Winand Gellner (Hrsg.): Europäisches Fernsehen - American Blend? Fernsehmedien zwischen Amerikanisierung und Europäisierung.- BerHn: Vistas Verlag 1989, I.p S., DM 25,- Inmitten des Europäischen Film- und Fernsehjahres 1988 kamen im Juli in Saarbrücken Experten von öffentlich-rechtlichem Rundfunk, aus Filmindustrie, Wissenschaft und Medienpolitik zu einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung mitgetragenen Fachtagung zusammen. Ihr vordringliches Thema: Entwicklungsrichtlinien der TV-Programminhalte im Europa der dualen Rundfunksysteme. - Im Vorwort des Sammelban- des, der neben acht Tagungsreferaten weitere vier Originalbeiträge umfaßt, versucht Dieter Stolte eine Standortbestimmung: Vor dem Hintergrund gewichtiger Anteile amerikanischer Produktionen im Programmangebot der europäischen TV-Anstalten schränkt er den "universellen Erfolg" der US-Software auch in Europa allerdings auf Programme ein, die "inhaltliche oder formale Parallelen zu belletristi- scher Literatur haben" (S. 7) und leitet die US-Erfolge aus einer "optimalen Mischung von allgemein Vertrautem und Unbekanntem" (S. 8) her. In der Zusammenschau mit der ökonomischen Stärke der US-Programmindustrie ergibt sich für ihn daraus die Notwendigkeit einer verstärkten europäischen Kooperation für Filmwirtschaft und Rundfunkveranstalter, um sich als "gleichrangiger" Partner und (... ) respektierter Konkurrent der Vereinigten Staaten" (S. 12) profilieren zu können. Eine Quoten- 'Prohibition' für nicht-europäische Produk- tionen sei hierfür allerdings kaum geeignet. In die aktuell nicht selten anzutreffende Euphorie über Absichten einer intensivierten Förderung der europäischen audiovisuellen Produk- tionsindustrie fallen jedoch auch Wermutstropfen: Winand Gellner überschreibt seinen Beitrag bezeichnenderweise mit "Hollywood im Glottertal" und weist auf die Möglichkeit einer verschärften, 'getarnten I Amerikanisierung der Medienlandschaft als Folge einer vornehmlich industriepolitisch verstandenen Rundfunk-Europäisierung hin. Er fordert eine kulturell determinierte "Medien- und Ordnungs- politik" (S. 33), zumal angesichts eines domiant wirtschaftlichen Rege- lungsparadigmas etwa der EG-Kommission. - Peter Ludes, der eine deutliche Zunahme britischer und vor allem amerikanischer Spielfilme im ARD-Programm während der letzten Jahre nachweist, interpretiert den I Amerikanisierungs '-Begriff als deutlich über die geographisch fixierte Programmprovenienz hinausweisend. Er vermutet die Ent- wicklung einer spezifischen, strukturprägenden US-amerikanischen "vi- suellen Grammatik" (S. 39) mit Vorbildfunktion für europäische Produktionen: "mehr rasante, visuell dynamische Programme, die interessanten Bildern den Vorzug vor ernsthaften Inhalten geben" (S. 49). Unter längerem Rekurs auf den bedeutenden systemkritischen amerikanischen Medienforscher Herbert I. Schiller schlägt er die Brücke zum 'Kommerzialisierungs'-Begriff: Kommerzialisierung von TV-Programmen als Ausdruck und zugleich Mittel einer zunehmend transnational operierenden werbungtreibenden Wirtschaft legt nahe, bisherige Orientierungen des 'Amerikanisierungs '- Konzepts westeuro- päischer TV-Medien an nationalstaatlichen Differenzierungen zu rela- tivieren oder ganz durch "Konzepte für übernationale soziale Entwick- lungen" (S. 41) zu ersetzen. 'Amerikanisierung' läuft demgemäß also weniger auf einen nationenspezifischen Einfluß hinaus, sondern auf eine umfassende und transnationale 'Kommerzialisierung' der Fern- sehmedien, was wiederum mit dem Theorem einer übernationalen visuellen Grammatik korrespondiert. Ludes plädiert für eine Erwei- terung des Betrachtungsfokus über die rein massen mediale Ebene (Amerikanisierung versus Europäisierung) hinaus auf eine weitere Soziologisierung im Sinne der Klärung der Interdependenzen zwischen Fernsehentwicklung und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Diesen sehr grundlegenden (k~mmunikations-)soziologischenÜberlegun- gen folgen die eher praxisorientierten Ausführungen Georg Koflers zu Mechanismen von Programmhandel und -produktion am Beispiel der Kirch-Gruppe sowie zu "Komponenten und Entwicklungen des audiovisuellen Programmgeschäftes" (S. 58). Erwartungsgemäß argu- mentiert der PRO 7-Geschäftsführer mit Marktgesetzen und Massen- attraktivität als Eckpfeiler einer prosperierenden TV-Entwicklung: contra Quotenimperative und "undifferenzierte Filmsubvention" (S. 64), pro europäische Koproduktion und Stärkung des Privatfernsehens als Garant wettbewerblicher Dynamik für eine (auch kulturpolitischen Interessen verpflichtete) Programmproduktionswirtschaft. Wohl nicht ganz erwartungsgemäß gestaltet sich das Plädoyer von ZDF-Referent Hans-Günther Brüske. Er spricht vehement gegen einen programmkonzeptionellen Anti-Amerikanismus, der häufig auf aggres- sive Hysterie induzierenden "Feindbildern" basiere und hinsichtlich Unterhaltungsprogrammen zu "Vergnügungsphobie oder Lustfeindlich- keit" (S. 69) führe. Folgerichtig könnten sich die Europäer keinen "kulturellen Neo-Isolationismus" (S. 70) leisten, der dem hier prote- gierten Freihandelskonzept für elektronisch produzierte Programmwa- re auch diametral entgegenstehen würde. Programmquoten verbieten sich demnach als protektionistisches Instrument von selbst. Was dem intellektuell überhöhten Eurozentrismus fehle, sei der "Mut zur Trivialität" (S. 7r) und die Anerkennung der Publikumspräferenz als Wert-Autorität hinsichtlich der Programmqualität. - Gegen eine solche weitreichende Trivialitätsoffenheit wendet sich Hendrik Schmidt (ehemals bei RTL plus). Bei wachsender Konkurrenz seien letztlich alle Veranstalter gezwungen, besondere Senderprofile und damit Zuschauerbindungen zu entwickeln, was gerade für die privaten Kanäle heiße, zukünftig verstärkt originäre Eigenproduktionen - somit auch neben Kaufprogrammen qualitätsvollere Unterhaltungsprogramme - anzubieten. Aus sozialdemokratischer Sicht muß Reinhard Klimmt das Scheitern einer nicht teilkommerzialisierten Weiterentwicklung des bundes- republikanischen Rundfunksystems eingestehen; er befürchtet weitere 247 Angriffe auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und prognostiziert recht resignativ eine "Uniformierung des kulturellen Bereichs" (S. 86). - Demgegenüber sind für Georg-Michael Luyken allein zukunftsweisen- de Programmstrategien geeignet, Gefahren eines gesellschaftlich-kul- turellen Bedeutungsverlustes des Fernsehens zu begegnen und die Vitalität des Mediums aufrechtzuerhalten. Für Europa erforderten innovative Programmkonzepte jedoch "adäquate Marktgrößen" (S. 90); bei sich fragmentierenden Heimatmärkten und Zuschauerschaften sowie steigenden Kosten könne die erforderliche Wirtschaftlichkeit wesentlich nur durch verstärkte Kooperationen und Marktinternationa- lisierung erreicht werden, wobei Programmquoten durchaus befürwor- tet werden. Solche industriepolitischen Imperative dürften jedoch nicht zu Lasten der auch gegebenen kulturpolitischen Dimension geschehen und erforderten somit zugleich das "übernationale Ma- nagement der kreativen Ressourcen" (S. 94). Der Blick auf den Neuen Kontinent wird durch Christa-Maria Ridder eröffnet. Mit profunder Kenntnis beschreibt sie die enorme ökonomi- sche Leistungsfähigkeit der US-amerikanischen Film- und TV-Pro- grammindustrie, von der Produktion bis zu Distribution und Marketing. Dabei arbeitet sie signifikante gegenwärtige Sättigungstendenzen im audiovisuellen Binnenmarkt der USA heraus. Demnach müssen sich die Europäer u.a. auf wachsende Expansion der US-Medienindustrie auf die Auslandsmärkte einstellen. Manche Gegner vermeintlicher 'anti-ameri- kanischer Hysterie' sollten solche Tendenzen sicherlich genau beob- achten. - Der nördliche US-Nachbar (mit dualem Rundfunksystem) muß sich seit Jahrzehnten mit dem unmittelbaren Einfluß der US-amerikanischen Massenmedien auseinandersetzen. Bei einem recht schwach entwickelten Nationalbewußtsein der ethnisch und kulturell differenzierten kanadischen Bevölkerung bilanziert Werner Bläser das relative Versagen verschiedener Fördermaßnahmen für kanadische TV-Programme - einschließlich der "Canadian Content Quota". Für Europa sind seine Befunde von einigem Interesse: Herrscht in Kanada - gegenüber den USA - lediglich ein kontrastives Identitätsbewußtsein und ein weitgehender Mangel an positiv-substantiellem kulturellem Eigenheitsbewußtsein vor, so vermutet er auch für Europa zwischen und innerhalb einzelner Gesellschaften starke "sozio-kulturelle Zentri- fugalkräfte" (S. 119), die nicht ohne Einfluß auf eine 'Europäisierung' des Rundfunks bleiben können. - Sind bislang Anzeichen für die Ent- wicklung eines solchen 'europäischen Fernsehens' festzustellen? Weder bisherige Mehrsprachen- und Sprachraumprogramme öffentlich-rechtli- cher oder 'Lingua-Franca-Programme' kommerzieller Provenienz zeichneten sich durch ein tragfähiges europäisches TV-Konzept aus, wie Jochen Zimmer darlegt. Perspektivisch vermutet er Diffe- renzierungen in 'paneuropäische' Spartenprogramme und hofft mit Blick auf europaweite Medienordnungen auf die Erleichterung audiovisueller Planung. Inwieweit allerdings auch Zuschauerakzeptanz für 'europäische Programme' herstellbar ist, wird sich erst noch er- weisen müssen. Das öffentlich-rechtliche Mehrsprachenprogramm Europa-TV (und dessen Scheitern) wird in den Beiträgen des vorliegenden Sammelban- des mehrfach angesprochen; ihn beschließt eine detaillierte Analyse eines Beteiligten. Richard W. Dill setzt dem rein kommerziellen Selbstzweck privaten Fernsehens die ambitionierten Intentionen von Europa-TV als gesellschaftlich absichtsvolles TV-Projekt entgegen, das letztlich zwischen die Mühlsteine gesellschafts- und medienpolitischer Grundauffassungen geraten sei: zwischen Europa-Skepsis auf der einen und Europa-IIIusionismus auf der anderen Seite. - Ebenfalls (vorläufig) gescheitert ist das gemeinsame westeuropäische Projekt einer EG-Fernseh-Richtlinie, die planungsgemäß im Juni 1989 vom EG-Mi- nisterrat endgültig verabschiedet werden sollte, am Beharren Frank- reichs auf einer 6o%-Quote für europäische Programme. Nicht nur im Rahmen der EG konkurrieren teils unterschiedliche Ansatzpunkte und Konzepte, die "Dialektik von 'Europäisierung' und 'Amerikanisierung' unter der Voraussetzung eines deregulierten europäischen Rundfunk- marktes" (Gellner, S. 13) zu bewältigen. Auch der vorliegende Sam- melband bietet eine Widerspiegelung wichtiger Interpretationsansätze und Strategiedefinitionen hinsichtlich der Zukunft des Fernsehens in Europa, was ihn als Mittel des Problemüberblicks empfehlenswert macht. Michael Gedatus