zeitschrift für medienwissenschaft 2/2022 gesellschaft für medienwissenschaft (hg.) zeitschrift für medienwissenschaft 2 7 REPARATURWISSEN: DDRONLINE  2/2022 — EDITORIAL Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epis- temischen Konstellationen zu fragen. Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion k onzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaft- lichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT. Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunkt- themas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezen- sionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, der Gender- und der Open-Media-Studies-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen. — MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, BIRGIT SCHNEIDER, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART — INHALT Editorial REPARATURWISSEN:  DDR 10 U L R I K E H A N S T E I N / M A N U E L A K L AU T / JA N A M A N G O L D Reparaturwissen: DDR Einleitung in den Schwerpunkt 24 U L R I C H R I C H T M E Y E R Zen und die Kunst jeden Mangel zu reparieren 37 JOHANNA KÄSMANN Reparierend(es) Schreiben «Der Heizer» von Wolfgang Hilbig 51 A L E X A N D E R WAG N E R Der Heikodysseus ‹Reparieren› als Prozessor sozialistischer Bildung 65 F R A N C I S H U N G E R Sozialistische Co-Innovation Wie in der DDR die relationale Datenbank DABA-1600 entwickelt wurde 79 F R A N Z I S K A K L E M S T E I N Rechentechnische Reparaturkompetenz Vom staatlich verordneten technischen Fortschritt zur Entwicklung der Digital Humanities BILDSTRECKE 92 L AU R A H O R E L L I vorgestellt von ANNETT JAHN «Namibia Today», 2017 / 18 EXTRA 102 R E Y C H OW Nachdenken über «race» mit Foucault 119 C H R I S T I N E VO N O E RT Z E N / L OT T E S C H Ü S S L E R Für, mit und auf Papier Papiertechnologien und ihre Versorgungsketten DEBATTE Transformationen des Wissenschaftssystems: 1989 ff.  133 D O R OT H E A D O R N H O F / P E E R PA S T E R N AC K / G E R D Z I M M E R M AN N im Gespräch mit M A N U E L A K L AU T und JA N A M A N G O L D «Eine eindeutig vermachtete Situation». Über den Umbruch in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft seit 1989 und die Folgen bis heute WERKZEUGE 154 H A N N A H W I E M E R West-Berliner Leselandschaft Die Bibliothek als logistisches Denkwerkzeug BESPRECHUNGEN 162 B E N E D I K T M E R K L E Writing (about) Code. Der Ort der Arbeit an der Abstraktion in historischen Studien 168 C H R I S TO P H E G G E R S G L Ü S S Plattenkritik und Typenschau. Kleinteiliges und Naheliegendes zum (Gesellschafts-)Umbau 174 AU TO R _ I N N E N 177 B I L D N AC H W E I S E 178 I M P R E S S U M — REPARATURWISSEN: DDR Cover der DDR-Heimwerkerzeitschrift practic, 1986 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140203. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. REPARATURWISSEN: DDR —– Einleitung in den Schwerpunkt Mit dem Hammer Durch die Fensterscheibe eines fahrenden Zuges sind weitläufige alte Industrie- anlagen zu sehen. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Brikettfabriken im Meuselwitz-Altenburger Braunkohlerevier. Für ihren Dokumentarfilm W inter adé ist die Regisseurin Helke Misselwitz mit einer kleinen Crew durch die DDR gefahren.1 Sie hat an unterschiedlichen Orten Frauen und Mädchen interviewt. In Meuselwitz führt uns der Film direkt in die lärmende Brikettfabrik: Eine Halbtotale zeigt die Hilfsarbeiterin Christine mit einem Schutzhelm und dunk- ler Arbeitskleidung. Dann folgt die Kamera Christine auf ihrer Runde. Sie läuft durch große Hallen mit jahrzehntealten Anlagen zum Trocknen und Pressen der Braunkohle. Mit einem Vorschlaghammer klopft Christine routiniert ge- gen große Rohre, damit sich darin kein Kohlestaub festsetzen kann. Durch ihre körperlich anstrengende Arbeit verringert sie das Risiko einer Kohlestaub- explosion. Sie hält die in die Jahre gekommenen Anlagen am Laufen und ver- langsamt den Zusammenbruch des maroden Betriebs. Etwas Neues ist nicht in 1  Winter adé, Regie: Helke Sicht in Meuselwitz. M isselwitz, DDR 1988, Buch: Helke Misselwitz, Thomas Plenert, Es fällt Christine schwer, der Filmemacherin ihre Arbeit zu erklären. Dramaturgie: Bernd Burkhardt, Es geht um das Tun. Für das Über-sich-Sprechen – so wird im Weiteren Kamera: Thomas Plenert, Ton: Eberhard Pfaff, Ronald Gohlke, klar – fehlen Christine in ihrem Alltag die Zeit und ein Gegenüber. Auf die Peter Pflughaupt, Schnitt: Gudrun Aufnahmen aus dem Betrieb folgen ruhige Naheinstellungen von Christine Plenert, online zugänglich in der Mediathek der Bundeszentrale für in ihrer Küche. Angeregt durch Fragen der Regisseurin aus dem Off erzählt politische Bildung: www.bpb.de/ sie ihr Leben: als Kind den Eltern bei der Landwirtschaft geholfen, Schulab- lernen/filmbildung/299309/winter-ade/ (22.2.2022). schluss nach der siebten Klasse, Teilausbildung zur Gärtnerin, Urlaub übern 10 ZfM 27, 2/2022 Betrieb an der Ostsee, Mann kennengelernt, mit 18 nach Gera gezogen zum Mann, mit 20 das erste Kind und Hochzeit, mit 21 Scheidung eingereicht, wieder zusammengefunden, zweites Kind, dann doch die Scheidung, wegen der Eltern zurück nach Meuselwitz, jetzt allein, ein Sohn und eine be_hinder- te Tochter und Schichtarbeit in der Brikettfabrik. Christine spricht darüber, dass sie für die Erziehung ihrer Kinder keine Anerkennung erfährt und dass sie und ihre be_hinderte Tochter von anderen ausgegrenzt werden. So wie im Betrieb arbeitet Christine auch zuhause auf sich allein gestellt. Auch zuhause versucht sie, das Nichtfunktionierende durch eigene Kraft dennoch am Lau- fen zu halten. Winter adé ist eine nüchterne und naherückende Bestandsaufnahme des All- tags von Frauen in der DDR. Die DDR im Jahr 1988 – das sind in Misselwitz’ Film selbstbestimmte Lebensformen und unerfüllte Wünsche, einengende Geschlechterrollen und liebevoll verbundene Paare, vergleichbare Lebensstan- dards unter den Berufstätigen und differenzierte soziale Milieus. Christine, die 2  Nach der ‹Wende› waren Arbeiterin, die mit dem Vorschlaghammer die marode Brikettfabrik am Laufen auch die Folgen der Stilllegung des nicht mehr Reparierbaren zwischen hält, ist ein prägnantes Bild für die in den 1980er Jahren nicht mehr zu rettende Geschlechtern, Lebensaltern, Wirtschaft der DDR. Arbeit erscheint in Meuselwitz als ein notdürftiges Aus- ausgebildeten und ungelernten Arbeitskräften, DDR-Bürger_innen bessern des unrettbar Veralteten und nicht als Aufbau einer besseren Zukunft. und Vertragsarbeiter_innen aus Weit entfernt von der ideologischen Heroisierung der Werktätigen (mit Ham- den ‹sozialistischen Bruderländern› ungleich verteilt; vgl. die Daten mer und Zirkel und Ährenkranz) verkörpert Christine eine unermüdliche Re- der Europäischen Kommission zu paraturarbeit, die den beruflichen und privaten Alltag in der DDR auszeichnete. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit nach Alter, Geschlecht, Bildungs- Als Umgang mit Verschleiß und Mangel – das wird an der alleinerziehenden abschluss etc. unter ec.europa.eu/ Protagonistin Christine deutlich – war Reparaturarbeit zwar allgegenwärtig, eurostat/de/web/lfs/data/database (24.5.2022). doch ungleich verteilt.2 3  25 Jahre Deutsche Einheit. Gleich- In Winter adé enden die Zugfahrten in einer kleinen Bildergalerie mit Por- stellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland, träts berühmter Frauen, die in einem Zugfenster aufgestellt sind, und im Schnitt Broschüre hg. v. Öffentlichkeits- auf abbrechende Gleise an einem Fähranleger an der Ostsee. Das letzte Bild referat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und entlässt den Blick auf das offene, tosende Meer. Als der Film 1988 in die Kinos Jugend, Berlin 2015, 21, www.bmfsfj. kommt, beträgt der Anteil von Frauen an allen Erwerbstätigen in der DDR de/resource/blob/93168/8018cef974d 4ecaa075ab3f46051a479/25-jahre- 48,9 Prozent.3 deutsche-einheit-gleichstellung-und- geschlechtergerechtigkeit-in-ostdeutsch- land-und-westdeutschland-data.pdf (22.4.2022). Reparaturwissen: DDR 4  Stefan Krebs, Gabriele Schabacher und Heike Weber un- Reparaturarbeiten fanden in der DDR ‹an allen Ecken und Enden› statt. In terscheiden das vorsorgende, meist Bezug auf Alltagskultur, Arbeitswelten und medientechnische Verfahren stellt geplante Instandhalten vom Repa- rieren, das ungeplante Stö rungen der Schwerpunkt dieses Heftes Verhandlungen, Modelle und Überlieferungen behebt. Beide Vorgehensweisen von Reparaturwissen vor. Dieses Wissen entspringt aus der Arbeit des Instand- zögern «die Abnutzung der Dinge und den Punkt ihrer Unbrauchbar- haltens und dem findigen Umgang mit Mangel, Auflösung und Zerfall.4 Etwas keit hinaus». Siehe Stefan Krebs, zu reparieren heißt, Material, Gestalt, mitunter auch die Gebrauchsmöglich- Gabriele Schabacher, Heike Weber: Kulturen des Reparierens und die keiten von Gegenständen zu verändern und neue Arrangements zuzulassen. Lebensdauer der Dinge, in: dies. Reparaturen rücken Verfügbares in zweckdienliche neue Nachbarschaften. (Hg.): Kulturen des Reparierens. Dinge, Wissen, P raktiken, Bielefeld 2018, Sie v erbinden Ungleiches miteinander, das sich als Zusammengefügtes nicht 9 – 47, hier 9. SCHWERPUNKT 11 ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD gegenseitig bestreitet, sondern stabilisiert. Reparaturwissen stellt behelfsmäßige Verknüpfungen zwischen Überkommenem und zukünftigem Handeln her; es setzt auf Veränderlichkeit und Improvisation im Bewahren. In Anlehnung an Ekaterina Gerasimova und Sof ’ia Chuikina lässt sich die DDR als ‹Reparaturgesellschaft› verstehen.5 Die beiden Soziologinnen führen diesen Begriff für die Sowjetunion ein. Sie weisen damit auf die unermüdli- che Nachbesserung planwirtschaftlicher Produktionsprozesse und auf die Rolle von Reparaturen in sozialen und tauschwirtschaftlichen Beziehungen hin. Die nicht durch den Markt regulierte Planwirtschaft war demnach «the object of constant improvement, experiment, and mandatory anticrisis campaigns imple- mented by the authorities, meaning that it was perpetually under repair».6 Die vom Staat angewiesenen ‹Reparatur-Projekte› lenkten die Sowjet-Bürger_in- nen in ihrem öffentlichen Tun und in ihren privaten Haushalten, in terms […] of officially sanctioned social activism (consumer movements, the fight against substandard products, letters of complaint to the newspapers) and of the everyday economy, in which case [citizens] adapted the system for their own comfort (by pulling strings, visiting flea markets, using homemade goods, pilfering products 5  Vgl. Ekaterina Gerasimova, Sof’ia Chuikina: The Repair Society, from factories, informally reallocating goods, etc.).7 in: Russian Studies in History, Bd. 48, Nr. 1, 2009, 58 – 74. Im Rückgriff auf Studien zur sowjetischen Konsumkultur und auf der Grund- 6  Ebd., 59. 7  Ebd. lage eines Korpus von Erinnerungsinterviews dokumentieren Gerasimova und 8  In einer weiten Auslegung steht Chuikina eine handwerkliche Reparaturpraxis. Diese war notwendig, um indus- ‹Reparieren› hier für das individu- elle Haushalten mit begrenzt und triell produzierte Güter erst brauchbar zu machen, über lange Zeiträume funk- u n regelmäßig verfügbaren Konsum- tionsfähig zu halten, nachzurüsten oder im Aussehen (‹westlichen›) Moden und gütern sowie für die stetige Anpas- sungsarbeit zwischen Personen und Lebensstilen anzupassen.8 Dingen; vgl. ebd., 59 – 69. In ihren theoretischen Überlegungen behandeln Gerasimova und C huikina 9  Siehe Yulia Karpova: Comradely Objects. Design and Material Culture in das Reparieren im Wesentlichen als vorindustrielle Praxis. Sie legen somit eine Soviet Russia, 1960s–80s, Manchester Verspätung der sozialistischen Konsumgüterproduktion gegenüber Westeuro- 2020, doi.org/10.7765/9781526139863. 10  Vgl. ebd., 143 – 153. pa nahe. Statt diese kontrastierende Erzählung vom rückständigen Osten und 11  Vgl. Krebs u. a.: Kulturen des fortschrittlichen Westen weiterzuführen, legt Yulia Karpova in ihrer Studie Reparierens und die Lebensdauer der Dinge, 13 f. Comradely Objects eine differenzierte Betrachtung vor.9 Karpova weist in ihrer 12  Vgl. Susan Leigh Star, Geoffrey Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gestaltung und mit der materi- Bowker: How to Infrastructure, in: Leah A. Lievrouw, Sonia Livingstone ellen Kultur der Sowjetunion auf die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von (Hg.): The Handbook of New Media, Industrieproduktion und Reparatur, Umweltzerstörung und Abfallwirtschaft, London, Thousand Oaks 2009, 230 – 245, hier 237; Gabriele Ressourcenverschwendung und Wiederverwertung hin. Diese ökonomische, Schabacher: Medium Infrastruktur. konsumkulturelle und ökologische Gemengelage wurde in Konzepten der Trajektorien soziotechnischer Netz- werke in der ANT, in: Zeitschrift für nachhaltigen Gestaltung in der Sowjetunion ebenso wie in Westeuropa seit den Medienphilosophie und Kulturtechnikfor- 1970er Jahren neu verhandelt.10 Auch Stefan Krebs, Gabriele Schabacher und schung, Bd. 4, Nr. 2, 2013, 129 – 148, hier 145; Christian Zumbrägel: Von Heike Weber sprechen in ihrem Band Kulturen des Reparierens von «multiple[n] Mühlenärzten, Turbinenwärtern und Konjunkturen» des Reparierens statt von einer Ablösung vorindustrieller durch Eiswachen. Instandhaltungen am Technikensemble Wasserkraftan- industrielle Verhältnisse.11 lage um 1900, in: Krebs u. a. (Hg.): Dass industrielle Produktion nicht ohne die händischen Eingriffe des Repa- Kulturen des Reparierens, 165 – 195, hier 172. rierens und des Ausbesserns auskommt, zeigen die Bilder von Christine aus der 12 ZfM 27, 2/2022 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Brikettfabrik in Meuselwitz. Auch industrielle Großanlagen funktionieren nur dank der steten Arbeit der Instandhaltung.12 Die meist linear und reibungslos vorgestellten Prozesse des Outputs oder Wachstums sind von zyklischen, der Abnutzung geschuldeten Abläufen durchsetzt,13 die eine stärkere Aufmerksam- keit verdienen. Von Auffassungen linearer Entwicklungsdynamiken oder von diskreten 13  Vgl. Reinhold Reith: Repa- rieren – ein Thema der Technik- Ereignissen der technischen Erfindung rückt Reparaturwissen als Konzept geschichte?, in: ders., Dorothea eines medienhistoriografischen Arbeitens ab.14 Entscheidend ist stattdessen Schmidt (Hg.): Kleine Betriebe, angepasste Technologie? Hoffnungen, das Interesse an anhaltenden Wandlungsprozessen – von Dingen, Materia- Erfahrungen und Ernüchterungen aus lien, Relationen, Zuständen oder auch Problemen –, das die gegenwärtigen technikhistorischer Sicht, Münster 2002, 139 – 161, hier 140. Untersuchungen des Phänomens antreibt.15 Da das Reparieren als ein stets 14  Vgl. Steven J. Jackson: Rethink- vorhandenes Merkmal der soziomateriellen Welt 16 zum Argument für und ing Repair, in: Tarleton Gillespie, Pablo J. Boczkowksi, Kirsten A. Foot zur Provokation von neuen und andersartigen Forschungen wird, wie Steven (Hg.): Media Technologies. Essays J. Jackson es für die Science and Technology Studies und Technikgeschichte on Communication, Materiality, and Society, Cambridge (MA), London behauptet, kann die Auseinandersetzung mit dem Reparaturwissen der DDR 2014, 221 – 239. Mittels eines auch kritische Anstöße für die Medienwissenschaft liefern. Über die aktuellen «broken world thinking» (ebd., 221), das eher von den Unterbre- Studien zur Kultur(-technik) des Reparierens hinaus bietet es andere Aspekte chungen als von den Neuheiten und und Kontextualisierungen des Instandsetzens und Ausbesserns, des ‹Ummo- Wachstumserzählungen ausgeht, proklamiert Jackson die Hinwen- delns› und Erneuerns. dung zur Reparatur in den Science Generell zeichnen sich Reparaturarbeiten durch eine ambige Zeitlichkeit and Technology Studies und in der Technikgeschichte. aus. Sie sind einerseits konservativ und rückwärtsgewandt im Versuch, d efekte 15  Vgl. Philippe Sormani, Alain Dinge in einen vorgängigen (funktionsfähigen) Zustand zurückzuversetzen, Bovet, Ignaz Strebel: Introduction. When Things Break Down, in: andererseits vorwärtsgewandt und progressiv in der Umarbeitung einer er- dies. (Hg.): Repair Work Ethnographies. erbten Situation bis hin zur Projektion für die Zukunft.17 Für den Kontext Revisiting Breakdown, Relocating Materiality, London 2019, 1 – 29. der DDR wäre zu untersuchen, ob andere Zeit- und Projektionsverhältnisse 16  Vgl. Steven J. Jackson: Repair as zu veranschlagen sind. So scheinen zukunftsgerichtete Hoffnungen 18 oder ein Transition. Materiality, Time, Hope, in: Strebel u. a. (Hg.): Repair Work bündnisbildender Aktivismus für eine bessere Zukunft 19 – wie sie in den pro- Ethnographies, 337 – 347, hier 338, und grammatischen Texten der Repair-Bewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ders.: Rethinking Repair, 221. 17  Vgl. Jackson: Repair as Transi- beschworen werden – als Motor für die alltäglichen Vorkehrungen der Erhal- tion, 343. tung, Verschönerung und Verbesserung in der späten DDR eine untergeord- 18  Zur Kategorie der Hoffnung in der Betrachtung von Reparatur nete Rolle gespielt zu haben. Die ständigen Reparaturarbeiten treten vielmehr vgl. ebd., 344 – 346. als eine Bewegung im Stillstand auf, die sich zwar auf ein Vorher bezieht, aber 19  Vgl. Wolfgang Heckl, Silke Langenberg, Andres Lepik: Repa- nicht in eine veränderte oder veränderbare Zukunft weist. Stattdessen verhar- ratur und Reparaturfähigkeit (Ge- ren die Akteur_innen mit der Reparatur im Jetzt, die sich mal als Zeitvertreib, spräch), in: Silke Langenberg (Hg.): Reparatur. Anstiftung zum Denken und mal als gemeinschaftsstiftend, mal als Herausforderung der eigenen Kenner- Machen, Berlin 2018, 10 – 28; Andrea schaft, als Weiterbildungsmoment oder einfach als zwingende pragmatische Baier u. a. (Hg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als post- Problemlösung aufdrängt.20 Die Hinwendung zum Reparieren kann der Tech- kapitalistische Praxis, Bielefeld 2013; nik- und Mediengeschichte ein Wissen über Technologien und ihre materiellen Wolfgang Schmidbauer: Die Kunst der Reparatur. Ein Essay, München 2020. und sozialen Ordnungen beibringen. Das ‹Reparaturwissen DDR› fügt diesen 20  Vgl. Kurt Möser: Autobas- Auseinandersetzungen eine eigene Dimension hinzu, die über die existierenden teln. Modifying, Maintaining and Repairing Private Cars in the GDR, Manifeste, Studien und Abhandlungen zum Reparieren hinausgeht. 1970 – 1990, in: Lewis H. Siegelbaum Dabei schlägt die Bezugnahme auf das Reparaturwissen der DDR weder (Hg.): The Socialist Car. Automobility in the Eastern Bloc, Ithaca (NY) 2013, einen Bogen in eine Vergangenheit, in die (oder: zu deren vermeintlich 157 – 169, hier 161, 168. SCHWERPUNKT 13 ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD unversehrten Zuständen) man zurückkehren möchte, noch in die Zukunft (wobei der Selbstbau von Flugobjekten und U-Booten 21 durchaus auf eine veränderte Zukunft weist und so etwas wie Hoffnung einspannt). In einer differenzierten Betrachtung des Reparierens in der DDR geht es weder um eine Romantisierung von Verfall noch darum, die politische Neuordnung 1989 / 90 als Reparatur eines Kaputten oder als Zerstörung eines vormals Bes- seren zu beschreiben. Vielmehr erlaubt der hier vorgeschlagene Zugang zum ‹Reparatur wissen DDR›, Überlieferungen zwischen einem ‹Vorher› und einem uneinheitlichen ‹Jetzt› in ihrer Vielschichtigkeit und Spezifität zu beschreiben. Denn Reparaturen hinterlassen wahrnehmbare Spuren. Das Arbeiten an den Dingen und die anhängliche tätige Verbundenheit mit ihnen tragen sich oft als wahrnehmbare materielle Markierungen ein. Die auffälligen Eigenarten von geflickten, geklebten, gelöteten, gestopften, verschraubten, genähten, stellen- weise neu lackierten, verknoteten, geschweißten, verformten oder zusammen- gesteckten Objekten weisen auf vorhergehende Brüche, Bearbeitungen und Neuinterpretationen des Vorgefundenen hin. Materielle Ablagerungen eines handlungsbezogenen Wissens geben Auskunft über alltägliche Praktiken mit geringer Reichweite, Dauer und Sichtbarkeit, die eigensinnig die großen Er- zählungen durchkreuzen. In einer solchen Betrachtung des Partikularen wird deutlich, dass sich die unterschiedlichen Bestimmungen des Reparierens, von der kraft-, zeit- und ressourcenraubenden Notwendigkeit bis zum kreativen und distinguierenden Selbstausdruck, keineswegs ausschließen: Auch eine Reparatur, die vorgenommen wird, weil etwas zur Sicherung der Existenz not- wendig ist und nicht durch neu Produziertes ersetzt werden kann, steht e iner individuellen Gestaltung (vielleicht gar der Virtuosität im Verbindungen- Schaffen) offen.22 21  Vgl. Jens Casper, Luise R ellensmann: DDR-Garagen, in: Konzeptuell bedeutet die Auseinandersetzung mit Reparaturen, sich auf ein dies. (Hg.): Das Garagenmanifest, fallweise bestimmbares Wissen einzulassen, das z. B. in materiell-konkreten Zürich 2021, 11 – 28, hier 27. 22  Vgl. die Beispiele in Möser: Assemblagen,23 in anekdotischen Selbstberichten,24 in dokumentarischen Auf- Autobasteln, 168, bei denen nahmen von Arbeitsstätten und Privaträumen,25 im modularen Design von Ge- Wartburg, Trabant etc. zumindest äußerlich zu Sportflitzern aufge- brauchsartikeln 26 oder in informellen Tipps kenntlich wird.27 Solche oft lokal, motzt wurden. provisorisch und zufällig überlieferten Hinweise auf ein spezifisches Hand- 23  Vgl. Strebel u. a. (Hg.): Repair Work Ethnographies. lungswissens lassen sich kulturwissenschaftlich und medienhistoriografisch 24  Vgl. u. a. Wolfgang Heckl: Die bearbeiten, wie die Beiträge des Schwerpunkts zeigen. Kultur der Reparatur, München 2013. 25  Vgl. Steven Bond, Caitlin So nimmt ULRICH RICHTMEYER Reparaturszenen in den Blick, die eher D eSilvey, James R. Ryan: Visible beiläufig als planvoll in einem DEFA-Dokumentarfilm vorkommen und An- Mending. Everyday Repairs in the South West, Axminster 2013. haltspunkte liefern, um die historische Spezifik des Reparierens in der DDR 26  Vgl. Jens Kassner: Ostform. befragen zu können. Ob Bandbus oder Lockenwickler, Fahrrad oder Motor- Der Gestalter Karl Clauss Dietel, Leipzig 2009; Walter Scheiffele, Steffen rad – Reparaturwissen ist auf spezifische Produktions- und Konsumptions- Schuhmann: Karl Clauss Dietel. Die formen bezogen. Zugleich überschreitet es diese Bedingungen, indem es offene Form, Chemnitz 2021. 27  Vgl. Sigrid Kannengießer: h andgreiflich und konzeptuell technische Weltverhältnisse erkundet und neue Repair Cafés, in: Krebs u. a. (Hg.): Möglichkeiten des Handelns gewinnt: problemlösend und kontemplativ, ma- Kulturen des Reparierens, 283 – 301, hier 291 f., 294 f. terialbezogen und ästhetisch. 14 ZfM 27, 2/2022 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Einen innigen Zusammenhang zwischen Arbeitsstätte und Reparaturkom- petenz, betrieblichen Ritualen und rastlosen Fantasien ihrer Störung zeichnet JOHANNA KÄSMANN in ihrer Lektüre von Wolfgang Hilbigs Erzählung Der Heizer nach. In einem Betrieb in der Tagebau-Landschaft nahe der Stadt M. (Meuselwitz) schaufelt Hilbigs Protagonist mit «schon stark erschöpfte[m], brüchige[m] Körper» Kohle in Kesselanlagen und schreibt in heimlichen P ausen.28 Hilbig hat viele Jahre als Werkzeugmacher, Montage-Arbeiter, Heizer und Lyriker in Meuselwitz gelebt. Käsmann legt an seiner Erzählung ein reparierendes Schreiben offen, das sich einem zugewiesenen «Sprechtext»29 entzieht. In ruhelosen, bedrängenden Brechungen der Perspektive setzt Der Heizer die literarische Konstitution und Defiguration von Wirklichkeit als eine wahrhaft physische Schufterei an der Sprache in Szene. ALEXANDER WAGNER untersucht die Zeitschrift practic. Magazin für Selbstbautechnik als Forum für informelle Tipps. Die Beteiligung der Leser_in- nen schlägt sich hier in einem Layout nieder, das die Authentizität des Ama- teurhaften ausstellt und affirmiert. In Wagners Aufsatz erhält das ‹Reparatur- wissen DDR› eine Konturierung als Bildungsprojekt, das einen spezifischen Typus hervorgebracht hat: den Heikodysseus. Dieses Bildungssubjekt ist zu unterscheiden vom Odysseus als Archetyp der humanistisch-bürgerlichen Bildung. Denn nicht die Entsagung gegenüber einer Fülle bringt das selbst- bestimmte Subjekt hervor, sondern eine Lebens- und Warenwelt, die vom Mangel gekennzeichnet ist. Die practic bietet Hinweise auf die Eigenschaften, das Habitat und die Ästhetik des Heikodysseus, ebenso wie das veränderte Erscheinungsbild der Hefte nach 1989 Rückschlüsse auf den Ausgang dieses Bildungsprojekts zulässt. Wie der Bedarf an automatisierter Datenverarbeitung in Industrie und Pro- duktion der DDR zu spezifischen, kooperativen und findigen Formen der Softwareentwicklung führte, zeigt der Text von FRANCIS HUNGER. Für die Entwicklung der relationalen Datenbank DABA-1600 gingen in den frühen 1980er Jahren Wissenschaft (Informatiker_innen der TU Dresden) und Volks- eigener Betrieb (VEB Robotron Projekt Dresden) eine Zusammenarbeit ein. Sie fällt in die Zeit des Übergangs vom zentralen Großrechner zum Kleincompu- ter mit direktem Nutzer_innen-Zugriff. Der medienhistoriografische Blick auf die enge Verflechtung von akademischer Forschung und industrieller Anwen- dung, von DDR-eigenen Entwicklungen und Nacherfindungen internationaler programmiertechnischer Neuerungen legt die Unterschiede, aber auch überra- schende Korrespondenzen zwischen planwirtschaftlichen und marktwirtschaftli- chen Settings der Innovation offen. Im Beitrag von FRANZISKA KLEMSTEIN schließlich werden die Anwen- dungen relationaler Datenbanken in den Universitäts-Rechenzentren der DDR 28  Wolfgang Hilbig: Der Heizer, vorgestellt. Am Beispiel der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar in: ders.: Das Meer in Sachsen. wird eine Wissensgeschichte elektronischer Datenverarbeitung an ostdeutschen Prosa und Gedichte, Frankfurt / M., Wien 1991, 11 – 51, hier 37. Universitäten beschreibbar, deren konkrete Praktiken und lokale Eigenheiten in 29  Ebd., 41. SCHWERPUNKT 15 ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD eine besondere Ökonomie der Nachnutzbarkeit mündeten, die ein rechentech- nisches Reparaturwissen förderte. Grundlage des Beitrags sind Überlieferungen der Infrastrukturen und Organisationsformen von Wissen im Universitätsarchiv. Eine eigensinnige Verknüpfung von Forschung und relationaler Datenbank ‹vor› dem Konzept der ‹Forschungsdatenbank› kündigt sich in dieser Auseinan- dersetzung mit dem Material an. Die Beiträge zum Schwerpunkt verdeutlichen, dass das Reparaturwissen in der DDR zugleich auch spezifisches Wissen von der DDR ist, das immer noch lesbar ist, wenn man die Aufmerksamkeit auf die praktischen Anpassungen an unterschiedliche Voraussetzungen für den Umgang mit Dingen und Strukturen richtet. Diese Umgangsweisen sind vielfältig und nur verstreut überliefert. Die anachronistischen Artefakte und eigensinnigen materiellen Zusammenfügun- gen der Reparaturarbeit fordern Ordnungen der Archivierung, Aufbewahrung und Dokumentation heraus. Auf Montage Nehmen wir noch mal den Zug. Von Meuselwitz aus dauert die Fahrt drei Stunden. Auch dieser Zug ist das Verkehrsmittel einer dokumentarischen Bil- dersuche – ein Phantom Ride zwischen Herkunft und Gegenwart. In T homas Heises Dokumentarfilm Heimat ist ein Raum aus Zeit birgt das Arbeiten in und mit Archiven etwas Vergangenes in einer die Gegenwart einholenden Bewe- gung.30 Das Erschließen und Zusammenführen überlieferter Dokumente kommt der kombinatorischen Arbeit des Reparierens nahe. Die Auswahl und Verknüpfung von Archivmaterial durch die Montage geben den Berichten aus der Vergangenheit einen Ort und eine Dauer in der dicht gefügten, filmischen Zeit. Der Film bahnt in seinem linearen Zeitlauf Seh- und Hör- und Lesebewe- gungen durch Familienfotografien, Dokumente, Akten, Überwachungsproto- kolle, Aufsätze, Weisungen, Gesuche, Entwürfe von Lebensläufen, Tagebuch- einträge und persönliche Briefe. 11. März. Heute am Sonntag haben wir einen freien Nachmittag. Ich werde schlafen und lesen, die Handschuhe nähen und die Stiefel putzen. Hoffentlich kommen keine Appelle. […] Da gerade Sperrstunde ist, können wir nicht einmal den OKW-Bericht hören. Ich warte. Wir sehen ja das Fließen der Geschichte nicht.31 30  Heimat ist ein Raum aus Zeit, Derjenige, der hier vom Reparieren der Handschuhe, vom vorsorgenden In- DE / AT 2019, Buch und Regie: Thomas Heise, Produktion: Heino standhalten der Stiefel und vom Warten auf Neuigkeiten in unübersichtlicher Deckert, Kamera: Stefan Neuberger, Zeit schreibt, ist Wolfgang Heise, der Vater von Thomas Heise. Der Brief des Peter Badel, Börres Weiffenbach, Ton: Johannes Schmelzer-Ziringer, 19-Jährigen an seine Eltern stammt aus dem Jahr 1945. Wolfgang Heise ist zu Schnitt: Chris Wright. Der Film ist diesem Zeitpunkt mit seinem Bruder als Zwangsarbeiter in einem Lager auf online zugänglich: www.bpb.de/ mediathek/video/319173/heimat-ist-ein- dem Militärflugplatz Zerbst interniert. Seine Briefe an die Eltern werden Jahr- raum-aus-zeit/ (28.4.2022). zehnte später seinem Sohn, Thomas Heise, zu Nachrichten, die posthum eine 31  Ebd., 1:07:39 – 1:08:20; OKW = Oberkommando der Wehrmacht. Verbindung zum Leben des Vaters herstellen. 16 ZfM 27, 2/2022 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Heimat ist ein Raum aus Zeit beginnt mit einem Schulaufsatz des Großvaters Wilhelm von 1912 und erzählt die österreichisch-bürgerlich-jüdisch-deutsch- kommunistische Ostberliner Familiengeschichte der Heises bis ins Jahr 2014, dem Jahr, in dem Rosemarie, die Mutter des Filmemachers, stirbt. Der Doku- mentarfilm montiert einen in seinen geografischen Bezugspunkten beweglichen und in seinen Grenzen durchlässigen ‹Raum aus Zeit›. Das Material sind Ton- aufzeichnungen von Thomas Heise, der die persönlichen S chreiben und bü- rokratischen Bescheide aus dem Familiennachlass vorliest, dazu g egenwärtige Aufnahmen von den Orten des vergangenen Geschehens und von Zügen, die unbeeindruckt ihren Weg nehmen. Zu den sorgfältigen Beschreibungen der ei- genen Zeit treten Kamerafahrten und Halbtotalen von gerichteten, doch nicht ankommenden Bewegungen. Mit den heutigen Zügen, die an verschiedenen Stationen koppeln, abkoppeln und zum Stehen kommen, erscheint ein Gegen- Entwurf zu einer bebilderten, chronologischen Geschichtsschreibung. Wir sehen Gleise ohne Züge, Waggons, die das ganze Bild verdecken, Züge aus der Ferne, Züge in die Ferne und Kameraeinstellungen mit dem Ohr auf den Gleisen, die Rollen beobachtend, Züge, die durch die Nacht fahren, Straßenbahnen mit ver- regneten Fenstern im Alsergrund und das betriebsame Warten am Ostkreuz. Die Züge sind Transferräume in der vorwärtsdrängenden Zeit. Auf den Schienen scheint alles einen immer schon geplanten Weg zu nehmen. Doch der Film konstruiert durch seine Bild-Ton-Montagen mehrgleisige Zeitver- läufe der Erinnerung und Erwartung aus den jeweiligen Gegenwarten heraus. In Zerbst, wo Wolfgang Heise als Zwangsarbeiter interniert war, steht heute ein verfallenes Gebäude, zugewachsen von Pflanzen und umgeben von neu gebauten Windrädern. Die Reise des Filmemachers an den Ort und die ge- genwärtigen schwarz-weißen Aufnahmen des Geländes erinnern nicht nur an das Geschehene. Im Intervall zwischen dem Schreiben und Lesen des Briefs, zwischen dem Erlebten und dem aktuellen Bild wird auch die Nachgeschichte und das Vergessen miterzählt. Die Stimme von Thomas Heise auf der Tonspur macht uns im Wiederlesen der Briefe zu Empfänger_innen von durch die Zeit gesandten Nachrichten. Die Berichte erreichen uns als Zuschauer_innen auch dort, wo die Bilder des Films am Nichtsichtbaren oder Vergessen-Gemachten eine Grenze finden, wo die Spuren historischer Ereignisse längst getilgt sind, wo Einstellungen nicht das erzählen könnten, was die eigene Vorstellungskraft dem Wortlaut der persönlichen Zeugnisse hinzufügen kann. Reparaturwissen – das Wissen um Nicht-Ersetzbares und die Vertrautheit mit Brüchen, Schnitten und Nähten – zeigt sich in der audiovisuellen Mon- tage des verstreuten, überlieferten Materials. Dieser explorierende, ausein- andernehmende und neu zusammenfügende Zugriff verschiebt die Fragen und Ausgangspunkte in der historiografischen Arbeit. Die bewahrende und zukunftsoffene Bearbeitung des Familienarchivs findet im Wissen um die Un / Lesbarkeit, die materiellen Abbauprozesse, die kontingente Überlieferung und die Unvollständigkeit von Dokumenten ein Verhältnis zur Vergangenheit, SCHWERPUNKT 17 ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Abb. 1 – 2 Heimat ist ein Raum aus das uns als Zuschauer_innen die Gegenwart als fremd und in ihrer Gemachtheit Zeit, Buch und Regie: Thomas noch unverstanden wahrnehmen lässt. Thomas Heise ‹auf Montage› zuzusehen Heise, DE/AT 2019, Screenshots bedeutet, die audiovisuelle Form des Films als Insistieren auf den Diffraktionen zwischen Bild und Ton, Schauplatz und Stimme, Anwesenheit und Geschichte wahrzunehmen. Die persönlichen Aufzeichnungen und amtlichen Schriftstücke aus dem Besitz der Eltern, der Romanistin Rosemarie Heise und des Philosophen W olfgang Heise, differenzieren das Bild vom Leben in der DDR. Die in den Texten verdichteten Ideen, die zeitgenössischen Erfahrungsberichte, die nach- träglich notierten Kindheitserinnerungen, die Freundschaften mit literari- schen und philosophischen Texten und die intensive Fernbeziehung zwischen Rosemarie und Udo in Mainz weisen immer wieder über die räumlichen und zeitlichen Grenzen der DDR hinaus. Der Film versammelt ab gebrochene Schreibversuche, Ausschnitte von Briefen, unfertig Erzähltes, keine ganzen Geschichten. Die Montage hält die schreibend behüteten Innenansichten aus dem Leben der Eltern in einer gewissen Distanz zu den kontemplati- ven Blicken auf den Außenraum. Was wird aus den Orten, wenn die Ereig- nisse vorüber sind, wenn niemand mehr verändernd eingreift und trotzdem noch etwas passiert? Die Gleise am Leipziger Bahnhof oder der l eere Hör- saal an der H umboldt-Universität (Abb. 1, 2) – sind diese präzise kadrier- ten Aufnahmen eines Stillstands ein Supplement oder ein Off in Relation zu 18 ZfM 27, 2/2022 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT anderen Repräsentationen der Geschichte? Und sind die Bilder der über- laufenen Bahnsteige am Ostkreuz und die Aufmerksamkeit der Kamera auf b eliebige Personen (Abb. 3, 4) Ansätze einer Materialorganisation, die Heises Film gegenüber örtlichen Festschreibungen auf Ost oder West löst? Heimat ist ein Raum aus Zeit erzählt eine gesamtdeutsche Geschichte aus einer ostdeut- schen Perspektive und setzt einer strukturellen Unaufmerksamkeit gegenüber der ‹vergangenen Gegenwart› der DDR ein Verfahren vorwärtslaufender und verzögernder Mikrogeschichten entgegen.32 Wissenschaft Ost Im letzten Kapitel von Heimat ist ein Raum aus Zeit sind in Detailaufnahmen 32  Vgl. Reinhart Koselleck: S tetigkeit und Wandel aller Zeitge- einige Kontaktabzüge zu sehen, die ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise schichten. Begriffsgeschichtliche und Heiner Müller belegen. In einem Text zur Geschichte der Kulturwissen- Anmerkungen, in: ders. (Hg.): Zeitschichten. Studien zur Historik, schaft an der Humboldt-Universität zu Berlin beziehen sich Holger Brohm Frankfurt / M. 2003, 246 – 264, und S ebastian Gießmann auf dieses Zusammentreffen: hier 248 f. 33  Holger Brohm, Sebastian Gießmann: Ästhetik und Kulturwis- Es gibt ein spätes, faszinierendes geschichtsphilosophisches Gespräch zwischen Hei- senschaft. Eine ‹intellectual history› ner Müller und dem Philosophen Wolfgang Heise. Datiert auf den 16. November der DDR, in: Andrea Allerkamp, 1986, mag es innerhalb der Konjunkturen des Vergessens für die Vielfalt und Wi- Gérard Raulet (Hg.): Kulturwissen- dersprüchlichkeit der kaum noch erinnerten Wissenskultur der DDR in den 1980er schaften in Europa, eine grenzüber- schreitende Disziplin?, Münster 2010, Jahren einstehen.33 137 – 158, hier 137. SCHWERPUNKT 19 ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Abb. 3 – 4 Heimat ist ein Raum aus Aber von welchen ‹Konjunkturen des Vergessens› ist hier die Rede? Und wa- Zeit, Buch und Regie: Thomas rum wird die Wissenskultur der DDR kaum erinnert? Es ist nicht nur Wolfgang Heise, DE/AT 2019, Screenshots Heise, der nach dem Fall der Mauer «in der aktuellen Inszenierung des Verges- sens verschwindet».34 Das Gespräch zwischen Heise und Müller erscheint als Tondokument in Heimat ist ein Raum aus Zeit. In diesem Austausch über Texte von Bertolt Brecht wird ein Verfahren der Heise-Filme deutlich, das einem Reparieren mit verfügbaren oder eigens produzierten Versatzstücken gleichkommt – nämlich Zeiten, Wörter und Bilder zu mischen, so dass sie keiner rein chronologischen Erzählform nachgehen, sondern eine ständige Gegenwart der Geschichte herstellen bzw. die Gegenwart als ständigen Kommentar der Geschichte er- scheinen lassen. 34  Heiner Müller zit. n. ebd., 138. 1986 in Ostberlin geht es Wolfgang Heise und Heiner Müller im Gespräch Wolfgang Heise verstarb 1987. um Brechts Literatur und Zeitgenossenschaft. Müller versteht die Figur des Seit 1995 sind der wissenschaftliche Nachlass und seine Bibliothek im Galilei als Brechts Sprachrohr, wenn sie sagt, der Mensch sei «nicht brüchig Wolfgang-Heise-Archiv an der genug».35 Und Müller fügt hinzu, dass sich schlimme Zustände konservieren, Humboldt-Universität zu Berlin zu- gänglich: www.sammlungen.hu-berlin. weil der Mensch zu viel aushalte. Drei Jahre später geht es in Ostberlin um de/sammlungen/wolfgang-heise-archiv/ Aufbrüche, um Zusammenbrechendes und um oft übersehene Formen des (18.5.2022). 35  Ebd., 2:58:20 – 2:58:56. Beharrens. Die ‹Wende›, die Währungsreform und die Wiedervereinigung 36  Steffen Mau: Lütten Klein. Leben wurden als mobilisierende und erduldete, angleichende und deklassierende, in der ostdeutschen Transformations- gesellschaft, Frankfurt / M. 2019, 12. Brüche moderierende und verstärkende Ereignisse beschrieben. Steffen Mau 20 ZfM 27, 2/2022 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT hat in seinen Studien zur gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland darauf hingewiesen, dass die Auffassung der ‹Wende› als «Moment der Diskon- tinuität» die Zusammenhänge verdecke, die «Menschen und ihre Biografien, Mentalitäten und soziale Praktiken» herstellen.36 Die Geschichte der Vereini- 37  Ebd. gung ist somit nicht als abgeschlossener oder einfach abzuschließender Über- 38  Von dieser Gegenwart künden gang zwischen getrennten Zuständen zu verstehen, sondern als «andauernde unterschiedliche habituelle Reper- toires und emotionale Stile, aber Restrukturierung und Veränderung».37 Maus Interesse gilt den Einbruchstellen auch Differenzen im Vermögen, in und den Verwerfungen in Sozialstrukturen und in Erlebnisweisen eines gesell- den Bildungschancen oder im öko- nomischen Handeln. Politische Ge- schaftlichen Zusammenhangs in Ostdeutschland. Er analysiert das Leben in der fühle wie ‹Ostscham›, ‹Oststolz› oder DDR, nach der DDR, mit der DDR. ‹(post)ostdeutsches Empowerment› sind verknüpft mit spezifischen Hal- Die DDR hat Bedeutung als ein Erfahrungsgehalt, der über Generationen tungen zur Presse, zur Rolle von Re- hinweg das Selbst- und Politikverständnis von Personen entscheidend prägt.38 präsentationen in der Politik und zur Demokratie. Nach einer vom SWR Und gerade das ‹Reparaturwissen DDR› bahnt einen Weg in diese Gegenwär- 2022 in Auftrag gegebenen Um- tigkeit. Denn Reparaturerfahrungen sind als eine (auch die Erinnerungen an) frage des Instituts für Demoskopie Allensbach denken 31 Prozent der in die DDR und die ‹Wendezeit› prägende Anpassungsarbeit zwischen Personen, Westdeutschland Lebenden, dass sie Dingen, sozialen und ökonomischen Handlungsräumen ebenso explorierbar in einer ‹Scheindemokratie› leben. In den Bundesländern im Osten sind wie die praktisch-technischen posthumanen Gefüge der aktuellen Repair- es 45 Prozent der Bevölkerung, vgl. Studies-Konjunktur. Eine solche Untersuchung kehrt nicht nur unsichtbare o. A.: Allensbach-Institut: 31 Prozent der Deutschen stellt politisches Sys- Arbeiten in Technikabläufen, Infrastrukturen und medialen Konstellationen tem in Frage, www.swr.de/swraktuell/ hervor, sondern erfasst die verunsichtbarte – oder mit Mau: verdeckte – diskon- baden-wuerttemberg/friedrichshafen/ allensbach-umfrage-zu-demokratie-in- tinuierliche Geschichte der DDR und ihrer ostdeutschen Nachfolge. deutschland-100.html (27.4.2022). SCHWERPUNKT 21 ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Medienwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem ‹Reparaturwissen DDR› könnten Jacksons Diktum von den verschiedenen Weisen, in denen wir in der und mit der materiellen Welt sind,39 bestätigen, indem sie zur weiteren Analyse einer «frakturierten»,40 mit Diskontinuitäten vertrauten Gesellschaft beitragen. Denn die anhaltende gesellschaftliche ‹Restrukturierung› lässt sich wie das Reparieren als Wandlungsprozess verstehen, der Diskontinuität und Dauer neu konfiguriert, ohne diese Spannung aufzulösen. In den 30 Jahren seit der ‹Wende› zeigen sich (neoliberale) Verwerfungen der persönlichen Zukunft, Prekarisierung, Irritationen von Lebensmodellen, gebremste Wohl- standsgewinne und neue polarisierende soziale Bewegungen klarerweise nicht nur im Osten, sondern auch im ‹ehemaligen Westen›.41 Nach der ‹Wende› ereignete sich an Universitäten und Hochschulen im O sten der stärkste institutionelle Bruch in den Sozial- und Geisteswissenschaf- ten.42 Der Hochschulforscher Peer Pasternack beschreibt die Schwierigkeiten, die der Transformationsmodus den jüngeren und mittleren ost- deutschen Wissenschaftlergenerationen bei der Integration in den neu organisier- 39  Vgl. Jackson: Repair as Transi- ten akademischen Betrieb bescherte. Deren Angehörige hatten noch in der DDR tion, 339. ihre ersten Schritte in der Wissenschaft absolviert und dann mit dem Umbruch ihre 40  Mau: Lütten Klein, 14. Zur Erläu- akademischen Lehrer und Netzwerke verloren. Aus beiden Generationen gelang es terung der Metapher vgl. ebd., 13 f. nur wenigen, sich gegen das in den ersten Jahren wirksame Stigma, in der DDR wis- 41  Vgl. das Forschungs- und Aus- stellungsprojekt Former West, das senschaftlich sozialisiert worden zu sein, in die neuen Strukturen zu integrieren. Es eine symmetrische und relationale mangelte den jüngeren Wissenschaftlern sowohl an der Einbindung in die nun re- Untersuchung der politischen, levanten Netzwerke als auch an habitueller Passfähigkeit. Sie stießen daher an eine gesellschaftlichen und ästhetischen gläserne Decke.43 Neuordnungen nach 1989 in Ost und West unternommen hat: formerwest. org/Front (15.4.2022). Pasternack stellt klar, dass der weitgehende Ausschluss der in der DDR soziali- 42  Vgl. für die Verhältnisse in sierten jüngeren Wissenschaftler_innen ohne größere Probleme möglich war, der Medienwissenschaft zum Stand- ort Weimar in den späten 1990er und weil für Stellenbesetzungen an den ostdeutschen Hochschulen ausreichend frühen 2000er Jahren Rembert Hüser: qualifiziertes Personal aus Westdeutschland zur Verfügung stand. Die wissen- Luft nach oben, in: ders.: Geht doch, hg. v. Hanna Engelmeier, Ekkehard schaftliche und soziokulturelle Entwertung der ostdeutschen Akademiker_in- Knörer, Berlin 2021, 175 – 208. Vgl. nen und der Elitentransfer von West nach Ost blieben nicht auf einen kurzen auch das Gespräch mit Dorothea Dornhof, Peer Pasternack und Gerd Zeitraum des Übergangs beschränkt.44 Es gab keine die Benachteiligungen bei Zimmermann in der Rubrik ‹Debatte› den Stellenbesetzungen im Osten ausgleichenden Karrieremöglichkeiten für in diesem Heft, 132 – 152. 43  Peer Pasternack: Erneuerung ostdeutsche Wissenschaftler_innen an westdeutschen Hochschulen. Die «zah- durch Anschluss? Der ostdeutsche lenmäßige westdeutsche Dominanz im akademischen Personal in Ostdeutsch- Fall ab 1990, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.): Gebrochene Wissenschafts- land [wäre] nur dann völlig unproblematisch gewesen», erklärt Pasternack, kulturen. Universität und Politik im «wenn sich alsbald auch eine dem ostdeutschen Bevölkerungsanteil entspre- 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, 309 – 326, hier 319. chende Veröstlichung des wissenschaftlichen Personals an den westdeutschen 44  Zum Elitentransfer von West Hochschulen ergeben hätte. Dies war nicht der Fall.»45 nach Ost vgl. auch Mau: Lütten Klein, 15, 178. Dies ist immer noch nicht der Fall. In der überwiegend westdeutsch so- 45  Pasternack: Erneuerung zialisierten Gesellschaft für Medienwissenschaft über die DDR zu sprechen, durch Anschluss?, 320. Vgl. auch Lisa Kuner: Wie ostdeutsch sind birgt das Risiko von Zuschreibungen des Putzigen, der Nostalgie oder des ostdeutsche Unis?, in: Frankfurter Ressentiments. Aufgrund unserer Theorieinteressen, unserer Biografien Allgemeine Zeitung, 18.2.2022, www.faz.net/-iyy-aluhx (28.4.2022). und unserer durch die ‹Wende› verkomplizierten, doch auch ermöglichten 22 ZfM 27, 2/2022 EINLEITUNG IN DEN SCHWERPUNKT Bildungsgeschichten sind uns solche Haltungen zur DDR fremd. Um den Trabant, Halloren-Kugeln oder das Erleben von Zurücksetzung soll es nicht gehen. Wir fragen uns und wir fragen jetzt Sie: Warum sind die Medien (-geschichten), Wissenskulturen und Archive der DDR in der Forschung und Lehre kein Thema? — Wir möchten der Redaktion der ZfM für die umsichtige organisatorische Unterstützung und den engagierten Austausch über das Schwerpunkt- Thema sehr herzlich danken. Ein großer Dank gilt auch allen Gutachtenden des Peer-Review-Verfahrens für die im Verborgenen geleistete, intensive Auseinandersetzung mit den Texten. Wir danken allen Gutachter_innen für die großzügig geteilten Überlegungen und die erfindungsreichen Reparatur-Empfehlungen! ULRIKE HANSTEIN, MANUELA KLAUT, JANA MANGOLD SCHWERPUNKT 23 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140204. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. U L R I C H R I C H T M E Y E R ZEN UND DIE KUNST JEDEN   MANGEL ZU REPARIEREN — I. Aluminium  Irgendwann am Ende der 1980er Jahre habe ich mir für die Reparatur mei- nes Fahrrads eine Unterlegscheibe durch das Durchbohren eines ‹Aluchips› hergestellt, wie die als relativ wertlos angesehenen DDR-Münzen manchmal genannt wurden. Dass der Metallbohrer hierzu das aufgeprägte Herrschafts- symbol aus Hammer und Zirkel durchfraß, hatte für mich, soweit ich mich er- innern kann, keine gesellschaftskritische Bedeutung. Wahrscheinlich fand ich es aber trotzdem ganz cool, das Geldstück, das Teil und Ausdruck einer stati- schen Erwachsenenwelt wie einer beklemmenden Gesellschaftsordnung war, durch meine spontane Handlung zu dem zu machen, was es genau in diesem Moment für mich bedeutete: eine verfügbare Metallscheibe in einer mechani- schen Reparatur. Dass dieses Tun auch eine zeitlose, philosophische Qualität haben könnte, war mir damals ebenso wenig bekannt wie Robert M. Pirsigs Buch Zen und die 1  Robert M. Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten (im Kunst ein Motorrad zu warten (1974). Darin empfiehlt der US-amerikanische Orig.: Zen and the Art of Motorcycle Autor einem Freund, für die Reparatur seines Motorrads eine «alte Bierdose» Maintenance), Frankfurt / M. 2021 [1974], 96. zu verwenden, die sei «das beste Unterlegmaterial, das du dir denken kannst».1 24 ZfM 27, 2/2022 Die vorgeschlagene Improvisation ist wesentlich durch die Materialeigen- schaften des Metalls motiviert: «Ich muß noch dazu sagen, daß Bierdosen-Alu- minium weich und schmiegsam ist, wie Metall es nur sein kann. Für den Zweck ideal.»2 Der Reparaturvorschlag wird aber trotzdem abgelehnt, weil sowohl die frühere Funktion als auch die mittlerweile eingetretene Nutzlosigkeit der Blechdose als symbolische oder ideelle Entwertungen des Motorrads missver- standen werden können und somit für den Freund inakzeptabel sind: «Ich h atte ihm zugemutet, seine neue Achtzehnhundert-Dollar-BMW, den Stolz e ines halben Jahrhunderts deutscher Mechanikerkunst, mit einem Stück Blech von einer alten Bierdose zu reparieren! Du meine Güte!»3 Für die Ablehnung der vorgeschlagenen Reparatur ist der gesellschaftliche Status des Materials also wichtiger als dessen technische Funktion. Dass er das für einen Fehler hält, unterstreicht Pirsig mit der erzählerischen Erfindung ei- ner nobleren Herkunft der Blechdose: Ich hätte unbemerkt an die Werkbank gehen, ein Unterlegstück aus der Bierdose schneiden, den Aufdruck entfernen und dann zurückkommen und ihm sagen sollen, wir hätten Glück, das sei das letzte Stück, das ich noch hätte, eigens aus Deutschland importiert. Das hätte gewirkt. Ein Spezial-Unterlegstück aus dem Privatbesitz von Baron Alfried Krupp, der es weit unter Selbstkostenpreis habe verkaufen müssen. Dann hätte er sich darum gerissen.4 Mit dieser erfundenen Herkunft betreibt Pirsig nicht nur eine ironische Auf- wertung des umstrittenen Materials. Er relativiert auch den kultur- und zeitge- schichtlichen Einfluss, der das Reparieren ermöglicht oder verhindert und der die soziale Bewertung dieses Tuns betrifft. Er wehrt sich dagegen, dass allgemei- ne Wertzuschreibungen seiner Zeitgenoss_innen auf die besondere Situation der Reparatur übertragen werden. Denn er will umgekehrt von einer philoso- phischen Qualität des Reparierens ausgehen, die darin besteht, dass dieses Tun Neubewertungen ermöglicht: «Bei der Motorradwartung muß man neu entde- cken, was man tut. Starre Wertvorstellungen machen das unmöglich.»5 Der Vergleich beider Anekdoten führt zu der Frage, wie wichtig der his- torische Kontext überhaupt ist, um verstehen zu können, was das Reparieren an einzelnen Orten und zu besonderen Zeiten bedeutet. Spezifisch im Sinne einer historischen Relativität des Reparierens ist im Falle der ersten Anekdote eine kulturelle Epoche, in der der Materialwert einer Landeswährung für be- deutender befunden werden kann als ihr Geldwert. Und die zweite Anekdote verweist auf eine kulturelle Epoche, in der industriell hergestellte metallische Hohlkörper als Einwegverpackungen für Getränke dienen und deshalb wenig gelten. In der DDR wiederum hätte man Bierdosen nicht zerschnitten, weil sie seltener waren als die Aluminiummünzen und manchmal sogar wie Tro- phäen gesammelt wurden. An solchen Beschreibungen lassen sich also histori- 2  Ebd., 97. sche Unterschiede ablesen. Aber reichen sie auch aus, um sagen zu können, in 3  Ebd., Herv. i. Orig. 4  Ebd., 98. welcher Weise das Reparieren eine US-amerikanische oder eine ostdeutsche 5  Ebd., 553, Herv. i. Orig. SCHWERPUNKT 25 ULRICH RICHTMEYER Spezifik hatte und ob in den 1970er Jahren anders repariert wurde als in den 1980er Jahren? Übersieht der Blick auf die historischen Bedingungen nicht den eigentlichen Sinn des beschriebenen Tuns? Seine Anlässe, seine Motive und Konsequenzen? Und wenn ein Stück Aluminium zweckentfremdet wird, um in einer mechanischen Montage als Unterlegscheibe zu dienen, dann spielt es für diese Improvisation eigentlich keine Rolle, ob dafür das Metall einer Münze oder einer Bierdose verwendet wird. Sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Fallbeispielen des Reparierens also vielleicht sogar stärker als die Unterschiede? II. Neolithikum Jenseits historischer Bedingungen und sozialer Bewertungen scheint das Repa- rieren eine Spielart jener zeitlosen Universalkompetenz des Bastelns zu sein, die Claude Lévi-Strauss 1962, also zwölf Jahre bevor Pirsigs Buch erschien, in seiner «Wissenschaft vom Konkreten» als eine seit dem Neolithikum beste- hende menschliche Wissenspraxis beschrieben hatte.6 Es handelt sich um eine komplementäre Art «wissenschaftlicher Erkenntnis»,7 die einer «Logik der Sin- neswahrnehmung» folgt und dabei eine «Ausbeutung der sinnlich wahrnehm- baren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren» betreibt.8 Interpretieren wir den Begriff des Reparaturwissens aus der Perspektive der Bricolage, so han- delt es sich nicht um ein historisch informiertes Wissen über das Reparieren, sondern um ein diese Praktiken ermöglichendes und in ihnen zugleich hervor- gebrachtes Wissen. Gleichwohl lässt es sich historisch situieren. In Reclams voluminösem Band Praktisches Wissen von 1927 geht es z. B. um den Selbstbau von Rundfunktechnik, modischen Hüten oder Hühnerställen.9 Ein Reparaturwissen, das aus solchen händischen Praktiken stammt, muss es aber schon gegeben haben, seitdem Menschen Artefakte herstellen und n utzen. Und nichts spricht gegen die Annahme, dass bereits im Neolithikum durch Abnutzung in ihrer Funktion beeinträchtigte Artefakte (Kleidung, landwirt- schaftliche Werkzeuge, Teile der Behausungen usw.) instandgesetzt wurden, wenn das Material es hergab. Laut Lévi-Strauss führen die französischen Bast- 6  Claude Lévi-Strauss: Die Wissenschaft vom Konkreten, in: ler_innen der 1960er Jahre diese neolithische Wissenschaft vom Konkreten ders.: Das wilde Denken (im Orig.: weiter, die ihre Geltung damit nie verloren hat: La pensée sauvage), Frankfurt / M. 2013 [1962], 11 – 48. 7  Ebd., 30. Im Übrigen hält sich bei uns eine Form der Tätigkeit, die es uns auf technischem Gebiet 8  Ebd., 29. 9  Reclam Praktisches Wissen, sehr wohl ermöglicht, das zu begreifen, was auf dem Gebiet der Spekulation einmal eine Leipzig 1927. Darin: «Praktische Wissenschaft sein konnte, die wir lieber eine ‹erste› als eine primitive nennen wollen: Ratschläge zum Bau von Detektor- die Tätigkeit nämlich, die allgemein mit dem Ausdruck bricolage (Bastelei) bezeichnet apparaten, Röhrengeräten, wird. […] Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt S perrkreisen und Sendern» (307), und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind.10«Ich kann meinen Hut selbst herstellen» (516), «Wie baue ich einen Hühnerstall?» (764). Gegen Lévi-Strauss muss man jedoch einwenden, dass gerade die Abwegig- 10  Lévi-Strauss: Wissenschaft vom Konkreten, 29. keit der Mittel das ist, was das Reparaturwissen historisch relativ macht und 26 ZfM 27, 2/2022 ZEN UND DIE KUNST JEDEN MANGEL ZU REPARIEREN das Basteln des Neolithikums grundsätzlich von dem des fortgeschrittenen Industriezeitalters trennt. Denn die Abwegigkeit verdankt sich keineswegs ei- nem Spleen der Bastelnden, sondern der Differenz der aufeinandertreffenden Produktionsweisen. Bastler_innen bleiben Handwerker_innen, auch wenn ihre universalen Fähigkeiten, improvisierten Methoden und vielschichtigen Motive eigentlich jede berufsspezifische Handwerksordnung zu sprengen drohen. So wie Pirsig, wenn er die Zündkerzen seines Motorrads wartet: «Ich hole ein Ta- schenmesser hervor, hebe ein Stöckchen auf, das im Rinnstein liegt und spitze es am einen Ende zu, um die Kerzen zu säubern, wobei ich überlege, was der Grund für das zu fette Gemisch sein könnte.»11 Die Objekte des Bastelns wie des Reparierens sind in der Moderne meis- tens Industrieprodukte, die halb- oder vollautomatisiert entstehen und in der Reparatur erstmalig einem universell tätigen menschlichen Wesen begeg- nen. Anders gesagt, es gibt kein industrialisiertes Reparieren, auch wenn das R eparieren im 20. Jahrhundert zunehmend mit Industrieprodukten konfron- tiert ist. Genau damit weicht das moderne Basteln aber in einem wesentlichen Punkt von seinen historischen Vorgängern ab. Denn diente die sinnlich agie- rende Wissenschaft vom Konkreten in der neolithischen Vorgeschichte dem Verständnis und der Beherrschung der Welt, insbesondere der natürlichen Lebensumgebung des Menschen, so wendet sie sich in den modernen Indus- triegesellschaften vor allem den vorgefundenen Artefakten der jüngeren Kul- turgeschichte zu: «Man könnte versucht sein zu sagen, der Ingenieur befrage das Universum, während der Bastler sich an eine Sammlung von Überbleib- seln menschlicher Produkte richte, d. h. an eine Untergruppe der Kultur.»12 So sind «die Elemente, die der Bastler sammelt und verwendet, bereits von ‹vornherein eingeschränkt›», wie es heißt.13 Das macht das Basteln aber auch zur Erfindungskunst, denn es formt aus «Überresten von Ereignissen» neue «Strukturen».14 Hinsichtlich dieser erfindenden Qualitäten könnte das Reparieren vom Basteln abweichen, weil Ersteres ja bemüht ist, die technischen Funktionen der Dinge weitgehend wiederherzustellen. Neu sind jedoch die im Reparieren verwendeten Materialien und beschrittenen Wege, aus denen sich laut Pirsig ein tieferes Verständnis der gesamten technischen Kultur gewinnen lassen soll, insofern sie zeigen, dass sich jedes technische Ziel materiell und methodisch auf ganz unterschiedliche Weise erreichen lässt. Auch in der prinzipiellen Aufwertung der ‹Überreste von Ereignissen› und der ‹Überbleibsel menschlicher Produkte›, von denen Lévi-Strauss spricht, gleicht das Reparieren dem Basteln. Und beide führen in den modernen I ndustriegesellschaften ein anachronistisches Dasein in der Ungleichzeitigkeit. Denn als weiter hin handwerkliche, körpertechnische, erfahrungsbasierte und 11  Pirsig: Zen und die Kunst, 167 f. 12  Lévi-Strauss: Wissenschaft auf technisches Grundlagenwissen gestützte Kompetenzen werden sie in den vom Konkreten, 32. Industriegesellschaften nicht mehr geduldet, «es sei denn als Hobby oder als 13  Ebd. 14  Ebd., 35. Zeitvertreib».15 15  Ebd., 48. SCHWERPUNKT 27 ULRICH RICHTMEYER Abb. 1 – 4 flüstern & SCHREIEN. Mit Pirsig und Lévi-Strauss können wir das Reparieren also als eine etwas ein rockreport, Regie: Dieter randständige Praktik in den westlichen Industriegesellschaften des 20. Jahrhun- Schumann, DDR 1988 (Screen- shots) derts beschreiben. Aber was soll am Reparieren so spezifisch sein, dass es sich mit der Geschichte der DDR verbinden lässt? Gab es zu dieser Zeit etwa eine besondere Häufigkeit, Variabilität oder Exklusivität von Reparaturpraktiken? War es dort eventuell mehr als ein ‹Hobby oder Zeitvertreib›? III. Flüstern, schreien und reparieren Diese Fragen möchte ich nun exemplarisch dort betrachten, wo das Reparie- ren eher zufällig und ungeplant auffällig wird. So tritt es etwa in einem Doku- mentarfilm auf, der in staatlichem Auftrag von der DEFA hergestellt wurde und als Studie zur musikalischen Jugendkultur der ausgehenden 1980er Jahre eigentlich ein ganz anderes Thema als das des Reparierens verfolgte. Der heute noch sehr sehenswerte Film trägt den Titel flüstern & SCHREIEN. ein rockreport und wurde nach seinem erfolgreichen Kinostart im Oktober 1988 sehr schnell zensiert.16 Das Filmteam begleitete über einen längeren Zeitraum einige schon etablierte und andere sich noch findende Bands auf ihre Konzerte und inter- viewte dabei regelmäßig die Musiker_innen und ihr jugendliches Publikum. Un- geplant begegnete die Filmcrew dabei auch der jungen Punkcombo Feeling B, die vermutlich w egen ihrer ästhetischen Expressivität im späteren Film eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen beginnt. Obwohl das zentrale Thema des Dokumentarfilms die Lebensentwürfe der Musiker_innen sowie der Musikge- 16  flüstern & SCHREIEN. ein rockreport, Regie: Dieter Schumann, schmack und das L ebensgefühl der DDR-Jugend sind, zeigt eine Szene den Re- Drehbuch: Dieter Schumann, Jochen paraturstopp für den Bandbus von Feeling B an einer Art Dorfschmiede oder Wisotzki, Kamera: Michael Lösche, Montage: Ingeborg Marszalek, Schlosserei. Die Szene beginnt mit einer mehrdeutigen Betrachtung des Sängers Karin Schöning, DDR 1988. Online: der Band, Aljoscha Rompe, über ihre materielle Not: «Wir sind eigentlich ziem- www.bpb.de/mediathek/video/264590/ fluestern-und-schreien (21.4.2022). lich ruiniert. […] Ich glaube, es funktioniert immer, wenn es den Leuten dreckig 28 ZfM 27, 2/2022 ZEN UND DIE KUNST JEDEN MANGEL ZU REPARIEREN geht. […] Oder wenn es ihnen nicht so gut geht. Uns geht’s ja nicht dreckig.»17 Dann sehen wir ihn mit zwei namenlosen Handwerkern im Blaumann einige Rostschäden an der Karosserie des Busses betrachten, ohne dass wir erkennen können, was genau das Problem ist (Abb. 1). Anschließend zieht die Band in die Schmiede um. Rompe bearbeitet un- ter Anleitung eines älteren Schlossers oder Schmieds ein reparaturbedürftiges M etallstück des Busses auf dem Amboss (Abb. 2), während sich die beiden an- deren Musiker, die späteren Rammstein-Mitglieder Christian (Flake) Lorenz und Paul Landers, zwischen den altertümlichen Maschinen mit Mikrofon und Keyboard musizierend einrichten (Abb. 3 und 4). Die Szene wirkt in ihrer filmischen Opulenz wie der Probedreh eines Musik- videos, und obwohl in ihr gemäß der alten Direktive des ‹Bitterfelder Wegs› die produzierende Arbeiterschaft der Kunst begegnet, hat sie bestimmt keine repräsentative Bedeutung für die offizielle DDR-Kultur der 1980er Jahre. Mit der im Film dann unmittelbar folgenden Szene wird die Erzählung aber doch noch gesellschaftlich repräsentativ. Und zwar weniger für die musikalische Subkultur als für die Bedeutung des Reparierens, Bastelns und Selbermachens in dieser Zeit. Wir sehen Landers und Lorenz (Abb. 5): Auf dem Bettrand im Kinderzimmer der elterlichen Wohnung sitzend erläutert Lorenz, wie er sei- nen Lebensunterhalt als Musiker über eine kunsthandwerkliche Produktion von Schmuck und Kleidung zu bestreiten versucht, wobei er eingesteht, über- 17  Ebd., ab 1:24:48, eig. Tran- haupt kein guter Bastler zu sein (Abb. 6 und 7): skription. Diese Haltung spitzt Paul Landers im Rückblick zu: «Im Osten Irgendwie hab ich dann versucht, so zu basteln, so das Klamottennähen und das liegt war Geld völlig egal, da war Party, im Westen läuft ohne Geld keine Party.» mir total fern und das Ohrringmachen, bin ich nicht geschickt genug. […] Und mit Paul Landers, zit. n. Ronald Galenza, den Wicklern ist es auch nicht so gelaufen. […] Ich bau die im Prinzip auf Auftrag Heinz Havemeister: Feeling B. Mix für einen Friseur, und die sind hier die schlimmsten, die gelben, und die sind für mir einen Drink, Punk im Osten, Berlin Stocklocken. […] Die gibt’s im Westen, da kosten sie ’ne Mark West und ich mach’s 2002, 247. 18  Ebd., ab 1:27:16, eig. dann so für ’ne Mark Ost.18 T ranskription. SCHWERPUNKT 29 ULRICH RICHTMEYER Abb. 5 – 7 flüstern & SCHREIEN. Die Einstellung endet mit einer etwas diffusen Beschreibung verschiedener ein rockreport, Regie: Dieter Kräuter, die Lorenz für selbstgemachte Gesundheitstees zum Trocknen ausge- Schumann, DDR 1988 (Screen- shots) legt hat. «Das ist Johanniskraut, das hilft immer.»19 Die Aufeinanderfolge der beiden Filmszenen ist vom Regisseur sicher be- wusst gewählt, denn Sequenzen aus der Einstellung im Kinderzimmer fi nden sich auch an weiteren Stellen des Films, wo sie sich allerdings auf andere Themen beziehen. Die hier besprochene Szenenfolge gibt somit Einblick in ein ganzes Spektrum verwandter Lebenspraktiken, das ausgehend von den Musiker- schicksalen auf eine alltägliche (Sub-)Kultur der Selbstermächtigung verweist. Das Reparieren des alten Busses und die kunsthandwerkliche Herstellung von Schmuck und Kleidung sowie die Do-it-yourself-Produktion friseurtechnischer Instrumente und Gesundheitstees werden als miteinander verwandte Praktiken des Herstellens, Bastelns und Improvisierens erkennbar und korrelieren letztlich auch mit der musikalischen Selbstermächtigung der Punk-Bewegung. Ist es aber ein ökonomischer Mangel, der dieses Handeln spezifisch macht? Indem das Reparieren und das Basteln zu einer selbstermächtigenden 30 ZfM 27, 2/2022 ZEN UND DIE KUNST JEDEN MANGEL ZU REPARIEREN Erfindungskunst werden, verlieren sie eigentlich ihr kulturgeschichtliches Alleinstellungsmerkmal für die DDR, wie der Blick auf die gesamtdeutsche Do-it-yourself-Bewegung zeigt. Ein westdeutscher Wörterbucheintrag erläu- tert zudem ihre internationale Herkunft: Do it yourself ! (… = tu es selbst !), nach dem 1. Weltkrieg von der Industrie in den USA geprägtes Schlagwort (später auch in Europa propagiert) für handwerkl. Selbst- hilfe. Die Idee entwickelte sich insbes. infolge des sinkenden Handwerkerangebots und durch das von der Industrie bereitgestellte Halbfertigmaterial (bis zum Hausbau aus vorgefertigten Teilen) zu einer (Freizeit)-bewegung.20 Für die ostdeutsche Gesellschaft spielte dabei nur der erste Aspekt, das Fehlen ausreichender handwerklicher Angebote, eine Rolle. Die Universalkompetenz des Selbermachens folgt also verschiedenen Ur- sachen, kann aber auch verschiedene Ziele haben. Sie kann kunsthandwerk- lich Neues ebenso erschaffen (Kleidung) wie Altes reparieren (Oldtimer). Sie kann der individuellen Selbstverwirklichung angesichts industriell normierter Waren (Ohrringe) ebenso dienen wie dem privaten gesundheitlichen Interes- se (Kräutertees) oder dem sozialen Ausgleich jener kleinen Unterschiede, die aus der limitierten Verfügbarkeit von Konsumartikeln resultieren (Locken- wickler). Sie kann auch einfach nur eine angesagte Mode sein (do it yourself) 19  Ebd., 1:28:34, eig. Transkription. und damit als ein Reparaturwissen relativ unabhängig vom umgebenden Wirt- 20  Do it yourself, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, schaftssystem vorkommen. Bd. 7, Mannheim u. a. 1970, korri- Auch die Kritik der Bewegung hat unterschiedliche Ursachen zutage ge- gierter Nachdruck 1980, 43. Dem Eintrag folgt eine ungewöhnlich fördert: «Daß diese Jugendbewegung der Erwachsenen, diese Gier, zwecks lange Aufzählung von Titeln der Rat- Erholung von Belieferung mit Fertigwaren, in eine frühere Produktions- geberliteratur der 1960er und 70er Jahre mit dokumentarischem Wert. stufe zurückzuspringen […] erfolglos bleiben muß», hat Günther Anders 21  Günther Anders: Die Antiquiert- in seiner präzisen Kritik an dem «verhältnismäßig jungen Hobby, der unter heit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen dem S logan ‹do it yourself› grassiert», betont.21 «Millionen verbringen nun Revolution, München 1985, 202, 201. SCHWERPUNKT 31 ULRICH RICHTMEYER nämlich ihre Muße damit […] die Dinge, die sie an der nächsten Ecke kau- fen könnten, selbst zu basteln.»22 Da solch ein Kauf an der nächsten Ecke in der DDR oftmals nicht möglich war, könnten also Not oder Mangel dem Reparieren zu einer höheren statistischen Häufigkeit wie historischen Spe- zifik verholfen haben. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Diagnose des Mangels eine differenziertere Bewertung der Ursachen und Motive des Re- parierens verhindert. IV. Der große Mangel Denn aus jeglicher Not machten auch schon Lévi-Strauss’ französische Bastler der 1960er Jahre eine Tugend: Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszu- führen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon ab- hängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind […], die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen.23 Diese Haltung, «jederzeit mit dem, was […] zur Hand ist, auszukommen», findet sich auch in einem für die DDR sehr prominent gewordenen Satz des Leipziger Schriftstellers Erich Loest wieder: Es geht seinen Gang sagten die Leute, wenn sie ausdrücken wollten, daß es bei der Besorgung eines Autoreifens, eines Sacks Zement, eines Kastens guten Bieres und eines Klempners zwar nicht kalkulierbare Schwierigkeiten geben werde, aber i rgendwie werde man es schon hinkriegen.24 Gleichwohl ist die Rede vom Mangel aber auch missverständlich, weil sie für die DDR eine homogene ökonomische Notlage unterstellt. Und doch gab es keinen generellen Mangel an lebensnotwendigen Produkten, oder in anderen Worten, keine hungernden Menschen. Gerade weil die Lebensmittel großzügig subventioniert wurden, konnte es sogar zu Verschwendungsexzessen kommen, die dann wiederum einen partiellen Mangel auslösten: «Die Gerüchte wollten nicht verstummen, daß die Leute sogar ihre Karnickel und Schweine mit den subventionierten Backwaren fütterten.»25 Auch Hamsterkäufe kamen vor und erzeugten sowohl neue partielle Mängel als auch unnötige private Reserven: «Natürlich treibt jeder Mangel die Nachfrage in die Höhe. Und dies führte zu dem bekannten Phänomen, daß die Läden leer und die Vorratskammern und 22  Ebd., 201. Kühltruhen voll waren.»26 23  Lévi-Strauss: Wissenschaft vom Konkreten, 30. Neben diversen ökonomischen Einschränkungen gab es vermutlich noch 24  Loest zit. n. Stefan Wolle: einen deutlich empfundenen Mangel an individuellen Ausdrucksformen und Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989, damit verbunden – verstärkt durch die mediale Präsenz des westlichen Life- Bonn 1998, 228. styles – eine ästhetisch begründete Verachtung des dinglich Vorhandenen. Pierre 25  Ebd., 192. 26  Ebd., 193. Bourdieus ‹feine Unterschiede›, die in den westlichen Industriegesellschaften 32 ZfM 27, 2/2022 ZEN UND DIE KUNST JEDEN MANGEL ZU REPARIEREN soziale Distinktionen erlaubten, traten in Ostdeutschland als grobe, explizite Unterschiede auf, die sich entweder ökonomisch, durch Westverwandtschaft oder Devisen, oder bastelnd, durch Reparaturen, Kunsthandwerk, Upcycling, do it yourself sowie eine alternative und subkulturelle Produktion von Musik, Grafik, Lyrik, Fotografie, Film, Performances, Kleidung, Schmuck etc., kom- pensieren ließen.27 Und umgekehrt war die offizielle Konsumgüterproduktion der 1980er Jahre schon obsolet, bevor die entsprechenden Waren überhaupt den Markt betreten hatten. So bilanziert der Soziologe Wolfgang Engler: Die funktionelle Güte der Dinge befriedigte immer weniger, ihr Erscheinungsbild wirkte wie festgefroren, moralisch waren sie bereits verschlissen, ehe sie überhaupt einen Käufer gefunden hatten. Als ihre gesamte Dingwelt 1989 von einem Tag auf den anderen entwertet und wie Müll weggeworfen wurde, hatten die Ostdeutschen die Freude an ihr längst verloren.28 Diese ästhetische Verachtung des Vorhandenen ging von einem massiven ide- ellen Mangel aus, der durch die Spielarten des Reparierens behoben werden konnte. Etwa durch das Upcycling des Alten, der alten Bauernschränke, Lampen, Dosen oder Taschen, das in der DDR ab den 1960er Jahren mit großer Intensi- tät betrieben wurde und keinen genuin ökonomischen, sondern vor allem einen ästhetischen Mangel kompensierte. So resümiert Stefan Wolle in Die heile Welt der Diktatur: Gegen Ende der sechziger Jahre war die Nostalgie-Welle erbarmungslos über die DDR hereingebrochen. […] Danach waren Leuchtstoffröhren konformistisch, P etroleumfunzeln dagegen schick, Plastemöbel seelenlos, Omas Plüschsofa aber in- dividualistisch. Den Stuck an der Decke, der noch wenige Jahre zuvor erbarmungs- los dem Stemmeisen zum Opfer gefallen wäre, restaurierte man nun liebevoll, holte alte Küchenschränke vom Müll, schliff sie ab und beizte sie und wertete Messing- bratpfannen als Prunkstücke jeder Küche.29 Das Upcycling macht alte Gegenstände wieder funktionsfähig, ohne wirklich aus der Not geboren zu sein, denn es gibt ja alternative Gebrauchsgegen- stände, die funktionieren. Der Mangel, der mit dieser Form der Reparatur behoben wird, kann ein ökologischer sein, wenn damit eine Form der Res- sourcenvergeudung korrigiert werden soll. Für die Liste der angeführten Beispiele ist aber wahrscheinlich ein ästhetischer Mangel leitend und darin könnte ein Unterschied zum Upcycling an anderen Orten und zu anderen 27  Ausführlich dokumentiert in Zeiten bestehen. Ronald Galenza, Heinz Havemeister In der Rückschau wird man das Gefühl nicht los, dass das Reparieren in der (Hg.): Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop, Independent- Mangelgesellschaft DDR spätestens in den 1980er Jahren keinen existenziel- Szene in der DDR 1980 – 1990, Berlin len oder ökonomischen Mangel beheben sollte, obwohl es diesen natürlich gab, 1999. 28  Wolfgang Engler: Die Ostdeut- sondern vor allem einen ästhetischen. Praktiken wie Reparieren, Basteln, do it schen. Kunde von einem verlorenen Land, yourself und Upcycling erlaubten, inmitten der Ödnis homogener Konsumgü- Berlin 2000, 214. 29  Wolle: Die heile Welt der Dikta- ter ähnliche feine Unterschiede zu erschaffen, wie man sie an der westlichen tur, 219. SCHWERPUNKT 33 ULRICH RICHTMEYER Kultur im Abendfernsehen bewundern konnte. Wenn das Ziel der ästhetischen Individuation und Expression in den westlichen Wohlstandsgesellschaften aber scheinbar schon erreicht war, aus welchem Grunde hätte dort dann noch repa- riert werden sollen? Gab es im ‹Westen› etwa andere Ziele des Reparierens, die auf andere Ursachen reagierten? V. Seelenfrieden statt geplanter Obsoleszenz Damit kommt eine weitere historische Bedingung in den Blick, die die Prakti- ken des Reparierens differenziert. Die klassische Ursache jeder Reparatur ist ja das technische Versagen, und im ‹Osten› versagten die Dinge fast ausnahmslos durch zu langen Gebrauch. Im ‹Westen› gab es außerdem die geplante Ob- soleszenz der Produkte, ein Luxus, den sich der Ostblock aus ökonomischen Gründen nicht leisten konnte. Die geplante Obsoleszenz, die als Begriff und Konzept erstmals 1932 in dem programmatischen Aufsatz «Ending the Depression Through Planned Obsolescence» von Bernard London beschrieben wurde,30 war dort ursprüng- lich als hilfreiche Maßnahme zum Erhalt von Arbeitsplätzen konzipiert. London schlug für die Wachstumssicherung der US-amerikanischen Wirt- schaft ein bewusst herbeigeführtes frühzeitiges Ende der Nutzbarkeit von In- dustrieprodukten vor: «Furniture and clothing and other commodities should have a span of life, just as humans have.»31 Im Unterschied zu menschlichen Wesen sollte dieses Ende aber ingenieurtechnisch vorweggenommen werden: «The original span of life of a commodity would be determined by competent engineers, economists and mathematicians, specialists in their fields, on be- half of the Government.»32 Der mit der geplanten Obsoleszenz eingeschlagene ‹neue Weg des Den- kens› unterdrückt jegliche Nachhaltigkeit und damit auch die Praktiken des Reparierens: Of course, the inauguration of such a system of planned obsolescence will be op- posed by many merely because it is new, for it is hard for us to abandon our old notions and adjust ourselves to a new way of thinking.33 In der ostdeutschen Wirtschaftsordnung, die sich aufgrund von Ressourcen- knappheit keine geplante Obsoleszenz leisten konnte, kam dem R eparaturwissen deshalb eventuell ein anderer Status zu, der zu einer höheren statistischen Häufigkeit von Reparaturen oder auch zu einem facettenreicheren Repara- 30  Bernard London: Ending the turwissen geführt haben könnte. So wäre etwa ein stärkeres Überdauern des D epression Through Planned Obsoles- cence. New York 1932, Digitalisat alten Reparaturwissens aus dem 19. Jahrhundert, der Kaiserzeit, den beiden einsehbar unter babel.hathitrust.org/ Weltkriegen und der Zwischenkriegszeit denkbar, solange sich Produkte aus cgi/pt?id=wu.89097035273&view=1up &seq=7 (21.4.2022). dieser Zeit erhalten haben. Und es gab in der DDR umgekehrt Produktent- 31  Ebd., 11. wicklungen, die explizit so dauerhaft (z. B. Glühbirnen) oder so reparabel sein 32  Ebd., 12. 33  Ebd., 16. sollten wie heutzutage das Fairphone (z. B. das Simson-Moped). Hierbei wird 34 ZfM 27, 2/2022 ZEN UND DIE KUNST JEDEN MANGEL ZU REPARIEREN das Reparaturwissen für eine vorausschauend geplante, zukünftig mögliche Reparatur programmatisch aufgewertet. In einer Obsoleszenzwirtschaft wird das klassische Reparaturwissen jedoch selbst obsolet. Das Bewahren wird zum Problem: «People everywhere are to- day disobeying the law of obsolescence. They are using their old cars, their old tires, their old radios and their old clothing much longer than statisticians had expected on the basis of earlier experience.»34 In diesem Kontext lässt sich die Aufwertung des Reparierens als eine west- liche Kompensationsbewegung zur geplanten Obsoleszenz verstehen, als eine meditative Zen-Praxis und Teil einer Sinnsuche, die jenseits der klassischen Subjekt-Objekt-Differenz ereignishafte Qualitäten im handwerklichen Tun freisetzt. Der ‹ungehorsame› Motorrad-Reparateur Pirsig sucht in der west- lichen Konsum- und Industriekultur eine gehaltvollere Beziehung zwischen Mensch und Technik, um «den inneren Seelenfrieden in der technischen Ar- beit» zu erlangen und damit ein paar alte «Bewußtseinskanäle» zu vertiefen, die unter den modernen Massenmedien wie «Rundfunk, Film und Fernsehen» verflacht sind oder zugeschüttet wurden.35 Als eine «Liebe zur Sache» und ein «Gefühl der Identifikation mit dem, was man tut», ist der Seelenfrieden laut Pirsig jener ignorierte Aspekt technischen Handelns, den es im R eparieren neu zu entdecken gilt und der durchaus der Kunstproduktion oder den Meditations übungen des Zen-Buddhismus gleicht.36 «Seelenfrieden erschafft richtige Werte», heißt es bei Pirsig,37 aber gab es ihn als Motiv des Reparierens exklusiv im ‹Westen›? Technische Bauanleitungen sollten nach Pirsig mit Sätzen wie diesem begin- nen: «Die Montage japanischer Fahrräder erfordert großen Seelenfrieden.»38 Ich kenne diesen Seelenfrieden und bezweifle deshalb, dass er von den histo- risch jeweils besonderen Bedingungen seines Vorkommens auch qualitativ ab- hängig ist. Als Kind fuhr ich ein Rennrad mit Schlauchreifen. Ein Schlauch- reifen ist ein schmaler Rennradreifen, in dem Mantel und Schlauch zu einer Einheit verbunden sind. Wenn der Schlauch undicht wird, muss man ihn mit- samt dem Mantel wegwerfen und einen neuen kaufen. In einer Gesellschaft des Mangels ist das nicht möglich. Also habe ich gelernt, die umlaufende Naht des Reifens wie ein Chirurg aufzutrennen, den Schlauch zu flicken und das Ganze dann wieder sorgfältig zusammenzunähen. Ich erinnere mich sehr gut an das Hochgefühl, das sich bei mir einstellte, nachdem ich das erste Mal solch einen Reifen repariert hatte und dann erfolgreich in Gebrauch nahm. Meine trotz und wegen des Mangels letztlich glückliche Reparaturerfahrung bestätigt Pirsig inmitten des US-amerikanischen Wohlstands. «Ein Motorrad 34  London: Planned Obsoles - zu fahren, das selbst gebastelte Teile enthält, vermittelt einem ein Gefühl, wie cence, 4 f. man es auf einem mit ausschließlich im Laden gekauften Teilen wohl nie haben 35  Pirsig: Zen und die Kunst, 525, 20. wird.»39 Der zeitlose Effekt der universalen Kulturtechnik des Reparierens be- 36  Beide ebd., 527. schränkt sich jedoch nicht auf die Dimension der biografischen Gefühle. Viel- 37  Ebd., 528. 38  Ebd., 289. mehr liegt dem jeweils empfundenen Seelenfrieden ein exklusives Verhältnis 39  Ebd., 552. SCHWERPUNKT 35 ULRICH RICHTMEYER zur Technik zugrunde, das deren im instrumentellen Gebrauch ignorierte V ariabilität erkundet, entfaltet und diese Sinnstiftung als eigentliches Hand- lungsziel begreift. Deshalb erschöpft sich die Selbstermächtigung im Repa- rieren auch nicht in der Wiederherstellung verloren gegangener technischer Funktionen. Die Kulturtechnik des Reparierens ist vielmehr eine sinnstiftende Interpretationsmacht des Verhältnisses von Mensch und Technik, die auf ver- schiedene historische, ökonomische und kulturelle Bedingungen reagiert und sich in der letzten und subtilsten Konsequenz auch noch korrektiv auf den B egriff der Kulturtechnik selbst beziehen lässt. «Das Besondere am Reparieren ist, dass es uns ermächtigt», schreibt Kyle 40  Kyle Wiens: Ich bin Repara- teur. Ein Manifest für die digitale Wiens in seinem programmatischen Bekenntnis «Ich bin Reparateur. Ein Revolution, in: Andrea Baier, Tom M anifest für die digitale Revolution».40 Der Mangel mag, wie der Überfluss, Hansing, Christa Müller, Katrin Werner (Hg.): Die Welt reparieren. historisch relativ und damit spezifisch sein, aber die Handlung ist gewisserma- Open Source und Selbermachen als ßen zeitlos, weshalb sie gegenwärtig in vielen postkapitalistischen Praktiken postkapitalistische Praxis, Bielefeld 2016, 111 – 118, 112. wiederkehrt, die nichts Geringeres beanspruchen, als die Welt zu reparieren. — 36 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140205. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. J O H A N N A K Ä S M A N N REPARIEREND(ES) SCHREIBEN — «Der Heizer» von Wolfgang Hilbig Immer gab es Pannen, die behoben werden mussten. Die Fähigkeit, etwas reparieren zu können, besaßen ganze Generationen in der DDR. Dafür wird auf dem Welt- markt nicht bezahlt. […] Das ist eine Seite der Welt, die nicht dem Markt entspricht, aber sie spiegelt die mensch- liche Arbeitskraft. Das ist eine Geschichte, vor der ich Achtung habe, und die noch nicht geschrieben ist.1 So formuliert es Alexander Kluge mit Blick auf die DDR und die deutsche Wie - dervereinigung. Zunächst verwundert diese Aussage: In der DDR, die nach dem Selbstverständnis der SED ein ‹Arbeiter- und Bauernstaat› war, wurde keine Geschichte über das Reparieren als eine der zentralen Tätigkeiten des Handwerks geschrieben. In einem Staat, der mit seinem propagierten sozialis- tischen Realismus auch literarisch gezielt die Arbeitswelt in den Blick rückt, ist genau dort eine Leerstelle. Abgenutztes, Ermüdetes, Obsolet- Gewordenes sowie der pragmatische Umgang damit scheinen nicht in das s ozialistische Ge- sellschaftsmodell zu passen. Die Fähigkeiten des Reparierens herauszustellen, wäre für den Führungskader geradezu eine Affirmation der Kluft zwischen Ideologie und Praxis und ein Zugeständnis an den politischen Gegner, sich als sozialistisches Land nicht in internationale wertschöpfende Entwicklungs- 1  Alexander Kluge zit. n. Christian Eger: Friedliche Revolution 1989: dynamiken einfügen zu können. Mit umgekehrten Vorzeichen scheint dies Schriftsteller Alexander Kluge lobt ebenso nach 1990 der Fall zu sein: Die Wiedervereinigung wird sowohl von die Ostdeutschen, in: Mitteldeutsche Zeitung, 23.12.2013, www.mz.de/kultur/ Westdeutschen als auch von ehemaligen DDR-Bürger_innen eher als eine friedliche-revolution-1989-schriftsteller- ökonomische Angliederung an die BRD und eine Tilgung der DDR empfun- alexander-kluge-lobt-die-ostdeutschen- 2045909 (26.2.2022). den. So beschreibt es Wolf Biermann sarkastisch: «40 Jahre Leben landen wie 2  Wolf Biermann zit. n. Thomas Ballaststoff in Kohls dickem Bauch und werden fröhlich verdaut und ausge- Assheuer: Helmut Kohl. Lieber Langeweile als Faschismus, in: schieden.»2 Wieder findet das Reparaturwissen der Ostdeutschen als beson- Zeit Online, 17.6.2017, www.zeit.de/ dere Vertrautheit mit (Um-)Brüchen in der westlichen Historiografie über den gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/ helmut-kohl-intellektuelle-nachruf/ Mauerfall bis hin zum Niedergang der Sowjetu nion keinen Platz. komplettansicht (26.2.2022). SCHWERPUNKT 37 JOHANNA KÄSMANN Dass es doch Ansätze solcher Geschichten über das Reparieren gibt, zeigt die frühe und von der Forschung wenig beachtete Erzählung Der Heizer (1980) des ostdeutschen Schriftstellers Wolfgang Hilbig. Mit elf weiteren Erzählungen erscheint sie in Hilbigs Prosaband Unterm Neomond (1982), der in der BRD vom S. Fischer Verlag veröffentlicht wird.3 Bereits 1979 etabliert sich Hilbig mit dem Gedichtband abwesenheit als Schriftsteller in der BRD; in der DDR jedoch kann er, nachdem erst 1980 acht Gedichte in Sinn und Form publiziert werden und 1983 der Gedicht- und Prosaband Stimme Stimme bei Reclam erscheint, aufgrund von kulturpolitischen Differenzen kein weiteres Werk veröffentli- chen.4 So arbeitet er zunächst bis Ende der 1970er Jahre als Heizer weiter und schreibt nebenbei Gedichte und Texte. Die Einschätzung vom westdeutschen Feuilleton, er hätte in der DDR «ein Vorzeigepoet der Arbeiterliteratur» sein können, sei jedoch «geradezu lächerlich», wie Hilbig betont.5 Zwar verhandelt er mit seiner wiederkehrenden und teilweise biografisch angelegten Figur des schreibenden Heizers literarisch das Arbeiten in der DDR, doch sind Hilbigs Darstellungen den kulturpolitischen Vorstellungen eines Arbeiterhelden völlig gegenläufig.6 Von Nachtschichten übermüdet und durch den Ruß ständig Blut hustend schaufeln die Protagonisten in Werken wie Die Arbeiter. Ein Essai (1975), Eine Übertragung (1989) oder Die Arbeit an den Öfen (1992) Kohlen, um die Kessel immer weiter zu befeuern. In ihrer Einsamkeit am Kessel fangen sie an, ihre Lebensumstände aufzuschreiben.7 3  In der Erstausgabe des Prosa- Auch Der Heizer beginnt damit, dass ein Heizer namens H. völlig übermü- bandes weist der Verlag im Paratext darauf hin, dass die Erzählungen im det nach der Beendigung seiner Nachtschicht in den «werkseigenen Omnibus»8 Zeitraum zwischen 1968 und 1980 steigt. Ziel der Fahrt ist der Büroteil des Betriebsgeländes, um von seinem Ar- entstanden sind. Vgl. Wolfgang Hilbig: Unterm Neomond. Erzählungen, beitgeber die offenstehende «Jahresendprämie» (H 106) abzuholen. Die «Irr- Frankfurt / M. 1982, 1. fahrt[ ]» (H 109) über das Betriebsgelände, die den größten Teil der Erzählung 4  Vgl. Michael Opitz: Hilbig, Wolfgang, in: ders., Michael ausmacht, wird von alptraumhaften Begebenheiten und gespenstischen Perso- Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon nen begleitet. Der Heizer fragt sich daher stets, ob ihm «sein übernächtigter, D DR-Literatur. Autoren – Institutio- nen – Debatten, Stuttgart, Weimar nervöser Geist […] Halluzinationen vorgaukelt» (H 108). Auf der Fahrt denkt 2009, 129 – 131, hier 129. er über sein Vorhaben nach, einen «Eklat [zu] inszenieren» (H 112), indem er 5  Wolfgang Hilbig: Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen, mit dem Verweigern der freiwilligen «Solidaritätsspende» (H 126) gegen die Frankfurt / M. 1995, 65. immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen im Werk 6 protestiert und 6  Vgl. Opitz: Hilbig, Wolfgang, 129 f. mit der Drohung der Kündigung seinen Anspruch einfordert. Dieses Vorgehen 7  Vgl. ebd. «Eine Figur, in der folgt, wie man später erfährt, eher dem Kalkül, einen Arbeitsplatzwechsel in ein Hilbig dem Widerspruch zwischen Arbeiter- und Schriftstellerexistenz anderes Werk zu erzwingen, weil «die alte, vor Jahrzehnten installierte Kessel- Ausdruck verleiht, ist der (schreiben- anlage[, die] in ihrer Kapazität nicht mehr hinreichte» (H 123), ihm immer mehr de) Heizer», Birgit Dahlke: Wolfgang Hilbig, Hannover 2011, 61. von der Zeit raubte, die er für sein heimliches Schreiben benötigte. 8  Wolfgang Hilbig: Der Heizer, Insofern die Erzählung die Abnutzung der Kesselanlage und den pragmati- in: ders.: Werke. Bd. 2: Erzählungen und Kurzprosa, hg. v. Jörg Bong, schen Umgang des Protagonisten damit zu ihrem Gegenstand macht, stellt sie Jürgen Hosemann, Oliver Vogel, sich zugleich auch als Repariertes dar. In Überlagerungen verschiedener Absich- Frankfurt / M. 2009, 104 – 137, hier 104. Alle weiteren Seitenangaben ten, Zitate und intertextueller Bezüge eröffnet der Text ein komplexes Wissen beziehen sich auf diese Ausgabe über das Reparieren in der DDR. Die folgende Lektüre möchte daher die viel- und werden im Text in Klammern mit ‹H› und Seitenzahl angegeben. fältigen Weisen der Reparatur in Der Heizer herausstellen, die sich aufgrund 38 ZfM 27, 2/2022 REPARIEREND(ES) SCHREIBEN ihrer Verfasstheit, ihrer Verfahrensweise und ihrer medialen Bedingungen im Spannungsfeld zwischen Überkommenem und potenziellen Handlungsräumen bewegt. Durch das Umschlagen von Schreibgegenstand und Schreibreflexion schieben sich im Text fortwährend Perspektiven des heizenden und schrei- benden Protagonisten ineinander. Dadurch wird ein produktives Moment innerhalb des Schreibens freigelegt. Angelika Winnen hat bereits in ihrer de- taillierten Heizer-Lektüre das Ineinanderschieben von Erzähl- und Figuren- perspektive herausgestellt.9 Als Weiterführung ihrer Überlegungen möchte die folgende Lektüre jedoch die komplexe Schreibszene innerhalb der Erzählung in den Blick nehmen und nach ihren theatralen Effekten fragen, die sich an die 9  Vgl. Angelika Winnen: Kafka- verschiedenen Weisen des Reparierens rückbinden lassen. Diese Annäherung Rezeption in der Literatur der DDR. an den Text stellt ein programmatisches Schreiben Hilbigs heraus. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Ein Reparaturprozess deutet sich bereits im Paratext an, der Bruchstellen Wolfgang Hilbig, Würzburg 2006, des DDR-Literatur-Kanons sichtbar macht und die Haltung Hilbigs zu dessen 223 – 279. 10  Vgl. ebd., 227 f. Als Nachlass- Inkohärenz zeigt. Mit dem Titel seiner Erzählung nimmt Hilbig Bezug auf das verwalter veröffentlichte Max Brod erste Kapitel aus Franz Kafkas unvollendetem Roman Der Verschollene, das noch 1927 das Romanfragment unter dem Titel Amerika, für die spätere zu Lebzeiten Kafkas als Fragment veröffentlicht wurde.10 Auch inhaltlich ruft kritische Ausgabe im S. Fischer er die Strukturen in Kafkas Amerika auf und verschiebt sie in seinen Text und Verlag 1983 wurde jedoch der Titel Der Verschollene gewählt, der aus damit in die DDR. Mit Bezugnahme auf den Prager Schriftsteller, die Hilbig Kafkas Briefen an Felice Bauer in Der Heizer für die Darstellung eines ohnmächtigen Subjekts in einem un- hervorging. Vgl. Manfred Engel: «Der Verschollene», in: ders., Bernd durchsichtigen System nutzt, schreibt er sich in eine zentrale Kanon-Debatte Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. der DDR-Kulturpolitik ein, die seit der Staatsgründung immer wieder geführt Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2010, 175 – 191, hier 176. wird und die Kafka-Beschäftigung bis in die 1980er Jahre zur kulturpolitischen 11  Eine detaillierte Analyse der Handlung macht.11 Der anfängliche Kurs der SED folgt zum einen einer geziel- Kafka-Lektüre und der kultur- politischen Auseinandersetzungen ten Abgrenzung zur BRD, deren Nachkriegsliterat_innen von Kafkas Werken in der DDR kann an dieser Stelle maßgeblich beeinflusst wurden. Zum anderen gilt Kafka «als Vertreter spätbür- nicht geleistet werden. Vgl. z. B. Martina Langermann: «Faust gerlicher Dekadenz […], die weder in der antifaschistisch-demokratischen Neu- oder Gregor Samsa?». Kulturelle ordnung noch beim Aufbau des Sozialismus einen Platz haben konnte[ ]».12 Die Tradierung im Zeichen der Sieger, in: Birgit Dahlke, Martina Langermann, Literatur-Debatte, die sich mehr und mehr zu einem Stellvertreterstreit über Thomas Taterka (Hg.): Literatur- die gesamte sozialistische Kulturpolitik ausweitet, kulminiert 1963 auf der Kafka- Gesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart, Weimar Konferenz in Liblice, auf der ein ost- und auch westeuropäisches Publikum 2000, 173 – 213 oder Winnen: Kafka- über die Werke Kafkas diskutiert.13 Einige Teilnehmer_innen der Konferenz Rezeption in der Literatur der DDR, 18 – 31. betonen die Wichtigkeit Kafkas für die «wahrgenommene[n] Entfremdungs- 12  Wolfgang Emmerich: Kleine phänomene im Sozialismus».14 Da die Konferenz rückblickend für manche In- Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1997, 81. tellektuelle als «Initialzündung des Prager Frühlings» verstanden wird,15 scheint 13  Vgl. Winnen: Kafka-Rezeption es kaum verwunderlich, dass der Führungskader den anfänglichen Kurs in den in der Literatur der DDR, 19 – 20. 14  Langermann: «Faust oder Folgejahren allmählich zu entschärfen versucht. Beispielsweise erscheint 1967 Gregor Samsa?», 203. der Amerika-Roman im Aufbau-Verlag, ohne für weiteren Zündstoff in der De- 15  Manfred Behn: Auf dem Weg zum Leser. Kafka in der DDR, batte zu sorgen.16 Trotz der Entspannung «verlangte die Adaption K afkas Kri- in: Text+Kritik, Nr. 7, 1994 = Son- terien, die anschlußfähig an akzeptierte Codes waren».17 Daher steht die ausge- derband: Franz Kafka, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, 317 – 332, hier 324. wiesene Beschäftigung mit Kafka stets im Verdacht der kulturpolitischen Kritik 16  Vgl. Langermann: «Faust oder oder gar des oppositionellen Verhaltens.18 Sie bleibt bis in die 1980er Jahre ein Gregor Samsa?», 207. 17  Ebd., 209. Ausschlusskriterium für die Herausgabepolitik der DDR. 18  Vgl., ebd., 209 f. SCHWERPUNKT 39 JOHANNA KÄSMANN Angesichts dieser Deklassierung ist kaum verwunderlich, dass Hilbig die Erzählung Der Heizer in der DDR nicht veröffentlichen kann, jedoch findet er einen behelfsmäßigen Umgang damit: Während die Erzählung zwar nicht 1983 im Leipziger Band Stimme Stimme publiziert wird, erscheint sie jedoch schon 1982 im Prosaband Unterm Neomond im S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main.19 Mit der westdeutschen Veröffentlichung, die sowohl von ostdeut- schen Schriftsteller_innen als auch von der Staatssicherheit sehr wohl gelesen wurde, scheint Hilbig den DDR-Kanon in seinem Sinne zu ‹reparieren›, indem er die Kafka-Lektüre trotz aller Reglementierungen literarisch aufnimmt und im Lebensalltag der DDR platziert. In ihrem kulturpolitischen Reparaturprozess gibt die Erzählung Anlass für Aufsehen und verhandelt zugleich inhaltlich ein Wissen über Strategien der Aneignung, die eine Verknüpfung von Überkommenem und zukünftigem Han- deln herstellen. Die Kesselanlage als Abgenutztes und Überholtes bietet dabei den Ausgangspunkt für die Inszenierung eines Eklats: Er spürte, daß ihm alle Courage zu dem Eklat, wie er sein Vorhaben nannte, ge- schwunden war […]. Er wollte nichts, als auf die Zustände in Werk 6 aufmerksam machen, oder vielmehr, nicht so weitgehend, auf seine eigenen Probleme dort in diesem abgelegenen Betriebsteil, aber dazu mußte es einen Anlaß geben, der seinen Fall bis in die Büros der weiterreichenden Verantwortlichkeiten trug, die Energetik, seine unmittelbaren Vorgesetzten also, schien ihm eine zu niedere Stufe einzuneh- men innerhalb der Leitungspyramide des Betriebes. Am geeignetsten dazu konnte ein Ereignis mit einem gewissen politischen Geruch sein, das natürlich keine juristi- schen Folgen haben durfte. […] Man mußte die verbleibenden geringen Möglichkei- 19  Vgl. Winnen: Kafka-Rezeption ten nutzen […], man mußte den Eklat inszenieren, erreichen, daß der Alte sagte, weg in der Literatur der DDR, 226. So mit diesem Mann, er ist in Werk 6 verrückt geworden, er soll sich am Ferndampf schreibt Hilbig 1981 in einem Brief an Klaus Höpcke, den stellvertre- erholen … (H 111 – 113) tenden Minister für Kultur, dass er sich entschlossen habe, «den Die Inszenierung ist eine politische Gratwanderung: Der Protagonist muss Prosaband ‹Unterm Neomond›, im S. Fischer Verlag, Frankfurt am seinen Vorgesetzten rhetorisch so begegnen, dass sein Anliegen auf höherer Main, zu veröffentlichen, unter Be- Ebene Gehör findet, ohne selbst Repressalien zu riskieren. Der «politische[ ] dingungen, die keinerlei in der DDR eventuell erwachsende Ansprüche Geruch» entsteht an der Stelle, an der Protest und offizieller Diskurs aufei- auf dieses Buch beeinträchtigen. nandertreffen. Der Heizer nutzt den ideologisch gelenkten Diskurs, dem Eingedenk dessen beabsichtige ich, da[s] vollständige Manuskript sowohl er als auch seine Vorgesetzten unterliegen, indem er in seiner poli- dieses Buches für eine unzensierte tischen Affirmation Kritik an den bestehenden Verhältnissen übt. Die veral- Veröffentlichung in der DDR dem Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, tete, nicht mehr leistungsfähige und reparaturbedürftige Kesselanlage for- zu überlassen […]. Ich unterwerfe dert in einem propagierten ‹Arbeiter- und Bauernstaat› den Eklat regelrecht mich nicht der Zensur, Sie oder eine andere Institution der DDR um ein. Als Überholtes offenbart sie die Notwendigkeit von Reparaturarbeiten Erlaubnis für diese beiden Veröf- im Werk und macht zugleich die Kluft zwischen sozialistischen Idealen und fentlichungen zu bitten.» Wolfgang Hilbig, Brief vom 16.2.1981, in: ders.: real existierendem Sozialismus sichtbar. Nicht nur der Anlass, auch das Mittel «Ich unterwerfe mich nicht der Zensur». des Protests – also das Verweigern der Solidaritätsspende – zeugt von poli- Briefe an DDR-Ministerien, Minister und Behörden, hg. und kommentiert tischer Brisanz. Die Solidaritätsspende in DDR-Betrieben ist eine kollektive, v. Michael Opitz, Frankfurt / M. 2021 vermeintlich freiwillige Spendenaktion, der man sich aber nicht unbemerkt (Neue Rundschau, Bd. 132, Nr. 2), 64 – 69, hier 66. entziehen kann. Die Spende wurde zur «Unterstützung von sozialistischen 40 ZfM 27, 2/2022 REPARIEREND(ES) SCHREIBEN Befreiungsbewegungen und befreundeten Regierungen» gesammelt, um den Kampf gegen den Imperialismus zu bestreiten.20 Die Verweigerung in der Er- zählung bedeutet daher, den internationalen Solidaritätsgedanken des Staates zurückzuweisen. Der zwar fingierte, dennoch belastbare Anlass scheint das op- positionelle V erhalten wiederum in eine innenpolitische Logik einzubinden, denn noch vor der Hilfe stellung gegenüber anderen sollten die Arbeitsbedin- gungen den eigenen sozialistischen Maßstäben genügen. Im Benennen dieses Vorgangs und in den daran anschließenden Überlegun- gen stellt sich die geplante Rede des Protagonisten als eine ihm nicht eigene Rede oder als Zitat insoweit dar, dass der Text dies durch die Kursivsetzung des Wortes ‹Eklat› markiert.21 Während sich dieses bei der Erstnennung in das 20  André Albrecht: Das institu- Geschriebene einfügt, konstituiert der Text in weiteren Reflexionen des Hei- tionelle Erbe der DDR-Entwick- lungspolitik. Was vom Solidaritäts- zers eine Distanz, sodass ‹Eklat› in der Zweitnennung kursiv aus dem Text komitee und den internationalen hervortritt. In der Performanz der Typografie thematisiert sich der Text selbst Bildungsstätten blieb, in: Thomas Kunze, Thomas Vogel (Hg.): Ostalgie als etwas Geschriebenes. An dieser Stelle lässt sich schon die Vermutung for- international. Erinnerungen an die DDR mulieren, dass sich der Text an einen versteckten innerdiegetischen Schreibakt von Nicaragua bis Vietnam, Berlin 2010, 166 – 177, hier 167. bindet, der hier sichtbar wird. Die Typografie stellt einen Widerstand in der 21  Vgl. Winnen: Kafka-Rezeption in Rezeption dar, der das Aufschreiben der Geschehnisse in den Text mit einträgt. der Literatur der DDR, 259 f. 22  In ihrer Lektüre verweist Dabei verbleibt der Text nicht nur in der Bedeutungsgenerierung der Normal- Winnen auch auf die Veränderung schrift, sondern das Kursive als typografischer Effekt nimmt auch aktiv an die- des Wortes ‹Eklat›, durch das «Hilbig an dieser zweiten Stelle durch sem Prozess teil. In der Spanne zwischen Erst- und kursiv gesetzter Zweitnen- Kursivsetzung den intertextuellen nung wird die Normalschrift zu etwas semantisch Ungenügendem, das mithilfe Bezug deutlich macht. Die Art der graphemischen Interferenz durch der Kursivsetzung ausgebessert wird.22 So präsentiert sich die Erzählung als Kursivierung ist das charakteris- geschriebenes Arrangement, das sich selbst auf der Ebene der Bedeutungsgene- tischste Merkmal für Markierung von Intertextualität innerhalb des rierung repariert und sich typografisch zugleich als Repariertes markiert. Haupttextes: es lassen sich immer- Nach diesen Vorüberlegungen zum geplanten Eklat erreicht der Heizer das hin achtzehn kursiv hervorgehobene Einzelwörter oder Wortgruppen Büro seines Vorgesetzten und ist mit einer neuen Situation konfrontiert, die auf den vierzig Seiten des Textes seine Pläne zu durchkreuzen droht. Nicht nur, dass der völlig übermüdete Hei- zählen, von denen die meisten – in unterschiedlicher Abstufung – als zer mit Kaffee und Kognak empfangen wird, die seine Aufmerksamkeit zusätz- intertextuelle Bezüge gelesen lich zerstreuen, neben seinem alten verhandlungsbereiten Meister ist auch des- werden können. […] Diese Form der Markierung im Text wendet sich sen strikter, erst kürzlich eingesetzter Nachfolger anwesend. Beide zusammen […] ausschließlich an den Leser, da scheinen eine eigene Strategie – oder vielmehr eine eigene Inszenierung – zu sie auf der Schriftlichkeit des Textes basiert, zu der die Protagonisten verfolgen. Noch bevor der Heizer seinen vermeintlichen Protest vorbringen der Erzählung keinen Bezug haben. kann, kommt der alte Meister ihm zuvor: In der Erzählung ‹Der Heizer› aber läßt sich diese Trennung zwischen werkimmanentem und äußerem – Ich glaube, man muß doch, stellte der alte Meister fest, einen zweiten Mann für das Kommunikationssystem aufheben, Kesselhaus Werk 6 haben […] – Ein zweiter Mann, sagte der Heizer, das fehlte wirk- wenn man davon ausgeht, daß der lich noch … – Er war zur Ironie zu erschöpft, aber er sah sich in den wenigen Stun- Protagonist später die Rolle des den, die ihm als Pausen zwischen dem Trimmen der Kohle verblieben und in denen Autors übernimmt und daher über den Text als solchen verfügen kann.» er sonst […] über seinen Schreibheften hockte, vom leeren Geschwätz irgendeiner Ebd., 259 f. Was Winnen jedoch nicht ihm zugeordneten Hilfskraft belästigt, zwar hätte er Zeit und Kraft gewonnen, diese weiter ausführt, ist, dass hier eine aber täglich aufs nutzloseste verplaudert mit einem Menschen, der nichts von den zeitgleiche Schreibszene entfaltet Aufgaben seines zweiten Lebens wußte oder begriff; schließlich sah er sich vor den Vor- wird und der Text sich dieses Wort zu eigen macht, um sich im Geschrie- gesetzen seinen Gehilfen ablehnen, ein Beispiel setzend, daß die Arbeit in Werk 6 benen selbst zu reparieren und als gut allein bewältigt werden konnte. Repariertes auszustellen. SCHWERPUNKT 41 JOHANNA KÄSMANN Nie zuvor hatte er sich sehen können im Kesselhaus Werk 6, arbeitend in der Kata- kombe des alten Kohlebunkers … in der jetzigen Verfassung war es ihm plötzlich möglich, sich deutlich zu sehen. – In den Beschreibungen seines Lebens lag deut- lich ein zwanghafter Zug … die Suche nach einer Rechtfertigung; der Boden, auf dem dieses beschriebene Leben sich bewegte, war ein vorbereiteter Boden, vorbe- reitet für Explosionen, in den Ausdünstungen, Aufwirbelungen über diesem Boden, und in dem Lärm, der die Stimmwerkzeuge des Heizers mit einem erdigen Belag zu verschließen drohte, formte sich ihm jedes beliebige Wort zu einem Aufschrei, beliebige Sätze schlossen sich zusammen zu Expertisen für die Stiftung eines Brands. (H 122 f.) Das Bestreben des alten Meisters scheint das Anliegen des Heizers insofern zu erfüllen, als er Zeit gewonnen hätte, doch müsste er sie, um sein Schrei- ben unentdeckt zu lassen, «aufs nutzloseste verplauder[n]». Dieser Wendung kann der Heizer – erschöpft von der Nachtschicht – nicht mal mit Ironie begegnen. Im Zuge dessen konstituiert die Phrase des Sich-Sehens eine ei- gentümliche Außenansicht des Heizers, die eine Bewegung vom eigentlichen Geschehen im Büro hin zu seinem Arbeitsplatz nach sich zieht.23 Während das erste S ich-Sehen die imaginierte Vorstellung des Heizers einleitet, wie sich sein A rbeitsplatz durch den Vorschlag des alten Meisters ändern wür- de, bewegt das zweite den Text von dieser Vorstellung weg und wieder zum Gespräch mit dem alten Meister hin. In dieser gedanklichen Ausschweifung, die von den ersten zwei Momenten des Sich-Sehens gerahmt wird und nicht mehr zur direkten Rede, sondern distanzierter zur erlebten Rede zurückführt, nimmt sich der Heizer als eine Figur wahr, die das Angebot ablehnt, sich selbst der Grundlage des Eklats beraubt und notgedrungen einem anderen Skript folgt – dem ihrer Vorgesetzten. Mit dem dritten Sich-Sehen bricht unvermittelt – auch typografisch durch den Absatz ausgestellt – eine Szene am Kessel in den Text ein. Anders als bei den 23  Winnen beschreibt diese vorherigen Malen ist das Sehen hier kursiv gesetzt und bindet sich dadurch an Außenansicht folgendermaßen: «Die Abgrenzung dieser Passagen vom die «Aufgaben seines zweiten Lebens» – demnach an das heimliche Schreiben. Es Erzählerbericht und ihre Zuordnung wird von einem Können begleitet, das dem Heizer die Möglichkeit einräumt, zur Perspektive der Hauptfigur, die aufgrund der einleitenden Signale sich aus der Außenperspektive als eine arbeitende Figur am Kessel zu beobach- (‹er sah sich›) zunächst unproble- ten. Das vierte Sich-Sehen überwindet in der Nachträglichkeit den Bruch zum matisch erscheint, ist schon nach einigen Zeilen, sobald die Signale in Vorangegangenen und wandelt den Blick des Protagonisten von einem eröff- den Hintergrund getreten sind, nenden Sehen-Können zu einem fokussierten Deutlich-Sehen. In dieser Jus- nicht mehr eindeutig zu leisten. Schuld daran ist die Tatsache, daß tierung wird der Blick mit den «Beschreibungen seines Lebens» gekoppelt, in der Heizer in den ‹Visionen› nicht denen er zwanghaft schreibend nach einer Legitimation sucht. nur die Funktion des Erzählers, son- dern auch dessen Stil und Beobach- Folgt man der Spur, dass sich kursiv gesetzte Wörter als Widerstände in den terstandpunkt übernimmt.» (Ebd., Text eintragen, an denen sich die Schreibszene offenbart, steht das Heizen in 229 f.) Dabei verkennt sie jedoch, dass das auflösende Moment nicht Verbindung mit dem Schreiben. Auf der Ebene der Typografie stiftet der Text nur im Vergessen des Sich-Sehens diese Verbindung durch die Kursivsetzung von «Aufgaben seines zweiten Lebens» liegt, sondern auch in den Wieder- holungen der Phrase, durch die und «sich sehen». Das Fundament oder die «Rechtfertigung» zum Schreiben der Text eine Drehbewegung voll- ist für den Heizer in der Form gegeben, dass es sich auf einen «vorbereitete[n] zieht und nicht mehr gänzlich an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Boden» bezieht – auf das bekannte und sich stetig wiederholende Arbeiten am 42 ZfM 27, 2/2022 REPARIEREND(ES) SCHREIBEN Kessel. In der Metaphorik des beständigen Heizens formen sich Wörter und Sätze zusammen, um mit dem Wissen von der «Stiftung eines Brands» gegen die Bedrohung des Stimmverlustes zu kämpfen und einen «Aufschrei» zu kon- stituieren. Trotz der Distanz zwischen der erlebten Szene im Büro und der beschriebenen am Kessel bindet sich dieser Aufschrei wieder an das Vorhaben, einen Eklat zu erzeugen. Während der Text eine ausschweifende Bewegung in Form einer Introspektion vollzieht, wird das Heizen sowohl zur Form als auch zum Gegenstand des Schreibens.24 Im Umschlagen von Schreibgegenstand und Schreibreflexion bewegt sich der Text im Spannungsfeld zwischen dem Abgenutzten und seiner Aneignung und repariert sich in dieser Verfahrens- weise selbst. In die Kessel-Szene fügt sich eine weitere Reflexion ein, die sich implizit an die Konfrontation mit dem alten Meister rückbindet: In jedem Winter, in seiner aussichtslosen Tiefe, […] geschah es, daß er sich schwor, im Frühjahr das Werk zu verlassen. – Er redete es sich ein, aber dann hätte er die Stadt verlassen müssen, eigentlich hätte er das Land verlassen müssen, in dessen Kleinstädten die Polizei einen so schlechten, von verfaulten Zähnen verdorbenen Ge- schmack hatte, und von Argwohn und Entsetzen riesenhaft sich weitende Augen, auf die Nachricht stierend, daß der Heizer plötzlich nicht mehr heizen wolle, statt dessen aber die unüberprüfbarsten Dinge an einem versteckten Schreibtisch ausbrüte. Ein Anblick, dem er sich nicht entziehen konnte, der ihm den Mund öffnete … war der Anblick auch so künstlich, wie ihm die Figurensprache seiner Person im- mer dann erschien, wenn er, innerhalb der einen seiner verschiedenen Existenzen, sein Abbild aus der anderen vor sich zu reproduzieren suchte … bannte ihn, offenen Munds in der wüsten Beleuchtung eines winkligen Heizungskellers, von riesenhaft irrenden, sinnlos handelnden Schattengruppen umtanzt, sah er sich seinen Körper einer wütenden Sisyphosarbeit unterwerfen […]. (H 125) Eine Kündigung scheint ausgeschlossen, denn dies würde eine Erklärung erfor- dern, die noch mehr Aufmerksamkeit erregen würde: Wenn er die Stelle aufgä- be, schlössen sich Fragen nach einer anderen Beschäftigung an. Während der Arbeitsort am Kessel nicht den Verdacht auf sich lenkt und somit keinen Anlass für eine Erzählung bietet, ist der Schreibtisch, an dem «unüberprüfbarste[ ] 24  In dieser Gleichzeitigkeit ist Dinge» vor sich gehen, vor diesem Blick versteckt und daher von polizeilichem die Kessel-Szene – «im Wettlauf mit den in Kesseln niederbrechenden Interesse. In der Antizipation eines polizeilichen Blicks entwirft der Protago- Feuern» (H 123) – sprachlich durch nist – durch die Kursivsetzung als Titel markiert – eine «Heizer»-Erzählung, die parataktische Satzkonstruktionen geprägt, wie auch Winnen betont, ihn als Figur einsetzt. Mit dem Verweis «auf die Nachricht stierend» ist dieser vgl. Winnen: Kafka-Rezeption in der Blick immer schon an Schriftlichkeit gekoppelt, jedoch bleibt der Status dieser Literatur der DDR, 230. Ein Beispiel dafür ist: «In den schwarzen, mit Nachricht völlig unklar. In der Vermutung, dass es sich dabei um eine geheim- jedem Schwung der Schaufel polizeiliche Mitteilung handelt, wird die Nachricht zu einem Schriftstück der aufschießenden, von der niedrigen Decke zurückflutenden Wolken von staatlichen Überwachung. In der Kursivsetzung des «Heizer[s]» koppelt sie sich Staub war der Heizer kaum sichtbar, aber auch an die Erzählung selbst und eröffnet Momente der Rezeption, die die nur sein nasser Gesichtsfleck mit dem geöffneten, blutrot erscheinen- textuelle und metasprachliche Ebene ineinander übergehen lässt. Die Gleich- den Mund tauchte nach jeder der zeitigkeit von geheimpolizeilicher Mitteilung und literarischem Text wird aus- Drehungen seines Oberkörpers ei- nen Augenblick in das rote Licht der schließlich in der Performanz der Typografie sichtbar. Dieser Effekt zeigt ein geschwärzten Glühbirnen.» (H 123). SCHWERPUNKT 43 JOHANNA KÄSMANN Wissen darüber, dass reparierendes Schreiben in seinem fortwährenden Wu- chern nicht nur von der Literatur, sondern auch von der Volkspolizei und der Staatssicherheit praktiziert wird. So stellt ebenso der Text eine Gratwanderung dieser Strategie aus, die als Etablierung eines eigenen Schreibprozesses auch Material für die Gegenseite liefern kann. Der «Anblick», der ihm den Mund öffnet, wird von ihm selbst konstituiert und lässt ihn in Heizer und Schreibenden zerfallen, ohne eine völlige Spaltung herbeizuführen. Winnen stellt in diesem Zusammenhang fest, «daß sich eine (primäre) Figur selbst zum (sekundären) Erzähler aufschwingt und in dieser Funktion von einer (sekundären) Figur erzählt, mit der sie letzten Endes iden- tisch ist».25 In einer Fußnote räumt sie dabei ein, dass das Adjektiv «identisch» in einem oberflächlichen Sinne gemeint sei und immer wieder in Frage gestellt wer- den müsse. Einerseits betrachtet Winnen das Geschehen durch ihre Zuordnung von primär und sekundär in gewisser Weise als autonom vom Schreibprozess. Die hier angestellte Lektüre hat bereits angedeutet und wird noch weiter ausfüh- ren, dass das Geschehen in der Gleichzeitigkeit des Schreibprozesses zu denken ist. Andererseits führt Winnen nicht weiter aus, dass dieser Bewegung ein pro- duktives Moment für das Schreiben innewohnt, das gerade aus dem Nicht-iden- tisch-Sein entsteht. Daher scheint das Aufschwingen nicht ganz die Bewegung zu beschreiben, die mit den Sich-sehen-Phrasen einhergehen, vielmehr ist es ein abruptes Umschlagen, das stets die Vorzeichen im Text ändert. In dieser Passage gleitet dem Protagonisten die Darstellung seiner Heizer-Existenz ins Künstliche ab, das demgemäß – durch die Auslassungspunkte offenbar – den Abbruch zur Folge hat. Mit dem Scheitern der Darstellung und markiert durch ein weiteres Sich-Sehen kehrt der Protagonist an den Kessel zurück, ergibt sich in die «Sisy- phosarbeit» – in die nicht enden wollende Arbeit des Heizens – und zitiert einen anderen Text: den griechischen Mythos des Sisyphos, der die Kessel-A rbeiten nun doch beschreibt. Das Paradoxe an dieser Reparaturbewegung ist das fort- währende Umschlagen von Schreibgegenstand zu Schreibreflexion: Wenn der Schreibende mit der Darstellung des Heizers scheitert, kehrt er als Heizer zur Arbeit am Kessel zurück, die er wieder mit einem anderen Text beschreiben kann. So wird dem Heizen ein Schreibverfahren abgewonnen, das den eigenen mit ei- nem anderen Text repariert. Diese Reparaturarbeit beschränkt sich dabei nicht nur auf literarische Texte, wie auch am Ende der Kessel-Szene deutlich wird: [E]inmal stand er erstarrt, ohne die fetten gelbgrünen Metastasen zu beachten, die, ein blutgetränkter Rotz, aus der Bronze seiner Muskulatur fuhren, in der veralteten Schönheit eines vernichtungswürdigen, kultischen Denkmals unter den Kaskaden von Dreck, […] in einer seinem Status verdankten, endlich erlernten Sprache […] stieß er Sätze hervor, die ihm von der Güte des neunzehnten Jahrhunderts schienen: die Situation des Werkes ist das Sinnbild des ökonomischen Verhaltens in diesem Land, ein Fortschritt, diesem System der Kleinstaaterei angemessen, der Leidtra- Winnen: Kafka-Rezeption in der gende aber ist die Klasse, die in Erwartung dieses sogenannten Gespensts, dieses 25  Literatur der DDR, 231. europäischen, so schauerlich grinst, laßt uns, ehe wir so ganz fadenscheinig werden, 44 ZfM 27, 2/2022 REPARIEREND(ES) SCHREIBEN wieder übers Meer fliehen, ein stolzes Schiff … oh, laß uns kommen, Afrika aller un- verrichteten Dinge. Der Heizer, den ein langer, besorgniserregender Hustenanfall von solcher Sprache abschlug, oder zumindest aus einem ganz unangebrachten Hohngelächter erlöste, hörte das beruhigende Reden des alten Meisters: Eins aber noch, und das ist meine letzte Amtshandlung hier auf dieser Bude. (H 126) Der Moment des Umschlagens wird durch den Körper des Protagonisten aus- gestellt. Während der Körper vorher ständig in Bewegung war, um die Arbeit als Heizer zu verrichten, «erstarrt» er hier zum sozialistischen Topos des Arbei- terhelden. Dieser wird, wie Winnen erläutert, teils, ohne die Sprachebene des Klischees zu verlassen, durch eingefügte Kommentare fragwürdig gemacht – so wird etwa die Schönheit explizit als ‹veraltet› […] bezeichnet, das Denkmal als ‹vernichtungswürdig› beurteilt –, teils wird das Klischee auf der Ebene scheinbar neutraler Beschreibung durch die Brechung der Sprachebene unterlaufen.26 Der alte Glanz des «Denkmals» ist zwar noch als Relikt einer ideologisch ver- klärten Vorstellung zu erkennen, doch ist der physische Körper durch die über- mäßige Beanspruchung an der veralteten Kesselanlage sichtlich abgequält und krank. So wird der idealisierte und in sprachlichen Klischees geformte Text- Körper unterlaufen und als hochstilisierte Konstruktion entlarvt, die nur wenig mit der Arbeitswelt des Heizers zu tun hat.27 Zum einen wird der arbeitende Körper erst durch den sozialistischen T opos konstituiert, zum anderen dringt der Topos wie eine Krankheit in den K örper ein, sodass er die Aussagen über den Betrieb als Textfragmente «in einer sei- nem Status verdankten, endlich erlernten Sprache» förmlich ausstößt. Als Körper, der aus dem Topos hervorgeht, wiederholt er zwar die Sätze «von der Güte des neunzehnten Jahrhunderts», aber in Form von «blutgetränkte[m] Rotz». Die Sätze werden durch Hinzufügungen oder ironische Brechun- 26  Ebd., 245. gen zu S ekreten, die sich erst im Ekelhaften des physischen Arbeiterkörpers 27  Vgl. ebd. offenbaren. So wird es nach Winnen ironisch, «wenn der Heizer die aktuelle 28  Ebd., 246. 29  Vgl. ebd. Überdies verbindet ‹Situation des Werkes› in Marxscher D iktion als ‹Fortschritt› bezeichnet», ob- sich diese Stelle auch mit der geis- gleich diese Situation vielmehr «Marx’ Analyse der bürgerlich-kapitalistischen terhaften Gestalt, die sich scheinbar an den Bus krallt. «In diesem Augen- Gesellschaft des 19. Jahrhunderts» zu entsprechen scheint.28 Der vom sozialis- blick sah der Heizer, in einem der tischen Topos geformte Text-Körper stößt demnach die ideologisch angemes- Plexiglasfenster in der hinteren Falt- tür des Busses, ein altes, runzliges, senen Textfragmente aus, doch im Ausstoßen eines erschöpften und kranken gelbes Gesicht mit hervortretenden physischen Körpers schlägt dieses scheinbar konforme Verhalten in eine Kri- Augen, das sich von außen an die Scheibe preßte, das Schreien eines tik um. Der sozialistische T opos des Arbeiterhelden wird zu einem körperlo- aufgerissenen Mundes zerbrach sen Wesen, in Anlehnung an das Kommunistische Manifest zu einem Gespenst, unhörbar, der schnell anfahrende Bus wischte dieses Gesicht fort […]. das den «Leidtragende[n]» erscheint. Dieses Gespenst stellt auch den Bezug Später glaubte der Heizer beschwö- zum Betriebsgelände her, das «[der Heizer], mit einer alten, fremd gewordenen ren zu können, daß er aufgesprun- gen und zum Rückfenster gestürzt Bezeichnung, gespenstig nannte» (H 105).29 war, draußen auf der im Dunkel Der Aufruf zur Flucht über das Meer markiert wieder einen Moment des verschwindenden Straße aber nichts als den wirbelnden Schnee gesehen Umschlagens. Winnen liest diese Stelle als Anknüpfung an eine Tradition hatte […].» (H 108). SCHWERPUNKT 45 JOHANNA KÄSMANN innerhalb der ostdeutschen Literatur, für die beispielsweise Volker Brauns Essay «Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität» steht, in dem «‹Afrika› als Metapher für die Abkehr von der sozialistischen Utopie» verwendet wird.30 In V orblick auf Kafka betont Hilbig, dass das «Amerika» im Verschollenen «ein geistiges Bild der anderen Welt für Kafka» sei, «der damit freilich einer spezifisch deutschspra- chigen Literaturtradition folgte, die von einem wirklichen Amerika keine Notiz nahm».31 So sind sowohl in Kafkas Verschollenem als auch in Hilbigs Heizer we- niger konkrete Orte gemeint; vielmehr sind es fiktive Orte der Literatur. Wäh- rend Kafkas Protagonist Karl Roßmann aufgrund der Affäre mit einem Dienst- mädchen aus dem gewohnten Europa ausgestoßen und nach Amerika geschickt wird, um schließlich als Verschollener zu enden, sehnt sich Hilbigs Heizer nach diesem Exil «aller unverrichteten Dinge» und ruft es förmlich an. Wie Winnen erläutert, ist der Aufruf «laßt uns […] wieder übers Meer fliehen» als eine erneute literarische Vergemeinschaftung eines Wir zu verstehen,32 jedoch scheint der zweite Appell «laß uns kommen» dem Sehnsuchtsort zu gelten, der die Flüchtenden in Empfang nehmen soll. Das Auslaufen vom «stolze[n] Schiff» bindet sich in seiner Kursivsetzung an den Schreibprozess, der sich hier als Be- freiung aus der Arbeit am Kessel und zugleich aus der ideologisch geprägten 30  Winnen: Kafka-Rezeption in Sprache darstellt. der Literatur der DDR, 246. In Brauns Diese bevorstehende Schreibreise wird jäh von einem «ganz unangebrach- Essay heißt es: «Wenden wir uns um in unser Unglück. Gehen wir ten Hohngelächter» unterbrochen, das einen «besorgniserregende[n] Husten- wieder in das alte Land hinein. Keine anfall» auslöst. Der physische Körper holt demnach den Heizer aus dem Ausflüchte; wir müssen ins Innere gehn»; Volker Braun: Rimbaud. Ein Schreibprozess wieder in das Büro zu den Vorgesetzten zurück. In dieser Aus- Psalm der Aktualität, in: ders.: Ver- schweifung entwirft der Protagonist trotz der misslungenen Flucht insoweit heerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Leipzig eine Strategie, als er sich dem alten Meister, der von der gedanklichen Abwe- 1988, 95 – 120, hier 115. Mit diesem senheit seines Heizers nichts bemerkt zu haben scheint, mit einem intervenie- Aufruf versucht er, wie Ursula Heukenkamp betont, eine «Synthese renden «Nein» entgegenstellt: von Afrika und Utopia im Zeichen der kommunistischen Zukunft», Ursula Heukenkamp: Von Utopia – Nein, sagte der Heizer, sich über den aufwachenden Klang seiner Stimme wun- nach Afrika: Utopisches Denken in dernd, das schneidende, das furchtbare Wort war gefallen und hallte noch in der der Krise der Utopie, in: Text + Kritik, Stille des Büros, von der sich die scheinbar absatzlos weiterredende Stimme des alten Sonderband Literatur in der DDR. Meisters kaum abhob. […] Natürlich, sagte dieser [der alte Meister] […] – Dabei Rückblicke, München 1991, 184 – 194, hier 186. Diesen Gang ins Innere rückte er […] die Spendenliste noch einmal direkt vor den Heizer hin, der, aus- bezeichnet Braun als «innerste[s] schließlich diese Bewegung im Auge, mit lauter Stimme erklärte: Ich sagte, daß ich Afrika», Braun: Rimbaud. Ein Psalm hiermit die Spende verweigere, verstanden, verweigere, ich weigere mich, aus dem oben der Aktualität, 115. genannten Grund, eine Spende zu zahlen. – Er blickte den alten Meister nicht an, 31  Wolfgang Hilbig: Vorblick auf Kafka, in: ders.: Werke. Bd. 7: spürte aber, an dem um eine Nuance stärker durch die Nase fahrenden Zigaretten- Essays – Reden – Interviews, hg. v. Jörg rauch, daß dieser lächelte. (H 126 f.) Bong, Jürgen Hosemann, Oliver Vogel, Frankfurt / M. 2021, 39 – 50, Nach der bisherigen Sprachlosigkeit im Büro emanzipiert sich der Prota- hier 48. Auch Winnen nimmt auf diese Stellen in Vorblick auf Kafka gonist. Der Eklat beginnt mit einem durchdringenden «Nein» des Heizers, Bezug, verweist aber nicht auf die der von dem «aufwachenden Klang seiner Stimme» selbst überrascht wird. Unterschiede zwischen Kafkas und Hilbigs Protagonisten. Vgl. Winnen: Während das «Nein» noch «in der Stille des Büros» hallt, kulminiert der Kafka-Rezeption in der Literatur der Protest in dem dreifach wiederholten und kursiven (Ver-)Weigern. In der DDR, 247. 32  Vgl. ebd., 247 f. Absicht einer Klimax, die sich nur schwach durch die Wiederholung des 46 ZfM 27, 2/2022 REPARIEREND(ES) SCHREIBEN gleichen Verbs zeigt, wird seine Intervention jedoch im Text kursiv markiert.33 In der Rückbindung an die Schreibszene versucht der Protagonist, seine Rede nachträglich und typo grafisch zu verstärken. Es entstehen hierbei mehrere Lektüre-Ebenen, die sich gegenseitig bedingen: Die Geschehnisse im Büro werden scheinbar vorweggenommen, da die typografische Verstärkung des Protestes ein erstes Indiz dafür ist, dass der Heizer mit seinem Vorhaben scheitern wird/gescheitert ist. Auch mit dem Lächeln des alten Meisters als Reaktion darauf scheint die Rede nicht seiner Strategie, sondern der seiner Vorgesetzten zu folgen. Die Rede bindet sich – gegenläufig zum Eindruck der Vorausdeutung – durch die Kursivsetzung und mit dem Zusatz «aus dem oben genannten Grund» an einen zugleich entstehenden Text, der an die an- gedrohte Kündigung des Heizers denken lässt und die Inszenierung auf eine eigentümliche Weise unzeitlich macht. Auf der Ebene des Schreibprozesses wird protestiert, in der Hoffnung, dass die Inszenierung des Eklats als Ge- schriebenes gelingt.34 In immer provokanteren Ausführungen,35 durch die sich dann auch der neue Meister ins Gespräch einbringt, versucht der Heizer, doch noch den gewünsch- ten Effekt seines Eklats zu erzielen: 33  Die dreifache Wiederholung versteht Winnen als ironische Bre- Innerhalb meines Status, sagte der Heizer, den ich als eine Art von Sklavenstatus chung und Hilflosigkeit des Heizers, ansehe, ansehen muß, ist es uninteressant geworden, ob alles Für und Wider be- vgl. ebd., 251. 34  Winnen konstatiert, dass dacht ist, wenn man sich nur erheben kann […], über die Form der in diesem Status es evident erscheint, «die ganze möglichen Auseinandersetzung … – Sklavenstatus … nennen Sie das, sagte der neue Erzählung ‹Der Heizer› als die Meister, der eine Möglichkeit gefunden zu haben schien, wirklich beleidigt, das Ge- Verwirklichung dieses erträumten spräch zu beenden, Sklavenstatus, damit gehen Sie entschieden zu weit, unter solchen Kündigungstextes zu lesen, wobei der Heizer zum Erzähler wird, der Voraussetzungen ist das kein Thema für uns. Darüber werden wir natürlich nachzu- rückblickend (daher auch manchmal denken haben … aber, Sie können sich verlassen, es gibt keinen Grund für uns, wie vorausdeutend und kommentierend) Sie es auch provozieren, uns noch höheren Ortes solcher Verfehlungen zu rühmen. und aus einer scheinbar distanzier- (H 129) ten Position in der 3. Person von seinem ‹Helden› berichtet, während der Text selbst quasi als H.s zweiter Dadurch, dass der Ausdruck «Sklavenstatus» in den Kontext des volkseigenen Versuch des Sprechens auf einer Betriebs gesetzt wird, kulminiert der Eklat, denn diese Verschiebung stellt das anderen Ebene betrachtet werden kann» (ebd., 254 f.). Mit Verweis auf sozialistische Fundament in Frage. Die Behauptung räumt, so Winnen, die den zweiten Versuch legt Winnen Möglichkeit ein, «daß auch im real existierenden Sozialismus der ‹Sklavensta- wieder eine chronologische Abfolge von Geschehen und Schreibprozess tus›, der in Marx’ Analyse den Zustand der Arbeiter in kapitalistischen Betrieben nahe, jedoch scheint sich der Text bezeichnet, keineswegs überwunden ist».36 Während der polarisierende Aus- dieser eindeutigen Zuordnung zu widersetzen. druck in der Rede des Protagonisten ohne typografische Markierung erscheint, 35  Nach dem dreifach wiederhol- taucht nun die Kursivsetzung als eine politische Distanzierung in der Rede des ten (Ver-)Weigern erfolgt die nächste Provokation des Protagonisten, neuen Meisters auf. Die Verfahrensweise des reparierenden Schreibens macht indem er das Werk als «Strafan- sich hier die Gegenseite zunutze. In der typografischen Hervorhebung wird der stalt» bezeichnet (H 128). Der neue Meister weist dies folgendermaßen Ausdruck als ideologisch Fremdes ausgesondert. In der Aneignung des Begriffs zurück: «Sie wollen doch geistig rege bricht das Vorhaben jäh ab und bietet keine Gelegenheit der Korrektur. Die sein und übersehen, daß mit diesen Spenden schon einige Menschen Gratwanderung des Eklats gelingt demnach nicht, sondern wendet sich gegen vielleicht vor wirklichen Strafanstal- den Heizer. Nicht nur auf der Ebene der Narration, sondern auch auf der der ten bewahrt worden sind» (H 128). 36  Winnen: Kafka-Rezeption in der Schreibszene lässt diese Wendung den Text scheinbar selbst scheitern, denn er Literatur der DDR, 250. SCHWERPUNKT 47 JOHANNA KÄSMANN fügt sich in den ideologisch gelenkten Diskurs ein. Das Scheitern ist jedoch, wie der Heizer wenig später reflektiert, unumgänglich: – Der Heizer, der sich in keinem Moment hatte befreien können aus dem Sprechtext der Figur, die er, in diesem Land aufgewachsen, hier darstellte, wußte, daß sein durch die eigenen Worte determinierter Sieg eigentlich eine Niederlage war, der einzig mögliche, korrumpierende Sieg für ihn in diesem Land, den er auch dadurch, daß er sofort Papier und Stift verlangt hätte, um die Kündigung zu schreiben, nur verkleinern konnte […]. (H 129) Trotz seiner Provokationen verbleibt er im Sprechtext einer Figur, die «in die­ sem Land aufgewachsen» ist und einem anderen Skript folgen muss. Gefangen im determinierten Sprechtext erfährt der Protagonist «seine Rede – und zwar auch seine Gegenrede – als von der Sprache des Betriebs abhängige Inszenierung»,37 so Winnen. Er ist eine «völlig unbedeutende Nebenrolle», auf «das Signal für seinen Abgang» wartend, «innerhalb des Stücks, das die in diesem Büro han- delnden Personen aufführten» (H 129 f.). Im Büro haben die «eigenen W orte», die der Protagonist für seinen Eklat verwendet und den Vorgesetzten als mög- liches Protest-Instrument präsentiert, der Gegenseite zum Sieg verholfen. Die Möglichkeit, «sofort Papier und Stift» für die Kündigung zu verlangen, würde ihn nur weiter in diesen «Sprechtext der Figur» drängen und den ideologischen Diskurs weiter ausbauen. Auch im Schreibprozess und der typografischen In- szenierung hat der Protagonist sein Instrument offengelegt. Die Figur des n euen Meisters scheint sich dem Schreibenden insofern zu widersetzen, als sie auch auf der Ebene des Geschriebenen wirken kann und ihren Sprechtext so verändert, dass das Kursive nun ihrer Strategie folgt.38 Nach dieser Erkenntnis muss der Heizer mit der Prämie, die höher ausge- fallen ist als angekündigt und somit den korrumpierenden Sieg der Gegenseite noch einmal betont, das Büro verlassen. Zuhause angekommen schläft er kurze Zeit später ein. In einem Traum zum Ende der Erzählung verdichten sich die verschiedenen Elemente. Eingeleitet wird er von einer Außenansicht, die wie- der durch den Ausdruck des Sich-Sehens entsteht: – In einem wirren, doch ungewöhnlich eindrucksvollen Traum […] sah er sich im In- nern einer Pyramide, wahrscheinlich in der untersten der Kammern, […] er sah sich vor einer schier endlosen Reihe von Heizkesseln arbeiten, in den Ohren das unun- terbrochene Geräusch des Dampfes, der durch ungezählte, über ihm in Richtung der Pyramidenspitze zielende Rohrleitungen fauchte. Ein riesiger, nicht abnehmender Kohleberg stand ihm zur Verfügung – […] – mit nicht nachlassender Kraft warf er Schaufel um Schaufel der Kohle in die aufbrausenden Schlünde der nächststehenden Kessel, das Prasseln in den Dampfleitungen schwoll an, stieg scheinbar bis in alle Höhen der Pyramide hinauf, und schon wieder schlugen, unersättlich, Flammen aus 37  Ebd., 251. den nicht mehr zu schließenden Mäulern der Kessel zurück. In den geringen Pausen, 38  Auch Winnen in ihrer Verwen- die ihm blieben, lauschte er, ob über ihm […] Schritte wären, kein Zweifel, dort dung der Kursivierung fügt sich oben gab es überall Schritte, in allen sich über ihm türmenden Räumen war ein Auf- scheinbar in diese Konstellation und Abgehen, doch übertönte alles der Lärm des Dampfes. (H 135 f.) mit ein. 48 ZfM 27, 2/2022 REPARIEREND(ES) SCHREIBEN In diesem Blick auf sich selbst manifestieren sich alle Raumerfahrungen des Protagonisten wie «die labyrinthische Ausdehnung des Betriebsgeländes und seine räumliche Abgeschlossenheit, aus der es kein Entkommen gibt», sowie «der in der Tages-Erzählung nur angedeutete symbolträchtige Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen Ort der Heizer […] und ihrer sozialen Position auf der untersten Stufe der Betriebs- und Gesellschaftshierarchie» in der Archi- tektur der Pyramide.39 Insofern der Arbeitsort zuvor ein einsamer war, ist er im Traum nun ein überwachter, über dem sich Räume bis in die Spitze der Pyra- mide türmen. Gewahr wird der Heizer seiner Überwachung nur in Pausen, in denen er das «Auf- und Abgehen» der Schritte hört, die vorher von den Geräu- schen der Kessel übertönt worden sind. Die Pausen, in denen er einst schrieb, werden jetzt von der Internalisierung der Überwachungssituation verdrängt. So steht der zuvor einsame Arbeitsort des Heizers nun durch den gescheiterten Eklat unter Beobachtung. Vor dieser Kulisse beginnt der Protagonist dennoch das Schreiben seiner Kündigung, wobei die Erzählung nicht deutlich markiert, an welchem Ort die folgende Schreibszene stattfindet: – Er hatte es noch nicht gewagt, die Kündigung zu schreiben. Oder er war nicht fähig dazu, der Text seiner Kündigung würde den Umfang eines dicken Buches ha- ben; er hatte begonnen zu schreiben, unendliche Ketten von Zusammenhängen, die für diesen Text notwendig waren, doch wem, wenn er alles in den Text aufzulö- sen imstande war, sollte er das Buch übergeben. Er war es selbst, dem er das Buch überreichte, der Heizer war gekommen, um die Kündigung entgegenzunehmen, mit gebieterischer Geste überreichte er ihm, im Tausch gegen das Buch, einen großen Briefumschlag, in dem sich Münzen und Scheine aneinanderrieben, mit gewaltigem Lachen begleitete er diesen Tausch […]. Er suchte sich zu erinnern, wie er […] in diesen unterirdischen Raum herabgestiegen war, doch es war zwecklos, diese Erin- nerung gab es wohl nur im Kopf des anderen, den er mit dem Buch sich entfernen sah, den er über endlose Treppen hinaufsteigen sah, dessen Körper, der dem seinen aufs Haar glich, im Widerschein der Flammen, ehe er im Dunkel verschwand, noch immer von seinem Gelächter erschüttert war. (H 136 f.) Zögernd beginnt der Protagonist, seine Kündigung zu schreiben, im Bewusst- sein, dass diese schnell «den Umfang eines dicken Buches» haben wird. Das Darstellen seiner Kündigungsgründe erzwingt eine «unendliche Kette von Zusammenhängen», die alles aufzulösen vermag. Die Stelle des Auflösens ist genau dort zu suchen, wo sich die Ebene der Geschehnisse (wie die schlech- ten Arbeitsbedingungen, die dadurch schwere körperliche Arbeit und der Pro- test dagegen) und die Ebene des Schreibprozesses, der in seiner literarischen Darstellung dieser Verhältnisse durch die Sprache der herrschenden Ideologie stets gestört wird, begegnen. Aus dieser wuchernden Kette, die durch das re- parierende Schreiben entsteht, kann der Heizer nur ausbrechen, indem er den Text einem anderen gibt und so einen Abstand schafft. Die einzige Ausstiegs- möglichkeit besteht in einem mysteriösen Doppelgänger. Als Überlegener ver- 39  Winnen: Kafka-Rezeption in der schwindet er lachend mit dem Buch «über endlose Treppen hinauf», während Literatur der DDR, 252. SCHWERPUNKT 49 JOHANNA KÄSMANN der Erste im Inneren der Pyramide zurückbleibt.40 Durch die Geldübergabe steht dieser Erste in Verbindung mit seinen Vorgesetzten, die ihn trotz seines Protests mit einer Jahresendprämie, welche die der anderen Heizer im Betrieb übertrifft, entlohnt haben.41 In der Kursivsetzung ist der «Heizer» nicht nur der Doppelgänger, sondern zugleich auch die Erzählung selbst,42 die in der Differenz von Schreibgegen- stand und Schreibreflexion eine Unterbrechung und somit ein Ende findet. Durch diese Gleichzeitigkeit schafft sich der Heizer am Kessel im Schreiben einen Doppelgänger in Form eines Textes, der ihn zwar nicht aus dem Kessel- haus flüchten lässt, aber ihn zumindest vom wuchernden Buch befreit. Dabei verschwindet der Doppelgänger mit einem Text, der in Überlagerungen ver- schiedener Absichten, Zitate und intertextueller Bezüge ein komplexes Wissen über das Reparieren zeigt und zugleich die Funktionsweise des ideologischen Diskurses ausstellt. Das Ende zeigt das Überkommene des Protagonisten als Heizer und als Schreibender und verschiebt das potenzielle Handeln in das Au- ßen des Textes. Die Form des reparierenden Schreibens, die die Grenze von textintern und textextern immer wieder verschiebt und neu setzt, ermöglicht Hilbig, sich aus dem ideologisch determinierten Textraum herauszuschreiben und die Erzählung in der BRD zu veröffentlichen. Durch Unterm Neomond 40  Vgl. ebd., 252 f. 41  Vgl. ebd., 253. und weitere Veröffentlichungen wird er in Westdeutschland bekannt und er- 42  Darauf weist Winnen hin, vgl. hält 1985 das Stipendium des Deutschen Literaturfonds, das ihm die Ausreise ebd., 254 f. 43  Vgl. Stephan Pabst: Roman und aus der DDR in die BRD ermöglicht.43 Obwohl Hilbig die DDR und ihren Reflexion. Wolfgang Hilbigs Arbeit L iteraturbetrieb verlässt, bleibt er in seinem reparierenden Schreiben auf das am Text – «Eine Übertragung», in: Ulrich von Bülow, Sabine Wolf (Hg.): Abgenutzte, Ermüdete und Obsolet-Gewordene bezogen, wie Michael Opitz DDR-Literatur. Eine Archivexpedition, bemerkt: «Als Dichter war Hilbig in der DDR abwesend, obwohl er große Teile Berlin 2014, 267 – 278, hier 267. 44  Opitz: Hilbig, Wolfgang, 129. seiner Stoffe aus diesem Land bezog und in seinen Texten verarbeitete.»44 — 50 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140206. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. A L E X A N D E R WA G N E R DER HEIKODYSSEUS — ‹Reparieren› als Prozessor sozialistischer Bildung Die DDR lässt sich als ‹Reparaturgesellschaft› beschreiben; ihre B ürger_innen werden, auch und gerade im Rückblick und aus der hegemonialen Perspek- tive des Westens, als (unfreiwillig) kompetent im Umgang mit Defekten und Mangel wahrgenommen. Die entsprechende Identifikation mit Konzepten von Langlebigkeit, Optimierung, Findigkeit und organisatorischem Geschick zählt zu den wichtigsten Positivkategorien ostdeutscher Selbstbeschreibung 1  Vgl. hierzu umfassend Wolfgang und wird zugleich noch längst nicht hinreichend als echtes Potenzial für ge- Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, samtdeutsche Transformationsprozesse anerkannt.1 Was Wolfgang Engler und Berlin 2002 sowie mit Bezug auf den häufiger erwähnten Bereich von andere als «Chaoskompetenz» bezeichnet haben,2 als die Fähigkeit, inner- Mutterschaft und familiärer Repro- halb defizitärer industrieller Strukturen und eklatanter Dauerengpässe bei der duktionsarbeit z. B. Judith Enders: Feminismus und Mütterlichkeit – ein Versorgung mit Ressourcen dennoch an Tausch- und Verwertbares und so an Ost-West Thema?, in: Femina Politica, Benötigtes zu kommen,3 beinhaltet mit der Instandsetzungskompetenz einen Bd. 28, Nr. 2, 2019, 140 – 146. 2  Vgl. Wolfgang Engler: Die Ost- wichtigen Baustein. ‹Reparatur› wird dabei für den hier gewählten Zusam- deutschen. Kunde von einem verlorenen menhang explizit als Bildungsfunktion verstanden, deren Untersuchung ihren Land, Berlin 2002, 188, 288. 3  Vgl. Steffen Mau: Lütten Klein. Ausgangspunkt im Bildungsverständnis einer dialektisch gewendeten Aufklä- Leben in der ostdeutschen Transformati- rung im Anschluss an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nimmt und onsgesellschaft, Berlin 2020, 69, 107. 4  Heiko war in der DDR ein versucht, hierüber Rückschlüsse auf Eigenarten von Subjektivierung im Kon- beliebter männlicher Vorname. Das text des DDR-Sozialismus zu ziehen. Wird bei Adorno und Horkheimer das vermerkt z. B. das Standardwerk von Wilfried Seibicke: Die Personennamen bürgerliche Subjekt am einschlägigen Beispiel des Sagenhelden Odysseus als im Deutschen, Berlin, Boston 2019 durch Entsagung gebildetes analysiert, das sich in aufeinanderfolgenden Aus- [1982], 144. 5  Die (Selbst-)Bespiegelung der nahmezuständen formt, ist die alternative Figur des DDR-Subjekts, das in die- Ostdeutschen als lösungsorientiert, sem Fall nicht weniger androzentrisch geprägt ist und darum versuchsweise ‹bauernschlau› und in organisa- torischen Fragen krisenfest ist Heikodysseus 4 genannt werden soll, an den Reparaturfall als Normalzustand bisher tatsächlich stark ‹männlich› gewöhnt.5 ‹Bildung› lässt sich in beiden Fällen als Umgang mit Notständen geprägt. Alternative Perspektiven schlägt z. B. Volker Koepp in seinen und Defekten verstehen, nur sind deren warenweltliche Verhängnisse in der film i schen Dokumentationen aus DDR, so die These, den Konsumprodukten erstens inhärent und zweitens gibt dem Wittstock-Zyklus (1975 – 1997) über eine Gruppe von Arbeiterinnen Reparaturintelligenz als Dispositiv eines Reparaturwissens vor, dass die Option aus der DDR-Textilindustrie vor. SCHWERPUNKT 51 ALEXANDER WAGNER ‹Instandsetzen› anderen Umgangsformen mit Defekten (‹Instandsetzen-Las- sen› oder ‹Ersetzen›) gegenüber zu präferieren ist. Beide Funktionen führen zu dichteren Bildungsprozessen im Bereich des ‹Reparierens› in der DDR im Vergleich zur BRD. 6  Dass es sich in diesen Funktio- nen auch außerhalb realsozialisti- ‹Reparatur› ist also im Kontext ostdeutscher Verhältnisse größer zu fassen scher Lebenswelten längst nicht er- denn als Beheben aufgetretener Fehler und Schäden in laufenden Prozessen schöpft, muss angesichts inzwischen elaborierter Forschungsergebnisse, und gebrauchten Gegenständen.6 Das Konzept führt tief in die Verfassung der die die politische Dimension von arbeiterlichen Gesellschaft 7 als von rhetorischen und materiellen Idiosynkrasi- Reparatur konsequent hervorheben, nicht eigens betont werden. Vgl. u. a. en 8 durchzogenes System, das hier, wiederum versuchsweise, ‹katachrestisch› (in chronologischer Reihenfolge) genannt werden soll. Die Katachrese, als Trope vom Historischen Wörterbuch Evelyn Blau, Norbert Weiß, Antonia Wenisch: Die Reparaturgesellschaft. der Rhetorik der Bearbeitung semantischer Fehlbestände zugewiesen,9 wird in Das Ende der Wegwerfkultur, Wien einem weiteren Verständnis für die DDR vom sprachlichen zum relativ univer- 1997; Brian Larkin: Signal and Noise. Media, Infrastructure, and Urban sellen Instrument der Fehlerbeseitigung. Reparaturwissen ist, folgt man einer Culture in Nigeria, London 2008; recht schlichten Unterscheidung, der zirkulierende, dem praktischen Zugriff Ignaz Strebel, Alain Bovet, Philippe Sormani (Hg.): Repair Work Ethnogra- potenziell zur Verfügung stehende ‹Stoff› einer Reparaturintelligenz, die als phies. Revisiting Breakdown, Relocating mentales Dispositiv den Zugriff ‹Reparatur› als Praxis der Problembewälti- Materiality, London 2019; Stefan Krebs, Gabriele Schabacher, Heike gung im mentalen Betriebssystem der DDR-Bewohner_innen vorstrukturiert. Weber (Hg.): Kulturen des Reparierens. Der Heikodysseus als dialektischer Doppelgänger des ‹listenreichen›, ebenfalls Dinge – Wissen – Praktiken, Bielefeld 2018; Jürgen Bertling, Claus Legge- dialektischen Bildungssubjekts bei Adorno und Horkheimer wird durch pro- wie: Die Reparaturgesellschaft. Ein duktiven, aneignenden Umgang mit seinem spezifischen Verzichtssystem zum Beitrag zur großen Transformation?, in: Andrea Baier u. a. (Hg.): Die Welt Prototypen einer besonderen, nämlich arbeiterlichen Form bürgerlicher Exis- reparieren. Open Source und Selber- tenz. Dieser produktiv-aneignende Umgang lässt sich als Prozessieren, als ein- machen als postkapitalistische Praxis, Bielefeld 2016, 275 – 286. greifende Veränderung 10 in katachrestische Zustände begreifen. Hierfür ist das 7  Vgl. grundsätzlich Engler: Die ‹Reparieren› im DDR-Sinn das vielleicht beste Beispiel, meint es doch nicht Ostdeutschen, 173 – 208. 8  Vgl. Ekaterina Gerasimova, nur die Instandsetzung gebrauchter Dinge, sondern ist vielen Konsumartikeln Sof’ia Chuikina: The Repair Society, und Gebrauchsgegenständen als Bedingung normaler Verwendung ab Werk in: Russian Studies in History, Bd. 48, Nr. 1, 2009, 58 – 74, hier 58, 66. mitgegeben. Die drei Erscheinungsformen dieser Bedingung wären erstens 9  Vgl. Gregor Kalivoda u. a. (Hg.): der notorische Produktionsfehler und zweitens, extremer noch, der Mangel Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4: Hu-K, Tübingen 1998, Sp. 904. an einem bestimmten Produkt, der bis zu seiner faktischen Inexistenz reichen 10  Vgl. Hartmut Winkler: kann. Das jeweilige Ding taucht dann im Extremfall in der DDR gar nicht als Prozessieren. Die dritte vernachlässigte Medienfunktion, Paderborn 2015. Angebot oder lediglich als Mythos auf, als Erzählung fantastischer Art mit ei- 11  Vgl. hierzu z. B. das Design des nem Rest an Wunschenergie, und muss aus anderen Gegenden, dem W esten Mokick S50 von Clauss Dietel und Lutz Rudolph aus dem Jahr 1975, bei zumal, für den nachbauenden Zugriff im Modus metonymischen Reverse dem «[d]ie Teile beziehungsweise E ngineerings erschlossen werden. Hinzu kommt drittens eine in einigen Fällen Baugruppen nicht mehr formschlüs- sig miteinander verbunden [sind] im Produktd esign mitgedachte Offenheit, die dem Ding bereits im Prozess der und also ausgetauscht werden Formgebung einen erweiterungs-, modifizier- und reparaturfähigen Charakter [können], ohne den Nachbarn zu beeinträchtigen. Der Austausch gibt.11 Die Sphären von Mangel und Mängel, von Fehlen und Fehler produzie- des einen Teils bleibt folgenlos ren so den Heikodysseus als Figur des DDR-spezifischen Bildungsromans, des- für alle anderen», Heinz Hirdina: Offene Strukturen, geschlossene sen wiederum DDR-spezifische Antwort auf die Frage «Was ist Aufklärung?» Formen. DDR- und BRD-Design – ein ein erweitertes Verständnis von ‹Reparatur› ist. Vergleich, in: Kai Buchholz (Hg.): Im Designerpark. Leben in künstlichen Zum entwickelnden Nachvollzug dieses Sets an Thesen wird im Folgenden Welten, Darmstadt 2004, 170 – 177, eine Zeitschrift betrachtet, die als Versuch gelten kann, im paradoxen Mo- hier 176. Für den Hinweis hierauf danke ich Jana Mangold. dell einer unsystematischen Enzyklopädie das flottierende DDR-Reparatur- 52 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS wissen zu bündeln, handhabbar zu machen, seine Akteure zu vernetzen und schließlich performativ einen ‹Ort› zu kreieren, an dem Reparaturintelligenz als Prinzip sozialistischer ‹Bildung› (print-)medial sichtbar und e ntsprechend Gegenstand eines emanzipatorischen Blicks auf das ‹Eigene› wird. Dieser ‹Ort› kann in der practic ausgemacht werden. Die Zeitschrift erschien, als Nachfolgerin von Modellbau und Basteln, seit 1964 zunächst zweim onatlich und ab 1972 quartalsweise im Verlag Junge Welt. Ihre Auflage von 362.400 Ex- emplaren im Jahr 1988 12 weist sie quantitativ als Printmedium mittlerer Reichweite aus, wobei für den Zeitschriftenmarkt der DDR mit seiner stär- keren Gelenktheit, vor allem aber der spezifischen, Papierknappheit und Verteilungsproblemen geschuldeten Distributionslage, andere Rezeptions- dimensionen der einzelnen Hefte und eine höhere Heftkontaktrate ange- nommen werden kann als etwa in der BRD. Die gut 360.000 Exemplare einer practic werden, davon ist auszugehen, dementsprechend trotz der für dieses Medium wichtigen Sammelfunktion (im Sinne von Gesammeltwerden durch Einzelnutzer_innen 13) von einer größeren Leser_innenschaft rezipiert worden sein, als die Auflagenzahl allein aussagt. Das Magazin überlebt die politische ‹Wende› nur relativ kurz. Nach einem umfänglichen Relaunch zwischen den Ausgaben 2 / 1990 und der darauffolgen- den Nummer 8 desselben Jahrgangs (die Nummern 3 bis 7 existieren nicht), mit der auf einen monatlichen Erscheinungsrhythmus und buchstäblich eine neue Zeitrechnung umgestellt wird, unternimmt practic die für DDR-Zeit- schriften recht üblichen Versuche redaktioneller und gestalterischer Art, auf einem gesamtdeutschen Markt Fuß zu fassen, was, leider auch relativ üblich, nicht dauerhaft gelingt. Mit der Dezemberausgabe des Jahres 1991 fusioniert practic mit der westdeutschen Heimwerkerzeitschrift selbst ist der mann und wird noch einige Zeit als eine Art Sonderheft für die neuen Bundesländer weiterge- führt, verliert aber ihre formale Selbstständigkeit. Die Zeitschrift versammelt über Jahrzehnte Bauprojekte, Erfindungen, Life- hacks und andere kreative Ideen aus der Lebenswelt der DDR-Bürger_innen. Viele der Artikel sind namentlich gekennzeichnet und weisen (ganz überwie- gend ‹männliche›) Leser_innen des Magazins als Autor_innen der einzelnen Beiträge aus. Darin drückt sich ein ausgesprochen großes Begehren an Rezipi- ent_innenbeteiligung aus. Auch die fotografische Dokumentation der Projekte liegt weitgehend in der Hand der Beitragsurheber_innen, was, wie noch gezeigt werden soll, zur Wendezeit zum problematischen Index einer reparaturbe- 12  Vgl. Dietrich Löffler: Publikums- zeitschriften und ihre Leser. Zum dürftigen Differenz des Magazins gegenüber ‹westlichen› Mitbewerber_innen Beispiel: ‹Wochenpost›, ‹Freie Welt›, wird. Redaktionelle Texte und Werbung tauchen dagegen vor der sogenann- ‹Für Dich›, ‹Sibylle›, in: Simone Barck u. a. (Hg.): Zwischen ‹Mosaik› ten ‹Wende› nur spärlich auf. Hin und wieder werden unter Überschriften und ‹Einheit›. Zeitschriften in der DDR, wie «In eigener Sache» Ansprachen an das Publikum veröffentlicht, in denen Berlin 1999, 48 – 60, hier 50. 13  Trotz der Verwendung gegen- hauptsächlich um weitere Ideen, vor allem aber kritische Rückmeldung zu den derter Formulierungen im Folgenden Heftinhalten und um Vertrauen in das Handeln der Redakteure, etwa bei der ist von einer ganz überwiegend ‹männlichen› Leserschaft der practic Auswahl aus den eingesandten Projekten, geworben wird. auszugehen. SCHWERPUNKT 53 ALEXANDER WAGNER Im Folgenden wird aus drei Perspektiven, die jeweils assoziativ an Stellung- nahmen aus dem Odysseus-Exkurs in der Dialektik der Aufklärung anknüpfen, auf die Zeitschrift geschaut. Dabei kommen das Bildungsmodell der Zeitschrift, ihre um 1990 endgültig kritisch werdenden Subjektivierungspraktiken und schließlich der Untergang des Heikodysseus in den neuen, unvermeidbaren, schnell appli- zierten Standards westdeutscher Printmedialität in den Blick. I. Mangel als Einsicht oder «List aber ist der rational gewordene Trotz» 14   Angesichts der oben beschriebenen Verhältnisse innerhalb der practic, ihres Übergewichts an Leser_innenbeiträgen, die offensichtlich nur schwach von der Redaktion gesteuert oder angepasst werden, erscheint die Zeitschrift als kuratierte Arena freier Mitarbeiter_innen, die aus dem Kreis der Leser_innen stammen und den Inhalt der Heftseiten mit ihren Einsendungen bestimmen. Im Gegensatz zur Nachwendezeit stellt die practic vor 1989 kaum neue Kon- sumartikel vor, von Ausnahmen wie solchen Gegenständen abgesehen, die eindeutig als innovative Prototypen eingeordnet werden können und etwa im Rahmen von Messeschauen gezeigt werden. Was die Zeitschrift erklärt und bespricht, sind nahezu ausschließlich Ersatzdinge für nicht zu habende und Verbesserungen verfügbarer, aber defizitärer Produkte. Dieses zwischen im­ provement und Substitution aufgespannte Feld gibt den Lernbereich für ‹Repa- ratur› ab, dem sich das Magazin widmet. Die Gemeinschaft der practic-Prosu- mer_innen, die in geteilter Rolle als Leser_innen und Autor_innen fungieren, eint dabei eine anspornende Einsicht in die Defizite ihrer Lebenswelt. Hierin besteht ein Unterschied zum Odysseus in der Bildungsgeschichte von Adorno und Horkheimer. Erzählt die Odyssee eine Geschichte des bürgerlichen Indi- viduums, das vor allem auf dem Weg persönlicher Entsagung zu sich kommt, ist der Heikodysseus listenreich in einer lückenhaften Welt, die er selbst neu entwirft und so im wahrsten Sinn identifiziert. Am Beispiel der Fahrt entlang der Sireneninsel wird klar, dass der Odysseus der Dialektik der Aufklärung sich gerade durch Erkenntnis einer nicht überwundenen Verfallenheit an seine Zwänge von ihnen befreit. Die Fesseln, die ihn an den Mast binden, und das Wachs in den Ohren der Rudernden, das sie taub für seine Schreie macht, sind Maßnahmen des technisch aufgeklärten Mannes,15 der auf vernünftigem Weg und durch Abwägung seiner Vermögen ein bestehendes System, die an den 14  Theodor W. Adorno, Max Rand der zivilisierten Welt gedrängten Monster des Mythos, ohne direkten Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frank- Eingriff überlistet. furt / M. 2002 [1944], 66. Die practic nun erzählt eine Variante dieser Erzählung bürgerlicher Bildungs- 15  Vgl. ebd. 16  Dominique Krössin: Wie mache prozesse im Rahmen gesteigerter materieller Herausforderung. D ominique ich’s mir selbst? Die Zeitschrift Krössin sieht in der Zeitschrift «eine eigenartige Mischung aus vorindustri- ‹practic› und das Heimwerken, in: Neue Gesellschaft für Bildende ellen Verhaltensweisen und Modernität [dokumentiert]».16 Diesem Eindruck Kunst (Hg.): Wunderwirtschaft. DDR- ist vorläufig zuzustimmen; das dem Magazin zugrunde liegende Bildungs- Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln u. a. 1996, 160 – 165, hier 162. modell lässt sich mit Blick auf die Subjektivierungsprozesse des Odysseus in 54 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS der Dialektik der Aufklärung für den Heikodysseus der DDR aller- dings präzisieren: Diesen führt sein Weg, darin seinem dialektischen Vorgänger metaphorisch verwandt, in die Gewässer um die Sirenen- insel und an Skylla und Charybdis vorbei. Er scheint hier freimütiger zu verweilen als der homerische Held. Prozessiert Odysseus mit Fesseln, Wachs und dem quälen- den Genuss ein Wissen über seine eigene Verfallenheit, ist es beim Heikodysseus ein Wissen über die Verfallenheit der Welt, in der er lebt und über deren Zustand er ebenso aufgeklärt ist wie über die Möglichkeiten zur eingreifenden Veränderung. Die Welt selbst ist ein poröser Hybrid aus Vorindustriellem und Modernität und der adäquate Abb. 1 practic, Nr. 1, 1981, 189 Umgang mit ihr ist ‹Reparatur›. In beiden Szenarien kommen die Subjekte über List in den Genuss des Si- renengesangs. Während im Epos die Zurichtungen des Sagenhelden sich auf den eigenen Körper und die Körper der Kameraden beziehen, manipuliert der Erzähler des practic-Beitrags «Geänderte Tastenhalterung» (Abb. 1) direkt das singende Medium, das Kassettentonbandgerät ‹Sonett›. Im Kontext einer technisch vermittelten Welt, in der Musik als Echo der Sirenen auf Tonbän- dern gespeichert vorliegt, gerät der Zugriff des reparierenden Subjekts me- dientechnisch direkter, Mangel und Begehren vorausgesetzt. In Tipps wie dem oben gezeigten (Abb. 1 und 2) artikuliert sich ein Bildungsprojekt, das mit den Verhältnissen, in denen es lebt, identifiziert ist, modifizierende Eingriffe in- klusive. Das Subjekt in der Figur des Autors / Lesers macht für sich selbst Re- klame und dabei zugleich für einen Sozialismus, der eingreifende Veränderung in (noch) verbesserungsfähige Zustände als wichtigen Teil gesellschaftlicher Entwicklung setzt und diesseits der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft kei- ne falschen Versprechungen macht: In der practic artikuliert sich Kritik an den Mängeln der DDR-Warenwelt im Modus des listigen improvement, das dank der Zeitschrift als Zuwachs von Reparaturwissen verbucht werden kann. Die 17  Vgl. Harry Schröder: Identität, Individualität und psychische sozialistische Gesellschaft kommt damit zu einem Bildungsideal, das die De- Befindlichkeit des DDR-Bürgers fizite der ‹Realität› als dialektisches Angebot von Subjektivierung adressiert. im Umbruch, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungs- Die Katachrese des Dings wird auf diese Weise in ein rhetorisches Problem soziologie, Nr. 1, 1990: Sozialisation überführt, das auch mit den Mitteln der Rhetorik zu lösen ist,17 um als Gelöstes im Sozialismus. Lebensbedingungen in der DDR im Umbruch, hg. v. Günter anschließend auch von anderen praktisch umgesetzt zu werden. Burkart, 163 – 176, hier 170. SCHWERPUNKT 55 ALEXANDER WAGNER II. Der Bruch oder «ihr   Gebot erfüllend und damit   sie stürzend»18  Die Katachrese lässt sich also als Schnittpunkt von Reparaturpraxis und Reparatursprache begreifen, der an ‹Orten› wie der Zeitschrift practic sichtbar in Erscheinung tritt. Die anscheinende Spannung von ‹vorindustriellen Verhaltensweisen und Modernität› kann nun korri- giert werden: Die Verhaltensweisen sind durchaus so modern wie die Welt, der sie sich zuwenden. Sie entsprechen nur einem anderen, alternativ-aufgeklärten Bildungs- konzept, das seinen Weltzugriff als eingreifende Veränderung in eine porös erfahrene Welt definiert. An ausgewählten Beispielen soll ge- zeigt werden, wie die Zeitschrift sich in den ‹Wende›-Prozess impli- zit-kritisch einschaltet. Mit Kom- mentaren zur Lage der politischen Dinge geht die practic sehr sparsam um. Gegen Ende der DDR erst ist ein verschärfter Ton zu spüren, der die kritischen Impulse des ‹Selber- Abb. 2 practic, Nr. 1, 1990, 27 machens› stärker in Richtung eines prekärer werdenden Mangels bzw. einer erschöpften Resilienz andauernder Knappheit gegenüber verortet. So heißt es etwa zu Beginn des Artikels «Heimsportgeräte auf engstem Raum»: Mit dem steigenden Bedürfnis zu sportlicher Tätigkeit und gesunder Lebensweise hält die Produktion von Heimsportgeräten nicht Schritt. Der für industrielle Geräte notwendige Platz und die Preise ‹fördern› den Eigenbau entsprechend der individu- ellen Möglichkeiten und Wünsche.19 Die DDR-eigene Produktion von Fitnessgeräten wird selbst als unfit markiert und die Konsequenz daraus bereits eindeutig ironisch als in Anführungsstrichen 18  Adorno, Horkheimer: Dialektik stehende Motivation des selbstbauerischen Bildungskonzepts erkannt. Der der Aufklärung, 67. 19  G. Paduschek: Heimsport ge- E igenbau ist endgültig zum Mangelsignal geworden. Konstant bleibt dagegen räte auf engstem Raum. Kraftsport- der Verweis auf durch die Kompensation industrieller Fehlbestände ermög- Training in der Wohnung, in: practic, Nr. 1, 1990, 16 – 19, hier 16. lichte Individualität, der bereits vorher eng mit dem ‹Reparatur›-Konzept der 56 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS practic verknüpft war. In der letzten Ausgabe vor dem Relaunch wendet die Re- daktion sich unter der Überschrift «An alle practic-Fans» noch einmal explizit an das Publikum: Mit den vielen Veränderungen, die jetzt in unserem Lande vor sich gehen, ergibt sich für uns auch endlich die Möglichkeit, eine bedarfsgerechte Auflage zu drucken und jedem die Gelegenheit zum Abonnement zu bieten. […] Zu den Veränderungen in unserem Lande gehört aber auch, daß es für viele Dinge keine Subventionen mehr gibt, so daß auch die Verlage die Mittel zur Herausgabe ihrer Publikationen selbst erarbeiten müssen. Für unsere Zeitschrift bedeutet das, daß der Heftpreis ab Ausgabe 3 / 90 nicht mehr 1,- M, sondern 1,60 M betragen wird.20 Einer der sehr wenigen relativ direkten Kommentare zu den ‹Veränderungen in unserem Lande› formuliert das wiederum dialektische Dilemma gelöster Versorgungsengpässe bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Deregulierung und wiederholt damit das Problem der Gemeinschaft der zu ‹Fans› werdenden Heiko dysseuse: Wenn Not erfinderisch macht und diese Maxime zum implizit anerkannten Set des kulturellen Wertesystems gehört, dann wird ein Ende der Not, und mit ihr ein Ende der Anerkennung ihrer Lösungsstrategien und der Subjekte, die sie zirkulieren lassen, auch eine Krise des Erfindens sein. Und so- fern das Erfinden, wie im hier gezeigten Fall in seiner Spielart als ‹ Reparatur›, zum Bildungsmodell einer Gruppe gehört, wird sich unterhalb der systemi- schen Krise eine Vielzahl kleiner individueller Subjektkrisen vollziehen. Die Erfahrungen der ostdeutschen Transformationsgesellschaft nach dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes legen hiervon Zeugnis ab. Die practic gerät sehr schnell in diese systemische Krise und wird auf ei- ner impliziten Ebene zum Indikator für recht ruckartige Veränderungen im Umgang mit Mangel, Fehlern und gebremstem Fortschritt, die als Fragmen- te eines neuen Subjektkonzepts auf die Leser_innen gespiegelt werden. Die Anzeichen dafür bleiben zunächst noch sehr implizit. Beispielsweise kündigt die Zeitschrift am Ende des letzten Heftes alter Machart ein neues Thema an, noch ohne zu sagen, dass es, in variierter Form, in Zukunft breiten Raum erhalten wird: Drachenfliegen und Ballonsport erfüllen den uralten Wunsch des Menschen zu flie- gen in der ursprünglichsten Form. Auch das ist bei uns jetzt möglich, nachdem es jahrzehntelang verboten war. Wir werden für interessierte Leser über Aktivitäten und Möglichkeiten berichten.21 Der Drachensport wird in den folgenden Heften überraschend viel Aufmerk- samkeit erhalten, allerdings nicht in seiner hier gemeinten, Menschen das Fliegen ermöglichenden und sie potenziell über innerdeutsche Grenzen hin- wegtragenden Form. Vielmehr werden Fesseldrachen und andere größere und kleinere Boden-Luft-Systeme und vor allem ihnen gewidmete Feste vorgestellt, 20  Walter Gutsche: An alle practic- Fans, in: practic, Nr. 2, 1990, 95. bei denen sich Enthusiast_innen des Drachensports treffen. Das Verbotene der 21  Ebd. SCHWERPUNKT 57 ALEXANDER WAGNER Ballon- und Flugdrachenfahrt, die als ‹Reparatur›-Option durch den immer mitgedachten und durch zahlreiche konkrete Fälle aktualisierten Fluchtgedan- ken dem Spektrum der Kritik, das dem Heikodysseus zu üben erlaubt ist, ent- zogen bleibt, kehrt im Fesseldrachen als Angebot an den Himmel geschriebener Freiheit wieder. So heißt es im ersten Heft nach dem Relaunch bereits unter dem Motto «ONE SKY ONE WORLD!»: Unter diesem Slogan findet das alljährliche weltweite Fliegen mit Fesseldrachen am 14. Oktober statt. Es ist ein Symbol der Verbundenheit der Drachenfans der gan- zen Welt in Frieden und Freundschaft. In diesem Jahre sind unsere Drachensportler erstmalig auch dabei.22 Die Zeitschrift nimmt ihre Ankündigung, den Traum vom Fliegen einzulösen, partiell zurück und hegt ihn in ein Konzept ideologischer Höhenflüge ein, bei denen zumindest die Drachenfans durch ein Symbol verbunden werden. Hier wird noch einmal der spezifische Umgang mit katachrestischer Realitätsbewäl- tigung im Moment des systemischen Bruchs deutlich: Es bleibt bei der Über- führung materieller Fehlbestände in semantische, in diesem Fall die Ersetzung des Menschenflugs durch sein vermitteltes Zeichen, bei dem der Mensch am Boden bleibt und «Symbol[e]» fliegen lässt. III. Die Heimsuchung als Heimwerker oder «als prototypischer   Bürger hat er in seiner Smartheit ein hobby»23  In den Heften nach dem Relaunch der practic und besonders ab Oktober 1990, also nach dem Beitritt der DDR zur BRD, taucht der Heikodysseus immer mehr ab in die kleinteiligen Heftregionen mit ausgewiesener Rezipi- ent_innenbeteiligung, die Rubriken ‹Leserpost› und ‹Leserideen›. Hier wird, zunehmend von westdeutschen Beiträger_innen ergänzt, weiter an der Opti- mierung defizitärer Alltagsgegenstände gearbeitet, werden Lifehacks ausge- tauscht und Erfindungen geteilt. Hier halten sich noch eine Weile Positionen, die im Rest der Zeitschrift dem steigenden Druck veränderter Bedingungen bereits nachgegeben haben. Pünktlich zum vorläufigen institutionellen inner- deutschen Schlusspunkt der politischen ‹Wende› im Oktober 1990 wird über- deutlich, wie das reparaturintelligente Magazin und seine Leser_innenschaft auf eine präexistente und nun vom nachzubauenden Mythos zur Realität ge- wordene Warenwelt trifft, die den Heikodysseus neu als Kunden anschreibt und eher auf den unasphaltierten Parkplatz einer schnell errichteten Massa- 22  O. A.: One Sky One World, in: Filiale einlädt,24 als seine Erfindungsgabe anzuerkennen. Die Zeitschrift lässt practic, Nr. 8, 1990, 67. 23  Adorno, Horkheimer: Dialektik diese Welt, notgedrungen, hinein, schafft es aber nicht, sie mit den eigenen der Aufklärung, 82. Formen, Designs und Verfahren zu koordinieren. Aus dem selbstbewussten 24  Vgl. hierzu die Fotografien von Gerhard Gäbler aus Taucha vom Juli Magazin für Selbstbautechnik, wie der Untertitel der practic zu DDR-Zeiten ge- 1990, zu sehen etwa in Jan Wenzel lautet hatte, wird im neuen Design das Magazin für Heimwerker, Bastler und (Hg.): Das Jahr 1990 freilegen. Remon- tage der Zeit, Leipzig 2019, 444 – 447. Tüftler. Harmlose Kategorien, deren am wenigsten kommodifizierbare, die 58 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS Bastler und Tüftler, schon im nächsten Jahrgang kommentarlos verschwunden sind. Die Zeitschrift heißt nun vorläufig Das Magazin der H eimwerker – Ideen, Tips und Tricks. Aus den Beobachtungen zum ästhetischen, printmedialen, vor allem aber epistemisch-medienlogischen Bruch sollen zwei herausgegriffen werden, die exemplarisch für Tendenzen der Zeitschrift und zugleich für Probleme eines ostdeutschen Krisen-Selbstverständnisses stehen können, das mit den ‹Wende›- Erfahrungen von einem schlagartig entwerteten positiven sozialistischen Bil- dungsdesign in die Diagnose eines Rückstands im Bereich bürgerlicher Begeh- rensökonomie kippt. Das Magazin kämpft dabei nur äußerlich um Autonomie, etwa in der neuen, unregelmäßig geführten Rubrik eines vom Chefredakteur an die Leser_innen gerichteten Editorials oder mit einer betont demokratisch anmutenden Auswahl von Leser_innenzuschriften, die auch drastische Formu- lierungen anscheinend wortgetreu zur Debatte zulässt, etwa hier, wenn es, ne- ben Kritik an der Preiserhöhung, um rückversichernde Versuche der Zeitschrift geht, mit der Mehrfachverwertung interessanter Beiträge die erweiterte Ziel- gruppe zu erreichen: Sie machen nach, was anderen bereits Monate vorher eingefallen ist, nämlich den kleinen Mann schröpfen. Übrigens: Der Freibrandofen und der Bumerang waren schon einmal bei ihnen Thema.25 Das Bemühen um andauernde Authentizität trotz schwieriger und ungewohnter Verhältnisse wird performativ beteuert. Dennoch ändert sich das Konzept der Zeitschrift recht schnell grundlegend. Noch im Vorwort zum ersten ‹neuen› Heft hatte der Chefredakteur unter den drei wesentlichen «Gründe[n] für das Selbermachen» noch ausdrücklich «de[n] Wunsch, sich zu bilden», genannt.26 Innerhalb der Zeitschrift wird von diesem zuvor dominanten Bereich allerdings zunehmend Raum an andere Themen abgetreten, etwa an die für Ostdeutsche neue Angebotsbreite an Elektrowerkzeugen, weiterhin an Produkttests, die Si- cherung des eigenen Besitzes, das Basteln vornehmlich dekorativer, weniger nützlicher Dinge und in wachsendem Maß an Reklame. Auf die verdrängten Prosumer_innen der practic, die zuvor ganz wesentlich den kuratierten Raum der Zeitschrift bespielt hatten, wird auch durch die Ver- änderungen im Heftdesign Druck aufgebaut. Bereits vor 1990 hatte es hin und wieder Hinweise an die Leser_innen gegeben, in welcher Form sie ihre Ideen und Erfindungen aufbereiten sollen, um möglichst gut von den anderen Mit- gliedern der Community verstanden zu werden. Dieses sehr lockere Stylesheet wird mit dem Relaunch deutlich rigider und die Zugangswege werden für die Amateur_innen damit prekärer. Besonders die eingeforderte und im neuen Er- scheinungsbild der Zeitschrift auch vorgegebene Qualität von Fotografien baut 25  Siegfried Kirscht: Nachdrucke eine zuvor nicht existente Hürde auf. Ist den auf der ‹Leserideen›-Doppelseite unbeliebt, in: practic, Nr. 11, 1990, 13. vorgestellten ‹Reparaturen› noch deutlich der auf Klarheit und bildnerische 26  Reinhard Besser: Liebe Lese- rinnen und Leser!, in: practic, Nr. 8, Schlichtheit gepolte Amateurfotograf anzusehen, der aus aufrechter Position 1990, 2. SCHWERPUNKT 59 ALEXANDER WAGNER seine Objekte ablichtet und von marktförmiger Inszenierung nicht zu viel weiß, erscheinen andere Heftbereiche zügig in experimentellerer Gestaltung, besser ausgeleuchtet, durch Freistellungen in der Trennung von Text und Bild geo- metrisch entgrenzt und vor allem üppig, wenn nicht gar redundant illustriert. Das Lavieren um Darstellungsstandards wird der Zeitschrift bald zum Problem und bereits Heft 12 / 90 enthält einen ausführlichen Artikel zum Thema «Gute Sachfotos», in dem der eigennützige Wunsch der Redaktion nach besseren Bil- dern als Begehren nach didaktischer Optimierung gerahmt wird: Weil wir wissen, daß viele unserer Leser veröffentlichungswürdige Heimwerkerleis- tungen vollbringen, wollen wir ihnen die wichtigsten Informationen und Hinweise geben, wie gute Sachfotos gemacht werden. Ihre Ideen beleben unsere «practic». Mit geeigneten Fotos kann jeder Leser – besser als verbal formuliert – Ihre Heim- werkerleistung, Baupläne und Leserideen nachvollziehen.27 Die Steigerung der heftinternen Standards koppelt sich mit der heimischen Ausstattung der treuen Leser_innen rück und macht ihre Defizite als Pro- blem aus. Erneut wiederholt sich, was die Zeitschrift zuvor bearbeitet hat: Die Krise der Ausstattung hat Irritationen bei der Distribution von ‹Repa- raturwissen› unter neuen Regeln zur Folge. In Abwandlung der zu Beginn des Jahrgangs getroffenen Diagnose über die dem Bedarf hinterherhinken- de Produktion von Heimtrainern ließe sich nun sagen: Mit dem steigenden Bedürfnis nach fotografischem Westniveau und gesunden Verkaufszahlen hält die Fotoproduktion des zum Heimwerker erklärten Heikodysseus nicht Schritt. Dass die Zeitschrift dennoch Rücksicht nimmt und Amateurhaf- tigkeit nicht sofort ganz abschreiben kann, zeigt ihre im Vergleich zu den Überlebenskämpfen anderer Magazine, etwa der reichweitenstarken, deutlich p rofessionalisierteren Neuen Berliner Illustrierten (NBI) oder dem Wohnmaga- zin Kultur im Heim (ab 1990 neues wohnen. Kultur im Heim), sehr viel schlech- tere Gesamtbildqualität. Ein auffälliges Zugeständnis an neue Magazinstandards, zumindest außer- halb der Reservate, in denen Teile des Heftprogramms von vor 1990 kon- serviert werden, ist die Präsenz von Frauen als illustrative Beigabe in Abbil- dungen, deren instruktiver Gehalt stark reduziert ist. Hatten Bilder in der Zeitschrift zuvor stets absolut funktionalen Charakter (eine Ausnahme b ilden einige Titelabbildungen wie jenes auf S. 9 gezeigte) und dienten dazu, das Projekt nachvollziehbar zu machen, tauchen nun zunehmend Menschen in eindeutig gestellten Fotografien auf, deren Aufgabe es ist, als Versprechen des fertigen Dings Lebensqualität zu performen. Diese Aufgabe kommt gemeinhin Frauen, Kindern und selten Paaren zu, etwa bei der Montage einer Sauna kabine im letzten Heft des Jahrgangs 1991, dessen Bebilderung nurmehr oberflächlich ‹Arbeit›, vor allem aber ‹Sex in der fertigen Sauna› 27  Frank Ihlow: Gute Sachfotos, kommuniziert (Abb. 3). Die practic integriert das neue Konzept ‹inszenierte in: practic, Nr. 12, 1990, 51 – 53, hier 51. Fotografie›, das zuvor nur sehr selten und sichtlich verschämt aufgegriffen 60 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS Abb. 3 practic, Nr. 12, 1991, 20. Der penetrierende Blick des Mannes signifiziert, in Korrespondenz mit dem Schraubenschlüssel auf Hüfthöhe der Frau, die Inszenierung des Bildes als Versprechen auf Ge- schlechtsverkehr in der Sauna nach getaner Arbeit. Abb. 4 practic, Nr. 12, 1990, 46 SCHWERPUNKT 61 ALEXANDER WAGNER wurde, und ersetzt auch hierüber ‹Reparatur› als Prozessor von Bildungs- versprechen durch das in seiner Kopplung aus ‹Konsum› und ‹Erotik› typi- sche und vorzugsweise visuell repräsentierte Modell in Aussicht gestellter W unscherfüllung. Auch bildpraktisch überlagert die Zeitschrift also sehr rasch die auf Subjektivierung, fotografische Authentizität und menschenlose Repräsentation überwundener Katachresen im fertigen Objekt abgestimmte Triebökonomie des in einen separierten Heftbereich weggesperrten Heiko- dysseus mit der Darstellung von häufig funktionslosen Menschen innerhalb einer Katalogästhetik, die Erwerbbarkeit von Lösungen durch Rekurs auf ‹schöne Dinge› signalisiert. Ende: «Der Kern der Weissagung ist das Verkennen des   Ruders als Schaufel»28  Bis zur ‹Wende› trägt practic den für die hier angestellten Untersuchungen vielsagenden Untertitel Magazin der Selbstbautechnik. Seine doppelte Lesbar- keit als Aufruf zur autonomen Tätigkeit und als Projekt der kybernetischen Autokreation, in dem das Subjekt sich und sein Selbst eigenmächtig ‹baut›, zeigt die zwei Lagen des sozialistischen Bildungsmodells, das ‹Reparatur› als Umgangsform mit einer katachretischen Wirklichkeit relevant setzt. Mit der Figur des Heikodysseus verschwindet dieses Modell nach dem Relaunch Mitte 1990 zunehmend aus der Zeitschrift, bleibt vielleicht in der nun erst- malig auch bildlich auftauchenden Figur des Chefredakteurs, der zuvor be- reits als Autor und stellvertretender Chefredakteur namentlich präsent war, und anderen hin und wieder abgebildeten Heimwerkern alten Schlags op- tisch im Spiel. Einer von ihnen ist Detlef Ganzert, der Gewinner des «gro- ßen Leserwettbewerbs» um das schönste selbstgebaute Regal (Abb. 4).29 Ihm wird, neben dem «Superpreis»30 einer Silvesterreise nach Paris, eine Home- story zuteil, in der seine Möbelbauprojekte im Stil einer Wohnzeitschrift ins Bild gesetzt werden (vgl. Abb. 5 und 6). ‹Tätigkeit› kommt nur durch ein einzelnes Foto von Herrn Ganzert als Heimwerker an der Oberfräse sowie durch seine Frau, die mit einer Sprühflasche die Yuccapalme wässert, als Si- gnifikat funktionierenden ‹Wohnens› im vom Mann geschaffenen Interieur, ins Bild. Bei diesem Artikel handelt es sich um einen der seltenen Versuche der Zeitschrift, neue Konzepte mit alten zu vermitteln. Herr Ganzert wird eindeutig als Heikodysseus klassifiziert über seine zahlreichen Werkstücke und den Hinweis, dass er mit seiner Familie und mit ihm das «Wir» der Ost- deutschen «zu Millionen in Typenhäusern [wohnt]. Mehr Last als Lust?»31 28  Adorno, Horkheimer: Dialektik Der Artikel betont die ausgesprochene Individualität der Ganzert’schen Mö- der Aufklärung, 84. bel, die dem schematischen «Typenbau», dessen Eigenschaften nicht weiter 29  O. A.: practic, Nr. 12, 1990, 46. 30  Ebd. ausgeführt werden müssen, als Korrektiv gegenübergestellt werden. Das 31  O. A.: Individualität durch rustikale Design der selbstgebauten Möbel entspricht dabei einer bestimm- Wohnideen, in: practic, Nr. 12, 1990, 4 – 7, hier 4. ten Vorstellung von ‹Bürgerlichkeit›, die Herrn Ganzerts offensichtlichem 62 ZfM 27, 2/2022 DER HEIKODYSSEUS Abb. 5 / 6 practic, Nr. 12, 1990, 4 – 7 SCHWERPUNKT 63 ALEXANDER WAGNER Begehren nach Repräsentation und einer abgesicherten Individualität Aus- druck verleiht und die eher im Selbstgemachtsein der Dinge als in ihrer ausgestellten Besonderheit besteht, die wiederum mehr vom Kontrast zur Plattenbauumgebung gespeist wird, als tatsächlich evident zu sein. Eine in die Wohnung integrierte Werkstatt des Protagonisten wird nicht gezeigt, sondern nur als hinter einer leicht geöffneten «Eigenbau-Wand»32 liegend verortet und damit bildlogisch zum mystisch verborgenen Transitionsraum eines inzwischen unklaren Hybrids bürgerlich-ostdeutscher Subjektivität. Die Homestory über Detlef Ganzerts Wohnungseinrichtung kann exem- plarisch für die Versuche der Zeitschrift stehen, das Projekt einer in Hoch- geschwindigkeit nachgeholten bürgerlichen Initiation durch Entsagung vom vorgängigen Modell darzustellen. Der Heikodysseus wird, so ließe sich schließen, an den Sirenen seiner früheren Welt vorbeigefahren und vor die Wahl g estellt, Leserbriefe zu schreiben, es wie früher zu tun und im Reservat zu leben oder den Ausbruch in den Kompromiss zu wagen, belohnt am Ein- 32  Ebd., 6. zelnen mit einer Reise nach Paris. — 64 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140207, https://orcid.org/0000-0002-6948-4256. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. F R A N C I S H U N G E R SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION — Wie in der DDR die relationale Datenbank DABA-1600  entwickelt wurde Der vorliegende Beitrag verläuft orthogonal zum ZfM-Schwerpunkt Reparatur­ wissen: DDR, da er Innovation in der DDR in den Vordergrund stellt.1 Inno- vation tritt allerdings nicht als technologische Höchstleistung auf, sondern als Alltagspragmatik einer Planwirtschaft, die Auswege aus der Fixierung auf die Industrieproduktion der 1950er bis 1970er Jahre suchte. Dass in der DDR- Wirtschaft viel repariert wurde, da Investitionsmittel fehlten bzw. nach Plan je- 1  Der vorliegende Text basiert auf weils anderswo zugeteilt waren, ist unumstritten. Doch «Reparieren als eine den einer Durchsicht der DDR-Fachzeit- DDR-Alltag bestimmende Praxis»2 ist eine Setzung, die sich selbst fragen muss, schriften Rechentechnik / Datenverar- beitung und Neue Technik im Büro der ob sie die Verhältnisse nicht allzu sehr romantisiert. Ausgangspunkt der zweifel- Jahrgänge 1973 – 1990, auf eigens los existierenden Reparaturkultur waren schließlich die politischen Programme durchgeführten Interviews mit Zeit- zeug_innen, Archivrecherchen und der SED, die sich an ökonomischen Bedürfnissen und Rahmenbedingungen ori- der Durchsicht von Bedienungsan- entierten, welche die Verteilungen der Ressourcen strukturierten.3 leitungen der Softwareprodukte. 2  Zit. nach Call for Papers ZfM 27: Aus dieser Perspektive ließe sich das Reparieren in der DDR als Schatten Reparaturwissen: DDR. begreifen, den die Innovation wirft, denn wo immer Mittel für Investitionen 3  Siehe u. a. die Beiträge von Hans-Hermann Hertle und Mario geplant und ausgegeben wurden, etwa im Wohnungsbau oder in der Mikro- Rainer Lepsius sowie das Gespräch elektronik, fehlten diese an anderer Stelle. Die ab 1971 postulierte Einheit von mit Claus Krömke in: Theo Pirker, Mario Rainer Lepsius (Hg.): Der Plan Wirtschafts- und Sozialpolitik versprach den DDR-Bürger_innen eine Lösung als Befehl und Fiktion. Wirtschafts- des Wohnungsproblems und eine erweiterte Konsumgüterproduktion, wodurch führung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995; André wiederum die Investitionen z. B. in Computertechnologie sanken.4 Sie war auch Steiner: Kein freies Spiel der Kräfte!? eine Reaktion auf den durch den ungarischen Wirtschaftswissenschaftler János Das neue ökonomische System als Einheit von Plan und Markt, in: Kornai analysierten Konsumgütermangel in sozialistischen Planwirtschaften. Heinz-Gerhard Haupt, Jörg Requate, Dieser zeichnete sich durch einen Überschuss an Kaufkraft, verursacht durch Maria Köhler-Baur (Hg.): Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Subventionierung und steigende Gehälter, und das Fehlen entsprechender Planungseuphorie und kulturellem Konsumgüter und Dienstleistungsangebote aus.5 Die Investition in bestimmte Wandel, Weilerswist 2004, 43 – 64. 4  Gerhard Merkel: «Da wurden innovative Industriezweige und der daraus resultierende Verschleiß in unter- unsere Investitionen alle auf investiven Branchen sowie die unzureichende Konsumgüterproduktion er- die Hälfte reduziert», Interview mit G erhard Merkel, Transkript, scheinen somit als Voraussetzung des Reparierens im DDR-Sozialismus. Denn 16.12.2018. indem große Investitionen beispielsweise in den Neubau von Plattenbauwoh- 5  János Kornai: Economics of Short- age, Bd. B: Contributions to Economic nungen gelenkt wurden, verfiel der reparaturbedürftige Bestand an Altbauten, Analysis, Amsterdam, New York 1980. SCHWERPUNKT 65 FRANCIS HUNGER und indem Mittel in den Aufbau einer eigenen DDR-Computerindustrie flossen, 6  Vgl. u. a. Kurt Möser: Thesen fehlten diese für die Erneuerung von Maschinerie in anderen Betrieben oder zum Pflegen und Reparieren in den Automobilkulturen am Beispiel der für die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern. Entsprechend wurde DDR, in: Technikgeschichte, Bd. 79, Vorhandenes repariert.6 Nr. 3, 2012, 207 – 226, hier 225. 7  Vgl. Reiner Dollner, Lutz Der vorliegende Text beleuchtet am Beispiel einer Softwaretechnik, der re- Weickert: Einheitliche technologi- lationalen Datenbank, Momente des Nacherfindens und der Co-Innovation in sche Auftragsbelege. Ein Mittel zur effektiven Anwendung der EDV für der DDR als ‹Kehrseite› der Reparatur. Der Bedarf an der Automatisierung der innerbetriebliche Rationalisierung, bis dahin manuell erfolgenden Datenverarbeitung war in West und Ost groß in: Rechentechnik / Datenverarbeitung, Bd. 10, Nr. 2, 1973, 11 – 15. und neben der Notwendigkeit mathematisch komplexer Berechnungen eine 8  Vgl. Francis Hunger: Transak- wesentliche Motivation für die Erfindung elektronischer Computer. Diese tionsverarbeitung in relationalen Datenbanken. Zur Materialität von wurden in der DDR-Industrie in vorhandene Abläufe, die sich auf Kulturtech- Daten aus Perspektive der Trans- niken der Kooperation stützten, z. B. Laufzettel und Tabellen, integriert. Die aktion, in: Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hg.): Kleine neue Produktmanagementsoftware ersetzte jene Anteile in der Produktions- Formen. Archiv für Mediengeschichte, steuerung, die formalisierbar waren.7 Ebenso wie im Westen entstanden daher Berlin 2021, 101 – 111. 9  Vgl. Rolf Gräßler: Möglichkeiten neben dem Dienstleistungssektor, welcher der transaktionalen Informations- der Rationalisierung der Einsatzvor- verarbeitung bedurfte,8 zahlreiche Softwareanwendungen zur Produktionsver- bereitung elektronischer Datenver- arbeitungsanlagen durch sachgebiets- waltung: z. B. in den frühen 1970er Jahren die Sachgebietsorientierten Pro- orientierte Programmiersysteme für grammiersysteme (SOPS) von Robotron,9 ein Pendant zum westlichen SAP und die Probleme der Planung und Leitung von sozialistischen Industriebetrieben IBM C OPICS.10 und Kombinaten, Dissertation, TU Als eines der zentralen automatisierenden Elemente dieser Produktionsver- Dresden, 1972. 10  Vgl. Herrmann Meier, Dietmar waltungen formierten sich mit der Zeit Datenbanken, um Daten zentral und Hopp, Hasso Plattner: Auftrags- automatisiert zu verwalten. Der Bedarf an Datenbanken in der DDR verfugte steuerung, Disposition, und Versand- steuerung integriert im Realzeitbetrieb. sich mit dem Bedarf, Halbfertigerzeugnisse und Produkte auszudifferenzieren, Bd. 1: IBM Beiträge zur Datenver- um z. B. im Maschinenbau am Weltmarkt teilnehmen zu können oder um in- arbeitung, Stuttgart 1972; IBM: Communication-Oriented Production nerhalb der DDR die Konsumgüterproduktion zu intensivieren. Die Investition Information Control System (COPICS), in automatisierende Technologien versprach eine Entlastung des Arbeitskraft- White Plains (NY) 1972. 11  Vgl. Joachim Radkau: Revol- bedarfs und der Materialressourcen. Ein weiteres Versprechen, so meine Les- tierten die Produktivkräfte gegen weise, war die informatorische Bewältigung einer flexibleren, postfordistischen den real existierenden Sozialismus. Technikhistorische Anmerkungen Produktionsweise jenseits der fordistischen Fließbandproduktion, die sich al- zum Zerfall der DDR, in: 1999. Zeit- lein an hohen Ausstoßzahlen orientierte, der sogenannten Tonnenideologie.11 schrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Bd. 5, Nr. 4, 1990, Beispielhaft für diese ökonomisch verankerten medientechnologischen Verän- 13 – 42, hier 29. derungen steht die Aussage Birgit Demuths, Informatikerin und Co-Entwick- 12  Birgit Starke (nach Heirat: Demuth): Übersetzung und Optimie- lerin des relationalen Datenbanksystems DABA-1600, dass Datenbanken ein rung relationaler Anfragen am Beispiel «objektives Erfordernis» für die DDR-Volkswirtschaft geworden wären.12 der Datenbanksprache SQL, Disser- tation, TU Dresden, 1983, 144. Elektronische Datenbanken entstanden ab den 1960er Jahren, um die 13  Vgl. Thomas Haigh: A Veritable computerinterne Verwaltung von Daten zu automatisieren, und sie posi- Bucket of Facts. Origins of the Data Base Management System, in: tionierten sich als Software zwischen dem Betriebssystem und den aufkom- ACM SIGMOD Record, Bd. 35, Nr. 2, menden Graphical User Interfaces (GUI). Sie erlaubten es, die Logik der Da- 2006, 33 – 49; ders.: How Data got its Base. Information Storage Software tenspeicherung auf Festplatten von der Logik des Datenzugriffs abzulösen.13 in the 1950s and 1960s, in: IEEE Ab den 1970er Jahren führten Forschungsarbeiten zu einer Datenlogik, die Annals of the History of Computing, Bd. 31, Nr. 4, 2009, 6 – 25; Marcus als ‹relational› bezeichnet wurde. Sie basierte auf der mathematischen Lo- Burkhardt: Digitale Datenbanken. Eine gik der Mengenlehre (mathematisch begründete Ein- und Ausschlüsse) und Medientheorie im Zeitalter von Big Data, Bielefeld 2015. der Boole’schen Logik (UND / ODER / NICHT), die auf Datensätze immer 66 ZfM 27, 2/2022 SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION gleicher Struktur in Form von Tabellen (Relationen) angewendet wurden. Für die Verständlichkeit der relationalen Logik war die Verwendung der Tabelle als User-Interface ebenso ausschlaggebend wie die an das Englische angelehn- te Abfragesprache Structured Query Language (SQL). Schließlich zeichne- ten sich die Datenbanken durch ihre Transaktionsfähigkeit aus: Verschiedene Nutzer_innen konnten parallel auf die Datenbestände zugreifen, wobei die Datenbank automatisch dafür sorgte, dass gemeinsam genutzte Datensätze unterschiedlicher Nutzer_innen konsistent blieben. Heute machen relatio- nale Datenbanken circa zwei Drittel aller verwendeten Datenbanken aus und sind Grundlage zahlreicher Datenbankanwendungen, wie z. B. von Fahrkar- ten-Buchungssystemen im ÖPNV, von Computerspielen, von Logistik- und Produktionssystemen, von E-Mail-Programmen oder Fotodatenbanken. Da- tenbanken ermöglichen, durch die Technologie der Transaktion, die Synchro- nisierung und Koordinierung lokal verstreuter Akteure. Kurz: Datenbanken sind infrastrukturelle «Medien der Kooperation».14 Die DDR verfügte ab den 1970er Jahren über eine Reihe unterschiedlicher Datenbanktechnologien: die Adaptionen BASTEI (IBM BOMP), DAKS (IBM CICS), Redabas (dBASE II und dBASE III), ALLDBS (Oracle 5.1), ING_DB (INGRES 6) sowie die Eigenentwicklungen SAWI, AIDOS, DBS / R, DABA- 14  Erhard Schüttpelz: Infrastruk- 1600, TOPAS und das Großprojekt Robotron INTERBAS, das 1990 unvollen- turelle Medien und öffentliche Me- dien, in: Media in Action, Nr. 0, 2016, det eingestellt wurde. Einer der damals bei Robotron involvierten Ingenieure, 1 – 21, hier 5, www.mediacoop.uni- Jürgen Bittner, definierte ‹Adaption› im Interview wie folgt: «[Die] Adaption siegen.de/wp-content/uploads/2016/06/ schuettpelz_infrastrukturelle_medien.pdf des originalen Programmcodes [erfolgte] durch Ersetzen der Namen aller Pro- (15.5.2022). grammelemente wie Datenobjekte, Variablen, Konstanten usw. und eigene Ent- 15  Jürgen Bittner in: ders., Rolf Heinemann: «Robotron hatte ja im wicklung einiger Zusatzfunktionen.»15 Für das Adaptieren musste der Quellcode Staat DDR die besondere Pflicht, einer Software vorhanden sein, der für die jeweiligen DDR-Betriebssysteme und die anderen zu versorgen». Interview mit Rolf Heinemann und Jürgen Hardwarearchitekturen kompiliert werden konnte. Den Quellcode besorgte Bittner, Transkript, 14.11.2018. zum Teil das Ministerium für Staatssicherheit durch Industriespionage, zum Teil 16  Vgl. Michael G. Rekoff: On Reverse Engineering, in: IEEE war er aber auch durch BSD-ähnliche Lizenzen im Westen verfügbar, konnte Transactions on Systems, Man, and dort erworben und in die DDR importiert werden (z. B. INGRES). Das Adap- Cybernetics SMC, Bd. 15, Nr. 2, 1985, 244 – 252, hier 244. tieren von Software ist spätestens seit den 1980er Jahren auch unter dem Begriff 17  Vgl. William G. Griswold: des Reverse Engineering bekannt 16 und eng verwandt mit anderen Praktiken Program Restructuring as an Aid to Software Maintenance, Dissertation, des Softwareschreibens, wie dem Refactoring,17 dem Forking 18 oder dem Clo- University of Washington, 1991, ning.19 Adaption stellt eine Strategie des Nacherfindens durch Anpassung dar. cseweb.ucsd.edu/~wgg/Abstracts/ gristhesis.pdf (15.5.2022). All diese programmiertechnischen Praktiken verweisen auf das Instandhalten 18  Vgl. Gregorio Robles, Jesús M. und Reparieren von Software. In der DDR handelte es sich bei der Adaption von González-Barahona: A Comprehen- sive Study of Software Forks. Dates, Software um eine weit verbreitete Aneignungsstrategie, die, unter Umgehung Reasons and Outcomes, in: Imed westlicher Lizenzrechte und -kosten, der Ressourcenknappheit des Landes ent- Hammouda u. a. (Hg.): Open Source Systems. Long-Term Sustainability, sprach. Doch wie in der Aufzählung ersichtlich ist, verfügte die DDR nicht nur Berlin, Heidelberg 2012, 1 – 14. über adaptierte Datenbanksoftware, sondern auch über Eigenentwicklungen. 19  Vgl. Dhavleesh Rattan, Rajesh Bhatia, Maninder Singh: Software Letztere sollen am Beispiel von DABA-1600 als Momente der Co-Innovation Clone Detection. A Systematic charakterisiert werden, die eine Reihe von Fragen nach sich ziehen: Wie ver- Review, in: Information and Software Technology, Bd. 55, Nr. 7, 2013, hielt sich in der DDR-Planwirtschaft das Reparieren zur Innovation? Welche 1165 – 1199, hier 1167. SCHWERPUNKT 67 FRANCIS HUNGER Abb. 1 K-1600-Computer in Übertragungen und Ähnlichkeiten zwischen westlicher und östlicher Software- einer sowjetischen Forschungs- technik gab es? Wie verhalten sich die medial-ökonomischen Ähnlichkeiten und einrichtung, Mitte der 1980er Jahre in Kirow. Links die Rechen- Unterschiede von Datenbanksystemen zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden einheit mit Festplatten, in der sozialistischer Planwirtschaft und kapitalistischer Marktwirtschaft? Welche neu- Mitte die Bedieneinheit und rechts der Drucker en Nutzer_innenschichten konnten mit relationalen Datenbanken, als Medien der Kooperation, erschlossen werden? Und wie positionieren sich die Eigen- entwicklungen der DDR-Datenbanken zu den westlichen Pendants in Bezug auf Innovation und Reparieren? Die Entwicklung des relationalen Datenbankmanagementsystems   DABA-1600 Die Genese des Datenbanksystems DABA-1600 begann mit dem Verständnis der Verantwortlichen, dass für den bei Robotron in Entwicklung befindlichen Rechner K-1600 entsprechende Software benötigt werden würde.20 Es handelte sich beim Robotron K-1600 um einen sogenannten Kleinrechner, vergleichbar der Leistungsklasse der ‹westlichen› DEC PDP-11. Da aufgrund eigener Hard- ware-Komponenten und eines eigenentwickelten Betriebssystems keine vollstän- dige Kompatibilität zur PDP-11 erreicht wurde, entstand der Bedarf an einem 68 ZfM 27, 2/2022 SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION eigenen Datenbankmanagementsystem, denn ‹westliche› Software konnte nicht einfach installiert werden, wie dies auf anderen vollkompatiblen Computern der DDR der Fall war. Der Rechner K-1600 (Abb. 1) fand in unterschiedlichs- ten Konfigurationen in der DDR und später auch in den Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) Verbreitung und wurde für Alltagsauf- gaben eingesetzt, z. B. für Büro- und Verwaltungsaufgaben, Textverarbeitung, Kon struktions- und Digitalisierungsaufgaben sowie Datenerfassung in Rechen- zentren, Handel und Medizin.21 Er war Teil der Bemühungen des RGW um ein Einheitliches System Elektronischer Rechner (ESER) und zählte zum System Kleinrechner (SKR), in dessen Rahmen mehrere RGW-Länder die Produktion solcher Kleinrechner untereinander abstimmten. Spezifisch kennzeichnet das Projekt DABA-1600 in der DDR die enge Ver- flechtung von akademischer und industrieller Forschung, die auf wirtschaftspoli- tische Beschlüsse der SED zur Rationalisierung und Automatisierung zurückzu- führen ist. Für die DDR versprach Automatisierung eine gesteigerte Intensität der Industrialisierung, um international konkurrenzfähige Produkte, z. B. in Maschi- nenbau und Optik, und ab den 1980er Jahren verstärkt einheimische Konsumgü- ter produzieren zu können. Dieses Versprechen beinhaltete, dass die frei werden- de Arbeitskraft nicht in individualisierte Arbeitslosigkeit münden würde, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hätte: die Verbesserung der L ebens- und Arbeitsbedingungen. Allerdings bahnte sich im Einerseits der Lebensverhältnisse in der DDR und dem Andererseits der Exportfähigkeit ein Konflikt an, der in den 1980er Jahren in der DDR an vielen Stellen sichtbar wurde. DABA-1600 ist ein wichtiges Beispiel für die Geschichte der Softwarepro- duktion am Übergang vom zentralen Großrechner zum Kleincomputer. Der Historiker Paul Ceruzzi bezeichnete diesen Übergang im nordamerikanischen Kontext als «die abermalige Neuerfindung des Computers».22 Mit dem (immer noch raumfüllenden) Kleincomputer änderten sich die interne Struktur, die Pro- grammierung, die Vermarktung, die Anwendungsgebiete und die infrastrukturel- le Einbettung. Die Datenverarbeitungsmaschine rückte näher an ihre Nutzer_in- nen. Diese erhielten zunehmend direkten Zugriff auf die Struktur, die Modelle und die Inhalte der Datenbanken. Diese Tendenz zur Dezentralisierung ist auch 20  Die Rahmenbedingungen für die DDR nachweisbar: Dominierten in den frühen 1960er Jahren noch Groß- der Forschungskooperation aus rechner in Rechenzentren in den Bezirksstädten, verteilten sich neue Praktiken Sicht der Beteiligten werden detail- liert dargestellt in Birgit Demuth, der Datenverarbeitung ab Ende des Jahrzehnts in den Betrieben und Organi- Karl-Heinz Wiggert: Technologie- sationen des Landes. Diese Dezentralisierung der Datenverarbeitung erscheint transfer am Beispiel von DABA 1600, in: Birgit Demuth (Hg.): Informatik in heute als Folge sich ändernder Anwendungsbedürfnisse nach einem weniger ver- der DDR. Grundlagen und Anwendungen, mittelten, unmittelbareren Zugang zu Daten, deren Speicherung und Verarbei- Bonn 2008, 280 – 291, hier 283. 21  Vgl. Gerhard Merkel: VEB tung und sie zeigt sich im Osten ebenso wie im Westen. Kombinat Robotron, Sitz Dresden – Ein DABA-1600 wurde von 1981 bis 1989 in der DDR als ein Projekt der TU Kombinat des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik der DDR, Dresden in Zusammenarbeit mit dem VEB Kombinat Robotron, das die Pra- Manuskript, Dresden 2005, 31. xisumsetzung begleiten sollte, entwickelt. Robotron war der größte Compu- 22  Paul E. Ceruzzi: A History of Modern Computing, Cambridge terhersteller der DDR. Der ausgegliederte Teil Robotron Projekt Dresden 2003, 110. SCHWERPUNKT 69 FRANCIS HUNGER konzentrierte sich ab 1984 auf die Softwareproduktion. Darin befand sich auch eine Fachabteilung für Datenbanksoftware. Eingebettet war die Kooperation zwischen Robotron und der TU Dresden in den größeren Kontext wirtschaftlicher Reformen des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft der DDR durch das ZK der SED ab 1962. Ein Grund für die Reformen war der Entschluss, dass für den DDR-Sozi- alismus die Wissenschaft als unmittelbare Produktivkraft einen zentralen Platz einzunehmen habe. Dies zog eine Neuausrichtung von Forschung und Bildung nach sich, die in das 1965 beschlossene Gesetz über das einheitliche Bildungssys- tem flossen und eine stärkere Orientierung der akademischen Ausbildung an den Erfordernissen der Industrieproduktion forcierte. Gemeinsame Forschung und Überführung in Produkte, in der DDR als ‹Auftragsforschung› bezeichnet, galten als ein wichtiges Steuerungsmittel, um die industrienahe Forschung zu stärken. Die Auftragsforschung wurde zwischen den Sektionen und Betrieben direkt aus- gehandelt, wobei sich, so der Historiker Reiner Pommerin, die SED eine Steue- rungsfunktion vorbehielt: «Die Profilierung der [Auftrags-]Forschung nimmt in der TU bezeichnenderweise jetzt die Kreisleitung der SED [der TU] vor; sie ach- tet darauf, daß sich diese nach der gesellschaftlichen Aufgabenstellung richtet.»23 Die Zusammenarbeit zwischen dem VEB Robotron und verschiedenen Sek- tionen der TU Dresden legten die Beteiligten in einer institutionellen Ver- einbarung, einer sogenannten Komplexvereinbarung, vom 6. Dezember 1977 fest.24 Diese verzeichnete als Ziele, den «wissenschaftlich-technischen Fort- schritt zu beschleunigen, planmäßig neueste, dem wissenschaftlich-technischen Höchststand entsprechende Ergebnisse» zu erreichen und «ihre schnelle Über- führung sowie Anwendung in der Produktion zu sichern» sowie «eine hoch- qualifizierte und praxiswirksame Ausbildung und Weiterbildung der Kader» zu gewährleisten.25 In der konkreten Forschungsplanung schlug der an der TU Dresden lehrende Prof. Dieter Schubert vor, sich mit einer «Datenmanipula- tionssprache auf COBOL-Basis für Kleinrechner», mit einem «Relationalen 23  Reiner Pommerin: 175 Jahre Daten banksystem für ESER» und einer «Technologie der Programmbanksys- TU Dresden. Geschichte der TU Dresden 1828 – 2003, Bd. 1, Köln 2003, 311. teme und experimentelle[n] Entwicklung einer Programmbank am Beispiel der 24  Sektion Informationsverarbei- mathematischen Statistik» auseinanderzusetzen.26 tung: Komplexvereinbarung über wissenschaftlich-technische Zusam- Innerhalb des Zentrums für Forschung und Technik (ZFT) Robotron disku- menarbeit zwischen dem VEB Kom- tierten die Beteiligten die Idee, eine relationale Datenbank für Kleinrechner zu binat Robotron und der Technischen Universität Dresden, Akte erarbeiten, anfangs kontrovers: DFo 4658/I/01 – 19, Universitätsarchiv der TU Dresden, 12.6.1977. Eine Datenbank auf einem Kleinrechner betreiben zu wollen, wie er z. B. damals mit 25  Ebd. den Anlagen der Familie Robotron K-1600 zur Verfügung stand – Ende der siebziger 26  [o. Vorname] Bode: [Entwurf Jahre schätzte man das zunächst als ein durchaus ungewöhnliches Vorhaben ein. Zu- Forschungsplan] Kombinat Robotron 1979 / 80. Abschrift für mindest zweifelten die Entwickler des für die Großrechner (R 300 bzw. die nachfol- Genossen Peter Klick, Akte DFo genden ESER-Rechner) ausgelegten Datenbankbetriebssystems DBS / R im damaligen 4658/I/01 – 19, Universitätsarchiv […] ZFT des Kombinats Robotron den Erfolg eines solchen Vorhabens stark an.27 der TU Dresden, 10.1979. 27  Demuth, Wiggert: Technologie- Trotz dieser anfänglichen Vorbehalte kam es zur Zusammenarbeit, da Robotron transfer am Beispiel von DABA 1600, 280. für die K-1600-Kleinrechner Software benötigte. Zur Vereinbarung zwischen 70 ZfM 27, 2/2022 SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION dem ZFT Robotron und der TU Dresden gehörte nicht allein, die Forschung auf diesem Gebiet zu betreiben, sondern deren Realisierung und Überführung in Softwareanwendungen. Beide Seiten einigten sich darauf, dass Robotron die untere Schicht der Datenbank bereitstellen würde und die TU als Aufsatz den Compiler, der die SQL-Anfragen in maschinennahen Code übersetzte, und die SQL-Optimierungskomponente. Finanzielle Leistungen erfolgten laut Vertrag nicht, jedoch konnte Rechenzeit im Robotron-Rechenzentrum Dresden für die TU Dresden und die Bibliotheken und Informationsdienste genutzt wer- den. Die Planung einer neuen, innovativen Softwarekomponente war hier also F olge politischer Aushandlungen. Von der Reparatur zur Co-Innovation Die Informatikerin Birgit Demuth zählt zu einer Gruppe von Doktorand_innen, die an der TU Dresden in die Vorarbeiten und die Ausarbeitung von DABA- 1600 involviert waren, darunter Vera Wenk, Bernd Keller und Michael Starruß. D emuths im September 1983 verteidigte Dissertation Übersetzung und Optimie­ rung relationaler Anfragen am Beispiel der Datenbanksprache SQL hatte dabei einen anderen Status als die vorhergehenden Forschungsarbeiten, denn es handelte sich nicht mehr allein um eine Vorarbeit, sondern um eine zentrale Ausarbei- tung, aus der heraus die anwendbare Abfragesprache SQL-1630 für DABA-1600 entstand, die mit internationalen Standards kompatibel war. Nach Demuths Promotion erfolgte die Übergabe der Auftragsforschung von der TU Dresden an den VEB Robotron. Über den Quellcode der westlichen relationalen Datenbanken INGRES oder IBMs System R verfügte Robotron zu dem Zeitpunkt nicht, sodass eine Adaption innerhalb von Robotron nicht in Betracht kam. Stattdessen musste im Rahmen universitärer Forschung die relationale Technologie nacherfunden werden. Dafür sprach auch, dass INGRES und vor allem IBMs System R sehr gut durch akademische Publikationen dokumentiert waren, die zum Teil auch in der DDR zur Verfügung standen, so Demuth: Wir haben uns nur die Prinzipien, worauf man achten muss, angeschaut und die Artikel, worüber theoretisch geschrieben worden ist, haben wir versucht zu verste- hen. […] Wir haben die Ansätze, die es gab, nachvollzogen. Die waren ja auch nicht im Detail beschrieben, [und dann haben wir] die Ideen aufgegriffen und das selber weiterentwickelt.28 Hier zeigt sich, wie die Notwendigkeit des Nacherfindens Raum für eigene In- novationen schafft: Indem der Code nicht einfach nur adaptiert wird, sind eigene Lösungen möglich und notwendig. In der Einleitung zu ihrer Dissertation verweist Demuth auf die wachsende 28  Birgit Demuth: «Da war Verbreitung von Kleinrechnern in der DDR: «Eines der wichtigsten Ziele dieses die DDR ein bisschen übermü- tig» – Interview mit Birgit Demuth, Rechnereinsatzes ist die Unterstützung geistiger Prozesse in Forschung und Transkript, 28.11.2018. SCHWERPUNKT 71 FRANCIS HUNGER Entwicklung, in der Projektierung, Konstruktion und technologischen Vorbe- reitung der Produktion.» Daraus ergäben sich «qualitativ neue Anforderungen», da die verbreiterte Nutzer_innenbasis auch eine Zugänglichkeit für «Nichtpro- grammierer» bedeute.29 Der K-1600 stand somit paradigmatisch für den Umzug des maschinellen Rechnens aus den Bezirksrechenzentren und Großcomputeran- lagen in kleinere betriebliche Einheiten – er rückte näher an die Nutzer_innen. 29  Starke (Demuth): Übersetzung und Optimierung relationaler Anfragen Demuth argumentiert auch mit dem «internationalen Maßstab», z. B. mit am Beispiel der Datenbanksprache der Situation in den USA: SQL, 1. 30  Ebd., 3 f. 31  Ebd. So sind z. B. im Jahre 1980 von den 54 in den USA kommerziell verfügbaren DBBS 32  Ebd., 144. [Datenbankbetriebssystemen] 19 DBBS für Klein- und Mikrorechner; davon wiede- 33  Ebd., 135 – 137. Simon Donig: Vorbild und rum 10 DBBS für Rechner der Familie PDP-11 unter Steuerung des Betriebssystems 34  Klassenfeind. Die USA und die DDR- RSX-11M; 4 relationale Kleinrechner-DBBS […] generierbar.30 Informatik, in: Osteuropa, Bd. 59, Nr. 10, 2009, 89 – 100, hier 96. Im Unterschied zu den vorrangig konzeptuellen Arbeiten aus den späten 35  Vgl. u. a. Franz Menhart, Jürgen Stumpf: SQL 1630. Datenbankspra- 1970er Jahren konstatiert Demuth für die beginnenden 1980er die zunehmen- che von DABA 1600, in: Rechentech- de Überführung von Datenbanken aus dem Forschungsstadium in Software- nik / Datenverarbeitung, Bd. 24, Nr. 9, 1987, 15 – 18; dies.: Wertung des anwendungen und verweist explizit auf die Datenbanken INGRES (University relationalen Datenbankbetriebs- of Berkeley) und SQL / DS (IBM), das kommerzielle Nachfolgeprojekt des rela- systems DABA 1600, in: Rechentech- nik / Datenverarbeitung, Bd. 24, Nr. 4, tionalen IBM-Prototypen System R. Für die weitere Forschung an der Abfrage- 1987, 5 – 8; dies.: Zum Entwurf des sprache SQL spräche deren zunehmende internationale Bedeutung.31 Datenbankbetriebssystems DABA 1600, in: Rechentechnik / Datenverarbei- In der Zusammenfassung ihrer Dissertation weist Demuth darauf hin, dass tung, Bd. 24, Nr. 7, 1987, 9 – 12; dies.: «[d]er Einsatz der Datenbanktechnologie im Rahmen automatisierter Infor- Das Datenbankbetriebssystem DABA 1600 Version 2.0, in: Rechentech- mationssysteme […] mehr und mehr zum objektiven Erfordernis und zu ei- nik / Datenverarbeitung, Bd. 24, Nr. 2, ner wichtigen Voraussetzung für die […] Volkswirtschaft [wird]».32 Demuths 1987, 16 – 18; Horst Giebler: Mik- rorechnersystem Robotron K1600, Dissertation belegt, dass die Einführung der relationalen Algebra erfolgte, als in: Neue Technik im Büro, Bd. 24, durch die vorhergehenden Netzwerkdatenbanken und hierarchische Daten- Nr. 2, 1980, 39 – 40; D. Horn, Jürgen Stumpf, F. Ziegenbalg: Datenorgani- banken die Verwendung von Datenbanken bereits grundlegend in die Infra- sation für das Mikrorechnersystem strukturen der Informationsverarbeitung eingewoben war. Die industriellen Robotron K-1600, in: Neue Technik im Büro, Bd. 25, Nr. 1, 1981, 1 – 3; Karl- und organisatorischen Prozesse hatten auch in der DDR eine Komplexität an- Heinz Wiggert, G. Bulla, J. Ernst: Pro- genommen, die nur mittels Datenbanken ‹objektiv› bewältigbar blieb, zumin- blemorientierte Systemunterl agen für das Mikrorechnergerätesystem dest wenn die DDR am Weltmarkt teilnehmen wollte. robotron K-1600. Datenbankbe- Nach einer Reihe technologischer Erwägungen zum SQL-Compiler, zur triebssystem DABA 1600, in: Neue Technik im Büro, Bd. 25, Nr. 2, 1982, Abfragesprache und zur Optimierung der Abfragen für die automatisierte Daten- 168 – 171; Rolf Heinemann: Daten- verarbeitung vergleicht Demuth abschließend ihren eigenen Lösungsvorschlag banken als Rationalisierungsmittel in der Projektierung. Ergebnisse mit denen von IBMs System R und INGRES. Durch einige Erweiterungen und Tendenzen, in: Neue Technik im erreicht die Autorin nach eigener Einschätzung einen gegenüber System R Büro, Bd. 29, Nr. 4, 1985, 108 – 109; Dietrich Schubert: Das relationale größeren Freiheitsgrad der Optimierung. Dabei war in der erreichten Funkti- Datenbankbetriebssystem DABA onalität der Dresdener SQL-1630-Compiler an den kalifornischen System-R- 1600. Ein weiteres Ergebnis der Kooperation von Robotron und Compiler angelehnt, während sie sich im internen Aufbau voneinander unter- TU Dresden, in: Neue Technik im schieden.33 Hier wird sichtbar, wie das Nacherfinden in Co-Innovation Büro, Bd. 29, Nr. 4, 1985, 110 – 112; Karl-Heinz Wiggert: Die Ausbaustufe ü bergeht, wie ein Konzept nicht nur übernommen, sondern durch ‹Reparatur› 2.0 des Datenbankbetriebssystems erweitert wird. Während das durch den Historiker Simon Donig e ingeführte DABA 1600, in: Neue Technik im Büro, Bd. 30, Nr. 2, 1986, 58 – 60. und an das Reverse Engineering angelehnte Konzept des Nacherfindens 34 72 ZfM 27, 2/2022 SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION sprachlich auf die Wiederholung einer bereits existierenden Technologie fo- Abb. 2 Verschiedene Optimie- kussiert, rückt ‹Co-Innovation› die aktive Entwicklung in Auseinanderset- rungsstrategien Relationaler Datenbanksysteme (R DBS), zung mit vorhandener und dokumentierter Technologie in den Vordergrund. die in der Dissertation von Co-Innovation bedeutet eine Entwicklung, die über das Vorbild konzeptuell Demuth diskutiert werden. Aus: Starke (Demuth): Übersetzung hinausgeht und es nicht nur wiederholt. Was ursprünglich lediglich als ‹Re- und Optimierung relationaler paratur›, also als Übertragen auf spezifische Hardware-Systeme gedacht war, Anfragen am Beispiel der Daten- banksprache SQL, 43 produziert neues Wissen. Softwareproduktion in ‹kleinen Ländern› Im Anschluss an Demuths Ausarbeitungen und Prototyp-Programmierung wur- de das Projekt an Robotron übergeben und dort zu einer lauffähigen Software weiterentwickelt. In den beiden wichtigsten Fachzeitschriften für Computer- technik in der DDR, Neue Technik im Büro und Rechentechnik / Datenverarbeitung, erschien begleitend zur Veröffentlichung durch Robotron eine Reihe von Arti- keln zum Rechnersystem K-1600 und auch zu DABA-1600,35 während parallel auch weiter über die ältere und weit verbreitete netzwerkorientierte Datenbank 36  Zu den Informationssystemen des Westens siehe Thomas Haigh: Robotron (DBS / R) berichtet wurde. Die erste von drei DABA-1600-Dokumen- Inventing Information Systems. The tationen eröffnete 1981 mit dem Thema der Informationsmanagementsyste- Systems Men and the Computer, 1950 – 1968, in: The Business History me,36 die in der DDR als Automatisierte Informationssysteme (AIS) bezeichnet Review, Bd. 75, Nr. 1, 2001, 15 – 61. SCHWERPUNKT 73 FRANCIS HUNGER wurden. Schwerpunkt der Argumentation waren das Anwachsen der Daten- massen und deren ständige Aktualisierung sowie die allmähliche Ablösung der sequenziellen, maschinenorientierten Stapelverarbeitung durch eine Daten- verwaltung, die sich an abstrahierten Logiken orientiert.37 Im November 1984 veröffentlichte Robotron die Methodischen Hinweise und die Sprachbeschreibung von SQL 1630.38 Diese Publikationen nahmen weitere Erfahrungen aus den An- wendungsprototypen auf. So dienten die Methodischen Hinweise als Orientierung, da die betreuenden Mitarbeiter_innen von Robotron festgestellt hatten, dass die Einstiegserfahrungen der Nutzer_innen sehr heterogen waren. Die in den Zeitungsartikeln und Softwaredokumentationen angegebenen Beweggründe für den Einsatz von DABA-1600 entsprechen im Großen und Ganzen den Motivationen, die auch die westlichen Entwickler_innen als An- lässe für die Erforschung neuer Datenbanklogiken nannten. Es ist auffallend, dass sich die Anwendungsbedürfnisse in den sozialistischen und kapitalistischen Ländern sehr ähnelten und keine größeren Unterschiede zeigten.39 Wenn auch in der Dokumentation 1984 noch der Eindruck entstand, dass man sich damit auf dem aktuellen internationalen Stand (unter den Bedingun- gen der Kleinrechnertechnik) bewegte, sahen die Autor_innen 2008 im Rück- blick das Erreichte selbstkritischer: Die relationale Datenbank Oracle 2, eine amerikanische Nacherfindung von System R,40 lief auf der PDP-11, die dem 37  VEB Robotron (Hg.): DABA K-1600 vergleichbar war. Doch bereits 1981 erschien Oracle 3, das nach und 1600 Datenbankbetriebssystem. Anwen- nach auf verschiedensten Plattformen, d. h. Großrechnern, Kleinrechnern und dungsbeschreibung, Dresden 1981. 38  VEB Robotron (Hg.): DABA Personal Computern, unter verschiedenen Betriebssystemen lief,41 während in 1600 Datenbankbetriebssystem. Metho- der DDR DABA-1600 auf ein System begrenzt blieb. Ab 1986 wurde eine neue dische Hinweise, Dresden 1984. 39  Diese These verhandle ich Version, die ‹Ausbaustufe 2.0›, als Produkt aktiv unterstützt und bis 1989 wur- ausführlich in meiner Dissertation, den circa 100 Installationen verzeichnet. vor allem im vergleichenden Kapitel zu den frühen Versionen der Mit der Verabschiedung der sozialistischen Planwirtschaft zugunsten des Warenwirtschaftssysteme Robotron kapitalistischen Marktgeschehens endete die Produktlinie der Mikrorech- SOPS (DDR), IBM COPICS (USA) und SAP (BRD), vgl. Francis Hunger: ner K-1600 und damit auch die Ära des ersten eigenentwickelten relationalen Die Form der Datenbank – Genealogien, Datenbanksystems der DDR. Dieses Ende kommentieren Demuth und Karl- Operationalitäten und Praxeologien re- lationaler Datenbanken in Ost und West, Heinz Wiggert in einem retrospektiven Artikel mit einem knappen, trockenen Dissertation, Bauhaus-Universität Satz: «Als mit dem Ende des Kombinats Robotron auch keine K-1630-Rechner Weimar, 2022, im Erscheinen. 40  Vgl. Computer History Museum mehr produziert wurden, war der Einsatz von DABA-1600 gegenstandslos ge- (Hg.): RDBMS Plenary 1. Early Years, worden.»42 Dieses Gegenstandslos-Werden unterscheidet sich deutlich von den Mountain View 2007, 30 f., archive. computerhistory.org/resources/access/ Kontinuitäten der Adaptionen Redabas, DBS / R und ALLDBS, die in den Jah- text/2013/05/102702562-05-01-acc.pdf ren nach 1989, insofern die betreffenden Firmen und Institutionen fortbestan- (18.4.2022). 41  Vgl. Demuth, Wiggert: Techno- den, weiter im Einsatz waren. Die K-1630-Rechner jedoch scheinen schnell logietransfer am Beispiel von DABA entsorgt worden zu sein. Für die DDR-Eigenentwicklung DABA-1600 gab es 1600, 282. 42  Vgl. ebd., 288. keine Nachfolgefirma.43 Darüber hinaus war längst die Zeit der Personal Com- 43  Die Nachfolgefirmen des puter angebrochen, die ihre ganz eigenen Datenbank-Bedürfnisse und Daten- Robotron ZFT konzentrierten sich auf die ‹westlichen› Datenbanksys- banksysteme mit sich brachten. teme Sybase (heute: SAP Sybase) Ab 1988 arbeitete Birgit Demuth im Auftrag der TU Dresden an der Stan- und Oracle, vgl. Interview mit Jürgen Bittner, Rolf Heinemann, 14.11.2018. dardisierung von SQL in der DDR in einer TGL-Norm (Technische Normen, 74 ZfM 27, 2/2022 SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION Gütevorschriften und Lieferbedin- gungen; DDR-Pendant zur DIN) und nach 1990 beteiligte sie sich an der Standardisierung von SQL im internationalen Standardisierungs- gremium ANSI-ISO. Bis heute lehrt sie an der TU Dresden als wissen- schaftliche Mitarbeiterin. Die Ausarbeitungen zu DABA- 1600 in der DDR sind paradigma- tisch für die weltweit verstreuten konzeptuellen Nacherfindungen der relationalen Algebra Anfang und Mitte der 1980er Jahre, wie z. B. das 1981 am Centrum Projektowania i Zastowan Informatyki Warszawa entwickelte SQL für RODAN, das auf INGRES basierende DBMS DG / SQL auf einem Data-General- NOVA-1220-Computer von 1984, das seit den frühen 1980er Jahren bestehende relationale MIMER von der Universität Uppsala / UDAC und Merkur / Transbase, das Informati- ker_innen an der TU München ab Anfang der 1980er Jahre entwickelten. Die Studien zu DABA-1600 geben einen Abb. 3 Funktionsschema von Einblick, welche Auswahlkriterien für technologische Entscheidungen eine Rolle DABA-1600 im Überblicks artikel Neue Technik im Büro, 1985. spielten, wie Kooperationen den Forschungs- und Entwicklungsprozess beglei- Aus: Schubert: Das r elationale teten und welche personell-institutionellen Überlagerungen und Verbindungen Datenbankbetriebssystem D ABA-1600, 111 notwendig waren, um ‹in kleinen Ländern› (Demuth) mit geringen personellen und finanziellen Ressourcen ein relationales Datenbanksystem zur Produktreife zu bringen. Neue Zugriffsweisen für ein Medium der Kooperation Schließlich ermöglichten diese vergleichsweise kleinen Systeme neue Einsatz- weisen als Medien der Kooperation: nicht mehr zentral in Rechenzentren, sondern verteilt an verschiedenen Standorten, mit direktem Zugriff für die Nutzer_innen. So sahen die Entwickler_innen von DABA-1600 großes Innovati- onspotenzial in der vergleichsweise einfachen Erlernbarkeit der grundlegenden Sprachelemente von SQL-1630, das sich auf 100 englische Wörter beschränk- te und für ungeübte Anwender_innen schnell erschließbar sein sollte. In der Sprachbeschreibung, welche die Funktionalität von SQL-1630 darstellt, heißt es: SCHWERPUNKT 75 FRANCIS HUNGER Um einfache Anfragen an die Datenbank richten zu können, reicht es für einen Endnutzer aus, sich in etwa ein bis zwei Stunden mit der einfachsten Form der An- frageanweisung sowie mit dem Aufbau der Informationsbasis (insbesondere mit den festgelegten Sichten-, Merkmals- und anderen Namen) vertraut zu machen.44 Es lässt sich in den Dissertationen der TU-Forschungsgruppe, in den Anwen- dungsdokumentationen und den begleitenden Fachpublikationen zu DABA- 1600 eine permanente Anrufung der Endnutzer_innen feststellen. So argumen- tieren beispielsweise die von Robotron herausgegebenen Methodischen Hinweise für DABA-1600: «Unbestritten bleibt die international erkennbare Tendenz, auch dem Nutzer von Klein- bzw. Mikrorechnern Möglichkeiten zur Arbeit mit einer DB auf dem hier erreichbaren Niveau zu bieten.»45 Nicht mehr ‹Systemoperator_innen› als Servicemitarbeiter_innen eines Re- chenzentrums standen im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern diejenigen, die direkt auf die Datensammlung zugreifen sollten. Hier deutet sich eine Ver- änderung der Ordnungen des Wissens und der Kooperation an, an der Schwel- le ihrer Verwirklichung. Die eingeübten manuellen Verfahren der Kooperation, wie Laufzettel, Auftragsliste, Kalender und Tabelle, wurden in Datenbanken in einen teilautomatisierten Vollzug übertragen, der durch Verdichtung von In- formationen und durch transaktionale Vernetzung neue kooperative Formati- onen ermöglichte. Rückfragen an die Medientheorie Angesichts der konkreten, geografisch verortbaren konzeptuellen Herkünfte fällt es mir – nach dem Durchgang durch das Material – schwer, eine Dezentrierung der US-Geschichtsschreibung in dem Maße vorzunehmen wie ursprünglich angestrebt, da tatsächlich die maßgebenden Konzepte relationaler Datenbank- managementsysteme in den USA entstanden.46 In den USA entwickelte Teil- konzepte zur Realisierung der relationalen Algebra als Softwarefiguration, wie Compiler-Optimierung, Drei-Schichten-Modell und Transaktionskomponenten, zirkulierten international. Der starke konzeptuelle Bezug auf amerikanische For- schungsergebnisse (z. B. Compilertechnik, SQL) wurde in den hier gesichteten 44  VEB Robotron (Hg.): DABA 1600 Dissertationen der DDR-Forscher_innen und den Anwendungsdokumentationen Datenbankbetriebssystem. Sprachbe- durch Quellenangaben stärker sichtbar als in den Veröffentlichungen der DDR- schreibung, 7 f. 45  VEB Robotron (Hg.): DABA 1600 Fachzeitschriften, welche die westlichen Herkünfte größtenteils verschwiegen. Datenbankbetriebssystem. Methodische Die Co-Innovation relationaler Konzepte in der DDR ging zudem mit e iner Hinweise, 3. 46  Vgl. Thomas Haigh, Paul E. Übernahme der ‹westlichen› Argumente für die (beabsichtigte) Nutzung ein- Ceruzzi: A New History of Modern Com- her, wie beispielsweise Hartmut Wedekinds Auffassung, dass hierarchische und puting, Cambridge (MA) 2021, 274 f. 47  Vgl. Hartmut Wedekind: Daten- netzwerkorientierte Ansätze zu kompliziert seien 47 oder Edgar F. Codds For- banksysteme I, Bd. 1, Reihe Informatik derung, die Nutzer_innen ins Zentrum der Überlegungen zu stellen.48 Diese 16, Mannheim 1974. 48  Vgl. Edgar F. Codd: Access to mussten freilich durch DDR-eigene medienkulturelle Erfahrungen bestätigt Relational Data Bases for a Casual werden, bevor sie in die sozialistische Narration integriert werden konnten. User, in: ACM SIGART Bulletin, Nr. 61, 1.2.1977, 31 f. Teil dieser Aneignung war die Strategie der Co-Innovation. 76 ZfM 27, 2/2022 SOZIALISTISCHE CO-INNOVATION Aus diesen Beobachtungen ergibt sich eine neue Fragestellung, die eine zu- gleich medientheoretische und eine ökonomiehistorische ist: Wenn sich Kapi- talismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert konzeptuell unterschieden haben sollen, wieso glichen sich dann die eingesetzten Medien und Denkwerkzeuge der Datenverarbeitung und -speicherung in dem hier aufgezeigten weitrei- chenden Maße? Es scheint, diese voreilige Einschätzung sei erlaubt, dass das mediale Konzept der relationalen Datenbank in der Lage war, Anwendungsbe- dürfnisse zu erfüllen, die über die Systemgrenzen hinausreichten. Ein wesent- licher Unterschied der Mediennutzung lässt sich allein in den Rahmungen der Veröffentlichungen finden: Während im Sozialismus volkswirtschaftlich mit Rationalisierung argumentiert wurde, wurde im Kapitalismus die Datenbank in den Dienst betriebswirtschaftlich orientierter Konkurrenz genommen. Dies würde oberflächlich gesehen Auffassungen stützen, die Technologie als poli- tisch neutral einschätzen. Auf den zweiten Blick verweist es hingegen auf eine stärkere Bedeutung der Kulturen ihrer Nutzung (und deren Geschichte), die gegenüber dem Prozess der technologischen Genese hervorzuheben ist. Der Historiker Donig konstatiert, dass der fast identische Aufbau der Software in Ost und West möglich war, «weil auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs grundlegende Vorstellungen wie Effizienz, Kosten-Nutzen-Relationen oder Rationalität geteilt wurden».49 Ein weiterer Deutungsansatz besteht in der Beobachtung, dass die DDR versuchte, mit nicht-kapitalistischen Mitteln Produkte für den ka pitalistischen Markt zu schaffen und sie dort zu verkaufen. Dies unterwarf die Produkti- onslogiken und die Informationslogiken der DDR mittelbar auch dem Vor- gehen auf den Weltmärkten, wobei eine Externalisierung von Kosten durch Externalisierung von Teilen der Produktion (z. B. ‹Gastarbeiter_innen›, Aus- lagerung in Länder des globalen Südens) im Vergleich zur BRD nur in gerin- gen Maßen erfolgte. Die Weltmärkte wiederum waren ab den 1970er Jah- ren gekennzeichnet durch postfordistische kooperative Verfahren wie Lean Production, Just-in-Time-Produktion und globale Vernetzung,50 denen auf medialer Ebene neben den vielfach besprochenen Netzwerken 51 die bisher weniger beachteten Datenbanken 52 zuspielten. Die mittlere Leitungsebene der DDR erkannte diesen Wandel und reagierte auf ihn durch die Einführung von Kleincomputern und Personal Computern. So lässt sich argumentieren, dass im Rahmen einer sozialistischen Planwirtschaft versucht wurde, postfor- distische Produktionsverfahren zu etablieren. Der Versuch endete, abgesehen von den oben beschriebenen Kontinuitäten einzelner Datenbanktechnolo- gien, 1990. 49  Donig: Vorbild und Klassen- feind, 100. Durch Co-Innovation wurden die westlichen Produkte nicht einfach über- 50  Vgl. Ned Rossiter: Software, nommen und technisch angepasst, wie im Zuge der sogenannten Adaption, Infrastructure, Labor. A Media Theory of Logistical Nightmares, New York 2016. sondern erforscht und neu entwickelt, sodass neues Wissen entstand. Han- 51  Vgl. Manuel Castells: The Rise of delte es sich bei der ‹Adaption› westlicher Software allenfalls um eine Repa- the Network Society, Chichester 2010. 52  Vgl. Burkhardt: Digitale ratur, also um eine Wiederherstellung und Anpassung aus dem westlichen Datenbanken. SCHWERPUNKT 77 FRANCIS HUNGER Quellcode auf DDR-Hardware, so erzeugt die Co-Innovation, wie am Beispiel DABA-1600 gezeigt, neues Wissen. Aufgrund des weitestgehenden Ausschlus- ses der DDR-Wissenschaftler_innen aus den akademischen Fachblättern des W estens verblieb dieses Wissen jedoch hinter dem Eisernen Vorhang. Diese ‹versteckte› Wissensressource wurde allerdings 1990 aktiviert, als der Osten zum Westen wurde. Aus der abgewickelten Datenbankabteilung Robotrons gingen neue Firmen hervor, welche die westlichen relationalen Datenbank- systeme Oracle RDB, dBase, Sybase und Nixdorf DDB 4 in Ostdeutschland nahtlos einführten.53 In der Planwirtschaft der DDR wurden die für Innovationen eingesetzten Ressourcen anderen Planaufgaben als Investivmittel entzogen. Somit könnte das Reparieren in der DDR weniger als ‹alltagsbestimmend›, sondern als Kehr- seite der Innovation oder als Schatten, den die Allokation planwirtschaftlicher Investitionen warf, gekennzeichnet werden. Es scheint, als benötigten die Be- schreibungen der DDR auch 30 Jahre nach dem Ende der undemokratischen 53  Vgl. Interview mit Bittner und Heinemann, 14.11.2018. Planwirtschaft der DDR fortwährende Reparaturen. — 78 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140208, https://orcid.org/0000-0003-3137-6732. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. F R A N Z I S K A K L E M S T E I N RECHENTECHNISCHE   REPARATURKOMPETENZ — Vom staatlich verordneten technischen Fortschritt   zur Entwicklung der Digital Humanities Einleitung Der umfangreiche Einsatz von Rechentechnik in der DDR diente vor allem als Mittel für die Produktions- und Leistungssteigerung in verschiedenen Be- rufszweigen. Die Rechentechnik sollte die Ökonomie der DDR stärken und die Effektivität steigern. Zu Beginn diente ihr Einsatz dem Lösen mathemati- scher Aufgaben, die durch die Datenverarbeitungsanlagen schneller kalkuliert werden konnten als durch den Menschen. So fanden sich die Einsatzfelder zu- nächst in verschiedenen Produktionsbetrieben in der DDR.1 Zugleich sollten diese Entwicklungen auch technisch-wissenschaftlich begleitet werden, um 1  Zu nennen wäre hier exempla- weitere Einsatzbereiche zu definieren, neue Programme zu entwickeln und risch der VEB Industrieprojektierung den Einsatz der Rechentechnik im Austausch mit den anderen sozialistischen Jena, der einen Kooperationsvertrag mit der Hochschule für Architektur Ländern zu koordinieren.2 Mit der weiteren technischen Entwicklung und dem und Bauwesen Weimar (HAB) bzw. stetigen Vergleich der technischen Errungenschaften in der westlichen Welt mit dem Wissenschaftlichen Rechen- zentrum der HAB hatte. dehnten sich auch die Einsatzmöglichkeiten der Rechentechnik sukzessive aus. 2  Der Austausch zwischen den Von besonderer Bedeutung für ihre weitere Ausbreitung in der DDR war die sozialistischen Ländern erfolgte u. a. über die Entwicklungsgemeinschaft Entwicklung von Mikroprozessoren zu Beginn der 1970er Jahre.3 Der techni- des Einheitlichen Systems Elektroni- sche Fortschritt der DDR stand in engem Zusammenhang zum marxistischen scher Rechentechnik (kurz: ESER). 3  Die Entwicklungen im Bereich Fortschrittsglauben und fand seine Verankerung in der revidierten Verfassung der Mikroelektronik wurden auch der DDR von 1974: durch die Tagespresse der 1970er Jahre in die Bevölkerung getragen. Zu nennen wäre hier als einer der Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Bemühungen der sozialistischen Gesellschaft ersten Beiträge zu Mikroprozessoren und ihres Staates. Die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensni- und ihrem Anwendungsbereich ein veaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialisti- Artikel im Neuen Deutschland, siehe Jupp Kern: Spezialrein aus Apoldaer schen Produktion, der Erhöhung der Effektivität des wissenschaftlich-technischen Retorten. Betriebe der Labor- und Fortschritts und des Wachstums der Arbeiterproduktivität ist die entscheidende Auf- Feinchemie tragen entscheidend gabe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. (Art. 2 Abs. 2 der Verfassung der zur Entwicklung der Mikroelektro- DDR, Fassung vom 7.10.1974) nik bei, in: Neues Deutschland, 26.9.1977, 3. SCHWERPUNKT 79 Zu diesem Anspruch gehörte auch eine möglichst früh einsetzende technische Er- ziehung der Bevölkerung. In diesem Sinne kann die neue monatlich erscheinende Jugendzeitschrift Jugend und Technik gelesen werden, die bereits 1954 durch die Hauptabteilung Außerschulische Erziehung des Ministeriums für Volksbildung gegründet worden war. In der Verfügung des Ministeriums hieß es dazu: 4  O. A.: Zeitschrift «Jugend und Den Leitern der Grund- und Oberschulen, der Pionierhäuser und der Stationen der Technik» vom 15. Januar 1954, Jungen Techniker wird empfohlen, für die Arbeitergemeinschaften und Interessenge- in: Verfügungen und Mitteilungen meinschaften der Jungen Techniker die Zeitschrift Jugend und Technik zu abonnie- des Ministeriums für Volksbildung, ren. Die Zeitschrift bringt wertvolle Beiträge zur Unterstützung der polytechnischen 27.1.1954, Nr. 2, 13. 5  Dass sich diese Schlussfolge- Bildung und Anleitungen zum Selbstbau verschiedener Geräte und Modelle. Unter rung nicht nur aus der retrospektiven anderem ist vorgesehen, monatlich eine Bauplananleitung erscheinen zu lassen.4 Analyse ergibt, sondern durchaus auch der zeitgenössischen Wahr- nehmung entsprach, zeigt sich Technisches Wissen, das Verständnis für Prozesse sowie Kenntnisse der Funkti- auch an der Berichterstattung in der onsweisen, die sich sowohl auf die Hardware der Geräte als auch auf die Software Tagespresse der DDR. Exemplarisch hierzu: o. A.: Erfahrungen bei bezogen, gehörten – zumindest wenn man im weitesten Sinne mit Rechentech- der Verwirklichung der Parteitags- nik oder EDV im Büroalltag in Kontakt kam – zum Alltagswissen in der DDR. beschlüsse. Schlüsseltechnolo- gien und was sie uns bringen, in: Gründe hierfür sind zum einen in der Materialknappheit zu finden, die einen Neues Deutschland, 8.7,1986, 3; o. A.: kreativen Umgang mit dem Vorhandenen (nicht nur im Bereich der Rechen- Jugendliche entwickelten neuen Kleincomputer, in: Berliner Zeitung, technik) einforderte und zum Selbstbau, im Sinne eines stetigen Verbesserns, 11.8.1988, 2. Optimierens und Reparierens, animierte.5 Zum anderen findet sich die Ursache 6  So gab es z. B. verschiedene öffentliche Veranstaltungsreihen aber auch in der gesellschaftstheoretischen Einbettung der (rechen-)technischen zu Kybernetik und Rechentechnik Entwicklungen in die Theorie der Kybernetik.6 Im Folgenden wird zunächst ein an Universitäten oder auch in der URANIA – Gesellschaft zur Verbrei- kurzer Einblick in die Geschichte der Rechentechnik und ihre Verschränkung tung wissenschaftlicher Kenntnisse mit dem Bedeutungszuwachs der Kybernetik in der DDR gegeben. Am Beispiel im VEB Kabelwerk Oberspree; siehe hierzu o. A.: Veranstaltungsreihe der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar (HAB Weimar) soll die Kybernetik, in: Neues Deutschland, Geschichte der Entwicklung und Forschung im Bereich der Rechentechnik und 13.4.1968, 12; sowie aus dem URANIA-Verlag: Walter Conrad: Datenverarbeitung vor und nach 1989 vorgestellt werden. Chips, Sensoren, Computer, Leipzig Damit können die Auswirkungen von Zäsuren verdeutlicht werden, die nicht 1988. Eine eingehende Auseinan- dersetzung mit dem Stellenwert der nur als institutionsgeschichtliche Brüche verhandelt werden sollen, sondern Kybernetik in der DDR findet sich auch das Unsichtbarmachen ostdeutscher Forschungsleistungen thematisieren, u. a. bei Jérôme Segal: Kybernetik in der DDR. Begegnung mit der die jedoch in zahlreichen lokalen Archiven und zum Teil in privaten Samm- marxistischen Ideologie, in: Dresdner lungsbeständen überliefert und zum Großteil auch zugänglich sind. Beiträge zur Geschichte der Technik- wissenschaften, Nr. 27, 2001, 47 – 75; Ein rechentechnisches Reparaturwissen wird im Folgenden anhand der ver- Oliver Sukrow, Lucian Hölscher: fügbaren Quellen des Universitätsarchivs der Bauhaus-Universität Weimar so- Arbeit. Wohnen. Computer. Zur Utopie in der bildenden Kunst und Architektur wie mittels einer ersten holzschnittartigen Analyse der Zeitschrift Rechentech­ der DDR in den 1960er Jahren, Heidel- nik / Datenverarbeitung in drei konkreten Ausformungen betrachtet: berg 2018. 7  O. A.: Im Zeichen der Wissen- 1. Reparaturwissen als Technikkompetenz im Alltag: Rechentechnik und schaft und Einheit. Pawlow-Tagung Kybernetik in der DDR; in Leipzig, in: Neue Zeit, 17.1.1953, 1. In dem Bericht heißt es: «Prof. Dr. 2. Reparaturwissen als Technikkompetenz an Hochschulen: Rechentech- Hollitscher widerlegte die sich in nik und Kybernetik an der HAB Weimar; den USA und Westdeutschland ver- breitenden Pseudowissenschaften 3. Reparaturwissen als Grundlage des Experimentierens: Rechentechnik der ‹Reflexologie›, ‹Kybernetik› und und Reparaturwissen am Beispiel der HAB Weimar als Geschichte des des sogenannten ‹schleichenden Empirismus›.» (Um-)Bruchs in den 1990er Jahren. 80 ZfM 27, 2/2022 Reparaturwissen als Technik -   kompetenz im Alltag Die (Weiter-)Entwicklung der Rechen- technik und die damit verbundene Theorie der Kybernetik war in der DDR ab den 1960er Jahren von enor- mer Bedeutung. Während man auf der 1953 in Leipzig stattfindenden Pawlow-Tagung die Kybernetik noch als US-amerikanische und westdeut- sche Pseudowissenschaft diffamierte,7 gelang es vor allem dem Philosophen Georg Klaus ab den 1960er Jahren, die Kybernetik als Gesellschaftswis- senschaft zu etablieren.8 Vorausset- zung dafür waren nicht zuletzt die schnell voranschreitenden Entwicklungen Abb. 1 ZR A 1 und Produktionen im Bereich der Rechentechnik, die sich aus dem Funkwesen heraus intensivierten. Die Tageszeitung Neue Zeit vermeldete 1958 die Fertigstellung des «erste[n] elektronische[n] programmgesteuerte[n] Rechenautomat[en]» der DDR,9 der durch die Zusammenarbeit des VEB Funkwerk Dresden und des Instituts für maschinelle Rechentechnik der Technischen Hochschule Dresden entstanden war. Drei Jahre später übergab der Technische Direktor des VEB Carl Zeiss 8  Bereits 1961 veröffentlichte Jena den ersten serienmäßig produzierten Rechner, den ZRA 1 (Abb. 1), dem Georg Klaus sein Buch Kybernetik Zentralinstitut für Automatisierung in Dresden. In der Folge begannen der in philosophischer Sicht, das bis 1965 in vier Auflagen erscheinen sollte. Ausbau von Rechenzentren und damit der Ausbau und die weitere Entwick- W eiter folgten die Veröffentlichun- lung der Rechentechnik (Soft- und Hardware) in der gesamten DDR.10 In der gen Über die Existenz kybernetischer Systeme in der Gesellschaft (1962), Bundesrepublik existierte bereits im Rahmen der Notgemeinschaft der Deut- K ybernetik und Gesellschaft (1964) schen Wissenschaft (nach der Wiedergründung 1949) ein Sonderausschuss für sowie das Wörterbuch der Kybernetik (1968). Jüngst erschien zudem die Entwicklung elektronischer Rechenmaschinen. Ab 1952 wurde die weitere der Reprint eines Tagungsbandes Entwicklung in diesem Bereich durch die Senatskommission für Rechenan- zur Kybernetik in der DDR von 1963, vgl. Georg Klaus (Hg.): lagen für die Wissenschaft und die Förderung der Datenverarbeitung in der Kybernetik in Wissenschaft, Technik BRD unterstützt.11 Begleitet wurden die Entwicklungen in der DDR durch und Wirtschaft der DDR, Reprint, Berlin, Boston, 2022 [1963], verschiedene Zeitschriften, Bücher und Handreichungen, die sowohl über die doi.org/10.1515/9783112598009. Benutzung als auch über die Funktionsweise der Technik aufklären und ei- 9  O. A.: Elektronischer Rechen- automat, in: Neue Zeit, 30.7.1958, 3. genständige Fehlersuchen und Reparaturen ermöglichen sollten. Zu einer der 10  O. A.: Erster Serien-Rechen- ersten Zeitschriften gehörte die Rechentechnik / Datenverarbeitung (rd), die regel- automat in Betrieb, in: Neues Deutschland, 29.7.1961, 1. mäßig von 1964 bzw. 1966 bis Ende 1991 im Verlag Die Wirtschaft erschien 11  DFG: Bedarf an Investitionsmitteln (Abb. 2). Sie zählte zu den ersten deutschsprachigen Computerzeitschriften in zur Beschaffung von Datenverarbei- tungsanlagen für die Hochschulen der der DDR und veröffentlichte Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Rechen- Bundesrepublik Deutschland in den technik. Dazu gehörten Überblicksdarstellungen, aber auch Beiträge zu neuen Jahren 1980 bis 1984, Empfehlung der Kommission für Rechenanlagen, Geräten und Systemen, zu Programmierung und Programmiersprachen, zu DFG, Bonn-Bad Godesberg 1979, 5. SCHWERPUNKT 81 FRANZISKA KLEMSTEIN mathematischen Modellen oder auch zum T hema Fertigungs- und Prozesssteuerung. Ergänzt wur- den diese Beiträge durch die Rubrik ‹Was bedeu- tet eigentlich …?›, in der einzelne Begriffe aus dem Bereich der Rechentechnik erläutert wurden. Abgerundet wurde jedes Heft durch eine Zusam- menstellung zu Neuerscheinungen und eine Zeit- schriftenumschau aus der ganzen Welt, die die Ent- wicklungen im Bereich der Rechentechnik in einen internationalen Kontext einordnete. Die Umschau verdeutlicht, dass die internationalen Entwicklun- gen im Bereich der Rechentechnik in der DDR be- kannt und Informationen verfügbar waren. Auch im ‹nicht-sozialistischen Westen› wurde über die Entwicklungen ‹des Ostens› berichtet. Beispiels- weise berichtete die Zeitschrift Communications of the Association for Computing Machinery 1959 unter der Überschrift «Central-European Computers» über die Entwicklung des ZRA 1. Der Bericht ba- sierte auf den Erkenntnissen, die der Verfasser des Berichts nach eigener Aussage auf der Auto­Math Computer Exposition 12 von 1959 in Paris über die Entwicklungen von Zeiss in Jena gewinnen konnte, und lässt vermuten, dass die Entwicklungen im Abb. 2 Cover der Zeitschrift Bereich der Rechentechnik in der DDR durchaus international anschlussfähig R echentechnik / Datenverarbeitung waren.13 Politische oder gesellschaftstheoretische Kontextualisierungen der re- chentechnischen Entwicklungen spielten in der rd eine untergeordnete Rolle, durften aber grundsätzlich nicht fehlen. So mussten beispielsweise die « Ziele und Aufgaben der Datenverarbeitung in der DDR» vom VII. Parteitag der 12  Vermutlich die UNESCO- SED (1967) abgeleitet und den Lesenden der Zeitschrift nähergebracht wer- Ausstellung «Auto-Math 59». 13  Nelson M. Blachman: Central- den.14 Betont wird dabei, dass sich European Computers, in: Communica- tions of the ACM, Bd. 2, Nr. 9, 1959, 14 – 18, hier 14 f. seit dem VI. Parteitag der SED […] die Einführung und Anwendung der Daten- 14  Günther Kleiber: Ziele und verarbeitungstechnik in der Deutschen Demokratischen Republik stärker entwickelt Aufgaben der Datenverarbeitung in [hat]. […] Ein wesentliches Kennzeichen dieser Entwicklung [ist], daß durch die der DDR nach dem VII. Parteitag, in: Rechentechnik / Datenverarbeitung, ständige Orientierung des Zentralkomitees der SED und des Ministerrats der DDR Nr. 6, 1967, 3 – 4. die Anwendungsgebiete der elektronischen Datenverarbeitung schwerpunktmäßig 15  Ebd., 3. zur Lösung von Aufgaben in den Produktions- und technologischen Prozessen sowie 16  Vgl. Walter Ulbricht: Das zur Lösung wissenschaftlich-technischer Aufgaben verändert wurden.15 Programm des Sozialismus und die ge- schichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Referat Die Steigerung der Produktivität und Effektivität sollte demnach gemäß der auf dem VI. Parteitag der SED, 15.–21. Januar 1963, Berlin 1963; vgl. Losung aus dem Bauwesen «Besser, billiger und schneller bauen» auch im Be- o. A.: Eine höhere Stufe der Planung reich der Rechentechnik Anwendung finden.16 Die Verbindung zur Kybernetik und Leitung unserer Volkswirtschaft, in: Neues Deutschland, 28.6.1963, 5. blieb dabei aber unerwähnt. Auch in späteren Versuchen der DDR-Regierung, 82 ZfM 27, 2/2022 RECHENTECHNISCHE REPARATURKOMPETENZ die Jugend im Sinne der Partei für die Rechentech- nik zu begeistern, verzichtete man auf kybernetische Kontextualisierungsversuche.17 Die Konzentration auf das Technikverständnis und das Reparaturwis- sen war dafür umso ausgeprägter. Ausführlich wur- de in der rd die Funktionsweise von neuen Geräten oder neuer Software sowie das Suchen und Finden von Fehlern erläutert.18 Das Ziel war dabei nicht allein die Vermittlung von Funktionsweisen, son- dern auch die Vermittlung von Kompetenzen zum Finden von neuen oder andersartigen Einsatzmög- lichkeiten, die den Rahmen des gängigen Repara- turwissens überstiegen. Durch das stetige Suchen und Finden von Fehlern und Optimierungsmög- lichkeiten sowie das umfassende Technikverständ- nis wurden neue Anwendungsfelder und Kon- zepte erprobt, die nicht immer zwangsläufig mit den ursprünglichen Erwartungen an die jeweilige Technologie übereinstimmten. Hier offenbart sich eine Vielschichtigkeit der Medien- und Technikge- schichte der DDR, die es an vielen Stellen noch zu erforschen gilt. Die stetige technische Weiterentwicklung sowie das Implementieren von Geräten und neuen Pro- grammen in den Arbeitsalltag von zahlreichen Berufsgruppen ließ darüber hinaus Abb. 3 Annoncenteil aus der neue Ausbildungsberufe entstehen, die ebenfalls in der rd vorgestellt wurden. Zu Zeitschrift Rechentechnik / Daten- verarbeitung diesen Berufen gehörten unter anderem der ‹Facharbeiter für Datenverarbeitung› sowie der ‹Wartungsmechaniker für Datenverarbeitungs- und Büromaschinen›. Auch im Rahmen der Ingenieur_innenausbildung sollte die elektronische Daten- verarbeitung eine größere Rolle spielen. Zum einen sollten die Hochschulen den 17  Exemplarisch hierfür die Studierenden einen möglichst umfangreichen Überblick in die elektronische Da- Zeitschriften: Der Parteiarbeiter von tenverarbeitung und Rechentechnik vermitteln; zum anderen mussten die bereits 1983 zum Thema ‹Jugend, Wissen- schaft und Technik› sowie Jugend im Beruf stehenden Ingenieur_innen entsprechend den steigenden Anforderun- und Technik von 1987 zum Thema gen weiterg ebildet werden.19 Im Rahmen der Grundausbildung sollte dabei auch ‹Computer aus der DDR›. 18  So führte Wilhelm Röder z. B. die Kybernetik als «theoretische Basis für die Anwendung der Rechentechnik aus, dass die «Ermittlung von Fehler- und Datenverarbeitung» vermittelt werden.20  ursachen […] eine Haupttätigkeit der Systemprogrammierer» sei, Wilhelm Trotz neuer Berufsgruppen blieb der Mangel an rechentechnischen Anlagen Röder: Fehlersuche an EDVA des für die DDR ein stetes Problem. Deutlich wird dies unter anderem an einer ESER aus der Sicht der Systempro- grammierung, in: Rechentechnik / Rubrik innerhalb der rd, die im Inhaltsverzeichnis keine Erwähnung findet: der Datenverarbeitung, Nr. 3, 1976, 40 – 45. Annoncenteil mit Suche / Biete-Anzeigen (Abb. 3), die das Problem des Mangels 19  Vgl. Gottfried Schwarzig: Die elektronische Datenverarbeitung im an Rechentechnik und Rechenprogrammen zu lösen versuchten. Auffallend ist Rahmen der Ingenieursausbildung, dabei, dass diese Angebote nicht von Privatpersonen annonciert wurden, son- in: Rechentechnik / Datenverarbeitung, Nr. 6, 1967, 32 – 34, hier 32. dern von staatlichen Betrieben der DDR. 20  Ebd., 33. SCHWERPUNKT 83 FRANZISKA KLEMSTEIN Reparaturwissen als Technikkompetenz an Hochschulen Nicht nur in Betrieben spielte der Einsatz der Rechentechnik eine immer stärkere Rolle, sondern auch an Hochschulen. Zwischen 1962 und 1967 ent- standen an zehn Hochschulstandorten der DDR Rechenzentren, die mit einem Zeiss-Rechen-Automaten (ZRA 1) und dem Analogrechner Endim 2000 aus- gestattet waren.21 Der Einsatz der Rechentechnik an den Hochschulen erfolgte auf Beschluss der Regierung und war darauf ausgerichtet, den ‹wissenschaftlich-technischen Fortschritt› in der DDR und der sozialistischen Staatengemeinschaft voranzu- treiben. Jeder dieser Standorte hatte dabei eine spezifische Aufgabe bzw. the- matische Ausrichtung, um seinen jeweiligen Beitrag hierzu zu leisten. Der HAB Weimar, die zu den zehn Standorten zählte, oblag die Aufgabe, die mathemati- schen Methoden und die Rechentechnik im Bereich des Bauwesens anzuwenden und weiterzuentwickeln.22 Die Inbetriebnahme des ZRA 1 erfolgte im Wissen- schaftlichen Rechenzentrum (WRZ) des Instituts für Mathematik der HAB «vor- fristig am Ende des Jahres 1962».23 Seit dem Zeitpunkt der Aufstellung des Digi- talrechners wurde vom WRZ «die Verbindung mit der Praxis auf allen Gebieten des Bauwesens zur Einführung des elektronischen Rechnens vertieft».24 Obwohl jede Hochschule bzw. Universität ihren eigenen Schwerpunkt ver- folgte, gab es einen regelmäßigen Austausch zwischen den verschiedenen Nut- zer_innen des ZRA 1, die zusammen die ‹Benutzergemeinschaft ZRA 1› bildeten. Bei Tagungen wurde über aktuelle Entwicklungen und Anwendungen gespro- chen, aber auch über die Rahmenbedingungen der Programmentwicklung und 21  Vgl. Martin Schmitt: Die D igitalisierung der Kreditwirtschaft. -weitergabe diskutiert. Aus dem Protokoll der Tagung der ‹Benutzergemein- Computereinsatz in den Sparkassen schaft ZRA 1› vom 6. November 1964 im VEB Carl Zeiss Jena geht hervor, dass der Bundesrepublik und der DDR 1957 – 1991, Göttingen 2021, die Finanzierung und der Austausch von Programmen unter den Institutionen S. 611 – 613; Details zur Computer- einen Hauptdiskussionspunkt darstellte.25 Die Nutzenden bemängelten, dass serie ZRA: www.robotrontechnik.de/ index.htm?/html/computer/zra.htm nicht alle «Rechenzentren hiernach […] in der Lage sind, austauschfähige Pro- (10.3.2022); Norbert Sieber: Die re- gramme zu erstellen», wodurch der Programmaustausch nur mit zeitraubenden chentechnische und datenverarbei- tende Ausbildung an Universitäten Anpassungen möglich sei.26 Statt hierfür Kosten zu veranschlagen, einigte sich und Hochschulen, in: Rechentech- die Nutzer_innengemeinschaft darauf, «bei der Anmeldung von neuen Pro- nik / Datenverarbeitung, Nr. 6, 1967, 35 – 38, hier 36. grammen auf einem besonderen Deckblatt das Problem in der Algolsprache zu 22  Vgl. Sieber: Die rechentech- notieren»,27 um – so lässt sich vermuten – eine bessere Weiternutzung des je- nische und datenverarbeitende Ausbildung, 35 f. weiligen Programms zu ermöglichen und die Fehleranfälligkeit zu minimieren. 23  Jahresbericht des Instituts für Mit dem Finden solcher Behelfslösungen, die auch als eine Art Reparaturwissen Mathematik 1962, 1, in: Universi- tätsarchiv der Bauhaus-Universität verstanden werden können, sollte vor allem die Nutzung und Weiterentwick- Weimar, Signatur: I/04/158. lung des ZRA 1 gewährleistet werden. Da die Produktionszahl des ZRA sehr 24  Ebd., 3. 25  Protokoll zur Tagung der gering, die Bedeutung für die weitere Entwicklung der Rechentechnik in der Benutzergemeinschaft ZRA vom DDR jedoch sehr groß war, existierte diese Vorgehensweise – nach derzeitigem 6.11.1964, 1 – 4 , in: Universitätsarchiv der Bauhaus-Universität Weimar, Stand – lediglich innerhalb der Nutzer_innengemeinschaft des ZRA. Trotz des Signatur: I/04/154. regen Austauschs innerhalb der Nutzer_innengemeinschaft konnte die «For- 26  Vgl. ebd., 3. 27  Vgl. ebd., 4. schungs- und Entwicklungsarbeit […] nicht immer in voller Breite durchgeführt 84 ZfM 27, 2/2022 RECHENTECHNISCHE REPARATURKOMPETENZ werden, da die Maschinenaggregate, die zur Verfügung stehen, nicht allen An- forderungen gerecht werden»,28 bemängelte Horst Matzke als Direktor des In- stituts für Mathematik an der HAB in seinem Jahresbericht für das Jahr 1963. Mängel und Probleme in der Bereitstellung der entsprechenden Technologien bestanden daher nicht nur für die Produktionsbetriebe, sondern auch für die an den Technologien forschenden Institutionen. Im August 1962 wandte sich Ludwig Küttner, Professor für Gebiets- und Stadtplanung an der HAB, an Matzke, um ihn über seine Vorbereitungen für das dritte Symposium über Gebietsplanung zu informieren, das im Folgejahr in Weimar stattfinden sollte. Das Schreiben diente zugleich als Einladung zum Symposium und überrascht zunächst dadurch, dass kein Bezug zu rechentech- nischen Fragestellungen ersichtlich wird. Aus dem Programmentwurf, den Küttner an Matzke gesandt hatte, wird jedoch deutlich, dass kybernetische Fragestellungen im Mittelpunkt der Tagung stehen sollten. Selbst die übliche29 Begehung des Rechenzentrums stand seitens Küttner zur Disposition, inso- fern er die Frage formulierte, inwieweit diese Besichtigung im Interesse der Teilnehmer_innen wäre.30 Sowohl die Kontaktaufnahme Küttners als auch die Ausrichtung des Symposiums zeigen, dass die Entwicklung und Nutzung von Rechentechnik in der DDR nicht auf informationstechnologische Bereiche begrenzt blieb, sondern relativ früh in sozial- und geisteswissenschaftlichen sowie planerischen Fächern auf Interesse stieß. Als Gebiets- und Stadtplaner beobachtete Küttner die Entwicklungen der Rechentechnik und arbeitete da- ran, mithilfe kybernetischer Kontextualisierungen diese Entwicklungen (auch praktisch) für seine Forschungen greifbar zu machen, weshalb er den Austausch mit Matzke suchte. Bereits im April 1962 hatte Küttner selbst auf dem zwei- ten Symposium über Gebietsplanung einen Vortrag mit dem Titel «Über die 28  Jahresbericht 1963 über die Forschungs- und Entwicklungsarbeit Rolle der Kybernetik und mathematischen Programmierung in der Gebiets-, des Instituts für Mathematik der HAB Stadt- und Dorfplanung» gehalten und damit die Rolle der Mathematik und Weimar vom 8.3.1964, 9, in: Univer- sitätsarchiv der Bauhaus-Universität Rechentechnik betont. Vorlesungen zur Kybernetik wurden sowohl am Institut Weimar, Signatur: I/07/475. für Mathematik als auch am Lehrstuhl für Gebiets- und Stadtplanung gehalten, 29  Das Rechenzentrum der HAB Weimar konnte regelmäßig die im Fall des Instituts für Mathematik den Zusammenhang zwischen Rechen- an jedem zweiten Mittwoch im technik und Kybernetik herausstellten und im Fall der Gebiets- und Stadtpla- Monat nach schriftlicher Anmeldung besichtigt werden, vgl. Hochschule nung eher den Charakter einer Einführungsveranstaltung hatten, die «einen für Architektur und Bauwesen wesentlichen Einblick in die Aufgaben, Probleme und den wissenschaftlichen Weimar / Institut für Mathematik (Hrsg.): Automatisches Rechnen. Stand der Kybernetik […] und neue Beispiele über praktische Anwendungs- Wissenschaftliches Rechenzentrum, möglichkeiten» vermittelte.31  Weimar 1965, o. S. 30  Anschreiben und Programm- Auch Matzke war an einer Nutzung der Rechentechnik außerhalb seines entwurf von Ludwig Küttner an Horst mathematischen Bereichs interessiert und suchte den Austausch mit anderen, Matzke vom 10.8.1962, in: Universi- tätsarchiv der Bauhaus-Universität indem er auf Programmierkurse und Einführungen in die elektronische Re- Weimar, Signatur: I/04/527. chentechnik aufmerksam machte. Matzke kam auf diese Weise unter ande- 31  Schreiben von Ludwig Küttner betreffend die Vorlesungsreihe rem auch in Kontakt mit dem Geologen Otfried Wagenbreth, der am Institut Kybernetik 1966 / 67 vom 15.9.1966, für Geologie und Technische Gesteinskunde der HAB tätig war. Wagenbreth in: Universitätsarchiv der Bauhaus- Universität Weimar, Signatur: bedankte sich für die Initiative seitens des Institutsdirektors für Mathematik I/04/527. SCHWERPUNKT 85 FRANZISKA KLEMSTEIN und ging auf das Angebot ein, «über die Möglichkeiten der elektronischen Rechentechnik in unserem Fachgebiet zu sprechen».32 Zugleich dämpfte er jedoch die Erwartungen, indem er zu bedenken gab, dass die «bisherigen Ar- beiten […] kaum solche Anwendungsmöglichkeiten haben deutlich werden lassen».33 Matzkes Engagement für die Vermittlung der Rechentechnik an der eigenen Hochschule stieß offenbar auf Interesse, wobei aus der zurückhalten- den Antwort Wagenbreths zugleich erkennbar wird, dass die Möglichkeiten und Potenziale der rechentechnischen Entwicklungen in vielen Bereichen 32  Schreiben von Otfried noch unbekannt waren.34 Schon 1967 zeigte sich aber, dass immer mehr Stu- Wagenbreth an Horst Matzke vom dierende und Mitarbeiter_innen das Wissenschaftliche Rechenzentrum der 26.5.1966, in: Universitätsarchiv der Bauhaus-Universität Weimar, HAB Weimar nutzen wollten und das WRZ so an seine personellen Kapazitäts- Signatur: I/04/527. grenzen brachten. Im November 1967 wandte sich der Leiter der Abteilung 33  Ebd. 34  Diese Zurückhaltung ist Wissenschaftliches Rechenzentrum Horst Kretzschmar an Erhard H ampe, durchaus heute noch in vielen Professor für Stahlbeton und Massivbau, um über eine Neuregelung der Nut- Fächern vorhanden, wenn es um den möglichen Einsatz von zungszeiten zu sprechen, die durch den hohen Bedarf der Studierenden «der W erkzeugen und Methoden aus Fakultät II und auch der anderen Fakultäten in größerem Umfange» entstan- dem Bereich der sogenannten Digital Humanities geht. den.35 Die Nachfrage seitens der Studierenden, die die Rechentechnik im Rah- 35  Schreiben von Horst men ihrer Beleg- und Diplomarbeiten nutzten, war enorm. Kretzschmar an Erhard Hampe vom 30.11.1967, in: Universitätsarchiv Insbesondere an Hochschulen entstand durch den Einsatz der Rechentech- der Bauhaus-Universität Weimar, nik ein Möglichkeitsraum, in dem neue Wege erprobt und mit der vorhandenen Signatur: I/04/527. Die HAB Weimar bestand aus der Fakultät Architektur Technik experimentiert werden konnte. Durch verschiedene Publikationen und (Fakultät I), der Fakultät Bauinge- Publikationsformate, wie die hier vorgestellte Zeitschrift Rechentechnik / Datenver­ ni eurwesen (Fakultät II), der Fakultät Baustoffkunde und Baustofftech- arbeitung, sowie verschiedene Veranstaltungsreihen und Seminare in den Hoch- nologie, ab 1960 Fakultät Baustoff- schulen und Universitäten existierte eine Technik- und Reparaturkompetenz ingenieurwesen (Fakultät III) sowie aus zentralen Einrichtungen und im Alltag, die einen überaus kreativen Umgang mit Technik und Technologien zahlreichen Instituten. Zur Fakultät beförderte. Hierdurch etablierte sich zum einen ein komplexes Reparaturwissen III gehörte das Institut für Mathe- matik mit Lehrstühlen für Mathe- abseits vordefinierter Schemata und zum anderen führte dies auch dazu, dass matik und Konstruktive Geometrie mögliche Einsatzfelder für (neue) Technologien selbst erprobt, vorhandene sowie der Abteilung Wissenschaft- liches Rechenzentrum, dessen Software angepasst und für die eigenen Themen und Fragestellungen angeeignet Direktor Horst Matzke war. wurden. Die Einsatzmöglichkeiten der Rechentechnik zu erproben war seitens 36  Exemplarisch zu nennen wären hier die Dissertationen von des Staates gewollt – wenngleich hier zumeist die Produktionssteigerung im Reinhard Hübler: Zur rechnerinternen Vordergrund stand. Darstellung baulicher Objekte im Rahmen des automatengestützten konstruktiven Entwicklungsprozesses, Weimar 1974 und von Sergej Alekseev: Beitrag zur Entwicklung eines Projektierungsbaustei- Reparaturwissen als Grundlage des Experimentierens nes (CAD-Bausteines) für das gesteuerte Die Vermittlung von Wissen über die Rechentechnik der DDR sowie über Entwerfen der funktionellen Lösung mehrgeschossiger Mehrzweckgebäude Kybern etik gehörte spätestens ab den 1960er Jahren zum Studium an der HAB bei der Minimierung des Energiever- Weimar – unabhängig vom Studiengang. Es entstanden verschiedene Arbei- brauchs für die Lüftung, Weimar 1988. Weitere Dissertationen, die an ten, die den Einsatz, den möglichen Nutzen und weiterführende Entwicklun- der HAB W eimar entstanden, sind gen von Rechentechnik im Bauwesen thematisierten. Häufig ging es bei diesen hier zu finden: Frank Simon-Ritz (Hg.): 50 Jahre Dissertationen an der Arbeiten um die Optimierung und Prozessierung von einzelnen Produktions- H ochschule für Architektur und Bauwesen schritten, aber auch um die Nutzungsmöglichkeiten des computer­aided design und der Bauhaus-Universität Weimar, Weimar 2005. (CAD) im Entwurfsprozess.36 86 ZfM 27, 2/2022 RECHENTECHNISCHE REPARATURKOMPETENZ Eine gänzlich andere Einsatzmöglichkeit von Rechentechnik fand Folke Dietzsch 1990 in seiner Dissertation Die Studierenden am Bauhaus. Eine analy­ tische Betrachtung zur strukturellen Zusammensetzung der Studierenden, zu ihrem Studium und Leben am Bauhaus sowie zu ihrem späteren Wirken. Im Rahmen sei- ner Arbeit entwickelte Dietzsch nicht nur einen Beitrag zur Aneignung des Bau- hauserbes in der DDR, indem er die sozialen, politischen und geistig-kulturellen Bedingungen des Lebens der Studierenden am Bauhaus untersuchte und dabei insbesondere auch Aspekte des Studiums, der Ausbildung und des Verhältnisses zwischen den Studierenden und den Lehrenden analysierte, sondern er entwi- ckelte und nutzte auch eine Redabas-Datenbank zu den Studierenden. Diese Datenbank umfasste 1258 Personen und bildete die Basis für eine Analyse zur Sozialstruktur der Studierenden nach Geschlecht, Alter, Nationalität, Herkunft, Verwandtschaftsbeziehungen, Vorbildungen und vielem mehr.37 Während der erste Band der Arbeit den Textteil und damit vor allem die Quellenarbeit und Auswertung in den Vordergrund stellte, umfasste der zweite Band die Quellen sowie tabellarische Übersichten aus der Datenbank. Bei Redabas handelte es sich um ein Relationales Datenbanksystem aus dem VEB Kombinat Robotron, das auf dem Datenbankmanagementsystem dBase II basierte.38 Durch die große Verbreitung dieses Programms sowohl auf Büro- computern als auch auf Großrechnern hatten Entwickler_innen Schnittstellen für dieses System entworfen, wodurch seine weitere Verbreitung wiederum stetig zunahm.39 So konnten beispielsweise Datenbankkopien auch in anderen Formaten erzeugt werden, sodass andere Programme die Datenbank öffnen, weiterverarbeiten und nachnutzen konnten. Zur Anwendung kam dBase II zu- meist innerhalb von Bürosystemen, die das effektive Ablegen und Wiederfin- den von Daten ermöglichen sollten. Mithilfe der Rechentechnik bzw. des relationalen Datenbanksystems, das ihm über das Rechenzentrum der HAB zur Verfügung stand, hatte Dietzsch die Da- ten für seine Dissertation nicht nur strukturiert erfassen, analysieren und auswer- ten können, sondern auch eine neue Nutzungsform des Systems entwickelt, die über reine Kalkulationstabellen oder einfache Büroverwaltungsaufgaben hinaus- ging. So erfasste er in mehreren Teildatensätzen die Personendaten, die Schul- und Berufsbildung, die Tätigkeiten vor, während und nach der Zeit am Bauhaus sowie spätere Lehrtätigkeiten am Bauhaus. Diese Teildatensätze konnten durch Selektion oder Verknüpfung gezielt zu einzelnen, mehreren oder allen Studie- renden abgefragt werden. Durch zusätzliche Attribute konnte die Suche darüber hinaus noch verfeinert werden. Damit hatte Dietzsch seine Technikkompetenz 37  Vgl. Folke Dietzsch: Die für die Umnutzung von Redabas angewandt und zugleich neue bzw. weitere S tudierenden am Bauhaus, Bd. 1, Weimar 1991, v. Einsatzmöglichkeiten abseits des Bürobereichs zum Vorschein gebracht. Mit 38  Zur Vorgeschichte vgl. den dieser Herangehensweise an sein Forschungsthema und durch seine Arbeitswei- Beitrag von Francis Hunger in diesem Heft, 65 – 78. se mit den Quellen, die zugleich eine – für die damalige Zeit – neuartige Um- 39  Vgl. Informationen zum gangsweise darstellte, könnte man Dietzsch als Vorreiter im Bereich der Digital Datenbankprogramm REDABAS, www.robotrontechnik.de/index.htm?/ Humanities (DH) in Weimar bezeichnen, obgleich sich diese Bewertung nicht html/software/dbprg.htm (28.2.2022). SCHWERPUNKT 87 FRANZISKA KLEMSTEIN an den heutigen Standards und Entwicklungen in den Digital oder Computational Humanities mes- sen lässt. Vor dem Hintergrund der Anfänge der DH – insbesondere im deutschsprachigen Raum – die zu- nächst vorrangig darauf abzielten, Archivalien und Quellenbestände der Geistes- und Kulturwissen- schaften strukturiert zu erfassen, zu analysieren, auszuwerten und in neuer Form zu visualisieren und zu veröffentlichen, erscheint diese Einordnung der Dissertation von Dietzsch allerdings durchaus zuläs- sig.40 Auch wenn die Visualisierung (Abb. 4) der Daten in der Arbeit als Abb. 4 Datenbankauszug aus rudimentär bezeichnet werden muss, entspricht die Arbeit dem frühen Grund- der Dissertationsschrift von verständnis der DH, aus dem sich in den letzten Jahren verschiedene technik-, Folke Dietzsch medien- und methodenkritische Strömungen (weiter-)entwickelt haben.41 Doch während Dietzsch 1991 seine Dissertation in Weimar verteidigte, war die Zeit der DDR zu Ende gegangen und die HAB Weimar fand sich in einer Zeit des Umbruchs wieder, die vor allem für die Sektion Rechentechnik bzw. die Fakultät Informatik und Mathematik wenig Hoffnung ließ. So hatte der 40  Exemplarisch für diese frühen Wissenschaftsrat 1991 die Fakultät als nicht notwendig für den weiteren Erhalt DH-Projekte sind: Roberto Busa: der Hochschule erachtet und eine engere Zusammenarbeit mit den Universi- The Annals of Humanities Com- puting: The Index Thomisticus, täten in Jena und Ilmenau gefordert.42 Der Wissenschaftsrat bestand auf der in: Computers and the Humanities, Auflösung der Fakultät, und obwohl sie sich noch bis 1995 behaupten konnte, 1980, 83 – 90; sowie: Paolo d’Iorio: Principles of HyperNietzsche, in: war ihr Ende besiegelt, als die Bewilligung von Bundesmitteln für den Ausbau Diogenes, 2002, 58 – 72. des Standorts Steubenstraße 43 von ihrer Auflösung abhängig gemacht wurde.44 41  Exemplarisch für diese Ent wicklungen sind zu nennen: Die Rechentechnik der DDR galt als obsolet, veraltet und nicht anschlussfähig Safiya Umoja Noble: Algorithms an die Entwicklungen, die in der Bundesrepublik bereits stattgefunden hatten. of Oppression. How Search Engines Reinforce Racism, New York 2018; Diese Einschätzung entsprach nur sehr bedingt den tatsächlichen Verhältnis- sowie: D omenico Fiormonte, sen: So basierte beispielsweise Redabas auf dem Datenbankmanagementsys- Sukanta Chaudhuri, Paola Ricaurte (Hg.): G lobal Debates in the Digital tem dBase und konnte daher wie schon dargelegt mit unterschiedlichen Pro- Humanities, Minnesota 2022. grammen weiterverwendet werden. Auch die Programmschnittstellen und 42  Vgl. Ekkehard Schönherr: Zwischen Autonomie und Zwang. Die Programmiersprachen, wie Fortran / Basic oder Pascal, existierten in Ost wie Umstrukturierung der HAB Weimar West. Ebenso war im Hardwarebereich, beispielsweise in der Entwicklung von zur Bauhaus-Universität, 1988 – 1996, in: Frank Simon-Ritz, Klaus-Jürgen Mikroe lektronik, die Technologie, die vom VEB Robotron und dem Zentrum Winkler, Gerd Zimmermann (Hg.): für Mikroelektronik (ZMD) entwickelt wurde, weder unbrauchbar noch veral- Wir sind! Wir wollen! Und wir schaffen! Von der Großherzoglichen Kunstschule tet. Lediglich die Produktion war um ein Vielfaches teurer gewesen als die west- zur Bauhaus-Universität Weimar lichen Produkt- und Technologieentwicklungen.45 Dennoch sollte die Fakultät 1860 – 2010, Bd. 2, Weimar 2012, 303 – 339, hier 312 f. Informatik und Mathematik – wie vieles andere auch – abgewickelt werden. 88 ZfM 27, 2/2022 RECHENTECHNISCHE REPARATURKOMPETENZ Dabei zeigt gerade die Dissertation von Dietzsch das Innovationsvermögen auf, das sich durch das Experimentieren mit Rechentechnik und Datenbanksyste- men im Bereich der Geistes- und So zialwissenschaften ergab, welche trotz des Fehlens der aktuellsten technischen Neuheiten möglich und zugleich zugäng- lich, interoperabel und wiederverwendbar war. Dietzschs Forschungsleistung geriet beinahe in Vergessenheit, unter anderem weil seine Datenbank nicht als Bestandteil der Dissertation oder anderweitig öffentlich zugänglich gemacht wurde. Erst durch die Masterarbeit von Jens Weber und Andreas Wolter im Studiengang Media Architecture an der Bauhaus-Universität Weimar wurden die von Dietzsch erstellten Redabas-Datensätze in aktuelle Datenformate kon- vertiert, für die Plattform Impuls­Bauhaus in neuer Form verwendet und der Öffentlichkeit präsentiert.46 43  Der Standort Steubenstraße umfasst u. a. die Universitätsbiblio- thek sowie das Servicezentrum für Computersysteme und Compu- terkommunikation der Bauhaus- Schlussbemerkungen Universität Weimar. Die Entwicklung der Rechentechnik sowie die Durchdringung des Alltags mit 44  Vgl. Schönherr: Zwischen Autonomie und Zwang, 325 – 326. Großrechnern und Kleincomputern, integrierten Bürosystemen und anderen Vgl. auch die Erinnerungen des Rek- rechentechnischen Soft- und Hardwarelösungen wurde von der DDR-Regie- tors der HAB / Bauhaus-Universität Weimar, Gerd Zimmermann, in der rung unter der Losung des technischen Fortschritts bereits seit den 1950er Rubrik ‹Debatte› in diesem Heft, Jahren gefordert und gefördert. Der ‹wissenschaftlich-technische Fortschritt› 132 – 152. 45  Vgl. exemplarisch Christian sollte die sozialistische Gesellschaft formen sowie einen technischen Auf- Fuchs: Der Überläufer. Computer- schwung bewirken. Mit der sechsten Tagung des Zentralkomitees der SED vom programme aus der DDR?, in: Brand eins, Bd. 7, Nr. 11, 2011, 32 – 38; 23. / 24. Juni 1977 und den damit verbundenen Beschlüssen auf dem Gebiet der Gerhard Merkel: VEB Kombinat Robo- Elektrotechnik und Elektronik wurde die Entwicklung von Mikroprozessoren tron. Ein Kombinat des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik der DDR, bzw. Mikroelektronik und Halbleitern ins Zentrum der Wirtschafts- und Ent- Dresden 2006. wicklungsbestrebungen gerückt – auch um den Rückstand gegenüber den Ent- 46  Jens Weber, Andreas Wolter: ImpulsBauhaus. Kulturelle wicklungen im Westen zu minimieren.47 In der Folge entstanden neue Klein- I nterventionen eines sozialen Netzwerks, und Lerncomputer sowie rechnergesteuerte Werkzeugmaschinen, Anlagen und Weimar 2012 sowie Screencast der Plattform Impuls-Bauhaus: vimeo. Messinstrumente und Apparaturen für die Medizin.48 com/2128067 (28.2.2022). Die Auswirkungen des CoCom-Embargos,49 die zu einem immerwährenden 47  Gerhard Grüneberg: 6. Tagung des ZK der SED 23./24.6.1977. Aus dem Mangel an Rechentechnik führten, konnten trotz aller Maßnahmen nicht aus- Bericht des Politbüros an das ZK der reichend abgemildert werden, sodass die Nachnutzbarkeit von Rechentechnik SED, Berlin 1977, passim. 48  Reinhard Krüger: Vom unabdingbar wurde. Dies beförderte zugleich ein rechentechnisches Reparatur- metergroßen Schrank zum winzigen wissen und ein relativ weit verbreitetes Technikwissen wie auch das Bestreben, Plättchen, in: Neues Deutschland, 16.7.1977, 12. Technologien nicht nur anzuwenden, sondern sie den eigenen Bedürfnissen 49  Das Coordinating Committee und Themen anzupassen durch das Experimentieren mit neuen Einsatz- bzw. for Multilateral Export Controls (kurz: CoCom) diente zur Exportkon- Anwendungsmöglichkeiten, wie es Dietzsch in seiner Dissertation unternom- trolle westlicher Technologie in die men hatte. Er hatte damit sowohl die erste Datenbank zu den Studierenden am Staaten des sogenannten Ostblocks. Die Exportkontrolle wurde in regel- Bauhaus aufgebaut als auch den Wert der Rechentechnik für weiterführende mäßigen Abständen angepasst und Forschungen aufgezeigt, indem er seine Daten auffindbar, zugänglich, inter- erweitert. Eine Zusammenstellung aller Listen der aus strategischen operabel und wiederverwendbar angelegt hatte. Gründen kontrollierten Güter aus Anhand dieses Fallbeispiels an der HAB Weimar wird ersichtlich, dass die der Zeit von 1954 bis 1993 kann hier eingesehen werden: evansresearch. Zugänge von Studierenden und Lehrenden zur Rechentechnik zwischen ‹Ost› org/cocom-lists/ (10.3.2022). SCHWERPUNKT 89 FRANZISKA KLEMSTEIN und ‹West› nicht unbedingt ungleich waren. Auch wenn für die Bevölkerung der DDR der Zugang zu Technologien aus den nicht-sozialistischen Staaten er- schwert war, basierten viele Entwicklungen auf ähnlichen Technologien oder waren zumindest in denselben Programmiersprachen geschrieben worden. Das erarbeitete Reparaturwissen im Bereich der Rechentechnik diente in der DDR als Voraussetzung für innovative Herangehensweisen und innova- tiven Gebrauch. Kybernetische Ideen und Modelle dienten dabei häufig als Brücke zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Geistes- und Sozial- wissenschaften und Ingenieurswissenschaften, wie der Austausch zwischen Wissenschaftlichem Rechenzentrum (Horst Matzke) und Gebiets- und Stadt- planung (Ludwig K üttner) zeigt. 50  Während in der Medienge- Die strukturellen Veränderungen der ‹Nachwendezeit› an den ostdeutschen staltung Themen wie Interface- Hochschulen im Allgemeinen und der HAB Weimar im Besonderen müssen als Design, Mensch-Maschine-Kommu- nikation und vernetzte Medien und Zäsur für das Reparaturwissen im Bereich der Rechentechnik bewertet werden. Medien systeme durchaus eine Rolle Die Auflösung der Sektion Rechentechnik bzw. der Fakultät Informatik und spielten, sollte sich das Studium der M edienwissenschaft auf die Mathematik sowie die weiteren Strukturveränderungen an der Hochschule lös- Lehrgebiete Wahrnehmungsl ehre, ten die engen Verbindungen zwischen dem Bereich der Rechentechnik und den Geschichte und Theorie der Kommunikation und der Medien, anderen Studiengängen, die seit den 1960er Jahren existiert hatten. Die Grün- die Geschichte und Theorie künst- dung der Fakultät Medien im Jahr 1996 war zwar ein wegweisendes Signal für licher Welten sowie Soziologie kon- zent rieren. Siehe hierzu: Kurz- die Medienwissenschaft, der Bezug zur Informatik als zentrale technische Vor- beschreibung der Studiengänge aussetzung für die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Medienphänomenen Mediengestaltung und Medien- wissenschaft, in: Konzeption für blieb jedoch zunächst ungenutzt.50 Gleichwohl wurde durch die Ansiedlung der die Medienausbildung an der HAB Medieninformatik, die zunächst unter der Bezeichnung ‹Mediensysteme› fir- Weimar, bestätigt durch den Senat am 6. November 1995, in: Univer- mierte, ein vollständiger Bruch bzw. der Verlust der ‹Rechentechnikgeschichte› sitätsarchiv der Bauhaus-Universität verhindert.51 Mit den Bestrebungen im Bereich der Digital bzw. Computational Weimar, Signatur: I/16/390. 51  Vgl. die Erinnerungen des da- Humanities in den letzten Jahren und dem Ausbau der Kompetenzen im Be- maligen Rektors Gerd Zimmermanns reich des Forschungsdatenmanagements knüpft die Hochschule nun wieder an in der Rubrik ‹Debatte› in diesem Heft, 132 – 152. jene frühere Konstellation an. — 90 ZfM 27, 2/2022 — BILDSTRECKE Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140209. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. L A U R A H O R E L L I — «Namibia Today», 2017 / 18 Vorgestellt von ANNETT JAHN Ein Mann bleibt stehen und liest im Buch Namibia and Germany. Negotiating the Past.1 Hinter ihm sind die Plakatwände einer U-Bahn-Station mit dem Schrift- zug «Namibia Today» zu sehen. Der Lesende, Philemon Sheya Kaluwapa, ist ein Protagonist des Films Namibia Today von der finnischen Künstlerin Laura Horelli. Die Arbeit widmet sich der kaum bekannten Zeitschrift Namibia Today, die zwi- schen 1980 und 1985 in der Erfurter Druckerei Fortschritt unter anderem mit Papier gedruckt wurde, das vom Finnischen Friedenskomitee gespendet wurde. Herausgeber der Zeitschrift war die Befreiungsbewegung SWAPO (South West Africa People’s Organisation), der Druck wurde finanziert von der DDR. Horelli arrangierte Titels eiten von Namibia Today mit Collagen zur Geschichte des Hef- tes zu einer Plakatserie, die 2017 in der Berliner U-Bahn-Station Schillingstraße unterhalb der Karl-Marx-Allee zu sehen war.2 Vor Ort wurde ein 22-minütiger Film als Weiterentwicklung des temporären öffentlichen Kunstwerks gedreht. Großformatige Cover von Namibia Today erschienen neben Details der Produktionsgeschichte oder Fotografien von politischen Akteur_innen dieser Jahre. Solidarische Gesten und Gruppenbilder, Fidel Castro als Coverboy im Paparazzi-Stil freigestellt.3 Die Übertragung der Zeitschriftenmotive in eine stati- sche Plakatserie schließt im Untergrund der Haltestelle einerseits an Traditionen der Sichtagitation eines proletarischen Internationalismus an 4 und wird ander er- seits den flüchtigen Sinneseindrücken des U-Bahn-Transits gegenübergestellt. 1  Vgl. Reinhart Kößler: Namibia Bilder ziehen während der Fahrt vorüber, sie spiegeln sich in den Scheiben und and Germany. Negotiating the Past, durchdringen unsere Wahrnehmung während des Wartens oder Eilens. In den Windhoek, Münster 2015. 2  Vgl. Website von Laura Horelli: individuellen Rezeptionssituationen deutet sich die Vielschichtigkeit der Arbeit laurahorelli.com/namibia-today_de/ und des Umgangs mit ihr an. Im Übertragungsraum der Haltestelle erhält eine (10.7.2022). 3  Die Zeitschrift Namibia Today ist ungeklärte Geschichte Aufmerksamkeit, und das ‹Heute› aus dem Zeitschriften- u. a. im Bestand der Staatsbibliothek titel hallt nach: Was ist Namibia heute, was war Namibia im damaligen Heute? zu Berlin zu finden. 4  Und damit auch an die Ge- Welchen Einfluss hatte die Zeitschrift und welchen Einfluss hatte darüber die schichte von Kunst im Untergrund; DDR oder das Finnische Friedenskomitee auf Namibia? Mit Namibia Today treten vgl. www.artmagazine.cc/content 102207.html (14.7.2022). Widersprüche zu Tage, die sich nicht auflösen lassen: Ist doch die staatlich ge- 5  Vgl. z. B. das Interview mit lenkte ‹Völkerfreundschaft› kein Mittel gegen rassistische Verhaltensmuster oder Julia Oelkers und Isabel Enzenbach zu ihrer Web-Doku Eigensinn im Formen der Ausbeutung und Bevormundung.5 Solidarisch unterstützte die DDR Bruderland: blog.grimme-online-award. die Freiheitsbewegung der SWAPO, versuchte jedoch gleichzeitig die Rufe nach de/2020/06/sie-gehoerten-nicht-dazu (14.7.2022). einem freien Leben im eigenen Land zum Verstummen zu bringen. — 92 ZfM 27, 2/2022 L A U R A H O R E L L I — «Namibia Today», 2017 / 18 Vorgestellt von ANNETT JAHN Ein Mann bleibt stehen und liest im Buch Namibia and Germany. Negotiating the Past.1 Hinter ihm sind die Plakatwände einer U-Bahn-Station mit dem Schrift- zug «Namibia Today» zu sehen. Der Lesende, Philemon Sheya Kaluwapa, ist ein Protagonist des Films Namibia Today von der finnischen Künstlerin Laura Horelli. Die Arbeit widmet sich der kaum bekannten Zeitschrift Namibia Today, die zwi- schen 1980 und 1985 in der Erfurter Druckerei Fortschritt unter anderem mit Papier gedruckt wurde, das vom Finnischen Friedenskomitee gespendet wurde. Herausgeber der Zeitschrift war die Befreiungsbewegung SWAPO (South West Africa People’s Organisation), der Druck wurde finanziert von der DDR. Horelli arrangierte Titels eiten von Namibia Today mit Collagen zur Geschichte des Hef- tes zu einer Plakatserie, die 2017 in der Berliner U-Bahn-Station Schillingstraße unterhalb der Karl-Marx-Allee zu sehen war.2 Vor Ort wurde ein 22-minütiger Film als Weiterentwicklung des temporären öffentlichen Kunstwerks gedreht. Großformatige Cover von Namibia Today erschienen neben Details der Produktionsgeschichte oder Fotografien von politischen Akteur_innen dieser Jahre. Solidarische Gesten und Gruppenbilder, Fidel Castro als Coverboy im P aparazzi-Stil freigestellt.3 Die Übertragung der Zeitschriftenmotive in eine stati- sche Plakatserie schließt im Untergrund der Haltestelle einerseits an Traditionen der Sichtagitation eines proletarischen Internationalismus an 4 und wird ander er - seits den flüchtigen Sinneseindrücken des U-Bahn-Transits gegenübergestellt. 1  Vgl. Reinhart Kößler: Namibia Bilder ziehen während der Fahrt vorüber, sie spiegeln sich in den Scheiben und and Germany. Negotiating the Past, durchdringen unsere Wahrnehmung während des Wartens oder Eilens. In den Windhoek, Münster 2015. 2  Vgl. Website von Laura Horelli: individuellen Rezeptionssituationen deutet sich die Vielschichtigkeit der Arbeit laurahorelli.com/namibia-today_de/ und des Umgangs mit ihr an. Im Übertragungsraum der Haltestelle erhält eine (10.7.2022). 3  Die Zeitschrift Namibia Today ist ungeklärte Geschichte Aufmerksamkeit, und das ‹Heute› aus dem Zeitschriften- u. a. im Bestand der Staatsbibliothek titel hallt nach: Was ist Namibia heute, was war Namibia im damaligen Heute? zu Berlin zu finden. 4  Und damit auch an die Ge- Welchen Einfluss hatte die Zeitschrift und welchen Einfluss hatte darüber die schichte von Kunst im Untergrund; DDR oder das Finnische Friedenskomitee auf Namibia? Mit Namibia Today treten vgl. www.artmagazine.cc/content 102207.html (14.7.2022). Widersprüche zu Tage, die sich nicht auflösen lassen: Ist doch die staatlich ge- 5  Vgl. z. B. das Interview mit lenkte ‹Völkerfreundschaft› kein Mittel gegen rassistische Verhaltensmuster oder Julia Oelkers und Isabel Enzenbach zu ihrer Web-Doku Eigensinn im Formen der Ausbeutung und Bevormundung.5 Solidarisch unterstützte die DDR Bruderland: blog.grimme-online-award. die Freiheitsbewegung der SWAPO, versuchte jedoch gleichzeitig die Rufe nach de/2020/06/sie-gehoerten-nicht-dazu (14.7.2022). einem freien Leben im eigenen Land zum Verstummen zu bringen. — 92 ZfM 27, 2/2022 — EXTRA — EXTRA Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140210. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. R E Y C H O W NACHDENKEN ÜBER «RACE»  MIT FOUCAULT 1 — Es ist heute generell anerkannt, dass eine wissenschaft- liche Definition von race unmöglich ist.2 Wenn rassisierter Essentialismus und seine jüngere Geschichte ein Verständnis von Rassismus begünstigen, das unbedingt zu bekämpfen ist, hat es auch Wider- stand hervorgerufen – intellektuellen wie aktivistischen, als Identitätspolitik bekannt. Die beiden Tendenzen erwachsen aus einem ähnlichen Impuls und teilen be- stimmte Annahmen über race und Rassismus.3 1  Gekürzte Fassung von: Rey Chow: Thinking «Race» with Foucault, in: dies.: A Face Drawn in Rassisierte Kategorien müssen denaturalisiert werden. Sand. Humanistic Inquiry and Foucault Wir müssen sehen […] wie […] Weißsein zusammenge- in the Present, New York 2021, 87 – 112. setzt ist und zu tatsächlichem und virtuellem Leben er- Übersetzung mit freundlicher Ge- weckt wird. Was sind seine historischen, ökonomischen nehmigung der Columbia University Press. Wo dt. Übers. der Zitate vor- und sozialen Existenzbedingungen? Wie artikuliert es lagen, wurden diese verwendet, alle sich in juristischen, medizinischen, ästhetischen, militä- anderen übers. v. Maja Figge. rischen und technologischen Formen der Expertise? 4 2  W.E.B. Du Bois: The Negro, Philadelphia 2001 [1915], 13. 3  Roxann Wheeler: The Complexion Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, of Race. Categories of Difference in um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Be- Eighteenth-Century British Culture, schlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur Philadelphia 2000, 302. zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muß.5 4  George Yancy, Paul Gilroy: What ‹Black Lives› Means in Britain, in: New York Times, 1.10.2015, opinionator. blogs.nytimes.com/2015/10/01/paul- Geht es um Foucault und Fragen von race, dann stellt der naheliegende Vorwurf gilroy-what-black-means-in-britain (28.4.2022). des Eurozentrismus – die Kritik, dass die durch seine genauen Untersuchungen 5  Michel Foucault: Vorlesung europäischer Kulturen und Geschichten gewonnene Perspektive andere Teile vom 17. März 1976, in: ders.: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesun- der modernen Welt vernachlässigt – bis heute eine wesentliche Herausforde- gen am Collège de France 1975/1976, rung dar. Vor allem die disziplinären Institutionen in Europa, die er so b rillant übers. v. Michaela Ott, Frankfurt / M. 2002, 301. analysiert, bildeten sich zur selben Zeit wie die aggressiven imperialen und 102 ZfM 27, 2/2022 kolonialen Unternehmungen europäischer Staaten in Übersee heraus, aber Foucault liefert keine Analyse solcher Unternehmungen. […] Der vorliegende Aufsatz versucht, im Unterschied zu diesem berechtigten, aber meiner Ansicht nach nicht notwendigerweise produktiven Ansatz, die Relevanz von Foucaults Werk für die Untersuchung von race aufzuzeigen. Der Foucault’sche Diskurs und seine postkoloniale Wendung In seiner Kritik des europäischen Imperialismus stellt sich Edward Said, stark beeinflusst von Foucaults frühen Arbeiten zum Diskursbegriff, die wegweisende Aufgabe, die systemischen und strukturellen Korrelationen zwischen textuellen und ökonomisch-politischen Formationen zu benennen. In seiner klassischen Studie Orientalismus 6 zeigt er, dass diese Korrelationen eine Art materieller Ge- schichte erzeugen, die gleichermaßen auf repräsentationalen Traditionen wie auf physischen Invasionen und Annexionen basiert. Also muss man vor allem auf den Stil, die Redefiguren, das Szenario, die Erzähl- formen, die historischen und gesellschaftlichen Umstände achten und eben nicht auf die richtige oder originalgetreue Darstellung. Um das Prinzip der Offenle- gung zu legitimieren, zieht man immer irgendeine Spielart der Binsenweisheit heran, dass der Orient gewiss selbst für sich sprechen würde, wenn er nur könnte; da er dies aber nicht könne, müssten westliche Sachwalter ihm diese Aufgabe wohl oder übel abnehmen.7 Said entwirft damit eine methodologische Blaupause für die Kritik einer Ge- schichte, die dazu beigetragen habe, dass der Orient im Westen als eine ‹andere›, minderwertige Entität konstruiert wurde. […] In ähnlicher Weise befragt Johannes Fabian in seinem Buch Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object 8 die philosophischen, theologischen und historischen Grundlagen des westlichen anthropologischen Denkens, wobei er sich an Foucaults frühen Arbeiten wie etwa Die Ordnung der Dinge orientiert. Fabian, der im Fahrwasser von Saids antiorientalistischer Kritik schreibt, geht über Foucault hinaus, wenn er eine grundlegende Ungleichheit herausstreicht, die in die ethnografische Praxis eingebettet sei – und zwar in die Art und Weise, in der westliche Anthropolog_innen üblicherweise ihre Beobachtungen und Ergebnisse zu nicht-westlichen Kulturen ihrem west- lichen Publikum kommunizieren. In einer geistreichen Volte definiert Fabian 6  Edward Said: Orientalismus, diese Ungleichheit in Begriffen einer Geopolitik der Zeit: Wenn westliche übers. v. Hans Günter Holl, Forschende für westliche Lesende über andere Kulturen schreiben, tun sie Frankfurt / M. 2014 [i. Orig.: Oriental- ism, New York 1978]. dies in einem vorwärts gerichteten Präsens. Dabei werden die untersuchten 7  Ebd., 32 (Herv. i. Orig.). Vgl. Kulturen, so Fabian, typischerweise derart objektifiziert, dass sie in einer auch ders.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter anderen Zeitlichkeit eingefroren scheinen – einer Zeitlichkeit, die darüber der Macht, Frankfurt / M. 1994. hinaus implizit als primitiv, rückwärtsgewandt und unveränderlich angesehen 8  Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes Its wird. […] Object, New York 1983. EXTRA 103 REY CHOW Wie etwa im Fall des transatlantischen Sklav_innenhandels im Kontext der Vereinigten Staaten haben die politischen und ökonomischen Aspekte, die bei der Bildung europäischer Imperien in den vergangenen Jahrhunderten eine Rolle gespielt haben, im globalen postkolonialen Kontext ein Verständnis von race geformt, dem zufolge race mehr oder weniger unwiderruflich durch diese Beziehung der Ungleichheit und ihre ungeheuren Konsequenzen geprägt ist. Wie Roxann Wheeler schreibt: «Zu oft wurde race nur als eine Teilmenge von Sklaverei und Kolonialismus behandelt, eine Betonung, die den falschen Glauben verstärkt hat, dass race hauptsächlich mit Schwarzsein oder afrika- nischer Herkunft zu tun hat.»9 Ausgehend von ihrer sorgfältigen Untersu- chung der elastischer formulierten Kategorien menschlicher Vielfalt in der britischen Kultur des 18. Jahrhunderts stellt Wheeler fest, dass die meisten gegenwärtigen kolonialen und kritischen Theoretiker_innen dazu tendieren, «ihre Annahmen über race stillschweigend auf einem Erbe des biologischen Rassismus des 19. Jahrhundert gründen».10 Dieser biologische Rassismus zeichne sich vor allem durch «eine Sorge um kulturelle und rassisierte Rein- heit, durchdringenden weißen Suprematismus, die Bürde des weißen Mannes, indigene Bevölkerungen zu zivilisieren, und eine interventionistische politi- sche Herrschaft» aus.11 9  Wheeler: The Complexion of Wheelers Beobachtungen erhärten, was Foucault bereits in Überwachen und Race, 10. 10  Ebd., 45. Strafen festgestellt hatte. In seiner Diskussion der Herausbildung der D elinquenz 11  Ebd. Für eine ehrgeizige als eines bestrafbaren Persönlichkeitsmerkmals beschreibt er das frühe 19. Jahr- Darstellung im Sinne Wheelers vgl. Denise Ferreira da Silva: Toward hundert als den a Global Idea of Race, Minneapolis 2007. Darin beschreibt die Autorin ihr Projekt als «Analytik der Augenblick, da die Wahrnehmung einer anderen Lebensform von der Wahrneh- Rassisierung», basierend auf einer mung einer anderen Klasse und einer anderen menschlichen Spezies abgelöst wird. Untersuchung, «wie die Werkzeuge Was sich hier parodistisch abzeichnet, ist eine Zoologie von gesellschaftlichen der wissenschaftlichen Wissens- Subspezies, eine Ethnologie von Übeltäter-Zivilisationen mit ihren Riten und ih- projekte des 19. Jahrhunderts den Begriff des Rassischen produzierten» rer Sprache. 12 (xviii, xii f.). 12  Michel Foucault: Ü berwachen Angesichts des gewaltigen Einflusses dieses Erbes aus dem 19. Jahrhundert und Strafen. Die Geburt des Gefäng- nisses, übers. v. Walter Seitter, können wir an dem, was Nikolas Rose als «eine konzertierte Biologisierung Frankfurt / M. 1976, hier 325. von race» beschrieben hat,13 sehen, wie die infrastrukturellen Beziehungen zwi- 13  Nikolas Rose: The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power, and schen Kolonisierenden und Kolonisierten – ganz ähnlich den infrastrukturel- Subjectivity in the Twenty-First Century, len Beziehungen zwischen Sklavenhändler_innen / -halter_innen und Versklav- Princeton 2007, 162. 14  Für eine kenntnisreiche ten – weitgehend bestimmen, was in gegenwärtigen Debatten über race und Diskussion vgl. Sylvia Wynter: westliches modernes Denken auf dem Spiel steht, selbst wenn sie nicht explizit Unsettling the Coloniality of Being / Power / Truth / Freedom: adressiert werden.14 Towards Human, After Man, and its In diesen Debatten wird race weiterhin hauptsächlich im Hinblick auf die Overrepresentation – an Argument, in: CR. The New Centennial Review, Unveränderbarkeit von Hautfarbe oder anderer biomedizinisch determinie- Bd. 3, Nr. 3, 2003, 257 – 337. Wynter render (molarer) statt auf probabilistischer (molekularer) Klassifikationen beginnt ihren Aufsatz mit einem Zitat aus Die Ordnung der Dinge über bestimmt; 15 Rassismus wird als Praxis der Ausbeutung und Diskriminierung die geopolitische Geschichtlichkeit verstanden – ausgeübt von denjenigen, die historisch auf der Seite der Sie - der Idee des ‹Menschen› seit dem 16. Jahrhundert. ger_innen stehen (assoziiert mit politischem Erfolg und ökonomischem Privileg), 104 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT und gegen diejenigen gerichtet, die historisch auf der Seite der Opfer stehen (und linguistisch, kulturell sowie institutionell als unterlegen erachtet und un- gerechterweise ihrer Möglichkeiten der sozialen Mobilität und des Aufstiegs beraubt werden).16 15  Mit Blick auf die vorherrschen- de ‹Rassenkunde›, die sich im In der bereitwilligen, wenngleich auch verständlichen Reifikation von race 18. Jahrhundert herausbildete, stellt und Rassismus, wie sie in diesen anachronistischen Begriffen am Werk ist, wird Nikolas Rose fest: «Welche Differen- zen es auch immer in ihren verschie- häufig ein wichtiger und wohl entscheidenderer Beitrag Foucaults übersehen. denen Versionen gab, race wurde Dass der Foucaultsche Begriff des Diskurses durch seine Said’sche Wendung auf einer molaren Ebene verstanden. Es wurde als eine vererbte Konsti- solch einen Einfluss ausgeübt hat, ist allerdings nicht notwendigerweise Saids tution begriffen, die den gesamten bahnbrechender und paradigmensetzender Politisierung westlicher Repräsen- Charakter und alle Eigenschaften eines jeden rassisierten Individuums tationen des Ostens geschuldet. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass Saids forme. Diese Konstitution könne eigene rhetorischen Bewegungen einer Foucault’schen Analytik durchaus wür- an den sichtbaren Eigenschaften beobachtet werden, nicht einfach dig sind: Said hat nicht nur divergierende (und für gewöhnlich diskontinuier- an Hautfarbe, sondern auch an liche) Serien historischer Ereignisse in eine kohärente Anordnung gebracht, Physiognomie, Körpermorpho- logie und ähnlichem. Und als die sondern er hat auch deren multidirektionale, unkoordinierte Bewegungen stra- rassisierte Wissenschaft der Genetik tegisch zum Stillstand gebracht, indem er sie an einem bestimmten Knoten- begegnete, war es dieser molare Begriff einer rassischen Spezifität punkt zusammenführt. Wenn es nämlich keine intrinsischen oder essentiellen und rassischen Differenz, der in Verbindungen zwischen kolonialen territorialen Eroberungen, militärischen Genen kodiert wurde, die gleichfalls molar verstanden wurden, wodurch Besatzungen und ökonomischen Ausbeutungen auf der einen Seite und lingu- diese individuellen physischen, istischen, textuellen sowie visuellen Repräsentationen auf der anderen gibt, so geistigen und moralischen Eigen- schaften festgelegt wurden und die hat Said, wie auch die postkolonialen Studien in seiner Folge, sein Publikum Reichweite für Modifizierung durch mit der Verwendung des Diskursbegriffs auf beeindruckende Weise interpel- die Umwelt oder durch Erfahrungen stark einschränkt wurde. Aber der liert, indem er darauf insistiert und wiederholt hat, dass solche Verbindungen molekulare Blick aktueller Genomik eine unanfechtbare Gewissheit darstellen. transformiert diese Wahrnehmung.» Rose: The Politics of Life Itself, hier 161. In mancher Hinsicht sind die Kontroversen um race, wie sie kontinuierlich 16  Für eine Untersuchung der in der angloamerikanischen academia auftreten, das Ergebnis eines solchen stra- historischen Verwendungen des Begriffs Rassismus und für Analysen tegischen Anhaltens und Zusammenbindens – man könnte sagen Essentiali- des aktuellen Antirassismus vgl. sierens – der fluiden Übergänge zwischen kontingenten Ereignissen zu einer Pierre-André Taguieff: Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein kontinuierlichen unterirdischen Meistererzählung. Dies ist einer der Gründe, Double, Hamburg 2000. George warum manche Wissenschaftler_innen z. B. die Ursprünge (oder Ursachen) des M. Fredrickson sagt dazu: «Der französische Soziologe Pierre-André Orientalismus, wie sie von Said und seinen Anhänger_innen eingebracht wur- Taguieff hat zwischen Varianten den, anfechten und als Hauptgegenbeispiel auf den deutschen Orientalismus oder ‹Logiken› des Rassismus unterschieden – ‹der Rassismus verweisen: Demzufolge sei die scheinbare Verbindung zwischen Imperium und der Ausbeutung› [i. Orig. frz. ‹le orientalistischen textuellen Studien hier nicht notwendigerweise offensichtlich racisme d’exploitation›, Anm. d. Übers.] und ‹der Rassismus der oder konsistent, und es seien eher ältere religiöse, spirituelle und philosophi- Auslöschung› [i. Orig. frz. ‹le racisme sche Auseinandersetzungen gewesen, die in den Begegnungen des modernen d’extermination›, Anm. d. Übers.] […] man könnte diese beiden Mög- Europas mit dem Osten eine zentrale Rolle gespielt hätten, als jene zeitlich lichkeiten des Rassismus auch den weniger weit zurückliegenden politisch-ökonomischen Eroberungen.17 Auch Rassismus der Inklusion und den Rassismus der Exklusion nennen.» wenn dieses Argument durch die Berücksichtigung der schwindelerregend George M. Fredrickson: Racism. multilingualen Erwägungen verschiedener orientalistischer Traditionen unter- A Short History, Princeton 2015, 9. 17  Vgl. Suzanne Marchand: German füttert werden müsste, geht es mir hier vor allem darum, dass wir eine sorgsa- Orientalism in the Age of Empire. Reli- me Neubetrachtung und Neubewertung von Foucaults Beitrag zur Politik des gion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009; Urs App: The Birth of Oriental- Diskurses im Kontext gegenwärtiger Critical Race Studies brauchen. Wenn ism, Philadelphia 2010. EXTRA 105 REY CHOW unser aktuelles Verständnis von race – insbesondere innerhalb der englisch- sprachigen Akademie – präventiv durch eine postkoloniale Formulierung der Dialektik zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten geformt ist, dann ist es notwendig, mit Foucault zu fragen: Was sind die Faktoren, die diese präventive Formgebung ermöglichen? Hätte es anders gewesen sein können? Waren an- dere A bfolgen von Ereignissen im Gange, die zu einer anderen Konfiguration von race und Rassismus hätten führen können? Repressionshypothese der Race Studies?  Das Vernähen (i. Orig. suturing, Anm. d. Übers.) von race mit der hierarchischen Beziehung von Kolonisierenden und Kolonisierten ist institutionell so wirksam gewesen, dass jeder Versuch, race anders zu bestimmen, kontraintuitiv wirken würde. Insofern haben postkoloniale Studien in der Nachfolge Saids entschei- dend dazu beigetragen, Repräsentationen und eine tatsächliche Ermächtigung derjenigen zu ermöglichen, die historisch benachteiligt, an den Rand gedrängt oder zum Schweigen gebracht wurden, und dies obwohl es seit Langem um- sichtige Reflexionen darüber gibt, was es bedeutet, Subalterne sprechen zu lassen.18 Während Studien zu gruppenübergreifenden und interkulturellen Begegnungen einen zunehmend hegemonialen Trend, die Opferrolle in den Blickpunkt zu rücken, reproduzieren, scheint die positivistischere und weniger elastische Variante von race in postkolonialen Studien manchmal etwas zu sau- ber mit dem popularisierten Freudschen Paradigma der sexuellen Repression im Einklang zu stehen. Entsprechend wird race gewöhnlich mit einer Unter- drückung aufgrund der Anatomie (z. B. der Hautfarbe) gleichgesetzt, die wiede- rum als unauflösbar und nicht als ein Faktor unter vielen erachtet wird.19 Solch eine Unauflösbarkeit wird dann weiter diskutiert in Bezug auf Verlust, Trauer, Melancholie, Prekarität und andere naturalisierte – normativierte – psychoana- lytische Koordinaten. 18  Vgl. Gayatri Chakravorty Foucaults Kritik an der popularisierten Freud’schen Repression ist zu bekannt, Spivak: Can the Subaltern Speak. Postkolonialität und subalterne um eine vollständige Wiederholung an dieser Stelle zu rechtfertigen, aber die Artikulation, Wien 2008; dies.: Who hervorstechenden Aspekte seines Arguments bleiben erwähnenswert. Als diskurs- Claims Alterity?, in: Barbara Kruger, Phil Marian (Hg.): Remaking History, belebender Mechanismus fungiert Repression nicht nur als ein Mittel, um sexuel- Seattle 1989, 269 – 292. le Differenzierungen aus dem Inneren eines Individuums heraus zu artikulieren, 19  Nach Wheeler wurde unsere heutige Verwirrung in Bezug auf sondern auch, so Foucault, als Motor eines ganzen Regimes des Denkens, das Hautfarbe teilweise durch die unsere Selbstwahrnehmung in binarisierten Zuständen von Gefangenschaft und historische Verschiebung von einer elastischeren Sensibilität gegen Befreiung (oder Geheimhaltung und Transparenz bzw. Dunkelheit und Licht) über Farbe aufgrund von Differenzen wiedergibt. […] des Gemüts und des Klimas hin zu einer rigideren Haltung gegenüber Laut Foucault […] ist Sexualität nicht zu begreifen «als eine Triebkraft […], Farbe aufgrund der Anatomie ver- die der Macht von Natur aus widerspenstig, fremd und unfügsam gegenüber- ursacht, vgl. Wheeler, The Complexion of Race, 27 – 48. steht – einer Macht, die sich darin erschöpft, die Sexualität unterwerfen zu 20  Michel Foucault: Der Wille wollen, ohne sie gänzlich meistern zu können».20 Statt dieses romantisierten zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt / M. 1977, 103. Zugangs schlägt er vor, Sexualität, die «zu den am vielseitigsten einsetzbaren 106 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT Elementen» gehört, als einen «besonders dichte[n] Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen» zu verstehen.21 Während Foucaults Kritik den tiefsitzenden Glauben an Verletzung und Verhinderung, den die populären Narrative sexueller Repression untermauern, erfolgreich herausfordert, erkennt sie gleichzeitig an, wie effektiv die Repres- sionshypothese als eine Triebfeder des Diskurses funktioniert. In der Tat fußt Foucaults Verständnis von der Macht des Diskurses teilweise auf seiner These, dass unaufhörliches Reden über sexuelle Repression – angestiftet und ermutigt durch Freuds klinischen Gebrauch und seine kommerziellen, m assenmedialen und selbsthilfeindustriellen Spin-offs – eine Explosion von Diskursen und Praktiken ausgelöst hat. Könnte nicht Foucaults Kritik an der Repressionshypothese auch instruktiv sein, um über race nachzudenken? Betrachten wir die monumentale Persönlichkeit Frantz Fanons, der in sei- nem Werk die koloniale Unterdrückung als psychische Repression bestimmt. Für Fanon, der in den 1940er Jahren als kolonialer Migrant aus Martinique in der französischen Metropole schreibt, bedeutet race vor allem die psy- chische Verletzung, die das Schwarze Subjekt durch die Hand seiner weißen Unterdrücker_innen erleiden muss. Während Identifikation mit dem_der weißen Unterdrücker_in zugleich erforderlich und unmöglich ist, wird die Selbstentfremdung oder psychische Spaltung die bestimmende Grenze für Schwarze Identitätsbildung. Nach Fanon wird eine solche innere Fragmen- tierung verstärkt durch abwertende Interaktionen in der Metropole, in der das Schwarze Subjekt regelmäßig auf seine Hautfarbe reduziert und als entschie- den ‹ Anderes› angerufen wird – so sehr, dass die Fragmentierung nach außen wandert und psychische Spaltungen in der kolonisierten Bevölkerung als gan- zer verursacht. Bemerkenswerterweise ist die unvergessliche Straßenszene der rassistischen Anrufung, wie sie Fanon beschreibt, nicht weniger konstitutiv für die Selbstidentifikation des weißen Kindes, das beim Anblick eines Schwarzen Mannes «Sieh mal, ein Neger» ruft.22 Für dieses Kind bedeutet race, die_den andere_n dem Exotismus zu unterwerfen – eine Art der Anerkennung, die so- wohl auf der Ästhetik des Schocks und der Verwunderung als auch auf Stigma- tisierung basiert. In Fanons Beschreibungen ist race nicht nur an die Verstrickungen von Kolonisierenden und Kolonisierten festgebunden, sondern wird auch in (Freud’schen) ödipalen Begriffen theoretisiert. Der weiße Mann besetzt die Position des autoritären Vaters, der entfernt werden muss, damit seine Tyran- nenherrschaft beendet werden und der wütende Sohn, ein Schwarzer Mann, eine positive Wahrnehmung seiner eigenen Identität erlangen kann. Der Verletzung scheint nur mit Verletzung begegnet werden zu können, wenn 21  Ebd. gewaltsames Stürzen das einzige Mittel ist, mit dem der Schwarze Mann 22  Vgl. die Beschreibung dieser seinen tiefgreifenden inneren Verlust äußerlich kompensieren kann, um das berühmten Szene in Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, wiederzugewinnen, was ihm genommen wurde, und ein Gefühl der Ganzheit F rankfurt / M. 1985, hier 79 – 83. EXTRA 107 REY CHOW wiederzuerlangen. Race (in diesem Fall gleichgesetzt mit Rassismus), wie sie vom Schwarzen männlichen Subjekt erfahren wird, scheint symptomatisch für die repressive Logik zu sein, die das paternalistische Funktionieren von Macht auszeichnet. Vor allem zeigt race (oder Rassismus) das Zeichen der Verletzung an, als einen andauernden internalisierten Zustand der Negation, der nur durch periodisch auftretende Eruptionen revolutionärer Gewalt überwunden werden kann.23 Der Eintritt des Lebens in die Geschichte Ungeachtet von Foucaults Sympathien für linke Politik unterscheidet sich seine 23  Für eine ausführliche Diskus- Betrachtungsweise von race und Rassismus ziemlich von der klassischen Vorstel- sion vgl. Pooja Rangan, Rey Chow: Race, Racism, and Postcoloniality, lung als repressive Gewalt, wie sie von Fanon ausgeführt wurde, nicht zuletzt, in: Graham Huggan (Hg.): The Oxford weil Foucault sich von seinem lebenslangen Anliegen, der Kritik der modernen Handbook of Postcolonial Studies, Oxford 2013, 396 – 411. westlichen Vernunft, leiten ließ. Um Foucaults Vision von race zu untersuchen, 24  Michel Foucault: Das Spiel die untrennbar mit dem anhaltenden Projekt dieser Kritik verbunden ist, müs- des Michel Foucault (Gespräch), übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: sen wir uns dem fünften Kapitel von Der Wille zum Wissen, «Recht über den ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Tod und Macht zum Leben», zuwenden, das er in einem Gespräch als «die Ecrits. Bd. 3: 1976 – 1979, hg. v. Daniel Defert, François Ewald, Frankfurt / M. Grundlage des Buches» bezeichnete.24 2003, 391 – 429, hier 422. Für eine […] hilfreiche Diskussion von Foucaults Auseinandersetzung mit race vgl. Foucaults Bemerkungen zu race in «Recht über den Tod und Macht zum Le- Stuart Elden: The War of Races ben» sollten vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Sexualität als ei- and the Constitution of the State: Foucault’s Il faut defender la sociêté nem sich historisch herausbildenden Machtnexus des Willens zum Wissen ver- and the Politics of Calculation, in: standen werden. Beide, Sexualität und race, haben mit dem zu tun, was er den boundary 2, Bd. 29, Nr. 1, 2002, 125 – 151. Vgl. auch die informierten Eintritt des Lebens in die Geschichte nennt – «den Eintritt der Phänomene, die Auseinandersetzungen in der Son- dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens derausgabe «Foucault and Race», in: Foucault Studies, Nr. 12, 2011. und der Macht, in das Feld der politischen Techniken».25 Diese Beschreibung 25  Foucault: Der Wille zum Wissen, der Bedeutung des Lebens als eine historische Schwelle findet sich bereits in 137. Foucault folgend untersucht Ann Laura Stoler diesen Nexus Die Ordnung der Dinge […], wo Foucault ausführt, dass die Entwicklungen der anhand Niederländisch-Indiens politischen Ökonomie, Biologie und Sprache seit dem frühen 19. Jahrhundert und zeigt, wie die von Foucault beschriebenen Regulierungen und neue Modi der Wissensproduktion ko-konstituieren.26 Neben dem Naturfor- Kontrollen in den Praktiken euro- scher und Zoologen Georges Cuvier, der von Foucault als Schlüsselfigur des päischer Staaten und Bürger_innen in den Überseekolonien am Werk Übergangs im modernen europäischen Konzept des Lebens erachtet wird, ist waren. Ann Laura Stoler: Race and the es von den dreien die Biologie, die Foucaults eigenes Denken am meisten be- Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of einflusst zu haben scheint: Things, Durham 1995. 26  Vgl. die detaillierten Aus- führungen zu den drei Modi des […] Seit Cuvier entgeht das Lebendige, wenigstens in erster Instanz, den allgemeinen Ge­ Wissens in den entsprechenden setzen des ausgedehnten Seins. Das biologische Sein wird regional und autonom. Das Leben Kapiteln in Michel Foucault: Die ist, an den Grenzen des Seins, das, was ihm äußerlich ist und was sich dennoch in ihm Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der manifestiert.27 Humanwissenschaften, Frankfurt / M. 1974. Vgl. auch Chow: A Face Drawn in Sand, 39 – 62 (Kap. 1: «Literary Mit anderen Worten: Die Geschichtlichkeit des Lebens hat mit der moder- Studies’ Biopolitics»). nen Konfrontation zwischen dem Willen zum Wissen einerseits und dem neu 27  Foucault: Die Ordnung der Dinge, 334; Herv. R. C. t heoretisierten, janusköpfigen Status des Lebens (als etwas, das dem biologischen 108 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT Wesen sowohl äußerlich als auch innerlich ist und mit der Möglichkeit des Le- bens als auch der Unausweichlichkeit des Todes winkt) andererseits zu tun. […] In seiner Studie Life. A Modern Invention, die mit den Foucault’schen Über- legungen zum neuen konzeptuellen Status des Lebens in der Moderne be- ginnt, benutzt Davide Tarizzo die Formulierung «epistemologischer Indika- tor», um Foucaults interdiskursive Vorstellung des Lebens als emblematisch für die Kämpfe des Willens zum Wissens zu unterstreichen; Kämpfe, die sich nach Tarizzo zu einer philosophischen Genealogie zurückverfolgen lassen, von Kant, Schelling und Herder zu Schopenhauer, Freud und anderen.28 Fou- caults wichtigstes Argument in Die Ordnung der Dinge ist allerdings, dass diese Kämpfe Wissensformen hervorgebracht haben, die, wenngleich grundlegend miteinander verknüpft, zunehmend inkommensurabel oder inkompatibel mit- einander seien. Beispielsweise schreibt Foucault in Bezug auf politische Öko- nomie und Biologie: Dort, wo ein Denken das Ende der Geschichte vorsieht, kündigt ein anderes die Unendlichkeit der Geschichte an. Wo das eine eine wirkliche Produktion der Dinge durch die Arbeit erkennt, löst das andere die Schimären des Bewußtseins auf. Wo das eine mit den Grenzen des Individuums die Erfordernisse seines Lebens bestätigt, löscht sich das andere in dem Gemurmel des Todes aus.29 Diese Art diskursiver Inkommensurabilität impliziert, dass «seit dem neun- zehnten Jahrhundert das Feld des Wissens seiner in all ihren Punkten homo- genen und uniformen Reflexion keinen Raum mehr geben kann».30 Stattdessen scheint es zunehmend so zu sein, oder zumindest legt Foucault dies nahe, dass jede Wissensform rationalisiert werden muss mit einer Philosophie, die spezi- fisch zu ihr passt.31 Oder anders gesagt: statt race über den Weg der Repressionshypothese zu verstehen und – wie es häufig in den Wissensfeldern der Fall ist, die von gegenwärtigen Identitätspolitiken angetrieben sind – mit Rassismus, verstan- den als eine verletzende subjektive Erfahrung, gleichzusetzen, nähert sich Foucault race vor allem als einem Ergebnis einer intensivierten, zwingenden Objektivierung, Bürokratisierung und Normalisierung des Lebens an. D eren Aufstieg zu epistemischer Macht ließ sich, wie er uns in Die Ordnung der Dinge erklärt, bereits teilweise an einer Verschiebung vom klassischen Feld des Wissens, der Naturgeschichte, zur modernen Wissenschaft des Lebens, der B iologie, erkennen. Wenn Pflanzen und Tiere in der Naturgeschichte bis dahin aufgrund ihrer gemeinsamen sichtbaren Eigenschaften klassifiziert werden, wurden sie fortan auf künstliche Weise als tiefe Strukturen konzep- tualisiert, die auf unsichtbaren Verbindungen der Unterordnung und Organi- sation basieren. […] 28  Davide Tarizzo: Life. A Modern Invention, Minneapolis 2017. Indem Lebewesen zunehmend als durch versteckte verlebendigende Prinzi- 29  Foucault: Die Ordnung der pien – d. h. durch unsichtbar geteilte Vitalfunktion zwischen Spezies und Orga- Dinge, 341. 30  Ebd. nismen – bestimmt verstanden wurden, rückte eine transzendentale Auffassung 31  Ebd. EXTRA 109 REY CHOW des Lebens ins Zentrum wissenschaftlicher und anderer Diskurse. Jeffrey T. Nealons erhellende Beschreibung dieser grundlegenden epistemischen Ver- schiebung kann als eine Zusammenfassung dieses Aspekts dienen: Mit der Geburt der Biologie löst sich die Frage des Lebens von einer Praxis der Re- präsentation (der Diskurs wird von dem befreit, was Foucault die ‹reine Aufstellung der Dinge› in den Rastern der Naturgeschichte nennt […]) und bindet sich stattdes- sen an einen Modus der Spekulation über dieses undurchdringliche Ding namens Leben – jetzt verstanden nicht als eine sichtbare Manifestation der Ähnlichkeit, son- dern als das im Dunkeln verborgene Geheimnis, das Lebewesen verbindet.32 Genau durch die Untersuchung des «Modus der Spekulation über dieses un- durchdringliche Ding namens Leben» hat man eine, wie Foucault schreibt, «‹Geschichte› der Natur an die Stelle der Naturgeschichte stellen können».33 Weil diese allumfassende Betonung des Lebens als eine sich historisch wan- delnde Diskursschwelle fungiert, benötigt race bei Foucault, ebenso wie Sexu- alität, eine andere Art der Verstärkung. Foucault konzipiert race nicht wirklich als etwas mit essentiellen oder positiven Eigenschaften (Epidermis, anatomi- sche Eigenschaften, individuelle oder Gruppenmarker oder geografische Regi- onen). Ebenso wenig betrachtet er die Antagonismen um Rassisierung einfach in Begriffen der repressiven Gewalt. Stattdessen schreibt er in Übereinstim- mung mit seinen Befragungen des Willens zum Wissen in der Moderne von race als epistemischer Verwerfungslinie, die entlang großer historischer Über- gänge aufbricht – wie der Übergänge von einer Gesellschaft, die von den Sym- boliken des Blutes und der Souveränität, mit denen der Monarch ausgestattet ist, regiert wird, zu einer, die durch disziplinäre Institutionen verwaltet wird, und schließlich zu einer, die durch biopolitische Netzwerke regiert wird. Bei- spielsweise beschreibt er die historische Herausbildung des nationalsozialisti- schen Rassismus in folgender Weise: Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es dazu gekommen, daß die The- matik des Blutes beschworen wird, um den in den Sexualitätsdispositiven wirkenden Typ politischer Macht mit einer geschichtlichen Mächtigkeit zu unterlegen. An die- sem Punkt formiert sich der Rassismus – der moderne, staatliche, biologisierende Rassismus: eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der gesellschaftlichen Hierarchisierung, des Eigentums und eine lange Reihe ständi- ger Eingriffe in den Körper, in das Verhalten, in die Gesundheit, in das Alltagsleben haben ihre Färbung und ihre Rechtfertigung aus der mythischen Sorge um die Rein- heit des Blutes und den Triumph der Rasse empfangen. Der Nazismus war zweifellos die naivste und eben deshalb die heimtückischste Verquickung der Phantasmen des 32  Jeffrey T. Nealon: Plant Theory. Biopower and Vegetable Life, Stanford Blutes mit den Paroxysmen der Disziplinarmacht. 34 2016, 5 f. (Herv. i. O.). 33  Foucault: Die Ordnung der Wie Foucault an anderer Stelle betont: «Doch was neu ist im 19. Jahrhundert, Dinge, 337. 34  Foucault: Der Wille zum Wissen, ist das Auftauchen einer Biologie rassistischer Art, die vollständig um die Auf- 144. fassung der Entartung herum aufgebaut ist».35 Moderner Antisemitismus, er- 35  Foucault: Das Spiel des Michel Foucault, 423. gänzt er, begann in dieser ideologischen Form, nach der es zwingend notwendig 110 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT war, dass die Gesellschaft sich derjenigen Elemente entledigte, die als degene- riert, unrein und ungesund erachtet wurden. Aber Foucault fährt mit einem provokativeren Argument über NS-Rassismus fort und formuliert die These, dass die Nationalsozialist_innen trotz ihres altmodisch wirkenden Geredes da- rüber, die Reinheit des arischen Blutes bewahren zu wollen, tatsächlich gemäß einer modernen Prämisse des Lebens handelten, die für eine disziplinarische und biopolitische Gesellschaft charakteristisch war: Die Massaker und Geno- zide wurden unter der Voraussetzung ausgeführt, nicht Ereignisse des Todes, sondern des Lebens zu sein. Die Auslöschung ganzer Bevölkerungen wird aus dieser Perspektive für den fortschrittlichen Zweck der Steigerung des Lebens (durch die Erhöhung einer überlegenen Gruppe) als «unbeschränkte Auswei- tung der Kraft, der Stärke, der Gesundheit, des Lebens» durchgeführt, die Foucault als «einen dynamischen Rassismus, einen Rassismus der Expansion» bezeichnet.36 Dieser scheinbar ultimative Akt der Negation – das Töten von Menschen – wird so Teil einer eminent positiven Agenda, nämlich der Eugenik, mit ihrer impliziten Intensivierung der Mikromächte über den Gesellschafts- körper und zusammen mit dem Versprechen von einer künftigen besseren «Rasse» und besseren Spezies. In In Verteidigung der Gesellschaft bringt Foucault es auf den Punkt: «Folglich ist nicht nur die Zerstörung anderer Rassen das Ziel des Naziregimes.»37 Während Foucault die Monstrosität der Modernität des Nationalsozialismus in Der Wille zum Wissen seziert, lobt er interessanterweise in einer ebenso denk- würdigen wie seltenen Nebenbemerkung gleichzeitig die Psychoanalyse für ihr Verständnis einer älteren Politik des Lebens (und des Todes), die an das Gesetz und das Verbot gebunden ist (und daher, aus dieser Perspektive, an die Not- wendigkeit der Repression). […] Um Foucaults Relevanz für Debatten über race herauszuarbeiten, wäre es also notwendig, seine Hauptwerke – von Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ord­ nung der Dinge über Die Geburt der Klinik und Überwachen und Strafen bis zu Sexualität und Wahrheit und den Vorlesungen am Collège de France – als eine 36  Foucault: Der Wille zum Wissen, kontinuierliche Reihe kritischer Kommentare zum Eintritt des Lebens in die 123. Geschichte zu verstehen. Dieser hat nicht nur mit Massen von individuierten 37  Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège Körpern zu tun, sondern auch mit den Methoden und Mechanismen, durch de France, 1975 – 76, Frankfurt / M. die Massen als Abstrakta behandelt werden, also systematisch produziert wer- 2001, 307. Vgl. auch den letzten Teil von Davide Tarizzos Buch Life, den in Form eines kalkulierbaren und kontrollierbaren Aggregats, eines Gesell­ in dem er die Rolle untersucht, die schaftskörpers […]. Wie er in einer der Vorlesungen in In Verteidigung der Gesell­ darwinistische Artikulationen des Lebens – die auf metaphysischen schaft ausführt, bildet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine neue Grundlagen beruhen, auch wenn Technik der Macht heraus, die sich «nicht mit dem Körper-Menschen, son- sie als wissenschaftlich gelten – in gegenwärtigen Erscheinungsformen dern […] dem Gattungs-Menschen» befasst.38 «Diese neue Technologie […] des Rassismus spielen, Tarizzo: Live, richtet sich an die Vielfalt der Menschen, […] insofern diese […] eine globale 202 – 220. 38  Foucault: In Verteidigung der Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Gesellschaft, 286. EXTRA 111 REY CHOW Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw.»39 Foucault bezeichnet diese Machttechnologie als «eine ‹Biopolitik› der menschlichen Gattung».40 Mit der Verwendung des Wortes race [in der englischen Über- setzung von frz. race, d. Übers.] meint er offensichtlich etwas Ähnliches wie Gruppe, Klasse, Typ oder Artbildung. Was ihn in seinen Bemühungen, die Art und Weise zu historisieren, wie Wahnsinn durch institutionelle Abschottung und Segregation in der westlichen Gesellschaft lesbar wird, oder zu zeigen, wie verschiedene Wissensfelder durch graduelle Neuausrichtungen von eta- blierten Grenzen und deren Bruchlinien entstehen, beschäftigt, ist die Frage, wie der Wille zum Wissen in der Moderne stetig in rechnende Bewegungen (des Teilens und Multiplizierens) überzugehen scheinen, die wiederum zu Un- ternehmungen der Einhegung, Aufteilung, Spezifizierung und Unendlichkeit werden. In diesem Prozess, im Zuge dessen zufällige Gruppen von menschli- chen Personen (oder menschlichen Eigenschaften) als komplexe Anhäufungen unkörperlicher Affinitäten zusammengefasst und so für Zwecke der statisti- schen Kontrolle korreliert werden, tritt race zusammen mit Sex als Kräftever- hältnis hervor. Foucaults Verständnis von race kann in einer Reihe von klarstellenden Be- merkungen in den am Collège de France gehaltenen Vorlesungen nachvollzo- gen werden, die in dem Band In Verteidigung der Gesellschaft publiziert wurden. Darin heißt es: «Der Krieg, der sich solchermaßen unterhalb von Ordnung und Frieden abspielt, der Krieg, der unsere Gesellschaft durchzieht und zwei- teilt, ist im Grunde ein Krieg der Rassen.»41 Und weiter: «Der Gesellschafts- körper artikuliert sich im Grunde über zwei Rassen. Diese Vorstellung, dass die Gesellschaft vom einen zum anderen Ende von der Konfrontation der Rassen durchzogen ist, findet sich ab dem 17. Jahrhundert».42 Hiervon aus- gehend unterscheidet Foucault zwischen einer biologischen Umschreibung eines Rassenkrieges (in der Form eines Evolutionismus, wie er sich in der 39  Ebd.; vgl. auch Tarizzos europäischen Kolonialpolitik niedergeschlagen hat) und einer sozialen Um- Diskussion dieses Arguments in Life, schreibung des Rassenkrieges (als einem Klassenkampf).43 Er versieht seinen hier: 59 – 63, 87 – 89. 40  Foucault: In Verteidigung der eigenen Versuch, diesen «biologisch-sozialen Rassismus» nachzuvollziehen, Gesellschaft, 286. mit der wichtigen Erinnerung, dass «die andere Rasse» nicht von woanders 41  Ebd., 79. 42  Ebd. herkommt, «sondern eine, die ohne Unterlaß und auf Dauer in den Gesellschafts­ 43  Ebd., 79 f. körper eindringt oder vielmehr im sozialen Gewebe und ausgehend von ihm bestän­ 44  Ebd., 80; Herv. R. C. 45  Ebd., 301; Herv. R. C. In Die dig neu entsteht».44 Schließlich hält er die Funktion von Rassismus für eine Anormalen benutzt Foucault den zwei fache: «zu fragmentieren und Zäsuren innerhalb des biologischen Kon- Begriff Neorassismus mit Bezug zur Psychiatrie, um die Abnormali- tinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen» und «eine positive sierungen zu beschreiben, die aus Beziehung vom Typ ‹je mehr du töten wirst, desto mehr wirst du sterben ma- dem inneren des gesellschaftlichen Gefüges heraus entstehen (in chen›, a ufzubauen».45 diesem Fall durch biomedizinische Kurz, Foucaults anhaltendes intellektuelles Projekt hat mit der historischen Interventionen. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège Expansion des Lebens zu tun, das er als «Ich – nicht als Individuum, sondern de France 1974 – 1975, Frankfurt / M. als Gattung» beschreibt,46 in der Form einer Idealität, einer transzendentalen 2003, 418. 46  Ebd., 302. Allgemeingültigkeit, in deren Namen empirische Praktiken gedeihen und sich 112 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT vermehren. Die endlosen Bestrebungen, das Leben zu verstehen, die immer noch komplizierteren Mechanismen der Messung, der Untersuchung / Überwa- chung, Analyse, Vorhersage und Projektion, sind ein wesentlicher Bestandteil der ‹Ich-als-Gattung›-Mission des modernen Staates. Versteht man race in die- sem Sinne – also als wesentlichen Bestandteil eines Wachstumsregimes,47 das der Normalisierung des Lebendigen und der Heiligsprechung der Menschen, die als ein integriertes Ganzes imaginiert werden, gewidmet ist –, stellt sich eine grundlegende Frage: Wie kann eine solche Macht töten, wenn es stimmt, daß es im wesentlichen dar- um geht, das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen, Unfälle fern zu halten oder seine Mängel zu kompensieren? […] Wie kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung des Lebens zum Ziel hat, sterben lassen? Wie kann man die Macht des Todes, wie kann man die Funktion des Todes in einem rund um die Bio-Macht zentrierten politischen System ausüben?48 Das ist die Verbindungstelle, an der Foucault die Bemerkung anführt, die die- sem Aufsatz als viertes Motto vorangestellt ist, über Rassismus als der Weg des Staates, einen Bruch in den Bereich des Lebens einzuführen. Statt Rassis- mus im Sinne von Spannungen und Antagonismen zu verstehen, die sich von gegebenen Kennzeichen wie Hautfarbe oder geografischer Verortung ablei- ten, beschreibt er ihn typischerweise als eine Machtbeziehung (zusammen mit den historischen Diskursen, die um eine solche Beziehung kreisen). Genau- er gesagt ist Rassismus ein Mittel zum Zweck statt ein Zweck an sich; er ist eine Machttechnologie, die, wann und wo auch immer in der biopolitischen Kriegsführung des Staates Bevölkerungen unter Kontrolle gebracht werden müssen, angewendet werden kann. […] In einer scharfsinnigen Diskussion der massiven Datafizierung der gegenwärtigen globalen Umwelt schlägt Patricia Ticineto Clough in Übereinstimmung mit Foucaults Argumenten den Begriff ‹Bevölkerungsrassismus› vor, um das Risikomanagement (im Orig. a ctuarialism, Anm. d. Übers.) zu unterstreichen, das, wie sie ausführt, weit über den Staat hinausgeht: 47  Vgl. Foucaults interessante Ausführungen zu den Variablen des Wachstums in der Behandlung Beim Bevölkerungsrassismus werden alle Kalkulationen und Messungen der Bevöl- von Individuen und Spezies in der kerung in einer Bandbreite an Kontexten – Territorium, Klasse, Ethnizität, Gender, Naturgeschichte und dazu, wie race – in Bezug zur Analyse der biologischen Aktivität gesetzt. Selbstverständlich ist S exualität solche Variablen modifi- dies eine Biologie (und jetzt Neurowissenschaft), die von Technizität und Technika- zierte, in: Michel Foucault: Die Situation Cuviers in der Geschichte lität durchtränkt ist – zuallererst der Technizität des Messens. Indem alle Kontexte der Biologie (Vortrag) [1970], in: der Bevölkerungen in eine Biotechnizität der Kalkulation, der Quantifizierung und ders.: Schriften in vier Bänden. Dits des Messens umgewandelt werden, bereitet Bevölkerungsrassismus den Weg dafür, et Ecrits, Bd. 2: 1970 – 1975, Frank- dass die Gesundheit von Bevölkerungen, oder der Mangel dieser, über die nationale furt / M. 2002, 37 – 82, hier 77 – 79. 48  Foucault: In Verteidigung der Bindungen hinaus und jenseits der Grenzen des Körpers als Organismus Teil des Gesellschaft, 300. globalen Marktes werden.49 49  Patricia Ticineto Clough: Rethinking Race, Calculation, Quan- Während unser aktuelles Verständnis von Rassismus dazu tendiert, ihn mehr tification, and Measure, in: dies.: The User Unconscious. On Affect, Media, oder weniger psychisch zu deuten, als eine Form des Vorurteils und des Hasses and Measure, Minneapolis 2018, 125. EXTRA 113 REY CHOW oder als gegenseitige Verachtung, mit all den subjektiven und subjektivierenden Konnotationen, die diese Begriffe aufrufen, ist Rassismus bei Foucault nicht einfach eine böswillige Geisteshaltung oder eine Form der Pathologie. Er ist stattdessen ein systemisches und regulatorisches Vermögen – ein Keil, der pro- duktiv zwischen Gruppen getrieben werden kann, um einen kriegsähnlichen Kampf zwischen denjenigen auszulösen, die leben können (die ihre Lebenswei- sen fortsetzen und rechtfertigen können), und denjenigen, die sterben müssen. Als eine Machttechnologie ist Rassismus überaus ermöglichend: Rassismus ist «notwendige Voraussetzung dafür, jemanden dem Tod auszuliefern oder die anderen zu töten. Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.»50 Die Idee, dass «wir die Gesellschaft verteidigen müssen» gegen andere ‹(Unter-)Rassen›, ist folglich «ein innerer Rassismus permanen- ter Reinigung», eine der basalen Funktionen der gesellschaftlichen Normali- 50  Foucault: In Verteidigung der sierung im Staatsrassismus.51 Deshalb wäre es ungenügend, nur zu fragen, wer Gesellschaft, 302 f. rassisiert wird. Viel wichtiger ist für Foucault die Frage, welchen institutio- 51  Ebd., 81. 52  Vgl. Chow: A Face drawn in Sand, nellen Absichten der Normierung solche Akte der Rassisierung – negative wie 3 – 36 («Introduction: Rearticulating positive – dienen.52 Im Umkehrschluss kann race als eine abstrakte Kategorie, ‹Outside›»). 53  Für eine Diskussion der die nicht durch eine wissenschaftliche Begründung bestätigt werden kann, aber Nuancen und Komplikationen, die dennoch tief von den historischen Machteffekten des Rassismus durchdrun- hier am Werk sind, vgl. u. a. Taguieff: Die Macht des Vorurteils; F redrickson: gen ist, nicht einfach – verstanden als Identitätspolitik – als Widerstand gegen R acism; Paul Gilroy: After Race. Macht beansprucht werden. Unter bestimmten Umständen wäre es gleichsam Imagining Political Culture beyond the Color Line, Cambridge 2002; Frieda rassistisch, die Idee von race anzunehmen.53 Ekotto: Race and Sex across the French Atlantic. The Color of Black in Literary, Philosophical, and Theater Discourse, Lanham 2011. Das Nachleben der Pastoralmacht, oder «in Verteidigung   54  Michel Foucault: ‹Omnes et singulatim›: zu einer Kritik der poli- der [globalen] Gesellschaft» tischen Vernunft (Nr. 291), in: ders: Race als «permanente[r] Klassenkampf» (mit seinem Zwilling der biologisch- Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980 – 1988, Frankfurt / M. sozialen Erscheinung), der historisch-spezifische Konfigurationen beinhaltet 2005, 165 – 198. Einige der Argumen- und sich zugleich auf Universalien bezieht (den Zufall der Geburt und die Un- te in diesem Aufsatz finden sich auch in Kapitel 8 («Die politische Tech- ausweichlichkeit des Todes), kann auch in Foucaults Darstellung der Prozesse nologie der Individuen») von Michel der mentalen und physischen Unterordnung – zumal der mit dem Erbe des Foucault: Technologien des Selbst, hg. von Luther H. Martin, Frankfurt / M. christlichen Pastorats verknüpften – nachvollzogen werden. 1993. Für eine weitere detaillierte Im Aufsatz «‹Omnes et singulatim›: zu einer Kritik der politischen Ver- Diskussion der Pastoralmacht vgl. auch: ders.: Subjekt und die Macht nunft» (1981) liefert er eine Übersicht über die Regierungsform, die er Pas- (1982), in: ders.: Analytik der Macht, toralmacht nennt.54 Darin identifiziert er verschiedene Aspekte dieser Macht hg. von Daniel Défert, François Ewald, Frankfurt / M. 2005, 240 – 263. in der vorchristlichen Antike und die wichtigen Veränderungen, die mit dem 55  Foucault: ‹Omnes et singula- Aufkommen des Christentums einhergingen. Er formuliert die These, dass tim›, 176 f. 56  Ebd., 177. das religiös-moralische Paradigma der Regierung in Form des Hirtenkönigs 57  Johanna Oksala: From (oder des Hirtengotts) für die sich herausbildenden Praktiken des politischen Biopower to Governmentality, in: Christopher Falzon, Timothy Staates in der «gesamte[n] abendländische[n] Geschichte» zentral sei.55 Damit O’Leary, Jana Sawicki (Hg.): A beauftragt, die Herde vor Gefahr zu beschützen und in einer Gemeinschaft zu Companion to Foucault, London 2013, 320 – 336, hier 328. binden, verkörpert die Hirtenfigur die «Beziehungen zwischen der politischen 114 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT Macht […], die innerhalb des Staates als rechtlicher Rahmen der Einheit spielt, und einer Macht, die wir ‹pastorale› nennen können und deren Rolle darin be- steht, ständig über das Leben von allen und jedem Einzelnen zu wachen, ihnen zu helfen und ihr Los zu verbessern».56 Wie Johanna Oksala schreibt, sind die «grundlegenden Mechanismen» der Pastoralmacht «kontinuierliche Sorge und 58  Michel Foucault: Was ist Kritik?, die verpflichtende Extraktion des Wissens statt gewaltsamer Zwang und die Be- Berlin 1992, 10. 59  Foucault: ‹Omnes et singula- grenzung der Rechte».57 tim›, 180. In Foucaults Lesart macht diese von der Regierung ausgeführte «Ope- 60  Ebd. [Anm. d. Übers.: In der engl. Übers. heißt es «a death that is ration der Lenkung zum Heil»58 zwischen dem Hirten und jedem Mitglied supposed to provide a life in another der Herde – dem individuellen Schaf – den einzigartigen Beitrag des Chris- world»]. Vgl. auch Michel Foucault: About the Beginning of the Hermeneutics tentums zu historisch existierenden Modellen des Gehorsams aus. […] Der of the Self. Lectures at Dartmouth christliche Zweck der Gewissensprüfung, einer mit den antiken Griech_innen College, 1980, hg. von Paul Fruchaud, Daniele Lorenzini, Chicago 2016, geteilten Praxis, «bestand nicht darin, das Selbstbewusstsein zu kultivieren, darin: «Christianity and Confession», sondern es seinem Leiter gegenüber völlig offenzulegen – ihm die Tiefen der Vorlesung vom 24.11.1980, 53 – 92. 61  Foucault: ‹Omnes et singu- Seele zu enthüllen»: 59 «Alle diese christlichen Techniken der Prüfung, des latim›, 196; Herv. R. C. Für eine Bekenntnisses, der Gewissensleitung und des Gehorsams haben ein Ziel: die informative Auseinandersetzung mit Untersuchungen der Polizei mit Individuen dazu zu bringen, ihre eigene ‹Kasteiung› in dieser Welt zu be- Bezug zu Foucault und darüber hin- werkstelligen» – als eine Art Verbindung des Selbst zu sich selbst, die einen aus vgl. Klaus Mladek: Introduction. Police Forces: A Cultural History of «Verzicht auf diese Welt und auf sich selbst» bedeutet: «eine Art von tägli- an Institution, in: ders. (Hg.): Police chem Tod».60 Forces. A Cultural History of an Institu- tion, New York 2007, 1 – 9. Für eine Im Rest dieses bemerkenswerten Aufsatzes zeichnet Foucault […] eine Intel- ausführlichere philosophische Dis- lektuellengeschichte nach, in der die Polizei als eine kulminierende Instanz des- kussion des Themas vgl. auch: ders.: Exception Rules: Contemporary sen hervortritt, was er die Vernunft des Staates nennt – als einen Apparat mit Political Theory and the Police, in: einem eindeutig identifizierbaren Objekt. «Während des ganzen 18. Jahrhun- ders. (Hg.): Police Forces, 221 – 265. 62  Michel Foucault: Die politische derts, und vor allem in Deutschland, ist es die Bevölkerung – d. h. eine G ruppe Technologie der Individuen [1984], von Individuen, die in einem bestimmten Gebiet leben –, die als Gegenstand der in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980 – 1988, Frank- Polizei bestimmt wird.»61 Dieses neue Ziel der Polizei zeichnet sich, wie er an an- furt / M. 2005, 999 – 1015, hier 1008 f. derer Stelle festhält, aus durch «ein[en] historische[n] Wandel in der Beziehung 63  Joseph Vogl: Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey, in: Deutsche zwischen der Macht und den Individuen […], und zwar nicht nur, soweit deren Vierteljahreszeitschrift für Literatur- rechtlicher Status betroffen ist, sondern mit Individuen als lebendigen, arbei- wissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 74, Nr. 4, 2000, 600 – 626, hier tenden, wirtschaftenden Wesen».62 613. Michel Foucault: Methodologie In Anlehnung an Foucaults Bemerkungen zu einem «‹gigantischen und un- zur Erkenntnis der Welt: Wie man sich vom Marxismus befreien kann zähmbaren Durst› nach dem Staat, ein[em] ‹Staatsbegehren› und eine[m] ‹Wil- [1978], in: ders.: Schriften in vier Bän- len zum Staat›» bietet Joseph Vogl einen sorgfältig durchdachten Bericht der den. Dits et Ecrits. Bd. 3: 1976 – 1979, hg. v. Daniel Defert, François Ewald, historischen Entwicklungen in Deutschland seit dem späten 17. Jahrhundert.63 Frankfurt / M. 2003, 748 – 775, hier Vogl zufolge verstand diese moderne und zu diesem Zeitpunkt neue Perspek- 775 [Anm. d. Übers.: Vogl zitiert das frz. Orig. in eigener Übersetzung, tive auf den Staat die Funktion der Polizei als eine Optimierung des sozialen Michel Foucault : Methodologie pour Potenzials durch eine positive Intervention in die Lebensbedingungen einer la connaissance du monde: Com- ment de débarrasser du marxisme, Bevölkerung – Bedingungen, die mit konkreten Varianten, Kontingenzen und in: ders.: Dits et écrits (1954 – 1988), Unfällen durchtränkt waren. Wie er erläutert, sind hg. v. Daniel Defert, François Ewald, Paris 1994, Bd. 3, 617 f. In der Über- i hre Anwendungsgebiete [die der Polizei, d. Übers.] […] tendenziell unbegrenzt, setzung von Jürgen Schröder heißt es: «ein enormes und unbändiges und sie übernimmt nun die Aufgaben positiver Intervention und Steuerung inner- Verlangen», «Begierde des Staats», halb der politischen Regierung. […] [D]er Polizeibegriff […] erstreckt […] sich auf «Willen des Staats»]. EXTRA 115 REY CHOW die Lebensbedingungen des Volkes, auf die Formen des Zusammenlebens insgesamt und auf alle Gebiete des politischen Wesens. […] Die Policey ist also Erkenntnis­ weise, Instrumentarium und Interventionsprogramm zugleich. […] [S]ie [die Policey- Träume des 18. Jahrhunderts] gewinnen ihre theoretische und systematische Bedeutung gerade dadurch, dass sie ihre Interventionsmuster an konkreten Gege- benheiten und an einer ‹Natur der Dinge› orientieren und erstmals nach dem Zu- sammenhang und nach der Regulierung kontingenter Ereignisse fragen. Sei es in den Bereichen der Medizin, der Gewerbe, des Handels, des persönlichen Eigentums, der öffentlichen Moral, der inneren Sicherheit oder der Bevölkerungspolitik – in all diesen Gebieten wird nun eine Perspektive eingenommen, die den Staat als Institut der Vorsorge, der Prävention und der Versicherung gegenüber möglichen Zu- und Unfällen begreift.64 Während der Staat sozusagen ein Auge darauf hatte, wie eine komplexe Masse von Menschen ihrem Alltagsgeschäft nachgingen und neue Mittel zur Siche- rung des Wohlbefindens und des Komforts aller erfand, wurde er eine intime und häufig unbemerkbare Präsenz in allen Aspekten der gesellschaftlichen Ver- hältnisse und Interaktionen. So kann mit Foucault ein modernes politisches Rahmenwerk der Regierung als in einer Genealogie mit einem pastoralen Prinzip bzw. einer pastoralen Technologie stehend verstanden werden, die die jüdisch-christliche Idee des guten Hirten, der für seine Herde sorgt, in eine utopische Form des politischen Rationalismus übersetzte, geführt und bewacht von einer guten Polizei. Ebenso wie sein Nachdenken über Sexualität und race sollten Foucaults ent- schieden nietzscheanische Überlegungen zum Christentum innerhalb seiner anhaltenden Kritik westlicher politischer Rationalität kontextualisiert wer- den. Zwei wichtige Merkmale stechen in diesen zugegeben intensiven Über- legungen hervor: Auf der einen Seite übte das Christentum durch pastorale Techniken wie das Beichtritual einen enormen moralischen Einfluss auf das Individ uum und auf das, was die Individuation der Seele genannt werden könn- te, aus.65 […] Auf der anderen Seite wird der bewaffnete Einfluss der Polizei als die höchste Objektivierung der staatlichen Vernunft gehandhabt. Diese beiden aufs Engste verbundenen Ankerpunkte von Foucaults Analyse westlicher poli- tischer Rationalität machen die aktuelle Relevanz seines Werks für die Unter- suchung von race und Rassismus im 21. Jahrhundert aus. […] Indem er Polizei als mustergültiges Wahrzeichen der Regierung hervorhebt und dieses Symbol in einer modernen globalen Situation verortet, die immer noch weitgehend von verbliebenen christlichen Machttechniken dominiert wird – man denke etwa an das weitverbreitete Begehen von Weihnachten und Ostern als öffentliche Feiertage, die übliche Verwendung der Bibel bei der Vereidigung in den Staatsdienst, die Regel, dass ein_e christliche_r Pastor_in 64  Vogl: Staatsbegehren, 606 f. bei staatlichen Exekutionen im Gefängnis anwesend sein muss, und die Ak- 65  Für eine ausführliche Ausein- andersetzung mit der Beichte vgl. zeptanz des Tragens eines Kreuzes als Schmuckstück –, bereitet Foucault den Chow: A Face Drawn in Sand, 139 – 164 Boden für unsere Konfrontation mit dem Phänomen des Polizeirassismus im frü- (Kap. 4: «From the Confessing Animal to the Smartself»). hen 21. Jahrhundert: Rassismus als eine Art Kampfausrüstung, die die Polizei 116 ZfM 27, 2/2022 NACHDENKEN ÜBER RACE MIT FOUCAULT routinemäßig anlegt, um Gesetz und Ordnung zu vollstrecken. Ich beziehe mich auf die willkürlichen Polizeimorde an Schwarzen Menschen, inklusive unbewaffneter Frauen und Jugendlicher, die in heutigen US-Städten immer wieder auftreten, Morde, die im Kontext der gegenwärtigen Situation als recht logische Mutationen der westlichen politischen Rationalität, wie sie Foucault analysiert, erscheinen, mit Polizist_innen als einer extremen Inkarnation – und absurden Theatralisierung – des Hirtenkönigs.66 Wenn darüber hinaus die Polizei den Kern der Vernunft des Staates dar- stellt, müssen die Staaten, die es auf sich nehmen, den gesamten Globus zu be- schützen, vielleicht als die transnationalen Versionen des christlichen Pastorats neudefiniert werden, mit ihrem strengen Mandat, die Herde der Weltbevölke- rung zu beschützen. […] Die von dieser globalen Polizei ausgeübte Vormund- schaft – im Spätkapitalismus von Nationen wie den USA, Frankreich, Groß- britannien, Deutschland, Australien und Japan angeführt – legt zusammen mit dem heilversprechenden Band, das sie zwischen sich und den gewöhnlichen Bürger_innen rund um die Welt zu etablieren sucht, nahe, dass sich eine neue Art des Rassenkriegs als eine transkulturelle oder, wie es Klaus Mladek nennt, planetare Strategie und Realität verfestigt. Seit dem 11. September 2001 haben diejenigen, die mit dem Islam a ssoziiert werden, zunehmend den Platz der ‹Unterrasse› besetzt (in Foucaults Verständ- nis des Rassismus jene anderen, die sterben müssen, damit wir leben können). Ein Beispiel für diesen neuen Rassismus, der von der globalen Polizei innerhalb der neuen Weltordnung ausgeübt wird, ist das Stigma der Delinquenz – ein angenommener Hang zu ‹terroristischen› Akten –, dem jetzt Muslim_innen ausgesetzt sind (oder in einer stereotypisierenden Weise diejenigen mit musli- misch klingenden Namen oder muslimisch gelesenem Aussehen). Dieser neue Rassenkrieg basiert weniger auf einer Aufteilung von Kulturen in der Form ei- nes gegenseitigen Verdachts oder der Verachtung als auf einem multinationalen Konsens, die Welt durch die Ächtung spezifischer Gruppen von Leuten zu regie­ ren – d. h. die Bedingungen und Gründe des Regierens zu legitimieren und zu monopolisieren. Obwohl Verhaftung, Inhaftierung, Folter, das Erzwingen des Geständnisses, die Verweigerung rechtlicher Vertretung und Hinrichtung als Regierungstechniken beteiligt sind, wird dieser Konsens typischerweise in der 66  Für eine umfassende Studie pastoralen Rhetorik von Frieden und Ordnung, Toleranz, gütigerer Führung, zum Gebrauch tödlicher Polizei- gewalt in den heutigen USA vgl. Respekt für Diversität und dem Wohlergehen der gesamten Herde verkün- Franklin E. Zimring: When Police Kill, det –67 der Rhetorik, dass, um Foucaults Formulierung zu verwenden, unsere Cambridge 2017. 67  «Was den westlichen Rassis- «Gesellschaft verteidigt werden muss» gegen die Ungläubigen, gegen diejeni- mus so autonom und auffallend in gen, die nicht wie wir sind. der Weltgeschichte macht, ist der Umstand, dass er sich in einem Zu diesen Kämpfen im aktuellen transnationalen Setting leistet Foucaults Kontext entwickelt hat, der eine Art Werk seinen außerordentlich messerscharfen Beitrag. Anstelle von Diskursen, menschlicher Gleichheit annahm [einschließlich des Christentums die ‹Schwarz›, ‹Braun›, ‹Gelb› und ‹Weiß› in vorhersehbaren oder opportunis- und der europäischen und ameri- tischen Weisen reifizieren, provozieren seine Schriften dazu zu fragen: Was, kanischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts].» Fredrickson: wenn Rassisierung sich stattdessen mit unseren demokratischen staatlichen Racism, 11; Zusatz in Klammern R. C. EXTRA 117 REY CHOW Institutionen, unseren vornehmen sozialen Praktiken und unseren gut gemein- ten Gewissensproduktionen zusammenschließt, die alle weiterhin galvanisiert sind durch christliche Techniken der Macht? Was, wenn race mit Kontroversen über verkörpertes religiöses Verhalten (auch bezogen auf Bekleidung) in einer erklärtermaßen säkularen Gesellschaft verbunden wird? Und was, wenn Kämp- fe gegen Rassismus Seite an Seite mit einer rigorosen historischen Analyse der Reste einer christlichen Hermeneutik des Selbst 68 gewagt würden – inklusive des Selbst, das in unserer neoliberalen Gegenwart konstant dazu angehalten ist, 68  Zur christlichen Hermeneutik race ebenso wie Sexualität als eine Art des Entdeckens, des Enthüllens und der des Selbst vgl. u. a. die Kapitel 2 und 8 in Foucault: Technologien des Selbst. Erfindung selbst zu behandeln. […] — Aus dem Englischen von Maja Figge 118 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140211. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. C H R I S T I N E V O N O E RT Z E N / L O T T E S C H Ü S S L E R FÜR, MIT UND AUF PAPIER — Papiertechnologien und ihre Versorgungsketten Als im Pandemie-Jahr 2021 der globale Fluss der Waren ins Stocken geriet, bekam dies auch die deutsche Verlagsbranche zu spüren. Die Verarbeitung von Papieren 1  Lothar Müller: Suhrkamp gehen die Pappen aus, in: Süddeutsche Zei- und Pappen für die Wissensproduktion und -zirkulation war plötzlich mit unter- tung, 22.8.2021, www.sz.de/1.5388888 brochenen Lieferketten konfrontiert und stieß an die Grenzen der Verfügbarkeit (17.5.2022). 2  Siehe etwa Johannes Hess: von Roh- und Werkstoffen. Denn Bücher und Buchumschläge, so zeigte es sich, Selen. Eine Materialgeschichte zwischen sind auf den Bezug von Holzzellstoffen über den globalen Markt angewiesen und Industrie, Wissenschaft und Kunst, Tübingen 2019; Elodie Roy: Another stehen zudem mit dem rasant wachsenden Bedarf an Verpackungsmaterialien Side of Shellac. Cultural and Natural des Online-Handels in Konkurrenz.1 Die plötzliche Knappheit in vielen Berei- Cycles of the Gramophone Disc, in: Kyle Devine, Alexandrine Boudreault- chen brachte die Prozesse der Medienproduktion und die Bedeutung materieller Fournier (Hg.): Audible Infrastructures. Versorgungsketten zu Bewusstsein, die seit jüngster Zeit auch in der Medienwis- Music, Sound, Media, Oxford 2021, 207 – 226; Catherine M. Jackson: The senschaft und in verwandten Disziplinen verstärkt diskutiert werden. Material- «Wonderful Properties of Glass». geschichten über Selen, Schellack, Stahl, Glas oder Porzellan blicken hinter die Liebig’s Kaliapparat and the Practice of Chemistry in Glass, in: Isis, technischen Artefakte von modernen Medien und wissenschaftlichen Versuchs- Bd. 106, Nr. 1, 2015, 43 – 69; Suzanne apparaturen. Sie thematisieren deren Entstehung, Vermarktung und Gebrauch Marchand: Porcelain. A History from the Heart of Europe, Princeton 2020. innerhalb kolonial-, sozial-, wirtschafts- oder umwelthistorischer Kontexte.2 3  Zum Begriff «Papiertechnolo- Im Zusammenhang mit Papier, seiner Verfasstheit als Werkstoff und den da- gien» siehe Anke te Heesen: The Notebook: A Paper-Technology, in: raus gefertigten Wissensmedien lädt dieses Umdenken dazu ein, den Begriff der Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.): ‹Papiertechnologien› neu zu perspektivieren – und zwar als Bestandteil einer Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge (MA) 2005, jahrhundertelangen Geschichte der Produktion, Nutzung, Um- und Weiternut- 582 – 589; dies.: Der Zeitungsaus- zung verschiedenster Papierstoffe. Als Papiertechnologien sind bislang Prozes- schnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt / M. 2006. se des wissenschaftlichen, bürokratischen, künstlerischen oder handwerklichen 4  Siehe Ursula Klein: Experiments, Arbeitens auf und mit Papier bezeichnet worden.3 Das Konzept, entstanden vor Models, Paper Tools. Cultures of Organic Chemistry in the Nineteenth Century, dem Hintergrund einer verstärkten Beschäftigung mit Kulturtechniken und der Stanford 2003; Markus Krajewski: Materialität von Aufschreibesystemen, hat in den letzten Jahrzehnten ein For- Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, schungsfeld begründet, in dem Papier als Schreibsubstrat nicht mehr gänzlich Berlin 2002; Lisa Gitelman: Paper unsichtbar bleibt, sondern als Objekt zur Geltung kommt und schließlich auch Knowledge. Toward a Media History of Documents, Durham, London 2014; als Werkstoff aufscheint.4 So sehr diese Forschungen das Verständnis der ma- Carla Bittel, Elaine Leong, Christine teriellen Kultur von Papierpraktiken erweitert haben, so wenig Wissen besteht von Oertzen (Hg.): Working With Paper. Gendered Practices in the History allerdings über den jeweiligen Werkstoff selbst, über die Infrastrukturen und of Knowledge, Pittsburgh 2019. EXTRA 119 CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜSSLER die Vereinbarungen, die erst ermöglichen, dass Papier in den verlangten Men- gen, Stärken und Qualitäten für bestimmte Zwecke verfügbar ist – oder auch mangelt. Um diese Prozesse zu berücksichtigen, die nicht zuletzt auch politische D imensionen aufweisen, schlagen wir eine Erweiterung des Begriffs ‹Papier- technologien› vor, der Handelswege, Produktionsprozesse und das Materialwis- sen über den Werkstoff selbst explizit einschließt. Hierbei knüpfen wir an eine Perspektive an, die Harold Innis in seiner groß angelegten, aber unvollendet ge- bliebenen globalen Mediengeschichte eingenommen hat, in der er auch auf die Herstellungsweisen und Verbreitungswege derjenigen Materialien verweist, die Kommunikation seit Jahrhunderten ermöglichen.5 Als vielfach veränderlichem Wissensmedium und Kommunikationsmittel kommt Papier bereits bei Innis eine zentrale, historisch weit zurückreichende Bedeutung zu, die im Rückgriff auf aktuelle Ansätze der ‹Geologie der Medien›,6 der Ecomedia Studies 7 und der Supply Chain Studies 8 noch konkreter entschlüsselt werden kann. 5  Vgl. William J. Buxton, Michael R. Cheney, Paul Heyer (Hg.): Harold Papiertechnologien in dem hier beschriebenen Sinne zu verstehen bedeutet Innis’s History of Communications. also, eine breite wirtschaftliche, politische, soziale, ökologische, technologische Paper and Printing – Antiquity to Early Modernity, Lanham u. a. 2015. und wissenschaftliche Perspektive auf Papiermedien einzunehmen. Wie ein Innis folgend beschreibt Marshall solches auf soziomaterielle und politische Verflechtungen in Gewinnungs-, McLuhan die Zusammenhänge von Handels- und Nachrichtenwegen vor Fertigungs- und Distributionsprozessen erweitertes Verständnis von Papier- der Telegrafie als «Roads and Paper technologien empirisch ausgestaltet werden kann, soll im Folgenden an zwei Routes», Marshall McLuhan: Under- standing Media. The Extensions of Man, unterschiedlichen Medien veranschaulicht werden: der Zählkarte für die Volks- London 2021, 97 – 114, insb. 97. zählung in Preußen 1871 und den Feldpostbriefen der nationalsozialistischen 6  Vgl. Jussi Parikka: A Geology of Media, Minneapolis, London 2015. Fernhochschule im Zweiten Weltkrieg. Beim Einsatz des preußischen Daten- 7  Vgl. Nicole Starosielski, Janet trägers war ein spezifisches Wissen über dessen materielle Eigenschaften und Walker (Hg.): Sustainable Media. Critical Approaches to Media and Envi- Produktionsprozesse unerlässlich, damit die Zählkarte den Staat mit verlässli- ronment, New York, London 2016. chen Daten versorgen und die Genauigkeit der statistischen Ergebnisse gewähr- 8  Vgl. Matthew Hockenberry: Material Epistemologies of the (Mo- leisten konnte. Die Papiertechnologien des NS-Fernstudiums schließen das bile) T elephone, in: Anthropological Wirtschaften angesichts unterbrochener Versorgungsketten und Rohstoffman- Quarterly, Bd. 91, Nr. 2, 2018, Special issue: Unseen Connections. The Materi- gels in der Autarkie- und Kriegswirtschaft ein; dieses hoch ideologische Umfeld ality of Cell Phones, 485 – 524; Monika der Knappheit bestimmte Inhalte, Formen und Verbreitung der Lehrmedien Dommann: Handling, Flowcharts, Logistik. Zur Wissensgeschichte wesentlich. Die beiden Fallstudien zeigen im Detail, was auf, mit und vor allem und Materialkultur von Warenflüs- für Papier jeweils geschieht, damit der Werkstoff als Wissensmedium erst funk- sen, in: David Gugerli u. a. (Hg.): Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für tionieren kann. Im Gegenzug wird beschreibbar, wie gesellschaftliche, ökono- Wissensgeschichte, Bd. 7: Zirkulationen, mische und politische Kontexte Wissen ko-konstituieren. Zürich 2011, 75 – 103. 9  Einen Überblick über die Geschichte des preußischen Statisti- schen Büros und seine Volkszäh- lungen bietet Michael C. Schneider: Materialwissen der Verdatung, 1871 Wissensproduktion im Staat. Das Für die Volkszählung im Jahr 1871 brachte das Königlich Preußische Statistische königlich preußische statistische Bureau 1860 – 1940, Frankfurt / M. 2013. Bureau erstmals die sogenannte Individualzählkarte zum Einsatz (Abb. 1).9 Das 10  Vgl. Christine von Oertzen: robuste, angeraute und inzwischen leicht vergilbte Formular von der Größe eines Machineries of Data Power: Manual Versus Mechanical Census heutigen Taschenbuchs liegt nur noch in wenigen Musterexemplaren in den Ak- Compilation in Nineteenth-Century ten des Statistischen Bureaus vor. Obgleich millionenfach gedruckt, wurden die Europe, in: Osiris, Bd. 32, Nr. 1, 2017, 129 – 150. Zählkarten im Gegensatz etwa zu den US-amerikanischen Volkszählungslisten 120 ZfM 27, 2/2022 FÜR, MIT UND AUF PAPIER nach der Erfassung und Verarbeitung der auf ihnen eingeschriebenen Informa- Abb. 1 Individualzählkarte für tionen nicht archiviert. Dennoch knüpften sich 1871 sowohl statistische als auch die preußische Volkszählung von 1871 staatliche Ambitionen an die Zählkarte, denn sie etablierte ein neues, zentrali- siertes Verfahren, das die manuelle Erhebung und Auswertung von Zensusda- ten nach wissenschaftlichen Standards objektivieren und komplexere statistische Aggregatbildungen erlauben sollte.10 Zu diesem Zweck band die Zählkarte auch die Bevölkerung auf neue Weise in die Erzeugung der Daten ein. Hiervon zeugt ihr Layout: Das lose Formular ist einseitig bedruckt und bietet im oberen Teil Platz für die Eintragung der Wohnanschrift und numerischer Metadaten, die jeder ausgefüllten Karte in der Gesamtheit des Erhebungsmaterials einen be- stimmten Platz zuweisen. Der Hauptteil bietet Raum für die elf Fragen, deren Beantwortung der preußische Staat als unabdinglich für die Volkszählung ansah. EXTRA 121 CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜSSLER Die aufgedruckten Punktlinien verlangen Antworten in ausgeschriebenen Wör- tern. Die Befragten hatten diesen Hauptteil der Karte nach Möglichkeit erstmals selbst und in eigener Handschrift auszufüllen, um für die Richtigkeit ihrer Aussa- gen zu bürgen. Diese Inskriptionen führte die Karte in einen für sich stehenden, beweglichen Ur-Datensatz eines jeden Individuums zusammen. Als Kernwerkzeug der ehrgeizigen Zensusreform des preußischen Staates vereinte die Karte im Unterschied zu sonst üblichen Zählformularen zwei Ei- genschaften in sich: Sie diente sowohl als Erhebungsinstrument wie auch als Datenträger während des gesamten Verarbeitungsprozesses, der diesen mög- lichst störungs- und fehlerfrei gestalten sollte. Während des räumlich weit aus- greifenden, logistisch aufwändigen und monatelang andauernden Verfahrens der Volkszählung durchliefen die Karten von der häuslichen Beschriftung über die örtliche Prüfung bis hin zum komplexen Auswertungsverfahren in Berlin etliche Stationen und gingen dabei durch viele Hände.11 11  Vgl. dies.: Keeping Prussia’s Datenakquise und Kompilation forderten jeder Karte mit dem auf ihr gesi- House in Order. Census Cards, cherten, unersetzlichen data double aller über 25 Millionen in Preußen lebenden Housewifery, and the State’s Data Compilation, in: Bittel u. a. (Hg.): Personen einiges ab.12 Denn der Erfolg der Zählung hing zum einen maßgeblich Working With Paper, 108 – 123. davon ab, dass die auf jeder Karte inskribierten Angaben korrekt und vollstän- 12  Der Begriff data double geht auf die Soziologen Kevin D. Haggerty dig waren. Dieses Ziel sollte durch eine sorgsam choreographierte Gestaltung und Richard V. Ericson zurück und der Zählung vor Ort erreicht werden, eingebettet in eine umfängliche staatliche bezeichnet personenbezogene Daten, die innerhalb von Bürokra- Kampagne, welche die Volkszählung als freiwilligen patriotischen Akt zum Nut- tien für die tatsächlichen Personen zen Aller bewarb.13 Nötig war zum anderen ein Werkstoff in spezifischer Quali- einstehen und als deren doubles ihr Eigenleben entfalten; vgl. Kevin tät, gerade so stabil, dass die Karte vielfach angefasst und herumgereicht werden D. Haggerty, Richard V. Ericson: konnte, um ausgeteilt, zu Hause beschrieben, eingesammelt, mehrfach geprüft The Surveillant Assemblage, in: The British Journal of Sociology, Bd. 51, und dann Schritt für Schritt manuell sortiert und gezählt zu werden, ohne zu Nr. 4, 2000, 605 – 622. zerreißen oder zu zerfleddern. Auch durfte die Karte nicht zu glatt sein, damit 13  Vgl. Christine von Oertzen: True to Form. Media and Data sie in der Gesamtheit des Materials nicht verrutschte und sich zu Häufchen sta- Technologies of Self Inscription, in: peln ließ, aber auch nicht dicker und schwerer als unbedingt notwendig, um Ge- Science in Context, Bd. 34, Nr. 4, 2021 (im Erscheinen). wicht und Volumen der Karten im Verlauf der gesamten Aktion im Rahmen zu 14  Siehe hierzu Dan Bouk: The halten. Anders als behördliche Dokumente wie Katasterbücher, Geburts- oder History and Political Economy of Personal Data over the Last Two Sterberegister waren Individualzählkarten als amtliche Arbeitswerkzeuge mit Centuries in Three Acts, in: Osiris, begrenzter Lebenszeit konzipiert. Langfristig zählten nur die aus den Einzel- Bd. 32, Nr. 1, 2017, 85 – 106. 15  Der Ascherückstand eines daten erzeugten statistischen Aggregate.14 Die Karten selbst wurden nach dem verbrannten Probebogens durfte Abschluss der Zählung als Makulatur an den Altpapierhandel verkauft. Daher nicht über 20 Prozent liegen; vgl. Vertragsabschluss zwischen dem war nicht die haltbarste Papierqualität nötig.15 Allerdings mussten alle Karten Preußischen Statistischen Bureau aus exakt demselben Werkstoff sein, weil Unterschiede in Stärke, Glätte oder und Dr. August Brass, dem Eigen- tümer der Norddeutschen Allgemeinen Gewicht die möglichst durchgreifende Standardisierung und Kontrolle im Aus- Zeitung und der in ihrem Auftrag zählungsprozess empfindlich gestört hätten. firmierenden Druckerei Wilhelm Köbke, vom 16. August 1871, Gehei- Die Zählkarte von 1871 wurde in einer Auflage von 30 Millionen Stück in mes Staatsarchiv Preußischer Kultur- punktgenauer Lieferung auf einen Schlag benötigt und war zudem nicht das besitz (GStA PK), I. HA Rep. 77, Tit. 94, Nr. 132, Bd. 1, 87 – 91, hier 88. einzige Formular, das bei der Zählung zum Einsatz kam. Die Gesamtheit aller Beste Leinenpapiere hinterlassen bei Karten und zusätzlich produzierten Begleitformulare, Kontrolllisten und Um- der Verbrennung einen Rückstand von unter drei Prozent. schläge für die Volkzählung von 1871 ergab ein Gewicht von etwa 375 Tonnen 122 ZfM 27, 2/2022 FÜR, MIT UND AUF PAPIER Papier. Konzeption und Beschaffung, Produktion und Zirkulation von Zählfor- mularen in der richtigen Größe, Stärke, Qualität und Farbe waren inhärente Bestandteile der Papiertechnologien im Rahmen der manuellen Datenverarbei- tung Preußens. Mit dem Blick auf die Massen von Zählkarten wird deutlich, dass ihr Werkstoff gleichsam die Essenz des weit ausgreifenden Zählwerks war, mit dem der preußische Staat quantitatives Wissen über sich selbst erzeugte: aus direkten, eigenhändig vermerkten Aussagen aller Befragten. Die Einführung des amtlichen Formulars Zählkarte fiel mit Umwälzungen in der Papierproduktion zusammen, die den Beamten des Preußischen Statisti- schen Bureaus ein besonderes Maß an Materialwissen abverlangten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzten sich mechanische Holz- und Strohschliff- und später auch chemische Zellstoffverfahren flächendeckend in der Papier- produktion durch und veränderten diese von Grund auf. Leinen- und Baum- wollfaserstoffe wurden kaum noch in der traditionellen Reinform verwendet. Die neuen mechanisch oder chemisch gewonnenen Holz- oder Strohfasern wie auch ein Zuwachs an mineralischen Füllstoffen ermöglichten eine nie dagewe- sene Ausweitung des Angebots an Papier, das nun vor allem brüchiges, schnell vergilbendes Holz- und Strohpapier war.16 Ein kräftiger Schuss Chlorbleiche und andere Tricks ließen neues Papier allerdings zunächst in glattem Weiß er- strahlen und konnten – jedenfalls für einige Zeit – über die wahre Natur seiner brüchigen inneren Beschaffenheit hinwegtäuschen.17 Der Einsatz der Zählkarte samt ihrer Begleitformulare vervielfachte den Gesamtbedarf an Papier für die Volkszählung. Die als zwingend notwendig an- gesehene, durchgehend gleiche Qualität aller für die Zählung erforderlichen Formulare verlangte aus Sicht des Statistischen Bureaus die Herstellung der Ge- samtmasse an Vordrucken aus einer Hand.18 Weil verlässliche Qualitätsstandards nicht existierten, entwickelte die Behörde selbst Richtlinien für die benötigten Materialien. Sie legte die jeweils erlaubten Höchstmengen m inderwertiger 16  Heinz Schmidt-Bachem: Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschafts- Faserstoffe wie auch chemischer und mineralischer Beimischungen fest. Im geschichte der Papier verarbeitenden Rahmen eines strengen Bieterverfahrens wurde die Einhaltung der Vorgaben Industrie in Deutschland, Berlin 2011, 27 – 40; Alexander Friebel: peinlichst überprüft. 39 Firmen schickten 1871 mit ihren Angeboten Papier- Ohne Papier keine Zeitung: Die Er- proben für die robuste Zählkarte, Begleitmaterial, Listen und Umschläge; alle findung des Holzschliffpapiers als Meilenstein in der Entwicklung Proben wurden vor Ort auf Festigkeit, Glätte und Schwere getestet und dann des deutschen Pressewesens, in: zur chemischen Laborprüfung eingeschickt, wo auch der Aschegehalt ermittelt Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Jg. 3, 2001, 132 – 156. wurde.19 Etliche Proben bestanden die Prüfung nicht, zu teure Anbieter wurden 17  Egbert Hoyer: Das Papier. Seine gestrichen und letztlich schrumpfte die Liste auf die wenigen Druckereien, die Beschaffenheit und deren Prüfung, München 1882, iv. zus ichern konnten, alle 30 Millionen Zählkarten pünktlich auf Termin aus dem- 18  Der Direktor des Preußischen selben Material zu liefern und zusätzlich Platz zur Lagerung bereitzustellen. Die Statistischen Bureaus, Ernst Engel, an Innenminister Friedrich Entscheidung fiel schließlich auf den Hersteller und Verleger der regierungs- zu Eulenburg, Bericht über die nahen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin. Hier nahm der Druck von Auftragsvergabe der Papierlieferun- gen für die Volkszählung, 20. Juli Karten und Listen mehr als vier Monate in Anspruch. Der Verleger musste sich 1871, GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. verpflichten, während dieser Zeit Beamten des Bureaus jederzeit Zugang zu Fa- 94, Nr. 132, Bd. 1, Bl. 65 – 69, hier Bl. 65 rs. brik und Druckerei zu gewähren, um sicherzustellen, dass die gesamte Lieferung 19  Ebd. EXTRA 123 CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜSSLER Abb. 2 Mikroskopische Darstel- in der zugesagten Qualität hergestellt wurde.20 Was 1871 als Prüf- und Auswahl- lung der Färbung von Leinen- verfahren erprobt wurde, perfektionierte das Bureau in der Folgezeit zu einem und Baumwoll-, Holz- und Strohzellstoff- und Holzschliff- Ritual: Bei nachfolgenden Zählungen waren Papierproben versiegelt einzuschi- fasern in Chlorzinkjodlösung. cken. An einem Stichtag wurden sie dann im Beisein aller Anbieter geöffnet, ge- Aus: Wilhelm Herzberg: Papier- Prüfung, Berlin 1894, Tafel 14 sichtet und vorgeprüft. Der einmalige Zuschlag war keine Gewähr für künftige Aufträge; immer wurde das vorgelegte Papier selbst zum Prüfstein.21 Wissenschaftliche Hilfestellung bekamen die preußischen Statistiker ab 1884 von der Abteilung Papierprüfung an der Königlich-Technischen Hochschule Berlin (der heutigen Technischen Universität). Ins Leben gerufen hatte man die- se in erster Linie wegen anhaltender behördlicher Klagen über die abnehmende Stabilität und Haltbarkeit des amtlichen oder «Beamtenpapiers», das für lang- jährige Archivierung benötigt wurde.22 Zum Direktor dieser neuen Forschungs- stelle berief man den Botaniker und Chemiker Wilhelm Herzberg. Er schuf dort die erste Aufstellung verbindlicher Normen für verschiedene Behörden papiere je nach Anforderung an ihre Beanspruchung und Haltbarkeit. In einer Schrift mit dem Titel Papier­Prüfung gewährte Herzberg Einblick in die Arbeit seines Labors.23 Der vielfach wieder aufgelegte und dabei immer umfänglicher werdende Band informierte über die neuesten Techniken und Instrumente, wie man verschiedene Papierarten durch Zerreißen, Knüllen, 124 ZfM 27, 2/2022 FÜR, MIT UND AUF PAPIER Falten, Biegen, Befeuchten und Verbrennen dazu bringen konnte, ihren An- teil an Leinen, Holz- und Strohschliff, mineralischen Füllstoffen und weite- ren Chemikalien preiszugeben. Herzbergs Buch setzte vor allem auch deshalb Qualitätsstandards für die Papierindustrie, weil es eine praktische Anleitung für Papierprüfungen vor Ort an die Hand gab. Die beigegebenen Abbildungen im Buch, wie etwa der mikroskopische Blick auf die Struktur verschiedener Papier- fasern und deren Reaktion auf eine Tinktur aus Chlor, Zink und Jod, gaben visuelle Hilfestellung bei der Bewertung chemischer Tests (Abb. 2). Leinen- und Baumwollfasern werden rot, mechanischer Holzschliff gelb und chemisch gelöster Holz- und Strohzellstoff lila (in dieser schwarz-weißen Reproduktion als unterschiedliche Grautöne erkennbar). Solche chemischen Cocktails waren leicht selbst anzumischen und in kleinen Dosen mitzuführen, sodass sie bei amtlichen Papierprüfungen ad hoc zum Einsatz kommen konnten. 20  Vertragsabschluss zwischen Die Papiertechnologien des Preußischen Statistischen Bureaus schlossen dem Preußischen Statistischen Bureau und Dr. August Brass, 90. demnach weit mehr ein als das Entwerfen eines Formulars, das Einsammeln von 21  So wurde der langjährige Informationen, das Notieren und Aufaddieren von Zahlen oder das Erstellen Lieferant der Zählkarten im Jahr 1882 nicht wieder berücksichtigt, weil er von Tabellen, d. h. Tätigkeiten, die auf oder mit den Zählkarten stattfanden. Die zu dünnes Papier für die Probekarte Verlässlichkeit statistischer Erhebungen war für das Bureau vielmehr und in sehr vorgelegt hatte. Vgl. Preuß. Stat. Büro an das Ministerium des Innern, spezifischer Weise an das Papier selbst wie an Materialwissen über dieses ge- betreffs der Submission der für die bunden. Als Werkstoff, als Werkzeug und schließlich auch als schwer zu manöv- Berufsstatistik in Preußen erforder- lichen Zählpapiere v. 11.3.1882, GStA rierende Masse an Erhebungsmaterial erforderte Papier spezifisches technisches PK, I. HA Rep. 77, Tit. 94, Nr. 151, und politisches handling und Kontrollieren. Es war die Gesamtheit dieser medi- Bd. 1, 193 – 199, hier 196. 22  Wilhelm Herzberg: Papier- alen Wissenspraktiken, welche die Papiertechnologien der preußischen Statistik Prüfung. Ein Leitfaden bei der Untersu- ausmachten und Gewähr für die Aussagekraft der Zahlen herstellte. chung von Papier, Berlin 1888, iv. 23  Vgl. Herzberg, Papier-Prüfung. 24  Feldpostbrief der Heidelberger Zeitungswissenschaftler, Nr. 1, 29.2.1944, Universitätsarchiv Versorgungsketten der Feldhochschule, 1942 – 1945 Heidelberg, Rep. 121 / 7. Ein zweiter Wehrmachtssoldaten, die vor Beginn des Zweiten Weltkriegs Zeitungswissen- Rundbrief wurde im Juni versandt; weitere Ausgaben scheinen nicht schaft an der Universität Heidelberg studiert hatten, und auch diejenigen, die überliefert zu sein. Feldpostbrief der erst einen Einblick in das Fach gewinnen wollten, erhielten ab Februar 1944 Heidelberger Zeitungswissenschaftler, Nr. 2, 27.6.1944, Universitätsarchiv den Feldpostbrief der Heidelberger Zeitungswissenschaftler (Abb. 3).24 Auf den drei Heidelberg, Rep. 121 / 7. beidseitig schreibmaschinenbeschriebenen Blatt Papier der ersten Ausgabe la- 25  Feldpostbrief der Heidelberger Zeitungswissenschaftler, Nr. 1, sen die «Kameraden»25 ein appellartiges Vorwort des Fachgruppenleiters sowie 29.2.1944, 1. Zusammenfassungen der Lehrveranstaltungen des gerade vergangenen Winter- 26  Siehe Albrecht Ackermann: Das Institut für Zeitungswesen (Zeitungs- semesters, darunter ein Proseminar ‹Einführung in die zeitungswissenschaftli- wissenschaft) an der Universität che Systematik›, ein Seminar ‹Übungen zur Formengeschichte des Feuilletons› Heidelberg 1927 – 1945, in: Rüdiger vom Bruch, Otto B. Roegele (Hg.): und das Kolloquium des vom NS-Regime als Institutsleiter berufenen Profes- Von der Zeitungskunde zur Publizistik. sors Hans Herrmann Adler.26 Die Texte waren überblicksartig und knapp ge- Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in halten, wie auch einer der fernstudierenden Soldaten aus dem besetzten Paris der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zurückmeldete: «Die knappe Zusammenstellung des Stoffes ist sehr wertvoll Frankfurt / M. 1986, 143 – 180. 27  Rudolf Deurer an Institut für für die gelegentliche Beschäftigung mit zeitungswissenschaftlichen Studien.»27 Zeitungswissenschaft der Ruprecht- Knapp war ebenfalls das zugrunde liegende Schreibsubstrat. Dies verrät etwa Karls-Universität Heidelberg [Feld- postkarte], 3.8.1944, Universität s- der Kniff, den Briefumschlag einzusparen, indem ein kleineres dünneres Blatt archiv Heidelberg, Rep. 121 / 7. EXTRA 125 CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜSSLER Abb. 3 Feldpostbrief der Heidel- zu den drei Seiten hinzukam, das als solcher fungierte. Von der überdies man- berger Zeitungswissenschaftler, gelhaften Papierqualität zeugen die groben Faltungen, die grobkörnig-faserige Nr. 1, 29.2.1944 Textur und die Bleiche des Papiers. Das Fernstudium bediente nicht nur die Studierenden einer der Vorläufer- Disziplinen der heutigen Medien- und Kommunikationswissenschaft. Auf Er- lass des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung von Januar 1942 wurde es von Hochschulen des gesamten nationalsozialistischen Deutschen Reichs in die Wege geleitet.28 Die Maßnahme sollte dem drohenden Mangel an männlichen Akademikern und zugleich der «völlige[n] Abstumpfung» der eingezogenen Studenten entgegensteuern.29 Da deren Kampfeinsatz unver- zichtbar war, ging es um keine umfängliche Ausbildung, sondern in erster Linie darum, einen ansatzweisen Kontakt mit Studieninhalten zu ermöglichen und die Zukunftsperspektive eines Einstiegs oder Wiedere instiegs in einen Studienalltag 126 ZfM 27, 2/2022 FÜR, MIT UND AUF PAPIER vorzuhalten. Da das Fernstudium auf eine Initiative der Luftwaffe zurückging, konnten sich zunächst deren Soldaten anmelden. Mit der Ausweitung auf An- 28  Reichsminister für Wissen- schaft, Erziehung und Volksbildung gehörige des Heers und der Kriegsmarine im Jahr 1943 wurde eine regelrechte (RMfWEV) [Runderlass, «Betr. NS-Feldhochschule ins Leben gerufen, die maßgeblich auf Medien aus Papier Weiterbildung der Jungakademi- ker»], 7.1.1942 Bundesarchiv, basierte: Rundbriefe von Fakultäten und Instituten, Briefe zwischen Soldaten R 4901 / 12908, Nr. 2. und Hochschullehrer_innen, die eigens hergestellten Studienführer Soldatenbriefe 29  RMfWEV, 7.1.1942, Vermerk, Bundesarchiv R 4901 / 12908, Nr. 4. für Studenten, Feldpostbriefe des Reichsstudentenführers sowie Lehr- und Fachbücher. Zur Ausbildungssituation an den Ergänzend wurden an den Hochschulen im NS-Reich und in den Kriegsgebieten nationalsozialistischen Universitäten während des Kriegs siehe: Michael Einführungskurse in Studiengebiete angeboten, zu denen die Soldaten kurzzeitig Grüttner: Studenten im Dritten Reich, abkommandiert wurden.30 Die Ausbildungsgrundlage aber bildete das entfernte Paderborn u. a. 1995, 361 – 369. 30  RMfWEV [Runderlass, «Betrifft: Lernen und Lehren mit Papier, das durch die Feldpost und die Luftwaffe zirku- Betreuung der im Wehrdienst liert wurde.31 Die Soldaten studierten per Luftpost (Abb. 4). stehenden Studenten»], 1.6.1943, Bundesarchiv, R 4901 / 12908, Nr. 29. Doch die Versorgungsketten für Papier waren ins Stocken geraten – und 31  Aktennotiz [Protokoll der zwar nicht erst mit dem Krieg. Die Hochschulen meldeten bald «erhebliche « Besprechung über die Betreuung der Jungakademiker» im Reichs- Schwierigkeiten» bei der Papierbeschaffung.32 Das Wissenschaftsministerium, ministerium für Wissenschaft, die Luftwaffe und das Propagandaministerium stellten Papierkontingente zur Erziehung und Volksbildung am 5.4.1943], 7.4.1943, Universitäts- Verfügung, jedoch nur streng limitiert.33 Zur Operation innerhalb enger Kon- archiv der Humboldt-Universität zu tingente und zur strikten Einsparung von Papier zwangen die Hochschulen Berlin, RS.01, 0247, Nr. 4. 32  RMfWEV [Schnellbrief, überdies die Beschränkungen der Feldpost, die nur Sendungen bis 100 Gramm «Betrifft: Weiterbildung der Jungaka- erlaubte.34 Die Papierknappheit war ein Ergebnis der nationalsozialistischen demiker»], 5.5.1942, Bundesarchiv, R 4901 / 12908, Nr. 6. Autarkie- und Kriegswirtschaft. Bereits als Teil des Neuen Plans (1934) und 33  RMfWEV [Runderlass, «Betr. des Vierjahresplans (1936) wurde die Papierindustrie drastisch reguliert.35 Im Fernbetreuung der Jungakade- miker der Luftwaffe»], 27.7.1942, «Kampf gegen die Papiervergeudung» war die Branche zur strikten Sparsam- 2 f., B undesarchiv R 4901 / 12908, keit angehalten.36 Für den Bezug von Pappe, Papier, Holzstoffen, Zellstoffen, Nr. 10 – 11; RMfWEV [Runderlass, «Betrifft: Studienbetreuung der im Altpapier und anderen Stoffen waren Genehmigungen bei der Reichsstelle für Wehrdienst stehenden Studen- Papier und Verpackungswesen in Berlin erforderlich, und es durften nur die- ten»], 23.7.1943, Bundesarchiv, R 4901 / 12908, Nr. 50 – 51. jenigen Sorten Papier verwendet werden, deren Qualität ihren Zweck gerade 34  RMfWEV [Runderlass, «Betr.: so erfüllte. Um den Wegfall vormaliger Importe möglichst zu kompensieren, Studienbetreuung der im Wehrdienst stehenden Studenten; Erleichterun- sollten hauptsächlich inländische Holzsorten zu Zellstoff und Holzschliff ver- gen im Feldpostverkehr»], 12.6.1944, arbeitet werden. Altpapier und Stroh wurden vermehrt eingesetzt und man ex- Bundesarchiv, R 4901 / 12908, Nr. 132. 35  Vgl. Schmidt-Bachem: Aus perimentierte mit Ausweichstoffen wie Xylit, Torf, Flachs- und Hanfschäben, Papier, 256 – 318. Sägem ehl und Kartoffelkraut.37 Autarkie war allerdings nur ein vorübergehen- 36  Fritz Löb: Entwicklung und Ausbau der deutschen Zellstoff- und des Programm, das durch Ausbeutungen in den eroberten Gebieten ergänzt Papierwirtschaft [1937], in: [o. Hg.] wurde. Die Papierindustrie versprach sich eine «erweiterte[ ] Rohstoffbasis» Grundfragen der Papierwirtschaft, Bd. 1, Berlin 1941, 17 – 30. vom Überfall auf die Sowjetunion.38 Papierfabriken beschäftigten Zwangsar- 37  Vgl. Hans Köhler: Holz und beiter_innen, Militärinternierte, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge.39 Und Stroh, in: Grundfragen der Papierwirt- schaft, 74 – 77; Erik Neumann: Aus- bereits kurz nach der Machtergreifung hatten Papierhersteller von den politi- weichstoffe, in: ebd., 77 – 80; Horst schen, rassistischen und antisemitischen Verfolgungen profitiert. Das A ltpapier, Wend: Altpapier, in: ebd., 80 – 85. 38  Friedrich Dorn: Rückblick das im Mai 1933 zum Spottpreis von einem Pfennig pro Kilo erhältlich war, und Ausschau nach fünf Jahren stammte aus den Büchern verfolgter Autor_innen, die Studierende im Zuge der Gemeinschaftsarbeit in der Zellstoff- und Papierwirtschaft, in: ebd., 5 – 13, sogenannten ‹Aktion wider den undeutschen Geist› beschlagnahmt hatten.40 Je- hier 10. des Blatt Papier, das in den späteren Kriegsjahren produziert wurde, war also 39  Schmidt-Bachem: Aus Papier, 306, 311 – 313. das Produkt wirtschaftlicher und humanitärer Ausbeutungen. 40  Ebd., 257. EXTRA 127 CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜSSLER Die von den Hochschulen versandten Lehrmedien begegneten der Papier- knappheit mit verschiedenen Techniken. Während die Briefe der Heidelberger Zeitungswissenschaft, in denen die mangelhafte Papierqualität sichtlich hervor- tritt, Briefumschläge einsparten, waren die Blätter zur Betreuung unserer im Felde stehenden Kameraden des theaterwissenschaftlichen Instituts der Friedrich-Schil- ler-Universität Jena teils so dicht schreibmaschinenbeschrieben, dass kaum ein Quadratzentimeter Papier ungenutzt blieb.41 Wie in aller materiellen und inhalt- lichen Knappheit dennoch nationalsozialistische Forschungsinhalte übermittelt wurden, verdeutlichen besonders die sechs Feldpostbriefe für Studierende der Geistes­ wissenschaften, die die Philosophische Fakultät der Deutschen Karls-Universität in Prag zwischen 1943 und 1944 versandte. Die erste Ausgabe beinhaltet Abhand- lungen zu Kunstgeschichte, Klassischer Philologie, Mittelalterlicher Geschichte und Völkerkunde, die allesamt auf je nicht mehr als sieben Briefseiten der natio- nalsozialistischen Wissenschaftsideologie vorbildlich nachkommen. Die Aufsätze identifizieren jahrhundertelange «Leistungen» in Architektur und Kunst der Tschechoslowakei als deutsch oder glorifizieren das NS-Reich als Erneuerung des Römischen Reichs.42 Hier lasen die Soldaten nicht nur durch deutschnationale, rassistische und antisemitische Ideologie geleitete Thesen. Zugleich wurden sie zum Weiterkämpfen angehalten, indem das Ziel ihres Angriffs- und Vernich- tungskriegs eine geisteswissenschaftliche Legitimierung erfuhr. Jene Papiertechnologien des knappen Beschreibens und Bedruckens, des Fal- tens und Versendens der Feldpostbriefe lassen sich erst vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Autarkie- und Kriegswirtschaft umfassend verstehen. Ne- ben die stark ideologischen Inhalte der Briefe treten dann die gewaltsamen wirt- schaftlichen und humanitären Ausbeutungen, auf denen die Papierproduktion basierte. Deutlich werden hiermit die engen Verflechtungen der Produktion und Weitergabe von Wissen mit den umgebenden wirtschaftlichen und politischen Systemen, deren Funktionsweisen und Dysfunktionen. Nahm das NS-Regime 41  Siehe Die Theaterwissenschaft. Blätter zur Betreuung unserer im an, die Geisteswissenschaften könnten das Fernstudium problemlos durchfüh- Felde stehenden Kameraden, hg. v. ren, da die Vermittlung ihrer Inhalte weder «Zeichensaal» noch «Laboratorium» Theater wissenschaftlichen Institut der F riedrich Schiller Universität erforderte,43 so sprechen die Medien des Frontstudiums von der Abhängigkeit Jena, Bd. 1, Nr. 1 – 12, 1942 / 43, von materiellen Ressourcen sowie den Anstrengungen und Verwerfungen, die zu Universität Wien, tfm Archiv und Sammlungen, Sammlung Kinder- deren Mobilisierung nötig sind. Als Versorgungskette innerhalb der nationalso- mann, Box 230 / 108. zialistischen Autarkie- und Kriegswirtschaft scheint zudem nicht nur diejenige 42  Siehe Karl M. Swoboda: D eutsche Kulturleistungen in für Papier auf. Indem sie Propaganda und geistiges Futter zu den studierenden Böhmen und Mähren, in: Feldpost- Soldaten transportierten, waren die papiernen Lehrmedien zugleich Teil der Ver- briefe für Studierende der Geisteswissen- schaften, Nr. 1, 1943, 2 – 9; Viktor sorgungkette, die das NS-Regime unterhielt, um die Kampfmoral einer zukünf- Stegemann: Die Antike und wir, tigen Elite aufrechtzuerhalten und somit die staatlichen Expansionsbestrebun- in: Feldpostbriefe für Studierende der G eisteswissenschaften, Nr. 1, 1943, gen weiterhin zu gewährleisten. Weit wichtiger, als dem in einer unbestimmten 9 – 14. Friedenszeit drohenden Akademikermangel entgegenzuwirken, scheint es gewe- 43  Oberbefehlshaber der Luftwaffe [Rundschreiben, «Betr.: sen zu sein, den Soldaten Zukunftsaussichten aufzuzeigen und sie so zum Wei- Jungakademiker»], 11.9.1941, Uni- terkämpfen anzuhalten. Als das Deutsche Reich militärisch zunehmend in die versitätsarchiv der Friedrich-Schiller- Universität Jena, BA 2145, Nr. 1 – 3. Defensive geriet und die Niederlage sich immer stärker abzeichnete, kam dem 128 ZfM 27, 2/2022 FÜR, MIT UND AUF PAPIER Fernstudium und dessen Medien insofern eine maßgeblich systemerhaltende Abb. 4 Der Soldat «stud. phil. Funktion zu. Dass das Programm vor dem Hintergrund der weitreichenden Res- Ritter», inszeniert in einer Pausensituation direkt im Schüt- sourcenknappheit bewerkstelligt wurde, verdeutlicht die Relevanz der Geistes- zengraben, liest den Feldpostbrief wissenschaften für diese Versorgungskette umso mehr. des Reichsstudentenführers. Aus: Der Feldpostbrief des Reichsstu- Wenn sie nicht von den Hochschulen als Muster aufbewahrt wurden dentenführers, in: Die Bewegung, oder – wie im Falle des Heidelberger Rundbriefs – wegen Unzustellbarkeit Bd. 11, Nr. 10, 1943, 5 dorthin zurückgesandt wurden, verblieb der Großteil der Lehrmedien ver- mutlich im Feld. Was dort mit ihnen geschah, lässt sich nur schwer ermitteln. Die ohnehin knapp vorhandenen, für die Ausnahmesituation des Kriegs in ihrer Qualität gerade so ausreichenden Papiermedien mögen wieder beschrieben, für den Kriegsalltag umfunktioniert worden oder schlicht verrottet sein. Vom Werkstoff zum Medium zum Werkstoff Die preußischen Datenträger für die Volkszählung von 1871 wie auch die natio- nalsozialistischen Kompaktschriften für das Fernstudium im Zweiten Weltkrieg wurden von staatlichen Instanzen produziert und als Wissensmedien in Umlauf gebracht. Ausgangsort der entsprechenden Vorgaben für die Zusammensetzung, Bereitstellung und Verwendung des Werkstoffs war in beiden Fällen Berlin. Von hier aus umfasste die Reichweite der Papiertechnologien Akteur_innen, Materia- lien und Produktionsprozesse, welche die jeweils verhandelten Wissenspraktiken EXTRA 129 CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜSSLER mit sehr breiten gesellschaftlichen und politischen Kontexten verknüpften. Denn das jeweilig zum Einsatz kommende Papier diente auch als politische Technolo- gie, um neue Konzepte von Staatlichkeit durchzusetzen. Insofern weisen die skiz- zierten Fallbeispiele bedeutsame Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien auf. Doch auch die Unterschiede springen ins Auge. Die preußische Zählkarte setzte neue Standards der Genauigkeit, um den Geltungsanspruch des gerade gegrün- deten Deutschen Reichs statistisch zu untermauern. Bei aller Kontrolle über die Herstellung des Datenträgers und die Erzeugung der Daten verlangte die Karte jedoch nicht nur Materialwissen, sondern auch Maßnahmen der Vertrauensbil- dung, weil sie die Mitwirkung der Gezählten implizierte. Die Lehrbriefe der NS- Feldhochschule versorgten die studierenden Soldaten mit geistiger Nahrung, um ihre Kampfmoral zu stärken und sie gleichzeitig auf die Expansionsstrategien des NS-Staates einzuschwören. Papiermedien sind so vielfältig, wie der ihnen zugrunde liegende Werkstoff in seinen materiellen Zusammensetzungen und Verwendungen flexibel ist. Immer neue Kontexte werden sichtbar, sobald man die materiellen Aspekte der Produk- tion, Verwendung und Wiederverwertung solcher Medien ebenso mitdenkt wie die Papiertechnologien des Beschreibens, Faltens, Schneidens oder Sortierens fertiger Papierprodukte. Produktion und Einsatz von Individualzählkarten und Feldpostbriefen stehen für die Fülle möglicher soziomaterieller und politischer 44  Joseph Vogl: Medien-Werden: Wissensgeschichten von Technologien für, mit und auf Papier. Galileis Fernrohr, in: Lorenz Engell, Joseph Vogl (Hg.): Mediale Histo- Versorgungsketten, Produktionsprozesse und Materialwissen rund um Papier- riographien, Weimar 2001, 115 – 124. medien und die mit ihnen verbundenen Technologien zu erforschen, b edeutet 45  Heike Weber: Zeit- und verlustlos? Der Recycling-Kreislauf nicht nur zu fragen, wer wann zu welchem Zweck welches Papier benötigt. als e wiges Heilsversprechen, in: Ebenso entscheidend ist die Reflexion, an welchem Punkt der Versorgungskette Z eitschrift für Medienwissenschaft, Bd. 12, Nr. 2, 2020, 20 – 32. die historische Analyse jeweils ansetzt und endet. Denn Versorgungsketten bein- 46  Dieser Aufsatz beruht auf halten eine zeitliche Dimension. Sie deuten darauf hin, dass Medien aus Dingen einem gemeinsamen Vortrag im Rahmen der im Sommersemester oder Instrumenten nicht allein in historisch spezifischen epistemischen, techni- 2021 von Christine von Oertzen und schen, sozialen, institutionellen Konstellationen entstehen. Medien «werden» Viktoria Tkaczyk an der Humboldt- Universität zu Berlin organisierten nicht nur im Verlauf ihrer Nutzung, Umdeutung und Wahrnehmung.44 Ebenso Ringvorlesung Die Rohstoffe der resultieren sie aus Prozessen der materiellen Herstellung sowie Weiterverwer- Medien: Globale Material-, Wissens- und Techniktransfers. Wir danken den tung. Medien sind Bestandteile ökonomischer Verkettungen. Sie entstehen und Teilnehmer_innen der Vorlesung vergehen – allerdings nicht ohne signifikante materielle Verluste, Aufwendungen für Fragen, Viktoria Tkaczyk für K ommentare zu diesem Text, von Energieressourcen und Arbeitskräften.45 Besonders deutlich wird dies an Pa- Laura Selle für das Lektorat und piermedien. Vom Werkstoff zum Medium und zurück zum Werkstoff können sie der R edaktion der ZfM für weitere wertvolle Anregungen. vergehen, wie sie vormals werden.46 — 130 ZfM 27, 2/2022 — DEBATTE Transformationen des Wissenschaftssystems: 1989 ff. — 132 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140212. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION»    Über den Umbruch in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft   seit 1989 und die Folgen bis heute DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN im Gespräch mit MANUELA KLAUT und JANA MANGOLD Dorothea Dornhof, Peer Pasternack und Gerd Geschichte und mit gebrochenen Wissenskulturen Z immermann haben die Transformation des ost- zu beschäftigen. Gerd Zimmermann lehrte und deutschen Wissenschaftssystems nach 1989 unmit- forschte 1989 als Oberassistent am Wissenschafts- telbar erlebt und sie zum Teil auch wissenschaft- bereich Theorie und Geschichte der Architektur lich ausgewertet. Dorothea Dornhof arbeitete 1989 an der Hochschule für Architektur und Bauwesen am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) der (HAB) in Weimar. 1992 wurde er dort Professor für Akademie der Wissenschaften der DDR, einem Entwerfen und Architekturtheorie und kurz darauf bis dahin einmaligen geisteswissenschaftlichen zum Rektor gewählt. In drei Amtszeiten leitete er Forschungsinstitut im deutschsprachigen Raum. maßgeblich die Umstrukturierungen der Weimarer Im Gespräch berichtet sie von den Aktivitäten im Hochschule zur Bauhaus-Universität Weimar. Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung In unserem Gespräch,1 das wir im April 2022 sowie von ihrem Weg nach 1989, der sie auch als geführt haben, geht es um Wissenschaftsstruk- wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Kulturwis- turen, die mit den politischen Ereignissen der senschaftliche Institut der Humboldt-Universität ‹Wende› zerbrachen, um Themenspektren, die neu zu Berlin führte. Peer Pasternack war 1989 Vertreter aufgestellt wurden, und um Lehrinhalte, die sich der Studierendenschaft der Universität Leipzig und e lementar veränderten. Dieser Round Table ist der hat den Umbauprozess in den Universitätsgremien Auftakt zu einer Gesprächsreihe mit Wissenschaft- miterlebt. Als Soziologe und Zeithistoriker sowie ler_innen und Künstler_innen über die Entwick- als Direktor des Instituts für Hochschul forschung lung der Medien- und Kulturwissenschaft Ost /West Halle-Wittenberg (HoF) hat er seither nicht auf- seit 1989, die in loser Folge auf der Webseite der gehört, sich mit dem Stand der Wissenschaften ZfM veröffentlicht werden soll. in Ostdeutschland, der Vermittlung der DDR- —  DEBATTE 133 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Manuela Klaut  In Steffen Maus Buch L ütten Tisch saß, weil auch der Frauenanteil gering und Klein gibt es eine Stelle, mit der wir ins die Frauen- und Geschlechterforschung in der G espräch einsteigen möchten. Da ist die Rede Akademie kaum vertreten war. von den Transfereliten, die zur ‹Wendezeit› Was die Kontakte angeht, muss ich etwas von West nach Ost kamen: weiter ausholen und auch etwas auf die Geschich- te des ZIL eingehen. Es ging aus dem Institut Zwar wurden keinesfalls alle gesellschaftlichen für romanische Sprachen und Kultur hervor, Leitungsfunktionen von Westdeutschen über- nommen, doch […] für die Nachwendezeit das Werner Krauss 1950 gegründet hatte, dem galt die Formel: Je höher, je einflussreicher, je von Theodor Frings begründeten Institut bedeutsamer die Position war, desto wahrschein- für deutsche Sprache und Literatur und dem licher wurde sie mit jemandem aus dem Westen von Hans Holm Bielfeldt gegründeten Institut besetzt. Und das betraf nicht nur Politik und für Slawistik. Und es war ganz im Sinne des Wirtschaft, sondern auch Behörden, Gerichte, Universitäten, Medien oder die Bundeswehr. Die Aufk lärungsforschers Krauss einem epochen- ‹Westimporte› wurden mit Zulagen und Ver- geschichtlich vergleichenden, Geschichte und günstigungen in den ‹nahen Osten› geschickt. Theorie integrierenden Konzept von Literatur- […] Für die Alteingesessenen bedeuteten sie geschichte verpflichtet. Als Gründungsdirek- häufig eine Art Erstkontakt mit dem Westen. tor wurde 1969 der berühmte Brecht-Forscher […] Einen solch umfänglichen Elitenaustausch hat kein osteuropäisches Land erlebt.2 Werner M ittenzwei ernannt. Forschungsschwer- punkte waren z. B. europäische Aufklärung, Uns interessiert die Perspektive Ihres deutscher Vormärz, Exilliteratur und Faschismus, ‹Erstkontakts› auf wissenschaftlichem Gebiet. europ äische Avantgarde, Kunst und Kultur Wie haben Sie den erlebt? der Weimarer Republik.4 Als interdisziplinäres, Dorothea Dornhof  Also ich hatte meinen Erst- k omparatistisch arbeitendes literaturgeschicht- kontakt mit westdeutschen oder anderen, franzö- liches Institut hatten wir Kontakte zu west- sischen oder amerikanischen Kolleg_innen nicht deutschen Wissenschaftler_innen, die sich in erst nach der ‹Wende›, sondern schon während einer kritischen marxistischen Tradition veror- der Zeit der DDR, vor allem im Rahmen unserer teten oder einfach Interesse am wissenschaft- Konferenzen am ZIL. Aber diese Kontakte haben lichen Dialog hatten. So waren vor allem auf sich nach der ‹Wende› ziemlich verändert. den jährlichen ‹Aufklärungs-Kolloquien› Klaus Ich sage nicht so gern ‹Wende›. Es war auch R. Scherpe, Gert Mattenklott, Michael Nerlich, nicht der ‹Fall der Mauer›. Das assoziiert eher Helmut Lethen oder Hans Ulrich Gumbrecht etwas Passives. Wir hatten die friedliche Revo- unsere Gäste. lution, in der die Bürger_innen der DDR ein Bei der Evaluierung des Instituts durch den System zu Fall brachten, einen Herbst und ein Wissenschaftsrat 1990 kamen Wissenschaftler Frühjahr der Anarchie und der demokratischen zu uns, die eher unkundig der DDR gegenüber Experimente. In diesem Umbruch wurde auch waren und nach westdeutschen Evaluierungs- an der Akademie der Wissenschaften, zu der kriterien bewerteten. Sie galten zwar als Exper- das ZIL gehörte, ein Runder Tisch initiiert, der ten, hatten aber keine Expertise für die ost- an einer Strukturreform arbeitete und in einem deutsche Wissenschaftskultur.5 Dieser Kontakt demokratischen Verfahren das Präsidialbüro ab- war hierarchisierend und entwürdigend. Es ging löste, sodass ein neuer Präsident gewählt werden ja um unsere Existenz, und wir hofften auf ein konnte.3 Wir haben die Initiative Frauen in der institutionelles Weiterleben im Rahmen demo- Wissenschaft gegründet, die mit am Runden kratischer Reformen. 134 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» Gerd Zimmermann  Mein Erstkontakt mit den Problem, verspürte keinerlei Ressentiment. westlichen Kollegen und Kolleginnen war Im Gegenteil war diese Öffnung mit dem Fall reiner Kontakt mit den Texten der Autoren und der Mauer für mich nichts als Befreiung. Was Autorinnen. Ich habe die gelesen, und zwar nicht heißt, dass dann die Dinge, die sich ereig- unendlich viel. Ich habe mich mit Architektur- net haben, problemlos und kritikfrei wären. Psychologie und Architektur-Semiotik be- Peer Pasternack  Ich war damals einer der Studen- schäftigt, denn ich war in Weimar Teil einer tensprecher der Uni Leipzig. Insofern bestand kleinen Gruppe von Leuten, die im Rahmen der der Erstkontakt mit Scharen an westdeutschen Prom otion begonnen hatten, Architektur als Studierenden, vornehmlich Studierenden-Funk- Kommunikationsmittel zu begreifen. Die Idee tionären, also Leuten aus ASten westdeutscher war, alle Wissenschaften heranzuziehen, die Hochschulen. Die kamen nach Leipzig, da die Erklärmodelle bereitstellen, um diesem Fokus Stadt von Christoph Hein am 4. November ’89 der Architektur als Vermittlungsinstanz und zur Heldenstadt ernannt worden war. Sie wurde B edeutungsträger ein wissenschaftliches Fun- das bevorzugte Ziel von Polit-Touristen, die sich dament zu geben. Ich saß also in Bibliotheken über die Umbrüche informieren wollten. Ebenso und las Bücher, Bücher, Bücher. Aber ich kannte hatten wir in den ersten Monaten nach dem keinen einzigen Autoren und keine einzige Mauerfall viele Einladungen. Wir hätten ununter- Autorin dieser Bücher persönlich. Ich war nicht brochen durch den Westen touren können, weil in der Partei – das hatte ich abgelehnt –, also es da so ein Informationsbedürfnis gab.6 kein ‹Reisekader›, kein Westreisender. Zu intensiveren Kontakten mit Wissenschaft- Direkte Kontakte hielten sich sehr in Gren- lern und Wissenschaftlerinnen ist es dann erst zen. Ich hatte sie eigentlich nur bei Konferenzen nach der Abwicklung gekommen. Die war im De- in der DDR oder in Prag, in Brünn oder in Sofia. zember 1990. In der Rückschau fließt das ja alles Einige dieser seltenen Frühkontakte aber sind so zusammen: also 9. Oktober ’89 in Leipzig,7 mir sehr wichtig gewesen: z. B. Silvano Custoza, Mauerfall im November, dann die Abwicklung ein Soziologe, den ich auf einer Konferenz des Wissenschaftssystems der DDR im Dezem- in Dessau kennenlernte, vor allem aber Kari ber 1990, d. h. die Schließung von entweder J ormakka, Finne und exzellenter, überaus inspi- für systemnah oder für überflüssig erachteten rierender Philosoph und Architekturtheoretiker. Bereichen an den Hochschulen. Man nutzte die Ich traf ihn, als er Weimar in den 80ern besuch- Abwicklungsmöglichkeiten aus dem Einigungs- te, und habe ihn später als ‹Gropius-Professor› vertrag, wo es dann unterschiedliche Deutungen an die Bauhaus-Universität berufen. Ich sollte darüber gab, ob diese wirklich für Wissenschaft erwähnen, dass ich schon während des Studiums gedacht waren oder nicht eher für vermeintlich in Weimar in einer internationalen Community überbesetzte Finanzämter. Schließlich kamen, gelebt habe. Meine Freunde und Freundinnen um die Aufrechterhaltung des Studienbetriebs zu waren und sind aus dem Ausland: aus Griechen- erleichtern, in der Abwicklungsphase westdeut- land, Italien, Frankreich und weiteren Ländern. sche Professoren und Professorinnen. Die wurden Sie waren damals meist delegiert von Freund- zum Teil von Stiftungen entsandt. schaftsgesellschaften der kommunistischen 1991 begann der Neugründungsprozess Parteien. Meine Denkungsart, würde ich sagen, für die Politikwissenschaft und die Soziologie, ist kosmopolitisch. Vielleicht nicht zuletzt, weil an dem ich beteiligt war. Und da gab es dann ich ein Altsprachler bin. Insofern hatte ich auch interessante Erfahrungen: vom Gründungs- mit dem Kontakt zum Westen überhaupt kein dekan Wolfgang Schluchter, dem Heidelberger DEBATTE 135 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Soziologen, über einen Rechtssozialdemokraten, aber man hat auch gute und sehr gute Partner Carl-Christoph Schweitzer bis hin etwa zu und Partnerinnen gefunden. Man fragt sich das Sigrid Meuschel. Schluchter schätzte es, dass es immer: Gibt es da so eine Art Sozialisations- überhaupt Leute gab, die sich engagieren. Dank prägung, die bedeutet, dass die Westdeutschen Schluchter wurde allgemein akzeptiert, dass ich schon von ihrer mentalen Disposition her als kaum Seminare besuchte, weil ich Hochschulpo- ‹Eroberer› gekommen sind? Natürlich hat es litik machen und in Kommissionen herumsitzen diese Fälle gegeben. Meine dominierende Erfah- musste. Carl-Christoph Schweizer aber hat mich rung aber ist eine andere. Ich habe die West- deswegen fast durch eine Prüfung fallen lassen. kollegen und -kolleginnen als Teilnehmende in Der fand wohl mein Engagement etwas einseitig. einem gemeinsamen Projekt der Neuformierung Eine der Erstberufenen am neu gegründeten der Wissenschaften und Künste, ja der Neu- I nstitut für Politikwissenschaft dagegen unter- er findung einer ganzen Universität erlebt. stützte zwei Jahre lang mit ihrer Spende die von uns 1991 gegründete Zeitschrift hochschule ost.8 J.M.  Das ist interessant. Bei Gesprächen über Das war Sigrid Meuschel, die wie alle westdeut- diese Transformationsjahre hört man immer schen Beamten ‹Busch-Zulage› bekam und das wieder, dass sich ’92 noch einmal etwas än- einfach ungeheuerlich fand. Diese Zulage hat derte in den Kontakten. Es muss ja eine rege sie dann für einen guten Zweck spenden wollen, Einladungspolitik gegeben haben von west- und das war unsere Zeitschrift. deutschen Kolleg_innen an die ostdeutschen Wissenschaftler_innen. Anscheinend hat je- Jana Mangold  Aus Ihren Erläuterungen höre doch nach einer gewissen Zeit der Aufregung ich heraus, dass es ein starkes Interesse und vielleicht auch der gemeinsamen Ideen füreinander gab und auch für die Idee, zu- das große Interesse, miteinander ins Gespräch sammenzukommen. zu kommen, nachgelassen. War das so? P.P.  Okay, also damit es nicht zu harmonisch D.D.  Natürlich gab es unmittelbar nach 1989 klingt, muss ich die Bandbreite ergänzen um nach der ‹Wende› gerade von feministischen einen Figurentypus. Wir hatten in Leipzig einen Wissenschaftlerinnen viele Anfragen zu Tagun- Gründungsdekan für Rechtswissenschaft. Der ist gen und Workshops, z. B. die Konferenz «Frau- aufgetreten wie ein Wehrmachtsoffizier, s odass der en – Literatur – Revolution» auf Einladung der sächsische Wissenschaftsminister Hans Joachim Romanistin Helga Grubitzsch.9 Ich hatte vor der Meyer ihn nach acht Wochen wieder entlassen ‹Wende› bereits Kontakt mit der Hamburger hat. Es war wirklich eine ziemliche Bandbreite, Arbeitsstelle Feministische Literaturwissen- und ich würde insofern dem Satz «Aber überwie- schaft: Sigrid Weigel und Inge Stephan. Hier gend war es doch schön» nicht zustimmen. gab es Interesse an ostdeutschen Frauen- und G.Z.  Ich kann vielleicht noch hinzufügen, dass Geschlechterforscherinnen und deren wissen- der Kontakt mit den Fachkollegen und -kolle- schaftlichen Perspektiven, und sie haben uns ginnen grundsätzlich den Charakter der freund- zu Konferenzen eingeladen und versucht, eine schaftlichen Interaktion hatte. Ich habe dann deutsch-deutsche oder Feminismus-Feminis- aber, als ich 1992 als Rektor begonnen habe, mus-Kommunikation herzustellen, mit fachlich natürlich auch mit Beamten und Beamtinnen zu sehr interessanten, aber auch kontroversen tun gehabt, die ‹Busch-Zulage› bekamen. Und D iskussionen.10 Es gab Anknüpfungspunkte im da muss ich sagen: zwiespältig. Man hat eher feministischen Diskurs, aber auch Differenzen. weniger taugliche Charaktere dort gefunden, Wir hatten ja – wie Sie es auch beschrieben 136 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» Abb. 1 Studierendendemonstration am Herderplatz 1990, Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/1/293 haben, Herr Zimmermann – die Texte alle ge- Und er konnte das durchsetzen. Er steckte voll lesen. Ich kannte die gleichen Texte wie meine im System. Aber er war zugleich ein absoluter westdeutschen Kolleg_innen. Wir konnten uns Idealist, der die DDR reformieren wollte. Dies an der Akademie Literatur zuschicken lassen. hat mich mit ihm verbunden. Das war natürlich ein großes Privileg durch eine D.D.  Über die Akademie bekam man Fernleihen Sonderregelung beim Zoll. Und da wir alle mehr recht unkompliziert. oder weniger Freund_innen und Kolleg_innen P.P.  Aber diese Frage bezüglich der Kontakte im Westen hatten, bekamen wir auch die Litera- und der Literatur würde Ihnen möglicherweise tur, die international verfügbar war. von drei anderen Leuten, die hier sitzen könn- G.Z.  Das ging uns auch so. Also das dauerte ten, völlig anders beantwortet werden, weil alles furchtbar lange. Fernleihe-Prozedur und so. die nicht an der Akademie, nicht in Berlin, nicht Das war umständlichst. im Strahlungskreis von Bernd Grönwald oder D.D.  Ja, Fernleihe in der Bibliothek nur mit Son- in Leipzig waren, sondern weil die vielleicht dergenehmigung. an der Pädagogischen Hochschule in Zwickau G.Z.  Eine Sondergenehmigung brauchten wir saßen oder bei den Nordeuropawissenschaften in nicht, weder in Weimar noch in Berlin. Mein Greifswald und dort eine ganz andere polit ische Chef in Weimar, Bernd Grönwald, wollte Beaufsichtigung stattfand. Da muss man die ohnehin, dass wir unbegrenzt forschen können. örtlichen und institutionellen Konstellationen DEBATTE 137 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD im Blick behalten, aber auch die Zeiten – die in der DDR und in Osteuropa konzentrierten, 80er Jahre waren anders als die 70er. hing damit zusammen, dass geplante Projekte der deutsch-deutschen Forschung, wie z. B. ein M.K.  Frau Dornhof, Sie sprachen zuvor davon, DFG-Projekt zu kulturellen Selbst- und Fremd- dass es auch schwierig war, bei den Konferen- wahrnehmungen von Frauen im Demokratisie- zen zu Beginn der 1990er Jahre eine deutsch- rungsprozess, nicht zustande kamen. Inzwischen deutsche Feminismus-Kommunikation war die Akademie der Wissenschaften abge- her zustellen. Welche Probleme sind Ihnen wickelt und viele Kolleginnen an der Universität fachlich begegnet? wurden arbeitslos, sodass wir Konkurrentinnen D.D.  Das große Interesse an einem Informa- auf dem akademischen Arbeitsmarkt wurden. tions- und Begegnungsaustausch zu Frauen und Aber das ist nur einer der Gründe für gegen- Wissenschaft in Ost und West ließ schon in seitige Enttäuschungen. den frühen 90er Jahren allmählich wieder nach. Ich hatte eigentlich Glück, auf der letzten Die Gründe dafür sind vielfältig und umspan- Tagung «Jüdische Kultur und Weiblichkeit in nen politische, mentale, methodische als auch der Moderne» des Hamburger Arbeitskreises in konkurrenztechnische Perspektiven. In der Essen im Dezember 1990 Christina von Braun DDR gab es bereits seit den frühen 80er Jahren kennengelernt zu haben. Sie erhielt 1994 einen Arbeitskreise zur Frauen- und Geschlechterfor- Ruf als Professorin an die HU und ich wurde spä- schung, wie den Interdisziplinären Arbeitskreis ter ihre Assistentin. So konnte ich mich 2002 am an der Humboldt-Universität, geleitet von der Institut für Kulturwissenschaft habilitieren. Inge Kulturwissenschaftlerin Irene Dölling, aus dem Stephan kam auch 1994 als Professorin an die 1989 das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- HU und Sigrid Weigel wurde 1999 an das von forschung hervorging. Auch an den Universitä- Erhard Lämmert 1996 begründete Z entrum für ten Leipzig, Erfurt, Jena oder Rostock gab es in- Literaturforschung (ZfL) als Direktorin berufen, offizielle und offizielle Arbeitsgruppen, in denen wo einige Wissenschaftler_innen aus dem lite- theoretische Fragen der Kunst und Wissenschaft raturgeschichtlichen Akademieinstitut weiterar- von Frauen in den verschiedenen Disziplinen beiten konnten und wo vor allem das Projekt diskutiert wurden. Die Berliner Germanistinnen der Ästhetischen Grundbegriffe zum Vorzeigepro- Hannelore Scholz und Eva Kaufmann gründeten jekt in der deutsch-deutschen Wissenschaftsver- im Frühjahr 1989 den Arbeitskreis Literatur- einigung wurde.11 Das bereits seit 1983 entwickel- wissenschaftliche Frauenforschung an der HU te innovative Konzept einer Begriffsg eschichte und organisierten einen Austausch mit Literatur- grenzte sich von der deutschen Geistes- und wissenschaftlerinnen der Freien Universität. Ideengeschichte ebenso ab wie von der dogmati- Bereits in den 1990er Jahren gingen diese von schen marxistischen Ästhetik. Vor dem Horizont Neugier und Lust am Dialog geprägten Treffen kultureller Umbrüche, wie der Postmoderne, in Fremdheit und Unverständnis zwischen den den neuen Medientechnologien und der Ästheti- Wissenschaftlerinnen über. Es gab kaum Zeit sierung des Alltags, ging die Rekonstruktion der und Interesse, sich über Differenzen zwischen Geschichte ästhetischer Begriffe und ihres Be- den Frauen aus Ost und West sowie über die deutungswandels von gegenwärtigen Erfahrun- Differenzen der verschiedenen feminist ischen gen aus, orientierte sich an einem Ästhetikbegriff Theorien und Methoden zu verständigen. Dass im Sinne von aisthesis, nicht mehr am ‹System der sich die Ost-Wissenschaftlerinnen stärker auf die Künste› und der philosophischen Ästhetik. Mit Untersuchung von Geschlechterv erhältnissen der ‹Wende› kamen neue Mita rbeiter_innen und 138 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» neue Herausgeber aus dem Westen hinzu, aus Großplattenbau dominiert gewesen sei. Das der Poetik-und-Hermeneutik-Gruppe der führte dazu, dass das Wissenschaftsministerium Konstanzer Schule, mit der sich die DDR- 1990 oder 1991 unbedingt wollte, dass drei Neu- Wissenschaftler_innen bereits kollegial-kritisch berufungen im Bereich des Entwerfens vorge- auseinandergesetzt hatten, z. B. mit der Rezep- zogen werden. Das machten wir dann auch. So tionsästhetik von Hans Robert Jauß.12 So hat fehlschlüssig das Motiv war, so gut waren dann sich viel verschoben im ursprünglich emanzipa- aber auch diese frühen Neuberufungen. torischen Ansatz, der sich vor internationalem An dem Begriff der Platte kann man ganz Horizont gegen wissenschaftliche Verengungen schön studieren, wie solche Klischees als in der DDR richtete, aber eben auch in West- Projektion wirken, und die waren bei einigen deutschland, und auch konzeptionell hat sich West-B eamten und -Beamtinnen fest eingerastet. Einiges verändert.13 Es gab Spannungen und kri- Das war natürlich ein Zerrbild. Es gab viel- tische Auseinandersetzungen, vor allem um das leicht ein oder zwei ‹Platten-Päpste›, die nicht Verhältnis von Geschichte und Gegenwart, aber begriffen hatten, dass man damit auch anders auch um konkrete Begriffe wie ‹Kultur› oder umgehen kann und muss. Und natürlich war der ‹ästhetische Kultur›.14 Ich hatte noch vor 1989 realsozialistische Plattenbau städtebaulich hoch den Herausgebern angeboten, als Co-Autorin für problematisch, zumal er den Verfall der Altstädte bestimmte Begriffe, wie z. B. Fantasie, Sensibi- in seinem Schatten mitführte. Das Studium der lität, Kreativität, mitzuwirken, um das historisch Architektur hat der Plattenbau jedenfalls nicht eingelagerte Geschlechterwissen herauszuar- dominiert. Und in der Konzeption des Groß- beiten. Das wurde so nicht akzeptiert. Allerdings plattenbaus steckt, wenngleich simplifiziert und konnte ich in einem umfangreichen Artikel zu man könnte auch sagen korrumpiert, der alte ‹Weiblichkeit› die feministische Wissenschafts- Gedanke des ‹Baukastens im Großen›, den schon kritik im ästhetischen Diskurs einbringen.15 Walter Gropius verfolgte und der heute als Kon- zept rationellen Bauens wieder höchst interessant M.K.  Herr Zimmermann, welche Umstruktu- ist. Wir haben immer wieder das fatale Wirken rierungen vollzogen sich nach 1989 / 90 in der der Kurzschlüsse. Vielleicht lässt sich da auch Architektur? Gab es in der wissenschaftlichen eine Parallele ziehen von der ‹Platte› im Bereich Begegnung Vorurteile oder beiderseitige der Architektur zum Marxismus-Leninismus Missverständnisse, die im besten Fall produk- (ML) im Bereich der Philosophie? tiv ausgingen? D.D.  Ich würde gern betonen, dass das DDR- G.Z.  Wichtig ist mir eigentlich, Pauschalisierun- System während der 40 Jahre kein homogenes gen zu vermeiden. Es gab beispielsweise dieses war, sondern man sollte konkret schauen, was Klischee der ‹Platte›. Das ist ja ein interessantes sich in den jeweiligen Jahrzehnten in dem Ver- Thema für die Architektur, die Stadtplanung, hältnis von Modernisierung und Politisierung die Soziologie. Für manchen im Westen war und von Differenzierung und Entdifferenzierung die DDR auf dem Gebiet der Architektur ‹die verändert hat. So kann man auch während der Platte›. Und das ist natürlich eine Pauschalisie- Transformation verschiedene Phasen unterschei- rung, die man zurückweisen muss. Und so ging den. Und natürlich ist sehr bedauerlich, dass es auch bei der Begutachtung der Fakultät ein kritischer Auseinandersetzungsprozess, der Architektur in Weimar nach 1990 um die Frage zwischen 1989 und 1991 innerhalb der Wissen- der Entwurfsfähigkeit, und da begegnete einem schaft begonnen hat, nicht fortgeführt wurde. dann schon das Vorurteil, dass die Lehre vom In der Literatur- und in der Kulturwissenschaft DEBATTE 139 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Abb. 2 Hörsaalgebäude (abgerissen), Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/1/1551 fragten wir uns: Was haben wir innerhalb der Wir hatten durchaus plurale marxistische konkreten Verhältnisse bewirkt? Wo haben wir Positionen in der DDR und es gab diesen versagt, wo haben wir geschwiegen und verraten? ‹ML› – Marxismus-Leninismus –, den seit 1955 All das.16 Aber der Prozess wurde ja überlagert Studierende aller Fachrichtungen absolvieren von diesen Pauschalurteilen und Stereo typen, mussten. Dabei handelte es sich um einen speku- die dann auch mit den Evaluierungsprozessen lativen Weltanschauungs-Marxismus, der in zusammenhingen. Da ging es nicht um die undialektischer Weise die Wirklichkeit verklärte. wissenschaftlichen Leistungen, sondern um Seine Funktion bestand darin, das Herrschafts- ‹Staatsnähe›, um ein im Westen angenommenes systems zu legitimieren. In Unkenntnis dieser Marxismus-Verständnis, das bei den Mitgliedern Differenzen und der historischen Dimensionen der Kommissionen vorherrschte. Bei denen also, und Veränderungen der DDR-Gesellschaft die entscheiden sollten über Wissenschaftler_in- kamen Normen und Maßstäbe der westlichen nen aus dem Osten, ohne zu bedenken, dass Dominanzgesellschaft zur Anwendung. auch in der DDR kritisches marxistisches Denken Damit sage ich nicht, dass ‹alles schön› war. v erfolgt wurde. Bedeutende Wissenschaftler_in- Das Verhältnis von Anpassung und Widerstand nen verloren ihre Professur und wurden aus musste ständig in individueller Verantwortung der Akademie der Wissenschaften ausgeschlos- neu austariert werden. Wir hatten es mit den sen, wenn sie kritische Vorlesungen hielten.17 Anforderungen des Kontrollapparats zu tun, die 140 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» wir versuchten für unsere Projekte zu über- G.Z.  Aus Sicht des Bauens, der Architektur und setzen. Es gab ja nicht nur den SED-Apparat. allem, was damit zusammenhängt, waren die 60er Das Kon trollsystem der Partei drang über die eine große Öffnung. Es war der Durchbruch Einrichtung wissenschaftlicher Räte und über der Moderne, es ging um den Wiederaufbau der die Abteilung Wissenschaft beim Zentralkomitee Stadtzentren. Das war eine sehr lebendige Szene der SED (ZK) bis in die eigene wissenschaftliche in der DDR. Doch mit der Deklaration des Institution und in die eigene wissenschaftliche W ohnungsbauprogramms Anfang der 70er ist das Arbeit ein. Auch über die Kader-Politik wurden Baukastenprinzip Gropius’ sofort so minimiert Hierarchien unter den Wissenschaftler_innen worden und zusammengeschnurrt, dass es zu implantiert, die Möglichkeiten begrenzten diesem absolut trivialisierten Massenwohnungs- oder erweiterten. Die Kolleg_innen, die in den bau wurde. Und das führte dazu, dass über W esten reisen konnten, hatten ganz andere Alternativen zu dieser Architektur praktisch Chancen, sich mit der internationalen Scientific nicht mehr geredet werden konnte. Community auseinanderzusetzen und daraus D.D.  Ich würde Ihnen gern widersprechen. zu profitieren. Die 60er Jahre waren für Kultur, Literatur und Wissenschaften ein problematisches Jahrzehnt. J.M.  Es kam schon einige Male zum Ausdruck, Da gab es das berühmte Kahlschlag-Plenum, das die verschiedenen Jahrzehnte, die verschie- 11. Plenum des ZK der SED 1965, wo eine ganze denen Zeiten bedeuteten für die Wissenschaft Jahresproduktion von DEFA-Filmen abgesetzt, in der DDR auch verschiedene Formen der verboten wurde und das auch in den Kunst- und Offenheit. Wie haben Sie das wahrgenommen? Kulturwissenschaften zu widerstreitenden De- P.P.  Das war definitiv so. Die 80er Jahre waren batten geführt hat und wiederum auch zu neuen anders als die 70er, die 70er anders als die 60er, Kontrollmechanismen. Es war ein inszenierter und innerhalb der 70er gab es zwischen einer Kulturkampf gegen Künstler_innen und Schrift- gewissen Öffnung ab 1971 und der Biermann- steller_innen, um von der politischen Krise Ausbürgerung 1976 auch eine Wellenbewegung. des Systems abzulenken. Die Theorieentwick- Für die Hochschulen waren vor allem die Hoch- lung und die Kunstpraxis wurden in den 60er schulreformen wichtig. Die erste, 1946 bis 1948, Jahren eher stark beschädigt. Es gab mehr Ver- wurde als ‹antifaschistisch-demokratische Um- bote und Zensur als Anfang der 70er Jahre. gestaltung› bezeichnet. Sie zielte auf die Öffnung Um noch einmal auf die Akademie der Wis- der Hochschulen für Arbeiter- und Bauernkinder senschaften zu verweisen, wo die latente Be- sowie auf die Etablierung des ML im Hochschul- drohung kritischen Denkens durch das politische betrieb. Das wurde mit der II. Hochschulreform krisenhafte System immer auch Elemente 1952 verschärft. Im selben Jahr waren die Länder seiner Überwindung hervorbrachte: 1951 wurde aufgelöst worden. Das Hochschulwesen wurde das Institut für Gesellschaftswissenschaften fortan zentralstaatlich gesteuert. Die III. Hoch- gegründet, später hieß es sogar Akademie für schulreform, die auch eine Akademiereform war, G esellschaftswissenschaften beim ZK. Mit der begann 1967 und war ambivalent: Die verbliebene Hochschul- und Akademie-Reform 1969 grün- Macht bürgerlicher Ordinarien an den Hoch- deten sie dort wissenschaftliche Räte für die schulen sollte neutralisiert, die Wissenschaft auf Gesellschaftswissenschaften. Alle Direktoren der Parteilinie gebracht, ihre Effizienz gesteigert und jeweiligen gesellschaftswissenschaftlichen In- Ulbrichts Wirtschaftsreform wissenschaftlich stitute der Akademie mussten dann monatlich bei abgesichert werden. Konferenzen erscheinen, bei denen Planungen DEBATTE 141 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD abgesprochen wurden usw. Das Zentralinstitut Proteste und im letzten Moment wurde der Ab- für Literaturgeschichte wurde während dieser wicklungsbeschluss vom Berliner Senat zurückge- Reform 1969 g egründet, und es sollte ein Leitin- nommen. Also da gab es eben auch Beamt_innen, stitut werden für die Germanistik, die Romanis- die glaubten, die Kulturwissenschaft müsse weg, tik, die Slawistik. Das entsprach überhaupt nicht weil die zu marxistisch war. dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Und dann hat sich die neue Berliner Kultur- dort Forschenden. Und es war auch nicht durch- wissenschaft gegründet. Im Bereich der Ästhetik 19 setzbar, es als Leitzentrum für andere Fachdis- blieben zwei Professorinnen aus der DDR, Karin ziplinen an den Unis zu installieren. Hirdina und Renate Reschke. Hirdina hat zur G.Z.  Und es gab Ästhetik heute Ende der 70er Jahre. historischen Avantgarde geforscht. Das waren D.D.  Ästhetik heute? Von den Berliner Kultur- Forschungsgebiete, die im Westen a nschlussfähig wissenschaftler_innen?18 waren – ‹anschlussfähig›? Hmm, sag ich jetzt G.Z.  Ja. auch schon – und Reschke war Nietzsche-Spe- D.D.  Darin stellte die Berliner Ästhetikschule zialistin. Weitere Professuren wurden dann mit der HU ihr Konzept vor, das auch die Ästhetik interessanten Wissenschaftler_innen aus dem des Designs und des Alltags umfasste. Westen besetzt. Christina von Braun, die die G.Z.  Genau. Medialität von Geschlechterverhältnissen und die D.D.  Ich habe als Studentin der Kulturwissen- Verbindung von Bild und Schrift, von Geschlecht schaft und Ästhetik an der HU noch Vorlesungen und Religion untersucht hat. Als Filmemacher- zur Geschichte der Ästhetik bei Wolfgang Heise in kam sie von außen. Sie hat Medien-Seminare gehört, der als Persönlichkeit und Wissen- angeboten, wo die Studierenden selber Filme schaftler maßgeblich den Studiengang prägte. herstellen konnten. Thomas Macho untersuchte Dort studierten wir bereits, wie Ästhetik eben Kulturtechniken und Hartmut Böhme arbeitete nicht mehr nur auf Kunst zentriert ist. Denn an einer anderen Moderne-Theorie. Also wir der Studien gang wurde 1963 mit einem weiten hatten da sehr interessante Linien, die sich unter- Kulturbegriff gegründet, der unter anderem an schieden von den kulturwissenschaftlichen An- Georg Simmel orientiert war, an seiner Unter- sätzen, die ich noch studiert hatte. Holger Brohm scheidung von subjektiver und objektiver Kultur. hat in einem Aufsatz zur Geschichte der Kultur- Wie sind Lebensbedingungen und Lebenswei- wissenschaft den stärker bedeutungsorientierten sen beschaffen, dass sich Individuen entwickeln Nach-‹Wende›-Kulturbegriff gegenüber dem können? Also die Kulturwissenschaft an der HU eher normativen in der DDR herausgestellt.20 war nach meinem Verständnis fast so etwas wie eine subversive Wissenschaft, weil die Persön- M.K.  Und wie erlebten Sie die Umbruchszeit lichkeit und das Individuum ins Zentrum der mit Ihren Kolleg_innen in den verschiede- theoretischen Untersuchung rückten. Denn das nen Institutionen und an den neu geformten Individ uum spielte ja im Sozialismus keine so Instituten? große Rolle und wurde nun dort zentral gesetzt. D.D.  Wir hatten am ZIL ungefähr 150 Mitarb ei- Interessant waren auch die Untersuchungen ter_innen mit allem Personal, und davon sind zu Massenkommunikation und Popkultur; die 15 Wissenschaftler_innen übrig geblieben. Die Kulturgeschichte nicht zu vergessen. kamen dann mit den Projekten, die sie in der Und zum Glück ist dann die Kulturwissen- Evaluierung vorlegten, an das neue, von der Max- schaft nach 1990 erhalten geblieben, obwohl sie Planck-Gesellschaft gegründete Zentrum für auch abgewickelt werden sollte. Es gab zahlreiche wissenschaftliche Neuvorhaben.21 Die anderen 142 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» Abb. 3 Studierendenproteste/Wendezeit, Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/3/1638 wurden arbeitslos. Für uns war ja die Möglich- 1989 auf 530 im August 1992 gesunken. Bis zum keit, sich bei anderen Institutionen zu bewerben, August 1992 ergingen von 138 Rufen für C4- und nicht so groß. Bei Naturwissenschaftler_innen C3-Professuren zwölf Rufe an Frauen.23 war das anders. Die konnten in die Fraunhofer- G.Z.  Ja, man darf die Dramatik, mit der das alles Gesellschaft z. B. Es existierte aber keine Kom- ablief, nicht übersehen, gerade wenn so eine patibilität für die Akademie der Wissenschaften. Institution wie die Akademie der Wissenschaften Das gab es im Westen nicht. Insofern mussten geschlossen wurde oder auch die Bauakademie. neue Institutionen gegründet werden, wie die Die ist ja mit meinem ehemaligen Institut für Geisteswissenschaftlichen Zentren.22 Dazu zählte Städtebau und Architektur auch komplett abge- auch das ZfL. Ich bekam noch an dem Zentrum wickelt worden. Heute können wir nur spekulie- für wissenschaftliche Neuvorhaben ein Postdoc- ren, wie die Zukunft ausgesehen hätte. Stipendium und bin für ein Semester in die USA In wenigen Fällen sind auch Hochschulen gegangen. Also für mich war das eigentlich eine abgewickelt, in allen Fällen aber einem Trans- gute Chance, hineinzukommen in die neue Welt. formationsprozess unterworfen worden. Mir war Aber für viele andere eben nicht, wenn man die es als Rektor wichtig, die Chance des Epochen- große Zahl der Wissenschaftler_innen sieht, die bruchs zu ergreifen und aus dem Strukturbruch arbeitslos wurden. An der HU z. B. ist der Anteil einen Aufbruch zu machen, als – sagen wir – kol- von 1236 Wissenschaftlerinnen im Dezember lektive Anstrengung einer ganzen Hochschule, DEBATTE 143 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD selbstverständlich nicht ohne auch massive Aus- Medien gegründet, die sozusagen das Folgepro- einandersetzungen über diesen Zukunftsweg. jekt war. Natürlich nicht wörtlich, aber struk- Der Wissenschaftsrat legte 1991 seine turell für diese Fakultät Informatik. Mit solchen Gutachten für alle akademischen Institutionen Umbrüchen hatten wir permanent zu tun. Die im Osten vor. Das Gutachten für die Weimarer Idee war: Nimm die Leute mit in den neuen Hochschule passte in meine Konzeption für Kontext. Entwickle aus dem neuen Kontext auch ihre Zukunft ziemlich gut hinein. Der Grund neue Impulse für das Fach. Und das gelingt war, dass es in der Kommission, die damals in dann natürlich nicht flächendeckend. Da gibt es W eimar tätig war, mindestens eins, zwei, drei Restbestände, die wegfallen.25 ganz kluge Leute gab, die das mögliche Zu- kunftsformat dieser Hochschule als «Unikat in M.K.  Herr Pasternack, würden Sie eine andere der deutschen Hochschullandschaft» begriffen, Geschichte der Abwicklung erzählen? Wie wie es der Wissenschaftsrat dann formulierte. haben Sie das von Leipzig aus erfahren? Gab Hier sollten, wie es schon einst das Bauhaus es Projekte bzw. Institute, die in ihrer Einzig- wollte, die Sphäre der Kunst und jene der Tech- artigkeit ganz wegbrachen? nik zu einer neuen Einheit gelangen können, P.P.  Das war alles höchst dramatisch. Und dann eine alte Utopie also. Zugleich sind auch Fakul- wieder muss man das auch etwas relativieren. täten abgewickelt worden. In der Wissenschaft bricht ständig irgendwas Nach dem Gutachten des Wissenschaftsrats weg, ohne dass es irgendjemand bemerkt. In mussten wir die Fakultät Informatik schließen.24 der Wissenschaft wird ja ständig auch irgendein Ich bin zum Vorsitzenden des Wissenschaftsrats Unsinn gemacht und es werden Ressourcen ver- gefahren, um den zu beknien, in einem Moment, geudet usw. Diese Art von ‹verschwenderischem› in dem es sozusagen auf der Straße lag, wie Verhalten braucht Wissenschaft aber, sie braucht wichtig dieses Fach Informatik werden würde. Probier-Routinen, und deshalb ist nicht jedes Und ich habe hinhaltend Widerstand geleistet. Drama, das individuell mit Berechtigung erzählt Doch es gab auch diese irrsinnige Situation, werden kann, immer auch ein großes Drama dass es 1995 in ganz Deutschland kaum Studie- für die Wissenschaft. Gerhard Schröder als Mi- rende für die Informatik gab, geschweige denn nisterpräsident von Niedersachsen hat 1995 die in T hüringen, wo die Technische Universität Informatik an der Uni Hildesheim aus ähnlichen Ilmenau, die Universität Jena und die Weimarer Gründen, wie sie gerade Herr Zimmermann Uni Informatik anboten. Da war entschieden geschildert hat, geschlossen. So etwas kommt worden: keine Fakultät in Weimar. So fand ich vor. Und wir haben 1991 auch eine extrem eines Tages einen Brief des Wissenschaftsrats vor, gestaltungsoffene Situation gehabt. In dieser in dem mitgeteilt wurde, das gesamte Entwick- hing es extrem davon ab, welche Personen mit lungskonzept für die Bauhaus-Universität stünde welchem Engagement und welchem Willen, erneut auf dem Prüfstand, wenn nicht augen- sich einzubringen, in dieses Spiel eintraten. blicklich die Erklärung erfolgt, dass diese Fakul- G.Z.  Wir wollten nicht, dass die Fakultät Infor- tät geschlossen ist. Da habe ich – das vergesse ich matik per Gesetz geschlossen wird; nicht vom natürlich nie – in Form einer Eilentscheidung als Landtag, nicht von außen, sondern wir wollten Rektor diese Fakultät geschlossen und mir vom intern die Potenziale umbauen. Und wir haben Senat anschließend die Bestätigung geholt. Die dann diese Informatik, die Professoren und hat er dann mehrheitlich auch gegeben. Und in Professorinnen sowie Mitarbeiter und Mitarbei- der gleichen Senatssitzung haben wir die Fakultät terinnen an die anderen Fakultäten angedockt 144 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» mit der Idee, die vorhandene Anwendungsori- Seite her Positionen besetzten, waren in dieser entierung der Informatik zu verstärken. Und Zeit häufig noch in ungesicherten Vertragsver- das war am Ende sehr richtig. Aber wichtig ist, hältnissen. Diese Situation führte dann zu einer dass man alles versucht, das nicht von außen Schieflage in den sozialen Anordnungen, in denen und pauschal machen zu lassen. Denn dann gibt Diskussionen stattfanden. Insofern gab es doch irgendeine Kommission, die eigentlich kein eine deutliche Synchronisation von innen und vitales Interesse hat, ein Urteil raus, das tödlich außen und Ost und West. Gleichzeitig kann man ist für die Mitarbeitenden und auch für dieses auch nicht sagen, dass dort, wo alle so aktiv waren gesamte Fach. In unserem Fall haben wir die wie Herr Zimmermann und die Leute an der Informatik in gewisser Weise gerettet, indem wir Bauhaus-Uni, auch alle die Chance hatten, das sie einfach selber umgebaut haben und zugleich genauso hinzukriegen wie die Weimarer. Es gab dem generellen Verdikt, die Informatik-Fakultät ja andere Institute mit ganz ähnlichem Engage- zu schließen, entgegengekommen sind. ment und dort lief das vollständig ins Leere, weil andere Konstellationen gegeben waren. Zum Bei- J.M.  Ich frage mich, ob das, was Sie gerade spiel, Herr Zimmermann, ist es mir bis heute ein als ‹von außen versus von innen umbauen› Rätsel, wie sowohl Sie als auch die Akteure und bezeichnet haben, nicht in vielen Fällen zusam- Akteurinnen in Ilmenau es hinbekommen haben, mengefallen ist mit der West- versus Ost- Ihre Hochschulen zu Universitäten zu machen Herkunft der Akteur_innen? Herr Pasternack, und zu verhindern, dass sie wie Mittweida oder können Sie aus Ihrer Überblicksforschung andernorts zu Fachhochschulen wurden – wahr- heraus sagen, ob Personen, die schon vor Ort scheinlich eine Thüringer Sondersituation. waren, den Umbau in einer gewissen Weise G.Z.  Das war noch vor meiner Zeit als Rektor, als sanfter betreiben konnten oder vielleicht auch diese Frage ‹Fachhochschule oder Universität› kreativer? Während es eher holzschnittartig behandelt wurde. Zwei Größen haben meines verlief, wenn die Beschlüsse von außen griffen? Erachtens dazu geführt, dass die HAB einrangiert P.P.  Die Unterscheidung von innen / außen wurde in den Status einer wissenschaftlichen wurde in diesem Kontext ziemlich relevant. Das Hochschule, die den Universitäten gleichgestellt ist zunächst nicht transformationstypisch für war. Erstens: Die Ingenieurwissenschaften in Ostdeutschland, sondern das gilt immer, wenn in Weimar waren hochentwickelt und international der Wissenschaft irgendetwas auf dem Prüfstand vernetzt. Dies galt z. B. für die Baustoffforschung steht. Dann versucht man eine Innen-außen- mit Prof. Dr. Jochen Stark. Es galt schon in den Konstellation herzustellen, um damit einerseits 60er Jahren für Prof. Matzke, einen Mathemati- Erfahrung, die aus dem Innen kommt, mit ker, der sehr früh Pionierleistungen in der Bau- andererseits Innovation, die vielleicht nicht von informatik in Weimar bewirkte und entsprechend innen kommt und also von außen organisiert ausstrahlende Konferenzen organisierte. Und werden muss, zusammenzuführen. Aber: Hier es galt, ohne dass die Nennung hier vollständig war es eine eindeutig vermachtete Situation – das wäre, in besonderer Weise für Prof. Erhard war die Besonderheit. Und es war klar, wer hier Hampe, international renommiert im Sektor der die Macht hat. Das war auch uns als Studieren- modernsten Baukonstruktionen. Zweitens: die denvertreter_innen schon deutlich bewusst. Die Tradition des Bauhauses, die seit Mitte der 70er machtvolleren Positionen waren westdeutsch Jahre auch in Weimar, dem Gründungsort, auf besetzt. Und das spielte unterschwellig durchge- Bernd Grönwalds Initiative hin intensiv erforscht hend eine Rolle. Diejenigen, die von ostdeutscher worden war. Diese beiden Faktoren bedeuteten: DEBATTE 145 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Diese Hochschule muss auf möglichst hohem schnell gehen. Ist das etwas, was Sie in dem wissenschaftlichem und künstlerischem Level ge- Moment auch als Eile gespürt haben und wo halten und entwickelt werden. Wir hießen dann Sie sich gesagt haben, eigentlich bräuchten wir noch HAB und ich wollte unbedingt einen neuen jetzt noch mal zehn Monate oder auch zehn Namen. Denn der Name deckte, insbesondere Jahre? Oder wurden die Entwicklungen im nach der Neugründung der Fakultät Gestaltung Allgemeinen eher mit Ungeduld angegangen, 1993, nicht mehr das Profil, das mir wichtig war: auch von Ihnen? Ingenieurwissenschaften und künstlerische Dis- P.P.  Man hätte sich für alles viel mehr Zeit ziplinen interagieren an einer Hochschule. gewünscht. – Es gab den berühmten Vermerk Der Begriff ‹Bauhaus› war die entscheidende des damaligen sächsischen Finanzministers Formel. Wir brauchten den Begriff in der Tat auf einer Rechnungshofbeanstandung: «Wird als Programm. Und den habe ich dann – mit bei der nächsten Wiedervereinigung a nders Unterstützung der Thüringer Politik – durchge- gemacht.» – Die Zeit gab es aber nicht. Ob das setzt und im gleichen Atemzug, na ja, den Coup so sein musste, darüber gehen die Meinungen gelandet, das Wort ‹Universität› danebenzu- auseinander. Zum Beispiel hätte man auch auf schreiben – was zu der Zeit noch ungewöhnlich die Altersstruktur vertrauen können. Dann war, aber doch auch möglich. Das hat niemand hätte sich ab 1995 die DDR-Professorenschaft auch nur einen Moment angezweifelt. Und sozusagen von selbst aufgelöst, indem sie inner- das hatte auch alles ein bisschen was mit Tempo halb von fünf Jahren fast komplett plan mäßig zu tun. Denn es ist alles wirklich in sehr intensi- in Rente gegangen wäre. Oder nehmen wir ver Entwicklung passiert. die Auswahl derjenigen, die für die Begutachtun- P.P.  Die Nutzung zeitlicher Dynamiken ... gen, für die Prüfungen von Institutskonzepten G.Z.  Ja. Man muss – im richtigen Moment muss usw. engagiert wurden. Der Umstand, dass man man es tun. die besten Fachvertreter und -vertreterinnen in P.P.  Genau. Und es ist wesentlich abhängig da- eine Kommission bekommen hatte, konnte von, wie viele Akutprobleme z. B. so ein Ministe- einerseits heißen, die kompetentesten Personen rium gerade zu lösen hat. Für Berlin, wo 25 Pro- zu haben, und andererseits waren das diejenigen, zent des gesamten Wissenschaftspotenz ials der die am wenigsten Zeit hatten, sich um diese DDR konzentriert waren, muss man bei allem, Kommissionsarbeit zu kümmern, weil sie die was der Senat dort auch in höchst problemati- Zampanos ihrer jeweiligen Fächer waren. Die scher Weise entschieden hat, sagen: 1990 / 91 Bewertungen der Institute hingen immer auch waren dort halt Entscheidungen zu treffen über davon ab, ob jemand die umfangreichen Unter- 25 Prozent des DDR-Wissenschaftspotenzials lagen für eine Evaluationssitzung mal kurz von einer Landesregierung und -administration, im Zug durchgeblättert hat oder sich gesagt hat: die von nichts eine Ahnung hatte, die ja schon Nein, ich mache jetzt irgendetwas anderes, das mit Westberlin überfordert war. Insofern gingen auch wichtig ist, nicht und lese diese 180 Seiten, örtliche Konstellationen und zeitliche Dyna- weil da halt das Schicksal z. B. der von Frau miken häufig ganz anders aus, je nachdem wo Dornhof erwähnten 150 Leute dranhängt. Und man sich befand. das war schwer steuerbar. D.D.  Ich wollte noch einmal auf den zu Beginn M.K.  Die Frage nach der Dynamik und nach zitierten Steffen Mau zurückkommen, um die der Eile stellt sich in Auseinandersetzung mit Dramatik zu unterstreichen. Er beschreibt Ost- unserem Thema sofort ein. Alles musste so deutschland als eine Gesellschaft der Frakturen, 146 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» Abb. 4 H AB-Konzil 1990: Die Wahlkommission bei der Arbeit, Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/ko/2135 die sich aus den Besonderheiten von Sozial- hatte.»26 Ich finde das sehr zutreffend beschrie- struktur und Mentalität ergeben. Fraktur ist eine ben. Obwohl es günstiger verlaufene Einzel- Metapher für die Brüche und Widersprüche beispiele gibt, von denen hier berichtetet wurde. in den Sozialstrukturen der DDR, die nach 1989 Und auch die Kulturwissenschaft hat eine insti- und dann in der Transformation weiterwirken. tutionelle Kontinuität an der HU erfahren. Das Nach dem einmaligen Gefühl, Subjekt der Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung Geschichte zu sein, spannte sich sehr bald in wurde nicht zuletzt wegen seiner interdisziplinä- Ökonomie, Kultur, Medien, Wissenschaften der ren Ausrichtung p ositiv evaluiert und heißt heute westliche Referenzrahmen auf und ließ all die Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterfor- Empowermenterfahrungen ins Leere laufen. schung. Wir haben 1997 den bereits erwähnten Die DDR-Bevölkerung fand sich über Nacht Gender-Studiengang «Geschlechter-Studien» auf den untersten Rängen in der Hierarchie unter Leitung von Christina von Braun fakultäts- der bundesdeutschen, nun vereinten deutschen übergreifend aufgebaut. Da sind die Jurist_innen Gesellschaft wieder. «Deklassierungs- und dabei, die Mediziner_innen, Kunst, Theologie, Entmündigungs erfahrungen waren an der Tages- Politikwissenschaft. In acht von elf Fakultäten ordnung, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem und in 18 Fächern werden Lehrveranstaltungen man gerade zum ersten Mal die beglückende Er- angeboten. Das ist schon wirklich einmalig, was fahrung kollektiver Handlungsfähigkeit gemacht da passiert ist, auch gesamtdeutsch gesehen. Ich DEBATTE 147 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD könnte eigentlich viel Positives sagen, was aber müssen? Das ist ja eine Frage der Gleich- den Frakturen nicht widerspricht, denn beides stellung. Herr Pasternack, Sie sagten vorhin, gehört zusammen. Die Deklassierungserfah- Sie waren als Student in diesen Berufungs- rungen und die Verwerfungen, ebenso wie die kommissionen schwer beschäftigt. Waren das strukturellen Frakturen und die Zugewinne. Fragen, die man sich gestellt hat, oder spielte G.Z.  Die These von Mau stimmt, und sie stimmt das einfach keine Rolle? nicht, kann also, wie mir scheint, nicht pauschal P.P.  Das hing wieder von ganz konkreten Akteu- gelten. Im Falle der Hochschulrektoren und ren ab. Wolfgang Schluchter fragte in Leipzig -rektorinnen, die ja aus den Hochschulen ge- immer: Gibt es für diese Stelle Ostdeutsche, die wählt worden sind, war es so, dass – wenn ich es wir einladen können zum Vortrag? Und dann richtige sehe – am Anfang alle komplett Ossis wurden auch Ostdeutsche eingeladen. Aber das waren. Und das hat lange angehalten. 2011 war hing davon ab, dass eine beteiligte Figur diese ich selbst aber einer der letzten Ostdeutschen spezielle Aufmerksamkeit hatte. So ist das ja auch u nter den Rektoren und Rektorinnen. So, das bei dem Durchbrechen gläserner Decken für heißt, da ist genau das passiert, was vorher schon Frauen oder migrantische Menschen. Es braucht bei den Besetzungen der Professuren passiert immer jemanden, die oder der die Kanäle bahnt. ist. Das muss man einfach so sagen: Da waren Doch war die Situation der Ostdeutschen noch kaum welche aus dem Osten dabei. Es gab am ein wenig anders: Sie waren faktisch – wie Mau Anfang diese sogenannte Überleitung, wo eine schreibt – über Nacht auf der untersten Etage externe Kommission – die bestand ja auch fast der sozialen Architektur der Bundesrepublik komplett aus Westdeutschen – in den einzelnen platziert. Und dann hatten alle die Chance, sich Fächern die Leute bewertet hat. Aber in den von dort aus gleichsam wie first generation students f olgenden Konkurrenzen waren die Ostdeut- zu entwickeln, also wie Menschen, die als Erste schen weitgehend chancenlos. Das hat natürlich aus ihren Familien an eine Hochschule gehen zu tun mit dem Leistungsbild, das man im Ver- und dann manchmal auch ganz erstaunliche gleich vorweist. Es sind sicherlich auch Lesarten, Karrieren hinlegen. Je nach Lebensalter konnte die eine Rolle spielen, Vorurteile, Haltungen. man sich darum bemühen, jetzt innerhalb von Aber es hat natürlich gerade auch im Bereich fünf Jahren eine Blitzkarriere hinzulegen, für die der Architektur oder des Ingenieurwesens damit andere unter Normalbedingungen West eben zu tun, ob das Leistungsvolumen, das man da zehn, 20 Jahre Zeit gehabt hätten. Und wer das mitbrachte, konkurrenzfähig war mit dem, was bis Mitte der 90er Jahre nicht geklärt hatte, für jemand im Westen aufbauen konnte. Die Talente den war, jedenfalls was Wissenschaft betrifft, die waren da, die Intelligenz war da, die Kreativität, Sache abgeschlossen. Man hatte also ein extrem das Engagement auch. Einer der fatalen Gründe kurzes Zeitfenster, in dem man sich entwickeln für den Untergang der DDR war aber doch, dass konnte. Je nach Vorerfahrungen und deren deren Entfaltung permanent – man kann sagen Verarbeitung gelang das manchen leichter und systematisch – torpediert wurde. So entstand der manchen schwerer. Ich erinnere noch einmal historisch bedingte Nachteil. Und es gab keinen an die unterschiedlichen Platzierungen: Wer Bonus, der das kompensiert hätte. Dissertation-B-Aspirant an der Pädagogischen Hochschule Zwickau war und dort ohne jeden J.M.  Aber hätte man nicht, gerade weil die West-Literatur-Kontakt eine Habil, die dama- B edingungen andere waren, auch andere Kri- lige Dissertation B, geschrieben hat, war mit terien in Berufungskommissionen aufstellen höchster Wahrscheinlichkeit schlechter für dieses 148 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» Auf holrennen gerüstet als jemand am Zentral- Einheitsbestrebungen versandete. Also der institut für Literaturgeschichte in Berlin. Das Aufbruch begann mit der friedlichen Revolution, waren unterschiedliche Ausgangsbedingungen, er fand mit neuen demokratischen Politikformen die sich nur zu einem geringen Teil den Einzel- statt, in einer Zwischenzeit, wo es noch nicht nen zuschreiben lassen. Kapitalismus war, aber auch nicht mehr Sozialis- mus, also wo neue Denk- und Verhaltensmuster G.Z.  Ich möchte auch eine Frage stellen: Ich erprobt wurden, wo viele Optionen möglich finde, der Umbruch von 89 / 90 und die Folge- schienen und enorm viel Hoffnung vorhanden jahre haben zu einer Situation geführt, in war. An dieses Interregnum 27 zu erinnern, halte der die sogenannten neuen Länder und ihre ich für sehr aktuell. Denn es wurden ja aus der Institutionen sich in mancher Hinsicht moder- Krise heraus kaum neue Strukturen im Wissen- ner weiterentwickelt haben als vielleicht einige schaftssystem geschaffen, sondern wir wurden Hochschulen oder akademische Institutionen im eingefügt in bestehende Strukturen, und das Westen. Das ist eine interessante Frage, wozu waren die alten bundesdeutschen. Dieter Simon, das führt, wenn man alte Strukturen bricht und der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats, neue aufbaut? Ich finde auch, das ist eine hoch- hat im Rahmen der Evaluierung der Ostdeut- aktuelle Frage. Wir sehen ja deutlich, wie sich in schen festgestellt, dass die Vereinigung auch der einer ganzen Reihe von Feldern in Deutschland Bundesrepublik die Chance einer Erneuerung eine Art Beharrungsvermögen entwickelt hat, des Wissenschaftssystems geben könnte.28 Aber wo eigentlich Fortschritt und Weiterentwick- wo sind die Reformen geblieben? lung dringend erforderlich wären, aber teilweise G.Z.  Eigentlich hat es eine ganze Menge Refor- nicht stattfinden, weil sie z. B. in der Bürokratie men gegeben. Auch ziemlich tiefgreifende, stecken bleiben. Also ich glaube, es wäre nicht wenn man z. B. an die Bologna-Reformen denkt. uninteressant, mal weiter zu fragen, was das, was D.D.  In der Aufbruchstimmung wurde Verschie- wir hier diskutieren, für das Heute bedeuten denes laboriert. Und da ist Vieles weggebrochen. würde. Was heißt das eigentlich? Brauchen wir Auch in der medialen Erinnerung. Aber die In- ähnliche Aufbruchsformate wieder? itiator_innen und Akteur_innen des Zusammen- D.D.  So nicht noch einmal. Wir wurden mit bruchs eines krisenhaften Regimes, das waren Veränderungen konfrontiert, die unsere bisherige die Ostdeutschen. Und von dieser Aufbruchstim- Erfahrungs- und Wissensräume überforderten mung und Selbstermächtigung der Ostdeutschen, und die nicht auf Augenhöhe verhandelt wurden. von den Experimenten mit neuen Demokratie- G.Z.  Gut. Sie geben diese Antwort, und die kann formen, wie denen der Runden Tische, ist nicht ich gut verstehen. Ich würde aber sagen: Ja, wir viel übrig geblieben. Der ostdeutsche, vom brauchen wieder, sagen wir, eine Renaissance. Zentralen Runden Tisch in Auftrag gegebene Das soll und wird nie so aussehen wie ’89. Die Entwurf einer neuen Verfassung wurde komplett Zeiten sind völlig andere und die Umstände sind vernachlässigt. Er enthielt zahlreiche alternative auch völlig andere. Da will ich nicht missverstan- Vorschläge und Modelle für ein gleichberechtig- den werden. Aber brauchen wir nicht auch wieder tes Miteinander und für eine umfassende Demo- einen Geist des Aufbruchs und der E rneuerung, kratisierung in Politik, Wirtschaft und Kultur.29 der uns teilweise abhandengekommen ist? In G.Z.  Also das sehe ich anders. Definitiv. In dieser Hinsicht durchaus so, wie im Herbst ’89. W eimar hat dieser Aufbau- und Erneuerungs- D.D.  Ich möchte dazu sagen, dass eigentlich ein prozess ja nie aufgehört. Wir – und ‹wir› ist Aufbruch da war, der aber im Sog der nationalen hier Ost wie West – haben permanent neue DEBATTE 149 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Abb. 5 FDJ-Studentensommer 1989: Studierende bei einem Arbeitseinsatz, Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/ko/1884 Formate und neue wissenschaftliche Felder zusammengekommen sind, und wo man er- eta bliert. Und das ist von innen gekommen, kennen kann, dass da nicht nur eine einseitige, teils von außen angestoßen worden, z. B. durch sondern eine wechselseitige Beeinflussung Formate für Forschungsanträge, wie etwa die stattgefunden hat? Das müsste man an irgend- E xzellenzinitiative. Aber ich habe die Frage etwas erkennen, das nicht spezifisch für den vorhin bewusst gestellt, weil sie mich beschäf- Westen gewesen ist. Nun ist es ein großes Prob- tigt: Was ist der Outcome dieser Jahre? Und lem bei der Outcome-Betrachtung des ostdeut- ich glaube, dass sich natürlich viel getan hat in schen Wissenschaftsumbaus, dass wir zwischen- den Hochschulen. Ob das genügt, international zeitlich den Bologna-Prozess hatten, der mit w irklich mitzuspielen – was das eigentliche Ost und West und mit deutscher Vereinigung K riterium wäre –, ist eine andere Frage. nichts zu tun hatte, aber sämtliche empirische P.P.  Der typische Fall ist immer, dass es ein Ergebnisse verzerrt. bisschen stagniert und ein bisschen innoviert. D.D.  Meine Bemerkung zielt jetzt auf etwas Das ist in Ost und West gleichermaßen der a nderes, und zwar nicht unbedingt auf die Ost- Fall und auch der Fall gewesen. Daneben West-Repräsentanz an den Schulen, Uni- kann man die Frage stellen: Gibt es irgend- versitäten und Medien oder Innovationen, etwas, das sich darauf zurückführen lässt, die von welcher Seite auch immer gekommen dass da zwei Staaten und zwei Gesellschaften sind. Ich würde sagen, eine Erneuerung der 150 ZfM 27, 2/2022 «EINE EINDEUTIG VERMACHTETE SITUATION» gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft, 1  Der vorliegende Gesprächs- journal/hso.htm (13.5.2022). Seit text wurde gekürzt. Die Lang- 2002 wird die Zeitschrift als die des Beitrittsgebiets und der alten Bundesrepub- version des Gesprächs ist auf der hochschule vom Institut für Hoch- lik, ist strukturell kaum passiert. Ich finde Webseite der ZfM abrufbar: schulforschung Halle-Wittenberg www.zfmedienwissenschaft.de/online. (HoF) publiziert, siehe www. es ist eher prekärer geworden. Schauen Sie sich 2  Steffen Mau: Lütten Klein. die-hochschule.de (13.5.2022). die Debatten um den Mittelbau an.30 Schauen Leben in der ostdeutschen Transfor- Das Auftaktbild zu diesem Ge- mationsgesellschaft, Frankfurt / M. spräch zeigt das letzte Cover von Sie sich unsere Gesellschaft an, wie divers sie 2019, 178. hochschule ost 2001. ist und wie unsere Universitäten ausgestattet 3  Vgl. Hermann Klenner: 9  Vgl. Helga Grubitzsch, Entstehung und Tätigkeit des D orothea May: Frauen – Literatur – sind. Wo haben wir PoC-Professor_innen? Der RUNDEN TISCHES der weiland Revolution, Pfaffenweiler 1992. Anteil der Frauen an der Professor_innenschaft Akademie der Wissenschaften 10  So fand vom 3. bis 9. April der DDR (1989 / 1990), in: Peer 1989 an der Universität Hamburg liegt im bundesdeutschen Durchschnitt bei Pasternack (Hg.): IV. Hochschulre- das internationale Symposium 26 Prozent. Wie viele Prof essor_innen haben form. Wissenschaft und Hochschule in «Frauen und Weiblichkeit im Ostdeutschland 1989 / 90. Eine Retro- kulturellen und literarischen wir mit migrantischem Hintergrund? Multiper- spektive, Leipzig 1993, 13 – 25. Prozess» statt, vgl. Inge Stephan, spektivität wird noch immer als Bedrohung der 4  Vgl. Petra Boden, Dorothea Sigrid Weigel, Kerstin Wilhelms Böck (Hg.): Modernisierung ohne (Hg.): «Wen kümmert’s, wer spricht». deutschen Diskurs hoheit b etrachtet. Ich meine Moderne. Das Zentralinstitut für Zur Literatur- und Kulturgeschichte solche Dimensionen der Gesellschaft, die ja auch Literaturgeschichte an der Akademie von Frauen aus Ost und West, Köln, der Wissenschaften der DDR Wien 1991. zu einer Modernisierung des Wissenschaftsbe- (1969 – 1991). Literaturforschung 11  Vgl. Ästhetische Grundbegriffe. triebs führen sollten. Da hat sich doch so gut wie im Experiment, Heidelberg 2004; Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Dorothea Dornhof: The Inconse- hg. v. Karlheinz Barck, Martin nichts getan bis heute. quence of Doubt: Intellectuals and Fontius, Dieter Schlenstedt, G.Z.  Eindeutig zu wenig. Mir war allerdings the Discourse of Socialist Unity, Burkhart Steinwachs, Friedrich in: Michael Geyer (Hg.): The Power Wolfzettel, Stuttgart, Weimar besonders wichtig, ‹Multiperspektivität› gerade of Intellectuals in Contemporary 2000 – 2005; vgl. auch Ernst auch in der Figur der Weltoffenheit abzubilden, Germany, Chicago 2001, 59 – 88. Müller: Eberhard Lämmert am ZfL. 5  Vgl. Marie-Christin Zur Fortführung der ‹Ästhetischen mit einem hohen Anteil internationaler Studie- Schönstädt: Transformation der Grundbegriffe›/Eberhard Lämmert render und Professorinnen. Wissenschaft. Die Evaluation des at the ZfL: On Cultivating the ostdeutschen Wissenschaftssys- ‹Fundamental Aesthetic Concepts›, D.D.  Ich will ja Veränderungen, die partiell tems als Impuls für den Westen, in: Trajekte, Nr. 31, 2015, 4 – 9. geschehen sind, auch nicht kleinreden. Aber die in: Marcus Böick u. a. (Hg.): 12  Vgl. z. B. Manfred Naumann Jahrbuch Deutsche Einheit 2021, u. a. (Hg:): Gesellschaft – Literatur – Erfolge gehen mit dem Scheitern und den un- Berlin 2021, 215 – 241. Lesen. Literaturrezeption in theoreti- genutzten Chancen der Vereinigung einher. Eine 6  Vgl. «Von Helmut Kohls Plan scher Sicht, Berlin 1973. waren wir gar nicht so weit weg» 13  Vgl. dazu: Petra Boden: So Reform des Wissenschaftssystems, die müsste (Interview von Armin Himmelrath viel Wende war nie. Zur Geschichte des grundlegender sein, struktureller. mit Kerstin Griese und Peer Projekts ‹Ästhetische Grundbegrif- Pasternack), in: Spiegel Geschichte, fe› – Stationen zwischen 1983 und —  2.2.2020, www.spiegel.de/geschichte/ 2000, Bielefeld 2014. studenten-bei-der-wiedervereinigung- 14  Vgl. Ernst Müller: Ästhetische von-helmut-kohls-plan-waren-wir- Grundbegriffe, in: ders., Falko gar-nicht-so-weit-weg-a-f4740025- Schmieder: Begriffsgeschichte und 6f36-4352-948d-926bfcd8b751 historische Semantik. Ein kritisches (30.4.2022). Kompendium, Berlin 2016, 951 – 970. 7  Am 9. Oktober 1989 fand 15  Vgl. Dorothea Dornhof: eine der großen Montags- Weiblichkeit, in: Ästhetische Grund- Demonstrationen in Leipzig mit begriffe, Bd. 6, hg. v. K. Barck u. a., 70.000 Menschen statt. Sie gilt als Weimar 2010, 481 – 520. Schlüsselmoment der friedlichen 16  Vgl. Karlheinz Barck: Revolution in der DDR, Anm. d. R. Literaturwissenschaften in der 8  Die Zeitschrift hochschule ost DDR. Ein Rückblick, in: Burkhart wurde 1991 in Leipzig gegründet. Steinwachs (Hg.): Geisteswissen- Thematische Schwerpunkte waren schaften in der ehemaligen DDR, die DDR-Wissenschafts- und Hoch- Bd. 1, Konstanz 1993, 213 – 229; schulgeschichte und die Trans- Wolfgang Zapf / Georg Thurn formation der ostdeutschen (Hg.): Konferenzbericht. Zur Lage der Wissenschaft nach 1989. Volltext- sozialwissenschaftlichen Forschung in archiv unter: www.hof.uni-halle.de/ der ehemaligen DDR. Wissenschaftliche DEBATTE 151 DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN | M ANUELA KLAUT / JANA MANGOLD Interessen, Forschungserfahrungen, Köhler: Wissenschaftler-Integrations- und Kommentare in Possi. Magazin Strukturprobleme, Kooperationswege, Programm (WIP). Leistungen und für (post)ostdeutsches Empowerment, Berlin 1990. Perspektiven, Frankfurt / M. 1996; Zine, hg. v. Seline Seidler u. Judith 17  Als Beispiel nannte D. Wolfgang Hansen: WIP – Wissen- Rinklebe, Hildesheim 2021, o. S. Dornhof während des Gesprächs schaftler-Integrations-Programm 30  Eine Passage im neuen den Chemiker Robert Havemann, oder Wissenschaftler in Perspektiv- Berliner Hochschulgesetz, mit «der kritische Vorlesungen über losigkeit?, in: Physikalische Blätter, der Beschäftigungsverhältnisse ‹Naturwissenschaftliche Aspekte Bd. 52, Nr. 5, 1996, doi.org/10.1002/ von wissenschaftlichen Mitar- philosophischer Probleme› der phbl.19960520503. beiter_innen entfristet werden Naturwissenschaften hielt [vgl. 22  Vgl. Geisteswissenschaft- sollten, wird nun von einem Robert Havemann: Dialektik ohne liche Zentren Berlin (Hg.): 25 Jahre aktuellen Gutachten des wissen- Dogma. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaftliche Zentren schaftlichen Parlamentsdienstes Weltanschauung, Reinbek 1964] Berlin, Berlin 2021, abrufbar auf des Abgeordnetenhauses als und sowohl Widerstandskämpfer der Homepage des ZfL: www. verfassungswidrig eingestuft. Die als auch Kommunist war. Er verlor zfl-berlin.org/files/zfl/downloads/ «Wissenschaftsfreiheit» stehe auf seine Professur und wurde aus publikationen/volltexte/25-jahre-gwz. dem Spiel, ebenso die Sicherung der Akademie der Wissenschaf- pdf (1.5.2022). von Innovation und Wettbewerb ten ausgeschlossen von einem 23  Gisela Petruschka. Eine an den Hochschulen. Vgl. Pech damaligen Präsidenten, der in der Bestandsaufnahme zur Frauen- für Postdocs, in: Berliner Zeitung, NSDAP war. Robert Havemann saß förderung an der Humboldt- Nr. 136, 15. Juni 2022, 4. selbst im Konzentrationslager.» Universität September 1992, in: 18  Erwin Pracht, Irene Dölling ZIF-Bulletin, Nr. 5, Berlin 1992, 59. u. a.: Ästhetik heute, Berlin 1978. 24  Die HAB musste insgesamt 19  Mit Neugründung der drei Fakultäten auflösen. Neben Berliner Kulturwissenschaft ent - der Fakultät Informatik waren das stand «ein Fakultätsinstitut die Fakultäten Baustoff-Verfah- Kultur- und Kunstwissenschaften renstechnik sowie G ebietsplanung (vergleichbar einem Fachbereich), und Städtebau. Vgl. die Lang- dem die (Nenn-)Institute für version des Gesprächs unter Kulturwissenschaft, Ästhetik, The- zfmedienwissenschaft.de/online. Zur aterwissenschaft und Kulturelle Geschichte der Fakultät Informa- Kommunikation, Kunstgeschichte tik vgl. auch den Beitrag «Rechen- sowie das Winckelmann-Institut technische Reparaturkompetenz» für Klassische Archäologie» ange- von Franziska Klemstein in diesem hörten, Peer Pasternack: Geistes- Heft, 79 – 90. wissenschaften in Ostdeutschland 25  Vgl. Frank Simon-Ritz, 1995. Eine Inventur. Vergleichsstudie Klaus-Jürgen Winkler, Gerd im Anschluss an die Untersuchung Zimmermann (Hg.): aber wir sind, «Geisteswissenschaften in der DDR», wir wollen, und wir schaffen. Von Konstanz 1990, Leipzig 1996, 156. der großherzoglichen Kunstschule 20  Holger Brohm: Art. Kultur- zur Bauhaus-Universität Weimar wissenschaft, in: Rüdiger vom 1860 – 2010, 2 Bde., Weimar Bruch, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): 2010 – 2012. Geschichte der Universität zu Berlin 26  Mau: Lütten Klein, 15. 1810 – 2010. Biographie einer Insti- 27  Antonio Gramsci spricht tution. Praxis ihrer Disziplinen, Bd. 6: von einem Interregnum als Gefährdung und Selbstbehauptung einer Autoritätskrise, wenn die einer Vision, Berlin 2010, 509 – 524. politische Klasse den Konsens 21  Die von der Max-Planck- verloren hat und nicht mehr herr- Gesellschaft eingerichtete schend ist. Vgl. Antonio Gramsci: ‹Förderungsgesellschaft Wissen- K erkerhefte, Hamburg 1991, 354. schaftliche Neuvorhaben mbH› 28  Dieter Simon: Die Quint- bestand von 1992 bis 1996. Neben essenz. Der Wissenschaftsrat in der Einrichtung der Forschungs- den neuen Bundesländern. Eine zentren wurde ein Erneuerungs- vorwärtsgewandte Rückschau, programm für Hochschulen (HEP, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1992 – 1996) für Ostdeutschland Nr. 51, 1992, 29 – 36, 32. verabschiedet, das mit dem 29  Vgl. den Verfassungsent- Wissenschaftlerintegrationspro- wurf im privat geführten Online gramm (WIP) Wissenschaftler_in- Dokumenten-Archiv unter nen der Akademie der Wissen- www.documentarchiv.de/ddr/1990/ schaften an den Hochschulen ddr-verfassungsentwurf_runder- der betreffenden Bundesländer tisch.html (27.5.2022); vgl. auch integrieren sollte, vgl. Gerd Auszüge aus dem Entwurfstext 152 ZfM 27, 2/2022 — WERKZEUGE Abb. 1 Buchkastenfördersystem in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Potsdamer Straße 154 ZfM 27, 2/2022 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140213. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — WEST-BERLINER LESELANDSCHAFT  Die Bibliothek als logistisches Denkwerkzeug von HANNAH WIEMER Bibliotheken sind Orte der Sammlung von Büchern. Aber spätestens seitdem sie sich im 19. Jahrhundert einem Bildungsauftrag verschrieben haben, wer- den Bibliotheken auch zu großen Motoren der Zirkulation von Büchern. Die gesammelten Bücher liegen nicht nur im Lager, sondern werden von dort mit immer neuen Hilfsmitteln, Vorrichtungen und Maschinen in Bewegung ge- bracht, damit sie gefunden und ausgeliehen werden können. Die Logistik der Bücher ist dabei immer auch auf andere Objektflüsse bezogen, deren Techniken sie sich bedient oder für die sie selbst zum Experimentierfeld wird. Die West- Berliner Staatsbibliothek ist ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Bücherbewegungen. Von Hans Scharoun entworfen und 1978 eröffnet, wur- de der Bau zu einer Architektur-Ikone der westdeutschen Nachkriegsmoderne. Bekannt für seine großzügige, offene Raumstruktur ist der Lesesaal als ‹Lese- landschaft› in die Geschichte der Bibliotheksarchitektur eingegangen. In der Leselandschaft wird ein prozessual gedachtes Wissenskonzept offenbar: Wissen entsteht, wenn Bücher und Leser_innen in Bewegung kommen. Die Entste- hungszeit der Staatsbibliothek ist von Debatten um die Zukunft der Bibliothek angesichts von neuen Informationstechnologien und einem radikalen Infrage- stellen der Bildungsinstitutionen im Zuge der 1968er-Bewegung gekennzeich- 1  Vgl. u. a. Edgar Wisniewski: Projektzeichnungen für die neue net. In dieser Gemengelage dient die Leselandschaft ihren Nutzer_innen als Staatsbibliothek in Berlin, in: Bau- logistisches Denkwerkzeug, indem sie Bücher und andere Leihmedien in dieser welt, Jg. 58, Nr. 41, 1967, 1015 – 1021; ders.: Gedanken zur Konzeption Architektur sammelt, ordnet und zugänglich macht. von Hans Scharoun für den Bau der Schon zur Bauzeit vergleicht der Architekt Edgar Wisniewski, langjähriger Staatsbibliothek, in: Bauen + Wohnen, Jg. 32, Nr. 4, 1978, 140 – 141 oder Mitarbeiter Scharouns und nach dessen Tod 1972 verantwortlich für den Bau ders.: Raumvision und Struktur: der Staatsbibliothek, in seinen Analysen der Bibliothek den Lesesaal mit einer Gedanken über Hans Scharouns Konzeption zum Bau der Staatsbi- Landschaft.1 Damit angesprochen ist der große Raum ohne Trennwände, mit bliothek, in: Ekkehart Vesper (Hg.): eingehängten Balkonen und Galerien, offenen Zwischengeschossen und den Festgabe zur Eröffnung des Neubaus in Berlin, Wiesbaden 1978, 144 – 158. nicht symmetrisch, sondern an unterschiedlichen Orten gruppierten Tischen, WERKZEUGE 155 HANNAH WIEMER Regalen und Pflanzenkübeln. Seither wird nicht nur der beschriebene Saal als Leselandschaft bezeichnet, sondern in Anlehnung an das von Scharoun einge- führte offene Raumkonzept auch ähnlich strukturierte Lesesäle seither entstan- dener Bibliotheken. Wisniewski sieht in der räumlichen Struktur des Lesesaals eine Idee des Verhältnisses der Wissenschaften und Wissensgebiete zueinander ausgedrückt. «Gleichberechtigt[ ]» seien alle Wissensbereiche in dem einen Saal nebeneinander versammelt, ohne abgeschiedene Sonderlesesäle, aber auch ohne die Zentralform eines Kuppelsaals.2 Das Prinzip der Landschaft ist im Fall der Staatsbibliothek also nicht nur eine Metapher für die Ästhetik des lockeren, harmonischen Zusammenspiels unterschiedlicher Elemente, sondern impliziert auch eine gesellschaftliche und politische Vorstellung von Gleichberechtigung, die sich in der Raumordnung ausdrückt. Über diese «Gesamtschau der Diszi- plinen»3 hinaus erlauben die Sichtachsen des großen Raumes auch vielfältige Perspektiven der Leser_innen aufeinander – die offene Landschaft macht das Lesen zur gemeinschaftlichen Praxis.4 Die Leselandschaft der Staatsbibliothek ist nicht das einzige Landschafts- konzept der Nachkriegszeit, an das sich politische Ideen und Überzeugungen knüpfen. Sie ist in zunächst disparat anmutende und meist getrennt erforsch- te Kontexte eingebunden: die ‹Stadtlandschaft› und die ‹Bürolandschaft›. Von diesen beiden Räumen aus fand das Landschaftskonzept seinen Weg auch in die Bibliothek, wo es Wissensordnungen, akademisches Arbeiten und den Zugang zu Büchern sowie anderen Leihmedien nachhaltig prägte. Mit dem stadtplane- rischen Konzept der Stadtlandschaft verbundene Verkehrskonzepte haben in der Bibliotheksinfrastruktur – im Kastenfördersystem, der Rohrpost und den Buchpaternostern – eine ganz eigene Gestalt angenommen. Das Großraum- 2  Wisniewski: Projektzeich nun- büro der Bibliothek wurde nach dem Prinzip der sogenannten Bürolandschaft gen für die neue Staatsbibliothek in Berlin, 1019. geplant und damit verbunden bibliothekarisches Arbeiten neu konzipiert. Die 3  Ebd., 1018. Beratungsagentur Quickborner Team entwickelte und propagierte das Konzept 4  Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen visuellem und akustischem der Bürolandschaft seit den frühen 1960er Jahren mit großem Erfolg und berief Raum in der Staatsbibliothek sich dabei in zahlreichen Veröffentlichungen auf die Kybernetik als Grundlage Hannah Wiemer: The West Berlin Staatsbibliothek and the Sound für die vorgeschlagene Neukonzeption von Büroarbeit.5 Politics of Libraries, in: Grey Room, Während Michel Foucault ungefähr zu derselben Zeit Bibliotheken als He- Bd. 87, 2022, 44 – 65. 5  Z. B. in Eberhard Schnelle: terotopien charakterisiert, die sich allumfassend sammelnd selbst außerhalb Organisationskybernetik, in: der Zeit befänden, eröffnet die Metapher der Landschaft andere Bezüge für Kommunikation, Nr. 1, 1965, 1 – 26; Ottomar Gottschalk: Flexible Verwal- Bibliotheken.6 Die mit der Staatsbibliothek verbundenen Landschaftskonzepte tungsbauten. Entwurf – Ausbau – Ein- betonen weniger Aspekte der Sammlung, Bewahrung und Akkumulation von richtung – Kosten – Beispiel, Quickborn bei Hamburg 1963. Wissen, seinen Medien und Artefakten. Vielmehr rufen sie Fragen der Bewe- 6  Vgl. Michel Foucault: Andere gung, des Verkehrs und der Logistik auf und lassen Bibliotheken verstärkt als Räume [1967], in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Orte der Zirkulation von Büchern und anderen Leihmedien greifbar werden. Richter (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung Die Landschaftskonzepte legen es nahe, die Bibliothek als eine Forschungsin- heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, 34 – 46. frastruktur zu betrachten, die im Zusammenspiel, in der Koordinierung und 7  Vgl. u. a. Lisa Parks, Nicole Strukturierung unterschiedlicher Elemente zum Werkzeug wird. Inspiriert von Starosielski (Hg.): Signal Traffic. Critical Studies of Media Infrastructures, der Infrastrukturtheorie, die Medien im Verbund begreift,7 möchte ich zeigen, Urbana 2015. 156 ZfM 27, 2/2022 WEST-BERLINER LESELANDSCHAFT wie die Landschaftskonzepte der Nachkriegszeit die Bibliothek als Architek- tur der Bewegung zu einem neu gedachten Werkzeug akademischen Arbeitens werden ließen. Stadtlandschaft Unmittelbar nach dem Krieg setzte sich Hans Scharoun in seiner Funktion als Stadtbaurat für einen Aufbau Berlins nach dem sogenannten Kollektivplan ein, den er gemeinsam mit einer Reihe von Kolleg_innen ausgearbeitet hatte. Der Kollektivplan zielte auf eine radikale Neugestaltung und Dezentralisierung der Stadt, die sich entlang des Urstromtals der Flüsse Spree und Havel in Form eines langgezogenen Bandes erstrecken sollte. Das Verkehrssystem sollte dem alten Flusstal folgen, um so die geologische Struktur der Stadt hervorzuheben. Diese sei «völlig verwischt und dem Auge entzogen» worden, wie Scharoun 1946 in seiner Eröffnungsrede zu einer dem Kollektivplan gewidmeten Ausstel- lung beklagte.8 In der Rede charakterisierte er die Kriegszerstörungen B erlins als «mechanische Auflockerung», die der Stadtplanung die Chance gebe, die Stadt neu zu gestalten und eine weniger dicht bebaute Stadtstruktur, eine «Stadtlandschaft» zu schaffen. Was blieb, nachdem Bombenangriffe und Endkampf eine mechanische Auflocke- rung vollzogen, das Stadtbild aufrissen. Das, was blieb, gibt uns die Möglichkeit eine ‹Stadtlandschaft› daraus zu gestalten. Die Stadtlandschaft ist für den Städte- bauer ein Gestaltungsprinzip, um der Großsiedlungen Herr zu werden. Durch sie ist es möglich, Unüberschaubares, Maßstabloses in übersehbare und maßvolle Teile aufzugliedern und diese Teile so zueinander zu ordnen, wie Wald, Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken.9 In dieser Vision der Stadtlandschaft sind die potenziell chaotischen Elemen- te der Stadt unter Kontrolle, ihre Beziehungen wirken wohlüberlegt und bil- den eine Einheit. Scharouns Stadtlandschaft orientiert sich an der Bandstadt, einem städtebaulichen Konzept, das mit dem Vorschlag einer «ciudad lineal» des spanischen Stadtplaners Arturo Soria y Mata von 1882 erstmals Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert wurde 10 und in der neu gegründeten Stadt Magni- togorsk in den 1920er Jahren eine sowjetische Umsetzung fand.11 Eine schmale, 8  Hans Scharoun: Professor langgezogene urbane Struktur in Form von parallel verlaufenden Bändern aus Hans Scharoun sprach zur Eröffnung der Berliner Ausstellung. Erster Industrie, Wohngebiet und Grünflachen, orientiert an einer Hauptverkehrsach- Bericht, in: Der Bauhelfer, Jg. 1, Nr. 5, se, sollte kurze Wege zwischen Grünflächen, Arbeit und Wohnstätten ermögli- 1946, 1 – 5, hier 3. 9  Ebd., 1. chen. Gleichzeitig ist das Band weit mehr als eine Metapher für eine längliche 10  Arturo Soria y Mata: La ciudad und verbindende Struktur. Die Bandstadt in ihrer sozialistischen Ausprägung lineal [1882], in: Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.): Anthologie zum der 1920er und 30er Jahre orientierte sich explizit am Fließband und an den Städtebau. Bd. 2: Das Phänomen Arbeitsvorgängen der Industrie, bei der Elemente so hintereinander angeordnet Großstadt und die Entstehung der Stadt der Moderne, Berlin 2014, 210 – 214. sind, dass sie in einer Abfolge von Arbeitsschritten ineinandergreifen. 11  Nikolaj A. Miljutin: Sozgorod Ernst May formuliert 1931 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Das und die Planung sozialistischer Städte [1930], Berlin 2018. neue Frankfurt über die sozialistische Bandstadt: WERKZEUGE 157 HANNAH WIEMER Die Bandstadt ist so aufgebaut, daß zunächst die Industrie, aus den inneren Vorgän- gen der Werke entwickelt, reihenartig angeordnet ist und daß, parallel zu ihr, durch eine mehrere hundert Meter breite Grünfläche von ihr getrennt, die Wohnstadt zu liegen kommt.12 Der Kollektivplan für Berlin wurde nie umgesetzt. In der Staatsbibliothek aber finden sich Elemente der Stadtlandschaft wieder und haben dort eine andere Form angenommen. Das Band taucht zunächst in einem Artikel von Wisniewski zusammen mit einem Strukturschema der Bibliothek auf als «Lesesaalband».13 Das Band ist auch für die Leselandschaft mehr als nur ein sprachliches Bild für die lang- gezogene, verbindende Form. Die langgestreckte Gestalt der Staatsbibliothek ist auf das Förderband der zweieinhalb Kilometer langen Kastenförderanlage angewiesen. Die Formgebung der Bibliothek verdankt sich der technischen Transportmöglichkeit für Bücher, mit deren Hilfe der Lesesaal, die bibliothe- karischen Büroräume und das Magazin über eine lange Breite miteinander ver- bunden sind. Die Auflockerung in der Form steht in einem engen Verhältnis mit den Technologien der Verbindung, die Bewegungen im Raum schaffen – in der Stadtlandschaft ebenso wie in der Leselandschaft. In der so gedachten B ibliothek transportiert die Architektur das Wissen. Das lockere Nebenein- ander der Landschaftsordnung ergibt nur deshalb ein Ganzes, weil Transport- Abb. 2 Strukturschema der Staatsbibliothek. Aus: Wisniewski: technologien Bewegung und Verbindung herstellen. Projektzeichnungen für die neue Staatsbibliothek in Berlin, 1016 Bürolandschaft Abb. 3 Studie zur Mobiliaran- ordnung im Hauptbauteil (Groß- 1970, acht Jahre vor Eröffnung der Staatsbibliothek, wurde die Beratungs- raum-Büro), Quickborner Team, agentur Quickborner Team beauftragt, Empfehlungen für die räumliche in: Organisationsplanung für die Staatsbibliothek und das Ibero- Organisation des Großraumbüros und die Arbeitsabläufe der Bibliothek zu Amerikanische Institut, 112 158 ZfM 27, 2/2022 WEST-BERLINER LESELANDSCHAFT erarbeiten. Ziel war, den «Weg des Buches», wie es im umfangreichen Be- richt der Agentur heißt – also den Arbeitsablauf von der Anschaffung eines neuen Buches bis zur benutzungsreifen Lagerung im Magazin – effektiver zu organisieren.14 Dieser Weg dauerte durchschnittlich neun Monate und sollte auf wenige Wochen reduziert werden. Der ‹Weg des Buches› ist dabei sowohl eine Kategorie zeitlicher Arbeitsabläufe als auch eine Strukturierung der Ar- beitsvorgänge im Raum. Er taucht auch in den Planungsunterlagen zum Ge- bäude auf, wo er mit den Mitteln der Architektur räumlich vorbereitet wird: Die für die bibliothekarische Arbeit geplanten Büroräume werden als ‹Weg des Buches› entlang von Arbeitsvorgängen wie Anlieferung, Sortierung, Ka- talogisierung, Einbindestelle etc. angelegt.15 Das Raumkonzept ist hier durch den Architekten und in dem späteren Optimierungsversuch durch die Bera- 12  Ernst May-Moskau: Der Bau neuer Städte in der U.D.S.S.R., in: tungsfirma eng verbunden mit einer Analyse und Optimierung der bibliothe- Das neue Frankfurt, Jg. 5, Nr. 7, 1931, karischen Arbeitsprozesse. 117 – 137, hier 122. 13  Wisniewski: Projektzeichnun- Das auf Raumplanung spezialisierte Unternehmen Quickborner Team war gen für die neue Staatsbibliothek in bekannt für die von ihm entwickelten sogenannten Bürolandschaften und be- Berlin, 1016. 14  Organisationsplanung für die einflusste die Architektur von Büroräumen weit über die BRD hinaus.16 Diese Staatsbibliothek und das Ibero- Bürolandschaften sind Großraumbüros mit Schreibtischen in einer asymme- Amerikanische Institut Preußischer Kulturbesitz in Zusammenarbeit trischen Anordnung, die auf einer Analyse der Arbeits- und Kommunikations- mit dem Quickborner Team, Gesell- flüsse beruht, die der Raum ermöglichen soll. In Publikationen des eigenen schaft für Planung und Organisation mbH, Quickborn i. Holstein. Arbeits- Verlags sowie in Architekturzeitschriften berief sich die Beratungsfirma auf die bericht des Planungsteams mit Kybernetik als wissenschaftliche Grundlage ihrer Methode. Mit einer radikalen Stellungnahme der Planungsgruppe und der Entscheidungsgruppe, Rhetorik adaptierten die Berater die kybernetischen Ideen für die Raumor- Berlin 1970. ganisation und propagierten ihre Auffassung vom Büro als System der Infor- 15  Vgl. Wisniewski: Projektzeich- nungen für die neue Staatsbiblio- mationsverarbeitung. Eberhard Schnelle, einer der Gründer des Quickborner thek in Berlin, 1019. Teams, behauptete, es gäbe keine Büros mehr, «sondern eine zentrale Informa- 16  Andreas Rumpfhuber: Architek- tur immaterieller Arbeit, Wien 2013. tionsverarbeitungsstelle, die allerdings Nachrichten verschiedensten sachlichen WERKZEUGE 159 HANNAH WIEMER Inhalts zu den verschiedensten Entscheidungen umformt», wie er 1963 in der Zeitschrift Bauen + Wohnen schrieb.17 Für den Geschäftsvorgang ‹Weg des Buches› zählt das Beratungsteam 1200 Arbeitsschritte, die es in der Raumordnung der Bürolandschaft effizien- ter zwischen den beteiligten Mitarbeitenden verteilen will.18 Eine kleinteilige Analyse der Arbeitsschritte wird in der Bürolandschaft mit einer Raumord- nung verbunden und die veränderte Raumgestaltung ist Ergebnis dieser Un- tersuchung der Arbeitsprozesse. Mit kämpferischem Gestus beansprucht die Firma für sich, für die Bürogestaltung vormalig vorherrschende Faktoren wie «Prestigebedürfnis» und andere «subjektive Kriterien» zugunsten «funktiona- ler Notwendigkeit» zu vernachlässigen.19 Der Begriff der Landschaft ist in diesem Zusammenhang Teil einer Marke- tingstrategie, die sich Assoziationen des Natürlichen, Organischen und Sc hönen zunutze macht. Sowohl viele Bürolandschaften als auch die Leselandschaft der Staatsbibliothek entstanden in der Nachkriegszeit jedoch als Teil von Auf- und Umbauprozessen kriegszerstörter westdeutscher Städte, mit denen sich die Frage nach räumlicher Neuordnung stellte. Der Begriff der Landschaft wurde hierbei zu einem Leitkonzept der Neustrukturierung unterschiedlicher Räume. In allen drei Landschaften, die sich in der Staatsbibliothek überlagern und miteinander verschränken, werden mit dem Landschaftskonzept Bewegungen strukturiert. Der gemeinsame Bezug von Stadtplanung, Arbeitsorganisation und Bibliotheksarchitektur auf die Landschaft macht deutlich, dass Fragen der Be- wegung, Logistik und Kommunikation in dieser Zeit einen neuen Stellenwert erlangen. Während Bibliothekar_innen in den 1960er und 70er Jahren disku- 17  Eberhard Schnelle: Architekt und Organisator. Versuche zu einer tieren, wie man die exponentiell wachsenden Buchsammlungen unter Kontrolle komplexen Planungsmethode, in: bringen kann, legt die Leselandschaft den Fokus nicht auf die Sammlung. Die Bauen + Wohnen, Jg. 17, Nr. 1, 1963, 1 – 10, hier 4. Bibliothek entfaltet ihren Werkzeugcharakter erst in der Nutzung, wenn Bücher 18  Organisationsplanung für durch die Bibliothek transportiert werden und sich Lesende und Schreibende die Staatsbibliothek und das Ibero- Amerikanische Institut, 10. aufeinander beziehen. 19  Ebd., 77. — 160 ZfM 27, 2/2022 — BESPRECHUNGEN Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140214. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — WRITING (ABOUT) CODE Der Ort der Arbeit an der Abstraktion in historischen Studien von BENEDIKT MERKLE Dylan Mulvin: Proxies. The Cultural Work of Standing In, die uns zumeist aus Screens entgegentreten. Vor diesem Cambridge (MA), London (The MIT Press) 2021 Hintergrund ist nachvollziehbar, dass historische Wis- senschaften sich zunehmend mit den Praktiken, Politi- Jacob Gaboury: Image Objects. An Archaeology of Computer ken und Ästhetiken der Abstraktionen beschäftigen, die Graphics, Cambridge (MA), London (The MIT Press) 2021 diesen Welten zugrunde liegen. Im Folgenden stelle ich Winnie Soon, Geoff Cox: Aesthetic Programming. drei unterschiedliche Zugänge zum historischen Ort der A Handbook of Software Studies, London (Open Humanities Arbeit an der Abstraktion vor. Press) 2020 Dylan Mulvins Proxies. The Cultural Work of Standing In untersucht die Arbeit, die es braucht, einen willkürlich — gewählten Ausschnitt der Welt für die Welt insgesamt Wer zu digitalen Objekten schreibt, sieht sich mit dem einstehen zu lassen. Die Konstitution standardisierter Problem konfrontiert, dass die Forschungsgegenstände Objekte, sogenannter Proxies, verfolgt Mulvin in drei zugleich Objekte sind, die die Gegenwart des Verfas- verschiedenen Mikrostudien. Neben der Geschichte sens, Verteilens und des Verarbeitens des Schreibens von Hygienepraktiken rund um den internationalen selbst informieren. «Writing code and writing about Kilogrammprototypen (IPK) und Einblicke in das code are forced together in ways that reflect broader T raining von medizinischem Personal anhand standar- cultural and technical shifts in data practices and open disierter Patient_innen widmen sich zwei Kapitel dem publishing», so Winnie Soon und Geoff Cox im Vor- ‹Lena / Lenna›-Testbild 2 und damit einem zentralen Ob- wort von Aesthetic Programming (S. 17). Für sein 2017 jekt der Geschichte digitaler Bildgebung. Lena Forsén erschienenes Buch Machine Learners. Archaeology of a war 1972 das Centerfold der Novemberausgabe des Data Practice setzt Adrian Mackenzie die Reflexion des Playboy. In dieser Form gelangte ihr großformatiges Schreibprozesses entlang digitaler Praktiken in einer Hochglanzbild als Teil einer selbstverständlich maskulin «auto-archaeology» um, veröffentlicht die Studie als geprägten Popkultur problemlos durch die Tür des Sig- Git-Repository und integriert damit den Gegenstand der nal and Image Processing Institute (SIPI) der University Untersuchung gänzlich in die Analyse.1 Solche Modifi- of Southern California. Dort wurde es beschnitten und kationen des Schreibprozesses sind konsequente Fort- digitalisiert, um von da an jahrzehntelang unter Namen führungen einer weitreichenden Durchdringung des ge- wie ‹Lena_std.tif› als Testbild für die Entwicklung digita- sellschaftlichen Lebens mit digitalen Objekten. Soziale ler Bildstandards und Algorithmen für Bildkompression Welten werden mit ausführbaren Welten angereichert, zu fungieren. 162 ZfM 27, 2/2022 Mit solchen Mikrogeschichten der Genese und Pfle- ge standardisierter Objekte unterstreicht Mulvin deren m aterielle Eigenschaften: Proxies sind «inescapably material, leaky and porous» (S. 27). Sie absorbieren ihre Umgebung und hinterlassen zugleich Spuren ih- rer kulturellen Arbeit. Als Objekte, die dazu funktio- nalisiert sind, das Gewöhnliche und infrastrukturell Selbstverständliche hervorzubringen, bleiben die Stan- dards selbst von dieser Gewöhnlichkeit ausgenommen. Mulvins Studie geht nicht nur auf die Funktion des ‹Lena›-Testbildes bei der Erzeugung professionalisierter Sehpraktiken der Computergrafik entlang eingeübter Differenzen ein, sondern beschreibt darüber hinaus eine zugehörige männliche und heteronormative Kultur der Dominanz und Ausbeutung weiblicher Körper. Im Nachvollzug der Funktion solcher Grenzobjekte vermag Mulvin deren Charakter als «embodiement of choices about imagining the world within testing environments» (S. 47) zum Vorschein zu bringen. Proxies bilden auf diese Weise einen reichhaltigen Gegenstand zur wissen- schaftsgeschichtlichen Untersuchung nützlicher Fiktio- nen und Paradigmenwechsel unter Einbezug der kon- kreten Arbeit an der Abstraktion, die Mensch und Objekt sich in den Laboren teilen. Indem Mulvins Studie die Frage nach dem Status als Proxy gleichermaßen an sehr unterschiedliche Ge- genstände und zuletzt auch an menschliche Handelnde richtet, werden unweigerlich Unterschiede offenge- einen einzelnen Anwendungsbereich festgelegt sind. Sie legt, die die materielle Konstitution der Gegenstände bergen das Potenzial, falsche Aussagen über die Welt zu betreffen. Mulvin selbst legt in seiner Reflexion keinen treffen, ohne dass entscheidbar wäre, ob diese Aussa- Schwerpunkt auf medientheoretische Interessen, den- gen ein irrationales Hindernis darstellen, das auf seine noch ist es spannend zu beobachten, welche Differen- Überwindung im weiteren Verlauf der Geschichte war- zen zwischen handgreiflichen Proxies wie dem IPK und tet.3 Diese Entscheidung wird von der zumeist unsicht- solchen, die auf mathematischen Modellierungsverfah- baren Arbeit an Abstraktionen und Modellen getroffen, ren gründen, in der Studie aufscheinen. Dies geschieht die mathematische Strukturen mit der physischen Welt etwa im Nachvollzug von Diskussionen und Sensibi- verknüpfen. An Grenzobjekten, wie sie Mulvin in den lisierungen, die letztlich dazu geführt haben, dass das Blick nimmt, kann die Implementierung mathemati- ‹Lena›-Testbild heute nicht mehr verwendet wird. Die scher Strukturen in Modellierungen aufscheinen als eine dabei vorgebrachten Argumente, so lässt sich aus me- andere als metaphorische Relation zwischen der Welt dientheoretischer Perspektive ergänzen, reichen nicht und ihren Repräsentationen und Fiktionen. bis zum ‹Material› der mathematischen Strukturen digi- Auch wenn das zum Symbol gewordene Testbild also taler Bildtechnik, sondern adressieren den Bereich der heute fehlt, ist doch die Modellierung materiell geron- Modellierung. Was das IPK aus diesem Blickwinkel vom nen und bleibt die Technologie daher «tuned to Lena» digitalen Testbild unterscheidet, ist eine operationale (S. 124), wie Mulvin hervorhebt. Nicht nur digitale Kom- Schicht der Symbolisierungen, die das Testbild in den pressionsalgorithmen, sondern auch das gelernte Se- Umgang mit dem konkreten Gegenstand einführt. Das hen der Expert_innen im Forschungsfeld des visuellen liegt daran, dass mathematische Strukturen nicht auf Computings bleibt durch das Testbild informiert. Mulvin BESPRECHUNGEN 163 BENEDIKT MERKLE geht es an dieser Stelle vornehmlich um die Praktiken der z-Achse für jedes Pixel der visuellen Ausgabe spei- menschlicher Akteur_innen. Darüber hinaus liegen Ab- chert (vgl. S. 51 f.). straktion und Modell aber ebenso materialisiert in einer Durch ihre Aufmerksamkeit für Momente der Rekur- Klasse von Objekten vor, die Jacob Gaboury als «image sion lädt Gabourys Studie dazu ein, Prozesse des grafi- objects» bezeichnet. Bildobjekte sind Materialisierun- schen Computings als Kulturtechnik zu begreifen. Die gen bestimmter Entscheidungen hinsichtlich der Ab- im Grafikprozessor kristallisierte Arbeit an Konzepten straktion und Modellierung, die Teile der Welt für digi- und Algorithmen operationalisiert eine Differenz von tale Rechner operabel machen. Gabourys historische Bild und Objekt, ein Prozess, der mit Bernhard Siegert Studie Image Objects. An Archaeology of Computer Graphics als Moment des «Re-entry der ontisch-ontologischen sucht Orte auf, an denen diese Entscheidungen g etroffen Differenz ins Ontische» beschrieben werden kann.4 werden. Entlang von fünf mediena rchäologischen Gra- Moderne GPUs haben mittlerweile viele solcher Prozes- bungen verfolgt der Autor den Prozess einer sich aus- sorkerne zur parallelen Prozessierung, was Gaboury als breitenden bildlichen Logik im digitalen Medium. «mise en abyme technique» bezeichnet, mittels d erer Einer dieser von Gaboury besprochenen Orte ist «the computer as an ontologically discrete object is das «hidden surface problem» (S. 27 – 54), ein zentrales transformed into a nested structure of objects within ob- Problem der Computergrafik, welches aufgibt, Knoten, jects, machines within machines, scaling out and down Kanten und Flächen eines dreidimensional errechneten to form a highly parallel and recursive structure that Objekts so zu interpretieren, dass Verdeckungen in der formally fixes as well as generalizes its own cultural and perspektivischen Tiefendimension errechenbar werden. historical formation» (S. 160). Von 1963 bis 1978 waren US-amerikanische Labore mit In solchen Ausführungen sucht Gaboury die verschie- der Lösung dieses Problems beschäftigt. Im Nachvollzug denen Orte der Arbeit an der Abstraktion in ihrer Ab- des Lösungswegs, so Gaboury, offenbart Computergra- stammung vom ursprünglichen Objekt und Problem des fik «the specificity of its construction: it produces vision Screens darzustellen. Die technische Arbeit an algorith- by constructing absence» (S. 54). Sichtbarkeit wird kon- mischen Verfahren, die zwischen Objektraum und Bild- struiert durch Auslassungen entlang eines partiellen raum vermitteln, wird so zum Schauplatz historischer Wissens von der Welt. Dieses Wissen um die visuelle Kontingenz. Verfolgt werden die Verwindungen von Wahrnehmung verfolgt Gaboury zur Psychologie James Bild und Objekt, beginnend 1948 mit der Small- Scale Gibsons zurück und zu dessen Mitte des 20. Jahrhun- Experimental Machine (SSEM), deren Hauptspeicher derts in computerwissenschaftlichen Kreisen viel re- durch ein CRT-Display realisiert wird (vgl. S. 78 f.). Diese zipierten psychologischen Studien zur direkten Wahr- Genealogie ist jedoch ebenso von aktuellem Interesse: nehmung von Objekten. Externe Realität wird in dieser Parallel prozessierende Grafikeinheiten und das durch K onzeption als Beziehung zwischen Oberflächen mo- sie ermöglichte Cloud Computing oder der gegenwärti- delliert und blendet subjektive Aspekte des phänome- ge Trend hin zu spezifischen System-on-Chip-Lösungen nologischen Seherlebnisses aus. Diese Abstraktion des (SoC) konsolidieren den von Gaboury beschriebenen menschlichen Sehens findet Gaboury in der algorithmi- Wiedereintritt der konstitutiven Differenz von Bild- und schen Konstruktion visueller Objekte wieder, die vom Objektraum tiefer in der Maschine. Raum der Objekte auf den Raum bildlicher Repräsen- Wo Gabourys medienarchäologische Studie archiva- tationen des Blickpunktes übergehen. Algorithmische risch die Orte kontingenter Entscheidungen aufsucht, Techniken zur Lösung des «hidden surface problem» gehen Winnie Soon und Geoff Cox in Aesthetic Program- werden in Form verschiedener Sortierungsverfahren ming den Weg einer gegenwartsorientierten Heranfüh- einer visuellen Szene vorgelegt, die die Simulation ent- rung an Grundlagen des visuellen Programmierens. Die weder als Objekt, als Bild oder als etwas dazwischen Idee ist, dass die Durchdringung gegenwärtiger Kultur behandeln. Funktionale Abstraktionen zur Genese von durch grafisches Computing und die kritische Befra- Computergrafiken kristallisieren sich zuletzt in der Fal- gung eines «computational thinking» (S. 13) nur aus der tung von Bild- und Objektraum innerhalb der Hardware: teilnehmenden Perspektive zum Gegenstand kritischer Ein neuartiger Grafikspeicher, ein sogenannter Z-Buffer, Exploration werden können. Dazu m öchten Soon und Cox wird implementiert, der die Tiefendimension entlang anleiten. Eine von künstlerischer Forschung informierte 164 ZfM 27, 2/2022 WRITING (ABOUT) CODE Lehrpraxis bildet die Grundlage eines «handbook of Bewegung zwischen Abstraktem und Konkretem eigen- sorts […] offering something messy and at the same ständig zu wagen. time more ‹useful›» (S. 13). In zehn als S eminarsitzungen Beim Lesen der Sitzungen wird deutlich, mit wel- strukturierten Kapiteln erkunden die Autor_innen die chem theoretischen und praktischen Aufwand diese Be- praktische Einbettung theoretischer und kritischer Re- wegung verbunden ist. Dies ist mitunter dem Anliegen flexionen und reichern das technische Vokabular der der Autor_innen geschuldet, nicht in einen spezifischen Leser_innen an. Dieses steht daraufhin der Bespre- Teil der Computerkultur, sondern in ein «computational chung kultureller Implikationen des P rogrammierens thinking» insgesamt einführen zu wollen. Dazu werden zur Verfügung: Verbindungen können so schneller ge- niedrigschwellige Metaphern verwendet, die zumeist zogen und Leser_innen dazu angeleitet werden, die dem Haushalt entlehnt sind. Innerhalb der Sitzungen BESPRECHUNGEN 165 BENEDIKT MERKLE Das Ungenügen des Schriftsprachlichen nehmen Soon und Cox aber auch zum Anlass, in der expliziten Suche nach passenden Metaphern die Spezifik des digitalen Schreibens zu reflektieren. In Kapitel 7 wird mit Vocable Code ein Stück Softwarekunst von Soon be- fragt, worin gesprochene Sprache und Code enggeführt sind. Durch die Kombination formallogischer Ausdrücke mit poetischen Formulierungen innerhalb des Scripts sucht Soon die Instabilität und Variabilität sprachlicher Strukturen mit denen des Codes zu kontrastieren. Da- bei wird eine Reflexion über die Übersetzungsleistung höherer Programmiersprachen angestoßen, die als Ab- straktion zwischen menschlich lesbarer Sprache und diskreten Operationen der Maschine übersetzt. Auf dem Weg praxisorientierter Anleitung gelangen Soon und Cox so zu Einsichten, die unterhalb der Ebene der Programmierpraxis liegen und finden griffige Formu- lierungen wie: «[A]bstraction is a concept fundamental to software development, which differs from machine operations, thereby focussing on building abstractions as objects» (S. 181). Ein weiteres Mal wird auf diesem Weg die Arbeit an der Abstraktion befragt. Die drei hier besproche- nen Studien weisen dieser Arbeit je unterschiedliche Orte innerhalb ihrer historisch-kritischen Methodik zu. Mulvin verfolgt sie in Spuren unstrukturierter, mensch- licher Praktiken entlang von Grenzobjekten, während Gabourys medienarchäologischer Ansatz ihre Effekte innerhalb materieller Konfigurationen des Mediums identifiziert. Soon und Cox zeigen in ihren Sitzungen, wie auch der Weg einer pädagogisch grundierten Hin- führung zur Praxis eine vielversprechende Öffnung zur entsteht so ein medialer Bruch zwischen Schreiben und Arbeit an der Abstraktion darstellt. Ein solch anleiten- Programmieren, wo immer Bedeutung im übertragenen des Schreiben kann mit und gegen einen medialen Sinne nicht weit genug in die direkte Wirkungsweise des Bruch, den blind spot des Schreibens für die direkte Codes hineinreicht. Dieser Bruch tritt etwa hervor, wo Wirksamkeit mathematischer Symbole entlang materi- eine informatische Variable zwar konzeptionell einem ell verfestigter Modellierungen, arbeiten. Behälter im Gewürzschrank ähnelt, das Haushaltsmobi- — liar aber spätestens bei der Erklärung der Differenz von lokalen und globalen Variablen Probleme aufwirft. Hier müsste der Zugang zum Behälter Regeln unterworfen werden, die diskret operieren und so eine Darstellung im übertragenen Sinn vor Probleme stellen. Letztlich bleibt den Autor_innen an solchen Stellen nur der weite Sprung zur technisch komplexeren offiziellen Dokumen- tation der genutzten Programmbibliothek p5.js oder gar der Spezifikation des ECMAScript. 166 ZfM 27, 2/2022 WRITING (ABOUT) CODE 1  Vgl. Adrian Mackenzie: M achine Learners. Archaeology of a Data Practice, Cambridge (MA), London 2017 und auf GitHub: github.com/datapractice/machine learners (23.6.2022). 2  Beide Schreibweisen sind gängig. Lena Forsén modifizierte ihren Namen, um dessen schwed ische Aussprache im A merikanischen zu behaupten; vgl. Linda Kinstler: Finding Lena, the Patron Saint of JPEGs, in: W ired, 31.1.2019, www.wired.com/ story/finding-lena-the-patron-saint- of-jpegs (12.5.2022). 3  Hierzu forschen Christina Vagt und Robert Groome. Das unpublizierte Working-Paper «On Models, Objects, Fantasy» bildete die Grundlage für einen Vortrag am Departement of Ger- manic Languages and Literatures der Yale University im Oktober 2020: german.yale.edu/sites/default/ files/paper_vagt_groome-on_models_ objects_fantasy.pdf (12.5.2022). 4  Bernhard Siegert: Öffnen, Schließen, Zerstreuen, Verdichten. Die operativen Ontologien der Kulturtechnik, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Bd. 8, Nr. 3, 2017, 95 – 113, hier 100. BESPRECHUNGEN 167 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 27 (2/2022), https://doi.org/10.14361/zfmw-2022-140215. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0 DE licence. — PLATTENKRITIK UND TYPENSCHAU Kleinteiliges und Naheliegendes zum (Gesellschafts-)Umbau von CHRISTOPH EGGERSGLÜSS Tomasz Lewandowski, Kunsthaus Raskolnikow e. V. versehen, darunter «Zepe», «Wenzel», «Seidel», «Rode- (Hg.): WBS 70 fünfzig Jahre danach, Leipzig (Sphere wald» und wahrscheinlich «Rösler» (recht unleserlich). Publishers) 2020 Darüber hängt eine Gardinenleiste, die in die vorhan- denen Bohrlöcher passt: alles ausgemessen, standardi- Arnold Bartetzky, Nicolas Karpf, Greta Paulsen (Hg.): siert. Sie stammt von einer Hausauflösung im wenige Ki- Architektur und Städtebau in der DDR – Stimmen und Erinne­ lometer entfernten Leipzig-Grünau. Dahin verschlägt es rungen aus vier Jahrzehnten, Berlin (DOM Publishers) 2022 Innenstädter_innen auf dem Weg an den Kulkwitzer See Matthias Brunner, Maren Harnack, Natalie Heger, oder zum Impfen in den Freizeittreff Völkerverständigung.1 Hans Jürgen Schmitz (Hg.): Transformative Partizipation. Ähnliche Grundrisse wie die der Küche gibt es sicherlich Strategien für den Siedlungsbau der Nachkriegsmoderne, auch in den Großtafelbauten Grünaus. 2016 waren diese Berlin (Jovis) 2021 Gegenstand wie Ort von Ausstellungen und Symposien.2 Seitdem sind einige Bücher dazugekommen, die Jens Casper, Luise Rellensmann (Hg.): Das Garagen­ sich dem Leben mit und zwischen den Platten im Sinne manifest, Zürich (Park Books) 2021 kulturwissenschaftlicher Architekturforschung widmen: Platte hat Konjunktur, zumindest auf dem Büchertisch. — Sie nehmen mal soziologische, mal mehr kunsthistori- In einem Wohnriegel am Rand des Leipziger Kolonna- sche und architekturwissenschaftliche Perspektiven auf denviertels findet sich in einer Küchenecke auf der von gebaute Umwelt ein. Vor dem konstruktionsgeschichtli- Tapete befreiten Platte der Nachweis ihrer Herkunft: chen Hintergrund verschränken sie Bauen als soziotech- ein «Qualitätspaß», der sie als «PWL Außenwand» aus- nisches Programm und Baukultur als ‹Politik der Plat- zeichnet, hergestellt vom Plattenwerk Leipzig. Dar- te› – nicht nur mit Blick auf Rahmenbedingungen und auf sind nicht nur die Nummer des Elements notiert Logistik, Staatsapparat und Denkmalpflege, Kosten- («45531B / KC»), sondern auch Produktionseigenschaf- kalkül und Abriss, sondern auch auf Alltagsgeschichte: ten und Fertigungsschritte: von «Betonmasse», «Her- Die Fallstudien (WBS 70 und Transformative Partizipation), stellungsdatum 26.5.86», «Einbringung Kernbeton», Interviews (Architektur und Städtebau in der DDR) und Orts- «Dämmschicht», «Sichtfläche» bis hin zum «Fenster- begehungen (Garagenmanifest) handeln von Infrastruk- einbau». All diese Zeilen sind neben Mengen und Da- turen sowohl des Bauens als auch des Wohnens, spüren ten mit den Namen der beteiligten Facharbeiter_innen ihrem ‹Eigen-Sinn› (Alf Lüdtke) nach. 168 ZfM 27, 2/2022 Das eingangs beschriebene Betonelement stammt in Dresden-Gruna» auftauchen (S. 20), den jeweiligen aus der Spätphase der WBS 70 (Wohnungsbauserie Außenansichten und Versorgungseinrichtungen ge- 70).3 Kurz hieß sie noch ‹System›, bis dieser Begriff in genüber. Eindrücklich sind die Familienporträts derer, Zeiten Honeckers missfiel. Dies erläutert WBS 70 fünf- die einmal das Glück oder die «sozialen Voraussetzun- zig Jahre danach, eine Begleitpublikation zur Ausstellung gen» hatten (S. 43), eine dieser Vorzugswohnungen mit «Kunst.off Plattenbau» des Dresdner Kunsthauses Fernwärme zugeteilt zu bekommen.6 Während Nickol Raskolnikow (2020 / 21). Sie vergleicht Entwicklungen seinen Beitrag zum Potenzial der Platte mit der Losung in der DDR und in Polen, z. B. Dresden und Gorbitz «auf ewig in die Zukunft verschoben» schließt (S. 21), (Tanja Scheffler und Antje Kirsch) und Warszawa und was dem heutigen Arbeitsauftrag der Denkmalpflege Ursynów (Stefan Paruch), auch anhand der Bauserien entsprechen mag, gelingt es Niels-Christian Fritsche, («WBS70= / W70») selbst (Magdalena Kamiń s k a ). Es wird wenngleich in einem etwas hektischen Rundumschlag, deutlich, dass nicht allein Normunterschiede eine Ver- ein paar Fäden zusammenzuführen. Man hätte sich einigung der S ysteme verhinderten.4 Erfolgreich war die längere Ausführungen und mehr Archivmaterial ge- WBS 70 durch Baueinheiten, die weniger in Segmenten wünscht; diese Schlaglichter auf Vergangenheit und als vielmehr in Modulen konzipiert waren: «Um einen (gescheiterte) Zukunft – wie Tomasz Lewandowskis Erschließungsbaustein herum sollten Wohneinheiten Überblick zum kommunistischen Stigma der Platte im beliebig angeordnet werden können. Daraus ergeben heutigen Polen – wirken gerafft. Gleichwohl eignet sich sich verschiedene Grundrisskonfigurationen, Gebäu- der Band, um die einmal verschrienen ‹Wohnregale› deformen und städtebauliche Anwendungsmöglichkei- als Lebensumstände, als gesellschaftliche Katalysato- ten», so Ch ristopher Nickol (S. 12). Zudem sollten lokal- ren einer «Sozialökologie des Wohnens»7 zu begreifen. spezifische Typen der Baukombinate (Dessau, Dresden, Heute dienen sie gar als Lupe der «Transformations- C ottbus, Leipzig…) gerade bei Details (‹Erfurter Dach›, gesellschaft», wie Steffen Mau andernorts über Lütten Balkonabschlüsse u. ä.) zu einer gewissen Formenvielfalt Klein (einen Ortsteil von Rostock) zusammenfasst: führen.5 Unterbrochen werden die Aufsätze von Christine Die ‹Platte› versammelte alle Schichten, alle Be- Starkes Bilderfolge des Dresdener Stadtteils Gorbitz von rufsgruppen und stellte durch die standardisier- 1988 / 89. Sie stellt Innenansichten, wie sie u. a. in der ten Lebenslagen und die geringe Varianz der Le- «Mustereinrichtung für eine WBS 70-Vierraumwohnung bensformen Kohäsion zwischen unterschiedlichen BESPRECHUNGEN 169 CHRISTOPH EGGERSGLÜSS sozialen Fraktionen her. Sie beseitigte Trennungs- Der Verfall war überall. Nicht nur in den Vorstädten linien zwischen akademisch Qualifizierten, Fach- mit ihren einfacheren Bebauungen, sondern auch in arbeitern, Angestellten sowie Un- und Angelernten den gutbürgerlichen Wohngebieten wie dem Wald- und schuf ein schichtenübergreifendes ‹respekta- straßengebiet. Viele Menschen brauchten einfach bles Sozialmilieu›.8 ein Dach über dem Kopf, ein Dach, das funktioniert und trocken ist. Erst dann kann ich mit ihnen darüber Der Interview-Band Architektur und Städtebau in der reden, wie es rundherum aussieht. (S. 75) DDR – Stimmen und Erinnerungen aus vier Jahrzehnten wie- derum beleuchtet die Hinterbühne des Baugesche- Das klar strukturierte Buch wird in derartigen Erklärun- hens in der DDR. Er bietet moderierte Gespräche, die gen nicht geschwätzig oder rührselig, sondern arbeitet Studierende am Institut für Kunstgeschichte der Uni- Differenzen und Kontroversen unter den Befragten he- versität Leipzig führten. Mit Fokus auf die «mündliche raus. Man lernt, dass nicht allein Komplettabriss und Überlieferung» möchte diese Sammlung eine Lücke Neubau verhandelt wurden und dass überhaupt sehr schließen, um dem «weitgehend informellen Charakter kritisch und früh, d. h. lange vor der ‹Wende›, über das der Entscheidungsprozesse» (S. 7) in dem sonst durch- eigene Erbe diskutiert wurde. Die Gründerzeitbauten strukturierten System gerecht zu werden und dabei auch galt es nebst Lückenbebauungen mit den vorhandenen Akteur_innen abseits der erhaltenen Schriften zu identi- Mitteln zu retten, obgleich es mitunter an ausgebildeten fizieren – auch wenn hier v. a. jene zur Sprache kommen, Handwerker_innen fehlte: die bauen durften. Die Interviews zeichnen sich zum Teil durch intime Gesprächssituationen aus – manchmal Das nannten wir Reproduktionsrechnung. […] Es kamen die Studierenden zu den Interviewten nach Hau- ging um den Erhalt der Stadt. Fest stand, dass der se und erhielten «unterstützt durch Kaffee und Kekse» Plattenbau schon nützlich sein kann, wenn er innen (S. 11) eine persönliche Sicht auf die Dinge: Anekdoten eingesetzt wird. Am besten wäre es gewesen, die wie Autobiografisches, unterfüttert von städtebaulichen Menschen umzuschulen und die alten Häuser instand Details, Fotos und Papier architekturen. Am Beispiel des zu setzen. Aber derjenige, der die Platte montierte, D orotheenplatzes, einer zerbombten Barockanlage der konnte das eben nicht. (S. 76) Leipziger Westvorstadt, erschließen sich damit nicht nur die Abwandlungen der hochskalierten Planungs- Entschiedene Gegenstimmen zu denen der Chefplaner_ vorgaben und Losgrößen der Plattenwerke, sondern inn en und Baukombinate, wie die von Angela Wandelt auch Kontinuitäten und Brüche in den Sichtweisen der von der Initiative Leipziger Architekten, kommen am Planenden. Mitte der 1980er Jahre kam es zum vermehr- Ende zu Wort. Unter dem Einfluss international aufge- ten Ausbau der Innenstadt, so der interviewte Dietmar stellter Bibliotheken wie jener der Weimarer Hochschule Fischer, einer der ehemaligen «Chefarchitekten» (S. 77), für Architektur und Bauwesen9 habe man sich manch der selbst wegen der Zuteilung eines Neubaus mit der andere Perspektive vorstellen können: «Natürlich wur- Familie einst nach Leipzig kam (S. 67): den dort [innenstädtisch] viele Lücken geschlossen, 170 ZfM 27, 2/2022 PLATTENKRITIK UND TYPENSCHAU aber erst musste man größere schaffen, damit Für die Bewohner*innen war das Enga- die Plattenbauten dort Platz fanden. […] Die gement in der Stadtteilarbeit eine Grat- Alternative wäre gewesen, sich von dem star- wanderung zwischen dem marxistischen ren Baukastensystem zu lösen.» (S. 222) Sol- Jargon und dem teils überbordenden Ego che Verhandlungen bieten sich an, um – nicht der [aktionistischen] Studierenden, dem zuletzt anhand von grauen Literaturen, wie Streben nach der Verbesserung der eige- etwa Leitfäden und Katalogen des Instituts für nen Lebensverhältnisse und der Selbst- Wohnungs- und Gesellschaftsbau der Bau- ermächtigung. Zudem erforderte es eine akademie –, Techniken wie Technologien zu große Beharrlichkeit nahe der Selbstaus- reflektieren, mit denen die Wohnriegel ge- beutung. (S. 16) baut, genutzt und gewartet wurden.10 Ost, Mitte und West sind sich, verengt man An verschiedenen Orten der Nachkriegszeit den Blick auf Massenwohnungsbau der 1950er werden die Grenzen der Partizipation aufge- oder Großsiedlungen der 1970er Jahre, näher zeigt, nicht zuletzt schon durch die Grundrisse, als gedacht. Nur gilt ebenfalls, dass in der DDR wie u. a. Andrea Jany am Beispiel Graz betont. flächenmäßig auf die Plattenbauweise gesetzt Hervor sticht zudem die von Sigrun K abisch und dadurch ein viel höherer Bevölkerungsan- nachgezeichnete soziologische Intervall-Lang- teil in den entsprechenden Siedlungen soziali- zeitstudie Leipzig-Grünau, die seit 1979 Ein- siert wurde als in der BRD.11 Wie und warum sie flussmöglichkeiten und «Wohnzufriedenheit» in Zeiten von starker Abwanderung, Teilabris- abfragte (S. 78). Den Beiträgen gelingt es, nicht sen, aber auch Nachverdichtungen bestehen nur Interventionspotenziale aufzuzeigen, son- konnten, zeigt der Sammelband Transformative dern Entwurf und Wirklichkeit nebeneinander- Partizipation. Strategien für den Siedlungsbau der zuhalten. Sie eröffnen damit einen Bereich, der Nachkriegsmoderne. Die retrospektive Sicht der nicht selten von Improvisation und Reparatur Planenden wird mit jener von Historiker_in- zusammengehalten wird. nen, Künstler_innen und Bewohner_innen Diesen Übergangsräumen widmet sich das kontrastiert. Liest man die beiden letztge- Garagenmanifest, dessen Titel zuerst verwun- nannten Bücher parallel, ergibt sich ein brei- dert. Eindrucksvoller ist die fußläufige Annä- tes Spektrum an Zugriffen und Schreibweisen: herung an diese Medienökologien der Nach- Betroffenheit und Ermächtigung, Hoffnung barschaft. Mit dem kleinformatigen Band geht und enttäuschte Erwartung. Was tun mit den es buchstäblich vor die Tür und zwischen die vorgefertigten Rastern und Ideen, wenn die Ta- Häuser. Hervorgegangen aus einem Seminar bula rasa einmal bebaut ist? Der Band Transfor- an der Brandenburgischen Technischen Uni- mative Partizipation behandelt unterschiedliche versität Cottbus-Senftenberg nimmt die Pub- Siedlungen, ihre gesetzten wie gewachsenen likation den randständigen Topos der Garage Strukturen. Mit Reiterin auf Pferd vor Platten- auf. Dabei wurden die Orte nicht nur besich- kulisse auf dem Cover sammelt er gut recher- tigt, es wurde intensiv in A rchiven geforscht chierte historische Fallstudien (u. a. Berlin, und Anwohner_innen wurden befragt, um so Darmstadt, Leipzig, München, Graz) und die «soziokulturelle Bedeutung» der Gara- künstlerische Interventionsberichte. Einen gen zu erschließen, was die Verfasser_in- abwägenden Einstieg liefert Nina Gribat nen mit einer Kritik an den statischen mit ihrer Analyse recht früher Reforma- «Grenzen einer autoritären Denkmal- tionsprozesse des Märkischen Viertels, pflegepraxis» verbinden (S. 9). Be- in dem sie die enttäuschten und über- gleitet von einigen Gemeinplätzen, zogenen, zum Teil chauvinistischen und so etwa über die «männerdominierte einseitigen «Beteiligungserwartungen» Autokultur» (S. 25), liegt der Fokus auf (S. 17) verschiedener Gruppen unterstreicht: den Garagenkomplexen als Inbegriff von BESPRECHUNGEN 171 CHRISTOPH EGGERSGLÜSS «Selbsthilfe und Eigenbaupraxis» in der DDR (S. 21).12 Auch in diesem Buch ist Bewahren Programm. Waren es dort die alternden Zeitzeug_innen, sind es hier die letz- ten Zeugnisse informeller Baukultur, die es angesichts des Endes des Schuldrechtsanpassungsgesetzes über die Nutzungs- und Besitzverhältnisse zu bewahren gilt. Der Band überzeugt, wo er Material- und Archivfunde präsentiert und (vermeintlich) anonymen Architektu- ren hinterherspürt. Ein wenig schief liegt das Kapitel «Making Heritage», in dem man das eigentliche Ma- nifest erkennen mag. Fraglich bleibt, ob es diesen Zu- satz wirklich braucht. Sind die angeführte Reihe großer Namen (Alberti, Riegl, Koolhaas …) und der weit auf- gespannte Kontext von CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) nötig, um das Besondere der DDR-Garagenkultur zu markieren? Eine Einordnung in die für sich schon schwierige Ostmoderne-Forschung wäre hilfreicher gewesen, wie sie in den letzten Sätzen aufscheint und doch wieder auf die internationale Büh- ne flieht.13 Eine Begründung aus dem Material heraus wäre nachvollziehbarer gewesen: Garagenanlagen als kollektive Produkte, für die Vereine und Bewohner_in- nen verantwortlich zeichnen, geduldete Schwarzbauten und variantenreiche Typenbauten (Dresden, Knap- penrode u. a.). Garage bedeutet, das unterstreichen die Beiträge, nicht nur geschützter Parkplatz, sondern Anlegen von Materialvorräten. Sie ist Ort des Versam- melns sowie Zurückziehens von Familie und / oder Staat: «Rund um die Garagen herrscht eine rege Reparatur- kultur, die ihren Erhalt sichert.» (S. 16) Die Stärke des Buches liegt nach dem einleitenden historischen Auf- zug in den verdichteten Miniaturen. Dabei hätte man sich gelegentlich den ausführlichen Abdruck der zitier- ten Archivfunde (wie etwa S. 13, 27) gewünscht, gerade wenn von nicht realisierten Planungen (S. 143), Bauan- trägen (S. 107) oder gar besonderen Typenentwürfen die Rede ist (S. 83). Mit dem mutmaßlichen Manifest hingegen werden Teile der eigentlichen Historiografie überschrieben, das Erbe, um das es geht, überformt. Diesen Punkt macht die Publikation selbst. Die Au- tor_innen kritisieren die «kunsthistorisch-wissen- schaftliche Interpretationsmacht» (S. 159), eine starre Konservierungslogik, plädieren mit Dolores Hayden für das Kleine, Namenlose und Alltägliche (S. 165) und stellen zugleich fest, Denkmalpflege beginne mit dem Auswählen und Aufzeichnen, werde also von kuratori- schen Aspekten begleitet.14 Forschungsdesiderat bleibt 172 ZfM 27, 2/2022 PLATTENKRITIK UND TYPENSCHAU indessen eine architekturhistorische Aufarbeitung der 1  Im Mai und Juni 2022 fand Christine Hannemann: Die Platte. mehr oder minder anonymen Geschichte der Typen- hier treffenderweise die Foto- Industrialisierter Wohnungsbau in ausstellung WBS 70 von Fabian der DDR, Wiesbaden 1996. bauten. Dabei lohnt die Lektüre des Bands allemal, Heublein statt, die das Leben vor 6  Zum Fotostudium an der denn er erreicht, was er verspricht: die Würdigung der den Bauten beleuchtete. HGB Leipzig vgl. Agneta Jileks Garage als «eigenständige architektonische Typologie» 2  Vgl. hierzu das großformatige Dissertation Arbeit im Bild. Die Buch zum gleichnamigen Festival, Repräsentation von Arbeit in der (S. 28). Nicht zuletzt können die Lektürehinweise dazu u. a. mit Bildern von Harald staatlich geförderten Autorenfoto- dienen, das Feld weiter zu erschließen und gleicherma- Kirschner, von Juliane Richter, grafie der 1980er Jahre in der DDR, ßen gelungene Seminare zu gestalten. Tanja Scheffler, Hannah Sieben Berlin 2020. Siehe hierzu auch (Hg.): RASTER BETON – Vom Leben den Film Platte mit Aussicht: Über — in Großwohnsiedlungen zwischen das Neubaugebiet Dresden-Gorbitz, Kunst und Platte – Leipzig-Grünau im Regie: Uta Hergert und Marcel i nternationalen Vergleich, Weimar Raabe, Deutschland 2005/06, 2017. 80 min. 3  Die WBS 70 wurde 1969 von 7  Steffen Mau: Lütten Klein. der Bauakademie der DDR sowie Leben in der ostdeutschen Transfor- der TU Dresden entwickelt und mationsgesellschaft, Frankfurt / M. ging nach einem Versuchsbau 2020, 40, im Orig. kursiv. des Wohnungsbaukombinats 8  Ebd., 37. Neubrandenburg ab 1972 / 73 in 9  Vgl. Frederike Lausch: Serie. Es wurden etwa 42 Prozent Architektenausbildung in Weimar: von 1,52 Millionen W ohnungen 29 Lebensläufe zwischen DDR und in dieser Plattenbauweise BRD (Forschungen zum bau- errichtet, vgl. Bundesministerium kulturellen Erbe der DDR No. 4), für Raum ordnung, Bauwesen Weimar 2015. und Städtebau: Leitfaden für die 10  Vgl. hierzu das ZfM-Schwer- Instandsetzung und Modernisie- punktheft Medien / Architekturen rung von Wohngebäuden in der (1 / 2015), dx.doi.org/10.25969/ Plattenbauw eise (Wohnungsbauserie mediarep/1362. 70 – WBS70 6,3 t), Berlin 1997, 3. 11  Wovon u. a. auch Steffen 4  Polen orientierte sich nicht Maus autobiografisch unter- nur am Massenwohnungsbau malte Studie Lütten Klein erzählt: Frankreichs, sondern auch an der «Niemand hatte der DDR eine (westlichen) ISO (Internationale Ewigkeitsgarantie gegeben, aber Organisation für Normung), alle hatten sich über vierzig Jahre während die DDR den eigenen an ihre Existenz gewöhnt.» TGL (Technische Normen, Güte- Mau: Lütten Klein, 113. vorschriften und Lieferbedingun- 12  Stellvertretend für die gen) folgte, zudem waren die zahlreichen Arbeiten über die ‹Grundraster› (30 × 30 cm bei der Kulturtechniken des Reparierens polnischen W 70, 1,20 × 1,20 m bei kann hier hingewiesen werden der WBS 70 in der DDR) verschie- auf das Heft ilinx. Berliner Beiträge den (vgl. WBS 70, 38). zur Kulturwissenschaft, Nr. 4: Work- 5  Mehr zur Baukonstrukti- arounds. Praktiken des Umwegs. onsgeschichte der einzelnen 13  Vgl. hierzu Mark Escherich, Typenreihen und Experimental- Hans-Rudolf Meier: Denkmale in bauten sowie Beteiligung der der DDR – Denkmale der DDR, Denkmalpflege in dem minutiös in: Roman Hillmann (Hg.): Moder- recherchierten Band Moderne ne Architektur der DDR. Gestaltung, Architektur der DDR. Gestaltung, Konstruktion, Denkmalpflege, Leipzig Konstruktion, Denkmalpflege, hg. v. 2020, 142 – 154. Roman Hillmann, Leipzig 2020. 14  Casper und Rellensmann Ebenso hilfreich ist das aktuelle schreiben: «Der Auswahlpro- zweibändige Nachschlagewerk zess von Denkmälern wird Vom Seriellen Plattenbau zur komple- bei aller Wissenschaftlichkeit xen Großsiedlung. Industrieller Woh- immer auch von der persönlichen nungsbau in der DDR, 1953 – 1990, Zuschreibung bestimmter Werte hg. v. Philipp Meuser, Berlin 2022, getrieben – individuell, subjektiv, insbesondere die abgedruckten letztendlich abhängig von Produktions- und Baustellen- verschiedenen kulturellen und fotos zur Wohnungsbauserie gesellschaftlichen Prägungen.» 70, S. 249 ff. Grundlegend vgl. (Garagenmanifest, 167 f.) BESPRECHUNGEN 173 — AUTOR_INNEN Rey  Chow ist Andrew W. Mellon Distinguished Professor Ulrike  Hanstein ist Professorin für Filmwissenschaft an of the Humanities an der Duke University, Durham, wo sie der internationalen filmschule köln. Ihre Forschungs- u. a. im «Program in Literature» lehrt. Zu ihren zahlreichen interessen sind feministische Film- und Videoprakti- Monografien gehören Not Like a Native Speaker. On Lan- ken, Performance Art, dokumentarische Arbeitsweisen, guaging as a Postcolonial Experience (2014), Entanglements, or Künstlerinnen-Archive sowie Modelle und Methoden Transmedial Thinking about Capture (2012), Sentimental Fabu- der Mediengeschichtsschreibung. Aktuelle Publikation: lations, Contemporary Chinese Films (2007) und The Age of the «Revue und Recherche. Jade Montserrats Performance World Target (2006). Gemeinsam mit James A. Steintrager Shadowing Josephine (2013)», in: MAP – Media | Archive | Per- hat sie den Band Sound Objects (2019) herausgegeben. Ihre formance, Nr. 11, 2020. www.perfomap.de/map11/ in vielen Anthologien veröffentlichten und breit zitierten Schriften sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Laura Horelli ist eine in Berlin lebende bildende Künst- lerin und Filmemacherin. Sie ist Lehrbeauftragte an der Dorothea Dornhof, PD Dr., Literatur- und Kulturwissen- Universität zu Köln und der Universität Potsdam. In ihrer schaftlerin, lehrte und forschte an der HU Berlin und Arbeit untersucht sie, meist im Medium des digitalen der Europa-Universität Viadrina, als Gastprofessorin am Films, die Schnittstelle von privatem und öffentlichem Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechter- Raum. Sie ist an Darstellungen und Vermittlungen der forschung der TU Berlin, an der University of Chicago, Vergangenheit interessiert und verfolgt dabei einen mikro- der Monash University Melbourne und im Rahmen der historischen Ansatz. 2021 ist ihr Künstlerbuch C hanges in DFG-Forschergruppe «Kulturen des Wahnsinns. Schwel- Direction – a Journal bei Archive Books erschienen. lenphänomene urbaner Moderne». Forschungsfelder: www.laurahorelli.com Geschichte und Theorie der Alterität, Wissenschafts- und Geschlechterforschung, Kultur und Ökonomie. Francis  Hunger arbeitet im Schnittfeld von künstleri- Zuletzt erschienen: «Unterwegssein. Für eine Ethik der scher Forschung und Medienwissenschaft und forscht D ifferenz», in: Antonia Balfanz u. a. (Hg.): (Um)Wege zum derzeit im Projekt «Training the Archive» im Hartware Wissen. Festschrift für Bo˙zena Chołuj, Berlin (Logos) 2022. MedienKunstVerein, Dortmund, zum Einsatz von künstli- cher Intelligenz, Statistik und Mustererkennung in Kunst Christoph  Eggersglüß ist Medien- und Kulturwissen- und kuratorischen Praktiken. PhD an der Bauhaus-Uni- schaftler an der Philipps-Universität Marburg («NFDI4- versität Weimar zur Genealogie von Datenbanktechno- Culture – Konsortium für Forschungsdaten materieller logien. Zuletzt erschienen: «Data Workers of All Coun- und immaterieller Kulturgüter»). Er war Mitarbeiter des tries, End It!», in: Isabella Kohlhuber und Oliver Leistert IKKM an der Bauhaus-Universität Weimar, Mitglied der (Hg.): Hamburg Maschine revisited, Hamburg (Adocs) Forschungsgruppe «Verräumlichung und Kulturtechni- 2022; «Transaktionsverarbeitung in relationalen Daten- ken» (Erfurt / Gotha / Weimar), Lehrbeauftragter an der banken – Zur Materialität von Daten aus Perspektive der Leuphana-Universität Lüneburg sowie Stipendiat des Transaktion», in: Archiv für Mediengeschichte, Nr. 19, 2021, DFG-Graduiertenkollegs «Mediale Historiographien» (Er- 101 – 111. Hunger kuratiert manchmal Ausstellungen und furt / Jena / Weimar). Zuvor hat er in Bremen, Göteborg und unterrichtet regelmäßig an Hochschulen. Weimar studiert (Europastudien, STS, Medienkultur). Ne- www.irmielin.org, twitter.com/databaseculture ben der Projektmitarbeit in der «NFDI» forscht und schreibt er u. a. über dokumentarische Formen und Verfahren, Field Recording sowie Architektur- und Infrastrukturgeschichte. 174 ZfM 27, 2/2022 Annett  Jahn arbeitet als Projektleiterin von «Sozialis- Franziska  Klemstein arbeitet an der Bauhaus-Uni- mus im Bild. Ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt versität Weimar als wissenschaftliche Mitarbeiterin zur fotografischen Aneignung von DDR-Lebenswelten» für Digital Humanities. Sie studierte Kunstgeschichte im Forschungsverbund «Diktaturerfahrung und Trans- und Geschichte sowie Kunstwissenschaft und Kunst- formation» an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. technologie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Sie ist ausgebildete Fotografin und hat an der Bauhaus- Bereich der Architekturgeschichte und Denkmalpflege Universität Weimar Medienkultur studiert. Als Assistentin sowie in den Digital Humanities. Jüngst erschien ihre war sie in verschiedene Projekte der ACC Galerie Weimar D issertation: Denkmalpflege zwischen System und Gesell- eingebunden. Die von ihr in Zusammenarbeit mit der ACC schaft. Vielfalt denkmalpflegerischer Prozesse in der DDR Galerie kuratorisch betreute Ausstellung «unscharf mas- (1952 – 1975), B ielefeld (transcript) 2021. kieren» wird vom 3.12.2022 bis zum 13.2.2023 in Weimar zu sehen sein. Jana  Mangold arbeitet als wissenschaftliche Koordina- torin der Forschungsgruppe «Kulturtechniken des Sam- Johanna  Käsmann ist seit 2022 wissenschaftliche Mit- melns» an der Universität Erfurt. Sie forscht zu Materiali- arbeiterin in der Neueren Deutschen Literaturwissen- tät und Formaten der Popkultur, Geschichte und Theorie schaft an der Universität Erfurt. Hier koordiniert sie das der Rhetorik sowie Ethnologie. Publikationen: McLuhans literaturwissenschaftliche Nachwuchskolleg «Texte. Zei- Tricksterrede. Archäologie einer Medientheorie, Berlin (De chen. Medien» und arbeitet seit 2020 an ihrer Dissertati- Gruyter) 2018; «Mit Duchamp Plattenhüllen öffnen», in: on «Reißende Stellen. Orte des Schreibens in Wolfgang PhiN: Beihefte, Nr. 23, 2020, 58 – 88. H ilbigs Romanen». Sie studierte Germanistik und P hilosophie im Bachelor sowie Literaturwissenschaft Benedikt  Merkle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im im Master an der Universität Erfurt. Ihre Forschungsin- NOMIS Forschungsprojekt «THE NEW REAL: Past, P resent teressen beziehen sich insbesondere auf Wende- und and Future of Computation and the Ecologization Nachwendeliteratur, Schreibszenen und Schreibpro- of C ultural Techniques» an der Bauhaus-Universität zessforschung. W eimar. Er hat Medienkulturwissenschaften, Philoso- phie und Kulturwissenschaft in Freiburg i.Br. und Berlin Manuela  Klaut arbeitet als wissenschaftliche Mitarbei- studiert und war an den Universitäten Hagen und Siegen terin am Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien tätig. Sein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit Ge- an der Leuphana Universität Lüneburg und als Dozentin schichte und Ästhetik der Flash-Animation. an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und an der Bauhaus-Uni Weimar. Sie forscht zu Medien- Christine von Oertzen ist Principal Investigator des The- und Kulturtechniken des Rechts und interessiert sich menbereichs «Data, Media, Mind» am Max-Planck-Insti- für digitale Rechtsfindung, filmische und tatsächliche tut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und S-Professorin Institutionsgeschichte(n). Publikationen: gem. m. Claus für Mediale Praktiken am Institut für Musikwissenschaft Pias und Gottfried Schnödl: Stimmen hören (für Wolfgang und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität Hagen), Berlin (ciconia ciconia) 2020. Im Erscheinen: zu Berlin. Ihre Forschungen zur materiellen Kultur des Kluges Fälle. Vorarbeiten zu Abschied von gestern, Leipzig Sammelns, Verarbeitens und Visualisierens von Daten (Spector Books) 2022. hat sie u. a. publiziert in: gem. m. Elena Aronova und David Sepkoski (Hg.): Data Histories, Chicago (University of Chicago Press) 2017; gem. m. Carla Bittel und Elaine Leong (Hg.): W orking With Paper. Gendered Practices in the History of Knowledge, Pittsburgh (University of Pittsburgh Press) 2019; gem. m. Sebastian Felten (Hg.): Histories of B ureaucratic Knowledge, in: Journal for the History of Knowledge, Bd. 1, 2020. AUTOR_INNEN 175 Peer Pasternack, Institut für Hochschulforschung an der Hannah  Wiemer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Sozialwis- Lehrstuhl Medien und Wissen im Fachbereich Medien- senschaftler, Zeithistoriker, Professor für Hochschulfor- wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. schung, Institutsdirektor, 1991 Gründer und Herausgeber Zwischen 2019 und 2021 war sie zudem für mehrmona- der Zeitschrift die hochschule. journal für wissenschaft und tige Forschungsaufenthalte als Gastwissenschaftlerin bildung (bis 2001 unter dem Titel hochschule ost). Arbeits- am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Ihr schwerpunkte: Hochschulpolitikanalyse, Hochschul- aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Biblio- organisation, Bildung und Wissenschaft in regionalen theksinfrastrukturen. Zuletzt erschienen sind ihr Aufsatz Kontexten, Wissenschaftszeitgeschichte. Dazu unter «The West Berlin Staatsbibliothek and the Sound Politics anderem 44 monografische Veröffentlichungen, davon of Libraries», in: Grey Room, Bd. 87, 2022, 44 – 65 und 13 als Alleinautor. www.peer-pasternack.de ihre Dissertation Camouflage. Landschaftslektüren zwischen T heater, Kunst und Krieg 1914 – 45, Berlin (De Gruyter) 2020. Ulrich Richtmeyer studierte Kunst (Diplom) und Philoso- phie (Promotion) und habilitierte zu «Wittgensteins Bild- Gerd  Zimmermann, Bauhaus-Universität Weimar, ist denken». Er ist Professor für Medienkulturarbeit an der Professor i. R. für Entwerfen und Architekturtheorie. Er Fachhochschule Potsdam. Seine Forschungsinteressen war Rektor der Hochschule für Architektur und Bauwe- liegen in der Medienphilosophie mit dem Schwerpunkt sen / Bauhaus-Universität Weimar in drei Amtszeiten auf Bildern, Techniken und Ästhetiken seit dem 18. Jahr- (1992 – 1996, 1996 – 2001, 2005 – 2011), 1999 – 2001 Vize- hundert. Er ist Herausgeber der Reihe «Maschinentexte präsident der Hochschulrektorenkonferenz, 2012 Senior aus Sanssouci», die im Brandenburgischen Zentrum für Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikfor- Medienwissenschaften (ZeM) erscheint. Der neueste Titel schung und Medienphilosophie Weimar, 2015 – 2021 der Reihe findet sich hier: www.kulturverlag-kadmos.de/ Präsident der Stiftung Baukultur Thüringen. Forschungs- programm/details/julien_offray_de_la_mettrie-die_tiere_sind_ schwerpunkte: Architekturtheorie, Architekturpsycholo- mehr_als_maschinen. gie und -semiotik. Internationale Bauhaus-Kolloquien, div. internationale Kolloquien und Publikationen. Lotte  Schüßler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. An der Humboldt-Universität zu Berlin promovier- te sie mit der Studie Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900, Göttingen (Wallstein) 2022. Sie forscht zu Medien und Materialitäten der Geistes- wissenschaften sowie zu Theater- und Mediengeschichte aus feministischer Perspektive. Alexander Wagner, geboren 1987 in Hoyerswerda (DDR), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Uni- versität Wuppertal am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien- und Wissensgeschichte, Kultursemiotik, Raumtheorie, das Verhältnis von Literatur zu Wissen (-schaft) und Populärkultur, Formen kultureller Selbst- vergewisserung und (wissenschaftliche) Modellbildung. Er hat über die Kontinuität des deutschen Kolonialismus im Nationalsozialismus promoviert und arbeitet gern an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst. 176 ZfM 27, 2/2022 — BILDNACHWEISE S. 9  Cover der DDR-Heimwerkerzeitschrift practic, Nr. 2, 1986 S. 124  Aus: Wilhelm Herzberg: Papier-Prüfung, Berlin 1894, Tafel 14 S. 18 – 21  Screenshots aus: Heimat ist ein Raum aus Zeit, Buch und S. 126  Aus: Feldpostbrief der Heidelberger Zeitungswissenschaftler, Nr. 1, Regie: Thomas Heise, DE / AT 2019 29.2.1944, Universitätsarchiv Heidelberg, Rep. 121 / 7 S. 24  Aufnahme des Autors S. 129  Aus: Der Feldpostbrief des Reichsstudentenführers, in: Die Bewegung, Bd. 11, Nr. 10, 1943, 5, Heidelberger historische S. 28 – 31  Screenshots aus: flüstern & SCHREIEN. ein rockreport, Bestände – digital, digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/bewegung_ Regie: Dieter Schumann, DDR 1988 muenchen (17.5.2022) S. 55  Aus: practic, Nr. 1, 1981, 189 S. 132  Cover der Zeitschrift hochschule ost, 2001 S. 56  Aus: practic, Nr. 1, 1990, 27 S. 137  Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/1/293 S. 61  Aus: practic, Nr. 12, 1991, 20 sowie practic, Nr. 12, 1990, 46 S. 140  Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/1/1551 S. 63  Aus: practic, Nr. 12, 1990, 4 – 7 S. 143  Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/3/1638 S. 68  Foto: Alexander Sacharnych, sovietcpu.com/robotron/k1600, o. J. S. 147  Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/ko/2135 S. 73  Aus: Birgit Starke (Demuth): Übersetzung und Optimierung S. 150  Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne, FS/ko/1884 relationaler Anfragen am Beispiel der Datenbanksprache SQL, Dissertation, TU Dresden, 1983, 43 S. 154  Aufnahme der Autorin S. 75  Aus: Dietrich Schubert: Das relationale Datenbankbetriebssystem S. 158  Aus: Edgar Wisniewski: Projektzeichnungen für die DABA 1600. Ein weiteres Ergebnis der Kooperation von Robotron und neue Staats bibliothek in Berlin, in: Bauwelt, Jg. 58, Nr. 41, 1967, TU Dresden, in: Neue Technik im Büro, Bd. 29, Nr. 4, 1985, 111 1015 – 1021, hier 1016 S. 81  Foto: Heinz Koch. Bundesarchiv, Bild 183-B0314-0091-002 / S. 158 / 159  Aus: Organisationsplanung für die Staatsbibliothek und das CC-BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183- Ibero-Amerikanische Institut Preußischer Kulturbesitz in Zusam- B0314-0091-002,_Leipzig,_Universit%C3%A4t,_Rechenzentrum,_ menarbeit mit dem Quickborner Team, Gesellschaft für Planung und Kommandopult.jpg Organisation mbH, Quickborn i. Holstein, Berlin 1970, 112 S. 82  Cover der Zeitschrift Rechentechnik / Datenverarbeitung, Nr. 10, 1985 S. 161, 163, 165 – 167, 169 – 173  Aus: Begleitheft zum Baukastensystem «Vero Construc», VEB VERO Olbernhau, Betrieb des VEB Kombinat S. 83  Aus: ebd. Spielwaren Sonneberg, DDR, o. J. S. 88  Aus: Folke Dietzsch: Die Studierenden am Bauhaus, Bd. 2, S. 180  Cover der DDR-Heimwerkerzeitschrift practic, Nr. 1, 1978 Weimar 1991, 115 S. 93 – 100  Laura Horelli: Namibia Today, 2017 / 18, Videostills. Courtesy die Künstlerin / VG Bild-Kunst. Die Protagonist _innen in der Reihenfolge ihres Erscheinens: Philemon Sheya Kaluwapa, Uwe Jaenicke, Simon Tjimbawe, Joe Ashipala, Ilona Schleicher, Hans-Georg Schleicher, Reinhold Mupupa Falls trotz intensiver Nachforschungen Rechteinhaber_innen nicht S. 121  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), b erücksichtigt worden sind, bittet die Redaktion um eine Nachricht. I. HA Rep. 77 Tit. 94, Nr. 132, Bd. 1, Bl. 202 — 177 — IMPRESSUM Die Zeitschrift für Medienwissenschaft erscheint zweimal im Jahr. Die digitale Version ist ab Herbst 2022 als Open-Access- Version verfügbar. Weitere Infos (u. a. auch zum Abonnement) finden Sie unter: www.transcript-verlag.de/zeitschriften/zfm-zeitschrift-fuer-medien Herausgeberin Gesellschaft für Medienwissenschaft e. V. wissenschaft/ c /o Prof. Dr. Jiré Gözen, University of Europe Mitglieder der Gesellschaft für Medienwissenschaft erhalten for Applied Sciences, Campus Hamburg, die Zeitschrift für Medienwissenschaft kostenlos. Museumstraße 39, 22765 Hamburg, info@gfmedienwissenschaft.de, www.gfmedienwissenschaft.de Verlag transcript Verlag, Hermannstraße 26, Redaktion Maja Figge (Mainz), Maren Haffke (Bayreuth), 33 602 Bielefeld, www.transcript-verlag.de Till A. Heilmann (Bochum), Elisa Linseisen (Paderborn), Bestellung: vertrieb@transcript-verlag.de Jana Mangold (Erfurt), Birgit Schneider (Potsdam), Florian Telefon: +49 (521) 39 37 97 0 Sprenger (Bochum), Stephan Trinkaus (Bielefeld), Thomas Waitz (Wien), Brigitte Weingart (Berlin, V.i.S.d.P.) Bibliografische Information der Deutschen National- bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet Redaktionsanschrift: Zeitschrift für Medienwissenschaft diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; c /o Prof. Dr. Brigitte Weingart, Universität der Künste detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über Berlin, Postfach 120544, 10595 Berlin, http://dnb.d-nb.de abrufbar. info@zfmedienwissenschaft.de, www.zfmedienwissenschaft.de Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Schwerpunktredaktion Heft 27  Creative-Commons-Lizenz CC-BY-NC-ND 4.0 DE U lrike Hanstein, Manuela Klaut, Jana Mangold (Attribution, Non-Commercial, No Derivates). Diese Redaktionsassistenz Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber Naomie Gramlich, Mirjam Kappes, Elena Meilicke keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung (Lizenztext: https://creativecommons.org/ Lektorat licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de). Ulf Heidel Beirat Marie-Luise Angerer (Potsdam), Ulrike Bergermann (Braunschweig), Cornelius Borck (Lübeck), Philippe Veröffentlicht in 2022 durch den transcript Verlag Despoix (Montréal), Mary Ann Doane (B erkeley), Lorenz © bei den Autor_innen E ngell ( Weimar), Vinzenz Hediger (Frankfurt / M.), Ute Holl (Basel), Gertrud Koch (Berlin), Petra Löffler (Oldenburg), Printed in the Federal Republic of Germany Kathrin Peters (Berlin), Antonio Somaini (Paris), Martin Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Warnke (Lüneburg), Geoffrey Winthrop-Young (Vancouver) Grafische Konzeption Lena Appenzeller, Stephan Fiedler ISSN 1869-1722 eISSN 2296-4126 Layout, Bildbearbeitung und Satz Lena Appenzeller Print-ISBN 978-3-8376-5890-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5890-7 Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung EPUB-ISBN 978-3-7328-5890-3 Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg — Mit freundlicher Unterstützung der Universität der Künste Berlin Cover der DDR-Heimwerkerzeitschrift practic, 1978