86 MEDIENwissenschaft 01/2023 Digitale Medien Angela Krewani, Peter Zimmermann (Hg.): Das Virus im Netz medialer Diskurse: Zur Rolle der Medien in der Corona-Krise Wiesbaden: Springer 2022 (Ars Digitalis), 332 S., ISBN 9783658363123, EUR 44,99 Die umfangreiche und materialreiche demie – den wechselnden staatlichen Aufsatzsammlung Das Virus im Netz Regularien und Maßnahmen – einneh- medialer Diskurse: Zur Rolle der Medien men. Eine These im Beitrag von Peter in der Corona-Krise ist in sechs Teile Zimmermann lautet zum Beispiel, dass gegliedert, die in ihrer Gesamtheit „im Zusammenspiel von Regierenden deutlich machen, welche unterschied- und Medien ein neues patriarchalisches lichen Rollen, Funktionen und Positi- Narrativ“ (S.50) etabliert wurde. Sol- onen die Vielzahl medialer Diskurse, che Thesen sollten ein Anlass sein, um die die Ausdifferenzierung der Medien eine breite sowohl wissenschaftliche wie ermöglicht, in der Corona-Krise auf- auch publizistische Diskussion über das weist. komplexe Verhältnis zwischen gesell- Der erste Teil beschäftigt sich schaftlichen Gruppen, Medien, Politik mit der Berichterstattung über die und Wissenschaft zu führen. Pandemie in Fernsehen und Presse. Im zweiten Teil der Studie geht Analysiert werden die Krisenrheto- es um ausgewählte Formate der Fern- rik, Strategien der Emotionalisierung sehunterhaltung, die während der ebenso wie der Objektivierung der Pandemie ausgestrahlt und zum Teil Berichterstattung, und es wird disku- auch produziert wurden. Es geht um tiert, wie sich die Berichterstattung Fiction-Formate, die vor der Corona- im ersten Jahr der Pandemie (Februar/ Pandemie Geschichten von Epidemien März 2020 bis März 2021) in Phasen erzählen – wie beispielsweise die Serie gliedern lässt. Gegenstand der Analy- Sløborn (2020-2022), die dann Joan sen sind Sondersendungen von ARD Kristin Bleicher zufolge in der Corona- und ZDF sowie ausgewählte Bericht- Situation „gleichzeitig hochaktuell wie erstattungen bei RTL und WDR. Für zeitlos“ (S.65) wurde und entsprechend Fragen nach der Öffentlichkeit, die große öffentliche Resonanz fand. Die Massenmedien in dieser Krisensitu- non-fiktionalen Unterhaltungsangebote ation herstellen, ist ausschlaggebend, weisen auf visueller wie thematischer welche Positionen sie gegenüber den Ebene vielfach Bezüge zur Corona- politischen Verlautbarungen zur Pan- Situation auf: Die Veranstalter tragen Digitale Medien 87 Masken und sprechen die Situation der Beitrag von Angela Krewani zeigt, Zuschauer_innen in der Pandemie an. „dass die Semantisierungen und Visu- Die Formate bilden insgesamt „eine alisierungen der Pandemie in den Symbiose aus Ratgebersendung, All- öffentlich-rechtlichen Medien die gou- tagskommunikation und Talkshow“ vernementalen Aspekte der Pandemie (S.69). Eine ebenfalls interessante wie auch der Biotechnologien hervor- These entfaltet der Beitrag über Late- heben“, wohingegen die „affektiven Night-Shows vor allem im US-ame- Semantisierungen und Kommunikati- rikanischen Fernsehprogramm: Sie onsformen der Querdenker-Bewegung werden ohne Saalpublikum zu „Gei- […] einen kollektiven Volkskörper zu sterspielen“ (S.96). An diversen Bei- konstruieren suchen“ (S.197). Der Bei- spielen analysiert die Verfasserin Anne trag von Krewani sowie der Aufsatz Ulrich auf kenntnisreichem und theo- von Carolin Lano, die sich beide mit riegeleitetem Wege die unterschied- Verschwörungsideologien beschäfti- lichen Strategien, die die Talkmaster gen, stellen auf aufschlussreiche Weise in dieser Situation erproben. Ulrich die komplizierten Beziehungen zwi- äußert abschließend die Vermutung: schen Wissenschaft, Massenmedien, „Es könnte sein, dass uns die Pan- sozialen Medien und Verschwörung- demie einen Vorgeschmack auf eine sideologien heraus und verweisen auf mediale Formation gegeben hat, in unterschiedliche genealogische Spuren der phatische Gemeinschaft und kom- dieser Beziehungen. Ein dritter Beitrag munikatives Miteinander ganz anders von Thorben Mämecke stellt Corona- beschworen werden als im massenme- Dashboards vor, rückt sie in einen dialen Zeitalter“ (S.121). Zusammenhang mit der Geschichte Die Beiträge des dritten Teils der Statistik und erörtert deren Auswir- beschäftigen sich mit ausgewählten und kungen auf Selbst- und Gesellschafts- unterschiedlich relevanten Aspekten steuerung. der Pandemie im Internet und den Im fünften Teil werden unter- Social Media: Es geht unter anderem schiedliche Strategien aufgegriffen, mit um die Richtlinien, die Twitter für die denen gesellschaftliche Auswirkungen Corona-Berichterstattung verfasst hat, des Virus veranschaulicht werden. Es um den Podcast des NDR mit dem geht vor allem um verschiedene Weisen Virologen Christian Drosten, der in der Visualisierung, sei es des an sich den ersten Monaten der Pandemie aus- unsichtbaren Virus oder – wie in Video- gestrahlt wurde, sowie um einen unter- clips des Gesundheitsministeriums – haltenden Podcast, der sich amüsierend, von Beziehungen zwischen Menschen provozierend und auch informierend und ihrer Umwelt. Das Virus, so zei- mit Corona befasst. gen Diskurse verschiedenster Diszipli- Der vierte Teil mit dem Titel nen und das belegen auch die Beiträge „Datenpolitiken und Verschwörung- der Aufsatzsammlung, wird sowohl als sideologien“ stellt unterschiedliche Objekt betrachtet wie auch als Denk- Aspekte von Datenpolitiken dar. Der figur konzipiert. 88 MEDIENwissenschaft 01/2023 Der sechste Teil steht quer zum Diskurse im ersten Jahr der Pandemie bisherigen Duktus, denn hier werden auszeichnete. Sie vermittelt zahl- Filme verhandelt, in denen Epidemien reiche Impulse für zukünftige wissen- den Plot beherrschen. Es geht um schaftliche Analysen und theoretische bekannte Blockbuster-Filme ebenso wie Überlegungen, um zum Beispiel das um eher unbekannte Filme. Ergänzt Wechselspiel von Ausnahme und werden die Aufsätze zu Filmproduktio- Normalisierung, das die medialen nen durch einen Beitrag zum Videospiel Diskurse bestimmt, in seinen Aus- Death Stranding (2019). wirkungen auf die gesellschaftliche Die Aufsatzsammlung vereinigt Lage zu bestimmen oder die Verän- thematisch wie auch analytisch unter- derungen der Öffentlichkeit(en) und schiedlich gewichtige Beiträge. Sie deren medien- und gesellschaftsthe- gibt ein Bild von dem breiten thema- oretische Implikationen zu erkennen. tischen, argumentativen und strate- gischen Spektrum, das die medialen Irmela Schneider (Berlin)