Medien / Kultur 57 Perspektivierung der Bild-Frage: „Vielleicht zeigen uns bildliche Darstellungen gemäß ihren eigenen Vor- und Maßgaben doch etwas von der Wirklichkeit im Bild und setzen uns so ins Bild über eine Wirklichkeit, die uns nur durch Darstellungen zugänglich ist.“ (S.174) Die einzelnen Beiträge widmen sich der Perspektivierung der Bild-Frage im Kontext von vor-ästhetischen Überlegungen im Übergang zu klassisch-ästhe- tischen Überlegungen. Diesen philosophiegeschichtlichen Übergang zu markieren und dessen Konsequenzen für den akademischen Bilddiskurs präzise herauszuar- beiten ist die Stärke dieses Bandes. Dieser philosophisch geprägte Blick erscheint als überaus geeignet, um den Bildbegriff aus einer statischen Perspektive zu lösen und um philosophiegeschichtliche Evidenzen dynamisch zu (re-)aktualisieren. Lars Grabbe (Kiel) Anke Hennig, Gertrud Koch, Christiane Voss, Georg Witte (Hg.): Jetzt und Dann. Zeiterfahrung in Film, Literatur und Philosophie München: Fink 2010, 207 S., ISBN 978-3-7705-4986-3, € 26,90 Zeitstudien in Literatur, Philosophie und gerade auch im Film verweisen zwangs- läufig auf das reizvolle Spannungsfeld zwischen chronologischer und achronolo- gischer Zeit – ausgehend von der Erkenntnis, dass Gegenwart nie im Original, sondern nur nachträglich, als erinnerte Gegenwart für das Subjekt erfahrbar wird. Zur Diskussion über die Darstellung von Erinnerung im Film regt der Aufsatz von Gertrud Koch an. In „,Being my Father’s Father’. Generationenbezogene Erzählungen über den Holocaust” erläutert Koch die Problematik von Realität und Fiktion filmischer (Zeitzeugen-)Dokumentationen anhand von zwei Model- len zur Darstellung des Holocaust, in denen „[d]as Visuelle in die Funktion eines Signifikanten des Realen [gelangt]“. (S.36) Das erste Modell, von der Autorin als „moralisch/theologisches“ (ebd.) bezeichnet, sei bevölkert mit Zeugen, die als authentische Spuren zu den Toten führen sollten. Das Modell setze auf Gedenk- stunden und Kranzniederlegungen als Formen von Liturgie und Ritual. Koch erkennt in der Dominanz des fotografischen/filmischen Bildes einen Diskurs, der zur klassischen Filmtheorie führe – zu Benjamin, Bazin und zu Kracauers „Errettung der äußeren Wirklichkeit“. „Das zweite Modell, das psychologische“ (S.38) zeige die Kinder Überlebender als „Bauchredner“ (S. 50) ihrer toten Eltern. Koch erinnert dies an Freud, der darauf verwiesen habe, dass das autobiografische Gedächtnis angefüllt sei mit Geschichten aus der Kindheit, die den Kindern von ihren Eltern erzählt worden seien. Beide Modelle „entspring[en] dem para-religi- ösen Glauben an die Erlösungskraft, die in der genetischen Verbindung zwischen Objekt und Bild liegt“ (S. 39) – für Koch eine „paradoxe Verwirrung“. (Ebd.) Diese führt die Autorin zurück auf eine Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte 58 MEDIENwissenschaft 1/2011 Traumatheorie, nach der Erinnerung auf Bildern basiere, und die den Weg bereitet habe, das Visuelle als Metapher des Wirklichen zu betrachten. Das Trauma selbst sei eine „unfreiwillige Erinnerung – unfähig, vergessen zu werden, und unfähig, bewusst erinnert zu werden und in einen Prozess des Durcharbeitens in Erfahrung überführt zu werden ... [, abgesperrt] vom Subjekt, vom Ich“ (S. 40) und verweise über den ihm zugeschriebenen Automatismus auf den fotografischen/filmischen Diskurs zum Automatischen des Apparativen. Das Trauma, so zitiert Gertrud Koch Michael Roth, „kann nicht erinnert und nicht erzählt werden“. (Ebd.) Es beruht nach Koch „auf der Unfähigkeit zur kohärenten Erinnerung“. (S.41) Demnach wird die Kohärenz jeder (filmischen) Erzählung mitbestimmt durch die eigene Erinne- rung und das eigene Wissen; Gedächtnis und Film sind sinnlos ohne Reflexion, d.h. auch, Trauma wie Realität sind immer Inszenierung. Die Wissenschaftlerin überprüft ihre Modelle anhand von Filmen wie Shoah (Claude Lanzmann, Fran- kreich 1985), Unzere Kinder (Nathan Gross, Polen 1947-48), Bruxelles-Transit (Samy Szlingerbaum, Belgien 1977) oder Fighter (Amir Bar-Lev, USA 2000). Sie resümiert, dass die Auflösung der „,gestaute[n]’“ (S. 58) Zeit des Traumas in einen linearen Erzählstrom führe: „[M]it dem Gewinn an zeitlicher Differenz schreiten wir nicht einfach nur voran, sondern wir verlieren auch etwas – und es sieht so aus, als wäre das eben jene Erinnerung an die unwiederbringlich Toten“. (Ebd) Der Beitrag von Christa Blümlinger „Film als Ruinenkunst: Anmerkungen zum Werk Deimantas Narkevicius“ kann als mögliche Antwort gelesen werden auf die Frage Gertrud Kochs: Wie wirke ich dem Vergessen entgegen? Indem ich das Vergessen thematisiere – über eine inkohärente Erzählung. Für Blümlinger vermag der Film im Zeitbild wie keine andere Kunst das Zusammentreffen ver- schiedener Zeiten darzustellen. Den Theorien von Deleuze und Bazin folgend, untersucht die Autorin die Zeit zunächst anhand Narkevicius’ Revisiting Solaris (2007). Dieser inszeniert Tarkovskijs Schauspieler Donatas Banionis als gealterten Wiedergänger seiner Figur des Astronauten Chris Kelvin aus Solaris (1972) und erzeugt so eine Spannung über einen „Körper […], dessen Äußeres gleichzeitig Spuren einer gegenwärtigen Rede und einer vergangenen Rolle trägt“. (S.63) Der Authentizitätseffekt werde aufgebrochen über die Betonung der Inszenierung – das erkennt Blümlinger in Disappearance of a Tribe (2005), wenn Narkevicius ein- zelne Fotografien aus einem persönlichen Album unkommentiert stehen lässt und so die Erinnerung dokumentiert als Fragmente, dessen Sinn erst das Bewusstsein über Wissen und Erfahrung hinzufügt – notwendig für eine traumafreie Existenz des Subjekts, wie Koch präzise beschrieben hat. Sebastian Rödl untersucht in „Die Einheit der Bewegung“ das Prinzip zeitlicher Einheit, die über eine Mitte als Bewegung einen Anfang mit einem Ende verbinde, und die es sei, die diesem Jetzt und Dann eine Bedeutung verleihe. Beispiel: Jetzt sind die Knospen des Birnbaumes geschlossen: der Anfang. Dann stehen sie in voller Blüte: das Ende. Die Mitte ist: Der Birnbaum erblüht. Als zeitliches Ganzes würden auch Film und Erzählung wahrgenommen, sofern sie ihre ganz eigene Medien / Kultur 59 künstlerische Struktur reflektierten, so Rödl. Um seine These zu belegen, widmet sich der Autor der „progressiven Aussage“ (S. 97), die aus einem gegenwärtigen Zustand eine Behauptung über die Zukunft zulasse: Der Baum erblüht gerade. Sie basiere auf der Erfahrung und dem Wissen des Subjekts darüber, „wie die Dinge im allgemeinen verlaufen“ (S. 102): Ich sehe, dass der Baum erblüht, da ich weiß, dass ein Birnbaum im Mai blüht. Das Ende der Bewegung sei gegenwärtig, doch nicht als Bestimmung des Willens des Subjekts, betont der Philosoph, viel- mehr sei die Möglichkeit dieser Einheit die Regel – womit Sebastian Rödl sich explizit von Philip Rosens Beitrag in dem Band abgrenzt, der vom Allgemeinen als Abstraktion ausgeht. Das Allgemeine definiert für Rödl das Besondere. So sei auch eine Kunstgattung nicht abstrahiert von ihren Werken zu betrachten, vielmehr sei sie der Grund der Möglichkeit dieser Werke. D.h. wenn Film und Erzählung die zeitliche Einheit, die sie repräsentierten, zum Thema machten, enthüllten sie, „dass das Zeitliche nur eine Erscheinung des Überzeitlichen ist. Die ästhetische Repräsentation des Vergänglichen ist nichts anderes als eine mise en scène seines Aufgehens im Ewigen.“ (S.103) Selbst ein Pragmatiker, der sich an Rödls metaphysischer Schlussfolgerung stößt und den Hinweis von Koch auf die Vergänglichkeit filmischen Materials erinnert (vgl. S. 38), wird Gefallen finden an der exemplifizierten Logik, die der Autor den Leser in verständlicher Sprache nachvollziehen lässt. Georg Witte nähert sich in „,Einmal’ – Aktualität als literarische Erfahrungs- form. Am Beispiel von Lev Tolstojs ‚Kreutzer-Sonate’“ anschaulich möglichen Wirklichkeiten in der Fiktion. Kontingenzen erzeugten innerhalb einer Erzählung eine Aktualität, wenn ein Ich-Erzähler über eine kritische Selbstbefragung des Geschehens ein „So war es“ kippen lasse in ein „War es so wirklich – oder doch ganz anders?“ Neben einer Einleitung von Anke Hennig und Beiträgen von Christiane Voss, Ann Banfield, Armen Avanessian versammelt der Band Aufsätze von Philip Rosen, der sich der Zeitlichkeit in Eisensteins Theorien widmet, Marie-Laure Ryan, die unter Zeitparadoxien das Achronologische einer Erzählung (discourse) zum Chronologischen einer Geschichte (histoire) versteht sowie Brigitte Ober- mayr, die sich auseinander setzt mit datierter Zeit in der Kunst als Zeichen eines fiktiven Dokumentarismus, über die der Künstler sich in sein Werk einschreibe. Gleich ob sie sich mit dem Film, der Literatur oder der Philosophie beschäf- tigen, all diese überwiegend lesenswerten Aufsätze bestätigen einmal mehr, dass erst ein artifizielles Aufbrechen des Zeitflusses die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit und damit eine Wahrheit einzig über die Lüge sichtbar werden lässt. Pascale Anja Dannenberg (Erlangen)