größere Gebietszugewinne in Europa versprach. Nach dem Sieg ging Italien jedoch leer aus. Dieser vittoria mutilata (‹verstümmelte Sieg›) erzeugte eine enorme Frustration, erschütterte das italienische Nationalgefühl in seinen Grundfesten und förderte die Entstehung der faschistischen Bewegung im Jahr 4 Mehr Informationen zum Forschungsprojekt Listening to Italian Colonialism auf der zugehörigen Seite vimeo.com/user29970942 (15.7.2024), vgl. außerdem den von den Autor*innen herausgegebenen Heftschwerpunkt der Zeitschrift From the European South. A Transdisciplinary Journal of Postcolonial Humanities, Nr. 11, 2022: How Do We Listen to Italian Colonialism? 5 Renée Altergott: Samori Touré and the Portable God: Imagining the Phonographic Conquest of West Africa, in: Nineteenth-Century French Studies, Bd. 50, Nr. 3 / 4, 2022, 151 – 169, doi.org/10.1353/ ncf.2022.0008. http://vimeo.com/user29970942 http://doi.org/10.1353/ncf.2022.0008 http://doi.org/10.1353/ncf.2022.0008 58 ZfM 31, 2/2024 1919. Es ist denn auch wenig verwunderlich, dass Mussolini von Anfang an die Eroberung von Kolonien im Mittelmeerraum und Ostafrika anstrebte, um ein neues italienisches Imperium zu errichten und dadurch Italiens Status als euro- päische Großmacht auszubauen.6 Das italienische Interesse an Afrika wurde begleitet durch die öffentliche Verbreitung rassistischer Darstellungen des afrikanischen ‹Anderen›. Der- artige Darstellungen sind Konstruktionen von Andersheit in Bezug auf die Identität und den kulturellen Rahmen derer, die sie konzipieren und einset- zen, und sie eröffnen einen sicheren Raum, in dem sich mit dem ‹Anderen› in Kontakt treten lässt, um eine Herrschaftsbeziehung zu etablieren.7 Als Begleiterscheinung der Kolonisierung trugen sie dazu bei, die künftigen Be- ziehungen der Kolonist*innen mit den kolonisierten Bevölkerungen in die gewünschten Bahnen zu lenken. Im faschistischen Italien waren sie Teil einer Propagandakampagne, die eine behauptete Überlegenheit der Italiener*innen gegenüber den Afrikaner*innen betonte. Sie sollten die öffentliche Meinung zugunsten der Kolonisierung beeinflussen und Mussolinis Kolonialpolitik aktuellen Entwicklungen anpassen. Unter diesem Aspekt sei hervorgehoben, dass Soundtechniken und ihr Imaginäres als Herrschaftsmittel eingesetzt wurden, um rassistische und koloniale Darstellungen des afrikanischen ‹An- deren› zu formen. Expansion Den Begriff ‹Phonographischer Imperialismus› hat Renée Altergott ge- prägt, um das politische Imaginäre der Phonographie in Frankreich zur Zeit des ‹Wettlaufs um Afrika› Ende des 19. Jahrhunderts zu fassen, das Stimm- aufnahmen die Macht verlieh, die Indigene Zuhörer*innenschaft zu ver- zaubern und sich untertan zu machen.8 Vier Jahrzehnte später, im Kontext der italienischen Kolonisierung Äthiopiens, ist dieses Imaginäre offenbar immer noch am Werk. Zwei Monate nach Beginn des zweiten Italienisch- Äthiopischen Krieges zeigt eine Reklame für einen Radiophonographen der italienischen Firma Phonola die fotografierten Gesichter zweier Schwarzer Kinder, die als äthiopisch gelesen werden können und sich anscheinend in einem Zustand der Verzückung befinden.9 Sie tragen obendrein genau die Art von Kopfbedeckung, die auch die Balilla, die Mitglieder der faschistischen Jugend, trugen. Der Werbespruch lautet: «La voce che esalta e la voce che in- canta» (‹Die Stimme, die begeistert, und die Stimme, die verzaubert›) – eine erstaunliche Übereinstimmung mit Altergotts These. Doch beschränkte sich die Nutzung der Phonographie durch das faschistische Regime nicht auf die Unter werfung der Einheimischen. Im Zuge der italienischen Expansion diente die Phonographie zunächst zur Vorbereitung auf den Krieg, um dann, unter Rückgriff auf ein zu diesem Zweck konzipiertes Repertoire, die militä- rische Eroberung auf symbolischer Ebene zu unterstützen und schließlich in 6 Vgl. Robert Mallett: Mussolini in Ethiopia, 1919 – 1935. The Origins of Fascist Italy’s African War, New York 2015, 1 – 32; Aristotle A. Kallis: Fascist Ideology: Territory and Expansionism in Italy and Germany, 1922 – 1945, London, New York 2000, 122 f. 7 Vgl. Rosetta Giuliani Caponetto: Fascist Hybridities: Representations of Racial Mixing and Diaspora Cultures under Mussolini, New York 2015, 9. 8 Altergott: Samori Touré and the Portable God, 151 – 153. 9 Vgl. Radiocorriere, Jg. 11, Nr. 50, 8.–15.12.1935, hier 1, www.radiocorriere. teche.rai.it/Download?aspx?data=1935 %7C50%7C000%7CP (2.6.2024). JONATHAN THOMAS http://www.radiocorriere.teche.rai.it/Download?aspx?data=1935%7C50%7C000%7CP http://www.radiocorriere.teche.rai.it/Download?aspx?data=1935%7C50%7C000%7CP http://www.radiocorriere.teche.rai.it/Download?aspx?data=1935%7C50%7C000%7CP 59SCHWERPUNKT einem Medienverbund mit Kino und Radio einge- setzt zu werden. Die Phonographie ist ein Mittel der Expansion, weil sie akustische Zeichen zeitlich und räumlich von ihrem Entstehungsort und -kontext isolieren kann. In diesem Fall ist es eine Verschiebung vom kulturellen Kontext des Faschismus und seinem Vorstellungsrepertoire des afrikanischen ‹Anderen› in den Kontext des Äthiopienkriegs, zuerst imaginär, während der Kriegsvorbereitung, dann ganz konkret während des Kriegsverlaufs. Die Indienstnahme der akustischen Zeichen für das kulturelle und politische Dogmatische dient nicht nur dazu, die Bevölkerung für die italienische Kolonialpolitik einzunehmen oder mehr Unterstützung dafür zu gewinnen, son- dern auch dazu, die Haltung der künftigen oder be- reits kämpfenden Soldaten zu beeinflussen. Mit die- sem Vorgehen kann man vor allem den politischen und kulturellen Bedeutungsgehalt der akustischen Zeichen auf die äthiopische Gesellschaft wirken lassen, um diese zu italianisieren oder sogar für den Faschismus zu gewinnen. Unter den Schallplatten, die im Dezember 1935 bei La Voce del Padrone erschienen, waren sechs unter dem Titel «Natale in Africa» (‹Weihnachten in Afrika›) zusammengefasst, die einige der bekanntesten Lieder des neuen Propa- gandarepertoires enthielten («Faccetta nera», «Ti saluto [vado in Abissinia]», «Adua», «Tarantella imperiale», «Chissà il Negus che cosa dirà …»). Die Fir- ma warb damit, die Schallplatten für 100 Lire nach Ostafrika zu schicken,10 um in einem christlich geprägten Umfeld mit alter eigener Weihnachtstradition die gelungene Durchführung einer ‹echt italienischen›, faschistischen Weihnachts- feier zu gewährleisten. Ein anderes Beispiel für Expansion mittels Tonaufnah- men aus dem kulturellen Bereich ist der Text von «Din don della – La leggenda del Negus» (‹Din don della – Die Legende des Negus›), eines Kriegslieds aus dem Frühjahr 1936. In einem Spottgesang auf den äthiopischen Kaiser Haile Selassie heißt es, eines Tages, schon bald, werde La Voce del Padrone ein Auf- nahmestudio in Addis Abeba einrichten. Als ein Zeichen für die fortgeschrittene Italianisierung Äthiopiens eröffne eine solche Niederlassung, wie Chiriacò an- merkt, auch die Aussicht, Platten mit äthiopischer Musik zu produzieren – doch genauso auch ein koloniales Repertoire rein aus Kolonist*innenhand, wie man erwidern möchte.11 Das Italienische der phonographischen Aufnahmen wird auch in einer Wer- beanzeige der Plattenfirma Cetra thematisiert (vgl. Abb. 1). Kurz nach Kriegs- ende in Äthiopien publiziert, zeigt sie einen tragbaren Plattenspieler vor 10 Radiocorriere, Jg. 11, Nr. 51, 15.–21.12.1935, hier 2, www.radio corriere.teche.rai.it/Download.aspx? data=1935%7C51%7C000%7CP (2.6.2024). 11 Gianpaolo Chiriacò: Abdi’s Shop and the Duka Azmari House: Musical Traces of the Italian Colonial Project in Addis Ababa and in Italy, in: From the European South, Nr. 11, 2022, 48 – 63, hier 55, fesjournal.eu/ numeri/general-issue-4/abdis-shop-and- the-duka-azmari-house-musical-traces- of-the-italian-colonial-project-in- addis-ababa-and-in-italy/ (11.6.2024). Abb. 1 Werbeanzeige aus der Fernsehzeitschrift Radiocorriere, 17.5.1936 KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA http://%20www.radiocorriere.teche.rai.it/Download.aspx?%20data=1935%7C51%7C000%7CP http://%20www.radiocorriere.teche.rai.it/Download.aspx?%20data=1935%7C51%7C000%7CP http://%20www.radiocorriere.teche.rai.it/Download.aspx?%20data=1935%7C51%7C000%7CP http://fesjournal.eu/numeri/general-issue-4/abdis-shop-and-the-duka-azmari-house-musical-traces-of-the-italian-colonial-project-in-addis-ababa-and-in-italy/ http://fesjournal.eu/numeri/general-issue-4/abdis-shop-and-the-duka-azmari-house-musical-traces-of-the-italian-colonial-project-in-addis-ababa-and-in-italy/ http://fesjournal.eu/numeri/general-issue-4/abdis-shop-and-the-duka-azmari-house-musical-traces-of-the-italian-colonial-project-in-addis-ababa-and-in-italy/ http://fesjournal.eu/numeri/general-issue-4/abdis-shop-and-the-duka-azmari-house-musical-traces-of-the-italian-colonial-project-in-addis-ababa-and-in-italy/ http://fesjournal.eu/numeri/general-issue-4/abdis-shop-and-the-duka-azmari-house-musical-traces-of-the-italian-colonial-project-in-addis-ababa-and-in-italy/ 60 ZfM 31, 2/2024 einem Rutenbündel, fascio, dem Emblem des Faschismus. Rechts daneben mar- kiert die römische Zahl ‹XIV› das Jahr 14 der faschistischen Ära, darum steht ringförmig der Schriftzug «Sanzioni contro sanzioni» (‹Sanktionen gegen Sank- tionen›). Weiter unten ist zu lesen: «100% Italiano portatile Cetra» (‹100% italienisch, tragbarer Cetra›). Gemeint sind die Wirtschaftssanktionen, die der Völkerbund nach der Invasion in Äthiopien gegen Italien verhängt hatte, auf die das Regime mit einer Politik der Autarkie reagierte. Die Darstellung des Phonographen als moderner, kraftvoller, ‹zu 100% italienischer› Gegenstand machte ihn für das Regime zu einem Mittel gegen Kräfte, die die koloniale Ex- pansion infrage stellten. Auf diese Weise wurde die symbolische Bedeutung des Phonographen als Zeichen nationaler Größe unterstrichen, das zwar eines unter vielen war, dessen spezifische Merkmale ihm aber eine gewisse Sichtbarkeit ga- rantierten. Dazu zählte nicht nur das Merkmal der Tragbarkeit, das es erlaubte, mit dem Phonographen überall und jederzeit Szenen kolonialer Propaganda zu entwerfen, sondern auch die technische Möglichkeit des Tonträgers, der Schall- platte, ein großes musikalisches Repertoire zu speichern. Auch das Repertoire an äthiopischen Kriegs- und Vorkriegsliedern ist Ge- genstand von Übertragung und Expansion. Den Auftakt zu einer Produktion von über hundert Liedern bildete im Sommer 1935 das Lied «Serenata a Selassiè» von E.A. Mario.12 Diese Lieder, so Chiriacò, «erzählten nicht nur von jenem Äthiopien, das Soldaten und Reporter vermutlich erwartete. Sie spekulierten auch, wie die künftige Kolonie Äthiopien aussehen und wie das Leben der Äthiopier*innen sich verändern würde, sobald Italien seine Pläne umgesetzt hätte».13 Die Aufnahmen stammen von den großen Schallplatten- firmen La Voce del Padrone, Odeon, Columbia, Cetra und Fonit, die min- destens 80 Tonträger mit dementsprechend mindestens 160 Liedern her- ausbrachten.14 Im Februar 1936 sinnierte La Stampa Sera, die Abendausgabe von La Stampa, einer der wichtigsten italienischen Tageszeitungen, dass die- se «Kriegsgesänge eines marschierenden Volkes» genau wie die Lieder aus dem Ersten Weltkrieg untrennbar zu Italiens jüngster Geschichte gehörten, aus deren vereitelten Hoffnungen sich Italiens Anspruch auf territoriale Er- weiterung und nationale Größe nähre.15 Diese Lieder erfuhren massenhafte Verbreitung, zirkulierten sie doch nicht nur auf Schallplatte und im Radio, sondern auch als billiges Notenmaterial. Doch nur mit der Schallplatte ließ sich jederzeit ein und dieselbe Klanggestalt präsentieren, z. B. in der Darbie- tung einer Berühmtheit wie Daniele Serra, dessen unverwechselbare Intona- tion, untermalt von sattem Orchesterklang, äußerst überzeugend ein Kapitel italienischer Kolonialgeschichte und Vorstellungswelt heraufbeschwört. Viele dieser Lieder waren satirisch und Ausdruck des aktuellen kolonialen Imaginä- ren, etwa der Text von «Din don della», den Emanuele Mastrangelo zitiert: «Ich hörte selbst das Weib des Negus hat ’ne Platte mit ‹Faccetta nera›.»16 Damit wird sowohl auf die allgegenwärtige Verbreitung des Liedes ange- spielt als auch die Einpflanzung der kolonialen Vorstellung des äthiopischen 12 Emanuele Mastrangelo: I canti del Littorio. Storia del fascismo attra- verso le canzioni, Mailand 2006, 116. 13 Chiriacò: Abdi’s Shop and the Duka Azmari House, 55. 14 Diese Zahlenangabe basiert auf einer nicht vollständigen Diskografie von 685 Schallplatten, zusammenge- stellt aus den Katalogen italienischer Plattenfirmen aus der Zeit zwischen 1928 und 1942. 15 Antonio Barretta: Da Addio mia bella addio… a Faccetta nera. Canzoni di guerra di un popolo in marcia, in: La Stampa Sera, Jg. 70, Nr. 28, 1.2.1936, 4, archive.org/details/ stampa-sera_1936-02-01/page/n3/ mode/2up (6.6.2024). 16 «M’han detto che del Negus, perfino la mogliera … ha ricevuto un disco con su ‹Faccetta nera›.» Mastrangelo: I canti del Littorio, 117. JONATHAN THOMAS http://archive.org/details/stampa-sera_1936-02-01/page/n3/mode/2up http://archive.org/details/stampa-sera_1936-02-01/page/n3/mode/2up http://archive.org/details/stampa-sera_1936-02-01/page/n3/mode/2up 61SCHWERPUNKT ‹Anderen› mittels Phonographie in die höchsten Kreise der einheimischen Macht benannt: Die Ehefrau des Negus wird ihres gesellschaftlichen Rangs beraubt und auf das Bild der rückständigen äthiopischen Frau reduziert, denn «Faccetta nera» verspricht den abessinischen Frauen Befreiung von der Skla- verei, Liebe, Faschisierung und Italianisierung, die ihnen die italienischen Siedler*innen bescheren würden. Die Phonographie wird so als ein Mittel kolonialer Expansion vorgestellt, wie sie durch die Projektion kultureller Muster, konstruiert als klangliche Ge- staltung eines Konzepts des ‹Anderen›, durchgesetzt wird. Ihre textlichen und musikalischen Parameter sind dabei so angeordnet, dass sie die Hörer*innen in den Bann ziehen – und auf diese Weise erst ein imaginäres und dann das konkrete Territorium erobern. Verstärkt wird diese Form der Expansion durch das Radio, ein weiteres Medium extraterritorialer Projektion, auf das das Re- gime ab Mitte der Zwanzigerjahre zunehmend setzte. Eine Werbeanzeige für Radiogeräte und Radiophonographen der Firma Fada, die im April 1936 in der Zeitschrift L’illustrazione coloniale erscheint, illustriert die strategische Bedeu- tung dieser Projektionsfähigkeit mit dem Slogan: «[Fada liefert] die Insigni- en von Italiens Schöpferkraft sogar in die Kolonien».17 Unter Insignien sind hier Nachrichtensendungen oder musikalische Livesendungen zu verstehen, aber eben auch Schallplatten. Zwar nahm die Bedeutung der Phonographie mit dem Erfolg der Massenmedien Radio und Kino erheblich ab, doch bildeten alle drei zusammen ein Mediennetzwerk, dessen Komponenten bei der Ver- breitung von Propaganda, aber auch von spezifisch italienischer Sound- und Bildkultur auf bestmögliche Weise ineinandergriffen. Anlässlich der achten Fiera del Levante in Bari, einer Messe, bei der die italienische Wirtschaft sich dem gesamten Mittelmeerraum präsentierte, erschien im Oktober 1937 ein Artikel in L’illustrazione coloniale, der die phonographische Industrie in ihrer Botschafter*innenfunktion für die nationale Außendarstellung beleuchtete. Darin heißt es, Italiens phonographische Industrie habe in den vergangenen Jahren aufgrund der beschleunigten Verbreitung von Musik via Radio und der Popularisierung von Liedgut durch das Kino beträchtliche Fortschritte erzielt. Der Messestand der großen italienischen Plattenfirma Fonit habe zahlreiche Besucher*innen aus dem Ausland und den Kolonien angezogen und somit de- ren Sympathie für die ‹nationale Produktion› unter Beweis gestellt. Zudem hebt der Artikel die ausgezeichnete technische und künstlerische Qualität die- ser Schallplatten hervor. Zu finden seien auf ihnen: erst klassige Sänger, namhafte Solisten, namhafte Orchester mit namhaften Diri- genten und charismatischen Musikern. Musikliebhaber finden dort alles, was sie schätzen: Oper, symphonische Musik, Romanzen, Solodarbietungen und Konzerte für Klavier, Geige und Akkordeon, Musikstücke aller Art, patriotische Hymnen, Tanzmusik von heute und aus alten Zeiten, Chansons, Lieder und Stücke bekannter Filmmusik. Das Unternehmen hat auch tragbare Phonographen von allerhöchster Klangqualität im Angebot, die genauso wertvoll sind wie die Schallplatten.18 17 Anche in colonia portano vittoriosamente i segni della potenza creatice d’Italia [Werbeanzeige von Fada], in: L’illustrazione coloniale. Rassegna d’espansione italiana, Nr. 3, 4.4.1936, 4. 18 O. A.: Partecipazioni alla VIII fiera del Levante, in: L’illustrazione coloniale. Rassegna d’espansione italiana, Nr. 10, Oktober 1937, 74. KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA 62 ZfM 31, 2/2024 Die Phonographie kann so zwei Zeiten und zwei Rhetoriken des Italienischen in der Expansion miteinander verbinden: Durch die Aufzeichnungen und ihre Archivierung in Soundarchiven kann sie behaupten, dass die imaginäre Italia- nisierung gleichzeitig zeitlos und doch immer im Werden begriffen sei. Auf der einen Seite steht das Repertoire der Propaganda, das in der Presse und in Fachpublikationen unter dem Stichwort ‹Aufzeichnungen des Tagesgesche- hens› läuft – ein archivalisches Ensemble des Unmittelbaren, Kurzzeitge- dächtnis für politische Kommentare zum Krieg in gesungener und demnach ästhetisierter Form, singulär gemacht durch die Tonaufnahme. Das Reper- toire, das eigens für die kolonialfaschistische Inszenierung entwickelt wurde, wirkt durch die Rundfunkübertragung, das ideale Live-Medium, noch näher und lebendiger. Auf der anderen Seite wird im diskografischen Repertoire, das beweisen soll, wie ausgezeichnet italienische Musik ist – besonders Opern und patriotische Hymnen –, eine allgemeine, fast zeitlose kulturelle Norm behauptet. Solchermaßen sollen die Möglichkeit der symbolischen Herr- schaft, vor allem aber die koloniale Expansion selbst durch eine historische und nationale Tiefe italienischer Identität gerechtfertigt werden. Im Italien der späten Dreißigerjahre wurde diese kulturelle und politische Technik der nationalen, ja imperialen Repräsentation des faschistischen Regimes auf liby- sche, somalische und äthiopische Musik übertragen. Sie wurde zu einer Tech- nik kolonialer Vorherrschaft. Unterwerfung Sind Territorien einmal kolonialisiert, kann man die Phonographie auf vielfälti- ge Weise zu ihrer Unterwerfung einsetzen. Zunächst kann sie in den Kolonien zur Agentin «akustischer Territorialisierung» durch «Desintegration und Re- konfiguration» werden19 und die ursprüngliche akustische Kulisse eines Gebiets mit Tonaufnahmen der Kolonialmacht in der Intention beschallen, fremde kulturelle und politische Zeichen zu importieren. Es stellt sich die Frage nach der Verbreitung des Klangs und ebenso nach dem Medienverbund, der die Phonographie mit Radio und Kino verbindet. Dabei sollten wir auch die Funk- tion des Lautsprechers und – um einen von Julian Henriques vorgeschlagenen Begriff aufzugreifen – die «sonische Unterwerfung» auf struktureller Ebene diskutieren. Sonische Unterwerfung bezeichnet nach Julian Henriques die Auswirkungen von sehr lauten Klangübertragungen, bei denen die Hörenden Sounds ausgesetzt werden, die deren visuelle Wahrnehmung, so die Annahme, stört und jedes vernünftige Denken behindert.20 Im Europa der Zwischenkriegszeit war der Sound der Lautsprecher bereits Bestandteil der Macht und wurde wohl eingesetzt, um koloniales Territorium zu markieren. Eine Fotografie in La Stampa Sera vom 19. April 1937 zeigt «eine Gruppe Indigener vor Lautsprechern in Addis Abeba», die faschisti- schen Reden und Nachrichtensendungen lauschen (vgl. Abb. 2). Selbst wenn es 19 Brandon LaBelle: Acoustic Territories: Sound Culture and Everyday Life, New York, London 2010, xxiii. 20 Julian F. Henriques: Sonic Dominance and the Reggae Sound System Session, in: Michael Bull, Les Back (Hg.): The Auditory Culture Reader, Oxford 2003, 451 – 480, hier 451 f. JONATHAN THOMAS 63SCHWERPUNKT sich nicht um die Extremerfahrung von sonischer Unterwerfung handelt, ist das vom Sound dieser Lautsprecher beschallte Territorium schon da- rum kolonisiert, weil die akustischen Signale der Siedler*innen die Aufmerksamkeit der Indigenen beanspruchen und deren Körperhaltungen und Positionen im Raum ausrichten. Für das faschis- tische Regime ist der Lautsprecher das zentrale Instrument, «um den Massen» in Italienisch-Ost- afrika «die Stimme und den Willen Italiens aufzu- zwingen».21 Im Jahr 1938 war geplant, Flugzeuge mit Lautsprechern auszustatten und so «über ein mobiles Mittel zu verfügen, [um] die äthiopische Bevölkerung zu beeindrucken» und «um sie sogar in den weit entferntesten Gebieten zu erreichen, wo weder militärische Aktionen noch Regierungsaktionen stattgefunden haben».22 Für die faschistischen Behörden war eine solche Propaganda ein Mittel, «das militärischen Aktionen vorausgehen und sie fördern» sollte.23 Entsprechend bereiteten Lautsprecher den Weg zur Expansion kolonialer Herrschaft, indem sie die Territorien bereits klanglich aus übermenschlicher Höhe eroberten. Die Phonographie verstärkt auch die Politik der kolonialen Unterwer- fung, indem sie die Verlautbarungen der Kolonisierten durch Tonaufnah- men deformiert und dekontextualisiert. Abbonizio berichtet, dass Ende der Dreißigerjahre Radioübertragungen von Aufnahmen traditioneller und re- ligiöser Lieder in Italienisch-Libyen zu kulturellen Aufständen führten, die Faschist*innen für Spekulationen über die vermeintliche Rückständigkeit der lokalen Bevölkerung nutzten. In der phonographischen Herauslösung die- ser Gesänge, die nur zu bestimmten Anlässen aufgeführt wurden, aus ihren räumlichen und zeitlichen Kontexten zeigte sich die technische Überlegen- heit der Kolonialmacht Italiens, weil sie die Vormacht über den Klang und seine Verbreitung innehatte.24 Wir sollten uns von Abbonizios Ausführungen leiten lassen, wenn wir uns dem umfangreichen Korpus kolonialer Schallplattenaufnahmen zuwenden, das nach Errichtung des italienischen Kolonialreichs entstand. Bereits 1936 kamen zehn Schallplatten mit Amharisch- und Oromo-Sprachkursen (zwei der verbreitetsten Sprachen in Äthiopien) bei La Voce del Padrone in den Verkauf und tauchten im Katalog von Januar 1937 unter der Rubrik ‹Lingue coloniali› (‹Kolonialsprachen›) auf.25 Auch die Gesellschaft Durium, die 1935 gegrün- det wurde und Schallplatten auch unter dem Namen La Voce dell’Impero (‹Die Stimme des Imperiums›) veröffentlichte, hatte acht Schallplatten mit Amharisch-Unterricht im Angebot. Im Jahr 1937 heuerte Columbia Indigene Musiker an, um im Mailänder Studio zehn Schallplattenaufnahmen mit 21 O. A.: Compiti della stampa e propaganda in Etiopia, Sektion 443 – Africa Orientale Italiana, Box 72, Fondo Ministero della C ultura Popolare – Gabinetto, [o. Datum], zentrales Staatsarchiv der Italienischen Republik, Rom, 1. 22 Ebd., 2. 23 Ebd. 24 Abbonizio: Musica e colonialismo nell’Italia fascista, 121 f. 25 Vgl. Catalogo generale Dischi. La Voce del Padrone [Schallplatten- Gesamtkatalog des Labels La Voce del Padrone], Mailand 1937. Abb. 2 Menschenmasse vor Lautsprechern in Addis Abeba, aus La Stampa Sera, 19.4.1937 KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA 64 ZfM 31, 2/2024 ‹arabo-tripolitanischen› Liedern und zehn mit ‹Kiswahili-Gesängen› zu produ- zieren, die in einem Katalog von 1938 als «Canti d’Africa» (‹Lieder aus Afrika›) gelistet waren.26 1939 veröffentlichte Cetra fünf Schallplatten auf Arabisch, ge- folgt von 32 Schallplatten mit traditioneller sakraler und weltlicher Musik auf Arabisch und Amharisch im Jahr 1940.27 Wie Guglielmo Barblan in seinem 1941 erschienenen Buch über Musik und Musikinstrumente aus Italienisch- Ostafrika berichtet, wurden 1939 im Rahmen eines Wettbewerbs in Addis Abeba mit einigen Dutzend Musiker*innen aus ganz Äthiopien 248 Aufnah- men für La Voce del Padrone erstellt. Der Wettbewerb wurde von dem eritre- ischen Kaufmann Salah Ahmed Checchia auf Initiative eines Giovanni Silletti und des Studienbüros der Triennale in Übersee (Ufficio Studi della Triennale d’Oltremare) veranstaltet. Barblan erwähnt außerdem 21 Schallplatten mit amharischer Musik, die für Odeon aufgenommen wurden (der Zeitpunkt der Aufnahmen ist nicht bekannt).28 Dieses auffällige Interesse an den kulturellen Zeichen kolonisierter Völ- ker scheint, wie Ruth Ben-Ghiat schreibt, auf «die faschistische Sichtweise [zurückzugehen], dass die Aneignung des Besten, was andere Völker zu bieten hatten, ein Schritt auf dem Weg zu deren Eroberung war».29 Doch die dem phonographischen Prozess innewohnende spezifische Formung des Klangs, bei dem nicht sämtliche Klangfarben korrekt erfasst werden können, und die technischen Voraussetzungen (die übliche Spieldauer einer Schallplat- te betrug pro Seite damals nicht mehr als drei bis vier Minuten) erfordern bereits eine sorgfältige Auswahl des aufzunehmenden Tonmaterials. Diese Selektions arbeit könnte als eine Herrschaftspraxis betrachtet werden und be- träfe insofern eher die Klänge, die herausgefiltert und zum Schweigen ge- bracht werden, als jene, die man zu hören bekommt. Britta Lange erwähnt die Momente des Schweigens in Tonaufnahmen Kriegsgefangener in den deutschen Lagern des Ersten Weltkriegs, in denen z. B. kein einziges Mal von Krankheiten die Rede ist: Wer das Aufnahmegerät als Verlängerung der eige- nen Macht in Händen hält und bedient, bestimmt, was bewahrt und später zu hören sein wird.30 Vor diesem Hintergrund können wir auch den von La Voce del Padrone 1939 aufgezeichneten Wettbewerb in Addis Abeba betrachten: Eine Kom- mission entschied über dessen Ergebnis und also auch darüber, welche Auf- zeichnungen am Ende gesendet oder welche Indigenen Musiker*innen nach Mailand gebracht wurden. In diesen wie in anderen Fällen war das Ziel, die Aufnahmen der Kolonialmacht, die nun italienisches Eigentum waren, zu sammeln und sie auf genau die Zeit und mithin auch das Format der west- lichen phonographischen Technik zu justieren, ohne Rücksicht auf ihre eige- ne Zeitlichkeit zu nehmen. Kurz, es ging darum, sich Muster des kolonisier- ten ‹Anderen› anzueignen, um sie nach Belieben genießen zu können, ohne im Geringsten auf die Bedingungen zu achten, die ihrer ursprünglichen so- zialen Bedeutung zugrunde lagen. Die Phonographie war insofern also ein 26 Dischi Columbia. Catalogo generale [Schallplatten-Gesamt- katalog des Labels Columbia Records], Mailand 1938, 224 f. 27 Vgl. Dischi Cetra [Schallplat- ten-Katalog des Labels Cetra], Turin 1939; Dischi Cetra e Parlophon [Schallplatten-Katalog der Label Cetra und Parlophon], Turin 1941. 28 Vgl. Guglielmo Barblan: Musiche e strumenti musicali dell’Africa orientale italiana, Neapel 1941, 135 – 138; Anne Bolay: Un musicien au service du pouvoir. Mesganaw Aduña, in: Annales d’Éthiopie, Nr. 19, 2003, 73 – 81, hier 73, doi.org/10.3406/ ethio.2003.1039; Chiriacò: Abdi’s Shop and the Duka Azmari House, 50 f. 29 Ruth Ben-Ghiat: Fascist Moder- nities. Italy, 1922 – 1945, Berkeley, Los Angeles, London 2001, 12. 30 Vgl. Britta Lange: Archival Silences as Historical Sources: Reconsidering Sound Recordings of Prisoners of War (1915 – 1918) from the Berlin Lautarchiv, in: Sound Effects, Bd. 7, Nr. 3, 2017, 47 – 60, doi.org/10.7146/SE.V7I3.105232. JONATHAN THOMAS http://doi.org/10.3406/ethio.2003.1039 http://doi.org/10.3406/ethio.2003.1039 http://doi.org/10.7146/SE.V7I3.105232 65SCHWERPUNKT Instrument der Unterwerfung, als sie Soundobjekte von Subjekten herstellte, die im Laufe ihrer sozial und politisch bestimmten technischen Vermittlung ihre Subjektivität verloren. Für italienische Familien, die sich den Kauf vie- ler Schallplatten leisten konnten, eröffnete sich damit die Möglichkeit, sich eine Schallplattensammlung mit den Liedern und Sprachen des Imperiums zuzulegen, die Vielfalt und Anzahl seiner Produktionen zu würdigen und sich selbst als Italiener*innen, vielleicht als Faschist*innen sowie als rechtmäßige Eigentümer*innen zu imaginieren. Eigentümer*innen blieben sie jedoch nicht lange. Das italienische Kolonial- reich und Italienisch-Ostafrika existierten nur bis 1941, als die italienischen Truppen von den Alliierten hinausgeworfen wurden. Allerdings behielt der Cetra-Katalog von 1942 weiterhin Schallplatten aus den Kolonialgebieten mit Aufnahmen aus imperialer Zeit im Angebot. Wie ist dieses beharrliche Fest- halten zu verstehen? Wer weiß, vielleicht gab es, von kommerziellen Beweg- gründen einmal abgesehen, ein durchaus legitimes musikalisches und ästheti- sches Interesse an diesen Aufnahmen, die Praktiken dokumentierten, die ihre Hörer*innen faszinierten. Oder verbarg sich dahinter eine unmittelbare nostal- gische Sehnsucht nach dem verlorenen Kolonialreich, die durch koloniale Klänge ein wenig gelindert wurde? Eine weitere mögliche Erklärung verweist auf die Notwendigkeit, die Moral der italienischen Bevölkerung, deren Land im Zweiten Weltkrieg zunehmend in Schwierigkeiten geriet, durch Rückbesin- nung auf die eigene imperiale Größe zu stärken. Welche Erklärung man auch bevorzugt: Dass die Frage nicht abschließend geklärt werden kann, macht umso deutlicher, in welchem Ausmaß die Phonographie als Instrument von Expansi- on und Unterwerfung zugleich auch Vermittlerin zutiefst vielfältiger Praktiken und Historien ist. Abb. 3 – 4 A-Seite (links) und vermutlich zensierte B-Seite (rechts) einer Schallplatte der italienischen Odeon mit äthiopischer oder eritreischer Musik (Foto: Thomas Henry, Orig. in Farbe) KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA 66 ZfM 31, 2/2024 Schlussbetrachtung: die koloniale Macht der Phonographie und ihr ‹Anderes› Ein Sinnbild für diese Doppelgesichtigkeit kolonialer Tonaufnahmen liefert eine Schallplatte der italienischen Odeon, vermutlich aus der Mitte der Dreißigerjahre. Das Etikett auf der Vorderseite ist kaum noch leserlich, wo- bei sich ein paar Ge ez-Schriftzeichen erkennen lassen, wie sie in Äthiopien und Eritrea verwendet werden (vgl. Abb. 3). Unten steht ein Nummernkürzel, B. 90064, ähnlich den von Barblan erwähnten. Die Rückseite, die gar kein Eti- kett trägt, wurde – wie die regelmäßig verlaufende, spiralförmige Abtragung der Oberfläche zeigt – durch ein konzentrisch getriebenes Werkzeug so beschä- digt, dass sie nicht mehr abgespielt werden kann (vgl. Abb. 4). Möglicherweise ist dies das Ergebnis einer Zensur, die an sämtlichen Schallplatten mit dieser Aufnahme mit dem entsprechenden Gerät einer dazu beauftragten Behörde ausgeführt wurde, der Zensurbehörde des faschistischen Regimes, die seit den Zwanzigerjahren Schallplatten verbot und zerstörte. Die eine Seite der Plat- te galt als den Interessen des Regimes zuträglich – oder zumindest den Vor- gaben entsprechend –, während die andere Seite unlesbar gemacht und zum Verstummen gebracht werden musste, vielleicht aus politischen Gründen. Das legt nahe, dass die politische, kulturelle und symbolische Macht, die das fa- schistische Regime durch die Phonographie über das imaginäre ‹Andere› zu erreichen suchte, sich doch nicht vollständig kontrollieren ließ. Denn weder konnten die Produktionsbedingungen noch das Hören der Tonaufnahmen zur Gänze vom Regime gesteuert werden. Dies legt den Schluss nahe, dass die Phonographie – unter all den Repräsentationen des ‹Anderen›, die sie durch den Klang für ihre Hörer*innen zum Leben erweckt – auch in der Lage ist, jene zu vermitteln, die von den Interessen ebenjenes ‹Anderen› künden anstatt von den Interessen derer, die dessen Klänge aufgezeichnet haben. Die Pho- nographie ist, wie jedes Werkzeug, wandlungsfähig: Eine Tonaufnahme kann das Resultat des Willens zu sozialer Zurichtung, Inbesitznahme, kultureller Unterwerfung sein, aber in ihr verbirgt sich stets auch die Möglichkeit, dass ein bestimmtes Hören eine Bedeutung darin entdeckt, die diesem Anspruch radikal entgegensteht. Michael Denning hat aufgezeigt, wie der Aufschwung der Schallplattenin- dustrie nach Einführung des elektro-akustischen Aufnahmeverfahrens Mitte der Zwanzigerjahre auch die Aufnahmeaktivitäten in den Kolonialhäfen die- ser Welt anwachsen ließ, insofern die großen Plattenfirmen ihr Repertoire dort aufzufrischen und zu diversifizieren hofften.31 Laut Denning begünstig- ten gerade diese vom kolonialen Kapitalismus produzierten Aufnahmen von einheimischen Musiktraditionen, vielfach Tanzmusik, später das Aufkom- men von Dekolonisierungsbewegungen, dadurch dass sie als nationale Kul- turzeichen zirkulierten und als solche erkennbar wurden. Im italienischen Kontext entsprechen, wie die Arbeiten von Chiriacò und Tamburini zeigen, JONATHAN THOMAS 31 Vgl. Michael Denning: Noise Uprising: The Audiopolitics of a World Musical Revolution, London, New York 2015. ˘ 67 das phonographische Korpus der Propaganda, das einer Phase der Expansi- on zugehört, und das Korpus der kolonialen Musik, das in eine Phase der Herrschaft fällt, zwei Erinnerungsorten: der Erinnerung an den Rassismus des Faschismus und des Kolonialismus und der Erinnerung an die äthiopi- sche, eritreische, somalische und libysche Musik unter der kolonialen Herr- schaft. Die Wandlungsfähigkeit, Ambivalenz und Ambiguität der Phonogra- phie überlässt es den Hörer*innen, selbst zu bestimmen, welchen Einfluss sie der Phonographie zugestehen. Die Aufnahmen verlangen eine anhaltende und kritische Einstellung beim Hören. Erst dann können die Hörer*innen jenseits vom akustisch repräsentierten ‹Anderen› Erinnerung und Mensch- lichkeit erkennen. — aus dem Englischen von Sabine Schulz Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts, das Förder- mittel aus dem EU-Rahmenprogramm Horizont Europa 2022 gemäß der Marie-Skłodowska-Curie-Finanzhilfevereinbarung Nr. 101105514 erhalten hat. Ich danke Prof. Jens Gerrit Papenburg, Dr. Elodie A. Roy und Dr. Benedetta Zucconi für ihre kritische Lektüre und ihre Hinweise zum Text. SCHWERPUNKT KOLONIALE EXPANSION UND FASCHISTISCHE HERRSCHAFT DURCH PHONOGRAPHIE IN ITALIENISCH- OSTAFRIKA